Kolumbus-Epik: Die Inszenierung eines Helden in französischen und neulateinischen Texten ab 1750 9783110732405, 9783110737370

It seems like no hero could have been more predestined for an epic than Columbus. And yet, he did not become the focus o

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German Pages 620 [624] Year 2021

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Table of contents :
Danksagung
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungen für die meistzitierten Primärtexte
1 Einführendes zur Kolumbus-Epik
2 Epische Modellierung des ideologischen Konflikts in den fünf Kolumbus-Epen ab 1750
3 Gegenüberstellung epischer Modellierungen der ‘Abstammungstheorie’
4 Kurzfassungen der Ergebnisse der Dissertation
Appendix
Literaturverzeichnis
Personenverzeichnis
Stichwortverzeichnis
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Kolumbus-Epik: Die Inszenierung eines Helden in französischen und neulateinischen Texten ab 1750
 9783110732405, 9783110737370

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Konstanz und Varianz der epischen Modellierung ideologischer Konflikte in der Kolumbusepik der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung von Lesuires Le Nouveau Monde (1781) und Peramás’ De invento Novo Orbe (1777)

Dissertation zur Erlangung des Grades eines Doktors der Philosophie (Französische Philologie)

am Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin

eingereicht von Gerd Johann König (geb. am 08.09.1987 in Ansbach) 25. März 2020

Erstgutachter: Prof. Dr. Bernhard Huß Zweitgutachter: Prof. Dr. Ludger Scherer Tag der Disputation: 15. Juli 2020

Gerd Johann König Kolumbus-Epik

Mimesis

Romanische Literaturen der Welt

Herausgegeben von Ottmar Ette

Band 89

Gerd Johann König

Kolumbus-Epik

Die Inszenierung eines Helden in französischen und neulateinischen Texten ab 1750

Dissertation der Freien Universität Berlin. Diese Veröffentlichung wurde im Rahmen des Forschungsprojekts ‘Epische Modellierung ideologischer Konflikte in der Frühen Neuzeit’ (Einzelprojekt HU 1626/3-1) durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft finanziell gefördert.

ISBN 978-3-11-073737-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-073240-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-073248-1 ISSN 0178-7489 Library of Congress Control Number: 2021935487 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Integra Software Services Pvt. Ltd. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Danksagung Iis admovenda manus est, quorum finem aut facere aut certe sperare possis. Relinquenda, quae latius actu procedunt nec, ubi proposueris, desinunt. (Sen., De tranqu. 6, 6)

Mein besonderer Dank geht an meine FreundInnen Thea Santangelo, Jennifer Kulik, Melina Koycheva, Robert Baumann und Valerie Auer, die mit mir unzählbare Stunden in Berliner Bibliotheken verbracht, mir die Pausen zwischen den Recherche- und Lektürearbeiten angenehm gemacht, meine Texte Korrektur gelesen, mich zeitweise als Mitbewohner aufgenommen oder schlicht immer wieder motiviert haben, meine langjährige Arbeit an den Kolumbus-Epen zu einem würdigen Ende zu führen. Selbiges gilt für meinen geschätzten Studienkollegen Christopher Diez, der sich immer Zeit genommen hat, sich fachlich mit mir auszutauschen. Außerdem möchte ich diese Gelegenheit nutzen, meiner Familie dafür ‘Danke’ zu sagen, dass ich mich ohne Einschränkung auf sie verlassen konnte, und sie mir unter die Arme gegriffen hat, wenn Bedarf bestand – obschon ihr meine Liebe für die Philologie wohl immer ein wenig fremd gewesen ist. Von Herzen danken möchte ich an dieser Stelle Prof. Dr. Ludger Scherer für die Übernahme der Zweitkorrektur sowie meinem Doktorvater Prof. Dr. Bernhard Huß, der mich seit meiner Zeit als Student in Erlangen unterstützt hat. Dank ihm konnte ich Erfahrungen als Studentischer und Wissenschaftlicher Mitarbeiter sammeln und in Berlin einen neuen Lebensabschnitt beginnen. Diese Zeit, in der ich viele Freundschaften knüpfen, neuen Hobbys nachgehen und kulturelle Höhepunkte erleben durfte, will ich nicht missen. Auch Prof. Dr. Klaus W. Hempfer spreche ich meine tiefe Verbundenheit aus: Dank eines Arbeitsvertrags zur Durchführung letzter redaktioneller Arbeiten an seiner Monographie Literaturwissenschaft – Grundlagen einer systematischen Theorie war es mir möglich, meine wissenschaftliche Arbeit auch nach Ablauf des DFG-Projekts in Berlin fortzusetzen. Last but not least danke ich Maya Feile Tomes, die ihrerseits die letzte Feile an meine englischsprachige Zusammenfassung angelegt und sie sprachlich derart verfeinert hat, wie ich es selbst nie zu tun vermocht hätte. München, im Februar 2021

https://doi.org/10.1515/9783110732405-202

Inhaltsverzeichnis Danksagung

V

Abkürzungen für die meistzitierten Primärtexte 1 1.1

1.2 1.2.1 1.2.2 1.3 1.3.1 1.3.2 1.3.3 1.3.4 1.3.5 1.4 1.4.1 1.4.2

2

XI

Einführendes zur Kolumbus-Epik 1 Einleitung: Die Entdeckung der Neuen Welt im Rahmen des DFG-Projekts ‘Epische Modellierung ideologischer Konflikte in der Frühen Neuzeit’ 1 Die Kolumbus-Epik im Frankreich des 18. Jahrhunderts 5 Ungebrochene epische Ambitionen 8 Die Thematik der Entdeckungsfahrten 20 Kolumbus und sein Projekt 39 Vorbemerkungen; Facetten einer Persönlichkeit 39 Kolumbus: moderner Wissenschaftler oder mittelalterlicher Denker? 40 Finanzielle und missionarische Beweggründe für Kolumbus’ Projekt 59 Kolumbus und die biblische Eschatologie; der Libro de las Profecías 68 Fazit 86 Abstammungstheorien und Atlantis 88 Monogenetischer und polygenetischer Ansatz 90 Atlantis: Gleichsetzung mit der Neuen Welt und ‘missing link’ der zwei Welten 104

Epische Modellierung des ideologischen Konflikts in den fünf Kolumbus-Epen ab 1750 113 2.1 Einleitendes zum Vorgehen 113 2.2 Hintergrundfolie: Epische Modellierung in den frühen neulateinischen Epen 117 2.3 Die ideologische Diversität der fünf Kolumbus-Epen ab 1750 122 2.3.1 Du Boccage, La Colombiade und Bourgeois, Christophe Colomb, ou l’Amérique découverte 122 2.3.1.1 Annäherung an die Kolumbus-Epen ab 1750; enzyklopädische Fußnoten 122 2.3.1.2 Du Boccage, La Colombiade: Einführendes, grundlegende Ideologie 125

VIII

Inhaltsverzeichnis

2.3.1.3 2.3.1.4 2.3.2 2.3.2.1 2.3.2.1.1 2.3.2.1.2 2.3.2.1.3 2.3.2.1.4 2.3.2.2 2.3.2.2.1 2.3.2.2.2 2.3.2.3 2.3.3 2.3.3.1 2.3.3.2 2.3.3.2.1 2.3.3.2.2 2.3.3.3 2.3.4 2.3.4.1 2.3.4.2 2.3.4.2.1 2.3.4.2.2 2.3.4.3

3 3.1 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4

Bourgeois, Christophe Colomb: Selbstverständnis des Autors, grundlegende Ideologie 142 Wissensinszenierungen bei Bourgeois und Du Boccage 161 Lesuire, Le Nouveau Monde 178 Kontextualisierung des Epos 178 Roman und Epos 178 Christliche Missionierung 189 Empfindsamkeit 199 Antifanatismus 212 ‘Dispositio’ des Epos: Modellierung der Dichotomie ‘Kolumbus vs. Spanier’ 219 ‘Spanierbild vs. Kolumbusbild’ 219 Räumliche Modellierung der Dichotomie ‘Kolumbus vs. Spanier’ 234 Fazit: Lesuires epische Modellierung 291 Laureau, L’Amérique découverte 294 Einführendes; Bemerkungen zum Forschungsstand 294 ‘Dispositio’ des Epos: Kolumbus’ ‘gloire’-Streben 298 Das einschichtige Kolumbusbild 298 Die ‘Second voice’ des epischen Erzählers 307 Fazit: Laureaus epische Modellierung 315 Peramás, De invento Novo Orbe 319 Forschungsstand und zeitgenössischer Kontext der Jesuitenvertreibung 319 ‘Dispositio’ des Epos 337 Chronotopik der göttlichen Sphäre 337 Das Nebeneinander von biblischen und vergilischen Motiven 345 Fokuserweiterung: Bibelreferenzen in den zeitgenössischen französischen Epen 389

Gegenüberstellung epischer Modellierungen der ‘Abstammungstheorie’ 399 Naturwissenschaftlicher Exkurs zur Bewohnbarkeit der Erde (‘Zonentheorie’) 399 Abstammungstheorien und Atlantis 406 Placcius’ Atlantis retecta 406 Peramás’ De invento Novo Orbe 411 Carraras Columbus 420 Lesuires Le Nouveau Monde 424

Inhaltsverzeichnis

Laureaus L’Amérique découverte 458 Bourgeois’ Christophe Colomb 460 Du Boccages La Colombiade 464 Fazit 467 Schlussgedanken 467

3.2.5 3.2.6 3.2.7 3.2.8 3.3 4 4.1 4.2

IX

Kurzfassungen der Ergebnisse der Dissertation 471 Kurzfassung der Ergebnisse der Dissertation auf Englisch Kurzfassung der Ergebnisse der Dissertation auf Deutsch

Appendix

481

Literaturverzeichnis

585

Personenverzeichnis

605

Stichwortverzeichnis

607

471 474

Abkürzungen für die meistzitierten Primärtexte AD CCAD COL DINO INC NM LA LP

L’Amérique découverte (Laureau) Christophe Colomb, ou l’Amérique découverte (Bourgeois) La Colombiade (Du Boccage) De invento Novo Orbe (Peramás) Les Incas (Marmontel) Le Nouveau Monde (Lesuire) Lettres sur l’Atlantide de Platon (Bailly) Libro de las Profecías (Columbus)

https://doi.org/10.1515/9783110732405-204

1 Einführendes zur Kolumbus-Epik 1.1 Einleitung: Die Entdeckung der Neuen Welt im Rahmen des DFG-Projekts ‘Epische Modellierung ideologischer Konflikte in der Frühen Neuzeit’ Ein Lineal muss gerade und nicht hübsch verziert sein, um seinen Zweck zu erfüllen. Und doch greifen wir spontan nach dem optisch ansehnlicheren. Die Hülle, in der ein Schwert steckt, kann noch so beeindruckend sein, sie verrät noch lange nichts über die Qualität der Klinge. Beim Menschen lassen wir uns durch Besitz und Kleidung blenden und verkennen die inneren Werte als entscheidende Gütekriterien. Wenn Seneca in seinen Epistulae morales1 solcherlei Thesen immer und immer wieder repetitiv formuliert, tut er dies mit einer klaren Absicht: Nur ein stetes Monieren dieses typisch menschlichen Fehlverhaltens kann es auch ausmerzen. Seine LeserInnen sollen dafür sensibilisiert werden, dass wir auf Äußerlichkeiten ein zu großes Augenmerk legen und umgekehrt oftmals das verkennen, was das jeweilige Ding oder Lebewesen genuin ausmacht.2 Eben diesen Umstand, dass es schwierig ist, einer ‘geschickt eingepackten’ Sache einen entlarvenden Blick entgegenzuhalten, machen sich seit jeher verschiedene Bereiche und Personengruppen der Gesellschaft zunutze. Von der antiken Geschichtsschreibung bis hin zu modernen Werbeagenturen lässt sich beobachten, wie ein und derselbe Gegenstand bzw. ein und dasselbe historische Faktum durch eine geschickte rhetorische Inszenierung ganz unterschiedlich wahrgenommen, angepriesen, verunglimpft werden kann. Besonders zielführend ist dieses Vorgehen natürlich immer gerade dann, wenn es um bisher Unbekanntes, um ‘Neuheiten’ geht, bei denen die Adressaten nicht wissen, worin deren ‘genuiner Kern’ überhaupt genau besteht. Die vorliegende Monographie widmet sich nun dem literarischen ‘Verpacken’ der wohl größten ‘Neuheit’ der Moderne, der ‘Entdeckung’ Amerikas des Christopher Kolumbus, dessen Entdeckungsfahrten auch mehrere Jahrhunderte nach dem historischen Datum 1492 die Menschheit fasziniert, nicht zuletzt, weil über den ‘genuinen Kern’ dieser schillernden, mitunter mythisch verklärten Persönlichkeit aus Genua längst nicht alles bekannt ist – was einer individuell perspektivierenden literarischen Verarbeitung zuspielt.

1 Die Beispiele stammen aus Ep. 76. 2 Vgl. «quod illi proprium est» (Sen. Ep. mor. 76, 14; zitiert nach L. Annaeus Seneca: Ad Lucilium Epistulae morales. Herausgegeben von L. D. Reynolds. Oxford: Clarendon Press 1965). https://doi.org/10.1515/9783110732405-001

2

1 Einführendes zur Kolumbus-Epik

Kaum eine Thematik dürfte derart ausgiebig und breit behandelt worden sein wie die ‘Entdeckung’ Amerikas durch Kolumbus,3 und gerade für das historische Faktum der kolumbischen Entdeckungsfahrten wurde die Bedeutung der literarischen Filterung in der Forschung bereits ausufernd diskutiert.4 Demgegenüber fokussiert die vorliegende Monographie ein bisher von der Forschung kaum beachtetes Korpus von vier französischen Kolumbus-Epen und einem neulateinischen (aus Spanien stammenden) epischen Heldengedicht über Kolumbus,5 die alle aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stammen: Anne-Marie Du Boccages La Colombiade ou La foi portée au Nouveau Monde (1756), Nicolas Louis Bourgeois’ Christophe Colomb, ou l’Amérique découverte (1773), Robert-Martin Lesuires Le Nouveau Monde (1781), Pierre Laureaus L’Amérique découverte (1782) und José Manuel Peramás’ De invento Novo Orbe inductoque illuc Christi Sacrificio (1777). Obwohl diese Epen im Grunde immer konstant dieselbe historische Persönlichkeit mit denselben (durch eine Fülle an Reiseberichten bezeugten) Handlungen in den Blick nehmen, kann deren Analyse eindrücklich belegen, wie durch

3 Bezüglich der Masse an Reiseberichten, Bildern, Texten usw. samt ihrer Behandlung in der Sekundärliteratur schreibt schon Greenblatt vielsagenderweise: «a lifetime would not suffice to grasp what was disseminated throughout Europe in the first few generations alone» (Stephen Greenblatt: Marvelous Possessions. The Wonder of the New World. Oxford: Clarendon Press 1991, S. 145). 4 Schon mit Blick auf die allerersten Berichte aus der Neuen Welt gilt, dass literarische Verarbeitungen und «poetic rewritings» (Dino S. Cervigni: An Introduction. In: Annali d’Italianistica 10 (1992), S. 8) den Blick auf das tatsächlich vorliegende Geschehen und Gesehene verunklaren oder einseitig gewichten. Mit Kolumbus’ erstem Brief aus der Neuen Welt, der in verschiedene Sprachen übersetzt wurde, beginnt bereits das, was Cervigni als «continued process of writing and rewriting, interpreting and reinterpreting» (ebda., S. 9) der vermittelten Berichterstattung bezeichnet. Auch wenn dieser Filterprozess bzw. diese ‘ideologische Verzerrung’ für sämtliche literarischen Genera im weitesten Sinne gilt, trifft sie insbes. auf die fiktionale Literatur zu, «that carries – oftentimes more markedly so than historiography – all the signs of the prevailing ideology» (ebda., S. 9). Vgl. etwa Borchmeyer, der in seiner Monographie, welche sich den Chronisten des Kolumbus und seiner Reisen widmet, betont, man solle «die aus [den jeweiligen Texten] sprechende Interpretation der Wirklichkeit und die zu diesem Zwecke verwendete sprachliche Form der Darstellung [...] betrachten», wobei es nicht darum gehen solle, «aus den Texten die historische Wahrheit abzuleiten, sondern vielmehr darum, zu untersuchen, wie sich die Chronisten den Dingen der Neuen Welt in ihrer Fremdheit nähern» (Florian Borchmeyer: Die Ordnung des Unbekannten. Von der Erfindung der Neuen Welt. Berlin: Matthes & Seitz 2009, S. 36). 5 Wie Jean-Marie Roulin unterstreicht, eröffnet das Epos stärker als etwa die Geschichtsschreibung die Möglichkeit, «[de] donner un sens à l’événement singulier»: Durch die individuelle epische Modellierung eines herausragenden Ereignisses gibt der Autor stets «les valeurs qui doivent prévaloir dans le présent» zu erkennen und seine Vorstellungen «[de] l’avenir de la collectivité»; jedes Epos hat ein «deuxième niveau de lecture» und ist «[une] œuvre d’actualité» (Jean-Marie Roulin: L’Épopée de Voltaire à Chateaubriand: poésie, histoire et politique. Oxford: Voltaire Foundation 2005, S. xvii f.).

1.1 Einleitung

3

die Individualität der Dichterpersönlichkeiten und deren in die Epen eingespielten Weltsichten aus ein und demselben Stoff ganz unterschiedlich geartete Kolumbus-Epen hervorgehen.6 Sie sind alle auf ihre Weise Spiegel der zeitgenössischen soziokulturellen Umstände ab 17507 und unterscheiden sich durch ihren distanzierenden Blick von über 300 Jahren trotz etlichen motivischen Ähnlichkeiten klar von früheren neulateinischen Kolumbus-Epen, die von der Forschung bereits gründlicher behandelt wurden.8 Hervorgegangen ist die vorliegende Arbeit aus dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekt ‘Epische Modellierung ideologischer Konflikte in der Frühen Neuzeit’ (2014–2018) unter der Leitung von Prof. Dr. Bernhard Huß (FU Berlin). Wie zusammenfassend in der ersten Projektmonographie Ideologie und Chronotopik im Epos9 zusammengestellt wird, gehen die Projektmitarbeiter davon aus, dass die Grundlage eines jeden Epos ein weltanschaulicher (i. e. ‘ideologischer’) Konflikt bildet, den das jeweilige Epos dann individuell durch literarische Mittel ausgestaltet (i. e. ‘modelliert’). Da in meiner Arbeit die Resultate zum im Projektantrag verankerten Themenbereich ‘Epische Konfrontationen mit der Neuen Welt’ zusammengestellt werden, besteht das entscheidende ideologische Grundproblem im Aufeinandertreffen der ‘heidnischen Sphäre der Neuen Welt’ mit der ‘christlichen Sphäre der Welt’. Die AutorInnen versuchen jeweils mithilfe verschiedener epischer Strategien, die Neue Welt in die Wertsetzungen der alteuropäischen Sphäre zu integrieren.10 Bei der

6 Villalba de la Güida spricht vom stets identischen Kern dieser Epen, vom «argumento, perfectamente definido y acotado en las coordenadas de tiempo y espacio» (Israel Villalba de la Güida: Virgilianismo y tradución clásica en la épica neolatina de tema colombino. Ph.D. dissertation. Universidad Complutense de Madrid 2012, S. 122). Im Anschluss an die Feststellung von P. Frantz «On a vu trop souvent dans l’épopée une poésie ‹naïve›» (Pierre Frantz: Introduction. In: Ders. (Hg.): L’Épique. Fins et confins. Paris: Presses Universitaires Franc-Comtoises 2000, S. 4) werden wir die Vielschichtigkeit des Genres aufzuzeigen versuchen. 7 Vgl. die geradezu als ‘Binsenweisheit’ zu bezeichnende, dennoch nicht minder treffende Feststellung «literature [...] is embedded in the emotional and intellectual climate of its time» (Lester G. Crocker: An Age of Crisis. Man and World in Eighteenth Century French Thought. Baltimore: The Johns Hopkins Press 1959, S. 404). 8 Vgl. Näheres hierzu später in Kap. 2.2. 9 Vgl. Bernhard Huss/Gerd König/Alexander Winkler: Chronotopik und Ideologie im Epos. Heidelberg: Winter 2016. 10 Dass sich diese Prämissen für die Forschung an den Kolumbus-Epen als zweckmäßig erweisen dürften, geht auch bereits aus den Ausführungen eines der versiertesten Forscher auf dem Gebiet der neulateinischen Kolumbus-Epen, Heinz Hofmann, hervor. Er betont, die neulateinischen Kolumbus-Epen «versuchten, den Diskurs über die Entdeckungen von Columbus in antike literarische Gattungen einzuformen und so bewußt in verfremdender Gestalt darzustellen» (Heinz Hofmann: Aeneas in Amerika. Komplikationen des Weltbildwandels im Humanismus

4

1 Einführendes zur Kolumbus-Epik

literarischen Modellierung dieses Kontakts spielt die Inszenierung des Raums eine zentrale Rolle, weshalb in den entsprechenden Kapiteln, in denen der epische Raum des ein oder anderen Epos analysiert wird, auch auf das begriffliche Instrumentarium zurückgegriffen wird, welches von Huss/König/Winkler (2016) bereitgestellt wird (vgl. Tabelle 1). Zumal die vorliegende Monographie vornehmlich die Kolumbus-Epen ab 1750 in den Blick nimmt,11 setzt Kap. 1 damit ein, in aller Knappheit den Stellenwert der Kolumbus-Epik in Frankreich zu einer Zeit zu umreißen, in der die Diskussion über die positiven und negativen Folgen der Kolonialisierung Amerikas allgemein den literarischen Betrieb bestimmt. Hiernach werden grundlegende Informationen über den historischen Rahmen der Kolumbusfahrten geliefert und die (durch Geschichtswerke und Reiseberichte überlieferten) charakterlichen Eigenschaften des Genuesen skizziert, welche in den Epen jeweils unter anderer Schwerpunktsetzung in den Vordergrund gerückt werden: sei es Kolumbus’ Ruhmstreben, sein christlicher Missionierungseifer oder sein Glaube an den wissenschaftlichen Fortschritt. In Kap. 2 werden dann die vorgenannten Kolumbus-Epen mit ihrem jeweils eigenen ideologischen Zuschnitt und der diese ‘Weltkonfiguration’ transportierenden epischen Modellierung erhellt. Begleitend soll die ausführliche Appendix mit den tabellarischen Inhaltsübersichten der wenig bekannten Epen ab 1750 künftigen ForscherInnen und LeserInnen den Einstieg in das Feld der KolumbusEpik erleichtern. Zwei Epen erhalten eine besonders ausführliche Behandlung, da sie mir im Rahmen meiner Forschungsarbeit besonders gewinnbringend erschienen. Zum einen der 26 Gesänge umfassende Nouveau Monde Lesuires, da er bis dato von der Forschung in seiner Machart inhaltlich wie dispositorisch nicht durchschaut wurde; zum anderen Peramás’ Epos De invento Novo Orbe, das eine hilfreiche Kontrastfolie für die französischen Epen liefert, zumal es sich dezidiert gegen den u. a. in Frankreich greifbaren antispanischen Grundtenor richtet.12 Über-

am Beispiel neulateinischer Columbusepen. In: Philologus 139 (1995), S. 38) – was wir unter ‘epischer Modellierung ideologischer Konflikte’ fassen. Dabei bestehe die Aufgabe der Epiker darin, «die Komplexität des historischen Geschehens zu reduzieren und für die epische Erzählung zu selektieren» (ebda., S. 56). 11 Insgesamt muss konstatiert werden, dass sich die Entscheidung als gewinnbringend erwiesen hat – entgegen des eingangs angedachten DFG-Projektantrags – neben den (bzw. anstelle der) frühen neulateinischen Kolumbus-Epen, die sich innerhalb der Grenzen der gemeinhin als ‘Frühe Neuzeit’ bezeichneten Epoche befinden, die weit nach der ‘Entdeckung Amerikas’ abgefassten Kolumbus-Epen ab 1750 in den Blick zu nehmen. Vgl. hierzu Kap. 2.1 12 Für einen ersten Einblick in die beiden Epen siehe auch die Vorveröffentlichung Gerd König: Colomb comme héros épique à la fin des Lumières. In: Roman Kuhn/Daniel Melde (Hg.): La guerre et la paix dans la poésie épique en France (1500–1800). Stuttgart: Steiner 2020,

1.2 Die Kolumbus-Epik im Frankreich des 18. Jahrhunderts

5

haupt wurde es erst vor einigen Jahren wiederentdeckt, sodass unsere Beobachtungen unmittelbar an erste Veröffentlichungen anschließen können.13 In jüngster Vergangenheit wurde außerdem just den beiden von uns herausgestellten Autoren von anderer Seite – punktuell und mit anderem inhaltlichen Fokus – erstmals wieder intensivere Beobachtung geschenkt.14 In Kap. 3 wird schließlich exemplarisch anhand eines einzelnen Aspekts – nämlich des für die Kolumbus-Epik topisch gewordenen Motivs der Abstammungstheorien sowie des sagenumwobenen Atlantis – eine Gegenüberstellung der Epen vorgenommen. Es kann hier eindrucksvoll belegt werden, wie unterschiedlich die Epiker zeitgenössisch ‘brisante’ Themen verarbeiten und individuell nuancieren. Es bleibt außerdem vorauszuschicken, dass beim Großteil der Primärtexte unseres Hauptkorpus in Ermangelung moderner Textausgaben auf die ursprünglichen Editionen zurückgegriffen wird. Dabei wird selbstverständlich die Originalgraphie respektiert. Scheinbare ‘Orthographiefehler’ sind insofern beabsichtigt, vgl. z. B. ‘ame’ statt ‘âme’, ‘faisois’ statt ‘faisais’, ‘loix’ statt ‘lois’, ‘encor’ statt ‘encore’ oder ‘aprends’ statt ‘apprends’.

1.2 Die Kolumbus-Epik im Frankreich des 18. Jahrhunderts Bevor wir uns konkret den Kolumbus-Epen ab 1750 widmen, gilt es kurz zu umreißen, weshalb es gerade in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einem derart späten Auftreten einer Vielzahl von Kolumbus-Epen kommt.15 Diese Frage stellt sich insbesondere, da zwar die Gattung ‘Epos’ als solche – wie ich an anderer

S. 249–262, die anlässlich des 11. Kongresses des Frankoromanistenverbands 2018 in Osnabrück entstand. 13 Wir hoffen also, durch die Gegenüberstellung der französischen Epen in unserer Arbeit eine Lücke füllen zu können, die Maya Feile Tomes angesprochen hat, nämlich eine Positionierung des Peramás’schen Epos in der Strömung der ‘Spätaufklärung’; vgl. Maya Feile Tomes: News of a Hitherto Unknown Neo-Latin Columbus Epic, Part II. José Manuel Peramás’s De Invento Novo Orbe Inductoque Illuc Christi Sacrificio (1777). In: International Journal of the Classical Tradition 22 (2015), S. 254. 14 Vgl. Desiree Arbo: The Uses of Classical Learning in the Río de la Plata, c. 1750–1815. Ph.D. dissertation. Coventry: University of Warwick 2016; sowie Robert-Martin Lesuire: Robert, ou Confessions d’un homme de lettres pour servir à l’étude de la nature et de la société. Herausgegeben von Bénédicte Obitz-Lumbroso. Paris: Garnier 2018. 15 Vgl. «un tel développement» (François Jacob: Amérique épique. Le cas de Christophe Colomb. In: Pierre Frantz (Hg.): L’Épique. Fins et confins. Paris: Presses Universitaires FrancComtoises 2000, S. 210).

Topographische Dimension Statische, nicht-zeitliche Lokalisierungen im Raum (ohne die diachrone Dimension von Figurenbewegung und -handlung); Raumangaben können dabei ideologische Implikate haben

Diskursive Dimension Vermittlung von lokalisierter Handlung in unterschiedlichen Tempi sowie von räumlicher Information in deskriptiven Pausen. Einsatz von Deiktika, Toponymika, Eigennamen; Angabe der physischen Eigenschaften des Raums (vorne vs. hinten, oben vs. unten, rechts vs. links). Ideologische Wertung sowohl im ‘Oberflächendiskurs’ (sprachlich-stilistische Faktur) als auch im ‘Tiefendiskurs’ (Präsentationsmodus: u. a. Erzähleridentität und -position, Perspektivierung)

Importierter Schau plartz

Transfor- Finmierter gierter Schau Schauplatz platz

Schauplätze Aufenthaltsorte von Figuren der Handlung (z. B. Tor, Lager, Stadt, Wald, Berg)

Interne NullExterne Fokali- fokali- fokalisierung sierung sierung

Nahsicht Perspektive auf Einzelschauplatz und Mikrochronotopos

Setting

Topographische Zone Gesamter Bereich aller von Figuren der Haupthandlung betretenen Schauplätze (importiert, transformiert oder fingiert) unter Einschluss etwaiger ‘weißer Flecken’ (unbestimme Bereiche)

Übersicht Summe der Perspektiven auf die von Figuren betretenen Schauplätze und Mikrochronotopoi, daher Übersicht über die Topographische Zone und die Ereignisregion (wechselnde Fokalisierungen, ggf. umfassende Nullfokalisierung)

Figurenraum

Topographischer Horizont Gesamter Bereich aller vom Text thematisierten Schauplätze (mit Aufenthalt der Figuren der Haupthandlung) und Orte (ohne Aufenthalt der Figuren) (importiert, transformiert oder fingiert)

Gesamtsicht Summe der Perspektiven auf die Topographische Zone und die Ereignisregion sowie auf vom Text thematisierte Örtlichkeiten, daher Gesamtsicht auf den Topographischen Horizont und auf den Makrochronotopos (wechselnde Fokalisierungen, ggf. umfassende Nullfokalisierung)

Handlungskosmos

Tabelle 1: Raumnarratologische Begrifflichkeiten nach Bernhard Huss/Gerd König/Alexander Winkler: Chronotopik und Ideologie im Epos, S. 63.

6 1 Einführendes zur Kolumbus-Epik

Chronotopische Dimension Entsteht durch Verortung von Handlungsdiachronie in der Topographischen Dimension. Durch implizite und explizite diskursive Wertung in ideologisch distinkte Bereiche gegliedert (semiosphärische Organisation) Mikrochronotopos Handlungszone des einzelnen Schauplatzes und des ihn direkt umgebenden Bewegungsbereichs

Ereignisregion Summe aller Mikrochronotopoi der Haupthandlung unter Einschluss etwaiger ‘weißer Flecken’ (unbestimmte Bereiche)

Makrochronotopos Summe aus der Ereignisregion und allen nicht von den Figuren der Haupthandlung betretenen, aber vom Text thematisierten raumzeitlichen Bereichen (mit unzugänglichen, projizierten, hypothetischen, kontrafaktischen Chronotopoi; z. B. Raumzeiten epischer Gleichnisse)

1.2 Die Kolumbus-Epik im Frankreich des 18. Jahrhunderts

7

8

1 Einführendes zur Kolumbus-Epik

Stelle bereits bilanziert habe16 – schon im 16. Jahrhundert in Frankreich einen entscheidenden Aufschwung erhält, die Kolumbus- bzw. die Neue-Welt-Thematik in der Epik Frankreichs zunächst jedoch jahrhundertelang keine Rolle spielt.17

1.2.1 Ungebrochene epische Ambitionen Durch die Wiederentdeckung der aristotelischen Poetik in der Romania war das Interesse am klassisch-antiken Formenkanon gewachsen und es konnte eine tiefgehende Dichtungsdiskussion einsetzen – mit der nicht zuletzt in den italienischen Poetiken (Vidas, Trissinos oder auch Scaligers) anzutreffenden Korrektur des aristotelischen Systems im Sinne einer Gattungsvalorisierung des Epos gegenüber der Tragödie und seiner Positionierung an die Spitze der Gattungshierarchie. Diese Begeisterung für das Epos bricht auch nach dem 16. Jahrhundert nicht ab.18 Das Desiderat, diese oberste ‘case vide’19 der Gattungshierarchie mit einem gelungenen Nationalepos zu füllen und der nationalen Erwartungshaltung genüge zu tun, hält sich ungebrochen auch bis ins 18. Jahrhundert.20 Nachdem bereits Ronsard an die-

16 Vgl. Gerd König: Die Gattung des Epos im Frankreich des 16. und 17. Jahrhunderts. Aktuelle Zeitgeschichte in epischer Verarbeitung. Unveröffentlichte Zulassungsarbeit. Erlangen-Nürnberg: Friedrich-Alexander-Universität 2014, S. 5–24. 17 Vgl. Roger Friedlein: Kosmovisionen. Inszenierungen von Wissen und Dichtung im Epos der Renaissance in Frankreich, Portugal und Spanien. Stuttgart: Steiner 2014, S. 33, sowie Klára Csűrös: Variétés et vicissitudes du genre épique de Ronsard à Voltaire. Paris: Champion 1999, S. 152. Vor 1750 gibt es nur kleinere Einlagen in epischen Texten, die sich mit der Neuen Welt beschäftigen. Zuvörderst ist Du Bartas’ unvollendete Seconde Semaine (1584) zu nennen, wobei bei ihr keine wirkliche Heldenhandlung vorliegt, es sich vielmehr um ein Bestaunen der Welt des Schöpfers handelt. Vgl. Yvonne Bellenger: La découverte du monde et sa description dans Les Semaines de Du Bartas. In: Anikó Kalmár (Hg.): L’exotisme dans la poésie épique française: in memoriam Klára Csűrös: actes du colloque international de Paris, 26–28 octobre 2000. Paris/ Budapest/Turin: L’Harmattan 2003, S. 153. Ferner ist Lescarbots La deffaite des Sauvages Armouchiquois par le Sagamos Membertou et ses alliez Sauvages (1607) zu nennen, in dem sich jedoch zwei Völker der Neuen Welt kriegerisch gegenüberstehen und nicht die Opposition ‘Alte Welt vs. Neue Welt’ vertextet wird. Vgl. Denis Bjaï: La défaite des Sauvages Armouchiquois, un poème héroïque de la Nouvelle-France. In: Anikó Kalmár (Hg.): L’exotisme dans la poésie épique française, S. 187. 18 «[L]e goût pour l’épopée ne sembl[e] pas faiblir» (Roland Virolle: Mme Du Boccage, Voltaire, le pape et Christophe Colomb. In: Christiane Mervaud/Sylvain Menant (Hg.): Le siècle de Voltaire. Hommage à René Pomeau. Oxford: Voltaire Foundation 1987, S. 956). 19 Vgl. für diese Bezeichnung Siegbert Himmelsbach: L’épopée ou la ‘case vide’. La réflexion poétologique sur l’épopée nationale en France. Tübingen: Niemeyer 1988, passim. 20 Vgl. Siegbert Himmelsbach, Das Mittelalter im französischen Epos des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Reinhold R. Grimm (Hg.): Mittelalter-Rezeption. Zur Rezeptionsgeschichte der romani-

1.2 Die Kolumbus-Epik im Frankreich des 18. Jahrhunderts

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sem Unterfangen gescheitert war und seine Franciade teils aus politischen Gründen unfertig abbrechen musste, versuchten sich auch noch gut zwei Jahrhunderte später namhafte Autoren an einem Epos, so etwa der junge Chateaubriand (Les Natchez, 1790).21 Die epische Gattungstheorie, die im 18. Jahrhundert ebenso weiter en vogue ist, ist dabei mit Blick auf die formale und inhaltliche Füllung des Genres von großer Disparatheit gekennzeichnet, die zur Zeit der Aufklärung ihren Höhepunkt erreicht.22 So begegnet man einem breiten Spektrum an Texten, welche alle einer mehr oder minder vagen Vorstellung davon folgen, wie ein perfektes Epos gestaltet sein soll, und welche im Rückblick von Kritikern nicht selten als mediokre Produkte dieser Gattung disqualifiziert werden, die im 20. Jahrhundert schließlich gänzlich totgesagt wird.23 Roulin, der in seiner Monographie von 2005 einen (in mehrere Phasen unterteilten) Durchzug durch die Entwicklung des Epos im 18. Jahr-

schen Literaturen des Mittelalters in der Neuzeit. Heidelberg: Winter 1991, S. 36. Vgl. ferner Bruno Méniel: Renaissance de l’épopée. La poésie épique en France de 1572 à 1623. Genf: Droz 2004, S. 25; Leo Pollmann: Das Epos in den romanischen Literaturen. Verlust und Wandlungen. Stuttgart: Kohlhammer 1966, S. 127 f.; Jean-Marie Roulin: Les Incas de Marmontel, S. 159. JeanMarie Roulin: L’Épopée de Voltaire à Chateaubriand, S. xi, spricht auch für den von ihm behandelten Zeitraum (1723–1815) davon, [que l’épopée reste] l’objet d’un desiderium extrêmement puissant». Hiervon zeugen nicht nur viele Neuauflagen und Übersetzungen der Epen Homers oder Tassos, sondern Roulin zählt auch über 80 neue Epen(fragmente) und Versuchsskizzen. Vgl. ebda., S. xiii und S. 37, sowie Jenő U. Németh: La raison d’être d’un genre ‘avorté’. La théorie du poème héroïque sous l’Ancien Régime. In: Acta romanica 3 (1976), S. 90; Terry M. Pratt: Of Exploration and Exploitation: the New World in Later Enlightenment Epic. Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 267 (1989), S. 291. 21 Vgl. Jean-Marie Roulin: L’Épopée de Voltaire à Chateaubriand, S. 3. 22 Vgl. Philippe Roger: «Le dernier effort de l’esprit humain?» Réflexions sur l’épopée au siècle des Lumières. In: Pierre Frantz (Hg.): L’Épique. Fins et confins. Paris: Presses Universitaires FrancComtoises 2000, S. 157 und S. 163. Während es in der Gattungshierarchie ebenso oben anzusiedelnden Gattung ‘Drama’ erfolgreiche literarische ‘Zugpferde’ wie Racine oder Corneille gibt, fehlen diese für das Epos; vgl. Fabienne Moore: The Emergence of the Prose Poem in EighteenthCentury France from Fénelon to Chateaubriand. Ph.D. dissertation. New York University: Pro Quest Dissertations Publishing 2001, S. 210. 23 Németh sieht den Grund für die Unmöglichkeit einer Definition darin, dass erfolgreiche Autoren (von Homer über Vergil, Tasso oder Milton) immer auch eigenen Regeln und ihrem gesunden Menschenverstand gefolgt sind. Ferner hätten sich intranationale Ideologien herauskristallisiert, sodass in einzelnen Ländern unterschiedliche Epenkonzeptionen vorliegen; vgl. Jenő U. Németh: La raison d’être d’un genre ‘avorté’, S. 135. S. auch die polemische Anmerkung Bosshards: «Womöglich entspringt die Vorstellung vom Tod des Epos nicht zuletzt dem uneingestandenen Wunschdenken heutiger Rezipienten, die aufgrund ihres Erwartungshorizontes mit epischen Texten nicht (mehr) allzu viel anzufangen wissen» (Marco Th. Bosshard: Die Aufklärung als Nullpunkt epischer Auralität der Moderne? Voltaires Henriade und die Rezitations- und Deklamationspraktiken im Frankreich des 18. Jahrhunderts. In: Romanistisches Jahrbuch 63 (2012), S. 173).

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1 Einführendes zur Kolumbus-Epik

hundert liefert,24 spricht in eben diesem Sinne von einer ernüchternden Ausgangslage zu Beginn des Jahrhunderts (quasi von einer ‘Phase 0’), in der Autoren und Theoretiker oftmals nur das bisherige Scheitern der Epik vom Mittelalter bis ins 17. Jahrhundert beklagen.25 Eine der wenigen positiv beurteilten Ausnahmen bildet Fénelons La Suite du quatrième livre de l’Odyssée d’Homère ou les Aventures de Télémaque, fils d’Ulysse (1699), ein Werk, das in Frankreich große Berühmtheit erlangt und zum Vorbild für das in den kommenden Jahrzehnten Einfluss gewinnende Prosa-Epos erhoben wird.26 Jüngst hat B. Huss, der die rinascimentale französische Epik in den Fokus seiner Forschung rückt, überzeugend dargelegt, wie komplex die Gemengelage theoretischer Einflüsse ist, und dass man den Texten nicht gerecht wird, wenn lediglich (auf der Basis der Maßgabe des neuen Aristotelismus und aus der Retrospektive) vorschnelle negative Werturteile gefällt werden.27 Die ‘Phase 1’ der Gattungsentwicklung wird eingeleitet, als sich Voltaire 1713 bis 1718 an einer Henriade versucht, die im Jahre 1728 dann erstmals unter diesem Titel veröffentlicht wird. Die lange gehegte Hoffnung auf ein Nationalepos scheint tatsächlich endlich von einem bedeutenden Schriftsteller eingelöst zu werden. Voltaire ist in jedem Falle diejenige Persönlichkeit, die auf theoretischer Ebene erstmals eine «rupture volontaire»28 herbeiführt und (in seinem 1727 veröffentlichten Essai sur la poésie épique) für einen freieren Umgang mit den undurchschaubar gewordenen und sich teils widersprechenden theoretischen Vorgaben plädiert, «[et qui réussit] à mettre un peu d’ordre et de bon sens dans tout cela».29 Die Henriade bildet mit über 60 Auflagen jedoch nur die Spitze des Eisbergs, zumal eine ganze Reihe von Autoren sie sich zum literari-

24 Vgl. Jean-Marie Roulin: L’Épopée de Voltaire à Chateaubriand, S. xix. 25 Vgl. ebda., S. 13 f. Vgl. ferner Klára Csűrös: Variétés et vicissitudes du genre épique de Ronsard à Voltaire, S. 113: «Le verdict de la théorie est [...] unanime [...] à travers les siècles». 26 Vgl. Terry M. Pratt: Of Exploration and Exploitation, S. 310. Roulin unterstreicht, dass das 18. Jhdt. «un moment-clé dans le développement de la relation entre poème épique et roman» darstellt, zumal durch Werke wie Fénelons Télémaque die Grenzen der beiden Genres zunehmend verwischt werden; vgl. Jean-Marie Roulin: La ‘romanisation’ du héros dans l’épopée du tournant des Lumières. In: Dominique Boutet (Hg.): Le Romanesque dans l’épique. Actes du Colloque du Groupe de recherche sur l’épique de l’Université de Paris X Nanterre (22–23 mars 2002). Nanterre: Centre des Sciences de la Littérature 2003, S. 255 27 Vgl. Bernhard Huss: Rinascimentale Epostheorie und das Projekt der Aktualitätsepik in Frankreich. Working Paper No. 4 der FOR 2305 Diskursivierungen von Neuem. Freie Universität Berlin 2017, S. 3 f. 28 Jenő U. Németh: La raison d’être d’un genre ‘avorté’, S. 133. 29 R. Thomas Watson: L’Amérique de Madame du Boccage d’après sa «Colombiade». A Thesis Submitted in Partial Fulfillment of the Requirements for the Degree of Master of Arts. Washington: University of Washington 1955, S. 16.

1.2 Die Kolumbus-Epik im Frankreich des 18. Jahrhunderts

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schen Vorbild erhebt.30 In der Auseinandersetzung mit Voltaire kommt es dann zu einer ‘Phase 2’ der Gattungsentwicklung, als deren wohl bedeutendste Vertreter Jean-François Marmontel und Johann-Georg Sulzer zu nennen sind. Marmontel veröffentlicht 1746 eine Henriade-Ausgabe und legt mit der darin enthaltenen ‘Préface’ den Grundstein für seine eigene einflussreiche ‘Epentheorie’.31 Die gattungstheoretischen Diskussionen speisen sich dabei vornehmlich aus drei Themenkomplexen,32 die hier kurz skizziert werden, da sie auch in den Vorwörtern der von uns in der Folge behandelten Kolumbus-Epen immer wieder Behandlung finden:33 Hierunter fällt (1) die Frage nach der Wahl des Stoffes. Gattungstypische ‘klassisch-antike’ Themen werden dabei modernen (etwa der Neue-Welt-Thematik) gegenübergestellt. Außerdem sind sich die Theoretiker uneins, welchen der disparaten, aber allesamt kanonisch gewordenen epischen Vorbildern – von Homer zu Vergil, über Lucan, Milton, Tasso und Ariost hin zu Camões – man beim Abfassen von Epen folgen soll.34 Zu nennen ist (2) die Frage, ob man die (seit jeher gattungstypische) Versform wählen oder für ein Prosaepos plädieren soll. Alles in allem setzt sich im 18. Jahr-

30 Wenngleich sich in den ersten 20 Jahren unmittelbar nach der Veröffentlichung der Henriade zuerst einmal kein größerer epischer Versuch mehr dokumentieren lässt. Vgl. R. Thomas Watson: L’Amérique de Madame du Boccage, S. 18; Terry M. Pratt: Of Exploration and Exploitation, S. 292; Jean-Marie Roulin: L’Épopée de Voltaire à Chateaubriand, S. 61 und S. 107; Fabienne Moore: The Emergence of the Prose Poem in Eighteenth-Century France from Fénelon to Chateaubriand, S. 210; Dietrich Briesemeister: Columbus als ‘Apostel und Eroberer’ im französischen Epos des 18. Jahrhunderts. In: Titus Heydenreich (Hg.): Columbus zwischen zwei Welten. Historische und literarische Wertungen aus fünf Jahrhunderten. Bd. 1. Frankfurt am Main: Vervuert 1992, S. 307. 31 Marmontels ‘Epentheorie’ fußt neben besagter ‘Préface’ insbes. auf folgenden Primärtexten: dem Epos-Artikel (s. v. ‘épopée’) in der Encyclopédie (1755), seiner Poétique française (1763), der Übersetzung der Pharsalia Lucans (1761–1766) sowie den Eléments de littérature française (1787). Vgl. Jean-Marie Roulin: Les Incas de Marmontel, ou comment être un poète philosophe. In: Pierre Frantz (Hg.): L’Épique. Fins et confins. Paris: Presses Universitaires Franc-Comtoises 2000, S. 195; Jean-Marie Roulin: L’Épopée de Voltaire à Chateaubriand, S. 102. 32 Vgl. u. a. Fabienne Moore: The Emergence of the Prose Poem in Eighteenth-Century France from Fénelon to Chateaubriand, S. 214–216, und Philippe Roger: Réflexions sur l’épopée au siècle des Lumières, S. 164. 33 An geeigneter Stelle werden wir jeweils in den Anm. exemplarisch auf Lesuires ‘Préface’ zum Nouveau Monde verweisen, in der nahezu alle für das 18. Jhdt. als entscheidend herausgehobenen Aspekte Erwähnung finden. 34 Voltaire legt seinen Fokus auf die klassische Machart des antiken Epos nach Homer, Vergil und Lucan. Er äußert sich aber durchaus positiv über moderne Stoffe, an denen sich die tragende Rolle der Religion sowie das Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen herausarbeiten lässt. Voltaire unternimmt zudem eine Revalorisierung Ariosts mit dem bei ihm anzutreffenden ‘merveilleux féerique’ vor (vgl. Jean-Marie Roulin: L’Épopée de Voltaire à Chateaubriand, S. 3–5, S. 14, S. 22 und S. 61).

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1 Einführendes zur Kolumbus-Epik

hundert der Grundtenor durch, dass Dichtung als solche sich nicht durch die Versform definieren lässt.35 Eine klare Zuordnung eines Texts zur epischen Gattung erfolgt also auf andere Weise: z. B. über thematische Aufgriffe, inhaltliche Querverweise bzw. intertextuelle Referenzen,36 durch das Einspielen topisch gewordener Reden oder auch durch den Rückgriff auf ein griechisch-römisch angehauchtes Handlungsszenario. Voltaire kommt – «in light of the experimentations conducted by his contemporaries»37 – im distanzierenden Blick insofern eine Sonderstellung zu, als er die Versifikation noch als entscheidendes Kriterium für ein Epos herausstellt.38 Marmontel wiederum argumentiert in seiner ‘Préface’ zur Henriade noch, ein Gedicht erfordere die Gestaltung in Versen. Später – «dès l’article ‘épopée’ de l’Encyclopédie» von 1755 – moniert er jedoch deren Monotonie und «propose dans la Poétique française (1763) de l[a] remplacer par une prose cadencée».39 Kurz darauf publiziert Marmontel sein in Prosa verfasstes, zwischen Epos und Roman changierendes Werk Les Incas, ou la Destruction de l’empire du Pérou (1777). Es verwundert insofern kaum, dass unter den zeitgleich in Frankreich entstehenden Kolumbus-Epen ab 1750 auch ein Prosaepos rangiert.40 Trotz dieser sich stärker abzeichnenden Tendenz rechtfertigen sich Autoren noch lange Zeit dafür, ein Prosa-Epos verfasst zu haben, so z. B. Chateaubriand in Les Martyrs (1809).41 In enger Verbindung zu Punkt (2) ist auch auf (3) die Gattungsabgrenzung zum Roman einzugehen.42 Hier wird v. a. (3a) die Bedeutung des ‘Wunderbaren’,

35 Vgl. Jean-Marie Roulin: La ‘romanisation’ du héros dans l’épopée du tournant des Lumières, S. 256. Moore weist auf den exemplarischen Paratext Bitaubés (Guillaume de Nassau, ou la Fondation des Provinces-Unies von 1775), bei dem die Antinomie ‘Vers vs. Prosa’ aufgehoben ist und bei dem die Verwendung von Prosa in der Dichtung als gegeben angesehen wird; vgl. Fabienne Moore: The Emergence of the Prose Poem in Eighteenth-Century France from Fénelon to Chateaubriand, S. 220. 36 Man denke an Odysseus’ Abenteuerfahrten in Fénelons Télémaque. 37 Fabienne Moore: The Emergence of the Prose Poem in Eighteenth-Century France from Fénelon to Chateaubriand, S. 211. 38 Weshalb Télémaque für ihn ein moralischer Roman ist, Lucans Bürgerkriegsepos Pharsalia dagegen (entgegen Bossu) trotz des fehlenden ‘merveilleux’ ein mustergültiges Epos, da die Geschichte an sich überzeugt, vgl. Jean-Marie Roulin: L’Épopée de Voltaire à Chateaubriand, S. 63. 39 Jean-Marie Roulin: La ‘romanisation’ du héros dans l’épopée du tournant des Lumières, S. 260. 40 Vgl. den Text Laureaus, behandelt in Kap. 2.3.3. Auch zeugt die Prosaform des Epos bei Laureau nicht zwingend von einem ‘Schritt hin zum Roman’; vgl. ebda., S. 260. 41 Vgl. Fabienne Moore: The Emergence of the Prose Poem in Eighteenth-Century France from Fénelon to Chateaubriand, S. 224 f. 42 Zur Überschneidung der Gattungen s. Jean-Marie Roulin: L’Épopée de Voltaire à Chateaubriand, S. 45 f.: «la stabilité générique est une illusion».

1.2 Die Kolumbus-Epik im Frankreich des 18. Jahrhunderts

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des ‘merveilleux’ sowie (3b) eine verpflichtende moralische Grundausrichtung des Epos diskutiert. Die Diskussion um das ‘merveilleux’ (3a) wurde bereits in ähnlicher Weise im 16. und 17. Jahrhundert virulent. Seinerzeit beschäftigte die neuzeitlichen Dichtungstheoretiker die Frage, wie ‘wahrscheinlich’ der für das Epos kennzeichnende mythisch-pagane Götterapparat in einer vom Christentum geprägten Zeit überhaupt sein kann.43 Dabei wurde dessen genrebildende Bedeutung niemals ernstlich angezweifelt, sondern er wurde stets als einer der «standard epic topoi»44 verstanden, die das Epos von der Geschichtsschreibung unterscheiden.45 Im 18. Jahrhundert wird nun zusätzlich zu diesem Spannungsfeld (‘merveil-

43 Vgl. Bernhard Huss/Gerd König/Alexander Winkler: Die Gattung des Epos im Frankreich des 16. und 17. Jahrhunderts, S. 18–20. In gewissem Maße war diese Fragestellung bereits in der Antike angelegt, als in der Tragödie die Darstellung von göttlichem Eingreifen und Verwandlungsdarstellungen auf der Bühne schon recht früh verpönt war, vgl. Bruno Méniel: Renaissance de l’épopée, S. 108. Insgesamt bleibt jedoch festzuhalten, dass der Götterapparat noch bei den Pléiade-Dichtern nicht eigens in theoretischem Rahmen thematisiert und schlicht in seiner paganen Ausgestaltung als selbstverständlich vorausgesetzt wurde. Darüber hinaus betont Németh, der Götterapparat sei selbst bis ins 17. Jhdt. noch eingesetzt worden, um den Wahrheitsgehalt der Fiktion zu untermauern; vgl. Jenő U. Németh: La raison d’être d’un genre ‘avorté’, S. 138. 44 Richard G. Maber: Monsters in 17th Century French Epic Poetry. In: Dennis Fletcher (Hg.): The Monstruous. Durham: University Press 1987, S. 46. 45 Vgl. Bruno Méniel: Renaissance de l’épopée, S. 318 f. Scaliger hebt erstmals seine Bedeutung als bestimmendes Gattungsmerkmal in seinen Poetices libri septem (1561) heraus; ihm folgt sodann der Großteil der Theoretiker, die im Rahmen der von ihnen gegebenen Definitionen von ‘Epos’ das ‘Wunderbare’ nennen. Nachdem Vauquelin de la Fresnaye in seinem Art poétique françois (1574 bzw. 1605) erstmals den Einbau der christlichen ‘machina’ (also des himmlischen Gottes, seiner Engel und der Höllenmächte) in der Theorie angedacht hat, setzt der überzeugte Hugenotte Du Bartas in seiner Sepmaine (1578/1584) als Vorreiter in der Praxis einen vornehmlich christlich ausgestalteten Götterapparat um und beschränkt das ‘merveilleux païen’ auf ein Minimum, vgl. Siegbert Himmelsbach: L’épopée ou la ‘case vide’, S. 138 und S.161. «[D]ie erste kohärente Theorie des christlichen Wunderbaren» (Reinhard Krüger: Zwischen Wunder und Wirklichkeit. Die Krise des französischen Versepos im 17. Jahrhundert. Marburg: Hitzeroth 1986, S. 101) liefert Torquato Tasso. Er betont einerseits ganz allgemein die Bedeutung des ‘Wunderbaren’ für das Epos, und andererseits, dass nur das christliche ‘Wunderbare’ im Sinne einer geglaubten Wahrheit als ‘wahrscheinlich’ gilt (vgl. Siegbert Himmelsbach: L’épopée ou la ‘case vide’, S. 142; Bruno Méniel: Renaissance de l’épopée, S. 109). Tassos Ansicht konnte sich bis zum Ende des 17. Jhdts. in Frankreich durchsetzen. Während sich im 16. Jhdt. noch mehr oder minder unreflektiert verschiedene Arten des Götterapparats in den Epen finden und dieser bisweilen völlig pagan ausgestaltet ist, kommt es allmählich zu Mischungen, bis im Laufe des 17. Jhdt. größtenteils ein rein christlicher Götterapparat Anwendung findet. Krüger führt als Begründung das Ende der Religionskriege und die Dominanz des katholischen Glaubens ab 1628 an und interpretiert diese Entwicklung vor der engen Verquickung von Politik und Religion, welche den paganen Götterapparat nicht mehr zeitgemäß erscheinen lässt (vgl. Reinhard Krüger: Zwischen Wunder und Wirklichkeit, S. 102 f.). Diese im di-

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leux païen’ vs. ‘merveilleux chrétien’) die grundsätzliche Frage aufgeworfen, ob das Epos mit seinem genretypischen ‘merveilleux’ noch mit der Epoche der Aufklärung vereinbar ist. Während René Le Bossu, dessen Traité sur le poème épique (1675) großen Einfluss auf die in den ‘dictionnaires’ des 18. Jahrhunderts vorzufindenden Ependefinitionen hat, und seine Anhänger von der «primauté du discours religieux»46 überzeugt waren, hatte Voltaire die Regeln zum ‘merveilleux’ gelockert und sich für mehr Lizenzen ausgesprochen.47 So wurde der Götterapparat teils durch ein «système d’allégories» bzw. «clichés stéréotypés»48 ersetzt, bei dem die Menschenhandlung nur atmosphärisch durch personifizierte Größen (wie die ‘Gloire’, die ‘Mensonge’ oder die ‘Mollesse’) begleitet wird. Dieses Vorgehen findet sich unverändert bei einer Vielzahl seiner Nachfolger, darunter auch bei einigen der von uns behandelten Kolumbus-EpikerInnen. Diese Leitregel Voltaires zum ‘merveilleux’ möchte Marmontel wiederum annulliert wissen: «rendre facultatif le ‘merveilleux’ n’est pas une solution, c’est une dissolution – une liquidation pure et simple du genre».49 Marmontel betont die Unabdingbarkeit des ‘Wunderbaren’, das lediglich für die im Epos beschriebenen Völker ‘wahrscheinlich’ sein müsse. Alles in allem überwiegt also – und das mag auf den ersten Blick unerwartet erscheinen – auch im 18. Jahrhundert der Rückgriff auf einen christlichen Götterapparat.50 stanzierenden Blickwinkel linear erscheinende Entwicklungslinie täuscht über die eigentlichen Prozesse, die kritischen Auseinandersetzungen und die Probleme, vor die sich die Autoren in dieser Zeit gestellt sahen, hinweg. Schließlich sind die Nachwirkungen der ausgiebigen Diskussion um das Wunderbare noch in der Querelle des Anciens et des Modernes spürbar. Es gibt eben triftige Gründe, die antike ‘machina’ mit einzubeziehen: Zuvörderst den Autoritätsdruck klassischer Epen, die man übertreffen wollte und deren ‘decorum’ die antike ‘machina’ bildet (vgl. Klára Csűrös: Variétés et vicissitudes du genre épique de Ronsard à Voltaire, S. 274–277; Siegbert Himmelsbach: L’épopée ou la ‘case vide’, S. 138–140). 46 Jean-Marie Roulin: L’Épopée de Voltaire à Chateaubriand, S. 88. 47 Vgl. R. Thomas Watson: L’Amérique de Madame du Boccage, S. 17. 48 Jenő U. Németh: La raison d’être d’un genre ‘avorté’, S. 139. 49 Philippe Roger: Réflexions sur l’épopée au siècle des Lumières, S. 166. 50 Vgl. Jean-Marie Roulin: L’Épopée de Voltaire à Chateaubriand, S. 39 f. Das Festhalten an der ‘mythischen Verbrämung’ lässt Frantz die vernunftbegeisterte Aufklärung bezeichnen als «une période qui, plus que toute autre, paraît étrangère à l’épique alors qu’elle connaît encore l’épopée» (Pierre Frantz: Introduction, S. 4). Lesuire thematisiert in seiner ‘Préface’ ebenso das ‘merveilleux’ und positioniert sich gegen das Verhaftetsein in alten Mustern: «Que devais-je faire ? Quel genre de merveilleux choisir chez une Nation qui ne croit plus à rien, qui exige de la vraisemblance jusque dans le moindre Roman ?» (Robert-Martin Lesuire: Le Nouveau Monde. Poème. Paris/Eleuthéropolis: Quillau 1781, S. x; im Folgenden wird nach dieser Ausgabe mit der Abkürzung NM und der entsprechenden Band- und/bzw. Seitenzahl zitiert). Insbes. liefert er eine ausführliche Begründung für die Wahl eines speziellen ‘merveilleux’, das sich aus der Eigentümlichkeit ‘Amerikas’ ergibt, das bei Europäern Ver- und Bewunderung erregen kann: «Un récit d’ailleurs ne peut être

1.2 Die Kolumbus-Epik im Frankreich des 18. Jahrhunderts

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Voltaire hatte durch das weitgehende Ausblenden ‘göttlicher’ Eingriffe den Fokus auf die Menschenhandlung verstärkt: Der Held selbst soll nach Möglichkeit hinter seine heldenhafte Leistung zurücktreten,51 und dem Lesepublikum soll vermittelt werden, dass jeder Mensch ohne Rücksicht auf seine Abstammung allein durch seine Taten zum epischen Helden werden kann. Diese Vorstellung ist nach Voltaire auch für Marmontel bzw. ganz allgemein für das 18. Jahrhundert kennzeichnend52 und lässt sich über die beiden großen thematischen Sparten der Epik dieser Zeit hinweg verfolgen: von biblisch-pastoralen Stücken, die thematisch gesehen ca. ein Drittel der Epen des 18. Jahrhunderts ausmachen, und in denen private Figuren durch ihr heldenhaftes Handeln herausstrahlen,53 bis hin zu den Kolumbus-Epen, in denen der aus einer nichtadligen Familie stammende Kolumbus als «individu qui devient grand par son action»54 gefeiert wird. Die Kolumbus-Epen sind dabei «a distinctive subdivision»55 des ‘poème historique’,56 dem

poétique, si l’on n’y répand un certain prestige, si l’on n’y peint des Êtres magiques ; aussi ai-je laissé paraître de temps en temps des fantômes épiques qui semblent ne demander qu’à se placer dans mon Poeme, & qui sont exclus dès qu’ils se montrent. Ces personnages moraux & allégoriques, que je laisse entrevoir, n’interrompent point l’ordre naturel dans lequel je me suis restraint, parcequ’ils n’ont aucune influence dans l’action, parcequ’ils ne sont introduits qu’indirectement à l’aide de cette formule il semble & autres pareilles ; de sorte qu’ils ne doivent être pris que pour des expressions figurées & métaphoriques ; mais il [sic!] font soupçonner du moins un certain monde intellectuel & poétique, que j’aurais pu créer pour servir de supplément à la Mythologie & à la Féerie employées par mes prédécesseurs» (NM xj). 51 Dies setzt er auch in seiner Henriade um: «la responsabilité du devenir historique est arrachée au ciel pour être remise entre les mains d’un souverain terrestre» (Jean-Marie Roulin: L’Épopée de Voltaire à Chateaubriand, S. xix). 52 Roulin spricht von einer «promotion du plébéien au rang épique», die sich etwa auch in Voltaires satirischer Novelle Candide bestätigt findet, in welcher der ‘Held’ alles andere als makellos erscheint; vgl. Jean-Marie Roulin: Les Incas de Marmontel, Zitat S. 201. 53 Vgl. etwa Le Clercs Tobie von 1773. 54 Jean-Marie Roulin: L’Épopée de Voltaire à Chateaubriand, S. 157. 55 Terry M. Pratt: Of Exploration and Exploitation, S. 318. 56 Vgl. Jean-Marie Roulin: L’Épopée de Voltaire à Chateaubriand, S. 37–39, und Fabienne Moore: The Emergence of the Prose Poem in Eighteenth-Century France from Fénelon to Chateaubriand, S. 246, die ein ‘historisches’ Epos vom «Pastoral, ‹Romanesque›, Didactic, and Biblical [epic]» unterscheidet. Kennzeichnend ist die Suche nach neuen Themen, die Distanzierung von Helden wie Jeanne d’Arc oder Clovis hin v. a. zu Innenpolitik und rezenteren Themen wie der Französischen Revolution (vgl. das Epos von Pagès de Vixouze zum spanischen Erbfolgekrieg, La Philippide, ou l’Avènement de Philippe de France à la couronne d’Espagne, 1784) oder dem ‘Empire’ unter Napoleon. Für die biblisch-pastoralen Heldengedichte der Zeit stellt insbes. Miltons Paradise Lost (1667) eine entscheidende Vorlage dar, s. weiter unten in diesem Kap.

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die übrigen zwei Drittel der Epen angehören.57 Oftmals halten aber auch dort in gewissem Maße biblisch-pastorale Züge Einzug. Wird nun für die beschriebene Heldentat ein nationenübergreifendes Thema von einem «intérêt public»58 gewählt, kann das Epos einen erzieherischen Beitrag für die Gesellschaft leisten.59 Zwar setzt sich Voltaire dezidiert von der Position Bossus ab, der seine Gattungsdefinition eben darauf gründet, dass hinter jedem Epos eine didaktisch-moralische Lehre stecken muss, wofür die Geschichte als ‘Exemplum’ herangezogen wird (3b). Aber Roulin sieht in Voltaire nicht zu Unrecht den Initiator einer Geschichtsphilosophie, in dessen Werken sehr wohl moralische Gesichtspunkte bzw. Interpretationen der Geschichte «suivant les besoins des transformations sociales souhaitées»60 zentral gestellt werden.61 Marmontel wiederum folgt Voltaire insofern, als auch für ihn die Auseinandersetzung mit historischen Begebenheiten die «reflexion sur le présent» ermöglicht.62 Für ihn ist das epische Genre aufgrund seiner «grandeur & [...] importance universelles»63 für die Umsetzung eines didaktischen Aspekts prädestiniert, da es ein größeres Publikum anzusprechen vermag als etwa der Roman. Diesem Vorteil lässt sich gleich auch ein Nachteil an die Seite stellen: In Marmontels Augen machen die Fülle an ‘récits’ sowie der Mangel an Szenischem den Misserfolg der epischen Gattung aus. Um sie mit mehr Leben zu füllen, spricht er sich für eine Theatralisierung der Gattung im Sinne einer ‘Auralität’ aus:64 Das

57 Vgl. Dietrich Briesemeister: Columbus als ‘Apostel und Eroberer’ im französischen Epos des 18. Jahrhunderts, S. 293 und S. 318. 58 Jean-Marie Roulin: Les Incas de Marmontel, S. 201. 59 Die Modellierung von «héros philosophes» (ebda., S. 201), die sich pazifistisch und aufgeklärt von «la sagesse ou la volonté de comprendre l’Autre» (Jean-Marie Roulin: L’Épopée de Voltaire à Chateaubriand, S. xiv) leiten lassen, steht dabei nicht selten diametral den ‘klassisch’ modellierten epischen Kriegshelden gegenüber. 60 Jean-Marie Roulin: L’Épopée de Voltaire à Chateaubriand, S. 63; vgl. ebenso S. 85. 61 Vgl. ebda., S. 14 und S. 52 f. Eine Mittelstellung zwischen Bossu und Voltaire nehmen im zweiten Viertel des 18. Jhdts. Theoretiker wie Louis Racine und Charles Batteux ein. Für sie ist weder die Menschen- noch die Götterhandlung das entscheidende Moment, sondern deren Zusammenspiel. Ein fehlendes ‘merveilleux’ ist dem Epos abträglich; entscheidender als ein moralischer Ausgangspunkt scheint der ‘furor poeticus’ der Dichter, vgl. ebda.: S. 91 f. 62 Entscheidend ist hierbei der «regard anthropologique sur l’épique» (Pierre Frantz: Introduction, S. 5). 63 Jean-Marie Roulin: L’Épopée de Voltaire à Chateaubriand, S. 104. 64 Vgl. ebda., S. 102 und S. 106, sowie den zwölften Band der Encyclopédie von 1765 s. v. ‘poème épique’. Vgl. Jean-Marie Roulin: Les Incas de Marmontel, S. 205, der etwas paradox von «une proposition de rénovation épique, avortée en tant que telle» spricht. Marco Th. Bosshard: Die Aufklärung als Nullpunkt epischer Auralität der Moderne?, S. 181, fasst dieses Moment der «Theatralisierung des Epos», das zur Zeit der Aufklärung immer stärker das epische

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Implementieren von «éléments théatraux»65 in den ‘récit’ soll zu einer besseren Identifikation mit dem Helden führen. Dieses Vorgehen setzt er selbst dann in seinem eigenen ‘epischen Versuch’, seinen Incas, in die Praxis um. Sie lassen sich als ein «prototype générique»66 bzw. als «un nouveau modèle d’épopée» lesen, wenngleich Marmontel seinen Text nach eigener Aussage nicht als Epos verstanden haben will.67 Auf Marmontels berühmte Incas werden wir im Laufe unserer Arbeit immer wieder als Referenztext verweisen. Der ‘episodisch’ angelegte Text Marmontels, der nachgerade als eine Art Anti-Epos berühmt geworden ist, entbehrt einer teleologischen Zuspitzung im engeren Sinne, kritisiert die Eroberung Perus und perspektiviert sie aus der Sicht der Ureinwohner. Dabei werden die unnötigen Grausamkeiten der Europäer diffamiert, die von den Bewohnern des verherrlichten Incas-Reiches selbst so viel hätten lernen können.68 Dadurch, dass Marmontels auf einen zentralen Helden verzichtet und als Werktitel den Namen des besiegten Volkes heranzieht,69 ist er zu lesen als eine bewusste Antwort auf die Fülle an «poèmes épiques glorifiant la geste de Cortes ou de Colomb».70 Auf diese wiederum kommt Roulin in seiner Monographie aus dem Jahre 2005 vor der Behandlung der Incas kurz im Sinne einer Einstimmung zu sprechen und stellt deren thematische Verbindung heraus. Den von uns behandelten Kolumbus-Epen

Genre ausmacht, unter dem Begriff ‘Auralität‘ und sieht den geschriebenen epischen Text, dem im Allgemeinen das theatralische Moment fehlt, einen Aufführungstext (etwa im Rahmen einer Rezitation oder Deklamation im Sinne einer Lektüre mit Mimik und Gestik). Bereits bei Voltaire nehmen die Verweise auf die Auralität mit dem Alter zu und er forciert diesen Konnex – was sich etwa an den Nachbearbeitungen der Henriade erkennen lässt, aber auch an seinem Prosaepos Bélisaire (1767), vgl. ebda., S. 179 f., S. 189 und S. 192–194. 65 Jean-Marie Roulin: Les Incas de Marmontel, S. 195. 66 Ebda., S. 195. 67 Ebda., S. 205. Marmontel zeigt eine «hesitation in classifying his historical prose epic» (Fabienne Moore: The Emergence of the Prose Poem in Eighteenth-Century France from Fénelon to Chateaubriand, S. 216) «qui s’apparente à l’épique, mais où les valeurs qu’il veut illustrer ‹romanisent› le propos» (Jean-Marie Roulin: La ‘romanisation’ du héros dans l’épopée du tournant des Lumières, S. 260), wenn er sagt: «je ne sais, je l’avoue, comment le définir». Handelt es sich ggf. um Understatement, wenn er schreibt, ein Epos sei nicht intendiert? 68 Vgl. Fabienne Moore: The Emergence of the Prose Poem in Eighteenth-Century France from Fénelon to Chateaubriand, S. 254; Monique Delhoume-Sanciaud: Le degré zéro de l’état de nature: anthropophages et barbares dans Les Incas de Jean-François Marmontel (1777). In: Caravelle 4 (2000), S. 100; Terry M. Pratt: Of Exploration and Exploitation, S. 314; John Renwick: Les Incas de Marmontel, sources et enjeux: un philosophe lit les historiens et les voyageurs. In: Travaux de littérature 24 (2011), S. 167 f. 69 Es wird absichtlich nicht auf das typische Vorfahren bei der Titelgebung zurückgegriffen, wonach man an den Namen des Helden die Endung ‘-ide’/‘-ade’ anhängt, sodass sich – analog zur Henriade – z. B. eine Colombiade ergibt. 70 Jean-Marie Roulin: La ‘romanisation’ du héros dans l’épopée du tournant des Lumières, S. 259.

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ab 1750 kommt also im Rahmen der Gattungsentwicklung des Epos durchaus eine Bedeutung zu. Insbesondere Lesuire setzt sich intensiv mit Marmontels experimentellem Text auseinander, integriert gewisse Elemente daraus in seinen Nouveau Monde und distanziert sich an anderen Stellen bewusst von seinem Zeitgenossen, um sein Epos seinerseits generisch zu positionieren.71 Im Kontext der weiteren Entwicklung des Genres darf die bereits erwähnte ‘Auralität’ des Epos nicht zu gering gewichtet werden: In Johann-Georg Sulzers Eintrag s. v. ‘épopée’ in Denis Diderots Supplément à l’Encyclopédie von 1776, welcher ein Stück weit Marmontels Eintrag von 1755 ablöst, distanziert sich Sulzer von Gattungsregeln, die dem Epos im Nachhinein aufoktroyiert werden und von seiner schriftlichen Fixierung ausgehen. Er benennt als entscheidende Qualität der Gattung dessen «nature primitive»,72 also seine rituelle Oralität: Das Epos ist genuin auf eine mündliche Tradition von Barden bzw. ‘jongleurs’ zurückzuführen, die seinerzeit mit Pathos auf nationalen Festlichkeiten heldenhafte Leistungen in Versen besangen, und bei welcher der Aspekt des ‘Peformativen’ im Zentrum steht.73 In diesem Kontext wird der Odyssee bzw. der Ilias Homers als ‘Ur-Epik’ ein ungemein hoher Stellenwert zugesprochen. Epiker, die wie Homer noch von einem ‘furor poeticus’ inspiriert zu sein schienen,74 faszinieren viele französische Autoren der Zeit. Zu nennen sind hierbei insbesondere neue Werksammlungen, bei denen ‘uralte’ nordische Mythen im Zentrum stehen: Die zwei Versionen der im 13. Jahrhundert in Island niedergeschriebenen Edda, die 1755 bzw. 1756 erstmals von Paul-Henri Mallet ins Französische übertragen werden, oder auch die 1765 erschienenen Poems of Ossian von James MacPherson. Dieser hatte in Schottland Fragmente mündlich tradierter, nordischer Heldengeschichten zu einem Prosawerk verquickt und dem fingierten Dichter Ossian zugeschrieben.75

71 Vgl. Kap. 2.3.2. 72 Johann-Georg Sulzer: L’épopée. In: Denis Diderot (Hg.): Supplément à l’Encyclopédie ou Dictionnaire Raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers. Bd. 2 (BO-EZ). Amsterdam: Rey 1776, S. 828. 73 Vgl. Jean-Marie Roulin: L’Épopée de Voltaire à Chateaubriand, S. xx und S.133 f. 74 Lesuire formuliert in seiner ‘Préface’ eine Kritik an der zeitgenössischen französischen Epik, die sich aus eben diesem Einfluss heraus erklären lässt: Der gängige Musenanruf ist seiner Meinung nach eine sinnentleerte epische Worthülse – «une pantomime sans but & sans objet» (NM xiij) – an die niemand mehr wirklich glaubt. In diesem Sinne fährt er fort: «Nous nous disons inspirés, sans nous sentir, sans nous croire inspirés». Daher verzichtet Lesuire in seinem Epos auf einen klassischen Musenanruf, sondern ruft die historische ‘Vérité’ an. Die jüngst entdeckten skandinavischen Epen seien dagegen – wie Homer – noch von einem ernstzunehmenden ‘furor’ inspiriert (vgl. NM xv). 75 Bereits 1760 werden 15 Kurzgedichte als Fragments of Ancient Poetry veröffentlicht. Im Vorfeld sind Einheimische über Legenden befragt, und diese so zusammengetragen worden. Nach-

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Abgesehen von diesem Fokus auf möglichst ‘genuine’ Gattungsvorbilder findet sich zeitgleich ein nicht minder markanter Einfluss vonseiten englisch- und deutschsprachiger Theoretiker und Autoren, die dem biblischen Epos mit pastoraler Färbung neuen Schwung verleihen wollen.76 Über große Strahlkraft verfügt das in Frankreich viel rezipierte und adaptierte idyllische Epos Der Tod Abels (1758) des Schweizer Idyllendichters Salomon Gessner. Dieser wurde wiederum von den Schweizer Theoretikern Johann Jakob Breitinger und Johann Jakob Bodmer inspiriert. Das entscheidende Referenzwerk bildet für all die genannten aber Miltons Paradise Lost (1667), welches Bodmer 1742 in Prosa überträgt. Jean Gillet dokumentiert in seiner Monographie von 1975 den Einfluss Miltons auf das epische Genre in Frankreich, an das u. a. La Baume-Desdossat mit seiner Fortsetzung des Paradis perdu (1753) oder auch Paul Jérémie Bitaubés Joseph (1767) direkt anschließen.77 Am Œuvre der Madame Du Boccage, der einzig weiblichen Autorin eines Kolumbus-Epos,78 lassen sich eindrucksvoll die beiden genannten Einflussquellen dokumentieren: Kurz vor dem Abfassen ihres Kolumbus-Epos La Colombiade (1756) liefert sie mit ihrem Paradis terrestre (1748) die erste französische Versversion von Miltons Paradise Lost, das bei Weitem nicht die einzige Übertragung in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts bleiben sollte. Kurz nach ihrem Kolumbus-Epos veröffentlicht sie eine Imitation Gessners (La mort d’Abel, 1760), welche das enge Verweben der einzelnen Kategorien zu einer Art ‘nostalgischbiblischem Epos mit idyllisch-pastoraler Färbung’ belegen kann.79 Die biblischen Epen transportieren außerdem oftmals kritische Seitenhiebe gegenüber den französischen Intellektuellen der Aufklärung. In La Baume-Desdossats La Christiade

dem 1761 Fingal und 1763 Temore veröffentlicht worden sind, kommt es 1765 dann zum Sammelband The Works of Ossian, dem 1773 ein zweiter Band folgt. Vgl. Paul van Tieghem: Le Préromantisme. Études d’histoire littéraire européenne, vol. I. Genf: Slatkine 1973, S. 200 f.; JeanMarie Roulin: L’Épopée de Voltaire à Chateaubriand, S. 142 und S. 147; Michel Brix: La Voix du peuple: sur la réhabilitation de l’épopée à l’âge romantique. In: Saulo Neiva (Hg.): Déclin & confins de l’épopée au XIXe siècle. Tübingen: Narr 2008, S. 114. 76 Aufgrund der Knappheit dieser Einleitung kann auf weitere Einflüsse und Intertexte kaum eingegangen werden, die von den Kolumbus-EpikerInnen in deutlich geringerem Maße als Vorbilder erwähnt werden. Es versteht sich von selbst, dass neben Milton auch einer Reihe anderer Vorbilder nachgeeifert wurde, etwa Dante oder Tasso, man denke nur an Charles-François Lebruns französische Übersetzung der Gerusalemme Liberata Tassos von 1774 usw. 77 Jean Gillet: Le Paradis perdu dans la littérature française. De Voltaire à Chateaubriand. Paris: Klincksieck 1975. 78 Sie wird in Kap. 2.3.1 noch näher zu beleuchten sein. 79 Es findet auch in der genannten Monographie Gillets zur Miltonrezeption Behandlung, vgl. ebda., S. 199–204. Auf intertextuelle Verweise Lesuires auf Gessner wird an passender Stelle in Kap. 2.3.2. verwiesen.

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wird beispielsweise Satan als ein solcher ‘philosophe’ dargestellt.80 Eine eher seltenere Möglichkeit wählt demgegenüber Bitaubé mit seinem Joseph von 1767, dessen gleichnamiger Held die «valeurs chrétiennes et idées des Lumières»81 miteinander zu versöhnen sucht und dabei laut Roulin nachgerade dem Kolumbus der etwa zeitgleich verfassten ‘Colombiades’ entspreche. Wie in Kap. 2.3.1 näher ausgeführt wird, lässt sich dieses Urteil Roulins so im Einzelfall nicht halten: In Bourgeois’ Kolumbus-Epos kommt es etwa zu einem durchaus eigenwilligen Verweben der zeitgenössischen Ansichten der ‘philosophes’ mit einer an der Bibel orientierten Interpretation der Entdeckung der Neuen Welt. Während sich in England schließlich die biblisch-pastorale Spielart des Epos auch in den folgenden Jahrzehnten noch großer Beliebtheit erfreut, lässt sich innerhalb Frankreichs für die Zeit nach der Französischen Revolution eine ‘dritte Phase’ der Gattungsentwicklung ansetzen, in der die Suche nach der ‘origine de la liberté moderne’ im Zentrum steht.82 Nachdem Bitaubé bereits 1773 in seinem Epos über Wilhelm Tell (Guillaume) das Streben nach Unabhängigkeit thematisierte, beschreibt er in Les Bataves (1797) eine Nation auf Weg hin zur Befreiung. Ähnlich motiviert sind Chérade de Montbrons Les Scandinaves (1801).83 Diese Phase weist jedoch bereits über die von uns zentral gestellten Kolumbus-Epen hinaus.

1.2.2 Die Thematik der Entdeckungsfahrten Nach diesen kurzen Schlaglichtern auf die Gattung ‘Epos’ im 18. Jahrhundert, auf die im weiteren Verlauf der Arbeit an passender Stelle punktuell näher eingegangen wird, soll die Beantwortung der Frage im Zentrum stehen, weshalb es ab 1750, also über 250 Jahre nach Kolumbus’ Entdeckungsfahrten, überhaupt (noch) zu einem plötzlichen Erscheinen von Kolumbus-Epen kommt.84 Zunächst ist zu

80 Vgl. Fabienne Moore: The Emergence of the Prose Poem in Eighteenth-Century France from Fénelon to Chateaubriand, S. 236: «their ideological positioning remained unambiguous», «anti-philosophic, anti-rationalist». 81 Jean-Marie Roulin: L’Épopée de Voltaire à Chateaubriand, S. 156. 82 Vgl. Joseph Crawford: Milton’s Heirs: Epic Poetry in the 1790s. In: Studies in Romanticism 49 (2010), S. 442 f.: «In the mood of heightened national anxiety created by the French Wars, people wanted to hear stories about the triumph of good over evil». 83 Vgl. Jean-Marie Roulin: L’Épopée de Voltaire à Chateaubriand, S. xx und S. 161. 84 Clément spricht angesichts der Fülle an Veröffentlichungen davon, «[que leur] intérêt principal ne réside pas dans la qualité de [leur] style, mais plutôt dans la quantité de [leur] production» (Jean-Pierre Clément: Christophe Colomb, l’Amérique et la littérature française du XVIIIème siècle. In: José Guidi/Monique Mustapha (Hg.): Christophe Colomb et la découverte de

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konstatieren, dass ihr Aufkommen mit einem steigenden Interesse an der Neuen Welt im 18. Jahrhundert per se und einer ganzen Reihe von wirtschaftlich wie politisch relevanten historischen Ereignissen Hand in Hand geht: «Tout [...] redonnait de l’actualité au sujet».85 Nach dem Pariser Frieden von 1763 geht etwa bekanntermaßen die Provinz Québec von den Franzosen an die Engländer über, Louisiane wird 1762 vorübergehend an die Spanier abgetreten (und 1803 von Napoleon an die USA abgestoßen), Haiti und die künftigen USA kämpfen um ihre Unabhängigkeit. «Das 18. Jahrhundert war in kolonialhistorischer Hinsicht kein Jahrhundert der großen Entdeckungen und Eroberungen, sondern eine Epoche des Umbruchs der kulturellen und politischen Beziehungen zwischen Europa und der außereuropäischen kolonialen Welt».86 Die wachsende Verstrickung Frankreichs in den Kolonialismus trägt dazu bei, dass man sich von der vorgeformten, auf Spekulationen und älteren, spanienkritisch ausgerichteten Reiseberichten basierenden Sichtweise auf das koloniale Vorgehen des Konkurrenten Spanien löst. Anstelle eines unhinterfragten Aufgreifens der ‘Légende noire’87 macht man sich reflek-

l’Amérique. Réalités, imaginaire et réinterprétations. Rencontre de la Société des Italianistes de l’Enseignement Supérieur & de la société des Hispanistes Français 3–4 et 5 avril 1992. Aix-enProvence: Publications de l’Université de Provence 1994, S. 239. 85 Roland Virolle: Mme Du Boccage, Voltaire, le pape et Christophe Colomb, S. 956. 86 Hans-Jürgen Lüsebrink: Von der Faszination zur Wissenssystematisierung: die koloniale Welt im Diskurs der europäischen Aufklärung. In: Ders. (Hg.): Das Europa der Aufklärung und die außereuropäische koloniale Welt. Göttingen: Wallstein 2006, S. 9. Vgl. Bartolomé Bennassar/Lucile Bennassar: 1492. Un monde nouveau? Paris: Perrin 1991, S. 50; ferner Jean-Paul Duviols: Le régime colonial espagnol vu par les Français à l’époque des Lumières. In: Groupe interdisciplinaire de recherches et de documentation sur l’Amérique latine (Hg.): L’Amérique espagnole à l’époque des Lumières. Tradition – Innovation – Représentations, Colloque franco-espagnol du CNRS, 18–20 septembre 1986. Paris: Éditions du CNRS 1987, S. 309: «L’élargissement des horizons géographiques, l’exaltation du ‹bon sauvage›, la nécessité des échanges commerciaux, la curieuse disputa del Nuevo Mundo, la remise en cause des gouvernements tyranniques, toutes ces conditions faisaient que l’Amérique était à la mode, plus encore qu’elle ne l’avait été au XVIe siècle». Für ähnliche Begründungen s. Jean-Marie Roulin: L’Épopée de Voltaire à Chateaubriand, S. 108 f., und Catherine Jardin: Préface. In: Anne-Marie Du Boccage: La Colombiade ou La foi portée au Nouveau Monde (1756). Herausgegeben von Milagros Palma/Catherine Jardin. Paris: Côté-femmes 1991, S. 28. 87 Unter der ‘Légende noire’ bzw. ‘Leyenda negra’ ist die einseitig negativ perspektivierte Sicht auf das spanische Vorgehen in der Neuen Welt gemeint, das als menschenverachtend und grausam gebrandmarkt wird. Basis ist eine Fülle an historisch belegten, aber auch erfundenen Geschichten. Von einer ‘Légende noire’ als solcher ist insbes. ab 1550 die Rede, als Bartolomé de Las Casas knapp zehn Jahre nach seiner Abfassung seinen Traktat, die Brevísima relación de la destrucción de las Indias (1542) herausgibt, in dem er harsch die Greueltaten der spanischen Eroberer tadelt und von gut 15 Millionen Toten im Rahmen des ‘Encomienda’-Systems (vgl. Anm. 137 in diesem Kap.) spricht. Im Vertrauen auf die Perfektibilität und Gleichwertigkeit der Indigenen setzt er sich für ihre ordnungsgemäße christliche Unterweisung ein. Sein Werk ist dabei

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tierter Gedanken darüber, wie ein zweckmäßiges Vorgehen in der Neuen Welt auszusehen hat.88 Eine Autopsie des Status Quo des spanischen Vorgehens samt enzyklopädischer Dokumentation erlaubt die erste (gut zehn Jahre dauernde) hispano-französische Expedition in die Neue Welt ab 1735 unter Jorge Juan,

nicht aus dem Nichts entstanden, sondern verschriftlicht religiöse Bedenken, die in Spanien punktuell bereits früh laut geworden sind. Sein berühmtester Widersacher, Juan Ginés de Sepúlveda, argumentiert (u. a. in seinem Democratus Secundus) auf aristotelischer Basis, dass manche Menschen zur Sklaverei geboren seien, und glaubt, die Indigenen müssten gewaltsam zum Christentum gezwungen werden und der Rückgriff auf das ‘Encomienda’-System sei der naturgemäßeste Umgang mit ihnen. Zum emblematisch gewordenen Aufeinandertreffen der beiden kommt es 1550/1551, als König Karl V. in der Kapelle des Colegio de San Gregorio in Valladolid eine Jury einberuft, vor der die beiden Kontrahenten ihre Argumente darlegen. Während in Italien in der zweiten Hälfte des 16. Jhdts. v. a. Sepúlveda gelesen wurde und Las Casas’ Meinung durch Zutun des Klerus kaum in die Literatur eindrang, wurde die Brevísima relación bereits 1579 ins Französische übersetzt und übte großen Einfluss auf Montaigne aus, «qui le premier en France réclamera avec éloquence en faveur des victimes de la Conquête espagnole» (Gilbert Chinard: L’exotisme américain dans la littérature française au XVIe siècle. D’après Rabelais, Ronsard, Montaigne, etc. Genf: Slatkine 1911/1970, S. 188; vgl. S. 173 und S. 178). Vgl. Giuseppe Bellini: Amara America Meravigliosa. La cronaca delle Indie tra storia e letteratura. Rom: Bulzoni 1995, S. 150; Renata Carocci: Introduction. In: Pierre Laureau: L’Amérique découverte. Herausgegeben von Renata Carocci. Fasano: Schena/Paris: Nizet 1994, S. 17; John H. Elliott: Renaissance Europe and America: A Blunted Impact? In: Fred Chiappelli (Hg.): First Images of America: The Impact of the New World on the Old, vol. I. Berkeley: University of California Press 1976, S. 13; Frauke Gewecke: Wie die neue Welt in die alte kam. Stuttgart: Klett-Cotta 1986, S. 201; Giuliano Gliozzi: Adamo e il Nuovo Mondo: La nascità dell’anthropologia come ideologia coloniale: dalle genealogie bibliche alle teorie razziali (1500–1700). Florenz: La Nuova Italia 1977, S. 84 und S. 299; Lewis Hanke: The Theological Significance of the Discovery of America. In: Fred Chiappelli (Hg.): First Images of America, S. 368 f.; David A. Lupher: Romans in a New World. Classical Models in Sixteenth-Century Spanish America. Ann Arbor: The University of Michigan Press 2006, S. 320; Rosario Romeo: Le Scoperte americane nella coscienza italiana del Cinquecento. Milano u. a.: Ricciardi 1954, S. 50 f. und S. 88. 88 Vgl. Jean-Paul Duviols: Le régime colonial espagnol vu par les Français à l’époque des Lumières, S. 309 und S. 318. Frankreich war erst verspätet in die Auseinandersetzung um Kolonien eingestiegen. Noch in der bekannten, zweiteiligen Bulle Inter Caetera (1493) des (spanischen!) Papstes Alexander VI. war Frankreich nirgends erwähnt worden. Erst 1523 kommt es zur ersten offiziellen Fahrt eines Franzosen in die Neue Welt. König François Ier hatte seinerzeit den Italiener Giovanni da Verrazano beauftragt, eine Fahrt nach Nordamerika zu unternehmen, um eine nördliche Passage nach Asien auszumachen. 1524 landet Verrazano mit Florentiner Kaufleuten in Nordamerika; 1534 (bzw. 1536 und 1540) folgt ihm dann Jacques Cartier. Vgl. ferner Miguel Batllori S. J.: The Papal Division of the World and Its Consequences. In: Fred Chiappelli (Hg.): First Images of America, S. 216–219; Carol L. Delaney: Columbus and the Quest for Jerusalem. London: Duckworth Overlook 2012, S. 124; Frauke Gewecke: Wie die neue Welt in die alte kam, S. 17 und S. 25–27; Gilbert Chinard: L’exotisme américain dans la littérature française au XVIe siècle, S. 172.

1.2 Die Kolumbus-Epik im Frankreich des 18. Jahrhunderts

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Antonio de Ulloa, Pierre Bouguer, Louis Godin und Charles Marie de La Condamine.89 «Dieser neue [...] ‹Erkenntniswille›»90 verändert auch den Blick auf Kolumbus als den Wegbereiter des Kolonialismus. Blicken wir etwas weiter zurück: Zwar hatte sich Frankreich seit jeher von Kolumbus’ großer Entdeckung begeistert gezeigt, und Kolumbus’ erster Brief aus der Neuen Welt (De insulis inventis vom 15. Februar 1493) wurde zuerst in Paris gedruckt.91 Aber das Interesse an Kolumbus war relativ schnell auch wieder abgeebbt. Das lässt sich darauf zurückzuführen, dass Kolumbus lediglich seine ersten beiden Reisen ohne nennenswerte Konkurrenten unternimmt. Bald überstrahlen deren Leistungen dann die seinigen:92 Nicht einmal zehn Jahre später feiert Amerigo Vespuccis Mundus novus (1503)93 «ein[en] außergewöhnliche[n] Erfolg»94 und

89 Nur en passant sei angemerkt, dass die enzyklopädische Dokumentationswut bezüglich des ‘Neuen’ bzw. der andersartigen Kultur ‘Amerikas’ und Asiens eher einseitig ausgeprägt war. Asiatische Reiseberichte über Europa sind rar. Wenn, dann wird dort lediglich kurz die Begegnung mit den Europäern dokumentiert. Vgl. Jürgen Osterhammel: Welten des Kolonialismus im Zeitalter der Aufklärung. In: Hans-Jürgen Lüsebrink (Hg.): Das Europa der Aufklärung und die außereuropäische koloniale Welt. Göttingen: Wallstein 2006, S. 23. 90 Hans-Jürgen Lüsebrink: Von der Faszination zur Wissenssystematisierung, S. 10. 91 Vgl. Henri Bédarida: Christophe Colomb dans la littérature française. In: Carlo Pellegrini (Hg.): À travers trois siècles de littérature italienne. Paris: Didier 1957, S. 421. Nähere Informationen zu Kolumbus’ Brief folgen in Kap. 1.3.3. 92 In den Jahren 1499–1501 reisen u. a. bereits Alonso de Hojeda, Cristobal Guerra, Vicente Yañez Pinzón, Diego de Lepe in die Neue Welt. Amerigo Vespucci ist dabei «eine Art wissenschaftlicher Begleiter» (Florian Borchmeyer: Die Ordnung des Unbekannten, S. 217) bzw. kosmographischer Ratgeber Hojedas. Kolumbus’ zweite Reise, die er am 25. September 1493 antritt, erweist sich mit Blick auf die erhofften finanziellen Zugewinne weniger erfolgreich als erhofft und führt ihn erneut zu den Antillen, nach Kuba und Jamaica; er gründet u. a. die Kolonie ‘La Isabela’. Vgl. Jacques Heers: Christophe Colomb. Paris: Hachette 198, S. 248–252; Jaime Díaz-Rozzotto: Christophe Colomb et l’émerveillement de la découverte. In: Jacques Houriez (Hg.): Christophe Colomb et la découverte de l’Amérique, mythe et histoire : actes du colloque international organisé à l’Université de Franche-Comté les 21, 22 et 23 mai 1992. Paris: Les Belles Lettres 1994, S. 76. 93 Allein elf lateinische bis 1506; eine deutsche Übersetzung des Werks erfährt ihrerseits zwölf Neuauflagen in den Jahren 1505–1508. Vgl. Bartolomé Bennassar/Lucile Bennassar: 1492. Un monde nouveau?, S. 29; David B. Quinn: New Geographical Horizons: Literature. In: Fred Chiappelli (Hg.): First Images of America: The Impact of the New World on the Old, vol. II. Berkeley: University of California Press 1976, S. 640. 94 Frauke Gewecke: Wie die neue Welt in die alte kam, S. 105. Während Kolumbus’ Brief in vielen Volkssprachen aufgelegt wurde, hat Vespuccis vornehmlich auf Latein ediertes Werk bis 1555 knapp 60 Ausgaben erlebt und kam als Lehrwerk in der Schule zum Einsatz, vgl. ebda., S. 113.

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bildet in Frankreich bis 1550 das entscheidende Referenzwerk.95 Auch den berühmtesten Persönlichkeiten der Zeit (wie Kopernikus, Thomas Morus oder Montaigne) gilt nicht Kolumbus, sondern Vespucci als der eigentliche Entdecker des Kontinents.96 1507, also nicht einmal ein Jahr nach seinem Tod, wird Kolumbus dann durch Martin Waldseemüller, seine berühmte Weltkarte97 und seinen Vorschlag, den Kontinent nach Vespucci zu benennen,98 nachgerade der Gnadenstoß99 versetzt. So erklärt sich Kolumbus’ relativ geringer Stellenwert als literarische Figur im Frankreich des 16. Jahrhunderts.100 95 Vgl. Bartolomé Bennassar/Lucile Bennassar: 1492. Un monde nouveau?, S. 9 f.; Gilbert Chinard: L’exotisme américain dans la littérature française au XVIe siècle, S. 5; Myron P. Gilmore: The New World in French and English Historians of the Sixteenth Century. In: Fred Chiappelli (Hg.): First Images of America, S. 519; Tzvetan Todorov: Nous et les autres: la réflexion française sur la diversité humaine. Paris: Seuil 1989, S. 301; David B. Quinn: New Geographical Horizons, S. 647. In Frankreich findet Vespuccis Mundus novus, dessen italienisches Original verloren ist, bereits 1503 in der lateinischen Version seinen Weg nach Paris. 96 Laut Florian Borchmeyer: Die Ordnung des Unbekannten, S. 227, besteht das fundamental ‘Neue’ an Vespucci neben der «erstmaligen Konzeption eines eigenständigen Kontinents» in dem Umstand, dass man in ihm den «Prototyp des empirischen Forschers» erkennen kann, bei dem sich auch im Beschreibungsmodus eine «Verbindung von Entdecken, Sehen und Unendlichkeit» findet. 97 Die Cosmographia war insbes. für die von Martin Waldseemüller gezeichnete und beiliegende(n) Karte (bzw. Globussegmente) berühmt. Die Texte zur Cosmographiae Introductio wurden von Matthias Ringmann verfasst, einem Mitglied des Gelehrtenkreises am Gymnasium Vosagense in Lothringen, vgl. Heinz Hofmann: Die Geburt Amerikas aus dem Geist der Antike. In: International Journal of the Classical Tradition 1 (1995), S. 43 f., sowie Heinz Hofmann: Über die Langsamkeit des Wandels von Weltbildern. Die Verarbeitung der Entdeckungen in der neulateinischen Literatur und die Vorgaben der Antike. In: Rudolf Suntrup/Jan R. Veenstra (Hg.): Tradition and Innovation in an Era of Change. Tradition und Innovation im Übergang zur Frühen Neuzeit. Frankfurt am Main u. a.: Lang 2001, S. 20 f. Überblickt man die Fülle der ‘Mappae mundi’, die sich an Waldseemüllers Vorgehen anschließen und die Welt abzubilden suchen, stellt man eine verzögerte Aufnahme wissenschaftlicher Erkenntnisse fest. In der Mitte des 16. Jhdts. wird der Entdeckung ‘Amerikas’ schließlich erst die Bedeutung zuerkannt, die sie verdient, und ‘Amerika’ wird als ein von Asien losgelöster, eigenständiger Kontinent betrachtet, vgl. Alonso de Santa Cruz’ Cronica de los Reyes Catolicos (1550–52) oder Pedro de Alcocers Historia de Toledo (1554). Vgl. Bartolomé Bennassar/Lucile Bennassar: 1492. Un monde nouveau?, S. 38. 98 Der Name ‘Amerika’ hat sich das gesamte 16. Jhdt. noch nicht durchgesetzt, sondern wurde nur von Waldseemüller erstmals propagiert. Vgl. Caesare de Lollis: Cristoforo Colombo nella leggenda e nella storia. Mailand/Rom: Sansoni 31969, S. 235; Jacques Heers: Christophe Colomb, S. 324 f.; Gilbert Chinard: L’exotisme américain dans la littérature française au XVIe siècle, S. 5 f.; Bartolomé Bennassar/Lucile Bennassar: 1492. Un monde nouveau?, S. 29. 99 Vgl. Jaime Díaz-Rozzotto: Christophe Colomb et l’émerveillement de la découverte, S. 77: «il était historiquement enterré»; vgl. David B. Quinn: New Geographical Horizons, S. 642. 100 Henri Bédarida: Christophe Colomb dans la littérature française, S. 420–424, führt einige zentrale literarische Umsetzungen der kolumbischen Entdeckungsfahrten an. Allen voran das

1.2 Die Kolumbus-Epik im Frankreich des 18. Jahrhunderts

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Kurz nach 1520 werden diese Entdeckungsfahrten wiederum durch Neuigkeiten über Hernán Cortés’ Eroberung Mexikos überdeckt. Die hierzu veröffentlichten Cartas de relación ermöglichen zu der Zeit einen authentischeren und spannenderen Einblick in die Vorkommnisse der Neuen Welt als Kolumbus’ etwa zeitgleich noch edierte, zeitverzögert berichtende Briefe (1522–1525) und «fa[nno] dimenticare il momento non tanto lontano della scoperta del Nuovo Mondo».101 Zudem zeichnen sie ein ganz anderes Bild der Indigenen, zumal man es bei den Azteken in Yucatán/Mexiko mit gebildeten Kulturen zu tun hat.102 In der Zwischenzeit werden Kolumbus’ Fahrten in Frankreich v. a. durch Pietro Martire d’Anghieras kompilatorisches Geschichtswerk (durch die zwischen 1511 und 1530 edierten De orbe novo Decades) dennoch noch ein Stück weit präsent gehalten, das neben dem Mundus novus zu den meistgelesenen Werken des 16. Jahrhunderts über den neuen Kontinent zählt.103 Darin verschriftlicht und kommentiert der italienische Mönch Informationen zur Neuen Welt ausgehend von den ersten Entdeckungsfahrten und Berichten des von ihm bewunderten Lands-

vierte Buch von Rabelais’ Pantagruel (1552) mit kosmographischem Charakter, das durch mittelalterliche Sagen, Marco Polo, Thomas Morus sowie die zeitgenössischen Nordamerikafahrten Verrazanos und Cartiers inspiriert ist. Die Hauptquelle stellen die De orbe novo Decades des Pietro Martire d’Anghiera dar, vgl. Gilbert Chinard: L’exotisme américain dans la littérature française au XVIe siècle, S. 50, S. 53, S. 62, S. 78 und S. 231. La Boëtie sieht in ‘Amerika’ ein Refugium vor dem Krieg zwischen Henri II. und Karl V.; Montaigne verurteilt die Grausamkeiten der Nachfolger des Kolumbus und lobt die vorkolumbische Besiedlung ‘Amerikas’. 101 Giuseppe Bellini: Amara America Meravigliosa, S. 160. 102 Vgl. ebda., S. 110 und S. 113; David B. Quinn: New Geographical Horizons, S. 651. 103 Gilbert Chinard: L’exotisme américain dans la littérature française au XVIe siècle, S. 15, spricht von Martires Dekaden als einer der Hauptquellen für die Franzosen und nennt sie «le bréviaire de tous ceux qui s’intéressaient aux récits de voyage». Ihnen gehen zeitlich Martires Libretto von 1504 sowie die Paesi novamente retrovati (1507) voraus, und sie wurden erstmals 1511 in Sevilla publiziert. Eine zweite und dritte Dekade werden 1516 zusammen mit der ersten Dekade veröffentlicht. Die endgültige, postum erweitere Gesamtausgabe von 1530 umfasst acht Dekaden bzw. 80 Bücher. Auch verkürzte Versionen feiern beachtliche Erfolge, etwa der etliche Neuauflagen erlebende Abriss von Trivigiano, der den Inhalt auf ein Drittel verknappt. Giuseppe Bellini/Dario G. Martini: Colombo e la scoperta nelle grandi opere letterarie. Rom: Istituto poligrafico 1992, S. 19, sehen in Martire «il primo e più qualificato diffusore delle notizie relative alla grande impresa colombiana». Heinz Hofmann: Aeneas in Amerika, S. 37, betitelt ihn als «wichtigste und älteste historiographische Quelle für die Epoche der europäischen Expansion». Ins Französische übersetzt wird sein Werk 1532/33. Vgl. Giuseppe Bellini: Amara America Meravigliosa, S. 32–34; Bartolomé Bennassar/ Lucile Bennassar: 1492. Un monde nouveau?, S. 29 f.; Renata Carocci: Introduction, S. 17; Frauke Gewecke: Wie die neue Welt in die alte kam, S. 118–120; David B. Quinn: New Geographical Horizons, S. 648.

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manns und vermittelt ein durchgehend positives Kolumbusbild.104 Größtenteils sind sich die Forscher darüber einig, dass Martires Darstellung eine entscheidende Etappe hin zur Etablierung des Bildes des ‘bon sauvage’ darstellt, zumal er die Güte und Naivität der in der Neuen Welt lebenden Ureinwohner herausarbeitet105 und die neuentdeckten Regionen mit der Vorstellung des Mythos vom Goldenen Zeitalter überblendet.106 Gleichzeitig hebt er als Italiener dezidiert die Brutalität der Spanier beim Annektieren der neuen Gebiete heraus, während er hingegen Kolumbus in ein positives Licht stellt, und seine christliche Missionierung der Be-

104 Vgl. Giuseppe Bellini: Amara America Meravigliosa, S. 44: «Pietro Martire emula positivamente [...] il Diario del primo viaggio steso dall’Ammiraglio». 105 Die seit Vespucci bekannte Vorstellung von den Ureinwohnern als kannibalische Bestien, die es nicht verdienten, in Freiheit zu leben, ist bei Martire nur oberflächlich angelegt. Von Michele da Cuneo (Teilnehmer der zweiten Kolumbusreise), wird sie zuvor bereits prototypisch ausgestaltet, wenn dieser von einem ‘Antiparadies’ mit bestienartigen, in sexueller Freizügigkeit lebenden, Menschen opfernden, kannibalischen Ureinwohnern berichtet. Kolumbus wird als «molto più disincantato, più crudo e cinico» (ebda., S. 54) gebrandmarkt. Vgl. Rosario Romeo: Le Scoperte americane nella coscienza italiana del Cinquecento, S. 36–39. 106 Vgl. Giuseppe Cocchiara: Il mito del buon selvaggio: Introduzione alla storia delle teorie etnologiche. Messina: D’Anna 1948, S. 8–10; Stelio Cro: Italian Humanism and the Myth of the Noble Savage. In: Annali d’Italianistica 10 (1992), S. 50–58; Frauke Gewecke: Wie die neue Welt in die alte kam, S. 114 und S. 118; Jacques Heers: Christophe Colomb, S. 135; Rosario Romeo: Le Scoperte americane nella coscienza italiana del Cinquecento, S. 27; Michèle Duchet: Anthropologie et histoire au siècle des Lumières : Buffon, Voltaire, Rousseau, Helvétius, Diderot. Paris: Maspero 1971, S. 38. Das Überblenden der literarisch tradierten Vorstellung des Goldenen Zeitalters mit der real angetroffenen Neuen Welt findet sich bereits bei Kolumbus selbst (vgl. u. a. Kap. 1.3.2), wird bei Martire jedoch konsequent ausgestaltet. Das für das 18. Jhdt. maßgebliche Bild des ‘bon sauvage’ kommt insbes. über Italien zurück nach Frankreich, wo die Texte über die Neue Welt seit jeher von der Bukolik und vom Goldenem Zeitalter verklärt sind, «tout pénétrés de ce rêve d’innocence antique» (Gilbert Chinard: L’exotisme américain dans la littérature française au XVIe siècle, S. 19; vgl. S. 220 und S. 223). Ganz anders verfährt der für Spanien schreibende Oviedo in seinem Sumario de la natural y general historia de las Indias (1526): Zwar werden auch dort die Ureinwohner analog zum mythischen Goldenen Zeitalter beschrieben. Daraus leitet der Autor aber deren Verkommenheit bzw. die Forderung ihrer Unterwerfung ab. Las Casas wird sich wiederum gegen diese Vorstellung Oviedos wenden und für die Ureinwohner Partei ergreifen, worin ihm Autoren wie Montaigne oder Campanella folgen. Vgl. Stelio Cro: Campanella e Colombo: la nuova scienza e l’unità del mondo. In: Stefano Pittaluga (Hg.): Columbeis II. Genf: Istituto di Filologia Classica, Medioevale e Umanistica 1987, S. 303; Stelio Cro: Italian Humanism and the Myth of the Noble Savage, S. 56 und S. 59; Stelio Cro: Classical Antiquity, America, and the Myth of the Noble Savage. In: Wolfgang Haase/Reinhold Meyer (Hg.): The Classical Tradition and the Americas. Bd. 1: European Images of the Americas and the Classical Tradition. Berlin/New York: De Gruyter 1993, S. 395.

1.2 Die Kolumbus-Epik im Frankreich des 18. Jahrhunderts

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wohner der Neuen Welt als Überwinden ihrer ‘Andersartigkeit’ deutet.107 Erst im 18. Jahrhundert wird Kolumbus generell wieder verstärkt Bedeutung zugemessen: «il faut, pour retrouver trace de Colomb dans la littérature française passer brusquement du XVIe siècle au milieu du XVIIIe siècle»108 In der Zwischenzeit hatten in Frankreich lediglich die Traktake einiger Historiker sowie einige Reiseberichte Kolumbus’ Fahrten weiterhin thematisiert und so «l’intérêt du XVIIIe pour le Nouveau Monde»109 aufrechterhalten. Hieran knüpfen mehr oder minder nahtlos die Historiker des 18. Jahrhunderts an: 1744 bringt der Jesuit Charlevoix die Histoire générale de la Nouvelle-France heraus, welche die jüngsten und kleinsten Entdeckung(sfahrt)en aufgreift.110 1754 widmet abbé Prévost den 12. Band seiner Histoire générale des voyages, ou Nouvelle Collection de tous les voyages den Kolumbusfahren und legt seinen Beschreibungen, die von exotischen Pflanzen über Tanzrituale der Ureinwohner reichen, einschlägige Karten und Gravuren bei.111

107 Es ist die Rede vom Genozid der Spanier an den Ureinwohnern in den Goldminen sowie von deren Goldgier als Grund aller Übel. Ihr Lamentieren wird negativ herausgestellt, während Kolumbus’ Handeln und seine Unschuld beteuert werden. Vgl. Giuseppe Bellini: Amara America Meravigliosa, S. 46–49. 108 Henri Bédarida: Christophe Colomb dans la littérature française, S. 425. Als Grund für das fehlende Interesse an Kolumbus zu dieser Zeit führt Bédarida an, dass man im Klassizismus «trop délibérément orienté vers l’antiquité gréco-latine» gewesen sei «pour traiter un sujet aussi moderne» (ebda., S. 425). Auch die französischen Dramatiker, Corneille und Racine, interessieren sich nicht für diese Thematik, während dagegen in Spanien etwa Lope de Vegas sein Drama Cristobal Colón veröffentlicht. 109 R. Thomas Watson: L’Amérique de Madame du Boccage, S. 18. Zu den bekanntesten Autoren französischer Reiseberichte (über Südamerika) des 18. Jhdts. zählen gemäß Silvio Zavala: America en el espiritu frances del siglo XVIII. Mexico: El Colegio Nacional 21983, S. 94–153, v. a. Frezier (1716), Durret (1720), Labat (1724), Chabert (1753) und Bajon (1777). 110 Vgl. Michèle Duchet: Anthropologie et histoire au siècle des Lumières, S. 39: «l’auteur tient compte des plus récentes explorations qui, en dehors du monde des Bureaux, n’ont été connues au XVIIIe s. qu’à travers lui». 111 Vgl. Roland Virolle: Mme Du Boccage, Voltaire, le pape et Christophe Colomb, S. 956. Während Prévost in sieben Bänden v. a. englische Quellen übersetzt, gibt er den geschichtlichen Ereignissen in Band 12 ohne Rückgriff auf eine englische Vorlage eine eigene Ordnung; im Fortgang des Bandes lobt er die kritische Quellenanalyse von Charlevoix, vgl. Michèle Duchet: Anthropologie et histoire au siècle des Lumières. S. 81–83. Silvio Zavala: America en el espiritu frances del siglo XVIII, S. 129, rechnet Prévosts Werk zu den bedeutendsten Kompendien der Zeit – neben dem Almanach Américain (1783–1788) von Poncelin de la Roche Tillac oder Jacques Grasset-Saint-Sauveurs Tableaux des principaux peuples de l’Europe, de l’Asie, de l’Afrique, de l’Amérique (1798). Mit der Arbeit an der Encyclopédie ist zudem ein Einschnitt in die Gattung des Reiseberichts verbunden. So wird nur noch das ausführlich beschrieben, was bisher ohne einen dortigen Eintrag geblieben ist, vgl. Michèle Duchet: Anthropologie et histoire au siècle des Lumières, S. 123–125. Hinzu kommt die Kritik an der Gattung als solcher (u. a. vonseiten De Pauws), zumal dort eine subjektive Sicht auf die Entdeckungsfahrten vermittelt würde,

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Es kommt zu zahlreichen Re-Editionen früherer Reiseberichte, die ein thematisch sensibilisiertes Publikum bedienen. Ab 1730 findet ‘Amerika’ dann auch seinen Weg auf die Pariser Bühnen.112 Kolumbus’ Fahrten scheinen den Nerv der Zeit insofern zu treffen, als ganz allgemein Texte, die (partiell) in der Neuen Welt spielen, ein Interesse an exotischen Utopien bedienen können.113 An die Seite der in Europa über die Jahrhunderte stets vertretenen Inszenierung des christlich missionierenden Kolumbus «als Lichtträger des Glaubens»114 tritt seine Eignung als ‘Aufklärer’ avant la lettre, als «figura simbólica de los tiempos recientes en medio de un ‹siglo de ignorancia›».115 Seine einzigartige Entde-

vgl. ebda., S. 106: «écrite par des savants ou des spécialistes, la littérature des voyages ne s’adresse plus à la masse indifférenciée des amateurs de ‘singularités’, mais à cette partie du public qui se trouve directement intéressée, économiquement et idéologiquement, à une meilleure connaissance du monde et de ses habitants». So werden auf zeitgenössische Expeditionen stets ‘naturalistes’ mitgenommen; man denke an Philibert Commerson bei Bougainvilles Fahrten. Berühmt sind Linnés in die Forschungsrichtung der ‘Anthropologie’ weisenden Recherches sur les Américains. 112 Voltaire veröffentlicht seine Alzire ou les Américains 1736; zwanzig Jahre später schreibt Jean-Jacques Rousseau seine Oper Découverte du Nouveau Monde und Le Blanc de Guillets 1783 die Tragödie Manco-Capac über den sagenumwobenen Herrscher Perus; vgl. Jean-Marie Roulin: L’Épopée de Voltaire à Chateaubriand, S. 108. 113 Vgl. Terry M. Pratt: Primitive Episodes in Enlightenment Epic: Le Suire’s Le Nouveau Monde. In: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 296 (1992), S. 89. Tzvetan Todorov: Nous et les autres, S. 297–299, spricht vom ‘exotisme primitiviste’, einer früheren Zeitstufe der Menschheitsgeschichte, welche die Zeitgenossen beeindruckt hat. Man denke an den Bestseller-Briefroman der Madame de Graffigny (Lettres d’une Péruvienne, 1747) und Voltaires u. a. in Paraguay spielenden Candide (1759). Im 18. Jahrhundert kommt es in Frankreich durch das Applizieren von Idealvorstellungen auf reale Gegebenheiten in ‘Amerika’ zur Entwicklung eines «utopismo sui generis» (Paolo Casini: Tahiti, Diderot e l’utopia. In: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 191 (1980), S. 655): «Building up on Utopian elements in the older views, enlightened philosophers found in America the perfect locus for their visions of the future of men» (Peter Boerner: The Images of America in Eighteenth Century Europe. In: Theodore Besterman (Hg.): Transactions of the Fourth International Congress on the Enlightenment, vol. I. Oxford: Voltaire Foundation 1976, S. 324). 114 Dietrich Briesemeister: Columbus als ‘Apostel und Eroberer’ im französischen Epos des 18. Jahrhunderts, S. 315. Vgl. Mariano Delgado: «Columbus noster est.» Der Wandel des Kolumbusbildes und der Entdeckung Amerikas. In: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte 100 (2006), S. 64. 115 Vgl. Dietrich Briesemeister: ‘Christophe Colomb, ou l’Amérique découverte’ (1773): una epopeya francesa de Nicolas-Louis Bourgeois sobre Santo-Domingo. In: J. Lüdtke/M. Perl (Hg.): Lengua y cultura en el Caribe hispánico. Actas de una sección del Congresso de la Asociación de Hispanistas Alemanes celebrado en Augsburgo, 4–7 de marzo de 1993. Tübingen: Niemeyer 1994, S. 53. Vgl. ebda., S. 54: «se asocia no nólo con la idea de la misión, sino también con el proceso de la curiosidad científica». Holzschnittartig schreibt Robert Wallisch: Vorwort.

1.2 Die Kolumbus-Epik im Frankreich des 18. Jahrhunderts

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ckungsfahrt lässt sich leicht unmittelbar mit den Errungenschaften der Moderne und den Fortschrittsgedanken in Verbindung bringen und sie eröffnet die Möglichkeit didaktisch-belehrender Aufbereitung mit enzyklopädischen Detailschilderungen über die Natur der vorgefundenen exotischen Gebiete oder auch über den politischen Weltzustand.116 Außerdem erscheint Kolumbus als Held, der entgegen pessimistischer Neider und Zweifler seinen Weg geht und von den typischen Werten der Aufklärung gelenkt wird: Individualismus, Tugendhaftigkeit, humanitärem Beistand. Diese inhaltlichen Pfeiler bieten sich zweifelsohne für eine Umsetzung im Epos an, zumal dieses ja gemäß Marmontels Epos-Eintrag in der Encyclopédie von 1755 einen erzieherischen Beitrag für die Gesellschaft leisten soll. Wenig später bringt dann Jacques Charles Louis Malfilâtre (1732–1767) in seinem Génie de Virgile (erst 1810 postum veröffentlicht) diese beiden Elemente zusammen und sieht in Kolumbus’ Erkundungsfahrten ein «episches Thema par excellence».117 Dieselbe Meinung vertritt kurz darauf Voltaire, der Kolumbus als perfekt geeigneten epischen Helden herausstellt.118 Gemäß seiner Forderung nach einem Epos ohne kriegerische Auseinandersetzungen – einer Vorstellung, die das gesamte 18. Jahrhundert hindurch relevant bleiben wird –119 findet sich in seinem Essai sur les mœurs (1756) das Kap. CXLV mit dem Titel De Colombo et de l’Amérique, in

In: Christopher Kolumbus: Der erste Brief aus der Neuen Welt: lateinisch/deutsch; mit dem spanischen Text des Erstdrucks im Anhang. Herausgegeben von Robert Wallisch. Stuttgart: Reclam 2000, S. 9 f., Kolumbus werde in der Aufklärung in dem Bestreben wieder entdeckt, um «ihn zum Heros wissenschaftlicher Überzeugung zu verzerren». Vgl. Renata Carocci: Introduction, S. 16. 116 Silvio Zavala: America en el espiritu frances del siglo XVIII, S. 39, spricht vom «progresso debido a las ciencias»; François Jacob: Amérique épique, S. 213 f., spricht seinerseits von der Möglichkeit, rezente wissenschaftliche Erkenntnisse in ein solches Kolumbus-Epos einzuspiegeln. 117 Dietrich Briesemeister: Columbus als ‘Apostel und Eroberer’ im französischen Epos des 18. Jahrhunderts, S. 310. Zu einem eigenen epischen Versuch Malfilâtres kam es aufgrund seines Todes nicht, vgl. Renata Carocci: Introduction, S. 15. 118 Vgl. Jean-Marie Roulin: L’Épopée de Voltaire à Chateaubriand, S. 108, und Daniel-Henri Pageaux: Colomb et le problème de la découverte de l’Amérique dans la France des Lumières. In: Groupe interdisciplinaire de recherches et de documentation sur l’Amérique latine (Hg.): L’Amérique espagnole à l’époque des Lumières, S. 323: «Colomb est sur la voie de la mythification». So auch bei Du Boccage: «Anne-Marie Du Boccage prend part aux querelles sur le Nouveau Monde, encore à l’ordre du jour en Europe. Pour libérer le monde civilisé du sentiment de culpabilité» (Catherine Jardin: Préface, S. 10). 119 Vgl. «Le refus de la guerre comme espace de la grandeur est une des quêtes fondamentales des poètes au dix-huitième siècle» (Jean-Marie Roulin: L’Épopée de Voltaire à Chateaubriand, S. 27). Im Kontext der von ihm herbeigesehnten Pazifismusthematik lobt Voltaire auch die Möglichkeiten der Neue-Welt-Epik, und exemplifiziert dies an Camões’ Lusiaden sowie Ercillas Araucana, die bis dato in Frankreich wenig gelesen wurden, die sich außerdem durch

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dem Kolumbus – und nicht Vespucci – als erster und wahrer Held der Entdeckungsfahrten bezeichnet wird. Bis Kap. CXLVIII wird dann erläutert, dass Kolumbus bei seinen Erkundungsfahrten im Gegensatz zu seinen Nachfolgern Cortés (in Mexiko) und Pizarro (in Peru) ohne blutige Hände geblieben ist:120 «voilà qui permettait d’en faire un héros d’épopée».121 Die vier französischen Epen ab 1750, in denen Kolumbus den alleinigen Haupthelden darstellt,122 und denen von der Forschung bisher kaum Beachtung geschenkt wurde, sind insofern «wholly representative of the later Enlightenment configuration of the wider [sc. epic; G.J.K.] genus»,123 als bei ihnen eine wachsende Distanzierung von einem kriegerischen Helden festzustellen ist und dennoch versucht wird, die gattungstypische Inszenierung der Hauptfigur als

ausführliche geographische Beschreibungen und ihren enzyklopädischen Charakter auszeichnen. Vgl. ebda., S. 28–31, und Terry M. Pratt: Primitive Episodes in Enlightenment Epic, S. 89. 120 Vgl. Catherine Jardin: Préface, S. 28; Roland Virolle: Mme Du Boccage, Voltaire, le pape et Christophe Colomb, S. 956; Henri Bédarida: Christophe Colomb dans la littérature française, S. 426 f. 121 Roland Virolle: Mme Du Boccage, Voltaire, le pape et Christophe Colomb, S. 956. An der Aktualität des Themas ist nicht zu zweifeln, wenngleich der Rezenseur Élie Fréron bei der Beurteilung des Kolumbus-Epos der Madame Du Boccage auch ihre Themenwahl moniert: «Il me semble que Colomb, comme sujet d’un Poëme Epique, ne flatte pas un lecteur instruit & rétrécit son imagination» (Élie Fréron: Lettre VII. In: Année Littéraire III (1757), S. 147). 122 Vgl. «[Ils sont] différents dans la réalisation mais unis par le commun dénominateur du sujet et de l’appartenance au même genre littéraire» (Renata Carocci: Introduction, S. 17). In den Epen wird immer wieder auf Kolumbus’ Status als alleinigen Helden verwiesen, vgl. etwa Nicolas Louis Bourgeois: Christophe Colomb, ou l’Amérique découverte. Paris: Moutard 1773, S. viij, ‘Préface’; im Folgenden wird nach dieser Ausgabe mit der Abkürzung CCAD und der entsprechenden Band- und/bzw. Seitenzahl zitiert. Vgl. ferner Du Boccage, die von Kolumbus spricht als «Ce nouvel Ulysse [qui] méritoit sans doute un autre Homere» (Anne-Marie Du Boccage: La Colombiade ou La foi portée au Nouveau Monde. Poëme. Paris: Desaint & Saillant/Durand 1756, S. vij, ‘Introduction’; im Folgenden wird nach dieser Ausgabe mit der Abkürzung COL und der entsprechenden Seitenzahl zitiert). Freilich gibt es eine Reihe weiterer Epen, die unvollendet geblieben sind, z. B. André Chéniers fragmentarisches L’Amérique, das einmal zwölf Bücher à 1000 Versen hätte umfassen sollen, oder andere Helden thematisieren, z. B. Marmontels Incas. Vgl. Marc Regaldo: Philosophie et épopée: l’Amérique espagnole d’André Chenier. In: Groupe interdisciplinaire de recherches et de documentation sur l’Amérique latine (Hg.): L’Amérique espagnole à l’époque des Lumières, passim. 123 Terry M. Pratt: Of Exploration and Exploitation, S. 293. Vgl. Dietrich Briesemeister, der von einem «contexto de una evolución tardía híbrida del género hacia el didacticismo ideológicofilosófico» (Una epopeya francesa de Nicolas-Louis Bourgeois sobre Santo-Domingo, S. 59) spricht bzw. die Neue-Welt-Epen als «gelehrthybride Spätentwicklung der Gattung hin zur weltanschaulich-philosophischen Lehrdichtung» (Columbus als ‘Apostel und Eroberer’ im französischen Epos des 18. Jahrhunderts, S. 321) bezeichnet.

1.2 Die Kolumbus-Epik im Frankreich des 18. Jahrhunderts

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Held nicht zu unterlaufen:124 Es lässt sich insofern weniger eine ‘déhéroisation’ des epischen Helden beobachten als vielmehr eine Integration neuer Charakterzüge in das Konzept des epischen Helden. Während die ersten beiden Kolumbus-EpikerInnen, Madame Du Boccage und Bourgeois, weiterhin einen vom ‘klassischen’ Typus wenig abweichenden Helden modellieren, der auch im Krieg sein «but pieux et missionaire»125 verfolgt, erhält Kolumbus bei Lesuire und Laureau auf den ersten Blick für einen epischen Helden teils eher ungewöhnlich anmutende Qualitäten, wie z. B. eine ausgeprägte ‘sensible Seite’.126 Zusätzlich sind die Epen von «exemplary significance»,127 da sich an ihnen wie in einem Brennspiegel die zeitgenössische Diskussion der Vor- und Nachteile der Kolonialisierung nachvollziehen lässt und versucht wird, «los más opuestos matices individuales»128 der divergierenden Meinungen bezüglich der Neuen Welt zu verarbeiten. Überblickt man die entscheidenden Stellen der bisherigen Sekundärliteratur, ergibt sich das folgende, holzschnittartige Bild. Zum einen werden meist die Epen von Madame Du Boccage und Bourgeois zusammen behandelt, denn beide «manage to mitigate the harm to their hero and still succeed in glorifying the great Genoan».129 Zum anderen stellt man häufig die späteren Epen Lesuires und Laureaus nebeneinander, «[qui] mettent en cause les bienfaits apportés par les colons en Amérique».130 Im Detail wird es in Kap. 2 näherer Erläuterung 124 Vgl. etwa Sylvain Menant: Henri, héros classique, héros moderne. In: Revue de Voltaire 2 (2002), S. 29: «le héros moderne doit être [...] un héros ancien»; dass der Begriff ‘Held’ weiter von Bedeutung ist, zeigt sich nicht zuletzt an dem in der Henriade knapp einhundertmal fallenden Begriff ‘héros’. 125 Renata Carocci: Introduction, S. 20. Vgl. Kap. 2.3.1 zu Du Boccage und Bourgeois. 126 Vgl. Kap. 2.3.2 zu Lesuire. Michel Delon: ‘Ce nouvel Ulysse méritait sans doute un autre Homère.’ Colomb, héros poétique, entre Lumières et Romantisme. In: Europe 70 (1992), S. 84, konstatiert eine abnehmende christliche Stoßrichtung der Epen. 127 Terry M. Pratt: Of Exploration and Exploitation, S. 293. 128 Silvio Zavala: America en el espiritu frances del siglo XVIII, S. 19. Bereits Jean-Pierre Clément: Christophe Colomb, l’Amérique et la littérature française du XVIIIème siècle, S. 243, hat mit Blick auf Lesuires Epos konstatiert, es ist «très représentatif de ce que le chercheur mexicain Silvio Zavala a appelé ‹la passion colombiste› des Français des Lumières». 129 Terry M. Pratt: Of Exploration and Exploitation, S. 318. Vgl. Jean-Marie Roulin: L’Épopée de Voltaire à Chateaubriand, S. 114: «[Ils] célèbrent la foi et le progrès apportés au Nouveau Monde». 130 Briesemeister sieht den besonderen Reiz der Epen in dieser unterschiedlichen Darstellung des Genuesen, in der jeweiligen Deutung der Landnahme durch Spanien sowie in der Verarbeitung der aufklärerischen Polemik gegen Spanien; vgl. Dietrich Briesemeister: Columbus als ‘Apostel und Eroberer’ im französischen Epos des 18. Jahrhunderts, S. 314 und S. 321. Laut Roulin erkennt man stets eine gewisse «double valorisation», da alle Epen einerseits Kolumbus als «héros qui mène une quête» darstellen, andererseits unterschiedlich stark darauf anspielen, dass dies «au prix d’une destruction» geschieht: «la nostalgie d’un état de nature ou d’une vie

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bedürfen, da die einzelnen AutorInnen bei ihren epischen Modellierungen teils gänzlich unterschiedlich vorgehen. Die Bedeutung dieser Neue-Welt-Diskussion für die Literatur der Zeit lässt sich eindrücklich an den ‘concours’ ablesen: Es gibt eine Reihe von Akademien, welche die Beurteilung der Vor- und Nachteile der Kolonisation als Thema für literarische Wettbewerbe stellen. Der erste solche ‘concours’ wird 1774 von der Académie de Pau lanciert. Auf diesen ‘prix de poésie’ folgen etliche weitere, v. a. derjenige der Académie de Lyon (1783–1789) mit dem Titel La découverte de l’Amérique a-t-elle été utile ou nuisible au genre humain ?131 Méchoulan (1988) hat sich eingehend mit den literarischen Erzeugnissen beschäftigt, die im Dunstkreis dieser Wettbewerbe erschienen sind. Zu den bekanntesten Werken zählen Joseph Mandrillons Recherches philosophiques sur la découverte de l’Amérique ou discours sur cette question proposée par l’Académie des Sciences, Belles Lettres et Arts de Lyon (1784), Abbé Gentys Influence de la découverte de l’Amérique sur le bonheur du genre humain (1787)132 und Jean-François Chastellux’ Discours sur les avantages ou les désavantages qui résultent pour l’Europe de la découverte de l’Amérique, objet du prix proposé par Monsieur l’Abbé Raynal (1787).133 Die insgesamt ins Negative tendierenden Pro- und Kontra-Analysen französischer AutorInnen liefern ein durchaus nuanciertes Bild der Kolonialisierung.134 Dennoch ist fast immer ein «sentimiento

sauvage qui introduit une tonalité mélancolique dans un cadre épique régulier dans l’ensemble» (Jean-Marie Roulin: L’Épopée de Voltaire à Chateaubriand, S. 117). Kap. 2.3 wird erhellen, dass in den Epen eine negative Sichtweise stets entweder subkutan als ‘Second voice’ eingespielt wird oder als solche eindeutig greifbar ist. 131 Vgl. Henri Bédarida: Christophe Colomb dans la littérature française, S. 431; Bartolomé Bennassar/Lucile Bennassar: 1492. Un monde nouveau?, S. 52 f.; Dietrich Briesemeister: Columbus als ‘Apostel und Eroberer’ im französischen Epos des 18. Jahrhunderts, S. 314. 132 Hierbei handelt es sich um eine selbständige Antwort auf die Frage des ‘concours’ ohne direkte Teilnahme am Preisausschreiben, vgl. Silvio Zavala: America en el espiritu frances del siglo XVIII, S. 62. 133 S. zuvor schon Chastellux’ Le voyage de Mr. Le Chevalier de Chastellux en Amérique (1785). 134 Abbé Genty zeichnet ein deutlich negatives Bild der spanischen Konquistadoren, während Chastellux sich eher allgemein pro-europäisch zeigt und stärker die positiven Effekte für Wirtschaft und Handel herausstreicht. Hans-Jürgen Lüsebrink: Christophe Colomb et la découverte de l’Amérique sur l’horizon du Siècle des Lumières. In: Titus Heydenreich (Hg.): Columbus zwischen zwei Welten, S. 345, resümiert: «L’imaginaire d’un saint laïque (qui mériterait, à l’exemple des héros de l’antiquité, lauriers et statues), hante ainsi paradoxalement ces textes en même temps si radicalement critiques envers les conséquences de l’exploit de Colomb». Henry Méchoulan: La découverte de l’Amérique a-t-elle été utile ou nuisible au genre humain? Réflexions sur le concours de Lyon 1783–1789. In: Cuadernos Salmantinos de Filosofía 15 (1988), S. 123 f., kommt nicht umhin, «de souligner les divisions, voire les contradictions de penseurs qui se réclament tous des

1.2 Die Kolumbus-Epik im Frankreich des 18. Jahrhunderts

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crítico antiespañol»135 mit oftmals beißender Kritik an den Greueltaten der Spanier zu spüren. Insbesondere wird die Kolonialisierung in den Texten gerne aus einem wirtschaftlichen Blickwinkel heraus beleuchtet:136 Spanien hat v. a. eine schlechte Steuerpolitik betrieben, anstelle eines freien Handels zu sehr protektionistisch agiert und die Bewohner der Neuen Welt durch das ‘Encomienda’-System137 vollkommen

Lumières, de la raison, de la nature, de la liberté, de la vertu pour penser un eudémonisme universel qui entraîne nécessairement une critique des mœurs, des pratiques économiques et des institutions de la France et de l’Europe». Anstelle der ‘Leyenda negra’, die in Frankreich häufig betrieben wird, herrscht in Spanien selbst eine «duda de leyendas» bzw. ein «sentimiento español de reivindicación de calumnias» (Silvio Zavala: America en el espiritu frances del siglo XVIII, S. 35). Hierauf wird das einleitende Kap. 2.3.4 zu Peramás’ Kolumbus-Epos Bezug nehmen. Vgl. ebda., S. 50; Terry M. Pratt: Of Exploration and Exploitation, S. 296. 135 Dietrich Briesemeister: Una epopeya francesa de Nicolas-Louis Bourgeois sobre SantoDomingo, S. 57. Die epischen Versuche der Zeit spiegeln dabei speziell die gebildeten Gesellschaftskreise wider, denen Peter Boerner: The Images of America in Eighteenth Century Europe, S. 329 f., im gesellschaftlichen Querschnitt eine besonders ausgeprägte kolonisationskritische Einstellung zuschreibt: «While disenchanted views on America became increasingly popular among the literati at the end of the 18th century, the images prevailing among the lower classes underwent little change». Henry Méchoulan: La découverte de l’Amérique a-t-elle été utile ou nuisible au genre humain?, S. 130, zitiert z. B. aus einem Wettbewerbs-Manuskript, das gut und gerne auch Lesuires Epos entnommen sein könnte: «O Colomb, c’est vous qui êtes la cause d’une dégradation si humiliante pour l’humanité!», vgl. Kap. 2.3.2. 136 Vgl. Jean-Paul Duviols: Le régime colonial espagnol vu par les Français à l’époque des Lumières, S. 310 f. Montesquieu spricht in seinen Lettres persanes (1721, insbes. Brief Nr. 121) über die verhängnisvollen Folgen der Kolonisation, während er die (positiver ausfallende) wirtschaftliche Diskussion in seinen unbekannteren Considérations sur les richesses d’Espagne von 1728 in den Blick nimmt, vgl. Marc Regaldo: Philosophie et épopée, S. 340. Negativ gesehen wird das Beliefern der ‘Ureinwohner’ mit Waffen, das Investieren der ‘Handels’-Gewinne in Kriege. Die Texte nehmen oft das Übel des Sklavenhandels in den Blick und negativieren die durch afrikanische Sklaven hervorgebrachten Luxusprodukte (Baumwolle, Zucker, Kaffee). Insbes. Gold(gier) wird fast ausnahmslos als «origine du malheur de toutes les nations européennes» (Henry Méchoulan: La découverte de l’Amérique a-t-elle été utile ou nuisible au genre humain?, S. 133) erachtet. 137 Das ‘Encomienda’-System meint, dass die Konquistadoren von der spanischen Krone Landgüter erhalten und ihnen eine gewisse Anzahl von Bewohnern der Neuen Welt anvertraut werden. Diese Indigenen bedürfen des besonderen Schutzes, sollen erzogen und missioniert werden und können zu einem ‘servicio personal’ verpflichtet werden. Trotz gewisser Verordnungen kommt es oft zu Ausbeutungen und einer Dezimierung der Bevölkerung, da ihnen schwere Arbeiten (etwa Perlentauchen, Minenarbeit) aufgebürdet werden: Nach dem Verbot der Sklaverei von 1530 gibt Karl V. 1542/1543 die Nuevas Leyes heraus, denen gemäß die ‘Inder’ als freie Personen betrachtet werden. Erst 1563 werden weitere Regelungen veröffentlicht, nach denen u. a. die Dienstleistungen der Ureinwohner gegenüber den Spaniern eine Bezahlung erfahren müssen; 1601 kommt es unter Filippo III zur Reale Istruzione sul lavoro degli indios, denen zufolge sich die Indigenen aussuchen dürfen, mit wem und wie lange sie arbeiten; in den Ordenanzas Alfaros von 1611 zur Region Río de la Plata werden erstmals Regelungen zur

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abhängig gemacht.138 Kolumbus ist dabei mit wenigen Abstrichen139 «le seul personnage indiscutablement positif»140 der Eroberungsfahrten. Diese negative Sicht

Behandlung und Unterbringung der Bewohner gegeben, die dann verallgemeinert werden. Vgl. Aldo A. Cassi: Ultramar. L’invenzione europea del Nuovo Mondo. Roma/Bari: Laterza 2007, S. 120, S. 125 f. und S. 129–131; Giuliano Gliozzi: Adamo e il Nuovo Mondo, S. 66 und S. 82 f. 138 Außerdem gehen die AutorInnen davon aus, Spanien habe sich auf eine gefahrenbelastete Minenarbeit gestützt, um versteckte Konsumgüter zu suchen, anstatt mit den offensichtlich vorhandenen produktiv zu arbeiten. Vgl. Jean-Paul Duviols: Le régime colonial espagnol vu par les Français à l’époque des Lumières, S. 311–317; Henry Méchoulan: La découverte de l’Amérique a-t-elle été utile ou nuisible au genre humain?, S. 126–128, S. 130, S. 135–142 und S. 145–147. Silvio Zavala: America en el espiritu frances del siglo XVIII, S. 36 f., bilanziert eine europazentrierte Sicht, da v. a. die wirtschaftlichen Auswirkungen der Kolonialisierung in und für Europa ins Auge gefasst werden. So etwa der steigende Gold- und Silberpreis bei einer Stagnation der eigenen Gehälter. Als positive Konsequenzen der Kolonialisierung werden die Fortschritte in der Schifffahrt, in der Biologie und der Astronomie ins Feld geführt, sowie die neu gewonnenen Handelsprodukte: S. für einen kurzen Durchzug durch wirtschaftlich relevante Produkte (Mais, Kartoffeln, Edelmetalle) Earl J. Hamilton: What the New World Gave the Economy of the Old. In: Fred Chiappelli (Hg.): First Images of America, S. 854. Den größten Beitrag für die Wirtschaft sieht Hamilton in den neuen Menschen, deren Arbeitskraft und deren ‘Aufklärung’ durch die westliche Kultur, vgl. ebda., S. 878–880. 139 An Kolumbus wird lediglich stets negativ angemerkt, dass er durch seine Entdeckungsfahrt dem Einzug diverser Greueltaten den Weg geebnet hat: von Geschlechtskrankheiten über ein soziales, moralisches, physisches Ungleichgewicht bis hin zu Gewaltakten kaltblütiger Konquistadoren, vgl. Daniel-Henri Pageaux: Colomb et le problème de la découverte de l’Amérique dans la France des Lumières, S. 321. 140 Hans-Jürgen Lüsebrink: Christophe Colomb et la découverte de l’Amérique sur l’horizon du Siècle des Lumières, S. 343. Die Sonderstellung von Kolumbus als Entdecker wird in verschiedensten Werken herausgestellt, so von Jean-Jacques Roussau in seiner Tragödie Découverte du Nouveau Monde (1741), in Helvétius’ De l’homme oder der Versepistel Colomb dans les fers, à Ferdinand et Isabelle, après la découverte de l’Amérique (1782) von Chevalier Lespinasse de Langeac, die den Hauptpreis des ‘concours’ in Marseille gewann. Vgl. Dietrich Briesemeister: Columbus als ‘Apostel und Eroberer’ im französischen Epos des 18. Jahrhunderts, S. 313 f.; Bartolomé Bennassar/Lucile Bennassar: 1492. Un monde nouveau?, S. 50 f.; Daniel-Henri Pageaux: Colomb et le problème de la découverte de l’Amérique dans la France des Lumières, S. 319–323; Renata Carocci: L’Amérique découverte de Pierre Laureau : une tentative d’épopée en prose. In: Cahiers Roucher – André Chénier 12 (1992), S. 28; Silvio Zavala: America en el espiritu frances del siglo XVIII, S. 34. Dieselbe Positionierung nimmt bereits das erste Kolumbus-Epos der Madame Du Boccage ein: «malgré sa position ‹anticolonialiste›, Anne-Marie Du Boccage reste très généreuse pour le conquérant. C’est ainsi qu’elle sauve Christophe Colomb en présentant de lui une image idéalisée, qui contraste avec la réalité historique et les témoignages fournis par les chroniqueurs» (Milagros Palma: Avant-propos. In: Anne-Marie Du Boccage: La Colombiade ou La foi portée au Nouveau Monde (1756), S. 13. Es wird lediglich seine strenge Verfahrensweise gegenüber den Ureinwohnern angedeutet, die jedoch im Gesamtkonzept ohne Berücksichtigung bleibt; vgl. R. Thomas Watson: L’Amérique de Madame du Boccage, S. 113.

1.2 Die Kolumbus-Epik im Frankreich des 18. Jahrhunderts

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geht teils einher mit einem pessimistischen Menschenbild im Allgemeinen sowie mit einer «resignation to the inherent wickedness of the human character».141 Und doch bezieht sich bei alldem die Kritik an der spanischen ‘idéologie coloniale’ grosso modo lediglich auf das ‘Wie’ der Kolonialisierung, nicht auf die Kolonialisierung als solche. So wird in Anbetracht der Greueltaten der zivilisierten Europäer gegenüber den Spaniern paradoxerweise stets eben die Notwendigkeit des Zivilisierens der ‘Wilden’ herausgestellt: «Le bonheur passe par la civilisation».142 Es lässt sich in all diesen Texten also eine europazentrierte Sichtweise finden, wobei die Annahme des Fortschrittsglaubens stets zentral gestellt wird.143 Erst im Laufe der Jahrzehnte hat sich schließlich mehr und mehr die Vorstellung der Gleichwertigkeit beider Welten durchgesetzt,144 auf deren Basis dann etwa im Rahmen der Haitianischen Revolution von 1791 argumentiert wird. Stärker als jemals zuvor und danach ist im 18. Jahrhundert «das Bedürfnis erkennbar, die Sichtweisen der Anderen kennen zu lernen, sie zu Wort kommen und zum Partner eines interkulturellen Dialogs werden zu lassen».145 Ihre wohl einflussreichste Ausgestaltung hat dieses interkulturelle Streitgespräch146 bei Lahontan (Dialogues

141 Peter Boerner: The Images of America in Eighteenth Century Europe, S. 129. Zur häufig anzutreffenden Klage gegen die dem Menschen von Gott eingegebene, verderbliche Neugier (im Sinne des ‘Augustinismus’) vgl. Henry Méchoulan: La découverte de l’Amérique a-t-elle été utile ou nuisible au genre humain?, S. 137. Vgl. hierzu Lesuires von Pessimismus geprägte epische Modellierung in Kap. 2.3.2. 142 Henry Méchoulan: La découverte de l’Amérique a-t-elle été utile ou nuisible au genre humain?, S. 144. Vgl. Michèle Duchet: Anthropologie et histoire au siècle des Lumières, S. 19. Andererseits wird mitunter – ähnlich wie in Marmontels Incas-Roman – die Relativität der spanischen Grausamkeit unterstrichen, da wohl auch jedes andere europäische Volk, das zuerst ‘Amerika’ entdeckt haben könnte, wohl genauso aggressiv vorgegangen wäre, vgl. JeanPaul Duviols: Le régime colonial espagnol vu par les Français à l’époque des Lumières, S. 318. 143 Vgl. Michèle Duchet: Anthropologie et histoire au siècle des Lumières, S. 17, und Dietrich Briesemeister: Columbus als ‘Apostel und Eroberer’ im französischen Epos des 18. Jahrhunderts, S. 323: «die französischen Columbus-Epen bestätigen [...] die Überlegenheit der Europäer mit der Begeisterung für die Wissenschaft und den Glauben an den Fortschritt. Sie beanspruchen Christopherus Columbus in einer ebenso kühnen wie anachronistischen Übertragung als Hoffnungsträger der aufgeklärten Zeit». Auch in Marmontels Incas sind die ‘Ureinwohner’ für die Europäer nur aufgrund ihrer ‘Zivilisierbarkeit’ von Interesse, und es werden auch dort die Überlegenheit der Eroberer, eine europazentrierte Sicht sowie ein ungebrochener Glaube an Fortschritt, an «l’humanité et l’universalité du catholicisme» (Jean-Marie Roulin: L’Épopée de Voltaire à Chateaubriand, S. 123) vorausgesetzt. Vgl. Monique Delhoume-Sanciaud: Le degré zéro de l’état de nature, S. 101. 144 Vgl. Hans-Jürgen Lüsebrink: Von der Faszination zur Wissenssystematisierung, S. 16. 145 Ebda., S. 13. 146 Das interkulturelle Streitgespräch bildet ein «festes Versatzstück zur Darlegung aufklärerischen Gedankenguts» (Dorothea Kullmann: Religiöse Diskurse in Marmontels Incas. In: Gab-

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avec un sauvage, 1703) und Diderot (Supplément au voyage de Bougainville, 1772) erhalten.147 Blickt man nun auf die historischen Werke des 18. Jahrhunderts über ‘Amerika’, von denen die Aufgabensteller der genannten ‘concours’ sowie die AutorInnen der Kolumbus-Epen am deutlichsten inspiriert und beeinflusst werden,148 sind die folgenden Werke zu nennen:149 (1) Eine wichtige argumentative Basis bilden Cornélius De Pauws Recherches philosophiques sur les Américains (1768/69), in denen die Bewohner der Neuen Welt – stärker noch als bei Voltaire oder Prévosts – als intellektuell wie kräftetechnisch unterlegen gezeichnet werden: De Pauw hat insbesondere durch die von ihm vertretene Vorstellung Bekanntheit erlangt, wonach alle Bewohner ‘Amerikas’ aufgrund der klimatischen Verhältnisse des neuen Kontinents derart benachteiligt und degeneriert seien, dass ihr Überrolltwerden durch die

riele Vickermann-Ribémont/Dietmar Rieger (Hg.): Dialog und Dialogizität im Zeichen der Aufklärung. Tübingen: Narr 2003, S. 224) und zur Verhandlung von «Aspekte[n] des Kulturvergleichs und der Kulturkritik» (Hans-Günter Funke: Das interkulturelle Streitgespräch zwischen Europäer und ‘Wildem’ als Medium aufklärerischer Zivilisationskritik: La Hontans Dialogues curieux entre l’auteur et un sauvage (1703). In: Gabriele Vickermann-Ribémont/Dietmar Rieger (Hg.): Dialog und Dialogizität im Zeichen der Aufklärung, S. 73). Vgl. Yves Benot: Les Indiens sauvages ont éclairé l’Europe policée. In: Jean-Louis Chevalier/Mariella Colin u. a. (Hg.): Barbares & Sauvages. Images et reflets dans la culture occidentale. Actes du Colloque de Caen, 26–27 février 1993. Caen: Presses Universitaires 1994, S. 33 f. 147 Vgl. zu Diderots Supplément u. a. Kap. 2.3.2.1.3 und Kap. 3.4.1.2. Bei Lahontans Dialogues avec un sauvage (1703) handelt es sich um den letzten Teil einer Trilogie über Kanada, den Silvio Zavala: America en el espiritu frances del siglo XVIII, S. 157, als «uno de los libros más audaces y curiosos de la vasta bibliografía americanista del siglo XVIII» bezeichnet. Sie wurden durch die ersten beiden Teile, die Nouveaux Voyages de Mr. Le Baron de La Hontan dans l’Amérique Septentrionale (1702) und die Mémoires de l’Amérique Septentrionale (1703) kontextualisiert und verfolgen das Ziel der Konversion von ‘Wildem’ und ‘Europäer’, sprich der Kulturübernahme des jeweils anderen. Der Grund für den «gran éxito publicitario» (ebda., S. 166) liegt in der eurokritischen Ausgestaltung des Dialogs, die in der Folge zum Referenzpunkt für alle Dialoge zwischen Europäern und Bewohnern der Neuen Welt wurde. Tzvetan Todorov: Nous et les autres, S. 305, beschreibt drei grundlegende Prinzipien, den «principe égalitariste», «minimaliste» und «naturaliste». Verweise auf Lahontan folgen in Kap. 1.4.1 und Kap. 2.3.1.2. 148 Dies bezeugen die Paratexte der Epen. Lesuire z. B. positioniert sich in seiner ‘Préface’ gegenüber diesen Texten, insbes. werden bei ihm «M. Paw [sic!]» (NM iij) und «l’Abbé Reynal [sic!]» (NM iv) gelobt. Er setzt sich zudem mit seiner Vorgängerin Du Boccage auseinander (vgl. NM iv f.). Marmontels Incas werden von ihm gewertet als «Roman historique qui approche beaucoup d’un Poeme» (NM v); zu Lesuire und Marmontel vgl. Kap. 2.3.2. 149 Vgl. für den folgenden Abschnitt Stefania Buccini: The Americas in Italian Literature and Culture, 1700–1825. Pennsylvania: Pennsylvania State University Press 1997, S. 160, und Manfred Tietz: Der lange Weg des Columbus in die Historia del Nuevo Mundo von Juan Bautista Muñoz (1793). In: Titus Heydenreich (Hg.): Columbus zwischen zwei Welten, S. 363–367.

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Europäer vorprogrammiert sei. Angesichts dieser Vorstellungen ist freilich ein ‘Heroismus der Eroberung’ nicht mehr in der Ausformung möglich, wie ihn zuvor noch die frühen neulateinischen Kolumbus-Epen modelliert hatten.150 (2) Die Histoire Philosophique et Politique des Etablissements et du Commerce des Européens dans les deux Indes (1770 bzw 1789) von Thomas Raynal,151 der lediglich zu Beginn einem stark europazentrierten Blick sowie der Degenerationshypothese folgt, und dessen Werk sich speziell durch eine genaue Beobachtung Nordamerikas auszeichnet, die deutlich objektiver ausfällt als die des Gros seiner Zeitgenossen – etwa des Italieners Gian Rinaldo Carli, der in seinen Lettere americane gegen De Pauws Hypothese argumentiert.152 Berühmt wurde Raynals Histoire des deux Indes insbesondere durch die Mitwirkung Denis Diderots, der diese nicht zuletzt als Vektor für seine eigenen philosophischen Ansichten und seinen «combat contre les tyrans civils et les tyrans religieux»153 nutzte. In diesem Sinne spricht sich auch Raynal

150 Vgl. Kap. 2.2. Auf die Degenerationshypothese wird in Kap. 1.4.1 näher einzugehen sein. Vgl. zu diesem Absatz Manfred Tietz: Las Reflexiones imparciales de Juan Nuix y Perpiña (1740–1783): el «saber americanista» de los jesuitas y «las trampas de la fe». In: Dietrich Briesemeister/Manfred Tietz (Hg.): Los jesuitas españoles expulsos. Su imagen y su contribución al saber sobre el mundo hispánico en la Europa del siglo XVIII. Actas del coloquio internacional de Berlín (7–10 de abril de 1999). Frankfurt am Main/Madrid: Vervuert/Iberoamericana 2001, S. 620 f.; Hans-Jürgen Lüsebrink: Von der Faszination zur Wissenssystematisierung, S. 16; Michèle Duchet: Anthropologie et histoire au siècle des Lumières, S. 18 f., wo u. a. herausgearbeitet wird, dass es sich selbst bei Rousseaus ‘Naturzustand’ um eine Exaltation der Gesellschaft handelt, um einen «procès de perversion mais aussi un procès de perfection» (ebda., S. 19). 151 Vgl. Stefania Buccini: The Americas in Italian Literature and Culture, 1700–1825, S. 94. Die Veröffentlichung erfolgt anonym in sieben Bänden. Nach einigen Wiederauflagen kommt es 1789 zur endgültigen Auflage mit zehn Bänden unter Angabe des Namens Guillaume Thomas Raynal. Von 1770 bis 1820 erfuhr Raynals Werk ca. 50 Neuauflagen. Während die frühere Forschung Raynal kritisch beäugt hat und in ihm einen Plagiator bzw. Kompilator erkennen wollte, ist in den letzten Jahrhzehnten ein Umdenken erfolgt und sein Werk wird als eine Art ‘colonial encyclopaedia’ verstanden. Vgl. Cecil P. Courtney: The Art of Compilation and the Communication of Knowledge. The Colonial World in Enlightenment Encyclopedic Histories: The Example of Raynal’s Histoire des deux Indes. In: Hans-Jürgen Lüsebrink (Hg.): Das Europa der Aufklärung und die außereuropäische koloniale Welt. Göttingen: Wallstein 2006, S. 39–43; vgl. ferner Manfred Tietz: Der lange Weg des Columbus in die Historia del Nuevo Mundo, S. 360. 152 Vgl. zu den Lettere americane Kap. 3.2.4. 153 Michèle Duchet: Anthropologie et histoire au siècle des Lumières, S. 412. So steuert Diderot bereits der Ausgabe von 1770 Elemente bei, die inhaltlich Artikeln seiner Encyclopédie (z. B. s. v. ‘animal’) entsprechen. Duchet erhellt hierbei den inneren Zusammenhang solcher Artikel im Sinne einer ‘histoire naturelle‘ bzw. einer ‘histoire des religions» und sieht Diderot als Schreiber einer ‘Encyclopédie du Nouveau Monde’. Einzelne Werke Diderots (etwa der Christianisme dévoilé und die Contagion sacrée) werden außerdem durch bestimmte Artikel vorangekündigt, z. B. durch den

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1 Einführendes zur Kolumbus-Epik

entschieden gegen den Ethnozid ‘Amerikas’ aus, betont bereits beim ersten Kontakt der Welten die Gewalt der Spanier und legt eine durchweg kritische Durchmusterung der ‘Outre-mer’-Eroberungen vor. Insbesondere sei darauf hingewiesen, dass in der neunten Auflage (1780–1783) dem eigentlichen Text ein Fazit mit dem Titel Réflexions sur le bien et le mal que la Découverte du Nouveau-Monde a fait à l’Europe angehängt wird, welches eben das Thema der ‘concours’ behandelt. (3) William Robertson, der De Pauws ‘naturalistic pessimism’ folgt, legt in seiner History of America (1777/78) auf Basis feinfühliger Recherchearbeit ein Kontrastmodell vor, das im Gegensatz zu Raynals Histoire des deux Indes weniger die negativen Handlungen der Spanier betont, als diesen vielmehr Kolumbus’ aufklärerische Leistungen, sein Fortschrittlichkeitsdenken, sein Genie und seine Tatkraft entgegenstellt: Kolumbus reagiert bestmöglich auf die die Spanier beherrschende Begeisterung für materielle Gewinne, ihre Kriegsprovokationen und Meutereien.154 Es ist ein Stück weit paradox, dass einerseits durch die zeitgenössische Thematisierung der Beurteilung des spanischen Kolonialverhaltens wieder verstärkt Interesse an Kolumbus geweckt wird, und dieser auch für eine literarische (epische) Auseinandersetzung interessant wird. Andererseits kommt eine klassisch gehaltene, epische Darstellung deutlich zu spät, da Kolumbus’ Taten durch eben die genannten kritischen Stimmen am Vorgehen der spanischen Kolonialisierung quasi unterminiert worden sind.155 Mit Blick auf den hier umrissenen Hintergrund der zeitgenössischen ‘concours’ ist es nicht verwunderlich, dass eine spezielle Art von Kolumbus-Epik entsteht, die sich mit Absicht von den christlich motivierten Kämpfen zur Zeit der Kreuzzüge gegen das Osmanische Reich und der Rückeroberung Jerusalems entfernt und andere Themen zentral stellt.156 Bevor wir in Kap. 2.2

Artikel s. v. ‘Kano (être suprême de Sierra-Leone)’, in dem sich bereits der typische, polemisierende Unterton gegen religiösen Fanatismus findet, vgl. ebda., S. 409 f. Insgesamt distanziert sich Diderot von einer Degenerationshypothese und spricht sich für ein naturgegebenes Glücksstreben bei den ‘amerikanischen’ Ureinwohnern aus, vgl. ebda., S. 447. 154 Vgl. Manfred Tietz: Der lange Weg des Columbus in die Historia del Nuevo Mundo, S. 369. Nur an Kolumbus’ Irrglauben, in Indien gelandet zu sein, wird Kritik geäußert. Dieser Aspekt wird jedoch, wie wir in Kap. 1.3.1 und 1.3.3 noch sehen werden, in den französischen Kolumbus-Epen konsequent ausgeblendet. 155 Dies ist unsere umschreibende Antwort auf Pratt, der ratlos feststellt, «[it] must stay a mystery» (Terry M. Pratt: Of Exploration and Exploitation, S. 318), weshalb beide Aspekte jedoch erst um 1750 zusammengebracht wurden, zumal ja sowohl die Gattung des Epos in Frankreich als auch die Amerika-Thematik in Frankreich auf eine lange Tradition zurückblicken. 156 Vgl. Carol L. Delaney: Columbus and the Quest for Jerusalem, S. 238.

1.3 Kolumbus und sein Projekt

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einen kurzen Blick auf die ideologischen Grundkonstellationen der frühen neulateinischen Epen geben, müssen zuerst die entscheidenden (historischen wie soziokulturellen) Aspekte der Entdeckungsfahrten umrissen werden, auf welche die neulateinischen und französischen Kolumbus-Epen jeweils in unterschiedlicher Schwerpunktsetzung Bezug nehmen.

1.3 Kolumbus und sein Projekt 1.3.1 Vorbemerkungen; Facetten einer Persönlichkeit Die unterschiedliche Modellierung der einzelnen Kolumbus-Epen gründet auf der individuellen Auslegung der an sich konstanten Rahmenbedingungen der Kolumbusfahrten. Ziel dieses Kapitels wird es sein, relevante historische Hintergrundinformationen zu Kolumbus’ Persönlichkeit, der Initiierung seines Projekts und seiner persönlichen Sicht auf das Projekt zusammenzutragen. Manche in den Kolumbus-Epen verfolgte Blickwinkel auf die Kolumbusfahrten lassen sich zudem auf eine gewisse literarische Tradition zurückführen: Denn vor den KolumbusEpen haben bereits verschiedene Reiseberichte und Kolumbus-‘Biographien’ jeweils einen speziellen Fokus auf Kolumbus und sein Projekt gelegt – je nachdem, welche Stoßrichtung dem Werk beigegeben werden sollte. Ein entscheidender Faktor für die verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten liegt in Kolumbus’ Vita selbst begründet, der als Person hinter der bahnbrechenden Entdeckung zurückbleibt: «L’homme s’efface devant l’épopée [sc. la grande découverte; G.J.K.] et, par une sorte de paradoxe irritant, reste dans l’ombre».157 «[C]haque époque pouvait se forger sa propre image [sc. de Colomb; G.J.K.]».158 Schon über Kolumbus’ Jugendzeit schreibt Heers: «Le jeune homme demeure vraiment un inconnu».159 Kolumbus, dessen Geburtsort bis heute nicht vollständig geklärt ist, stammt aus einer eher

157 Vgl. Jacques Heers: Christophe Colomb, S. 12, Zitat S. 14. 158 Ebda., S. 8. Die «rappresentazione letteraria» seiner Vita wird im Laufe der Jahrhunderte «sempre più aliena della realtà storica»: Giustis (1992) Durchzug durch verschiedenste, nichtepische Werke der italienischen Literatur, in denen historisch nicht zu belegende Elemente in die Kolumbusfahrten hineinprojiziert werden, kann dies eindrucksvoll belegen. In Giacomo Leopardis Il dialogo di Cristoforo Colombo e di Pietro Gutierrez, operetta morale (1824) wird beispielsweise nicht mehr historisch korrekt etwa Kolumbus’ Angst vor fehlenden Goldfunden als ihn quälender Gedanke inszeniert, sondern sein Projekt entspringt dort seinem Kampf gegen seine Langeweile. Vgl. Eugenio L. Giusti: La religiosità di Cristoforo Colombo tra realtà storica e rappresentazione. In: Italica 69 (1992), S. 405, Zitate S. 394. 159 Jacques Heers: Le projet de Christophe Colomb. In: Stefano Pittaluga (Hg.): Columbeis I. Genf: Istituto di Filologia Classica, Medioevale e Umanistica 1986, S. 8.

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1 Einführendes zur Kolumbus-Epik

unbedeutenden Familie aus Ligurien oder Genua.160 Von seinen mindestens fünf Geschwistern genießt nur Bartolomeo so große Bekanntheit, dass er auch in den Kolumbus-Epen als sein treuer Begleiter Verarbeitung findet.161 Dass Kolumbus’ ‘Aura’ eines mehr oder minder unbekannten Mannes ‘aus dem Volk’ dabei genau dem oben aufgezeigten epischen Heldenbild entspricht, das Marmontel modellhaft entwirft, liegt auf der Hand.162

1.3.2 Kolumbus: moderner Wissenschaftler oder mittelalterlicher Denker? Bei unserem einführenden Einblick in Kolumbus’ Projekt wollen wir einen breiten Themenkomplex behandeln, der alle Kolumbus-Epen ab 1750 betrifft und von der Frage ausgeht, inwiefern Kolumbus überhaupt anachronistisch als ‘neuzeit160 Vgl. Caesare de Lollis: Cristoforo Colombo, S. 3 und S. 10–16, und Jacques Heers: Christophe Colomb, S. 14–22. Um den Geburtsort ranken sich viele Vermutungen, viele Städte beanspruchen diesen ‘Ruhm’ für sich. Am wahrscheinlichsten ist die Hypothese seiner Abstammung aus Genua, wenngleich auch diese Hypothese «ne donne pas réponse à tout» (ebda., S. 15). Kolumbus selbst sagt in seinem Testament, er stamme aus Genua; auch zeitgenössische Annalisten nennen ihn einen Genovesen. Das zweithäufigste Lokaladjektiv ist ‘ligurisch’. Lollis geht davon aus, Kolumbus sei 1451 in Quinto, einem Dorf bei Genua geboren worden. 161 Bartolomeo ist «un des artisans de l’entreprise» (Jacques Heers: Christophe Colomb, S. 188) und «le frère toujours si proche, qui participera à la grande aventure des Indes occidentales» (ebda., S. 33). Hierauf ist sein relativ großer Stellenwert im Epos Lesuires zurückzuführen (vgl. Kap. 2.3.2). Insbes. auf Kolumbus’ zweiter Reise ist Bartolomeo eine zentrale Figur: Über seine Hilfsexpedition von Spanien aus nach ‘Amerika’ im September 1494 zur Lieferung von Nachschub ist per se wenig bekannt, sie ist aber «la première liaison vers l’ouest après l’Amiral» (ebda., S. 293). Kolumbus hat schließlich durch seine Fahrten keinen ewig gültigen Rekord erreicht, sondern zu Nachahmungen und zur «parfaite maîtrise de routes jusque-là ignorées» (ebda., S. 296) motiviert. Nach seinem Bruder folgt dann bekannterweise schnell Vespucci, der 1497–1498 das Festland und Honduras erreicht und 1499–1500 Hojeda begleitet. 162 Diese ‘Aura’ stellt z. B. Kolumbus’ Sohn Fernando in seiner Biographie (Historia) über den Vater heraus: Gott habe ihn trotz unbekannter Vorfahren erwählt; seine Leistungen strahlten für sich allein, vgl. Fernando Colomb: Christophe Colomb raconté par son fils. Herausgegeben von Eugène Muller/Jacques Heers. Paris: Perrin 1986, S. 8: «Dieu fit élection de l’Amiral, mon père, comme d’une sorte d’apôtre prédestiné aux grandes choses qu’il accomplit, rendant Glorieux le nom de ses ancêtres au lieu d’en recevoir le moindre lustre, et n’ayant brillé que de son propre éclat». Interessanterweise entsprechen die Gründe für die Wahl von Kolumbus als epischem Helden aus Sicht Jacobs denen für das Scheitern der Epen: Sein Leben erscheint vage und er selbst sei völlig «désincarné», was eine Legendenbildung befördere (vgl. François Jacob: Amérique épique, passim, Zitat S. 219). Diese Möglichkeit der fabulösen Anreicherung ziehe das Problem nach sich, dass oft schlicht antike epische Vorbilder abgekupfert würden. Zudem sei Kolumbus im Rückblick gewissermaßen «dépassé» (ebda., S. 219), da über andere Entdecker deutlich mehr bekannt sei, vgl. Kap. 1.2.3.

1.3 Kolumbus und sein Projekt

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lich-aufklärerischer Held’ gefeiert werden kann. Gerade unter dem Blickwinkel des aktuellen Forschungsstandes erscheint die Inszenierung von Kolumbus als ‘aufklärerischem Helden’ überaus fraglich. Kolumbus ist – darin ist sich die Forschung einig – nicht der ‘neuzeitliche’ Mensch, den man im Rückblick lange Zeit in ihm gesehen hat, sondern noch weitgehend einem alten Weltbild verhaftet: «non differiva, per mentalità e per comportamento, dai suoi contemporanei».163 Seine Fahrt gründet auf einer Reihe wissenschaftlicher Fehlannahmen, zu einem stückweisen Erkennen der Tragweite des fundamental ‘Neuen’ kommt es erst mit zunehmender Distanz.164 Kolumbus selbst war zu sehr davon überzeugt, (den Seeweg nach) Indien zu finden.165 ‘Neuzeitlich‘ ist er nur insofern zu nennen, als er nicht den bekannten Weg in Richtung Indien wählt, sondern den noch nicht erprobten wagt.166 Ansonsten sind seine Entdeckungen von der «‹mittelalterliche[n] Interpretation› des Vorgefundenen» geprägt,167 auf deren verschiedene Facetten im Folgenden näher einzugehen ist. Grimm stellt in diesem Kontext die begriffliche Problematik des ‘Entdeckens’ ins Zentrum und sieht in Kolumbus jemanden, der «keinesfalls Neues entdecken, sondern den Weg zu Erwartbarem und Altbekanntem finden wollte».168 Im Sinne der ausführlichen Analysen Borchmeyers (2009), der seine gesamte Monographie der Thematik des ‘Entdeckens’ widmet, kann Kolumbus sehr wohl als ‘Entdecker’ der Neuen Welt bezeichnet werden: Zum einen

163 Giuseppe Bellini: Amara America Meravigliosa, S. 22. Vgl. Jacques Heers: Christophe Colomb, S. 565: «l’homme déjà ‹moderne›, égaré encore, enlisé dans un Moyen Age obscurantiste». 164 Vgl. Rosario Romeo: Le Scoperte americane nella coscienza italiana del Cinquecento, S. 13 f.; Jacques Heers: Christophe Colomb, S. 299, und insbes. Susanna Burghartz: Alt, neu oder jung? Zur Neuheit der ‘Neuen Welt’. In: Achatz von Müller/Jürgen von Ungern-Sternberg (Hg.): Die Wahrnehmung des Neuen in Antike und Renaissance. München/Leipzig: Saur 2004, S. 184: Die Entdeckung der Neuen Welt ist kein radikaler Bruch, sondern es geht darum, «wie bisherige Wissensbestände und Darstellungsmuster mit neuen Erfahrungen verknüpft und durchdrungen werden konnten». Vgl. Gilbert Chinard: L’exotisme américain dans la littérature française au XVIe siècle, S. 1; David B. Quinn: New Geographical Horizons, S. 639, und Florian Borchmeyer: Die Ordnung des Unbekannten, S. 213, der für die Jahrhunderte von 1492 bis zu Alexander von Humboldt von einer «kontinuierlich sich durchziehenden [...] Enthüllungsmystik» spricht. 165 Ihn prägt die «profonde conviction [...] d’atteindre l’extrême-Orient asiatique, la Chine (le Cathay) et le Japon (Cipangu) par la voie maritime en naviguant vers l’Ouest» (Jacques Heers: Le projet de Christophe Colomb, S. 7). 166 Vgl. Reinhold R. Grimm: Das Paradies im Westen. In: Winfried Wehle (Hg.): Das Columbus-Projekt. Die Entdeckung Amerikas aus dem Weltbild des Mittelalters. München: Fink 1995, S. 101. 167 Ebda., S. 75. 168 Ebda., S. 75. Stelio Cro: Classical Antiquity, America, and the Myth of the Noble Savage, S. 393, bringt das auf den Punkt: «COLUMBUS is the medieval man who did most to end medieval culture while convinced that he was doing exactly the opposite».

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aus historischer Sicht, denn die manichäische Unterscheidung zwischen Kolumbus als ‘Finder’ und Vespucci als ‘Erfinder’, der sich im Gegensatz zum Genuesen der ‘Neuheit’ des Gesehenen bewusst ist, ist nicht völlig eindeutig; Kolumbus spricht sehr wohl bereits in seinen ersten Texten vom Ziel, neue Länder entdecken zu wollen.169 Zum anderen aber auch insbesondere dann, wenn man von einer passenden Definition von ‘entdecken’/‘descubrir’ ausgeht, die nicht das «Bewusstsein einer gänzlich neuen geografischen Einheit»170 meint. Vielmehr könne auch etwas wieder-‘entdeckt’ werden, was bereits in Texten überliefert ist. In diesem Sinne könne das bekannte Asien ein zweites Mal ‘entdeckt’ werden, insofern «eine Exegese der Wahrheit, eine Enthüllung des Schleiers, des encubrimiento»171 vorliegt. Kolumbus ist dann zwar nicht der ideelle Entdecker im Sinne Vespuccis, aber doch derjenige, der vorhandenen textuellen Wunschvorstellungen reale Enthüllungen entgegensetzt.172 In jedem Falle gilt für die literarische Umsetzung der ‘Entdeckung’ Chinards treffende Zusammenfassung, die Literatur sei geprägt von der Absicht, der herausragenden Persönlichkeit Kolumbus trotz begründeter Zweifel an seiner Entdeckungsleistung seine ‘Leistung’ nicht nehmen zu wollen.173 Eben das gilt auch für unsere Kolumbus-Epen: Es scheint nahezu irrelevant, ob Kolumbus sich des Ausmaßes der ‘Neuheit’ seiner Entdeckung bewusst war oder nicht. Von ‘wissenschaftlichen’ Quellen und sagenhaften Legenden Die Sekundärliteratur zu Kolumbus’ Fahrten hat sich wohl mit keinem Thema intensiver beschäftigt als mit Kolumbus’ Umgang mit dem «problema dell’‹altro da sé›»174 bzw. konkret mit der Frage, «mittels welcher Repräsentationstechniken [...] das Andere – Neue oder Unbekannte – in den Horizont des Bekannten eingeschlossen werden kann».175 Kolumbus’ Wahrnehmung bzw. Beschreibung seiner ‘Entdeckungen’ bleibt insbesondere stets europazentriert. Ihr liegt im Grunde genommen eine individuelle «Technik der Fiktion»176 zugrunde, zumal 169 Vgl. Florian Borchmeyer: Die Ordnung des Unbekannten, S. 201 f. Delno C. West/August Kling: The «Libro de las Profecías» of Christopher Columbus. An en Face Edition. Gainesville: University of Florida Press 1991, S. 12, betonen, dass es unsicher ist, ob Kolumbus ausschließlich den Seeweg nach Indien finden wollte. Die Bedeutung eines allgemeineren ‘quest for (is)lands’ ist in den Texten zumindest angelegt. Vgl. Jacques Heers: Christophe Colomb, S. 321: «l’idée de terres nouvelles [...] l’avait certainement effleuré à plusieurs moments». 170 Florian Borchmeyer: Die Ordnung des Unbekannten, S. 216. 171 Ebda., S. 213 172 Vgl. ebda., S. 201–206 und S. 212 f. 173 Vgl. Gilbert Chinard: L’exotisme américain dans la littérature française au XVIe siècle, S. 1. 174 Dino S. Cervigni: An Introduction, S. 14. 175 Florian Borchmeyer: Die Ordnung des Unbekannten, S. 70. 176 Ebda., S. 37.

1.3 Kolumbus und sein Projekt

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Kolumbus keine neutrale Interpretation des Gesehenen vornimmt, sondern: «L’interpretation des signes de la nature que pratique Colon est déterminée par le résultat auquel il lui faut aboutir».177 Greenblatt schreibt, alles, was ihm in der Neuen Welt begegne, sehe er als «compilations of significant markers»,178 d. h. seine «sightings are important only in relation to what [he] already knows».179 Sein Wissen über die Neue Welt im Westen speist Kolumbus vornehmlich durch seine Studien antiker, mittelalterlicher und biblischer Texte. Eine Auswahl an Werken, die Kolumbus intensiv studiert hat und die ihm als ‘wissenschaftliche’ Basis für die Projektplanung diente, ist heute noch einsehbar: In Sevilla sind vier Originalausgaben mit eigenhändigen Randglossen des Kolumbus erhalten.180 Seine beliebtesten Quellen sind die Imago Mundi, eine enzyklopädische Kompilation von Pierre d’Ailly (von 1480/1483; zuerst 1410) sowie die Historia Rerum ubique gestarum (1477) von Papst Pius II. (= Piccolomini), die Kolumbus jeweils mit knapp 900 Anmerkungen versehen hat.181 Hinzu kommt Plinius’ Naturalis Historia (in der italienischen Übersetzung von Cristoforo Landino von 1489) und eine lateinische Version von 1485 De consuetudanibus [sic!] et conditionibus orientalium regionum (eine Zusammenfassung des ursprünglich auf altfranzösisch verfassten Devisament du Monde) Marco Polos mit ca. 350 Anmerkungen. Ferner muss auf Plutarchs Las vias de los ilustres varones (1491), Ovids Metamorphosen, Augustinus’ De civitate Dei, das Catholicon des Giovanni de Balbi sowie die Bibel samt Apokryphen und den Esdrabüchern als Quellentexte hingewiesen werden.182 Dabei werden bibli-

177 Tzvetan Todorov: La conquête de l’Amérique: la question de l’autre. Paris: Seuil 1982, S. 29. 178 Stephen Greenblatt: Marvelous Possessions, S. 86. 179 Ebda., S. 88. Vgl. schon Rosario Romeo: Le Scoperte americane nella coscienza italiana del Cinquecento, S. 14, oder Leonardo Olschki: Storia letteraria delle scoperte geografiche. Studi e ricerche. Florenz: Olschki 1937/2002, S. 21. 180 Caesare de Lollis: Cristoforo Colombo, S. 44, merkt sinnvollerweise an, Kolumbus habe nicht erst durch die Lektüre dieser Texte seine Theorien gebildet, sondern fand beim Lesen seine (im Laufe seines Lebens gewonnenen) Vorannahmen bestätigt, weshalb er die Kernstellen markiert und mit spontanen Randglossen versehen hat. 181 Diese insgesamt gut 2000 «postille» (Gabriella Amiotti: I precursori di Cristoforo Colombo nell’Atlantico e la cultura classica del grande navigatore. In: Aevum 68 (1994), S. 432) am Rand oder am Seitenende «sont sans doute ses écrits les plus spontanés, les plus authentiques, ceux qui ne souffrent aucune discussion» (Jacques Heers: Christophe Colomb, S. 124 f.). 182 Vgl. u. a. Gabriella Amiotti: I precursori di Cristoforo Colombo nell’Atlantico e la cultura classica del grande navigatore, S. 432 f.; Jacques Heers: Le projet de Christophe Colomb, S. 21; Heinz Hofmann: Über die Langsamkeit des Wandels von Weltbildern, S. 28; Delno C. West/August Kling: The «Libro de las Profecías», S. 10 und S. 21–24.

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sche Quellen ohne Unterschied als ebenso ‘wissenschaftliche’ Begründungen für die Projektplanung herangezogen.183 Einerseits erklärt der Rückgriff auf eine solch breite literarische Tradition antiker wie mittelalterlicher Texte, weshalb Kolumbus (aber auch seine Nachfolger) bei ihren Berichten stets auf einen «filtro mitologico»,184 d. h. auf typische «Versatzstück[e]» und «literarische[...] Reminiszenz[en]»185 zurückgreifen. Hofmann spricht von der «Unfähigkeit» der Angehörigen der Alten Welt, «das Neue in andere Begriffe zu fassen als ausschließlich in solche des Alten».186 183 Vgl. Carol L. Delaney: Columbus’s Ultimate Goal: Jerusalem. In: Comparative Studies in Society and History 48 (2006), S. 282. 184 Erica Ciccarella: La «benedetta materia del Nuovo Mondo»: Tassoni e l’epos di Scoperta tra il XVI e il XVII secolo. Tesi di laurea in storia della critica e della storiografia letteraria (unveröffentlicht). Università degli studi di Pisa 2014, S. 2. 185 Frauke Gewecke: Wie die neue Welt in die alte kam, S. 91. Nicht nur Kolumbus als erster Berichtender, auch seine Nachfolger greifen in ihrer «extrême confusion dans les esprits» (Gilbert Chinard: L’exotisme américain dans la littérature française au XVIe siècle, S. 26) auf diesen ‘mythologischen Filter’ zurück, der weiterhin auch die Reiseberichte und Romane des 16 und 17. Jhdt. durchzieht und auf die «Wiedergabe von gängigen, in der europäischen Tradition wurzelnden Stereotypen» (Frauke Gewecke: Wie die neue Welt in die alte kam, S. 273) setzt, allen voran Oviedo, Las Casas, Don Hernando und insbes. Pietro Martire. Vgl. Israel Villalba de la Güida: Virgilianismo y tradución clásica en la épica neolatina de tema colombino, S. 54; Gilbert Chinard: L’exotisme américain dans la littérature française au XVIe siècle, S. 25. John H. Rowe: Ethnography and Ethnology in the Sixteenth Century. In: The Kroeber Anthropological Papers 30 (1964), S. 2, geht für die ersten Reiseberichte davon aus, dass sie v. a. zu Unterhaltungszwecken ediert werden, keine Ethnographie im engeren Sinne betreiben und – wie bei Kolumbus – in erster Linie von ihnen vorgefasste Theorien überprüfen möchten. Die De orbe novo Decades (1511–1530) des Pietro Martire gelten dabei als das «primary vehicle for translating America into humanist terms» (Martin D. Snyder: The Hero in the Garden. Classical Contributions to the Early Images of America. In: John W. Eadie (Hg.): Classical Traditions in Early America. Ann Arbor: Univ. of Michigan 1976, S. 151). Denn in ihnen wird überhaupt keine Autopsie betrieben, sondern frühere Reiseberichte werden unter die «humanist’s vision of antiquity» des Autors zusammengespannt. Vgl. Reinhold R. Grimm: Das Paradies im Westen, S. 78–80, zu den typischen rhetorischen Versatzstücken und dem Verweis auf ein reales Irdisches Paradies bei Vespucci, der auf vergleichsweise wenige antike Quellen zurückgreift, aber ebenso viele abstruse neue Erfindungen dazu setzt, z. B. Menschen mit viereckigen Köpfen, vgl. Bartolomé Bennassar/Lucile Bennassar: 1492. Un monde nouveau?, S. 46 f. In ähnlicher Weise warnt Sebastian Münster (1550) in seiner Kosmographie vor fantastischen Seemonstern und Thevet (1558) spricht u. a. von Amazonen. Bis ins 18. Jhdt. arbeiten die Verfasser von Reiseberichten daher an der «Entmythologisierung» und der wirklichen «Entschleierung des orbis terrarum» (Heinz Hofmann: Über die Langsamkeit des Wandels von Weltbildern, S. 25). 186 Heinz Hofmann: Über die Langsamkeit des Wandels von Weltbildern, S. 23. So lässt Kolumbus z. B. in ‘Amerika’ die Nachtigall singen, um ein bukolisches Szenario zu modellieren, obschon es diese Vogelart dort überhaupt nicht gibt. Ein wirkliches «innocent eye» (John H. Elliott: Renaissance Europe and America, S. 16) gibt es nur direkt bei den Seefahrern selbst, jedes textu-

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Nicht nur die Beschreibung der Ureinwohner fällt eingangs «absurdly simplistic»187 aus, sämtliche Gegenstände, Umstände, Handlungen, die ‘anders’ und ‘neu’ scheinen, werden durch ein Überblenden bekannter Vorstellungen in ihrer Alterität verkannt.188 Diese durch Texte des Mittelalters bzw. durch den Humanismus geprägte ‘Brille’, hat zur Folge, dass nur ungemein langsam das Bewusstsein heranwächst, dass es sich beim Vorgefundenen tatsächlich um etwas «keiner Überlieferung entsprechende[s] radikal Neue[s]»189 handelt. Es ist ein «well-attested fact»,190 dass die Entdeckung einer Neuen Welt spätestens Mitte des 14. Jahrhunderts in einer Vielzahl von Texten vorausgesehen wird,191

elle Festhalten ist schon durch diese ‘europäisch-humanistische’ Brille gefiltert und damit ein «selective eye» (ebda., S. 17), geprägt durch klassische und christlich-biblische Tradition sowie durch die Absicht, den Rezipienten adressatengerecht zu unterhalten. S. David B. Quinn: New Geographical Horizons, S. 635, der vom Rückgriff auf zur Verfügung stehende Beschreibungsmöglichkeiten spricht, sowie Heers’ «formules toutes faites, apprises et parfaitement assimilées, [...] stéréotypées» (Jacques Heers: Le projet de Christophe Colomb, S. 20). S. Florian Borchmeyer: Die Ordnung des Unbekannten, S. 367 f.: «das von den Europäern mitgebrachte Imaginarium will sich nicht mit der Natur und ihren Dingen – und deshalb auch nicht mit der natura rerum decken». 187 John H. Elliott: Renaissance Europe and America, S. 16. 188 So spricht Elliott für die ersten gut fünfzig Jahre von einem gedämpften Clash der Welten, der «bluntness of the impact» (ebda., S. 22). Die Neue Welt wird gesehen als «extension of the Old» (David B. Quinn: New Geographical Horizons, S. 636). S. Reinhold R. Grimm: Das Paradies im Westen, S. 100: «Das unbekannte und schockierend Neue wird als das verlorene oder noch nicht wiedergefundene Alte, aber grundsätzlich bereits Bekannte interpretiert». Heinz Hofmann: Über die Langsamkeit des Wandels von Weltbildern, S. 25, führt den Versuch an, die bekannte spanische Hierarchie gesellschaftlicher Ränge auf die Neue Welt zu übertragen und die dortigen Kaziken schlicht mit europäischen Bezeichnungen wie ‘Gouverneur’, ‘König’ o. Ä. zu versehen. Dass dies umgekehrt genauso auch für die Seite der Bewohner der Neuen Welt zutrifft, beleuchtet etwa anhand archäologischer Funde Joanna Ostapkowicz: Integrating the Old World into the New: Europe within an Indigenous Caribbean Perspective. Vortrag vom 11. 04. 2017, gehalten an der University of Cambridge im Rahmen der Konferenz ‘Legacies of Conquest. Transnational Perspectives on the Conquest and Colonisation of Latin America’. 189 Hanno Ehrlicher: Die Neue Welt: Reisen und Alterität. In: Jörg Dünne/Andreas Mahler (Hg.): Handbuch Literatur & Raum. Berlin/Boston: De Gruyter 2015, S. 356. S. 356. Zu Kolumbus’ Beobachtungsgabe, seiner Naturdokumentation und andauernden Vergleichen des Vorgefundenen mit der Natur Europas vgl. u. a. Giuseppe Bellini: «...Andaban todos desnudos...»: alle origini dell’ ‘Incontro’ tra l’Europa e l’America. In: Stefano Pittaluga (Hg.): Columbeis II, passim. 190 Antonello Gerbi: The Earliest Accounts on the New World. In: Fred Chiappelli (Hg.): First Images of America, S. 37. 191 S. Wolfgang Geiger: De la navigation des moines de l’Abbaye de Saint-Mathieu au voyage de Christophe Colomb: La recherche du Paradis terrestre à l’Ouest. In: Jean-Pierre Sanchez (Hg.): Dans le sillage de Colomb. L’Europe du Ponant et la découverte du Nouveau Monde

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sodass sich Kolumbus’ Projekt in ein «lourd fardeau de légendes»192 einreiht. Von bestimmten mythischen Fabelwesen oder speziellen Menschenschlägen, die man dort zu erwarten glaubte, einmal gänzlich abgesehen,193 benennt Snyder v. a. «two highly compatible mythic traditions»,194 die «a las mentes de los europeos ante los nuevos hallazgos» für das ‘Neue’ geeignete Erklärungsmöglichkeiten liefern «y de tal manera [...] pronto pasaron al imaginario colectivo».195 Zum einen ist dies die lang tradierte Vorstellung eines Goldenen Zeitalters als eines perfekten Ausgangszustands der Menschheit, der zu einem bestimmten Zeitpunkt menschlicher (kultureller) Entwicklung degeneriert war – so wohl am bekanntesten in der Darstellung Ovids zu Beginn seiner Metamorphosen nach dem Vorbild von Hesiods Werken und Tagen.196 Zum anderen der Mythos der (post mortem zu erreichenden) Elysischen

(1450–1650). Actes du Colloque International Université Rennes 2,5,6,7 mai 1992. Rennes: Presses Universitaires de Rennes 1995, S. 297: «La navigation sur l’océan Atlantique a déjà une histoire ‹précolombienne›». 192 Gilbert Chinard: L’exotisme américain dans la littérature française au XVIe siècle, S. XV. 193 Eine Identifikation der Bewohner der Neuen Welt mit Fabelwesen – etwa von kopflosen Menschen mit Augen in den Schultern oder ‘Kopffüßlern’, wie sie der antike Plinius d. Ä. beschreibt – findet sich noch in Sir Walter Raleighs Bericht über Venezuela (1596) sowie deutlich später bei François Lafitaus Mœurs des sauvages comparées aux mœurs des premiers temps von 1724 (!), vgl. Joseph Jurt: Erste französische Bilder der Neuen Welt: Jean de Lérys Voyage faict en la terre du Brésil. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 106 (1996), S. 29. Wenig langlebig, aber in den ersten Jahrzehnten ungemein virulent war z. B. auch die Vorstellung einer nur von Amazonen bewohnten östlichen Insel, die Kolumbus zu entdecken sucht. Dieser Vorstellung widersprechen bereits die frühesten Reiseberichte aus der Feder des Las Casas und Oviedos. Vgl. Jacques Heers: Christophe Colomb, S. 306; Israel Villalba de la Güida: Virgilianismo y tradución clásica en la épica neolatina de tema colombino, S. 69 f.; Giuseppe Bellini: «...Andaban todos desnudos...»: alle origini dell’ ‘Incontro’ tra l’Europa e l’America, S. 197; Anna Bognolo: Geografia mitica e geografia moderna. Le Amazzoni nella scoperta dell’America. In: Stefano Pittaluga (Hg.): Columbeis IV. Genf: Istituto di Filologia Classica, Medioevale e Umanistica 1990, passim, insbes. S. 19. 194 Martin D. Snyder: The Hero in the Garden, S. 148. 195 Israel Villalba de la Güida: Virgilianismo y tradución clásica en la épica neolatina de tema colombino, S. 56. 196 Rein positiv konnotiert ist die Vorstellung des Goldenen Zeitalters z. B. in Vergils vierter Ekloge, wo es durch das Bild der Geburt eines Kindes ins Goldene Zeitalter nach den Bürgerkriegen und unter Augustus’ Friedensherrschaft mit der Aktualität verknüpft wird. Horazens 16. Epode verbindet die Degeneration der Menschheit in den Bürgerkriegen mit dem hoffnungsvollen Blick auf Augustus’ Herrschaft und ein neues Goldenes Zeitalter, indem der Sprecher sich als ‘vates’ eben dieses Neuen Reichs versteht. Die erste Anwendung des Motivs des Goldenen Zeitalters auf ein ‘reales’ Gebiet findet sich in Tacitus’ Germania. Zu einigen der klassischen Quellen vgl. Stelio Cro: Italian Humanism and the Myth of the Noble Savage, S. 52–54 und Stelio Cro: Classical Antiquity, America, and the Myth of the Noble Savage, S. 381–386. Zur Vorstellung der Degeneration der Menschheit vgl. Kap. 2.3.2 zu Lesuire.

1.3 Kolumbus und sein Projekt

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Felder, der sich mit dem Goldenen Zeitalter leicht verknüpfen lässt.197 Entscheidend sind hier Homers Odyssee, Horazens 16. Epode und Plutarchs Sertorius-Vita, die die Zugänglichkeit einer im Westen gelegenen ‘Insel der Seligen’ in die Literatur einführen.198

197 Vgl. Martin D. Snyder: The Hero in the Garden, S. 144–146; Stelio Cro: Classical Antiquity, America, and the Myth of the Noble Savage, S. 385. Die Insel der Seligen wird von Hesiod am Rande der Welt situiert. Plinius benennt bereits einzelne Inseln und ihre Entfernung zu Cádiz, Plutarch schreibt in seiner Sertorius-Vita, wie Sertorius auf Seefahrer von Atlantikinseln getroffen sei, etc. Zur Litanei an antiken Texten, die von einer unbekannten Inselwelt im Westen sprechen, vgl. Frauke Gewecke: Wie die neue Welt in die alte kam, S. 72 f.; Heinz Hofmann: Cristoforo Colombo: esploratore fra Medio Evo e Rinascimento. In: Studi Umanistici Piceni 11 (1991), S. 75. Teils wurden die Texte erst Anfang des 15. Jhdts. wiederentdeckt (etwa Strabo, Aristoteles, Ptolemäus). Zu verweisen ist freilich auch auf Dantes Divina Commedia (Purg. 29–33); s. Stelio Cro: Italian Humanism and the Myth of the Noble Savage, S. 54 f.; und Stelio Cro: Classical Antiquity, America, and the Myth of the Noble Savage, S. 367 f., zur Paradiesvorstellung bei Dante und dem Irdischen Paradies auf der Spitze des Berges des ‘Purgatorio’. Schon die frühen Kolumbus-Epen greifen auf das Motiv eines paradiesischen Goldenen Zeitalters zurück, vgl. zusammenfassend Manuel Yruela Guerrero: La edad de oro: Raíces diversas de la épica colombina del XVI en lengua latina. In: Juan Gil/José M. Maestre Maestre (Hg.): Humanismo Latino y descubrimiento. Sevilla/Cádiz: Universidad de Sevilla/Universidad de Cádiz 1992, S. 185–197, zum Kolumbus-Epos Gambaras (vgl. Kap. 2.2). Einmal wird das Goldene Zeitalter im Sinne der vierten Ekloge Vergils panegyrisch nutzbar gemacht, dann aber auch biblisch-prophetisch «como cumplimiento de las profecías bíblicas sobre el advenimiento del Paraíso escatológico» (ebda., S. 197). Bradner sieht im langen Abschnitt der Gleichsetzung Hispaniolas mit dem Irdischen Paradies in Buch III denjenigen Abschnitt, der noch etwas Leben in die sonst relativ monotone epische Beschreibung neuer Gebiete bringt; vgl. Leicester Bradner: Columbus in Sixteenth-Century Poetry. In: Lewis Wilmarth S. (Hg.): Essays Honoring Lawrence C. Wroth. Portland: Anthoensen Press 1951, S. 15. Die Vorstellung von einem Goldenen Zeitalter, in dem die angetroffenen Bewohner der Neuen Welt leben, wird in den weiteren neulateinischen Kolumbus-Epen nicht aufrechterhalten, zumal eine kriegerische Unterwerfung (z. B. im Epos Stellas, vgl. Kap. 2.2) oder eine friedliche Unterwerfung (vgl. das Epos von Peramás in Kap. 2.3.4) angestrebt wird, um so erst eine biblisch-eschatologische Komponente des Goldenen Zeitalters bzw. ein Neues Reich Gottes zu ermöglichen. 198 Vgl. insbes. Hom. Od. 4, 561–568. Die wohl bedeutendste pagane Stelle, welche die Entdeckung einer Neuen Welt bereits präfiguriert, stammt aus Senecas Tragödie Medea (aus dem zweiten Auftritt des Chors). Trotz ihrer Kürze scheint sie nicht nur Kolumbus, sondern auch die Phantasie seiner Zeitgenossen und Nachfolger besonders angeregt zu haben und wurde für verschiedenste ideologische Auslegungen nutzbar gemacht. Vgl. zum Folgenden u. a. Jacques Heers: Christophe Colomb, S. 130; Heinz Hofmann: Die Geburt Amerikas aus dem Geist der Antike, S. 17; James Romm: New World and ‘novos orbes’: Seneca in the Renaissance Debate over Ancient Knowledge of the Americas. In: Wolfgang Haase/Reinhold Meyer (Hg.): The Classical Tradition and the Americas, S. 82, S. 96 und S. 102 f. So setzen in der Folge etliche Historiker und Verfasser von Reiseberichten (z. B. Las Casas, Zarate, Cervantes de Salazar, Gómara) die Medea-Stelle an den Beginn bzw. das Ende ihres Werkes. Las Casas nutzt Senecas Präfigura-

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Solche paganen Vorstellungen sind über Jahrhunderte mit christlich-biblischen Vorstellungen verschmolzen, allen voran der des Irdischen Paradieses. Kirchenvater Augustinus verficht in seiner Exegese zu Gen 2 dessen «geographisch-empirische Existenz»,199 und Isidor von Sevilla hat als einer der Ersten die biblische Beschreibung des Paradieses bewusst mit der paganen Vorstellung der Elysischen Felder verquickt. In der weiteren Tradition versucht man die kargen biblischen Angaben zur vermeintlichen Lage des Irdischen Paradieses durch weitere Details zu präzisieren, z. B. durch seine Situierung im Osten,200 seine Höhenlage, damit es nicht von der göttlichen Sintflut erreicht werden konnte, seine Abgeschiedenheit bzw. Versperrung durch ein nur von Gott selbst aufzulösendes Hindernis. Summiert wird dies ausführlich in Pierre d’Aillys monumentaler Imago Mundi.201 Die Vorstellung von der Erde als Kugel trägt ihrerseits zum Verquicken

tion eines ‘zweiten Tiphys’, der die Schranken der Welt durchbrechen werde, zur Identifikation mit Kolumbus als gottgesandtem Entdecker. Schon Kolumbus selbst hatte die betreffende Passage messianisch ausgelegt und sie in seinem Libro de las Profecías zitiert, vgl. Kap. 1.3.4 und insbes. Anm. 331. Unter dem Habsburger Karl V. mit seiner festen «determination to expand its borders farther than any Roman ruler had dreamed» (James Romm: New World and ‘novos orbes’, S. 90) greift man aus propagandistischen Zwecken auf die Medea-Stelle zurück, da man in Seneca einen treuen Mitarbeiter des Kaisers Nero sah, der seinerzeit ebenso von einer Reichsexpansion träumte. Bei englischen Autoren, z. B. in Aleyns History of Henry the Seventh von 1638, werden die Engländer bei ihrem Kampf um Kolonien gelobt, wobei man davon ausgeht, sie hätten im Gegensatz zu den Spaniern Senecas Prophezeiung richtig gedeutet, die nach Norden weise. Bacon wiederum erklärt die Medea-Stelle für unbedeutend, da Seneca die Inseln niemals selbst gesehen habe. Auch bei Spaniern finden sich solche Diskreditierungsversuche im Bestreben, den Einfluss antiker Quellen auf Kolumbus zu minimieren und Gottes Einfluss zu betonen. Hier sind u. a. Antonio de Herrera oder Paolo Giovio zu nennen. Ende des 16. Jhdts. kommt es mit Acosta allgemein zu einem Diskreditieren antiker Quellen, vgl. Kap. 1.4, vgl. ebda., S. 80, S. 91–93 und S. 99 f. 199 Reinhold R. Grimm: Das Paradies im Westen, S. 82. Während Philon von Alexandrien und Augustinus’ Lehrer Ambrosius noch die allegorische Auslegung vertraten, vgl. u. a. Gilbert Chinard: L’exotisme américain dans la littérature française au XVIe siècle, S. IX. 200 Für die mittelalterliche Bedeutung des ‘Ostens’ als biblischer Ort der Glückseligkeit vgl. Frauke Gewecke: Wie die neue Welt in die alte kam, S. 63 f. und S. 74–76: Durch verschiedene Kompilatoren werden die Fabeln vom wundersamen Reich der Schätze im Osten (von Plinius, Pomponius Mela, Gaius Iulius Solinus u. a.) weitertradiert. Zu nennen sind z. B. die Historia Mongolorum (1246/1247) von Giovanni dal Pian del Carpine, das Itinerarium (1253–1255) des Franzikaners Wilhelm Ruysbroek oder Marco Polos 1298/1299 entstandener Devisament du Monde. Erica Ciccarella: La «benedetta materia del Nuovo Mondo»: Tassoni e l’epos di Scoperta tra il XVI e il XVII secolo, S. 3, spricht von einer durch diese Texte motivierten «curiosità per l’esotico». 201 Vgl. Henri Baudet: Paradise on Earth. Some Thoughts on European Images of Non-European Man. New Haven: Yale University Press 1965, passim; Stelio Cro: Classical Antiquity, America, and the Myth of the Noble Savage, S. 382; Franco Cardini: Alla cerca del Paradiso. In: Stefano

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paganer und biblischer Traditionen und zu ihrer Lokalisierung am selben Ort bei, da der entfernt liegende biblische Osten und der in etlichen antiken und mittelalterlichen Quellen als Ort für ‘neue’ Inseln genannte Westen in Eins fallen202 – von der Gleichsetzung der paradiesischen Insel der Seligen mit den ‘insulae fortunatae’ bzw. Kanaren über die Legende des irischen Heiligen Brandan über die von portugiesischen Mönchen angefahrene Insel Antilia mit ihren sieben Städten bis zu Atlantis.203

Pittaluga (Hg.): Columbeis V. Genf: Istituto di Filologia Classica, Medioevale e Umanistica 1993, S. 77–80; Wolfgang Geiger: De la navigation des moines de l’Abbaye de Saint-Mathieu au voyage de Christophe Colomb, S. 302; Frauke Gewecke: Wie die neue Welt in die alte kam, S. 68 f.; Heinz Hofmann: Cristoforo Colombo, S. 82; Heinz Hofmann: Lorenzo Gambara di Brescia: De navigatione Christophori Columbi libri IV. Das erste neulateinische Columbus-Epos. In: Titus Heydenreich (Hg.): Columbus zwischen zwei Welten, S. 145. Für die Situierung des Paradieses im Osten ist neben Marco Polos Asienbericht oder dem Alexanderroman insbes. der Bericht des nach Asien reisenden «fictive traveler» (Stephen Greenblatt: Marvelous Possessions, S. 48) mit dem Pseudonym ‘John Mandeville’ verantwortlich. In seinem 1356 verfassten Livre des Merveilles, das mit mindestens 35 Neuauflagen bis 1480 «un des ouvrages les plus lus de son époque» Jacques Heers: Christophe Colomb, S. 335, darstellt, berichtet Mandeville von einer realiter gefundenen Quelle ewiger Jugend und anderen Schätzen (vgl. Stephen Greenblatt: Marvelous Possessions, S. 32). Zeitgleich wird die Existenz der Reichtümer durch zeitgenössische, in den Osten reisende Handelsmänner aus dem Mittelmeerraum widerlegt, welche das Beschriebene nicht bestätigen können. 202 Vgl. Franco Cardini: Alla cerca del Paradiso, S. 68. 203 Zu den größten Erfolgen dieser Legenden des Mittelalters zählen insbes. zwei Legenden, die zusammen mit «molti volgarizzamenti nel tardo medioevo» die Vorstellung eines «Paradiso occidentale» (jeweils ebda., S. 75) transportieren. (1) Die im 10. Jhdt. entstandene und bis ins 15. Jhdt. beliebte altirische Legende des Abtes Brandan, der im 6. Jhdt. eine siebenjährige Odyssee miterlebt haben, auf einer Paradiesinsel im Westen gelandet sein und 40 Tage dort verbracht haben soll. (Vgl. Frauke Gewecke: Wie die neue Welt in die alte kam, S. 79 f.; Reinhold R. Grimm: Das Paradies im Westen, S. 85; Rosario Romeo: Le Scoperte americane nella coscienza italiana del Cinquecento, S. 18 f. Näheres zur Brandan-Sage, die auf einem historischen Kern beruht, samt ihrer Einbindung in die ‘matière de Bretagne’ findet sich bei Wolfgang Geiger: De la navigation des moines de l’Abbaye de Saint-Mathieu au voyage de Christophe Colomb, S. 297–299, sowie bei Lyon Sprague de Camp: Lost Continents. The Atlantis Theme in History, Science, and Literature. New York: Dover Publications 21970, S. 22. Der Umstand, «à quel point le mythe est senti comme une réalité quasi certaine» (Jacques Heers: Christophe Colomb, S. 133), lässt sich dadurch belegen, dass die Insel San Brandans sogar auf Martin Behaims Globus von 1492 erscheint, und sich auf der Weltkarte des Ortelius findet (vgl. u. a. Lyon Sprague de Camp: Lost Continents, S. 23–25). Jacques Heers: Christophe Colomb, S. 134, meint, die letzte Entdeckungsfahrt auf der Suche nach Insel des Brandan habe 1752 stattgefunden. (2) Der Mythos von der Insel Antil(l)ia/Antilh, der mitunter auch mit der Brandan-Legende verschmilzt. Im 8. Jhdt. sollen (portugiesische) Bischöfe auf der Flucht vor den Mauren von Spanien aus nach Westen geflohen sein und auf einer (oder sieben) Insel(n) sieben Städte im Atlantik gegründet haben. (Vgl. Lyon Sprague de Camp: Lost Continents, S. 21 f.; Heinz Hofmann: Über die Langsamkeit des Wan-

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Bei der Frage, ob Kolumbus selbst wirklich davon überzeugt war, auf seinen Fahrten das Irdische Paradies zu entdecken, oder ob die paradiesischen Referenzen bei ihm lediglich figurativ als Mittel zur Beschreibung des Gesehenen eingesetzt werden, gehen die Meinungen auseinander.204 In jedem Falle ist die Beschreibungskategorie des Goldenen Zeitalters bzw. Irdischen Paradieses gerade in den ersten Jahrzehnten nach Kolumbus erster Fahrt überaus präsent: Die Ansicht, Gott habe seinerzeit das Paradies versteckt, und nun würde es durch einen für den Menschen undurchschaubaren Grund wiedereröffnet, bildet den Kern dieses «Adamic view»,205 bei dem die Neue Welt in einem perfekten Zustand vorgefunden wird. Daher knüpft sich hieran auch ein positives Bild der Ureinwohner.206 Man muss in jedem Falle davon ausgehen, dass die ernst-

dels von Weltbildern, S. 33–35; Frauke Gewecke: Wie die neue Welt in die alte kam, S. 81). Im Brief Toscanellis an Kolumbus soll er ihm aufgetragen haben, vor seiner Reise nach ‘Cathay’ auf den ‘Antillen’ Halt zu machen. Auch Pietro Martire geht in seinen Dekaden von der Gleichsetzung Hispaniolas mit ‘Antilia’ bzw. der Insel der sieben Städte aus. Für weitere antike Mythen, etwa die Hyperboreer oder ‘ultima Thule’ vgl. ebda., S. 63–66, und Israel Villalba de la Güida: Virgilianismo y tradución clásica en la épica neolatina de tema colombino, S. 61. Lyon Sprague de Camp: Lost Continents, S. 28, betont, dass durch Kolumbus’ erste Reise das Tradieren alter Legenden sogar noch zunimmt. Das Interesse an ihnen «[is] grown to the proportions of a neurosis». Das gilt auch für die Atlantissage, vgl. Kap. 3.2. 204 Silvana Fasce: Colombo, il Paradiso terrestre e Mircea Eliade. In: Stefano Pittaluga (Hg.): Columbeis I, S. 199–205, geht davon aus, dass Kolumbus definitiv nicht auf der Suche nach mythischen Gestalten oder dem Irdischen Paradies war, und dies nur die ‘Brille’ war, durch die er das Vorgefundene beschrieben hat, sodass er in begründeten Fällen zwar seinem ‘Glauben’ Ausdruck verlieh, nicht aber einer klaren ‘Überzeugung’. Dagegen stellt sich Geiger dezidiert in eine Linie mit Mircea Éliade, die in Kolumbus’ Schriften eine Suche nach dem Irdischen Paradies ausmacht (vgl. Wolfgang Geiger: De la navigation des moines de l’Abbaye de SaintMathieu au voyage de Christophe Colomb, S. 302). Als Belege weisen u. a. Stephen Greenblatt: Marvelous Possessions, S. 78 f., und Reinhold R. Grimm: Das Paradies im Westen, S. 81, S. 90, Zitat S. 77, auf Kolumbus’ dritte Reise hin, wo dieser wiederholt die «durchaus empirische[...] geographische[...] Größe» des Irdischen Paradieses anspricht. Als er das Festland Mittelamerikas entdeckt, verleiht Kolumbus seiner Überzeugung Ausdruck, dass der vorgefundene Fluss Orinoko einer der vier Flüsse ist, welche die Topographie des biblischen Paradieses ausmachen. Kolumbus glaubt zudem in der südlichen Hemisphäre eine Abweichung von der Kugelgestalt der Erde zu erkennen, was zur erhöhten Lage des Irdischen Paradieses passen soll. Allerdings sind die entscheidenden Quellen, der Reisebericht der dritten Kolumbusfahrt und Kolumbus’ Bordbuch, nur in gekürzter Form durch Las Casas auf uns gekommen. Grimm (ebda., S. 85) spricht von einem «eigenartige[n] Konglomerat von gelehrten und volkstümlichen, geographisch ernsthaften und zugleich mytisch[sic!]-märchenhaften Vorstellungen». 205 Martin D. Snyder: The Hero in the Garden, S. 140. 206 Das Konglomerat aus Goldenem Zeitalter und Irdischem Paradies hat damit einen bedeutenden Einfluss auf den Mythos des ‘Noble Savage’, vgl. Stelio Cro: Italian Humanism and the Myth of the Noble Savage, S. 54; Stelio Cro: Classical Antiquity, America, and the Myth of the

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gemeinte geographische In-Eins-Setzung schnell obsolet wurde, «as the harsh realities of life in the New World grew better known».207 Ebenda spricht Snyder daher von einem ‘Noachic view’, bei der die vorgefundene Welt im Chaos erscheint, die der Mensch (bzw. der heldenhafte Kolumbus) erst ordnen muss. Das ‘Paradiesische’ als literarisches Motiv bzw. als Beschreibungsmodus bleibt deutlich länger erhalten – angefangen bei Vespucci bis hin zu den von uns behandelten Kolumbus-Epen.208 Andererseits lässt sich beobachten, wie Kolumbus bei seinen ersten Berichten bemüht ist, das, was er sieht, mit seinen ‘falschen’ Grundannahmen abzustimmen, die entdeckte Gegend mit dem ihm bekannten ‘Asien’ zu überblenden,

Noble Savage, S. 379. Hierzu zählt auch die Beschreibung der Bewohner unbekannter Gegenden als ‘Wilde’ bzw. Waldbewohner. Vgl. John H. Rowe: Ethnography and Ethnology in the Sixteenth Century, S. 4–7, für die etymologische Herleitung von frz. ‘sauvage’ von vlat. *‘silvaticu’ und die Referenztexte für den ersten Menschen als Waldbewohner, i. e. Platos Protagoras und Vitruvs De architectura. Das Bild des ‘Noble Savage’, ist laut Baudet seit frühester Zeit in der Vorstellung der Erbsünde und des durch die Kultur verführten postlapsarischen Menschen angelegt. Daher erfolgt die Beschreibung der Bewohner in Form einer Wiedergabe eines mythisch verklärten Bildes eines Goldenen Zeitalters, das man nun realiter vor sich glaubte. Vgl. Henri Baudet: Paradise on Earth. Some Thoughts on European Images of Non-European Man, S. 11 f.; Aldo Scaglione: A Note on Montaigne’s Des Cannibales and the Humanist Tradition. In: Fred Chiappelli (Hg.): First Images of America, S. 63 f. 207 Martin D. Snyder: The Hero in the Garden, S. 143. Vgl. Reinhold R. Grimm: Das Paradies im Westen, S. 89 f. Das gilt ebenso für die neulateinischen Kolumbus-Epen: «Heroism requires a hostile environment, for only in such a setting can a true hero act» (Martin D. Snyder: The Hero in the Garden, S. 155). 208 Zum Irdischen Paradies in den Kolumbus-Epen s. Kap. 2.3.4.3. Bei Vespucci und Las Casas wird die Gleichsetzung der entdeckten Gebiete mit dem Irdischen Paradies noch als korrekte These herausgestellt, vgl. Reinhold R. Grimm: Das Paradies im Westen, S. 103. Pietro Martire spricht sich bereits gegen die Gleichsetzung mit dem Irdischen Paradies aus, während er andere Mythen noch bekräftigt. Später wird das ‘reale’ Irdische Paradies in weiter entfernte unbekannte Winkel der Welt verdrängt, als Teil der ‘terra australis incognita’ im Pazifik. Den entscheidenden Startschuss bilden die Expedition von Louis Antoine de Bougainville (1766–1769) auf Otaheite, dem heutigen Tahiti, sowie Cooks Pazifik-Expeditionen (1768–1771) und sein Vordringen in die Antarktis (1778). In seiner Voyage autour du monde beschreibt Bougainville die dortige Neue Welt als einer der letzten Neue-Welt-Reisenden als Garten Eden, vgl. Corin Braga: Le paradis aux Américains. Les fantasmes religieux des premiers explorateurs. In: Philologica Jassyensia 1 (2005), S. 111 f. und S. 118–120; Margaret Cohen: Atlantik/Pazifik: Die imaginäre Erschließung der Ozeane im Zeitalter der Segelschifffahrt. In: Jörg Dünne/Andreas Mahler (Hg.): Handbuch Literatur & Raum, Berlin/Boston: De Gruyter 2015, S. 272. S. zur Bedeutung der Antarktis als Neuer Welt u. a. Michèle Duchet: Anthropologie et histoire au siècle des Lumières, S. 61–63; Alan Frost: The Pacific Ocean: The Eighteenth Century’s ‘New World.’ In: Theodore Besterman (Hg.): Transactions of the Fourth International Congress on the Enlightenment, vol. II. Oxford: Voltaire Foundation 1976, S. 779–822.

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und das Übereinstimmen literarischer Belege mit dem Vorgefundenen zu forcieren. Dabei kommt dem vorgenannten Bericht Marco Polos eine Schlüsselfunktion zu.209 Die von den Spaniern forcierte Suche nach Gold dient zudem als Beleg des Erreichens des von Marco Polo als ‘goldreich’ beschriebenen Asien. Bei all dem geht Kolumbus nun nicht völlig engstirnig vor, sondern Heers erläutert anhand des kolumbischen Bordbuchs, wie er immer auch ‘Nachjustierungen’ vornimmt, wenn etwas Vorgefundenes nicht in sein vorgedachtes Konzept passt. So finden sich in seinem Text mehrere Selbstkorrekturen und «retours en arrière».210 Insgesamt hält Kolumbus auch auf seiner zweiten Reise an der Überzeugung fest, es handle sich bei den entdeckten Gebieten um Asien – u. a. unter der Androhung einer Strafzahlung für diejenigen Spanier, die an dieser Hauptannahme zweifeln.211 Abseits der oben genannten ‘literarwissenschaftlichen’ Quellen sollen auch Kolumbus’ persönliche Kontakte zu diversen Reisenden, Seefahrern und Gelehrten entscheidenden Einfluss auf ihn ausgeübt haben.212 Zu den berühmtesten Autori-

209 Vgl. Jacques Heers: Christophe Colomb, S. 298–300; Hanno Ehrlicher: Die Neue Welt: Reisen und Alterität, S. 357 und passim. Beispielsweise führt der Umstand, dass die Bewohner Kubas ihre Heimat ‘Cibao’ nennen, was eine klanglich-onomastische Ähnlichkeit mit ‘Cipangu’ (‘Japan’) aufweise, bei ihm zum festen Glauben, er habe das durch Marco Polo bekannte Asien erreicht. Die Angst der angetroffenen Bewohner vor menschenfressenden ‘Cariba’ deutet Kolumbus sogleich als ‘Caniba’ und als Anspielung auf Khan. Vgl. Tzvetan Todorov: La conquête de l’Amérique, S. 37; Heinz Hofmann: Über die Langsamkeit des Wandels von Weltbildern, S. 25; Jacques Heers: Christophe Colomb, S. 269 f. 210 Vgl. ebda., S. 309–315, Zitat S. 304. Dieses Changieren beschreibt Hanno Ehrlicher: Die Neue Welt: Reisen und Alterität, S. 357, in etwas manirierter Formulierung: «Es ist aber nicht nur Zeugnis des Nichtverstehens, sondern auch einer epistemologischen Verunsicherung, die mit der beobachtungsbasierten kulturellen Erfahrung eines anderen Raums einhergeht, der in seiner Alterität zwar negiert werden sollte, aber sich eben auch nicht ohne Schwierigkeiten an das mitgeführte Toposwissen angleichen ließ». Er liefert eine detaillierte Beschreibung des Vorgehens des Genuesen, der seine Hypothese immer wieder falsifiziert und umstrukturiert, und spricht von Kolumbus’ «situationsbedingte[r] Flexibilität in der Semiosphäre des Unbekannten bei gleichzeitiger Starrheit des zugrunde liegenden Interpretationsmusters» (ebda., S. 360). Dies trifft auf Kolumbus’ Verwirrung zu, ob er nun ‘Cathay’ und den dort regierenden Großen Khan gefunden hat oder nicht; aber auch, ob es sich bei den entdeckten Ländereien um Inseln oder Festland handelt; ob es Kannibalen gibt, oder nicht usw. 211 Vgl. Jacques Heers: Christophe Colomb, S. 315. Eine alternative Lösung findet sich beim Großen Khan: hatte Kolumbus zu Beginn des Bordbuchs dessen Existenz betont, wird er auf einmal schlicht nie mehr erwähnt. Unklar ist, ob für Kolumbus Anderes wichtiger geworden ist, oder ob er selbst nicht mehr an seine Existenz glaubte, vgl. Carol L. Delaney: Columbus and the Quest for Jerusalem, S. 149. 212 Mit ihnen konnte sich Kolumbus über den Seeweg nach Westen austauschen sowie über zahlreiche Indizien, deren Vorliegen die Existenz relativ nahe gelegener westlicher Gebiete zu bestätigen scheinen, vgl. Caesare de Lollis: Cristoforo Colombo, S. 38. Delno C. West/August

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täten zählt der Florentiner Arzt, Kosmograph und Mathematiker «Paolo del Pozzo, dit Toscanelli»,213 der als Schreibstubengelehrter dem praxisorientierten Kolumbus (für den späteren örtlichen Abgleich) einschlägiges Kartenmaterial über die Gebiete im Westen hat zukommen lassen.214 Bereits 1475 stand Toscanelli mit dem portugiesischen König Alfons V. in Verbindung und hat ihn über die Möglichkeit eines Seewegs nach Asien informiert, wovon ein erhaltener Brief (mit einer nicht erhaltenen Karte der zu erkundenden Gebiete im Anhang) an den portugiesischen Kanoniker Fernão Martins zeugt.215 Wenige Jahre später (1479–1481) soll es dann zum Briefwechsel zwischen Kolumbus und Toscanelli gekommen sein,216 und Kolumbus soll ein Doppel des Briefs von Toscanelli an Martins (mit der besagten Karte im Anhang) erhalten haben. Obwohl der tatsächliche Einfluss des Kontakts zu Toscanelli nicht eindeutig zu belegen ist und die Authentizität der Briefe häufig angezweifelt wird und wurde,217 bildet Kolumbus’ Kontakt zu Toscanelli auch für

Kling: The «Libro de las Profecías», S. 10, schreiben, Kolumbus’ Wissen «was a mixture of theories, exotic tales, classical scholarship, and thirteenth- and fourteenth-century reports from travelers». S. Caesare de Lollis: Cristoforo Colombo, S. 40, zum Seefahrer Martin Vicente, der auf dem Meer ein aus dem Westen stammendes bearbeitetes Holzbrett gefunden haben will. 213 Jacques Heers: Christophe Colomb, S. 137. 214 Zur Bedeutung Toscanellis und u. a. seiner Karten von Asien, auf die Kolumbus bei seinen Fahrten zurückgreift, vgl. Caesare de Lollis: Cristoforo Colombo, S. 252, S. 257, S. 264 f. und insbes. S. 313: «il pensiero dell’uno, uomo di studio, diventò l’azione dell’altro, uomo di mare e avventure». Vgl. ferner Gabriella Amiotti: I precursori di Cristoforo Colombo nell’Atlantico e la cultura classica del grande navigatore, S. 435. 215 Toscanellis Korrespondenz mit Martins soll Alfons’ Interesse geweckt haben. Dem erhaltenen Brief Toscanellis an Martins geht mit ziemlicher Gewissheit die Aufforderung Martins bzw. des portugiesischen Königs voraus, er solle die Route nach Asien auf eine Karte aufmalen. Vgl. Caesare de Lollis: Cristoforo Colombo, S. 33; Jacques Heers: Christophe Colomb, S. 138. 216 Vgl. Jacques Heers: Christophe Colomb, S. 139; Gabriella Amiotti: I precursori di Cristoforo Colombo nell’Atlantico e la cultura classica del grande navigatore, S. 437; Carol L. Delaney: Columbus and the Quest for Jerusalem, S. 48; Caesare de Lollis: Cristoforo Colombo, S. 34. Lorenzo Ghirardi, ein Florentiner in Lissabon, soll als Mittelsmann fungiert haben. 217 Die erhaltenen Briefe dieser Korrespondenz werden heute von der Mehrheit der Forscher als authentisch erachtet, vgl. Gabriella Amiotti: I precursori di Cristoforo Colombo nell’Atlantico e la cultura classica del grande navigatore, S. 435. Während Caesare de Lollis: Cristoforo Colombo, S. 45–52, betont, wie entscheidend Kolumbus’ Austausch mit ihm als dem Experten «[in] developing Renaissance artistic methods to map making» (Delno C. West/August Kling: The «Libro de las Profecías», S. 14) war, betitelt Stelio Cro: Classical Antiquity, America, and the Myth of the Noble Savage, S. 393, den Briefwechsel zwischen Toscanelli und Kolumbus als Fiktion. Hierbei kann er sich auf eine lange Tradition stützen, die bei Henry Vignaud 1900 beginnt, der den Briefwechsel erstmals als Fälschung entlarvt haben will, vgl. Ricarda Olverdo: Columbus and Toscanelli. In: Fidelio 1 (1992), S. 3. Auch 2012 wird diese Meinung noch von Leo Wiener: Africa and the Discovery of America, vol. I. Bremen: Outlook 2012, S. 3 f., vertreten, während Carol L. Delaney: Columbus and the Quest for Jerusalem, S. 261, im selben Jahr betont,

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die Kolumbus-Epen ein wiederkehrendes Thema. Das liegt daran, dass sich die Toscanelli-Episode u. a. als ein literarischer Topos verfestigt hat, der schon in den Werken von Bartomolé de Las Casas und Kolumbus’ Sohn Don Hernando/Fernando Erwähnung findet.218 Die Historia, Fernandos Buch über den Vater, bietet sich für die KolumbusEpiker ab 1750 insofern als bekannter Beleg für die ‘wissenschaftliche’ Fundiertheit des Kolumbusprojekts an, als «elle [sc. L’Histoire de Fernando; G.J.K.] prend l’homme pour principal et même bien souvent pour seul objet».219 Don Hernando ist der Erste, der über Kolumbus schreibt und dabei eine ganze Reihe an Beweggründen für die Überfahrt anführt: Neben den bereits genannten schriftlichen Texten und diversen mündlichen Berichten benennt er Kolumbus’ ‘Ingenium’ und sein Zusammenführen der vorgefundenen Daten in seinen eigenen Berechnungen.220 Dieses keiner Monokausalität folgende Vorgehen überzeugt nicht nur aus heutiger Forschungssicht, sondern steht anderen zeitgenössischen Auslegungen spannungsgeladen gegenüber, z. B. der in jahrelanger Arbeit (von 1527–1566) verfassten Historia general de las Indias des (Bartolomé de) Las Casas.221 Die dort zugrunde gelegte Ausdeutung bietet eben keinen Ansatzpunkt für das Inszenieren eines ‘wissenschaftsgeleiteten’ Helden, zumal Kolumbus jeglicher ‘wissenschaftlicher’ Anspruch aberkannt wird. Beim dortigen Inszenieren des «Entdecken[s] als

es habe eine (wie auch immer geartete) Korrespondenz der beiden gegeben. Ob sie jedoch von entscheidender Bedeutung war, bleibt offen. 218 Fernando kommt auf «maître Paul [sc. Toscanelli; G.J.K.]» zu sprechen und auf die Briefwechsel, die er in den Kapiteln VII und VIII seiner Historia behandelt und welchen er «une grande et décisive autorité sur son esprit» (Fernando Colomb: Christophe Colomb raconté par son fils, S. 25) zuschreibt. Vgl. ferner: «Ces lettres [...] achevèrent d’exciter l’Amiral à poursuivre le projet de ses découvertes, bien qu’elles continssent de graves erreurs» (ebda., S. 30) usw. 219 Jacques Heers: Préface. In: Fernando Colomb: Christophe Colomb raconté par son fils, S. II. Für eine kurze Einführung zur Historia Fernandos s. z. B. Giuseppe Bellini/Dario G. Martini: Colombo e la scoperta nelle grandi opere letterarie, S. 72 f. Sie wurde erst nach Fernandos Tod ediert. Die von uns zitierte Textausgabe ist die französische Version nach Eugène Muller aus dem 19. Jhdt., der die erste italienische Ausgabe von Ulloa in Venedig (1571) leicht adaptiert. 220 Vgl. Florian Borchmeyer: Die Ordnung des Unbekannten, S. 265–267. Ein gewisser ‘Correa’ (der im Epos Laureaus Erwähnung finden wird, vgl. Kap. 2.3.3), der «mari d’une des bellessœurs de l’Amiral» (Fernando Colomb: Christophe Colomb raconté par son fils, S. 31), hat in Afrika ein Holzstück und Pflanzen angespült gefunden, die aus dem Westen stammen müssen. Fernando spricht weiters von angespülten Leichen, Bäumen, Schiffen. Hinzu kommen diverse Geschichten, z. B. über die Brendan-Inseln (vgl. ebda., S. 31–33). 221 Zu einer Publikation seiner Historia general de las Indias kommt es jedoch erst 1875 (!). Deutlich zuvor (1531) veröffentlicht Las Casas selbst schon seine kurze Apologética historia sumaria. Vgl. Florian Borchmeyer: Die Ordnung des Unbekannten, S. 268 und S. 298.

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Akt einer Fehlerkenntnis»222 fehlt jegliches Interesse an einer kosmographisch korrekten ‘Imago mundi’ und Kolumbus kann den tieferen Sinn seiner Entdeckung nicht verstehen, da er als Mensch schlicht das von Gott erwählte Instrument für dessen undurchschaubaren Pläne ist.223 Bei Fernando ist die göttliche Auserwähltheit des Vaters zwar ebenso präsent, doch legt Kolumbus ihm gemäß auch in vollem Bewusstsein seiner Leistung ein individuelles ‘gloire’-Streben an den Tag.224 Daher wird Kolumbus bei Fernando dann auch erstmals konsequent freigesprochen von (a) der illegalen Aneignung neuer Ländereien (sie dürfen noch nicht bereits ‘legal’ vorher von jemandem bewohnt/annektiert worden sein); und (b) dem Vorwurf, dass es sich bei Kolumbus nicht um den (sich seiner Tat bewussten) Entdecker handelt.225 Der Grat zwischen einem wissenschaftsaffinen «doctus Columbus steeped in ancient texts»226 und einem eigenständig handelnden Kolumbus ist dabei schmal: Kolumbus’ Leistung darf kein ‘Zufallstreffer’, aber eben auch nicht zu stark durch antikes Wissen vorgegeben sein.227 Blicken wir nun jedoch noch etwas konkreter auf die Grundannahmen des ‘wissenschaftsgeleiteten’ Kolumbus für sein Projekt und kommen damit zu Kolumbus’ Beweggründen für die Fahrt. Aus den oben genannten Werken, allen voran

222 Ebda., S. 281. 223 Die Neue Welt ist für Las Casas nichts bahnbrechend Neues, sondern hinter ihrer Entdeckung steht eine gottgewollte Enthüllung eines früheren Menschheitsstadiums. Dennoch legt er ein durchweg positives Kolumbusbild an den Tag. Er rügt nur seine Ausschreitungen gegen die Ureinwohner, z. B. nach deren schlechtem Verhalten am Fort in Navidad. Vgl. ebda., S. 274–276 und S. 281–285; Giuseppe Bellini/Dario G. Martini: Colombo e la scoperta nelle grandi opere letterarie, S. 42–46; José Rabasa: Inventing America: Spanish Historiography and the Formation of Eurocentrism. Norman: University of Oklahoma Press 1993, S. 167. 224 Vgl. Giuseppe Bellini/Dario G. Martini: Colombo e la scoperta nelle grandi opere letterarie, S. 76. Am Ende der Historia heißt es: «nul doute que le Seigneur de miséricorde et de bonté ne l’ait reçu dans sa gloire» und «Eternellement vivra la mémoire du premier qui découvrit les Indes Occidentales» (Fernando Colomb: Christophe Colomb raconté par son fils, S. 256); zu Beginn: «ne portera-t-il pas en traversant les eaux, l’olivier, l’huile du baptême, pour que les peuples, jusque-là plongés dans les ténèbres et dans l’erreur, fussent réunis en la paix de l’Eglise» (ebda., S. 11). Vgl. ebda., S. 42: «je ne puis qu’approuver hautement l’Amiral de la force de caractère dont il fit preuve [...] qui prouve combien il avait conscience de la grandeur de son entreprise». 225 Hier argumentiert Don Hernando insbes. gegen die in zahlreichen frühen Reiseberichten vertretene (und zuerst von Oviedo hervorgebrachte) ‘Hesperidenthese’ und die ‘Steuermannthese’, vgl. Kap. 1.4 und Giuliano Gliozzi: Adamo e il Nuovo Mondo, S. 17. 226 James Romm: New World and ‘novos orbes’, S. 88. 227 Vgl. Giuliano Gliozzi: Adamo e il Nuovo Mondo, S. 376 f. Zur unterschiedlichen ideologischen (insbes. pro- und anti-spanischen) Nutzbarmachung des ‘präkolumbischen Wissens’ vgl. Kap. 3.2 zu den Abstammungstheorien.

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aus Pierre d’Aillys umfassendem enzyklopädischen Werk extrapoliert Kolumbus diejenigen Stellen, die sein Projekt stützen.228 Dies sind Passagen zur Kugelform der Erde,229 der Beschiffbarkeit des Meeres, zur Bewohnbarkeit des größten Teils der Erde (d. h. die Widerlegung der antiken Zonentheorie),230 zur Existenz der Antipoden231 und zur Nähe von Spanien (im Westen) und Asien (im Osten).232 V. a. findet Kolumbus aber auch die knapp 1300 Jahre alten Daten von Marinus de Tyros zur Berechnung des Erdumfangs vor – und noch nicht diejenigen des im 15. Jahrhundert ‘wiederentdeckten’ Ptolemäus –, was zu seiner Annahme des Erdumfangs von drei Fünfteln des tatsächlichen Umfangs und schließlich zur Verkennung der eigentlichen Distanz zwischen der iberischen Halbinsel und Asien führt.233

228 Vgl. Caesare de Lollis: Cristoforo Colombo, S. 278 f., Gabriella Amiotti: I precursori di Cristoforo Colombo nell’Atlantico e la cultura classica del grande navigatore, S. 433 f. 229 Frauke Gewecke: Wie die neue Welt in die alte kam, S. 78, betont, dass man bereits im 5. Jhdt. oft von der Vorstellung der Kugelform der Erde ausgegangen war, diese aber in Vergessenheit geriet und erst ab dem 13. Jhdt. wieder vertreten wurde; vgl. Heinz Hofmann: Über die Langsamkeit des Wandels von Weltbildern, S. 26, wobei «die ältere ‹vorwissenschaftliche› Auffassung von der Erde als Scheibe» «erst seit dem 15. Jhdt. durch die Wiederentdeckung der Schriften namentlich davon Ptolemaios und Strabon endgültig abgelöst» wurde. 230 Nach der antiken Zonentheorie sind nur zwei von fünf Zonen der Erde überhaupt bewohnbar. Für menschliches Leben ungeeignet sind die heiße Äquatorialgegend sowie die Region am Nord- und Südpol. Zum literarischen Einbau der Zonentheorie in die Kolumbus-Epen vgl. Kap. 3.1. 231 Aristoteles geht davon aus, dass es außerhalb der europäisch-asisch-afrikanischen Landmasse nichts gibt. Dagegen spricht Kratos von Mallos im 2. Jh. v. Chr. von den sogenannten Antipoden und weiteren drei Kontinenten auf einer korrekten Weltkarte; vgl. Heinz Hofmann: Über die Langsamkeit des Wandels von Weltbildern, S. 28. 232 Diese Erkenntnis dürfte Kolumbus auch aus der Lektüre von Marco Polos Reisebericht gewonnen haben, der den Eindruck eines nicht enden wollenden Landwegs bis nach Asien vermittelt – was Kolumbus in seiner Hypothese eines deutlich kürzeren Seewegs bestärkte (vgl. Jacques Heers: Le projet de Christophe Colomb, S. 24 f.). Anzusprechen ist ferner das bereits in der Antike behandelte Problem der Verteilung von Land und Meer auf der Erde. Kolumbus vertraut nicht nur dem bei D’Ailly angeführten Verhältnis von 1:4, von dem Aristoteles ausgeht; sondern er wird in seiner Annahme einer kurzen Ausdehnung des Ozeans noch durch das apokryphe biblische Buch Esdra bestärkt, das sogar sechs Teile ‘Erde’ und nur einen Teil ‘Wasser’ ansetzt. Vgl. Corin Braga: Le paradis aux Américains, S. 106; Jacques Heers: Christophe Colomb, S. 155. 233 Ptolemäus’ geographische Abhandlungen wurden im 15. Jhdt. wiederentdeckt und fanden noch nicht ihren Weg in D’Aillys 1410 ediertes Werk. Sie hatten die Annahmen Marin de Tyrs weitgehend widerlegt, der davon ausgegangen war, dass von den 360 Grad der Erdkugel 225 Grad auf Europa und Asien entfallen. Ptolemäus hatte ihn korrigiert und die Ausdehnung von Asien und Europa auf 180 Grad festgelegt. Die heute berechnete Gradzahl liegt bei ca. 130 Grad, während Kolumbus demgegenüber von einem ca. 130 Grad einnehmenden Ozean aus-

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Auf seiner Suche nach staatlicher Unterstützung präsentiert Kolumbus sein Projekt erfolglos an mehreren Königshöfen, bevor er die Zusage Spaniens erhält. Dass ihn dabei die Absage Portugals besonders hart zu treffen scheint,234 liegt nicht nur daran, dass ihn biographisch viel an Lissabon bindet,235 sondern

ging. In jedem Falle übernimmt Kolumbus vom Araber Alfraganus die (recht passende) Ausgangsthese, ein Breitengrad umfasse 56 2/3 Meilen, sodass der Gesamtumfang der Erde mit ca. 44.000 km anzusetzen sei. Da Kolumbus jedoch u. a. von ‘römischen Meilen’ ausgeht, kommt er nur auf einen Umfang von 30.000 km. Vgl. Jacques Heers: Christophe Colomb, S. 152. Jacques Heers: Le projet de Christophe Colomb, S. 25; Heers spricht von einer von Kolumbus auf 4.440 km geschätzen Distanz zwischen der iberischen Halbinsel und Asien – anstelle der korrekten 19.600 km (ebda., S. 16–18). Durch Zufall enstpricht diese zwischen Asien und Europa angenommene Entfernung tatsächlich in etwa der Entfernung zwischen Europa und ‘Amerika’. (Vgl. Corin Braga: Le paradis aux Américains, S. 105 f.; Jacques Heers: Christophe Colomb, S. 152–154; Jörg Dünne: Die kartographische Imagination: Erinnern, Erzählen und Fingieren in der Frühen Neuzeit. München: Fink 2011, S. 35). Als Ausgangspunkt für seine Berechnungen des Erdumfangs hat Kolumbus auch die Informationen aus Roger Bacons Opus maius herangezogen, der seine Informationen aus Aristoteles’ De Caelo schöpft sowie aus Senecas Naturales Quaestiones, wo von einem ‘kurzen Seeweg von wenigen Tagen’ zwischen Gades und Indien die Rede ist. Für die konkreten Berechnungen scheidet in jedem Falle Toscanelli als guter Mathematiker als Quelle aus: Die Widerlegung von de Tyr durch Ptolemäus ist mathematisch zu eindeutig. Vgl. Delno C. West/August Kling: The «Libro de las Profecías», S. 11; Heinz Hofmann: Über die Langsamkeit des Wandels von Weltbildern, S. 30; Heinz Hofmann, Die Geburt Amerikas aus dem Geist der Antike, S. 18; James Romm: New World and ‘novos orbes’, S. 88. 234 Vgl. Caesare de Lollis: Cristoforo Colombo, S. 79 f. Abgelehnt wird sein Projekt in England, Frankreich, Venetien und Genua. Von Portugal wird er streng genommen sogar zweimal abgelehnt: Den «second refus portugais» (Jacques Heers: Christophe Colomb, S. 183) handelt er sich ein, als er dort aufgrund der langen Bedenkzeit der Spanier nochmals vorstellig wird, diese ihn aber durch die jüngsten Erfolge von Diás erneut zurückweisen. Kurz zuvor noch – so kursieren Gerüchte – soll Portugal selbst ein Projekt gestartet haben, im Westen die sagenumwobene Insel ‘Antilia’ zu finden, um Kolumbus so zuvorzukommen. Vgl. Carol L. Delaney: Columbus and the Quest for Jerusalem, S. 48 f. und S. 62. Zur Nutzbarmachung dieses Zwischenfalls in Laureaus Epos vgl. Kap. 2.3.3.2. 235 Kolumbus hat in Portugal gelebt und ab 1476 als Seefahrer gearbeitet. Eine legendäre Zudichtung ist seine Expedition nach Island zur mythischen ‘ultima Thule’ (vgl. Gabriella Amiotti: I precursori di Cristoforo Colombo nell’Atlantico e la cultura classica del grande navigatore, S. 425; Caesare de Lollis: Cristoforo Colombo, S. 32). Er heiratet dort Filippa Moñiz, die Tochter von Bartolomeo Perestrello, die aus einer Familie stammt, «dove la carriera marittima rivestiva addirittura il carattere di una tradizione ufficiale» (ebda., S. 36) und in deren Hausbibliothek die oben genannten Werke vorlagen (vgl. ebda., S. 43 f.). Mitunter wird die These vertreten, Kolumbus sei für sein Projekt insbes. durch seine Kontakte in Lissabon motiviert worden, ggf. auch unter Zutun seines Bruders Bartolomeo. Sicher ist, dass Kolumbus während der Projektvorbereitung mit «cercles érudits» (Jacques Heers: Christophe Colomb, S. 147) in Verbindung stand. So hat etwa bewiesenermaßen der beim portugiesischen König Juan II. als Geograph eingesetzte Martin Behaim die Annahmen D’Aillys übernommen und war – wie Kolumbus – von einer kur-

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daran, dass Portugal entscheidende Vorbilder in der Seefahrt hervorgebracht hat, aus denen er einerseits Motivation für seine Expeditionen zog, und die andererseits eine positive Aufnahme des Projekts am portugiesischen Hof wahrscheinlich machten.236 So sei auf die Ära Heinrichs des Seefahrers (1394–1460) unter König Alfons V. verwiesen, unter dessen Ägide bahnbrechende Expeditionen nach Madeira, zu den Azoren, den kapverdischen Inseln und zur westafrikanischen Küste glückten.237 Allerdings kommt Kolumbus mit seiner Idee insofern für Portugal schlicht zu spät, als die Portugiesen durch die Vorarbeiten u. a. von Bartolomeu Diás (und die Umseglung des Kaps der Guten Hoffnung 1488) einen anderen Seeweg in Richtung Indien vor Augen hatten, nämlich den über die Spitze des afrikanischen Kontinents, weshalb König Johann II. Kolumbus eine Absage erteilt.238 In Spanien wird Kolumbus erstmals 1484 vorstellig. Zwei Jahre später beauftragt Königin Isabella ihren Beichtvater, den Gelehrten Fernando di Talavera, der sich zu der Zeit gerade in Salamanca aufhält, um als Vorsitzender einer Versammlung am spanischen Hof über Kolumbus’ Projekt zu entscheiden.239 Die Versammlung, die Kolumbus als Person durchaus positiv gewogen ist, entscheidet sich gegen das Projekt. Anders als in der Darstellung des Kolum-

zen Distanz zwischen Portugal und Asien überzeugt. Auf den ‘Mappae mundi’, auf denen er alle portugiesischen Eroberungen festgehalten hat, stimmen die örtlichen Entfernungen mit denen von Kolumbus überein (vgl. ebda., S. 143 f.; Caesare de Lollis: Cristoforo Colombo, S. 58). 236 Vgl. Jacques Heers: Christophe Colomb, S. 88. 237 Die Portugiesen hatten die nach der Zonentheorie unbewohnbare Heiße Zone als erste befahren. Vgl. Carol L. Delaney: Columbus and the Quest for Jerusalem, S. 44: f., zu Kolumbus’ ‘postille’ bei D’Ailly über die Bewohnbarkeit der Heißen Zone. 238 Vgl. Frauke Gewecke: Wie die neue Welt in die alte kam, S. 16; Günther Hamann: Atlantische Inseln. In: V.V.A.A. (Hg.): Lexikon des Mittelalters. Bd. 1: Aachen bis Bettelordenskirchen. München/Zürich: Artemis 1980, S. 1172; Heinz Hofmann: Über die Langsamkeit des Wandels von Weltbildern, S. 27; Caesare de Lollis: Cristoforo Colombo, S. 57; Jacques Heers: Christophe Colomb, S. 97 f.; Heers betont insbes. Kolumbus’ brennendes Interesse an den Expeditionen Heinrichs des Seefahrers: «Colomb garde toujours en tête quelque nostalgie du passé épique des grandes entreprises des découvreurs. Il pense forcément à Henri le Navigateur [...] occupé avant tout de grandes expéditions lointaines» (ebda., S. 171 f.). Zur Erwähnung der portugiesischen Vorbilder und Befürworter (insbes. Heinrich, Diás, Alfons V.) in den Kolumbus-Epen vgl. die Appendix unter CCAD I.69 f.; vgl. zudem Josephus E. Peramasius: De invento Novo Orbe inductoque illuc Christi Sacrificio libri tres. Faventiae: Ex Chalcographia Josephi Antonii Archii 1777, I.307–319 (im Folgenden wird nach dieser Ausgabe mit der Abkürzung DINO und der entsprechenden Buch- und Verszahl bzw. der entsprechenden Seitenzahl zitiert); Pierre Laureau: L’Amérique découverte. Herausgegeben von Renata Carocci. Fasano: Schena/Paris: Nizet 1994, S. 74–80 und S. 107 f. (im Folgenden wird nach dieser Ausgabe mit der Abkürzung AD und der entsprechenden Seitenzahl zitiert). 239 Vgl. Caesare de Lollis: Cristoforo Colombo, S. 58 und S. 62; Jacques Heers: Christophe Colomb, S. 163 und S. 181.

1.3 Kolumbus und sein Projekt

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bus-Epos Laureaus – wo die Rückständigkeit der Versammlung um Talavera moniert wird – belegen historische Quellen, dass deren ablehnendes Urteil schlicht auf korrekten, Kolumbus widersprechenden Argumenten beruht; dass dagegen Kolumbus’ teils auf überholten Informationen basierende Argumentation nicht schlagkräftig genug ist.240 Die französischen Epen modellieren hingegen Kolumbus als ‘aufklärerischen’ Weisen und verdrehen damit ein Stück weit die historische Beweislage.241

1.3.3 Finanzielle und missionarische Beweggründe für Kolumbus’ Projekt Nur durch die Argumentation des königlichen Rechnungsführers und Schatzmeisters, Luis de Santángel, der die Kosten der Fahrt verglichen mit dem möglichen Ertrag für überschaubar hält, befürwortet das Königspaar doch noch die Expedition. Kolumbus, der sich schon auf dem Weg zum französischen Hof befindet, wird von Isabellas Beichtvater, dem Franziskaner Giovanni Pérez, sowie vom Arzt García Hernández nach Spanien zurückgeholt.242 An dieser Stelle befinden wir uns bereits mitten in der Analyse der Beweggründe für die Kolumbusfahrten – und damit an den entscheidenden Ansatzpunkten für die jeweilige Ideologie unserer Epen. Abgesehen vom bisher umrissenen literaturbasierten, ‘wissenschaftlichen’ Erkenntnisinteresse (des Kolumbus bzw. der Spanier), das in den Kolumbus-Epen

240 Zu Laureaus Umsetzung vgl. Kap. 2.3.3.2. Vgl. Jacques Heers: Christophe Colomb, S. 185–187; Carol L. Delaney: Columbus and the Quest for Jerusalem, S. 63 f. Die Versammlung gibt an, die Distanz bis Asien sei zu groß und auf der Erde gebe es mehr Wasser als Land, weshalb die Suche nach Ländereien ihnen wenig sinnvoll erscheint. Das einzige Argument, das zurecht als – vonseiten der Versammlung – ‘rückständig’ bzw. ‘fehlerhaft’ bezeichnet werden kann, ist die Ansicht, es könne nach so vielen Jahrhunderten nach der Schöpfung keine unentdeckten Gegenden mehr geben, sowie das Festhalten an der antiken Zonentheorie. 241 Hans-Jürgen Lüsebrink: Christophe Colomb et la découverte de l’Amérique sur l’horizon du Siècle des Lumières, S. 344, spricht von einer «Umschreibung» der Geschichte. Eine ggf. Kolumbus rehabilitierende Hypothese, nach der er die Suche nach einem Seeweg nach Asien nur als offiziellen Vorwand angegeben haben könnte, um so den Wettbewerb mit anderen Ländern zu vermeiden (also die Argumentation, er habe eigentlich gewusst, dass sich zwischen Spanien und Indien weitere Länder befinden) ist in Anbetracht des (u. a. in seinem Bordbuch vorgenommenen) Zusammendenkens von ‘Japan’ und ‘Amerika’ eher unwahrscheinlich und nicht positiv zu belegen. 242 Vgl. Caesare de Lollis: Cristoforo Colombo, S. 80. Der Legende nach soll Isabella die Diskussion beendet haben, indem sie vorschlägt, sie und andere spanische Hofdamen würden ihre eigenen Edelsteine geben, um die Finanzierung dieses erfolgsversprechenden Projekts zu sichern, vgl. ebda., S. 72 f., und Jacques Heers: Christophe Colomb, S. 196 f.

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1 Einführendes zur Kolumbus-Epik

ab 1750 eine besondere Betonung erfährt,243 entspringt das europäische Interesse an der Neuen Welt eindeutig auch aus (a) einem ganz pragmatisch-okönomischen Grund: Der Seeweg nach Asien eröffnet neue Möglichkeiten und kann politisch-ökonomische Probleme Spaniens beim Fernosthandel lösen, die durch die Schließung bzw. Besteuerung der Seidenstraße entstanden.244 So ist es nicht verwunderlich, dass Kolumbus, der am «port marchand»245 Genuas aufwuchs und bereits als Kind von einer gewissen ‘ökonomischen Denkweise’ geprägt worden sein dürfte,246 in seinem ersten Brief aus der Neuen Welt (De insulis inventis vom 15. Februar 1493), den er an Luis de Santángel richtet, von der Goldbeschaffung als der wichtigsten Aufgabe spricht.247 Er stellt den Mitgliedern des spanischen Königshauses nicht nur in Aussicht, ihnen so viel Gold zu bringen, wie sie nötig hätten – «[se eis] tantum auri daturum, quantum | eis fuerit opus»248 –

243 Insbes. die dem Projekt als erste zustimmende königliche Autorität, Königin Isabella, wird in den Epen ab 1750 bisweilen als ‘Aufklärerin’ avant la lettre gefeiert. Jacques Heers: Christophe Colomb, S. 192, betont jedoch, dass sie aus historischer Sicht niemals sonderlich «sensible aux théories savantes» war, vgl. die folgenden Ausführungen unter (b). Peramás’ Ansatzpunkt an Isabellas christlichem Impetus (vgl. DINO I.247–272) ist demnach aus Sicht der Historiographie ‘wahrscheinlicher’ als die der französischen Kolumbus-Epen (z. B. Laureaus). 244 Vgl. Reinhold R. Grimm: Das Paradies im Westen, S. 77 und S. 100; Eugenio L. Giusti: La religiosità di Cristoforo Colombo tra realtà storica e rappresentazione, S. 401; und insbes. Jacques Heers: Christophe Colomb, S. 122: «seule l’analyse un peu précise du contexte économique, financier et social, met en pleine lumière la nature de la grande entreprise». Heinz Hofmann: Lorenzo Gambara di Brescia, S. 165 f., geht davon aus, dass Kolumbus’ Expeditionen insbes. das Ziel verfolgen, im Dienste Spaniens Portugal zu überbieten und einen schnelleren und besseren Weg zu asiatischen Gütern und Gold zu finden. 245 Jaime Díaz-Rozzotto: Christophe Colomb et l’émerveillement de la découverte, S. 73. 246 Er sollte ursprünglich in die Fußstapfen des Vaters – als «lavoratore e commerciante di lana» – treten und sich den ‘arti meccaniche’ widmen. Zur Beförderung der Waren soll er früh mit dem Vater verschiedene Seewege erprobt und so seine Leidenschaft für die Seefahrt entdeckt haben, vgl. Caesare de Lollis: Cristoforo Colombo, S. 17–20, Zitat S. 18. Jaime DíazRozzotto: Christophe Colomb et l’émerveillement de la découverte, S. 73, schreibt etwas zu pathetisch: «[Colomb] voit dans l’or – la marchandise universelle – l’étoile polaire de la vie». 247 Zur Bedeutung des Goldes als Zahlungsmittel in der Zeit zwischen 1450 und 1500 äußert sich Alain Milhou: Colón y su mentalidad mesiánica en el ambiente franciscanista español. Valladolid: Casa-Mudeo de Colón 1993, S. 117 f., der von Preissenkungen in ganz Europa und einer Aufwertung des Goldes spricht. 248 Cristoforo Colombo: La lettera della scoperta: Febbraio-Marzo 1493 nelle versioni spagnola, toscana e latina con il Cantare di Giuliano Dati. Herausgegeben von Luciano Formisano. Neapel: Liguori 1992, S. 160. Vgl. Carol L. Delaney: Columbus and the Quest for Jerusalem, S. 121 f. Bei diesem Dokument handelt es sich quasi um eine Zusammenfassung seiner Leistungen und damit des die Fahrt dokumentierenden Bordbuchs. Ein ähnlicher Brief wurde an die Krone gesandt; dieser wurde jedoch aus Geheimhaltungsgründen nicht ediert. Kolumbus’ erster Brief ist streng genommen bereits die dritte Zusammenfassung seiner Leistungen für die Nachwelt.

1.3 Kolumbus und sein Projekt

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sondern er versucht nachgerade zwanghaft den Goldforderungen nachzukommen. Dies gelingt ihm eingangs in gewissem Maße,249 weswegen er (voll des Eigenlobs und des Strebens nach ‘gloire’ für Spanien und seine Nachkommen) seine diesbezüglichen Fortschritte ins rechte Licht rückt. Die Goldthematik ist damit aufs Engste mit dem Thema der ‘Selbstrechtfertigung seiner Taten’ verbunden.250 Am Ende bildet sie einen der Hauptgründe für sein ‘Scheitern’ und seine Rolle als Spielball verschiedener Parteien: Die Indigenen machen sich Kolumbus’ bornierte Suche nach Gold zunutze, indem sie ihm falsche Versprechungen machen, um so die Invasoren möglichst schnell in scheinbar ‘goldreichere’ Gebiete wegzulocken.251 Geleitet von derselben «véritable obsession»,252 Gold zu finden, kommt es bereits auf der ersten Reise zu Rivalitäten mit seinem bedeu-

Schon am 13./14. Februar 1493, auf dem Weg von seiner ersten Erkundungsreise zurück nach Spanien, lässt Kolumbus eine seine Taten resümierende, mit Wachs ummantelte Schriftrolle in ein Holzfass einschließen und ins Meer werfen. Er war bei den Azoren einem Sturm zum Opfer gefallen und hatte eines seiner Schiffe (die Pinta) verloren. Laut einer Legende soll ein gewisser Portugiese (Pietro Alvarez Cabral) die Schriftrolle am 22. April 1500 gefunden haben. Eine zweite (ebenso verlorene) Version lässt Kolumbus auf dem Achterdeck der Niña anbringen. Etliche Jahre lang ist Kolumbus’ Brief in Europa die einzige Quelle über die Neue Welt. In kürzester Zeit erfährt er knapp 20 Auflagen. Vgl. Jacques Heers: Christophe Colomb, S. 222 und S. 237; Caesare de Lollis: Cristoforo Colombo, S. 111; David B. Quinn: New Geographical Horizons, S. 639; Robert Wallisch: Vorwort, S. 6. 249 Auch wenn Kolumbus «ni l’Eldorade [...], ni le Pactole, ni les mines du roi Salomon» gefunden hat, ist bei Jacques Heers: Christophe Colomb, S. 426, doch von, «de véritables profits, pas du tout négligeables» die Rede. Vgl. Caesare de Lollis: Cristoforo Colombo, S. 104 f. Zur Omnipräsenz des Gedankens ans Gold während Kolumbus’ erster Fahrt vgl. u. a. Tzvetan Todorov: La conquête de l’Amérique, S. 16. Kolumbus’ Hoffnung, in der Neuen Welt Gold zu finden, beginnt nicht sofort mit der Versklavung der Ureinwohner und dem Einführen von Minenarbeit. Hierzu kommt es in Hispaniola erstmals knapp zehn Jahre nach der ersten Landung. Vielmehr hat man es mit einer langatmigen Suche nach offen zugänglichem Gold zu tun, die aus der tief (literarisch) verwurzelten Überzeugung herstammt, eine Insel zu finden, die dem mythischen Eldorado entspricht – bzw. auf der dritten und vierten Reise dann die Suche nach einem biblischen Goldreich Salomons, nicht mehr nach einer einzelnen Goldinsel. Über den technischen Vorgang der Goldgewinnung soll Kolumbus indes sehr wenig gewusst haben. Vgl. Jacques Heers: Christophe Colomb, S. 398–411 und S. 424–426. 250 Vgl. Jacques Heers: Christophe Colomb, S. 220, und zusammenfassend S. 175: «[...] écrivant pour servir sa propre gloire et même pour se défendre de toutes sortes d’accusations, Colomb ne pouvait que mettre advantage en relief ses mérites et souligner leur caractère exceptionnel : il lui fallait attribuer l’auréole du genie à lui seul, contre tous». 251 Vgl. Caesare de Lollis: Cristoforo Colombo, S. 97. 252 Jacques Heers: Christophe Colomb, S. 108.

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tendsten Begleiter Martín-Alonso Pinzón.253 Berühmt geworden ist die Episode auf der Heimfahrt nach Spanien, als sich Pinzón nach einem Sturm am 14. Februar 1493 von Kolumbus absondert und eigenständig Richtung Spanien fährt – im Bestreben Kolumbus den Ruhm zu nehmen.254 Unzufrieden mit den materiellen Gewinnen setzt die spanische Krone 1499 Francisco de Bobadilla als Gouverneur und Untersuchungsrichter in Hispaniola ein; von seiner dritten Reise kehrt Kolumbus in Ketten gelegt zurück; auf der vierten Reise wird ihm von Bobadillas Nachfolger, Nicola de Ovando, sogar verboten, überhaupt auf Hispaniola zu landen; seine Expeditionen werden durch Francisco de Porras überwacht uvm.255 Alles in allem mündet der Druck, Gold finden zu müssen, in wenig zielführende kriegerische Auseinandersetzungen mit den Bewohnern der Neuen Welt. Dabei wird Kolumbus als Mitverantwortlicher gezeichnet, der versucht, eigene Fehler auf seine Anhänger zu schieben.256 Heers bilanziert trotz einer im Allgemeinen

253 Am 3. August 1492 besteigt eine Besatzung von knapp 100 Mann in Palos mit Kolumbus als Kapitän die Santa Maria, die Pinta (unter Martín Alonso Pinzón) und die Niña (unter Vicente Yáñez Pinzón). Als sich Kolumbus entlang der kubanischen Küste enthusiastisch auf Goldsuche begibt, um das vom haitischen Kaziken Guacanagari in Aussicht gestellte goldreiche ‘Babeque’ zu finden, begibt sich Pinzón seinerseits auf eigene Faust auf Goldsuche. Vgl. Caesare de Lollis: Cristoforo Colombo, S. 76–82; Bartolomé Bennassar/Lucile Bennassar: 1492. Un monde nouveau?, S. 18. 254 Vgl. Caesare de Lollis: Cristoforo Colombo, S. 91–100; Jacques Heers: Christophe Colomb, S. 235 und S. 239. Er erreicht Spanien tatsächlich einige Tage vor Kolumbus, wobei man ihn erst vorstellig werden lässt, als auch Kolumbus angekommen ist. Solche Episoden gestalten die Kolumbus-Epen vielseitig aus: Laureau gewichtet z. B. Kolumbus’ Angst, seinen Ruhm zu verlieren, besonders stark, vgl. Kap. 2.3.3. 255 Vgl. Eugenio L. Giusti: La religiosità di Cristoforo Colombo tra realtà storica e rappresentazione, S. 398–400; Jacques Heers: Christophe Colomb, S. 579 f.; Caesare de Lollis: Cristoforo Colombo, S. 204. Zu verschiedenen spanischen Persönlichkeiten, die Kolumbus Steine in den Weg legen, vgl. Giuseppe Bellini/Dario G. Martini: Colombo e la scoperta nelle grandi opere letterarie, S. 79 f. Die Probleme, denen Kolumbus ausgesetzt ist, macht Lesuire in seinem Kolumbus-Epos dahingehend nutzbar, dass er Kolumbus als ‘Problemhelden’ inszeniert, der insbes. auch durch den steten Kampf gegen seine eigenen Leute scheitert (vgl. Kap. 2.3.2). 256 Vgl. Jacques Heers: Christophe Colomb, S. 367: «Il cherche et accuse sans cesse des responsables : la cupidité des hommes, leur peu d’intérêt pour les Indes, le refus de s’installer. En fait lui-même et ses ambitions, son désir d’offrir à la Couronne de forts profits pour justifier et financer d’autres expéditions, portent, dans toute cette malheureuse évolution des rapports humains, une très grande part de responsabilité». Auch rezente moderne Biographien arbeiten diesen Aspekt der Kolumbusfahrten einseitig negativ heraus, vgl. Kirkpatrick Sale: The Conquest of Paradise: Christopher Columbus and the Columbian Legacy. New York: Knopf 1990. Von Sale wird Kolumbus’ «ossessiva ricerca di poter e oro» (Albert N. Mancini: Nuovo e Vecchio Mondo. In: Esperienze letterarie 17 (1992), S. 10) zum Leitmotiv für die negative Sichtweise auf Kolumbus allgemein. Mancini bezeichnet Sales Monographie als «allo stesso tempo fondamentale e deviante» (ebda., S. 11) und entlarvt die amerikanische Sicht des Autors mit seiner «polemica anti-

1.3 Kolumbus und sein Projekt

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positiven Sicht auf Kolumbus, Kolumbus’ herausragende Leistungen im Rahmen der ersten Reise und die positive Resonanz auf sein Projekt seien durch die weiteren Reisen und deren Katastrophen überdeckt worden.257 Er habe sich zwar als Seefahrer, nicht aber als ‘poblador’ bzw. Politiker versiert gezeigt.258 Neben den eben dargestellten «profitto materiale»259 als Beweggrund für die Fahrt wird in der Forschungsliteratur typischerweise (b) die «propagazione della fede» gestellt bzw. von einer «Tale commistione di sacro e profano» und einer «double finalité royale»260 ausgegangen. Kolumbus’ Projekt soll insbesondere bei Königin Isabella von Kastilien Anklang gefunden haben, die seit Längerem schon darauf abzielte, die Christianisierung der Welt unter spanischer Ägide entscheidend voranzutreiben.261 Zu der Zeit, als Kolumbus in Spanien um finanzielle Unterstützung für sein Projekt bittet, widmet sich Isabella gerade dem Ziel des religiösen Einens ihrer Nation mit der endgültigen Vertreibung der Mauren aus ihrem Staatsgebiet, die bereits zu Beginn des 8. Jahrhunderts in Spanien eingedrungen und dort in einer Enklave verblieben sind. Nach der Er-

europea» (ebda., S. 10). Kolumbus wird als mediokrer Seefahrer mit der Obsession, die Natur zu unterwerfen, inszeniert und als schlechtes Vorbild gegenüber den Bewohnern der Neuen Welt disqualifiziert. Grosso modo ist sich die Forschung aber dahingehend einig, dass man aufgrund des Fokussierens der Greueltaten und der Goldgier der Spanier die religiösen Intentionen des Projekts zu wenig herausgestrichen hat, vgl. Jacques Heers: Christophe Colomb, S. 524. 257 Vgl. ebda., S. 581. Heers betont, die erste Reise stelle die entscheidende dar (ebda., S. 241). Es ist nicht verwunderlich, dass die Kolumbus-Epen ebenso die erste Reise in den Fokus stellen und nur durch gewisse Aspekte weiterer Fahrten anreichern. 258 Zu Kolumbus’ Fähigkeiten als ‘scopritore’, jedoch nicht als ‘governatore’ s. Giuseppe Bellini/Dario G. Martini: Colombo e la scoperta nelle grandi opere letterarie, S. 83. 259 Eugenio L. Giusti: La religiosità di Cristoforo Colombo tra realtà storica e rappresentazione, S. 395. 260 Jaime Díaz-Rozzotto: Christophe Colomb et l’émerveillement de la découverte, S. 88. S. Stephen Greenblatt: Marvelous Possessions, S. 71. An diese beiden «mobiles à la conquête» hängt Tzvetan Todorov: La conquête de l’Amérique, S. 22, noch Kolumbus’ Naturbegeisterung an, «la jouissance de la nature». Todorov spricht vom Interesse an der neuen Natur als «un plaisir qui fait que cette activité se suffit à elle-même» (ebda., S. 20). 261 Die Forschungsliteratur hat versucht, das Interesse an der Christianisierung der Menschheit v. a. am kastilischen Zweig des spanischen Königshauses unter Königin Isabella festzumachen. Dagegen sei für König Ferdinand II. von Aragon eher der Handel/finanzielle Aspekt von Bedeutung gewesen. Vgl. Carol L. Delaney: Columbus and the Quest for Jerusalem, S. 52 und S. 59; Jaime Díaz-Rozzotto: Christophe Colomb et l’émerveillement de la découverte, S. 88; Caesare de Lollis: Cristoforo Colombo, S. 35 f. Jacques Heers: Christophe Colomb, S. 180 f., verweist auf die Lage Kastiliens, das sich anders als Aragon nicht primär auf die Mittelmeerregion konzentriert, sondern für westliche Erkundungsfahrten mehr Offenheit an den Tag legt.

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1 Einführendes zur Kolumbus-Epik

oberung Konstantinopels 1453 ist die Furcht vor den Osmanen und mit ihr der Gedanke an einen heiligen Kreuzzug nicht nur in Spanien virulent.262 Nicht umsonst hatte Isabella von Papst Sixtus IV. 1482 eine Bulle erhalten, in der ihr bestätigt wird, dass es sich bei ihrem Kampf gegen die Mauren in Granada um einen religiös motivierten Krieg handle.263 Es kommt also nicht von ungefähr, wenn Kolumbus selbst – rhetorisch geschickt264 – sein Projekt mit der Rückeroberung Granadas und der Vertreibung der Juden «in einen besonderen religiös-politischen Ereigniszusammenhang»265 stellt, zumal alle drei als notwendige Mittel erachtet

262 Vgl. Alain Milhou: Colón y su mentalidad mesiánica, S. 320–326. Wichtige Stationen des eigenständigen Kampfes Spaniens für Gott und die Etablierung eines Christenreichs sind neben der Eroberung Granadas (1482–1492) die ‘conquista de los presidios de Melilla’ (1497) sowie in Mazalquivir (1505) in Nordafrika. Nach dem Sieg der Spanier in Granada, «[they] were universally seen as the leaders destined to continue that crusade across North Africa into the Holy Land» (Delno C. West/August Kling: The «Libro de las Profecías», S. 66). Vgl. Alain Milhou: Colón y su mentalidad mesiánica, S. 355: «Este tema de la autonomía de la lucha reconquistadora de los reinos hispánicos, totalmente independientes del Imperio y de otros reinos, había de ser uno de los fundamentos del orgullo nacional que se expresaría en grandes textos del siglo XV». Vgl. zur eschatologischen Komponente Kap. 1.3.4. 263 Zur Beförderung dieser beiden Zweige können Kolumbus’ Reisen beitragen, vgl. Jaime Díaz-Rozzotto: Christophe Colomb et l’émerveillement de la découverte, S. 88. 264 Jacques Heers: Christophe Colomb, S. 525, erwähnt die Ansicht einiger Forscher, das Betonen religiöser Intentionen bei der Entdeckung der Neuen Welt sei nur ein rhetorischer Kniff gewesen, um bei Königin Isabella mit dem Projekt zu punkten: «Beaucoup se laissent convaincre que le Génois ne parlait de devoir religieux, de service du Christ et de perspectives d’évangélisation que pour mieux se concilier les bonnes grâces de la reine par une manœuvre très intéressée». 265 Dieter Berg/Raphaela Averkorn: Eschatologie und Franziskanertum. Zur Bedeutung franziskanischer Geschichtstheologie für Columbus. In: Winfried Wehle (Hg.): Das Columbus-Projekt. Die Entdeckung Amerikas aus dem Weltbild des Mittelalters. München: Fink 1995, S. 118. Vgl. Carol L. Delaney: Columbus’s Ultimate Goal: Jerusalem, S. 278; Carol L. Delaney: Columbus and the Quest for Jerusalem, S. 68 f.; Caesare de Lollis: Cristoforo Colombo, S. 74. Der Fall Granadas und die Unterzeichnung der Capitulaciones de Santa Fe, also die Abmachungen zwischen Kolumbus und der spanischen Krone über das geplante Projekt fallen zeitlich genau zusammen, nämlich auf den 17. April 1492. Kolumbus’ Forderungen wird dabei stattgegeben: Darunter fallen das Einfordern des Admiraltitels für seine Nachkommen, sein Titel als ‘Vizekönig’ der entdeckten Gebiete, sein Recht, die Administratoren der Reise selbst auswählen zu dürfen, das Einstreichen eines bestimmten Prozentsatzes vom Handelsgewinn etc. Von dieser Verschmelzung der beiden Ereignisse zeugt die zeitgenössische Literatur, z. B. der Baseler Druck der Historia Baetica des Carolus Verardus: Als Anhang an die theatralische Umsetzung des Granada-Stoffes wird hier Kolumbus’ Brief an Santángel beigegeben. Vgl. Dietrich Briesemeister: Episch-dramatische Humanistendichtungen zur Eroberung von Granada (1492). In: Alfonso de Toro (Hg.): Texte – Kontexte – Strukturen. Beiträge zur französischen, spanischen und hispanoamerikanischen Literatur. Festschrift zum 60. Geburtstag von Karl Alfred Blüher. Tübingen: Narr 1987, passim, insbes. S. 250.

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werden, um die Fortdauer der christlichen Kultur zu sichern. Die Expedition nach Westen kann zur Wahrung der Vormachtstellung des Christentums beitragen,266 indem sie – in klimaktischer Anordnung – unmittelbar an das aktuell beim spanischen Volk bedeutende christliche Projekt der Eroberung Granadas ansetzt,267 für den Zugewinn eines neuen, größeren Einzugsgebiets für die Christianisierung der Welt sorgt268 und die Möglichkeit bietet, die Christianisierung der Menschheit trotz der ‘heidnischen Sperre’ im Osten voranzutreiben. Der Kontakt mit den Bewohnern der Neuen Welt im Westen basiert dementsprechend ebenso auf den Erfahrungen, die man auf den Kreuzzügen mit den Angehörigen anderer Völker, Sprachräume, Kulturen gesammelt hat. Der Unterschied besteht allerdings darin, dass es sich bei den Bewohnern der Neuen Welt nicht mehr um Muslime oder Juden handelt, sondern um Menschen in völliger Unwissenheit, die kein ‘willentliches Abtrünnigsein’ an den Tag legen, sondern deren Distanz durch ihre geogra-

266 Der Kampf gegen den muslimischen Glaubensgegner hat seit jeher einen Einfluss auch auf Expeditionen zur See. So hatte die katholische Kirche bereits frühere Entdeckungsfahrten von Heinrich dem Seefahrer aus Portugal unterstützt und ihm «bienfaits, privilèges, protections» (Jacques Heers: Christophe Colomb, S. 541) für die Gebietserweiterungen zukommen lassen. 267 Dies tut Kolumbus «[u]ngeachtet der schon lange bestehenden Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Effizienz von Kreuzzügen» (Dieter Berg/Raphaela Averkorn: Eschatologie und Franziskanertum, S. 120), was von denselben Autoren «als Obsession und als Zeichen hochgradiger Wirklichkeitsferne» gewertet wird. Vgl. Alain Milhou: Colón y su mentalidad mesiánica, S. 177 f.) bezeichnet den erfolgreichen Kampf gegen die Mauren in Granada und das Missionieren in der Neuen Welt (‘Indien’/‘Catay’) als «sucesos de igual importancia que contribuyen todos a la ampliación y al triunfo de la Cristiandad». 268 Kolumbus’ Projekt schließt sich mit seinem weiteren geographischen Einzugsraum an das vorige Projekt an, vgl. «Esta completó el mapa de España, aquella el mapa del mundo» (Antonio Domínguez Ortiz: Granada, América: razones de un protagonismo. In: V.V.A.A. (Hg.): El reino de Granada y el Nuevo Mundo. V Congreso Internacional de Historia de América, mayo de 1992. Bd. 1. Granada: Diputación Provincial de Granada 1994, S. 34. Vgl. ferner «l’évangélisation des païens [peut être] considérée comme le prolongement naturel de la lutte contre les Musulmans et de l’expulsion des Juifs» (Jacques Heers: Christophe Colomb, S. 559). Zudem konnte man durch den Anschluss des Kolumbusprojekts an das Maurenprojekt ganz pragmatisch die Masse an Kriegern wieder verwenden, ohne dass diese aufwändig ins soziale Leben Spaniens hätten reintegriert werden müssen, vgl. Giuseppe Bellini: «...Andaban todos desnudos...»: alle origini dell’ ‘Incontro’ tra l’Europa e l’America, S. 181 f. So thematisieren etwa Paolo Giustiniani und Pietro Quirini in ihrem an Papst Leo X. adressierten Libellus von 1513 neben dem Problem der Reformation Luthers die Ausdehnung des christlichen Reichs in der Neuen Welt, vgl. John W. O’Malley: The Discovery of America and Reform Thought at the Papal Court in the Early Cinquecento. In: Fred Chiappelli (Hg.): First Images of America, S. 190 f.

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phische Lage oder eventuell das Ergriffensein durch den Teufel zu erklären sein konnte. Daher ergibt sich ein anders gelagerter Reiz der Missionierung.269 Bei all dem Gesagten gilt es jedoch festzuhalten, dass diese Vision einer globalen Christianisierung stets hinter dem unmittelbaren politischen Tagesgeschehen zurückstehen. Der ‘christliche Kampf’ im unmittelbaren Staatsgebiet gegen die Mauren ist sogar – wie Don Hernando in seiner Historia referiert – einer der Hauptgründe für die vorläufige Absage des spanischen Hofs gegenüber Kolumbus’ Projektvorschlag.270 Auch in den Jahrzehnten nach der ersten erfolgreichen Entdeckungsfahrt durch Kolumbus wird diese Vision einer globalen Christianisierung überraschend wenig propagiert.271 Die katholische Kirche und der Papst zeigen zu Beginn relativ wenig Interesse an der Neuen Welt, zumal die katholische Kirche viele größere Krisenherde zu bedienen hat – von der Verbindung der europäischen mit den christlichen Kirchen im Osten über die Auseinandersetzung mit dem Islam hin zu inneren, intranationalen Kämpfen zwischen Protestanten und Katholiken.272 Die Missionierung von völlig Ungläubigen in der Neuen Welt im Westen kann zudem nichts fundamental ‘Neues’ bringen, sondern lediglich ein zusätzliches Arbeitsfeld eröffnen. Denn schon im 13. Jahrhundert waren in Europa z. B. die Mongolen als ungläubiges, paganes Volk bekannt, sodass sich an

269 Vgl. Robert L. Benson: Medieval Canonistic Origins of the Debate on the Lawfulness of the Spanish Conquest. In: Fred Chiappelli (Hg.): First Images of America, S. 328; John H. Parry: A Secular Sense of Responsibility. In: Fred Chiappelli (Hg.): First Images of America, S. 299–301. Zudem bedarf es einer gewissen Revision der Ansicht der Kirche, dass Menschen auch außerhalb der Kirche an der «salvezza» (Rosario Romeo: Le Scoperte americane nella coscienza italiana del Cinquecento, S. 49) teilhaben können, und dass man die Möglichkeit hat «[di] accogliere nella fraternità cristiana anche i popoli delle nuove terre e di tutto il mondo». 270 Vgl. Fernando Colomb: Christophe Colomb raconté par son fils, S. 37–39. 1492 können die Spanier die letzte Hochburg der Muslime auf spanischem Boden zurückerobern, die sich nach dem Eindringen der Muslimen aus Nordafrika im 8. Jhdt. noch erhalten hatte. 271 Ganz analog zum eingangs bereits thematisierten, nur langsam heranwachsenden Bewusstsein von der ‘Neuheit’ der im Westen entdeckten Gebiete. 272 Vgl. John W. O’Malley: The Discovery of America and Reform Thought at the Papal Court in the Early Cinquecento, S. 187: «Even Rome, conscious of its universal mission, does not seem to have sustained a high level of excitement over the prospect of the New World and the new peoples offered to its pastoral care». Erst im Rahmen des fünften Lateranischen Konzils (1512–1517) wurde die Missionierung der Neuen Welt offiziell thematisiert, hierüber sind aber keine schriftlichen Quellen erhalten, vgl. ebda., S. 187 f.; vgl. ferner Luca Codignola/Giovanni Pizzorusso: Luoghi, metodi e fonti dell’espansione missionaria tra Medioevo ed Età moderna. L’Affermarsi della centralità Romana. In: Stefano Pittaluga (Hg.): Columbeis V, S. 386. Etliche Jahrzehnte später war selbst das Konzil von Trient (1545–1563) wenig interessiert an der Neuen Welt und «principally concerned with launching a theological attack on the Protestants» (Lewis Hanke: The Theological Significance of the Discovery of America, S. 363).

1.3 Kolumbus und sein Projekt

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der Prävalenz Asiens als «area di interesse primario»273 zuerst wenig ändert. Für Europa sind zur Zeit der kolumbischen Übersee-Entdeckungen andere Problembereiche vorrangig. So kommt es eben dazu, dass Weltkarten trotz der jüngsten ‘Entdeckung’ weiterhin klar europazentriert bleiben,274 und die betreffenden Erkenntnisse der Entdeckungsfahrten bis ca. 1550 oftmals auf kein wissenschaftliches Interesse stoßen. Es werden wissenschaftliche Vorträge gehalten und Bücher veröffentlicht, die sich just mit Kosmographie und Geographie beschäftigen und dabei die Neue Welt nicht einmal erwähnen.275 Auch aus ökonomischer Sicht hat die Entdeckung der Neuen Welt zuerst wenig Einfluss auf diebestehenden Handelsbeziehungen, bei denen weiterhin «long-established rivalries»276 im Zentrum stehen, etwa die Gefahr des Einfalls der Osmanen und der ‘sacco di Roma’ (1527).277 Auch hat Asien mit seinen Schätzen bereits die ‘exotische Handelsnische’ besetzt,

273 Luca Codignola/Giovanni Pizzorusso: Luoghi, metodi e fonti dell’espansione missionaria tra Medioevo ed Età moderna, S. 384. Diese Feststellungen passt zum Fazit, das Nicolaus Sallmann: Novas oras petamus! De Iulii Caesaris Stellae Columbeide. In: Latinitas 47 (1999), S. 43, in einem vom Vatikan edierten Artikel formuliert: «Europa secum ipsa in difficultatibus suis haerebat neque vacabat novis oris petendis». Bartolomé Bennassar/Lucile Bennassar: 1492. Un monde nouveau?, S. 17–26, betonen, dass die ‘Entdeckung’ der Neuen Welt (anders als etwa 1789) nicht das sofortige Gefühl eines wirklichen Wandels impliziert, da zu dieser Zeit andere Problemfelder das Tagesgeschäft dominierten (wie die Eroberung Granadas, die Vertreibung der Juden aus Spanien, das Vereinen von Frankreich mit der Bretagne, ...). So ließ man den Beginn der ‘Neuzeit’ auch erst nachträglich mit dem 1492 zusammenfallen, vgl. Reinhold R. Grimm: Das Paradies im Westen, S. 76. 274 Wie z. B. diejenige von Giovanni Matteo Contarini und Francesco Rosselli aus dem Jahre 1506. 275 So z. B. die viel gelesene Epitome trium terrae partium Asiae, Africae, Europae (1534) von Joachim Vadianus (Watt). 1512 bezeichnet z. B. der Humanist Johannes Cochlaeus aus Nürnberg, der das Schulcurriculum modernisieren soll, die Gebiete der Neuen Welt als geographisch für die Menschheit irrelevant, da sie zu weit entfernt lägen. Man denke an den bekannten Chroniker und Zeitgenossen des Kolumbus, Philippe de Commynes, der die Entdeckungsfahrten gar nicht erwähnt. Bis 1540 gibt es nur ein einziges ‘wissenschaftlich korrektes’ Werk, die Cosmographia von Petrus Apianus und Frisius Gemma. 1541 veröffentlicht Sebastian Münster seine Cosmographia, in der jedoch weiterhin die mythischen Berichte von Kopffüßlern usw. präsent sind, vgl. Bartolomé Bennassar/Lucile Bennassar: 1492. Un monde nouveau?, S. 38 f.; Frauke Gewecke: Wie die neue Welt in die alte kam, S. 136–140. 276 Charles H. Carter: The New World as a Factor in International Relations, 1492–1739. In: Fred Chiappelli (Hg.): First Images of America, S. 234. 277 In Frankreich entstehen von 1480 bis 1600 zwar insgesamt weit über 500 Beiträge in der Volkssprache zu Asien/Afrika/Amerika, doch gibt es im selben Zeitraum gut zweimal so viele Bücher zum Thema ‘Türken’ als zum Thema ‘Süd- bzw. Nord-Amerika’ oder die ‘Westindies’ (vgl. Myron P. Gilmore: The New World in French and English Historians of the Sixteenth Century, S. 520).

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1 Einführendes zur Kolumbus-Epik

sodass die Erzeugnisse aus der Neuen Welt keinen revolutionären Charakter haben können.278

1.3.4 Kolumbus und die biblische Eschatologie; der Libro de las Profecías Wir möchten an dieser Stelle noch einen Schritt weiter gehen und von den ‘allgemeinen Beweggründen’ für die kolumbischen Entdeckungsfahrten übergehen zu Kolumbus’ Sicht auf die entdeckten Gebiete in dem Moment, als seine erste Reise bereits weit zurückliegt. Anhand überlieferter Textzeugnisse lässt sich nachvollziehen, wie sich Kolumbus’ eingangs thematisch breit angelegte Randglossen in den oben genannten ‘wissenschaftlichen’ Quellen im Laufe von 20 Jahren zu immer spezieller selegierten Lesefrüchten von klar biblisch-eschatologischem Charakter entwickeln: Wir haben zwar weiter vorne in diesem Kapitel bereits angesprochen, dass Kolumbus im Rahmen der Vorbereitung seiner Entdeckungsfahrten nicht nur aus (in moderner Sicht) ‘wissenschaftlichen’ sondern auch aus biblischen Textstellen motivierende Impulse erhält.279 Aber erst zwei Jahrzehnte später finden sie

278 Vgl. Charles H. Carter: The New World as a Factor in International Relations, 1492–1739, S. 231–235. «[F]or more than a hundred years the Spaniards had America virtually to themselves» (John H. Parry: A Secular Sense of Responsibility, S. 303); ab ca. 1580 wird die Vormachtstellung im Atlantik entscheidend mit in die «calculations of European statesmen» (Geoffrey Symcox: The Battle of the Atlantic, 1500–1700. In: Fred Chiappelli (Hg.): First Images of America, S. 265) einbezogen – von Spanien und Portugal über Dänemark zu England und Frankreich. Die portugiesischen Siedlungen in der Neuen Welt waren weniger dicht als die der Spanier. In England zielt man erst darauf ab, diejenigen Gebiete zu erobern, die noch von niemandem sonst annektiert wurden. Um 1570 startet England «a second wave of exploration» (Harold J. Cook: Ancient Wisdom, the Golden Age, and Atlantis: The New World in SixteenthCentury Cosmography. In: Terrae Incognitae 10 (1978), S. 39), um einen Weg von China bzw. Asien nach Europa zu finden, der nördlich von ‘Amerika’, aber südlich des Eismeers verläuft. Gegen Mitte des 17. Jhdts. hat England de iure das Monopol über die Kolonien inne. Der Handel zwischen den Welten bildet um 1700 das entscheidende Moment: «The New World and the Old had become a unified, mutually dependent political and commercial whole» (Geoffrey Symcox: The Battle of the Atlantic, S. 275). Vgl. ebda., S. 267 und S. 273–275; Giuliano Gliozzi: Adamo e il Nuovo Mondo, S. 354. 279 Diejenigen ‘postille’ mit «geographical and nautical information» (Carol L. Delaney: Columbus’s Ultimate Goal: Jerusalem, S. 268) sind von denjenigen mit «eschatological beliefs» eben nicht zu trennen. Das lässt sich z. B. daran belegen, dass Kolumbus bald in Hispaniola, bald in Veragua davon überzeugt ist, die Salomonischen Ophir-Goldminen gefunden zu haben und lokalisieren zu können. Vgl. ebda., S. 270, sowie Carol L. Delaney: Columbus and the Quest for Jerusalem, S. 179.

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ihren Kulminationspunkt in einem speziellen «authentic work»280 des Genuesen. Die Rede ist von Kolumbus’ Libro de las Profecías, den er vornehmlich zwischen seiner dritten und seiner vierten Reise (d. h. zwischen Oktober 1500 und Mai 1502) verfasst,281 und der titellos282 direkt mit der folgenden summarischen Inhaltsübersicht beginnt: Incipit liber s[ive manipulus de au]ctoritatibus, dictis, ac sententiis et p[rophetiis circa] materiam recuperande sancte civitatis, et montis Dei Syon, ac inventionis & conversionis insularum Indie et omnium gentium nationum.283

Das vom Autor selbst als ‘buntes Bündel’ (‘manipulus’) bezeichnete Œuvre ist ein «assemblage hétéroclite et incomplet de textes de toutes natures, parfois dans leur langue originale, parfois traduits, même annotés et commentés».284 Den Leser bzw. die Leserin erwartet ein (dispositorisch wenig ausgefeiltes) Sammelsurium von über 300 Textzitaten, die alle in Verbindung zum Hereinbrechen der herbeigesehnten Endzeit stehen. Diese stehe aufgrund von Kolumbus’ Entdeckungen unmittelbar bevor und werde zur prophezeiten Rückeroberung Jerusalems führen und «the future wealth, glory and peaceable kingdom of Christ and his church»285 einleiten. Delaney und West/Kling unterstreichen, Kolumbus habe auf Grundlage dieses umfangreichen ‘Notizbuchs’ ein längeres eschatologisch-apokalyptisches Gedicht schreiben und dem spanischen Königshaus präsentieren wollen.286 Wenngleich es nie zu diesem fertigen Endprodukt kam, ist bereits im Libro de las Profecías mit Händen zu greifen, wie Kolumbus sein Lebenswerk ex post unter eine christliche Teleologie stellt und sich im Rahmen

280 Delno C. West/August Kling: The «Libro de las Profecías», S. 84; West/Kling bezeichnen es zurecht als «result of many years of study and contemplation» (ebda., S. 86). 281 In den folgenden Jahren dürfte er noch letzte Hand an das Werk angelegt und einige Modifikationen eingepflegt haben, vgl. ebda., S. 86; Carol L. Delaney: Columbus’s Ultimate Goal: Jerusalem, S. 267; Carol L. Delaney: Columbus and the Quest for Jerusalem, S. 218. 282 Den Titel erhielt das Werk erst nachträglich von Kolumbus’ Sohn Ferdinand, vgl. Carol L. Delaney: Columbus and the Quest for Jerusalem, S. 190. 283 Christopher Columbus: The «Libro de las Profecías». Herausgegeben von Delno C. West/ August Kling. Gainesville: University of Florida Press 1991, S. 100; im Folgenden wird nach dieser Ausgabe mit der Abkürzung LP und der entsprechenden Seitenzahl zitiert. 284 Jacques Heers: Christophe Colomb, S. 534. 285 Delno C. West/August Kling: The «Libro de las Profecías», S. 89. Vgl. Florian Borchmeyer: Die Ordnung des Unbekannten, S. 208 f.; s. Carol L. Delaney: Columbus and the Quest for Jerusalem, S. 193: «This extraordinary compilation set out to show that the discovery of islands in the sea was foretold, and that their discovery was an integral part of the great cosmological drama – a sign of the impending end of the world». 286 Vgl. Carol L. Delaney: Columbus’s Ultimate Goal: Jerusalem, S. 266 f.; Delno C. West/August Kling: The «Libro de las Profecías», S. 9.

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seiner Entdeckungsfahrten als Werkzeug Gottes inszeniert.287 Laut dem Gros der Forscher weist das Werk apologetische Züge auf und dient dem Vergessenmachen gewisser Misserfolge, insbesondere seiner Probleme auf der dritten Reise (man denke an seine Amtsenthebung durch Bobadilla).288 Möglicherweise ist der Libro aber auch schlicht Ausdruck seines wachsenden religiösen Eifers. Zu dieser Hypothese trägt ein Stück weit Kolumbus’ angeschlagener Gesundheitszustand bei: Der Kontext des näher rückenden Todes und Kolumbus’ tief pessimistische Gedanken mit Blick auf seine Entdeckungsfahrten könnten das Abfassen eines solchen apokalyptischen Werks begünstigt haben.289 Einen Schritt weiter gehen insbesondere West/Kling (1991) und Delaney (2006 und 2012): Sie verstehen den Libro als Dokument einer «biblical eschatology»,290 welche Kolumbus Zeit seines Lebens motiviert, und betrachten den Helden der Entdeckungsfahrten als «[p]ermeato profondamente di letture bibliche».291 Dabei unternehmen sie eine deutliche Relativierung der ihrer Meinung nach bis dato vornehmlich wissenschaftsbezogenen Auslegung der erhal-

287 Vgl. Carol L. Delaney: Columbus’s Ultimate Goal: Jerusalem, S. 272, schreibt, der Libro «can be seen as his effort to encourage and hasten them [sc. Fernando and Isabella; G.J.K.] in the further project of Jerusalem». Vgl. ebda., S. 267 f.; Jacques Heers: Christophe Colomb, S. 534; Caesare de Lollis: Cristoforo Colombo, S. 199–201; Delno C. West/August Kling: The «Libro de las Profecías», S. 2 und S. 8; Dieter Berg/Raphaela Averkorn: Eschatologie und Franziskanertum, S. 14. 288 Vgl. West/Kling, die vom Libro als einer «further elaboration of the Admiral’s studies of the Bible and church theologians» sprechen, «when once again his credibility was questioned» (Delno C. West/August Kling: The «Libro de las Profecías», S. 92). 289 Für November 1504 schreiben Caesare de Lollis: Cristoforo Colombo, S. 228–237, und Jacques Heers: Christophe Colomb, S. 587 und S. 590, wie sich Kolumbus aufgrund der stets unerfüllt bleibenden Hoffnung auf Goldfunde mit tief pessimistischen Gedanken quält. Nach Isabellas Tod im selben Jahr bekundet Ferdinand, kein Interesse an einer weiteren Zusammenarbeit zu haben. In seinen letzten Lebensjahren bis zu seinem Tod im Mai 1506 befindet sich Kolumbus in der Tat nicht mehr auf dem Zenit seiner physischen und psychischen Kräfte, doch ist er weder verarmt noch ohne ein soziales Netzwerk, wie dies später Lesuire in seinem Epos (vgl. die Appendix) inszeniert. Nichtsdestotrotz dürfte die historisch belegte Sachlage eine Inszenierung von Kolumbus als zu Unrecht geplagtem Helden begünstigt haben. West/ Kling vertreten das – zugegebenermaßen sehr lebensweltliche – Argument, Kolumbus habe sich durch seine (auch psychische?) Krankheit in religiöse Studien vertieft, vgl. Delno C. West/ August Kling: The «Libro de las Profecías», S. 79 f. 290 Ebda., S. 9. 291 Giuseppe Bellini: «...Andaban todos desnudos...»: alle origini dell’ ‘Incontro’ tra l’Europa e l’America, S. 199. Vgl. Delno C. West/August Kling: The «Libro de las Profecías», S. 4: «Scholars have paid slight attention to this work that was so important to the Discoverer himself». In einer Randbemerkung beschreibt Carol L. Delaney: Columbus’s Ultimate Goal: Jerusalem, S. 273, den Moment, als Delno West in der Firestone Library in Princeton ein Exemplar des

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tenen Schriften, Briefe und Biographien des Genuesen.292 Delaney moniert ein «(mis)understanding of religion among academics»,293 die über Jahrhunderte in Kolumbus lediglich den ‘Wissenschaftler’ sehen wollten. West/Kling ihrerseits wollen mit der ersten modernen Edition (samt englischer Übersetzung) dieses Werks dazu beitragen, dass dem Libro derjenige Stellenwert zuerkannt wird, den er verdient, zumal ihm die Forschung bis zum Ende des 20. Jahrhunderts nur spärlich Beachtung geschenkt hat.294 Wenngleich diese Gruppe von Forschern beim Offenlegen der eigentlichen Beweggründe für Kolumbus’ Entdeckungsfahrten ihrerseits einer mitunter recht einseitigen Argumentationsstrategie folgen,295 sensibilisieren sie ihre Leserschaft auf einprägsame Weise für diese entscheidende Komponente der «psychologie si complexe»296 des Genuesen. Unklar ist, wann genau «[e]sa mentalidad milenarista y profética [...] anidó en el espíritu de Colón».297 Kein Zweifel kann daran bestehen, dass sie im Laufe der Jahre – und von 1498 bis 1501 – immer stärker zum Vorschein kommt; oder daran, dass Kolumbus gegen Lebensende diese spezielle, eschatologische Bibelexegese mit vollem Ernst verfolgt hat, wovon ab-

Libro de las Profecías in die Hand nimmt und feststellt, dass die Seiten dieser Textausgabe noch nicht einmal aufgeschnitten waren, sie also noch nie gelesen wurde. 292 Delno C. West/August Kling: The Libro de las Profecías, S. 4, sprechen gleich zu Beginn ihrer Monographie an, der Libro de las Profecías «conflicts with the view of Columbus as a scientific explorer and symbol of technical advancement». 293 Carol L. Delaney: Columbus’s Ultimate Goal: Jerusalem, S. 261. Seine eigentlichen, vordergründig nicht wissenschaftlichen Ziele «were unintelligible to many of his contemporaries and to nearly all of his biographers and readers in the succeeding five hundred years. But the goals were perfectly clear in the light of his biblical sources and world events as seen through the eyes of prophecy» Delno C. West/August Kling: The «Libro de las Profecías», S. 75. Vgl. Dieter Berg/Raphaela Averkorn: Eschatologie und Franziskanertum, S. 131: Er sah «seine eigenen Unternehmungen unter eschatologischen Gesichtspunkten». 294 1984 kommt es zur ersten spanischen Übertragung des v. a. auf Latein verfassten Werks, vgl. Carol L. Delaney: Columbus and the Quest for Jerusalem, S. 190. 295 Dabei werden z. B. historisch durchaus vage Informationen über Kolumbus’ Kindheit als Beweise angeführt. Delaney spekuliert, wohin der junge «Columbus may have been taken» (ebda., S. 24), um mit der Lehre von der Apokalypse in Kontakt zu kommen, oder «[what he] might also have read». Vgl. Formulierungen wie «As a boy, Columbus may have witnessed [...]» (ebda., S. 24). Teils werden aus inhaltlich schwachen Argumenten nicht weit tragende Spekulationen formuliert: Die Abfassung des Libro de las Profecías «may have been a happy project that enabled father and son to spend time together discussing the passages and an opportunity for Columbus to give some religious instruction to his son, or it may have been a grueling and tedious task for the young boy» (ebda., S. 192). 296 Jacques Heers: Christophe Colomb, S. 541. 297 Antonio Domínguez Ortiz: Granada, América: razones de un protagonismo, S. 25.

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schließend sein unmittelbar vor dem Tod abgefasster ‘testamentarischer Entwurf’ von 1506 zeugt.298 Ohne im Detail auf die Fülle an Beweismaterial für Kolumbus’ wachsenden religiösen Eifer und seine endzeitlichen Vorstellungen einzugehen, sei an dieser Stelle darauf verwiesen, dass Kolumbus just zur Zeit der Abfassung des Libro de las Profecías damit beginnt, in offiziellen Dokumenten regelmäßig eine neue Unterschrift zu verwenden. In etymologischer Rückführung seines Vornamens signiert er mit «Xrō ferens or ‹Christ-bearer›».299 Sein Signum umfasst zusätzlich weitere Buchstabenfolgen, die seither in unterschiedlicher Weise ausgedeutet wurden.300 Im dreimal gesetzten Buchstaben ‘S’ wird etwa bald ein dreifaches ‘sanctus’ im Sinne der Trinität gesehen; bald wird die Reihe ‘S.S.A.S.X.’ im Ganzen gelesen als ‘Servus Sum Altissimi Salvatoris Christi’. Die Buchstaben ‘X’, ‘M’ und ‘Y’ stehen dabei am ehesten für Christus, Maria und Johannes den Täufer bzw. Jakob (oder ggf. für Königin Isabella). Kolumbus’ Unterschrift eignet sich deshalb als exemplarischer Verweispunkt, da hier (bzw. sekundär anhand der über die Jahrhunderte verfolgten Lesarten) Kolumbus’ Affinität zur Dreifaltigkeitslehre sowie zur unbefleckten Geburt Christi aus dem Schoße Marias zum Vorschein kommt. Davon zeugt zudem die christlich motivierte, bibelaffine Namensgebung entdeckter Inseln im Laufe seiner (beiden letzten) Reisen – etwa ‘Santa Maria de Concepción’ oder ‘Trinidad’.301 Als deutlich schwieriger erweist es sich, schon zu Beginn der Entdeckungsfahrten von einer ihnen eigenen, rein eschatologisch-apokalyptischen Stoßrich-

298 Vgl. Jacques Heers: Christophe Colomb, S. 533: «Au fil des ans, la voix s’élève»; Carol L. Delaney: Columbus’s Ultimate Goal: Jerusalem, S. 266: «[O]n 19 May 1506, the day before he died, Columbus ratified his Majorat or will, originally drawn up on 22 February 1498 and appended on 25 August 1505, stipulating that a fund be set up for the purpose of liberating Jerusalem». 299 Delno C. West/August Kling: The «Libro de las Profecías», S. 2. 300 Verschiedene Erläuterungen liefern u. a. Carol L. Delaney: Columbus’s Ultimate Goal: Jerusalem, S. 263; Alain Milhou: Colón y su mentalidad mesiánica, S. 79 und S. 87; Jacques Heers: Christophe Colomb, S. 536 f.; Delno C. West/August Kling: The «Libro de las Profecías», S. 71–75. Über der Schlussunterschrift des «Xpo-ferens» stehen drei Buchstabenreihen mit insgesamt sieben Buchstaben: «The sigil resembles a ship in full sail, and consists of three rows of letters in the shape of a triangle» (Carol L. Delaney: Columbus and the Quest for Jerusalem, S. 110 f.): .S. S.A.S. X.M.J. 301 Vgl. Carol L. Delaney: Columbus’s Ultimate Goal: Jerusalem, S. 261; Israel Villalba de la Güida: Virgilianismo y tradución clásica en la épica neolatina de tema colombino, S. 71 f.; Delno C. West/August Kling: The «Libro de las Profecías», S. 59; Vgl. Alain Milhou: Colón y su mentalidad mesiánica, S. 38; Caesare de Lollis: Cristoforo Colombo, S. 89.

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tung auszugehen. Man argumentiert, Kolumbus’ Leidenschaft für diese Thematik «had been there from the beginning, even if he had not quite understood how it would unfold»302 und bringt stets dieselben Indizien vor, beispielsweis dass Kolumbus schon im ersten Brief an Ferdinand und Isabella von 1492 eindeutige Anspielungen auf die Jerusalemeroberung eingewoben habe.303 An einer anderen häufig zitierten Stelle des Bordbuchs formuliert Kolumbus eigens seinen speziellen göttlichen Auftrag und kommt dabei auf Parallelen zwischen sich selbst (im Rahmen der langwierigen Überfahrt) und dem von Gott auf die Probe gestellten Hiob zu sprechen;304 ferner zieht er Parallelen zu Moses und David.305 Kolumbus’ Referenzen auf das Irdische Paradies wurden bereits erwähnt; reichlich dokumentiert sind zudem Kolumbus’ Hang zu Gebeten und rituellen Handlungen während seiner Reisen.306 Grosso modo bleibt jedoch festzuhalten, dass die ersten Textzeugen insgesamt auch viele andere Akzente setzen, und es in den Jahrzehnten vor der ersten Reise noch nicht zu einem konsequent verfolgten Zusammenführen einzelner Aspekte zu einem apokalyptischen Gesamtszenario kommt.307 Der Um-

302 Carol L. Delaney: Columbus and the Quest for Jerusalem, S. 201. 303 Vgl. Carol L. Delaney: Columbus’s Ultimate Goal: Jerusalem, S. 265 f. 304 Vgl. Alain Milhou: Colón y su mentalidad mesiánica, S. 265–272. Zu einer wirklichen Meuterei ist es wohl nie gekommen; dennoch gestaltet Las Casas die Andeutungen aus, vgl. Jacques Heers: Christophe Colomb, S. 228–230. Während es laut Kolumbus’ Bordbuch nicht zu Unstimmigkeiten kam, ist bei Oviedo und Herrera von einer Meuterei die Rede. Vgl. ebda., S. 591; Caesare de Lollis: Cristoforo Colombo, S. 85 und S. 117; Heinz Hofmann: La scoperta del nuovo mondo nella poesia latina: i ‘Columbeidos libri priores duo’ di Giulio Cesare Stella. In: Stefano Pittaluga (Hg.): Columbeis III. Genf: Istituto di Filologia Classica, Medioevale e Umanistica 1988, S. 77. In der Tradition der Reiseberichte hat sich die ‘Meuterei’ jedoch schnell als Topos etabliert. 305 Der Vergleich zwischen Kolumbus und Moses sollte sich im weiteren Verlauf der Reiseberichte über die Kolumbusfahrten großer Beliebtheit erfreuen. So greift ihn etwa auch Las Casas in seiner Historia auf, der die zweifelnden Meuterer bei Kolumbus mit den zweifelnden Gefährten des Moses vergleicht und so indirekt auch Kolumbus mit Moses. Dabei wird Kolumbus jedoch nicht direkt als Messias verstanden. Auch bei der Darstellung späterer Neue-WeltEroberer findet dieser Topos Anwendung, etwa wenn der Franziskaner Jerónimo de Mendieta über Cortés schreibt. Vgl. Alain Milhou: Colón y su mentalidad mesiánica, S. 231–252. 306 Vgl. Delno C. West/August Kling: The «Libro de las Profecías», S. 7 und S. 18. 307 Mary A. Watt: Dante, Columbus and the Prophetic Tradition. Spiritual Imperialism in the Italian Imagination. New York: Routledge 2017, S. 37, spricht von einem fortschreitenden Prozess des Bewusstwerdens bei Kolumbus: «at first he saw only dimly but later he would see fully the extent of his mission». In seinem ersten Brief an die spanische Krone (Cristoforo Colombo: La lettera della scoperta, S. 146) beschreibt Kolumbus z. B. die von ihm gewählte Namensgebung der ersten entdeckten Insel, welche er nach Christus, dem ‘Σωτήρ’, benannt habe: «Divi Salvatoris nomen imposui» (gemeint ist die von den Ureinwohnern als ‘Guanahani’ bezeichnete Insel San Salvador). Der Fokus liegt hier – ohne greifbaren apokalyptisch-

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stand, dass Kolumbus meist eher punktuell auf seine eschatologischen Ideen zu sprechen kommt, soll daran liegen, dass er diese hintergründigen Überlegungen aufgrund der Vielzahl aktueller Probleme zurückstellt.308 Ohne nun die Absicht zu verfolgen, Kolumbus’ Gedanken und Beweggründe letztgültig und genauer sondieren zu wollen, als es die mit den Quelltexten vertrauten VerfasserInnen diverser Monographien bereits versucht haben, soll es – mit Blick auf den folgenden zweiten Teil der Arbeit – genügen, auf Kolumbus’ eschatologischen Blick auf seine Entdeckungsfahrten aufmerksam zu machen und ihn in nuce darzustellen. Es ist unter Berücksichtigung der historischen Belege mitnichten verwunderlich, dass im zweiten Teil der Arbeit mit dem Epos De invento Novo Orbe des Jesuiten Peramás ein Werk vorgestellt wird,309 das Kolumbus’ gesamtes Projekt (also bereits die erste Reise) unter spürbarem Rekurs auf den Libro de las Profecías in einen eschatologischen Zusammenhang einbettet – wenngleich dieses Epos inmitten der behandelten Kolumbus-Epen eine Sonderrolle einnimmt, da es diese Thematik als Einziges dezidiert aufgreift. Durch den im vorliegenden Kapitel vermittelten Einblick in Kolumbus’ eschatologisches Gesamtkonzept können gewisse Eigenheiten des später vorgestellten Epos besser kontextualisiert werden. So etwa der Umstand, dass die Annexion Trinidads in Peramás’ Epos aufgenommen wird, wo sie doch der dritten Reise zuzuschreiben ist,310 und man sie daher verständlicherweise in anderen Kolumbus-Epen ausblendet, in denen typischerweise die erste Kontaktaufnahme mit der Neuen Welt besonders ausgestaltet wird. Passend zum eschatologischen Kontext des ja im Anschluss an die dritte Reise verfassten Libro de las Profecías wird bei Peramás dieses Element nun integriert.311 Die Eroberung Trinidads mit seinen drei Bergen wird herausgestellt als einer der Höheeschatologischen Beigeschmack – schlicht auf dem missionarischen Handeln allgemein; so schreibt er wenig später, es sei ihm wichtig, dass die Ureinwohner gute Christen würden (vgl. «fierent [...] christicole», ebda., S. 152). Als Hauptziel wird deren «ad sanctam Christi fidem conversio[...]» (ebda., S. 154) benannt. Dabei wird die von ihm wahrgenommene positive Einstellung der Ureinwohner, die seiner Meinung nach geneigt sind, den christlichen Glauben anzunehmen, als Verdienst der spanischen Herrscher erkannt und mittelbar auf Gott selbst zurückgeführt (vgl. ebda., S. 160: «nec nostris meritis correspondens, sed sancte christiane fidei nostrorumque regum pietati ac religioni»). Über die ‘Christianisierung’ könne sich die «universa Christianitas» (ebda., S. 162) freuen. 308 Vgl. Carol L. Delaney: Columbus and the Quest for Jerusalem, S. 185: «Columbus could only think about how the sovereigns would receive him when he returned, without gold in his hands and with chains on his feet». 309 Vgl. Kap. 2.3.4. 310 Seine dritte Reise hat Kolumbus bewiesenermaßen der Trinität gewidmet, vgl. ebda., S. 163. 311 Peramás schreibt in seinem ‘Prologus’, er habe sich von der ersten und zweiten Reise inspirieren lassen und nur das ein oder andere Element aus anderen Reisen herausgepickt. Das

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punkte der Reisen, die religiös motivierte Namensgebung der Insel (sc. ‘Trinidad’; G.J.K.) wird explizit in seinem dritten Buch erwähnt – und dabei passenderweise rhetorisch in ein Trikolon gekleidet.312 Ebenso auffällig ist die im zweiten Buch des Epos ausformulierte Ankündigung der erwarteten Niederkunft der Mutter Gottes in die ersten christlichen Tempel der Neuen Welt, deren Ankunft von den Ureinwohnern gefeiert werden wird.313 Peramás’ Ausgestaltung des in der Neuen Welt zu verortenden Irdischen Paradieses und seine Akzentsetzung auf die Trinitätslehre, die Marienverehrung und die Heidenmission lassen sich vor dem Hintergrund des Libro de las Profecías schlüssig miteinander verbinden. Sie sind zurückführen auf seit dem Mittelalter tradierte (insbesondere eschatologische) Vorstellungen,314 wie sie sich exemplarisch im Franziskanerorden des 15. Jahrhunderts finden, von dem sich (historisch gut belegte) Verbindungslinien zu Kolumbus ziehen lassen.315 Natürlich ist Kolumbus nicht erst von einzelnen Franziskanern auf seine apokalyptischen Vorstellungen gebracht worden, doch ist davon auszugehen, dass Kolumbus in Auseinandersetzung und Diskussion mit ihren Lehren seine eige-

Beispiel von Trinidad belegt, dass diese Wendung («ex aliis etiam nonnulla», DINO 8) als Understatement zu verstehen ist und die Elemente mit Bedacht gewählt sind. 312 Vgl. DINO 3.334–336: «ternos cum vertice montes | Cerneret æquali, TRIADOS de nomine dixit, | Terque preces fudit, Triadem in vota vocavit». 313 Vgl. DINO 2.306–317. 314 So bilanziert schon Tzvetan Todorov: La conquête de l’Amérique, S. 20: «C’est donc, paradoxalement, un trait de la mentalité médiévale de Colon qui lui fait découvrir l’Amérique et inaugurer l’ère moderne». Zuvor hatte er aus einer (auf Kolumbus’ vierter Reise entstandenen) Lettera raríssima zitiert, in der Kolumbus schreibt: «Je n’ai pas fait ce voyage pour y gagner honneur et fortune». Ihn leite die «intention pure», den Grand Khan im Christentum zu unterrichten. Die Belege, die Todorov für die Verbindung der Entdeckung der Neuen Welt mit der Rückeroberung Jerusalems anführt, stammen insbes. aus der Zeit seiner dritten bzw. vierten Fahrt, vgl. ebda., S. 18 f. 315 Daher wird hier breviter nur von diesem Orden die Rede sein. Natürlich werden des Öfteren auch andere Orden zur Erklärung von Kolumbus’ apokalyptisch-eschatologischem Verständnis herangezogen. So wird Kolumbus in Nähe des zeitgenössisch neu entstehenden Ordens der Hieronymiten gerückt, die in völliger Zurückgezogenheit (wie einst Hieronymus) ein intensives Bibelstudium betreiben (vgl. Jacques Heers: Christophe Colomb, S. 546–550). Auch bei ihnen spielt der Kult der Jungfrau Maria eine entscheidende Rolle, sie sollen ebenso begeistert sein von der Wiedereinnahme Jerusalems und «[i]ls évoquent constamment le temps où les Chrétiens pouvaient prier et méditer à Jérusalem et à Bethléem, patrie de saint Jérôme. Ils furent ainsi les prédicateurs et guides spirituels de la Reconquête contre les Maures et aussi contre les Juifs» (ebda., S. 548). Hierauf gründet etwa die in Lesuires Epos (vgl. Kap. 2.3.2) vorzufindende Einflechtung eines hieronymitischen Klosterbruders (‘L’Hermite’).

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nen Ideen stets weiter vertieft hat, zumal er mit den Franziskanern jahrzehntelang in Kontakt stand und von ihnen entscheidende Impulse erhielt.316 In Franziskanerkreisen zirkuliert mindestens bis 1488 die Summula seu Breviloquium super Concordia Novi et Veteris Testamenti (ca. 1351–1355), die eine Zusammenfassung der apokalyptischen Ideen eines globaler anzusetzenden «Spanish apocalypticism»317 liefert. Die entscheidende Grundlage für die endzeitlichen Vor-

316 Delno C. West/August Kling: The «Libro de las Profecías», S. 41, sprechen von einer engen spirituellen «affinity with the Franciscan Order and its ideology of mission». Geistlichen Beistand hat sich Kolumbus nämlich nicht nur vom Kartäusermönch Caspar Gorricio geholt (einem engen Vertrauten, der ihm bei der Auswahl der Bibelstellen für den Libro behilflich gewesen ist), sondern auch von Mitgliedern des Franziskanerordens. Am berühmtesten ist die Episode, als Kolumbus nach dem Tod seiner Ehefrau als Witwer mit seinem Sohn Diego im Jahre 1485 im Konvent La Rábida nahe Palos aufgenommen wird, wo er mit den Franziskanermönchen seine Fahrtpläne besprochen haben soll; vgl. Carol L. Delaney: Columbus and the Quest for Jerusalem, S. 192. Seine Hauptkontaktperson, der Ordensbruder Antonio de Marchena, soll sogar den ersten Kontakt zu Königin Isabella geknüpft haben; der Mönch Juan Perez (das neue Oberhaupt des Ordens und der frühere Beichtvater Isabellas) gilt als mutmaßlich engster Vertrauter des Kolumbus, der überhaupt erst den Kontakt zu Isabella hergestellt hat und sie zum Meinungswandel motiviert haben soll. Carol L. Delaney (ebda., S. 264 f.) und Alain Milhou: Colón y su mentalidad mesiánica, S. 33 f., streichen heraus, wie Kolumbus schon deutlich vor 1485 mit Franziskanern in Kontakt stand, die ihrerseits bereits frühzeitig auf den Kanaren und in Afrika Erfahrungen als Missionare gesammelt hatten und ihm wissenschaftlich-empirisch (in den Bereichen der Astronomie, Kartographie) sowie institutionell Beistand leisteten und verändernd auf seinen «ideario político-religioso» (ebda., S. 34) eingewirkt haben. Kolumbus soll tatsächlich auch ein ‘Mitglied’ der Franziskaner geworden sein, indem er dem (von Franz von Assisi gegründeten) Dritten Orden beigetreten ist – als einer der Anhänger, welche den franziskanischen Idealen abseits des zölibatären Klosterlebens nacheifern wollen. Vgl. ebda., S. 34–38; Carol L. Delaney: Columbus’s Ultimate Goal: Jerusalem, S. 285; Dieter Berg/Raphaela Averkorn: Eschatologie und Franziskanertum, S. 142 f. Carol L. Delaney: Columbus and the Quest for Jerusalem, S. 157, geht davon aus, Kolumbus sei wohl vor seiner dritten Reise (1496) dem Orden beigetreten, dem er ideell bis zum Ende seines Lebens treu geblieben ist; schließlich wurde er sogar in einer Mönchskutte begraben. 317 Delno C. West/August Kling: The «Libro de las Profecías», S. 28. Vgl. Mary A. Watt: Dante, Columbus and the Prophetic Tradition, S. 4 f.; Carol L. Delaney: Columbus’s Ultimate Goal: Jerusalem, S. 273; Dieter Berg/Raphaela Averkorn: Eschatologie und Franziskanertum, S. 141; Delno C. West/August Kling: The «Libro de las Profecías», S. 34 f. West/Kling verorten die Vorstellung der Franziskaner im Rahmen eines globaler anzusetzenden «Spanish apocalypticism» (ebda., S. 28), der in seinen Ursprüngen bisher noch nicht im Detail behandelt worden ist. In jedem Falle finden sich darin christliche, muslimische wie jüdische Gedanken bezüglich der Endzeit wieder; deren Produkt sei in sämtlichen apokalyptischen Werken des 15. Jhdts. präsent. Kolumbus’ endzeitliche Vorstellungen speisen sich mit ziemlicher Sicherheit aus einem selektiven Aufgreifen ganz unterschiedlicher Quellen. Dieter Berg/Raphaela Averkorn: Eschatologie und Franziskanertum, S. 127, S. 144 f. und S. 150, sowie Mary A. Watt: Dante, Columbus and the Pro-

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stellungen der Franziskaner bildet die These des Abtes Joachim von Fiore aus dem 12. Jahrhundert, der als erster den Versuch unternommen hat, ein trinitarisches Deutungsschema auf die Heilsgeschichte anzuwenden.318 Er geht von der Vorstellung aus, Gott habe dem irdischen Leben sieben Millenien Zeit gegeben, und man befinde sich aktuell (ca. ab dem Jahr 1260) im dritten und letzten Zeitalter, welches dem Heiligen Geist zuzuschreiben und von Frieden und Armut geprägt sei.319

phetic Tradition, S. 32–36, gehen kurz auf Kolumbus’ Eklektizismus ein und unterstreichen die Bedeutung der Apokalypse des Pseudo-Methodius, die 1470–75 mindestens zehnmal neu ediert wurde und welche die Notwendigkeit der Reinigung der christlichen Kirche vor dem Beginn der Endzeit herausstellt. Noch bedeutender ist sicherlich der Einfluss des monumentalen Werks Pierre d’Aillys, in dem jedoch die Sonderrolle Spaniens fehlt – wohingegen der Franziskanerorden, der besonders in Spanien aktiv ist, den letzten Monarchen des Übergangs gemeinhin mit dem spanischen König identifiziert (vgl. Harold J. Cook: Ancient Wisdom, the Golden Age, and Atlantis, S. 32). Delno C. West/August Kling: The «Libro de las Profecías», S. 34, fassen zusammen: Die Vorstellung von einem spanischen Monarchen «developed from an marriage of Joachite thought with the pseudo-Methodius». Ganz allgemein sind diverse national zugeschnittene Auslegungen der biblischen Apokalypse en vogue und die «lucha contra el infiel» (Alain Milhou: Colón y su mentalidad mesiánica, S. 398) «tenía indudablemente una función propagandística» (ebda., S. 394). Milhou spricht von einem «mesianismo imperial» der sich vom 12. bis ins 17. Jhdt. als Wettkampf zwischen Spanien und Frankreich zeichnen lässt. In Spanien werden zu Kolumbus’ Zeiten Ferdinand V. (mit seiner Mitregentin Isabella) von dieser eschatologischen Weltsicht geleitet (vgl. ebda., S. 336–340). Über die katalanisch-aragonesische Geschichte eines «mesianismo hispánico genuino» (ebda., S. 351) s. ebda., S. 362–368: Für Ferdinand V. ist insbes. Ferdinand III. ein entscheidendes Vorbild, der im 13. Jhdt. durch die Eroberungen Cordobas und Sevillas bereits wichtige Erfolge im Kampf gegen die Mauren einfahren konnte. Die Namensgleichheit der beiden Regenten wird als ein göttliches Zeichen der Auserwähltheit verstanden. In Frankreich unterbleiben nicht die Versuche, den letzten großen Monarchen des Übergangs der Alten zur Neuen Zeit mit Charlemagne und der Linie des französischen Kaiserhauses in Verbindung zu bringen; als der französische König Karl VIII., der sich bei seinen Italienfeldzügen den Namen des «emperador escatológico» (ebda., S. 336) zuschreibt, beispielsweise 1494 nach Florenz kommt, sieht in ihm auch Ficino den zweiten Karl den Großen. Ausgehend von der politischen Ideologie, Karl dem Großen nachzueifern und sein Weltreich zu egalisieren, wird diese Rolle in Deutschland z. B. auf den Staufer Friedrich II. übertragen. Vgl. Dieter Berg/Raphaela Averkorn: Eschatologie und Franziskanertum, S. 136; Harold J. Cook: Ancient Wisdom, the Golden Age, and Atlantis, S. 36. 318 Seine endzeitlichen Vorstellungen wurden über Jahrhunderte weiter tradiert (u. a. durch Peter John Olivi, Juan de Rocatalladas, Arnaldus von Vilanova, Ubertino da Casale), die wiederum den Franziskanern als Lektüre dienten; vgl. Dieter Berg/Raphaela Averkorn: Eschatologie und Franziskanertum, S. 131 f. 319 Nach der Epoche des Vaters, die von der Schöpfung bis zu Jesu Geburt reicht. Kolumbus’ Berechnungen der noch verbleibenden Zeit bis zur Apokalypse schwanken; zur Zeit des Libro geht er jedoch von 155 Jahren im letzten Zeitalter aus (vgl. Carol L. Delaney: Columbus and the Quest for Jerusalem, S. 200 f.). Kolumbus’ erwähnte Unterschrift mit sieben Buchstaben und

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Im Zentrum dieses letzten Zeitalters der apokalyptischen Konzeption steht erneut ein Dreischritt. Der erste Schritt besteht in der Erscheinung eines Heilands bzw. eines «Last World Emperor»320 oder zweiten biblischen David. Dieser werde den (gemeinhin mit der ‘Hure von Babylon’ assoziierten) Antichristen nach dessen Niederkunft auf die Erde (um die Christen vom Glauben abzubringen) in einem zweiten Schritt besiegen und Jerusalem zurückerobern, das als entscheidender Ort biblischer Handlungen wieder in christliche Hände fallen müsse.321 Mit dem Wiederaufbau des dortigen Tempels und dem Missionieren der verbliebenen Nicht-Christen (gemeinsam mit anderen Gläubigen) werde das Eintreten der Endzeit und die Ankunft Christi beschleunigt, was – im dritten Schritt – in einer harmonischen Paradiesvorstellung ihren Ausklang findet.322 Im Kontext dieser Bibelexegese erhält das Edelmetall Gold einen besonderen Stellenwert und zusätzlich eine zweideutige konnotative Aufladung: Sein Auffinden gilt neutral gesehen als Indiz für die nahende Apokalypse und den «combate escatológico que iba aproximándose»;323 einerseits fungiert es als positiver Vorbote für die herbeigesehnte Zusammenkunft der Völker in Jerusalem und für den Bau des neuen Tempels; andererseits wird es negativ valorisiert als Mittel der Bezahlung für die Gefolgschaft des Antichristen.324 Entgegen der im Mittelal-

drei Buchstabenreihen wird nicht selten auch als Symbol für die drei Zeitalter und sieben Millennien gedeutet. 320 Mary A. Watt: Dante, Columbus and the Prophetic Tradition, S. 41. 321 1187 hatte der ägyptische Sultan Saladin Jerusalem knapp hundert Jahre nach dem Kreuzzugsaufruf des Papsts Urban II. (1095) wieder zurückerobert; seither findet sich die Idee der christlichen Rückeroberung Jerusalems in den Köpfen der Christen; und Jerusalem als Symbol der Erneuerung und Ort der Prophezeiung nach der nötigen Läuterung der korrumpierten Christen (vgl. Carol L. Delaney: Columbus and the Quest for Jerusalem, S. 9–11; Jacques Heers: Christophe Colomb, S. 532 f.) Zur für den Franziskanerorden typischen, starken Fokussierung auf der Befreiung Jerusalems s. u. a. Alain Milhou: Colón y su mentalidad mesiánica, S. 166. Dieter Berg/Raphaela Averkorn: Eschatologie und Franziskanertum, S. 119, formulieren als Ziel «die vollständige Christianisierung der gesamten Welt mit dem Fernziel einer Befreiung Jerusalems». 322 Vgl. Dieter Berg/Raphaela Averkorn: Eschatologie und Franziskanertum, S. 116; Mary A. Watt: Dante, Columbus and the Prophetic Tradition, S. 32 und S. 37; Carol L. Delaney: Columbus’s Ultimate Goal: Jerusalem, S. 284; Jacques Heers: Christophe Colomb, S. 526; Delno C. West/August Kling: The «Libro de las Profecías», S. 7. 323 Alain Milhou: Colón y su mentalidad mesiánica, S. 134. 324 Vgl. «la ambivalencia del oro y de las riquezas» (ebda., S. 141); s. zur letztgenannten negativen Auslegung etwa Martín Martínez de Ampiés’ Libro del judicio postrimero über den letzten Abschnitt der Zeit von 1496. Ferner sei auch auf den allgemeinen mysthisch-religiösen Wert des Goldes verwiesen, den es etwa in der Alchemie einnimmt, wo es als bedeutendstes Metall mit Jesus assoziiert wird: «El oro, ‹exçelentísimo›, materialización del sol, término de la ‹obra›, venía a ser Cristo Salvador» (ebda., S. 126).

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ter vorherrschenden Vorstellung messen die Franziskaner in diesem umfassenden Szenario der Heidenmissionierung besonderen Wert bei, da sie davon ausgehen, dass die den Menschen bevorstehende, von Frieden und Bedürfnislosigkeit gekennzeichnete Endzeit eher in einem «progress toward a more perfect future» besteht als in «a return to an idealized past».325 Auch dürften die Menschen sie nicht nur passiv erwarten, sondern müssten aktiv an ihr mitwirken. Kolumbus selbst identifiziert den neuen Monarchen in Anlehnung an diesen ‘Spanish apocalypticism’ mit Ferdinand und sieht sich «como colaborador privilegiado de los Reyes Católicos».326 Die hier angedeutete Linie der von den Franziskanern vertretenen endzeitlichen Konzeption mit dem Fokus auf der friedlichen Heidenmissionierung steht in nicht aufzulösendem Gegensatz zu Kolumbus’ eingangs umrissener Kreuzzugsbegeisterung,327 weshalb Berg/Averkorn Kolumbus’ Reflexionen, wie mit den angetroffenen Nicht-Christen genau umgegangen werden soll, als durchaus ambivalent kennzeichnen.328 Während in den neulateinischen Epen die literarische Konzeption des religiösen Kreuzzugs (in Anlehnung an Tasso) die epische Konzeption bestimmt,329 sehen wir bei Peramás Kolumbus als Heils- und Friedensbringer, für den die Eroberung Granadas im Sinne des ‘Zurückdrängens der Heiden’ zwar eine bedeutende Voraussetzung ist, bei dem jedoch keine (im Sinne der ‘Légende noire’ fragwürdige) Kriegs- und Kreuzzugsbegeisterung mehr an den Tag gelegt wird. Um sich ein noch konkreteres Bild von Kolumbus’ friedlich-endzeitlichen Vorstellungen machen zu können, soll der Inhalt seines Libro de las Profecías skizziert

325 Carol L. Delaney: Columbus and the Quest for Jerusalem, S. 39. Die Etablierung des neuen Reichs Gottes in der Neuen Welt soll Hand in Hand gehen mit materiellem Verzicht auf Besitzungen, mit konsequenter Selbsteinschränkung und Bußbereitschaft (vgl. Julia McClure: The Utopia of Poverty. Vortrag vom 12. 04. 2017, gehalten an der University of Cambridge im Rahmen der Konferenz ‘Legacies of Conquest. Transnational Perspectives on the Conquest and Colonisation of Latin America’). Dieses Armutskonzept begründet auch ein Stück weit die relative Beliebtheit des Franziskanerordens bei den Bewohnern der Neuen Welt. Nach Kolumbus wird etwa auch der Spanier Cortés bei seiner Eroberung Mexikos bei der Kirche um priesterliche Unterstützung bitten, und es werden ihm zwölf Franziskaner beigegeben «with the confident expectation that their preaching would be the last great mission on the eve of the end of the world» (Harold J. Cook: Ancient Wisdom, the Golden Age, and Atlantis, S. 33). In DINO 1.553 f. werden (womöglich in Anlehnung an dieses nunmehr typische Vorgehen) ebenso (in Anlehnung an die zwölf Apostel) nicht zwölf Franziskaner, sondern zwölf (ex post und indirekt) als ‘Jesuiten’ bezeichnete Priester für die erste Reise entsendet; eine «bissenum [...] | Turma sacerdotum, Jesus quos legerat ipse». 326 Alain Milhou: Colón y su mentalidad mesiánica, S. 286. 327 Vgl. Kap. 1.3.3. 328 Dieter Berg/Raphaela Averkorn: Eschatologie und Franziskanertum, S. 123 f. und S. 127. 329 Vgl. Kap. 2.2.

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werden. Die Darstellung der Grobgliederung erfolgt anhand von Kolumbus’ eigenen Buchkapiteln, berücksichtigt die Kommentierung der Herausgeber West/Kling und orientiert sich an eigens von uns ausgewählten zentralen Zitaten. Dabei werden gerade diejenigen Bibelstellen exemplarisch für die inhaltlichen Erklärungen herangezogen, auf die Jahrhunderte später auch der Jesuit Peramás zurückgreift und die er in sein Kolumbus-Epos einspeist.330 Auf diese Weise erhoffen wir uns – zeitgleich und ohne spätere Mehrarbeit – die Ähnlichkeiten der beiden Texte herauszustellen. Am Ende der Darstellung könnte man verführt sein, das vereinfachte Fazit zu ziehen, Peramás habe sich beim Abfassen seines Epos just aus dem Libro bedient und über die kolumbischen Entdeckungsfahrten eben solch ein apokalyptisches Gedicht geschrieben, wie es seinerseits ja Kolumbus intendiert hatte. Hier gilt es vorauszuschicken, dass der belesene Jesuit Peramás die betreffenden Bibelstellen durchaus auch aus anderen Quellen geschöpft haben kann. Unser Ziel als ‘Wegbereiter’ eines weitgehend unerforschten Forschungsfeldes soll darin bestehen, die spezielle Machart des Epos aufzuzeigen bzw. die identische Stoßrichtung beider Texte anhand eingängiger Beispiele – auch für weniger bibelfeste LeserInnen – herauszumodellieren. Wir wollen also auf auffällige Parallelen hinweisen, ohne im Detail über Peramás’ Quellenstudium Hypothesen aufzustellen. Vor dem eigentlichen Herzstück des Buchs, den für die Eschatologie relevanten331 Bibelzitaten, kommt es in LP 100–168 zu einer «Introduction of Themes».332

330 Beim Zitieren von Bibelstellen greift Kolumbus vornehmlich auf die Vulgata zurück, vgl. Delno C. West/August Kling: The «Libro de las Profecías», S. 96. Daher wird im Folgenden jeweils die Vulgata herangezogen, wenn lateinische Bibelstellen zitiert werden und dabei nicht andere Quellen (z. B. der Libro de las Profecías) angegeben werden. Zitiert wird dann nach Roger Gryson (Hg.): Biblia sacra iuxta vulgatam versionem. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 41994. 331 Ausnahmefälle bilden vereinzelte Zitate u. a. aus Augustinus’ De civitate Dei und Senecas Medea. Die letztgenannte Stelle ist die wichtigste ‘pagane’ Stelle zur Präfiguration der Entdeckung der Neuen Welt, vgl. Anm. 198 in diesem Kap. Im Libro de las Profecías wird die Stelle messianisch ausgelegt. Zitiert wird sie im Vorwort und im Haupttext, vgl. LP 224–226: «Venient annis | [...] quibus Oceanus | vincula rerum laxet, & ingens | pateat te[l]lus Tiphisque novos | detegat orbes [...]». Indem Kolumbus bei seiner Übersetzung ins Spanische den Sinn der Stelle minimal verändert, die ‘Neuen Welten’ in den Singular setzt und von der Lesart ‘Tiphys’ (also dem Piloten aus der Argonautensage) statt von ‘Tethys’ (der Meeresgöttin) ausgeht, kann er sich selbst leichter als neuen gottgesandten Piloten identifizieren. Das Heranziehen der an sich paganen Stelle Senecas rührt freilich auch vom Umstand her, dass Seneca seit jeher (man denke an den gefälschten Briefwechsel mit Paulus) anachronistisch im Mittelalter als christlicher Weiser verstanden wurde. Vgl. u. a. James Romm: New World and ‘novos orbes’, S. 82; Jacques Heers: Christophe Colomb, S. 130; Gabriella Moretti: Nec sit terris ultima Thule (La profezia di Seneca sulla scoperta del Nuovo Mondo). In: Stefano Pittaluga (Hg.): Columbeis I, passim. 332 Delno C. West/August Kling: The «Libro de las Profecías», S. 98.

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Als ‘Préface’ fungiert darin ein auf Spanisch verfasster Begleitbrief an Isabella und Ferdinand, in dem Kolumbus v. a. über seine Inspiration durch den Heiligen Geist spricht, der ihn beim Verfolgen seines Projekts antreibe (LP 104–110).333 Außerdem beinhaltet die ‘Introduction’ neben der Erwähnung von für ihn entscheidenden Autoritäten (namentlich Pierre d’Ailly und Joachim von Fiore)334 insbesondere einen Durchzug durch gewisse Textpassagen einiger bedeutender Kirchenväter und Theologen (allen voran Augustinus, LP 140–152). einen langen Abschnitt mit Passagen aus den biblischen Psalmen (LP 110–132) sowie einen Abschnitt mit Zitaten aus dem Buch Jesaia (LP 164–168). Thematisch kreist dieses präparative Kapitel um zwei Themen: (1a) Gottes allumfassende Herrschaft über sämtliche Völker der Erde sowie (2a) die Bedeutung des Bergs Zion in Jerusalem für die Christenheit.335 Dass beide Themen Kolumbus besonders am Herzen liegen, lässt sich nicht zuletzt durch eine von Kolumbus angewandte Markierungstechnik erkennen: Insgesamt hat der Genuese neben rund 15 der 300 Zitate in seinem Manuskript eine Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger gemalt.336 In diesem einführenden Kapitel entfallen solche Markierungen eben auf die zwei oben genannten Themenbereiche.337 Diese zwei genannten Themenbereiche des präparativen Kapitels dienen als ‘Prolusio’ für den Hauptteil des Florilegiums, wo eine Vielzahl an Textstellen v. a. die folgenden zwei Themen dokumentieren soll: (1b) die zu vollziehende Christia-

333 Vgl. insbes. LP 104: «[El] Espírito Santo [...] con su santa y sacra Escritura [...] abibándome que yo prosyguiese y de contino, sin çesar un momento, me abíban con gran priesa». 334 Pierre d’Ailly liefert die Basis für Kolumbus’ berühmte Berechnung der Endzeit. Kolumbus schreibt, es blieben noch 155 Jahre («çiento é çinquenta y çinco años», ebda., LP 108) bis zum Einbruch der Endzeit, was West/Kling fälschlicherweise mit «one hundred and fifty years» (LP 109) übersetzen. Auf Joachim von Fiore führt Kolumbus die Vorstellung eines aus Spanien stammenden Machthabers zurück. 335 Zum Berg Zion werden beispielsweise folgende Zitate eher einführenden Charakters herangezogen: Ps 75,2 f. («Notus in Iudea Deus: in Israel magnum nomen eius. Et factus est in pace locus eius, et habitatio eius in Syon &c», LP 120), Jes 14,32 («Dominus fundavit Syon et in ipso sperabunt pauperes populi eius», LP 164), Jes 25,10 («requiescet manus Domini in monte isto», LP 164). Schon ganz zu Beginn des Werks werden jedoch schon mitunter Verse eingeflochten, die eindeutig auf die apokalyptische Zukunft verweisen, so das prophezeiende «Et erit Dominus nominatus in signum eternum, quod non auferetur» (LP 168). 336 Vgl. Carol L. Delaney: Columbus and the Quest for Jerusalem, S. 196 f.: «Columbus drew his finger-pointing hand next to [them]». 337 Etwa auf Mt 28,18–19, wo geschrieben steht: «Data est mihi omnis potestas in celo et in terra. Euntes ergo docete omnes gentes, baptizantes eos in nomine Patris, et Filii, et Spiritus Sancti» (LP 154).

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nisierung der gesamten Welt und (2b) die bevorstehende Rückeroberung Zions durch Spanien. Der Autor unterteilt dabei den Hauptteil in die ‘chronologisch’ strukturierten Hauptblöcke «De Preterito» (LP 168–214), «De Presenti et Futuro» (LP 216–238) und «De Futuro. In Novissimis» (LP 238–258). Allerdings erweist sich diese Gliederung keineswegs als derart stringent, wie es West/Kling in ihrer Einleitung suggerieren, wenn sie etwa mit Blick auf den ersten Themenblock die folgende Gleichung aufstellen: «the section entitled ‘Concerning What Has Already Taken Place’ (‘De Preterio’ [sic!]), that is, what has taken place in relation to the two themes».338 Man kann dem Werk sicherlich zugestehen, dass gewisse inhaltliche Bündelungen sowie ein inhaltliches, logisch-konsekutives Fortschreiten intendiert scheinen.339 Allerdings sind die Kapitelübergänge mehr als fließend, was bereits die oben zitierte Matthäus-Stelle belegt, deren Fokus eigentlich auf Thema (1a) liegt und dabei doch das (eigentlich darauf aufbauende) Thema (1b) bereits miteinwebt. Bei Kolumbus’ Endversion des Libro de las Profecías handelt es sich eben um «a working manuscript»,340 an dem neben Kolumbus auch sein Sohn Ferdinand sowie sein Inspirationsgeber bzw. geistlicher Beistand, der Kartäusermönch Gorricio, teils parallel mitgearbeitet haben – und an das die letzte Feile nicht mehr angesetzt werden konnte. Überblickt man den Libro de las Profecías, ist das meist zitierte Buch der Bibel das des Propheten Jesaia. Die bei Jesaia entnommenen Passagen finden sich jeweils blockweise in jedem der drei Unterkapitel sowie in der ‘Introduction’.341 Dabei speist sich jede dieser Sektionen nicht aus jeweils anderen Kapiteln, sondern es wird ohne ‘chronologisches Selegieren’ stets scheinbar beliebig aus dem gesamten Buch Jesaias zitiert.342 Bei einem solchen Vorgehen ist es nicht verwunderlich, dass es zu inhaltlichen Überlappungen kommt: Im Kapitel ‘De Presenti et Futuro’ heißt es über die bevorstehende Versammlung aller geläuterten Gläubigen in Jerusalem: «aperite portas, et ingredietur gens iusta, custodiens veritatem»;343 das geht inhaltlich nicht über die bereits in ‘De Preterito’

338 Delno C. West/August Kling: The «Libro de las Profecías», S. 81. 339 So beginnt etwa das letzte Unterkapitel ‘De Novissimis’ mit einem Jeremia-Kapitel, wo in einer langen Darstellung die Restauration Jerusalems vor dem letzten Gericht vorhergesagt wird. Am Ende des Kapitels finden sich dann passenderweise Ausschnitte aus der die Apokalypse beschreibenden Johannesoffenbarung. 340 Ebda., S. 80. 341 D. h. es finden sich Jesaia-Passagen in LP 164–168, 168–184, 216–218 sowie 248–252. 342 In der ‘Introduction’ wird aus den Jesaia-Kapiteln 11–55 zitiert, in ‘De Preterito’ aus Kap. 24–66, in ‘De Presenti et Futuro’ aus Kap. 2–33, in ‘De Futuro’ aus Kap. 11–66. 343 Jes 26,1–3, Hervorh. G.J.K.; zitiert in LP 218.

1.3 Kolumbus und sein Projekt

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zitierte Stelle Jes 52,1 hinaus, wo es heißt: «Consurge, [...] Syon; induere vestimentis glorie tue, Iherusalem, civitas sancta; quia non adiiciet ultra ut pertranseat per te incircuncisus et immundus».344 Die Verwendung des Futurs im letzten Satz belegt, dass sich bereits im Jesaia-Abschnitt des Kapitels ‘De Preterito’ bedeutend mehr findet als nur ‘What Has Already Taken Place’.345 Am ehesten wird der Fokus in diesem Block auf die westlichen Inseln gelegt: Diese warten schon und immer noch darauf,346 dass ihre Bewohner und Reichtümer in Bälde Gott und dem in der Alten Welt befindlichen Israel zugeführt werden. Am prägnantesten wird dies in Jes 60,9 formuliert. Eben diese Stelle wurde in LP 178 mit einem ‘Fingerzeig’ (s. o.) versehen: me enim insulae expectant et naves maris in principio ut adducam filios tuos de longe argentum eorum et aurum eorum cum eis nomini Domini Dei tui et Sancto Israhel quia glorificavit te.347

Diese Ausgangslage der wartenden Inseln im Westen stellt passenderweise auch Peramás Ende des 18. Jahrhunderts (als erstes von drei Bibelzitaten und quasi als eine Art Widmung) seinem Epos voran.348 Hieran schließt Peramás ein zweites Zitat an, eine weitere Jesaia-Stelle (Jes 18,2 f.), die sich so auch im zweiten JesaiaBlock (LP 218–220: ‘De Presenti et Futuro’) findet. Es greift gewissermaßen das

344 Hervorh. G.J.K.; zitiert in LP 176. 345 Auf der anderen Seite gehen die wenigen Jesaia-Stellen des letzten Kapitels ‘In Novissimis’ inhaltlich nicht über die der vorigen Kapitel hinaus. In LP 250 wird etwa lediglich erneut das freudige (Ab-/Er-)Warten der fernen Inseln beschrieben, vgl. z. B. das dort zitierte Jes 51,5: «Me insule exspectabunt, et brachium meum sustinebunt». 346 Hier liegt also die Verbindung zum bereits Geschehenen (‘De Preterito’). Doch wird selbst diese perspektivische Nuancierung nicht durchgehalten; lassen sich doch etliche Gegenbeweise anführen, die diese Argumentation brüchig machen. Aus Jes 42 wird hier jedoch unweigerlich etwas in die Zukunft weisendes eingewoben: «Ponent Domino gloriam et laudem eius in insulis nuntiabunt» (LP 170; entspricht Jes 42,12). Auch die Überlegung, mit ‘De Preterito’ könnte all das gemeint sein, was Kolumbus bereits geschafft hat, kann nicht fruchtbar gemacht werden, da hier ebenso Stellen vorliegen, in denen klar auf eine weit über Kolumbus’ Leben hinausweisende Zukunft verwiesen wird, vgl. etwa «salus autem mea in sempiternum erit» (LP 174) oder «qui autem fiduciam habet mei, hereditabit terram, et possidebit montem sanctum meum» (LP 176). 347 Jes 60,9, Hervorh. G.J.K. Die Zuordnung zu den drei chronologischen Einteilungen erscheint teils willkürlich. Hier dürfte das Zitat wohl am ehesten deswegen im Kapitel ‘De Preterito’ angesiedelt worden sein, da der Ist-Zustand des Wartens beschrieben wird. 348 Vgl. DINO 2.

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erste Zitat (aus Jes 60) mit dem wartenden Inselvolk (vgl. im Folgenden die ‘gens exspectans’) auf und fügt die Aufforderung an Gottes Engel hinzu, sie mögen diese Inseln besuchen:349 ite angeli veloces ad gentem convulsam, et dilaceratam; ad populum terribilem, post quem non est alius; ad gentem exspectantem et conculcatam, cuius dirupuerunt flumina terram eius, ad montem nominis Domini exercituum, montem Syon. Omnes habitatores orbis, qui moramini in terra, cum elevatum fuerit signum in montibus, videbitis, et clangorem tube audietis.350

Das hier vermittelte Bild der Indigenen als ‘populus terribilis’ – das so auch konsequent in Peramás’ Epos durchgehalten wird – wird jedoch weniger stark herausgestrichen als das über den bedauernswerten Ist-Zustand des ‘Horrorvolks’ hinausweisende Endziel, die positiv valorisierte Endzeit bzw. das nahende Reich des Friedens und der Harmonie. Nicht umsonst wird direkt an das letztgenannte Jesaia-Zitat in LP 218 die Stelle Jes 26,3 gekoppelt, wo das Überwinden der schlechten Ist-Zeit und das Erreichen einer Friedenszeit mit einer Anadiplose des Substantivs ‘pax’ zum Ausdruck kommt: «vetus error abiit; servabis pacem; pacem, quia in te speravimus». Der Umstand, dass Kolumbus franziskanertypisch den Fokus auf die Friedensmission legt, wird in Peramás’ Epos noch stärkere Konturen erhalten; Peramás wird weitere, im Libro so nicht zu findende Bibelstellen einflechten und so einerseits das problemlose Einverleiben des ‘populus terribilis’ und andererseits Kolumbus als Friedensbringer besonders prägnant herausmodellieren.351 Zur genannten Thematik der Jesaia-Passagen gesellen sich in den Kapiteln ‘De Preterito’ und ‘De Presenti et Futuro’ noch weitere Themenschwerpunkte. Die Abschnitte aus Hesekiel (LP 190–194), Zacharia (LP 204–214) und den Chroniken (LP 218–224) imaginieren die Rückkehr Gottes nach Jerusalem und das erneute Befüllen Jerusalems durch das von König David geeinte Volk. Dazu wird David eingeführt als derjenige Heiland, den Gott vom Hirten zum König gemacht und der in Jerusalem die Völker zusammengebracht hat.352 Dann erfolgt eine Überleitung hin zu seinem Nachfolger, König Salomon. Bei der Errichtung seines Gottestempels in Jerusalem – des Symbols des Beginns einer neuen Ära – konnte er auf Gold, Silber und Elfenbein zurückgreifen, das ihm alle drei Jahre (unter Mithilfe der Flotte des Karthagers Hiram von Tyrus) aus einer sagenumwobenen, im Westen gelegenen 349 Der Abschluss des Zitats mit der Erwähnung des ‘clangor tubae’, des Tubaspiels im Rahmen der Apokalypse, weist seinerseits unweigerlich ins letzte Unterkapitel ‘De Novissimis’. 350 Jes 18,2 f., Hervorh. G.J.K. 351 Näheres hierzu in Kap. 2.3.4. 352 Vgl. 1 Chr 17,7 wo Gott David anspricht: «ego tuli te, cum in pascuis sequereris gregem, ut esses dux populi mei Israel» (zitiert in LP 218) und 1 Chr 28,1: «Convocavit igitur David omnes principes Israel» (zitiert in LP 220).

1.3 Kolumbus und sein Projekt

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Insel geliefert wurde.353 Dazu kommen klare Verweise auf ein Wiederholen dieses Vorgangs in der Zukunft.354 Den kohärentesten thematischen Block bildet jedoch schließlich das letzte Kapitel (‘De Futuro. In Novissimis’). Es ist nahezu ausschließlich einer speziellen Inselthematik gewidmet,355 in der die bereits angerissenen Thematiken der ‘wartenden Inseln’ und des ‘Salomonischen Goldes’ verschmelzen.356 Dabei wird ein bereits in den vorigen Kapiteln atmosphärisch repetitiv vorausgesetzter Umstand vertieft, nämlich dass die von Kolumbus entdeckten Inseln mit den in der Bibel prophezeiten Inseln übereinstimmen, welche sich durch ihre Lage im Westen und ihren (mit der Apokalypse in Verbindung zu bringenden) Goldreichtum357 auszeichnen. Nur hier finden sich im Libro de las Profecías neben den ‘chronologischen’ Unterkapiteln nun auch inhaltliche Unterüberschriften: Auf das einleitende Kapitel zur goldreichen biblischen Insel Tharsis358 folgen eines zu Ophir,359 eines zur weniger bekannten Insel Cethyn360 sowie ein abschließendes, alle drei Inseln betreffendes Kapitel.361 Möchte man diese Unterkapitel einem chronologischen Zeit-Abschnitt zuordnen, würde man sie intuitiv am ehesten dem Teil ‘De Preterito’ zuordnen, da hier Vergangenes beschrieben und v. a. über weite Strecken ein terminologisches Problem zur Sprache gebracht wird:362 Kolumbus ist daran gelegen, alle genannten Inseln als Namensvarianten ein und derselben Region zu verstehen.363 353 Vgl. 2 Chr 8 (zitiert in LP 222). Vgl. insbes. 1 Kön 9,11: «Hiram rege Tyri praebente Salomoni ligna cedrina et abiegna et aurum iuxta omne quod opus habuerat». 354 Vgl. exemplarisch Hes 37,22: «non erunt ultra due gentes nec dividentur amplius in duo regna» (zitiert in LP 192) und Zach 8,3: «reversus sum ad Syon et habitabo in medio Iherusalem» (zitiert in LP 206). Dazu wird zeitgleich die Ankunft des Antichristen imaginiert durch drei Bibelzitate aus Dan 8,11,12 (jeweils LP 194) mit der Randglosse «De adventu Antichristi». 355 Vgl. LP 238–254. 356 In LP 242 wird etwa mit der Stelle 2 Chr 9,21 etwa direkt an die weiter oben zitierte Stelle 2 Chr 8 (in LP 222) angeknüpft. 357 Vgl. Carol L. Delaney: Columbus and the Quest for Jerusalem, S. 194 f.; Delno C. West/August Kling: The «Libro de las Profecías», S. 87. 358 Vgl. «Tharsis in sacra Scriptura sepius reperitur et alibi &c.» (LP 238). 359 «De insula Ophyr in qua habetur multum aurum &c. que insula comprobatur esse Tharsis, ut in superioribus allegationibus» (LP 244). 360 «De insula Cethyn, quam dicunt esse Tharsis et Ophyr, scriptum est» (LP 246). 361 «Hec de insulis maris scripta sunt in sacra Scriptura» (LP 248). Am Ende dieses Kapitels bilanziert der Autor, man hätte noch viele weitere Bibelstellen zu diesem Thema auswählen können, worauf aus Gründen der ‘brevitas’ verzichten worden sei: «Multa alia omittimus conscribenda de insulis maris, credentes hec pauca sufficere ad propositum nostrum» (LP 254). 362 In ähnlicher Weise gilt dies für die zuvor skizzierte David-Thematik. 363 Dabei kommt es ferner auch zu einer der wenigen im Libro bemerkten Dubletten zweier Bibelstellen: Einmal wird im Unterkapitel zu Tharsis aus dem Kapitel 1 Kön 9 f. zitiert (vgl. LP 240), dann erneut auch bei den zu Ophir gehörigen Bibelstellen (vgl. LP 244). Die namentlich

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Die Unterkapitel zum Thema ‘Inseln’ werden jedoch durch eine Art Ringkomposition zusammengehalten, was sie sinnvoll im Zentrum des letzten Kapitels ‘De Futuro. In Novissimis’ verankert. Zu Beginn wird atmosphärisch durch das Zitieren des 25. Kapitels des Propheten Jeremia auf die nahende Apokalypse eingestimmt; ebenso apokalyptisch klingt das Kapitel auch aus, indem es in drei Passagen aus der Johannesoffenbarung kulminiert,364 nachdem kurz zuvor ein weiteres Zitat aus Jeremia 25 den Kapitel-Einstieg wieder aufgreift, vgl. «accepi calicem de manu Domini, et propinavi cunctis gentibus ad quas misit me Dominus; [...] Et regibus terre insularum qui sunt trans mare».365 Thematisiert wird hier die Reaktion des Propheten auf die vorausgegangene, an ihn gerichtete Aufforderung Gottes, sämtlichen Völkern der Erde den Wein des Abendmahls zu trinken zu geben.366 Auch an dieser Stelle ist es evident, dass Peramás’ Kolumbus-Epos zum Libro de las Profecías in enger, ja nachgerade ideologischer Verbindung steht: Denn das den Insel-Bewohnern gebrachte Heilige Abendmahl bildet seinen entscheidenden Epeninhalt, vgl. die zweite Hälfte des Titels: De invento Novo Orbe inductoque illuc Christi Sacrificio. Peramás implementiert nicht nur die goldreichen Inseln Tharsis und Ophir gekonnt in die ‘Dispositio’ seines Epos, sondern spielt die (ebenso auf einer Insel empfangene) apokalyptische Vision des Johannes als Höhepunkt der Einführung des Heiligen Abendmahls in das Szenario der von Kolumbus entdeckten Insel Haiti ein.367

1.3.5 Fazit Es sollte in diesem Kapitel herausgearbeitet werden, dass bei Kolumbus’ persönlichen Beweggründen für die Fahrt sowie denjenigen politischer Natur seit

unterschiedenen Inseln sollen hier auch durch die Wiederholung der identischen Bibelstelle in Eins gesetzt werden. Vgl. insbes. 1 Kön 10,22 (Hervorh. G.J.K.; vgl. LP 240): «classis regis per mare cum classe Hiram semel per tres annos ibat in Tharsis deferens inde aurum et argentum dentes elefantorum et simias et pavos» und 1 Kön 10,11 (Hervorh. G.J.K.; vgl. LP 244): «classis Hiram quae portabat aurum de Ophir». Die Dublette erfüllt damit dieselbe argumentative Funktion wie die auf einer etwas anderen Ebene begründende Randglosse in LP 240: «Nota. Tharsis insula, que etiam dicitur Ophyr, etc». 364 Offb 1; 6; 16. Johannes hatte seine Eingebung eben just auf einer Insel (vgl. Offb 1): «Fuit in insula, que appellatur Pathmos» (zitiert in LP 254). 365 Jer 25,17 f., zitiert in LP 252. 366 Vgl. Jes 25,15: «sume calicem vini furoris huius de manu mea et propinabis de illo cunctis gentibus ad quas ego mittam te»; ‘propinare’ ist hier zu verstehen als ‘zu trinken geben’. 367 Vgl. Kap. 2.3.4.2.2.

1.3 Kolumbus und sein Projekt

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jeher wirtschaftlich-merkantile, religiöse und ‘literaturwissenschaftlich’-textaffine Stränge zusammenlaufen. Die Sekundärliteratur hat immer schon die Aspekte ‘Gold’ und ‘Christianisierung’ als die zwei Hauptbeweggründe bzw. -ziele für die Kolumbusfahrten namhaft gemacht368 oder diese beiden Aspekte in Relation gesetzt.369 Insbesondere sind die beiden Pole ‘Gold’ und ‘christliche Missionierung’ aber auch schlicht ein Stück weit komplementäre Teile ein und desselben religiösen Moments. Denn die spanische Suche nach dem Gold «went beyond a materialistic craving»,370 da es sich bei ihm nicht nur um einen entscheidenden Argumentationsgrund für das Fortführen der für den spanischen Staat monetär ‘rentablen’ Erkundungsfahrten handelt, sondern ihm im eschatologischen Gesamtkonzept eben auch großer Wert zukommt.371 Außerdem lässt sich beobachten, wie beide Aspekte im unmittelbaren Kontakt der beiden Welten nur zusammen wirksam werden: «Colon fait comme si entre les deux actions s’établissait un certain équilibre : les Espagnols donnent la religion et prennent l’or».372 Im Rahmen der Ausführungen sind wir en passant exemplarisch auf Fernandos Biographie über den Vater eingegangen, da diese als eine der frühesten bereits multiple Blickwinkel auf das Kolumbusprojekt eröffnet, die schließlich auch in die von uns behandelten Kolumbus-Epen hinein gespiegelt werden. Mal zeichnet Fernando seinen Vater als wissenschaftsaffinen Gelehrten,373 mal rühmt er stolz die Leistung und das ‘gloire’-Streben seines Vaters,374 dann zeichnet er Kolumbus aber auch (für seine Zeit typisch) als christlich motivierten Helden mit festem Gottvertrauen. Damit haben wir bereits einen Großteil der ideologischen Stoßrichtungen abgedeckt, die sich in den vorliegenden Kolumbus-Epen finden lassen: Von Kolumbus als kreuzzugsbegeistertem Gotteskämpfer oder Handelsmann in den frühen neulateinischen Epen, über Kolumbus als Messias mit escha-

368 Vgl. exemplarisch Aldo A. Cassi: Ultramar, S. 10. 369 Vgl. Tzvetan Todorov: La conquête de l’Amérique, S. 18: «C’est l’expansion du christianisme qui tient au cœur de Colon infiniment plus que l’or». 370 Delno C. West/August Kling: The «Libro de las Profecías», S. 69. 371 Vgl. Jacques Heers: Christophe Colomb, S. 531 f. 372 Tzvetan Todorov: La conquête de l’Amérique, S. 50. Erst im Rahmen der folgenden Entdeckungsfahrten gewinnt die christliche Missionierung stärkere Konturen. So unterstreicht Todorov mit Blick auf die erste Kolumbusfahrt noch: «l’expansion spirituelle» sei «indissolublement liée à la conquête matérielle». Das heißt, die Missionierung habe hier noch keinen alleinigen Wert für sich. Die spanische Krone hat auf der ersten Reise etwa auch noch keine Priester mit in die Neue Welt entsandt. Vgl. ebda., S. 48–50, Zitat S. 49. 373 Das Feiern von Kolumbus als ‘aufklärerischen Weisen’ avant la lettre können wir in allen Kolumbus-Epen, aber insbes. bei Du Boccage und Bourgeois beobachten. 374 Bei dieser ideologischen Ausrichtung setzt Laureaus Kolumbus-Epos an, vgl. Kap. 2.3.3.

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tologisch-apokalyptischer Hoffnung im Epos des Peramás, hin zu Kolumbus als ‘aufklärerischem Wissenschaftler’ im Großteil der französischen Kolumbus-Epen bzw. zu Kolumbus inmitten von Problemen mit Landsmännern und Schuldvorwürfen aufgrund seines allzu harschen Vorgehens gegenüber den Ureinwohnern. Unter die auf die jeweiligen AdressatInnen abgestimmte Darstellung des Geschehenen fällt auch die Darstellung der Ureinwohner. Wir wollen diese unter dem Vorzeichen der Abstammungstheorie behandeln, da dieser Aspekt aufs Engste mit dem Ureinwohnerbild verknüpft ist. Außerdem soll dieser Aspekt eine besonders detaillierte Ausgestaltung erfahren, da er in Kap. 3 separat anhand der einzelnen Kolumbus-Epen untersucht werden soll.

1.4 Abstammungstheorien und Atlantis Der Stellenwert der Abstammungstheorien im zeithistorischen Kontext der von uns behandelten Epen kann kaum hoch genug angesetzt werden. Der konkrete literarische Umgang mit dem zentralen Problem der Herkunft der Bevölkerung der Neuen Welt verdichtet zeitgenössische Diskurse wie in einem Brennspiegel und ist unmittelbar gekoppelt an die den Epen zugrunde liegende Weltsicht, die ja zwischen den Polen ‘gläubig-christlich vs. wissenschaftlich-rational’ changiert. Unmittelbar nach der Entdeckung der Neuen Welt kollidiert das Wissen um die Existenz ihrer Bewohner mit dem bisherigen Weltbild der Alten Welt: Der sündenfreie ‘Gute Wilde’, von dem Kolumbus in seinen ersten Aufzeichnungen berichtet, passt nicht ins postlapsarische Bild des Christentums, wonach durch den Sündenfall der paradiesische Zustand auf Erden ein Ende gefunden hat. Der Umstand, dass die Indigenen der Neuen Welt Gott nicht kennen, widerspricht dem Genesisbericht (Gen 9,19), dem gemäß Noahs Nachfolger die Welt in Gänze besiedelt haben,375 oder auch dem 19. Psalm, dem gemäß der Heilige Geist auf der ganzen Welt gewirkt hat. In den Jahrhunderten nach der Entdeckung der Neuen Welt wird daher in jedem Buch zum ‘Wilden’ auf Abstammungstheorien zurückgegriffen:376 Der Grundtenor im 16. und 17. Jahrhundert betrachtet die Bewohner der Neuen Welt als einen ‘vorhumanen’ Menschenschlag ohne große

375 Vgl. Stefania Buccini: The Americas in Italian Literature and Culture, 1700–1825, S. X; Aldo A. Cassi: Ultramar, S. 93; Rosario Romeo: Le Scoperte americane nella coscienza italiana del Cinquecento, S. 47; Aldo Scaglione: A Note on Montaigne’s Des Cannibales and the Humanist Tradition, S. 66. 376 Vgl. Giuliano Gliozzi: Adamo e il Nuovo Mondo, S. 7.

1.4 Abstammungstheorien und Atlantis

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Schattierungen,377 der den Menschen der Alten Welt unterlegen ist, wenngleich das Spektrum vom ‘Guten Wilden’ bis hin zum schlimmen Kannibalen reicht. Gerade bei der häufig gestellten Frage, ob es sich in Anbetracht so mancher inhumaner und ungebildeter Verhaltensweisen noch um einen Menschen oder bereits um ein Tier handle (die sog. ‘Bestiendiskussion’), werden zumeist zwei sich in gewissem Maße widersprechende Argumente angeführt. Um die Notwendigkeit einer Missionierung und einer Einrichtung bzw. Aufrechterhaltung eines Feudalsystems unter der Ägide der europäischen Mächte zu untermauern, wird bald mit der Unterlegenheit der bestienähnlichen Ureinwohner argumentiert, bald die Abstammung der Ureinwohner vom ‘europäischen’ Adam ins Spiel gebracht.378 Wenngleich bereits im 16. Jahrhundert gewisse Versuche einer wissenschaftlichen Klassifizierung der Indigenen unternommen wurden,379 geht es in dieser Anfangszeit bei den Abstammungsdiskussionen primär nicht darum, den korrekten Ursprung der Ureinwohner samt ihrer jeweiligen Geschichte zu erforschen oder gar deren Rechte zu stärken. Vielmehr steht das ideologischpolitische Nutzbarmachen der Ureinwohner im Mittelpunkt bzw. das Rückbinden ihrer Wurzeln an bestimmte Mächte der Welt:380 Die communis opinio, nach der die ungebildeten Ureinwohner in ihrer Hilflosigkeit zu ihrem eigenen Nutzen unterworfen werden müssen, bleibt stets bestehen.381 Bei der vorliegenden «concorrenza inter-europea»382 um die Gebiete der Neuen Welt wird unter Rekurs auf Abstammungstheorien lediglich ausgehandelt, welcher Staat ein Vorrecht auf deren Annexion hat.383 Nicht weniger präsent sind die Abstammungstheorien in der Literatur des 18. Jahrhunderts, wie Todorov resümiert.

377 Vgl. Aldo A. Cassi: Ultramar, S. 97: «un modello antropologico monocromo, dotato tuttavia di forti gradazioni in chiaroscuro». 378 Vgl. Giuliano Gliozzi: Adamo e il Nuovo Mondo, S. 307: «[D]a un lato tendeva ad attribuire agli americani una natura non-umana, ma dall’altro non rinunciava a proclamare – esplicitamente o implicitamente – la loro derivazione da Adamo». 379 Im April 1577 erteilte etwa der spanische König Philipp II. seinem ‘viceré’ Martín Enríquez de Almansa den Auftrag, die Ureinwohner unter Zuhilfenahme etlicher Fragebögen zur Herkunft der Völker ethnisch zu unterscheiden und eine «indagine etnoantropologica» (Aldo A. Cassi: Ultramar, S. 100) durchzuführen. 380 Vgl. Giuliano Gliozzi: Adamo e il Nuovo Mondo, S. 47. 381 Vgl. Aldo A. Cassi: Ultramar, S. 101. 382 Giuliano Gliozzi: Adamo e il Nuovo Mondo, S. 49. 383 Vgl. ebda., S. 47: «non è in alcun modo la conoscenza degli abitanti del Nuovo Mondo», sondern es zählen die «rapporti economico-sociali nella politica coloniale» (ebda., S. 105).

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Es gilt weiterhin: «on veut savoir alors si nous formons une seule espèce ou plusieurs».384 Doch treten nunmehr anthropologische und moralphilosophische Erkenntnisinteressen klarer in den Vordergrund. Auch das epische Genre bleibt nun von der genannten zeitgenössischen Abstammungsdiskussion nicht unberührt.385 Im Folgenden soll es darum gehen, holzschnittartig zentrale Abstammungstheorien der Zeit samt ihrem ideologischen Potenzial zu umreißen, um innerhalb dieses Spektrums die konkret in den Epen verwendeten Abstammungstheorien in ihrer speziellen epischen Modellierung in Kap. 3.2 besser verstehen zu können.

1.4.1 Monogenetischer und polygenetischer Ansatz Zu Beginn seien die christlichen Abstammungstheorien vorgestellt, die sich dann auch in einigen Kolumbus-Epen wiederfinden lassen. Die neu entdeckten Menschen – die dort wohnen, wo man aus christlicher Sicht niemals gedacht hätte, dass sich Menschen finden würden – sollen auf alte Völker der Bibel (und letztlich auf Adam und Eva) zurückgeführt werden, um sie so in den christlichen Horizont zu reintegrieren (sog. monogenetischer Ansatz). Als wirkmächtig zeigt sich besonders im 16. bzw. 17. Jahrhundert das Rückbinden der Ureinwohner der Neuen Welt an die verlorenen zehn biblischen Stämme des in der Heiligen Schrift genannten Nordreichs Israel.386 Auf Basis dieser Abstammungstheorie ergibt sich ein klar negatives Ureinwohnerbild: Die Einwohner der Alten Welt sehen sich in der Pflicht, die abtrünnigen israelitischen Stämme als Vollstrecker der göttlichen Rache zu bestrafen. Gliozzi spricht von «rapporti di belligeranza, di sottomissione e di espulsione».387 Besonderes Gewicht erlangt diese

384 Tzvetan Todorov: Nous et les autres, S. 19. Vgl. ebda., S. 19: «[L]e débat se formulait en termes de ‹monogenèse› et de ‹polygenèse›». 385 Vgl. zur Beliebtheit der Motive ‘Karthager’ und ‘Atlanter’ in der lateinischen und spanischen Neue-Welt-Epik Maya Feile Tomes: Neo-Latin America: The Poetics of the ‘New World’ in Early Modern Epic. Studies in José Manuel Peramás’s «De Invento Novo Orbe Inductoque Illuc Christi Sacrificio» (Faenza, 1777). Ph.D. dissertation. Cambridge (U.K.): King’s College 2017, S. 69 f. 386 Diese haben aufgrund fehlender Gottesfurcht und ob des Festhaltens an hebräischen Riten von Gott den Scheidebrief erhalten, wurden vom assyrischen König Salmanassar V. gefangengenommen. Ihr Verbleib wird im biblischen Text im Dunkeln gelassen. 387 Giuliano Gliozzi: Adamo e il Nuovo Mondo, S. 69. Weit verbreitet und in Manuskriptform tradiert ist die Schrift des Doktor Roldàn von 1540, in der fünf Gründe für die Identifikation der Stämme Israels mit den Ureinwohnern der Neuen Welt ausformuliert sind. So u. a. die Sprachähnlichkeiten, die typisch hebräischen Sitten der Indigenen (z. B. das Verbot, Tote anzufassen)

1.4 Abstammungstheorien und Atlantis

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These dabei «all’apice della polemica lascasiana»:388 Las Casas hatte im Rahmen seiner Brevissima relación klar Kritik an den europäischen Besatzungsmächten geübt, sich gegen eben diese negative Sicht auf die Stämme Israels (bzw. die Bewohner der Neuen Welt) ausgesprochen und demgegenüber betont, dass Gottes Wille die Erhaltung der verlorenen Stämme sei.389 In unmittelbarer Reaktion darauf ergreifen in Spanien vermehrt Befürworter der Israel-These das Wort. Insgesamt wird die Israelthese aber v. a. von Gegnern der spanischen Kolonialpolitik außerhalb Spaniens angegriffen.390 Innerhalb Spaniens erfährt die Israel-These durch den Jesuiten José de Acosta (Historia natural y moral de las Indias, 1590) ihre erste umfassende Widerlegung:391 Die zu beobachtenden Ähnlichkeiten der Ureinwohner mit den Bewohnern der Alten Welt sowie die Existenz eines gewissen religiösen Verständnisses, welches das missionarische Tun der Jesuiten rechtfertigt,392 wird bei Acosta durch eine Besiedlung der Neuen Welt über eine einst existierende Landbrücke zwischen Asien und ‘Amerika’ erklärt, über die «die asiatischen Nachkommen Adams»393 in die Neue Welt kamen.394 Dabei wer-

oder die Entfernung der Neuen Welt, die nur durch einen Marsch von eineinhalb Jahren zu erreichen sei. Diese Argumentation erfährt durch Diego Duran eine noch umfassendere Ausformulierung, vgl. ebda., S. 50–60. 388 Ebda., S. 64. 389 Vgl. ebda., S. 61–63. 390 Vgl. ebda., S. 99. Dennoch findet sich z. B. auch in Frankreich das bereits bei der Kritik durch Las Casas in Spanien beobachtete ‘Reaktions-Schema’: Als 1579 von Spaniengegnern Las Casas’ Brevísima relación auf Französisch herausgegeben wird (Tyrannies et Cruautez des Espagnols), wird – ganz analog – schon 1580 etwa in der Chronographia von Gilbert Génébrard vehement die pro-spanisch gelagerte Israelitenthese vertreten, vgl. ebda., S. 69–71. 391 Vgl. ebda., S. 59 und S. 72 f. 392 Vgl. ebda., S. 381. 393 Florian Borchmeyer: Die Ordnung des Unbekannten, S. 300. 394 Anders als seine französischen, anti-spanisch orientierten Vorgänger (Du Plessis Mornay oder Du Bartas) geht Acosta davon aus, dass keine zivilisierten Asiaten (Tartaren) in die Neue Welt ausgewandert sind und dort Fuß gefasst haben, sondern weitestgehend unzivilisierte, die es noch zu missionieren gilt, vgl. Giuliano Gliozzi: Adamo e il Nuovo Mondo, S. 381. In der Folgezeit bedienen sich auch andere Nationen dieser Landbrücken-Hypothese, um eine jeweils auf ihre Nation gemünzte Genealogie zu anderen antiken Völkern zu ziehen: So bezeichnet der Holländer Abraham van der Mjil 1611 die Kimbern als Vorfahren der Holländer und als erste Besiedler der Neuen Welt über den Landweg – mit dem Ziel der Rechtfertigung der niederländischen Beteiligung am kolonialen Treiben, vgl. ebda., S. 444.

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den andere Abstammungshypothesen und die Überquerung des Meeres395 durch «his long refutation of ancient science»396 widerlegt. Mit dem Domenikaner Gregoria García (Origen de los Indios, 1607) wird die Israelthese zwar erstmals rehabilitiert, doch hat sich der Fokus verlagert: Er argumentiert nun nicht mehr für das berechtigte, brutale Durchgreifen der Spanier in ihrer Funktion als Verlängerung des rechten Armes des Rachegottes (wie noch im 16. Jahrhundert), sondern will auf diese Weise die von den Konquistadoren erwünschte Vererbung des ‘Encomienda’-Systems durchsetzen, das für die Maßregelung der lasterhaften Ureinwohner wie gemacht sei397 – während sich die spanische Krone demgegenüber durch die Veröffentlichung der Nuevas Leyes und die zu leistenden Goldzahlungen an die Ureinwohner für ein freies Vasallentum ausspricht.398 Wenn Anhänger der spanischen Krone, allen voran Andres Rocha, dann im 17. Jahrhundert auf Basis der Israelthese zwar die Unterlegenheit der Ureinwohner herausstellen, aber gleichzeitig die Möglichkeit einer positiven Konversion betonen,399 belegt dies die mannigfaltige politische Instrumentalisierung dieser Abstammungstheorie. Der Bezug auf das Volk Israel birgt desweiteren einen anderen biblischen – auch in den Epen durchaus beliebten – Anknüpfpunkt: Die Identifizierung der Neuen Welt mit Kanaan bzw. das Bild der Landnahme des Gelobten Landes durch das Volk Israel unter der Führung Josuas. In spanischen Berichten wird bei dieser Gleichsetzung absichtlich der Fokus auf die Gewalttätigkeit der Unterwerfung im biblischen Bericht gelegt: Die negative Genealogie der Kanaaniter durch die Abstammung von Kanaan, dem Sohn des Cham, der von seinem Vater Noah verflucht worden war, bedingt die gewaltsame Einnahme und Zer-

395 Der Seeweg ist für Acosta unwahrscheinlich u. a. wegen des damaligen Mangels an nautischen Instrumenten; auch führt der Seeweg zu hohen Verlusten durch Schiffbruch, sodass bei einer Landung niemals genügend Menschen zu einer umfassenden Bevölkerung zur Verfügung stehen würden usw., vgl. ebda., S. 373. 396 James Romm: New World and ‘novos orbes’, S. 110. Vgl. Giuliano Gliozzi: Adamo e il Nuovo Mondo, S. 44 f. Acosta distanziert sich klar von heidnischen Erklärungsansätzen: «The hero of Acosta’s geography was Augustine, not a pagan» (Harold J. Cook: Ancient Wisdom, the Golden Age, and Atlantis, S. 38). Er spricht sich gegen das vorschnelle Amalgamieren von biblischen und paganen Inhalten aus, da letzteren keine gleichrangige Autorität zukomme. 397 Vgl. Giuliano Gliozzi: Adamo e il Nuovo Mondo, S. 80. Gliozzi spricht von «la pervicacia dell’errore e la resistenza alla conversione» und von «la tendenza naturale all’ozio» (ebda., S. 84). 398 Eine vergleichbare Nutzbarmachung der Israelthese gegen die Nuevas Leyes findet sich bei Pedro Simon (Noticias historiales de las conquistas de tierra firme en las Indias Occidentales, 1627) sowie, etwa zeitgleich, bei Antonio Vázquez de Espinosa, vgl. ebda. S. 88 und S. 97. 399 Welche Anhänger des ‘Encomienda’-Systems ja gerade durch eben dieselbe These ausgeschlossen hatten.

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störung der ‘kanaanitischen’ Städte Jericho und Ai durch die Israeliten400 und rechtfertigt damit die Brutalität beim Vorgehen gegen die mit ihnen gleichgesetzten Orte des Neuen Kontinents durch die Einwohner der Alten Welt.401 In die diametral entgegengesetzte Richtung läuft die Auslegung der Kanaan-Gleichsetzung im anti-spanischen französischen Kontext, etwa bei Jean de Léry und Lescarbot: Die beiden Vertreter, die oft als Begründer der ‘bon sauvage’-Thematik gelten, sprechen sich laut Gliozzi v. a. gegen die spanische Missionierungsaufgabe aus und zeichnen daher die Ureinwohner besonders positiv.402 Im von Calvin beeinflussten hugenottischen Frankreich wird der Einsatz von Missionaren als unnötig erachtet, da durch die göttliche Prädestinationslehre die Scheidung von ‘guten’ (d. h. ‘erlösten’) und ‘bösen’ Menschen bereits vor unserer Zeit abgeschlossen ist. Damit kann die These eines ursprünglichen Fehltritts des israelitischen Volkes hier nicht Fuß fassen; auch sehen Calvinisten unter Berufung auf die «Gleichheit der Sünder»403 in den sündigenden Ureinwohnern «[k]ein exotisches Kuriosum». Das Gros der biblischen Abstammungstheorien stützt sich hierbei auf ausgreifende Genealogien beginnend bei Noah. Diese Rückführung findet sich erstmals bei Oviedo in seiner Historia general y natural (1535),404 der in seinem Bericht gängige zeitgenössischen Theorien über die Abstammung verschiedener europäischer Völker mit der Neuen Welt verknüpft: Oviedos Hauptquelle sind Giovanni Nanni di Viterbos (Ioannis Annius Viterbensis’) Antiquitatum variarum volumina XVII von 1498. Dieser hatte (vermeintlich echte) Fragmente von zwölf antiken Autoren herausgegeben,405 u. a. des gelehrten Priesters Berosus, eines Zeitgenossen Alexanders des Großen, wo eine Genealogie von der biblischen Sintflut bis hin zum trojanischen Krieg (zur weiteren Bevölkerung der Alten Welt) gezeichnet wird. Viterbos Publikation fällt dabei in eine Zeit, in welcher der bisherige Konsens der trojanischen Abstammung europäischer Völker lang-

400 Vgl. den biblischen Bericht bei Jos 6. 401 Vgl. Giuliano Gliozzi: Adamo e il Nuovo Mondo, S. 111–125. Ein dem genau widersprechendes, nämlich auf eine eirenische Ideologie abzielendes Kanaanmotiv finden wir in Kap. 2.3.4.2.2 bei Peramás. 402 Vgl. ebda., S. 130 f. 403 Joseph Jurt: Erste französische Bilder der Neuen Welt, S. 37. 404 Es gründet auf dem etwa zehn Jahre zuvor verfassten Sumario de la natural y general historia de las Indias (1526) und wird in weiteren Auflagen (1547 und 1557) noch ausgedehnt. Zwanzig der 50 Bücher werden im 16. Jhdt. publiziert. Vgl. Giuseppe Bellini/Dario G. Martini: Colombo e la scoperta nelle grandi opere letterarie, S. 52. 405 Dass es sich hierbei um fingierte Texte handelt, gilt heute als erwiesen, doch gibt es noch im 19. Jhdt. Diskussionen bezüglich ihrer Echtheit.

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sam zu bröckeln beginnt.406 Exemplarisch ist der Fall in Frankreich, wo parallel das Interesse an einer möglichen gallischen Abstammung auf wachsendes Interesse stößt,407 sodass Jean Lemaire de Belges in seinen Illustrations de Gaule et singularitéz de Troie von 1512/13 quasi kompromissartig Trojaner und Gallier als eng verschwisterte Volksstämme zeichnet, die sich beide auf Noah zurückführen lassen. In Anlehnung an die Ausführungen Viterbos führt Oviedo nun seine ‘Hesperidenthese’ aus: Hesperus, der 13. Nachfahre des Tubal, des Sohns des Japhet, d. h. des Enkels des Noah, soll von seiner Heimat, der iberischen Halbinsel aus 1658 v. Chr. die Neue Welt bevölkert haben. Dieses Wissen sei zwar in der Folgezeit in Vergessenheit geraten, doch müssten nach der Wiederentdeckung der Neuen Welt die genuin bereits spanischen Gebiete der Neuen Welt eindeutig wieder der spanischen Krone zugesprochen werden.408 Alle folgenden Reiseberichte diskutieren unter Berücksichtigung der oviedischen Hesperidenthese die «restituzione delle terre americane al loro primo proprietario».409 Als erste Widerleger der Hesperus-These treten dann interessanterweise nicht etwa ausländische Gegner Spaniens auf, sondern die Spanier Don Hernando410 und

406 Einschlägige Werke (wie der berühmte Miroir historial von Vincent de Beauvais aus dem 13. Jhdt.) gehen alternativlos vom trojanischen Ursprung der Völker aus. Auch Guido delle Colonne führt in seiner zweibändigen Historia destructionis Troiae Rom auf Aeneas, Britannien auf Brutus, Frankreich auf Francus, Venetien auf Antenor und Sizilien auf den trojanischen Helden Sicanus zurück. Die beginnende Kritik am trojanischen Abstammungsmythos ist ab 1450 besonders in Italien greifbar: In den Historiarum Ab Inclinatione Romanorum Imperii Decades des Flavio Biondo aus dem Jahre 1483 ist bei der Entstehungsgeschichte Roms etwa von keinen trojanischen Wurzeln mehr die Rede. 407 Zurückzuführen ist dies nicht zuletzt auf die wachsende Zugänglichkeit französischer Übersetzungen von Werken über die Gallier; allen voran Caesars De bello Gallico, und dessen textnahe Übersetzung durch Robert Gaguin. 408 Vgl. Giuliano Gliozzi: Adamo e il Nuovo Mondo, S. 28; Harold J. Cook: Ancient Wisdom, the Golden Age, and Atlantis, S. 34. 409 Giuliano Gliozzi: Adamo e il Nuovo Mondo, S. 47. 410 Kolumbus’ Sohn Don Hernando ist der erste, der die insbes. von Oviedos hervorgebrachte ‘Hesperidenthese’ sowie die These, ein ‘Steuermann’ sei Kolumbus zuvorgekommen, kritisiert (vgl. ebda., S. 17). Don Hernando, der bei den auf Kolumbus’ Tod folgenden Erbstreitigkeiten die Rechte des Kolumbus als rechtmäßiger Annektor der Neuen Welt gegenüber der spanischen Krone vertritt, ist darauf bedacht, seinen Vater in zweierlei Hinsicht freizusprechen: (a) von der illegalen Aneignung der ‘neuen’ Ländereien (sie dürfen also vorher noch nicht ‘legal’ von ‘Christen’ bewohnt/annektiert worden sein) und (b) vom Vorwurf, dass es sich bei Kolumbus nicht um den Entdecker handelt.

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Las Casas.411 Während die Spanier besonders darauf bedacht waren, Oviedo als Fabulant zu widerlegen (ein Ruf, den Oviedo bis ins 20. Jahrhundert hinein genoss412), bringen ausländische Gegner der spanischen Krone auf ihre jeweilige Nation zugeschnittene Gegenthesen vor.413 Berühmt ist der Ansatz Guillaume Postels in seinem Cosmographicae disciplinae compendium von 1553, in dem er die Franzosen als Abkömmlinge Japhets darstellt mit rechtmäßigem Anspruch auf die Gebiete der Neuen Welt.414 Bei alldem bleibt jedoch ungeklärt, wie die jeweiligen Söhne Noahs den Weg in Richtung Westen konkret gemeistert haben.415 Einzig durch die sogenannte ‘Ophir-These’, bei der der biblische Ort des Goldes im Osten mit der Neuen Welt gleichgesetzt wird, wird das Zurücklegen des Seeweges bereits auf Basis der Heiligen Schrift belegt: König Salomon erhält von dort durch den Transport über Schiffe das nötige Gold für seinen Tempel. Zusätzlich zu diesem geographischen Aspekt der Gleichsetzung der Neuen Welt mit ‘Ophir’ gehen Anhänger dieser These, allen voran Postel (1553),416 von einem genetischen aus: Bei Postel ist Ophir ein Abkömmling des Sem, der im Gegensatz zu Cham oder den verlorenen zehn Stämmen positiv konnotiert ist (was die Neigung der Ureinwohner zum Christentum belegt).417 Während der bereits genannte Japhet die Neue Welt über

411 Gliozzi nennt Las Casas’ Argumente gegen den spanischen Anspruch auf die ‘Hesperiden’Gegend: Die Seefahrt sei zur Zeit des Hesperus noch nicht ausgereift genug gewesen, eine solche Entdeckung hätte irgendwo notiert, d. h. überliefert werden müssen; Hesperus sei ferner nur zehn Jahre an der Macht gewesen und die eigene Expansion sei im Gegensatz zur Verteidigung gegen ausländische Tyrannen historisch gesehen nicht zentral gewesen. Vgl. ebda., S. 18. 412 Vgl. Florian Borchmeyer: Die Ordnung des Unbekannten, S. 263. 413 Vgl. Harold J. Cook: Ancient Wisdom, the Golden Age, and Atlantis, S. 37; Giuliano Gliozzi: Adamo e il Nuovo Mondo, S. 41. 414 Noahs Sohn Japhet ist ihm zufolge vor seinem Bruder Cham nach Gallien geflohen, hat auf einem Berg die Neue Welt im Westen gesehen, sie Atlantis genannt und prompt dorthin Kolonisten entsendet. Nach Postel argumentiert etwa auch Lescarbot in diese Richtung: Noah selbst wird bei ihm als Gallier bezeichnet; Guillaume du Bartas argumentiert ebenso antispanisch, jedoch konzilianter, Noah selbst habe die Neue Welt besiedelt, weshalb alle Europäer gleichberechtigt seien. Vgl. Giuliano Gliozzi: Adamo e il Nuovo Mondo, S. 32 f. 415 Vgl. ebda., S. 173. 416 Der Ansatz wird von Spaniengegnern und französischen Protestanten (speziell im 17. Jhdt.) verfolgt. Doch zählt zu den Verfechtern auch der Bibelexperte Benito Arias Montano, ein katholischer Konterreform-Anhänger und ‘chapelain’ Philipps II., der 1572 in dessen Auftrag die Biblia Polyglotta publizierte und Postels Interpretation (genetisch wie geographisch) noch ausführlicher darlegte. Vgl. ebda., S. 154 f. 417 Vgl. ebda., S. 149.

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den Atlantik besiedelt, wählt sein Bruder Sem den Landweg über Asien nach Peru. Durch Acostas Widerlegung der Ophir-These verliert in der Folgezeit der genetische Zweig jedoch seine Bedeutung und lediglich die geographische OphirThese erfährt – u. a. durch Basilio Ponce de Léon und Tommaso Bozio – weiterhin Bekräftigung.418 Laut Letzterem soll das Gold aus dem mit Peru gleichgesetzten Ophir für den Kirchenbau in der Alten Welt genutzt werden und Spanien soll bei dieser «distribuzione universale [sc. dell’oro; G.J.K.]»419 für die ganze Welt als Kolonialmacht die Rolle eines Mittelsmannes einnehmen. Auch Ponce de Léon geht in seiner Variarum Disputationum ex utraque theologia scholastica, et expositiva, pars prima (1611) davon aus, dass die Neue Welt schon vor Kolumbus bekannt gewesen ist, und man bereits in der Antike Gold nach Spanien gebracht habe. Die geographische Ophir-These ist in besonderem Maße dafür geeignet «di trovare entro la Bibbia una soluzione a tutti i problemi connessi al popolamento del Nuovo Mondo»,420 sodass sogar noch in Peramás’ Epos diese geographische InEins-Setzung bzw. die Forderung des Überbringens des Goldes für den Tempelbau eine tragende Rolle spielt. Als Alternative zu diesen monogenetischen Abstammungstheorien finden sich rational argumentierende polygenetische Ansätze ohne biblische Bezugnahmen, welche die heikle Frage, wie die Einwohner der Alten Welt denn in die Neue Welt gekommen sind, ausblenden.421 Grundgelegt wurde die Polygenese vom Schweizer Mediziner Paracelsus422 in seinem Liber de generatione von 1520. Dort setzt er sich mit dem Pro und Kontra der Frage auseinander, ob Ureinwohner eine Seele besitzen, was seiner Meinung nach klar zu verneinen ist. Gott habe die Neue Welt als versteckte Gegend abseits der Schöpfung mit anderen (Menschen nur ähnlichen) Wesen besetzt, wobei Paracelsus eine ‘generatio ex putredine’ in Betracht zieht423 oder aber deren Abstammung von einem zweiten Adam. Entscheidend ist in jedem Falle, dass eine Missionierung oder eine wie auch immer geartete ‘Rückführung auf den rechten Weg’ besagter

418 Vgl. ebda., S. 158–162. 419 Ebda., S. 153 420 Ebda., S. 172, Kursivierung im Original. Vgl. «Caratteristica dell’ipotesi ofiritica [...] è quella di voler essere, oltre che (o, piú spesso, invece di) un’ipotesi genetica, una esplicita dimostrazione della validità della sapienza biblica rispetto al Nuovo Mondo» (ebda., S. 168, Kursivierung im Original). 421 Vgl. ebda., S. 338 f. 422 Dieser Name bezeichnet den von 1493/4 bis 1541 lebenden Theophrast von Hohenheim, vgl. Yves Benot: Les Indiens sauvages ont éclairé l’Europe policée, S. 31. 423 Die Hypothese besagt, dass aus dem Schlamm nach der Sintflut noch andere Lebewesen entstehen.

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Wesen zwecklos ist, da sie nicht vom Adam der Alten Welt abstammen.424 Aufgegriffen wird Paracelsus’ Theorie verstärkt ab 1537 bzw. 1538 als Reaktion auf die Bulle Inter Caetera, in der der Papst den Ureinwohnern menschliche Züge zugesteht und die europäische Missionierungsaufgabe ihnen gegenüber verkündet.425 In dieser ‘Anfangszeit’ findet die polygenetische Theorie (a) bei Anhängern Englands Anklang, die sich gegen den spanischen Missionarismus und für einen freien Handel aussprechen;426 (b) bei protestantischen Franzosen, die sich gegen das katholische System sperren;427 schließlich aber auch (c) bei Spaniern selbst, um das ‘Encomienda’-System zu rechtfertigen.428 Giordano Bruno (1584) liefert in seiner «battaglia anticristiana»429 ein prototypisches Beispiel für eine antimissionarische Auslegungsrichtung. Er verschärft dabei Paracelsus’ Ansicht dahingehend, dass er die These einer Spontangenese nach der Sintflut für nicht ausreichend erachtet. Die Sintflut habe nicht überall stattgefunden; die Bibel erzähle allein die Geschichte der Hebräer, nicht die gesamte Weltgeschichte; die Natur bringe immer und überall Wesen hervor, ohne dass es sich bei dieser Handlung um einen einmaligen Akt handle. Er widerspricht Paracelsus insofern, als er die Ureinwohner sehr wohl als Menschen mit Seele bezeichnet und auch nicht der Hypothese eines zweiten Adam folgt, sondern von der Existenz einer präadamitischen Zeit ausgeht (sog. ‘Präadamiten’-These).430

424 Vgl. Giuliano Gliozzi: Adamo e il Nuovo Mondo, S. 310–313. Als Erklärung für Paracelsus’ Theorie lassen sich die «violenti sentimenti anticattolici che agitavano gli ambienti riformati tedeschi» (ebda., S. 315) heranziehen. 425 Vgl. ebda., S. 309. 426 «[I]n connessione con un’alternativa esclusivamente commerciale – e gestita privatamente – al monopolio coloniale ispano-cattolico» (ebda., S. 355, Kursivierung im Original). Zu den Anhängern Englands zählt auch der im Folgenden genannte Bruno, der sich im Kontext der ersten Reise Raleighs nach Virginia voller Bewunderung für das britische Kolonialisierungsmodell mit dem Fokus auf dem Handel ausspricht (vgl. ebda., S. 350–354). 427 Vgl. ebda., S. 365: «si consolida dapprima in quegli ambienti del protestantismo francese alla ricerca di un’alternativa politica al colonialismo spagnolo». Und doch ist das Gesamtbild uneins und etliche Autoren plädieren – trotz ihrer Spanienkritik – weiter für die Monogenese, z. B. Jean Bodin (Les six livres de la République, 1580) oder Philippe Du Plessis Mornay (De veritate religionis christianae, adversus Atheos, Epicureos, Ethnicos, Iudaeos, Mahumedistas, et caeteros Infidelis Liber, 1575), gegen den Bruno Partei ergreift. Gliozzi spricht von «l’attacco sferrato dagli ugonotti alle concezioni poligenetiche» (ebda., S. 334), da ihnen solche «teorie naturalistiche» (ebda., S. 333) unwahrscheinlich scheinen. 428 Vgl. ebda., S. 366 f. 429 Ebda., S. 348. 430 Vgl. ebda., S. 340–347. Nach Bruno argumentiert in England der einflussreiche Nicholas Hill in ganz ähnlicher Weise, vgl. ebda., S. 353.

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Zu Beginn des 17. Jahrhunderts wird der polygenetische Ansatz wieder in den Hintergrund gedrängt. Neben Befürwortern der spanischen Kolonialpolitik431 finden sich nun auch in England – aufgrund seines wachsenden Einflusses in Übersee432 – ähnliche ‘monogenetische’ Rechtfertigungsstrategien des kolonialen Handelns.433 Obschon dadurch die kritischen Stimmen gegenüber der ‘polygenetischen’ Ex-putredine-Theorie überwiegen, verhallt doch der Grundtenor des polygenetischen Ansatzes nicht: La Mothe Le Vayer wirft in seinem Des Monstres aus den 1640er Jahren einen skeptizistischen Blick auf die Lebewesen der Welt und betont, dass sich die Vielfalt der Welt nur über die Polygenese stimmig erklären lasse.434 Die bereits angesprochene ‘Präadamitenthese’ eignet sich in besonderem Maße, Widersprüche zwischen Polygenese und biblischem Ansatz auszumerzen.435 Denn durch sie konnte «la teoria antitetica per eccellenza al monogenismo giudaico-cristiano [...] paradossalmente assumere una veste biblica»,436 indem der biblischen Tradition nur in begrenztem Rahmen Gültigkeit zuerkannt wurde. Besonders virulent ist dieser ‘Präadamismus’ in Frankreich: Um sich gegen die Art der katholischen Missionierung zu sträuben, welche die Jesuiten betrieben, die seinerzeit von Richelieu protegiert wurden,437 vertritt der bereits genannte La Mothe Le Vayer (La vertu des payens, 1642) die These, dass keine Missionierung stattfinden dürfe, denn Gottes Wort sei durch Moses’ Zutun nur in der Alten Welt verbreitet worden: «la predicazione del Vangelo non fu universale».438

431 Etwa Tommaso Campanella in seinem pro-spanischen, pro-missionarischen Werk De Monarchia Hispanica (1600), das auf der monogenetischen Abstammungstheorie fußt, vgl. ebda., S. 357–363. 432 Man denke an die Eroberung Virginias im Jahre 1623. 433 Vgl. insbes. ebda., S. 365: «tutte le forze in campo nell’impresa coloniale americana che vedono minacciati i proprî presupposti ideologici dalla concezione poligenetica». Grund für die gleichbleibenden Argumentationsstrategien ist der Umstand, dass – trotz des Monopolverlusts Spaniens über die Überseekolonien – das von der katholischen Kirche vorangetriebene missionarische Tun von imminenter Bedeutung bleibt. Auch ohne Spanien als Führungsfigur betreibt die Kirche im Kontext der 1622 einberufenen Congregatio de Propaganda Fide «la [...] creazione di un’ammistrazione autonoma delle province missionarie» (ebda., S. 531). 434 Vgl. ebda., S. 520–529. Das Hauptargument gegen die Anhänger des monogenetischen Ansatzes bleibt der Umstand, «[che non] po[ssono] far poggiare la loro tesi su qualche certezza razionale» (ebda., S. 564). 435 Gliozzi spricht von ihr als der «versione biblica del poligenismo» (ebda., S. 530). 436 Ebda., S. 329 f. 437 Vgl. ebda., S. 531 f. 438 Ebda., S. 534. La Peyrères fünf Bücher der Prae-Adamitae werden in einem skizzenartigen Abriss 1642 Richelieu präsentiert, woraufhin er eine öffentliche Diffamierung über sich ergehen lassen und seine These im Privaten weiter verfolgen muss. La Peyrère führt u. a. als Argument

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Im Kontext des ausgehenden 17. Jahrhunderts, «all’epoca della restaurazione degli Stuart»439 in England und im Zuge der «organizzazione di una tratta [sc. dei neri; G.J.K.] in grande stile gestita», gewinnt die Polygenese noch stärker politische Relevanz. William Pettys bekannte Rassentheorie (1677), die sich denkbar weit von der monogenetischen «unità del genere umano»440 entfernt, rechtfertigt die Sklavenhaltung im Sinne der «interessi materiali della nascente borghesia»441 als ein natürliches ‘Menschenrecht’ auf Eigentum. Auf diese ersten entscheidenden Wurzeln einer Rassentheorie greift in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts schließlich Voltaire zurück. In seinem Essai sur les mœurs von 1756 plädiert er für die Existenz verschiedener Menschenrassen und hebt die mannigfaltige Flora und Fauna heraus, die sich in der Neuen Welt findet, welche – wenngleich «si longtemps inconnue»442 – genauso alt sei wie die Alte Welt. Als Vertreter eines radikalen Deismus, überzeugt von der Allmacht Gottes und seinem Einfluss auf die Vielgestaltigkeit der Natur,443 spricht er sich klar gegen einen einzigen örtlich begrenzten Schöpfungsakt aus. Dabei ist sein polygenetischer Ansatz im Grunde nicht weniger eng an ein Gottesbild geknüpft als dies im von den Christen vertretenen monogenetischen Ansatz der Fall war.444 Seine Polemik gilt monogenetischen Thesen von der Besiedlung der Neuen Welt durch die Nachkommen Noahs über das Meer, wie sie der Jesuit Lafitau kurz zuvor in seinen Mœurs des sauvages

an, dass die große Sintflut nur Israel getroffen habe. Dass die Taube im Genesisbericht Noah einen Ölzweig bringt, belege, dass es noch Gegenden ohne Überschwemmung geben muss, auch sei eine derart große Masse an Nachfahren Noahs in so wenigen Generationen unmöglich, was klar gegen die These einer rezenten Neuen Welt spreche. Vgl. ebda., S. 541 f., S. 553 und S. 559. 439 Ebda., S. 618. 440 Ebda., S. 601. 441 Ebda., S. 623. 442 François Marie Arouet de Voltaire: Œuvres complètes de Voltaire. Nouvelle édition. Bde. 11 und 12. Herausgegeben von Louis Moland. Paris: Garnier 1878, Bd. 11, S. 25. Vgl. S. 26: «[L]es productions naturelles de cette terre ne sont pas celles de notre hémisphère. Ainsi tout est varié». Für die Menschen gilt: «On peut réduire, si l’on veut, sous une seule espèce tous les hommes, parce qu’ils ont tous les mêmes organes de la vie, des sens et du mouvement. Mais cette espèce parut évidemment divisée en plusieurs autres dans le physique et dans le moral» (ebda., Bd. 12, S. 386). Dunkelhäutige verfügen seiner Meinung nach beispielsweise über ein «reticulum mucosum» (Bd. 11, S. 5), das sie vom kaukasischen Typ unterscheidet. 443 Vgl. Michèle Duchet: Anthropologie et histoire au siècle des Lumières, S. 292: «Dans un monde qui tire sa nécessité de Dieu seul et ne trouve qu’en lui sa plénitude, les espèces ne peuvent que conserver indéfiniment la forme qu’elles ont reçue de lui, ou disparaître». 444 «L’anthropologie voltairienne est partie intégrante d’une théologie, et demeure impuissante à séparer deux discours jusque-là confondus en un seul, à parler de l’homme sans traiter nécessairement de Dieu» (ebda., S. 299).

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américains comparés aux mœurs des premiers temps (1724) formuliert hat.445 Voltaire folgt demgegenüber der polygenetischen These Lahontans, der 1702 in seinen Mémoires sur l’Amérique septentrionale damit argumentiert hatte, dass allein klimatische Unterschiede nicht ausreichten, um die Unterschiede bzw. Veränderungen der Menschen zu erklären.446 Lahontan hatte sich entgegen der Predigten der Jesuiten, die das Ziel der Konversion über alles stellten,447 sehr kritisch gegenüber Kolonialismus, religiösem Eifer und Europazentrismus gezeigt; sein Werk, «tendente all’idealizzazione»,448 das den Eigenwert der Ureinwohner herausstellt, wurde nicht umsonst zum Vorbild Diderots. Um 1730 gilt der «polygénisme voltairien»449 als überall anerkannte wissenschaftliche These, bis schließlich Buffon zum Impulsgeber für einen – erneut modifizierten – monogenetischen Ansatz wird,450 der eine «influence décisive sur la littérature postérieure»451 ausüben sollte. In seiner 1749 begonnenen, 1774 publizierten, und bis 1789 mit weiteren Suppléments versehenen Histoire universelle, générale et particulière legt er seinen von einem Natur- zu einem Kulturzustand führenden, linearen «schéma d’évolution»452 dar. Diese Entwicklung folgt keiner göttlichen Schöpfung im Sinne einer Voltaire’schen, prädestinierten ‘loi naturelle’. Der Mensch entwickelt sich schlicht durch die ihn betreffenden Einflüsse: Durch die Blutvermengung mit Anderen, den Einfluss des Klimas und der Nahrungsmittel sowie durch die moralischen Gewohnhei-

445 Vgl. François Marie Arouet de Voltaire: Œuvres complètes de Voltaire, Bd. 11, S. 24 (im Kap. ‘De l’Amérique’): «On a trouvé des hommes et des animaux partout où la terre est habitable : qui les y a mis ? On l’a déjà dit, c’est celui qui fait croître l’herbe des champs : et on ne devait pas être plus surpris de trouver en Amérique des hommes que des mouches». Vgl. Stefania Buccini: The Americas in Italian Literature and Culture, 1700–1825, S. 28; Giuseppe Cocchiara: Il mito del buon selvaggio, S. 16; Silvio Zavala: America en el espiritu frances del siglo XVIII, S. 173. 446 Vgl. Giuliano Gliozzi: Adamo e il Nuovo Mondo, S. 610. Ferner war Lahontan – beeinflusst vom zeitgenössischen Stand der Wissenschaft – der festen Überzeugung, die Neue Welt sei zu weit entfernt, als dass man sie früher schon (ohne die Erfindung des Magneten) hätte erreichen können, vgl. Michèle Duchet: Anthropologie et histoire au siècle des Lumières, S. 262 f. 447 Vgl. Hans-Jürgen Lüsebrink: Interkulturelle Dialogizität. Europäisch-außereuropäische Dialoge bei La Hontan und Clavijero. In: Gabriele Vickermann-Ribémont/Dietmar Rieger (Hg.): Dialog und Dialogizität im Zeichen der Aufklärung, S. 58. 448 Sergio Landucci: I filosofi e i selvaggi. Bari: Laterza 1972, S. 143. 449 Michèle Duchet: Anthropologie et histoire au siècle des Lumières, S. 263; vgl. S. 286–290. 450 «L’unité du genre humain» (Tzvetan Todorov: Nous et les autres, S. 120) ist die Basis seiner Argumentation. Die Monogenese begründet er durch die Möglichkeit, dass ‘Weiße’ und ‘Schwarze’ gemeinsame Nachkommen zeugen können. 451 Ebda., S. 119. 452 Michèle Duchet: Anthropologie et histoire au siècle des Lumières, S. 247.

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ten.453 In Buffons Theorie bedingen sich die Sitten der Menschen, ihre Hautfarbe, ihre Körpergröße, ihre Nahrung gegenseitig: «Physique et moral sont indéfectiblement liés».454 Durch den ungünstigen Einfluss des noch übermäßig feuchten Klimas der Neuen Welt geht die Entwicklung der Lebewesen gebremst vonstatten.455 Nur weniger entwickelte Tiergattungen (insbesondere Reptilien) können dort heranwachsen. Es fehlt an größeren Tieren sowie an Menschen, die zwar von der Alten Welt aus eingewandert, aber durch das Klima degeneriert seien,456 wenngleich sie an sich weiterhin perfektibel seien.457 Der prototypische, wohlgeformte Mensch, der durch entsprechende Nahrung und Sitten die Chance hat, sich selbst zu verändern und sich über die Natur zu erheben, ist damit nur auf europäischen Breiten ansässig.458 Buffon geht ferner – basierend auf zeitgenössischen wissenschaftlichen Forschungsergebnissen, etwa von Hans Egede 1721

453 Damit wird trotz der monogenetischen Basis hier eine weitere Basis für die Rassentheorie gelegt, da Buffon Unter-Hierarchien einführt und eine Annäherung mancher Menschen an Tiere formuliert (vgl. ebda., S. 122–124). 454 Tzvetan Todorov: Nous et les autres, S. 126. Todorov schreibt in seiner Darlegung der Buffon’schen Ansichten sogar: «le manque de civilisation [sc. des indigènes; G.J.K.] produit la noirceur de la peau» (Ebda., S. 125 f.). 455 Die bloße Feststellung, dass ‘Amerika’ weniger dicht besiedelt sei als die Welt, findet sich freilich schon bei François Marie Arouet de Voltaire: Œuvres complètes de Voltaire, Bd. 11, S. 25: «En général, l’Amérique n’a jamais pu être aussi peuplée que l’Europe ou l’Asie; elle est couverte de marécages immenses qui rendent l’air très-malsain». 456 Ein von Buffon des Öfteren angeführtes problematisches Spezifikum der Einwohner der Neuen Welt ist ihre «indifférence pour le sexe» (Michèle Duchet: Anthropologie et histoire au siècle des Lumières, S. 265). Raynal übernimmt in seiner Histoire des deux Indes Buffons Thesen und bezeichnet nicht weniger deutlich das feuchte Klima des Neuen Kontinents als Ursprung allen Übels (nicht nur des fehlenden Sexualtriebs): «Mais un hémisphère en friche & dépeuplé, ne peut annoncer qu’un monde récent ; lorsque la mer, voisine de ses côtes, serpente encore sourdement dans ses veines. Des soleils moins ardens, des pluies plus abondantes, des neiges plus profondes, des vapeurs plus épaisses & plus stagnantes, y décelent, ou les ruines & le tombeau de la nature, ou le berceau de son enfance. La différence du climat, provenue du séjour de la mer, sur les terres de l’Amérique, ne pouvait que se faire extrêmement ressentir sur les hommes & les animaux» (Guillaume Thomas Raynal: Histoire philosophique et politique des Etablissements & du Commerce des Européens dans les deux Indes. Bd. 6, Buch 17 (anonym publiziert). Amsterdam 1773, S. 26 f.). Dem setzt Peramás in seinem Kolumbus-Epos die christliche Devise ‘Seid fruchtbar und mehret euch’ entgegen, vgl. das Motiv der ‘Arche Kolumbus’ in Kap. 2.3.4.2.2. 457 Vgl. Klaas van Berkel: «That Miserable Continent»: Cultural Pessimism and the Idea of ‘America’ in Cornelis de Pauw. In: Joost W. M. Verhoeven (Hg.): Revolutionary Histories. Romanticism in Perspective: Texts, Cultures, Histories. Palgrave Macmillan: London 2002, S. 141. 458 Vgl. Michèle Duchet: Anthropologie et histoire au siècle des Lumières, S. 253–257. Zum niederen Ausgangspunkt der Ureinwohner der Neuen Welt s. ebda., S. 246: «à un anthropocentrisme de droit divin, Buffon substitue une création continue de l’homme par l’homme. Au degré le

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zu mittelalterlichen Kolonien auf Grönland – davon aus, dass die Einwohner Perus und Mexikos von Asien aus über den Norden nach ‘Amerika’ eingewandert seien und diese so durch ihre Geschichte von gut 300 Jahren bereits einen gewissen Entwicklungsstandard erreicht hätten.459 Cornelis De Pauw führt 1768 in seinen Recherches sur les Américains Buffons These weiter aus. Seine Überzeugung von der völligen Unterlegenheit der Amerikaner aufgrund ihrer Entstehungsgeschichte ist nicht nur auf eine Radikalisierung der These Buffons zurückzuführen, sondern auch durch seine Fokusverlagerung vom naturalistisch-historischen Blickwinkel hin zu einer moralphilosophischen Perspektive.460 De Pauw pense donc que le continent de l’Amérique a été, plus tard que l’ancien, sujet à des bouleversements: inondations et tremblements de terre, et que, tout en ayant une origine aussi ancienne que les peuples de l’Europe et de l’Asie, les Américains n’avaient pu encore sortir de l’état sauvage, où le climat gouverne.461

Durch die klimatisch bedingte Benachteiligung der Bewohner der Neuen Welt ist laut De Pauw ihr Überrolltwerden durch die Europäer vorprogrammiert.462 plus bas, l’homme sauvage apparaît encore enfoncé dans l’animalité, soumis au mécanisme universel, passif et comme inerte [...] au seuil de sa propre histoire». 459 Vgl. ebda., S. 262. 460 Vgl. Klaas van Berkel: «That Miserable Continent», S. 142; Stefania Buccini: The Americas in Italian Literature and Culture, 1700–1825, S. 78; sowie Renata Carocci: Dom Pernety e Cornélius de Pauw: un aspetto della discussione settecentesca sull’uomo americano. In: V.V.A.A. (Hg.): Atti del IV Convegno Internazionale di Studi Colombiani (Genova, 21–23 ottobre 1985), vol. 2. Genf: Civica Istituzione Colombiana 1987, S. 352. 461 Michèle Duchet: Anthropologie et histoire au siècle des Lumières, S. 204. 462 Vgl. ebda., S. 207 und S. 214. Vgl. ferner Klaas van Berkel: «That Miserable Continent», S. 142: «They are lazy, weak, and cruel, they miss the appetite for the other sex that, according to De Pauw, constitues the basis of society». Obwohl Buffon den Referenzpunkt für De Pauws These darstellt, geht Buffons Argumentation doch eher in Richtung der des Dom Pernety, der die Unterlegenheit der Amerikaner entschieden von sich weist. Zentral ist in Buffons Sinne die Gleichrangigkeit der Menschen, weshalb er auch das missionarische Tun der Jesuiten in Paraguay wohlwollend betrachtet, während De Pauw jeglichem missionarischen Tun den Wert abspricht. Vgl. Michèle Duchet: Anthropologie et histoire au siècle des Lumières, S. 279 f., und Erica J. Mannucci: The Savage and the Civilised: Observations on a Dispute between an Enlightened Writer and an Illuminist. In: Haydn T. Mason (Hg.): Transactions of the Eighth International Congress of the Enlightenment/Actes du huitième congrès international des Lumières. Oxford: Voltaire Foundation 1992, S. 384. Zur Auseinandersetzung zwischen De Pauw und Dom Pernety vgl. Renata Carocci: Dom Pernety e Cornélius de Pauw, passim. 1770 publiziert Dom Pernety als Antwort auf De Pauw die Dissertation sur l’Amérique et les Américains contre les Recherches Philosophiques (1770), worauf jener mit seiner Défense des Recherches Philosophiques sur les Américains (1770) reagiert, und Dom Pernety mit seinem Examen des Recherches Philosophiques et défense de cet ouvrage (1771). Die Diskussion zwischen Dom Pernety

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Diskutiert wird im Kontext dieser Degenerationshypothese De Pauws auch, «whether settlers and animals transported there would be thwarted in their growth and degenerate»463 – ein Aspekt, der in Lesuires Epos Verarbeitung finden wird. Es bleibt festzuhalten, dass sich Buffon in seiner für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts derart einflussreichen Abstammungstheorie auf der Basis neuer wissenschaftlicher Kenntnisse im Grunde genau gegen die früher vertretene wissenschaftlich-rationale Polygenese ausspricht464 und sich so erneut in gewisser Weise älteren theologischen Vertretern des monogenetischen Ansatzes (etwa Acosta) annähert, ohne freilich auf diese früheren Vertreter als Autoritäten zu verweisen: «En 1749, il est monogéniste pour des raisons exactement inverses de celles des théologiens».465 Darauf ist nun zurückzuführen, dass sowohl die christlich-missionarisch angelegten neulateinischen Epen als auch das der Kirche skeptisch gegenüberstehende Epos Lesuires (trotz unterschiedlicher Ideologien) monogenetisch angelegt sind.

und De Pauw (1769–1771) «shows us representatives of two different European intellectual currents face to face» (Erica J. Mannucci: The Savage and the Civilised, S. 382). In Dom Pernetys Ausführungen ist stets Rousseaus Meinung von der Würde der Brüder der Anderen Welt greifbar, vgl. Renata Carocci: Dom Pernety e Cornélius de Pauw, S. 354 und S. 357. 463 Peter Boerner: The Images of America in Eighteenth Century Europe, S. 125. 464 Von der Wirkmächtigkeit der These Buffons zeugen etwa drei Bände umfassenden Sketches of the History of Man des Lord Kames von 1774, die gleichzeitig den eigenwilligen Einbau (nur eines Teils) der These erkennen lassen: Mit namentlichem Bezug auf Buffons Theorie der rezenten Neuen Welt übergeht Kames die von Buffon angeführte Einwanderung der Menschen in die Neue Welt und vertritt vielmehr einen polygenetischen Ansatz. Die Einwohner der rezenten Neuen Welt habe Gott erst deutlich nach dem Schöpfungsakt dort angesiedelt und sie stünden in keiner Verbindung zur Welt, vgl. Ann Thomson: Sauvages, barbares, civilisés : l’histoire des sociétés au XVIIIe siècle. In: Jean-Louis Chevalier/Mariella Colin u. a. (Hg.): Barbares & Sauvages. Images et reflets dans la culture occidentale. Actes du Colloque de Caen, 26–27 février 1993. Caen: Presses Universitaires 1994, S. 85 f. 465 Michèle Duchet: Anthropologie et histoire au siècle des Lumières, S. 262, Hervorh. im Original. Vgl. Edna Lemay: Histoire de l’antiquité et découverte du nouveau monde chez deux auteurs du XVIIIe siècle. In: Theodore Besterman (Hg.): Transactions of the Fourth International Congress on the Enlightenment, vol. III. Oxford: Voltaire Foundation 1976, S. 1317: «Cet aspect de sa tentative nous semble caractéristique de ce que sera toute la pensée anthropologique au XVIIIe siècle [...]: affirmer l’unité du genre humain. Cette vue des Philosophes ne fait d’ailleurs que prolonger ce que la doctrine chrétienne a toujours enseigné».

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1.4.2 Atlantis: Gleichsetzung mit der Neuen Welt und ‘missing link’ der zwei Welten Bei diesem kurzen, aber bereits hinreichend schillernden chronologischen Durchzug durch wichtige Etappen der Dichotomie ‘Monogenese vs. Polygenese’ wurden absichtlich noch einige ‘antike’ Abstammungstheorien ausgeblendet, die weitere Argumente liefern, um in Richtung polygenetischer oder monogenetischer Abstammung zu argumentieren. Von Bedeutung ist die Abstammung der Ureinwohner von klassischen antiken Völkern, wie Phöniziern, Assyrern, Ägyptern sowie von den Einwohnern des sagenumwobenen Atlantis.466 Die Hypothese der Abstammung der Bewohner der Neuen Welt von den Karthagern wird bereits von Oviedo flankierend zur Hesperidenthese ins Feld geführt und hat ihren Ausgangspunkt im pseudoaristotelischen Text De mirabilibus auscultationibus:467 Karthager seien an den Säulen des Herkules vorbei auf eine unbewohnte Insel gelangt. Nach der Meldung des Fundes sei jedoch ein «divieto dei supremi magistrati di Cartagine»468 ergangen, das einen erneuten Besuch der Insel verboten habe. Als Grund wird die Furcht der Karthager vor der Konkurrenz mit anderen Völkern um die Insel sowie vor einer zukünftigen Auflehnung der unterworfenen Inselbewohner angeführt.469 Insgesamt liefert die Karthagerthese zwar eine Argumentation für die Besiedlung der Neuen Welt durch die Alte, doch bleibt sie eher randständig, was sich primär auf die fehlende ideologische Nutzbarmachung der These zu pro-spanischen Zwecken zurückführen lässt: Sie ist in diesem Punkt weniger griffig als die Hesperidenthese, da sich ein Konnex zwischen Karthagern und Spaniern als schwieriger erweist.470 Acosta lehnt eine Bevölkerung der Neuen Welt durch die Karthager

466 Vgl. Lyon Sprague de Camp: Lost Continents, S. 30 f.; Heinz Hofmann: Über die Langsamkeit des Wandels von Weltbildern, S. 40. Speziell in der Lektüre des platonischen Berichts über Atlantis und des pseudo-aristotelischen Berichts von der Fahrt der Karthager in die Neue Welt sehen u. a. Las Casas, Ramusio und Gómara einen entscheidenden Impulsgeber für Kolumbus’ Fahrten, vgl. Giuliano Gliozzi: Adamo e il Nuovo Mondo, S. 279 f. 467 Vereinfachend wird von der ‘Karthagerthese’ gesprochen. Streng genommen sollte man von Phöniziern sprechen, deren städtisches Zentrum sich zuerst in Tyros, dann in Karthago befunden hat. Entscheidend sind die durch zahlreiche Historiker (etwa Gerodot) belegten Entdeckungsfahrten der Phönizier: zu deren Afrikaumrundung sowie zum Entlangfahren an der afrikanischen Küste durch Hanno, den Seefahrer, vgl. Gabriella Amiotti: I precursori di Cristoforo Colombo nell’Atlantico e la cultura classica del grande navigatore, S. 427–429. 468 Giuliano Gliozzi: Adamo e il Nuovo Mondo, S. 248. 469 Vgl. ebda., S. 247 f.; Harold J. Cook: Ancient Wisdom, the Golden Age, and Atlantis, S. 34. 470 In der Argumentation von Floriano de Ocampo fahren die Karthager daher von Spanien aus ab. Der einzige Spanier, der die Karthagerthese vollständig unterstützt, ist Alejo Vanegas

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ab, hält aber – wie seine Nachfolger – eine Annäherung der Karthager an die Neue Welt für durchaus wahrscheinlich.471 Ähnlich wahrscheinlich gilt den Nachfolgern Acostas (allen voran dem Holländer Jean de Laet) die karthagische Umrundung Afrikas.472 Gerade Platons Bericht über den Einfluss und Untergang der westlich des europäischen Festlandes gelegenen Insel Atlantis samt ihrer Auseinandersetzung mit Ur-Athen, der auf das Wissen ägyptischer Priester zurückgeht, wurde über Jahrhunderte hinweg als ernstzunehmende These in die Abstammungsdiskussion eingespeist.473 Dort liefert Atlantis meist das notwendige Bindeglied zur Verringerung des ideologischen Gegensatzes zwischen den beiden Welten und damit zur Stützung der Monogenese. Zweifel an der Atlantissage gab es gewiss bereits in der Antike. Während Strabo oder Poseidonios für die Existenz von Atlantis plädierten, hatte sich Plinius d. Ä. schon klar dagegen ausgesprochen. Doch entscheidender als der Wahrheitsgehalt ist die Wahrscheinlichkeit des platonischen Berichts: «Atlan-

del Busto in seiner ersten Edition des Primer aparte de las diferencias de libros que hay en el universo; vgl. Giuliano Gliozzi: Adamo e il Nuovo Mondo, S. 250–254. Am ehesten wird sie von Spanienkritikern herangezogen, um beispielsweise die schlechten Sitten oder die Idolatrie der Ureinwohner zu erklären. So beim Franzosen Pierre Viret (De la vraye et fausse religion, 1560) sowie bei Garimberto; vgl. ebda., S. 257. 471 Diese abgeschwächte Version der These macht sich schließlich auch Peramás in seinem Epos zunutze. Dort wird auch der umrissene Inhalt des pseudoaristotelischen Texts umgesetzt, vgl. Kap. 3.2.2. 472 Vgl. ebda., S. 468. Acosta seinerseits hatte diese Leistung noch den Spaniern zuschreiben lassen: «il figlio di Giulio Cesare avrebbe trovato nel golfo arabico relitti di navi spagnoli, che farebbero presupporre un’avvenuta circumnavigazione dell’Africa» (ebda., S. 467). 473 Vgl. ebda., S. 173. Auch wenn der Glaube an Atlantis aus heutiger Sicht seltsam anmuten mag, legt doch gerade der jeweilige Einbau der Atlantisthese prototypisch nahe, wie die Alte Welt die Neue jeweils wahrgenommen hat. Vgl. Harold J. Cook: Ancient Wisdom, the Golden Age, and Atlantis, S. 43: «The Atlantis/America theme was certainly shaped by the changing intellectual milieu, but it was also subject to shifts in the political climate. And so, the identification of the New World as Atlantis was, for a time, an expression of enlightened scholarship about the discoveries, and not a crazy anomaly of an otherwise rational age». Lyon Sprague de Camp: Lost Continents, passim, legt zentrale Stationen der Bedeutung des Atlantis-Konzepts bis in die Gegenwart dar, über John Swan in seinem Speculum Mundi (1644) und Robert de Vangoudy (der noch 1769 Karten von Amerika publizierte, die darstellten, wie Poseidon das Land an seine 10 Söhne verteilte) bis hin zu Buffon im 18. und Humboldt im 19. Jhdt. Der Zweig des ‘Atlantism’ sei aber auch Anfang des 20. Jhdts. noch präsent in Form neuer Nachforschungen und Mythen. Die meist abstrusen Theorien setzen sich mit Fragen auseinander, wie z. B. weshalb Kontinente im Meer versinken. Nur «the ‹fringe›» dieser Bewegung ist laut Sprague de Camp ernst zu nehmen. Heute ist indes wissenschaftlich abgesichert, dass kein Kontinent je völlig verschwunden ist und Platons Bericht schlicht nicht ernstgenommen werden kann, vgl. ebda., S. 91 und S. 175.

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tis könnte wahr sein».474 Trotz so mancher Zweifel wurde die Theorie zur Abfassungszeit der Kolumbus-Epen ausgiebig diskutiert und übte unverkennbaren Einfluss aus.475 Dabei schien das christlich geprägte Mittelalter über Jahrhunderte hinweg keinen sonderlich großen «interest in remote events of mundane history, including Atlantis»476 zu zeigen; im Lexikon des Mittelalters findet sich beispielsweise kein Eintrag zu Atlantis.477 Im 15. und 16. Jahrhundert kommt Platons Bericht dann jedoch wieder verstärkt in den Blick, was sich laut Cook auf das Interesse der Zeit an der ägyptischen Kultur zurückführen lässt. Nicht nur Annius Giovanni Nanni von Viterbo hatte dafür argumentiert, dass die italische Kultur nicht von Griechenland, sondern von den Ägyptern ihren Ursprung nahm und von Osiris nach Italien gebracht wurde, auch die Vertreter des Neoplatonismus zeigen verstärktes Interesse an den ägyptischen Hieroglyphen als «symbols of the highest, most spiritual truth».478 Ferner verbindet sich die bereits eingangs im Zuge von Kolumbus’ dritter Reise erwähnte Hoffnung der Zeitgenossen auf ein neues Goldenes Zeitalter unter einem neuen Monarchen besonders einprägsam mit dem Bild des perfekten ‘goldenen’ platonischen Staates in der Neuen Welt, im neuen Atlantis. Doch wird Atlantis nicht nur als stützendes Argument für die Monogenese herangezogen: Im Veneto des 16. Jahrhunderts fungiert sie als eigenständige, wissenschaftliche und damit absichtlich ‘anti-biblische’ Erklärungsmöglichkeit.479 Zurückzuführen ist dies auf die Unabhängigkeitsbestrebungen des Veneto gegenüber dem Papst sowie gegenüber Spanien.480 Der Venetier Hieronimo Garimberto greift bei der Behandlung des 70. Problems seiner Problemi naturali,

474 Ebda., S. 17. 475 Vgl. Giuliano Gliozzi: Adamo e il Nuovo Mondo, S. 624. 476 Lyon Sprague de Camp: Lost Continents, S. 19. 477 Der Eintrag zu den Atlantischen Inseln bezeichnet nicht Atlantis, sondern die Kanaren bzw. die ‘îles fortunées’, die den Karthagern bekannt waren, aber erst von Genuesern im 13. bzw. 14. Jhdt. wieder entdeckt wurden; namentlich Madeira und die Azoren; vgl. etwa die Expedition von 1341, an der auch Kastiler teilnahmen, aber der berühmte Genueser Niccoloso da Recco, der Florentiner Angiolino del Tegghia dei Corbizzi. Vgl. Günther Hamann: Atlantische Inseln, S. 1170–1173; Florian Schaffenrath: Zur Bedeutung des Atlantis-Mythos in der lateinischen Kolumbusepik. In: Reinhold Glei (Hg.): ‘Parodia’ und Parodie: Aspekte intertextuellen Schreibens in der lateinischen Literatur der Frühen Neuzeit. Tübingen: Niemeyer 2006, S. 345; Lyon Sprague de Camp: Lost Continents, S. 15. 478 Harold J. Cook: Ancient Wisdom, the Golden Age, and Atlantis, S. 28–32, Zitat S. 29. 479 «Fracastoro, Ramusio, Garimberto [...] usarono l’Atlantide platonica come strumento di interpretazione del Nuovo Mondo» (Giuliano Gliozzi: Adamo e il Nuovo Mondo, S. 183). 480 Wohl am besten personifiziert im berühmten Gesandten am Hofe Karls V., Gasparo Contarini, der im Consilium de emendanda ecclesia (1537) Papst Paul III. Reformvorschläge für die katholische Kirche machte.

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e morali (1549) bei der Frage, wie man die Gemeinsamkeiten zwischen Ureinwohnern der Neuen und der Alten Welt erklären kann, nicht auf biblische Argumente zurück, sondern auf Atlantis und die Möglichkeit eines früheren kulturellen Austausches mit Europa.481 Giovanni Battista Ramusio setzt die Atlantisgeschichte sogar gleich an den Anfang des dritten Bandes seiner Navigationi et viaggi (1556 und erneut 1565 in Venedig),482 wo er den eigentlichen Ausführungen einen Brief an seinen Freund Girolamo Fracastoro voranstellt, in dem er den platonischen Bericht des Kritias über Atlantis darlegt und hiernach das Fazit zieht: «la verità è questa [...] pareva cosa pur troppo fuor di ragione che due parti d’esso [sc. mondo; G.J.K.] fossero abitate e l’altre prive d’uomini».483 In eben diesem Kontext ist nun auch das Lehrgedicht (und der Vorläufer der Kolumbus-Epen) Syphilis Fracastoros zu sehen. Durch die Atlantisgeschichte wird bei ihm der Ausbruch der Geschlechtskrankheit begründet: Gliozzi bezeichnet sein Vorgehen als «tentativo di spiegazione ‘scientifica’ del problema americano [sc. della sifilide; G.J.K.]».484 Als Kolumbus auf der Insel Ophir landet,485 begehen die Ureinwohner gerade die alljährliche Feier zu Ehren des Gottes Sol und bringen ihm Opfer dar. Der König berichtet vom Ursprung dieses Rituals und von der Durchführung des Opfers zur Abwendung der Krankheit. Dabei werden zwei Gründe für den Ausbruch der Krankheit gegeben. Das Volk auf Ophir stamme von Atlantis’ Einwohnern ab, die gegen die Götter gesündigt hätten und nach dem Untergang ihrer Insel nach Ophir geflohen seien.486 Fehlender christlicher Glaube und übertriebene Gier nach Luxus begründen also den Untergang der Insel. Sodann kommt erstmals die Krankheit zur Sprache: «Tum quoque haec infanda lues, quam nostra videtis | Corpora depasci, quam

481 Vgl. ebda., S. 183 f. 482 Vgl. Frauke Gewecke: Wie die neue Welt in die alte kam, S. 125. 483 Giovanni Battista Ramusio: Navigazioni e viaggi. Bd. 5. Herausgegeben von Marica Milanesi. Turin: Einaudi 1985, S. 6. 484 Giuliano Gliozzi: Adamo e il Nuovo Mondo, S. 178. 485 Vgl. Frac. Syph. 3.178: «Ophyrae littora» (zitiert nach Girolamo Fracastoro: Syphilis sive morbus gallicus. Herausgegeben von Christine Dussin. Paris: Garnier 2009). 486 So die einzig sinnvolle Interpretation des vagen Texts in Anlehnung an Richard Bruère: Oberservations on the Third Book of Fracastoro’s Syphilis. In: Lilian B. Lawler (Hg.): Studies in Honor of Ullman. St. Louis: Classical Bulletin 1960, S. 107. Vgl. die folgenden Verse aus der Syphilis (3.268–275 m. Ausl.): «heu quondam felix & chara Deum gens, | Dum coelum colere, & superis accepta referre | Maiores suevere boni: sed numina postquam | contemni coeptum est, luxu fastuque nepotum | [...] Insula [...] | Ingenti terrae concussa Atlantia motu | Corruit, absorpta Oceano».

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nulli, aut denique pauci | vitamus, divum offensis & Apollinis ira | De coelo demissa, omnes grassatur in urbes».487 Hieran schließt sich der zweite Teil des Berichts des Königs an: Der Hirte Siphilus wird aus mangelndem Respekt gegenüber Sol als Erster mit der Krankheit belegt und zu ihrem Namensgeber. Dieses Nachklappen eines weiteren Grundes für die Krankheit hat bereits Bruère mit einigem Befremden aufgenommen und bemerkt, diese zweite Erläuterung «confuses the narrative»,488 weshalb er von «a negligent, almost fortuitous, addition to Fracastoro’s poem»489 spricht. Auf die Details der Abstammung, etwa auf den Weg von Atlantis nach Ophir, wird bei Fracastoro nicht näher eingegangen. Es wird lediglich die Abstammungslinie als solche vorausgesetzt,490 wodurch auch die zeitliche Reihenfolge der beiden Teilberichte bzw. Begründungen irrelevant zu sein scheint: Ihr verbindendes Element ist die Gotteslästerung bzw. der Regelverstoß der Atlantisbewohner resp. des Siphilus.491 Im Zentrum der paganen Erklärungen aus dem Mund des weisen Königs stehen die Aspekte der göttlichen Bestrafung sowie der Reichtum der Insel mit unverkennbaren inhaltlichen Überschneidungen mit dem biblischen Sintflutmotiv und der biblischen Goldstadt Ophir. Der Vorzug vor biblischen Referenztexten wird dem Atlantismotiv auch in der Hispania Victrix, o Historia General de las Indias gegeben, die der in klassischer Literatur beflissene Francisco López de Gómara 1522 abfasste, und die einen der Dreh- und Angelpunkte der Atlantisrezeption im 16. Jahrhundert ausmacht:492 Als erster Spanier geht Gómara von der Gleichsetzung der Neuen Welt mit Atlantis aus.493 Nach ihrem damaligen Untergang sei die Insel Atlantis bzw. die Neue Welt erst jüngst wieder aufgetaucht, noch unbetreten und stehe in keiner Verbindung zur Alten Welt. Durch diese Trennung der Welten wird das Annexionsrecht der spanischen Krone auf überseeische Gebiete negiert und

487 3.282–285. 488 Richard Bruère: Oberservations on the Third Book of Fracastoro’s Syphilis, S. 108. 489 Ebda., S. 112. Der Zweck dieser zweiten Erläuterung liegt im Aition des Namens ‘Syphilis’ und im Versuch, ein Gleichgewicht zur (in einer Vorab-Version des Gedichts als Höhepunkt gedachten) Ilceus-Geschichte im zweiten Buch zu schaffen. 490 Vgl. «nos [...] de stirpe profecti» (3.267). 491 Florian Schaffenrath: Zur Bedeutung des Atlantis-Mythos in der lateinischen Kolumbusepik, S. 348, verbindet die beiden Teile ähnlich: «Wenn der Text auch an dieser Stelle [...] etwas unklar ist, scheint doch die Syphilis ein Teil der Katastrophe gewesen zu sein, die die Atlanter ins Verderben stieß». 492 Vgl. Israel Villalba de la Güida: Virgilianismo y tradución clásica en la épica neolatina de tema colombino, S. 63; Harold J. Cook: Ancient Wisdom, the Golden Age, and Atlantis, S. 34. 493 Lyon Sprague de Camp: Lost Continents, S. 29, spricht von der «Atlantis-in-America theory».

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Cortés als Entdeckerfigur ins rechte Licht gerückt.494 Die Bedeutung, die Gómara dem Atlantisbericht zumisst, spiegelt sich in fast allen folgenden Berichten des 16. Jahrhunderts wider. Das umfasst nicht nur allgemein die Bedeutung des Atlantisberichts für Kolumbus und seine Fahrt,495 sondern die In-Eins-Setzung von Atlantis und ‘Amerika’ stößt nach Gómara auf wohlwollende Aufnahme, speziell bei Pietro Martire und Las Casas.496 Vor Gómara wurde Atlantis ausschließlich, nach ihm weiterhin vorwiegend als Zwischenstufe und «come antico collegamento terrestre»497 gesehen. Der Einbezug von Atlantis dient demnach auch nach Gómara ungebrochen der prospanischen Argumentation und richtet sich gegen die Autonomie der Neuen von der Alten Welt. Als Hauptvertreter dieser Hypothese lässt sich Agustín de Zárate mit seiner Historia de descubrimento y conquista del Peru (1555) ins Feld führen.498 Und doch hinterlässt Gómaras These speziell außerhalb Spaniens weitreichende Spuren: Ähnlich wie er distanziert sich Montaigne von einem biblischen, prädestinierten Anrecht auf die Neue Welt und stellt die «novità del Nuovo Mondo»,499 ihren jugendlichen Zustand heraus. Montaigne führt die Atlantisthese zwar schließlich ad absurdum, lässt sich aber zuerst ein Stück weit auf sie ein, soweit sie seiner Hypothese der «pluralité de mondes»,500 der parallelen Weltentwicklung der Alten und Neuen Welt und seinen philosophisch-kosmographische Überlegungen zur Weltentstehung nicht abträglich ist.501 Er spricht sich (anders als Gómara) jedoch nicht für Cortés, sondern voll und ganz für eine pazifistische

494 Auf ähnliche Weise hatte sich bereits Don Hernando von der spanischen Krone distanziert, jedoch für den Annexionsanspruch aufseiten der Entdeckerfigur Christopher Kolumbus, vgl. Giuliano Gliozzi: Adamo e il Nuovo Mondo, S. 194. 495 So bei G. Benzoni, der in seiner La historia del Mondo Nuovo Kolumbus’ Platonlektüre als Motiv für die Reise nennt. 496 Eines der schlagenden Argumente ist die enorme Größe sowohl des amerikanischen als auch des atlantischen Kontinents (gemäß Platons Bericht), vgl. Harold J. Cook: Ancient Wisdom, the Golden Age, and Atlantis, S. 36. 497 Giuliano Gliozzi: Adamo e il Nuovo Mondo, S. 226; Vgl. ebda., S. 185. 498 Vgl. ebda., S. 195. Ganz ähnlich argumentieren Giusto Lipsio um 1600 sowie Tommaso Campanella und Pedro Sarmiento de Gamboa, vgl. ebda., S. 220–232. 499 Ebda., S. 213. 500 Ebda., S. 210. 501 Ayesha Ramachandran: The Worldmakers. Global Imagining in Early Modern Europe. Chicago: The University of Chicago Press 2015, S. 80, betont die Bedeutung des Atlantismotivs in Montaignes Essais: «Montaigne establishes a suggestive series of paralleles between Brazil and Atlantis [...], and between Montaigne and Solon as seekers of knowledge who journey to an

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Annexion502 aus und sieht in der Kolonialisierung den Zweck des gegenseitigen Bereicherns der Welten durch freien Handel.503 Francis Bacon leitet (in seinem utopischen Roman The New Atlantis, 1626) aus der Gómara’schen In-Eins-Setzung nicht nur – ähnlich wie Montaigne – die eigenständige Neuheit der Neuen Welt ab, sondern verbindet diese These wieder mit der Monogenese: Ganz im Sinne der politisch-ökonomischen Zielsetzung Englands zu Beginn des 17. Jahrhundert wird die spanische Annexion der Hochkulturen (Peru und Mexiko) als illegitim herausgestellt, diejenige des dünn besiedelten und hilflosen Brasilien bzw. Nordamerika (d. h. des Gebiets der englischen Kolonien) als rechtens, da hier aufgrund der atlantischen Flut das Zivilisationsniveau noch niedrig sei und der Hilfestellung bedürfe.504 Ca. 3000 Jahre vor Abfassung des Romans ist laut Bacon das seefahrerische Können der Neuen Welt größer gewesen als das der zeitgenössischen Welt. Allerdings zählten zu den seeischen Großmächten nicht nur «the great Atlantis (that you call America)»,505 sondern auch die Reiche ‘Ur-Mexiko’ und ‘Ur-Peru’.506 Während Plato nur von Atlantis’ Auseinandersetzung mit Ur-Athen berichtet, gab es einen vergleichbaren Kontakt zwischen Ur-Peru und der westlich von Peru gelegenen Insel Bensalem; durch die Atlantisflut wurde Bensalem schließlich von jeglichem Handel abgeschnitten.507 Während Atlantis gegen Gottes Gesetze verstoßen hat und der amerikanische Kontinent – und damit Nordamerika und Brasilien – erst jüngst neu entstanden und durch einige wenige überlebende «wild inhabitants of the woods»508 frisch besiedelt worden ist, konnte Bensalem seine christlichen

unknown place that might hold the key to universal understanding. Cosmographic description thus merges into philosophical inquiry [...]». 502 Cortés wird bei ihm für den ‘Kindermord’ an einer wachsenden Kultur verunglimpft, vgl. Giuliano Gliozzi: Adamo e il Nuovo Mondo, S. 203 f. 503 Vgl. ebda., S. 217–219. 504 Vgl. ebda., S. 239–246. 505 Sir Francis Bacon: The New Atlantis. In: Bacon. His Writings and his Philosophy. Bd. 1. Herausgegeben von George L. Craik. London: Knight 1846, S. 120. 506 Harold J. Cook: Ancient Wisdom, the Golden Age, and Atlantis, S. 26, spricht von «a golden age of navigation in which the Americans had participated under the more ancient name of Atlanteans». 507 Vgl. insbes. Sir Francis Bacon: The New Atlantis, S. 122: «[Y]ou must account your inhabitants of America as a young people, younger a thousand years, at the least, than the rest of the world, for that there was so much time between the universal flood and their particular inundation» und: «For the poor remnant of human seed which remained in their mountains, peopled the country again slowly, by little and little, and being simple and a savage people». 508 Ebda., S. 121. Bacon greift auf Atlantis und nicht auf die zeitgenössisch in England (in Anlehnung an Acostas ‘Landbrücke’) ebenso präsente Besiedlung durch unzivilisierte Asiaten

1.4 Abstammungstheorien und Atlantis

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Traditionen wahren.509 In Anbetracht des atlantischen Schicksals sprach er Gesetze gegen die nähere Kontaktaufnahme bzw. die «commixture of manners»510 mit ausländischen Besuchern aus, u. a. das Verbot, über das Meer in andere Gegenden zu reisen. Nur alle zwölf Jahre wird eine Expedition mit zwei Schiffen ausgesandt, um Erkenntnisse einzuholen, inwiefern Gottes Werk in dem jeweiligen Zeitraum andernorts Fortschritte gemacht hat. Spürbar verlagert sich dabei in Bacons Text der Fokus von einer immer noch greifbaren, politisch-ökonomisch motivierten Funktionalisierung der Atlantisthese – wie schon bei Montaigne – hin zu einer tieferen Auseinandersetzung mit der Weltgeschichte und der Entstehung von ‘Wissen’. Aufgrund der Tatsache, dass an Platons Atlantisbericht in vielfältiger Weise angeknüpft werden kann – von Gedanken zum ‘besten Staat’, zur kosmographisch-philosophischen Sicht auf die Weltentstehung oder zur Weiterleitung von Wissen511 – bleibt die Atlantisthese insgesamt trotz manch herber Kritik und speziell der Gegenthese einer Landbrücke, wie sie sich am einschlägigsten bei José Acostas finden lässt,512 beliebt und beliebter als die eingangs genannte Karthagertheorie. Das Nebeneinander der genannten Thesen, aus denen die Literaten schöpfen konnten, belegen besonders eindrucksvoll die De originibus americanis libri quatuor (1652) des in der niederländischen Stadt Leiden lehrenden Professors Georg Horn. Er legt eine Synthese vor, welche die Acosta-Theorie von einer Landbrücke sowie der Besiedlung über den Seeweg durch antike Karthager, die Bewohner von Atlantis und den biblischen Schiffverkehr Salomons mit Ophir verbindet. Wie Bacon tritt er gegen das spanische Vorgehen in den kultivierten Gegenden Perus und Mexikos ein und spricht sich für den positiven kolonialen Einfluss seiner eigenen Nation (der Niederlande) in Nordamerika aus, das von

(die sog. «ipotesi tartarica», Giuliano Gliozzi: Adamo e il Nuovo Mondo, S. 418) zurück; so u. a. bei Samuel Pruchas und Edward Brerewood, vgl. ebda., S. 411. 509 Vielsagend ist die Feststellung der landenden Europäer: «‹God surely is manifested in this land›» (Sir Francis Bacon: The New Atlantis, S. 113) oder die eingängige Benennung des Königs von Bensalem nach dem biblischen König Salomon. 510 Ebda., S. 123. 511 Dies weist bereits klar in Richtung der Art der Auseinandersetzung mit der Atlantisthese in der Aufklärung – und damit etwa auch in Richtung der Behandlung des Atlantisstoffs bei Lesuire, vgl. Kap. 3.2.4. 512 Giuliano Gliozzi: Adamo e il Nuovo Mondo, S. 227–232, fasst die Argumente Acostas zusammen: Neben Unterschieden in den Zeitangaben (Platon spricht von einer 9000 Jahren zurückliegenden Urzeit, Eusebius von 6000 Jahren), ist u. a. das Zusammenführen der biblischen Sintflut mit der atlantischen Flut problematisch. Bei einer Gleichsetzung müsste der Atlantisuntergang vor der Neubesiedlung der Welt durch Noah angesetzt werden, die Atlantis als Bindeglied ja erst argumentativ stützen soll.

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1 Einführendes zur Kolumbus-Epik

zu unterwerfenden Barbaren besiedelt sei. Der Einbezug der Besiedlung über den Seeweg durch ein Konglomerat der bekannten antiken Thesen dient der Erläuterung eines gewissen Niveaus basaler Zivilisation – «i piú antichi elementi culturali»513 – überall in der Neuen Welt und einer Art ‘Prolusio’ für die entscheidende Besiedlung auf dem Landweg:514 Durch sie wird der uns bereits bei Bacon begegnete Unterschied zwischen Nordamerika/Brasilien bzw. Peru/ Mexiko herausgestellt: Während Nordamerika und Brasilien von ungebildeten Tartaren, Osmanen, Hunnen – summiert unter der Bezeichnung «[gli] Sciti»515 – besiedelt worden sei, seien die Chinesen nach Peru und Mexiko eingewandert und hätten für höhere Bildung gesorgt. Auch wenn die in die Kolumbus-Epen implementierten Vorstellungen bezüglich Atlantis sowie der Abstammungstheorien mitnichten den Komplexitätsgrad eines G. Horn erreichen, wird sich dieser Durchzug als Hintergrundfolie für die folgende Analyse der Kolumbus-Epen als nützlich erweisen.

513 Ebda., S. 500. 514 Vgl. ebda., S. 500: «Conglobate cosí, sotto il nome die Fenici, le ipotesi delle navigazioni atlantiche, cartaginesi e salomoniche». 515 Ebda., S. 502.

2 Epische Modellierung des ideologischen Konflikts in den fünf Kolumbus-Epen ab 1750 2.1 Einleitendes zum Vorgehen Wie im ersten Kapitel umrissen, soll es im Hauptteil meiner Arbeit darum gehen, die fünf Kolumbus-Epen meines Korpus erstmalig und möglichst umfassend, aber auch mit dem nötigen Blick für relevante Details vorzustellen. Naheliegenderweise kreisen die – je nach Ergiebigkeit der Texte und von mir erkannten Forschungslücken – quantitativ unterschiedlich ins Gewicht fallenden Analysen stets um denselben grundlegenden Konflikt: um das Aufeinandertreffen zweier disparater ‘Welten’, oder besser: ‘Semiosphären’. Dieser in Anlehnung an Bernhard Huss/Gerd König/ Alexander Winkler: Chronotopik und Ideologie im Epos gewählte Begriff umfasst die zahllosen Implikationen politischer, sozialer, moralischer, ... Art, zu denen es beim Aufeinandertreffen der Kulturen der Neuen und der Alten Welt kommt und die literarisch ausgestaltet werden könnten. Eingeschränkt wird die epische Modellierung sodann durch Aspekte, wie sie in Kap. 1 skizziert wurden: Neben der historischen ‘Realität’ sind dies gerade gattungstheoretische Vorgaben. Eine Besonderheit des epischen Genres ist nun sicherlich die klar zu umreißende Liste an Motiven oder auch Topoi, die sich ausgehend von antiken Gattungsvorbildern im Laufe der Gattungsgeschichte so verfestigt haben, dass nachgerade alle AutorInnen sie in ihre Epen implementieren (müssen). Die Rede ist von Proömien, epischen Gleichnissen, dem Motiv des Seesturms, von Heldenkatalogen, konkreten Kriegsszenen mit Aristien oder auch der Veranstaltung von Leichenspielen. Diese Grundbausteine werden durch den jeweiligen Autor bzw. die jeweilige Autorin immer individuell ausgearbeitet.1 Die Grundlage meiner Epenanalyse ist das von jeder wissenschaftlichen Interpretation geforderte, feinfühlige Herauspräparieren der den Texten zugrunde liegenden speziellen Sicht auf die Welt – wozu auch eine Zusammenstellung von relevanten Indizien, wie soziokulturellen Umständen, biographischen Vorerfahrungen der AutorInnen, möglichen Auftraggebern o. Ä., nicht fehlen darf. Die spezielle Perspektivierung der geschilderten Ereignisse bedingt den textuellen Befund des Epos, seine Makrostruktur (‘Dispositio’), die auszumachenden roten Fäden und strukturgebenden Themen sowie Ringkompositionen. Dasselbe gilt im Kleinen für eher punktuell eingesetzte Motiv(blöck)e, die ihrerseits dem

1 Pierino Gallo, Sur quelques paradoxes de l’épopée au XVIIIe siècle, S. 275, spricht von einem «réarrangement des topoï». https://doi.org/10.1515/9783110732405-002

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2 Die fünf Kolumbus-Epen ab 1750

‘großen Ganzen’ zuarbeiten bzw. – je nach Sicht der Dinge – von ihm bedingt werden. All diese Arbeiten müssen für die kaum behandelten Texte unseres Korpus zum Großteil erst noch geleistet werden. Worin besteht nun also der erhoffte Mehrwert? Blicken wir für das Präzisieren unseres Erkenntnisinteresses zunächst auf die bereits gut erforschten Kolumbus-Epen des 16. und 17. Jahrhunderts bzw. beginnenden 18. Jahrhunderts. Für sie wurden die grundlegenden Vorarbeiten bereits geleistet und in Form verschiedener Übersichtsaufsätze dokumentiert. Es handelt sich um die Werke dreier italienischer und zweier deutscher Epiker, die allesamt auf Latein dichten. Es sind dies: Lorenzo Gambara, der 1581, also knapp 90 Jahre nach der eigentlichen ‘Entdeckungsfahrt’,2 mit De Navigatione Christophori Columbi (1581) das erste vollständige Kolumbus-Epos liefert. Einen kleineren, ersten epischen Versuch hat merklich früher bereits Girolamo Fracastoro im dritten Buch eines Lehrgedichts zur Syphilis gegeben (Syphilis sive morbi Gallici libri tres, 1530).3 Es folgen dann Giu-

2 Die ‘Entdeckung’ der Neuen Welt hält auch in Italien nur schleichend in die Literatur Einzug, sodass es erst relativ spät überhaupt zur Entstehung von Kolumbus-Epen kommt. Im Folgenden werden entscheidende Vorläufer auf dem Weg hin zu den ersten vollständigen italienischen Kolumbus-Epen genannt, die jedoch tatsächlich eher Ausnahmefälle darstellen: Giuliano Dati setzt in seiner Lettera de le isole che ha trovato nuovamente il re di Spagna die historischen Fakten des ersten Kolumbusbriefs aus der Neuen Welt vom 14. 2. 1492 in 68 Oktaven poetisch um. Sie wird zwischen 1493 und 1495 fünfmal neu aufgelegt und stellt trotz ihrer Abfassung in Versen die am besten erhältliche und vollständigste Version des Briefs in Italien dar. Ariosto lässt in der dritten Auflage seines Orlando furioso (1532) Astolfo im Rahmen einer geographischen Lektion in canto XV (18–36) von einer ‘strada ignota’ gen Westen berichten. Tasso spielt ebenso in canto XV seiner Gerusalemme liberata auf die Entdeckung der Neuen Welt an. Vgl. Erica Ciccarella: La «benedetta materia del Nuovo Mondo»: Tassoni e l’epos di Scoperta tra il XVI e il XVII secolo, S. 13 und S. 21 f.; Frauke Gewecke: Wie die neue Welt in die alte kam, S. 96; Robert Wallisch: Vorwort, S. 8; Vincenzo Lancetti: Il poema desiderato. In: Ricoglitore italiano e straniero 2 (1835), S. 544; Eugenio L. Giusti: La religiosità di Cristoforo Colombo tra realtà storica e rappresentazione, S. 401; Israel Villalba de la Güida: Virgilianismo y tradución clásica en la épica neolatina de tema colombino, S. 81 f.; François Jacob: Amérique épique, S. 208; Teresa Cirillo: Colombo bifronte. In: Quaderni ibero-americani 9 (1992), passim; Aldo Scaglione: A Note on Montaigne’s Des Cannibales and the Humanist Tradition, S. 64; Sergio Zatti: Nuove terre, nuova scienza, nuova poesia: la profezia epica delle scoperte. In: Ders. (Hg.): L’ombra del Tasso. Epica e romanzo nel Cinquecento. Milano: Mondadori 1996, S. 160. 3 Kolumbus’ Entdeckung der Neuen Welt wird hier implementiert, da die Syphilis erst so überhaupt ihren Weg nach Europa gefunden habe. In Form einer ‘Recusatio’ schlägt der Autor zu Beginn dieses Buches zwar das Abfassen eines Kolumbus-Epos aus (vgl. die Stelle 3.13–26 in Fracastoros Syphilis). Dabei fordert er aber seine Nachfolger dazu auf, ein eben solches zu verfassen. Streng genommen ist Fracastoro dennoch der erste, der das Kolumbusthema ausführlich und in durchaus epischer Manier in einem Buchteil in literarischer Fiktion behandelt. Erica Ciccarella: La «benedetta materia del Nuovo Mondo»: Tassoni e l’epos di Scoperta tra il

2.1 Einleitendes zum Vorgehen

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lio Cesare Stella (Columbeidos libri priores duo, 1585 bzw. 1589), Vincentius Placcius (Atlantis retecta sive De navigatione prima Christophori Columbi in Americam, 1659), Ubertino Carrara (Columbus, 1715), Johann Christian Alois Mickl (Plus Ultra seu Hispaniae Lusitaniaeque Heroum res gestae gloriosissimae, verfasst um 1730). Für die genannten Epen liegen ausführliche Inhaltsübersichten bereit, geschichtliche Hintergründe wurden erhellt und Autorintentionen nachgezeichnet. Gerade die philologische ‘Basisarbeit’ der Textedierung und -kommentierung sowie der Offenlegung von intertextuellen Referenzen und Quellentexten wurde in extenso betrieben.4 In jüngster Zeit hat Villalba de la Güida eine 900(!)-seitige Dissertation vorgelegt, die «el estudio filológico completo» der besagten fünf Epen zum Ziel hat.5 Dieses Werk liefert für uns insofern eine willkommene Arbeitsgrundlage, als dort eine Auflistung der zuvor genannten antiken «tópicos y motivos»6 gegeben wird, die in den fünf neulateinischen Kolumbus-Epen Umsetzung finden.7 Diese Liste

XVI e il XVII secolo, S. 28, weist Fracastoros Ermutigung eine «funzione di catalizzatore» für die weitere Entwicklung der Kolumbus-Epik zu. Vgl. Heinz Hofmann: La scoperta del nuovo mondo nella poesia latina, S. 71 f.; Heinz Hofmann: Enea in America. In: Sesto Prete (Hg.): Memores tui. Studi di letteratura classica ed umanistica in onore di Marcello Vitaletti. Sassoferrato: Istituto internazionale di studi Piceni 1990, S. 72; Heinz Hofmann: Adveniat tandem Typhis qui detegat orbes! Columbus in Neo-Latin Epic Poetry (15th – 18th Centuries). In: WolfgangHaase/Reinhold Meyer (Hg.): The Classical Tradition and the Americas, S. 428 f; s. für eine Inhaltsübersicht Florian Schaffenrath: Einleitung. In: Columbus. Carmen epicum (Ubertino Carrara S.J., 1715). Herausgegeben von Florian Schaffenrath. Berlin: Weidler Buchverlag 2006, S. 25 f.; s. für biographische Informationen Florian Schaffenrath: Ubertino Carrara und Tommaso Stigliani – lateinische und italienische Columbus-Epik im Vergleich. In: Marc Föcking/Gernot M. Müller (Hg.): Abgrenzung und Synthese. Lateinische Dichtung und volkssprachliche Tradition in Renaissance und Barock. Heidelberg: Winter 2007, S. 73. In ihrer Verbindung zur Atlantisthematik findet die Syphilis in Kap. 1.4.2 Erwähnung. 4 Zur Zeit des 500-jährigen Jubiläums der ‘Entdeckung Amerikas’ hat sich insbes. Heinz Hofmann als Fachmann für die Kolumbus-Epik einen Namen gemacht, vgl. die einschlägigen Einträge im Literaturverzeichnis. Er konnte sich wiederum auf weit zuvor publizierte Vorarbeiten stützen, vgl. bereits Leicester Bradner: Columbus in Sixteenth-Century Poetry, S. 15–30, zu den genannten fünf Epen. 5 Israel Villalba de la Güida: Virgilianismo y tradución clásica en la épica neolatina de tema colombino, Zitat S. 34. Gerade zu Form und Stil werden in aller Ausführlichkeit Übersichten zusammengestellt. Auf über zwölf Seiten stehen beispielsweise ausnahmslos Zitate des Kolumbus-Epos Stellas, die Übernahmen aus antiken Vorgängertexten darstellen (vgl. ebda., S. 308–320). Auf drei Seiten (ebda., S. 333–335) werden Zitate zum Topos ‘Schifffahrt’ gesammelt, um sprachliche und inhaltliche Überschneidungen mit Vorgängern zu benennen, usw. 6 Ebda., S. 131. 7 Solche Topoi werden, wenngleich weniger ausführlich, stets auch in einzelnen Übersichtsaufsätzen oder Einleitungen zu Textausgaben behandelt, vgl. zum Kolumbus-Epos Stellas z. B. Javier Sánchez Quirós: Introducción. In: Julio César Stella: La Columbeida. Herausgegeben von Javier

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2 Die fünf Kolumbus-Epen ab 1750

wird um Motive erweitert, die speziell für die Unterkategorie des ‘Kolumbus-Epos’ von Relevanz sind: Neue Varianten sind (1) einschlägige «episodios históricos»,8 also geschichtlich belegte Episoden und Fakten, wie die Inszenierung des GranadaKrieges, die Vorbereitung des Kolumbusprojekts, Kolumbus’ Ablehnung an den Königshöfen, die Ankunft in der Neuen Welt samt Landnahme sowie die Beschreibung der Ureinwohner; und (2) «los elementos o tópicos en los que se interrelacionan historia y tradición clasica»,9 also historische Momente der Fahrten, die sich für ein Überblenden mit Elementen aus dem antiken Mythos eignen, sodass in den Epen deren Zusammendenken zum Regelfall geworden ist. Das gilt z. B. für die Engführung der Abreise von Cádiz aus mit dem Verlassen der ‘Säulen des Herkules’ hin zum Topos des Überbietens mythischer Heroen. Ungeachtet der Tatsache, dass die Kolumbusthematik schon in der Anfangszeit ihrer epischen Umsetzung ein gewisses ‘Re-Fashioning’ der Gattung bedingt, bleibt die ‘ideologische Spannbreite’ dieser neulateinischen Kolumbus-Epen doch überschaubar.10 Es liegt auf der Hand, dass sich durch die Fokusverlagerung auf eine Gruppe von Kolumbus-Epen, die erst 1750, also in einem gänzlich anderen soziokulturellen und literarhistorischen Kontext entstanden sind, eine günstigere Ausgangslage für eine vergleichende Analyse der Motive ergibt: Es werden grundlegend andere Diskurse virulent, die eine ebenso grundlegende Veränderung epischer ‘Grundbausteine’ erwarten lassen. Es wird also darum gehen, aufzuzeigen, wie zeitgenössisch viel diskutierte Abstammungstheorien, Hypothesen zum Ursprung des Weltwissens, die Tendenz zum aufgeklärten Streitgespräch in Dialogform und generell die sich vollziehende Neubeurteilung des Kolonialismus auch in der oftmals als unflexibel bezeichneten Gattung ‘Epos’ zu einem spürbaren Wandel des zentralen Konflikts beitragen. Dabei kann das in jüngster Vergangenheit aufgetane spanische Kolumbus-Epos des Peramás, welcher der französischen Aufklärung skeptisch gegenübersteht, für die vier Epen aus Frankreich als Korrektiv fungieren. Unsere Analyse wird in den nächsten zwei Kapiteln Erwartbares, aber auch Unerwartetes zu Tage fördern. Wenn also z. B. der zunehmende Rekurs auf die Atlantishypothese oder auf Bibelmotive konstatiert wird, gilt es, diese ‘neuerdings’ besonders greifbaren Topoi vor dem Hintergrund antiker Vorbilder und v. a. der neulateinischen Kolumbus-Epik zu sehen, wo sie oft schon in unscheinbarer Form

Sánchez Quirós/Juan Gil. Alcañiz/Madrid: Instituto de Estudios Humanísticos/Consejo Superior de Investigaciones Cientifícas 2010, S. LXXVII–XC. 8 Ebda., S. 156. 9 Ebda., S. 156. 10 Heinz Hofmann: Aeneas in Amerika, S. 58, betont, die «Beweggründe und Absichten ihrer Dichter» seien «vielfach noch undeutlich».

2.2 Hintergrundfolie: Die frühen neulateinischen Epen ab 1750

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angelegt sind. Zu diesem Zweck ist es unerlässlich, kurz Beobachtungen zur generellen Stoßrichtung der neulateinischen Kolumbus-Epik zu formulieren, ohne – mit Blick auf den Umfang dieser Arbeit – eine auch nur im Ansatz erschöpfende Darlegung bieten zu wollen. Die neulateinischen Texte sollen vielmehr im Laufe der Behandlung der Epen ab 1750 als Vergleichs-‘Anker’ fungieren bzw. als Hintergrundfolie miteinbezogen werden. Eine solche Verlinkung der frühen neulateinischen mit der späteren volkssprachlichen Kolumbus-Epik wurde bisher nie geleistet.11

2.2 Hintergrundfolie: Epische Modellierung in den frühen neulateinischen Epen Generell gesprochen, ist das für die frühen neulateinischen Kolumbus-Epen entscheidende Kolumbusbild das eines gottgeleiteten Helden mit missionarischem Sendungsbewusstsein.12 Die Epen, die in der Regel – nach dem Vorbild der Aeneis Vergils – auf die Irrfahrten auf See (analog zur Odyssee) Kämpfe an Land (analog zur Ilias) folgen lassen, inszenieren das kriegerische Zusammentreffen mit der heidnischen Sphäre als kreuzzugsähnlichen Vorgang.13 In Anlehnung an Tassos Gerusalemme Liberata werden die von Gott unterstützten, ‘guten’ Christen den ‘bösen’, vom Teufel geleiteten Heiden gegenübergestellt.14 Gängig ist dabei die Inszenierung, nach der Gott, dessen Siegeszug von Vornherein unangezweifelt ist, schäd-

11 Bisher wurden höchstens die vier französischen Kolumbus-Epen in Überblicksdarstellungen zusammengeführt; R. Carocci ist dabei eine der wenigen AutorInnen, die alle französischen Texte kennt und zu jedem einen Aufsatz publiziert hat. Hierzu Näheres in den folgenden Unterkapiteln. 12 Vgl. u. a. Nicolaus Sallmann: Novas oras petamus!, S. 48; Heinz Hofmann: Enea in America, S. 86. 13 Vgl. Theodore J. Cachey: Italy and the Invention of America. In: The New Centennial Review 2 (2002), S. 22. Erica Ciccarella: La «benedetta materia del Nuovo Mondo»: Tassoni e l’epos di Scoperta tra il XVI e il XVII secolo, S. 159, spricht vom entscheidenden «binomio espada-cruz»; Sergio Zatti: Nuove terre, nuova scienza, nuova poesia, S. 177, von einem extremen ‘eurocentrismo cristiano’, der auf das Ausmerzen eines «pluralismo ideologico» abziele. Das gilt für Kreuzzugsgegner im Osten wie für die Neue Welt im Westen. Das Epos hat sich an dieser Stelle der Entwicklung denkbar weit vom Relativismus eines Montaigne entfernt. 14 Dabei wird ein paganes ‘merveilleux’ mit einer christlichen ‘machina’ überblendet. Heinz Hofmann: La scoperta del nuovo mondo nella poesia latina, S. 76, erkennt, dass diese tassianische Vorstellung durchaus auf historischen Äußerungen von Kolumbus selbst gründet, da dieser in seinem Reisebericht bereits von «Satans Kräfte[n]» sprach, «die [ihn] aufhalten wollen».

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2 Die fünf Kolumbus-Epen ab 1750

liche Eingriffe der Unterwelt zulässt, um die Heldenpersönlichkeiten herauszufordern. Obwohl die Unterweltgottheiten ihren bisherigen Machtbereich nicht kampflos aufgeben wollen, kommt es bei einem Großteil der Epen nachgerade zu einem ‘ideologischen Überrennen’ der Neuen Welt durch die Alte.15 Mit Blick auf diesen ‘Heroismus der Eroberung’ schreibt Hofmann speziell der äußerst vergilisch geprägten Columbeis Stellas16 unmissverständlich die Funktion der «Legitimation des Herrschaftsvolkes und seiner Siedlungspolitik»17 zu. Das kriegerische Moment dominiert hier vom ersten Vers an die Darstellung18 und kennzeichnet den konkreten Umgang mit den Ureinwohnern.19 Einige Forscher – allen voran C. Kallendorf20– schreiben der Columbeis wegen vieler Überspitzungen eine ‘Second voice’ zu, wonach auf einer zweiten Ebene implizite Kritik an den Europäern geäußert werde. Carraras Columbus21 wiederum, der im Sinne eines christlich-

15 Dieses Vorgehen lässt sich prototypisch in Carraras Columbus finden, vgl. hierzu Kap. 3.2.3. 16 Allgemeine Informationen zur Columbeis liefern u. a. Heinz Hofmann: La scoperta del nuovo mondo nella poesia latina, S. 72–74; und Heinz Hofmann: Enea in America, S. 73 f.; Israel Villalba de la Güida: Virgilianismo y tradución clásica en la épica neolatina de tema colombino, S. 265–271. Eine knappe Inhaltszusammenfassung findet sich ebda., S. 273–277 und S. 286–291, sowie bei Heinz Hofmann: Adveniat tandem Typhis qui detegat orbes!, S. 457–468, und Heinz Hofmann: La scoperta del nuovo mondo nella poesia latina, passim, insbes. ab S. 75. Javier Sánchez Quirós: Introducción, S. XXXIII–XXXVIII, gibt einen tabellarischen Überblick. S. zur Vita Stellas ebda., S. XV–XXV, und Heinz Hofmann: Adveniat tandem Typhis qui detegat orbes!, S. 454–457. Für das Epos liegen insbes. zwei Editionen vor: Die eine wurde in London (1585), die andere in Rom (1589) gedruckt. Wenngleich die inhaltliche Grobstruktur unangetastet bleibt, weisen sie deutliche Differenzen auf, die Heinz Hofmann in fünf Kategorien unterteilt. Insbes. verstärkt die Edition von 1589 das dem Epos zugrundeliegende theologische Rechtfertigungskonzept; vgl. Heinz Hofmann: La seconda edizione della Columbeis di Giulio Cesare Stella, S. 196–219. Vgl. ferner Florian Schaffenrath: Einleitung, S. 27; Heinz Hofmann: La scoperta del nuovo mondo nella poesia latina, S. 73; Israel Villalba de la Güida: Virgilianismo y tradución clásica en la épica neolatina de tema colombino, S. 280 und S. 285; Nicolaus Sallmann: Novas oras petamus!, S. 49. 17 Heinz Hofmann: Aeneas in Amerika, S. 44. 18 Schon im Proömium lässt sich das Substantiv ‘bellum’ häufig finden, vgl. Col. 1.1, 1.7 und 1.34: «pugnanda animo iam concipe bella», etc. Zitiert wird aus der Columbeis nach Iulius C. Stella: Columbeis. Boek I en II. Epos over Columbus’ ontdekking van Amerika. Herausgegeben von Heinz Hofmann. Groningen: Egbert Forsten 1993. 19 Der erste Kontakt zu den Indigenen zeichnet die Aggressivität der kriegsbegeisterten Europäer nach: Die Ureinwohner fliehen und Kolumbus stellt ihnen mit Pferden nach. Ihr Verhalten wird im projizierten Chronotopos eines epischen Gleichnisses mit ‘metzelnden’, umbrischen Jagdhunden in Eins gesetzt, vgl. Col. 1.511–513. 20 Vgl. speziell Craig Kallendorf: Enea nel ‘Nuovo Mondo’. La Columbeis di Stella e il pessimismo virgiliano. In: Studi Umanistici Piceni 23 (2003), S. 241–251, insbes. S. 246 f. 21 Für einen ersten Überblick zum Columbus s. Geneviève Demerson: La tradition antique dans la première épopée colombienne (le De nauigatione Christophori Columbi de L. Gambara).

2.2 Hintergrundfolie: Die frühen neulateinischen Epen ab 1750

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erbaulichen Konterparts für die pagane Aeneis als Schullektüre herangezogen worden sein soll,22 eröffnet solch eine ‘Second voice’ definitiv nicht. Hofmann sieht in dem Epos «a conservative Catholic reaction against the discussions of humanists and other intellectuals of his day who were pleading for a more sympathetic approach towards the Indians»23 – wobei kritische Hinweise im Sinne der ‘Légende noire’ bewusst vermieden werden. So werden die Europäer beispielsweise immer nur im Kampf gegen unwirsche Kannibalen gezeigt – die eigentlich beim Kontakt zwischen den Semiosphären bisher eher eine Nebenrolle gespielt haben.24 Noch raumgreifender als bei den beiden genannten Vorgängern werden in Mickls Plus Ultra allerorten Kriegsvorbereitungen vor Augen geführt:25 Mars und seine Kohorten

In: R. Chevallier (Hg.): Colloque L’épopée gréco-latine et ses prolongements européens. Calliope II. Paris: Les Belles Lettres 1981, S. 237–254, sowie Francisca Torres Martínez/José A. Sánchez Marín: El poema epico Columbus de Ubertino Carrara. In: Juan Gil/José M. Maestre Maestre (Hg.): Humanismo Latino y descubrimiento, S. 205–218, und insbes. Florian Schaffenrath: Einleitung, S. 9–36. Dort liefert er anschließend auch eine Inhaltsübersicht. Zusammenstellungen zu Vita und Inhalt liefert Heinz Hofmann: Enea in America, S. 77 f. und ausführlicher Heinz Hofmann: Adveniat tandem Typhis qui detegat orbes!, S. 498–571. Zu Carraras Intertexten s. Heinz Hofmann: Enea in America, S. 73. 22 Vgl. Heinz Hofmann: Enea in America, S. 77, und Heinz Hofmann: Johann Christian Alois Mickl (Abt Quirinus): Plus Ultra. Das letzte neulateinische Columbus-Epos. In: Titus Heydenreich (Hg.): Columbus zwischen zwei Welten, S. 234 f. Der Behauptung, Carraras Stil sei aufgrund dieser inhaltlich-‘religiösen’ Abgrenzung wenig vergilisch, widerspricht Florian Schaffenrath: Einleitung, S. 16. 23 Heinz Hofmann: The Discovery of America and Its Refashioning as Epic. In: Allegorica 15 (1994), S. 36; vgl. Heinz Hofmann: Adveniat tandem Typhis qui detegat orbes!, S. 648, der «a polemic against that enlightened discussion [sc. of the ‘bon sauvage’; G.J.K.]» erkennt. Laut Heinz Hofmann: Aeneas in Amerika, S. 61, ist das Epos «Vehikel eines aggressiv vorgetragenen, ideologisch mit Vorurteilen überfrachteten und historisch nicht mehr den Realitäten entsprechenden europazentrierten imperialistischen Anspruchs». 24 Das Gros der Ureinwohner wird sogar zu Beginn des Epos als ‘imbellis’ (1.107) bezeichnet. Zitiert wird aus dem Epos nach Ubertino Carrara S.J.: Columbus. Carmen epicum (1715). Herausgegeben von Florian Schaffenrath. Berlin: Weidler Buchverlag 2006. 25 Das Epos wurde erstmals 1902 von Mickls Ordensbruder Rudolf Schmidtmeyer herausgegeben. Im Titel Plus Ultra ist eine «Huldigung des Autors an seinen Kaiser» (Heinz Hofmann: Johann Christian Alois Mickl (Abt Quirinus): Plus Ultra, S. 240) zu sehen, zumal dieses Zitat auf dem habsburgischen Emblem als Motto Verwendung findet, vgl. Heinz Hofmann: Adveniat tandem Typhis qui detegat orbes!, S. 649. Einen guten Einblick in dieses Epos liefert ein Aufsatz Hofmanns, der in nahezu identischer Form viermal publiziert wurde: der betreffende Abschnitt (S. 577–610) des englischsprachigen Aufsatzes ‘Adveniat tandem Typhis qui detegat orbes!’, entspricht weitgehend dem deutschsprachigen Aufsatz ‘Johann Christian Alois Mickl (Abt Quirinus): Plus Ultra’ sowie dem italienischsprachigen Aufsatz ‘Johann Christian Alois Mickl (1711–1767): poeta neolatino e tardo umanista. Un contributo alla diffusione dell’umanesimo in Boemia nel Settecento.’ In: Studi Umanistici Piceni 12 (1992), S. 107–122. Die betreffende

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2 Die fünf Kolumbus-Epen ab 1750

sind überall zugegen,26 allegorische Gottheiten stimmen teils ohne näheren Anlass aus dem Nichts zum Krieg an.27 Dabei verwundert insbesondere die späte Abfassungszeit des Epos um 1730. Laut Hofmann dokumentiert das Epos noch stärker als Carraras Columbus knapp 20 Jahre zuvor eine völlige «Verbohrtheit der Weltanschauung»28 des deutschen Stubengelehrten Mickl. Die erste Ausnahme unter den genannten Texten stellt das erste KolumbusEpos Gambaras dar, das kriegerische Handlungen komplett ausblendet. Es fasst die vier Kolumbusfahrten in vier Bücher und hangelt sich für jede Fahrt an den historischen Fakten entlang. Bei diesem Darstellungsmuster sind Wiederholungen oder monoton anmutende Passagen nahezu unvermeidlich.29 Insgesamt lebt das Epos von seinem Lehrgedichtcharakter, von der Vielheit der besuchten idyllischen Inseln und ihren Bewohnern.30 Das Missionieren selbst spielt zwar weiter eine bedeutende Rolle, um das Christentum auf der Welt zu verbreiten. Dabei erfüllt Kolumbus aber nicht mehr die Funktion eines «miles christianus», sondern

Passage (S. 86–94) im italienischsprachigen Aufsatz ‘Enea in America’ ist eine Vorversion, die noch etwas weniger Informationen enthält. 26 Nicht umsonst beginnt das Epos Mickls bereits mit dem Verweis auf die kriegsliebenden Musen: vgl. «victrices vocant in proelia Musae» (1.11; zitiert wird nach Joannes Christianus Aloysius Mickl: Plus Ultra seu Hispaniae Lusitaniaeque res gestae gloriosissimae... In: Rudolf P. Schmidtmeyer (Hg.): «Plus Ultra.» Ein lateinisches episches Gedicht über die Entdeckung Amerikas durch Columbus verfasst von dem gekrönten Dichter Joh. Christian Alois Mickl. Wien: Verlag der Österreichischen Leo-Gesellschaft 1902, S. 123–187). Das durch und durch kriegslastige zweite Buch endet etwa mit einer Beschreibung des Kriegsgeschehens, in dem die Umgebung optisch von ‘tela’ und voranziehenden ‘agmina’, akustisch von dem ‘grave murmur’ der ‘tympana’ erfüllt wird (vgl. 2.731–734). 27 Unvermittelt ruft die ‘Religio’ etwa zum Krieg: «Tu perge citus, quo Martia virtus, | Quo superi, quo fata vocant. I fortis ad arma» (1.180 f.). 28 Heinz Hofmann: Johann Christian Alois Mickl (Abt Quirinus): Plus Ultra, S. 262. 29 Abgesehen vielleicht von Stoßgebeten an die Götter wird auf eine Götterhandlung im Sinne eines ‘merveilleux’ verzichtet. Eine detaillierte Analyse historischer Quellen liefert Israel Villalba de la Güida: Virgilianismo y tradución clásica en la épica neolatina de tema colombino, S. 200–204); Abweichungen von denselben sammelt Heinz Hofmann: Lorenzo Gambara di Brescia, passim; vgl. allgemein einführend zu diesem Epos insbes. Juan Gil: La epica latina quiñentista y el descubrimiento de America. In: Anuario de Estudios Americanos 40 (1983), S. 231–234, zudem Heinz Hofmann: Enea in America, S. 72 f. 30 Hierauf wird am Ende von Kap. 2.3.4.3 verwiesen. Vgl. Geneviève Demerson: La tradition antique dans la première épopée colombienne, S. 241 und S. 249, und Geneviève Demerson: La tradition virgilienne dans les épopées du nouveau monde. In: Annales Latini Montium Avernorum 9 (1982), S. 39. Klassische Vorbilder und intertextuelle Aufnahmen listet Israel Villalba de la Güida: Virgilianismo y tradución clásica en la épica neolatina de tema colombino, S. 210–218, auf.

2.2 Hintergrundfolie: Die frühen neulateinischen Epen ab 1750

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erhält andere «cualidades de Eneas»:31 Durch «la misericordia, el pacifismo, los valores evangélicos»32 erscheint er eher als Träger von ‘pietas’ und stoischer ‘patientia’. Gambaras «idea más amable del Descubrimiento» beinhaltet eine auffallend positive Sicht auf die Indigenen.33 Die zweite Ausnahme bildet Placcius’ Atlantis retecta,34 die ebenso keine kriegerische Handlung aufweist, sondern mit der eigentlichen Landung abbricht.35 Die ‘Ideologie’ ist bei Placcius dennoch auf eine gezielte Veränderung der Indigenen zugespitzt, wenngleich diese nicht primär missionarisch-religiös zu fassen ist.36 Vor dem Hintergrund «des aufkommenden Merkantilismus»37 in der Hansestadt Hamburg, aus welcher der Dichter stammt, sehnt sich die Personifikation von Atlantis (i. e. des Kontinents ‘Amerika’) nach Bewohnern, die sich für ihre Güter interessieren. Ihr Unmut findet in einer harschen Diatribe gegen die Indigenen ihren Niederschlag. Nicht nur an dieser Stelle demonstriert Placcius – ähnlich wie Carrara und Mickl – augenscheinlich seine negative Sicht auf die Indigenen.

31 Israel Villalba de la Güida: Virgilianismo y tradución clásica en la épica neolatina de tema colombino, S. 149. 32 Ebda., S. 245. Entscheidend sind – wie im Übrigen auch für Stella – die Folgen und Erkenntnisse des zeitgenössischen Konzils von Trient bzw. der Konterreform. Vgl. ebda., S. 94, S. 125, S. 357–371 und S. 845; Heinz Hofmann: Enea in America, S. 93. 33 Ebda., S. 233. Zum unterschiedlichen Indigenenbild von Gambara (bzw. Fracastoro) und Placcius, Mickl bzw. Carrara vgl. Heinz Hofmann: Adveniat tandem Typhis qui detegat orbes!, S. 654 f.; und Heinz Hofmann: Über die Langsamkeit des Wandels von Weltbildern, insbes. S. 42–46. 34 Zu Placcius’ Vita s. Florian Schaffenrath: Einleitung, S. 28, und Heinz Hofmann: Adveniat tandem Typhis qui detegat orbes!, S. 473. Einen Überblick über die Atlantis retecta bietet Geneviève Demerson: Pérennité du thème américain dans l’épopée: Atlantis retecta. In: Revue de littérature comparée 4 (1996), S. 487–495. 35 Vgl. Heinz Hofmann: Enea in America, S. 77. Dieses Vorgehen wird in der Forschung als intendierte Abkehr von den bisherigen Kolumbus-Epen gewertet, vgl. Heinz Hofmann: Adveniat tandem Typhis qui detegat orbes!, S. 491, und Heinz Hofmann: Aeneas in Amerika, S. 47 sowie S. 59. Eine nähere Analyse der Placcius’schen ‘Ideologie’ wird im Rahmen der Behandlung der Atlantisthematik in Kap. 3.2.1 gegeben. 36 Der Missionierungsanspruch ist in diesem Epos laut Heinz Hofmann: Adveniat tandem Typhis qui detegat orbes!, S. 493, «far less prominent». 37 Heinz Hofmann: Aeneas in Amerika, S. 59. Vgl. Israel Villalba de la Güida: Virgilianismo y tradución clásica en la épica neolatina de tema colombino, S. 139 und S. 854.

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2 Die fünf Kolumbus-Epen ab 1750

2.3 Die ideologische Diversität der fünf Kolumbus-Epen ab 1750 2.3.1 Du Boccage, La Colombiade und Bourgeois, Christophe Colomb, ou l’Amérique découverte 2.3.1.1 Annäherung an die Kolumbus-Epen ab 1750; enzyklopädische Fußnoten Von den einschlägigen Werken klassischer Vertreter der Epik (wie Homer und Vergil) und insbesondere den frühneuzeitlichen Kolumbus-Epen unterscheiden sich die beiden ersten französischen Kolumbus-Epen Du Boccages und Bourgeois’ bereits optisch, nämlich durch zahlreiche ausladende Fußnoten aus der Feder des Autors/der Autorin, welche bisweilen aus Sicht der Forschung sogar «la partie la plus intéressante du texte»38 bilden. Sie sind kein nachträgliches Beiwerk späterer KommentatorInnen oder HerausgeberInnen, sondern machen einen wesentlichen Bestandteil des epischen Texts selbst aus und erfüllen jeweils verschiedene Funktionen. R. Thomas Watsons Feststellung «they often divert our attention from the text»39 ist insofern etwas schief, als sie eben nicht (nur) separate Zusatzinformationen liefern. Sicherlich belegen sie zum einen eine gewisse aufklärerisch-enzyklopädische Dokumentationswut und Belesenheit40 und bieten einen Raum, um der Leserschaft potentiell unklare Begrifflichkeiten zu erläutern, um zur wissenschaftlichen Absicherung des Gesagten Quellen anzugeben oder um angesprochene Argumente weiterzuentwickeln.41 Hierdurch arbeiten sie dem seit jeher gattungstypischen di-

38 R. Thomas Watson: L’Amérique de Madame du Boccage, S. 24. 39 R. Thomas Watson: Forma Venus, Arte Minerva, S. 10. 40 S. etwa schon Jean-Charles Chessex: Mme du Boccage ou la belle inconnue. In: The French Review 30 (1957), S. 299, über Du Boccages Fußnoten: «son poème est moins épique (comme elle le croyait), que didactique», es bilde ein «ouvrage quasi encyclopédique» (ebda., S. 297). S. Catherine Jardin: Préface, S. 29: «L’ample documentation qu’elle a accumulée au fil de ses lectures nourrit ses notes infrapagionales – qui semblent ébaucher en parallèle, en bas du poème, une véritable encyclopédie, l’érudition rivalisant avec l’imagination poétique». 41 Dieselbe Praxis der Fußnoten wie bei Du Boccage oder Bourgeois findet sich z. B. im zeitgenössischen Epos Mexique Conquis von Boesnier (1752), in dem Cortés als Held besungen wird. S. außerdem zur Praxis der Fußnoten kurz Dietrich Briesemeister: Columbus als ‘Apostel und Eroberer’ im französischen Epos des 18. Jahrhunderts, S. 308–310; Terry M. Pratt: Of Exploration and Exploitation, S. 318. Nach Roulin sollen die Anm. eine «lecture lente» ermöglichen und dem Leser Zusatzinformationen liefern: «la note vient développer un point», «la note donne des sources ou des arguments raisonnés», «la note explicite les métaphores ou les périphrases obscures décrivant les nouvelles inventions» (jeweils Jean-Marie Roulin: L’Épopée de Voltaire à Chateaubriand, S. 41). Nur nebenbei sei auf Pierre Bayles monumentalen Dictionnaire historique et critique verwiesen, der sich ausufernder ‘enzyklopädischer Fußnoten’ bedient, in

2.3 Die ideologische Diversität der fünf Kolumbus-Epen ab 1750

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daktischen Anspruch des Epikers als ‘poeta doctus’ zu,42 den das Epos im 18. Jahrhundert nicht zuletzt laut dem bereits in Kap. 1.2.1 erwähnten Beitrag Marmontels in der Encyclopédie erfüllen soll. Die Anmerkungen unserer beiden Kolumbus-Epen erstrecken sich über ein breites Wissensspektrum, beziehen sich auf Flora, Fauna, Nahrungsmittel, Orte oder Flüsse43 der Neuen Welt und bieten Informationen über Gebrauchsgegenstände und Gepflogenheiten der dortigen Bewohner sowie allgemein gehaltene philosophische Lebensbetrachtungen oder anthropologische Konstanten.44 Als im Epos die exotische ‘ananas’ erstmals Erwähnung findet, fügt Madame Du Boccage folgende Erläuterung an: Fruit gros, pyramidal & jaune quand il est mûr. Il est composé de plusieurs tubercules unis ensemble & couronnés de feuilles vertes, pointues, & dentellées. Ce fruit a une odeur & un goût si agréable, qu’il passe pour le meilleur des Indes. (COL 15, chant I, Anm. c.)

In Bourgeois’ Anmerkung zur ‘ananas’ wird die einschlägige Stelle der Encyclopédie andiskutiert: J’ai lu avec surprise dans l’Encyclopédie, ce Dictionnaire qui peut faire honneur à notre siecle, que l’Ananas étoit originaire de l’Inde Orientale, & qu’on l’avoit transplanté en Amérique ; je n’en crois rien. (CCAD I.147 f., chant IX, Anm. 1)

Zum anderen werden diese enzyklopädischen Fußnoten auch anderweitig eingesetzt,45 ja mitunter gar spielerisch (quasi ‘interaktiv’) zum Generieren einer spannenden Lektüre nutzbar gemacht. Am häufigsten begegnet die verrät-

denen, ebenso sachlich wie polemisch, Fehler anderer Lexika richtiggestellt werden und in dem die Fußnoten oft länger sind als die Artikel selbst. 42 Trotz dieses eindeutig enzyklopädischen Anspruchs legt eine Detailanalyse der Anm. eindeutig Qualitätsmängel der Apparate offen: Hingewiesen sei auf die mangelnde Konsequenz beim Setzen von Erläuterungen: Ganz zu Beginn von Du Boccages Colombiade wird z. B. bei der Nennung der mythischen Figuren Jason und Tiphys auf eine Erklärung verzichtet (vgl. COL 3), im sechsten Gesang wird jedoch auf einmal ‘Jason’ per Anm. erklärt als «Le Chef des Argonautes» (COL 99, Anm. d). Ähnliches gilt für die Anm. zum Namen ‘Ximénès’ in COL 89, Anm. q, wobei dieser zuvor in COL 85 und 88 zweimal ohne Erläuterung erwähnt wurde. 43 Vgl. etwa CCAD I.160 (Anm. 1–3) zu Früchten wie Banane und Kartoffel; CCAD II.259 (Anm. 1) zu den Heilpflanzen Quinquina, Jalap, Ipecacuanha; CCAD II.146 (Anm. 1) über den Fluss Ozama. 44 So z. B. CCAD I.174 (Anm. 2). über die Gewohnheit der Bewohner Amerikas, ihre Haustüren nicht abzuschließen, oder CCAD I.184 (Anm. 1) über den Gebrauch der aus ‘Amerika‘ eingeführten Hängematte zur Zeit des Autors. Vgl. CCAD II.154 (Anm. 1) mit allgemeinen Ausführungen über die allen Menschen eigene Freiheit, welche er der «Nation des Negres» indes aberkennt als «un Peuple [...] fait pour la servitude». 45 In die Anm. werden auch metapoetische Aussagen über die Struktur des Epos gesetzt. In COL 154 (Anm. a) findet sich z. B. der Hinweis auf eine intendierte Ringkomposition in den chants II und IX.

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2 Die fünf Kolumbus-Epen ab 1750

selnde Umschreibung eines Sachverhalts im Text und deren Auflösung in der zugehörigen Anmerkung, sodass dem Text erst durch die Fußnote eine Lösung beigegeben wird, und der Leser bzw. die Leserin aus dem Bestehen dieses kleinen Wissenstests bzw. aus der folgenden Belehrung Lesemotivation ziehen kann. In solchen Fällen verschwimmen die Kategorien zwischen den Fußnoten und anderen Paratexten stricu sensu, wie den (dem gesamten Epos vorangestellten) ‘Préfaces’ oder (den vor die einzelnen Gesänge gesetzten, über den Inhalt Auskunft gebenden) ‘Arguments’.46 Vgl. folgende Anmerkung: QUELQU’UN mit par hasard une graine en sa bouche, Dont le goût sensiblement le touche ; L’on decide aussi-tôt, d’un visage riant, Qu’il n’est rien meilleur aux bords de l’Orient, Et que, réunissant le poivre & la canelle, La muscade, les clous, tout se retrouve en elle (1). Que d’objets séduisants pour d’avides mortels ! (1) Le Bois-d’Inde, dont la graine a presque le goût de toutes les épiceries ensemble. Il est bien surprenant qu’on le mette en France, au rang des marchandises prohibées : car il pourroit être facilement provigné dans nos Colonies & y former une branche de Commerce très-lucrative. La feuille de cet Arbre vaut mieux que le Laurier pour assaisonner les viandes. (CCAD I.148, chant IX, mit Anm. 1, Hervorh. im Original)

Auf die Spitze getrieben wird diese Technik in Du Boccages neuntem Gesang beim Durchzug durch die Kulturgeschichte Europas. In einer Prophetie wird Kolumbus ein kryptischer Blick in die Zukunft gewährt. Erst die quantitativ den eigentlichen Text überbietende Litanei an Anmerkungen erlaubt überhaupt eine sinnvolle Lektüre. Hier handelt es sich dann auch um keine Belehrung im engeren Sinne mehr, sondern um eine listenartige Aufdröselung einer ‘Allegorese’, bei der Persönlichkeiten Frankreichs der letzten Jahrhunderte mit mythischen bzw. antiken Figuren überblendet werden. Es ergibt sich eine detailliert kommentierende und dem antiken Epos fremde Spielart der dort ansonsten gängigen Verdeckungs- bzw. Allegorisierungstechnik:47

46 Die späteren Kolumbus-Epen Lesuires und Laureaus nehmen von dieser Technik der ‘Rätsel samt Lösung‘ Abstand, vgl. das Rätsel zu diversen Kulturgütern (Tabak, Baumwolle, ...) in NM II.56, dem keine Auflösung beigegeben wird. 47 Dieses Vorgehen gelehrter Anm. wird auch im Kolumbus-Epos Barlows um 1800 beibehalten (vgl. knapp Kap. 2.3.4.1): Auch dort wird ein Durchzug durch historische Persönlichkeiten geliefert: «He thus compels readers to begin educating themselves by consulting the note or by finding out who the person or persons are» (Steven Blakemore: Joel Barlow’s «Columbiad». Knoxville: The University of Tennessee Press 2007, S. 66). So soll das Epos zu einem «selfactivating educational event for the republican reader» (ebda., S. 66) werden.

2.3 Die ideologische Diversität der fünf Kolumbus-Epen ab 1750

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Chez Louis, un Sophocle (x), un nouvel Amphion (y), Un rival d’Euripide (z), un autre Anacréon (a). Surpassent en talens l’Antiquité profane : Demosthène (b) renaît, Esope (c), Aristophane (d) ; Vitruve (e), Praxitele (f), un Zeuxis (g), des Saphos (h) ; De ce regne éclatant consacrent les Héros. (x) Pierre Corneille, dit le Grand, mort en 1684, âgé de 78 ans. (y) Jean-Baptiste Lully, mort en 1687, âgé de 54 ans. (z) Jean Racine, mort en 1699, âgé de 59 ans. (a) Guillaume Amfrie, abbé de Chaulieu, mort en 1720, âgé de 84 ans. (b) Jacques-Benigne Bossuet, Evêque de Meaux, mort en 1704, âgé de 76 ans. (c) Jean de la Fontaine, mort en 1695, âgé de 74 ans. (d) Jean-Baptiste Pocquelin de Moliere, mort en 1673, âgé de 53 ans. (e) Charles Perrault, mort en 1703, âgé de 76 ans. (f) François Girardon, né à Troyes en Champagne, mort en 1715, âgé de 88 ans. [...] (g) Charles le Brun, mort en 1690, âgé de 72 ans. (h) Madame Deshoulieres, morte en 1694, âgée de 60 ans ; Madame Dacier, morte en 1720, âgée de 69 ans. (COL 165, chant IX, samt Anm.)

Mit der Feststellung dieser eher oberflächlichen Veränderung der KolumbusEpik von den Neulateinern hin zu den französischen AutorInnen wollen wir uns nun stärker inhaltlichen Aspekten zuwenden und fragen, wie sich der Kontext der Aufklärung auf die epische Modellierung des Kolumbusstoffes auswirkt. Hierbei ist auf das in die ersten beiden französischen Epen implementierte ‘aufklärerische’ Wissen einzugehen, das mit der epischen Tradition und dem dort vertretenen Niederringen paganer Heiden im Rahmen eines religiösen Krieges nicht immer problemlos zu verbinden ist. Bevor diese Fragestellung konkret in den Blick genommen werden kann, sollen die beiden frühesten VertreterInnen der Kolumbus-Epik in Frankreich knapp vorgestellt werden. 2.3.1.2 Du Boccage, La Colombiade: Einführendes, grundlegende Ideologie Die wie Voltaires Henriade in Alexandrinern geschriebene und zehn Gesänge umfassende Colombiade ist nicht nur das erste französische Kolumbus-Epos,48 es ist auch das einzige von einer Frau verfasste und zeitgenössisch durchaus viel gelesene Epos, das ebenso im nicht-frankophonen Raum eine positive

48 Jean Torlais: Christophe Colomb et sa poétesse, S. 283, meint, die Colombiade behandle «un sujet passionnant que jamais personne n’avait traité en vers».

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Resonanz erfahren hat.49 Hiervon zeugt die Aufnahme der italienischen Übersetzung von 1771 in die Übersicht der Kolumbus-Epen bei Lancetti (1835), wo zwar die französische Sprache im Gegensatz zum Italienischen, Lateinischen und Griechischen als ungeeigneter Vektor für epische Inhalte moniert wird, aber doch eine detaillierte Inhaltsübersicht über die einzelnen ‘canti’ gegeben wird.50 Die Sprachwahl bleibt nicht der einzige Kritikpunkt, dem sich die talentierte Madame Du Boccage Zeit ihres Lebens in einem von Männern dominierten Bereich gefallen lassen muss. Über ihr eindrucksvolles Leben gibt die ausführliche, bereits vor gut 90 Jahren edierte Monographie Gill-Marks (1927) solide Auskunft:51 Die 1710 in Rouen geborene, aus der ‘haute bourgeoisie’ stammende Anne-Marie Le Page wird früh ins Kloster geschickt,52 wo sie ihre Leidenschaft für klassische Literatur entdeckt53 und v. a. unter Abbé du Resnel englische Werke kennenlernt,54 zu

49 Du Boccages Colombiade ist unter den Kolumbus-Epen «[l]e poème le plus célèbre» (François Jacob: Amérique épique, S. 209). Neben Marmontels Incas genoss es zumindest zeitgenössisch noch einen relativ hohen Bekanntheitsgrad. Hiervon zeugen zahlreiche Texteditionen aus den Jahren 1756 (Paris: Dessaint et Saillant et Durand), 1758 (Paris-Liège: Bassompierre), 1758 (London: Seyffert), 1761 (Paris: Dessaint et Saillant et Durand) sowie Recueils von 1762, 1764 und 1770 (jeweils Lyon: Périsse) und Du Boccages Œuvres poétiques von 1788 (Paris: Nyon), vgl. Terry M. Pratt: Of Exploration and Exploitation, S. 319; Catherine Jardin: Préface, S. 27; R. Thomas Watson: L’Amérique de Madame du Boccage, S. 27; Jean-Claude Margolin: Pour saluer Colomb: La Colombiade d’Anne-Marie Du Boccage. In: Studi di Letteratura Francese 1 (1994), S. 248. Bédarida listet als bedeutendste Übersetzungen diejenige ins Deutsche von 1762 (Die Columbiade oder: Der in die neue Welt überbrachte Glaube, ein Heldengedicht...), diejenige ins Italienische von 1771 (La Colombiada...) aus der Feder der ‘Academici Trasformati di Milano’ sowie eine späte Übersetzung ins Portugiesische von 1893 (A Colombiada, ou, A fé levada, ao novo mundo), als das Epos in Frankreich bereits in Vergessenheit geraten ist. Vgl. Henri Bédarida: Christophe Colomb dans la littérature française, S. 431. 50 Vgl. Vincenzo Lancetti: Il poema desiderato, S. 563–565. 51 Vgl. Grace Gill-Mark: Anne-Marie Du Boccage. Une femme de lettres au XVIIIe siècle. Paris: Champion 1927, S. 3–8, und R. Thomas Watson: L’Amérique de Madame du Boccage, passim, der jedoch bei biographischen Informationen stets auf Gill-Mark rekurriert. S. Jean Torlais: Christophe Colomb et sa poétesse, S. 287, und R. Thomas Watson: Forma Venus, Arte Minerva, S. 11, der sie als eine ‘zwei Jahrhunderte vor ihrer Zeit lebende’ Simone de Beauvoir bezeichnet. Vgl. außerdem für einen Einblick in Mme Du Boccages Gesamtwerk François Bessire/Martine Reid (Hg.): Forma Venus, Arte Minerva : sur l’œuvre et la carrière d’Anne-Marie du Bocage (1710–1802). Mont Saint-Aignan: Presses Universitaires de Rouen et du Havre 2017. 52 Bestimmt hat dies ihr regional einflussreicher und für seine Sittenstrenge berühmter Vater Louis Le Page. 53 Vgl. für Du Boccages Liebe zur antiken Literatur Grace Gill-Mark: Anne-Marie Du Boccage, insbes. S. 79, S. 81 und S. 88. 54 Vgl. R. Thomas Watson: L’Amérique de Madame du Boccage, S. 4 f.

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dessen kleinem literarischen Zirkel sie ihr Leben lang Kontakt halten wird.55 Von ihrem Mann Joseph Fiquet Du Boccage – selbst Verfasser kleinerer Übersetzungen – wird sie dazu motiviert, ihre englischen und italienischen Sprachkenntnisse weiter zu vertiefen. Nachdem sie in Rouen56 1731 Voltaire persönlich hat kennenlernen dürfen, mit dem sie den berühmten Anwalt Le Cornier de Cideville zum gemeinsamen Freund hat, zieht sie schließlich nach Paris. Nach einer schwierigen Phase literarischen Schaffens gelingt es ihr durch Cidevilles Zutun, das Zielpublikum ihrer Arbeiten zu vergrößern und Kontakt zum bedeutenden Frühaufklärer Fontenelle aufzunehmen. Ihre Beziehung zu Voltaire erweist sich für sie als fruchtbar und motivierend,57 sodass sie 1746 nicht nur den ‘prix alternatif entre les sciences et les belles-lettres’ der Académie de Rouen erhält, sondern ihr 1748 auch der literarische Durchbruch gelingt – durch eine freie Adaptation von Miltons Paradise Lost. Das auf sechs Gesängeverkürzte Paradis terrestre ist die erste französische Versversion von Miltons Epos und macht sie zu einer literarischen Vorreiterin – insbesondere auf dem Gebiet seit jeher von Männern dominierten literarischen Genres.58 Ähnlichen Wagemut beweist sie, als sie 1749

55 Wie ihr Lehrer produziert sie getreue Übersetzungen aus dem Englischen, wobei v. a. Entlehnungen Popes (Le Temple de la Renommée) und freie Adaptationen Gessners (La Mort d’Abel) zu ihren bekannteren Werken zählen. 56 Rouen entwickelt sich zu dieser Zeit von einer Handelsstadt zu einem «centre intellectuel» (ebda., S. 5), in dem Voltaire seine Lettres philosophiques publiziert und die Gründung der Académie des Sciences, Belles-Lettres et Arts (1744) unterstützt. Zum zeitgenössischen Rouen s. Grace Gill-Mark: Anne-Marie Du Boccage, S. 9–17. 57 Um ihre Beziehung zu Voltaire ranken sich einige Legenden, deren historischer Wert schwer abzuschätzen ist. Belegt ist ein Brief Voltaires an Cideville, in dem er sie als ‘Sapho [sic!] de Normandie’ bezeichnet. Bei einem Besuch soll Voltaire ihr einen Lorbeerkranz auf den Kopf gesetzt haben, was sie in den Augen ihrer Kritiker als überhebliche Dichterin erscheinen lässt, die naiv an die Zuneigung ihres Vorbilds glaubt, und zur unklaren Beurteilung ihrer Beziehung zu Voltaire als «mi-flatteur mi-moqueur» (Catherine Jardin: Préface, S. 25) führt. Oft wird schlicht Voltaires Interesse an der hübschen Frau konstatiert, vgl. Jean Torlais: Christophe Colomb et sa poétesse, S. 286: «la beauté de Mme du Boccage lui [sc. Voltaire; G.J.K.] a-t-elle fait surestimer les vers de la Colombiade?»; vgl. zudem Grace Gill-Mark: Anne-Marie Du Boccage, S. 108–110. 58 Vgl. R. Thomas Watson: L’Amérique de Madame du Boccage, S. 17. Auf ihren Status als Vorreiterin weist Cécile Champonnois: Des femmes de culture et de pouvoir au dix-huitième siècle: Lady Montagu et Madame du Boccage. In: Erika Fülöp (Hg.): Cherchez la femme: Women and Values in the Francophone World. Newcastle upon Tyne: Cambridge Scholars Publishing 2011, S. 141–152, hin. Wenig verwunderlich ist, dass Du Boccage in ihrer Colombiade neben Kolumbus v. a. Frauen zu Hauptfiguren werden lässt, vgl. Jean Gillet: Le Paradis perdu dans la littérature française, S. 199.

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mit dem Bühnenstück Les Amazones aufwartet,59 und sich so im Ausland als ‘Milton français’ und ‘l’illustre Amazone’ einen Namen macht.60 Nach ihren Erfolgen reist die Kosmopolitin ab 1750 längere Zeit nach England, Holland und schließlich Italien, wodurch sie ihr Kolumbus-Epos auch außerhalb Frankreichs bekannt macht.61 Sie schließt Freundschaft mit Carlo Goldoni, Francesco Algarotti lässt ihre Colombiade unter Freunden kursieren, und das Ehrenmitglied der «littérateurs milanais qui formaient [...] le groupe des Trasformati»,62 Pietro Verri, übersetzt mit den übrigen ‘Trasformati’ ihre Colombiade, wodurch sie rückwirkend auch in Frankreich nochmals stärker rezipiert wird.63 Papst Benedikt XIV. empfängt die Autorin höchstpersönlich und nimmt die an ihn gerichtete Widmung der Colombiade freudig auf.64 Ferner sei auf ihren gut besuchten literarischen Salon verwiesen, zu dem sie ab 1758 sonntags lädt.65 Ausgehend von diesen ausgewählten biographischen Aspekten lässt sich leicht zum bisherigen Forschungsstand überleiten. Die Colombiade wird in der modernen Forschung erstmals in einer Masterarbeit von 1955 von R. Thomas Watson ausführlich behandelt, dessen einführende biographische Darstellung an keinem Punkt über eine Paraphrase Gill-Marks hinausgeht. Im Hauptteil, der sich der Darstellung der Ureinwohner in der Colombiade widmet, wird dann ein positivistisches Vorgehen an den Tag gelegt.66 Watsons Bemerkung, «l’étude 59 Das Stück scheint ein Erfolg gewesen zu sein: Der Saal sei ähnlich gefüllt gewesen wie bei Stücken Voltaires – aus Neugier an der ‘weiblichen’ Inszenierung des Bühnenstücks. Es kommt zu insgesamt elf Aufführungen; das Stück wird ferner von der comtesse de Gozzi ins Italienische übersetzt. Vgl. Grace Gill-Mark: Anne-Marie Du Boccage, S. 151–155; Catherine Jardin: Préface, S. 24. 60 Vgl. v. a. Grace Gill-Mark: Anne-Marie Du Boccage, S. 21–23. 61 Vgl. ebda., S. 99: «la ‹Muse de la Seine› a été à un moment donné l’objet des attentions flatteuses de tout ce qu’il y avait de plus distingué à Rome». 62 Ebda., S. 89. 63 Vgl. ebda., S. 89 f. und S. 96. 64 Vgl. ebda., S. 100: «qui a reçu fort gracieusement la dédicace de la Colombiade, permet à l’auteur d’aller lui baiser les pieds dans une assemblée de trente cardinaux et cinquante prélats»; «[il] passe des soirées entières à causer avec elle des livres et de belles-lettres». 65 Ihr Salon wird (ähnlich dem der Madame Geoffrin) zum Treffpunkt für französische und internationale Künstler, Dichter und Philosophen; Marmontel umschreibt die Gastgeberin mit der lateinischen Periphrase ‘Forma Venus, Arte Minerva’, vgl. Catherine Jardin: Préface, S. 25 f. Sie scheint sogar solche Berühmtheit erreicht zu haben, dass man im gelehrten Milieu Abende ihres literarischen Salons nachstellt und persifliert, vgl. Grace Gill-Mark: Anne-Marie Du Boccage, S. 42 f. Vgl. ferner R. Thomas Watson: L’Amérique de Madame du Boccage, S. 9: «pendant toute sa longue vie elle vit passer dans son salon à peu près toutes les personnes de mérite de son temps». 66 Insbes. stellt Watson den greifbaren historischen Prätexten Du Boccages die einschlägigen Passagen aus der Colombiade gegenüber. Teilweise führt dies zu einer Aneinanderreihung von Fakten, die mit einer Textanalyse kaum mehr etwas gemein hat, z. B. «En ce qui concerne les

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que nous faisons ici pourrait servir de base pour un traité plus long et plus détaillé»67 ist in den folgenden Jahrzehnten ungehört verhallt, was der Umstand belegt, dass derselbe Autor 35 Jahre später erneut einen Aufsatz lediglich einführenden Charakters zur Colombiade publiziert.68 Ähnlich knapp äußert sich eine überschaubare Anzahl von Beiträgen zur Colombiade aus den letzten Jahrzehnten. Sie behandeln einerseits Du Boccages literarische Vorbilder – von Vergil, Tasso, Milton über Voltaire – und dokumentieren mitunter minutiös, wie die Autorin in ihrem Epos ‘klassisch-epische’ Vorgaben69 sowie historische Quellen70 umzusetzen versucht. Andererseits beleuchten sie die Colombiade vor dem Hintergrund der Beurteilung der Entdeckung der Neuen Welt im philosophischen Diskurs der Aufklärung bzw. beschreiben, wie Du Boccage

cérémonies religieuses, Charlevoix parle d’un autre usage bizarre. Nous n’en avons rien trouvé dans la Colombiade, mais il est possible que Madame Du Boccage l’ait lu» (R. Thomas Watson: L’Amérique de Madame du Boccage, S. 76); daraufhin folgt der betreffende Auszug aus Charlevoix, in dem geschildert wird, wie sich Einheimische bei religiösen Zeremonien vor dem betreffenden Götterbild zum Erbrechen zwingen. An anderer Stelle wird etwa eine Vielzahl (seiner Meinung nach besonders) wohlklingender Einzelverse aus den zehn Gesängen aufgelistet «qui frappent par leur musique et par leurs images» oder die durch ihre «mélange du classique et du bizarre» herausleuchten (ebda., S. 25 f.). 67 Ebda., S. 1. 68 Vgl. R. Thomas Watson: Forma Venus, Arte Minerva. Madame Du Boccage: A Simone de Beauvoir avant la lettre. In: Simone de Beauvoir Studies 7 (1990), S. 3–13. 69 Vgl. Terry M. Pratt: Of Exploration and Exploitation, S. 297; Renata Carocci: La Colombiade di Madame Du Bocage: inizio dell’epopea colombiana. In: La scoperta dell’America e le lettere francesi 16 (1992), S. 256; R. Thomas Watson: L’Amérique de Madame du Boccage, S. 14 f.; und insbes. R. Thomas Watson: Forma Venus, Arte Minerva, S. 6, über Du Boccage als «an antiquaire at heart», die den ‘klassischen’ Normen präzise folgt. Vgl. zum «archaisme ampoulé de son style» Roland Virolle: Mme Du Boccage, Voltaire, le pape et Christophe Colomb, S. 964. Negativ über die ihr Epos erdrückenden, ‘klassischen’ Vorgaben äußert sich Georges van den Abbeele: Goodbye Columbus: Madame Du Boccage and the Migration of Identity (Or: Not Exactly «La Vie de Marianne»). In: Annali d’italianistica 1 (1996), S. 415 f. 70 Du Boccage nimmt vornehmlich Bezug auf den Historiker Charlevoix. Dessen erstes Buch von 1730 gilt hierbei als Basis-Quelle neben Du Tertres Histoire générale des Antilles (1667) und punktuell Solis’ Historia de la conquista de Mexico (1681), Garcilaso de la Vegas Commentaire royal ou l’Histoire des Yncas, rois du Peru (1634) sowie Prévosts Histoire des voyages (1754). Vgl. Renata Carocci: La Colombiade di Madame Du Bocage, S. 252–254; R. Thomas Watson: L’Amérique de Madame du Boccage, S. 38, S. 41 und insbes. S. 31: «Le réel et la fiction se juxtaposent curieusement, et c’est bien là l’un des traits les plus originaux de cette épopée». Auch JeanCharles Chessex: Mme du Boccage ou la belle inconnue, S. 299, betont jedoch die Menge an erfundenen Zusätzen. Vgl. bilanzierend Renata Carocci: La Colombiade di Madame Du Bocage, S. 257: «dato storico e reminiscenze letterarie si fondono in un universo fantastico che, se non giunge alla pura poesia, acquista una sua originalità degna di menzione».

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‘aufklärerisch-wissenschaftsaffine’ Elemente in ihr Epos integriert:71 «Les survivances classiques s’y allient de façon parfois bizarre avec le goût de l’exotisme et de la précision scientifique».72 An dieser Stelle sei auf die bisher einzige moderne Textausgabe der Colombiade von C. Jardin hingewiesen, die aus dem Jahre 1991 (samt Neuauflage von 2019) stammt.73 Sie wurde anlässlich des 500-jährigen Jubiläums der Kolumbusfahrten vorgelegt und soll den vergessenen, in den Augen der Herausgeberin aber qualitativ hochwertigen Text einem breiten Publikum zugänglich machen. Beim Versuch, für die von ihren Zeitgenossen ungerechterweise nicht immer objektiv wertgeschätzte Madame Du Boccage74 apologetisch Partei zu ergreifen, lässt sich die Herausgeberin – geleitet von einem feministischen Impetus, vgl. das Verlagshaus Côté-femmes – ihrerseits zu nicht allzu objektiven Bemerkungen verleiten.75 Indes annulliert sie durch die fragwürdige Qualität ihrer Textausgabe ihr hehres Ziel, die schriftstellerische Leistung Du Boccages wieder in den Fokus der Forschung zu rücken, geradezu selbst. Da eine Rezension der Edition bis dato kurioserweise ausgeblieben ist,76 soll hier eine kritische Durchmusterung vorgelegt werden. Zu finden sind (1) Fehler im Layout. So

71 Vgl. insbes. Renata Carocci (La Colombiade di Madame Du Bocage), Dietrich Briesemeister (Columbus als ‘Apostel und Eroberer’ im französischen Epos des 18. Jahrhunderts; una epopeya francesa de Nicolas-Louis Bourgeois sobre Santo-Domingo), Jean Gillet (Le Paradis perdu dans la littérature française), Daniel-Henri Pageaux (Colomb et le problème de la découverte de l’Amérique dans la France des Lumières), Terry M. Pratt (Of Exploration and Exploitation: the New World in Later Enlightenment Epic). Zu den jüngsten Beiträgen zählt ferner der recht allgemein gehaltene Aufsatz von Pierino Gallo, Sur quelques paradoxes de l’épopée au XVIIIe siècle: le cas de La Colombiade de Mme Du Boccage. In: Rivista di Letterature moderne e comparate 68 (2015), sowie der recht spezifische zehnseitige Aufsatz von Stefania Baragetti: Una tradizione a più voci: La Colombiade di Madame Du Boccage. In: Seicento e Settecento 8 (2013), S. 105–115, der sich der weiter oben erwähnten, 1771 edierten Übersetzung der Colombiade durch die ‘Trasformati’ widmet. 72 Henri Bédarida: Christophe Colomb dans la littérature française, S. 429. 73 Anne-Marie Du Boccage: La Colombiade ou La foi portée au Nouveau Monde (1756). Herausgegeben von Milagros Palma/Catherine Jardin. Paris: Côté-femmes 1991. 74 Zur misogynen Kritik an Du Boccage vgl. Jean-Claude Margolin: Pour saluer Colomb, S. 269, und Lepeintres Rezension der Colombiade in den Poésies diverses (1822/3), wo sie als Werk zweiten Ranges bezeichnet wird, da Frauen zu sensibel seien, um lange Werke zu verfassen. 75 Vgl. etwa die ‘Exclamatio’ «cet indigne préfacier [...]!» (Catherine Jardin: Préface, S. 27 f.) über einen Kritiker Du Boccages. 76 Jardins Ausgabe wird nur von François Jacob: Amérique épique, S. 209, erwähnt, der zwar das allzu feministisch geprägte Vorwort rügt, aber den Textbefund nicht bewertet, dessen Sichtung wohl ausblieb.

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(1a) Dubletten von Fußnoten,77 (1b) falsche Zusammenführungen von Fußnoten,78 (1c) eigens gesetzte, mit Blick auf den Inhalt fragwürdige Absätze,79 (1d) falsche Benennungen von Textteilen.80 Hinzu kommen (2) gravierende sinnentstellende Fehler. Dies sind v. a. (2a) ein völliger Ausfall der ersten 37 (!) Verse des siebten Gesangs,81 (2b) eine Dublette von 25 Versen in chant X82 und (2c) bedeutungsverändernde Buchstabenvertauschungen.83 Es ist darauf hinzuweisen, dass das Vorwort Jardins teils wortwörtlich den Aufsatz R. Virolles (1987) repliziert, wobei dieser nur eingangs in einer einzigen Fußnote kurz erwähnt und sonst nie mehr zitiert wird.84 In Anbetracht des Gesagten lässt sich am

77 Vgl. z. B. den doppelten Abdruck derselben Fußnote als Anm. 47 und Anm. 48 in AnneMarie Du Boccage: La Colombiade, S. 52. 78 Etwa verschobene Einzüge (z. B. ebda., S. 182, Anm. 31) oder das Fehlen von Fußnotenzahlen (z. B. ebda., S. 183, bei einer Anmerkung, welche die Nummer ‘34’ tragen müsste). 79 Vgl. z. B. ebda., S. 182. 80 So etwa die Ankündigung des sechsten Gesangs als ‘chant V’ ebda., S. 125. 81 Chant VII beginnt mitten im Satz nach einer Auslassung von 37 Versen mit «Lui prête dans la nuit un courage nouveau» (ebda., S. 143). 82 Direkt nacheinander werden zweimal die identischen Verse abgedruckt, vgl. ebda., S. 198 und 199, beginnend jeweils mit «Pense avec ses guerriers [...]». 83 Z. B. «ce main» (ebda., S. 79, Hervorh. hier und im Folgenden G.J.K.) statt ‘en main’; «entendre leur pouvoir» (ebda., S. 91) statt ‘étendre’; «Pu père» (ebda., S. 93) statt ‘Du père’; «Vers l’île qui le suit» und «De l’Orphée égaré ils ne virent plus les mers» (ebda., S. 125) statt ‘fuit’ und ‘mâts’; «de nos moeurs» (ebda., S. 125) statt ‘de vos moeurs’; «tome» (ebda., S. 180) statt ‘Rome’; «mon courroux» (ebda., S. 205) statt ‘ton courroux’ u.v.m. Die folgenden Ausschnitte belegen die mangelnde Sorgfalt der Editorin: (1) «Sa main avec ardeur saisit cette merveille m; | Des ses ailes d’azur il arrête l’essor, | Et jusque sur la flotte emporte ce trésor. | [...] | Zama, qui fut ces murs mêle l’ambre au corail, | Du plus beau coquillage assortissant l’émail, | Tend des traits [...]» (ebda., S. 97). (2) «[...] Colomb fait brûler les morts, et élève un tombeau à sonami. Éruption des volcans. Frayeur des sauvages. Ils consultant les magiciens. serrano déguisé apprend le projet des Indiens. [...] Macarex est vaincu par le Génois» (ebda., S. 193). (3) «Dans l’horreur que partout ces desastres répandent, | Chacun court à l’oracle, et croit, plus que jamais, | Les Européens nés du Démon des forfaits. | [...] | Vainement Vascona le rapppelle aux combats. | [...] | [...] nos mystiques travaux | A l’art des étrangers oppossent des prestiges; | [...] | Ils resemblent aux fleurs qui se fanent le soir | [...] | tout le peuple appplaudit à grands cris» (ebda., S. 197 f.). 84 Vgl. Catherine Jardin: Préface, S. 24, Anm. 3. Es bleibt zu hoffen, dass dieser von ihren Übernahmen in Kenntnis gesetzt wurde, da nicht nur punktuell Aspekte wiederholt werden. Beispielshalber sei die folgende augenscheinliche, aber kommentarlose Übernahme von Roland Virolle: Mme Du Boccage, Voltaire, le pape et Christophe Colomb, S. 956, angeführt: – Jardin, S. 29: «La matière du récit ne manque pas : en 1754 était paru le douzième tome de L’Histoire générale des voyages, compilation de l’Abbé Prévost. Ce volume était entièrement consacré aux voyages de découverte dans les Indes Occidentales avec des cartes,

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Wert der Textausgabe zweifeln, weshalb unsere Zitate der Edition von 1756 entnommen sind. Es bleibt außerdem zu konstatieren, dass auch in der Neuauflage von 2019 das Seitenarrangement beibehalten und keiner der aufgelisteten Übertragungsfehler berichtigt wurde.85 Während es für die übrigen Kolumbus-Epen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts jeweils Forschungslücken oder gewisse Schräglagen in der Sekundärliteratur zu bemängeln gibt, ist Du Boccages Epos bis dato recht zielführend beleuchtet worden, sodass aufgrund des Umfangs dieser Monographie für die Colombiade nur einige zentrale Beobachtungen zusammengestellt werden. Zuerst einmal stellt die Colombiade für die übrigen französischen Kolumbus-Epen insofern einen bedeutenden «point de répère»86 dar, als hier erstmals die Kolumbusthematik in ein französisches Epos implementiert wird. Du Boccages Nachfolger beziehen sich dementsprechend stets mehr oder minder spürbar auf diesen wichtigen Prätext oder merken explizit an, ihn gekannt zu haben.87 Wir werden im Verlauf des Hauptteils beobachten können, wie Bourgeois, Lesuire



des gravures et de nombreuses informations historiques provenant de relations de voyages de pères jésuites et d’historiens espagnols.» Virolle, S. 956: «La matière du récit ne manquait pas: en 1754 venait de paraître chez Didot, à Paris, le tome xii de L’Histoire générale des voyages compilée par l’abbé Prévost. Il était entièrement consacré aux voyages de découverte des Indes Occidentales avec cartes, gravures d’indigènes, de plantes, de danses, de temples indiens, et multiples informations historiques. Tout cela, qui rassemblait les éléments contenus dans les relations des pères jésuites et des historiens voyageurs espagnols, redonnait de l’actualité au sujet.»

Der Ankündigung auf dem Buchumschlag, in Zukunft weiter an der Colombiade forschen zu wollen, folgte vonseiten Jardins in den 25 Jahren nach der Edition des Texts keine Publikation. 85 Es sei darauf hingewiesen, dass derzeit Ina Schabert, die jüngst einen einführenden Aufsatz zur Colombiade veröffentlicht hat (vgl. Anne-Marie Du Boccage’s La Colombiade (1756). A European Poem. In: Comparatio 10 (2018), S. 1–18), an einer zweisprachigen Textausgabe arbeitet. 86 Renata Carocci: Introduction, S. 18. 87 Vgl. Renata Carocci: La Colombiade di Madame Du Bocage, S. 265: «[Madame Du Boccage; G.J.K.] ha aperto una strada nuova nella storia della poetica anche del pensiero». In seiner Arbeit zu den fünf neulateinischen Kolumbus-Epen merkt Villalba de la Güida ohne tiefergehende Kenntnisse der französischen Texte an, die betreffenden Ependichter ab 1750 seien nach Madame Du Boccage lediglich ‘auf den fahrenden Zug aufgesprungen’ und hätten wenig bedeutende Œuvres hervorgebracht: «no fueron más que composiciones improvisadas de aficionados a la poesía que participaban de esa iniciativa –entonces en boga en la Europa del ocaso del XVIII– que buscaba el poema canónico sobre el Descubrimiento» (Israel Villalba de la Güida: Virgilianismo y tradución clásica en la épica neolatina de tema colombino, S. 111).

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und Laureau bestimmte Aspekte der epischen Modellierung, die in der Colombiade bereits zugrunde gelegt sind, aufgreifen und jeweils individuell ausgestalten. Wie kein anderes Kolumbus-Epos unseres Korpus kennzeichnet die Colombiade eine ‘ideologische Uneindeutigkeit’. Sie vereint in sich eine Fülle der in Kap. 1 genannten Facetten von Kolumbus’ (Helden-)Charakter und den historisch belegten Details der Fahrten. Anders als in allen übrigen Kolumbus-Epen wird keine dieser historisch belegbaren Facetten überstrapaziert, besonders betont oder zum übergeordneten Thema bzw. roten Faden erhoben.88 Am ehesten zielt Du Boccages darauf ab, Kolumbus gleichermaßen und möglichst widerspruchsfrei (a) gattungstypisch als Träger einer religiösen Mission und heldenhaften Überbringer des Christentums zu modellieren, der die Ungläubigen der Neuen Welt missioniert; und (b) als zeitgenössisch gefeierten Überbringer ‘aufgeklärten Wissens’. Im Bestreben «[de] flatter à la fois Voltaire et Benoît XIV»89 vereint sie «la philosophie du siècle et le christianisme»90 Während sich die übrigen französischen Epen gerade in diesem Punkt stets von Vornherein klar positionieren, verquickt sie beide Themen, die ja per se dazu prädestiniert scheinen, Widersprüche zu generieren. Diese vermag die Autorin jedoch geschickt zu überspielen bzw. gar nicht erst zu thematisieren. Dasselbe gilt für weitere, damit verbundene Spannungsfelder, z. B. wie das Lob des kulturellen Fortschritts der Alten Welt auf der einen Seite und das der unberührten, von ‘bons sauvages’ bewohnten Natur der Neuen Welt auf der anderen Seite. Diese möglichst ‘integrative’ Machart des Epos wurde von der Forschung in Form kurzer Übersichtsaufsätze immer wieder

88 So ist Kolumbus etwa bei Du Boccage bereits ein seinen Gelüsten und Trieben unterlegener, fehlbarer Mensch, vgl. Jardins Hinweise auf seine «passions charnelles», sein «désir de richesses», seine «arrogance» (Catherine Jardin: Préface, S. 10). Diese Momente werden bei Bourgeois und Lesuire deutlich stärker gemacht. Kolumbus ist ebenso ein von seinem Ruhmstreben geleiteter Held; auf die entscheidenden Schlagwörter ‘honneur’ und ‘gloire’ kommt Kolumbus u. a. bei seinem Appell an seine Matrosen in COL 89 zu sprechen. Ebenso wird er von einem Wissensdurst geleitet und übt sich – nach antik-stoischem Muster – in Zurückhaltung und Demut. Schließlich ist auch bereits ein kolonisationskritischer ‘sens caché’ angelegt (vgl. Catherine Jardin: Préface, S. 35), der dann in den Epen Lesuires und Laureaus virulent wird: Auch bei Du Boccage ist Kolumbus’ Projekt der Grund für den Ausbruch des Krieges in der Neuen Welt und er bringt Leid über die Indigenen (die Tochter des Häuptlings gerät durch ihre Liebe zu Kolumbus in Verwirrung, der Vater stürzt sich aus Verzweiflung ins Meer). Insbes. nach dem letzten Kampf wird in einer Passage die «grande pietà per i vinti» (Renata Carocci: La Colombiade di Madame Du Bocage, S. 264) zum Ausdruck gebracht. So werden zum einen die negativen Folgen des «desiderio di sapere e di progredire nella conoscenza» (ebda., S. 265) untermauert; zum anderen wird Kolumbus als durchaus selbstkritisch – «consapevole del proprio tragico destino» – inszeniert. Vgl. vertiefend Kap. 2.3.3.3. 89 Roland Virolle: Mme Du Boccage, Voltaire, le pape et Christophe Colomb, S. 963. 90 Ebda., S. 961.

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konstatiert.91 Unseres Erachtens lässt sich Du Boccages eigenwillige Gratwanderung nun aber weniger eindeutig am Textbefund selbst ausmachen, als vielmehr kontrastiv, im Vergleich zu den anderen Kolumbus-Epen, plastisch herausarbeiten. Daher wird in den folgenden Kapiteln immer wieder en passant an geeigneter Stelle auf diesen Aspekt eingegangen. Die Colombiade zeichnet sich dispositorisch durch eine räumliche Trennung der zentralen Schauplätze aus: Kolumbus betritt nicht nur eine einzige Insel, sondern lernt schwerpunktmäßig zwei Neue Welten kennen, die von gänzlich anders gearteten Indigenen bewohnt werden. Er erfüllt dabei mit spürbarem Rückgriff auf Vergils Dido-Episode92 in Personalunion sowohl die

91 Diese Modellierung eines «projet [...] philosophico-chrétien» (ebda., S. 963) gelingt ihr durch wenig konkret bleibende Anspielungen und Ausarbeitungen. Der von ihr modellierte Gott «pouvait aussi bien satisfaire Voltaire que le pape, le pape que Voltaire» (ebda., S. 960). Virolle sieht in Madame Du Boccage «une femme qui cherchait à sa manière à concilier les deux principaux courants de pensée contradictoires de l’époque, à exprimer sous une forme de romanesque une tentation secrète de vie intense libérée des conventions, à profiter de ces années relativement calmes du milieu du siècle pour proposer de découvrir un nouveau monde de paix» (ebda., S. 964). Jean-Claude Margolin: Pour saluer Colomb, S. 247, schreibt, sie sei «fille des Lumières, tout autant que fille de Dieu». Überall ist die Rede von Du Boccages wenig fassbarer ‘Mittelstellung’: Catherine Jardin: Préface, S. 32, spricht davon, sie stelle die Religion zentral, und doch habe das Epos keine «véritable portée religieuse». Es gelinge der Autorin «[de c]oncili[er] la philosophie des Lumières et le christianisme». So analog Virolle: «conciliant la philosophie du siècle et le christianisme» (Roland Virolle: Mme Du Boccage, Voltaire, le pape et Christophe Colomb, S. 961). Vgl. Jean-Claude Margolin: Pour saluer Colomb, S. 249 f.: «les vertus qui sont exaltées [...] n’ont pas toutes la spécificité catholique, apostolique et romaine»; Pratt Terry M. Pratt: Of Exploration and Exploitation, S. 299: «[Columbus is] as much a crusader for the liberty of the indigenous population as an apostle of the Christian faith». Vgl. Dietrich Briesemeister: Columbus als ‘Apostel und Eroberer’ im französischen Epos des 18. Jahrhunderts, S. 317; Daniel-Henri Pageaux: Colomb et le problème de la découverte de l’Amérique dans la France des Lumières, S. 326; Renata Carocci: La Colombiade di Madame Du Bocage, S. 258. Dass das Epos vielstimmig ist, lässt sich daran erkennen, dass es auch von einem NichtKatholiken 1762 ins Deutsche übersetzt wurde. Wenngleich der Lutheraner zwar punktuell Du Boccages positive Einstellung gegenüber der Gegenreformation und «[d]e[n] Mangel einer nähern Kenntniß unsrer [sc. der protestantischen; G.J.K.] Kirche» (Anne-Marie Du Boccage: Die Columbiade, oder: Der in die neue Welt übergebrachte Glaube, ein Heldengedicht. Aus dem Französischen der Madame du Bocage prosaisch übersetzt von G.L.R. Glogau/Leipzig: Christian Friedrich Günthern 1762, S. a2v f.) tadelt, betont er doch, dass aus ihrer «Feder [...] ein gutes Herz hervor leuchtet». In Deutschland legt das Epos Colombona (1753) des Johann Jakob Bodmer einen vergleichbaren Blick auf Kolumbus, vgl. Dietrich Briesemeister: Columbus als ‘Apostel und Eroberer’ im französischen Epos des 18. Jahrhunderts, S. 311. 92 Vgl. zu diesen Aufnahmen der Aeneis Terry M. Pratt: Of Exploration and Exploitation, S. 298, und Jean-Marie Roulin: L’Épopée de Voltaire à Chateaubriand, S. 112. S. ferner Briesemeisters Hinweis auf die Modellierung des Alten Weisen der Indigenen mit dem vergilischen

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Rolle des stoischen Helden mit göttlicher Mission93 als auch die des Liebenden. Auf jeder der beiden Inseln interagiert er mit einer weiblichen, indigenen Protagonistin.94 In der ersten Werkhälfte (chants I–IV) befindet sich der Held auf einer nicht näher bestimmten idyllischen Insel, einem «Eden selvaggio», in dem «cose semplici, essenziali»95 im Zentrum stehen und «les vertus guerrières, l’ambition, l’industrie»96 für sinnlos erachtet werden. Auf dieser Insel bestimmt die jungfräuliche Zama, die Tochter des friedfertigen Häuptlings, die Handlung. «[She] portrays the idealized beauty and simplicity of the Indians»97 und erscheint als gefügige ‘Eva’ des Irdischen Paradieses.98 In der

Euander in Dietrich Briesemeister: Columbus als ‘Apostel und Eroberer’ im französischen Epos des 18. Jahrhunderts, S. 319. 93 Kolumbus erscheint immer wieder als typischer antiker Held – etwa mit einem «front tranquille» (COL 82, chant V) in Anbetracht schwieriger Situationen. Seine göttliche Mission wird eindeutig betont und insbes. auch von Kolumbus selbst immer wieder starkgemacht. So weist er z. B. auf seinen «bras, choisi du Ciel pour guider vos combats» (COL 89) hin, um so die zu meutern beginnenden Matrosen von seinem Projekt zu überzeugen. Vgl. R. Thomas Watson: L’Amérique de Madame du Boccage, S. 122 f.: «[E]lle [sc. Du Boccage; G.J.K.] n’oublie pas de justifier la mission divine de son héros. C’est alors qu’elle s’avise de peindre des sauvages cruels qui vivent dans une société païenne». U. a. wird Kolumbus in seinem Krieg gegen Vascona von Gott beschützt (vgl. COL 142, chant VIII); ihm wird ebenso vonseiten eines Himmelsboten der göttliche Auftrag erteilt, «[de] porter ses loix aux plus lointains climats» (COL 69, chant IV). Am Ende des Epos heißt es: «sûr de sa conquête, | Au Souverain des Cieux [Colomb] en consacre la Fête» (COL 183, chant X). Schon ein wenig zuvor, zu Beginn des achten Gesangs, ist die Rede davon, dass Gottes Plan sich erfüllt habe: «Le vrai culte y triomphe, & bannit de ces lieux | La secte Caraïbe esclave des faux-Dieux» (COL 132). Vgl. en passant: «Souverain Créateur, qui, présent en tout lieu, | Tiens les astres, les airs, la terre en équilibre» (COL 9 f.) und «Ces Gazons, où mon front à tes pieds se prosterna, | Sont ainsi que les Cieux l’ouvrage de tes mains : | Répands-y tes bienfaits sur ces nouveaux humains. | Pardonne les erreurs qu’y sema l’ignorance ; | Que ton culte en ces lieux prenne à jamais naissance» (COL 83, chant V). 94 Die Liebesthematik wurde von der Forschung bereits grundlegend behandelt. Ähnlich wie die Dido-Episode in der Aeneis sorgen Kolumbus’ amouröse Verstrickungen für ‘Variatio’. Sie bewirken aber auch die Gliederung des Epos in zwei Werkhälften mit merklicher Klimax: Von Roulin wird die zweite Frau, Vascona, als Inkarnation des Bösen beschrieben (vgl. Jean-Marie Roulin: L’Épopée de Voltaire à Chateaubriand, S. 112); von Watson als «vaine, ambitieuse, et cruelle», als «la servante de Satan lui-même» (R. Thomas Watson: L’Amérique de Madame du Boccage, S. 114 resp. S. 46). Durch ihre rebellische Ader wirkt sie emanzipiert und erhaben: «the author appears to prefer her to Zama and to delineate her with much more depth» (R. Thomas Watson: Forma Venus, Arte Minerva, S. 10). 95 Renata Carocci: La Colombiade di Madame Du Bocage, S. 260. 96 Jean Gillet: Le Paradis perdu dans la littérature française, S. 203. 97 R. Thomas Watson: Forma Venus, Arte Minerva, S. 10. 98 Wie Jean Gillet: Le Paradis perdu dans la littérature française, S. 202 f., betont, wird Kolumbus in vielerlei Hinsicht analog dazu als ‘Miltons Adam’ aus dessen Paradise Lost inszeniert.

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zweiten Werkhälfte (ab chant V) bestimmt die despotische Kazikin Vascona das Geschehen: Spürbar erfahrener in Liebesangelegenheiten macht sie Kolumbus eindeutige Avancen. Als diese unerwidert bleiben, initiiert sie, geleitet von einem «odio profondo»99 einen Rachefeldzug gegen die Spanier. Man muss konstatieren, dass in dieser Werkhälfte der aus den früheren Kolumbus-Epen bekannte kriegerische Unterwerfungsauftrag gegenüber den Indigenen mit Händen zu greifen scheint. Aristien und konkrete Kampfschilderungen machen einen quantitativ nicht unerheblichen Teil des Epos aus und muten mitunter gar ein wenig ‘fanatisch’ an, wenn punktuell Granada- oder Kreuzzugs-Anspielungen implementiert werden. Wenngleich Du Boccage im zweiten Teil ihres Epos die ‘Vorgaben’ der epischen Gattung erfüllt, handelt es sich doch streng genommen aus Kolumbus’ Sicht nur um einen Verteidigungskrieg.100 Ihn leitet eindeutig eine pazifistische Mission, die sich nicht mit dem ‘Gotteskampf’ der neulateinischen Epen gleichsetzen lässt.101 Nachvollziehen kann man

Außerdem wird Kolumbus etwa von einem Alten Weisen instruiert – ganz wie Adam im Irdischen Paradies seinerseits von einem Engel belehrt wurde. Ebenso analog ist die Zerstörung der beiden Paradiese modelliert: Kolumbus’ Paradies in der Neuen Welt wird ebenso aus sündhaftem Verhalten heraus zerstört werden, wie das biblische Paradies. Und Kolumbus trägt daran die entscheidende Schuld: Sein ‘désir de connaissance’, seine ‘cupidité’ und ‘ambition’ seien gleichermaßen ‘sources du péché originel’. Vgl. Terence Martin: Three Columbiads, Three Visions of the Future. In: Early American Literature 27 (1992), S. 129. 99 Renata Carocci: La Colombiade di Madame Du Bocage, S. 263. 100 Vgl. «Le héros, qui défend d’attaquer l’Amazone» (COL 139); ferner ist Vascona diejenige, die den ersten Pfeil abschießt und die kriegerischen Handlungen initiiert, vgl. COL 142. 101 Kolumbus verkörpert hierbei eine Mischung des «idéal humaniste de paix et de tolérance» und der «idées pacifistes des philosophes des Lumières». Vgl. COL 86: «Je reconnois le Dieu qui conduit nos projets : [...] mais pensez que la gloire | Est le prix de la paix plus que de la victoire. | Le Dieu de la Concorde [...] veut sans combats soumettre ce rivage : | Cherchons par la douceur à faire aimer ses loix. | [...] | Que l’union des cœurs nous donne ici l’empire». So wird denn etwa auch von Kolumbus gegenüber dem Kaziken Canaric in COL 95 die Absicht des Abschließens eines Friedensvertrages entscheidend betont. Kolumbus will kein Auslöscher von Menschenleben sein, plädiert daher für ein friedvolles Missionieren und ist daher auch ein Stück weit gefühlsbetont und ansatzweise ‘sensibel’: Vgl. insbes. den Beginn von chant IX in COL 147: «Ce Héros consterné des maux qu’il envisage, | Gémit, & dans son trouble invoque ainsi les Cieux. | Dieu juste ordonnes-tu que je sois en ces lieux | L’Ange exterminateur, qui, pour punir la terre, | Vint au camp d’Assyrie armé de ton tonnerre ? | N’étoit-ce pas assez d’en craindre le courroux ? | Falloit-il que notre art, en imitant ses coups, | Détruisît tant d’humains que ton pouvoir fit naître ? | S’ils ignorent ta loi, chez eux fais-la connoître, | Change leur soif guerriere en amour pour la paix, | Qu’ici ton nom s’annonce au bruit de tes bienfaits». Gott selbst agiert im Sinne dieser Friedensthematik, wenn er in der Mitte des fünften Gesangs etliche Schiffe der Spanier zerschellen lässt – nicht, um sie zu stra-

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diese Stoßrichtung eindrücklich anhand von Kolumbus’ Erstkontakt mit der (ersten Insel der) Neuen Welt in der ersten Werkhälfte: Wir haben es hier nicht mit einem möglichst schnellen ‘Überrennen’ der fremden Semiosphäre zu tun, sondern der Erstkontakt arbeitet eher auf ein Nivellieren ideologischer Gegensätze hin. Das gelingt v. a. dadurch, dass der Kontakt – quasi als ‘Pars pro toto’ – über die beiden Anführer der Semiosphären vonstatten geht und deren friedliches Annähern102 bzw. freundliches Miteinander fokussiert wird. Kolumbus, dem vom Häuptling freundlich Asyl gewährt wird, erforscht nicht selbständig die Insel sondern wird von ihm herumgeführt, und es kommt zu einem langen Zwiegespräch. Ausgehend von der Frage des Häuptlings nach Kolumbus’ Intentionen und seiner Herkunft gibt letzterer einen Abriss der ‘Weltgeschichte’. Neben allgemeinen Informationen zu deren Aufbau, Bewohnbarkeit und göttlicher Lenkung werden Ereignisse und Persönlichkeiten genannt, welche die Entwicklung der drei Kontinente der Alten Welt (d. h. Afrika, Asien und schließlich Europa) maßgeblich geprägt haben. Blickt man in die Appendix,103 geht der Hauptredeanteil in diesem Dialog vom «[s]çavant Navigateur» (COL 33) aus, während der alte, weise Indigene lediglich kürzere Kommentierungen einwirft. Bei seinen Ausführungen kommt Kolumbus v. a. auf wissenschaftliche Fortschritte und herausragende Denkleistungen zu sprechen. Ägypten wird als Geburtsstätte der Wissenschaft bezeichnet,104 die nach Griechenland ausstrahlt, von wo aus die ‘moderne’ Physik insofern ihren Ausgangspunkt nimmt, als dort bereits anthropomorphisierte Gottheiten für aitiologische Welterklärungen herangezogen werden. Merklich wird hierbei in Kolumbus’ Rede der zeitgenössisch beliebte, aufklärerische Diskurs über den Ursprung des ‘Wissens’ implementiert.105 Die Entwicklungen, zu denen es in der Neuen Welt noch nicht gekommen ist, werden in ihrer Linearität herausgestellt und im Ganzen positiv valorisiert. Einzelne ‘Marksteine’ werden dabei besonders betont und durch Anmerkungen vertieft, etwa wenn von Konfuzius als Chinas ‘grand Législateur’ die Rede ist, der dort gegen den Idolenglauben angekämpft habe.106 Interessanterweise bilden bei diesem Durchzug durch ‘fortschrittliche wissenschaftliche Errungenschaften’

fen, sondern um die Zahl der Spanier zu reduzieren und eine möglichst friedliche Lösung zwischen den beiden Welten zu forcieren. 102 Eingeleitet wird dies v. a. durch Kolumbus’ friedfertige Annäherung: «L’Amiral vers leur Chef, en s’inclinant, s’avance» und erläutert: «Nul projet dangereux ne dirige ma course» (COL 13). 103 Vgl. die Appendix unter ‘chant II’. 104 Vgl. «berceau des Beaux Arts» (COL 24). 105 Dieser wird insbes. in Kap. 3.2.4 noch genauere Behandlung finden. 106 Vgl. COL 23.

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immer genau solche, aus christlicher Sicht zweifelhafte Vorstellungen bzw. «erreurs» den roten Faden.107 Die ‘Translatio’ des menschlichen Wissens, seine Übergabe von einem Land zum nächsten, seine stete Modifikation sowie die immer wieder neu, mit Stolz vertretene Überzeugung, nunmehr den besten Einblick in die Geheimnisse der Welt gefunden zu haben, wird beschrieben als ewiges ‘πάντα ῥεῖ’: «Tout périt, tout varie» (COL 25). Dem werden dann die Zehn Gebote Gottes gegenübergestellt – «les seules [sc. lois; G.J.K.] immuables». Diese Stelle bildet unseres Erachtens den argumentativen Höhepunkt der Rede. Kolumbus wird eine nahezu Voltaire’sche Vorstellung in den Mund gelegt, nach der die sich stets im Wandel befindlichen, wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht auf derselben rationalen Ebene ansetzen wie Glaubensfragen oder -regeln.108 Als Kolumbus dann in seiner geographisch orientierten Darstellung bei seiner Heimat Italien angelangt ist, assoziiert er Gedanken zu menschlicher Selbstüberschätzung und Gewalttätigkeit, die im antiken Rom besonders stark sichtbar geworden seien:109 «La Liberté périt», «l’Orgueil fit la loi», «[a]u luxe [...] Rome ouvrit ses remparts» (COL 26) usw. In der Folge führt Kolumbus die schlagwortartig genannten, negativen Charakterzuschreibungen des zivilisierten Menschen in aller Knappheit110 auf den Sündenfall zurück, wodurch sie einen tieferen Sinn erhalten: Der postlapsarische Mensch sei auf ewig mit Habgier gestraft worden, doch könnten sich daraus wiederum positive Effekte ergeben,111 nicht zuletzt, weil die Menschen für weitere sündhafte Taten Strafen erwarten müssten.112

107 Vgl. COL 23, 26. 108 Vgl. hierzu eingehender Kap. 3.2.7. 109 Natürlich bevor der Papst seinen Sitz dorthin verlegt hat, vgl. «Sur un Trône où jadis régnoit l’Idolâtrie | Un Pontife sacré préside à notre foi» (COL 26). 110 Vgl. «Abrégeons ce récit» (COL 26). 111 Nähere Details und eine weiterführende Behandlung dieser Passage (mit dem Herausheben der ‘Positiva’ der menschlichen postlapsarischen Hybris) folgen in Kap. 2.3.1.4 im Vergleich mit Bourgeois. Am ehesten verlieren bei Du Boccage negative Charaktereigenschaften, also Habgier, Streben nach Luxus, ‘Orgueil’ etc., sowie die damit verbundene Ungerechtigkeit und das vom Menschen herbeigeführte Leid – auch im Sinne der ‘Légende noire’ – in diesem göttlichen, linear verlaufenden Gesamtplan ein wenig ihre erschütternde Seite. Es kommt bei Du Boccage eben nicht zu einem das ganze Epos durchziehenden Verriss der Hybris bzw. der Luxusgier als negativer anthropologischer Konstante, wie dies im Epos Lesuires der Fall ist, vgl. Kap. 2.3.2. Genauso wenig werden Hybris und Luxusgier nutzbar gemacht, um die drohende Bestrafung durch den Rachegott als ‘roten Faden’ des Epos auszugestalten, wie bei Bourgeois, vgl. Kap. 2.3.1.3. 112 Vgl. «Les faits que je décris, | Sage Indien, sans doute, irritent vos esprits, | Pour concevoir les maux que l’Orgueil a fait naître, | Apprenez que la Terre à peine eu reçu l’être, | Que le Ciel, pour punir l’homme ingrat & sans foi, | Permit que le plus fort au foible fit la loi» (COL 26); und

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Kolumbus’ Ausführungen zeugen dabei (a) von einem Verständnis für die Indigenen, die sich in ihrem aktuellen Zustand glücklich schätzen.113 Er versetzt den Häuptling aufgrund seiner Glücksphilosophie in den Rang eines ‘Weisen’ – allerdings nur mit dem attributiven Zusatz «[q]ue dans Athène & Rome on eut vanté pour sage» (COL 28). So unterstreicht er, dass dessen Vorstellungen zwar denjenigen der Vertreter hellenistischer Philosophenschulen mit ihrem Fokus auf der Ethik zu entsprechen scheinen, jedoch hinter christlichen Moralvorstellungen zurückliegen. Kolumbus dokumentiert zudem (b) Selbstkenntnis und -reflexion. Unverhohlen gesteht er ein, dass die Europäer durch das Verlassen des ‘naiven Naturzustands’ mit Problemen konfrontiert seien: «par l’orgueil & le faste | Le goût pour les Plaisirs prend un essor trop vaste : | Nos Peuples, qui dans l’Art cherchent la Volupté, | De la simple Nature ont perdu la beauté» (COL 28). Der Häuptling nimmt auf der anderen Seite eine spürbare Verteidigungshaltung ein, und es kommt – abgesehen von wenigen anerkennenden Kommentaren114 – zu vornehmlich kritischen Reaktionen, insbesondere gegen «l’Art qui de [leurs] cœurs corrompt l’humanité» (COL 34).115 Er liefert ein kurz gehaltenes Plädoyer gegen die Künste und den von Kolumbus beschriebenen kulturellen Fortschritt, welches alle von seinem Gesprächspartner erwähnten Schlagworte in ein anti-europäisches Programm des Naturzustands ummünzt: Sie lebten «[e]xempt[s] d’Ambition, loin de la soif de l’Or», «sans orgueil» und verfügten, im Anklang an ein Goldenes Zeitalter, über «[c]hamps [...] fertiles sans culture» (COL 34).116 Entscheidend ist dabei natürlich, dass sich die als ‘Pars pro toto’ gesetzte intersemiosphärische Begegnung in der Colombiade primär in Form eines Dialogs vollzieht. Bei Du Boccage erhebt erstmals in einem Kolumbus-Epos eine indigene Figur eine hörbare Gegenstimme gegen Kolumbus, sein Projekt, und die europäisch-zivilisierte Lebensweise christlicher Prägung. Allerdings geschieht dies in der Colombiade noch auf eine recht sanfte Weise, da v. a. Kolumbus das Wort führt und unmittelbar vor der Kritik des Häuptlings die positive Entwicklungslinie des Menschen in aller Ausführlichkeit dargeboten wurde.

wenig später: «Notre culte sacré joint, par des Mœurs plus pures | Le mépris de soi-même au pardon des injures : | Vertus dignes du Dieu qui punit nos forfaits» (COL 28). 113 «Je vois que le bonheur naît des desirs bornés» (COL 28). 114 Vgl. «J’admire [...] | De quel rafinement l’Ame humaine est capable» (COL 33). 115 Vgl. Ausrufe wie «quelle est donc ta manie [...]?» (COL 33) oder ähnlich kritische Äußerungen bezüglich der politischen Organisation der Alten Welt: «Cet injuste pouvoir étonne mes esprits !» (COL 28). 116 R. Thomas Watson: L’Amérique de Madame du Boccage, S. 48, weist darauf hin, dass der Häuptling typisch Rousseau’sche Gedanken formuliert; den Indigenen sei die Vorstellung von Eigentum unbekannt, sie würden nicht von Ehrgeiz geleitet, lebten im Einklang mit der Natur.

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Die Vorliebe einer solchen ‘dialogisch’ angelegten Gegenüberstellung beider Welten lässt sich freilich auf die Berühmtheit des ‘aufgeklärten Streitgesprächs’ zurückführen, das durch Lahontan in der Literatur Fuß gefasst hat und von Diderot wohl am eindrücklichsten ausgestaltet wurde.117 Der zentrale Leitgedanke besteht einerseits darin, «to criticize noble privilege and the inequality created by private property» und andererseits darin, «another way of living that would merit respect»118 vorzuführen. Mustergültig wird das in Marmontels Incas umgesetzt, wo der alte, weise Mexikaner, Pilpatoé, seinen europäischen Dialogpartner – wie aus der Pistole geschossen – mit einer ausgeklügelten, aufgeklärten Religionskritik konfrontiert und die eigene Religion dem fanatisch betriebenen Christentum gegenüberstellt.119 Bei Du Boccage ergeben sich, verglichen etwa mit Lahontans Dialog, in dem der wilde Hurone Adario als aufgeklärte, reflektierte Persönlichkeit agiert und an der konservativ-orthodoxen Einstellung seines europäischen Gegenüber (namens ‘Lahontan’) Kritik übt, deutliche Unterschiede. In der Colombiade werden nicht die Extrempositionen ‘bon sauvage vs. zivilisierter Unmensch’ einander gegenübergestellt, sondern auch Kolumbus verhält sich ‘aufgeklärt’, sodass beide Positionen sich in gewisser Hinsicht annähern. Anders als bei Lahontan sind die Dialogpartner noch nicht durch Autopsie optimal über die Kultur des jeweils anderen informiert. Auch kommt dem wilden Adario dort doppelt so viel Redeanteil zu wie Lahontan selbst, was – ungeachtet der sprachlichen und metapoetischen Ebene – die Rollenverteilung zwischen Überlegenem bzw. Unterlegenem dort viel stärker verkehrt.120 Das Motiv des Gesprächs mit einem alten, weisen Indigenen ist für die französische Kolumbus-Epik ab 1750 nachgerade topisch geworden. Es wird in jedem der vier Kolumbus-Epen jeweils in anderer Schwerpunktsetzung implementiert. Nirgends ist es jedoch in derart versöhnlichen Tönen gehalten wie bei Du Boccage. Lesuire und Laureau121 drängen Kolumbus parallel zu Lahontan und Diderot in die Rolle des Belehrten; Bourgeois’ Inszenierung bewegt sich ins andere Extrem, da dort kein wirklicher Dialog mehr stattfindet, sondern Du Boccages Vorgehen, Kolumbus monologartige Digressionen in den

117 Vgl. Kap. 1.2.2.; Kap. 2.3.2.1.3; Kap. 3.4.1.2. 118 Donavan N. Arizmendi: Exoticism as Enlightened Self-Critique in Eighteenth-Century English and French Literature Culture. Ph.D. dissertation. Cornell University: Pro Quest Dissertations Publishing 2000, S. 164. 119 Vgl. Dorothea Kullmann: Religiöse Diskurse in Marmontels Incas, S. 218–226. 120 Vgl. Hans-Jürgen Lüsebrink: Von der Faszination zur Wissenssystematisierung, S. 15. 121 Vgl. insbes. Kap. 2.3.2.1.2.

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Mund zu legen, so überzeichnet wird, sodass letztlich Kolumbus seinen Gesprächspartner über mehrere Gesänge hinweg belehrt.122 Schließlich sei noch auf die dispositorisch auffällige, mit diesem ‘aufklärerischen Streitgespräch’ verbundene Ringkomposition zu chant IX hingewiesen. Dort lässt die göttlich inspirierte Zama ihren geliebten Kolumbus an einer Zukunftsvision teilhaben. In aller Ausführlichkeit gibt sie ein buntes Potpourri fortschrittlicher, europäischer Errungenschaften (von der Kopernikanischen Wende bis zum Bau des Petersdoms), künftiger aufgeklärter Herrscher sowie Dichter und Denker in England und Frankreich, das als ‘Hort des Wissens’ bezeichnet wird (u. a. Newton, Bacon, Locke, Descartes, Rousseau oder Buffon). Virolle merkt an, Voltaire habe insbesondere den in den beiden Gesängen gelieferten «abrégé de l’histoire universelle»123 – mit dem Katalog an Philosophen bzw. Weisen124 und der Inszenierung des Kolumbus als «héros de la connaissance»125 – sehr positiv aufgenommen. In der Tat werden die Errungenschaften dort ausnahmslos gelobt. Bei alldem sei jedoch noch auf einen kleinen, kritischen Seitenhieb des epischen Erzählers hingewiesen, der sich am Ende des Gesangs, in COL 167, findet. Auch wenn er quantitativ kaum ins Gewicht zu fallen scheint, setzt er doch – und das ist bei Du Boccage die Ausnahme – Wissenschaft und Religion in ein hierarchisches Verhältnis: «Mais de tant de progrès, vains aux yeux des Elus, | Cessons de parcourir les succès superflus». Solche Details sind es denn, die aufmerksamen LeserInnen ins Gedächtnis rufen, dass das Epos nicht umsonst den Titelzusatz ‘ou La foi portée au Nouveau Monde’ trägt. Festzuhalten bleibt nichtsdestotrotz, dass dem Proklamieren des Fortschrittsoptimismus in der Colombiade sehr viel Raum zugestanden wird. Die aufeinander zukomponierten ‘Wissensexkurse’ im zweiten und vorletzten Gesang bilden eine kompositorische

122 Es kann hier nur knapp auf die inner-epische Entwicklungslinie dieses Topos eingegangen werden: Das Gespräch mit einem Alten Weisen findet sich bereits im Kolumbus-Epos Carraras: Kolumbus belehrt den indigenen Arivargus über die Kugelform der Erde, die Schwerkraft und Kulturgegenstände, vgl. Columbus 8.141–336 und insbes. 8.215, 8.222, 8.261 und 8.264 mit einer Fülle an Verben des Belehrens. In Verkehrung der vergilischen Szene, in der Aeneas vom einheimischen Euander in einer ihm fremden Gegend herumgeführt wird, sehen wir Kolumbus, der trotz seiner Lokalisation fern der Heimat überlegen bleibt, vgl. Heinz Hofmann: Adveniat tandem Typhis qui detegat orbes!, S. 540. Der Topos des Zwiegesprächs mit einem Indigenen hat sich in der neulateinischen Kolumbus-Epik also eher vom ursprünglichen friedlichen Kontakt samt Hilfsbereitschaft entfernt und wurde dort für das Moment der Machtdemonstration der Europäer nutzbar gemacht. 123 Roland Virolle: Mme Du Boccage, Voltaire, le pape et Christophe Colomb, S. 962. 124 Entgegen dem sonst gattungstypischen Katalog epischer Krieger. 125 Ebda., S. 962.

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Klammer und ‘setzen’ das Epos auch im übertragenen Sinne ‘in den Rahmen’ der ‘Spätaufklärung’. 2.3.1.3 Bourgeois, Christophe Colomb: Selbstverständnis des Autors, grundlegende Ideologie Im Gegensatz zu Madame Du Boccage unterstreicht Briesemeister bezüglich des Autors des zweiten Kolumbus-Epos: «poco se sabe sobre el autor».126 Feststehen lediglich mit einiger Sicherheit die Lebensdaten von Nicolas-Louis Bourgeois (ca. 1710–1776), seine Herkunft aus La Rochelle und seine Tätigkeit als Anwalt, bevor er etwa 30 Jahre lang in der Hauptstadt der französischen Kolonie auf Hispaniola, in Santo Domingo, am Cap Français verbringt und als Mitarbeiter an der dortigen ‘Chambre d’Agriculture’ tätig ist. Unklar ist selbst der Umstand, weshalb er überhaupt so viel Zeit in einer der «colonias europeas más prósperas»127 der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verlebt.128 Die Forschung begnügt sich mit der Hypothese eines aufoktroyierten Exils aufgrund des paratextuellen Belegs aus der ‘Préface’ zum Epos, der gemäß «[il] a [...] fait, pour expier [s]es péchés, un assez long séjour à S. Domingue» (CCAD iv, ‘Préface’).129 Bourgeois’ langjährige Anstellung an der ‘Chambre d’Agriculture’ am Cap Français spiegelt sich insofern im Epos wider, als er seine Details des wirtschaftlichen Treibens in der Kolonie sowie sein persönliches Interesse am freien Handel (u. a. in eigentümliche Beschreibungen der Natur) dort einfließen lässt.130 Der längste einschlägige Aufsatz zu Bourgeois’ Epos von R. Carocci (1987) widmet sich der Behandlung eben dieser gehäuften Stellen, an denen anachronistisch in Kolumbus’ Entde-

126 Dietrich Briesemeister: Una epopeya francesa de Nicolas-Louis Bourgeois sobre SantoDomingo, S. 51. Vielsagend ist auch die Behauptung, der Autor des Epos sei ein «anónimo» (Israel Villalba de la Güida: Virgilianismo y tradución clásica en la épica neolatina de tema colombino, S. 111). 127 Dietrich Briesemeister: Una epopeya francesa de Nicolas-Louis Bourgeois sobre SantoDomingo, S. 51. 128 Vgl. ebda., S. 52; vgl. dazu François Jacob: Amérique épique, S. 209, sowie Renata Carocci: Nicolas-Louis Bourgeois, uno sconosciuto cantore di Cristoforo Colombo. In: Le Berio 27 (1987), S. 4 und S. 10. 129 Vgl. Dietrich Briesemeister: Una epopeya francesa de Nicolas-Louis Bourgeois sobre SantoDomingo, S. 52: «La frase enigmática lleva a suponer que sufrió un traslado disciplinario»; Renata Carocci: Nicolas-Louis Bourgeois, S. 11, geht von einem «periodo di dolori, di noia, di delusione, di solitudine» für ihn in Santo Domingo aus. 130 Vgl. Dietrich Briesemeister: Una epopeya francesa de Nicolas-Louis Bourgeois sobre Santo-Domingo, S. 53; vgl. dazu Renata Carocci: Nicolas-Louis Bourgeois, S. 17.

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ckungsfahrt zeitgenössische Erfahrungen der französischen Kolonialverwaltung eingespielt werden.131 Eine tiefere Betrachtung des Texts ist ansonsten bisher ausgeblieben.132 Es wird lediglich allerorten – und ohne nähere Erläuterung – in der Sekundärliteratur die mediokre Qualität des fast 12.000 Alexandriner umfassenden Epos gebrandmarkt.133 Pratt liefert hierfür in einem kurzen Unterkapitel seines Aufsatzes zu den französischen Kolumbus-Epen ab 1750134 zumindest eine gewisse Begründung, indem er auf die paratextuellen Aussagen des Autors in seiner ‘Préface’ verweist: Bourgeois «wrote verse only occasionally [...] and as an antidote to boredom».135 In der Tat stellt Bourgeois in seiner ‘Préface’ seinen Status als Dichter in Frage, als er von der «témérité de [s]on entreprise» spricht, sich an der hehren epischen Gattung zu versuchen «sans être Poëte». «J’ose aussi dire», so der Autor, «que l’ennui m’a tenu lieu d’Apollon & Des Muses» (jeweils CCAD iij, ‘Préface’).136 Hieran anknüpfend führt der von der Qualität des Epos nicht über-

131 Bourgeois «sa scrutare nel passato» «[c]on l’ottica del presente» (jeweils Renata Carocci: Nicolas-Louis Bourgeois, S. 17). So belegt Carocci, wie Bourgeois bei der Beschreibung der Natur, in die sich Kolumbus seinen Weg bahnt, ausführlich auf den künftigen (von Frankreich geleiteten) Handel mit gewissen Pflanzen eingeht, vgl. ebda., S. 18–21, und CCAD I.148, chant IX. Zu nennen sind zahlreiche anachronistische Einsprengsel, wie etwa der Verweis auf den zeitgenössischen nautischen Gebrauch von Hängematten oder exzessiven Tabakkonsum im 18. Jhdt. 132 Selbst Roulin schreibt bei seiner Erwähnung des (ganze 24 Gesänge umfassenden!) Epos lediglich lakonisch, ‘Amerika’ sei bei Bourgeois ein Schlaraffenland, in dem jedoch der Teufel herrsche, und in dem auch Negatives zu finden sei (etwa die Syphilis); vgl. Jean-Marie Roulin: L’Épopée de Voltaire à Chateaubriand, S. 114 f. 133 Vgl. Dietrich Briesemeister: Una epopeya francesa de Nicolas-Louis Bourgeois sobre SantoDomingo, S. 58: «El valor literario del largo poema épico [...] es bastante escaso». Bartolomé Bennassar/Lucile Bennassar: 1492. Un monde nouveau?, S. 50, sprechen von «cet interminable poème»; Renata Carocci: Nicolas-Louis Bourgeois, S. 3, betont: «nessun apporto arreca in campo artistico»; die Langatmigkeit bestehe v. a. darin, dass alle Vorgänge «procedono faticosamente» (ebda., S. 10). 134 Angesichts des Umfangs des Epos (24 Gesänge) und des Umfangs der betreffenden Passage des genannten Aufsatzes (fünf Seiten, vgl. Terry M. Pratt: Of Exploration and Exploitation, S. 301–305) ist es nicht verwunderlich, dass noch nicht alle Eigenschaften des Textes herausgearbeitet werden konnten. Und doch liefert Pratt den bündigsten Aufsatz, in dem die meisten entscheidenden Komponenten des Epos angesprochen werden. Als Ergänzung hierzu sollen unsere Ausführungen betrachtet werden. 135 Ebda., S. 301. 136 Die bisherigen Übersichtsaufsätze behandeln den Verweis auf den ‘ennui’ gar nicht oder begnügen sich damit, ihn als ‘merkwürdig’ abzutun bzw. in ihm ein Signal minderer Qualität des Epos zu sehen. Einen weitaus größeren Stellenwert nimmt in den Aufsätzen die in der ‘Préface’ vorgenommene Auseinandersetzung des Autors mit den Vorbildern ein. Briesemeister etwa orientiert sich bei der Vorstellung von Bourgeois’ literarischen Vorbildern spürbar an dessen ‘Pré-

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zeugte Pratt weiter aus: «[his] fears about the quality of his inspiration proved, unfortunately, to be well founded».137 Bourgeois’ ‘Self-Fashioning’ als unfähiger Dichter – mit einem aus der Not, oder besser der Langeweile heraus geborenen Epos – motiviert in der Tat auf den ersten Blick nicht zum Lesen, zumal eigens betont wird, dass es sich nicht um einen Bescheidenheitstopos handle.138 Und doch tut man dem Text Unrecht, wenn man ausgehend von diesen apologetischen Vorausschickungen Rückschlüsse auf die tatsächliche Qualität des Epos zieht. Anstatt aus dem als Schreibmotivation proklamierten ‘ennui’ lediglich den von Bourgeois selbst vorhergesehenen Misserfolg abzuleiten, muss die Frage vielmehr lauten, ob nicht vielleicht trotz (oder gerade mittels) dieser eigenwilligen Einführung ein bestimmter epischer Anspruch verfolgt wird. Schließlich wollte der Autor sein Gedicht ja ediert wissen, es einem größeren Publikum zugänglich machen. An ähnlich selbstkritischen Bemerkungen des Autors mangelt es auch im weiteren Verlauf der ‘Préface’ nicht. So kommt der ‘aus Langeweile dichtende Nicht-Dichter’ etwa auf seine Unfähigkeit zu sprechen, ein vom Lesepublikum gefordertes Kurzepos zu schreiben,139 und hält dieser Forderung seinen klassisch-epischen Anspruch entgegen: Ein Herauskürzen etlicher Gesänge dürfte vielleicht dem zeitgenössischen Publikumsgeschmack mehr entsprechen – «[l]es longs écrits sont passés de mode» – doch würde es das von ihm intendierte homerische Gesamtkonzept eines Epos mit «[a]utant de Chants ou Livres qu’en contient l’Iliade» (alle Zitate CCAD vj, ‘Préface’) zerstören. An dieser Stelle wird also z. B. mit dem inszenierten Understatement der persönlichen Unfähigkeit sehr wohl eine bestimmte Intention verbunden. Wenn der Autor vom «esprit léger & frivole du temps» (CCAD vij, ‘Préface’) sowie von einem «siecle [...] où l’on ne veut que des lectures amusantes & superficielles» spricht, klingt unverkennbar die Kritik an der eigenen sittenverfallenen, kurzlebigen Gegenwart an. Demselben gesellschaftskritischen Blick folgt nun unseres Erachtens auch das

face’, wo zuerst die Henriade als Meilenstein der Epik herausgestellt wird (vgl. CCAD xii f.) und dann (beim Thema ‘merveilleux’) ohne Autornennung auf den «Orlando furioso» verwiesen wird (vgl. CCAD x). So schreibt Dietrich Briesemeister (Una epopeya francesa de Nicolas-Louis Bourgeois sobre Santo-Domingo, S. 58) schlicht – und leider mit falscher Autorenzuordnung – «Entre sus modelos figuran el Orlando furioso de Tasso [sic!] y la Henriade de Voltaire». Ähnlich leitet Jacob aus der ‘Préface’ mit ihrer Auseinandersetzung mit Voltaire und Ariost die Feststellung ab, Bourgeois entferne sich vom klassischen Epos (vgl. François Jacob: Amérique épique, S. 220). 137 Terry M. Pratt: Of Exploration and Exploitation, S. 301. 138 «Ce n’est pas là le détour d’une fausse modestie, [...] c’est une conviction intime de mon incapacité»; «je sens trop qu’il eût fallu des talents bien supérieurs aux miens, afin de venir à bout d’une entreprise aussi forte» (CCAD v). 139 Vgl. «tout mauvais Peintre que je suis» (CCAD vj).

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auktoriale ‘Self-Fashioning’ des ‘ennui’. Der zweifelsohne belesene140 Bourgeois benennt eben nicht nur knapp eine ihn antreibende (und historisch wohl durchaus zu belegende) Langweile,141 sondern er bettet sie in ein intertextuelles Spiel ein. Seine Schreibmotivation wird mit den programmatischen Äußerungen des römischen Satirikers Juvenal in Verbindung gesetzt, der aufgrund der verkommenen Sitten seiner Zeit schrieb: «Si natura negat, facit indignatio versum»,142 also: ‘Wenn ich schon nicht über ein naturgegebenes dichterisches Können verfüge, sorgt wenigstens meine Wut über die Menschheit für passende Verse’. Beim Autor des Christophe Colomb ersetzt nun der ‘ennui’ diese Wut: «On sait que Juvénal a prononcé que la colere pouvoit suppléer en Poésie au défaut de la nature : le paradoxe d’y substituer l’ennui m’étoit réservé». Damit gründet Bourgeois’ Epos quasi auf dem von Juvenal abgewandelten Schreibmotto ‘facit fastidium versum’, und der Akt des Schreibens dient der psychischen Aufarbeitung der eigenen deplorablen Situation im aufoktroyierten Exil.143

140 Die stete Auseinandersetzung mit epischen Vorbildern tritt an vielen Stellen klar zu Tage. Im zweiten Musenanruf (CCAD I.5–7, vgl. die Appendix) räumt der Autor Voltaires Henriade als epischem Vorbild zwar aufgrund der gelungenen Verquickung von geschichtlichen Fakten und Fiktion einen höheren Stellenwert ein als den berühmten antiken Autoren, wie Homer, Vergil und Lukan. Doch ein Blick auf die letzten Gesänge des Epos belegt eindeutig, dass dort nicht irgendjemand aus Langeweile schreibt, sondern ein belesener Mann, der die epische Tradition sehr gut kennt. So findet sich ein breites Spektrum von konkreten inter- und metatextuellen Anspielungen auf Tasso (vgl. Rinaldo und Clorinda in CCAD II.163), Vorläufer der Kolumbus-Epik wie Fracastoro («qui a donné un très-beau Poëme latin sur la funeste maladie que je décris [sc. la syphilis; G.J.K.]» (CCAD II.177, Anm. 1) oder Camões (mit dessen Werk sein Epos nur zufällig Ähnlichkeiten aufweise, vgl. CCAD I.70, Anm. 3: «On ne croira peut-être point que je n’ai lu cet Ouvrage dans la traduction française, qu’après avoir formé le plan du mien ? Je le remarque, pour qu’on ne me croie pas son plagiaire») bis zu Ovid (vgl. II.193, Anm. 1: «Lisez ce qu’en dit Ovide»). Besondere Wertschätzung erfährt der als Christ bezeichnete Vergil – so bei den Anspielungen auf die Dido-Episode (vgl. CCAD II.192) oder Junos Beschwörung des Aeolus (vgl. CCAD II.194 mit Anm. 1: «mis en œuvre par Virgile, Poëte Chrétien»). 141 «C’est durant le regne de ce long exil, que ne sachant que faire pour me désennuyer, il me vint en pensée de célébrer le Héros du Pays» (CCAD iv). 142 Iuv. 1, 79. Es handelt sich hierbei wohl um die berühmteste Sentenz Juvenals – neben Iuv. 1, 30 («difficile est saturam non scribere»), wo der Autor schreibt, man komme in Anbetracht der zeitgenössischen Laster und Unbilden gar nicht umhin, eine sozial-gesellschaftliche Satire zu verfassen. 143 Vgl. «le sujet de la Colombiade renfermoit précisément tout ce que je cherchois pour ma consolation» (CCAD iv).

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Der Autor spiegelt ein Stück weit seine eigenen Erfahrungen in die Handlungen des epischen Helden Kolumbus hinein144 und erblickt in ihm ein Vorbild des Erduldens von irdischem Leid. In Gott, dem er seine «fermeté d’ame» zu verdanken habe, sieht er seinen «soutien dans l’adversité» (CCAD iv). Das ideologische Hauptziel des Epos besteht demnach – im Sinne einer religiösen Aufklärung – im Proklamieren der «grandes vérités de la Religion Chrétienne effectivement assez rarement employées dans les ouvrages de poésie de nos jours» (CCAD vj). Den religiösen Wahrheiten schenke die zeitgenössische Gesellschaft nämlich viel zu wenig Beachtung.145 Dieser Umstand bewegt ihn nun zur Abfassung eines Gedichts didaktisch-moralistischer Natur: «le but du Poëme doit être de rendre les hommes sages & vertueux» (CCAD ix). So dient das ‘Self-Fashioning’ des Autors nicht primär als Warnung an die potentiellen LeserInnen vor einem ach so langweiligen Epos. Vielmehr gehen in der ‘Préface’ die Langeweile und Unzufriedenheit im aufoktroyierten Exil, die Kritik an allerlei Oberflächlichkeiten frönenden Zeitgenossen, die Absicht, diese zu besseren Menschen machen zu wollen, sowie der Glaube an einen göttlichen Heilsplan für treue Seelen (wie den Autor selbst) eine zugegebenermaßen eigenwillige, aber durchaus noch nachvollziehbare Mischung ein, aus der sich die Schreibmotivation des Autors ableiten lässt. Blicken wir auf den ideologischen Zuschnitt des Epos. Dass Kolumbus’ Verbundenheit zu bzw. seine Unterstützung durch Gott sowie sein missionarischer Auftrag das Epos bestimmen, wurde in den genannten Übersichtsaufsätzen bereits unterstrichen.146 Auch werden diese Aspekte allerorten in der ersten

144 Vgl. «en qui [sc. Colomb; G.J.K.] je voyois trop de conformité avec ce que l’on me faisoit éprouver, pour ne m’y pas sentir encouragé comme malgré moi» (CCAD iv); s. ferner Renata Carocci: Nicolas-Louis Bourgeois, S. 11. 145 Vgl. Dietrich Briesemeister: Una epopeya francesa de Nicolas-Louis Bourgeois sobre Santo-Domingo, S. 52: «En pleno Siglo de las Luces, Bourgeois trata nada menos que dar un tinte cristiano-moral a la poesía burguesa». Im dritten Musenanruf (chant III) kommt der Erzähler wieder auf seinen moralistischen Anspruch zu sprechen, der kaum publikumswirksam sein möge, ihn aber bei der Abfassung des Epos antreibe, vgl. «De quel droit, dira-t-on, un si froid Moraliste | Des ennuyeux du temps vient-il grosser la liste, | Et dans des vers plus durs que ceux de Chapelain, | D’un poème oublié retracer le destin ? | Périssent avec lui ces Auteurs insipides, | [...] | Mais, puisque tu le veux, Muse, continuons | D’entremêler nos Chants de semblables leçons» (CCAD I.36). 146 Vgl. etwa Renata Carocci: Nicolas-Louis Bourgeois, S. 9, die im «meraviglioso cristiano» den «polo unificatore» des Epos sieht. Terry M. Pratt: Of Exploration and Exploitation, S. 302 f., unterstreicht die Bedeutung der kolumbischen Mission, die Priorität der göttlichen Geschichte bzw. der Mission gegenüber der weltlichen Geschichte.

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Werkhälfte (chants I–XII)147 explizit benannt, und die epische Handlung wird eben dadurch eingeleitet, dass ein Engel Kolumbus damit beauftragt, als Instrument Gottes zu agieren.148 Entscheidend ist nun aber, dass Bourgeois bei der Modellierung dieser göttlichen Mission einem streng an der Bibel orientierten Menschen- und Götterbild folgt. So wird beispielsweise im Gegensatz zum Gros der Kolumbus-Epen, in denen Kolumbus als Gottes Beauftragter stets (fast schon topisch) als ‘vergöttlichter Held’ beschrieben wird,149 Kolumbus bei Bourgeois zwar der Status der Vergöttlichung von außen – etwa von Seiten der Ureinwohner – zugeschrieben, er selbst jedoch distanziert sich immer davon, da es strictu sensu nur einen Gott geben kann, und nur ihm allein die ‘gloire’ des Unternehmens gebühre.150 Unter Berücksichtigung dieses an der Bibel orientierten Rahmens lassen sich so manche Inkonsistenzen, die naive LeserInnen der

147 Zu Kolumbus’ stets präsenter Verbindung zu Gott vgl. u. a. CCAD I.31, chant II: «Mon Dieu ! Je suis à vous, disposez donc de moi ; | Je ne suivrai jamais que votre sainte Loi !»; CCAD I.92, chant VI: «Un feu qui dans son cœur l’anime & le soutienne | A protéger par-tout la Doctrine chrétienne, | L’enseigner en des lieux privés de sa clarté, | Et leur faire connoître un Dieu plein de bonté. | [...] | Dieu [...] | le choisit-il pour publier ses Loix, | Et Colomb répondit à ce précieux choix»; oder auch «LA [sic!] vive piété du héros maritime» direkt nach der Beschreibung der Landung: «A peine a-t-il du pied touché ces nouveaux lieux, | Qu’épris d’un saint devoir il en baise la terre, | Les consacrant au Dieu» (CCAD I.125, chant VII); CCAD I.155, chant IX: «du Ciel qui jamais ne nous manque au besoin, | L’Amiral reconnut l’utile & tendre soin : | Aussi l’en bénit-il tout haut au moment même, | Et fit-il par les siens prier l’Être suprême. | [...] | Dieu veut que nous brûlions pour lui de vives flammes»; CCAD I.172, chant X: «SANS savoir où l’on va, Colomb toujours avance, | Son espoir éternel est dans la Providence : | Il sait que nul jamais n’en fut abandonné, | Que tout être ici-bas s’en voit environné, | [...] | [...] qu[e] l’Univers est par elle conduit»; «Son ame reconnoît la divine assistance» (CCAD II.198, chant XXIII), «Le Ciel veilloit, sans cesse, aux progrès d’un voyage, | Inspiré pour fonder son immortel ouvrage, | Et répandre en tous lieux ses augustes desseins ; | Sa loi devoit un jour luire à tous les humains, | Servir à condamner, d’une juste maniere, | Ceux qui ne croiront point, en voyant sa lumiere» (CCAD II.262, chant XXIV). 148 Vgl. «Ce sont là les mortels qu’il te faut conquérir. | [...] | Le Ciel veut que tu sois législateur & pere | D’un peuple jusqu’ici plongé dans la misere; | Qu’en le civilisant, tu mérites l’honneur | D’être nommé son chef choisi par le Seigneur, | Qui remet en tes mains l’intérêt de sa gloire» (CCAD I.28 f.). 149 Vgl. insbes. Kap. 2.3.2 zu Lesuire. 150 Vgl. CCAD I.206 f., chant XII: «Toutes ses actions sont si fort vénérées | Qu’il y prendroit les droits de la Divinité, | S’il n’étoit convaincu de son humanité ; | S’il n’avoit pas toujours présent à la mémoire, | Qu’à tout autre que lui s’en rapporte la gloire, | Qu’il est un instrument dans la main du Seigneur | Pour opérer un bien don’t il n’a point l’honneur. | Avec ce sentiment d’humilité parfait [...]». S. die moralisch perfekte ‘humilitas’ des Helden: «Sa rare modestie égaloit son mérite» (CCAD II.116, chant XVIII); «La modération est le devoir du sage, | Et n’a jamais servi que du lustre au courage ; | Quand la férocité dégrade les Vainqueurs, | la générosité leur gagne tous les cœurs» (CCAD II.137, chant XIX). Vgl. die ähnliche gelagerte Inszenierung bei Du Boccage, während der Begriff der ‘Vergöttlichung’ von Laureau und Lesuire

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bisherigen Sekundärliteratur dem Epos zuzuschreiben geneigt sind, verständlicher machen. In Pratts knapper Zusammenfassung wird etwa bilanziert, dass am Anfang und am Ende des Kolumbus-Epos die Negativa der Entdeckung der Kolumbusfahrten ihren Platz fänden, in der Mitte dagegen der Lobpreis des Christentums und Kolumbus’ missionarisches Tun gefeiert würden.151 Nun stehen diese Perspektivierungen in Bourgeois’ Epos nicht einfach unkommentiert nebeneinander, sondern sie ergeben sich stimmig aus dem zugrunde liegenden biblischen Szenario, welches die epische Handlung der Entdeckungsfahrt durchwegs bestimmt. Im Folgenden soll einerseits exemplarisch und möglichst knapp herausgearbeitet werden, wie das gesamte Epos von dieser permanent gleichbleibenden biblischen Konzeption durchdrungen wird. Diese Konzeption soll andererseits auch ausführlich genug erläutert werden, zumal auf ihr Bourgeois’ gesamte epische Modellierung beruht, und sie unseres Erachtens für die geringe Variabilität und Langatmigkeit des Endprodukts verantwortlich gemacht werden kann. Bourgeois verfolgt eben kein durch Neuheit das ‘Amusement’ beförderndes Epos, sondern es wiederholt Altbekanntes zur Retablierung der christlichen Moral. Die biblische Konzeption des Epos lässt sich insbesondere auf zwei Ebenen verfolgen: Sie bildet (1) makrostrukturell den ‘roten Faden’ des Epos, zumal auf Grundlage des alttestamentarischen Genesisberichts sowie des zugehörigen Gottesbilds auf eine ‘christliche Belehrung’ der Menschheit abgezielt wird. Sie beginnt im ersten Gesang bei Kolumbus selbst (und damit in der Alten Welt). Ein Engel macht ihn auf seine Erwähltheit durch den gnädigen Gott aufmerksam und gibt ihm seine Aufgabe bekannt, die beiden Welten zu verbinden. Hieran schließt der Engel sogleich eine Warnung an, in der er Kolumbus an

problemlos verwendet wird. Vgl. dazu die fehlende ‘humilitas’ des Laureau’schen Kolumbus in Kap. 2.3.3. 151 Vgl. Terry M. Pratt: Of Exploration and Exploitation, S. 304: «In the proposition, even, Bourgeois so fiercely denounces the curse of luxury which consequentially afflicts Europe that he hastily admonishes his Muse for falsifying the flavour of his celebration of Columbus. Thereafter, however, the primacy of the propagation of the Gospel in Bourgeois’s order of priorities delays disparagement of Columbus’s epoch-making explorations until the last two cantos, which catalogue their catastrophic consequences for the New World». Briesemeister betont bald, Bourgeois stelle die Greuel der sich unter Kolumbus ereignenden ‘Légende noire’ drastisch heraus, bald, Kolumbus werde von eben diesen Untaten weitgehend freigesprochen. Vgl. Dietrich Briesemeister: Una epopeya francesa de Nicolas-Louis Bourgeois sobre SantoDomingo, S. 57: Bourgeois benenne die «graves síntomas negativos del descubrimiento: como el despoblamiento de España, el frenesí de la carrera a América, al ansia de oro, la ruina económica y social» und kurz zuvor «El autor francés hace un gran esfuerzo para non caer en las viejas trampas de la Leyenda negra» (ebda., S. 56).

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die Bestrafung seiner Fehltritte durch den Rachegott erinnert,152 und tut ihm in aller Ausführlichkeit das alttestamentarische Gottesbild kund.153 Dieselbe Thematik wird aufgegriffen, als Kolumbus später in der Neuen Welt mit seiner Missionierungsarbeit beginnt und mit den einheimischen Kaziken (v. a. Goacanaric154 und Caonabo155) ins Gespräch kommt – aber auch in Passagen, in denen er ganz allgemein Reden an Ureinwohner und Spanier156 richtet. Was hat es damit nun genau auf sich?

152 Vgl. CCAD I.14: «APPRENEZ [...] | A respecter celui qui punit tôt ou tard ; | Qui fait tout pour le mieux, dont la haute sagesse | Est autant au-dessus de la humaine foiblesse | [...]». Vgl. beide Elemente wenig später am Ende der Passage in CCAD I.29: «Dieu récompensera tes peines & tes soins» vs. «Sans quoi tu sentirois sa fureur vengeresse». 153 Vgl. CCAD I.20: «Tu vas être comblé d’honneurs & de richesses. | Mais n’abuse jamais de ces fausses largesses. | Fais-en un bon usage, & mérite le choix | Que le Dieu tout-puissant t’indique par ma voix. | [...] | Prends garde à toi, mon fils : sois en tout tems ton maître : | [...] | Celui qui te choisit deviendra ton support, | Si tu sais profiter de ses graces puissantes ; | Jamais ne t’éblouis aux faveurs attrayantes | Qu’il va sur toi répandre avec profusion. | [...] | [...] l’Être secourable, | Qui sauve l’innocent, mais punit le coupable. | Fais aimer son saint Nom, répands-le en tous les lieux | [...] | Ne va point oublier que ta gloire est la sienne, | [...] | Cette condition doit faire ton Bonheur ; | Sinon tu peux t’attendre à toute sa fureur». 154 Vgl. Kolumbus’ ausladende Ausführungen in CCAD I.209 f. über Gott als ‘Creator mundi’, Weltenlenker, Bestimmer über Leben und Tod. Der letzte Aspekt wird in extenso mit dem anstehenden Weltgericht und dem Rachegott verbunden, vgl. u. a. «Sa main s’appesantit sur les hommes coupables, | Qui, manquant aux devoirs prescrits depuis long-temps, | Criminels obstinés, meurent impénitents, | Mais aussi sa bonté, trésor intarissable, | Aux Pécheurs convertis est toujours secourable ; | Il fait récompenser, ainsi qu’il fait punir. | [...] | Ce Dieu ne veut de nous qu’une foi simple & pure ; | Il châtia toujours le plus petit murmure | [...] | Il voit peints à ses yeux, & le juste, & l’injuste : | Sur ce tableaux fidele il juge les mortels ; | Les uns sont condamnés à des tourments cruels, | Et les autres, admis dans sa gloire infinie, | Y goûtent le Bonheur d’une éternelle vie»; und kurz darauf CCAD II.18: «Vous & moi jouirons d’une telle harmonie, | Si nous savons garder sa faveur infinie ; | Mais, si nous la perdons, en proie à nos regrets, | Nous en serons privés & punis à jamais» und die Rede von Gottes «châtiments vengeurs» in CCAD II.56. 155 Kolumbus spricht auch hier über den gütigen und strafenden Gott (vgl. «Mais le Dieu que je prêche, est un Dieu de clémence : | Il est vrai qu’il punit, autant qu’il récompense», CCAD II.104; «il juge les mortels à l’heure du trépas [...] sans pitié pour les cœurs infidelles», CCAD II.106), über die Aufgaben eines Christen (vgl. «Nous devons fuir le mal, & pratiquer le bien | A ce signe charmant se connoît le Chrétien !») und die unhinterfragte Treue gegenüber Gott (vgl. «L’aimer & le chérir, le prier à toute heure !», jeweils CCAD II.105), sowie die Bedeutung der Buße und Reue über begangene Fehltritte (vgl. CCAD II.108). 156 Vgl. CCAD II.185, chant XXII, wo Kolumbus in einer Apostrophe an Gott den Beiwohnenden kundgibt: «Dieu punit toujours ; | [...] | Jamais rien à ses yeux ne passe ni n’échappe» usw. Dass Rache und Güte stets Hand in Hand gehen, belegt der Erzählerkommentar, der bemerkt, Kolumbus agiere in dieser Rede über die Rache Gottes als «vrai héros Chrétien, | Enseignant, répandant sa sublime Doctrine, | Et ne prêchant à tous que la Bonté divine».

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Blicken wir zunächst auf Kolumbus’ belehrendes Gespräch über die christliche Religion, das er mit dem Alten Weisen der Neuen Welt (Goacanaric) führt und das sich über die Gesänge XII bis XV erstreckt. Analog zur Strukturierung bei Madame Du Boccage, wo sich aus den belehrenden ‘Wissensexkursen’ in chant II und chant IX eine Ringkomposition des Epos ergibt,157 findet sich bei Bourgeois das belehrende Gespräch an einer Schlüsselstelle, zumal es genau in der Werkmitte die Grenze der beiden Werkhälften überspielt, also das Ende von Buch I (chant XII) sowie den Beginn von Buch II (chant XIII) bildet. Während bei Du Boccage Kolumbus den Ureinwohner vornehmlich über «secular subjects, such as the essentials of cosmology» belehrt, legt Bourgeois großen Wert auf «sacred subjects, such as the essence of Christianity».158 Anders als bei Du Boccages Altem Weisen haben wir es bei Bourgeois eindeutig nicht mit einem ‘bon sauvage’ zu tun, sondern es handelt sich um eine unilaterale Belehrung durch Kolumbus, bei welcher der Belehrte «[a]insi qu’un écolier intelligent, docile, | Profite des leçons d’un Précepteur habile» (CCAD II.40).159 Am Ende scheint er vom Dargebotenen völlig überzeugt und überwältigt zu sein.160 Die Belehrung Goacanarics besteht letztlich aus einer umfangreichen Wiedergabe des alttestamentarischen Genesisberichts,161 der bereits zu Beginn des ersten Gesangs als einleitendes Welt-Tableau in nur leicht anderer Ausgestaltung

157 Vgl. Kap. 2.3.2.1. 158 Terry M. Pratt: Of Exploration and Exploitation, S. 302. Überall wird die christliche Lehre als «[l]e secret le plus cher & le plus important» (CCAD I.208, chant XII) bezeichnet; Kolumbus nähert sich den Indigenen an, «[p]our leur parler d’un dieu, le leur faire connoître, | En un mot, annoncer les Loix d’un si bon Maître» (CCAD I.169, chant X). Die ‘histoire prophane’ wird daher erst nach der Darlegung der christlichen Geschichte angefügt und ist ihr untergeordnet (vgl. CCAD II.41; II.57, chant XIV). 159 Nicht nur Kolumbus wird zum ‘Instrument’ Gottes; auch der «Chef des Sauvages», dem Kolumbus als erstes begegnet (i. e. Goacanaric), wird in einer Art Kettenreaktion zum Mittelsmann in der Missionierung der Neuen Welt und sodann ein «Instrument, comme lui, des décrets du Seigneur» (beide Zitate CCAD I.171, chant X), da er für Kolumbus’ Ausführungen empfänglich und als Träger der ‘vérité’ auserwählt ist. Am Ende der Belehrung äußert er: «Je veux être Chrétien» (CCAD II.78). S. Terry M. Pratt: Of Exploration and Exploitation, S. 303; Dietrich Briesemeister: Columbus als ‘Apostel und Eroberer’ im französischen Epos des 18. Jahrhunderts, S. 312; Renata Carocci: Nicolas-Louis Bourgeois, S. 30. 160 Vgl. am Anfang von chant XV, in CCAD II.59, die «extrême surprise», «admiration» und die «sentiments diffus» des belehrten Ureinwohners über all die Dinge «[qu’]il ne pouvait comprendre». 161 Vgl. die einleitende Darstellung von Teilen des Genesisberichts in CCAD ab I.3 mit der Wiedergabe des sechstätigen Genesisberichts in CCAD I.212–217.

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begegnet war – wodurch sich auch bei Bourgeois eine rahmende Makrostruktur ergibt. Die Bedeutung dieses Genesis-Szenarios fand in den Übersichtsaufsätzen von Briesemeister (1994), Carocci (1987)162 und Pratt (1989)163 noch keine Berücksichtigung – und damit auch nicht die Funktionalisierung (der Folgen) des in diesem einleitenden Szenario vermittelten pessimistischen Menschenbilds für das epische Gesamtkonzept.164 Das Epos beginnt mit einer biblischen Kosmovision und Gottes Entscheidung, die Menschen sollten die bisher von ihm versteckt gehaltene Neue Welt entdecken, wobei der Grund für diese Entscheidung den Menschen unbekannt sei.165 Es werden ausführliche Erläuterungen bezüglich dieser göttlichen Rahmenhandlung gegeben; nicht nur im epischen Text selbst, sondern bereits in der ‘Préface’. Das wiederum belegt, dass dieses einleitende Szenario für Bourgeois zweifelsohne einen wichtigen konzeptionellen Aspekt darstellt. Dort

162 Dietrich Briesemeister: Una epopeya francesa de Nicolas-Louis Bourgeois sobre SantoDomingo, S. 54 f., und Renata Carocci: Nicolas-Louis Bourgeois, S. 28, betonen die das gesamte Epos bestimmende christliche Mission des Kolumbus sowie seine Gottverbindung. Carocci kommt – im Stil einer ‘Häppchenlektüre’ ohne zusammenhängenden roten Faden – auf weitere zentrale Aspekte zu sprechen, etwa seine Absicht, das Zusammenleben der Menschen durch religiöse Regeln zu verbessern (vgl. ebda., S. 30) oder die Inszenierung Gottes als ‘strengen Vater’ (ebda., S. 25). Sie liefert auch die korrekte Zusammenfassung «che la natura umana, nei suoi aspetti più negativi, non conosce differenze nè di luoghi nè di cieli» (ebda., S. 31). Die für das christliche Konzept des Epos entscheidende einleitende Kosmovision mit dem Genesisbericht wird bei ihr jedoch nicht erwähnt. Insgesamt liegt der Fokus ihrer Textbehandlung nicht auf dem ersten Ependrittel, das sie schlicht «una sorta di lunga introduzione» (ebda., S. 14) nennt. Eben dort ist unseres Erachtens die Basis der Ideologie des Epos zu greifen. Carocci begründet die Bedeutung des Alten Testaments bei Bourgeois schlicht mit einem Rekurs auf Miltons Paradise Lost; diese Feststellung alleine führt aber nicht sonderlich weit, da sie nicht erklärt, weshalb Du Boccage, die ja für ihre Miltonübersetzung bekannt ist, ein solches alttestamentarisches Götterbild im Gegensatz zu Bourgeois nicht aufgreift. 163 Terry M. Pratt: Of Exploration and Exploitation, S. 302, gibt immerhin eine Kurzparaphrase der einleitenden Stelle: «In the light of the failure of the New World inhabitants to remain free from moral corruption, God decrees the discovery of America». 164 Pratt betont, es stehe in klarer Opposition zum ‘Fortschrittsglauben der Aufklärung’ und seiner «optimistic conception of man» (ebda., S. 303). In pessimistischer Perspektive spricht der epische Erzähler gegen Ende des Epos ebenso von der anthropologischen Konstante des Rückfalls der Menschen in die Lasterhaftigkeit, zumal menschliche Reue nur kurzzeitig eine Besserung verspreche: «tel est le destin de la nature humaine, | Qu’aussi-tôt, vers le mal, un penchant nous ramene ? | Inutile promesse & remords superflus ! | On lui promit en vain de n’y revenir plus» (CCAD II.124). Vgl. zu dieser Thematik ausführlicher Kap. 2.3.3. 165 Vgl. «Dieu voulut découvrir à nos sens étonnés, | Des Pays si long-temps déserts, abandonnés ; | Et de tous les trésors que la Terre y renferme, | Lever le sceau pour nous, marquer enfin le terme» (CCAD I.2, chant I); kurz darauf aber entscheidet er sich um, denn «ces moyens [...] lui parurent peu sûrs».

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heißt es: «Dieu sépara la partie moderne de l’Univers pour savoir si les hommes s’y conserveroient meilleurs» (CCAD xj f., ‘Préface’).166 Mit dem ersten Abtrennen der Neuen Welt von der Alten stellt Gott die Menschen auf die Probe und möchte wissen, ob sich diejenigen, die in der Neuen Welt eine Heimatstatt gefunden haben, dort besser verhalten als diejenigen auf der Alten Welt. Die ‘Testresultate’ werden in einem ausführlichen Monolog Gottes bekanntgegeben,167 in dem er den Beschluss fasst, die Welten wieder zu vereinen. Diesen Beschluss fasst der Autor in seiner ‘Préface’ wiederum wie folgt zusammen: «mais [...] s’étant convaincu qu’ils y étoient tout aussi méchants, il leur permit alors de nous connoître & de vivre avec nous ; se réservant de les punir, ou de les récompenser, selon qu’ils se comporteroient bien ou mal» (CCAD xj f., ‘Préface’). Schon in diesem Eingangsszenario wird also die Gleichheit der Menschen unabhängig von ihrem geographischen Aufenthaltsort auf Erden – sowohl hinsichtlich ihrer Abstammung (‘Monogenese’) als auch ihrer gemeinsamen Sündhaftigkeit – zur ideologischen Grundvoraussetzung des Epos,168 die dann auch im weiteren Verlauf den ‘Basso continuo’ bildet.169 Dabei wird die Genesis so

166 Vgl. CCAD I.3: Gott hatte die Neue Welt von der Alten abgetrennt («Mais il en sépara cette partie unique, | Qu’on appella depuis du nom de l’AMÉRIQUE»), deren Existenz er für die Bewohner der Alten Welt «au rang de ses secrets» erhoben hat. Dabei hat er die Besiedlung der Neuen Welt dem Zufall überlassen: «Il en laissa le soin au caprice des temps ; | Elle dut au hasard ses premiers habitants». Gottes Test besteht darin, zu überprüfen, «si cette Nation | Sauroit se garantir de la corruption ; | Si l’ayant sequestrée au reste de la Terre, | Qui faisoit aux vertus une éternelle guerre, | Elle n’en prendroit point des sentiments plus purs» (CCAD I.3 f.). 167 «L’homme est par-tout le même ; | Abandonnons l’espece à son erreur extrême, | Elle ne vaut aucun de mes soins bienfaisants : | Je la livre plutôt à ses affreux penchants. | Qu’ils se connoissent tous, & se revoient ensemble, | Puisqu’un cœur corrompu les lie & les rassemble : | Je ne les retiens plus, ils ont leur liberté ; | Qu’ils suivent désormais leur propre volonté. | Maîtres du châtiment, ou de la recompense ; | Leurs actions un jour régleront ma vengeance» (CCAD I.4). 168 Wie wir sehen werden, kann unter dieser Voraussetzung der Gleichheit aller Menschen z. B. ein von den Seefahrern entdecktes, scheinbares Irdische Paradies nicht realiter statthaben, vgl. Kap. 2.3.4.3. Trotz ihrer identischen christlich-missionarischen Stoßrichtung fällt die Bibel-Lesart der Epen von Bourgeois und Peramás daher nicht nur in diesem Punkt gänzlich anders aus. Der zugrunde liegenden klassischen alttestamentarischen Exegese samt der Verteidigung der Bibel gegen die ‘aufklärerischen’ Theorien der Zeit (die auch erwähnt werden), wird bei Peramás die positive, optimistische v. a. neutestamentliche Interpretation eines Neuen Reichs Gottes gegenübergestellt. 169 Vgl. etwa folgende Stellen quer durch das Epos: CCAD I.28, chant II («Ils sortent comme vous, quoiqu’en diron vos cœurs, | De ces mêmes parents, faux, précaricateurs, | Qui vous ont entraîné dans leur chûte coupable, | Dont le crime a rendu l’homme si méprisable»), CCAD I.123, chant VII («une même sève | Les fit naître d’Adam & de sa campagne Eve»), CCAD I.137 f., chant VIII («un [...] groupe | D’habitants [...] comme nous formés»), CCAD I.215 chant XII («ainsi de pere en fils, | Les malheureux humains ont tous été proscrits»; «Leur postérité vile,

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erzählt, dass beim Erschaffen, Trennen und geplanten Wiedervereinen beider Welten in besonderem Maße auf die Lasterhaftigkeit der Menschen abgehoben wird.170 Analog zum ersten Sündenfall erscheint die Neue Welt als zweite Frucht des verbotenen Baumes, mit der Gott die angeborene Gier der Menschen herausfordern will.171 Aus der folgenden Warnung der Engel an die Menschheit172 ergibt sich die Aufgabe eines ‘guten Christen’, mit den neuen Verlockungen richtig umzugehen. Bestandteil des hier grundgelegten ‘Basso continuo’ ist außerdem die Vorstellung, dass der Mensch über die Freiheit verfügt, seine Handlungen selbst zu bestimmen und sich für den rechten (i. e. einen möglichst wenig sündhaften) Weg entscheiden zu können (oder eben nicht). In jedem Falle muss er seine Taten am Tag des Jüngsten Gerichts vor Gott verantworten.173 Demgemäß erhält

abandonnée aux crimes»), CCAD II.17, chant XIII («Les hommes sont formés d’un limon si bourbeux, | Que les plus grands excès n’ont rien de trop pour eux»), CCAD II.34, chant XIII («[l’homme est le] fils du démon par le crime d’Adam»), CCAD II.124, chant XX («Mais tel est le destin de la nature humaine, | Qu’aussi-tôt vers le mal, un penchant nous ramene ? | Inutile promesse & remords superflus ! | On lui promit en vain de n’y revenir plus»), CCAD II.255, chant XXIV («L’homme empoisonne tout») u.v.m. 170 Vgl. etwa CCAD: I.3, Hervorh. G.J.K.: «L’ÉTERNEL [...] | Créa des Animaux & les Hommes pervers». 171 So heißt es, als Gott seinen Engeln den Plan des Vereinens der Welten mitsamt den künftigen Konsequenzen kundtut: «Dieu [...] | Montra comme il alloit sur le champ nous punir, | Étancher de nos cœurs la soif insatiable ; | Par des biens dont l’appât séduisant, incroyable, | Serviroit à nous rendre encor plus criminels» (CCAD I.5, Hervorh. G.J.K.). Es handelt sich dabei um eine wechselseitig angelegte Verführung: Impliciter gilt auch für die Menschen der Neuen Welt, dass sie den ihrer Welt unbekannten und daher reizvollen Schätzen widerstehen sollen, vgl. etwa CCAD II.103, chant XVII: «le Ciel pour nous a versé ses trésors ; | Trésors pour vous cachés». 172 Vgl. «Tremblez à cet Oracle, infortunés mortels ! | Le Très-Haut vous soumet à des travers étranges ; | Évitez-en le piege». 173 S. ferner die Ausdeutung der göttlichen Rahmenhandlung durch den epischen Erzähler: «PEUT-ÊTRE vouloit-il [sc. Dieu; par la découverte du Nouveau Monde; G.J.K.] éprouver nos besoins, | Voir jusqu’où pour ces biens iroient nos moindres soins : | Et, sur un tel principe arrêtant sa justice, | Préparer à nos cœurs, ou faveur, ou supplice ?» (CCAD I.2). Diese Aspekte sind es, die das ganze Epos en passant als Hintergrundfolie bestimmen, vgl. die folgenden Aussagen über Gott: «Le vice ou la vertu mesure son estime [sc. celui de Dieu; G.J.K.]» (CCAD I.126); er ist «[c]elui qui distribue & les biens & les maux : | Souverain débonnaire» (CCAD II.34, chant XIII); «Le Très-Haut n’a jamais laissé rien d’impuni !» (CCAD II.229, chant XXIV). Es ist seine Aufgabe «[de j]uger tous les vivants ; récompenser les bons, | Reléguer les mauvais dans des antres profonds» (CCAD II.33, chant XIII). Die sündhaften Menschen stehen vor der Wahl: «il vous faut opter, ou gloire, ou déshonneur» (CCAD II.16).

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Gott das ganze Epos hindurch alttestamentarische Züge und erscheint bald als strafender Rachegott (analog zur Bestrafung der Abtrünnigen etwa durch die Sintflut),174 bald als gütiger Gott für seine Auserwählten175 (wie bei der Wiederbesiedlung der Welt durch Noahs Familie).176 Sämtliche Themen dieses ersten Welttableaus (die Existenz des Rachegottes, das Jüngste Gericht, die Freiheit des Menschen, den ‘guten’ oder den ‘schlechten’ Weg zu gehen) werden in den folgenden Reden des Engel an Kolumbus erneut ausführlich behandelt.177 Als Folge ergibt sich für das Epos insgesamt eine andersgeartete Götterhandlung als bei allen anderen Kolumbus-Epen unseres Korpus,178 da Gott ‘Gutes’ (helfendes Eingreifen) und ‘Böses’ (strafendes Eingreifen) in sich vereint und beide Elemente Teil seines göttlichen Heilsplans sind.179 Dem ersten Bericht entsprechend ist auch der zweite (in die Belehrung Goacanarics implementierte) Genesisbericht in der Werkmitte gestaltet.180 Repetitiv wird auf die zu erwartende Bestrafung menschlicher Taten durch Gott verwiesen,181 und die gesamte Menschheitsgeschichte ist nichts Anderes als eine ad libitum fortzuführende Erzählung von Menschen, «[qui] tomberent en disgrace»

174 Vgl. «Ces derniers, parvenus aux plus horribles crimes | Du céleste courroux devinrent les victimes, | L’Éternel souleva, dans sa juste fureur, | Les eaux [...]». 175 Vgl. «ce Juge équitable, | Toujours propice aux bons, aux méchants redoutable». 176 Sie ist die einzige mit «innocentes mains». 177 Vgl. CCAD I.21–36, insbes. CCAD I.32, 34 f. 178 Nur minimal klingt der strafende Aspekt eines alttestamentarischen Gotts in Gambaras Kolumbus-Epos an, wo es in Kolumbus’ ‘Glaubensbekenntnis’ im ersten Buch heißt: «venturumque diem te iudice credimus olim, | quo tu digna malis et iustis praemia reddes» (De nav. 1.578; zitiert wird nach Lorenzo Gambara: De navigatione Christophori Columbi libri IV. Herausgegeben von Cristina Gagliardi. Rom 1993). 179 Daher nimmt in Bourgeois’ Epos die Unterwelt eine völlig marginale Rolle ein, die nur auf einer begleitenden, parallelen Handlungsebene zusätzlich das Vereinen der Welten verhindern will. Wie in den neulateinischen Kolumbus-Epen lässt Gott als Verkörperung des ‘Guten’ die Eingriffe der Unterwelt nämlich zu (vgl. CCAD I.134). Renata Carocci: Nicolas-Louis Bourgeois, S. 32–34, beschreibt die Handlung der Unterweltgötter, die in der Ankunft der Europäer eine Gefahr für ihre Macht erkennen (vgl. etwa CCAD I.49), als Verführer der Menschen auftreten (vgl. z. B. CCAD I.103–106) und dabei mit den Zémès zusammenarbeiten, die als «Démons d’un ordre inférieur» (CCAD II.160) auf Seiten des Teufels agieren. Dabei werden historisch belegte Episoden, wie die Zerstörung Navidads oder der Bruch des Ruders der Gebrüder Pinzón, ihnen zugeschrieben. Vgl. den Hinweis in CCAD II.36 darauf, dass der Teufel die Vereinigung der Welten nicht will, oder die Traumvision in CCAD II.79–82, die von den Unterweltgöttern motiviert alle Kaziken trifft, um sie zum Krieg gegen Kolumbus anzustacheln. Diese Momentaufnahmen schmücken jedoch allenfalls auf einer sekundären Ebene das von Gott vorbestimmte Treiben. 180 Ab CCAD I.214. 181 Vgl. etwa «Car il punit le faux, démêle l’artifice : | On ne peut se cacher à ses yeux pénétrants : | Ce Maître veille tout, encore mieux ses enfants. | [...] | Craignez donc désormais d’agra-

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(CCAD I.215), die Gottes Bewährungsproben nicht bestehen, und nicht umhinkommen «[de] négliger ses devoirs & son culte», sodass sie die Rache «[de] ce tendre Maître, outré de tant d’affronts» (jeweils CCAD I.216) spüren müssen. Als prototypisches Negativbeispiel für die Geringschätzung «[de] tous les bienfaits [de Dieu]» (CCAD II.22) und als Beleg für Gottes strafende und gütige Handlungen wird dabei das Volk Israel ausgestaltet.182 Am Ende dieses Wechsels von Fehltritten, Strafe und Güte steht stets dasselbe Resultat: «[que l]a Nation devint encor plus criminelle» (CCAD II.24). Gleiches gilt für die spanischen ‘modernen Israeliten’, die ihrerseits der göttlichen Versuchung – «à nous rendre encor plus criminels» (CCAD I.5) – widerstehen müssen. Im Bewusstsein, dass die separaten strafenden Eingriffe langfristig wenig zweckdienlich sind, liefert Gott schließlich durch seine Wohltat, seinen Sohn für die Menschheit sterben zu lassen, den erhofften Ausweg aus diesem Kreislauf.183 Gott erhält in Bourgeois’ Epos so neben alttestamentarischen Zügen, durch die stets geschürte Furcht vor dem Jüngsten Gericht, auch Züge des neutestamentlichen Friedensgottes.184 Der Genesisbericht ist nicht nur Dreh- und Angelpunkt eines makrostrukturellen roten Fadens christlicher Belehrung, von Gott über Kolumbus zu den Einwohnern der Neuen Welt, sondern er schlägt sich (2) auch mikrostrukturell in kleineren Handlungselementen nieder. Die Protagonisten – allen voran Kolumbus – lassen sich von genannter Belehrung antreiben und müssen sich stets mit der (Furcht vor der) göttlichen Strafe auseinandersetzen. Kolumbus, der, wie jeder sündige Mensch, Glaubenskrisen durchlebt, wird durch «[t]ant de doute» anfällig für Fehltritte, die wiederum Gottes Strafe nach sich ziehen.185 So muss

ver son courroux ! | Il lanceroit sur vous des fléaux déplorables ; | Il vous rendroit encor cent fois plus misérables» (CCAD I.217) 182 Mal versieht Gott es mit Strafen (etwa durch die Gefangenschaft in Ägypten), dann lässt er sich aber wieder von der «pitié» für «son Peuple infidele» (CCAD II.24) leiten. 183 Vgl. CCAD II.24–27. 184 Kolumbus als «Nouveau Législateur» hat im Gegensatz zu den Auserwählten des Volkes Israel des Alten Testaments einen anderen Status: «Les temps étoient changés : & cet Être suprême, | Par la seule douceur, veut aujourd’hui qu’on l’aime». Auch wenn Gott «semoit encor l’effroi», handelt es sich nicht mehr ausschließlich um einen Gott, «[qui r]épandoit la terreur & combattoit pour eux», sondern um einen Gott, der Kolumbus stärker an den «dons de sa sagesse» (jeweils CCAD II.111, chant XVIII) teilhaben lässt. 185 Vgl. «ÉGARÉ, confondu, Colomb ne veut rien croire» (CCAD I.21); «cette incrédulité, | La mere de l’erreur & de l’impiété», «Dieu veut un encens pur : [...] | Il veut qu’on croie aussi son pouvoir souverain ; | [...] Il tient tout dans sa main», «Vous sembleriez douter de sa toutepuissance ? | Ah, mon fils ! revenez ; car ce doute l’offense» (alle Zitate CCAD I.22) und «Je répete que Dieu n’aime point l’incrédule» (CCAD I.23)

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er im Laufe des Epos diverse Bestrafungen erdulden, oder ihm werden, im Zeichen künftiger Bestrafung, düstere Ausblicke vor Augen geführt;186 dabei wird Gottes Strafe aber immer auch mit seiner Güte in Verbindung gebracht.187 Überblickt man das Epos, sind Kolumbus’ Handlungen stets geprägt von der Absicht, im gefürchteten Jüngsten Gericht ein positives Urteil zu erhalten.188 Man kann sogar so weit gehen, zu sagen, Gottes Rache fungiere als eine Art Universalbegründung für unterschiedlichste im Epos beschriebene Umstände.189 Selbst bei der Darstellung der Pflanzenwelt mit den wohltuenden bzw. giftigen Produkten, die man aus ihr gewinnen kann, wird auf den gütigen bzw. strafenden Gott verwiesen.190 Omnipräsent ist auch die sündenfallbasierte Erklärung der Vielzahl an Kolumbusgegnern – sei es an den Königshöfen191 oder unter seinen Matrosen.192 Kolumbus’ Auseinandersetzung mit dem Rachegott wird am Ende gar zu einem wiederkehrenden komischen Element, wenn Kolumbus etwa bei der Heimfahrt verzweifelt (oder selbstironisch?) im aufziehenden Sturm dem Himmel in seiner

186 So etwa bei der ihn benachteiligenden Benennung ‘Amerikas’ nach Vespucci. Vgl. «MON fils ! De cet excès Dieu saura vous punir. | Vous ne donnerez point votre nom à la terre | Où vous irez ouvrir une sanglante guerre» (CCAD I.23) und «vous serez enchaîné, proscrit, sacrifié, | Et vous mourrez enfin tristement oublié» (CCAD I.24). Prototypisch findet sich dieses Vorgehen in CCAD I.187: «pour punir Colomb coupable d’imprudence, | Il crut lui devoir faire éprouver sa vengeance. | Il nous rappelle ainsi, par de légers revers, | Aux avis que pour nous il tient toujours ouverts. | Le prudent Amiral, oubliant sa promesse, | Avoit trop négligé la voix de la sagesse». Vgl. COL 155, chant IX: «Le Ciel t’éprouve ainsi ; sois humble dans ta gloire». 187 «Dieu [...] ne vouloit que le rendre plus sage». Vgl. CCAD II.159, chant XXI oder II.182, chant XXII. 188 Vgl. CCAD II.86, chant XVI: «sans elle [sc. cette mission; G.J.K.] il ne peut complaire au juste Juge, | Dont il seroit puni par d’éternels tourments, | S’il manquoit d’obéir à ses commandements». Im Grunde hört Kolumbus bei all seinen Handlungen und Entscheidungen die leitende Stimme «Tu n’échapperois point sa justice divine» (CCAD I.30). Die Furcht vor dem Jüngsten Gericht wird auch argumentativ genutzt, etwa in der Wechselrede zwischen Kolumbus und dem Engel: Dieser erlaubt ihm im Rahmen seiner Missionierung im Notfall auch die Anwendung von Gewalt – jedoch nur in dem Maße, in dem sie sich mit Blick auf das Jüngste Gericht rechtfertigen lässt. 189 Vgl. u. a. CCAD II.156, wo die Auslöschung der Riesen unter Caonabo auf Gottes Rache zurückgeführt wird, da diese Gold für sich beansprucht haben; oder CCAD II.170, wo ein schnelles Ablegen der spanischen Schiffe begründet wird als «moyen d’éviter sa vengeance [sc. celle de Dieu; G.J.K.]». 190 Vgl. «[Dieu,] compensant & les biens & les maux, | Parmi ces rares dons a mêlé des défauts» (CCAD II.176, chant XII). 191 Vgl. CCAD I.44. 192 Vgl. CCAD I.103: «C’étoit encore un fruit de cet arbre fatal [...]».

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Not entgegenschreit: «Me suis-je donc encor attiré ton courroux ?» (CCAD II.195, chant XXIII).193 Nahezu überall dort, wo ein Zusammenhang zum alttestamentarischen Rachegott kreiert werden kann, werden zusätzlich passende Bibelstellen eingewoben. Kurz sei auf zwei solche Bibelpassagen hingewiesen, die auch in anderen Kolumbus-Epen wiederholt Verwendung finden.194 Als Kolumbus an seiner Erwählung bzw. Mission zweifelt, verweist der zu ihm entsandte Engel (a) auf den Kontext des vierten Buchs Mose. Er vergleicht Kolumbus mit Moses, wobei das ‘Tertium comparationis’ in fehlendem Gottvertrauen besteht: Auch Moses hatte beim Auszug aus Ägypten mehrmals Gott nicht den uneingeschränkten Glauben entgegengebracht und wurde mit dem Tod bestraft, ehe er das Gelobte Land betreten konnte.195 Der einzige Mehrwert solcher Bibelstellen besteht im Untermauern der stets zu fürchtenden Rache (oder Güte) Gottes. In diesem konkreten Fall besteht Gottes Gnade gegenüber Kolumbus darin, dass seine Strafe geringer ausfällt als die seines biblischen Pendants,196 und er ins Gelobte Land einziehen darf.197 Mit Bedacht wird (b) eine doppelte Anspielung auf das Goldene Kalb gesetzt. In seiner Belehrung gegenüber dem Kaziken kommt Kolumbus auf die fehlende Dankbarkeit der Israeliten und ihre Abkehr von Gott zu sprechen. Er

193 Auch hier schließt sich das Fazit an, das entscheidende der christlichen Lebensführung sei ein ewiges An-Sich-Arbeiten: «C’est en se corrigeant qu’il faut toucher le Ciel» (CCAD II.196). 194 Näheres zu diesen Bibelstellen folgt in Kap. 2.3.4.2.2. Exemplarisch sei noch auf eine weitere Bibelstelle verwiesen, die sich so in anderen Kolumbus-Epen nicht findet, aber erneut im genannten Zusammenhang mit dem alttestamentarischen Rachegott steht: In CCAD I.58 kündigt Kolumbus vor seiner Heimatstadt Genua, die sein Projekt ablehnt, prophetisch Gottes Rache an: Er entspricht dabei den biblischen Propheten, die dem Volk Israel, das sich der Idolatrie hingibt, Unheil künden: «Ainsi dans Israël, quand ce Peuple mutin, | Abandonnant le soin de son culte divin, | Se livroit à des Dieux d’une Terre étrangere, | Des Prêtres inspires prédisoient sa misere ». 195 Vgl. «Rappellez-vous ici l’histoire de Moïse, | [...] | Il douta comme vous. Dieu punit sur le champ | Sa désobéissance & son égarement» (CCAD I.25). 196 Vgl. «C’est un Dieu si jaloux des égards qu’on lui doit, | Que souvent il punit le moindre écart qu’il voit» und «vous pourriez en éprouver autant ! | Ce Dieu vous traitera plus favorablement ; | Vous pouvez à loisir réparer votre faute» (CCAD I.25). 197 Wenig später erklärt der Engel daher auch Moses’ Nachfolger Josua, der ja die Israeliten ins Gelobte Land führt, zu Kolumbus’ Vorbild. Vgl. «Que ton ame, Colomb, n’en sera point ingrate. | Semblable à Josué conduisant les Hébreux, | Aux desseins du Très-Haut tu borneras tes vœux, | Et marqué, comme lui, pour de grandes conquêtes, | Tu braveras la mort, la faim & les tempêtes» (CCAD I.29, chant II).

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untermalt sie mit diesem abschreckenden Beispiel falschen Idolenglaubens.198 Der Einbau des Goldenen Kalbs kommt nicht von ungefähr, sondern spannt den Bogen zurück zu einer zuvor gemachten, leidvollen Erfahrung des Helden: Der eingangs an seiner Mission zweifelnde Held hatte nach der Zurechtweisung durch den Engel sofort versucht, seinen Fehler wiedergutzumachen.199 Sein Übereifer ließ ihn aber eine neue Unachtsamkeit begehen, da er vor dem als alten Mann verkleideten Engel niedergekniet war, um ihm den nötigen Respekt zu erweisen. Dies hatte den Engel erschüttert aufschreien lassen – «Arrête !.... que fais-tu, Colomb ?...» (CCAD I.27): Derartige Bezeugungen stünden nur Gott zu und seien mit der Idolatrie des Goldenen Kalbs gleichzusetzen.200 Der doppelte Rekurs auf das biblische Motiv setzt Kolumbus als Fehler begehenden ‘Prokopton’ auf Augenhöhe in Szene, der selbst erst auf dem Weg dahin ist, sich täglich zu einem besseren Christen zu machen. Kolumbus ist, wie jeder Mensch, ein Sünder und steht vor denselben Herausforderungen wie alle anderen Bewohner der Alten Welt. Das hat zur Folge, dass bei Bourgeois die negativen Umstände der Entdeckungsfahrten, sprich die Aspekte der ‘Légende noire’, nirgends ausgeblendet, sondern als Faktum thematisiert werden.201 Den Höhepunkt bildet eine en bloc verdichtete Darstellung der Greueltaten am Ende des Epos. Kolumbus betritt einen paradiesischen Ort, in dem er sich einem von den Allegorien ‘Justice’, ‘Vérité’ und ‘Religion’ geleiteten (Welt-)Gericht stellen muss, die ihre abweichenden Beurteilungen seines Handelns abgeben.202 Während die ‘Justice’, «l’Ennemie | De tout ce qui ressent le crime ou l’infamie» (CCAD II.207), Kolumbus als Sünder anklagt, tritt die ‘Religion’ für Kolumbus’ Verdienste ein, beruhigt den durch die vorige Anklage erschütterten Kolumbus203 und argumentiert mit dem wohlbe-

198 Vgl. CCAD II.22: «Ils changerent soudain & de culte & de mœurs ; | A des Dieux étrangers, s’abandonnant sans crainte, | A la foi la plus pure ils porterent atteinte (1)» mit Anm. 1: «Adoration du Veau-d’or [...]». 199 Vgl. «Colomb se repentoit de son aveuglement. | Sur le Mont Sinaï, quand la Loi fut donnée, | Dieu parut de la sorte à la vue étonnée | D’un grand Peuple assemblé, qui ne méritoit pas | Les bienfaits singuliers que lui livroit son bras. | L’incrédule Colomb n’en usa point de même : | Il revint sur le champ de son erreur extreme ; | Et demanda [...] tout bas pardon de cette erreur [...]». 200 Vgl. «Ils ne me sont point dus ; je les rends comme toi, | A l’Être souverain qui n’est pas moins mon Roi ! | Tout autre objet de culte est une idolâtrie, | Qu’avec toute rigueur il defend & châtie» (CCAD I.27, chant II). 201 Das Gegenteil ist in Peramás’ apologetisch-pro-spanischen Epos der Fall, vgl. Kap. 2.3.4. 202 Vgl. v. a. CCAD II.252–259. 203 Vgl. Kolumbus’ Bußwilligkeit in CCAD II.208: «Je me soumets à tout, pour expier des crimes, | Hélas ! que j’avois cru permis & légitimes. | Ah, que l’homme est aveugle en son débile esprit ! | L’apparence le trompe, & l’erreur lui sourit. | [...] | Vos droits furent lésés ; j’en conviens, & me blame | D’avoir osé brûler d’une coupable flamme».

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kannten Argument der Buße: «Ton repentir suffit pour te justifier» (CCAD II.209). Zuvor hat sie erklärt, das Ziel sei eine bestmögliche Reduktion sündhaften Verhaltens.204 Die ‘Vérité’ wiederum führt Kolumbus in einem ‘Weltspiegel’ in aller Neutralität seine guten Leistungen vor. Da diese jedoch durch die darauf aufbauenden Greueltaten späterer Kolonisatoren verdunkelt würden,205 sei Kolumbus seinerseits ein «monstre en un si bel Empire» (CCAD II.214).206 Auffallend ist der negative Schlussakkord des Epos. Die Bitte der ‘Religion’ gegenüber der ‘Vérité’, am Ende noch einmal Kolumbus’ Verdienst um die christliche Religion in ihren Bericht einzubinden, wird nicht erhört. Ihr Bericht kulminiert im Horror, der sich beim Blick in den ‘Weltspiegel’ auftut: «LA [sic!] glace s’obscurcit, dès le premier instant ; | Colomb n’y vit plus rien qu’un cahos [sic!] effrayant» (CCAD II.252). All das kommt nun aber grosso modo weniger überraschend, als es in der Zusammenfassung Pratts erscheint. Das Gericht ist primär der Kulminationspunkt der ganz zu Beginn dispositorisch zugrunde gelegten Beziehung des Rachegottes zum sündigen Menschen. Durch das postlapsarische Menschenbild kommt es ein Stück weit zu einer Rechtfertigung der Eroberer, denn es gilt per se: «L’homme empoisonne tout» (CCAD II.255). Kolumbus erscheint dabei als Held, der beim Anblick des drohenden Unheils seine auf Habgier und Triebhaftigkeit zurückzuführenden Fehltritte eingesteht und so Selbstkritik und Bußbereitschaft an den Tag legt.207 Unsere Ausführungen haben damit das von Pratt en passant gefällte Urteil bestätigt, wonach es Bourgeois, wie seiner Vorgängerin Du Boccage, gelingt, die Greueltaten zu thematisieren und dabei doch gleichermaßen, «to mitigate the harm to their hero and still succeed in glorifying the great Genoan».208

204 Vgl. «le plus juste est le moins criminel» (CCAD II.206). 205 Vgl. «Dans cette Isle fameuse, ouverte à tes succès, | Voi [sic!], combien on s’y porte à d’horribles excès ?» (CCAD II.212) und ebenso «Ne t’enorgueillis point d’un aussi faux honneur, | Mais gémis bien plutôt d’en devenir l’Auteur. | Les maux de toute espece y trouveront leur source [...]. | Tu seras [...] | L’insensé qui rompit la boîte de Pandore» (CCAD II.252). S. gleichermaßen andere Stellen, etwa CCAD I.166, wo der epische Erzähler kommentiert, er würde Kolumbus hassen, wenn er durch seine Entdeckungsfahrten nicht auch für viel Positives gesorgt hätte. Das Negative, die durch die Entdeckungsfahrten geschürte Gier nach Gold und Sex, ist ein nicht geleugnetes Faktum. 206 Die ‘Vérité’ schreckt davor zurück, all die Negativa auszusprechen, vgl. «La pudeur me défend d’en dire davantage» (CCAD II.254). Die Formulierungen erinnern an den Ton des epischen Erzählers bei Du Boccage, als dieser bei der Beschreibung der Unbilden des Krieges in Schaudern gerät: «Je tremble au seul récit des maux que fait la guerre» usw. 207 Vgl. «Je sens que j’ai suivi la farouche avarice, | Que j’ai trop écouté des desirs séducteurs ; | Oui, je mérite enfin vos sentimens vengeurs» (CCAD II.208). 208 Terry M. Pratt: Of Exploration and Exploitation, S. 318.

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Sekundär werden die künftigen Probleme in der spanischen Kolonialverwaltung für antispanische Seitenhiebe nutzbar gemacht, und der selbst zwar nicht unfehlbare, aber deutlich besonnenere Kolumbus wird seinen Mitspaniern und damit der spanischen Nation als solcher gegenübergestellt.209 Alles in allem verhalten sich Kolumbus und seine Mitfahrer im Verlauf der gesamten 24 Gesänge aber überaus friedfertig.210 Anders als bei Madame Du Boccage und den neulateinischen Epen kommt es nirgends zu kriegerischen Handlung oder einem ‘ideologischen Niederringen der Heiden’. Insbesondere Kolumbus verhütet durch sein Zutun oftmals kriegerische Ausschreitungen.211 Greueltaten werden konsequent in die prognostizierte Zukunft verlagert.212 Auf diesem friedlichen, jedoch auf eine konsequente Missionierung zielenden Umgang mit den Indigenen beruht letztlich die Mission des Bourgeois’schen Kolumbus, die stets eindeutig formuliert wird. Gegenüber Goacanaric erläutert er etwa, er wolle «[p]olicer [son] Peuple, & le rendre tout autre». Dabei erfüllen die Spanier eine Modellfunktion: «[Les Espagnols] vous enseigneront & seront vos modeles» (jeweils CCAD II.70).213 Unter dieser Voraussetzung bzw. dieser dem Epos zugrundeliegenden ‘Ideologie’ dürfen die intrasemiosphärischen Spannungen zwischen Kolumbus und seinen Spaniern jeweils nur anklingen.

208 Terry M. Pratt: Of Exploration and Exploitation, S. 318. 209 Vgl. Dietrich Briesemeister: Una epopeya francesa de Nicolas-Louis Bourgeois sobre Santo-Domingo, S. 57: «Los adversaries del buen Colón son los malos españoles» und «El espíritu patriótico de Bourgeois se nutre de un sentimiento crítico antiespañol». 210 Vgl. ebda., S. 55: «Como hombre de la divina Providencia, Colón se nos presenta como misionario y catequista lego»; Kolumbus ist Träger des missionarischen Heiligen Geists und wird von Gott mit dem menschenvereinenden «don de lenguas» versehen. Er verfügt über die Fähigkeit, in der Sprache der zu Missionierenden zu sprechen; «cette métamorphose» (CCAD I.207) ist eine «Faveur surnaturelle, accordée aux Apôtres !» (CCAD I.206). 211 Über die Matrosen heißt es z. B.: «Nos Européans ne firent nul pillage ; | Il leur est défendu de s’emparer de rien» (CCAD I.149, chant IX). Über Kolumbus: «Mais sa main dans le sang ne sera point trempée» (CCAD I.152) und insbes.: «Dédommageons-le au moins de toutes les erreurs, | Où son siecle plongé, pour ternir sa mémoire, | Semble charger exprès les traits de son histoire» (CCAD I.85). Kolumbus gelingt es ohne Gewalt, drohende Kämpfe zwischen den beiden Welten rein rhetorisch zu lösen; so spricht Kolumbus zum Kaziken Caonabo wie folgt: «Aucun de nous n’en veut, à vos biens, à vos vies ; | Nous ne connoissons point de telles infamies : | C’est en vain qu’on nous prête un motif aussi noir ; | Nous pouvons plus encor donner que recevoir. | [...] | Nous ne nous proposons, dans nos soins hasardeux, | Que le tendre plaisir de faire des heureux» (CCAD II.102 f.). 212 Vgl. etwa CCAD I.172: «Un jour il en naîtra de terribles effets». 213 Gegenüber dem Kaziken Caonabo erklärt er in vergleichbarer Weise, sie seien gekommen «[p]our [...] prêcher le vrai Dieu des Chrétiens, | Pour arracher ce Peuple aux horreurs de l’abîme : | Voilà le seul devoir, l’objet qui nous anime» (CCAD II.102).

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Die Ausführungen zum Christophe Colomb des Bourgeois sollten die zentralen roten Fäden des Epos herausarbeiten. Zusammen mit der zuvor behandelten Colombiade der Madame Du Boccage bildet das Epos einen wichtigen Referenzpunkt für die folgende schwerpunktmäßige Analyse der Epen des Lesuire bzw. des Peramás. Auf der Basis des Gesagten wird sich besser nachvollziehen lassen, wie Lesuire die von Pessimismus geprägte, ‘zyklische’ Weltsicht des Alten Testaments bzw. Genesis-Berichts für sein gewollt ‘unchristliches’ Epos argumentativ ummünzt.214 Peramás wird sich, obwohl sein Epos ebenso biblisch orientiert ist, von Bourgeois’ und Lesuires pessimistischer Weltsicht verabschieden und im Sinne der Verteidigung Spaniens gegenüber der ‘Légende noire’ eine nach außen überzeugender wirkende, positive Weltsicht vertreten, die das ‘Böse’ in der Neuen Welt, dem künftigen Gottesreich, gänzlich ausblendet.215 2.3.1.4 Wissensinszenierungen bei Bourgeois und Du Boccage Auch wenn sich viele inhaltliche Parallelen zwischen Du Boccage und Bourgeois finden lassen,216 und man zurecht vermuten kann, dass Bourgeois schon zur Abfassungszeit seines Epos in seinem Exil Zugriff auf den Prätext Du Boccages hatte,217 unterscheiden sich die beiden Epen dahingehend, dass bei

214 Vgl. Kap. 2.3.2. 215 Vgl. Kap. 2.3.4. 216 Vgl. Renata Carocci: Nicolas-Louis Bourgeois, S. 7. Einige inhaltliche Parallelen lassen sich auf die beiden Texten zugrunde liegende, historiographische Darstellung des Charlevoix zurückführen, vgl. insbes. ebda. S. 9 und S. 13 f. Wie Carocci zurecht bemerkt, hat man bei der aufeinanderfolgenden Lektüre der Epen von Madame Du Boccage und dann desjenigen von Bourgeois den Eindruck «come si riprendesse le fila di un discorso da poco interrotto» (ebda., S. 9). Das lässt sich insofern auf die identischen moralisch-humanen Interessen zurückführen, als Kolumbus jeweils «come modello di virtù e di alta onestà morale» (ebda., S. 34) fungiert, vgl. auch Renata Carocci: Introduction, S. 19. 217 Aufgrund der unzuverlässigen biographischen Quellen muss die Beantwortung dieser Frage an dieser Stelle offenbleiben. Wie Carocci betont, ist lediglich davon auszugehen, dass Bourgeois’ Christophe Colomb kurz nach Madame Du Boccages Colombiade verfasst wurde. Ein Terminus post quem für die Abfassungszeit des Epos ist z. B. die Übertragung der Syphilis Fracastoros ins Französische (1753), welche Bourgeois im Epos erwähnt. Dass die Colombiade für Bourgeois ein berücksichtigenswerter Prätext gewesen ist, weist dieser in seiner ‘Préface’ aber entschieden zurück: Nach dem Abfassen seines Texts habe er a posteriori neidisch feststellen müssen, dass «une Dame accoutumée à réussir dans tous les genres de littérature» (CCAD xiij) ihm zuvorgekommen sei. Seine spontane Absicht «d’ensevelir [s]on Poëme dans un éternel oubli» sei er jedoch nach der Lektüre des Werks nicht nachgekommen, zumal die beiden Epen abgesehen von ihrem ähnlichen Titel «pas la plus légère ressemblance» (CCAD xiv) aufwiesen. Angesichts anderer Textstellen (vgl. die unmittelbar in das Epos eingewobene Stelle «L’espoir échappe à mon courage, | Depuis que ce sujet, traité par Du Boccage, |

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Bourgeois möglichst viele Themenblöcke dem im vorigen Unterkapitel dargelegten, strukturgebenden Genesis-Konzept untergeordnet werden. Das gilt zum einen etwa für die Liebesepisode, die Pratt für beide Epen als «the sole fictional ornamentation to an overly factual tale»218 heraushebt. Bei Du Boccage dienen die Liebesepisoden der ‘Variatio’ und sie bestimmen den Fortgang der epischen Handlung mit. Bei Bourgeois wird die Liebesthematik dagegen strikt dem Genesis-Konzept untergeordnet, was den Episoden ihr Eigenleben nimmt:219 Die verführenden Frauen stellen – neben den zu findenden Bodenschätzen – die zweite große Verführung der Neuen für die Alte Welt dar.220

De la Muse française ouvrant tous les trésors, | S’est orné du genie & des plus doux accords !», CCAD I.71, chant V) liegt jedoch die Vermutung nahe, Bourgeois sei in der Tat nur auf den ‘fahrenden Zug’ aufgesprungen und habe eine Adaptation der Colombiade der Madame Du Boccage vorgelegt. So die These Israel Villalba de la Güidas: Virgilianismo y tradución clásica en la épica neolatina de tema colombino, S. 111. Nebenbei bemerkt zeugen Bourgeois’ Äußerungen bezüglich seiner Vorgängerin von demselben Frauenbild, das sich in seinem gesamten Epos findet, i. e. die Verbindung von abfälliger Beurteilung und gleichzeitiger Furcht vor deren Macht. Frauen sind einerseits schwach, leicht zu verführen, und motivieren ihrerseits Männer zu Fehltritten (vgl. CCAD I.156, chant IX: «Le sexe ne sait point contraindre ses plaisirs, | Il est esclave-né de ses moindres desirs. [...] | Il prouve que le Ciel, en formant votre cœur, | Y répand le vernis de ce gout enchanteur : | [...] | Le poison est le même, il est de tous climats»). Speziell diese Macht des Verführens macht sie andererseits zum «sexe vainqueur de l’Univers entier» (CCAD I.164). Auch werden Frauen als ‘Mittel zum Zweck’ dargestellt. Die erste Annäherung der Spanier an die männlichen Einheimischen, die Kolumbus missionieren will, führt über das weibliche Geschlecht. Den Männern allein gilt Kolumbus’ «Allons les joindre ; allons [...] | [...] leur parler d’un Dieu, le leur faire connoître, | En un mot, annoncer les Loix d’un si bon Maître» (CCAD I.169). Die «misoginia» (Renata Carocci: Nicolas-Louis Bourgeois, S. 24) des Autors lässt sich ferner durch die lobende Herausstellung Isabellas als ‘Ausnahme’ belegen, vgl. «Au-dessus de son sexe elle porte l’honneur» (CCAD II.72, chant XV). 218 Terry M. Pratt: Of Exploration and Exploitation, S. 302. 219 Bei Du Boccage dienen die Liebesepisoden nicht nur der Ausgestaltung des im epischen Helden herrschenden Kampfes zwischen ‘amour’ und ‘gloire’ (vgl. COL 67–74). Gottes Verbot der Ehe zwischen Kolumbus und einer Heidin wird bei ihr von Kolumbus befolgt. In der Beziehung zu Zama spielt es zuerst als Hindernis, später – nach ihrer Bekehrung – als glückliche Wende, eine wichtige Rolle. In der Beziehung zu Vascona verändert die Ablehnung der Ehe mit einer Heidin – wenngleich die Begründung hier eher als Vorwand fungiert – entscheidend den Fortgang der Handlung, da Vascona ob dessen die Unterweltgötter beschwört und schließlich Kolumbus den Krieg erklärt (vgl. insbes. COL 115–120). Bei Bourgeois muss Kolumbus für die kurze Liaison mit einer Bewohnerin der Neuen Welt schlicht einmal öfter Gottes Rache spüren. 220 Nicht umsonst wird den Spaniern vom Kaziken Caonabo beides angeboten, als er sie willkommen heißt: «Il offre ses Palais, son Pays, ses richesses, | Veut tout abandonner, & même ses maîtresses» (CCAD II.116, chant XVIII).

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Zum anderen trifft es auf die Inszenierung des menschlichen Strebens nach Luxus zu. Bei Du Boccage bestimmt etwa die Habgier abwechslungsreich den Fortgang der epischen Handlung. U. a. beschwören die teuflischen Mächte die personifizierte ‘Avaritia’, die Eindringlinge der Alten Welt heimzusuchen – in der Hoffnung auf einen für sie positiven Ausgang des Krieges.221 Bei Bourgeois dagegen ist die Luxusgier nur in einer einzigen Sichtweise ins Epos integriert. Sie bildet einen festen Bestandteil des Eingangsszenarios und symbolisiert das ganze Epos hindurch das sündhafte Moment, das seit jeher im Menschen angelegt ist, vgl. bereits das Proömium in CCAD I.1, chant I: Pour la fertile Europe, heureuse découverte ! Qui fait notre richesse, encor plus notre perte ; Par qui dans nos climats le luxe est introduit, Source de mille maux où toujours il conduit, D’un État ébranlé fut la marque certaine, Annonce ses malheurs, & sa chute prochaine….

Das durch den Sündenfall bedingte Streben nach Luxus zerstört die Harmonie in der Alten wie in der Neuen Welt,222 und bringt «tous les autres forfaits, la fraude, l’artifice, | L’iniquité [...] | L’injuste pouvoir qui fait les malheureux» (CCAD II.257) mit sich. An einer Stelle geht Kolumbus dann auf die Ursprünge der Luxusgier ein: Nach dem göttlichen Racheakt der Vertreibung des Menschen aus dem Paradies habe der Gnadengott dem Menschen Zugeständnisse gemacht: Dieu touché de pitié, ce Pere débonnaire, Voulut bien, à la fin, désarmer sa colere: Il apprit aux mortels à réparer ces maux ; Mais il ne fit par-là qu’accroître leurs travaux.

221 Die Erwähnung der spanischen Habgier wird insgesamt ‘taktisch’ hinausgezögert und vor dem sechsten der zehn Gesänge überhaupt nicht erwähnt. Erst in chant VI schicken die Unterweltgötter als eine der letzten Maßnahmen, um den Kampf gegen die Eindringlinge aus der Alten Welt noch zu gewinnen, die personifizierte ‘Avaritia’ auf die Spanier los. Durch sie setzen dann Horrorszenarien in der Neuen Welt ein. In dieser Inszenierung ergeben sich insbes. aus der eigenen Habgier auch negative Auswirkungen für die Spanier selbst, was sonst in keinem Kolumbus-Epos der Fall ist. Vgl. COL 99 und 102. Durch diese Goldinszenierung gelingt es ferner, die ‘Légende noire’ zu thematisieren; dadurch, dass die Habgier jedoch erst recht spät als ‘böses Werk’ der Unterweltgötter inszeniert wird und sich auf wenige Episoden beschränkt, wird ihr eindeutig weniger Gewicht beigemessen als in den übrigen Kolumbus-Epen – und sie schadet auch weniger dem positiven Heldenstatus der Spanier. Das liegt zudem daran, dass Du Boccage das Streben nach Gold bereits zu Beginn des Epos positiv valorisiert, vgl. weiter unten COL 31, wo das Gold zum entscheidenden Ausgangspunkt für die Entstehung des Wissensfortschritts insgesamt wird. 222 Vgl. CCAD II.255 und II.257.

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Car la punition, attachée à nos crimes, Ne devoit point cesser sur de tristes victimes. C’est d’où sont nés les arts, utiles, fructueux, Qui nous rendent encor vains & présomptueux, Tant l’homme est de nature ingrate & corrompue ! (CCAD II.44, chant XIV, Hervorh. G.J.K.)

Aus dieser Perspektive heraus weiß der Mensch die nützlichen Künste, die ihm zugestanden werden, in seiner ihm eigenen Hybris nicht zielführend einzusetzen. Dieses Vorgehen, ‘Arts’ und ‘Orgueil’ des Menschen an den Sündenfall zu knüpfen, hat bereits Du Boccage, wenngleich nur punktuell und deutlich weniger raumgreifend, in ähnlicher Formulierung zum Ausdruck gebracht: Pour concevoir les maux que l’Orgueil a fait naître Apprenez que la Terre à peine eut reçu l’être, Que le Ciel, pour punir l’homme ingrat & sans foi, Permit que le plus fort au foible fît la loi. Le partage des biens enfanta l’Injustice. Le grand nombre, forcé de servir l’Avarice, Eut recours au Travail pour remplir ses besoins. (COL 26 f., chant II, Hervorh. G.J.K.)

Die in beiden Texten beschriebene Bestrafung des Menschen (s. den Fettdruck) besteht konkret darin, für ein ‘gutes’ Leben hart arbeiten zu müssen (s. die Unterstreichung) und sich der Künste aufwendig bedienen zu müssen. Während Bourgeois jedoch in diesem Gnadenakt nur eine weitere Strafe Gottes sieht und einen zyklischen, sich spiralförmig steigernden Rückfall des Menschen in lasterhaftes Verhalten voraussieht, wird das Zugeständnis der Künste (des Wissens, des Luxusstrebens etc.) in der weiteren Darstellung bei Du Boccage letztlich positiv beurteilt. Im einsetzenden Kampf des Menschen ums Überleben und den Erwerb der besten Güter wird die Habgier selbst als «ardeur entreprenante» (COL 33) erkannt. Das kompetitive Moment, das genuin an diese gebunden ist, stellt letztlich überhaupt erst den Motor für eine Weiterentwicklung,223 ja einen Ausgang des Menschengeschlechts aus seiner Unmündigkeit dar.224 In diesem optimistischen Konzept haben auch die Entdeckungsfahrten des Kolumbus ihren Platz.

223 Dies wird anhand des Schiffbaus und der nautischen Erfindungen exemplifiziert (s. weiter unten zur Inszenierung der Kulturgegenstände bei Du Boccage, Bourgeois und Peramás). Vgl. «Combien la soif de l’or produisit d’Arts utiles !» (COL 31) und: «ces champs [...] | Cultivés par le luxe, en seront plus fertiles» (COL 158). 224 «De la Nécessité naquirent les Talens, | Le Luxe les nourrit, & [...] | Nos soins ingénieux surpassent la Nature». «Voyez, au sein des maux, les biens qui nous couronnent» (jeweils COL 29). Die Menschen sind zudem imstande, durch Gesetze gesellschaftlicher Ungerechtigkeit in gewisser Hinsicht entgegenzuwirken.

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Auch wenn bei Du Boccage diese Sündenfall-Thematik, im Gegensatz zu Bourgeois, nicht permanent das gesamte Epos hindurch aufrechterhalten wird, ist ihr Stellenwert dennoch mit Händen zu greifen. So wird sie gerade in den allerletzten Versen der Colombiade nochmals aufgegriffen: Die letzte Handlung der Unterweltgötter besteht nämlich darin, großzügig Reichtümer in der Neuen Welt zu verteilen. Diesem Vorgehen hält der epische Erzähler die hoffnungsvolle Bitte an Gott entgegen, er möge den Menschen die Kraft geben, die vielfältigen Versuchungen erneut für ihre eigene Weiterentwicklung zu nutzen: «Grand Dieu ! fais que ta Loi, portée au Nouveau Monde, | En moissons de vertus y soit aussi féconde». Diesen bei Du Boccage angelegten Fortschrittsoptimismus wird Laureau in seinem Epos aufgreifen und noch bedeutend stärker gewichten. So wird dort ad libitum die Macht des Wissens und der Künste herausgearbeitet, durch die sich Kolumbus, aber generell auch jeder Mensch einen quasi-göttlichen Status erarbeiten kann.225 Das passt nun wiederum gut zu dem in Kap. 1.2.2 bereits knapp umrissenen, positiven zeitgenössischen Bild von Kolumbus «como prototipo del colonizador bueno, del espíritu científico y del curioso explorador».226 Laut Briesemeister hat diese Feststellung für sämtliche französische Kolumbus-Epen (und allen voran für Bourgeois’ Christophe Colomb) Gültigkeit: [L]a obra de Bourgeois se sitúa en el contexto de una evolución tardía híbrida del género hacia el didacticismo ideológico-filosófico. Los poemas colombinos visan a justificar un proyecto civilizatorio ambicioso en el marco de la discusión sobre el sentido de la historia. [...] [L]os descubrimientos son exaltados como éxito grandioso del hombre. Nada se opone al optimismo ilimitado de explicar y mejorar el mundo mediante la ciencia.227

Bourgeois’ Wissensoptimismus lässt sich am Textbefund durchaus belegen. Das Streben nach Wissen und Fortschritt sowie die Orientierung an der Vernunft kennzeichnen Kolumbus das gesamte Epos hindurch.228 So ist er etwa der Held, der für die zuhause Gebliebenen wissenschaftlich fundierte Lagepläne von Hispaniola entwirft, um sie durch diese «preuves de sa science» (CCAD II.148, chant XX)

224 «De la Nécessité naquirent les Talens, | Le Luxe les nourrit, & [...] | Nos soins ingénieux surpassent la Nature». «Voyez, au sein des maux, les biens qui nous couronnent» (jeweils COL 29). Die Menschen sind zudem imstande, durch Gesetze gesellschaftlicher Ungerechtigkeit in gewisser Hinsicht entgegenzuwirken. 225 Vgl. Kap. 2.3.3. 226 Dietrich Briesemeister: Una epopeya francesa de Nicolas-Louis Bourgeois sobre SantoDomingo, S. 54. 227 Ebda., S. 59. 228 Schon zu Beginn wird Kolumbus als rein rational handelnder Forscher inszeniert, vgl. CCAD I.14: Sein Wohnort ist «la célebre maison, | Où Colomb n’admettoit que la pure raison». Es liegt an seiner Besonnenheit, dass er im Gegensatz zu anderen einen kühlen Kopf bewahrt,

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später an seinen Erkenntnissen teilhaben zu lassen. Auch wird ganz allgemein im von der ‘Vérité’ präsentierten ‘Weltspiegel’ der Blick auf wissenschaftliche Errungenschaften gelegt, und den Franzosen wird mit Blick auf die Strömung der Aufklärung ein Vorreiterstatus zugestanden.229 Hier und da haben sich bereits weitere ForscherInnen punktuell zu dieser ‘wissenschaftsaffinen’, rein rational gelagerten Stoßrichtung des Christophe Colomb geäußert. R. Carocci unterstreicht beispielsweise, Bourgeois ziele bei der Modellierung der moralischen Qualitäten des Kolumbus auf eine «formazione dell’‹honnête homme, du héros› [sic!]» ab, «la cui ‹grandeur› morale si fonda e si stima su parametrici puramente umani, senza finalità superiore»230 Und doch täuscht insbesondere der letzte Satz des obigen Fazits von Briesemeister – «Nada se opone al optimismo ilimitado de explicar y mejorar el mundo mediante la ciencia» – darüber hinweg, dass bei Bourgeois eine gänzlich andere Valorisierung von ‘Wissen’ vorliegt als noch bei Du Boccage. Auf den folgenden Seiten soll die bis dato noch nicht aufgezeigte Bandbreite des Aufeinandertreffens bzw. Relationierens von ‘Religion’ und ‘Aufklärung’ offengelegt werden, die sich in den Kolumbus-Epen finden lässt. Die menschliche «ciencia» ist ein in Bourgeois’ Epos sehr wohl ambig behandeltes Phänomen. Blicken wir hierzu eingangs auf einige Passagen, in denen das Verfügen über Wissen negativ konnotiert ist: (1) Kolumbus’ Affinität zur Wissenschaft wird zum Grund für seinen ersten großen, von Gott bestraften Fehltritt, da er wegen seiner vernunftgeleiteten Einstellung an Gottes Auftrag zweifelt. Der zu ihm gesandte Engel weist Kolumbus darauf hin, dass Gottes Wille und Wirken weit über das hinausgehen, was der Mensch sich vorstellen kann: Ce que je vous dirai, quoiqu’il soit véritable, Va vous paroître un songe, une erreur incroyable : Mais craignez en tous points le rapport de vos sens, Ils sont aussi trompeurs souvent qu’éblouissans ; [...] Je dois, n’en doutez pas, vous conter des mysteres. (CCAD I.18)

Dass Gottes Wirken nicht empirisch erfahrbar ist, ist eine Lektion, die Kolumbus, der stets primär auf die Vernunft gehört hat, erst lernen muss. Obschon der epi-

vgl. CCAD I.110 f., chant VII: «QUOIQUE du Phénomene il paroisse occupé, | Colomb semble le seul qui n’en soit point frappé ; | Il vouloit seulement en démêler la cause». 229 Vgl. «la France, | Qui montre son amour, son gout pour la science» (CCAD II.218, chant XIII) und mit dem Zoom auf Ludwig XV., der zur Vermessung der Welt Astronomen entsendet. 230 Renata Carocci: Nicolas-Louis Bourgeois, S. 25 f. Kolumbus sei «dotato di altissime qualità morali ed intellettuali» (ebda., S. 27), «[s]ereno nel pericolo» und «moderato nel giudicare» etc. (ebda., S. 26).

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sche Erzähler für den überforderten Kolumbus Partei ergreift,231 wird dieser dennoch von Gott für sein Zweifeln bestraft.232 Erst nach der Belehrung durch den Engel wird sich Kolumbus der Bedeutungslosigkeit menschlichen Wissens bewusst, welches den Weg zu Gott versperren kann.233 Zu Beginn der zweiten Werkhälfte findet sich eine analoge Botschaft, die diesmal jedoch Kolumbus an einen Kaziken richtet: «Dieu veut une foi pure, & punit l’indiscret | Qui, même en l’admirant, recherche son secret». Kolumbus’ Ausführungen zielen darauf ab, dass Gott Gläubige haben möchte, die sein Wirken nicht hinterfragen – ungeachtet des aktuellen Stands der von Menschen geschaffenen Wissenschaft. Nicht umsonst sei die frohe Botschaft von Jesu Geburt seinerzeit «simples Bergers épars dans la Contrée» (jeweils CCAD II.26) überbracht worden. Gott bevorzuge einfach gestrickte Menschen, die nicht durch ihr Scheinwissen voller Hybris seien:234 L’HOMME-DIEU, pour fonder sa Religion sainte, De son sang arrosée & dont l’Eglise est teinte, Ne s’adressa rien moins qu’à ces Doctes impurs : Il confia ses Loix à des hommes obscurs ; Qu’afin d’humilier l’orgueil de la science, Il sut exprès choisir au sein de l’ignorance, Les comblant de ses dons, remplissant leur esprit De ce souffle divin qui jamais ne périt. C’est à de vils Pêcheurs qu’il dicta ses maximes [...]. (CCAD II.29)

(2) In mannigfaltiger Weise wird im Christophe Colomb die Unterlegenheit des menschlichen Wissens gegenüber dem göttlichen vor Augen geführt. Beispielsweise sei hierbei auf die ‘um die Ecke’ gedachte Inszenierung der Vorstellung des Kolumbusprojekts an den Königshöfen verwiesen. Kolumbus’ Reiseplan wird von den Verantwortlichen dezidiert als fehlerbehaftet entlarvt und daher aus wissenschaftlicher Sicht abgelehnt. Der epische Erzähler räumt diese Ablehnung aufgrund mangelnder Durchdachtheit des Projekts ein. Die Zurückwei-

231 Vgl. «Un tel doute [...] n’est-il point excusable ? | [...] | Qui n’écoutoit encor que l’humaine raison, | Pouvoit bien se méprendre à ce singulier don !» (CCAD I.21). 232 Vgl. CCAD I.25: «CE [sic!] que je vous prédis doit bien mieux vous surprendre, | Vous qui ne concevez que ce qu’on peut comprendre, | Pour qui tout est prestige, erreur, illusion ? | Tant de doute vous vaut cette punition». 233 Vgl. CCAD I.38, chant III: «je crains seulement, connoissant sa foiblesse, | L’infortune attachée à l’humaine sagesse ; | Elle n’est que folie où vous [sc. grand Dieu; G.J.K.] l’abandonnez». 234 Vgl. die ähnliche Formulierung «il ne s’adressoit qu’à de simples Marins, | Gens exempts du poison que répand l’Athéisme, | Et dont l’esprit grossier ne tend jamais au Schisme», als sich der Engel in der Verkleidung eines Gestrandeten zu Beginn des Epos an die Matrosen wendet, an einfache, im Glauben verwurzelte Leute.

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sung ist aber, wie alles, gottgewollt und beweist ganz generell den Zustand der Hybris, in dem sich ‘Forscher’ aufgrund ihres scheinbar eindeutigen Wissensstandes befinden. Sie belegt außerdem, dass jedem Menschen der Weg zur absoluten Wahrheit versperrt bleibt, da ihm in seiner Verblendung stets Falsches als ‘wahrscheinlich’ erscheint. Schließlich kann er sich immer nur auf eigentlich nichtige Argumente des menschlichen Verstandes verlassen.235 Das Gesagte legt bereits die Vermutung nahe, dass Briesemeisters Fazit für die französischen Kolumbus-Epen – «Nada se opone al optimismo ilimitado de explicar y mejorar el mundo mediante la ciencia» – auf Bourgeois nur in eingeschränktem Maße zutrifft.236 In Anbetracht der bei 24 Gesängen beachtlichen Textmenge soll im Folgenden lediglich exemplarisch anhand eines schlagenden Beispielkomplexes offengelegt werden, wie die Aspekte ‘Religion’ und ‘Wissenschaft’ in Bourgeois’ Christophe Colomb miteinander gedacht werden. Die ausgewählte Episode findet sich in chant VII, in dem Kolumbus mehrmals versucht, seine meuternden Matrosen237 zum Fortführen der Fahrt gen Neue Welt zu motivieren. An einer Stelle klagen diese Kolumbus an, er würde am Abend die Schiffe in die falsche Richtung lenken:238 Leurs yeux plus clair-voyants, plus doctes & plus fins, De terre appercevoient des signes plus certains. Le héros vainement disoit aux équipages, Que cette illusion ne vient que des nuages, Qui, vus dans le lointain, trompent facilement (1). (1) Je dois mettre ici une note en faveur de ceux qui ne connoissent point la Mer, ou qui l’ayant vue n’ont jamais fait aucun voyage de long cours : le spectacle qu’on apperçoit au Ciel, sur la terre, un peu avant le coucher du soleil, où il paroît un nombre d’objets diversifiés à l’infini, n’est encore rien en comparaison de ce que l’on y remarque quand on est en pleine Mer ; la repercussion des rayons de lumiere, réfléchis sur la surface des eaux, représente quelquefois la terre si parfaitement, que les Marins sont souvent trompés euxmêmes. (CCAD I.117, chant VII, samt Anm.)

235 Vgl. das Fazit in CCAD I.43, «[q]u’en ce qui peut toucher sa divine science, | Le plus docte savoir n’est toujours qu’ignorance, | Et que souvent le vrai paroît faux à leurs yeux, | Lorsque le faux surprend leurs sens audacieux». 236 Vgl. demgegenüber die Inszenierung der Reisevorbereitungen bei Laureau, wo Kolumbus zum «génie lumineux» (AD 48) wird und das ‘Licht der Aufklärung’ aus dem Arbeitszimmer Toscanellis strömt und Kolumbus inspiriert. 237 Vgl. die Appendix. 238 Vgl. «il guidoit mal leurs pas» (CCAD I.117, chant VII).

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Wie die enzyklopädische Fußnote ausführt, ist das Verhalten der Matrosen rational begründbar: Letztendlich sind sie – aufgrund ihrer leicht irrezuführenden menschlichen Sinne239 – Opfer einer optischen Täuschung. Kolumbus hebt sich aufgrund langjähriger Expertise vom Rest der Matrosen durch einen Wissensvorsprung positiv ab. Dieses Herausstellen des tiefergehenden Wissens des ‘weisen Aufklärers’ (im vorliegenden Fall im Bereich der Geographie bzw. Nautik) dokumentiert prototypisch, wie in Bourgeois’ Epos das Verfügen über ein ‘Mehr’ an Wissen bzw. ein ‘aufgeklärtes Wissen’ per se positiv bewertet wird:240 weltliches Wissen kann durchaus zweckmäßig sein und sinnvoll zu ‘gottgewollten’ Zwecken eingesetzt werden. Es wird jedoch dann zum Problem, wo sich Menschen in ihrer Borniertheit an dieses scheinbar ‘nicht optimierbare’, vernunftbasierte Wissen klammern: In Form eines auffälligen Anachronismus – die Handlung spielt ja im Jahre 1492 – werden die Matrosen im selben Meuterei-Kontext in ihrem ungebrochenen Vertrauen auf nur scheinbar fortschrittliches Wissen gezeichnet. Der Teufel, der über den aktuellen Wissensstand der Menschheit genau Bescheid weiß, generiert eine optische Täuschung, welche die Matrosen von der Entdeckung der Neuen Welt abhalten soll, und stimmt diese gezielt auf die spanischen Matrosen ab. So erscheint vor deren Augen ein in Nebel gehüllter Hölleneingang. Unter Rückgriff auf ihr spezifisches Vorwissen gehen sie prompt davon aus, sie hätten es mit einem unüberwindbaren Hindernis zu tun und befänden sich am Ende der Welt: «Engagés, enfoncés dans une erreur profonde, | Ils vouloient que ce fût ici le bout du monde» (CCAD I.112). Das Vorwissen, das der Teufel sich an dieser Stelle für sein ‘Irreführen’ zunutze macht, ist das mechanistische Weltbild einer der großen Schlüsselfiguren des 17. Jahrhunderts: «[Ils vouloient q]ue, par-delà la voûte où l’œil trompé se perd, | Un tourbillon sans fin & de vapeurs couvert | De ce globe entraînât la solide machine ; | Qu’aller plus loin seroit courir à sa ruine» (CCAD I.112, Hervorh. G.J.K.). Unverkennbar spielt diese Passage auf René Descartes’ Hypothese an, [que] le réel est constitué comme une machine, [...] [et que] tous les phénomènes sont produits comme un déplacement dans une machine. [...] Le monde de Descartes [...] est un monde oú rien ne se perd et rien ne se crée. [...] [L]a matière [...] est l’étendue, continue

239 An anderer Stelle (CCAD I.139, chant VIII) werden die mangelhaften menschlichen Sinne als Strafe Gottes an der sich stets versündigenden Menschheit beschrieben: «nos sens, | Dont les fragilités sont de tristes présents, | Que Dieu dans sa colere [...] | Pour punir un forfait a semé sur la terre : | Terrible châtiment plus cruel que la mort !». 240 Auch wenn es ihm – zumindest an dieser Stelle – nicht gelingt, sich gegen die Übermacht des Nicht-Wissens durchzusetzen, vgl. CCAD I.118: «Leur savant Amiral ne pouvoit les convaincre».

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comme elle, sans vide. [...] Toute étendue étant matière, il suffit de supposer, à l’origine, de vastes tourbillons ellipsoïdaux ou sphériques, tournant sur eux-mêmes [...].241

Kolumbus dagegen lehnt dank seines gottgegebenen Weitblicks ein Umkehren furchtlos ab.242 Beim Versuch, seine Leute vom cartesianischen Weltbild abzubringen, verschlimmert er die Lage: [Colomb] ne fit qu’aigrir ce fol emportement : Que servent les raisons contre l’entêtement ? En voulant expliquer cette horreur de tout vuide, Qu’un Savant de nos jours prenoit pour son égide, La base d’un système aussi-tôt foudroyé, Il pensa dans l’instant être sacrifié. (CCAD I.112 f., Hervorh. G.J.K.)

Man beachte die rhetorische Umkehrung der Darstellung (vgl. die Kursivierung): Der Begriff ‘raison’ wird gerade nicht den Matrosen zugeordnet, die auf scheinbar vernunftbasiertes Wissen zurückgreifen. Vielmehr wirft ihnen der christlich motivierte Kolumbus ihr vernunftloses Versteifen auf Scheinwissen vor. Dass es sich beim «Savant de nos jours» um Descartes handelt, wird vom Autor an selber Stelle in einer enzyklopädischen Fußnote erhellt: C’est du plus grand Philosophe qu’ait eu la France, en un mot de Descartes que j’entends parler. Sans lui, la Philosophie moderne seroit peut-être encore au rang de ses tourbillons, & de quelques autres de ses systêmes, qui ne sont que des rêves ingénieux. Mais convenons que ce génie créateur nous a mis sur la voie pour trouver mille & mille vérités, que lui-même avoit entrevues ?

Anhand dieser Fußnote lässt sich eine im gesamten Epos zu spürende Ambiguität ablesen: Zum einen tritt die Bewunderung des Autors für die Geistesgrößen des 17. Jahrhunderts und für deren Beitrag zur Weiterentwicklung der Philosophie bzw. zum menschlichen Fortschritt allgemein zu Tage. Zum anderen sehen wir die abfällige Inszenierung nur scheinbarer Errungenschaften des menschlichen Geistes bzw. die «Denigration von Wahrheit beanspruchenden philosophischen Systemen».243 Klaus W. Hempfer hat ausgehend von Cassirer konstatiert, dass

241 Gilbert Simondon: Sciences de la nature et sciences de l’homme. In: Gilbert Simondon/Nathalie Simondon u. a. (Hg.): Sur la philosophie. 1950–1980. Paris: Presses Universitaires de France 2016, S. 309, Hervorh. G.J.K. 242 Vgl. «LE [sic!] Génois contemploit ces folles visions, | Fut le seul qui les prit pour des illusions, | Des embûches que tend le Dieu de l’Onde noire, | Pour faire trébucher qui marche dans la gloire» (CCAD I.114). 243 Klaus W. Hempfer: Zum Verhältnis von ‘Literatur’ und ‘Aufklärung’. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 115 (2005), S. 38.

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eben dieser kritische Blick auf einen «von apriorischen Annahmen ausgehenden hypothetisch-deduktiven Aufbau eines ‹Systems›» typisch für ein neues Verständnis von Wahrheit und Philosophie im 18. Jahrhundert ist, das «sich nicht mehr an den philosophischen Lehren der Vergangenheit, den großen Systementwürfen eines Descartes oder Malebranche, eines Leibniz oder Spinoza orientier[t]».244 An Bourgeois’ Kolumbus lässt sich insofern der für das 18. Jahrhundert beobachtete «Wandel im Denkstil»245 ablesen. Doch auch wenn dieser Grundhabitus dem 18. Jahrhundert generell entspricht, wird weltliches Wissen als solches im ‘pessimistischen’ Gesamtszenario des Christophe Colomb vergleichsweise kritisch gesehen. Bourgeois’ abfällige Inszenierung relativ zeitgenössischen (oder zumindest post-kolumbischen) Wissens setzt dabei eine gute Kenntnis der betreffenden Theorien voraus. Mit Blick auf den Einbezug von ‘Systementwürfen des 17. Jahrhunderts’ sei zudem angemerkt, dass sie – sei es beabsichtigt oder nicht – punktuell den epischen Erzähler selbst bei seiner Darstellung der Handlungswelt bestimmen, ohne dass sie problematisiert werden. In einer rein christlich geprägten Passage, in welcher der christliche Gott als Urheber der Welt herausgestrichen wird, verwendet der epische Erzähler – scheinbar ungeachtet der vorausgegangenen, oben vorgestellten Abfälligkeiten – bei der Nachzeichnung der Genesis ganz neutral, und ohne daran Anstoß zu nehmen, ähnliche Wendungen: «[Dieu] a créé de rien cette machine ronde, | A qui l’on a donné le nom pompeux de Monde» (CCAD I.212, chant XII, Hervorh. G.J.K.).246 Man ist geneigt, solche Sätze mit dem zuvor kritisierten, im 17. Jahrhundert verhandelten Weltbild in Verbindung zu bringen. Dort, wo sich ‘moderne’ Theorien als praktische ‘Beschreibungsmodi’ anbieten, greift Bourgeois auch darauf zurück.247 Dort, wo sie konkret thematisiert werden, werden sie jedoch als ‘von Menschen ersonnen’ und dadurch als potentiell fehlerhaft entlarvt, was sie der göttlichen Autorität unterordnet. Kolumbus nimmt insofern eine Sonderstellung ein, als er als Vertreter Gottes sowohl über ein umfangreiches Weltwissen verfügt als auch über die Einsicht darin, dass er dies allein Gott zu verdanken hat.

244 Ebda., S. 23 f. 245 Ebda., S. 25. 246 In diesem Moment unterscheidet er sich kaum von Du Boccage, die Descartes ebenso bedenkenlos lobend erwähnt: «[Descartes qui d]e son Siecle éclairé paroît l’heureux Génie» (COL 162). 247 Vgl. für ein weiteres Beispiel Kap. 3.2.6.

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Exemplarischer Vergleich: Kulturgegenstände bei Du Boccage, Bourgeois und Nachfolgern Erweitert man den Fokus nun durch einen Vergleich mit anderen KolumbusEpen, lässt sich so die eigenwillige Wissensinszenierung des Christophe Colomb weiter herausarbeiten, die verschiedenste Ebenen des Epos und seines Aufbaus bestimmt. Während Du Boccage ein tiefes Vertrauen in den technischen Fortschritt erkennen lässt, haben wir es bei Bourgeois – und später genauso bei Peramás, der dasselbe Motiv aufgreift – mit einer deutlich stärker ausgeprägten Kritik an der Fehlerhaftigkeit des menschlichen Wissens zu tun. In der bereits des Öfteren angesprochenen Rede des Kolumbus an den Häuptling in chant II der Colombiade lobt Kolumbus «de l’Aimant la puissance» (COL 32) und damit den Kompass als eine der wichtigsten nautischen Erfindungen bzw. Kulturgegenstände der Alten Welt.248 In chant IV wird wenig später der Kompass neben weiteren Erfindungen, wie dem Buchdruck und dem Schwarzpulver, als entscheidende Basis für die Entdeckungsfahrten herausgestellt. Ein von Gott gesandter Engel macht Kolumbus darauf aufmerksam,249 dass er nicht bei seiner geliebten Zama verweilen kann, sondern seine Entdeckungsfahrten in die Neue Welt fortsetzen müsse. Als Grund werden die genannten Erfindungen angeführt, die Gott ihm als nötiges Handwerkszeug für die Erkundung an die Hand gegeben habe250 – wodurch sein schicksalhafter Weg vorgezeichnet sei: «Quand le sort prévoyant à te servir s’apprête, | Quel charme dangereux borne ici ta conquête ?» (COL 69). Damit gehen in der Colombiade menschliches Wissen und göttlicher Wille Hand in Hand, Religion und Wissenschaft werden bei ihr zusammengespannt in einer positiv-bejahenden Weltsicht.251

248 «Un métal, toujours fixe au point qu’il envisage, | Vers ces climats glacés guide nos mâts errans. | [...] | Son Art [...] sçut régler | L’Arbre modérateur de nos vastes Canots dans les flots» (COL 32). 249 Analog zu Merkur vor Aeneas bei Dido. 250 Vgl. «Dans le siecle dernier, pour y guider tes pas, | Un Génie inventeur prépara la Boussole | Le Salpêtre, enflammé par le souffle d’Eole, | T’arma de son tonnerre, & pour graver tes faits, | D’un Alphabet d’Airain l’Art inventa les traits» (COL 69). 251 Die den Menschen eigene «ardeur entreprenante» (COL 33, chant II) ist eine (positiv zu deutende, da) gottgewollte Folge der Erbsünde. In genau dieselbe Richtung zielen en passant Erwähnungen des aufgeklärten Wissens und Fortschritts, die in ihrer Vagheit sowohl christlich-gläubig als auch rein rational-fortschrittsgläubig gedeutet werden können. Wenn Kolumbus z. B. vor dem Kaziken Canaric auf Hispaniola von der ihn leitenden ‘Sagesse’ spricht, kann damit sowohl Gottes Weisheit gemeint sein als auch das aufklärerische Wissen des technischen Fortschritts: «croyez que la Sagesse, | Pour le bien des Humains, m’a conduit dans vos Champs» (COL 95). Auch wird die gängige Lichtmetapher des Zeitalters der Aufklärung ohne Abstriche auch auf den christlichen Glauben übertragen, vgl. etwa den Bericht des Erzählers

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Demgegenüber werden bei Bourgeois die neuzeitlichen Künste und der technische Fortschritt negativ valorisiert: Menschen machten von Natur aus Fehler, damit seien auch deren Erfindungen fehlerbehaftet. Gott hingegen sei ein stets ‘fehlerfreier Kompass’:252 Cette heureuse Boussole [...] Son inconstance encore n’a que trop de témoins ! L’aimant qui la dirige, inconnu dans lui-même, Peut-il faire oublier la Puissance suprême, Qui seule nous conduit, & veille sur nos pas ? Un moment d’abandon seroit notre trépas. COLOMB se fiant trop à l’aiguille aimantée, Vers le Septentrion eut sa Flotte emportée, Lorsqu’il comptoit gagner, sur la foi du compasse, Une terre au Midi [...] (CCAD II.263 f.)

Noch mehr Konturen erhält dieser Vergleich, wenn man auch das dritte stark christlich-religiös motivierte Epos unter den Kolumbus-Epen ab 1750, Peramás’ De invento Novo Orbe, mitberücksichtigt, in dem dasselbe Motiv verarbeitet wird.253 Anders als bei Bourgeois wird bei Peramás der technische Fortschritt nicht per se abgewertet, sondern als neutrales Faktum behandelt. Da die gesamte Überfahrt unter Gottes Schutz steht, wacht er auch über das von den Matrosen eingesetzte technische Hilfsmittel, das nur scheinbar eigenständig funktioniert: Eigentlich setzt ein Engel «die Ausrichtung des beweglichen Stahls im Glasgehäuse»254 fest. Halten wir also fest: Die ‘christliche Stoßrichtung’ der drei Epen unterscheidet sich spürbar voneinander: Während Bourgeois an die in den Vordergrund gestellte pro-christliche Grundhaltung häufig und dezidiert eine wissenschaftsablehnende koppelt, blendet Peramás modernen technischen Fortschritt über weite Strecken komplett aus bzw. ordnet ihn dann, wenn er ihn erwähnt, direkt dem göttlichen Wirken unter. Madame Du Boccage gesteht dem Menschen ein eigenständigeres Produzieren von – bzw. ein freies Hantieren mit – Kulturgegenständen zu, wodurch ihr Text eine Lesart ermöglicht, die beide Untergruppen des Lesepublikums (‘dezidiert religionsaffin’ und ‘wissenschaftsaffin’) zu bedienen vermag.

bei Kolumbus’ Kampf gegen Vascona: «Colomb [...] ne fait qu’obéir à la Foi qui l’éclaire» (COL 127, chant VII, Hervorh. G.J.K.). 252 Die Spanier befinden sich in der anzitierten Stelle am Ende des Epos auf dem Rückweg in die Alte Welt. 253 Vgl. Kap. 3.2.2. 254 Vgl. DINO 2.50–53.

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Blicken wir zur Fundierung des Gesagten noch auf diejenigen Stellen, in denen der ‘Spiegel’ eine Rolle spielt. Es sei vorausgeschickt, dass sich insbesondere drei Möglichkeiten anbieten, diesen Kulturgegenstand in ein Epos zu implementieren. Diese stehen in engem Konnex zur literarischen Tradition des Spiegelmotivs seit der Antike,255 für das E. Már Jonsson (1995) in seiner Monographie zum Spiegelmotiv bestimmte Grundverwendungsweisen unterscheidet: (1a) als Mittel wissenschaftlicher Erkenntnis und – im Kontext der Seereisen – insbesondere als nautisches Instrument, das eine ‘vision indirecte’ auf die Gestirne ermöglicht;256 (1b) als Mittel des Ausdrucks der Nähe zu Gott;257 (2) als Mittel des interkulturellen Kontakts bzw. der erotischen Annäherung.258 Je nach ideologischer Grundausrichtung des jeweiligen Kolumbus-Epos erhalten diese Spielarten eine andere Gewichtung. Der Rückgriff auf den Spiegel im Sinne der ‘vision indirecte’ findet sich in Peramás’ christlichem Epos sowie in demjenigen Lesuires, das primär deistischen Vorstellungen von einem überall in der Natur zu findenden Schöpfergott

255 Wenngleich dort freilich noch z. B. poliertes Metall als ‘Spiegel’ herangezogen wurde. 256 Einer Már Jonsson: Le miroir. Naissance d’un genre littéraire. Paris: Les Belles Lettres 1995, S. 35, spricht von einer «vision indirecte», bei der der Spiegel als «instrument d’observation astronomique» (ebda., S. 34) eingesetzt wird und wissenschaftliche Zwecke erfüllt. 257 Die vorgenannte ‘vision indirecte’ wird einerseits schon im 4. Jhdt. bei spätantiken Theologen mit einer Erkenntnis Gottes und seiner Schöpfung verknüpft. Erdenbewohner könnten nur einen ‘Spiegel’ der gesamten Schöpfung sehen und erst nach dem Tod den vollen, direkten Einblick in die Schöpfung und das ewige Leben erlangen, vgl. ebda., S. 116, zu Augustinus. Der Spiegel wird hier zum Symbol für diesen irdischen Blick. Andererseits spricht Már Jonsson vom ‘mouvement ‘socratique’’ einer durch den Spiegel ermöglichten ‘connaissance de soi’, die gerade im Neoplatonismus als ‘Mittel des Aufstiegs’ große Bedeutung erlangt; vgl. ebda., S. 60–63 und S. 89–95. Dabei fasst Már Jonsson den «symbolisme catoptrique» (ebda., S. 150) wie folgt zusammen: «le miroir montre à l’homme à la fois qui il est (connaissance de soi), quel est son but surnaturel, et la béatitude (vision indirecte)». Auf die breite Entwicklung der Spiegelmetaphorik (z. B. die drei Funktionen des Spiegels im Mittelalter und die sich entwickelnde literarische Gattung des ‘Miroir’) kann hier lediglich verwiesen werden. Már Jonsson unterscheidet für das Mittelalter den ‘miroir de la nature humaine’, den ‘miroir de la créature’ und den ‘miroir de l’Écriture’ bzw. der ‘Révélation chrétienne’. 258 Es kommt oft zu einer Pervertierung der in den vorangehenden Anm. genannten positiven Grundeinstellung. Diese ist oft «étroitement lié à la galenterie et à l’érotisme» (ebda., S. 46). Insbes. ist der Missbrauch des Spiegels zum Generieren falscher Abbilder zu nennen. Eine Pervertierung der ‘connaissance de soi’ liegt u. a. dann vor, wenn der Spiegel als «objet de luxe» (ebda., S. 42) für übertriebene Körperpflege genutzt und zum Symbol der Effeminiertheit wird. Berühmt geworden ist der moralische Exkurs in Senecas Naturales quaestiones 1, 16 f. zum Zerrspiegel im Schlafgemach des Hostius Quadra, nachdem zuvor das Phänomens der Lichtreflexe behandelt worden ist.

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folgt.259 Bei Peramás wird der Spiegel im ersten Buch zweimal als technische Errungenschaft bzw. astronomisches Hilfsmittel eingesetzt;260 im dritten Buch vergrößert ein ‘nitens speculum’ die Sehleistung des Kolumbus, als dieser das eindrucksvolle Naturschauspiel am Isthmus von Panama bewundert, wo sein Blick zu allen Seiten nur blaues Meer einfängt.261 ‘Moderne’ technische Gerätschaften ermöglichen jeweils einen kontemplativen Weitblick. In Buch 3 wird dies mit einem Gebet des Kolumbus an den Schöpfergott verbunden: «O pater Omnipotens [...]» (DINO 3.397). Dieselbe atmosphärische Aufladung besitzt das weitgehend identische, ebenso am Isthmus von Panama angesiedelte Szenario bei Lesuire, wo ein weiser Einheimischer Kolumbus erklärt: «Voilà [...] mon Temple» und ihn auffordert: «Homme, dans son Ouvrage, adore ton Auteur. | Que ton ame s’étende avec le créateur» (NM II.27, chant XIV). Es verwundert nicht, dass auch in Bourgeois’ christlichem Epos dieser Panoramablick an einem Punkt der Überfahrt eingeflochten wird, «où l’on ne voyait plus que les Cieux & les Ondes» (CCAD I.100, chant VI).262 Bei Bourgeois kommt es bei diesem kontemplativen Blick auf die Schöpfung aber gerade nicht zur Verwendung eines Spiegels. Kolumbus stimmt vielmehr eine Rede an, in der er Gottes Wirken klar von den bedeutungslosen menschlichen ‘Künsten’ abhebt.263 Ganz anders ist die Inszenierung des Spiegels bei Madame Du Boccage, wo er zum modernen Mittel der Liebesannäherung wird. Das deutlich an die Begegnung zwischen Dido und Aeneas erinnernde, in eine Grotte versetzte Zusammentreffen von Kolumbus und Zama wird um die Übergabe des technischen

259 Vgl. Kap. 2.3.2 und Kap. 2.3.4. 260 Vgl. «Objectant oculos vitri splendentis in orbem, | Explorantque situs cœli vultumque magistri» (DINO 1.779 f.) mitsamt einem Vergleich mit dem mythischen Daedalus, «[qui] haud aliter [...] [c]aptabat Solis radios» (DINO 1.786–788), der sich eben dieser kunstfertigen Technik bereits vor Kolumbus’ Zeiten bediente. S. ebenso DINO 1.32–36. Feile Tomes kommentiert die betreffenden Stellen und spricht von «a sort of sea astrolabe» zum Auffinden der Sonne oder des Polarsterns als «means of calculating latitude at sea» (Maya Feile Tomes: Neo-Latin America, S. 146). 261 Vgl. DINO 3.384–386. 262 Vgl. NM I.100: «Et deux mers [...] semblent se joindre aux Cieux» und den Prätext Vergils, Aen. 3.192 f.: «nec iam amplius ullae | apparent terrae, caelum undique et undique pontus». 263 Vgl. «C’étoit pour son esprit un tableau merveilleux. | Il voyait, contemploit, au gré de son génie, | D’un aussi beau dessein la merveille infinite. | Tout excitoit en lui l’amour du Créateur ; | Il décidoit par-là de sa juste grandeur. | ‹L’art ne peut, disoit-il, imiter ces prodiges ! | Ce sont des vérités, & non point des prestiges | Tels que dans ces bas-lieux enfante le savoir ! | On reconnaît par-tout un céleste pouvoir, | Une divine main qui traça ces merveilles, | Au-dessus de nos Arts & des plus doctes veilles ![›]» und die sich anschließenden Verse: «accourez voir ces miracles insignes [!] | [...] | CHAQUE objet l’élevant aux contemplations, | Lui fournissoit matiere à des réflexions : | Toutes avoient pour but l’Auteur de la nature» (CCAD I.101, chant VI).

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‘Novums’ an die Angebetete angereichert.264 Neben der erotischen Konnotation, die der Spiegel seit der Antike besitzt, erlaubt die Übergabe das Einflechten einer Lobrede auf den technischen Fortschritt der Alten Welt. In folgendem Auszug wird Zamas Entzückung zum Ausdruck gebracht: Der ‘moderne’ Spiegel wirft – anders als eine natürliche Wasseroberfläche, die sie bislang als ‘Spiegel’ nutzte – ein dauerhaftes Spiegelbild zurück: «Quand le cristal des Eaux lui rendoit ses attraits, | Bientôt leur mouvement en effaçoit les traits ; | Ici le portrait fixe attendoit que sa vue | En contemplât de près la forme & l’étendue».265 Diese Passage lässt sich kontrastiv wiederum einem Auszug aus Bourgeois’ Epos gegenüberstellen, in dem gleichermaßen der Moment des ersten Blicks in einen Spiegel beschrieben wird.266 Die Einheimische macht in der Bourgeois’schen Beschreibung einen weitaus naiveren Eindruck, da das Phänomen der Lichtreflexion ihr – angesichts ihrer «foible intelligence» – völlig unbekannt ist.267 Zudem wird ihre Reaktion, nämlich hinter den Spiegel zu blicken, um zu prüfen, ob dort ein anderes Mädchen steht, zum Aufhänger für das Einflechten einer Kritik an Descartes’ Metaphysik und seiner strikten Trennung von Tier und Mensch (bzw. ‘raison’ und ‘instinct’).268 Dieser Exkurs wird unterstützt durch drei beigefügte Fußnoten: Die ersten beiden Anmerkungen erläutern, dass der Blick der Frau hinter den Spiegel auch für Tiere typisch sei, und man angesichts der Ähnlichkeiten zwischen Tieren und (‘beschränkten’) Menschen nicht nur Letzteren ein ‘raisonnement’ zugestehen dürfe, während man in Tieren instinktgeleitete Maschinen sehe. In der dritten

264 Ferner ist die Spiegelepisode gewiss als Variation auf die Spiegelepisode bei Miltons Eva gedacht. 265 Und weiter: «L’Amour le rend si beau que l’Indienne a peur | Que l’art à ses appas ne prête un fard trompeur ; | Mais, pour la rassurer, près d’elle sur la glace | Son Amant trait pour trait paroît sur la surface. | Quel prodige, dit-elle, Etre inspiré des Dieux, | Par un autre toimême enchante encor mes yeux ?» (COL 66, chant IV). 266 «Le miroir acheva de séduire son cœur. | Le prodige passoit sa foible intelligence, | Elle le fit trop voir par son extravagance : | La surprise, la joie, éclatoient dans ses yeux ; | Ses mouvements offroient un tableau curieux. | Son corps se repliant en cent & cent postures, | Dont la glace imitoit les diverses figures, | Elle cherchoit derriere, une image qui fuit, | Et qui, dès qu’elle veut, soudain se reproduit» (CCAD I.142 f., chant VIII). 267 Hier haben wir es insbes. wieder mit einem misogynen Seitenhieb auf das in den Augen des Autors leicht zu verführende weibliche Geschlecht zu tun, das jegliche Art von Schmuckgegenstand verehrt, sodass der Spiegel als «l’étendard de la troupe femelle» (CCAD I.157, chant IX) bezeichnet wird. 268 Dies geschieht in Form einer Apostrophe an Descartes’ Anhänger: «AINSI, Cartésiens, vos doctes rêveries, | Par cet exemple seul, sont ici démenties ? | Cet être organisé, semblable aux animaux | Qu’ont voulu décrier vos raisonnements faux, | En imite plusieurs dans une erreur commune. | La vérité pour vous fut toujours importune ! | Vous changez vainement la raison en instinct ; | Qu’ont-ils tant, après tout, entr’eux de si distinct ?» (CCAD I.143).

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Fußnote folgt die Kritik an jeglicher begrifflichen Metaphysik, die Gottes Wirken zu sehr einschränkt.269 Es wird dazu aufgefordert, die Willkürlichkeit bei der Wahl der Begrifflichkeiten einer metaphysischen Theorie einzugestehen.270 Der Kulturgegenstand ‘Spiegel’ dient hier höchstens noch einer ‘skeptizistischen’ wissenschaftlichen Erkenntnis und damit letztlich – über einen Umweg – erneut einem Lob der göttlichen Schöpfung: «Les lumieres du Dieu qui fit les uns, les autres, | Ont pu nous distinguer, sans recours aux vôtres» (CCAD I.144). Gottes Wirken, seine Schöpfung – gefasst hier unter ‘lumieres’ – überstrahlen jegliche menschliche Wissenschaft und insbesondere die widerlegbaren ‘lumieres’ der Cartesianer, die in dieser Passage direkt angesprochen werden (vgl. ‘les vôtres’). Fassen wir zusammen: Madame Du Boccage gesteht sowohl den kulturellen Errungenschaften des ‘aufgeklärten’ Menschen als auch Themen von religiöser Bedeutung in ihrem Epos Raum zu, ohne dass diese Aspekte allzu oft in ein, wie auch immer geartetes, hierarchisches Gefälle gebracht werden. Bei Bourgeois dagegen wird das menschliche Wissen permanent in Relation zum göttlichen gesetzt, sodass das menschliche Wissen auch dort, wo es einmal nicht dezidiert kritisiert wird, höchstens im Dienste eines übergeordneten christlichen Zwecks zu stehen kommt. Wenngleich man in Bourgeois’ Kolumbus also sehr wohl ein universelles – intellektuelles wie moralisches – Vorbild sehen kann, wie R. Carocci meint, ist er doch alles andere als frei von einer «finalità superiore».271 Das dürfte der ausführlich herausgearbeitete christlich-biblische Überbau des Epos sowie die stete Hierarchisierung von ‘Wissen’ und ‘Glauben’ klargestellt haben. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Bourgeois als ‘Kind seiner Zeit’ zeitgenössische wissenschaftliche Theorien in sein Epos einfließen lässt. Dadurch kommt es bei ihm aber zu einem Konglomerat aus wissenschaftlichen und bibelbasierten Hypothesen, wenn sich z. B. die Abstammungstheorie Buffons mit dem monogenetischen Ansatz der Bibel verquickt,272 oder auch zu einem wenig durchdachten Nebeneinander verschiedener aufklärerischer Thesen über die Bewohner ‘Amerikas’, mal als gleichwertige ‘Brüder’, mal als träge, missionierungsbedürftige «inferiori», «incapaci di riflessione».273 269 Vgl. «J’ai [...] prétendu ne point limiter la toute-puissance ni la sagesse du Créateur, en les renfermant sous un nom abstrait qui peut signifier ce que l’on veut [...]. La Métaphysique est de toutes les Sciences la plus propre à nous égarer» (CCAD 143 f., Anm. 3). 270 Vgl. «Il y faudroit commencer par convenir [...] de la definition de chaque terme susceptible d’équivoque, ou d’interprétation arbitraire» (CCAD 144, Anm. 3). 271 Renata Carocci: Nicolas-Louis Bourgeois, S. 26. 272 Vgl. ferner Kap. 3.2. 273 Ebda., S. 30. Vgl. ebda., S. 29, wo Carocci von ‘genti selvagge’ spricht, «alle quali Bourgeois, pur condividendo, in parte, la tesi degli ‹Americano [sic!] inferiori› riconosce la condizione di uomini, fratelli ad ogni uomo di tutti i tempi e i paesi».

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2.3.2 Lesuire, Le Nouveau Monde 2.3.2.1 Kontextualisierung des Epos 2.3.2.1.1 Roman und Epos Anders als die vorgenannten französischen Kolumbus-Epen zeichnet sich Le Nouveau Monde durch seinen romanhaften Charakter aus. Sein Verfasser, Robert-Martin Lesuire, ist ein gebildeter Autor, der mehr als 30 Werke unterschiedlicher Genera, vornehmlich aber Romane, geschrieben hat und von Fitting zurecht als «prolific», wenngleich «now forgotten writer»274 bezeichnet wird, dem es an Selbstbewusstsein nicht mangelt.275 Der 1737 in Rouen geborene RobertMartin wird nach dem Besuch des Collège als ‘lecteur de l’infant’ – gemeint ist Philipp Ier, der Herzog von Parma – berufen, nachdem dieser mit Élisabeth de France, der ältesten Tochter Ludwigs XV., vermählt worden ist. Ende der 1780er Jahre arbeitet er in Moulins als ‘professeur de législation’, bis er nach der Einführung der lycées seinen Posten verliert und schließlich in Paris (bis zu seinem Tod im Jahre 1815) als Bibliothekar und Schriftsteller seinen Lebensunterhalt zu bestreiten versucht.276 Unser Ziel ist es nun nicht, sämtliche Werke Lesuires in extenso vorzustellen, sondern anhand ausgewählter Texte aus seinem Œuvre exemplarisch beliebte Motive vorzustellen. Ausgehend von diesen Ergebnissen können dann Parallelen zum in der Folge behandelten Kolumbus-Epos gezogen werden, um dessen durchaus eigentümliche Machart besser zu verstehen. Bekannt wird Lesuire v. a. durch den Erfolg seines utopischen Abenteuerromans L’Aventurier français (1782), der auch als einziger seiner Romane in der aktuellen Sekundärliteratur bisher Behandlung gefunden hat. Es handelt sich hierbei um die Reisen des Hauptprotagonisten Grégoire Merveil, über den in den folgenden Jahren diverse, wenngleich weniger erfolgreiche, Fortsetzungsromane

274 Peter Fitting (Hg.): Subterranean Worlds. A Critical Anthology. Middletown, Connecticut: Wesleyan University Press 2004, S. 78. 275 So richtet sich Lesuire 1761 per Brief an sein großes Vorbild Voltaire (wofür er von Zeitgenossen aufgrund übertriebener Lobhudelei gerügt wird, vgl. Élie Fréron: Epître à M. de Voltaire. In: Année Littéraire I (1762), S. 187–192. Als eine Antwort ausbleibt, fingiert er, von sich überzeugt, kurzerhand eine Replik Voltaires, die bereits 1830 von Beuchot, einem Herausgeber der Voltaire’schen Briefe, als Fälschung erkannt und nicht mehr in das Korpus aufgenommen wird (vgl. François Marie Arouet de Voltaire: Œuvres. Bd. 51. Correspondance. Bd. 1. Herausgegeben von M. Beuchot. Paris: Lefèvre 1830, S. IV, ‘Préface’). 276 Vgl. Marc Madouraud: Lesuire, Robert (Martin). In: Claude Mesplède (Hg.): Dictionnaire des littératures policières, vol. 2 (J-Z). Nantes: Joseph K. 2007, S. 195; Christian Angelet: Recueil de préfaces de romans du XVIIIe siècle. Volume II: 1751–1800. Saint-Étienne/Leuven: Publications de l’Université de Saint-Étienne/Presses Universitaires de Louvain, 2003, S. 267.

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erscheinen sollten.277 Das zentrale Abenteuer bildet der Besuch eines unterirdischen Volkes ehemaliger Krimineller, der ‘Gnômes’, die seinerzeit zum Goldschürfen in Minen verurteilt worden sind. Durch ein Erdbeben wurde der Zugang zu den Minen verschüttet und das Volk lebt nun seit Generationen in einer dunklen Höhle ohne Wissen der oberirdischen Welt. Als LeserIn wird man in eine «bizarre version of Plato’s cave»278 versetzt. Ihre Bewohner werden von Priestern angeführt, die ein spezielles Privileg genießen: Nur sie haben Zugang zu einer Art erotischem Lustgarten. Grégoire Merveil, der – man denke an den Weg des Voltaire’schen Candide nach Eldorado – über einen unter einem Berg durchfließenden Fluss dorthin gelangt, ist der erste, der von den Priestern in dieses gut gehütete Geheimnis eingeweiht wird. Gillet unterstreicht, dass Episoden wie diese – die merklich auch Lesuires Werk beeinflusst haben279 – das Publikumsinteresse der Zeit bedient hätten und Lesuire für die Gattung ‘Roman’ insgesamt keine bahnbrechenden Neuerungen hervorgebracht habe, «ce qui explique sans doute et son succès passager et son oubli».280 Deutlich positiver, nämlich als Vorreiter des Kriminalromans, sehen ihn andere: So schreibt Angelet in seiner Anthologie über Lesuire: «Comme romancier, Lesuire est en avance sur son temps : il a produit des cycles narratifs où certains personnages reviennent de roman en roman» und: «Lesuire n’est pas un romancier anodin. Peu original sur le plan des matières, c’est un arrangeur : il combine de façon nouvelle le stock des thèmes et des formes narratives dont il hérite. Il ne redoute pas les contradictions : il mélange

277 1785 die Suite de l’Aventurier français, ou Mémoires de Grégoire Merveil; dazu die vierbändige Fortsetzung aus Sicht des Sohnes Grégoires (Seconde suite de l’Aventurier français, contenant les mémoires de Cataudin, chevalier de Rosamene, fils de Grégoire Merveil, 1785–1788) und aus Sicht der Tochter die Dernière suite de l’Aventurier français, contenant les mémoires de Ninette Merviglia, fille de Grégoire Merveil, écrits [sic!] par elle-même, & traduits [sic!] de l’italien, par son frère Cataudin, 1788. 278 Peter Fitting (Hg.): Subterranean Worlds, S. 79. Vgl. Jean Gillet: Lesuire et le roman d’aventure. In: Denis Mellier/Luc Ruiz (Hg.): Dramaxes. De la fiction policière, fantastique et d’aventures. Fontenay/Saint-Cloud: ENS 1995, S. 272 und S. 274. 279 Anzuführen sind v. a. die in das Epos eingewobenen ‘ägyptischen’ Atlantispriester (vgl. ‘Isolation 5’). In ein ganz ähnliches Ambiente wird man auch in Lesuires ‘Introduction’ zur zweiten Hälfte seines Zyklus von Briefromanen (Le Repentir) versetzt. Dort beschreibt der Autor, wie er eines Tages in den Tempel der (dem Rest der Menschheit unbekannten) ‘Egypte Souterraine’ entführt wird. Acht Tage verbringt er dort, macht Bekanntschaft mit dem gesamten Personarium des ersten Teils seines Romanzyklus (Le Crime) und betrachtet im Palast Bilder, die von den neuen Abenteuern des zweiten Teils künden. Schließlich händigen die Figuren ihm leibhaftig ihre Briefe ein, die er für die breite Leserschaf (in Le Repentir) zu Papier bringen soll. Vgl. Robert-Martin Lesuire: Le repentir, ou suite des Lettres originales, contenant les aventures de César de Perlencour, intitulées le crime. Bd. 1. Brüssel: Dujardin/Paris: Defer de Maisonneuve 1789, S. I–XII. 280 Jean Gillet: Lesuire et le roman d’aventure, S. 267 f., Zitat S. 267.

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allègrement libertinage et sensibilité rousseauiste, fiction et réalité.»281 Dass man Lesuires Epos wie seine Romane als Kondensation verschiedener zeitgenössischer Strömungen und Tendenzen beschreiben kann, wird am Ende dieses Kapitels zur Genüge belegt worden sein. Gillet hat in seinem Aufsatz herausgearbeitet, wie der scheinbar so disparate L’Aventurier français282 durch einen speziellen roten Faden der ‘persönlichen Identitätssuche’ des Protagonisten zusammengehalten wird.283 Der nicht nur voltaire-, sondern auch rousseaubegeisterte Lesuire lässt sich von dessen Émile inspirieren und fokussiert ausgiebig die Kindheit und die Persönlichkeitsentwicklung seines Protagonisten. Einen ähnlichen roten Faden entlang der Charakterentwicklung der Hauptfigur weist der weitgehend unbekannte, nirgends in einer Inhaltsübersicht greifbare ‘cycle narratif’ Le Crime (1789, vier Bände à ca. 250 Druckseiten) bzw. dessen unmittelbare Fortsetzung Le Repentir (1789, vier Bände) auf. Anhand dieses Zyklus lassen sich unseres Erachtens die von Angelet angedeuteten Eigenschaften des Lesuire’schen Schreibens besonders gut nachvollziehen. Es finden sich zudem eindeutige Parallelen zu Lesuires Kolumbus-Epos. Der 17-jährige, wohlbetuchte César de Perlencour wird von seinen Eltern vom ländlichen Lyon aus nach Paris geschickt, um dort Fuß zu fassen. Im Verlauf der vier Bände von Le Crime gerät der leichtgläubige César jedoch mehr oder minder unverschuldet in falsche Kreise und verstrickt sich in kriminelle Machenschaften. Am Ende wird er ob all seiner Untaten zum Tod am Galgen verurteilt, dem er im letzten Moment entgehen kann.284 Nach seinem sozialen Absturz im ersten Teil des Zyklus wird der junge Mann in Le Repentir ein Stück weit rehabilitiert. Der Briefroman besteht vornehmlich aus Briefen Césars an seinen besten Freund Dumoulin, dem er stets von seinen Erlebnissen berichtet. Die Spannung ergibt sich in Band 1 v. a. aus dem Kontrast der Perspektive Césars und derjenigen des Pariser Verbrecherpaares, Madame Frédégonde und dem Chevalier de Marqué, das den Neuankömmling César als Opfer auserkoren

281 Christian Angelet: Recueil de préfaces de romans du XVIIIe siècle, S. 267. 282 Dieser Text wirkt auf den ersten Blick wie «a disjointed series of ever more fanciful voyages and adventures, of disguise and mistaken identities, arrests and imprisonments» (Jean Gillet: Lesuire et le roman d’aventure, S. 268). 283 Ebda., S. 279–282. 284 Vgl. Robert-Martin Lesuire: Le crime, ou Lettres originales, contenant les aventures de César de Perlencour. Brüssel: Dujardin/Paris: Defer de Maisonneuve 1789, Bd. 4, S. 206. In Bd. 4 findet sich etwa ein eindrückliches Beispiel für einen ungewollten Fehltritt Césars: César, der nach der Einsicht in die Falschheit des manipulativen Verbrecherpaares seine Eltern vor ihm warnen will, wird beim dortigen Besuch vom Haushund gebissen, auf den er einen Kaminbock wirft, der wiederum unglücklicherweise seine Mutter tötlich verwundet.

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hat.285 Es gelingt ihnen, César einerseits das Geld aus der Tasche zu ziehen, sich dabei andererseits immer wieder als Vertrauenspersonen ins rechte Licht zu rücken. Ein wichtiger Schachzug ist ihr systematisches Abfangen von Briefen, damit der naive César nicht vor den Gaunern gewarnt werden kann.286 Unter dem Einfluss des Verbrecherpaares erteilt César beispielsweise seiner hilfesuchenden Schwester Adèle eine herbe Abfuhr, woraufhin sie im Kloster Suizid begeht.287 Gerade in den Bänden 3 und 4 häufen sich die Stellen, an denen er sich selbst seine Untaten zum Vorwurf macht und an denen er sich diese von Anderen vorhalten lassen muss.288 Im Verlauf des Romans wird César immer stärker zum selbstreflektierten Schuldner. So nimmt er sich z. B. in Band 3 eine lange Auszeit in London: «Je me suis retiré à l’écart, pour me plonger dans des réflexions douloureuses».289 Dieses Moment der sentimentalen Aufarbeitung weist insofern klare motivische Ähnlichkeiten zur Darstellung des Kolumbus in Le Nouveau Monde auf, als der Held – ursprünglich voller guter Absichten und hehren Ruhm anstrebend – sich am Tiefpunkt angelangt sieht.290 In klarer Analogie zu Lesuires Epos wird dieses Reuegefühl Césars in Band 4 lokal

285 Vgl. «c’est précisement [sic!] ce qu’il nous faut, pour en faire notre vache-à-lait» (ebda., Bd. 1, S. 52) Der Intrigenreichtum lässt an Choderlos de Laclos’ Liaisons dangereuses (1782) denken. 286 Analog zu Richardsons Pamela, wo ja Mr. B die Briefe Pamelas an ihre Eltern abfängt. 287 Denselben Namen trägt im Übrigen in Lesuires Kolumbus-Epos die Frau des Matrosen Alvarès, deren Charakter ebenso von völliger Liebenswürdigkeit und Gutmütigkeit gezeichnet ist. 288 Vgl. «Alors je me rappelois tous mes crimes» (ebda., Bd. 3, S. 230). Ab Bd. 4, S. 140 zieht er sich in ein Kloster zurück, wo er inmitten von antiken Gewölben, langen Gängen, Gräbern verschiedener Einzelgänger und der «vaste solitude» der Natur eine Selbstreinigung anstrebt. Vgl. zur Kritik seiner Untaten durch andere ebda., Bd. 3, S. 240. 289 Vgl. ebda., Bd. 3, S. 4. 290 Vgl. «Meurtrier de ma sœur, meurtrier de son amant, séducteur de plusieurs innocentes créatures, fugitif, expatrié, &, pour comble d’ignominie, dupe de la plus vile canaille ; voilà ce que je suis, voilà le rang que je tiens au temple de la gloire, tandis que je m’en promettois un autre si distingué» (ebda., Bd. 3, S. 8). Die Verfehlung, auf die César stets zu sprechen kommt, ist sein Faible für Frauen und das Hervorbringen unehelicher Kinder, vgl. u. a. Bd. 4, S. 132. Bedeutende Geliebte sind v. a. Aurore, Levrette und Laure. Paralleles Liebesglück mit mehreren Geliebten ist ihm dabei nur selten vergönnt (vgl. Bd. 2, S. 70). Seine größte Liebe ist Aurore, ein Mädchen aus mittelloser Familie. Da die Hochzeit von seinen Eltern nicht gestattet wird, motiviert ihn der Chevalier de Marqué zur Durchführung einer illegalen, fingierten Ehe. Laure infiziert er in Band 4 mit der Lepra; Levrette ist mit ihm in ‘amitié’ verbunden, sie ist seine «Divinité tutélaire» (Bd. 4, S. 24), die ihn regelmäßig aus Gefängnissen befreit und ihm Ratschläge gibt. Ähnlichkeiten Laures zu Clémence Isaure im Epos sind mit Händen zu greifen.

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an die Örtlichkeit eines Gefängnisses rückgebunden.291 Fast immer befindet sich eine der Figuren in einem dunklen Kerker. «Me voilà renfermé dans un nouveau cachot»292 schreibt César, nachdem er von seinem Vater bzw. dem Chevalier de Marqué direkt hintereinander in drei verschiedene Gefängnisse eingeschlossen worden ist.293 In dieser langen Folge von düsteren Einkerkerungen wächst die Sorge Césars um seine Geliebte, deren Schicksal ihn innerlich zermürbt.294 Die Vorliebe Lesuires für Gefängnisse und unterirdische Welten, die man in der Forschung bereits für den Aventurier français herausgestrichen hat, spiegelt sich v. a. im dritten Buch des Crime wider: Hier wird César von einer geheimen Organisation, der ‘société souterreine’ kontaktiert, einer Bande von Verbrechern, die in einer unterirdischen Parallelwelt haust, durch ihre Raubzüge Selbstjustiz übt und sich für den jungen César als Mitglied interessiert.295 Die düstere atmosphärische Aufladung, diese «attirance pour l’obscurité des cloitres [sic!], des souterrains et des tombeaux»,296 ist geradezu protoypisch für das ausgehende 18. Jahrhundert und die wachsende Etablierung dieser Motivik, die ihre (nicht auf das Romangenre begrenzte) stärkste Ausgestaltung freilich in der Romantik erfahren wird.297 Besonderer Beliebtheit erfreut sich in diesem Kontext auch das antike Thema der Vestalinnen, die – sollten sie ihre Jungfräulichkeit

291 Das Gefängnis spielt erstmals am Ende von Bd. 1 bzw. zu Beginn von Bd. 2 eine entscheidende Rolle, als César auf Betreiben des Verbrecherpaares zum ersten Mal eingekerkert wird. Es bildet den negativen Höhepunkt des ersten Buchs und sorgt für eine atmosphärische Verbindung über die Buchgrenzen hinweg. In den folgenden Büchern wird das Gefängnis dann zum bestimmenden Handlungsort: Relativ zu Beginn des zweiten Zyklus besucht César ferner die Gefängniszellen des Verbrecherpaares, was an Lesuires Epos und Kolumbus’ Rundgang durch die Gefängniszellen in Italien erinnert, vgl. Robert-Martin Lesuire: Le repentir, S. 53–56, und ‘Isolation 10b’ in der Appendix. 292 Robert-Martin Lesuire: Le crime, Bd. 4, S. 19. 293 Dort baut César in seiner Not zu allerlei Kriechtieren Freundschaften auf. An solchen Stellen ist Lesuires Hang zum Übertriebenen, ja Slapstickartigen unverkennbar. In Bd. 2, S. 199, kommt es etwa zum ‘Schlammcatchen’ des Verbrecherpaares, das sich in den Haaren liegt; in Bd. 2, S. 203, verliert César ein Duell, weil ihm sein Gegner (der sich später als Frau entpuppt) eine Tabakdose ins Gesicht wirft. 294 Vgl. «Oreste, entouré des Furies, n’étoit pas plus tourmenté que moi par ces ombres gémissantes, dont les longs cris perçoient jusqu’à moi dans le silence des nuits, sous les voûtes souterraines» (ebda., Bd. 4, S. 22) 295 Vgl. ebda., Bd. 3, S. 62 sowie S. 25, S. 43–49 und S. 71–75. 296 Michel Delon: Mythologie de la Vestale. In: Dix-huitième siècle 27 (1995), S. 159. S. auch Maurice Lévy: Images du roman noir. Paris: Losfeld 1973, S. XII. 297 Man denke etwa an Victor Hugos Hernani von 1830, wo der gesamte vierte Akt des Dramas in unterirdischer Dunkelheit am Grab Karls des Großen spielt.

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nicht erhalten – die grausame Bestrafung der lebendigen Bestattung erleiden. Diesen Bestandteil des «imaginaire [...] du théâtre monacal et du roman gothique» macht sich etwa auch der Marquis de Sade in seinem libertinistischen Roman zu nutze.298 Gleichermaßen lässt sich Lesuire hiervon für sein nach Ovids Heroides gestaltetes Werk La Vestale Clodia à Titus inspirieren, greift aber en passant auch in Le Crime und Le Nouveau Monde darauf zurück.299 Lesuire hat mit ziemlicher Sicherheit wie viele seiner Zeitgenossen mit Interesse die in England beliebten Schauerromane (‘romans gothiques’) verfolgt, die in Frankreich v. a. nach der Revolution übersetzt und imitiert worden sind und als deren Begründer oft Horace Walpole (mit seinem Castle of Otranto von 1764) genannt wird.300 Fabre fasst in seinem Aufsatz die gängige Forschungsmeinung zusammen, wonach der aufkommende französische ‘roman noir’ «d’origine anglaise» 301 sei. Er gibt aber auch an, dass der französische ‘roman noir’ auch eine eigene Entwicklungslinie aufweise, dass es «une tradition du roman noir [...] baroque et française»302 gebe und dass der ‘roman noir’ als ‘infralittérature’ in Frankreich durchaus bereits im schillernden Roman-Genre des 17. Jahrhunderts präsent sei.303 Ungeachtet dieser Hinweise Fabres auf die Existenz eines genuin französischen Stranges des Schauerromans muss im Falle Lesuires sein besonderes Interesse am englischen Roman herausgestellt werden.304 Lesuire gibt sich klar als Verehrer Samuel Richardsons, eines

298 Michel Delon: Mythologie de la Vestale, passim, Zitat S. 166. 299 Vgl. Robert-Martin Lesuire: Le crime, Bd. 2, S. 75 f. und Bd. 1, S. 250. Vgl. die Appendix unter ‘chant X’. 300 Als deren Hauptvertreter gelten Ann Radcliffe, Matthew Gregory Lewis, William Beckford oder Charles Robert Maturin, vgl. Maurice Lévy: Images du roman noir, S. IX und S. XIII f. 301 Jeweils Jean Fabre: Sade et le roman noir. In: V.V.A.A. (Hg.): Le Marquis de Sade. Actes du Colloque d’Aix-en-provence des 19 et 20 février 1966. Paris: Colin 1968, S. 254. 302 Ebda., S. 255. 303 Im 18. Jhdt. habe sie nur einen neuen ‘souffle’ erhalten und sich mit dem sentimentalen Roman verbunden, sodass sich eindeutige Züge des ‘Schauerromans’ in den Romanen Prévosts finden lassen. Systematisch eingebunden werden diese Züge dann in der Zeit des Marquis de Sade in Reaktion auf den sentimentalen Roman. Vgl. ebda., S. 253: «Au temps de Prévost, le roman noir [...] n’apparaissait que sous une forme récurrentielle et sous-jacente, à titre d’héritage, d’ingrédient ou de tendance. A l’époque de Sade, au contraire, il fait parade de son étiquette, se targue de sa nouveauté, se répand comme une mode et se présente comme la manifestation la plus caractéristique d’un goût et même d’un genre littéraire que l’on appelait ‹le genre sombre›». 304 1760 verfasst Lesuire den Roman Les Sauvages de l’Europe, der auch ins Englische übersetzt und später unter dem Titel Les Amants François à Londres (1780) neu aufgelegt wurde. In diesem satirischen Roman über das Leben in London will ein Pärchen zuerst aufgrund der ansprechenden englischen Staatsform auswandern, kehrt jedoch desillusioniert nach Frankreich

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der einflussreichsten englischen Autoren auf dem Gebiet des reaktivierten Briefromans, zu erkennen, gegen den er nicht nur in seiner La Pamela française (1803) in einen literarischen Wettstreit zieht, sondern den er auch durch zahlreiche literarische Anspielungen ehrt.305 Robertson ist aber natürlich nicht der einzige Autor, den der ‘arrangeur’ Lesuire in seinem Zyklus verarbeitet. In Le Repentir reist César nach Zürich, um seine Reuegefühle und die aufwühlenden Gedanken an seine Geliebten, seine Mutter und Schwester zu verarbeiten.306 Er besucht den dort wohnenden Autor Gessner und vertieft sich in die Lektüre seiner Idyllen, die zu seiner weiteren psychischen Heilung beitragen.307 Beim Blick in die Privatbibliothek Gessners stößt César auf die Werke Lesuires. Die Sichtung der Ausgabe des Nouveau Monde kommentiert er prompt versöhnlich mit «on a [...] été bien sévère sur cet ouvrage»308 und schickt seinem Freund Dumoulin einen Auszug daraus zur kritischen Durchsicht: «Je crois devoir joindre ici un morceau du Poëme du Nouveau Monde, retouché, dont M. le Suire prépare une nouvelle édition. [...] Tu me feras le plaisir de m’en dire ton sentiment».309 Dieses Einflechten der eigenen Werke in seine Romane zeugt von Lesuires Selbstwertschätzung; insbesondere aber auch von der Bedeutung, die er seinem Kolumbus-Epos auch knapp 10 Jahre nach seiner Erstpublikation noch beimisst,310 und an der er noch weitere 10 Jahre feilen sollte, bis er 1802 eine merklich überarbeitete dritte Version publiziert. Lesuires Epos wurde bisher in der Sekundärliteratur – abgesehen von einzelnen Passagen in Übersichtsbänden, wie dem von Roulin (2005) – nur von Carocci

zurück. Jean Gillet: Lesuire et le roman d’aventure, S. 268, merkt an: «Lesuire a visiblement l’intention de s’opposer, tout en l’exploitant, à la vogue des romans anglais». 305 In Le Crime geschieht dies in Form eines punktuellen Einflechtens in die Figurenrede seines Personariums sowie durch die Inszenierung Robertsons als Inspirationsgeber für seine Geschichten. In der ‘Introduction’ heißt es, eine Epiphanie Richardsons habe dem Autor die zu edierenden Briefe ausgehändigt. Vgl. Bd. 4, S. 98, und Bd. 1, S. 3. 306 Vgl. Robert-Martin Lesuire: Le repentir, S. 32 f. und S. 53. Das schlechte Gewissen wird nicht nur durch die persönliche Buße beruhigt, sondern auch durch die Tatsache, dass viele seiner vermeintlichen Untaten doch nicht geschehen sind. César erfährt beispielsweise, dass der Suizidversuch der Schwester fehlgeschlagen ist (vgl. ebda., S. 118–120 und S. 170–180). 307 Vgl. ebda., S. 127–136. Er verfasst dann eigens eine Idylle über Paris (vgl. S. 136–150). 308 Ebda., S. 132. 309 Vgl. ebda., S. 151–153, Zitat S. 150 f. 310 Mindestens weitere 10 Jahre hatte Lesuire bereits an der ersten Version seines Epos gefeilt, vgl. Terry M. Pratt: Primitive Episodes in Enlightenment Epic, S. 100, der mit Blick auf die ‘Préface’ heraushebt: «References to relevant studies by his contemporaries (i.III-IV) show that Le Suire had devoted more than a decade to his epic before it appeared».

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und Pratt ausgiebig behandelt.311 Recht oberflächlich bleibt die Auseinandersetzung mit dem Epos in einigen Überblicksbänden. Delon etwa schreibt fälschlicherweise, das Epos habe stets 24 ‘chants’ umfasst;312 dabei wurde die ursprüngliche Anzahl von 26 Gesängen in der Erstausgabe (1781) auch in der Ausgabe von 1800 beibehalten und erst in der dritten Ausgabe von 1802 auf 24 reduziert.313 Der universale Verriss des Epos, wie ihn etwa J. Fabre (1980) noch zu Papier bringt, wird zuletzt in gewisser Hinsicht relativiert.314 Carocci moniert zwar Lesuires «componimento privo di poesia»,315 geht in ihrem Aufsatz aber ausführlich darauf ein, dass man in Lesuire (etwa durch seinen starken Antiklerikalismus) einen typischen Vertreter seiner Zeit sehen könne: Sein Werk «riflette in maniera inequivocabile i segni dei tempi» und entlarve ihn als «Figlio del secolo dei Lumi».316 Carocci wiederholt dann aber die zeitgenössische Kritik an Lesuire, wenn sie ihm vorwirft, er habe in seinem Epos auf ahistorische Weise dem Genuesen die Taten Pizarros und Cortés

311 Vgl. Caroccis globalen Übersichtsaufsatz (Renata Carocci: Le Nouveau Monde di RobertMartin Le Suire, ovverossia le avventure di Cristoforo Colombo. In: Letterature 14 (1991), S. 29–50) und recht detailliert Terry M. Pratt: Primitive Episodes in Enlightenment Epic, S. 89–102. 312 Michel Delon: ‘Ce nouvel Ulysse méritait sans doute un autre Homère’, S. 80. 313 Vgl. Carocci Renata Carocci: Le Nouveau Monde ou Christophe Colomb de Le Suire entre deux poétiques, S. 261. Die zweite Ausgabe lässt nur (quantitativ) kleine Änderungen erkennen, etwa die Veränderung des Titels von ‘Le Nouveau Monde’ in ‘Le Nouveau Monde ou Christophe Colomb’. 314 Vgl. Michel Delon: ‘Ce nouvel Ulysse méritait sans doute un autre Homère’, S. 81: «Lesuire [...] mérite d’être relu». Fabre hatte dagegen noch betont, es hätten sich leider nur viele mediokre Autoren (wie Lesuire) an der Gattung ‘(Kolumbus-)Epos’ versucht; Chéniers fragmentarischer Epos-Skizze etwa komme mehr Bedeutung zu als den vollen 26 Gesängen Lesuires. Vgl. Jean Fabre: Un thème ‘préromantique’. Le ‘Nouveau Monde’ des poètes d’André Chénier à Mickiewicz. In: Ders. (Hg.): Lumières et romantisme. Énergie et nostalgie de Rousseau à Mickiewicz. Paris: Klincksieck 21980, S. 211 und S. 221. 315 Renata Carocci: Le Nouveau Monde di Robert-Martin Le Suire, S. 41. Zum Eindruck einer stilistisch wenig raffinierten Machart tragen nicht zuletzt auf den ersten Blick die Scharnierwörter repetitiven Charakters bei: Die Zeit ist «äußerlich-technisch organisiert» und entspricht Bachtins Beschreibung der Charakteristika des Genres ‘Abenteuerroman’. Die «Abenteuerzeit» ist laut Bachtin gekennzeichnet von einer Logik «der reinen Zufälligkeit» (jeweils Bachtin, Michail M.: Chronotopos. Aus dem Russischen von Michael Dewey. Mit einem Nachwort von Michael C. Frank und Kirsten Mahlke. Berlin: Suhrkamp 2008). Schon im ersten chant finden sich derartige spontan-zufällige Überleitungen überaus häufig: «Soudain» (NM I.5), «Tout-àcoup» (NM I.6 und 12); vgl. exemplarisch in den chants X und XI: «bientôt» (NM I.122 und 136), «soudain» (NM I.125), «tout-à-coup» (NM I.129). 316 Renata Carocci: Le Nouveau Monde di Robert-Martin Le Suire, S. 42.

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zugeschrieben,317 wodurch sich ein kaum zusammenhängendes Konglomerat von Informationen und ‘récits’ ergebe, das einer «fantasia sovrabbondante»318 entspringe. Laut Carocci verbleibt von der historischen Person ‘Kolumbus’ in Lesuires Epos «[p]oco o nulla», Kolumbus «si tramuta in eroe da fumetti» und sei eine Art «protagonist[a] di films ‹western›»,319 der sich aus jeder Gefahr herauswinde, sehr viel Zeit im Gefängnis verbringe und stets auf wundersame Weise dem Tod entgehe. In ihrem Aufsatz, der als einzige Forschungsarbeit einen gewissen Überblick über Lesuires gesamtes Epos gibt, liefert Carocci einen Durchzug durch das Gros dieser ‘ahistorischen Fiktionen’ und kommt u. a. in einer Passage auf die von Kolumbus durchwanderten Gegenden zu sprechen: «Eccolo in | Messico dove è ben accolto [...]. In Perù ammira il grandioso tempio del Sole sfavillante di ori e diamanti [...], indi risale, su su, nella valle del Mississipì, e, attraversando la Carolina, la Virginia, la Pennsylvania ed il Canada, raggiunge le Cascate del Niagara (c. XI)».320 Carocci beweist: Sie hat den Text gelesen – doch nicht überall auf die Details geachtet. Ist es doch hier etwa Kolumbus’ Bruder Barthélémi Colomb, der auf der Suche nach seinem Bruder durch die eben aufgezählten Gegenden Nordamerikas zieht. Ihr Überblick endet in einer leicht abfälligen Bemerkung über das in den Mittelteil des Epos eingebettete utopisch-fiktionale Volk Eleuthere, das als einer mehrerer Exkurse anzutreffen ist: «Non pago di ciò, l’autore evoca paesaggi surreali e città di sogno, industriose ed amene (c.XIII)».321 All diese einzelnen Episoden seien «non legate fra loro da un forte filo conduttore»,322 die Person Kolumbus ihr einziges «elemento unificatore».323

317 Kolumbus entdeckt im Epos Peru und Mexiko. Doch die Persönlichkeiten Cortés und Pizarro werden nicht völlig ausgeblendet, sondern nehmen als kleine Kinder an Kolumbus’ Fahrt teil. Kolumbus ist dabei einerseits derjenige, der das ‘gloire’-Streben in die beiden einpflanzt (vgl. NM I.17). Andererseits fürchtet er sich bereits vor dem, was da kommen mag: «Colomb craint que ce nom [sc. Pizarre; G.J.K.], dans ces Etats lointains, | Ne soit moins glorieux que funeste aux humains» (NM I.17). Lesuire ist dabei freilich nicht der Erste, der diese Verquickung der Entdeckerfiguren vornimmt; ihm geht eine Reihe von Vorgängern voran, z. B. Giorgini, der Kolumbus Mexiko erobern lässt. 318 Renata Carocci: Le Nouveau Monde di Robert-Martin Le Suire, S. 41. Pratt hat aus zeitgenössischen Beiträgen im Journal encyclopédique destilliert, dass man bereits unmittelbar nach Erscheinen des Epos seine fehlende Einheit negativ beäugt habe, da es nicht nur eine begrenzte Anzahl an Heldentaten umfasse, sondern bis zu Kolumbus’ Tod reiche; vgl. Terry M. Pratt: Of Exploration and Exploitation, S. 305. 319 Renata Carocci: Le Nouveau Monde di Robert-Martin Le Suire, S. 36. 320 Ebda., S. 37 f. 321 Ebda., S. 38. 322 Ebda., S. 41. 323 Ebda., S. 33.

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Lediglich Pratt war bis dato etwas darum bemüht, dem Romanautor Lesuire sein «talent for the bizarre and the ridiculous»324 positiv anzurechnen, welches er eben auch für die Machart seines Epos nutzbar gemacht habe. Auch wenn das Ergebnis in Pratts Augen mitunter exzentrisch und nicht unbedingt ‘klassisch’ episch erscheint, hebt er mit Blick auf Lesuires ‘Préface’ zum Epos heraus, mit wie viel Ernst, Mühe und welch einem hohen Grad an Bewusstheit sich Lesuire seinem Eposprojekt verschrieben habe: «The lenghth of Le Suire’s labours guarantees at least the genuineness of his intent and on that count alone Le Nouveau Monde can claim a more considered assessment than it has always been accorded.»325 Zum selben Schluss waren wir ja selbst weiter oben mit Blick auf Lesuires Bezugnahme auf das eigene Epos in seinem Romanzyklus gekommen. Das Epos liefert eben nicht nur, wie Carocci sagt, einen Einblick in die Umstände der Zeit,326 sondern gibt nicht minder einen Einblick in die Arbeit eines ungemein ambitionierten Romanautors, der alles daransetzt, auch in der obersten literarischen Gattung zu reüssieren,327 und durch das Implementieren diverser aktueller Strömungen die Gattung auf ganz individuelle Weise ausreizt. Das Einflechten von typischen Aspekten des Schauerromans, des sentimentalen Romans, aber auch des an Peripetien reichen Abenteuerromans verbindet sich in Lesuires Epenkonzeption mit dem für die epische Gattung so wichtigen ‘merveilleux’: Im Bewusstsein, dass das pagane ‘merveilleux’328 im zeitgenössischen Epos keinen Platz mehr haben kann, soll das epische ‘merveilleux’ bei ihm aus der Behandlung der außergewöhnlichen ‘Amerika’-Thematik selbst erwachsen und ein «nouveau genre de merveilleux» (NM xj) bilden: «la réunion de tant d’obiets extraordinaires ne forme-t-elle pas une espece de merveilleux qui peut suppléer à celui que je m’interdis [...] ?» (NM xiij). Sein ‘merveilleux’ ist also in-

324 Terry M. Pratt: Of Exploration and Exploitation, S. 309. 325 Terry M. Pratt: Primitive Episodes in Enlightenment Epic, S. 100; Vgl. «While the poem can reasonably be deprecated for its extravagance and eccentricity, however, the project itself cannot so readily be dismissed» (ebda., S. 100). 326 Renata Carocci: Le Nouveau Monde di Robert-Martin Le Suire, S. 42, spricht insbes. von einem stark nach außen getragenen «acceso anticlericalismo» und kommt auf diverse Seitenhiebe zu sprechen (etwa auf das Zölibat). Die Priester seien nicht minder von typisch menschlichen Gelüsten geleitet (vgl. NM II.152), achteten nur auf Quisquilien (NM II.165) usw. 327 Vgl. Renata Carocci: Le Nouveau Monde ou Christophe Colomb de Le Suire entre deux poétiques. In: François Moureau/Madeleine Bertaud u. a. (Hg.): L’Éveil des Muses. Poétique des Lumières et au-delà. Rennes: Presses Universitaires de Rennes 2002, S. 269: «[Lesuire] croit encore fermement au genre de l’épopée». 328 Vgl. Kap. 1.2.1. S. zur in der Epentheorie seit jeher verhandelten Frage der ‘Wahrscheinlichkeit’/‘Wahrheit’/‘historischen Wirklichkeit’ etwa Bernhard Huss: Rinascimentale Epostheorie und das Projekt der Aktualitätsepik in Frankreich, passim.

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sbesondere die Modellierung einer utopisch-fiktionalen Neuen Welt, über die er am Ende seiner ‘Préface’ (erneut überaus selbstbewusst) schreibt: Jeder, der mit der nötigen Offenheit an sein Gedicht herangehe, werde Gefallen daran finden.329 Kurz zuvor hatte Lesuire ebendort bereits einen Durchzug durch sein ‘merveilleux’ gegeben: Dessen zentraler Bestandteil ist das Einweben der Clémence Isaure, Kolumbus’ großer Liebe.330 Sie ist eine übernatürlich anmutende Gestalt voller Nächstenliebe, deren Bekanntschaft er vor der Abfahrt gen Neue Welt im Gefängnis in Cádiz macht und die ihn schließlich, verkleidet als Eremit und wie eine Art Schutzengel, mehr oder minder unbemerkt auf seiner Reise begleitet, bis er sie am Ende des Epos heiratet. Sie sei «un de ces Êtres bienfaisants & purs, qui ne peuvent gueres exister que dans l’imagination» (NM xxiv).331 Im Anschluss daran überblickt er die bedeutendsten Stationen seiner epischen ‘Weltgestaltung’ (und damit seines ‘merveilleux’), wobei jeweils einzeln ihr fiktionaler Charakter herausgestellt wird: Genauso wie die harmonisch-pazifistische Weltverbindung, die unter Kolumbus als Anführer gelinge,332 fingiert sei, sei auch der Tempel der Atlantispriester nahe Peru, das von Atlantis abstammende Volk Eleuthere und die Geschichte von den verliebten Halbgeschwistern Zilna und Tindal der Fiktion zuzurechnen – «mais ils ne sont pas sans fondement dans l’Histoire» (NM xxvi).333 Diese nachklappende Begründung belegt, dass Lesuire – so romanesk-exzentrisch die Fiktionen um Kolumbus’ Erlebnisse in der Welt des ‘merveilleux américain’ auch sein mögen – sichtlich bemüht ist, für sein Epos einen anderen, der ‘vraisemblance’ genügenden Maßstab, anzulegen. Da den Franzosen seines Erachtens der musische ‘furor poeticus’ der antiken Epiker

329 Vgl. NM xxvij: «mais les hommes qui ont une ame [...] sentiront peut-être l’onction & l’harmonie qui peuvent s’y [sc. dans le poème; G.J.K.] trouver, & s’élanceront, sur les ailes du Poëte, vers un monde plus heureux que le nôtre». 330 Aus historischer Sicht handelt es sich um die mutmaßliche Begründerin der «Académie des Jeux Floraux» in Toulouse (vgl. NM xxiv), die jedoch zeitlich gut 100 Jahre vor Kolumbus gelebt hat. 331 Vgl. auch Renata Carocci: Le Nouveau Monde ou Christophe Colomb de Le Suire entre deux poétiques, S. 268: «Dans ce genre de merveilleux entrait tout le vaste univers qu’il peignait et aussi l’amante invisible et présente comme une substance céleste». 332 Vgl. «L’alliance des deux mondes que fait Colomb, n’est aussi qu’une fiction ; la paix ne les a pas encore joints ensemble réellement» (NM xxv). 333 Vgl. «Le temple du Silence & de la Vérité [...] malheureusement n’est pas sur la terre ; & c’est une imagination» oder «Il faut voyager au pays des Fables, pour voir un peuple heureux comme je suppose les Eleutheres. C’est un contraste avec nos mœurs dont j’ai voulu faire sentir quelques abus». Die Episode der verliebten Halbgeschwister Zilna und Tindal soll lediglich die «pureté primitive» nachzeichnen. Alles in allem handelt es sich um «des songes sans doute ; mais ils ne sont pas sans fondement dans l’Histoire» (NM xxvi).

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fehle,334 lässt Lesuire den epischen Erzähler den gattungstypischen Musenanruf im ersten chant an die personifizierte ‘Vérité’ richten: «J’ai invoqué la Vérité, & cela paraît très naturel ; parceque le fond de mon récit est vrai. [...] L’Histoire m’a fourni le canevas, j’ai pu le broder à mon gré» (NM xvij–xviij). Es soll im vorliegenden Kapitel bewiesen werden, dass man in Gillets positivem Urteil über den Aventurier français, «[l]e roman de Lesuire est finalement plus cohérent qu’il n’y paraît»,335 das Subjekt noch passender durch ‘L’épopée’ substituieren kann, an welcher Lesuire Jahrzehnte lang – und deutlich länger als an seinen Romanen – feilte: Es gilt, den von Carocci negierten ‘forte filo conduttore’ der ‘Dispositio’ offenzulegen336 und einige der scheinbar allzu exzentrisch ‘ausfabulierten’ Stellen besser zu kontextualisieren. Exemplarisch wird dazu in Kap. 3.2.4 ausführlich der Mittelteil des Epos behandelt: Dort bilden nicht historische Informationen zu Kolumbus’ vier Reisen die historisch gegebene Leinwand (‘canevas’), die durch bunt ausgestaltete Episoden bestickt wird; sondern auf Basis einer von Lesuires Zeitgenossen vertretenen Atlantiskonzeption bzw. Abstammungstheorie werden wohlbedacht und mit klarem roten Faden zwei miteinander verknüpfte Atlantiskapitel in das Epos eingewoben. Zusätzlich stellt diese Passage in unseren Augen einen Wendepunkt bzw. eine Schlüsselstelle des Epos insgesamt dar. 2.3.2.1.2 Christliche Missionierung Als Einstieg zur Erhellung der ‘Dispositio’ soll die ‘Ideologie’ des Epos nachgezeichnet werden. Erneut kann dies anhand der Behandlung des Status der christlichen Religion im Epos geschehen. Lesuires Kolumbus ist – analog zu Bourgeois, Du Boccage und Laureau337 – der mit aufklärerischem Wissen ausgestattete Held, der nicht umsonst meist mit dem Epitheton ‘sage’ versehen wird. Kolumbus wird als Erfinder und Entdecker inszeniert, der als Erster die Fahrt sowohl konzipiert als auch umgesetzt hat.338 Bereits zu Beginn des ersten Gesangs heißt es in diesem Sinne: «Un Sage, qu’éclairait une étude profonde | Sut concevoir, chercher, trouver ce nouveau Monde» (NM I.3).339 Kolumbus’ Eigenständigkeit

334 Vgl. Kap. 1.2.1. 335 Jean Gillet: Lesuire et le roman d’aventure, S. 282. 336 Dieser ist in der von der Empfindsamkeit geprägten Raummodellierung zu sehen, vgl. das Folgende. 337 Vgl. Kap. 2.3.1 bzw. Kap. 2.3.3. 338 Entsprechend der Sichtweise Fernando Colombos, vgl. Florian Borchmeyer: Die Ordnung des Unbekannten, S. 233. 339 Bei der ersten Landung in chant II bzw. III wird analog von der Neuen Welt gesprochen, «[q]u’il conçut, qu’il trouva, qui semble son ouvrage» (NM I.34) und erneut Kolumbus’ «étude profonde» gelobt (NM I.31). Auch aus der Sicht seiner überseeischen Gesprächspartner nimmt

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als verständiges Wesen ist damit eindeutig einer gottgewollten Mission übergeordnet. Kolumbus ist kein Instrument Gottes mehr wie noch in den neulateinischen Epen. Die Sekundärliteratur ist sich einig: «Nulla di religioso vi è in lui [sc. Cristofero Colombo; G.J.K.]»;340 ganz ähnlich äußert sich Pratt: «While Le Suire admittedly puts no stress on the Christianisation of America and makes no claim for celestial corroboration of his protagonist’s plans, he makes no complaint, either, about the conversion of heathen».341 Diese scheinbar so eindeutigen Aussagen bedürfen einer gewissen Nachjustierung. Zu Beginn des Epos werden Kolumbus’ Mission und sein staatlicher Auftrag der Christianisierung sehr wohl immer wieder thematisiert, nicht zuletzt auch, um den historischen Fakten genüge zu tun. In NM I.53 (chant IV) wird Kolumbus etwa noch als typisch epischer Krieger eingeführt, der göttliche Unterstützung genießt: «sans doute au milieu d’un combat meurtrier, | Le Souverain des Cieux veillant sur ce guerrier, | Un Ange député des voûtes éternelles | Etendait, sur son front, son égide & ses ailes». Wenig später (in chant VI) wird beim Nachzeichnen der Landungsabsicht auf dem Kontinent Kolumbus’ doppelte Zielsetzung herausgestellt, sowohl Gebiete für Spanien zu annektieren als auch das Christentum zu verbreiten: «L’AMIRAL empressé de finir son ouvrage, | Veut du grand Continent découvrir le rivage ; | Et planter sur ces bords qu’il a promis au Roi | L’Etendard de Castille, & celui de la Foi» (NM I.75). Ganz analog wurden bei der ersten Landung auf Hispaniola gleichwertig Kreuz und Flagge in die neue Erde gerammt, Altäre von Soldatenhand aufgestellt und christliche Gesänge im Rahmen des «plus saint mystère» (NM I.34)342 angestimmt. Während es in den bisher behandelten Epen jedoch stets zu einer wie auch immer gearteten Dichotomie zwischen dem himmlisch-christlichen Gott mit seinen Engeln und den Unterweltgöttern bzw. Gottheiten der Ureinwohner (Zémès) gekommen war, spielen nicht-himmlische Gottheiten bei Lesuire für die Konfliktmodellierung bzw. die epische ‘Dispositio’ keine Rolle.343

Kolumbus diese Rolle ein: Der mexikanische König etwa ist begeistert von Kolumbus, der imstande war «[d]’avoir pu deviner & découvrir un Monde» (NM I.82). 340 Renata Carocci: Le Nouveau Monde di Robert-Martin Le Suire, S. 47. 341 Terry M. Pratt: Of Exploration and Exploitation, S. 306. 342 Punktuell werden Referenzen auf christliche Riten auch später im Epos gesetzt. Bei der Rückfahrt wird neutral die Durchführung des Heiligen Abendmahls erwähnt und Gott um Vergebung gebeten (vgl. NM II.100); bei der Beerdigung seines Sohnes auf dem Schlachtfeld sehen wir Kolumbus beim Gebet (vgl. NM II.127) usw. 343 Auf die Unterweltgötter wird ledglich in metaphorischer Verwendung verwiesen. Exemplarisch sei auf das folgende epische Gleichnis verwiesen, in dem das Dröhnen eines Erdbebens mit teuflischen Mächten in Verbindung gebracht wird: «Comme si, déchaîné sous les pas des

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Innerhalb des knapp umrissenen Grundgerüsts, das durchaus den christlichen Missionierungsauftrag als Ausgangspunkt setzt, steht nun ein mit den christlichen Idiomen vertrauter Kolumbus,344 der mit dem Selbstverständnis eines Überlegenen an seine Gesprächspartner aus der Neuen Welt herangeht. Blicken wir auf die einschlägigen Stellen, an denen Kolumbus gegenüber Indigenen seine eigenen Absichten verbalisiert. Gegenüber dem Alten Weisen auf Hispaniola erklärt Kolumbus, warum er den Weg in die Neue Welt gewagt habe und welche Wohltaten er ihr zukommen lassen möchte: «Pour aporter chez vous des biens qu’on nous envie, | La lumière des arts, les charmes de la vie ; | Pour éclairer vos yeux, pour adoucir vos cœurs, | Et vous donner des loix, des vertus & des mœurs» (NM I.45, chant III, Hervorh. G.J.K.). An der Seite von Sittenbelehrung, Wissensvermittlung und Güteraustausch vermisst man die explizite Erwähnung des christlichen Glaubens. Das hat seinen Grund: Einer religiösen Belehrung bedarf es schlicht nicht. Kolumbus ist «frappé de voir que la loi naturelle | Fait entendre en ce lieu sa voix universelle» und erblickt im Alten Weisen einen Menschen seinesgleichen.345 Der Alte Weise hat die christlichen Lehren durch ein Leben ‘secundum naturam’ bereits verinnerlicht. In seiner knappen Begrüßungsrede hatte er an Kolumbus einen Appell gerichtet, in dem er sowohl auf die Einhaltung des Gebots der Nächstenliebe pocht als auch auf das Jüngste Gericht anspielt.346 Von einem fehlenden Fokus des Kolumbus auf Religiöses kann also nicht die Rede sein, vielmehr ist an dieser Stelle die Betonung der christlichen Voreinstellung der Ureinwohner entscheidend. Ganz ähnlich gestaltet ist an etwas späterer Stelle Kolumbus’ Kontakt zum Alten Weisen, namens Sébastos, des Volkes Eleuthere nahe Peru, wo Lesuire einen dort ansässigen Troubadour-Jongleur in seinen Dichtungen die christlichen Werte der Nächstenliebe besingen lässt.347 Im Dialog mit Sébastos setzt Kolumbus zunächst noch überheblich an: Mais un maître secret qui règne dans les Cieux, S’il respire en vos cœurs, se dévoile à nos yeux. Sachez qu’il est un Dieu, tous les hommes l’adorent, |

mortels, | Le Ténare entr’ouvrait ses goufres éternels ; | Et si les habitans des rives infernales | Ebranlaient en hurlant leurs voûtes sépulchrales» (NM I.111). 344 Kolumbus verweist etwa ganz selbstverständlich auf Gott als Schöpfer und Lenker der Welt (vgl. NM II.39, 44). 345 Vgl. «Mon cœur épris, dans toi, reconnaît son semblable». 346 Vgl. «Respecte tes pareils, ami, pense au trépas, | Et ne fais point de mal à qui ne t’en fait pas» und «Aprends, qu’après ta mort, aux pieds de l’Eternel, | Tu rendras, de tes jours, un compte solemnel». 347 Vgl. NM II.12.

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L’univers le publie, & vos peuples l’ignorent. Il nous voit à ses pieds, quoique foibles, cruels, Réunis dans son Temple, encenser ses Autels. [...] L’espoir d’une autre vie [...] [...] nous presse & nous enflâme, Mais un si beau resort ne conduit point votre âme. (NM II.25 f.)

Kolumbus verbalisiert hier sein Selbstverständnis, nach dem das Wissen um die Existenz Gottes die Bewohner der Alten Welt gegenüber denen der Neuen Welt auszeichne. Beim Versuch, dem Alten Weisen das Leben nach dem Tod zu erläutern, um ihm den moralischen Imperativ einer guten Lebensführung im Hier und Jetzt einzupflanzen, wird Kolumbus düpiert. Sébastos kennt sowohl einen Schöpfergott als auch einen speziellen Tempelkult: Er führt Kolumbus zum Isthmus von Panama, wo beide ihren Blick über die Weite der Weltmeere und Sébastos’ Tempel (i. e. die gottgeschaffene Natur) schweifen lassen.348 In Sébastos’ unmittelbar folgendem Gebet an seinen Gott werden dabei just wortwörtlich die Junkturen des Kolumbus gegenüber dem Alten Weisen von Hispaniola wieder aufgegriffen (vgl. den obigen Fettdruck) und damit die Aspekte, die Kolumbus Hispaniola hatte zukommen lassen wollen: Pere de la nature, être incompréhensible [...] Adoucis tous les cœurs, éclaire tous les yeux, Unis tous les mortels par un nœud glorieux ; Et que le genre-humain, joint à l’Etre suprême, Ne forme plus, enfin, qu’un tout avec Dieu même. (NM II.28, Hervorh. G.J.K.)

Die Junkturen ‘adoucir les cœurs’ und ‘éclairer les yeux’ werden dabei im Kontext einer gemeinsamen, harmonisch vereinten Welt verwendet. Das verleiht im Rückschluss auch Kolumbus’ Worten gegenüber dem Alten Weisen von Hispaniola (die durch ihren neutraleren Kontext noch vage geblieben waren) klarere Züge. Nicht nur dem Alten Weisen von Hispaniola, sondern auch Kolumbus selbst liegt das Moment der neutestamentarischen Nächstenliebe besonders am Herzen.349 Kolumbus’ Gespräche in Hispaniola und nahe Peru sind klimaktisch angeordnet, da Sébastos seinem Pendant aus Hispaniola überlegen ist und in Peru

348 Vgl. «Voilà, dit-il, mon Temple : ô toi qui sens & penses, | Homme, dans son Ouvrage, adore ton Auteur» (NM II.27). Die Parallele zum Bergvolk in Marmontels Incas-Roman ist greifbar: Auch bei ihm wird das von Las Casas besuchte Bergvolk am Isthmus von Panama angesiedelt, vgl. chapitre XIII. 349 So fügt es sich auch, dass am Ende der Geschehnisse in Hispaniola Kolumbus die Spanier und die Ureinwohner gemeinsam vor Gott einen brüderlichen und friedlichen Umgang miteinander schwören lässt, vgl. NM I.62.

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die Belehrung nicht mehr primär von Kolumbus ausgeht, sondern vom Ureinwohner. Sébastos’ Ausführungen legen nahe, dass das Entscheidende an der ‘christlichen Nächstenliebe’ eben nicht das ‘Christliche’ ist, sondern die ‘Nächstenliebe’ als weltenübergreifender, basaler Grundbaustein einer funktionierenden Gesellschaft. Die Momente, in denen Kolumbus mit einzelnen Personen in Dialog tritt und in ihnen gewissermaßen ‘Spiegelfiguren’ seiner selbst erblickt, in denen er sich und sein Handeln selbst reflektieren kann, häufen sich in der zweiten Werkhälfte: Der «Dio trascendente e lontano», «visibile nella natura e nel cuore dell’uomo»,350 den der Ureinwohner Sébastos umreißt, wird etwa ergänzt durch das pantheistisch-deistische Gottesverständnis des muslimischen Zizim,351 den Kolumbus im Gefängnis in Italien kennenlernt. Anhand dieser zunehmenden Kontakte zu einzelnen weiteren ‘Auserwählten’ lässt sich eine Bewegung hin zur ‘Privatisierung’ des Glaubens als ‘intimes Gefühl’ ablesen,352 das schließlich in Kolumbus’ eigenem Verhalten im Angesicht des Todes kulminiert, dem er – nach dem Ablegen persönlicher Buße vor Gott353 – in vollem Gottvertrauen mit seiner Ehefrau Clémence Isaure entgegengeht.354 Entscheidend ist im genannten Kontext die Exklusivität der intimen Verbindung zu Gott, in deren Genuss neben Kolumbus nur wenige Auserwählte (‘Spiegelfiguren’) kommen; sowohl Kolumbus als auch Sébastos sprechen von sich als über dem Rest des Volkes stehende Initiierte.355 Sébastos’ Belehrung gegenüber Kolumbus zeigt jedoch, dass das peruanische Bergvolk Eleuthere den Europäern diesbezüglich einen Schritt voraus ist: Que ton ame s’étende avec le créateur. Nous révérons ce Dieu, quand sa main nous éclaire, Mais nous voilons sa gloire aux regards du vulgaire. Nous savons trop, hélas! de quels fantômes vains

350 Renata Carocci: Le Nouveau Monde di Robert-Martin Le Suire, S. 41. 351 Vgl. folgenden Auszug aus Zizims Gebet in NM II.134: «Je te rends grace, ô Dieu qui [...] | [...] respires dans moi comme dans l’Univers». Ganz analog hatte sich Sébastos in seinem Gebet an Gott ausgedrückt: «Qui te peins dans mon cœur, comme dans l’univers» (NM II.28) 352 Diese Veränderung des religiösen Verständnisses bildet einen zentralen Teil der näher zu umreißenden ‘Dispositio’. 353 Vgl. NM II.101, chant XIX: «Dieu [...] | Vengeur des oprimés, fais tomber sur ma tête | De tous tes châtimens l’effroyable tempête ; | Et punis sur moi seul tous les noirs attentats. | Qui seront à jamais commis dans ces climats». 354 Vgl. «Il a pour lui son cœur, son Isaure & le Ciel» (NM II.174). 355 Vgl. «Tandis que, respirant un air brillant & pur, | Nous jouissions du jour, & du céleste azur, | Elevés dans les Cieux au-dessus des orages | Dont le peuple à nos pieds déplorait les ravages» (NM II.28) und in identischer Weise Sébastos in seiner Rede: «Au dessus des vallons & des nuages sombres, | Tu planes dans le jour, le peuple est dans les ombres» (NM II.28).

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L’artifice & l’erreur font les Dieux des Humains ; Et combien l’Eternel, s’il se peut qu’on l’outrage, Est outragé souvent par un culte sauvage. (NM II.27)

Sébastos vertritt ein striktes ‘Odi profanum vulgus et arceo’ und ist sich der Fehlbarkeit der großen Menschenmenge, des «peuple aveugle et superstitieux» (NM II.27) wohl bewusst, das allzu schnell einem irrigen Idolenglauben anheimfällt. In einem Gebet an seinen Gott führt er das näher aus: «Ce n’est point aux méchans à publier ta gloire. | Ton nom ne doit jamais servir dans nos climats | De prétexte aux forfaits, d’égide aux scélérats» (NM II.28). Daher kommt es im peruanischen Bergvolk zu keiner öffentlichen Zurschaustellung von Religion. Jeder, der über die nötige Einsicht verfüge, werde seine Existenz und seine Macht erkennen,356 und Sébastos bringt seine Freude darüber zum Ausdruck, in Kolumbus einen solch einsichtigen Freund gefunden zu haben: «Et quel plaisir pour nous d’embrasser un mortel, | Un frere dont l’esprit a conçu l’Eternel !» (NM II.27). Auch wenn das breite Volk in dieser Passage der beiden über dem Rest stehenden Initiierten in ungemein negativem Licht erscheint, sind Hilfestellungen ihm gegenüber durchaus angezeigt. Ausgewählte Missionare, allen voran Las Casas und der Eremit (d. h. die verkleidete Isaure Clémence), widmen sich der Arbeit, die verlorenen Seelen auf den richtigen Weg zu führen; mit Blick auf die ‘Dispositio’ des Epos spielt sich dieses Missionieren jedoch eher im Hintergrund ab und Kolumbus’ Beitrag dazu ist eher gering.357 Liest man Forschungsarbeiten über den ‘Préromantisme’ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (und v. a. um 1780),358 begegnet dieser nach außen getragene «mépris pour les profanes»359 als einer von mehreren typischen Zügen der zeitge-

356 Vgl. NM II.28: «Et nous restons sur lui dans un humble silence. | Nul n’ose l’annoncer ; il n’est point de milieu, | Chacun doit ignorer ou deviner son Dieu. | Il faut que, sans secours, à l’œil qui l’envisage, | L’Auteur soit dévoilé par son superbe ouvrage». 357 Vgl. NM I.46: Las Casas, der Eremit und Kolumbus werden im Gegensatz zu den «Chrétiens sanguinaires» als den wahren Glauben vermittelnder «rayon du Ciel» gesehen. Insbes. Las Casas kommt die Missionierungsaufgabe zu. Er taucht völlig in das Milieu der Ureinwohner ein: «Ils m’ont vu, suportant l’inclémence des airs, | Vêtu, nourri comme eux, vivre dans les deserts ; | J’adoptais & leurs mœurs & leurs vertus humaines ; | Je m’abstenais du meurtre, & partageais leurs peines. | Je semblais être né dans ces agrestes lieux, | Ils croyaient me gagner, je les gagnais aux Cieux» (NM II.146). An selber Stelle bilanziert er seine Erfolge und kommt auf das ‘adoucissement des cœurs’ zu sprechen, das er den Indigenen zukommen lässt: «Ils adoptaient un Dieu dont les loix adorées | M’inspiraient des vertus qu’ils avaient ignorées. | En les adoucissant, je les rendais heureux» (Hervorh. G.J.K.). 358 Zu nennen sind hier insbes. Daniel Mornet, Paul van Tieghem oder André Monglond. 359 Paul van Tieghem: Le sentiment de la Nature dans le Préromantisme Européen. Paris: Nizet 1960, S. 230.

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nössischen literarischen Produktion, die Tieghem exemplarisch an einem Korpus bekannterer Texte360 vorführt. Anders als noch in Gessners Werken (v. a. La Mort d’Abel), wo sich friedlich-idyllische Landschaftsbeschreibung mit der Gattung des biblischen Epos verquickt,361 verbindet sich in den letzten Jahrzenten des Jahrhunderts die Naturerfahrung mit einer Mischung aus christlicher Tradition und pantheistischen Tendenzen sowie der Vorstellung eines persönlichen Gottes.362 Der Rückzug in die Natur tröstet nicht nur über seelische Qualen hinweg, sondern macht auch Gott erfahrbar.363 Ganz nahtlos fügt sich Lesuires Epos in diese Reihe von ‘präromantischen’ Texten.364 Speziell mit der oben zitierten Passage («Que ton ame s’étende avec le créateur») im Kopf, die an Eichendorffs ‘Und meine Seele spannte | weit ihre Flügel aus’ erinnert, lassen sich Tieghems Ausführungen zum ‘Préromantisme’ lesen, als handle es sich dabei um eine Kommentierung des Nouveau Monde: «La contemplation d’un beau paysage provoque ou développe les plus nobles sentiments: religion, amitié, amour des hommes, elle donne lieu à des réflexions utiles, elle encourage la pureté et la noblesse d’âme»365 und: «l’aspiration romantique, la Sehnsucht qui, au spectacle de la nature, invite l’âme à s’élancer toujours plus haut, toujours plus loin, vers des cieux inconnus»366 «[et] à se plonger dans les vérités éternelles».367 Wenngleich der Begriff ‘Präromantismus’ heute als überholt gilt, da er zu sehr die Absicht impliziert, in den Texten des ausgehenden 18. Jahrhunderts lediglich frühe Züge des Romantischen erkennen zu wollen,368 verliert der eben genannte objektiv am Text nachgewiesene (und auch in Lesuires Epos zu bestätigende) Befund nicht seine Gültigkeit. Als typisches Element dieser ‘vorromantischen’ Phase konnte Tieghem «l’union entre paysage et sentiment»369 herausarbeiten, wonach sich die Gefühle des Menschen jeweils im ihn umgebenden Naturraum spiegeln. Pratt hat in seiner bereits erwähnten Detailstudie zu Lesuires Epos aus dem Jahr 1992 als Einziger bisher die Verbindung Lesuires zur Romantik gezogen, indem er

360 U. a. an den Gedichten des Engländers William Cowper (z. B. Retirement von 1782) und den Werken von Louis Sébastien Mercier (ca. 1780–1785). 361 Dieses Vorgehen stößt bei den LeserInnen auf breite Resonanz, vgl. ebda., S. 138. Man denke nur an Madame Du Boccages Imitation aus dem Jahr 1760. 362 Vgl. ebda., S. 262 f. 363 Vgl. ebda., S. 248. 364 Ebda., S. 248, spricht von einer der ‘Präromantik’ zuzurechnenden «série de textes, certains très connus, d’autres qui méritent de l’être». 365 Ebda., S. 248. 366 Ebda., S. 246. 367 Ebda., S. 248. 368 Vgl. etwa Frank Baasner: Der Begriff ‘sensibilité’ im 18. Jahrhundert, S. 19–24. 369 Paul van Tieghem: Le sentiment de la Nature dans le Préromantisme Européen, S. 234.

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versucht, in dem von ihm fokussierten Teil des Lesuire’schen Epos, nämlich in der Episode um die ineinander verliebten Halbgeschwister Zilna und Tindal,370 einen frühen (wenngleich qualitativ weniger gelungenen)371 Vorläufer der Pastorale Paul et Virginie (1788) des Bernardin de Saint-Pierre zu sehen. In seinem Aufsatz unterstreicht er – neben dem Herausheben der exponierten Stellung der Passage im Epos372 und einiger Vergleichspunkte zwischen Lesuire und Bernardin de SaintPierre373 – eben diesen gemeinsamen Aspekt beider Werke und meint zu Lesuires Episode: «the external landscape of Le Suire’s fortunate isle parallels the internal landscape of his protagonists’ feelings».374 Auf dem vergleichenden Blick auf ‘romantische’ Werke beruht auch Pratts zweiter Aufsatz aus dem Jahr 1992, in dem er Lesuires Epos und insbesondere die Episode um Zilna und Tindal als eine der möglichen Inspirationsquellen für Chateaubriands romantische Epen (und die Liebesgeschichte um Chactas in Atala) sieht.375 Auch wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass Chateaubriand, der Hauptvertreter der Epik zu Beginn des 19. Jahrhunderts,376 bei seiner

370 Vgl. die Isolationen ab ‘7a’ der Appendix. 371 Lesuire «concurs with, but cannot compete with, the more poetic and the more profound prose pastorale of Bernardin de Saint-Pierre» (Terry M. Pratt: Primitive Episodes in Enlightenment Epic, S. 98). 372 Der Exkurs ist als solcher besonders markiert, nämlich durch eine erneute vorangestellte ‘Invocatio’ der ‘Vérité’ in NM II.59 f. 373 Pratt (ebda., S. 93–96) bemerkt: Die männlichen Figuren Tindal bzw. Paul sind beide Schwimmer; Paul wird beim Beten über Virginies Grab von einem Mann beobachtet, Zilna wird beim Beten an Tindals Grab von Kolumbus beobachtet; beide Episoden leben von «evolving emotional dealings between the two teenagers» (ebda., S. 95) usw. 374 ebda., S. 95 f. 375 Vgl. Terry M. Pratt: Chateaubriand’s Atala and Le Suire’s America. In: Nineteenth-Century French Studies 21 (1992), S. 44, S. 48 und insbes. S. 42: «[Lesuire’s poem can be] added to the already lengthy list of books that can be claimed to have contributed to the elaboration of Chateaubriand’s Atala». In den beiden ins Génie du Christianisme implementierten Kurzgeschichten Atala und René gebe es einen Fokus auf die Thematik des Inzests, «[which] is an especially prominent feature of Le Suire’s pastoral episode» (Ebda., S. 47). 376 Der Glaube ans Epos als höchste literarische Gattung, der ja das 18. Jhdt. kennzeichnet (vgl. Pierre Frantz: Introduction, S. 5; Kap. 1.1.2.1), ist im frühen 19. Jhdt. ungebrochen, wobei sich die Spannung zwischen der Verehrung antiker Modelle und der Suche nach einer modernen Literatur weiter zuspitzt (vgl. Élodie Saliceto: Le discours de la ‘modernité’: Les Martyrs de Chateaubriand, utopie du renouveau épique? In: Saulo Neiva (Hg.): Déclin & confins de l’épopée au XIXe siècle, S. 217–231). V. a. Chateaubriand ist mit seinen beiden von Romanen zu Epen ausgearbeiteten Werken Les Natchez (1826) und Les Martyrs (1809) als Hauptvertreter der Epik zu nennen. In seinen Epen wird dabei der christlichen Wahrheit neuer Aufschwung verliehen: einmal geschieht dies durch ihre Verbindung mit der Neuen Welt-Thematik, einmal durch ein frühes nationalgeschichtliches Thema des Christentums (vgl. Laure Boulerie: Le romantisme

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Neuen Welt-Epik von Lesuires Le Nouveau Monde inspiriert worden ist, und man in seinem empfindsamen Epos einen Wegbereiter etwa für Lamartines humanitäres Epos sehen kann,377 gilt es, sich Lesuires Text nicht nur aus dieser Ex-post-

français et l’Antiquité romaine. Thèse de doctorat, littérature française. Université d’Angers 2013, S. 98–104 und S. 108; Stéphanie Tribouillard: L’épopée chrétienne comme la plus haute expression de la société ou Bonald critique «du poëme épique à l’occasion des Martyrs». In: Saulo Neiva (Hg.): Déclin & confins de l’épopée au XIXe siècle, S. 234 und S. 248). Demgegenüber hatte Victor Hugo in seiner ‘Préface’ zu Cromwell (1827) in einem Dreischritt die Lyrik einer primitiven Phase der Menschheit, die Epik der Antike und das Drama der Moderne zugeordnet – und so der Dramatik den Vorzug vor der Epik gegeben (vgl. Pierre Laforgue: Épopée et histoire chez Hugo (1852–1862). In: Pierre Frantz (Hg.): L’Épique. Fins et confins. Paris: Presses Universitaires FrancComtoises 2000, S. 276, und Chauvin, Cédric: Théorie de l’épopée et philosophie de l’histoire : le ‘mythe de la mort de l’épopée.’ In: Saulo Neiva (Hg.): Déclin & confins de l’épopée au XIXe siècle, S. 125). Diese Überzeugung, dass das der Frühgeschichte zuzuordnende orale Genre des Epos in der Moderne nicht mehr umsetzbar sei, hatten vor ihm auch Madame de Staël oder Vertreter der deutschen Romantik wie Hegel, Schlegel, Hölderlin geteilt (vgl. ebda., S. 132–136 und S. 140). Trotzdem legt auch Hugo weiterhin den Willen an den Tag, das ‘epische Register’ in sein Werk einzubauen. Sei es als pasticheartiges Anti-Epos (mit seinen Châtiments, vgl. Pierre Laforgue: Épopée et histoire chez Hugo (1852–1862), S. 279) oder in der Première série de petites epopées seiner Légende des siècles. Insbes. auf die Romane des 20. Jhdts. übt das epische Register Einfluss aus; vgl. Dominique Combe: Le récit poétique et la poésie narrative: la question de l’épique. In: Sylviane Coyault (Hg.): L’histoire et la géographie dans le récit poétique. Clermont-Ferrand: Presses Universitaires Blaise Pascal 1997, S. 37 f. 377 Bei seinem Durchzug durch das Epos des 19. Jhdts. spricht Millet von der Hybridisierung der Epik mit der Dramatik und von der daraus resultierenden «épopée de l’homme intérieur» (Claude Millet: Les Larmes de l’épopée. Des Martyrs à La Légende des siècles. In: Saulo Neiva (Hg.): Déclin & confins de l’épopée au XIXe siècle, S. 12 f.). Sowohl Lamartine als typischer Vertreter der ‘épopée humanitaire’ als auch Quinet als der der ‘épopée philosophique’ zeugen vom Höhepunkt der oralen Tradition und der Homerbegeisterung der Zeit (vgl. Michel Brix: La Voix du peuple, S. 122). Aufgrund der Hybridisierung des Epos mit der ‘histoire universelle’ bzw. den «souffrances de l’Homme sur le chemin du progrès» (Claude Millet: Les Larmes de l’épopée, S. 12) tritt «la déploration et la compassion que suscite le malheur des hommes» an die Stelle der «exaltation euphorique de la gloire des héros». Daher setzen alle Epiker (auch Chateaubriand mit seinem fingierten Helden Eudore in Les Martyrs) stärker auf Helden ohne ‘gloire’-Streben aus dem Volk. Lamartine wählt in seinem Epos Jocelyn einen Aussteiger (einen curé de village) als Helden und zeigt der Leserschaft so eine sensible Gesellschaft, aus der die Demokratie erwachsen kann (vgl. ebda., S. 13–16). Millet konstatiert, diese neue Art des Epos «transforme en profondeur le genre épique en déliant le héros de la sphère du pouvoir et de la souveraineté» (ebda., S. 16). Lesuires Kolumbus-Epos nimmt in diesem Kontext gewissermaßen eine Schaltstelle ein, bei dem der ‘intrasemiosphärische’ Kampf zwischen der offiziellen spanischen Semiosphäre und dem Privatmann Kolumbus ausgestaltet wird. Teils überlappen sich die Absichten des im öffentlichen Auftrag stehenden Kolumbus mit denen des privaten Kolumbus, mehr und mehr weichen sie jedoch voneinander ab. Die Züge des privaten, sensiblen Kolumbus stimmen dabei mit denen der romantischen epischen Helden überein («le refuge dans

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Perspektive anzunähern, sondern ihn stärker als Phänotyp seiner eigenen Zeit378 und wiederum vor seinen Vorläufern zu sehen. Um Lesuires Text besser verstehen zu können, soll bei der konkreten Textarbeit das Epos in die Zeit der

la solitude», «l’exclusion» usw.; vgl. ebda., S. 12), sodass es auch in Lesuires Epos schon zu dem von Millet bei Lamartine konstatierten «gouffre entre sa subjectivité [sc. celle du héros épique; G.J.K.] et la volonté collective» (ebda., S. 17) kommt. Vgl. hierzu unsere weiteren Ausführungen. 378 Auch hat Carocci herausgestellt, dass Lesuires jahrzehntelanges Feilen am Epos keine nennenswerten Veränderungen in Richtung ‘Romantik’ hervorgebracht hätten, dass die Veröffentlichung von Werken wie Paul et Virginie (1788), Chateaubriands Atala (1801) oder Mme de Staëls De la littérature (1800) Lesuire nicht mehr zum Kreieren einer andersartigen ‘atmosphère romantique’ beeinflussten, sondern er nur das vorhandene Epos abrunden und kritische Bemerkungen der Zeitgenossen produktiv umsetzen wollte Vgl. Renata Carocci: Le Nouveau Monde ou Christophe Colomb de Le Suire entre deux poétiques, S. 269 f. Die ‘lima’, die er an sein Werk angelegt hat, hat den Textbestand der dritten Edition von 1802 gegenüber der ersten Edition von 1782 nur wenig verändert (weswegen bei unserer Behandlung des Epos auch die Erstausgabe als Referenztext herangezogen wird). Eine der wenigen Änderungen ist die Auswirkung des veränderten sozialen, politischen Hintergrunds auf einige Passagen: Anstatt der ‘vérité’ wird etwa die ‘liberté’ als Muse apostrophiert (vgl. Robert-Martin Lesuire: Le Nouveau Monde, ou Christophe Colomb. Nouvelle édition, entièrement refondue et corrigée. Paris: Debray 1802, Bd. 1, S. 3). Andere Änderungen gehen schlicht auf Lesuires subjektives Empfinden zurück, wenn er z. B. einen etwas anderen Einstieg wählt und es nun Kolumbus ist, der dem epischen Erzähler vor Augen schwebt und ihn zum Schreiben des Epos motiviert (vgl. «soudain je crus le voir, fantôme radieux», ebda., Bd. 1, S. 2); dieser Einstieg erinnert ferner an die bereits in Anm. 305 zitierte Epiphanie Richardsons in Le Crime. Carocci begründet gewisse Adaptationen mal durch die Absicht Lesuires, die Fiktion wahrscheinlicher zu machen, mal durch die Absicht, allzu eindeutige Plagiate bzw. Imitationen zu verschleiern (so bei der Kopie der Marmontel’schen Episode von Alonzo und Cora aus den Incas, die in der Ausgabe von 1802 fehlt). Sie bilanziert in ihrem Vergleich der ersten und dritten Edition die entscheidenden Veränderungen wie folgt: Die 26 Gesänge wurden auf 24 reduziert, dabei jedoch nur die chants IX und X sowie XII und XIII jeweils – ohne große quantitative Kürzung – zu einem chant zusammengefasst. Vgl. Renata Carocci: Le Nouveau Monde ou Christophe Colomb de Le Suire entre deux poétiques, S. 262 und S. 269. Die Darstellung des Kolumbus als Helden geht in der dritten Auflage noch stärker in Richtung eines internalisierten, sensiblen Helden, der – wie auch Lesuire selbst – durch seine Reife noch stärker als weise, gefühlvolle Vaterfigur und ‘chef spirituel’ besticht, weniger als ‘homme d’action’. Sein tiefer innerer Schmerz wird stärker konturiert (vgl. ebda., S. 264 f.). Die größte Veränderung erfährt die Ausgestaltung des ‘merveilleux’: Isaure Clémence nimmt in der dritten Ausgabe nicht mehr unter dem Deckmantel eines Eremiten an Kolumbus’ Reise teil, sondern als regulärer Teilnehmer, wird dann jedoch verschleppt, und Kolumbus begibt sich auf die Suche nach ihr. Sie ist es dann, die Kolumbus das Buch der Informationen der Priester aushändigt (vgl. ebda., S. 266 f.). Zusätzlich wurden – wie wir es in gleicher Weise bei Laureau in Kap. 2.3.3 sehen – Allegorien (z. B. ‘la vertu’) eingeführt, die Carocci aus poetischer Sicht als nutzlos bewertet (vgl. ebda., S. 269).

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«Herausbildung eines neuen Menschenideals»,379 nämlich des empfindsamen Menschen, eingeordnet werden, wozu zuerst einige theoretische Vorbemerkungen zur Empfindsamkeit vorangestellt werden müssen. Denn zur Entstehungszeit des Nouveau Monde um 1780 liegt bereits ein erstaunlich weit gefächertes Verständnis von ‘sensibilité’ vor:380 Lesuire kann beim Abfassen seines Epos sowohl auf die Tradition der ‘sensibilité de l’âme’ wie auf die der ‘sensibilité physique’ zurückgreifen, die dieses «assoziationsreiche[...] Konzept»381 umfasst. Es sollen im Weiteren nun nicht nur Pratts Beobachtungen zur Episode um Zilna und Tindal durch eigene Beobachtungen angereichert werden. Insbesondere wollen wir im weiteren Verlauf des Kapitels das gesamte Epos vor der Hintergrundfolie der Empfindsamkeit betrachten und analysieren, welche Veränderungen dieser spezielle zeitgenössische Kontext auf die uns bisher begegnete räumliche Modellierung der Untergattung ‘Kolumbus-Epos’ bedingt. 2.3.2.1.3 Empfindsamkeit Entscheidend für das Konzept der Empfindsamkeit ist laut Baasner ihre «Einbettung [...] in die Aufklärungsbewegung»,382 zumal ‘Empfindsamkeit’ nicht als antagonistisch zur aufklärerischen ‘kalten ratio’ zu sehen ist, denn vielmehr als zusätzliche Implementierung des Gefühls: Der Mensch mit fühlendem ‘cœur sensible’ ist prädisponiert für den Erkenntnisgewinn. Wenn in den oben angesprochenen beiden Gesprächen des Kolumbus mit den Alten Weisen von Hispaniola bzw. Peru also jeweils vom ‘adoucissement des cœurs’ und den ‘éclairages des yeux’ die Rede ist, ist damit neben dem Belehren über basale religiöse Vorstellungen (Stichwort: ‘harmonisches Vereinen der Welten unter Einhaltung der Regel der Nächstenliebe’) eben auch ein Überbringen des empfindsamen Menschheitsideals an die Ureinwohner impliziert als ein ausgewogenes Vereinen von Verstand und Gefühl. Auch wenn sich die Empfindsamkeit als «übernationales Kulturmuster [...] erst im zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts»383 konstituiert, setzt Baasner in seiner Monographie zur Begriffsentwicklung der ‘sensibilité’ den Startschuss für

379 Frank Baasner: Der Begriff ‘sensibilité’ im 18. Jahrhundert. Aufstieg und Niedergang eines Ideals. Heidelberg: Winter 1988, S. 35. 380 Das sich u. a. in den unterschiedlichen Enzyklopädien s. v. ‘sensibilité’ nachvollziehen lässt (vgl. ebda., S. 324). 381 Ebda., S. 312. 382 Ebda., S. 26. 383 Peter U. Hohendahl: Der europäische Roman der Empfindsamkeit. Wiesbaden: Athenaion 1977, S. 7.

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die wachsende Bedeutung des Gefühls bereits im 17. Jahrhundert an.384 Hier kommt es zu einer Aufwertung der ‘sensibilité’ als «über physische Attraktion hinausgehendes Liebesgefühl»385 und als Fähigkeit zum Mitleid.386 Am greifbarsten wird dies im Kontext der Liebestheorie der Mademoiselle de Scudéry.387 Sie erblickt in der ‘sensibilité de l’âme’, d. h. in der Fähigkeit, seine Gefühlen offen zu zeigen (‘sincérité’) und ‘compassion’ zu empfinden, einen entscheidenden Charakterzug des ‘honnête homme’ bei Hofe und argumentiert unter Berufung auf Epikur gegen die zeitgenössisch beliebte Philosophenschule der Stoiker und deren Gefühlskälte.388 Die wachsende Beachtung der menschlichen Leidenschaften (‘passions’) muss dabei im Kontext des im christlichen Glauben fundierten Menschenbildes gesehen werden mit seinem pessimistischen Blick auf die Natur des postlapsarischen Menschen.389 Dieses Menschenbild ist im gesamten 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts theologisch wie säkulär bestimmend.390 Im Rahmen der Diskussion um die Leidenschaften des Menschen hebt L. Crocker

384 Frank Baasner: Der Begriff ‘sensibilité’ im 18. Jahrhundert, S. 226. 385 Ebda., S. 226. 386 Die Wurzeln der Empfindsamkeit im Pietismus zu sehen (vgl. etwa Gerhard Sauder: Empfindsamkeit. Bd. 1: Voraussetzungen und Elemente. Stuttgart: Metzler 1974, S. 58), wurde immer wieder vertreten und kann kaum völlig von der Hand gewiesen werden. Die Wegbereitung durch den Pietismus ist durchaus vernünftig, vgl. etwa Otto Gründler/Ulrike Strasser: Die Emotionalisierung der Religion von Bernhard von Clairvaux bis zum Pietismus. In: Klaus P. Hansen (Hg.): Empfindsamkeiten. Passau: Rothe 1990 S. 32: «Der Pietismus hat damit den letzten Schub in Richtung auf [sic!] die säkulare Empfindsamkeit des 18. Jhdts. geleistet». 387 Bzw. in ihrem Roman Clélie, in dem sie ihre Vorstellungen in praxi umsetzt. 388 Vgl. Frank Baasner: Der Begriff ‘sensibilité’ im 18. Jahrhundert, S. 96. Die Bedeutung der antiken Philosophenschulen der Epikureer und der Stoa rückt besonders in den letzten Jahrzehnten verstärkt in den Fokus der Aufklärungsforschung. Ben Dew: Epicurean and Stoic Enlightenments: The Return of Mordern Paganism? In: History Compass 11 (2013), S. 486–495, liefert einen Rundumblick der großen Beiträge der Forschung auf diesem Gebiet und bezeichnet die Aufklärung als «Janus-faced» (ebda., S. 493) zwischen Stoa und Epikureismus. Er sieht die bisherigen Forschungen als Nährboden für weitere ausgiebigere Untersuchungen, wenngleich «Such analyses have been extended in recent years, as scholars like Pierre Force and John Robertson have sought to demonstrate that the intellectual history of the 18th century can be conceived of, in part, as a confrontation between Epicurean and Stoic currents of thought» (ebda., S. 487). 389 Vgl. Lester G. Crocker: An Age of Crisis, S. xiii. Die Lösung von der Fundierung des christlichen Weltbilds ging im Bereich der Ethik und in Moralfragen deutlich langsamer vonstatten als im Bereich der Physik (vgl. ebda., S. 449). 390 Besonders unter den Protestanten und Nachfolgern des Augustinus findet sich das negative Bild vom Menschen als ein von Leidenschaften gekennzeichnetes Lebewesen, das sich mit dem (insbes. ab 1660) wieder auflebenden Epikureismus verbindet (vgl. Ben Dew: Epicurean and Stoic Enlightenments, S. 489; Christian Maurer: Stoicism and the Scottish Enlightenment.

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hervor, dass sich bei vielen christlichen Autoren ein typischer Widerspruch finde:391 In der Theorie ist der postlapsarische Mensch nur auf sich bedacht, von seinem ‘amour propre’ und seinen ‘passions’ geleitet,392 in praxi wird der Aspekt der Empfindsamkeit im Sinne des ‘Mitleids für Andere’ positiv herausgestellt, da er den ‘amour-propre’ ein Stück weit verbergen kann.393 Die Erörterung der Frage, wie man trotz der negativen Voraussetzungen ein sittlich gutes Leben führen kann, beeinflusst direkt die Diskussion des Menschenbildes der ‘philosophes’ des 18. Jahrhunderts, allen voran Diderot, bei dem der Mensch als ‘homo duplex’ ebenso zwischen Egoismus und Altruismus verortet wird.394

In: John Sellars (Hg.): The Routledge Handbook of the Stoic Tradition. London/New York: Routledge 2016, S. 266). Solche anti-stoisch ausgerichteten Strömungen halten sich bis weit ins 18. Jhdt.; als Hauptvertreter des pessimistischen Menschenbilds gelten Pierre Bayle und schließlich Mandeville mit seiner Fable of the Bees 1714 bzw. 1723 (vgl. Frank Baasner: Der Begriff ‘sensibilité’ im 18. Jahrhundert, S. 50 f., und Lester G. Crocker: An Age of Crisis, S. 203 f. und S. 221). In der Strömung des Materialismus wird der negative, anti-stoische Blick auf den Menschen als egoistisches Wesen nochmals verstärkt. Die Basis für den Materialismus legt Condillacs Traité des Sensations (1754), in dem er in den Gefühlen den Ausgangspunkt für jegliches Handeln sieht (vgl. ebda., S. 267 f.), worauf Helvétius (De l’Esprit, 1758; De l’Homme, 1772) und La Mettrie aufbauen; vgl. «Man is carnivore, vicious, cruel and bloodthirsty», ebda., S. 211. La Mettrie versammelt in seinem Anti-Sénèque (1748) alle zeitgenössisch kursierenden Argumente gegen den Stoizismus und den Glauben, Vernunft-Verliebtheit lasse jemanden in den Genuss einer ‘beata vita’ kommen. Auf den Vorstellungen des Materialismus baut dann auch der Marquis de Sade auf (vgl. ebda., S. 348 f.). 391 Vgl. Lester G. Crocker: An Age of Crisis, S. 263. Gerade französische Katholiken und Jesuiten kommen von der tradierten Vorstellung ab, ‘passions’ seien nichts als zu überwindende Herausforderungen im Jammertal des Lebens. Denn Gott habe jedem Gefühle gegeben, und sie könnten in gezügelter Form positiv zu tugendhaftem Handeln beitragen (man denke etwa an Nicolas Coeffeteaus Tableau des passions humaines von 1620, vgl. ebda., 256 f.). Ben Dew: Epicurean and Stoic Enlightenments, S. 487, spricht von «man’s ability to shape the world for the better». Die Jansenisten (etwa La Rochefoucauld) sprechen sich demgegenüber gegen einen verwässerten Begriff der ‘passions’ aus und assoziieren mit ihnen weiterhin menschliche Schwäche. 392 Vgl. Lester G. Crocker: An Age of Crisis, S. 263: «The considerable number of orthodox writers who admit the unique motivation of self-interest and happiness is impressive». 393 Vgl. Frank Baasner: Der Begriff ‘sensibilité’ im 18. Jahrhundert, S. 58–61, und insbes. S. 61: «Die altruistische Sensibilität steht in offensichtlicher Harmonie neben dem allmächtigen amour-propre». 394 Vgl. Lester G. Crocker: An Age of Crisis, S. 226. Zu Diderots Artikel zur ‘sociabilité’ in der Encyclopédie s. ebda., S. 236 und Frank Baasner: Der Begriff ‘sensibilité’ im 18. Jahrhundert, S. 97. Dort wird eben diese Mischung aus Selbstliebe und Liebe zu anderen verbalisiert. Das passt auch zur allgemeinen Feststellung Dews zur Aufklärung insgesamt: «its ideas, it is now generally accepted, were not indelibly tied to a coordinated campaign to ‹érasez [sic!] l’in-

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Eine eingangs völlig randständige Position nimmt in diesem Kontext die durchweg positive Sicht auf den Menschen ein, dem als ‘animal sociale’ eine ‘sensibilité’ gegenüber Anderen eingeboren sei.395 Doch liefert sie in der Folge für die Strömung der Empfindsamkeit die entscheidende philosophisch-ethische Basis: Erstmals virulent wird sie im Rahmen der Frühaufklärung Schottlands396 (v. a. vertreten durch Anthony Ashley Cooper, the third Earl of Shaftesbury,397 Francis Hutcheson und Adam Smith) sowie in Deutschland (u. a. bei Samuel Pufendorf). Dabei verschmilzt interessanterweise die positive Sicht auf den fühlenden Menschen gerade mit den Ansichten der Stoa – obwohl die stoische ἀπάθεια der Valorisierung von Leidenschaften auf den ersten Blick diametral entgegensteht. 398

fame›» und «rather than being its avowed opponent, the Enlightenment was conducive to religion» (Ben Dew: Epicurean and Stoic Enlightenments, S. 488). 395 Crocker etwa erwähnt Shaftesbury mit seiner ‘Moral Sense Theory’ nur ganz am Rande (vgl. ebda., S. 330–332). Christian Maurer: Stoicism and the Scottish Enlightenment, S. 256, betont den Widerspruch der Ansichten der schottischen Aufklärer gegenüber den Calvinisten und Anhängern des Augustinus; vgl. auch Frank Baasner: Der Begriff ‘sensibilité’ im 18. Jahrhundert, S. 17. In Frankreich wird die Vorstellung von der natürlichen Güte des Menschen vielsagenderweise nur von einem einzigen christlichen Autor voll unterstützt, dem Abbé Denesle (vgl. Lester G. Crocker: An Age of Crisis, S. 336). Speziell Lahontan gilt als exemplarischer Fall für den Glauben an die Güte des Menschen in seinem Naturzustand (vgl. ebda., S. 333). 396 Der klare «Widerspruch gegen das in Hobbes’ Leviathan vorzufindende Voranstellen des Selbsterhaltungstriebs über alles andere» (Peter U. Hohendahl: Der europäische Roman der Empfindsamkeit, S. 8) ist zu betrachten als «entscheidende[r] Einschnitt in der Geschichte des Begriffs» (Frank Baasner: Der Begriff ‘sensibilité’ im 18. Jahrhundert, S. 226) der ‘Empfindsamkeit’. 397 V. a. seine Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times (1711), vgl. Peter U. Hohendahl: Der europäische Roman der Empfindsamkeit, S. 9. 398 Vgl. Michael L. Frazer: The Enlightenment of Sympathy. Justice and the Moral Sentiments in the Eighteenth Century and Today. New York/Oxford: Oxford University Press, 2010, S. 19; Charles L. Griswold: Adam Smith and the Virtues of Enlightenment. Cambridge: Cambridge University Press 1999, S. 119. Paul Kelleher: Making Love. Sentiment and Sexuality in EighteenthCentury British Literature. Lewisburg, Ohio: Bucknell University Press 2015, S. 37, unterstreicht: «[I]f we understand eighteenth-century sentimentalism as a cultural movement that champions the idea that moral goodness is realized through sociability, through sharing our thoughts and feelings with intimate others as well as with strangers, then Stoicism – especially the form of Stoicism articulated by Shaftesbury – is without question the very heart of sentimentalism». S. Eva Piirimäe/Alexander Schmidt: Introduction: Between Morality and Anthropology – Sociability in Enlightenment Thought. In: History of European Ideas 41 (2015), S. 578: «Despite the conventional wisdom that sentimentalism represents a challenge to a departure from stoic perspectives on feeling and morality, which in their most caricatured forms are understood to counsel apathy and resignation, it is important to recognize that Shaftesbury’s philosophy is responsible for disseminating Stoicism – in largely unacknowledged ways – throughout eighteenth-century sentimental literature and culture».

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Die englischen Freidenker, allen voran Shaftesbury,399 arbeiten im Rahmen ihrer ‘Moral Sense Theory’ die Gemeinsamkeiten des Christentums mit den Ideen der Stoa (und weiterer antiker Philosophenschulen) heraus, wobei sie sich nicht so sehr auf die Lehren der radikalen Älteren Stoa, sondern auf die weniger rigiden Texte der Jüngeren Stoa stützen.400 Namentlich sind dies die stoische Idee der ‘Providentia’ (des Glaubens an die Existenz eines Schöpfergottes und seine wohlwollende Ordnung der Welt) sowie der Glaube an die ‘human sociability’ im Sinne des stoischen Kosmopolitismus.401 Hieraus ergibt sich die Vorstellung vom angeborenen ‘Moral Sense’, der vor jedem religiösen Glauben vorhanden [sei] und unabhängig von ihm».402 Am weitesten entwickelt wird dieses Konzept schließlich beim Schüler und Nachfolger Hutchesons, bei Adam Smith, mit seiner Theory of Moral Sentiments (1759).403 Im Gegensatz zu Hutcheson

399 Shaftesbury ist dabei nicht der Erfinder der ‘Moral Sense Theory’. Gerhard Sauder: Empfindsamkeit, S. 73, hebt heraus, dass schon in den 70er Jahren des 17. Jhdt. die platonisierende Schule von Cambridge (u. a. Cumberland und Whichcote) diese Vorstellungen kundgegeben haben, dass Shaftesbury jedoch dann für die Verbreitung dieser Ideen gesorgt hat. 400 Vgl. Christian Maurer: Stoicism and the Scottish Enlightenment, S. 266. Hutcheson beruft sich bei seinem besonderen ‘Providentia’-Bezug auf Marc Aurel (vgl. ebda., S. 260), sein praxisorientierter Ansatz für ein moralisch gutes Handeln (der «effective guide to self-cultivation», ebda., S. 258) passt zum ‘therapeutischen’ Ansatz, den Seneca in seinen philosophischen Werken vertritt (vgl. Gerd König: Einleitung. In: Seneca. Der gute Tod. Ausgewählt und aus dem Lateinischen übersetzt von Gerd König. Stuttgart: Reclam 2017, S. 7–18). Der «much more favorable view of the emotions» (ebda., S. 260) passt zum Umgang mit dem Phänomen der ‘Propatheia’ etwa bei Seneca. Noch stärker zielt schließlich Smith in diese gefühlsbetonte Richtung: Jegliche «rational morality» stelle «demands on us that are inappropriate to our natural concern for ourselves and those in our own circle» (Charles L. Griswold: Adam Smith and the Virtues of Enlightenment, S. 141). Die Ausnahme unter den schottischen Freidenkern bildet David Hume, der die Vorstellungen des Christentums gerade nicht mit denen der Stoa überblendet, vgl. Christian Maurer: Stoicism and the Scottish Enlightenment, S. 254 und S. 261. 401 Vgl. Eva Piirimäe/Alexander Schmidt: Introduction: Between Morality and Anthropology, S. 577; Christian Maurer: Stoicism and the Scottish Enlightenment, S. 258 und S. 266. 402 Gerhard Sauder: Empfindsamkeit, S. 75. Matthias Luserke: Sentimentalism/Sturm und Drang. In: Hans Dieter Betz/Don Browning u.a. (Hg.): Religion Past and Present. Encyclopedia of Theology and Religion. Leiden: Brill 42015, n.p., umschreibt ihn folgerndermaßen: «human beings are good by nature; they have an inherent moral sense that is able to distinguish spontaneously between good and evil, like an inner voice». Er sei der Antrieb für «virtuous actions» (Ben Dew: Epicurean and Stoic Enlightenments, S. 492) und Gott seine letzte bekräftigende Instanz, vgl. Christian Maurer: Stoicism and the Scottish Enlightenment, S. 257. Mitleid und Wohlwollen werden hierbei zur «höchste[n] Form erreichbarer Tugend überhaupt» (Gerhard Sauder: Empfindsamkeit, S. 75). 403 Gerhard Sauder: Empfindsamkeit, S. 81, spricht hier von der «Endphase der englischen Bemühungen um eine Theorie der ethischen Gefühle». Im Gegensatz zu Hutcheson hat Smith es mit moderateren Anführern (und damit weniger rabiaten Gegnern aus) der schottischen

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betont Smith, dass die ‘humanitas’ in erster Linie mit der Arbeit an sich und mit der eigenen Selbstbeherrschung verbunden werden müsse: Im Inneren des Menschen solle ein ‘impartial spectator’ aktiviert werden, der es dem Menschen durch viel Übung erlaube, sich selbst aus der Sicht eines Anderen zu sehen, um das eigene Handeln beurteilen zu können.404 Über den genauen Grad der Beeinflussung der Französischen Aufklärung – und damit auch der Strömung der Empfindsamkeit – durch die schottische Frühaufklärung wird in der Forschung rege diskutiert.405 Sicher ist, dass sich auch im «mainstream of the lumières (Diderot, D’Holbach and Helvétius)»406 –

Kirche (‘Kirk’) zu tun, vgl. Christian Maurer: Stoicism and the Scottish Enlightenment, S. 263 f. Im siebten Buch seiner Theory of Moral Sentiments legt Smith erneut den Fokus auf zentrale Elemente der Stoa, einmal auf die Unterordnung unter die göttliche ‘Providentia’ und die Todesverachtung (nach dem Vorbild Epiktets), dann auch wieder auf die Sympathie des stoischen Kosmopoliten (nach dem Vorbild Marc Aurels), vgl. ebda., S. 265. 404 Vgl. Christian Maurer: Stoicism and the Scottish Enlightenment, S. 264. Sollte dieser Zustand erreicht werden, könne man laut Smith von «sympathetic understanding at its best» (Charles L. Griswold: Adam Smith and the Virtues of Enlightenment, S. 144) sprechen. Griswold erklärt, der ‘Moral Sense’ erwachse aus einer «acquired form of moral self-awareness» (ebda., S. 131). Die «warranted self-approbation» (ebda., S. 134) sei dabei die Basis des Hauptziels der ‘tranquility’. 405 Einerseits wird die ‘Moral Sense Theory’ als einzige Theorie bezeichnet, «die als Begründung wie Rechtfertigung der empfindsamen Tendenz in England, Frankreich und Deutschland dienen konnte» (Gerhard Sauder: Empfindsamkeit, S. 85). Die Werke einschlägiger Autoren deuten auf dasselbe hin: Diderot macht sein literarisches Debüt mit seinem Essai sur le mérite et la vertu (1745), einer Übersetzung Shaftesburys. Voltaire ist in seinem Traité de métaphysique (1734) klar von Shaftesbury und Hutcheson inspiriert. Morelly verhandelt in seinem Code de la nature (1755) die ‘sensibilité’ als typisch menschliches Phänomen, aus dem schließlich soziale Harmonie und ‘bienfaisance’ erwächst. Vgl. Frank Baasner: Der Begriff ‘sensibilité’ im 18. Jahrhundert, S. 103 f. Baasner betont nun aber, Shaftesbury sei als Primärwerk in Frankreich insgesamt nur wenig rezipiert worden; auch finde sich der Begriff ‘sensibility’ bei den schottischen Frühaufklärern nicht, weshalb Baasner – zumindest begriffsgeschichtlich – eher für eine parallele Entwicklung plädiert. Sehr wohl dürfte es aber auch auf indirektem Wege Impulse aus Schottland für die Herausbildung einer ‘empfindsamen Morallehre’ durch «die moralischen Wochenschriften» gegeben haben: u. a. The Spectator, The Guardian, The Tatler. Vgl. ebda., S. 126–130, Zitat S. 130. 406 Edward Andrew: Epicurean Stoicism in the French Enlightenment. In: John Sellars (Hg.): The Routledge Handbook of the Stoic Tradition. London/New York: Routledge 2016, S. 251. Auch hier sind es die Schriften der Jüngeren Stoa, allen voran Senecas oder Epiktets, die mit besonderem Interesse gelesen wurden, vgl. ebda., S. 243. Insbes. trifft dies auf Senecas Moralphilosophie zu. Andrew verweist dabei auf zwei der längsten Arbeiten Diderots, den Essai sur la vie de Sénèque le philosophe, sur ses écrits, et sur les règnes de Claude et de Néron (1778) und den Essai sur les règnes de Claude et de Néron, et sur les mœurs et les écrits de Sénèque, pour server d’introduction à la lecture de ce philosophe (1780). Ein weiterer Grund für die Beliebtheit der

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wie bei den schottischen Frühaufklärern – einerseits der stoische Glaube an determinierte Naturgesetze wiederfindet, die das Moralverhalten steuern, andererseits der Glaube daran besteht, dass ein egoistisches Glücksstreben alle Menschen leitet. Vertreten wird «[a] modified form of Stoicism, which we shall call ‹epicurean›».407 Die Überlagerung der beiden antiken Philosophenschulen408 wird dabei nicht zuletzt durch ihr gemeinsames Ziel ermöglicht, die seelische Ausgeglichenheit (‘tranquillitas’) und die Selbstgenügsamkeit als Basis des Glücks zu bewahren.409 Seinen entscheidenden literarischen Niederschlag findet das Phänomen der ‘sensibilité de l’âme’ in den Gattungen ‘Roman’ und ‘Drama’, d. h. in Genera, in denen eine gewisse Didaktisierung der Literatur spürbar ist.410 Beliebt sind Erziehungsromane im Stile des Télémaque oder Briefromane, welche die Unmittelbarkeit des intimen Gesprächs und die ‘sincérité’ des Gefühlsausdrucks besonders gut nachzeichnen können, bzw. solche aus Ich-Perspektive im Mémoirenstil. In seinem Durchzug durch das Romangenre kommt Hohendahl nicht nur auf «Ansätze zur Sentimentalisierung»411 im 17. Jahrhundert zu sprechen, sondern er beschreibt auch, wie im Roman des 18. Jahrhunderts das Hineinversetzen in das Gefühlsleben der Figuren und deren Durchbrechen sozialer Schranken Einzug hält, welche der Leserschaft selbst unüberwindbar bleiben.412 Dabei ändert sich im Laufe der Zeit der Umgang mit der ‘Empfindsamkeit’: War die sensible, tugendhafte, von ‘sincérité’ im Sinne Scudérys geprägte Lebenshaltung in Marivaux’ Liebeskomödien413 noch für den sozialen Aufstieg und die gesellschaftliche Akzeptanz ausschlaggebend, stehen in Prévosts Romanen bereits die zerstörerischen Fol-

Texte Senecas sind die von ihm hochgehängten Ideale der Freigebigkeit und Milde, vgl. ebda., S. 244 f. 407 Ebda., S. 244. 408 Gerhard Sauder: Empfindsamkeit, S. 103, und Frank Baasner: Der Begriff ‘sensibilité’ im 18. Jahrhundert, S. 163, stellen heraus, wie sich auf sonderbare Weise die beiden Philosophenschulen im Diskurs der Aufklärung und der Empfindsamkeit überlagern und recht problemlos parallel aus beiden Schulen Inhalte geschöpft werden können. 409 Schon Esther A. Tiffany: Shaftesbury as Stoic. In: PMLA 38 (1923), S. 683, beschreibt Shaftesburys Ansatz als Rückzug auf sich selbst und weg von den Vorgängen der Welt, um selbst über sich Kontrolle zu gewinnen und zu sich selbst zu finden. 410 Vgl. Frank Baasner: Der Begriff ‘sensibilité’ im 18. Jahrhundert, S. 187. 411 Peter U. Hohendahl: Der europäische Roman der Empfindsamkeit, S. 17. Er nennt dort als Vorläufer die Lettres portugaises von Gabriel-Joseph Lavergne-Guilleragues. 412 So in Richardsons Pamela (1740) und deren Aufstieg in eine sozial höhere Schicht. 413 Insbes. seine fragmentarisch erhaltene Vie de Marianne (1731–42), wo die Hauptfigur (die alternde Comtesse Marianne) auf ihre Jugend und ihren sozialen Aufstieg zurückblickt, vgl. ebda., S. 63.

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gen der ‘passions’ sowie das Leiden der (auf ihre Gefühle stolzen) Figuren unter ihrer ‘sensibilité’414 im Zentrum. Gerade ab der zweiten Jahrhunderthälfte wird die ‘sensibilité’ dabei vermehrt im Sinne der ‘sensibilité physique’ als allgemein menschliches Phänomen verstanden, das den Menschen zu einem von äußeren Einflüssen determinierten Wesen macht – was sie von der positiv valorisierten, ‘höchsten sozialen Tugend’ im Sinne Scudérys entfernt.415 Eine Mittelposition vertritt Diderot, der zwischen einer ‘sensibilité passive’ unterscheidet, die mit negativen Gefühlen, der eigenen Verletzlichkeit und persönlichem Leid einhergeht; und der mit positiven Gefühlen verbundenen ‘sensibilité active’, der Fähigkeit, seine Gefühle gegenüber Anderen offen zu zeigen. Die ‘sensibilité active’ stelle eine Leistung einiger Weniger dar.416 Trotz der positiven menschlichen Veranlagung werde sie im Regelfall durch gesellschaftliche Zwänge korrumpiert. «So wie ‘sensibilité’ im Wesentlichen eine natürliche, aber nicht immer realisierte oder realisierbare Eigenschaft ist, bleibt auch das Glück der empfindsamen Seele utopisch».417 Denn das den antiken Philosophenschulen entnommene empfindsame Ideal der Ausgeglichenheit (‘tranquillitas’) und das Leben in der Gesellschaft schließen sich gegenseitig aus:418

414 Vgl. ebda., S. 28; S. Frank Baasner: Der Begriff ‘sensibilité’ im 18. Jahrhundert, S. 87–95. 415 Vgl. Frank Baasner: Der Begriff ‘sensibilité’ im 18. Jahrhundert, S. 255 f. Dieses andere Bild des ‘homme sensible’ basiert auf medizinischen Studien der Zeit und der Vorstellung der ‘sensibilité physique’, von der insbes. Frauen und Kinder betroffen seien. Unter ‘sensibilité’ versteht man schlicht die Reizbarkeit von Nerven. Zu einem positiven Valorisieren des Gefühls kommt es nicht. Die Bedeutung des haptischen Sinnes hatte folgenreich der Sensualist Condillac mit seinem De l’origine des connaissances humaines (1746) bzw. seinem Traité des Sensations (1754) herausgestellt; nahezu zeitgleich veröffentlicht als Schüler des Mediziners Boerhaave La Mettrie 1747 seinen l’Homme machine, seinen Discours sur le bonheur (1748) mit der klaren Trennung von Glück und Moral, sowie seinen Anti-Sénèque ou Le souverain bien (1748). Sowohl bei Hélvetius (1758: De l’esprit; 1773: De l’homme) als auch beim Baron d’Holbach (1770: Système de la nature) wird die ‘sensibilité physique’ als Motor der Maschine Mensch erachtet. Nicht aus altruistischem Verhalten sondern aus Eigennutz und physischer Sensibilität und Angst vor Schmerz komme es zu Soziabilität. Auf dieser Sichtweise gründen libertinistische Werke wie Choderlos de Laclos mit seinen Liaisons dangereuses, wo die ‘sensibilité’ Anderer von Intriganten kaltblütig ausgenutzt wird. So z. B. von Valmont, der sich zum Verführen seiner weiblichen Opfer «des empfindsamen Kodes» (Peter U. Hohendahl: Der europäische Roman der Empfindsamkeit, S. 62) bedient. Vgl. Frank Baasner: Der Begriff ‘sensibilité’ im 18. Jahrhundert, S. 239, S. 244 und S. 249. 416 Diderot sträubt sich gegen eine allzu simple Gleichsetzung von Gefühlsbezeugung und Tugendhaftigkeit (vgl. ebda., S. 236 und S. 277). An anderer Stelle zitiert Baasner aus dem Artikel ‘humanité’ in der Encyclopédie: «C’est un sentiment de bienveillance pour tous les hommes, qui ne s’enflamme guere que dans une âme grande et sensible» (ebda., S. 138). 417 Ebda., S. 165. 418 Vgl. ebda., S. 300.

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Das Unglück empfindsamer Seelen ist allerdings nicht auf ihre Sensibilität selbst, sondern auf die Bedingungen, die sie vorfindet, zurückzuführen. [...] Die Suche aller empfindsamen Seelen nach Einsamkeit oder nach Gleichgesinnten erklärt sich aus genau diesem Konflikt zwischen Regeln der Gesellschaft und den Bedürfnissen des sensiblen Menschen. Zur Austragung der Konflikte nicht bereit oder fähig, flieht die empfindsame Seele in die Geborgenheit der Natur oder in die Arme von verwandten Herzen.419

Zur klaren Unterscheidung zwischen der ‘sensibilité active’ und ‘passive’ kommt es im sentimentalen Roman laut Baasner erstmals bei seinem berühmtesten Vertreter, Rousseaus Nouvelle Héloïse (1761).420 In der Forschung wird auch Madame de Graffignys zeitgenössischer Bestseller,421 die Lettres d’une Péruvienne (1747), als Wegbereiter der Nouvelle Héloïse benannt, da er einige zentrale Elemente des Rousseau’schen Romans antizipiert. Hohendahl kommt u. a. auf den Rückzug der Hauptfigur in die Natur zu sprechen im Sinne einer temporären Flucht vor der quälenden Gesellschaft.422 Nicht verwundern kann also nun der Umstand, dass der mit den Romanen seiner Zeit wohl vertraute Lesuire auf Madame de Graffignys sentimentalen Roman anspielt,423 als er eine solche Flucht seines ‘sentimentalen’ epischen Helden in einen gesellschaftsfernen ‘Locus amoenus’ beschreibt.424 Graffignys Roman dürfte für Lesuire (mit Blick auf sein Neue-Welt-Epos) als Referenzpunkt noch interessanter gewesen sein als etwa die Nouvelle Héloïse, da es sich mit Zilia in den Lettres d’une Péruvienne erstmals um eine Bewohnerin der Neuen Welt handelt, die als sensible weibliche Protagonistin in eine höhere Gesellschaftsschicht vordringt. Wie sieht nun die Anspielung auf Madame de Graffigny konkret aus?

419 Ebda., S. 167. S. ebda., S. 297: «Das sensible Individuum, das sich in seiner Sensibilität überhaupt erst selbst konstituiert, erfährt sich als einsam. Seine soziable Veranlagung scheitert an den bestehenden, als entfremdend erfahrenen Umständen». 420 Vgl. ebda., S. 184–287. S. die Stelle, an der Saint Preux sich und seine geliebte Julie als ‘âmes sensibles’ beklagt, vgl. ebda., S. 167. 421 Jean-Pierre Clément: Christophe Colomb, l’Amérique et la littérature française du XVIIIème siècle, S. 240, spricht vom meistgelesenen Buch in Frankreich zwischen 1750 und 1780. 422 Vgl. Peter U. Hohendahl: Der europäische Roman der Empfindsamkeit, S. 53. 423 Das hat Pratt bei all seinen Vermutungen, ob es sich bei Lesuires Liebesgeschichte von Tindal und Zilna um den entscheidenden Vorläufer des romantischen Paul et Virginie handelt, verkannt. 424 Kolumbus’ Rückzug auf die von Zilna und Tindal bewohnte Insel ist als Flucht vor der Gesellschaft zu werten. Die Insel wird mit der ‘tranquillitas’ und ‘beatitudo’ der antiken Philosophenschulen identifiziert. So äußert er sich gegenüber den Bewohnern der Insel: «Amis restez toujours sur ce paisible bord ; | Et qu’enfin le Bonheur, dans votre sein tranquille, | Exilé de la terre, ait ici son azile» (NM II.79).

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Nicht von der Hand zu weisen sind die Namensähnlichkeit der Protagonistinnen (‘Zilia’ vs. ‘Zilna’), die Jungfräulichkeit beider Mädchen sowie ihre innigen Liebesbezeugungen jeweils gegenüber ihrem Halbbruder.425 Freilich liegen in Madame de Graffignys einstimmigem Briefroman in der Tradition der Ovid’schen Heroides andere personale Voraussetzungen vor: Während die beiden Geschwister bei Lesuire seit jeher durch eine innige Geschwisterliebe verbunden sind426 und im Laufe der Geschichte auch die körperliche Liebe für sich entdecken, wird bei Madame de Graffigny die peruanische Prinzessin und Briefschreiberin Zilia, die als jungfräuliche ‘Vestalin’ im Dienste des Sonnenkults steht, durch die spanischen Eroberer von ihrem geliebten Halbbruder Aza getrennt.427 In ihrem Brieftagebuch gewährt sie den Leserinnen und Lesern voyeuristische Einblicke in ihr weibliches Gefühlsleben und ihren Akkulturations- sowie Sprachlernprozess, den sie beim Franzosen Déterville im Frankreich unter Ludwig XV. durchläuft.428 Die entscheidende Parallele beider Texte besteht im Ausgestalten der Liebesbekundungen der inzestuösen Beziehung. In den Lettres d’une Péruvienne wird zwar bereits im zweiten Brief Zilias an Aza die Unerreichbarkeit einer funktionierenden Liebesbeziehung angedeutet, doch spiegeln alle 36 an den Halbbruder gerichteten Briefe Zilias ihre unbändige Liebe wider, die über den Tod hinaus bestehen werde.429 In Brief 34 etwa reflektiert Zilia über den Wert des sie verbindenden ‘amour’ gegenüber dem Begriff ‘amitié’: Le bonheur machinal du premier âge est d’être aimé de ses parens, & accueilli des Etrangers. Celui du reste de la vie est de sentir l’importance de notre être, à proportion qu’il devient nécessaire au bonheur d’un autre. C’est toi, mon cher Aza, c’est ton amour extrême, c’est la franchise de nos cœurs, la sincérité de nos sentimens qui m’ont dévoilé | les secrets de la Nature & ceux de l’amour. L’amitié, ce sage & doux lien, devroit peutêtre remplir tous nos vœux; mais elle partage sans crime & sans scrupule son affection entre plusieurs objets; l’amour qui donne & qui exige une preference exclusive, nous présente une idée si haute, si satisfaisante de notre être, qu’elle seule peut contenter l’avide

425 Hinzu kommt die sehr wahrscheinliche Verortung der Insel bei Lesuire in der Nähe des damaligen (die heutigen Staaten Ecuador, Kolumbien umfassenden) Peru, wenngleich der Ort nicht explizit genannt wird. Der ‘Locus amoenus’ wird auf dieselbe Art umschrieben wie die ‘Loci amoeni’ des am Isthmus von Panama gelegenen Volks ‘Eleuthere’. 426 Vgl. NM II.64, chant XVII. 427 Der ihr gemäß den Regeln der Inkas später als Ehemann versprochen ist, vgl. Madame de Graffigny: Lettres d’une Péruvienne. Paris: Duchesne 1773, S. 19 f. 428 Gegen Ende erhält dann die Auseinandersetzung mit der französischen Kultur und der philosophisch-gesellschaftskritische Aspekt nach dem Vorbild der Lettres persanes mehr Gewicht. 429 So schreibt sie selbst noch am Ende des Romans, vgl. Madame de Graffigny: Lettres d’une Péruvienne, S. 232.

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ambition de primauté qui naît avec nous, qui se manifeste dans tous les âges, dans tous les états; & le gout naturel pour la propriété, achève de determiner notre penchant à l’amour.430

Im Gegensatz zu den französischen Ehen, in denen die Männer ihren Frauen häufig untreu werden, streicht Zilia ihre besondere Beziehung zu Aza heraus: O mon cher Aza! [...] N’oublions jamais, toi, l’obligation où tu es d’être mon exemple, mon guide, mon soutien dans le chemin de la vertu; & moi, celle où je suis de conserver ton estime & ton amour en imitant mon modèle.431

Blickt man in Lesuires Epos, fallen ähnliche sprachliche Formulierungen ins Auge, wenngleich eine eindeutige Referenz auf diesen Einzeltext schwer nachzuweisen ist. Zilna bekundet ihre Liebe gegenüber ihrem Halbbruder und beruft sich dabei auf die Stimme der Natur in ihr: mon ame tendre & pure Croit entendre dans moi la voix de la Nature Qui me dit qu’en effet, Dieu voulut nous former Moins pour nous ressembler, que pour nous entre-aimer. Tu sais, mon cher Tindal, à quel excès je t’aime[.] (NM II.72, chant XVII, Hervorh. G.J.K.)

Die bei Madame de Graffigny einseitig von Zilia postulierte gegenseitige Unterstützung sowie das daraus resultierende Glück beruhen bei Lesuire auf Gegenseitigkeit. Tindal erwidert Zilnas Liebe: «Nous devons nous unir par le plus doux lien. | Tu seras mon bonheur, je serai ton soutien». Indem Lesuire die Episode mit der gemeinsamen Ehe der beiden Halbgeschwister enden lässt, bedient er unseres Erachtens ein Bedürfnis seiner Zeitgenossen. Graffignys Zilia hatte in den letzten fünf Briefen432 Gewissheit darüber erlangt, dass Aza ihr untreu geworden ist und sich in eine Spanierin verliebt hat. In Brief 38 äußert Zilia ferner ihren Unmut über das europäisch-christliche Ehesystem,433 das aufgrund des Inzestverbots eine Ehe nur zwischen ‘Fremden’ erlaube, nicht jedoch bei sich von Natur aus nahestehenden Menschen (wie bei ihr und ihrem Halbbruder).434 Die Unzufriedenheit der zeitgenössischen LeserInnen mit diesem Ende lässt sich an mehreren ‘Suppléments’ erkennen, die in den folgenden Jahren

430 Ebda., S. 209 f., lettre 34, Hervorh. G.J.K. 431 Ebda., S. 211, lettre 34, Hervorh. G.J.K. 432 Die sie nicht mehr an Aza, sondern an Déterville richtet. 433 Vgl. ebda., S. 231: «toute bisarre qu’est cette religion». 434 Im letzten Brief weist sie schließlich eine Ehe mit Déterville zurück, mit dem sie nur eine ‘amitié’ eingehen wolle.

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verfasst wurden und dem Roman jeweils ein alternatives Ende anhängen: In den von Kulessa (2004) diskutierten drei französischen und in dem einen englischsprachigen ‘Supplément’ wird stets die Männerfigur Aza rehabilitiert. In den Lettres d’Aza, einem ‘Supplément’ des Hugary de Lamarche-Courmont von 1749 kommt es gleichermaßen zum «mariage de Zilia et Aza», zur «fin heureuse tant désirée par le public».435 In eben diese Tradition des Happy Ends der Hochzeit reiht sich auch Lesuires Version ein. Eine weitere oberflächliche Ähnlichkeit der Texte besteht darin, dass Lesuire seine Figuren (und insbesondere Zilna) mit derselben «ame tendre et pure» ausstattet wie Madame de Graffigny ihre Figuren.436 In der oben zitierten Stelle aus den Lettres d’une Péruvienne wird durch die Zusätze «la franchise de nos cœurs, la sincérité de nos sentimens» klar auf die Liebestheorie der Madame de Scudéry und ihren ehrlichen Gefühlsausdruck angespielt. Eben diese ‘sensibilité de l’âme’ legt auch Zilna an den Tag, wenn sie in NM II.79 bei ihrem Eheversprechen aufgrund ihrer ‘sincérité’ ins Stocken gerät: «Sa sensibilité l’interrompt & l’oppresse, | Son amant la soutient, ému de sa tendresse». Und doch kommt es bei Lesuire zu einer Fokusverlagerung: Während in Madame de Graffigny der Fokus auf dem ‘cœur sensible’ der weiblichen Hauptprotagonistin und ihrer Auseinandersetzung mit der französischen Kultur liegt, betonen Passagen wie die oben zitierte Wechselrede zwischen Zilna und Tindal schlicht die Zusammengehörigkeit Zilnas und Tindals als Paar, indem sie die natürliche Komplementarität von Mann und Frau herausstellen. Entscheidend ist hier ein basales Verständnis von Liebe im Sinne der Schöpfung als Mann und Frau, wie man es im biblischen Schöpfungsbericht findet.437 Kolumbus selbst wird im Verlauf der Episode zum Motivator der Ehe, zum Verteidiger der gottgewollten sexuellen Fortpflanzung von Mann und Frau438 und nimmt schließlich die Trauung vor, ohne dass es ihn dabei stört, dass es sich bei den beiden um Halbgeschwister handelt. Anders als der historische Kolumbus um 1500 scheint Lesuires Kolumbus aus der Annäherung der

435 Rotraud von Kulessa: Représentations du masculin dans les Lettres d’une Péruvienne (1747/ 1752) de Françoise de Graffigny. In: Katherine Astbury/Marie-Emmanuelle Plagnol-Diéval (Hg.): Le mâle en France. 1715–1830. Représentations de la masculinité. Oxford u. a.: Lang 2004, S. 120. 436 Zilna und Tindal bilden ein «couple sensible» (NM II.82), ihre Mutter wird als «mere sensible» (NM I.168) und «la sensible Eona» (NM II.86) bezeichnet. 437 Vgl. NM II.72 (chant XVII). u. a.: «Chaque être qui respire a toujours sa compagne. | Dans la nature entière il est, tu l’aperçois, | Deux sexes»; «Dieu voulut nous former | Moins pour nous ressembler que pour nous entre-aimer». 438 Vgl. das in seiner Formulierung an biblische Wiederholungsstruktur anklingende «L’Amiral [...] | Plaidait pour l’heureux couple, & l’heureux couple arrive [im Sinne des biblischen ‘fut’; G.J.K.]». Bei den Eheversprechen kommen die beiden Partner auch auf den erhofften Kindersegen zu sprechen, der die Ehe begleiten soll (vgl. NM II.79).

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beiden jungen Geschwister eine gewisse Lust zu ziehen.439 Zu einem Inzestvorwurf kommt es nirgends. Dieser «conscious anachronism by the author»440 lässt Kolumbus als aufgeklärten Helden erscheinen, der die Positionen des Diderot’schen Supplément de Bougainville vertritt, wo ja der Aumônier Orou eingesteht: «je t’accorde que peut-être l’inceste ne blesse en rien la nature».441 Anders als in den vorherigen Kolumbus-Epen vertritt Kolumbus damit nicht mehr die christlichen Werte des Konzils von Trient, sondern er ist Vermittler einer deistischen Position bzw. gewisser grundlegender Aspekte der christlichen Religion. Hierzu zählt neben dem Glauben an eine übernatürliche Macht442 sowie an das Schöpfungswerk auch der Glaube an ein Leben nach dem Tod.443 Aus diesem Blickwinkel heraus erklärt sich unseres Erachtens auch die Wahl des Namens ‘Tindal’, der zweifelsohne englische Wurzeln hat. Es dürfte sich um eine Hommage an Matthew Tindal handeln, der neben dem bereits genannten Shaftesbury zu den englischen Freidenkern zu rechnen ist und dessen 1730 veröffentlichtes Werk Christianity as Old as the Creation: or, the Gospel, a Republication of the Religion of Nature «als ‹Bibel des Deismus› galt».444 Wie die namentliche Einflechtung insinuiert, übernimmt Lesuire Tindals Betonung der Nächstenliebe als entscheidenden religiösen Kern und seine Überzeugung, dass nicht eine einzelne Religion ‘die religiöse Wahrheit’ für sich beanspruchen könne.445 Die Episode von Zilna und Tindal eignet sich daher sehr gut, um Lesuires Epos exemplarisch in seiner Epoche zu kontextualisieren, da hier neben der augenscheinlichen Verarbeitung des Konzepts der Empfindsamkeit auch Lesuires religiöse ‘Ideologie’ greifbar wird. Bei näherer Betrachtung lässt sich anhand die-

439 Vgl. «Convenez que le dieu qui les fit pour s’aimer | D’un sexe different, se plut à les former» und «Et ce Sage enchanté, dans ce riant séjour, | Voit le bonheur sourire, amené par l’amour. | Suivant le couple heureux d’un œil de complaisance, | Il veut qu’un doux hymen, couronnant l’innocence, | Enchaîne avec des fleurs & Tindal & Zilna» (NM II.75). 440 Terry M. Pratt: Primitive Episodes in Enlightenment Epic, S. 97. 441 Denis Diderot: Œuvres complètes de Diderot : revues sur les éditions originales comprenant ce qui a été publié à diverses époques. Etude sur Diderot et le mouvement philosophique au XVIIIe siècle. Bd. 2. Herausgegeben von J. Assézat et M. Tourneux. Paris: Garnier 1875, S. 234. 442 Zilnas Verbindung zum (christlichen?) Gott ist nach ihrer Hochzeit mit Tindal eindeutig: «Elle implore le Ciel favorable à son zèle» (NM II.86). 443 Tindal etwa äußert gegenüber seiner Zilna die Hoffnung auf ein (christliches?) Leben nach dem Tod: «Étincelles que Dieu fit jaillir de son sein, | Heureux sous ses regards, nous y vivrons sans fin» (NM II.94, chant XIX). 444 Wolfgang Röd: Geschichte der Philosophie. Bd. VIII: Die Philosophie der Neuzeit 2. Von Newton bis Rousseau. München: Beck 1984, S. 158. Insbes. Kap. 8 widmet sich gegen den Aberglauben und das Proklamieren, eine Religion sei besser als eine andere. 445 Vgl. ebda., S. 159; der Katholizismus setze eben nur willkürliche und zeitbedingte Normen voraus.

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ser Episode auch ein Konnex zu Lesuires eingangs besprochenen literarischen Vorlieben nachweisen: Anders als bei Madame de Graffigny wird in seiner Version nämlich das Motiv der Verkleidung sowie der Geschlechterverwechslung eingebunden, das auch sonst Lesuires bunte Romane kennzeichnet. Exempli gratia sei auf eine solche Verwechslungsgeschichte aus dem Romanzyklus Le Crime verwiesen: Am Ende des 4. Bandes erweist sich dort ein junger Mann, dessen Bekanntschaft César de Perlencour kurz zuvor gemacht und den er als ‘krankhaft aufgeschwemmt’ bezeichnet hat, als schwangere Frau, die in seiner Gegenwart im Kloster ein Kind gebärt: Nach ihrer überraschenden Erkenntnis der eigenen Weiblichkeit erzählt sie von ihrer Kindheit: Zusammen mit einem Geschwisterchen sei sie von Nonnen abseits gesellschaftlicher Konventionen aufgezogen worden, als größerem der beiden Kinder habe man ihr die Männerkleidung und dem Bruder die Frauenkleidung übergestülpt.446 Ganz wie in der Geschichte von Zilna und Tindal, wo deren Mutter Eona die beiden Kinder mit Absicht in Unschuld und – unter Verwendung geschlechtsneutraler Kleidung –447 ohne Kenntnis der unterschiedlichen Geschlechter erzieht,448 erklärt auch die junge Frau, sie sei «élevé [sic!] dans une [...] grande innocence». Die maskuline Endung belegt an dieser Stelle, dass sie von sich noch als Mann spricht. Daraufhin erläutert sie, ihr Bruder «se croit fille, comme je me croyais garçon».449 In seinem Epos verzichtet Lesuire jedoch auf übertriebene Pointen, wie sie sich in seinen Romanen gängigerweise finden.450 2.3.2.1.4 Antifanatismus Die bisher vorgestellten Textpassagen (um Zilna und Tindal und die beiden Alten Weisen) belegen die bei Lesuire greifbare Überlappung von christlicher und natürlicher Religion und bestätigen Roulins knappe Einordnung des Lesuire’schen Epos in die Nähe des Romans Les Incas (1777) von Marmontel: Beide Werke modellieren «un catholicisme universel, tempéré par la tolérance et une attention aux lois de la nature».451 Eben auf den Risse bekommenden Glauben an den Universalitätsanspruch der christlichen Religion sei es zurückzuführen, dass die bei Du Boccage und Bourgeois nur angelegte ‘Second voice’ der Kolo-

446 Vgl. Robert-Martin Lesuire: Le crime, Bd. 4, S. 145–152. 447 Vgl. NM II.75. 448 Vgl. «je l’éleve [...] au sein de l’innocence» (NM II.65) 449 Robert-Martin Lesuire: Le crime, Bd. 4, S. 151. 450 In der umrissenen Episode in Le Crime schwängert der in der Gemeinschaft junger Kalvinistinnen lebende Junge alle Nonnen, die zum Verheimlichen dieses Skandals ihre Kinder heimlich gebären müssen. Die Schwester wird ihrerseits im Männerkloster geschwängert. 451 Jean-Marie Roulin: L’Épopée de Voltaire à Chateaubriand, S. 120.

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nialisierungskritik bei diesen beiden Vertretern stärker herauszuhören sei.452 Sicher ist: Marmontels Roman war Lesuire wohlbekannt, hat er ihn doch in seinem Vorwort mehrmals als Inspirationsquelle erwähnt.453 Die von Roulin formulierte globale Intention Marmontels (bzw. die Lehre, die der Leser bzw. die Leserin aus seinem Roman ziehen soll) ist dabei auch auf Lesuires Text applizierbar: «la visée ‹philosophique› affichée par Marmontel est au fond assez limitée : il s’agit en effet de montrer les méfaits du fanatisme».454 Im Detail setzt Lesuire jedoch mitunter andere Schwerpunkte als sein Vorläufer. Identisch ist die Tendenz der beiden Texte, im Laufe der Handlung nicht mehr so sehr die Bewohner der Alten Welt den Bewohnern der Neuen Welt gegenüberzustellen, sondern den Kontrast zwischen ‘vérité’ und ‘fanatisme’ herauszuarbeiten, der sich teils in der Neuen Welt,455 insbesondere aber in der Alten Welt456 im

452 Vgl. ebda., S. 117: «la nostalgie d’un état de nature ou d’une vie sauvage qui introduit une tonalité mélancolique dans un cadre épique régulier dans l’ensemble». Vgl. bezüglich Lesuire Pratt: «Lesuire’s reactions to European excesses in transatlantic territories were both categorical and caustic» (Terry M. Pratt: Of Exploration and Exploitation, S. 308) und «he condemns more purposefully than had his predecessors the conduct on Hispaniola of the Europeans who accompanied Kolumbus» (ebda., S. 307). Vgl. Michel Delon: ‘Ce nouvel Ulysse méritait sans doute un autre Homère’, S. 84 und insbes. S. 79: «Le système des valeurs change avec Marmontel et Lesuire». 453 In seinem Vorwort kommt Lesuire auf Marmontels Incas als «Roman historique qui approche beaucoup d’un Poëme» zu sprechen. Er schreibt: «Sans nous donner le mot, nous avons peint souvent tous deux les mêmes objets. J’ai été flatté, en le lisant, de me voir cette conformité d’idées avec un Auteur si distingué, & la prose m’a depuis inspiré plusieurs vers» (NM v, ‘Préface’). 454 Jean-Marie Roulin: L’Épopée de Voltaire à Chateaubriand, S. 118 f.; s. ebda., S. 123: «C’est le recours à la violence comme moyen de la conversion et la cupidité qui sont les cibles, non la vérité de la religion catholique». 455 Am Ende des achten Gesangs (vgl. NM I.103 f.) wird etwa der Aberglaube der paganen Griechen mit ihrer fanatischen Sichtweise dem Aberglauben der Ureinwohner angenähert, wobei der Aberglaube der Neuen Welt einer «imagination plus triste & plus pesante» (NM I.104) entspringe. Anders als etwa in Carraras Epos – wo der pagane Aberglaube der Ureinwohner erst von den Griechen eingeführt wurde – inszeniert Lesuire die ‘superstitio’ also als ein weltumspannendes Phänomen. Ferner sei verwiesen auf die Beschreibung der religiösen Riten Mexikos in chant VII: Die mexikanischen Priester sind «défigurés par leurs mains fanatiques» und der epische Erzähler stellt heraus, der Fanatismus «régn[e] en Tyran sur ces bords malheureux» (NM I.87). 456 Schon als erster große Kriegsauslöser in Hispaniola wird der Fanatismus benannt, da die Spanier gegenüber den Ureinwohnern mit ihrem Idolenglauben das Anbeten des christlichen Kreuzes mit allen Mitteln durchsetzen wollen. Vgl. auch Jean François Marmontel: Œuvres complètes. Bd. 8: Les Incas, ou La Destruction de l’empire du Pérou. Paris: Verdière 1819, S. 374 (im Folgenden wird nach dieser Ausgabe mit der Abkürzung INC und der entsprechenden Sei-

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breiten Volk finden lässt.457 Das fanatische Verbreitenwollen des Christentums durch die Anhänger der Alten Welt bedingt jeweils die ‘Légende noire’ und das Zerstören der Neuen Welt.458 Wie bei Marmontel459 wird auch bei Lesuire das Christentum als solches nicht verunglimpft; sehr wohl aber fanatisch vertretene christliche Ansichten. In seiner ‘Préface’ inszeniert Marmontel prototypisch die Papstbulle mit ihrer Aufteilung der Neuen Welt als Ursprung allen Übels460 und formuliert darufhin sein Ziel, dazu beizutragen «à faire détester de plus en plus ce fanatisme destructeur» (INC 27). Im Textverlauf selbst kommt Marmontel nur einmal ganz punktuell (und eher indirekt) auf die Papstbulle zu sprechen, indem er den Antihelden Valverde auf ihrer Grundlage für das Niederringen der Heiden argumentieren lässt, für die Vormachtstellung der Spanier, das Recht auf die Annexion der Gebiete der Neuen Welt und die Pflicht, sie zu missionieren.461 Ganz ähnlich modelliert Lesuire die Argumentation seiner Figur Valverde462 vor dem mexikanischen König.463

tenzahl zitiert). Bereits in seiner ‘Préface’ (INC 10 f.) kritisiert Marmontel scharf die ‘fanatischen’ spanischen Matrosen als «indigne[s] de porter les drapeaux et le nom d’un peuple noble et généreux» sowie als «le rebut de la populace» und «sans moeurs». Der religiöse Fanatismus wird als Ursprung allen Übels benannt (vgl. INC 25) und der Autor betont, sein Text verfolge v. a. das Ziel «à faire détester de plus en plus ce fanatisme destructeur» (INC 27). 457 Die Definition von ‘Fanatismus’ ist hiermit freilich eine gänzlich andere als noch bei Bourgeois (z. B. CCAD II.42, chant XIV), wo ‘fanatisch Glaubende’ stets synonym für ‘Heiden’ verwendet werden. 458 Vgl. Jean-Marie Roulin: L’Épopée de Voltaire à Chateaubriand, S. 115; Terry M. Pratt: Of Exploration and Exploitation, S. 317; Michel Delon: ‘Ce nouvel Ulysse méritait sans doute un autre Homère’, S. 79. 459 Vgl. Jean-Marie Roulin: L’Épopée de Voltaire à Chateaubriand, S. 123: «C’est le recours à la violence comme moyen de la conversion et la cupidité qui sont les cibles, non la vérité de la religion catholique». 460 Vgl. INC 19 f. 461 Vgl. INC 121, chapitre XII: «jusques-là Dieu les exclut du nombre de ses enfants. C’est à ce titre d’ennemis des gentils et des infidèles, et de conquérants pour la foi, que ce monde nous appartient. Le souverain pontife en a fait le partage, et l’a fait du plein pouvoir de celui de qui tout depend». 462 «le Fanatique» (NM I.89); «Prêtre fanatique» (NM I.92). 463 Valverde sagt dem mexikanischen König zu, ihn von seiner Erbsünde reinzuwaschen, wenn er sich ihm und Rom unterwerfe; aufgrund des Papstdekrets habe er keine andere Wahl (vgl. NM I.90): «‹Ton sceptre est à mon Roi ; le Pontife Romain | De nos deux Continens unique Souverain, | Lui donna tous les bords que, dans cette hémisphère, | Découvrira pour lui notre Flotte guerrière.› | ‹Quel est, dit l’Indien, ce Roi de l’Univers | Dont le séjour superbe est audelà des mers ?› | ‹Rome, répond Valverde, & le sert & l’honore : | Malheur à qui l’outrage, & même à qui l’ignore›».

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Hinzu kommt bei Lesuire nun jedoch eine ganze Reihe an Stellen, die direkt auf die negativ bewertete Papstbulle verweisen. Schon in NM I.16 (chant II) ist die Rede vom berüchtigten Edikt des Papstes, der selbst als Koloss beschrieben wird, der Himmel und Erde verbindet.464 Lesuire setzt damit die Papstbulle an den Beginn des Kolumbusprojekts und bringt seinen Haupthelden Kolumbus direkt mit ihr in Verbindung. Sein Unternehmen wird dabei unter Freudenschreien christlicher Anhänger bewilligt.465 Kurz darauf466 sieht Kolumbus im Traum die durch einen Strom von Blut verbundenen beiden Welten sowie einen höllischen Koloss, der mit je einem Fuß auf einem der Kontinente steht, und die Schlussfolgerung, dass auch dieser Koloss mit dem Papst bzw. der Kirche in Eins gesetzt werden muss, liegt nahe.467 Ein zweites Mal wird in NM II.24 f. (chant XIV) auf die Papstbulle verwiesen, wo sich Kolumbus gegenüber Sébastos konkret als Teil einer von religiösem Fanatismus geleiteten (und hierarchisch geordneten) Maschinerie bezeichnet: «Une Bulle, en flattant l’avidité barbare | Qui, sur nos tristes bords, de toute ame s’empare, | A l’un des Souverains de nos sanglans climats [sc. le roi d’Espagne, le chef de Colomb; G.J.K.], | De tout votre hémisphère a donné les Etats ; | Et, guidant ses sujets, j’ai gagné ce rivage, | Où déjà ces bourreaux ont porté le ravage.» Kurz vor der Rückkehr nach Europa wird ein drittes Mal (man beachte das Trikolon!) auf die Bulle Bezug genommen, als Kolumbus das von seinem in den überseeischen Gebieten neu eingesetzten Stellvertreter und Kontrahenten Bovadil verfasste Manifest lesen muss: Letzterer führt seine Amtsgewalt auf die Papstbulle zurück, indem er eine Linie von Gott zum Papst468 über den spanischen König hin zu sich selbst zieht.469 Kolumbus wird sich an dieser Stelle gewahr, dass diese Linie trotz seines eigenen Ausscheidens weitergeführt und quasi zu seinem Erbe wird:

464 Vgl. «Un Colosse adoré, plus craint que le tonnerre, | Qui joint l’homme à Dieu même, & le Ciel à la Terre, | [...] | Aux projets du Héros vient mettre un sceau divin». 465 Vgl. die paradoxen «cris pieusement barbares» (NM I.16). 466 Vgl. NM I.25 467 Mit Absicht dürfte das Bild des Kolosses ein drittes und letztes Mal in NM I.104 aufgegriffen worden sein, wo der die Welten verbindende Aberglaube wie ein Koloss zwischen den Welten steht: «Comme un vaste Colosse enjambant sur les mers, | La superstition joint les deux Univers». Auch wenn im vorliegenden Vergleich streng genommen nur die paganen Mythen Griechenlands mit den Mythen der Neuen Welt und den Zémès verglichen werden, wird durch das intratextuelle Aufgreifen des Koloss-Vergleichs erneut das Bild des Papstes und der Kirche evoziert und damit die fanatisch ausgelegte christliche Sicht ebenso als ‘superstition’ entlarvt. 468 Als Gottes «successeur dans les deux Univers, | Dont le pouvoir s’étend du Ciel jusqu’aux Enfers». 469 Vgl. NM II.98.

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Die Übel der Papstbulle machen nicht mit ihm Halt, sondern sind indes von allen Bewohnern der Alten Welt regelrecht inhaliert worden: Hélas ! tous nos brigands, de préjugés imbus, Ont depuis adopté ces horribles abus. Ils ont, de ces couleurs, fardé leur injustice ; Et, prescrivant des loix au gré de leur caprice, Ils se sont cru le droit d’égorger les mortels Qui pouvaient résister à leurs ordres cruels. On joint à ce decret le meurtre & le ravage. (NM II.99)

Während Marmontels Roman sich eher darauf beschränkt, «den Fanatismus anzuprangern, eine tolerante, menschliche und milde Form der Religion zu preisen», und nur als ‘Second voice’ auch die natürliche Religion der Ureinwohner lobend herausstreicht,470 findet sich bei Lesuire ein besonders starkes Herausstellen der universalen Basis einer solchen Naturreligion.471 Belegen lässt sich das u. a. an einem speziellen Aspekt der Raummodellierung beider Werke: Roulin hatte bereits angemerkt, dass sich bei Lesuire typische Rückzugsorte

470 Dorothea Kullmann: Religiöse Diskurse in Marmontels Incas, S. 227–230, Zitat S. 226, die von einer Mehrstimmigkeit des Marmontel’schen Textes ausgeht, streicht heraus, dass die gängige Meinung vom fehlenden ‘merveilleux’ in den Incas so nicht haltbar sei und sich durch die Sonnenreligion und die Inszenierung der anthropomorphisierten Sonne eine zweite Handlungsebene eröffne und so zum ‘merveilleux’, nämlich einer speziellen deistischen Religion, beitrage. Auch bei Lesuire wird ja der Glaube an die Sonne in Szene gesetzt, wenn der Sonnenkult Perus in NM I.109, chant IX, von Kolumbus für gut befunden wird und er zuvor bereits auf Hispaniola in NM I.62, chant IV, die beiden Seiten durch das Verweisen auf das die göttliche ‘Providentia’ bekräftigende Symbol der Sonne beschwichtigen konnte. Zwischen den Zeilen wird die von Marmontel in der ‘Préface’ noch als rein positiv herausgestellte Art des Konvertierens in Form eines milden Überzeugens als verderblich enttarnt, etwa wenn Alonzo, der als einziger Spanier bei seinen Dialogen mit den Ureinwohnern erfolgreich ist, auf ebensolche Konvertierungsversuche verzichtet. Sicher ist, dass Marmontels Text zu verstehen gibt, dass es andere Möglichkeiten der Konfliktlösung gibt als die Zurschaustellung von Fanatismus; etwa wenn Alonzo eine flammende Rede hält, um die bevorstehende Opferung einer keuschen Jungfrau an den Sonnengott zu verhindern, und dabei deren Brüste als Zeichen ihres natürlichen Rechts auf Mutterschaft entblößt; vgl. Jean-Marie Roulin: L’Épopée de Voltaire à Chateaubriand, S. 119. 471 Roulin unterstreicht deren Ausrichtung auf Pazifismus und Frieden und entgegen der Eroberer-Mentalität, wie sie Ludwig XV. an den Tag gelegt hat, sowie ihre Absicht, «les valeurs universelles de la nature au-dessus de la nation» (Jean-Marie Roulin: L’Épopée de Voltaire à Chateaubriand, S. 126) zu stellen, was sie mit anderen zeitgenössischen epischen, wenngleich thematisch anders gelagerten Texten gemeinsam haben; vgl. etwa Pagès de Vixouzes Epos über den ‘Guerre de Succession d’Espagne’ (La Philippide, ou l’Avènement de Philippe de France à la couronne d’Espagne, 1784).

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innerhalb der Topographischen Zone der Neuen Welt fänden. Es handle sich um die ein oder andere «réserve abritant une espèce en voie de disparition»472 bzw. um unzugängliche Orte voll von ‘nostalgie’, an denen noch eine ‘idylle pastorale’ samt unberührter Natur existiere. Ein einschlägiges Beispiel stellt die uns bereits begegnete Insel Zilnas und Tindals dar. Interessant ist, dass sich zwei solcher Enklaven auch schon bei Marmontel finden, wo sie allerdings anders funktionalisiert werden. Bei Marmontel kann in diesen noch nicht eroberten Enklaven innerhalb der von den Spaniern bereits annektierten Topographischen Zone die Missionierung so stattfinden, wie sie aus Sicht des Autors überall hätte stattfinden sollen. In Enklave 1 baut Las Casas Kontakt zu Bewohnern eines bisher unentdeckten Bergvolks auf,473 deren Kummer er lindert474 und die er als beispielhaft nach dem Prinzip der ‘humanitas’ umsorgt.475 Ähnlich wie in Lesuires Enklave von Zilna und Tindal wird eingangs auf die dort herrschenden natürlichen Gesetze verwiesen: «La nature est leur guide et leur législateur. S’aimer, s’aider mutuellement, éviter de se nuire ; honorer leurs parents, obéir à leur roi ; s’attacher à une compagne qui les soulage dans leurs travaux, et qui leur donne des enfants» (INC 134, chapitre XIII).476 Speziell die letztgenannten Aspekte erinnern an die ‘basalen christlichen’ Elemente, die wir in Lesuires Episode herausgestellt haben. Doch setzt Las Casas mit seiner christlichen Belehrung genau bei diesen konstatierten ‘prä-christlichen’ Bausteinen an.477 Im Gespräch mit den Ureinwohnern gelingt es ihm – in rasantem Tempo – die Bewohner zu ‘echten’ Christen zu machen: Ton Dieu ! il est notre ennemi, dit le cacique ; il est le dieu des Espagnols. – Le dieu des Espagnols n’est point votre ennemi : il est le Dieu de la nature entière ; et nous sommes tous ses enfants. – Ah ! s’il est vrai, dit le cacique, nous cherchons un Dieu qui nous aime ; celui de Las-Casas doit être juste et bon, et nous voulons bien l’adorer. Hâte-toi, fais-lenous connaître. (INC 134)

472 Ebda., S. 116 f. 473 Er bezeichnet sie als «nos amis de la montagne» und «des Indiens libres encore» (INC 129, chapitre XIII). 474 Vgl. «Libre et seul avec ses sauvages, il leur parlait, il jouissait de leurs caresses naïves, il tâchait de les consoler» (INC 129) 475 Durch die ähnlich modellierte Enklave 2, die jedoch vom zweiten Haupthelden Alonzo de Molina besucht wird, wird in Kap. XIX der von Freude gekennzeichnete ‘Ausstieg’ des ersten Helden, Las Casas, durch den ebenso freudigen Ausstieg des zweiten Helden wiederholt. Vgl. «[Molina] n’avait jamais été plus heureux que dans ce moment. Se voyant au milieu d’un peuple naturellement simple et doux» (INC 182). 476 Vgl. «O Dieu de la nature ! s’écria Las-Casas» (INC 133). 477 Vgl. «c’est sa voix [sc. celle de Dieu; G.J.K.] qui vous conduit» (INC 134).

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Auch in praxi tragen Las Casas’ Belehrungen sogleich Früchte: Die Bewohner der Enklave entscheiden sich dazu, das erlernte Konzept der Nächstenliebe an einem zufällig in die Enklave geratenen und gefangengenommenen Spanier (mit dem Namen ‘Gonsalve’) anzuwenden. Entgegen ihres bisher aus Selbstschutz478 praktizierten Vorgehens lassen sie ihn am Leben und entlassen ihn schließlich in die Freiheit. Las Casas selbst ist zu Tränen gerührt.479 Marmontels Enklaven zeigen jeweils einen temporären480 Hort des Friedens inmitten eines vorangeschrittenen, gewalttätigen Eroberungsprozesses. Die Bewohner der Enklaven sind sich dabei ihrer prekären Lage bewusst, treffen Vorbereitungen gegenüber den feindlichen Spaniern und kennen bereits Las Casas als milden Spanier.481 Der Weg in die und aus der Enklave wird nicht nur von den beiden zentralen Protagonisten (Las Casas und de Molina) bewerkstelligt; auch die Ureinwohner selbst sind Grenzgänger. Lediglich die Masse der Spanier hat bisher noch nicht den Weg dorthin gefunden. Anders ist dagegen die Inszenierung der Enklaven bei Lesuire: Nach Kolumbus’ Landung in der Neuen Welt ist die gesamte Topographische Zone noch unerobert und die Enklaven definieren sich dadurch, dass sie nicht zu den im Eroberungsprozess befindlichen Gebieten zählen; sie sind völlig abgeschottetet. Der einzige Grenzgänger ist jeweils Kolumbus, der sich den Bewohnern jeweils erst vorstellen muss; auch erzählt Kolumbus niemandem von seinen dortigen Erlebnissen.482 Anders als Marmontels punktuell eingesetzte Enklaven durchziehen Lesuires Enklaven das gesamte Epos und sind Teil einer besonderen Raummodellierung, die es im Folgenden (vor dem Hintergrund der bereits angerissenen Epoche der Empfindsamkeit) zu analysieren gilt.

478 Vgl. «S’il s’en échappait un seul, notre asyle serait connu, notre perte inévitable» (INC 136). 479 Vgl. «voilà, voilà de vrais chrétiens»; «[Las Casas] avait le cœur saisi de joie et d’attendrissement» (INC 143). 480 Vgl. den Wunsch des Las Casas (in INC 131), die Enklave möge für immer unentdeckt bleiben. 481 Aufgrund der vielen positiven Geschichten über Las Casas’ ‘humanitas’ haben sie ihm sogar schon ein Idolen-Püppchen («une statue de bois de cèdre», INC 132) gebastelt, welches sie wie einen Gott verehren. 482 Vgl. etwa das Verschweigen der Botschaft, welche er in der Enklave der Atlantispriester erhält (vgl. Kap. 2.3.2.2.2).

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2.3.2.2 ‘Dispositio’ des Epos: Modellierung der Dichotomie ‘Kolumbus vs. Spanier’ 2.3.2.2.1 ‘Spanierbild vs. Kolumbusbild’ Intrasemiosphärische Spannungen der heterogenen spanischen Semiosphäre Die Grundlage für die räumliche Modellierung bildet die Modellierung der Semiosphäre der Alten Welt. Die im Lotman’schen Sinne für eine Semiosphäre kennzeichnende Heterogenität lässt sich in Lesuires Epos auf den stets repetitiv aufrecht erhaltenen intrasemiosphärischen Gegensatz zwischen moralisch ‘guten’ und ‘schlechten’ Spaniern herunterbrechen. Nicht umsonst tritt dieser Gegensatz bereits zu Beginn des Epos, in der Auflistung der Figuren auf, bei der diese – wie bei einem Theaterstück – samt Kurzumschreibung genannt und nach ‘gut’ und ‘böse’ gesplittet werden.483 Wenngleich bereits in den frühen neulateinischen Epen angelegt, wird diese Untergliederung der Semiosphäre der Alten Welt bei Lesuire besonders auffällig ausgestaltet, hin zu einem Gegensatz zwischen dem ‘guten’ Kolumbus und den ‘schlechten’ Spaniern. Beim Blick auf die epische Modellierung der frühen neulateinischen Epen lässt sich nachvollziehen, wie Kolumbus als führender Repräsentant der Semiosphäre der Alten Welt inszeniert wird und dabei u. a. für die Konversion bzw. das Niederringen der Heiden oder auch für die tridentinischen Werte kämpft. Auch wenn diese Epen insbesondere den Kontakt der Semiosphäre der Alten Welt mit der der Neuen Welt in den Blick nehmen, legen bereits die ersten beiden Kolumbus-Epen en passant den Fokus auf den bei Kolumbus stärker als bei seinen Mitstreitern ausgeprägten Tatendrang484 oder bedienen sich hier und da kontrastiver Gegenüberstellungen zwischen Kolumbus und den Spaniern.485 Bei Stella findet sich mit gewisser Regelmäßigkeit der Gegensatz zwischen verweilen wollenden Spaniern und einem Kolumbus, der eingedenk seiner Mission möglichst zügig ins Landesinnere vordringen und den

483 Vgl. etwa: «LAS CASAS, jeune Missionaire vertueux» und «VALVERDE, jeune Missionaire scélérat» (NM xxxi); s. dazu auch Renata Carocci: Le Nouveau Monde di Robert-Martin Le Suire, S. 32 f. Dietrich Briesemeister: Columbus als ‘Apostel und Eroberer’ im französischen Epos des 18. Jahrhunderts, S. 313, nennt es daher auch ein «Weltendrama». 484 Vgl. etwa Kolumbus’ Selbstaussage im durativen Tempusaspekt des Imperfekts im ersten Buch von Gambaras De navigatione Christophori Columbi libri IV: «nocte dieque | detegere has terras ingens me cura premebat» (De nav. 1.402 f.) 485 Während bei Gambara z. B. die Gefährten noch ihre Kleidung an der Küste trocknen (vgl. «comites dum», De nav. 1.466), dringt Kolumbus als Einziger in den Wald vor: «protinus ingredior densum nemus» (1.468).

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falschen Kult der Ureinwohner auslöschen möchte.486 Die Dichotomie ‘Spanier vs. Kolumbus’ wird in den frühen neulateinischen Epen immer nur punktuell virulent, besonders offensichtlich beim historisch begründeten Einbau des Topos der Meuterei auf hoher See, wo die Interessen der spanischen Mannschaft auf die des Kolumbus treffen. Gleiches gilt für die zuvor vorgestellten französischen Epen Du Boccages und Bourgeois’. Auch hier ziehen alle Bewohner der Alten Welt am selben Strang,487 wenngleich Kolumbus den anderen Spaniern einen Schritt voraus ist. Das meint in Bourgeois’ Epos etwa konkret, dass er einen ‘besseren Christen’ darstellt in dem Sinne, als er sein Leben bereits mehr an Gott ausrichtet488 und die in Gottes Augen entscheidende Buße und Reue zeigt.489 Bei der Vorstellung des Epos De invento Novo Orbe in Kap. 2.3.4 wird analysiert, wie Peramás eben diese heroische Sonderstellung des Kolumbus490 gegenüber den Spaniern für den strukturellen Aufbau seines Werks insgesamt nutzbar macht, indem er gezielt intertextuelle Referenzen einfließen lässt und Kolumbus’ Handeln mit biblischen Motiven verbindet bzw. in die Handlungen der Spanier Handlungselemente aus Vergils Aeneis einspiegelt, um so die Diskrepanzen innerhalb der Semiosphäre herauszustreichen. Vorbild ist hier nicht zuletzt auch das den

486 Vgl. «Ulterius me fata uocant; properare necesse est» (Col. 2.389). Vgl. auch die trägen Spanier in 1.440 f. bzw. 2.270–278 und dagegen Kolumbus in 1.448: «haec illum cura una dies noctesque fatigat» bzw. 2.279 f.: «At ductor (neque enim mentem consistere rerum | cura sinit)». Ganz ähnlich z. B. auch in Placcius’ Atlantis retecta, wo sich die Spanier zur Erholung auf den ‘îles fortunées’ ausruhen – vgl. «laborem solantes» (Atl. ret. 705), «socii morantes» (715) – und Kolumbus bereits an das weitere Vorhaben denkt, vgl. «magnum non simplex cura Columbum | sollicitat» (707). 487 Vgl. CCAD I.95: «SIX-VINGTS hommes en tout [...] | A qui l’on dut bientôt ces conquêtes utiles | [...] | Mais leur éclat ne vint que d’un brilliant soleil, | De ce Chef admirable, inflexible, intrépide, | Qui vers ces fiers exploits les entraîne, les guide. | De leurs nombreux succès il fut l’ame & le corps». Trotz der mangelnden Reflexion ihres Status als Christen begleiten sie Kolumbus auch bei seinen gottesfürchtigen Taten. Als Kolumbus Gott die Neue Welt weiht, heißt es: «Tous [...] | En marquerent autant, quoiqu’ils fussent moins purs. | Mais l’exemple fait tout. C’étoit pour eux un songe ; | Dans l’étourdissement où cet état les plonge, | Ils se laissent mener, semblables aux enfants | Qu’on accoutume au joug, tendres, obéissants» (CCAD I.125). 488 Den Spaniern fehlt diese tiefe Gottverbindung, vgl. z. B. «PENDANT que l’Amiral [...] louait le Seigneur sur un si beau sujet, | Ses lâches compagnons complotoient en secret ; | Moins satisfaits que lui de ces rares merveilles» (CCAD I.102 f.) oder «Il n’en sauroit convaincre un seul des Castillans, | Et la Religion dont il cite le Livre, | Ne prend point sur des cœurs que l’apparence enivre» (CCAD I.123, chant VII). 489 Denn «[c]’est tout ce que le Ciel exige, attend de nous, | Un repentir sincere arrête son courroux; | C’est un remede sûr pour toutes nos foiblesses, | Qui nous rend le retour des divines tendresses» (CCAD I.195). 490 Vgl. etwa Stellen wie «At pius Aeneas, per noctem plurima uoluens» (Aen. 1.305).

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Autoren wohlbekannte besondere Sorgen des epischen Anführers, sein Wille, über das Engagement seiner Leute hinaus weiterzudenken, ganz so wie es auch Vergils Aeneas an den Tag legt. Während bei Peramás jedoch trotz Kolumbus’ Sonderstellung der gemeinsame, die Semiosphäre kennzeichnende ideologischchristliche Kern der Semiosphäre der Alten Welt unangetastet bleibt, werden bei Lesuire unüberwindbare Spannungen innerhalb der Semiosphäre der Alten Welt für die ‘Dispositio’ bedeutungstragend und die bei den Neulateinern grundgelegten Bausteine (wie das ‘alleinige Vordringen des Helden’) ausgearbeitet. Die Semiosphäre der Alten Welt wird schon relativ zu Beginn des Epos charakterisiert, nämlich in der Apostrophe und im ambigen Positivieren der spanischen Nation. Anstelle einer im Epos gern vorgenommenen Glorifizierung der eigenen Nation wird bei Lesuire Spanien als ideologischer Gegenspieler Frankreichs angesprochen, und das Herausstellen der Helden Spaniens unterstreicht nicht zuletzt die moralische Zwielichtigkeit der Masse der übrigen Spanier: Pardonne-moi d’oser, Nation généreuse, Peindre de tes enfans la barbarie affreuse. Ces scélérats n’étaient qu’un malheureux essain Que l’Espagne en courroux vomissait de son sein. Cette troupe féroce, aux crimes aguerrie, N’avait que la valeur commune à sa patrie ; Et, loin de t’accuser de leurs lâches complots, Je sais, de tes brigands, distinguer tes Héros. (NM I.46 f., Hervorh. G.J.K.)

Das Gros des sich der Neuen Welt annähernden Teils der Semiosphäre der Alten Welt (vgl. «un malheureux essain») wird in seiner schlechten moralischen Verfasstheit herausgearbeitet, die ganz allgemein für das spanische Epizentrum, den Nukleus der Semiosphäre der Alten Welt, typisch sei (vgl. «la valeur commune à sa patrie»). Im Kern der Semiosphäre der Alten Welt sitzen bedeutende Führungspersönlichkeiten am spanischen Königshof, die Kolumbus aus Neid auf sein Unternehmen, das ihre ‘gloire’ überstrahlen könnte, bereits vor dem Start seiner Mission in ein Turm-Gefängnis in Cádiz einsperren491 und die (gemäß der Ringkomposition des Epos) schließlich nach Kolumbus’ Rückkehr wieder in den Fokus rücken: Dort wird ihre «envie inexorable» (NM II.118) durch Valverde angeheizt und Kolumbus schließlich des Todes anklagt, wenngleich auf Befehl des Königs Ferdinand die ultimative Verurteilung nach Italien verlegt wird, wo sich – nicht minder neiderfüllte – Priester (erneut durch Valverdes Zutun)

491 Vgl. «mille Envieux qu’alarment les projets, | Ourdissant contre lui la trame plus noire, | Par leur impure haleine obscurcissent sa gloire» (NM I.5, chant I). Vgl. ferner die Appendix unter ‘Isolation 1’.

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für Kolumbus’ Verurteilung aussprechen.492 Italien ist neben Spanien also ein bedeutendes Zentrum der sich weithin erstreckenden europäischen Semiosphäre der Alten Welt. Die zur Erkundung der Neuen Welt ausgesandten Spanier stammen nun aus eben diesem Nukleus und sind von denselben Charaktereigenschaften gekennzeichnet.493 Der später zum Ersetzen des Kolumbus nach ‘Amerika’ entsandte Bovadil etwa verkörpert eindeutig die eben beschriebene Ideologie des Kerns: Er ist ein Element, das die heimische Semiosphäre «vomissait de son sein», ein neidischer Beauftragter der spanischen Krone. Am entscheidendsten für den Großteil des Epos sind allerdings diejenigen Spanier, die als erster ‘essaim’ längere Zeit mit der Neuen Welt in Kontakt kommen,494 d. h. die Besatzung der ersten Expeditionsreise, deren Führung Kolumbus innehat, die aber auch durch Kolumbus’ Gegner Valverde handlungsleitende Impulse erhält. Dieser ‘essaim’ wird aus der Fremdwahrnehmung heraus als Einheit erkannt, wenn z. B. Tindal im distanzierenden Blick des außenstehenden Ureinwohners auf ihr kulturell einheitliches Äußeres und ihre typischen Kulturgegenstände verweist. Zeitgleich konstatiert Tindal jedoch auch die innere Heterogenität des Ausläufers der Semiosphäre der Alten Welt, als er gegenüber Kolumbus auf dessen Andersartigkeit Bezug nimmt: «Ils ont & vos habits, & vos armes funestes ; | S’ils avaient vos vertus, qu’ils paraîtraient célestes !» (NM II.70, chant XVII). Typisch für das Epos ist einerseits Kolumbus’ Zugehörigkeit zur Semiosphäre der Alten Welt, die bis zum Ende des Epos nicht völlig abbricht,495 wobei andererseits die ideologischen Gegensätze zwischen Kolumbus und den übrigen Spaniern mehr und mehr Kontur gewinnen. Während die Masse der Spanier sich stets mit den Zuschreibungen ‘egoistisch’, ‘goldgierig-habsüchtig’ und ‘tyrannisch-zerstörerisch’ charakterisieren lässt,496 sind Kolumbus’ Intentionen bei der Annexion der Neuen Welt vielfältig. Er zeigt sich als kommunistisch-

492 «S’assemblent des Prélats jaloux les uns des autres, | Opulens successeurs des indigens Apôtres | [...] Ambitieux Pasteurs, qui, dans leurs ames vaines, | Sont le foyer secret des passions humaines | Et qui, par l’Esprit saint n’étant plus élairés, | Aux crimes, à l’erreur, peuvent être livrés» (NM II.151 f., chant XXIII). 493 Vgl. NM II.96, chant XIX: «Bovadil, ce cruel, ce ravisseur funeste, | Enviant les lauriers du Héros qu’il déteste». Vgl. Kap. 1.3.3 zu Bobadilla. 494 Unbedeutend ist etwa die Masse der Spanier, die als Besatzung des Barthélémi mit in die Neue Welt entsandt wird usw. Ihr kommt kein bedeutendes chronotopisches Agieren zu. 495 Kolumbus’ Streben nach Anerkennung und ‘gloire’ bestimmt ihn vor der Abreise in Cádiz (vgl. NM I.3, chant I), motiviert ihn zum Weitersegeln von Hispaniola aus gen Kontinent (vgl. NM I.64, chant IV) und ist verantwortlich dafür, dass er bis zum Lebensende nicht von der Pflicht gegenüber dem Staat ablassen kann, vgl. NM II.82, 85. 496 Vgl. «ces lâches tyrans» (NM I.37) bzw. «vils brigands armés pour le détruire» (NM I.43).

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teilend und sanftmütig497 und interessiert an Land498 und Leuten sowie an deren Missionierung,499 was ihn von den restlichen Seeleuten im Dienste Spaniens abhebt.500 Das harmonische Kennenlernen und eirenisch angelegte Für-SichGewinnen der Welt steht für ihn über dem bloßen Akt des Eroberns: «Sachons gagner ce Monde, & non le conquérir» (NM I.86). Dieser ambige Status des Kolumbus innerhalb der Semiosphäre führt zu einer Reihe von gefühlsbetonten Ausbrüchen auf Seiten des Helden. Letztere werden in der Forschung unterschiedlich bewertet. Auf der einen Seite erkennt etwa Pratt darin einen positiven Charakterzug des unschuldigen Haupthelden, der die Unbilden seiner Kollegen hinnehmen muss: «Burdening his exceptional protagonist with a remorseful prescience accords with his concern to solicit sympathy for Kolumbus».501 Delon streicht heraus, Kolumbus bleibe – trotz all seiner seelischen Leiden aufgrund der Greueltaten seiner Leute – seiner Mission treu: «Colomb n’est plus un bienheureux à la droite du Père [...], c’est un grand homme solitaire et sûr de sa mission historique malgré la détresse».502 Rein negativ erblickt auf der anderen Seite Roulin in Kolumbus einen nur scheinbaren Helden, der das Paradies ins Unheil gestürzt habe.503 Beide Stränge vereint

497 Vgl. «ces destructeurs, jaloux de son empire, | Different du Héros qu’un si doux zèle inspire» und «Combien de cruautés, dans ce triste séjour, | Ces tigres, malgré lui, commettent chaque jour!» (jeweils NM I.46) 498 Kolumbus wid als «sage observateur» (NM I.39) beschrieben und investiert Zeit in das Betrachten und Erleben der Natur der Neuen Welt, vgl. etwa «D’un coup-d’œil attentif le Héros considère | Tous les dons» (NM I.37) oder NM II.60: «Méditant la nature à ses yeux dévoilée, | Colomb veut observer cette plage isolée». 499 Typisch sind die stets antithetisch modellierten Zuschreibungen, vgl. NM I.74: «Colomb fit un ami [sc. Rémond, l’interprète; G.J.K.]: son Escadre moins sage | Ne trouva que de l’or pour fruit de son visage»; NM I.42: «avec l’Etranger qui connaît ces deserts [sc. avec Rémond; G.J.K.], | Il [sc. Colomb; G.J.K.] veut errer au loin dans tout cet Univers | Tandis que, jaloux d’or, ses soldats homicides | Cherchent par-tout leur proie avec des yeux avides»; NM I.107: «[Les Espagnols] roulent avec orgueil leurs fastueux regards», «le Héros [...] | Y contemple [...]». 500 Aufgrund seiner anders gelagerten Ansichten sehen die Spanier im Genuesen mehr und mehr einen nicht zu ihnen gehörigen «Ausländer», vgl. NM II.67: «Sa main, des Indiens soulage les misères. | Il voit, il aime en eux des hommes & des frères. | De leurs bras défaillans il exige moins d’or. | ‹Cet indigne Etranger prend déjà son essor, | Disaient les Espagnols, a des brutes qu’il aime | Il immole à nos yeux l’intérêt du Roi même. | Flattant ces vils mortels pour leur donner des fers, | Il veut s’approprier le nouvel Univers›». 501 Terry M. Pratt: Of Exploration and Exploitation, S. 308. 502 Michel Delon: ‘Ce nouvel Ulysse méritait sans doute un autre Homère’, S. 81, Hervorh. G.J.K. 503 Vgl. Jean-Marie Roulin: L’Épopée de Voltaire à Chateaubriand, S. 117.

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Carocci: Kolumbus sei «il più umano, il più sofferto ed il più moderno» und v. a. «il più ‹anticolombiano› degli eroi nella storia dell’epopea colombiana».504 Sie verweist auf «una sorta di ‹refrain› doloroso»,505 zu dem es bei jeder schlimmen Tat der Spanier gegenüber den Ureinwohnern kommt: «È infatti una costante nell’atteggiamento di Colombo il senso di tristezza e di rimorso che lo acompagna – dal momento dello sbarco a Hispaniola fino sul suo letto di morte – per la rovina ed i mali derivati al Nuovo Mondo e alle sue genti a seguito della sua impresa».506 Wie kommt es zu diesem zwiespältigen Kolumbusbild? Gegenüber anderen Kolumbus-Epikern spart Lesuire historische Gegebenheiten, welche die Leistung des Helden negativieren bzw. problematisieren, nicht aus, sondern nimmt seine Leiden besonders in den Blick. So beispielsweise, als er in Ketten zurück nach Spanien kommt. Demgegenüber haben wir es jedoch auch mit der Tendenz zu tun, dass die epische Fiktion Kolumbus’ Status als positiven epischen Helden wahren möchte und hierfür auch mitunter historische Fakten verändert: Der historische Kolumbus trägt etwa Mitschuld am übertrieben positiven ersten Bild der goldreichen Neuen Welt, da er durch Versprechungen gegenüber der spanischen Krone die Finanzierung seines Projektes sicherstellen möchte. Den ersten Bericht von der Neuen Welt gibt bei Lesuire gerade nicht Kolumbus ab. Von Kolumbus entsandte Abgeordnete überbringen «la nouvelle imprévue» der Entdeckung der Neuen Welt, die im kriegsgebeutelten, nach einem Erfolg lechzenden Europa einschlägt wie eine Bombe. Die Fama des Goldreichtums507 – «[c]es bruits exagérés» (jeweils NM I.126, chant X) – verbreitet sich mehr oder minder unbeabsichtigt durch Dritte. Wir wollen durch unsere Analyse nicht nur herausstellen, dass sowohl die positive wie auch die negative Beurteilung des Kolumbus durch die Forschung textuell belegt ist, sondern auch dass – bei genauer Betrachtung der ‘Dispositio’ des Epos – dieser ‘refrain doloroso’, von dem Renata Carocci spricht, sich durchaus verändert; dass Kolumbus’ Reaktionen bzw. seine Verhaltensweisen sich entwickeln und es dabei einen Kulminations- und Wendepunkt gibt; dass es sich damit also streng genommen gar nicht mehr um einen – per definitionem gleichbleibenden – ‘refrain’ handelt.

504 Renata Carocci: Le Nouveau Monde di Robert-Martin Le Suire, S. 48. 505 Ebda., S. 46, Hervorh. G.J.K. 506 Ebda., S. 46. Vgl. ebda., S. 46 f.: «la realtà del continente Americano appare nella sua evidenza e si trasforma poi, nell’animo dell’eroe, in timore, in rammarico, in ossessione, in coscienza della vanità di ogni azione umana, anche se grande». 507 Vgl. «L’or est aussi commun, que le fer sur nos bords» (NM I.126).

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Veränderungen gegenüber Marmontels Incas-Roman Lesuires spezielle Modellierung des Gegensatzes ‘Kolumbus vs. Spanier’ erhält durch einen vergleichenden Blick auf Marmontels Incas-Roman klarere Konturen. Beide Texte verfügen über die bereits erwähnte Gemeinsamkeit, eine «représentation non manichéenne du conflit»508 zugrunde zu legen, bei der es nicht nur um die Gegenüberstellung der Semiosphären der Alten und der Neuen Welt geht, sondern v. a. auch um die Darlegung von Differenzen innerhalb der einzelnen Semiosphären (Stichwort: ‘fanatisme vs. vérité’). Diese intrasemiosphärischen Spannungen innerhalb der Semiosphäre der Alten Welt bringt Marmontel in Form eines mannigfaltigen Personariums zum Ausdruck, während Lesuire bei der Unterminierung der Semiosphäre für eine reduzierte Form optiert. Bei Lesuire werden die Einstellungen und Verhaltensweisen verschiedener einzelner Figuren Marmontels im epischen Helden Kolumbus bzw. in dessen innerer Zerrissenheit kondensiert. Marmontels Masse an Figuren, insbesondere der Verzicht auf einen einzigen Haupthelden, wurde von der Sekundärliteratur nicht selten als Beleg für die ‘Nicht-Epizität’ bzw. die generische Zwitterposition509 des Textes angeführt. Der noch am ehesten «in the heroic mould»510 gezeichnete Pizarro wird moniert als «héros contradictoire [...] et anti-épique»,511 der zwar nach Ruhm trachtet,

508 Jean-Marie Roulin: L’Épopée de Voltaire à Chateaubriand, S. 120. 509 Roulin unterstreicht Marmontels eigene uneindeutige Positionierung des Textes zwischen Roman und Epos und spricht von «un ouvrage au genre indécis» (Jean-Marie Roulin: L’Épopée de Voltaire à Chateaubriand, S. 118); vgl. «un mariage entre epopée et philosophie» (Jean-Marie Roulin: Les Incas de Marmontel, S. 193). Charara listet ‘epische’ Charakteristika des Texts auf (etwa das Vorgehen ‘medias in res’, das Verwenden von Allegorien und Analogien zwischen der griechisch-römischen Antike und den beschriebenen Naturvölkern sowie ganz allgemein «la dramatisation et la psychologisation de l’épopée» (vgl. Youmna Charara: Imitation des Anciens et invention dans les Éléments de littérature de Marmontel. In: Lumen: Selected Proceedings from the Canadian Society for Eighteenth-Century Studies/Lumen : travaux choisis de la Société canadienne d’étude du dix-huitième siècle 26 (2007), S. 60, Zitat S. 54). Dann werden jedoch genauso «de[s] situations et de[s] personnages totalement inédits dans le corpus des épopées» (ebda., S. 59) konstatiert. Roulin kritisiert den Verzicht auf das pagan-epische ‘merveilleux’ und merkt außerdem an, dass den Incas das Happy End fehlt, das von Theoretikern des 18. Jhdts. eingefordert wird; vgl. Jean-Marie Roulin: Les Incas de Marmontel, S. 188. S. die Definition von ‘poème épique’ im Dictionnaire de Trévoux von 1740: Epische Texte ohne glücklichen Ausgang werden oft negativ beurteilt, etwa Miltons Paradise Lost, vgl. Jean-Marie Roulin: La ‘romanisation’ du héros dans l’épopée du tournant des Lumières, S. 263 und Jean-Marie Roulin: L’Épopée de Voltaire à Chateaubriand, S. 51. 510 Terry M. Pratt: Of Exploration and Exploitation, S. 317. 511 Youmna Charara: Imitation des Anciens et invention dans les Éléments de littérature de Marmontel, S. 60.

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aber dabei dennoch – sonderbar passiv und unverantwortlich – die schlimmen Vorfälle in Peru mitansehen muss und ohne die nötige Durchschlagkraft bleibt. Insgesamt findet sich bei Marmontel unseres Erachtens mit Las Casas, de Molina und Pizarro eine antiklimaktisch angeordnete Reihe von drei großen positiv konnotierten Helden:512 Der eigentliche Held des Epos ist der ab chapitre XI513 in den Fokus genommene Las Casas, der an Pizarros Fahrt nach Peru teilnimmt und sich dort als «héros de la religion de l’humanité» (INC 112) erweist, indem er sich für die notleidenden Ureinwohner einsetzt. Gleich auf dem Weg nach Peru löst er etwa den jüngsten und schwächsten von den Spaniern zum Rudern abkommandierten Indigenen bei seiner strapaziösen Arbeit ab und spricht sich lautstark gegen jede Form der Quälerei aus.514 Insbesondere seine emotionale Involviertheit in die Geschehnisse der Neuen Welt515 führt dazu, dass er sich schon Ende des chapitre XII vollständig von der Expedition nach Peru und den Spaniern samt ihrem abstoßenden Streben nach Ruhm zurückzieht: «je n’ai plus désormais qu’à regagner ma solitude» (INC 128).516 Der durchweg in seiner Isolation als ‘solitaire’ herausgestellte517 Las Casas wird auf seinem Weg zurück in Richtung Hispaniola in die bereits angesprochene Enklave unberührter Ureinwohner geführt, wo es ihm gelingt, die dort ansässigen Ureinwohner durch die Kongruenz seiner Predigten und seines von christlicher Nächstenliebe geleiteten Handelns zu konvertieren.

512 Die in der Folge herauspräparierten drei Hauptstränge sollen nicht über die Vielzahl der Figuren hinwegtäuschen; als Beispiele seien etwa Gonsalve und Alvarago genannt. Gonsalve ist der tragische, aber positiv konnotierte Held der chapitres XIII und XIV, der, durch Las Casas instruiert, eine positive Einstellung gegenüber den Einwohnern gewonnen und die Ureinwohner von der Güte der Spanier überzeugt hat, doch durch schicksalhafte Verwicklungen die versteckte, geschützte Enklave gegenüber seinem Vater Davila verraten hat. Alvarado ist einer von vielen negativ konnotierten Helden, der sich in chapitre XXII die Abwesenheit Pizarros zunutze macht, um selbst sein Glück in Peru zu versuchen – und er trägt nach der Zerstörung Perus zur endgültigen Vernichtung der Peruaner bei. 513 Nach der Beschreibung der Inkas in Peru und dem Bericht über die Vorfälle in Mexiko in den Kapiteln zuvor. 514 Vgl. «cessez de tourmenter ces malheureux» (INC 109). 515 Vgl. «la tristesse dans les yeux» (INC 115). 516 Las Casas setzt hier gleich das in die Tat um, was er sich nur kurz zuvor geschworen hat: «et si j’ai le malheur d’être avec des brigands, soyez bien assuré que je n’y serai pas longtemps» (INC 127). 517 Vgl. u. a. «Le solitaire consterné» (INC 127, chapitre XII), «le pieux solitaire (INC 120, chapitre XIII), «ce pieux solitaire, cet ami courageux et tendre des malheureux Indiens» (INC 103, chapitre XI).

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Zeitgleich mit Las Casas wird Alonzo de Molina in den Roman eingeführt.518 Er ist einer der Jugendlichen, die sich in ihrem Streben nach Ruhm Pizarros Projekt angeschlossen haben. Zwischen den in Freundschaft verbundenen de Molina und Las Casas entsteht eine Diskussion über das ‘gloire’-Streben der Spanier. Las Casas verweist auf das mit dem Ruhmstreben einhergehende egoistische Movens und setzt es mit dem Streben nach Zerstörung gleich.519 Nichtsdestotrotz kann de Molina den kritischen Las Casas vorübergehend zum Mitfahren motivieren, indem er in ihm «l’espoir d’être utile aux hommes» weckt, und erläutert, er könne inmitten der raffgierigen Spanier Gutes bewirken, da auch ihr Anführer Pizarro im Kern gute Absichten habe.520 Als sich Las Casas in Anbetracht der unbelehrbaren Spanier auf den Rückweg macht, hält de Molina (trotz des ein oder anderen Gedankens an ein Umkehren) noch an seinem Ruhmstreben fest,521 bis auch er sich in chapitre XIX dazu entschließt, sich von Pizarro zu trennen, um bei den Ureinwohnern Gutes zu tun. Darin sieht er nunmehr den Inbegriff wahren Glücks;522 und in seinem späteren Rückblick sprechen aus ihm quasi die Worte des Las Casas, wenn er sein Streben nach ‘gloire’ als falsch erkennt: «Je cherchais la gloire sur leurs pas [sc. ceux des Espagnols; G.J.K.]: je n’ai vu que le crime» (INC 267). Pizarro schließlich verfolgt – trotz des aufflammenden Gefühls der Reue, als er de Molina auf seinen Wunsch bei den Ureinwohnern zurücklassen muss – als letzter der drei Helden das Peru-Projekt weiter. Sein Ruhmstreben ist von den Dreien am stärksten ausgeprägt und bleibt ungebrochen.523 In doppeltem Sinne zeigt er sich dabei als ‘stoisch’: Ungeachtet seiner Zweifel und des Horrors in Anbetracht der Unbilden seiner Spanier lässt er sich nach außen nichts anmerken.524 Vielmehr sieht er – im Sinne des senecaischen ‘calamitas virtutis occasio’ – in der schwierigen Aufgabe der Eroberung eine Herausforderung

518 Er ist eine Figur der Kreativität Marmontels mit nur minimal historischer Basis, vgl. John Renwick: Les Incas de Marmontel, S. 168. 519 Vgl. «Votre gloire est celle du vautour lorsqu’il déchire la colombe» (INC 106). Auch spätere Textstellen belegen seine völlige Distanzierung von «L’orgueil, l’ambition, la cupidité, la passion insatiable de dominer et d’envahir» (INC 383), was einem guten Kirchenmann nicht zieme, wenngleich viele seiner Priesterkollegen bereits als «de laches partisans, de féroces apologistes» in eben diese Richtung tendierten. 520 Vgl. INC 107 f, Zitat S. 107. 521 Vgl. «il l’aurait suivi, si son honneur, trop engagé, ne l’avait retenu» (INC 128). 522 Vgl. «[de Molina] n’avait jamais été plus heureux que dans ce moment. Se voyant au milieu d’un peuple naturellement simple et doux» (INC 182, chapitre XIX). 523 Vgl. insbes. INC 169, 171. 524 Vgl. «[il] cachait, sous un front serein, les noirs chagrins qui lui rongeaient le cœur» (INC 166).

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und die Chance auf großen Ruhm.525 Während de Molina durch seine Präsenz bei den Inkas in Peru den Bürgerkrieg zwischen Cusco und Quito hautnah miterlebt, verlässt Pizarro in chapitre XXII, im Kernteil des Epos, vorerst die Neue Welt, um Unterstützung und Nachschub zu holen, und kehrt erst kurz vor Ende des Epos wieder dorthin zurück. Zuvor hatte er noch dem sterbenden Las Casas in Hispaniola einen Besuch abgestattet, der ihn in seiner Absicht einer harmonischen Unterwerfung der Peruaner bestärkt hat.526 Das schlägt sich auch in der folgenden Rede vor den spanischen Soldaten nieder und setzt ihn als dritten – wenn auch am wenigsten gefestigten – ‘positiven Helden’ in der Reihe der Kämpfer für die ‘humanitas’ ins rechte Licht.527 Seine Haltung verstärkt wiederum die Ablehnung auf Seiten seines Gegenspielers Valverde «[qui] fut indigné de reconnaître dans le langage de Pizarre les sentiments de Las-Casas» (INC 400). Ein von Las Casas am Sterbebett verfasster Brief überzeugt den zu den Ureinwohnern übergelaufenen de Molina schließlich von Pizarros Integrität und eröffnet die Chance auf einen die beide Parteien vereinenden Friedensschluss.528 Gerade als alles gut auszugehen scheint,529 wird Pizarros Kompromissbereitschaft durch eine einzige Aktion Valverdes zunichtegemacht. Sein pathetisches Eintreten für das göttliche Wort der Bibel stößt beim Peruanerkönig Ataliba auf Unverständnis.530 Dessen Zu-Boden-Fallen-Lassen der Bibel wird als Kriegserklärung gewertet und löst in Form einer plötzlichen Kettenreaktion das Gemetzel der Spanier unter den Peruanern aus. Pizarros «Arrêtez cruels !» (INC 444) setzt dem Treiben zu spät ein Ende; ein Gefühl der Reue bleibt beim Großteil der Spanier aus.531 Lesuire verdichtet nun die drei Haupthelden Marmontels in der einen Person des Kolumbus und schafft durch dieses vereinheitlichende Moment – aus

525 Vgl. «Ces nobles Castillans s’attendaient, comme moi, à des périls, à des travaux dignes d’éprouver leur constance. [...] C’est parce qu’elle [sc. l’entreprise; G.J.K.] est pénible, qu’elle nous est reservée : les dangers en feront la gloire» (INC 168 f., chapitre XVIII). 526 Im Rahmen ihrer Unterhaltung lobt Pizarre Las Casas’ von christlicher Nächstenliebe motivierte Taten, kommt jedoch auf die Verpflichtungen gegenüber dem Staat zu sprechen: «Vous avez assez fait ; et ce zèle héroïque va même au-delà des devoirs que vous impose votre état» (INC 385), dem Las Casas die Prävalenz des göttlichen Gebotes entgegenhält: «dès qu’ils [sc. les Espagnols; G.J.K.] s’autorisent de la cause de Dieu pour être injustes et cruels, c’est à nous [...] de crier que Dieu désavoue les crimes commis en son nom» (INC 385). 527 Vgl. INC 398–400. 528 Vgl. «Également sûrs l’un et l’autre de leur bonne foi mutuelle, ils s’embrassèrent» (INC 432, chapitre XLVIII). 529 Vgl. «tout semblait s’applanir» (INC 440, chapitre XLIX). 530 Vgl. «ce livre, muet pour moi» (INC 440) 531 Vgl. INC 446.

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generischer Sicht – ein klareres Anbinden an die Epik. Hinzu kommt, dass das ausbleibende Happy End Marmontels bei Lesuire ein Stück weit positiver ausgearbeitet wird. Roulin spricht mit Blick auf Marmontels Incas von einer «dissemination de la figure héroïque»532 bzw. vom «éparpillement de l’héroïsme»,533 was für das Genre des Romans typisch sei.534 Während Marmontel das Ziel verfolgt, «[l]’incapacité d’un personnage unique à incarner les valeurs héroïques»535 nachzuzeichnen, arbeitet Lesuire eben diesem «travail de déconstruction de l’héroïsme épique»536 entgegen, und bleibt der Tradition der Kolumbus-Epik mit einer eindeutigen Heldenfigur treu.537 Die Parallelen zwischen Marmontels Pizarre und Lesuires Colomb sind unverkennbar. Das am Ende beider Texte vermittelte Heldenbild ist nahezu identisch. Bei Marmontel heißt es: «Pizarre, dont le crime était d’avoir ouvert la barrière à tant de forfaits» (INC 482, chapitre LIII). Bei Lesuire erkennt Colomb in nahezu identischer Weise: «aprenez tous mes crimes, | Le plus grand est d’avoir osé franchir les mers | Pour aller découvrir un nouvel Univers» (NM II.196) und «Mais je voulais enfin, quand j’ai franchi les ondes, | En les réunissant, rendre heureux les deux mondes. | Des monstres corrompant mes innocens projets, | Un dessein vertueux a produit des forfaits» (NM II.163). Gleichermaßen ähnelt sich die Charakterisierung beider Helden im Verlauf des Textes: Nach außen demonstrieren sie stoische Gelassenheit,538 wenngleich sie sich im Innern der Unbilden wohl bewusst sind. Beide legen Wert auf einen für beide Welten rentablen «commerce libre» (INC 105) und hegen größeres Interesse an Land und Leuten als am Auffinden materieller Reichtümer. Exemplarisch lassen sich etwa folgende Textstellen gegenüberstellen: «Pizarre s’applaudit d’avoir enfin trouvé des hommes ; mais ses compagnons s’applaudissent d’avoir trouvé de l’or»

532 Jean-Marie Roulin: La ‘romanisation’ du héros dans l’épopée du tournant des Lumières, S. 261. 533 Ebda., S. 262. 534 Die Berechtigung dieser Feststellung führt er dabei anhand zweier Beispiele vor. Einmal betont er, dass die manichäische Schwarz-Weiß-Zeichnung aufgehoben werde, weil die Handlung mit dem Bürgerkrieg in Peru verquickt werde, wodurch sich die Lage verkompliziere. Andererseits sieht er im Ureinwohner Orozimbo einen epischen Helden, der lediglich punktuelle Bedeutung habe: Trotz seiner durchaus anspruchsvoll inszenierten Einführung (Orozimbo berichtet in der Art eines Aeneas vor Dido oder eines Odysseus vor den Phäaken von seinen Leiden) verliere sich die Bedeutung dieser Figur schnell «dans la complexité de l’intrigue». 535 Ebda.,S. 261. 536 Ebda.,S. 262. 537 Nach Madame Du Boccage so auch bei Laureau, vgl. Kap. 2.3.3. 538 Zu Marmontel s. o., zu Lesuire Näheres im Folgenden.

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(INC 178) vs. «Colomb fit un ami ; son Escadre moins sage | Ne trouva que de l’or» (NM I.74). Lesuire projiziert nun auf diesen, ähnlich wie Pizarre vom Streben nach ‘gloire’ geleiteten Colomb die sentimentalen Züge eines sich bei Marmontel ja gleich zu Beginn vom Projekt zurückziehenden Las Casas.539 Dadurch ergibt sich das für Lesuires Epos typische Alternieren von ‘Zurückziehen’ und ‘Teilnehmen’, da Kolumbus sich – anders als Marmontels Las Casas – nicht sofort zu Beginn von der ‘gloire’-Ideologie der spanischen Krone distanziert und daher nicht sofort aus politischer Sicht scheitert.540 Auch wird Kolumbus’ Status als epischer Held durch die für Pizarro kennzeichnende Hauptschwäche der allzu gutmütigen Kompromissbereitschaft nicht gefährdet. Immer auf das erfolgreiche Beenden seines Projekts bedacht541 und stets versucht, als Mediator den passenden Mittelweg zu finden, wird Marmontels Pizarre – der nicht umsonst oft mit dem Attribut ‘modéré’ versehen wird542 – nämlich gewissermaßen zum Spielball der Anderen.543 Am eingängigsten tritt die Marmontel’sche Personenkonstellation rund um Pizarre innerhalb der Semiosphäre der Alten Welt in chapitre XII zu Tage: Dort werden die Spanier in zwei große Lager, in moralisch ‘gute’ und ‘schlechte’ (d. h. fanatische), gespaltet. Diese Positionierung geschieht nicht zuletzt mittels diametral entgegengesetzter Auslegungen der Bibel544 bei der dialektischen Argumentation für und gegen das Anrecht der

539 Eine detailliertere Analyse bringt auch Züge des durch Las Casas maßgeblich geprägten de Molina in Colomb zum Vorschein: Als de Molina in Anbetracht der Zerstörung Perus freiwillig in den Tod geht, schreit er den Spaniern noch entgegen «O monstres fanatiques» (INC 450); dieses pathetische Moment greift Lesuires Kolumbus in mehreren ‘refrain doloroso’-Szenen auf, vgl. etwa NM I.54: «Il gémit & s’écrie : Ah ! monstres que nous sommes !» 540 Las Casas tritt bei Lesuire selbst als eigenständige Figur auf, erfüllt dabei jedoch nur eine Nebenrolle, denn er erkundet nicht eigenständig die Neue Welt oder bestimmte unberührte Enklaven. Gleiches gilt für die Nebenrolle des ‘jeune solitaire’, der – quasi als Wohltäter – an der Seite des Kolumbus mitläuft, jedoch bis zu seiner Identifikation als Kolumbus’ geliebte Isaure keinen nennenswerten eigenständigen Auftritt hat. Die Aspekte, die Marmontels Las Casas zum ‘eigentlichen Helden’ des Incas-Romans machen, fallen Lesuires Colomb zu, lediglich das reine Missionieren und das Umsetzen der christlichen Nächstenliebe entfallen auf Las Casas und den Eremiten, der als ‘jeune solitaire’ nun eben auch das Attribut des Marmontel’schen Las Casas (‘le solitaire’) trägt. 541 Vgl. «mais il veut réussir», INC 127, chapitre XII. 542 Vgl. etwa INC 116. 543 Vgl. «Pizarre vit les deux écueils qu’il fallait éviter dans ce pas dangereux, la violence et la faiblesse» (INC 451). 544 Auf die Bibel wird bei Marmontel nur an wenigen Stellen verwiesen. Wenn dies der Fall ist, handelt es sich doch um Schlüsselstellen, vgl. das bereits genannte Fallenlassen der Bibel als ultimativen Kriegsauslöser. Eine weitere Referenz ist Valverdes Inszenierung als unschuldi-

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Spanier auf die gewaltsame Annexion und die Inbesitznahme des Goldes der Neuen Welt. Der neben Pizarro eine Führungsposition innehabende Fernand de Luques545 plädiert für ein gewaltsames Unterwerfen der Ureinwohner nach Gottes Geheiß, da die Bewohner der Alten Welt einem falschen Kult huldigten: «L’Amérique nous appartient au même titre que Canaan appartenait aux Hébreux : le droit du glaive qu’ils avaient sur l’idolâtre Amalécite, nous l’avons sur des infidèles, plus aveugles, plus abrutis dans leurs détestables erreurs». Das Gold stehe den Spaniern zu als «l’unique fruit de [leurs] travaux» (jeweils INC 117). Las Casas seinerseits betont, es müsse die für alle Menschen geltende Regel der Nächstenliebe Anwendung finden und nicht der von de Luques anzitierte Sonderfall: «Dieu parlait aux Israélites ; mais Dieu ne vous a point parlé. Tenez-vous-en donc à la loi qu’il a donnée à tous les hommes : Aimezmoi, aimez vos semblables» (INC 119, Hervorh. im Original). Pizarro schätzt Las Casas und seine Position sehr,546 verzichtet aber darauf, klar Stellung zu beziehen. Er gibt ihm im Privaten das Versprechen, er wolle die Ureinwohner und ihre Werte schützen, weigert sich jedoch, seine gesamte Mannschaft den von Las Casas des Öfteren geforderten547 Schwur sprechen zu lassen, um nicht de Luques zu widersprechen, dessen strategische Fähigkeiten er später noch gebrauchen könnte. An dieser frühen Kernstelle des Romans kündigt sich schon Pizarres Unterlegenheit gegenüber Vincent de Valverde (der als ebenso fanatischer Priester wie Fernand de Luques548 an der Fahrt teilnimmt) an. Valverde, der zum Zwecke der Täuschung549 scheinbar Pizarres «parti modéré» (INC 122) einnimmt,550 zeigt sich dabei ironischerweise deutlich effizienter und publikumswirksamer. Der ‘sage conciliateur’ lanciert vor versammelter Mannschaft geschickt Hortative, die bei jedem Christen nur auf Zustimmung stoßen können: «Oublions ces fragiles biens ; ne pensons qu’au salut des ames» und «ne consultons ici que les intérêts de

ger, schwacher Daniel in der Löwengrube, nachdem er von Pizarre kurzzeitig aus Peru verbannt worden ist, dann jedoch durch Zufall zurückkehrt: «Vous m’avez vu chargé de chaînes, proscrit, envoyé sur la flotte pour être abandonné dans quelque île déserte, où je serais la proie des animaux voraces ; me voilà au milieu de vous. Dieu a rompu les pièges du méchant ; il s’est joué des conseils de l’impie ; il a tendu la main au faible, innocent et persécuté» (INC 477). 545 Während der «prêtre sacrilège» Fernand de Luques in Panama stationiert ist, hat Pizarro die Leitung in Peru inne, der Dritte im Bunde, Almagro, pendelt zwischen Panama und Peru hin und her, vgl. INC 114, chapitre XII. 546 Vgl. auch INC 113. 547 Vgl. etwa INC 126. 548 Vgl. «ce prêtre ardent et fanatique» (INC 400). 549 Vgl. «il les [sc. les vices; G.J.K.] couvait sourdement» (INC 120). Seine Verstellung und die bösen Absichten durchschaut zu diesem Zeitpunkt lediglich Las Casas. 550 Vgl. «le zèle, d’accord avec l’humanité» (INC 122).

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Dieu même : car l’homme n’est rien devant lui» (INC 121). Seine Formulierung, ein gewaltfreies Annähern an die Neue Welt sei wünschenswert, doch müsse es gerechtfertigt sein, im äußersten Notfall auf Gewalt zurückzugreifen, setzt die ‘aurea mediocritas’ Pizarres besser in Szene, als es dieser selbst zu tun vermag. Auf eine derartige Verdoppelung des fanatisch motivierten Gegenspielers des Helden in einen offen agierenden (de Luques) und einen gefährlicheren, da im Geheimen intrigierenden (de Valverde) verzichtet Lesuire. Er beschränkt sich auf die ‘persona’ des Valverde und verengt die Dichotomie damit auf ‘Kolumbus vs. Valverde’. Durch den Verzicht auf konkurrierende Positionen, zwischen denen der Hauptheld vermitteln muss, den eigenständigeren, aktiveren Helden Kolumbus und die eindeutiger antagonistische Gegenüberstellung von Valverde und Kolumbus lässt sich die Semiosphäre der Alten Welt bei Lesuire leichter fassen als eine Menge von Spaniern mit gleichbleibend egoistisch motivierter Ideologie, die durch den besonders radikalen Valverde und durch Kolumbus in ihrem Handeln beeinflusst werden. Die Masse der Spanier selbst hat bei Lesuire kaum ein Eigenleben, anders als Marmontels Spanier zeigen sie etwa auch nicht phasenweise gegenüber den leidenden Ureinwohnern Mitleid.551 Wenngleich Marmontel wie Lesuire den Kontakt der beiden Semiosphären und die von der Semiosphäre der Alten Welt ausgehenden schrecklichen Handlungen, die ‘Légende noire’, zum zentralen Thema erheben, bestimmt bei Marmontel doch v. a. das historische Geschehen, der Bürgerkrieg in Peru und dessen Eroberung, die Handlung, und die ‘Dispositio’ des Romans zielt auf die Zerstörung Perus ab. Bei Lesuire gibt es durch die Wahl des Kolumbus mehrere Hauptschauplätze (Hispaniola, Mexiko, Peru, Spanien, Italien) und es wirkt auf den ersten Blick so, als sei das ganze Epos ein einziger horrorerfüllter Blick auf die ubiquitären Greueltaten der Spanier. Schon gleich eingangs des Epos wird ein negativer Blick auf die Entdeckung der Neuen Welt gegeben: «Nouveau Monde, me dis-je, où l’on nous voit courir, | Que tu causas de maux, & qu’on t’en vit souffrir !» (NM I.2) und auch vor der eigentlich ersten Begegnung mit den Ureinwohnern, d. h. schon bevor tatsächlich etwas Schlimmes passiert, hat Kolumbus eine düstere Vorahnung bezüglich seiner «soldats homicides» (NM I.42), die dann auch den Rest des Epos füllen werden. Entscheidend ist nun aber, dass Lesuires Epos nicht in der fanatischen Zerstörung Perus, sondern in Kolumbus’ Tod kulminiert. Die zuvor konstatierte Kondensierung des Personariums in Kolumbus, der ‘gloire’-Streben und ‘humanitas’ 551 Vgl. INC 213, chapitre XXII: «Quelques-uns, adoucis par la faiblesse et la souffrance, [...] guéris de ce délire affreux où le fanatisme et l’orgueil les avaient plongés, détestaient leurs erreurs, leurs préjugés barbares»; «les traits douloueux du repentir étaient empreints sur leur visage» usw.

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vereint, wird also auch für die gesamte Struktur des Epos bedeutungstragend. Bei Marmontel beobachtet man ein stückweises Aussteigen der die ‘humanitas’ verkörpernden Helden, bei Lesuire findet eine personeninterne Entwicklung statt: Kolumbus’ Ideologie, d. h. seine Weltsicht, seine Absichten und Ziele verändern sich, was sich auch über das Epos hinweg räumlich nachempfinden lässt. Kolumbus’ Einstellung zur Entdeckung der Neuen Welt und seine Einstellung zu den Greueltaten unterliegt einer gewissen Entwicklung. Die oben genannte, bereits zu Beginn des Epos derart negative Bewertung der kolumbischen Entdeckungsfahrt wird – und das ist entscheidend – zuerst nur von der Warte des epischen Erzählers aus, nicht von Kolumbus selbst vorgenommen.552 Erst danach beginnt die Inszenierung der sich entwickelnden Einstellung des Kolumbus. Denn würde es sich tatsächlich nur um einen gleichbleibenden ‘refrain doloroso’ im Sinne Caroccis handeln, hätte das Epos zu Beginn also nichts Anderes zu bieten als in der Mitte oder am Ende, würde das einer wenig spannungsgeladenen ‘Dispositio’ gleichkommen.

552 In einem ersten Überblick stellt der Erzähler hierbei jeweils antithetisch positiv konnotierte Aspekte der Entdeckung (im folgenden Ausschnitt fett gedruckt) negativen Formulierungen (im Zitat kursiv) gegenüber. Aus diesem Schema fällt das den Gegensatz in sich vereinende Oxymoron «gloire sanglante» heraus. Gleiches gilt für die letzten beiden Verse der Passage, da dort ausschließlich das Negative den Schlussakkord bildet und so den pessimistischen Grundtenor des gesamten Epos vorgibt: DES Hommes, franchissant les abîmes des mers Ont trouvé, pour leur perte, un second Univers ; Et sous de nouveaux Cieux, par des travaux sublimes Ont transplanté nos Arts, nos malheurs, & nos crimes. D’un hémisphère à l’autre étendant leur fureur, Dignes d’êtres admirés en inspirant l’horreur. De leur gloire sanglante ils ont porté la peine : Mais le plus grand effort de l’industrie humaine, Est devenu bientôt, pour ce globe affligé, Le plus grand des malheurs où le sort l’ait plongé. (NM I.2 f.; Markierungen G.J.K.) Anders als etwa im Epos des Placcius, bei dem die Neue Welt (alias ‘Atlantis’) den aktuellen Zustand der Trennung beider Welten beklagt und ein Vereinen beider Welten herbeisehnt, beginnt Lesuires Erzähler mit einer positiven Darstellung der beiden voneinander getrennten Welten: «Une moitié du globe est notre heureux séjour, | L’autre moitié sans doute est peuplée à son tour» (NM I.4). Die Verbindung der Welten wird daher konsquenterweise negativ beurteilt.

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2.3.2.2.2 Räumliche Modellierung der Dichotomie ‘Kolumbus vs. Spanier’ Grundlegendes Vorgehen; Arten der Isolation Kolumbus hebt sich von den restlichen Spaniern durch ein anderes chronotopisches Handeln ab. Er ist ein Grenzgänger, der die normale ‘Pufferzone’ der Aushandlung der beiden Semiosphären der Alten bzw. der Neuen Welt verlassen kann. Die Erhellung der ‘Dispositio’ des Epos kann daher gut anhand eines gezielten vergleichenden Blickes auf das Grenzgängertum des Kolumbus geschehen, auf seine ‘Isolationen’,553 sowie im Gegenzug auf diejenigen Stellen im Epos, an denen sich Kolumbus als Teil der Semiosphäre der Alten Welt gemeinsam mit seinen Leuten zeiträumlich fortbewegt und sich als dirigierender Anführer der Semiosphäre zeigt. Er vermag die (aus seiner Sicht pejorativ konnotierten) Intentionen seiner Leute zu bremsen554 bzw. dirigierend so einzugreifen, dass er seine eigenen (auf ein harmonisches Annähern der Semiosphären ausgelegten) Absichten durchsetzen kann.555 Je nachdem dann, ob seine regulierende Präsenz an der Spitze der Semiosphäre der Alten Welt gegeben ist, verändert sich auch wiederum das Handeln der Semiosphäre, d. h. das der Masse der Spanier und ihres radikalen Anführers Valverde. Eine Definition der vorgenannten ‘Isolationen’ erweist sich als nicht unproblematisch: Von ‘Isolation’ soll im Folgenden nur dann gesprochen werden, wenn Kolumbus (a) räumlich eine gewisse Zeit von anderen Spaniern getrennt ist, ihm aber auch (b) ein Erleben von Räumen und Knüpfen von Kontakten möglich ist, das dem Gros der Spanier vorenthalten bleibt und (c) eine solche raumzeitliche Trennung von ihm selbst intendiert oder sie von außen erzwungen ist.556 Es

553 Vgl. die Hervorh. in der Appendix. 554 Vgl. für sein Vorgehen in Mexiko und Hispaniola NM I.88, chant VII: «Mais Colomb dans leurs mains suspend les coups mortels»; NM I.95, chant VII: «Il entraîne avec lui ses lions écumans, | Ses soldats effrénés de carnage fumans»; NM I.141: «Livrés à tant d’excès, ils ont besoin d’un frein. | Allons courber leurs fronts sous un sceptre d’airain. | Les cris des opprimés implorent ma clémence, | Les fureurs des brigands appellent ma vengeance». 555 So in Hispaniola (vgl. NM I.58–60, 63), als er durch die Vorhersage einer Sonnenfinsternis zuerst die Überlegenheit der Bewohner der Alten Welt herausstellt und dann durch die Wahl der Sonne als Objekt der Anbetung die Einwohner beider Welten im rituellen Anbeten einer ‘Gottheit’ zusammenbringt. 556 Bei einem 26 Gesänge umfassenden Epos werden zur Gewährleistung der Übersicht ganz kurze ‘Isolationen’ ausgespart, so etwa in NM I.113 in chant IX (vgl. die Appendix), wo Kolumbus kurz alleine steht und über wenige Verse eine separate Kurzbeschreibung erhält bzw. im Zustand seiner stoischen ‘Apatheia’ herausgestellt wird. Oder die kurze Sequenz in NM I.114 f., als Kolumbus die Vestalinnen in deren Enklave beobachtet, da es sich hierbei um einen Ausflug handelt, der nur als ‘Prolusio’ für die ‘Isolation 6a’ nutzbar gemacht wird, als Kolumbus die Vestalin und ihren Geliebten in ihrem Heimatort besucht; ferner stellt sich hier im weiteren

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lassen sich hierbei zwei Typen der Isolation unterscheiden: Entweder Kolumbus selbst sondert sich vom Rest der Semiosphäre ab, um schlicht alleine zu sein (Typ 1a: ‘selbstgewählte Auszeit des psychisch sensiblen Kolumbus’)557 oder um sein Interesse an Land und Leuten bzw. seine anders gelagerten Bedürfnisse zu stillen (Typ 1b: ‘selbstgewähltes Erkunden aus Neugier’),558 wobei die Grenzen hier durchaus auch fließend sind.559 Kolumbus’ Isolation kann jedoch auch von außen aufoktroyiert sein (Typ 2: ‘Ausgrenzen des Kolumbus durch die Spanier’).560 Beim folgenden Durchzug durch die verschiedenen Isolationen bzw. gemeinsamen chronotopischen Handlungen sollen v. a. diese Fragen zugrunde gelegt werden: Wie verändern sich im Laufe des Epos die Zahl und die Typen der Isolationen? Welchen Modifikationen unterliegt Kolumbus’ Interaktion mit der restlichen Semiosphäre der Alten Welt sowie seine eigene Ideologie bzw. seine Gefühlslage? Isolationen 1 und 2 als Musterkoffer Die erste Isolation wird gleich auf den ersten Seiten des Epos eingeleitet und legt zusammen mit den Isolationen 2a und 2b die Modalitäten zugrunde, die auch die folgenden Isolationen stets in jeweils leicht modifizierter Form kennzeichnen werden. Das Epos beginnt mit der Herausstellung der Heterogenität der Semiosphäre der Alten Welt: Auf der einen Seite haben wir Kolumbus mit seinem kühnen Projekt, der nach langer Suche561 endlich am spanischen Königshof auf die erwünscht positive Rückmeldung stößt,562 und in Isabella eine «[s]ouveraine éclairée» (NM I.4) findet «[qui a]grée un nouveau Monde offert à son Empire» (NM I.5). Durch ihr Zutun wird der Genuese in die spanische Semiosphäre

Textverlauf heraus, dass sich auch andere Spanier in diesem Hort befinden und es sich stricto sensu nicht um eine Isolation handelt. 557 Hierunter fallen Isolation 2a (wo sich Kolumbus aufgrund seiner amourösen Gefühle vom Rest absondert), Isolation 2b (Isolationsgrund sind die meuternden Spanier), Isolation 3 (Kolumbus sucht – belastet durch die ersten Greueltaten der Spanier – gezielt eine Auszeit in der Natur), Isolation 4 (Kolumbus zieht sich aus Reue über die begangenen Untaten in eine Höhle zurück). 558 Hierunter fallen v. a. Isolation 5 (Erkundung der Priesterenklave nahe Peru aus neugierigem Interesse an der Abstammungstheorie), Isolation 9 (Hilfestellung gegenüber Verwundeten auf dem Schlachtfeld im Gegensatz zu den Beutezügen der Spanier). 559 Vgl. insbes. die Isolationen 7a, b, c, e (Besuch der Insel der Zilna als Abwechslung zum Alltag mit dem Rest der Spanier in Hispaniola). 560 Hierunter fallen Isolation 1 und 10 (als Ringkomposition), Isolationen unter 6 und die Isolationen 7d und 7f. 561 Vgl. «Il va de Cour en Cour offrir cette conquête», (NM I.4, chant I). 562 Vgl. «daignant l’accueillir avec un doux sourire» (NM I.5).

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aufgenommen. Auf der anderen Seite stehen jedoch viele spanische Führungspersönlichkeiten, von denen Kolumbus Neid und Hass entgegenschlägt,563 und durch die Kolumbus trotz der Zusage der Königsgattin sogleich für eine gewisse Zeit kaltgestellt wird: «Ourdissant contre lui la trame la plus noire, | Par leur impure haleine obscurcissent sa gloire ; | Et le fond d’un cachot voit accabler de maux | Celui dont on attend des Empires nouveaux» (NM I.5). Diese erste Isolation in Form des Einsperrens in ein dunkles Turmgefängnis in Cádiz zeichnet räumlich-figurativ den ‘obscurcissement de la gloire de Colomb’ nach: Kolumbus ist «enseveli dans une Tour funèbre» ohne Handlungsmöglichkeiten. Die Unsicherheit, ob sein ambitioniertes Projekt, für das er gerade erst den Grundstein gelegt hat, überhaupt starten kann, spiegelt sich bildlich im hochragenden Turm, an dessen Grundfesten die Gischt der See schlägt, «dont les fondemens | Sont frappés jour & nuit par les flots écumans». An dieser Stelle sei erwähnt, dass diese einleitende Grundkonstellation just die für die Epoche der Empfindsamkeit herausgearbeitete, mit negativen Gefühlen einhergehende ‘sensibilité passive’ (und deren pessimistisches Menschenbild) in das Epos einspielt: Einmal ist Kolumbus selbst psychischen wie körperlichen Leiden ausgesetzt,564 was sich räumlich im durchweg negativ aufgeladenen Kerkerraum spiegelt.565 Aber auch die Spanier sind ihrerseits von einer ‘sensibilité passive’ gekennzeichnet, die sich bei ihnen in der von Baasner benannten Spielart der «krankhafte[n] Vergleichssucht mit den anderen Menschen» bemerkbar macht, die zu «kalkulierende[m] Verhalten und Neidgefühle[n]»566 führt. Das Einschließen in dunkle Räume wird Kolumbus bis zur letzten Isolation begleiten; ebenso die stets ambige Beurteilung dieser Dunkelheit. Trotz der ihn äußerlich nun umgebenden Nacht ist Kolumbus’ Haltung tief im Inneren ungebrochen: Seine ‘ratio’, seine Gedanken an das wissenschaftlich fundierte Projekt nähren seine Hoffnung ungeachtet der scheinbar ausweglosen Lage.567

563 Vgl. «mille Envieux» (NM I.5). 564 Vgl. «ses peines» (NM I.5). 565 Vgl. «ce lieu déplorable» (NM I.7); ferner «dans les fers & dans l’obscurité» (NM I.5); «dans cette nuit obscure» (NM I.6); «ce noir souterrain» (NM I.7), «un bruit affreux» (NM I.9); «ce lieu ténébreux» (NM I.9) usw. 566 Frank Baasner: Der Begriff ‘sensibilité’ im 18. Jahrhundert, S. 287. 567 Vgl. «Colomb rayonnant au milieu de l’horreur» (NM I.9), «Persécuté, souffrant, il supporte ses peines | L’esprit est dans les Cieux, le corps est dans les chaînes»; «L’esprit souvent frappé d’un rayon de lumière, | Suivait de ses projets l’étonnante carrière», «Et du fond d’un cachot, s’entendant sur les mers, | Embrassait d’un coup-d’œil l’un & l’autre Univers» (NM I.6); «Mais il voit la santé, le front paré de fleurs, | S’enfuir loin d’un séjour d’amertume & de pleurs, | Et, malgré ses tourmens, au sein de l’esclavage, | L’espoir toujours vivant anime son courage» (NM I.5).

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Diese innere Stärke des epischen Helden bildet den Ausgangspunkt des Epos. Kolumbus vermittelt den Eindruck des ‘klassischen’, gelassenen stoischen Weisen; er ist der «[c]onstant Navigateur» (NM I.3) mit klar auf seine Ziele gerichtetem «regard perçant» (NM I.4). ‘Stoische’ Charakterzüge wird Kolumbus das ganze Epos hindurch beibehalten; die Ausrichtung dieses Stoizismus wird sich allerdings verändern, und der eingangs als ‘klassisch’ stoisch-epischer Held568 eingeführte Kolumbus wird sich mehr und mehr in Richtung eines ‘sentimental-stoischen’ epischen Helden entwickeln. Eingeleitet wird diese Entwicklung durch das Öffnen der Kerkertür und das Eintreten der Isaure Clémence, die beim bisher so gefassten Kolumbus erstmals eine regelrechte Gefühlsexplosion auslöst.569 Sein erstes Vergießen von Tränen spielt dabei direkt auf seine stoische Grundeinstellung an: «Une larme de joie & d’attendrissement, | De ses stoïques yeux coule dans ce moment» (NM I.8, Hervorh. G.J.K.). Auch wenn der Gefühlsausbruch auf den ersten Blick nicht zur ‘Apatheia’ der Stoa zu passen scheint, behält Kolumbus auch in diesem emotionalen Moment sein Epitheton ‘stoïque’ bei – gemäß der Auslegung des Stoizismus, wie er im 18. Jahrhundert rege diskutiert wurde.570 In keinem der bisher behandelten Kolumbus-Epen ließ sich eine derartige Fokussierung auf das Gefühlsleben des epischen Helden finden, auch wenn freilich bereits in den neulateinischen Epen Kolumbus an exponierten Stellen Gefühle gezeigt hatte.571 568 Das Bild von Kolumbus als furchtlosem Anführer und stoischem Helden ist als gängiges Motiv freilich auch in allen anderen Kolumbus-Epen hie und da zu finden. Im Gegensatz zum Gros der Spanier zeichnet Kolumbus seine stoische Art aus, an der es dem Rest der Matrosen mitunter mangelt. So werden die Spanier bei Bourgeois bezeichnet als «esprits remuants, dangereux & fragiles, | En qui la fermeté, naturelle aux Héros, | Ne put jamais tenir contre les moindres maux. | Il n’est que trop de gens de cette foible trempe ! | Au plus petit revers leur cœur succombe & rampe ; | Uniquement construit pour la prospérité, | Le vernis disparoît lors de l’adversité» (CCAD I.108). Kolumbus dagegen erhält Zuschreibungen wie «De n’être point troublé d’une vaine frayeur, | Qui de ses compagnons resserroit trop le cœur», «son esprit intrépide», «Cet état naturel est celui des héros, | Leur ame est en tout temps dans un entier repos» (alle CCAD I.111), «Tranquille, il ne cherchoit qu’à calmer leur ennui» (CCAD I.112), «Colomb, dans le péril, ne perdoit point la tête» (CCAD II.197, chant XXIII) usw. S. ferner etwa CCAD I.99, chant VI, als Kolumbus von neidischen Portugiesen bis zu den Kanaren verfolgt wird: «il sut se pourvoir de ses moindres besoins, | Sans que rien altérât son cœur ni son visage : | C’est le bonheur parfait du héros & du sage ! | [...] | Il n’appréhendoit point qu’on osât l’y poursuivre». 569 ‘Surprise’ vermengt sich in Kolumbus’«yeux satisfaits» (NM I.6) mit ‘joie’. Beim «timbre heureux» (NM I.8) ihrer Stimme ist er erfüllt von einem «trouble heureux» (NM I.6). 570 Etwa in der schottischen Frühaufklärung, vgl. oben Kap. 2.3.2.1.3. 571 Das Gesicht des Placcius’schen Kolumbus in der Atlantis retecta ist von ‘pallor’ und einem ‘immensus dolor’ gezeichnet, als seine Projektpläne an den Höfen abgeschmettert werden (vgl. Atl. ret. 520 f.), bis er sich nach Zusage des Königs Ferdinand in Freudentaumel befindet (vgl. «exultat», 666) und ‘laetus’ zusammen mit den Spaniern gen Neuen Welt aufbrechen kann.

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In seinem duldsamen Ertragen der Umstände wird Kolumbus von seiner Isaure, seiner «Déesse tutélaire» – so seine Apostrophe in NM I.7 – unterstützt.572 Kaum hat Isaure kurzzeitig die Gefängniszelle verlassen, nimmt ihn sofort wieder die ihn umgebende Dunkelheit ein: Im Text lässt sich dies nachempfinden, wenn jeweils an der Tonstelle der Verse am Ende ein pejorativ konnotiertes Nomen der Isotopien ‘Qual’ bzw. ‘Dunkelheit’ gesetzt wird: La porte est refermée avec un bruit affreux Que doublent les échos de ce lieu ténébreux. Colomb qui la regrette en ses demeures sombres, Croit entendre sa voix retentir dans les ombres. (NM I.9)

Dass Kolumbus, dessen Gedanken nur noch Isaure gelten,573 mit diesem prompten Gefühlschaos selbst anfangs nicht so recht umzugehen vermag, belegt sein folgender, recht unbeholfener Vergleich: «Jamais des Matelots, après un long voyage | Sur l’onde où tout semblait préparer leur naufrage, | Avec tant de transport n’ont vu dans le lointain | La Terre s’élever sur l’horizon serein, | Qu’aujourd’hui j’en éprouve, ô Déité propice ! | A vous voir, à baiser votre main protectrice». Der aus der Sphäre der Schifffahrt stammende Vergleich untermalt, wie Kolumbus’ neu entdeckte empfindsame Seite sich mit seinem bisherigen Ich als kühner Held und Seefahrer verbindet. Kurzzeitig stellt sich durch diese Mischung, durch die innigen Gefühle für die aus ‘humanitas’ handelnde Isaure, ein doppeltes Glücksgefühl ein: Der eingangs als dunkel beschriebene Kerker wird in Kolumbus’ Augen geradezu zum Palast: «dans tout le cours de sa vie agitée, | Jamais d’un tel bonheur n’eut l’ame transportée; | Sa prison s’embellit

Mickls Kolumbus etwa wird im Epos Plus Ultra beschrieben als «maestus» (2.521), als er das spanische Fort in Hispaniola zerstört daliegen sieht. In Gambaras De navigatione Christophori Columbi libri IV trauern die Spanier an ausgewählten Stellen mal um verstorbene Mitfahrer (vgl. «moesti», De nav. 2.229) oder als ein Krieg mit den Kannibalen bevorsteht und die Spanier selbst kurz vor dem Hungertod stehen (vgl. 2.967–969); im Zustand völliger Freude befinden sie sich dagegen etwa, als sie bei der Landung die paradiesische Landschaft erblicken («laeti», 4.70). 572 Auf seine Frage «Venez-vous m’aporter un secours favorable ?» (NM I.7) erhält er Isaures Bestätigung, sie sei gekommen «pour adoucir enfin [son] sort douloureux» (NM I.8). Wie fasziniert der ungläubige Kolumbus vom erneuten Erscheinen des Mädchens sein muss, belegt der Umstand, dass er wenig später erneut die folgende, analog strukturierte Frage stellt, deren Antwort er ja eigentlich bereits kennt: «Venez-vous de mon sort adoucir la rigueur | Et rallumer la joie éteinte dans mon cœur ?» (NM I.10). 573 Kolumbus’ Gedanken gelten nur noch Isaure, «[elle fait] réveiller dans le fond de son âme | Ces transports inquiets d’une amoureuse flâme» (NM I.9). Vgl. auch: «Objet sacré, dit-il, qui régnez sur mon âme» (NM I.10).

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à ses yeux satisfaits, | Et de la Volupté lui semble le palais» (NM I.10). Just in diesem Moment doppelter Freude formuliert Kolumbus vor Isaure seinen Wunsch, die bevorstehende Errungenschaft einer Neuen Welt (d. h. die ‘gloire’) in die im Anschluss daran zu schließende Ehe mit ihr einzubringen574 (und so mit ‘amour’ zu verbinden). Sein Vorschlag endet jedoch mit der Enttäuschung Isaures aufgrund Kolumbus’ Prioritätensetzung: «il me fuit, & je l’aime ! | J’eusse été trop heureuse, il l’eût été lui-même. | L’ingrat me sacrifie à ses cruels projets ; | Cachons-nous à ses yeux, peut-être pour jamais». Isaure zieht sich daraufhin ihrerseits an einen «lieu solitaire» (jeweils NM I.14) zurück; Kolumbus hält sie für tot.575 Auch bei ihm stellt sich nach seiner Entscheidung erstmals Reue und Passivität ein. 1 2 3 4

[Colomb p]our la première fois sent, du remords vengeur, Pénétrer dans son sein le ver triste & rongeur. ‹Que fais-tu, malheureux, quand la Beauté naïve Du bonheur en ses bras t’offre la perspective [?]576

Damit ist Kolumbus’ erstmals ins Negative umschwingende Sicht auf die Eroberung der Neuen Welt primär der plötzlich gewonnenen und sogleich wieder zerronnenen Liebe zuzuschreiben. Allerdings klingen in den unmittelbar folgenden V. 5–6 erstmals auch aus Kolumbus’ Sicht die zu erwartenden Greueltaten an, die der Neuen Welt bevorstehen:577 5 Dédaignant ses faveurs, dans des nouveaux climats 6 Va-tu [sic!] porter l’horreur, les fers & le trépas ?›

Vorbereitet werden diese eineinhalb Verse durch das Einspielen eines kleinen Chronotopos: Der Erzähler berichtet,578 wie Kolumbus und Isaure bei ihrem

574 Vgl. «Puissé-je, Conquérant de ces vastes contrées | [...] | Revenir glorieux sur la face des mers | Vous apporter pour dot un nouvel Univers» (NM I.11 f.). 575 Doch nimmt sie dann (wie sich aber erst später herausstellen wird) verkleidet als Eremit an der Expedition teil, wenngleich nicht minder zurückgezogen. Vgl. etwa. «L’Hermite reste au sein d’un funèbre réduit» (NM I.19). 576 In leicht anderer Formulierung wird im Rückblick die Ambivalenz der Gefangenschaft im Turm wiederholt, als sich Kolumbus auf der Rückfahrt in Richtung Spanien befindet und dort von «Cette tour autrefois si cruelle & si chère» (NM II.108, chant XIX) spricht, wo er die Chance auf die Erfüllung seines persönlichen Liebesglücks gehabt hätte: «Il tenait en ses mains le bonheur de sa vie». 577 Diese beenden die oben zitierte Selbstapostrophe der V. 1–4, Hervorh. G.J.K. 578 Aus interner Fokalisierung der Figuren oder zumindest gewissermaßen durch den Filter des Personals, vgl. «Ses yeux [...] [s]’étendent sur les flots» (NM I.11), «sous les yeux du couple

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Blick aus dem Turmgefängnis ein englisches und ein portugiesisches Schiff579 beobachten, die sich beide auf der Rückfahrt von den «bords de l’Indus récemment découverts» befinden, und sich – getrieben von der «soif de l’or» (jeweils NM I.13) – inmitten eines aufziehenden Gewitters gegenseitig bekämpfen.580 Nicht einmal das Zerschellen eines Schiffes am Turm kann dem gegenseitigen Bekriegen ein Ende setzen. Bei diesem Anblick kommen bei Kolumbus «de noirs pressentiments» (NM I.14) auf. Neben der Einführung der zu erwartenden Greueltaten dient der kleine Einschub auch dazu, Isaure mit dem ihr eigentümlichen Mitleid und ihrer Zuneigung zu ihren Mitmenschen herauszustellen. Wenn es heißt «pressant le Héros contre son cœur sensible, | Clémence voit de près un combat si terrible» (NM I.12), tritt Isaures Empfindsamkeit im Sinne der ‘sensibilité active’ erstmals klar zu Tage. Insgesamt bleibt aber festzuhalten, dass im ersten Gesang (und in Isolation 1) Kolumbus’ Priorität auf seinem Projekt liegt. Nur der freudige Gedanke daran hat ihn die Einkerkerung derart problemlos überstehen lassen. Auch wenn ihn der Besuch der ‘humanitas’-geleiteten Isaure und ihr sofortiger Verlust in seinen Absichten durcheinandergebracht und die Eroberung der Neuen Welt verdüstert hat, übernimmt er am Ende des ersten Gesangs wieder die volle Kontrolle und hat die Absicht, der Semiosphäre der Alten Welt die ersehnte ‘gloire’ zukommen zu lassen. Nachdem Kolumbus direkt nach seiner Befreiung keine aktive Motivation mehr gezeigt hat und sich von den Verantwortlichen des Königs eher passiv nach Palos hat bringen lassen,581 ist er dann, als er das Schiff vor seiner Mannschaft in Richtung Neue Welt lenken soll, (nach außen hin) wieder vollends der große Held: «devant ses soldats, il reprend sa grandeur | Et paraît à leurs yeux dans toute sa splendeur» (NM I.15). Im Rahmen der Überfahrt führt er die Spanier selbstbewusst an.582 Selbst als die Matrosen auf der langen Überfahrt beginnen, das Unternehmen zu bereuen und vom geplanten räumlichen Verbinden der

fortuné», «Clémence voit de près un combat si terrible» (jeweils NM I.12), «Au couple spectateur» (NM I.13) usw. 579 Vgl. «L’un du Tage parti, l’autre de la Tamise» (NM I.13). 580 Vgl. «Combattent, furieux, sur les flots mutinés» (NM I.12). 581 Vgl. «il se laisse conduire» (NM I.15). 582 Es handelt sich um einen Chronotopos, an dem der ganze Ausläufer der Semiosphäre der Alten Welt beteiligt ist. Vgl. u. a. NM I.19 (chant II): «Colomb, qui des humains semble excéder la sphère, | Et respirer loin d’eux dans un autre atmosphère»; NM I.20: «Il conduit ses guerriers, comme un Dieu tutélaire». Das tut er auch, als ein Schiff bei Madeira Schiffbruch erleidet, vgl. «il poursuit ses projets, | Surmonte les dangers & hâte les succès» (NM I.22). Seine Soldaten sind zu Beginn ebenso motiviert, vgl. «Ces guerriers empressés de découvrir des mondes» (NM I.20).

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beiden Welten ablassen wollen,583 erfüllt Kolumbus seine öffentliche Rolle als Vertreter Isabellas. Er argumentiert vor den Mitstreitern für die Existenz der Anderen Welt584 und kann den Attentatsversuch eines Matrosen, den Valverde aufgewiegelt hat, durch seine rhetorischen Fähigkeiten sofort beenden.585 So gelingt es ihm durch seinen Führungsstil, innerhalb der eigenwilligen Semiosphäre der Alten Welt für Ordnung zu sorgen und seine Gegner auszubremsen.586 Dabei kann er dem widerspenstigen Verhalten der meuternden Spanier sogar noch Positives abgewinnen: «Alors des Castillans le zèle impétueux | Bénit avec transport leur Chef majestueux» (NM I.31). Parallel zu diesem epischen Hauptgeschehen kommt es bei der Überfahrt nun zu zwei Isolationen (des Typs 1a, vgl. oben), in denen sich Kolumbus an einen versteckt gelegenen Schauplatz zurückzieht. Einmal (Isolation 2a) aufgrund der quälenden Gedanken an Isaure während der Überfahrt selbst, wo Kolumbus (entgegen der zuvor konstatierten allgemeinen Bewegungsrichtung)587 plötzlich Halt macht: sur la poupe un moment immobile, Tourne vers le rivage un œil fixe & tranquille, Y cherche son Amante [...] Il se cache, & dans l’ombre en secret il médite Mais il voit dans le fond du réduit qu’il habite | Un Portrait suspendu [...] (NM I.20 f., chant II, Hervorh. G.J.K.)

Ein weiteres Mal zieht er sich aufgrund seiner Gedanken an die ihm nachstellenden Spanier kurz vor der Landung zurück (Isolation 2b): Il voit en gémissant que, de son sang avides, Tous forment contre lui des complots homicides ; Leur présence est terrible ; & loin d’eux enfermé, Seul avec ses douleurs [...] (NM I.24, chant II)

583 Vgl. «Que faisons-nous ici ? [...] | Pourquoi [...] | [...] tenter follement de réunir des Mondes | Que le suprême Auteur divisa par les ondes ?» (NM I.28, chant II). 584 Vgl. «Pourquoi vous obstiner, ignorans ou pervers, | A dire qu’il n’est rien au-delà de ces mers ?» (NM I.29). 585 Vgl. NM I.26: «Il voit, près de son lit, un indigne assassin | Lever un fer mortel, pour lui percer le sein ; | Et dit avec pitié plutôt qu’avec colère : | ‹Repens-toi, malheureux, tu veux frapper ton père›. | Ce calme du Héros, qui craint si peu la mort, | Du jeune Meurtrier déconcertant l’effort ; | Colomb lui dit : ‹Ami, tu n’es pas fait au crime ; | Tu veux m’assassiner, & tu crains ta victime : | Tu voulais abuser de l’instant du sommeil, | Tombe à mes pieds, jeune homme, & tremble à mon reveil›». 586 Vgl. NM I.31: «Tous observent, frappés de respect & de crainte, | Ce Héros qui brava la menace & la plainte». 587 Vgl. NM I.20: «Ils s’avancent».

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In beiden Fällen ist der Schauplatz von ambiger Dunkelheit gekennzeichnet, wie man es zuvor schon bei der wechselnden Zuschreibung ‘Turmgefängnis vs. Palast’ beobachten konnte.588 Einerseits ermöglicht ihm «la paix de sa retraite obscure» (NM I.21) die nötige Ruhe, um als Privatmann das für ihn emotional Wichtige aufzuarbeiten. Das positive Gefühl der Hoffnung verbindet sich mit dem Schauplatz, als Kolumbus in seiner abgelegenen Kajüte plötzlich eine «heureuse peinture» erblickt, ein Bildnis Isaures, das auf wundersame Weise dort angebracht worden ist.589 Andererseits ist er auch direkt emotionalen Leiden ausgesetzt, die ihn zentrifugal weg von der Neuen Welt treiben, wenn er z. B. den Wunsch formuliert, sterben zu wollen, um bei seiner totgeglaubten Geliebten zu sein.590 Das Dilemma der Liebesgeschichte verstärkt Kolumbus’ wachsende Distanzierung vom ‘gloire’-Streben und verdoppelt die sich entwickelnde Dichotomie ‘gloire’ vs. ‘humanité’. Isaure hatte bei ihrem ‘humanitas’-geleiteten Besuch im Gefängnis mehreren Insassen Hilfe zukommen lassen wollen und nur deswegen bei Kolumbus besonders oft Halt gemacht, weil sie von seinem ‘gloire’Streben, der stoischen ‘hilaritas’, «[de c]e front mâle, & serein dans l’horreur des cachots, | Où respire le cœur d’un homme & d’un Héros»(NM I.7) fasziniert war.591 Andererseits hatte ja genau Kolumbus’ ruhmbedachtes Festhalten an seiner öffentlichen Funktion vorerst ein Erfüllen ihrer Liebe verhindert. Kolumbus selbst erscheint mehr und mehr hin- und hergerissen in seiner Personalunion zwischen den Polen ‘privat’ und ‘öffentlich’. Der bisher analysierte ‘Musterkoffer’ der ersten Isolationen demonstriert unseres Erachtens bereits die eigentümliche Machart des Epos. Auf das ‘klassische’ epische Genus (mit seinem ‘stoischen’ Helden) projiziert Lesuire den empfindsamen Roman. Entgegen etwa der Romantheorie des Friedrich Christian von Blanckenburg von 1774, wo eindeutig zwischen Epos und Roman unterschieden wird, indem die «öffentlichen Taten des epischen Helden und d[ie] Empfindungen des Helden im Roman»592 gegenübergestellt werden, findet sich

588 Diese hier punktuell konstatierte ambige Raumzuschreibung ist nicht nur für diesen einen Schauplatz bezeichnend. Wenig später wird der Raum auch bei der Landung auf Hispaniola durch seine Ambiguität bestimmt; die gesamte globale Raumkonstruktion zeichnet sich durch das ‘ambige Öffnen des Raumes’ aus. 589 Vgl. «Il conçoit quelque espoir, dont l’éclat incertain | Sourit à ses regards & disparaît soudain» (NM I.21). 590 Vgl. «tu m’as dévancé dans la nuit du trépas : | Je brûle, objet chéri, d’y voler sur tes pas» (NM I.21). 591 Am Ende des Epos verstärkt Isaure diesen hier nur anklingenden Umstand: «J’admirais ta grandeur, ouvrage de tes mains ! | Mais, de ta gloire enfin ton Isaure est jalouse ; | Et je veux me parer du nom de ton épouse | [...] | A ta gloire, à tes maux je veux m’associer» (NM II.174). 592 Peter U. Hohendahl: Der europäische Roman der Empfindsamkeit, S. 9 f.

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bei Lesuire quasi die Überblendung beider Genera.593 Er steht mit Blick auf die Machart seines Epos seinem besser erforschten Zeitgenossen Marmontel bzw. Nachfolger Chateaubriand in nichts nach, mit Blick auf deren Texte Roulin von einer ‘romanisation’ des Epos gesprochen hatte: «La dimension romanesque [...] maintient un dialogue avec l’épopée, tout en remettant en cause la construction héroïque que cette forme propose. Elle touche l’équilibre entre la représentation du collectif et celle du privé».594 Schon die ersten Isolationen legen hierbei den Grundstein für Kolumbus’ Entwicklung hin zu einem «von korporativen und staatlichen Bindungen gelöste[n] Individuum»595 und seiner zunehmenden Abspaltung vom ‘profanum vulgus’, die wir zu Beginn des Kapitels aus dem Gespräch zwischen Kolumbus und seiner ‘Spiegelfigur’, dem Alten Weisen von Eleuthere (zu Beginn der zweiten Eposhälfte), herausdestilliert haben und wo wir es mit der von Baasner für den empfindsamen Roman konstatierten «Abgrenzung der empfindsamen Seelen gegenüber den normalen Sterblichen»596 zu tun haben. In Isolation 2b kommt es ferner zum ersten Mal zu einem phänotypischen Bemerkbarmachen der Heterogenität der Semiosphäre der Alten Welt, der genotypisch zugrunde liegenden abstoßenden Pole ‘Kolumbus vs. Valverde’. Durch die Wiedergabe der Rede des Valverde (auf metadiegetischer Ebene) innerhalb der Rede des Attentäters wird der zugrunde liegende Antagonismus erstmals spürbar. Auch wenn die Meuterei glimpflich ausgeht, provoziert sie bei Kolumbus doch eine Vision, die an den eingespielten Chronotopos des Kampfes zwischen dem englischen und dem portugiesischen Schiff in Isolation 1 anknüpft. Erneut haben wir es mit einem projizierten Chronotopos zu tun, diesmal im Gewand eines hypothetischen (Alb-)Traums.597 Die in den anderen Epen als Licht Gottes oder als rationale Aufklärung gedeutete Lichtmetapher598 wird bei Lesuire mit

593 Im Sinne Luserkes «all literary genres embraced sentimentalism; it became the height of fashion» (Matthias Luserke: Sentimentalism/Sturm und Drang, n.p.). 594 Jean-Marie Roulin: La ‘romanisation’ du héros dans l’épopée du tournant des Lumières, S. 269. Lesuires Kolumbus ist – genauso wie die Heldenfiguren in Chateaubriands Martyrs oder Marmontels Incas, auf die sich Roulin im folgenden Zitat bezieht – nicht mehr der klassisch epische, öffentliche Held: «L’Histoire n’est plus l’apanage des rois ou des capitaines, mais elle doit être comprise à travers l’action de personnages privés, qui en deviennent non seulement les acteurs, mais aussi les victimes dans le sens où les mouvements historiques sont représentés comme ayant une action jusque dans la sphère privée» (ebda., S. 269). 595 Peter U. Hohendahl: Der europäische Roman der Empfindsamkeit, S. 9. 596 Frank Baasner: Der Begriff ‘sensibilité’ im 18. Jahrhundert, S. 298. 597 Vgl. «Des songes enfantés par ses tourmens secrets | Prolongent sur son lit ses chagrins inquiets» (NM I.24). 598 Besonders in dem Bild unmittelbar vor der Landung, vgl. Kap. 2.3.4 (zu Peramás) und Kap. 2.3.3 (zu Laureau).

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dem Höllenlicht in Verbindung gebracht: «Il voit dans l’avenir d’effrayantes lumières, | Un pénible sommeil lui fermant les paupières» (NM I.24). Kolumbus sieht ein Monster aus der Hölle steigen, dessen «clarté lugubre» das Meer erhellt und das – mit je einem Fuß auf der Alten und der Neuen Welt stehend – brüllt: ‹Je triomphe [...] De la paix à jamais les bornes sont détruites ; Entre deux Continens, mes triomphantes mains Vont, au gré de mes vœux, écraser les humains ; La mer les sépara vainement par ses ondes ; Un vaste embrasement a rejoint les deux Mondes.› (NM I.25)

Dem genuesischen Helden – der in der Haupthandlung (d. h. im allen Spaniern gemeinsamen, ‘offenen’ Chronotopos) für das Vereinen der Welten eintritt – wird hier (im ‘versteckten’ Chronotopos) die entgegengesetzte, negativ valorisierte Sicht auf das Verbinden der beiden Welten nahegelegt, zumal ein scheußliches Monster aus der Hölle für das Vereinen der Welten plädiert. Für den bisher behandelten expositorischen Abschnitt (vor der ersten Landung) muss konstatiert werden, dass die quantitativ geringen Anspielungen auf die ‘Légende noire’ stets in projizierte, hypothetische Räume verlagert werden. Zudem werden sie stets über einen Filter (d. h. die interne Fokalisierung des Kolumbus) eingespielt. Bei der Landung auf Hispaniola wird diese Technik direkt ein weiteres Mal angewandt, als Kolumbus plötzlich eine Eingebung hat:599 «En touchant le rivage, [il] est frappé de tristesse. | Il croit voir sur le bord des flots de sang couler, | Et la Terre en courroux sous ses pieds s’écrouler» (NM I.34, chant III, Hervorh. G.J.K.).600

599 Er zeigt sich im Gegensatz zu den anderen führenden Spaniern – dem das Kreuz vorantragendem Las Casas und dem die spanische Flagge tragenden Dortiz – gehemmt. Während die anderen Matrosen gottesdienstliche Handlungen durchführen, nimmt Kolumbus an diesen gerade nicht teil, sondern hat einen Tagtraum, der ihn kurz aus dem chronotopischen Hauptgeschehen reißt. Vgl. das zweifache Wiederholen des adversativen ‘mais’ in NM I.34 (Hervorh. G.J.K.): «Mais, le remords dans l’ame, il [...] | S’empare avec effroi du nouvel Hémisphère» und «Mais Colomb dédaignant ces scènes d’alégresse, | En touchant le rivage, est frappé de tristesse». 600 Diese Eingebung wird dann beim Verlassen der Neuen Welt (in Form einer Ringkomposition) wiederaufgenommen: nur diesmal mit Bezug auf wohl in Zukunft noch kommenden Greueltaten: «Il se peint les horreurs par l’Espagne exercées, | Du sang de leurs enfans ces terres engraissées» (NM II.100).

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Doppelte Raummodellierung: intra- und intersemiosphärischer Kontakt Überblickt man den gesamten Bereich der Ereignisregion des Epos, in dem es zum unmittelbaren Kontakt zwischen der Alten und der Neuen Welt kommt, lässt sich dieser in Hispaniola, Mexiko und Peru unterteilen.601 Hispaniola, Mexiko und Peru bilden je eine eigene kleine Semiosphäre der Neuen Welt (innerhalb der Großsemiosphäre) mit eigenen Gesetzen, sodass der intersemiosphärische Kontakt und das Ausagieren der Welten an jedem der drei Teile der Ereignisregion anders ausfällt. Parallel dazu haben wir es mit zunehmenden intrasemiosphärischen Spannungen zu tun, sodass sich eine sich gegenseitig bedingende, doppelte Raummodellierung ergibt. Hispaniola 1 (Kolumbus’ Personalunion: Anführer und Grenzgänger) Der Chronologie entsprechend beginnt unser Durchzug mit Hispaniola. Die spanische Semiosphäre ist hier gekennzeichnet von der im ‘Musterkoffer’ offengelegten ambigen Personalunion des Kolumbus als äußerlich führender Teil der spanischen Semiosphäre auf der einen Seite und seiner beginnenden Isolation als Grenzgänger auf der anderen Seite. Die intersemiosphärische Auseinandersetzung findet ganz klassisch im bekannten Modus Lotman’scher Natur statt: Räumlich relativ fixiert kommt es zu einem Ausagieren der Semiosphären der Alten und der Neuen Welt im Bereich der ‘Pufferzone’ des Strandes, während Kolumbus als Grenzgänger im Rahmen seiner Isolationen als Einziger tiefer ins Landesinnere vordringen kann. Kolumbus ist bei der Landung Teil der Semiosphäre, er verkörpert sie nach außen «comme un Dieu» (NM I.34). Voll zufrieden erscheint er wieder als stoisch-epischer Held: «‹Mon projet est rempli, la Terre va paraître. | Dit-il :› &, dans un calme immuable & serein, | Il attend les rayons du jour déjà voisin» (NM I.31). Vonseiten der spanischen Semiosphäre kommt es sofort nach der Landung zu einem prompten Annähern an die Ureinwohner;602 ebenso zügig fliehen diese in den Wald.603 Dass es sich hierbei um den Kern ihrer

601 Wenngleich in Marmontels Roman Peru im Mittelpunkt gestanden hatte, hatte er in seiner ‘Préface’ (INC 19) die Ereignisregion des unmittelbaren Kontakts in eben diese drei Teile geschieden (wovon sich Lesuire womöglich hat inspirieren lassen): «quand on a lu ce qui s’est passé dans l’île espagnole, on sait ce qui s’est pratiqué dans toutes les îles du Golfe ; sur les côtes qui l’environnent, à Mexique, et dans le Pérou». 602 Vgl. «pour gagner son hommage [sc. celui du peuple indigène; G.J.K.] | Les Castillans en pompe abordent au rivage» (NM I.33). 603 Vgl. «Ce peuple épouvanté, n’osant les voir de près, | Loin de ces Dieux tonnans fuit au sein des forêts» (NM I.33).

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Semiosphäre handelt, wird im Verlauf des Textes mehrfach herausgestrichen.604 Erst als die Ureinwohner zögerliche Annäherungsversuche wagen,605 kann es in der Randzone zum Ausagieren der Semiosphären kommen. Kolumbus initiiert ein friedliches Zusammenstoßen,606 die Ureinwohner bringen ihrerseits Geschenke und v. a. die Frauen gewähren den Spaniern einen «doux accueil» (NM I.35):607 Alles Handeln hat sich dabei in die Pufferzone verlagert. Die ‘Überlegenheit’ der Semiosphäre der Alten Welt äußert sich jedoch im Anbieten billiger Objekte (etwa Glassplitter) als Tauschgeschenke, um so an das gewünschte Gold zu kommen und die aufflammende «soif des trésors» (NM I.36) zu stillen. Es treten dabei negative Adjektive (Valorisierungen) zu den bisher schlicht als «ces Etrangers» (NM I.35) bezeichneten Spaniern auf dem Neuen Kontinent hinzu: Sie werden zu «ces Etrangers pervers», «ces séducteurs» oder «fiers Européens», mit einem «penchant fanatique» (NM I.36). Die Veränderung macht sich auch bei der Beschreibung des Raums bemerkbar: Aus den neutralen «ces lieux» (NM I.35) werden «ces malheureux bords» (NM I.36). Stück für Stück kann sich die Semiosphäre der Alten Welt ihren Weg vorwärts bahnen; die naiven Ureinwohner führen die goldinteressierten Spanier schließlich aus Freundlichkeit in Richtung ihres Kerns, zu ihren Goldminen.608 Als es dort zum ersten Blutvergießen kommt,609 verstärkt sich die negative Aufladung des Raumes erneut: Es ist nunmehr die Rede von «ces lieux désolés» (NM I.46). Anders als etwa in Peramás’ Kolumbus-Epos bedarf es keiner ‘Eroberung’ strictu sensu oder einer langwierigen Vorbereitung,610 die Semiosphäre der Neuen Welt wird schlicht überrannt. Die Chronotopoi der Ureinwohner in der Pufferzone ‘verpuffen’, sie werden durch die Chronotopoi der Spanier völlig neutralisiert: In NM I.49 versuchen sie, auf die kulturell für sie eigene Weise den Spaniern durch

604 In diesem geschützten Raum führen die Ureinwohner die Befragung ihrer Götter durch; dorthin fliehen sie später, als es zu den ersten Kämpfen mit den Spaniern gekommen ist (vgl. NM I.49). Auch der im Zweikampf von Kolumbus besiegte Kazike zieht sich «dans le fond des forêts» (NM I.54) zurück, um dort neue Truppen zu formieren. Sprachlich wird der Umstand, dass nur die Ureinwohner Zugang zu den Tiefen des Waldes haben, durch die Setzung des Possessivums klargemacht (vgl. «leurs forêts», NM I.35, Hervorh. G.J.K.). 605 Vgl. NM I.35. 606 Vgl. «Le Héros accueillant ces faibles insulaires, | Sait bannir d’un coup-d’œil leurs craintes» (NM I.35). 607 Vgl. «Chacun vient déposer ses timides tributs. | Les Grands de ces climats, les Souverains eux-mêmes | Rendent aux Castillans des hommages suprêmes» (NM I.35). 608 Vgl. «il [sc. le peuple simple & doux; G.J.K.] les conduit en pompe au sein des mines d’or» (NM I.42). 609 Vgl. «O premier sang versé dans ce climat funeste» (NM I.43). 610 Vgl. die ‘Arche Kolumbus’ in Kap. 2.3.4.2.2.

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lautes Klopfen und Schreien Angst einzuflößen – dies wird durch Kanonenschüsse einfach übertönt. Ihre kulturell gut ausgebildete Art des Nahkampfes versagt beim Aufeinanderprallen mit den Spaniern: Denn durch die Distanz zum Körper des Gegners werden die Ureinwohner zu Kanonenfutter.611 Später versuchen sie, ihren kulturell bedingten Vorteil der Kenntnis der Gegend auszuspielen und wollen die Gegner in einem nächtlichen Angriff überrennen, werden dabei allerdings von der ihnen unbekannten Taktik stets wechselnder Nachtwachen überrascht und müssen ihr Heil in der Flucht suchen.612 Die Spanier können etwas weiter ins Inselinnere vordringen, allen voran Ojéda, der ihnen «dans les forêts» (NM I.49) folgt und etliche Ureinwohner niedermetzelt. So sind zwischenzeitlich aus den eingangs neutralen «ces lieux» (NM I.35) zuerst «ces malheureux bords» (NM I.36), dann «ces lieux désolés» (NM I.46) und schließlich «ces déserts sanglans» (NM I.50) geworden. Wir haben es hier mit einer für Lesuires Schreiben allgemein typischen (wenngleich hinsichtlich seiner stilistischen Qualität vielleicht nicht unfragwürdigen) Technik zu tun: Der konkrete Schauplatz bleibt – genauso wie die Ereignisregion insgesamt – trotz mannigfacher Verweise auf die Örtlichkeiten sehr vage. So wurde auch hier bei der entscheidenden ersten Landung bis dato nicht einmal herausgestellt, wo genau die Spanier überhaupt gelandet sind. Durch eine stete Verwendung der Hic-et-nunc-Deixis gesellt sich jedoch dem Raumbegriff immer ein Demonstrativbegleiter hinzu, vgl. u. a.: «ce rivage» (NM I.33), «ce monde sauvage» oder «ces sauvages lieux» (NM I.34).613 Diese Wahrnehmung des umgebenden Raumes immer aus dem unmittelbaren Hier und Jetzt macht ihn zum Spiegel positiver wie negativer Handlungen, es kommt zum atmosphärischen Aufladen der Topographie des Schauplatzes ganz konkret je nach dem, was gerade die Chronotopik kennzeichnet. Während es in der Pufferzone nun also zum Überlisten und Besiegen der Ureinwohner kommt und sich der Blick auf den Raum dabei genau einmal (ins Negative) wandelt, haben wir es bei Kolumbus’ erstem Grenzgängertum in der Neuen Welt mit einer überproportionalen Verwendung und speziellen Funktionalisierung dieser Technik zu tun. Auf engstem Raum wechselt stets die örtliche Valorisierung und reflektiert so die ersten Schritte des Grenzgängers und dessen spezielles Erleben dieses Teils der Ereignisregion. Kolumbus nimmt sich in Anbetracht der miterlebten ersten bedenkenswürdigen Handlungen eine selbst-

611 Vgl. «l’ennemi, loin de lui» und «[ils v]iennent s’offrir en foule aux coups des Castillans» (NM I.49). 612 Vgl. NM I.56. 613 Vgl. «ces lieux» (NM I.35, 58), «ces climats» (NM I.35), «ce séjour» (NM I.37), «cette rive étrangère» (NM I.37).

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gewählte Auszeit (Isolation des Typs 1a) und betrachtet die Natur.614 Anders als in anderen aufklärerischen Epen der Zeit wird hier nur eine knappe Beschreibung des Raums gegeben – oder genauer: eine Reihe einzelner nicht enzyklopädisch strukturierter, sondern weitgehend zusammenhanglos aneinandergereihter Produkte.615 Von Bedeutung ist lediglich, dass Kolumbus verglichen mit dem Rest seiner Semiosphäre eine andere Einstellung aufweist. Ihn treibt der Wille an, sich auf die neue Gegend einzulassen, wo doch die Spanier nur damit beschäftigt sind, inmitten des unbekannten Naturraums ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen, etwa ihren Durst: «Hélas! Ils ont quitté le sein de leur patrie, | [...] | Pour venir se traîner sur ces bords dangereux, | Où l’eau d’un ruisseau pur est un trésor pour eux» (NM I.37, Hervorh. G.J.K.). Während Kolumbus’ Faszination an der stark von der eigenen abweichenden Welt beschrieben wird,616 erhält der ihn umgebende Raum die Zuschreibung «ces beaux lieux» (NM I.38), wenngleich es sich doch immer noch um dieselben «bords dangereux» (s. den Fettdruck oben) handelt. Aufgrund dieser andersgelagerten Einstellung ist es Kolumbus möglich, tiefer ins Inselinnere vorzudringen.617 Mit zunehmender Nähe zum Kern verändert sich die Beschaffenheit der Semiosphäre der Neuen Welt, die hier von «des mortels plus sauvages» (NM I.38) bewohnt wird, «[qui a]vec les animaux disput[e]nt l’aliment». Beim Anblick dieser Menschen scheint sogar Kolumbus an seine Grenzen zu stoßen: Ähnlich wie für die Spanier zuvor verwandelt sich die Gegend in seinen Augen zu «ces lieux déplorables» (NM I.39). Der verklärte Blick auf die ihn umgebende Natur neutralisiert diese kurzzeitig negative Einschätzung sofort wieder und Kolumbus’ Affinität zu ihrer eigentümlichen Schönheit – deren Ursprüngen er in Isolation 5 auf den Grund gehen wird – wird über knapp 20 Verse ausführlich nachgezeichnet, vgl. insbesondere: Il voyait la Nature agreste & solitaire, Plus pure, en sa fraîcheur, que dans notre hémisphère, Rayonner à ses yeux, & réjouir son cœur Par le luxe abondant de sa jeune vigueur. Plus que dans nos climats elle semble récente, Et montre, vierge encor, une beauté naissante.

614 Vgl. NM I.37 f. 615 Vgl. NM I.37: «le Héros considère | Tous les dons que produit cette rive étrangère». 616 Vgl. «Tout s’éloigne, il est vrai, de nous & de nos mœurs», die Verben, considérer’,, examiner’; ferner: «Tant les hommes par-tout, instruits de leur devoir, | Savent, pour être heureux, tout ce qu’il faut savoir» (NM I.38). 617 Nämlich in den Kern der Semiosphäre: «Dans l’épaisseur des bois, fuyant loin des rivages» (NM I.38).

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Die Freude an der Natur (vgl. «réjouir») verbindet sich in Kolumbus’ unmittelbar folgendem Monolog mit dem Gefühl des Stolzes und Glücks: «Les voilà donc ces bords que j’avais soupçonnés» – um gleich darauf (in Erinnerung an seine geliebte Clémence Isaure) wieder in Horror umzuschlagen: «Je l’ai trouvé, ce monde, où l’ennui me tourmente ; | Et, pour jamais, hélas! j’ai perdu mon Amante !» (jeweils NM I.39). Schon kann Kolumbus in der eben noch derart blühenden Natur nur noch «ce désert sauvage» erkennen; ein Gefühl der Reue stellt sich ein, sein Stolz wird völlig unterminiert: «O triste découverte ! ô regrets superflus ! | Que m’importent ces bords, si Clémence n’est plus ? | [...] Elle anime pour moi ce monde où je respire» (jeweils NM I.40). Kaum hat Kolumbus diese Gefühle verbalisiert, sieht er ein verliebtes Ureinwohner-Pärchen, in dem sich wie in einer ‘Mise en abyme’ seine eigenen Gefühle zu Isaure spiegeln: Durch die Freude, die der junge Ureinwohner an seiner Ureinwohnerin (namens Olinna) hat, kann er sich – im Gegensatz zu Kolumbus – auch an der Welt erfreuen618 und apostrophiert seine Holde mit den Worten «le monde pour toi s’anime & se décore», welche eindeutig die oben zitierte Passage aus Kolumbus’ Monolog an Isaure aufgreifen (s. den Fettdruck). Im Kontakt mit den Bewohnern der Neuen Welt, die ja eigentlich (auf der Ebene der epischen Haupthandlung) zum Unterwerfen freigegeben sind,619 kommt Kolumbus als Privatmann zum Reflektieren und Aufarbeiten der eigenen Probleme und zur Suche nach dem persönlichen Glück. Kolumbus’ dritte Isolation ist bestimmt von den aus den Romanen der Zeit bekannten «Symptomen der Weltflucht, Naturschwärmerei und emotionalen Selbsterregung»;620 wenngleich es hier zu Beginn des Kontakts mit der Neuen Welt noch bei einem schüchternen, einseitig von Kolumbus ausgehenden (d. h. voyeuristischen) Blickkontakt bleibt.621 Die eingespielte Episode um das Ureinwohnerpaar verstärkt schließlich ein letztes Mal die schwankende Raumvalorisierung. Ausgehend von der Positivierung des Naturraums, der sich für seine Freundin positiv dekoriere, erinnert der Indigene sie an diverse Horror-Vorzeichen, von denen er gehört hat.622 Sein Bericht von der fremden Macht, die auf der Insel anlegt, verwandelt letztere zu 618 Vgl. u. a. «ces palmiers si beaux» (NM I.40). 619 So befindet sich auch das Paar selbst in Angst vor dem drohenden Unheil der unbekannten Fremden, die auf der Insel gelandet sind, vgl. «Mais vois-tu quel nuage étincelant d’éclairs | Du fond de l’Orient s’avance dans les airs ? | Quels sont ces Etrangers d’un abord si funeste ?» (NM I.40). 620 Peter U. Hohendahl: Der europäische Roman der Empfindsamkeit, S. 12. 621 Anders in der Isolation 7, wo Kolumbus mit einem Ureinwohner-Pärchen (nämlich Zilna und Tindal) in unmittelbarem Kontakt steht und deren Hochzeit leitet. 622 Vgl. «Que de maux annoncés par de cruels présages ! | Il pleut du sang, dit-on, sur nos tristes rivages» (NM I.40).

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«nos tristes rivages», bis er seine Geliebte in einem erneuten Umschwung dazu aufruft, inmitten des Unglücks der Menschheit das persönliche Glück zu finden: «Ecartons, Olinna, ces augures funèbres, | [...] | Viens ; pleurer avec toi, c’est être heureux sans doute. | [...] | Dans l’ame à la fois attristés & sereins, | Ils sentent leur bonheur & les maux des humains» (NM I.41). Auf engstem Raum können wir in Isolation 3 (der ersten Isolation in der Ereignisregion der Neuen Welt) ein Wechselbad der Gefühle miterleben, das verschiedene aus den vorigen Isolationen bekannte (und dort punktuell eingesetzte) Elemente kombiniert. Neu hinzu kommt Kolumbus’ besondere Naturverbundenheit und sein Interesse an der Abstammungstheorie sowie an den Ursachen für die ‘Neuheit’ der ihm unbekannten Welt, das wiederum den Grundstein legt für Kolumbus’ weitere Isolationen vom Typ 1a und insbesondere Isolation 5. Erneut vom Typ 1a (‘selbstgewählte Auszeit des psychisch sensiblen Kolumbus’) ist daraufhin Isolation 4. Zunächst agiert Kolumbus als prototypischer Teil der Semiosphäre der Alten Welt und drängt mit den Spaniern die Ureinwohner nach ihrem gescheiterten Angriff in Richtung ihres Kerns zurück. Kolumbus wird als derjenige ‘Spanier’ inszeniert, der am stärksten angetrieben wird vom rachegeleiteten ‘furor’, vom ‘gloire’-Streben und dem Ausdehnen der Macht der spanischen Krone. Just in dem Moment, als Kolumbus als letztverbliebener Kämpfer weiter in Richtung des Kerns der Semiosphäre der Neuen Welt vorgedrungen ist, während sich seine Kollegen schon in ihr Lager, d. h. in die Pufferregion des Strands zurückgezogen hatten,623 übermannt ihn unvermittelt das Gefühl der Reue und er zieht sich zurück. Den Rückzugsort bildet erneut ein von Dunkelheit gekennzeichneter Raum, eine zufällig vorgefundene Höhle.624 Anstelle des in Isolation 3 in extenso ausgestalteten Durchspielens innerer Gefühlswelten ergibt sich für Kolumbus hier ein dreifacher Teufelskreis aus Morden und anschließender Reue. Durch einen unglücklichen Zufall befindet sich nämlich auch – von Kolumbus unbemerkt – ein Ureinwohner in der Höhle. Letzterer verlässt sie und berät sich mit dem führenden Kaziken, was zum Beschluss führt, Kolumbus auszuräuchern und mithilfe einer geraubten spanischen Schusswaffe

623 Vgl. NM I.50 f. (Hervorh. G.J.K.): «Le Héros, entraîné par le feu du courage, | Poursuit ceux que la fuite a soustraits au carnage, | Tandis que, dans le camp [sc. in der Pufferregion; G.J.K.] ses indignes guerriers | Vont déposer sans lui leurs glaives meurtriers ; | Et bientôt il est seul à chasser une armée, | Proie indigne de lui, qui s’enfuit alarmée. | Mais il observe enfin, sur ces déserts sanglans, | L’effroi de ces mortels dispersés & tremblans. | La pitié dans son ame à la fureur succède. | Il plaint ce vain troupeau qui s’enfuit | ‹Ah ! qu’ils vivent, dit-il ; plus vertueux que nous, | Avaient-ils mérité de périr sous nos coups ?›». 624 Vgl. NM I.51: «découvrant un antre solitaire, | Il va se reposer dans son sein tutélaire», «l’ombre de ces lieux».

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umzubringen. Der seinen aktiven Angriff auf die Ureinwohner beklagende, reuevolle Kolumbus ist plötzlich ungewollt zu passiv-defensiven Verteidigungsreaktionen gezwungen.625 Er kann sich durch Herbeirufen seines Bluthunds und seines Pferds gegen die Masse der Ureinwohner durchsetzen, die zwar auf den Effekt der Schusswaffe gesetzt, deren Handhabung aber nicht durchschaut haben. Kolumbus – schon jetzt angesichts der auf ihn zurückgehenden, zahlreichen bluttriefenden Leichen völlig überwältigt626 – muss sich gleich darauf gegen erneute Angriffe eines patagonischen Riesen erwehren, der als «des Indiens [...] le défenseur»627 auftritt. Das inhaltliche Trikolon ist komplettiert, als Kolumbus hiernach zum dritten Mal einen sentimentalen Zusammenbruch erleidet: «Il se retire alors frémissant de sa gloire | Honteux de sa valeur, & pleurant sa victoire» (NM I.54). Festzuhalten bleibt, dass Kolumbus in Hispaniola nach außen hin (das ist der für alle Figuren erkennbare Phänotyp) als Agens der Semiosphäre der Alten Welt fungiert und klar das für die Spanier typische ‘gloire’-Streben teilt. Auch textuell wird diese Lesart transportiert, findet sich hier z. B. der Sammelbegriff «Les Espagnols»,628 der den Genuesen miteinschließt. Die Chronotopik der Isolationen 3 und 4, bei denen er weiter in Richtung der Semiosphäre der Neuen Welt vordringt als alle Anderen, zeigt ihn jeweils in seinem privaten Handeln und weist seinen zugrunde liegenden Genotyp aus: In Isolation 3 wird temporär seine schwankende Haltung zur Eroberung der Neuen Welt offenbar, in Isolation 4 seine Reue über die Vorgänge, die er gar nicht mehr willentlich steuern kann, da sie bereits ein Eigenleben entwickeln (Stichwort: ‘Teufelskreis’). Durchweg gelingt es Kolumbus noch, im Chronotopos der Semiosphäre der Alten Welt seine Spanier zu kontrollieren und bremsend einzugreifen.629 Er schafft es, durch das Voraussagen einer Sonnenfinsternis sowohl seine eigenen eirenisch motivierten Intentionen durchzusetzen als auch die Überlegenheit der Spanier gegenüber den Ureinwohnern herbeizuführen (durch das Bestätigen ihres Status als ‘Kinder der Sonne’).630 Ob dessen ist Kolumbus beim Aufbruch von Hispaniola – wie

625 Vgl. «[Il r]épond à tant de coups par des coups plus terribles» (NM I.53). 626 Vgl. «Colomb voit à ses pieds ceux qu’ont frappé ses coups | Et marchant sur les morts & dans le sang des hommes, | Il gémit & s’écrie : «Ah ! monstres que nous sommes !» (NM I.53 f.). 627 NM I.54; ein «Atlas Américain» «né chez les Patagons» (NM I.54). 628 Z. B. NM I.60, chant IV. 629 Vgl. «[Colomb r]éprime l’Espagnol, répare ses forfaits ; | Et régit l’Indien sous un sceptre de paix» (NM I.46). 630 Vgl. «Il a fixé la paix dans son isle féconde» (NM I.75, chant VI). Dieser Friede spiegelt sich erneut im Raum: Der Himmel über Hispaniola hat ebenso harmonische Züge angenommen: «Le monde entier sembla plus brillant & plus pur | Tout nuage s’enfuit loin du céleste azur» (NM I.63, chant IV). Ein mögliches Rezidiv, das sich aus einem sich anbahnenden Streit über das Anbeten des richtigen Gottes-Symbols hätte ergeben können (‘Kreuz vs. Sonne’),

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schon bei seiner Landung – wieder «L’heureux Navigateur» (NM I.75, chant VI). Der epische Erzähler lässt es sich jedoch an dieser Stelle nicht nehmen, die Naivität und Kurzsichtigkeit des vorerst wieder glücklichen Kolumbus wiederholt anzusprechen.631 Mexiko (Verstärken der Dichotomie ‘Kolumbus vs. Valverde’) Im zweiten Teil der Ereignisregion nehmen sich die inter- wie intrasemiosphärischen Spannungen anders aus. In Hispaniola war es zu einem Aufeinanderprallen zweier kulturell stark divergierender Semiosphären gekommen, zuerst zu einem Ausagieren in der Pufferregion, schließlich zu einem gewissen Annähern der Spanier an den Kern der Semiosphäre der Neuen Welt. Kolumbus selbst konnte gegenüber seinen Leuten stets Stärke demonstrieren und die heterogene Semiosphäre unter seinen Ideologievorstellungen leiten. In Mexiko landet Kolumbus wieder gemeinsam632 mit dem Rest der Semiosphäre und ist durch seine Erfolge in Hispaniola in eine dauerhaft positive Gefühlslage versetzt.633 Anders als in Hispaniola kommt es zu einem sofortigen Neutralisieren von etwaigen intersemiosphärischen Spannungen, da sich die beiden Semiosphären als ähnlich strukturiert erkennen: Der mexikanische Teil der Ereignisregion ist «plus pompeux» (NM I.77), befindet sich kulturell auf Augenhöhe.634 Die erste Begegnung wird als ein reges Treiben beschrieben, das von beiden Seiten mit

kann Kolumbus durch einen rhetorischen Kompromiss aus dem Weg räumen (vgl. NM I.60–64). 631 Vgl. «Sans prévoir les maux où son projet l’expose, | L’heureux Navigateur à partir se dispose» (NM I.75); «Une vaine amitié qui doit trop peu durer» (NM I.64) und «Ces pactes proposés & si-tôt oubliés» (NM I.61). 632 Vgl. «Avec ses compagnons qui vont chercher des mondes, | Colomb quitte la rive» (NM I.76). 633 Erneut lässt sich beobachten, wie die einleitende Raumbeschreibung zum Spiegel seines Innenlebens wird. Es wird auf eine genaue topographische Verortung des importierten Orts Mexiko verzichtet und nur eine Reihe positiver Valorisierungen gegeben. Wie Kolumbus in seiner Naivität frei von belastenden Gedanken ist (vgl. «sans prévoir les maux où son projet l’expose», NM I.75), so strahlt auch die Natur der mexikanischen «lieux enchantés» (NM I.77) in seinen Augen überall Frieden aus: «il voit [...] | Des isles élever leurs paisibles forêts, | Recelant le repos sous leurs cimes fleuris», NM I.76). Kolumbus appelliert an seine Gefährten: «Jouissez du bonheur qu’il [sc. le séjour dans l’agréable nature; G.J.K.] fait naître pour vous» (NM I.76). Der Weg bis zur Landung wird zur synästhetischen Erfahrung voller Düfte und Wasserspiegelungen und zum Spiegel des Befindens des Helden (vgl. «Les odorans parfums qui s’exhalent des fleurs, | Surprenant l’Amiral, suspendent ses douleurs», NM I.76). 634 Vgl. «Ici règnent les Arts». Versierte mexikanische Künstler etwa umschwirren die Spanier und halten sofort die Landung der Fremden in Form von Zeichnungen fest.

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gleicher Stärke ausgeht.635 Recht unvermittelt kommt aktiv vonseiten der Mexikaner das Angebot, den kulturell interessanten fremden Anführer zu ihrem König zu führen: «Ils invitent Colomb de se rendre à leur cour» (NM I.78). Dieser Hof stellt den gesetzgebenden Nukleus der Semiosphäre dar; anstelle einer Beschreibung mexikanischer Gebäude oder Institutionen wird lediglich figurativ auf den globalen räumlichen Aufbau Mexikos verwiesen, in dessen Zentrum alle Stränge zusammenlaufen: «Des chemins élevés par d’étonnans efforts | Partent de vingt cités assises sur ses bords ; | Et viennent, au travers de l’eau claire & mobile, | Aboutir, de la rive, aux portes de la ville» (NM I.79). Diese topographische Beschreibung verbindet sich mit dem Bild eines einzelnen Machthabers, der im Zentrum unbemerkt die Stränge zieht:636 Tout annonce le centre où tout se vient unir, Et l’invisible main qui fait tout contenir. Si l’on peut comparer l’imperceptible atôme A l’immense contour que renferme un royaume ; (Ainsi que les humains, au souverain des Rois, Comparent ces mortels qui leur donnent des loix. Comme l’humble araignée ourdit sa sombre toile, Où tout fil rend vers elle, où sa noirceur se voile, Pour sucer à loisir, dans son champ limité, Le sang du faible insecte en son piège arrêté ; Ainsi l’art d’un despote agissait en silence Et de ce peuple esclave exprimait la substance. (NM I.78 f., Hervorh. G.J.K.)637

Das Vordringen der Semiosphäre der Alten Welt geschieht völlig problemlos ohne Gegenwehr oder Hindernisse: «le Chef & ses guerriers | S’avancent fièrement, montés sur leurs coursiers, | Au ton d’une musique éclatante & guerrière. | México sort de l’onde & s’ouvre toute entière» (NM I.79).638 Sie ist direkt mit vollen Machtmitteln ausgestattet, kann ihre Eigenarten ausleben, den Raum für sich

635 Vgl. «d’un soudain concours le Sage environné, | En étonnant la foule, est lui-même étonné». 636 Als Gegenpol zu dieser von einem Monarchen geleiteten, hierarchisch aufgebauten Stadt Mexiko wird am Ende von chant VII eine kurze Passage über Tlascala eingebaut, wohin Kolumbus und seine Leute fliehen. Dort herrscht eine Republik und die Ureinwohner begeistern sich nicht für die Spanier und deren ‘arts’, weswegen es hier nicht mehr zu einem sofortigen tiefen Eindringen und ‘Umpolen’ des Kerns kommt (was Kolumbus die dringend nötige Entspannungspause verschafft), vgl. «une république | Qui, bravant les Tyrans de ces vastes climats, | N’obéit qu’à soi-même, au sein de leurs Etats» (NM I.95). 637 Die Klammer, die in der fünften Zeile geöffnet wird, wird in der Textausgabe nie mehr geschlossen. 638 Vgl. «L’Amiral [...] | Vers le séjour des Rois s’avance avec grandeur» (NM I.78).

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vereinnahmen und gelangt unmittelbar ins Zentrum: «Ils s’avancent enfin jusqu’au brillant séjour» (NM I.80).639 Die gegenseitige Bewunderung ist groß, die Mexikaner begegnen den Spaniern mit Neugier und unterwürfiger Verehrung.640 Der mexikanische und der spanische Machthaber werden jeweils voller Bewunderung beschrieben, doch schließt sich an die Beschreibung des Mexikanerkönigs keine Kommentierung vonseiten der Spanier an. Dagegen folgt auf die des Kolumbus eine unmittelbare Reaktion des Mexikanerkönigs: «L’Empereur voit en lui son maître ou son égal». So wird Kolumbus – der sich derweil signifikanterweise «[a]u milieu du Palais» (jeweils NM I.81) befindet – langsam in seiner Machtposition herausgestellt und wenig später vom König als Überlegener gelobt,641 der seinerseits von Kolumbus’ «effort d’une étude profonde | D’avoir pu deviner & découvrir un Monde» (NM I.82) fasziniert ist.642 Dieses problemlose Vordringen bewirkt, dass die in die Schaltstelle Mexikos vorgedrungenen Elemente der spanischen Semiosphäre ihre Möglichkeiten voll entfalten können: Auf der einen Seite beginnt Kolumbus – durchweg freudig gestimmt643 – zügig mit der Erläuterung seiner Friedensbotschaft und zelebriert seine Überlegenheit u. a. anhand der Präsentation von «différens instrumens qu’inventa l’art humain» (NM I.82).644 Beim Besprechen diverser kultureller

639 Vgl. auch Stellen wie: «Les chiens, avec ardeur bondissant sur la plaine, | S’élancent à leur fuite, & remplissent les bois | Des sons retentissans de leurs bruyantes voix» (NM I.78) 640 Vgl. die Omnipräsenz des Verbums (bzw. deverbaler Derivationen des Verbums) ‘étonner’ in NM I.79 f. Vgl. zudem «On s’empresse de voir» und «l’encens à la main, rangé sur leur passage, | Chacun vient à genoux leur rendre son hommage» (NM I.80); die Mexikaner als «un peuple admirateur» (NM I.86) tun in der Folge alles «[p]our plaire aux Castillans» (NM I.87). 641 Vgl. «le Héros qu’il admire» (NM I.81). 642 Die Überlegenheit der Spanier gegenüber den Mexikanern findet sich auch bei Marmontel; der Alte Weise Pilpatoé hebt den Fleiß, die Klugheit sowie die Waffenkunst der Spanier hervor (vgl. INC 68, 77). 643 Vgl. «d’un calme inaltérable»; «D’un regard plus serein» (NM I.84). 644 Kurz darauf legt der Erzähler dar, wie Kolumbus die kulturellen Leistungen der Europäer beschreibt. Nicht zufällig geschieht dies stilistisch durch (die nicht nur in der Bibel positiv konnotierte Anzahl von) zwölf aufeinanderfolgende(n) Formen des ‘participe présent’. Pro Vers wird ein Partizip gesetzt. In der sich ergebenen Reihe (von technischen Geräten zur Weltvermessung, nautischen Kompetenzen, Waffen, Schrift und Literatur hin zur Religion) wird die Erkennntis Gottes besonders herausgestellt, indem sich das letzte Partizip auf einen Doppelvers bezieht: Il peint l’Européen profond, industrieux, Mesurant d’un compas & la Terre & les Cieux, Dans ses travaux cachés surprenant la Nature, Et des mondes qu’il pese assignant la mesure, Se jouant, par son art, des plus pesants fardeaux, Maîtrisant & les vents, & l’empire des eaux,

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Techniken kommt es dabei ferner zu einem Diskurs über Isaures herausragendes Bildnis, doch kann der gegenseitige Austausch und das Verharren in der freundschaftlich-tröstenden Atmosphäre aus ‘silence’ und ‘attendrissement’645 die ihn bis dato quälende Liebesflamme temporär zurückdrängen. Auf der anderen Seite kann jedoch auch der radikale Valverde im Zentrum des mexikanischen Spinnennetzes die Fäden ziehen, ist doch auch er – wie Kolumbus – den Mexikanern in deren Augen klar überlegen: Les Méxiquains frappés de la splendeur des arts Dont ces fiers Etrangers étonnaient leurs regards, Prosternés à leurs pieds par une erreur grossière, Les croyaient des enfans du Dieu de la lumière. Tout aidait le barbare [sc. Valverde; G.J.K.] à tromper les sujets[.] (NM I.92)

Valverde, «avide de régner sur ce peuple crédule» tritt ebenso dem mexikanischen König gegenüber, fordert dabei unverhohlen seine Krone und gibt ihm zu verstehen, welches schlimme Schicksal einen Abtrünnigen wie ihn vonseiten des christlichen Rachegottes erwarte. (NM I.89).646 Der mit seherischen Kräften ausgestattete mexikanische König kann seinen Augen kaum trauen und erkennt den diametralen Unterschied zwischen dem liebgewonnenen Kolumbus und Valverde.647 Als er nicht sofort seinen Rücktritt antritt, bestimmt ihn Valverde prompt selbst648 und betreibt das Unterminieren des Nukleus der Semiosphäre der Neuen Welt, indem er die aktuelle Königsherrschaft als Terrorregime brandmarkt und schier omnipräsent das Volk gegen seinen König aufwiegelt, welches dann den Königspalast in Flammen legt.649 Nur in letzter Sekunde kann Kolumbus

Par son rapide essor dominant sur la terre, Surpassant par les feux les effets du tonnerre, Imitant la Nature & son vrai coloris, Peignant l’ame à nos yeux dans ses brillants écrits, Des Temps & du Chaos perçant la nuit profonde, Trouvant le vrai mobile, & le ressort du monde, Et, les regards levés jusques au Créateur, Dans l’Univers enfin découvrant son Auteur. (NM I.85) 645 Vgl. NM I.84. 646 Vgl. ferner «rends moi ton diadême» (NM I.89); «rends-moi ta couronne» (NM I.91). 647 «Le Souverain goûtait, dans son ame attendrie, | L’aspect d’une vertu si neuve & si chérie. | Mais que Valverde, ô Ciel, plein d’un zèle odieux, | De ces cœurs bienfaisans différait à ses yeux !» (NM I.89) und «Comment, aux mêmes lieux, les bizarres destins | Ont ils produit la honte & l’honneur des humains ?» (NM I.92). 648 Vgl. «Je t’exclus pour jamais du rang de Souverain» (NM I.91). 649 Vgl. v. a. «Le Fanatique ardent vole de place en place, | Ameute sur ses pas l’aveugle populace» (NM I.92) und «Des flammes par son peuple en tous lieux répandues, | Dévorent son

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Ureinwohner und Spanier bändigen und verlässt fluchtartig mit seinen Leuten die Ereignisregion: «Colomb s’échappant de ce lieu détesté | Emmene ses guerriers d’un pas précipité» (NM I.95).650 Der besondere intersemiosphärische Kontakt in Mexiko hat die intrasemiosphärischen Spannungen zwischen Kolumbus und Valverde erstmals eindrücklich zum Vorschein kommen lassen und so zum ersten Höhepunkt der ‘antikolumbischen’ Ideologie innerhalb der Spaniersemiosphäre geführt. Der von Trauer gezeichnete Kolumbus hat temporär die Macht über (den eigenständig diverse Leute motivierenden) Valverde verloren. Kolumbus’ Erkundung eines Teils der Ereignisregion endet erstmals mit einem negativen Tiefpunkt. Wir konnten bisher beobachten, wie Valverde, der bereits zu Beginn als Kolumbus’ negativer Gegenspieler eingeführt wird,651 bei einer einzelnen Meuterei während der Überfahrt die Spanier zu einem Attentatsversuch auf Kolumbus überredete.652 Dabei wurde Valverde jedoch nur implizit auf metadiegetischer Ebene als federführend eingespielt und handelte über Dritte. Kolumbus gelang es problemlos, der Meuterei durch seine rhetorischen Fähigkeiten aktiv ein Ende zu setzen.653 Als Valverde in Mexiko nun erstmals als nahezu gleichwertiger Gegner modelliert wird,654 der ebenso aktiv (und parallel zu ihm) handelt, behält Kolumbus zwar letztlich noch die Oberhand,

palais, & montent jusqu’aux nues» (NM I.94). Sogar die Königsgattin bringt er dazu, zum Schwert zu greifen und ihren Mann im Schlaf vor den schlafenden Kindern ermorden zu wollen, wovon sie nur im letzten Moment ablässt. Das Einspielen einer Szene aus der privaten Sphäre der Familie zeichnet nach, zu welchen Horrorepisoden ein fehlgeleiteter Fanatismus führen kann, vgl. «L’odieux Fanatisme égarant ses esprits, | Lui fait lever le fer contre des jours chéris» (NM I.94). Bereits D’Aubigné griff in seinen Tragiques (Les Misères) auf dieses Motiv zurück und ließ exemplarisch eine (wegen der von religiösem Fanatismus geleiteten Religionskriege) an Hunger leidende Frau ihr eigenes Kind aus der Wiege nehmen und verspeisen. 650 Vgl. «[Colomb] courait de toutes parts | Arrêter ces brigands qui craignaient ses regards» (NM I.95) 651 Vgl. NM I.18. V. a. sei er von einem «zèle amer» gekennzeichnet und habe die Absicht, Kolumbus als Anführer zu ersetzen (vgl. «le poison de l’Envie en ses veines circule ; | De Colomb, dans son ame, il dévore le rang, | Et voudrait à loisir s’abreuver de son sang»). Er könne «masques différens» auflegen (vgl. «d’un cœur monstrueux cache les profondeurs»). Dieselbe Charakterisierung findet sich später, in NM I.89, in anderer Formulierung: Fanatismus (vgl. «Prêtre fanatique»), Blutrünstigkeit (vgl. «ce monstre sanguinaire»), übermäßig leidenschaftlicher Eifer (vgl. «Jouet des passions qui déchirent son sein»), Heuchelei und Verstellung (vgl. «Sous le prétexte faux [...]»). 652 Das Attentat auf Kolumbus konnte er durch seine scheinbare Verbindung zu Gott rechtfertigen (vgl. die Rede des Attentäters: «Il [sc. Valverde; G.J.K.] jure que Dieu même ordonne votre mort» (NM I.27). 653 Auch die ersten Greueltaten der Spanier auf Hispaniola konnte Kolumbus aktiv (durch die Vorhersage einer Sonnenfinsternis) unterbinden. 654 Vgl. «le contraste fatal | Du Prêtre fanatique & du sage Amiral» (NM I.92).

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doch ist seine Konfliktlösung (die überhastete Flucht aus Mexiko) passiv-defensiv angelegt. Peru (Kolumbus’ veränderte Zielsetzung) Kolumbus in der Priesterenklave (Isolation 5) Nach der Auseinandersetzung der gesamten spanischen Semiosphäre mit der Semiosphäre Mexikos wird bei der anschließenden Weiterfahrt in den peruanischen Teil der Ereignisregion der Fokus auf Kolumbus’ eigenständiges chronotopisches Handeln gelegt. Die den gesamten achten Gesang einnehmende Isolation 5 ist die bisher raumgreifendste Isolation. Da in Kap. 3 in einem vergleichenden Blick auf die Atlantiskonzeptionen der Kolumbus-Epen auf die 5. Isolation näher eingegangen wird – die zusammen mit Isolation 6b (chants XIII und XIV) ein Diptychon bildet – soll sie hier nur knapp resümiert und in die Struktur des Epos eingebettet werden. Motiviert durch die bereits in Isolation 3 stärker anklingende Naturbegeisterung und sein spezielles Interesse an Land und Leuten, trennt sich Kolumbus nach dem gemeinsamen Entlangfahren an Brasilien und dem Umrunden der Südspitze Amerikas von seinen Matrosen (Isolation des Typs 1b).655 Analog zu den vorigen Isolationen handelt es sich beim betretenen Raum um eine versteckte Gegend im tiefen Landesinneren, nämlich die Enklave der Atlantispriester, welche ihrerseits erneut von (typisch Lesuire’scher) höhlenähnlicher Struktur gekennzeichnet ist, und in der Kolumbus in das profunde Weltwissen der Priester eingeweiht wird.656 Wie in den vorigen Isolationen erfährt der dunkle Raum eine

655 Textuell ist der Zeitpunkt für Kolumbus’ Absonderung von der Gruppe nicht leicht festzumachen, da die gesamte Fahrt ab dem Verlassen Mexikos aus Kolumbus’ Sicht geschildert wird, vgl. z. B.: «Le Brésil [...] passe devant sa vue» (NM I.97). Während man hierbei von ihn umgebenden Matrosen ausgehen muss, ist Kolumbus in NM I.98 (vgl. das stets anaphorisch aufgegriffene Personalpronomen ‘il’ meist zu Satzbeginn) mit Gewissheit bereits ohne Begleitung. Obwohl es sich um einen fließenden, unkommentierten Übergang handelt, lässt sich der Startpunkt der Isolation am ehesten direkt im ersten Vers in I.98 ansetzen, wo auf Kolumbus’ spezielles Interesse am Ursprung der Natur eingegangen wird (das ihn vom Rest der Spanier unterscheidet): «Le Héros parcourant cette immense contrée, | Cherchait de ces deserts l’origine ignorée». 656 Um zum Tempel «[d]es Mages souterreins retirés loin du monde» (NM I.103) zu gelangen, «[Colomb] descend sur la terre, il s’éloigne des mers» (NM I.97) und durchwandert «une caverne obscure» (NM I.98) sowie diverse «goufres profonds», ehe er in die «secrets dérobés aux restes des mortels» (NM I.102) eingeweiht wird. Die Ausführungen dieser Isolation mit dem Besuch eines Weisheitstempels erinnern durchaus atmosphärisch an den Parcours Taminos in der Zauberflöte mit den dortigen ägyptischen Mysterien.

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durchaus ambige Valorisierung. Die positive Glücksgefühle beschwörende Seite an ihm ist diesmal auf seine Qualität als Ort tiefer Einsicht zurückzuführen.657 So ist es ein erhellendes Licht, das Kolumbus den Weg zur ominösen Pyramide weist, dem Priesterwissen näherbringt und so seine Gefühlslage positiv beeinflusst.658 Der Priestertempel (der ‘Vérité’) strahlt dann ebenso Licht aus – nicht umsonst wird die Priesterbotschaft am Ende figurativ auch als «lumière» (NM I.102) bezeichnet. Seine negative Aufladung erhält Kolumbus’ Isolations-Aufenthalt durch den Inhalt der Nachricht, der in einer pessimistisch-zyklischen Weltsicht besteht. Die Spanier sollen von der Hybris, andere Welten entdecken zu wollen, abkehren. Kolumbus verlässt völlig überwältigt «en pleurant» den magischen Ort und bekundet lautstark seine Weigerung, diese Wahrheit an seine Leute weiterzugeben: «Ah ! ne m’ordonnez pas de rompre le silence !», «je veux tout y céler» (NM I.102). Entscheidend für unsere Analyse ist, dass Kolumbus die Botschaft seinen Spaniern zwar verwehrt, er selbst jedoch sehr wohl durch die Priesterworte, die er ‘in seinem Herzen bewegt’,659 verändert wird. Wie lässt sich diese Veränderung genau beschreiben bzw. im Text festmachen? Schon bevor Kolumbus zur Priesterenklave gelangt ist, war er mit pessimistischen Weltsichten konfrontiert worden. Zu nennen sind die bereits angeführten projizierten Horror-Räume der Isolationen 1 und 2, von denen sich Kolumbus in seinem Handeln jedoch nicht hatte beeinflussen lassen und stattdessen weiter für das Verbinden der Welten eingetreten war.660 Vor den Bewohnern von Hispaniola vertritt Kolumbus seine Absicht, beide Welten friedlich zu vereinen, noch voller Selbstsicherheit. Im Präsens heißt es dort: (a) Colomb s’aplaudissant de les avoir soumis Veut des deux Nations, faire un peuple d’amis ; Et, par une alliance heureuse & nécessaire, Unir le nouveau Monde à l’antique hemisphère. (NM I.60, Hervorh. G.J.K.)

Der negative Blick auf das Vereinen der Welten ist vor Peru eben nur subkutan spürbar. Etwaige pessimistische Gedanken werden (in Kolumbus’ naiver Sicht) stets durch darauffolgende positive Perspektivierungen schnell wieder neutralisiert. Blicken wir auf den folgenden Ausschnitt aus Kolumbus’ Gebet an Gott, in

657 In den Isolationen 2a und 2b war es noch auf seine Qualität als Rückzugsort zurückzuführen. 658 Vgl. «une faible clarté [...] [r]anime son espoir» (NM I.99). Im Bewusstsein, dass er bald in tiefere Geheimnisse eingeweiht wird, «la joie un instant dans son ame renaît» (NM I.100). 659 «Gémissant des malheurs qu’il doit causer au monde ; | Renfermant, dans son cœur sensible & généreux, | De tristes vérités un dépôt douloureux» (NM I.103). 660 Zu nennen ist z. B. das erwähnte Höllenmonster, welches das Verbinden der Welten als positiv bewertet hatte. Kolumbus war dennoch weiter für das Verbinden der Welten eingetreten, etwa beim Niederschlagen der Meuterei.

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dem mögliche zerstörerische Folgen des Hinüberfahrens in die Neue Welt dezidiert angesprochen werden: Funeste à ces beaux lieux, si notre découverte De ces peuples errans devait causer la perte ; Si nos travaux devaient, trop féconds en malheurs, A l’un ou l’autre monde un jour coûter des pleurs : Fais-nous périr, grand Dieu, dans la mer en furie, Avant que nous puissions revoir notre patrie ; Et qu’à jamais l’Europe ignore ces climats, S’ils doivent être en butte à ses noirs attentats. (NM I.63, chant IV, Hervorh. G.J.K.)

Neutralisiert wird diese pessimistische Sicht unmittelbar im Anschluss, indem Kolumbus die Einwohner beider Welten einen Schwur der Einigkeit leisten lässt. Er selbst ist davon überzeugt, dass man sich auf dem Weg hin zu einer besseren Welt befinde: «Le monde entier sembla plus brillant & plus pur» (NM I.63).661 Im bisher noch nicht behandelten Gespräch mit dem Dolmetscher in chant V wird an Kolumbus ebenso eine pessimistische Sicht auf die Vereinigung der Welten herangetragen.662 Die oben zitierten Worte des Helden werden an dieser Stelle leicht variiert dem Dolmetscher in den Mund gelegt:663 Handelte es sich bei Kolumbus nur um eine hypothetische Aufforderung (‘Gott möge die Spanier töten und die Entdeckung verhehlen, wenn sie schädlich sein könnte’), formuliert der Dolmetscher das Geheimhalten der Entdeckung als Aufforderung (ohne konditionale Protasis und Apodosis) und koppelt den Imperativ ‘périssez’ an das Ausplaudern des Geheimnisses: Mais cachez-y surtout aux avides humains, Que vous avez trouvé ces rivages lointains ; Et périssez plutôt dans les vastes abîmes, Du repos des mortels honorable victimes, Que d’éclairer enfin nos peuples malheureux Sur un secret funeste, & pour nous & pour eux. (NM I.74, Hervorh. G.J.K.)

Kolumbus wiederum bekennt seinem Freund, dass er seine Ratschläge zwar wertschätzt und sie aufgrund seiner negativen Vorgeschichte ihre Berechtigung

661 Auch seine Körpersprache lässt seinen Glauben daran erkennen, vgl. «Il étend ses deux bras vers les deux hémisphères». 662 Das Gespräch mit dem Dolmetscher fällt aus der fortschreitenden Handlung heraus, da es als geschlossene Episode den gesamten chant V einnimmt, und chant IV problemlos an chant VI anschließt. 663 Vgl. die im oberen und unteren Zitat unterstrichenen Partien: «Fais-nous périr», «périssez» usw.

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hätten,664 unterstreicht aber erneut seine positive Intention des Vereinens der Welten: Ah ! regarde en pitié ton ami qui t’embrasse, À qui le Ciel peut-être inspira son audace, (b) Qui voulut seulement, quand il franchit les mers, Par les nœuds du bonheur joindre les deux Univers ; Et partager entre eux les douces influences Que versent, sur nos bords, les arts & les sciences. (NM I.74, Hervorh. G.J.K.)

Das ‘veut’ im Präsens aus Zitat (a) ist im Gespräch mit dem Dolmetscher nunmehr zum ‘passé simple’ ‘voulut’ geworden. Kolumbus spricht hier neutral von seinen positiven Absichten, die er zum Zeitpunkt seiner Abreise hatte. Da mit dem ‘passé simple’ jedoch die Betonung auf den momenhaften, punktuellen Aspekt dieser Absichten gelegt wird, liegt der Verdacht nahe, dass Kolumbus sich an dieser Stelle des Epos bereits ein Stück weit von seiner ursprünglichen Intention distanziert und ein gewisser interner Reflexionsprozess in Gang gesetzt wurde. Bestätigung findet diese Hypothese, wenn man in den gesamten 26 Gesängen des Epos nach weiteren ähnlichen sprachlichen Formulierungen sucht und dabei zweimal fündig wird: In der Rede des Kolumbus an den Portugiesen Albuquerque, mit dem Kolumbus in chant XX seine leidvollen Erfahrungen im Rückblick austauscht, zeigt sich Kolumbus dann eindeutig desillusioniert: (c) Hélas ! j’aurais voulu voir, au prix de mes jours, Deux mondes se prêter leur mutuel secours ; Et mes mains, de l’Erebe entr’ouvrant les abîmes, Ont fait fondre sur eux les malheurs & les crimes. (NM II.100, Hervorh. G.J.K.)

Bei diesem beabsichtigten Durchspielen verschiedener Flexionsformen von ‘vouloir’ wurde das noch uneingeschränkt gültige ‘présent’ (‘veut’) zum punktuellen ‘passé simple’ (‘voulut’) und schließlich zum klar irrealen ‘conditionnel’ (‘j’aurais voulu’). Kolumbus’ Projekt, das eine ‘Win-win-Situation’ hervorbringen sollte, ist im Rückblick definitiv gescheitert. Analog ist das folgende Zitat aus chant XXIII einzuordnen, in dem Kolumbus seinen Fehler der Verbindung der Welten vor den heimischen Europäern (vor dem Priesterkonzil in Florenz) eingesteht und – diesmal im ‘imparfait’ – bekennt, er habe die Welten in Frieden vereinen wollen, es sei ihm jedoch nicht gelungen:

664 Vgl. «les sages avis | Fruits de tes longs malheurs devraient être suivis». Der Dolmetscher musste als Waldenser auf dem europäischen Kontinent den Fanatismus der spanischen Inquisition miterleben.

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(d) Mais je voulais enfin, quand j’ai franchi les ondes, En les réunissant, rendre heureux les deux mondes. Des monstres corrompant mes innocens projets, Un dessein vertueux a produit des forfaits ; (NM II.163, Hervorh. G.J.K.)

Dieses Durchspielen verschiedener Tempora und Modi unter Verwendung gleichbleibender Textbausteine und semantischer Ähnlichkeiten belegt nicht nur Lesuires Intention, eine ‘epische Formularität’ und epische Transparenz im Sinne des ‘clarté’-Ideals des 18. Jahrhunderts zu vermitteln (die sich so in seinen Romanen nicht findet), sondern belegt unseres Erachtens, dass Lesuire mit Bedacht gewisse Passagen sprachlich ähnlich fomuliert und aufeinander zukomponiert hat, um auf diese Weise intratextuelle Referenzen zu eröffnen. Beim Gegenüberstellen der analog strukturierten Passagen lassen sich dann auf Grundlage sprachlicher Variationen bedeutungstragende inhaltliche Veränderungen wahrnehmen.665 Mit Blick auf die ‘Dispositio’ ist zu unterstreichen, dass Kolumbus in den Beispielen (a) und (b) – also vor der Landung auf Peru – noch an sein Projekt glaubt. Subkutane Zweifel an der Durchführbarkeit seines Projekts, die im Gespräch mit dem Dolmetscher (Zitat (b)) zum Vorschein kommen, werden durch die unmittelbar auf das Zitat folgenden Textpassagen weitgehend neutralisiert: Sämtliche Stellen, an denen Kolumbus sich in der Folge zu seiner Ideologie äußert, zeigen noch im Kern (ein wenn auch leicht erschüttertes) naives Verständnis des positiven Vereinens der Welten.666 Nach dem Kontakt mit der Priesterwahrheit in Isolation 5 hat sich Kolumbus’ Ideologie jedoch verändert. Woran liegt das? Anders als die pessimistischen Weltsichten, mit denen sich Kolumbus zuvor auseinandersetzen

665 In Beispiel (d) wird mit «quand il franchit les mers» der temporale Nebensatz «quand j’ai franchi les ondes» aus Beispiel (b) aufgegriffen. Beispiel (c) ersetzt durch das pejorativ konnotierte Versatzstück «les malheurs & les crimes» den in (b) noch positiv konnotierten Abschluss «les arts & les sciences» usw. Das viermalige Durchspielen der dargelegten Tempus-/Modusformen von ‘vouloir’ wurde ferner in allen drei Editionen des Epos ohne Veränderung beibehalten. 666 Vgl. «Sans prévoir les maux où son projet l’expose» (NM I.75). Zu nennen ist der Umstand, dass Kolumbus direkt nach dem Gespräch mit dem Dolmetscher mit dem klaren Vorsatz abreist, den in Hispaniola etablierten Frieden zu erhalten (vgl. NM I.76). Beim folgenden Gespräch mit dem mexikanischen König ist Kolumbus voll und ganz von der möglichen Umsetzung einer «douce alliance» (NM I.81) überzeugt, bei der er dem Verbündeten «le tribut de [ses] arts» (NM I.82) und eine Reihe an «biens» zukommen lassen möchte (vgl. NM I.85). Kolumbus’ positiver Blick auf die Vereinigung der Welten bleibt auch deswegen unverändert, da der mit seherischen Fähigkeiten ausgestattete mexikanische König im Gegensatz zum Dolmetscher seine dunklen Vorahnungen nicht verbalisiert, sondern zurückhält: «Le Monarque, frappé d’une extase muette | Qu’il renferme en secret dans son ame inquiète | [...] | Et son œil, qui déjà dans l’avenir s’élance | Entrevoit des horreurs, des meurtres, des combats, | Des orages sanglans formés sur ses Etats» (NM I.86).

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musste, gründet die Information der Priester auf einer speziellen Autorität, denn ihr Wissen geht zurück auf die Bewohner von Atlantis, deren Kenntnisse in die Zeit vor der Sintflut zurückreichen. Erst hier wird sich Kolumbus gewahr, dass eine glückliche Vereinigung der Welten unmöglich ist und sich ‘gloire’ und ‘humanitas’ nicht verbinden lassen. Blickt man auf die Passagen, in denen der Kolumbus des ersten Eposteils als ‘glücklich’ bezeichnet wurde, muss man konstatieren, dass Kolumbus’ Gefühlssituation sich bis Mexiko als ein stetes Auf und Ab beschreiben lässt. Gefühlstechnische Höhepunkte erlebt er immer dann, wenn es ihm gelingt, öffentlichen Ruhm einzustreichen (z. B. bei der gelungenen Landung auf Hispaniola) und dabei sein ‘gloire’-Streben mit seinem Vorsatz der ‘humanitas’ zu verbinden (etwa bei der Abfahrt vom befriedeten Hispaniola sowie in Mexiko bei der Belehrung des dortigen Königs). Dazwischen konnte man im Rahmen der Isolationen Kolumbus’ nach innen gerichteter Reue bzw. Trauer beiwohnen. Ab Isolation 5, d. h. nach der Zerstörung Perus, verändern sich die Momente, in denen der Problemheld Kolumbus (der ja als einziger Spanier von der unumsetzbaren Verbindung von ‘humanitas’ und ‘gloire’ weiß) überhaupt noch glücklich sein kann. Hierauf ist noch einzugehen. Der Kontakt mit der peruanischen Semiosphäre Auch wenn sich der durch die Atlantispriester belehrte Kolumbus vorerst dazu entschließt, nach außen hin sein Projekt scheinbar unverändert fortzuführen, legt er doch in Peru ein anderes Verhalten an den Tag als bisher. Wie in Mexiko trifft die gesamte Semiosphäre der Alten Welt auf eine ähnlich kultivierte Semiosphäre.667 Erneut kommt es nicht zu einem Aushandeln in der Pufferregion, sondern direkt zum Kontakt im Kern selbst. Das liegt daran, dass der peruanische Teil der Ereignisregion nur aus einer ‘ärmlichen’ (auf den ersten Blick unbedeutenden) Randzone besteht sowie aus einem übermächtigen Kern mit einer prunkvollen «Cité d’une vaste étendue». Gekennzeichnet ist dieser Stadtkern von einem «luxe monstrueux», der mit klarer Anspielung auf den Turmbau zu Babel «vers les Cieux paraît monter» (NM 105).668 Eben dorthin bewegt sich der Ausläufer der spanischen Semiosphäre. Schon in Mexiko hatte Kolumbus – voll der Bewunderung für die schöne Natur – einen Appell an seine Gefährten lanciert, der das Erhalten dieses ‘Locus amoenus’ zum Inhalt hatte: «Ah ! périssons plutôt [...] | Que de souiller jamais

667 Hiervon zeugen bereits die ebenen Straßen und Entwässerungsanlagen, vgl. NM I.105. 668 Das Hauptmerkmal der Stadt ist ihr goldener Sonnentempel: «un globe d’or qui dans les Cieux rayonne» (NM 106).

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de votre sang paisible | Ces gazons verdoyans, & ces limpides eaux | Qui baignent & vos bois, & vos humbles côteaux». Instruiert durch die Priesterwahrheit, geht Kolumbus in Peru aber einen Schritt weiter: Es erfolgt kein spontanes Eindringen in den Kern, sondern der von Bedenken und Ängsten gequälte Kolumbus entwaffnet seine Leute mit dem Effekt, «[que c]es lions cruels frémissant sous ses loix | Arrivent désarmés dans la Ville des Rois» (NM I.106).669 Durch die intrasemiosphärische Veränderung (d. h. konkret Kolumbus’ gutgemeintes Entwaffnen seiner Leute) kommt es ungeahnt zu einer ganz speziellen intersemiosphärischen Raummodellierung. Anders als bei den beiden zuvor beobachteten Formen des Kontakts verlieren die Spanier ihre Überlegenheit und es kommt (trotz des unmittelbaren Nebeneinanders der Kerne im Zentrum Perus) zu einem Herauszögern eines Clashs. Lesuires Tendenz zur Verwendung formelhafter Bausteine unter leichter, jedoch sinnträchtiger Variation wird auch an dieser Stelle deutlich:670 Der Doppelvers «ces fiers Etrangers qui frappent moins les yeux, | De leurs armes privés, ne semblent plus des Dieux» (NM I.111, Hervorh. G.J.K.) evoziert unverkennbar die Parallelstelle in Mexiko, wo gleichermaßen auf den Blick der Ureinwohner auf die Spanier verwiesen wird, was die Unterschiedlichkeit der beiden intersemiosphärischen Kontakte herausstellt: «Les Méxiquains frappés de la splendeur des arts | Dont ces fiers Etrangers étonnaient leurs regards | [...] | Les croyaient des enfans du Dieu» (NM I.92, Hervorh. G.J.K.). Der spezielle intersemiosphärische Kontakt wurde ferner durch eine (in der Priesterenklave) herausgestellte Erkenntnis vorbereitet, nämlich dass beide Semiosphärenkerne ‘degeneriert’ sind.671 D. h. die Bewohner beider Semiosphären tun etwas, was den Regeln der alten Atlantispriester widerspricht: Die Spanier sind ‘degeneriert’, da sie sich (wie die ehemaligen Einwohner von Atlantis) fälschlicherweise dem hybrisgeleiteten, habgierigen Einverleiben neuer Welten verschrieben haben. Die Peruaner sind insofern ‘degeneriert’ und widersprechen der Priesteranweisung,672 als sie (wie die ehemaligen Einwohner von Atlantis) von der Leitregel abgefallen sind, Gold und Luxusgüter zu verachten.673

669 Vgl. kurz zuvor: «Colomb gémit des maux produits en d’autres lieux | Par les fiers Castillans armés du feu des Cieux. | Il craint l’aveugle ardeur qui les porte au carnage» (NM I.106, Hervorh. G.J.K.) und wenig später: «Le Sage, dans ces murs, voyait avec effroi | Les femmes sans pudeur» (NM I.107, Hervorh. G.J.K.). 670 In diesem formelhaften Wiederkehren bestimmter Versteile kann man durchaus ein typisches Merkmal der epischen Gattung per se erkennen, das man aus Homers Epen kennt und im Ursprung freilich auf deren mündlichen Entstehungskontext zurückzuführen war. 671 Vgl. ausführlich Kap. 2.3.2.2.2. 672 Diese hatte ihr Gesetzgeber Manco-Capac von den Priestern erhalten, ihnen mitgeteilt, jedoch ohne einen dauerhaften Erfolg zu erzielen. 673 Vgl. «avilis, & déja corrompus» (NM I.107), ferner «Perdu dans les plaisirs» (NM I.110).

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Chant IX zeigt nun zum einen die Peruaner, wie sie nach außen plump ihren Luxus zur Schau stellen und innerhalb der Stadtmauern eine «vie effeminée» und «impure» mit den gängigen «honteux plaisirs» (jeweils NM I.107) führen,674 zum anderen die habgierigen Spanier, die dadurch erst richtig angelockt werden.675 Peru wird zu einem Pulverfass, besonders da der führende Inka just an diesem Tag eine «fête éclatante» (NM I.110) gibt, zu der er die Gastfreunde einlädt. Alles arbeitet einem Clash der beiden Kerne zu, der sich auf eindrucksvolle Weise in Form einer alles zerstörenden Naturreaktion entlädt. Dabei reagiert von außen der Raum unter Einbeziehung aller Elemente auf das semiosphärische Mischgebilde im Innern Perus: On voit trembler la terre, & s’ouvrir des abîmes ; [...] Et la flamme en courroux trop prompte à s’allumer Serpente, se dilate, & va tout consumer. La mer frémit, s’élance, inonde ses rivages, Vomit en mugissant les debris des naufrages. Les vents impétueux dans ce débordement Etendent les progrès du vaste embrasement ; Et tous les élémens déchaînés sur ces rives Assaillent à la fois les victimes plaintives. (NM I.111 f., Hervorh. G.J.K.)

Mögliche Gründe für die Naturkatastrophe werden en passant mitgeliefert. Sie wird (1) von Kolumbus wissenschaftlich interpretiert als Folge des ewigen Frühlings und der fehlenden Jahreszeiten in Peru: «La terre y doit trembler, la nature inactive | Veut du froid & du chaud sentir l’alternative» (NM I.109). Dann aber auch (2) – und das ist der entscheidende Grund – als Reinigung der Degeneration der beiden Semiosphären. Einerseits (2a) als Strafe für die Peruaner, da es zur ersten größeren Naturreaktion, einem Erdbeben, unmittelbar nach der Beschreibung der Laster der feiernden peruanischen Jugend kommt: Sans pudeur & sans frein la jeunesse égarée Languit, de voluptés mollement enivrée ; Et tout annonce enfin des excès criminels Que vont bientôt punir les carreaux éternels. Des maux sont annoncés par de cruels présages, On entend un bruit sourd échappé des nuages,

674 Vgl. NM I.106: «De diamans épars la terre étincelait» oder «Le luxe monstrueux qui voile l’indigence | Avait chassé les mœurs de son enceinte immense»; vgl. «Les femmes sans pudeur, & les hommes sans foi» (NM I.107). 675 Vgl. «Attiré par ce faste» (NM I.110) und «Les jaloux Espagnols [...] | Admirant cet Empire, en briguent la conquête» (NM I.111).

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La Nature frémit, comme une mere en pleurs Qui, de l’enfantement éprouve les douleurs. (NM I.110, Hervorh. G.J.K.)

Andererseits deutet das obige «tout annonce» auf den gesamten Kontext des Fests hin – und damit (2b) auf eine ebenso schädliche Beteiligung der Spanier. Parallel zum Gastgeber, dem Inka, ist nämlich auch die Rede von Kolumbus’ jungem Begleiter Pizarro und seinen gierigen Blicken, die eine nicht minder verheerende Naturreaktion vorausahnen lassen: «Pizare observait tout de ses regards perçans, | On voyait dans ses yeux deux astres menaçans, | Il semblait de ces bords méditer la conquête ; | Et déjà ses regards présageaient la tempête» (NM I.110).676 Die Beschreibung der Naturreaktion erinnert – trotz der Beteiligung sämtlicher Elemente – merklich an die biblische Sintflut.677 In diese Richtung zielen sowohl der Vergleich der Situation mit dem Weltende und der Bestrafung der Sünder678 als auch die Verse zu Beginn des 10. Gesangs, wo die Naturkatastrophe dem Öffnen des Höllenschlunds durch den Racheengel angenährt wird,679 sowie der etwas später folgende Erzählerkommentar: «On croit voir en éclats le monde s’écrouler» (NM I.122).680 Kolumbus erlebt das Chaos hautnah681 mit: Tandis que le barbare est glacé par la crainte, La paix de l’homme juste est pure & sans atteinte. Colomb tout à lui-même, au milieu de l’horreur, Voit cet affreux danger sans trouble & sans terreur. Etranger dans le monde, un Sage si paisible Plane sur l’Univers comme un être impassible. De la Nature en pleurs souffrante & sans apui, Les secousses à peine arrivent jusqu’à lui. [...] Il éleve ses yeux jusqu’à l’Être suprême ;

676 Verschlimmert wird die Reaktion noch einmal dadurch, dass beide Parteien diese ersten Anzeichen absichtlich vernachlässigen: «L’homme sent le péril & cherche à s’aveugler. | Perdu dans les plaisirs le jour [...]» (NM I.110) 677 Insbes. das Meer, das «frémit, s’élance, inonde ses rivages» (NM I.111). 678 Vgl. «Ainsi retentira le bruit de l’Univers, | Quand les mondes brisés, pour punir tant de crimes, | Tomberont en éclats dans le fond des abîmes» (NM I.112). 679 Vgl. NM I.114. 680 Dieser bezieht sich bereits auf die sich unmittelbar an die erste Naturkatastrophe anschließende zweite Naturkatastrophe, welche die Stadt dann völlig vernichtet. Ausgelöst hatte sie eine falsche Interpretation der ersten Naturkatastrophe vonseiten peruanischer Mystiker, die den amourösen Fehltritt einer Vestalin mit einem Peruaner für das Naturchaos verantwortlich machten und anstelle der gefangengenommenen Spanier für die Opferung der Vestalin plädierten. Vgl. «Selon ses préjugés le soleil en courroux | Du cœur de la vestale en secret fut jaloux ; | Et, pour punir l’amour d’un couple jeune & tendre, | Il veut qu’une Cité tombe réduite en cendre» (NM I.120) und «Présentons au Soleil une offrande plus pure» (NM I.121) 681 Vgl. «au milieu de l’horreur», «Au sein de ce fracas» (NM I.113).

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Et dans ce grand revers voit le jeu des destins D’une vaine poussière agitant quelques grains. Tel est l’heureux état dont jouit sur la terre Ce nautonnier tranquile au vain bruit du tonnerre[.] (NM I.113, chant IX, Hervorh. G.J.K.)

Die verheerenden Folgen des intersemiosphärischen Kontakts werden also wiederum herangezogen, um die intrasemiosphärischen Spannungen auszugestalten. Während Valverde durch die Stadt rennt und flehende Gebete gen Himmel sendet,682 verbinden sich im durch die Priesterbotschaft veränderten Kolumbus erstmals der ‘empfindsame’ persönliche Glaube eines gottvertrauenden Christen mit dem bereits eingangs des Epos dem Kolumbus zugeschriebenen Bild des stoischen Weisen (s. den obigen Fettdruck). Die Passage erinnert an Horazens stoischen Weisen der Römeroden, den selbst die Zerstörung des Erdkreises nicht aus der Ruhe bringen kann: «si fractus inlabatur orbis, | inpavidum ferient ruinae».683 Genauso wenig fürchtet er den «vain bruit du tonnerre» (s. den Fettdruck): «nec fulminantis magna manus Iovis».684 Hinzu gesellt sich der Blick zum christlichen Gott (s. die Unterstreichung), der Kolumbus von Valverdes flehendem Bittgebet unterscheidet. Der Vers «La paix de l’homme juste est pure & sans atteinte» lässt an das Buch der Sprüche in der Bibel denken, wo es in der französischen Version heißt: «Le nom de l’Eternel est une tour forte – le juste y court et s’y trouve hors atteinte».685 Diese Verquickung aus Stoa und Christentum findet sich anschließend noch einmal, als Valverde gegen Kolumbus eine Intrige spinnt und ihn auf dem Scheiterhaufen sehen will. Wieder gelingt es Kolumbus, sich dem ihn umgebenden Natur-Unglück zu entziehen. Er ist der duldende, über allen Dingen stehende Stoiker bzw. Christ: «Ferme comme un rocher qui, sur le bord des mers, | S’élève jusqu’aux Cieux» (NM I.119). In dieser Szene wird zudem erstmals Kolumbus’ stoisch geprägte Einstellung zum Tod herausgearbeitet,686 die in der letzten Isolation (10) weiter ausgestaltet wird. Lesuire folgt bei seiner Darstellung des Kolumbus als Helden inmitten einer Naturkatastrophe einem in der Antike bei Stoikern beliebten Muster, wie es sich prototypisch in Senecas Naturales quaestiones findet: Das zyklische Weltbild 682 Vgl. «O mon Dieu, calme toi» (NM I.123). 683 Hor. Carm. 3, 7 f. 684 Hor. Carm. 3, 6. 685 Psaumes 18,10. 686 Kolumbus kann im ihn umgebenden Chaos das Ende seiner Leiden und seine Erlösung erkennen: «La nature, dit-il, en cette horrible nuit, | Au terme de nos maux nous appelle à grand bruit» (NM I.119). Lesuires Kolumbus wurde sicherlich auch von Marmontels Las Casas inspiriert. In INC 381 (chapitre XLIII) wird beschrieben, wie dieser auf Hispaniola in stoischchristlicher ‘tranquillitas’ ohne Sorge dem Tod entgegengeht, da er kein Unrecht getan hat: «Voyez combien l’image de la mort est tranquille et riante pour l’homme simple et doux».

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der Stoiker mit dem ewigen Auslöschen und Wiedereinsetzen von Leben (und sich stets wiederholenden ‘reinigenden’ Naturkatastrophen) wird auch bei Seneca zur von der stoischen Ethik geforderten Gelassenheit im Angesicht des Todes in Verbindung gesetzt.687 Es sorgt für die Sonderstellung des stoischen Helden (‘σοφός’) gegenüber dem Rest der Menschen (‘μῶροι’).688 Das bei Lesuire evozierte stoisch-zyklische Weltbild greift in spielerischer Manier die zyklisch-pessimistische Weltkonzeption der Atlantispriester wieder auf, in die Kolumbus ja eingeweiht wurde. Das moralische Degenerieren der Kerne der beiden Semiosphären (der Peruaner und der Spanier) fügt sich problemlos in das stoische Modell, das mit dem steten Degenerieren und Reinigen für den Großteil der Menschheit (die ‘μῶροι’) als pessimistisch zu bezeichnen ist. Auch in Senecas Konzeption schleicht sich das Laster nämlich ungemein schnell wieder in die ‘gereinigte’ Gesellschaft ein.689 Somit legt die auf den ersten Blick romanesk-fantastisch wirkende Einbindung einer Naturkatastrophe in Peru durchaus eine in sich schlüssige textimmanente Entwicklung zugrunde. Kolumbus, der durch die Priester tiefere Einsichten in den zyklischen Weltverlauf erhalten hat, kann nun in Anbetracht des alles zerstörenden Clashs der Semiosphären zum ‘stoischen Helden’ avancieren, der über den nicht eingeweihten Spaniern steht. Auf eindrucksvolle Weise gelingt es Lesuire, die gängige stoische Konzeption des klassischen, mit einer göttlichen Mission ausgestatteten epischen Helden durch seine spezielle Interpretation der ‘Stoa’ aufzusprengen und so die klassische Gattung ‘(Kolumbus-)Epos’, die für das Transportieren intrasemiosphärischer Spannungen und für Kolonisationskritik nicht das erwartbare Medium darstellt, für seine Zwecke nutzbar zu machen. Bei der Behandlung von Isolation 1 wurde nachgezeichnet, wie Lesuire das Bild des ‘gloire’-geleiteten episch-

687 Die Naturwissenschaft bildet für Seneca die Basis seiner Ethik; nicht zuletzt dieses Vorgehen machte Seneca bzw. die Jüngere Stoa für die Aufklärung so interessant. Naturkatastrophen seien vom Fatum gewollt und Zeichen des von Gott bestimmten Wandels (vgl. «cum deo visum ordiri meliora», Nat. quaest. 3, 28, 7). Sie dienten der Reinigung, um sicherzustellen, dass kein «in deteriora praeceptor» (Nat. quaest. 3, 29, 5) mehr übrigbleibe. An den weltverändernden Naturkatastrophen seien sämtliche Elemente beteiligt («omnia adiuvabunt naturam, ut naturae constituta peragantur», Nat. quaest. 3, 29, 4), d. h. neben dem Feuer der ‘Ekpyrosis’ ist laut Seneca eben auch das Wasser als Element der Reinigung beteiligt (vgl. Nat. quaest. 3, 30, 8). So lässt sich die bunte Mischung an Elementen in Lesuires ‘Sintflut’-Beschreibung erklären. 688 In den Naturales quaestiones wird z. B. vom Phänomen ‘Erdbeben’ aus die ethische Handlungsanweisung «Ipse te cohortare [...] contra metum mortis» (Nat. quaest. 6, 32, 9) abgeleitet. Der Zerfall des Kosmos störe den Weisen nicht, da er das irdische Leben geringachte: «securus aspiciet ruptis compagibus dehiscens solum» (Nat. quaest. 6, 32, 4). 689 Man denke an Senecas Sentenzen «cito nequitia subrepit» oder «virtus difficilis inventu est» in Nat. quaest. 3, 30.

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stoischen Helden um das Moment des (in der Empfindsamkeit diskutierten) Gefühle zeigenden sentimental-stoischen Helden angereichert hat. Hier nun sehen wir den Helden Kolumbus um ein christlich-stoisches Moment bereichert. Erneut dürfte Lesuire hierbei vom Vorgehen der schottischen Frühaufklärer inspiriert worden sein – und insbesondere von Adam Smith, der unter dem Prinzip der ‘Providentia’ christliche und stoische Ansichten zu subsumieren sucht.690 Peru und Nordamerika (Kolumbus’ fremdbestimmte Isolation) Der beschriebene intersemiosphärische Kontakt in Peru (mit der folgenden Naturkatastrophe) verändert also insofern die intrasemiosphärische Situation, als Kolumbus zum auf sich gestellten stoischen Weisen wird. Auf dieser Basis gründet die folgende Modellierung der intrasemiosphärischen Beziehungen, da Kolumbus völlig in die Peripherie der spanischen Semiosphäre gedrängt wird. Im Chaos der Naturkatastrophe begibt sich Kolumbus auf die Suche nach seinen überall zerstreuten Freunden.691 Valverde nutzt derweil Kolumbus’ Abwesenheit aus, kann die Spanier dazu bringen «[qu’ils o]s[e]nt l’abandonner», und sie als «ennemis du Heros» unter seiner Führung versammeln (jeweils NM I.125).692 Als Kolumbus von einem Berg aus auf die zerstörte Stadt blickt, sieht er sämtliche Spanier auf einem Schiff davonfahren, welches er noch vergebens zu erreichen sucht. Am Ende ist er völlig isoliert, nur noch der Dolmetscher (Rémond) und der Eremit (Isaure) sind gedanklich bei ihm.693 Der intrasemiosphärische Dualismus ‘Valverde vs. Kolumbus’ kulminiert an dieser Stelle in einer gut ein Jahr andauernden räumlichen Isolation des Haupthelden, handelt es sich doch bei der Isolation unter 6 um die erste fremdbestimmte Isolation (des Typs 2) auf dem Gebiet der Neuen Welt. Ausgestattet mit dem Bewusstsein, dass sein persönliches Glück nicht mehr in der Verbindung von ‘gloire’ und ‘humanité’ bestehen kann, begibt sich Kolumbus auf die Suche nach anderen Formen

690 Vgl. Christian Maurer: Stoicism and the Scottish Enlightenment, S. 265: «when external events are not in our power, we should submit to divine providence in tranquility, a recommendation that one could interpret as both vaguely Christian and Stoic». 691 Vgl. «cherchant ses amis dispersés par la crainte» (NM I.122). 692 Vgl. ferner: «Du Prêtre accusateur les conseils meurtriers | Ont fait trahir Colomb par ces lâches guerriers» (NM I.125). 693 Vgl. «Colomb seul manque» (NM I.129). «Il n’a que l’interprète avec le jeune Hermite ; | Et leur famille en pleurs qui pour lui sollicite» (NM I.125). Nur sie trauern um den fehlenden Kolumbus, doch sind auch sie räumlich von ihm getrennt. Kolumbus wird in der Zwischenzeit für tot erklärt, Vespucci löst ihn als Namensgeber Amerikas ab; etliche Neider kämpfen um seinen Nachruhm (vgl. NM I.141).

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persönlichen Glücks. In Isolation 6a kann er in der Peripherie Perus kurzzeitig dem Leben einiger Ureinwohner in einem von ‘paix’ geleiteten «séjour tranquile» (NM I.122) beiwohnen.694 Nur äußerst ungern verlässt er den glückseligen Ort dann wieder: «Colomb part à regret» (NM I.125).695 Am Ende der folgenden langen Isolation 6b beim Volk Eleuthere, dessen gesellschaftliches Miteinander er hautnah miterlebt, heißt es auf identische Weise: «[Colomb s’]éloigne à regret d’un azile enchanteur» (NM II.30). Sein Glücksgefühl ist erstmals nicht mehr an ein öffentliches ‘gloire’-Streben gebunden; ja, er wird in Isolation 6b am längsten überhaupt im Zustand wahrer Freude gezeigt. Textuell wird die raumgreifende Isolation 6b auf verschiedene Weise besonders positiv herausgestellt. Zum einen durch das Einbetten in einen negativ aufgeladenen Kontext. So wird das Volk Eleuthere in seiner Glückseligkeit und Naturverbundenheit kontrastiv der zerstörten Natur des untergegangenen Zentrums von Peru gegenübergestellt.696 Immer wieder wird der am asozialen Ausbooten durch seine Kollegen leidende Kolumbus vorgeführt.697 Zum anderen fällt stilistisch die Figur des Kyklos ins Auge, der die zwei Teile der Isolation 6b über die dazwischenliegende Buchgrenze hinweg miteinander verbindet. Gebildet wird der Kyklos von zwei Vergleichen der Eleuthere-Gegend mit den Elysischen Feldern.698

694 In einer Enklave, die von den umgebenden Greueln nicht tangiert wird, macht er die Bekanntschaft eines alten Mannes, eines ehemaligen Königs, der in einem vom städtischen Treiben abgelegenen Garten seine Berufung gefunden hat (vgl. «Bêchant un sol heureux que j’ai rendu fertile», NM I.123) und der – wie Voltaires Candide – die Gesellschaft dort ändern möchte, wo er kann, und in seiner eigenen kleinen Welt (vgl. ‘il faut cultiver notre jardin’) ‘libre, tranquille, heureux’ leben möchte. Vgl. «plein de la paix qui dans son cœur habite, | Il retourne au travail ; & libre & sans ennuis, | De ses royales mains il cultive ses fruits» (NM I.125). 695 Die bei der anfänglichen Beschreibung Perus als ‘arm’ beschriebene Peripherie wird aufgrund ihrer «honorable indigence» zum Ort des Wohlfühlens: «Colomb dans ce beau lieu respire un air paisible» (NM I.123). Vgl. «[Le] bonheur qui remplit cet azile enchanté» (NM I.124). 696 Kolumbus selbst betont die Besonderheit der Glückseligkeit der Gegend: «Trop heureuses contrées | Des fiers Européens & des Rois ignorées» (NM I.143). Auch in der Antwort seines Bruders Barthélémi, dem Kolumbus von seinem Besuch bei den Eleutheres berichtet, wird die spezielle Verbindung von Kolumbus zu diesem glücklichen Volk attestiert (vgl. NM II.49, chant XVI). Kolumbus kann durch das Naturerleben beim Volk Eleuthere alles Negative um ihn herum vergessen: «dans cette campagne oubliant mes douleurs | Me nourrir de ses fruits, me coucher sur ses fleurs» (NM I.144). Vgl. ferner: «Quel contraste frappant d’un si riant azile | A ces bords où la terre engloutit une ville !» (NM I.146). 697 Vgl. «Trahi par des ingrats, traînant [...] | Seul, au fond des deserts, ma pénible existence» (NM I.143). 698 Band I endet mit chant XII, wo sich der erste Elysiumvergleich findet: «Avec moins de plaisir l’heureux fils de Cypris [sc. Énée; G.J.K.] | [...] | Vit le pur Elisée où les Sages en paix, | Sur les bords du Léthé sont heureux à jamais» (NM I.146). Der zweite findet sich in chant XIV

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Zur Glückseligkeit trägt auf entscheidende Weise Kolumbus’ Kontakt zur Spiegelfigur Sébastos bei, da beide eine spezielle Bande eint. In ihm begegnet Kolumbus erstmals einem ebenbürtigen Freund: Das Verlassenwerden durch die Spanier hat hierfür erst die nötige Prädisposition geschaffen, wovon Kolumbus’ Äußerung gegenüber Sébastos zeugt: «Mon cœur aussi brûlait, trop longtems solitaire, | De rencontrer, d’entendre, & d’embrasser un frère» (NM I.148). Hohendahls Beobachtungen zum empfindsamen Menschen lassen sich ohne Abstriche auf Kolumbus’ Lage übertragen: «[D]as freigesetzte [...] Individuum sucht nach gleichgesinnten, gleichfühlenden Seelen, mit denen es sich offen austauschen kann. Das Bedürfnis nach Freundschaft erklärt sich aus dem Bedürfnis nach dem Spiegel im anderen, nach der Möglichkeit, die eigene Subjektivität im Partner wiederzuerkennen».699 Lesuires Text führt vor, wie die Spiegelfiguren gemeinsam über den Status Quo der Entdeckung klagen, was Kolumbus folgendermaßen beschreibt: «De longs sanglots | me coupent la parole & terminent ces mots. | Le vieillaird suffoqué contre son sein me presse, | Des pleurs baignent ses yeux où se peint sa tendresse» (NM II.29). Auch hier, im Moment des höchsten Glücks, ist die bisher für die Isolationen als typisch herausgestellte Ambiguität der Gefühle gegeben: Kolumbus wird sich im von früheren Atlantisbewohnern gegründeten utopischen Staat der Eleutheres erstmals seiner eigenen Fehler bewusst. Anders als beim Kontakt zu den bisherigen Spiegelfiguren sieht er sich mit

am Ende der Isolation 6b: «Quel heureux Elisée, où tout plaît, tout étonne, | Où la raison sourit, où la vertu rayonne» (NM II.23). 699 Peter U. Hohendahl: Der europäische Roman der Empfindsamkeit, S. 11. Vgl. Gerhard Sauder: Empfindsamkeit, S. 198. Im Sinne Smiths basiert das Glücksgefühl auf der erlebten Harmonie zwischen den Emotionen beider Spiegelfiguren, vgl. Charles L. Griswold: Adam Smith and the Virtues of Enlightenment, S. 121. Exempli gratia sei auf folgende Passage verwiesen, in der die Bedeutung der Spiegelfiguren für Kolumbus markant herausgestellt wird. Hier spricht Isaure (unter dem Deckmantel des Eremiten) mit ihrem Vater (d. h. Rémond) über Kolumbus und kommt auf die Seelenverwandtschaft der beiden zu sprechen sowie auf den Austausch ihrer Leiden und ihr gemeinsames Erdulden gesellschaftlicher Laster: O mon Père, pour vous quelle félicité D’avoir un tel ami, le seul peut-être au monde Dont l’âme généreuse à votre âme réponde ! Partager ses malheurs est un sort plein d’attraits, Et, dans mon cœur sensible, un Dieu grava ses traits. Dès la première fois qu’il s’offrit à ma vue, Je sentis dans mon âme une joie imprévue, Je croyais voir la terre implorer son appui, Et l’univers soumis s’incliner devant lui. (NM I.117, chant X)

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ausnahmslos kritischen Worten konfrontiert,700 wenn ihm Sébastos in Fremdwahrnehmung vorhält: O fatal Etranger, dit-il en gémissant, Quel projet t’a conduit dans ces tristes contrées De tes rives en vain par les eaux séparées ? O ma chere Patrie, enviant tes trésors, D’indignes ennemis vont inonder tes bords. Ah ! nous ne pouvons plus habiter nos vallées ! Il ne nous reste plus, Nations désolées, Qu’à fuir dans ces climats qu’un naufrage fatal Nous a fait découvrir vers l’hémisphère Austral. Oui, cruels Etrangers, à vos desirs avides Nous laisserons nos champs abandonnés & vuides. Adieu, terre natale, où j’obtins un berceau, Tu ne m’offriras plus l’azile du tombeau. (NM II.25, chant XIV, Hervorh. G.J.K.)

Dass Sébastos im Dialog mit Kolumbus diesen zuerst im Singular anredet («fatal Etranger»), dann bei seiner Apostrophe unvermittelt zum Plural wechselt («cruels Etrangers») legt nahe, dass Kolumbus dieser Reihe von «cruels Etrangers» zuzurechnen ist und Teil der negativen spanischen Maschinerie ist. Am Ende des Dialogs sehen wir, wie diese nicht zu leugnende Bindung an seine Semiosphäre Kolumbus in eine tragische Lage versetzt: ‹Heureux vieillard, lui dis je, & toi peuple chéri, O que je plains l’Europe & que je vous admire ! Que ne puis-je rester dans votre heureux Empire ! Mais ma patrie enfin me réclame, & je dois Lui porter en tribut vos vertus & vos loix. Je ne veux plus revoir un séjour que j’envie. Peut-être en le quittant y perdrois-je la vie ; Il faut nous séparer.. [sic!] Adieu.› (NM II.29, Hervorh. G.J.K.)

Beim letzten Vers wird Kolumbus der pathosträchtige Kernvers aus dem dritten und vierten Akt von Racines Bérénice in den Mund gelegt und mithilfe dieses Versatzstücks das tragische Moment des Dramas in das Epos eingespiegelt.701 Der Satz, dessen Tragik sich bei Racine aus dem Umstand speist, dass der römische

700 Meist war er ja als positives Element inmitten seiner Semiosphäre herausgestellt worden (z. B. in Mexiko). 701 Das Heranziehen von Racines Bérénice als intertextueller Referenz zeichnet Kolumbus’ spezielle tragische Lage durchaus treffend nach. Bernhard Huss: Die Katharsis, Jean Racine und das Problem einer ‘tragischen Reinigung’ bei Hofe. Philologie im Netz 49 (2009), S. 47, merkt an, dass man gerade in diesem Stück «am besten die Zurückdrängung der aristotelischen Wirkaffekte zugunsten einer Privilegierung einer umfassenden ‘tristesse majestueuse’» erkennt.

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Kaiser Titus aufgrund der Staatsräson und durch Druck seines Volkes die jüdische Prinzessin Berenike verlässt und nicht heiratet, wird hier zur Verdeutlichung der psychischen Disposition des empathischen Kolumbus angewandt. Obschon von seinen Leuten zurückgelassen, obschon aktuell in Eleuthere permanentes Glück erlebend,702 bringt Kolumbus es nicht übers Herz, zu verweilen und gibt der Neigung nach, seine Leute zu besseren Menschen machen zu wollen. Kolumbus’ Ideologie hat sich an dieser Stelle klar von einer friedlichen Eroberung hin zum Applizieren der in Eleuthere (d. h. bei den früheren Atlantisbewohnern) erlernten Tugenden auf sein eigenes Volk verschoben. Selbst wenn Kolumbus’ Schwerpunktsetzung sich damit klar von der öffentlichen ‘gloire’ wegbewegt hat, wird er doch das ganze Epos hindurch bis zu seinem Tod die problembehaftete Personalunion zwischen ‘Privatmann’ und ‘öffentlichem Funktionsträger’ nicht abschütteln können. Die folgende Isolation 6c zeigt den in sich zerrissenen, identitätssuchenden Kolumbus, den nach dem selbstgewählten Verlassen der Gemeinschaft in Eleuthere eine innere Leere quält, und der desillusioniert ohne klare Stoßrichtung Nordamerika durchquert:703 «Il semble qu’en quittant une cité si chere, | Tout devienne à mes yeux lugubre & solitaire. | J’étouffe dans mon cœur mes soupirs superflus, | Et promène long-tems mes pas irrésolus ; | Indifférent dès-lors pour toute autre contrée» (NM II.30). Bei seinem monatelangen Aufenthalt in Nordamerika nimmt Kolumbus in Folge seiner Immersion in diese Ereignisregion die Lebensweise der dort hausenden wilden Einwohner an und wird zu einem zweiten Herkules: «Seul, confiant ma peine aux échos des forêts, | Sous la peau d’un lion, comme on nous peint Alcide, | Armé d’une massue & d’un dard homicide» (NM II.30 f.).704 Der Vergleich mit Herkules unterm Löwenfell ist spielerisch gewählt: Nach den bisherigen drei großen Spiegelfiguren (dem Dolmetscher, dem Mexikanerkönig und Sébastos) baut der entsozialisierte Kolumbus mit einer nichtmenschlichen Spiegelfigur aus der nordamerikanischen Ereignisregion

702 Vgl. die Setzung von ‘heureux’ im Fettdruck des obigen Zitats. 703 Bei seinem Bericht an seinen Bruder über seine beiden Isolationen (6b und 6c) erscheint die zweite Isolation durch Nordamerika gegenüber dem Besuch bei den ‘Eleutheres’ in klar negativem Licht; vgl. «Tu crois que mes accens, avec l’art des Sirènes | Vont chanter des exploits ; je vais t’offrir des peines» (NM I.142, chant XII). 704 Bei der Beschreibung seines Schauplatzes häuft sich die Verwendung des Attributs ‘sauvage’, vgl. «sous le ceintre sauvage»; «la caverne sauvage» (NM II.32). Vgl. ferner «Imitant & la vie & les mœurs d’un sauvage» (NM II.31); «Vers un antre voisin [...] en rampant je me traîne» (NM II.31) usw. Als veränderter Kolumbus mit Zügen des Herkules kehrt er am Ende seiner Isolation schließlich auch in den Ausläufer der europäischen Semiosphäre in Hispaniola zurück, vgl. weiter unten. Vgl. zudem Kap. 3.2.4 zur Durchquerung Nordamerikas und der wissenschaftlichen Begründung der Charakteränderung durch Buffons Klimatheorie.

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Kontakt auf, nämlich zu einem Gegenstück des aggressiven Nemeischen Löwen. Kolumbus’ zahmer Löwe wird mit seiner pazifistischen Art zum «protecteur de [s]es jours» (NM II.34), bessert seine Gefühlslage auf, wird ihm ein besserer Freund als jedweder Spanier.705 Als sein beschützender Löwe eines Tages nicht mehr zurückkehrt, muss Kolumbus inmitten von Giftschlangen und in Dunkelheit um sein Überleben bangen.706 Die Heiße Zone erweist sich des Nachts als unwirtlich kalte «zône glaçante» (NM II.43), sodass sich Kolumbus gezwungen sieht, mehrere Feuer

705 Vgl. NM II.33 f.: «Un lion me nourrit sur ces arides sables. | Que de maux je souffris vivant chez mes semblables ! | Fier d’un tel compagnon je parcours ces deserts. | Nous offrons deux amis au nouvel univers». 706 Vgl. NM II.35. Den Höhepunkt seiner Leidensgeschichte bildet schließlich seine Gefangennahme durch wilde Kannibalen. Diese Episode (vgl. in der Appendix den ‘Kannibalenexkurs’, NM II.36–38) liefert ein eindrückliches Beispiel dafür, wie bei Lesuire antike und frühneuzeitliche Intertexte miteinander verschmelzen. Ab NM II.31 kommt es zu einer Umschreibung der bekannten antiken Geschichte vom Sklaven Androklus – so überliefert u. a. Aulus Gellius in seinen Noctes Atticae V, 14. Kolumbus durchwandert wie dieser Wüsten und einsame Felder und flüchtet sich zum Schutz in eine Höhle, wo er auf einen verletzten Löwen trifft, dem er einen schmerzenden Sporn aus der Pranke zieht, wodurch er dessen Freundschaft gewinnt. Der zweite Teil der antiken Geschichte wird dabei kunstvoll mit einem frühneuzeitlichen Intertext verquickt: Im antiken Text erkennt der Löwe den Sklaven wieder, als letzterer ihm in einer Löwengrube/Arena zu Unterhaltungszwecken zum Fraß vorgeworfen werden soll, und verschont ihn. Bei Lesuire wird Kolumbus durch wilde Kannibalen angegriffen, gefangengenommen, misshandelt und wohnt ihren «festins horribles» (NM II.37) bei, bei denen er schließlich einem ausgehungerten Löwen vorgeworfen werden soll. An der Seite von Kolumbus werden weitere Kriegsgefangene gebraten, die einem verfeindeten Kannibalenstamm angehören und furchtlos triumphierende Gesänge anstimmen. Der jüngste unter ihnen beginnt eine eindrucksvolle Rede, in der er erklärt, dass er selbst bereits viele feindliche Kannibalen getötet und gegessen habe, vgl. NM II.38: «J’ai dévoré leurs chairs, & j’ai bû dans leurs crânes ; | Alimens des brasiers, sous mes yeux satisfaits, | Ils brûloient tout vivans, je me chauffais en paix. | C’est votre sang, cruels, qu j’ai bû sans scrupule, | Qui, par moi consumeé, dans mes veines circule ; | C’est votre chair enfin, pour prix de vos efforts, | Que vous allez reprendre en dévorant mon corps». Als Intertext fungiert hierbei Jean de Lérys Histoire d’un voyage fait en la terre du Bresil; im Folgenden zitiert nach Jean de Léry: Histoire d’un voyage fait en la terre du Bresil, autrement dite Amerique. La Rochelle: Chuppin 1578. Lesuires Kannibalen ‘Nordamerikas’ nehmen unverkennbar Züge der «nations Barbares de la terre du Bresil» (ebda., S. 256) an, wie sie Léry in Kap. XV beschreibt, vgl. insbes. «i’ay mãgé de tõ pere : à l’autre i’ay assomé & Boucané [d. h. geröstet; G.J.K.] tes freres : bref, dirail, i’ay en general tãt mangé d’hommes & de femmes, voire des enfans, de vous autres Tououpinambaoults que i’ay prins en guerre que ie n’en say le nombre: & au reste ne doutez pas que les Margaias de la nation dont ie suis pour venger ma mort n’en mangẽt encores cy apres autant qu’ils en pourront attraper» (S. 239). Flankierend hierzu werden von Lesuire punktuell zusätzlich andere aus dem Mittelalter bekannte Stereotypen bezüglich der Ureinwohner eingebunden, etwa deren viereckige Köpfe, vgl. «Ici les habitans [...] | Ont la tête quarrée» (NM II.44).

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zu schüren, um sich warmzuhalten. Unabsichtlich springt eine der Feuerstellen auf umliegende Bäume über,707 bis die ganze Gegend lichterloh brennt. Ohne es zu wollen, folgen die Flammen Kolumbus, wohin er auch geht. In einer Art ‘Mise en abyme’ wird so die globale Raumkonstruktion des unheilvollen Kontakts der Semiosphären in Kolumbus’ Isolation als Mikrochronotopos eingespielt: «L’azur des cieux rougit, & paraît tout sanglant. | Je me hâte de fuir, & dans un vaste espace | Le feu me suit par-tout, acharné sur ma trace» (NM II.42). Trotz des völligen Entzugs menschlicher Zivilisation und der Trennung von der spanischen Semiosphäre wird Kolumbus zum Missetäter an der Neuen Welt. Unerbittlich verfolgt ihn seine Vergangenheit, sein (nun nicht mehr aktiv verfolgtes) ‘gloire’-Streben.708 Trotz seiner zunehmend negativen Erfahrungen zieht Kolumbus aber ein durchaus positives Fazit seiner gut einjährigen Isolation: Malgré le poids des maux qui, dans ce long voyage, Avaient à chaque pas exercé mon courage, Long-tems de ces deserts l’imposant souvenir Dans mon cœur attendri pourra se maintenir. Au sommet des rochers, & le Ciel sur ma tête, J’osais, le front levé, défier la tempête. Ces rochers, ces torrens, ces épaisses forêts, Auront dans le lointain mes éternels regrets ; Rien n’y gênait, du moins, ma pénible existence ; Mon ame s’étendait dans leur espace immense ; Et semblait s’agrandir du vuide qu’en tous lieux L’absence des humains y laissoit [sic!] à mes yeux. J’osais m’entretenir avec l’Etre-Suprême, J’avais pour confident & pour ami Dieu même. Marchant sous ses regards, n’ayant que son appui, Seul, au-dessus de moi, je ne voyais que lui. (NM II.46 f., Hervorh. G.J.K.)

In Kolumbus’ Resümee schlägt sich die wachsende private Verbindung zu Gott positiv nieder, die ihn vom Gros der Menschen unterscheidet. Erstmals verbalisiert er sein verändertes religiöses Verständnis, nachdem er in Isolation 6b bereits mit dem speziellen ‘Tempel’ des Sébastos konfrontiert worden war, wo er

707 Vgl. «L’Aquilon, de ces feux enlève une étincelle. | Des arbres desséchés [...] | Prennent feu tout-à-coup, embrâsent ces deserts ; | Et le vent dispersant la flame & la fumée, | Une immense forêt soudain brille enflammée» (NM II.42). 708 Kurz zuvor hatte Kolumbus bereits Nordlichter gesehen, die er – in Gedanken an die spanische Semiosphäre – aufgrund seines Einblicks in das Priesterwissen – als Warnung vor den zu erwartenden blutigen Greueltaten deutet: «ces vives couleurs, aux ames alarmées, | Dans le Ciel menaçant, présentent des armées ; | La pourpre ensanglantée annonçant les combats, | Présage aux Souverains le sang & le trépas».

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am Isthmus von Panama Gottes Wirken im omnipräsenten, beeindruckenden Schöpfungswerk erkennen konnte. Bei seiner Durchwanderung Nordamerikas (Isolation 6c) sind es nun «ces rochers, ces torrens, ces épaisses forêts» (s. obige Unterstreichungen), die den Anstoß für das Sich-Verlieren in Gott geben: «Mon ame s’étendait dans leur espace immense !». Die monatelangen Qualen und seine Nahtod-Erfahrung verbinden sich hier mit religiöser Läuterung. Angesichts der hohen Wahrscheinlichkeit, umzukommen, zeigt sich Kolumbus in einem Gebet voller Reue, sich für das Projekt entschieden zu haben, sich vom «fol amour de gloire» (NM II.48) geleitet haben zu lassen und die sofortige Ehe mit Isaure ausgeschlagen zu haben. Seine Isolation erkennt er erstmals als eine göttliche Bestrafung für die in die Neue Welt gebrachten Leiden: Qu’il va naître de maux d’un projet si funeste J’en suis enfin puni par le courroux céleste ; Mais si j’en dois périr, que du moins mon trépas A l’Europe à jamais dérobe ces climats. (NM II.48, Hervorh. G.J.K.)

Die fett gedruckten Versteile referieren dabei auf Kolumbus’ früheres Gebet in Hispaniola, wo er ebenso zu Gott gebetet hatte. Seinen Wunsch «Fais-nous périr, grand Dieu, [...] | [...] Et qu’à jamais l’Europe ignore ces climats» hatte er jedoch seinerzeit an folgende Bedingung geknüpft: «Si nos travaux devaient [...] | [...] coûter des pleurs» bzw. «S’ils [sc. ces climats; G.J.K.] doivent être en butte à ses noirs attentats» (jeweils NM I.63). Die damals vorausgesetzten Bedingungen sind im Laufe des Epos eingetreten, die Greueltaten nun traurige Gewissheit. Eben an dieser Stelle der melancholischen Reflexion greift Lesuire merklich auf die epischen Gedichte James MacPhersons zurück.709 Tieghem hat herausgearbeitet, welchen großen Einfluss die Gedichte gerade zwischen 1760 und 1800 nicht nur auf die französische Literatur ausübten bzw. auf welch fruchtbaren Boden sie gefallen sind:710 «la poésie ossianique a séduit son siècle par cette couleur générale de rêve, de regret, de mélancolie».711 Das typischste Merkmal der schot-

709 Vgl. Kap. 1.2.1. 710 Vgl. Paul van Tieghem: Le Préromantisme, S. 217. Ab 1777 lagen sämtliche Texte in französischer Übersetzung vor. Kleinere epische Gedichte (u. a. Temora) schon ab 1774 (vgl. ebda., S. 225 und S. 230). Lesuire waren diese Gedichte bekannt, s. die Erwähnung in seiner ‘Préface’. Zeitgleich zum Nouveau Monde veröffentlichte Perreau seine von MacPherson inspirierten Scènes Champêtres (1782). Vgl. ferner ebda., S. 278 f.: «les poèmes paraissent juste au moment où dans toute l’Europe les yeux s’ouvrent enfin à la beauté des paysages et l’âme aux émotions qu’ils inspirent». 711 Ebda., S. 283. Vgl. «On raconte dans ce style des aventures héroïques et sentimentales, sentimentales surtout, semblables à celles qui remplissent les poèmes ossianiques» (ebda., S. 240).

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tischen Gedichte ist «[leur] paysage [...] grand, monotone et stérile. On quitte les sites riants et les aspects familiers pour rêver à de vastes contrées nues et austères, peuplées de brouillards et de nuages»;712 Lesuires Nordamerika ist eine mit eben all diesen Elementen angereicherte Landschaft: [...] dans cette solitude Je traînais à pas lents ma longue inquiétude ; Et depuis deux Soleils, pour combler mes tourmens, La terre à mes besoins n’offrait plus d’alimens. Un [sic!] obscure vapeur s’élève de la plaine, Répand un voile épais sur ma vue incertaine, Et fait que je m’engage en de vastes deserts Où languit la Nature au bout de l’Univers. Quand le nuage sombre à mes yeux s’évapore, Au faible éclat du jour dont le Ciel se colore, Je vois un sable immense, où l’aspect de la mer Au bord de l’horison se confond avec l’air. [...] Je sens que la clarté s’éteint pour ma paupière, Et que mon ame est prête à quitter la lumière. (NM II.47, Hervorh. G.J.K.)

Der Umstand, dass an dieser Stelle des Epos ein völlig auf sich gestellter Kolumbus ohne seine bisherigen Glücksquellen (die Erfüllung eines öffentlichen ‘gloire’Strebens und das Leben inmitten einer utopischen Gesellschaft) auch noch nordamerikanische «mornes déserts» (NM II.30) ossianischer Prägung durchqueren muss, verleiht Kolumbus’ Melancholie (vgl. «mon ame est prête à quitter la lumière») speziellen Nachdruck. Lesuires Kolumbusbild wird durch die markante Form ossianischer Tristesse angereichert, von der Tieghems folgende Ausführungen Zeugnis ablegen: La tristesse ossianique repose sur un sentiment profond et sincère de l’instabilité des choses humaines, de la fuite irréparable de la gloire et du Bonheur. En empruntant à la légende irlandaise le vieux barde aveugle, dernier survivant d’une génération de héros, en faisant de lui l’interprète de ce que l’âme moderne sentait s’éveiller en elle d’inquiétude inassouvie, d’aspirations vagues et de regrets d’un idéal évanoui, le jeune Macpherson avait fait un coup de maître.713

712 Ebda., S. 278. Auch Lesuire lässt sich «de ce sombre, vague, mélancolique monde ossianique» (ebda., S. 282) inspirieren, «pour exprimer l’état d’âme du héros». Dass sein Kolumbus just im Norden Amerikas seine längste Isolation überstehen muss, kann als Spiel mit «la grande fontaine du Nord, où tous les bardes se sont enivrés de mélancolie» gewertet werden, von der Tieghem (ebda., S. 283) spricht. 713 Ebda., S. 283 f.

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Fassen wir zusammen: Seit Kolumbus’ Begegnung mit den Atlantispriestern hat sich seine Ideologie gewandelt. Sein Versuch, den Clash der Semiosphären in Peru durch die Entwaffnung seiner Leute zu vermeiden, ist gescheitert. In der Folge hatten wir es mit einem Kolumbus zu tun, der seine Schuld eindeutig eingesteht und in dem ein neues Ziel reift: die Applikation der Eleuthere-Atlantis-Tugenden auf seine Leute. Die Rückkehr nach Hispaniola wird ihm diese ermöglichen. Hispaniola 2 (Kolumbus’ selbstgewählte Isolation) Während Kolumbus’ langandauernder Isolation entwickelt sich auch der in Hispaniola verweilende Rest der Spanier unter Valverdes Leitung in seiner Eigenart weiter. In (das von Kolumbus seinerzeit noch unter heiterem Himmel verlassene) Hispaniola ist Düsternis eingekehrt.714 Überlebende Ureinwohner gibt es fast nicht mehr, demzufolge auch keinen intersemiosphärischen Kontakt. Die Spanier, die in den Goldminen die versklavten Indigenen zu Tode gequält haben, stehen ihrerseits kurz vor dem Ableben, da sie in ihrer Goldsucht lebensnotwendige Grundbedürfnisse ausblenden. Der charakterlich veränderte, mit seinem Bruder nach Hispaniola zurückkehrende Kolumbus invertiert in jeder Hinsicht das Verhalten der Spanier.715 Während diese sich lediglich auf das verstreut daliegende Gold konzentrieren,716 liest Kolumbus die verstreut daliegenden Knochen der verstorbenen Goldsammler auf. Im symbolischen Akt einer vereinenden Feuerbestattung vermengt er die Knochen der «Castillans, Indiens, esclaves & tyrans» zu einer einzigen Asche: «Dans une urne mêlant leurs cendres réunies» (NM II.55) und appelliert dabei an das sofortige Ende der Greueltaten. Dass Lesuires Held dabei die positiven Züge eines weisen Ureinwohners trägt, klingt unseres Erachtens recht subtil an. Der Akt des Verbrennens der Knochen zu einer ‘einzigen Asche von Brüdern’ findet sich nämlich auch in Marmontels Intertext 714 Vgl. NM II.54: «Sur ces bords désolés», «que des champs funéraires», «les deserts sanglans», «des spectres décharnés». «[L]e Prêtre fanatique» (NM II.52) inszeniert sogar ein Autodafé, bei dem auch Tindal verbrannt werden soll. Schon sein Bruder Barthélémi berichtet ihm (in chant XI) von dieser Verdüsterung, vgl. «que de lugubres bords», «cette isle infortunée» (NM I.128). Seine drastische Beschreibung der Lage in Hispaniola und des Vorgehens der spanischen «monstres» (NM I.143, chant XII) werden alle bestätigt. 715 Seine charakterliche Veränderung ist weiterhin an seinem herkulischen Aussehen abzulesen, das er bei der Rückkehr nach Hispaniola beibehält: «L’Amiral vers le port avec grandeur s’avance | Une peau de lion couvre son corps immense. | En forme de carquois, son tube étincelant | A ses fleches uni, forme un faisceau brillant. | Sa main porte le poids d’une lourde massue ; | Celle du grand Alcide effrayait moins la vue» (NM II.51). 716 Vgl. NM II.54 f.: «Les tyrans détestés qui firent leurs malheurs, | Aussi tourmentés qu’eux de plus justes douleurs, | Soupirent, en mourant, pour un métal frivole | Qui s’enfuit de leurs mains comme l’eau du Pactole».

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und wird dort bezeichnenderweise von einem alten weisen Ureinwohner formuliert, dem Pizarro bei seinem Weg vom Isthmus von Panama Richtung Äquator begegnet war.717 Von den Invasoren auf den Scheiterhaufen gebracht, hatte sich dieser in einer von stoischer ‘Patientia’ geprägten Rede über das blutige Metzeln der Spanier lustig gemacht718 und dessen Sinnlosigkeit herausgestellt, zumal in kurzer Zeit ohnehin alle Beteiligten gleichermaßen als Brüder vereint würden: «et vos ossements et les nôtres, confusément épars dans nos champs désolés, feront la paix, reposeront ensemble, et mêleront leur poussière, comme des ossements amis». Die rhetorische Strategie des Alten Weisen setzt Lesuires Kolumbus bei seiner Ankunft in Hispaniola auf seine Weise performativ um.719 Die Ereignisregion um Hispaniola wird nicht nur aus historischen Gründen ein zweites Mal in Lesuires ‘Dispositio’ aufgenommen, sondern dient insbesondere der Nachzeichnung des Versuchs des Genuesen, seine neue Ideologie umzusetzen. In der Tat gelingt Kolumbus nach der ersten Aporie in Anbetracht des chaotischen Zustands Hispaniolas, den er «en pleurant» (NM II.55) wahrnimmt, ein scheinbar glücklicher Neustart mit den verbliebenen Spaniern. Er führt mithilfe eines einzelnen Ureinwohners und seines ‘savoir-faire’ in Hispaniola die Agrikultur ein, die ja einen Teil der Lehre der Atlantispriester bzw. der früheren Atlantisbewohner in Eleuthere darstellte.720 Das ‘adoucir’ der Sitten, das er ursprünglich im Rahmen des intersemiosphärischen Kontakts den Bewohnern der Neuen Welt zukommen lassen wollte, wendet er nun intrasemiosphärisch bei seinen eigenen Leuten an.721 Trotz veränderter Ideologie kann Kolumbus aber inmitten der spanischen Semiosphäre kein dauerhaftes Glück mehr erlangen. Selbst wenn er oberflächlich alles im Griff zu haben scheint, bleibt der Kern der spanischen Semiosphäre unverändert, mit Blick auf Kolumbus’ Regeln widerspenstig und unbelehrbar.722 Die Spanier bilden lediglich eine in die eine oder

717 Vgl. INC 165, chapitre XVII. 718 Vgl. «brûlez, déchirez, tourmentez ce corps». 719 Auf die mit der ‘Asche der Brüder beider Welten’ gefüllte Urne wird als ‘Basso continuo’ in den folgenden chants weiter angespielt, was die Bedeutung der Stelle herausstellt, vgl. «dans ses bras, il tient l’urne sacrée | Qui renferme des morts la cendre révérée» (NM II.109) oder «Toujours à son chevet est l’urne funéraire, | De la cendre des morts triste dépositaire» (NM II.168). 720 Vgl. «Laissez l’or, ce fléau, cette source de guerre | [...] | Et dans les champs féconds cherchez les vrais trésors» (NM II.56 f.) und dazu NM II.1 mit der Beschreibung der Agrikultur in Eleuthere: «La Terre est divisée en portions égales ; | Ici tout est campagne, & tout est cultivé». Vgl. im Detail Kap. 3.2.4. 721 «Des bûchers solemnels il étaignait les flames, | Adoucissait les mœurs, & régnait sur les âmes» (NM II.57, Hervorh. G.J.K.). 722 Vgl. «[Colomb l]es retient frémissans sous le joug de la loi» (NM II.67). Auch von ihrer Disposition zur Habsucht sind sie nicht abzubringen, vgl. NM II.57: «Malgré ces vains conseils,

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andere Richtung zu bewegende, formbare Masse, die zwar auf einen Anführer angewiesen ist, ihm aber v. a. Unmut und Neid entgegenbringt.723 Enttäuscht und auf der Suche nach permanentem Glück sucht Kolumbus Abstand724 und gelangt in die Enklave Zilnas und Tindals (Isolation 7a), wo sich für ihn die glückgenerierenden Erlebnisse im Randbereich Perus und in Eleuthere (i. e. die Isolationen 6a und 6b) wiederholen.725 Einen längeren Aufenthalt in Hispaniola erträgt Kolumbus schon nicht mehr. Isolation 7b zeigt den Helden bei der Rückkehr aus der Enklave nach Hispaniola, wo er sich zum Erhalt seines psychischen Wohlergehens sofort wieder isolieren muss.726 Isolation 7c impliziert recht deutlich eine längere Phase des Pendelns zwischen der Insel Zilnas und Hispaniola.727

ces monstres homicides, | Au fond des souterrains plongeaient des yeux avides». Zu Kolumbus halten sie nur deshalb, weil der andere Anführer, Valverde, durch sein Vorhaben, Kolumbus zu opfern, definitiv den Bogen überspannt hat (vgl. «Ces mots [...] | Sur leurs fronts indignés font dresser leurs cheveux», NM II.53, chant XVI). 723 Vgl. NM II.66: «L’éclat de ses hauts faits à leurs yeux est un crime. | Plus sa gloire s’accroît, plus leur fiel s’envenime. | Ses bienfaits sont tombés sur des hommes trop bas : | Et, sans faire un heureux, il a fait mille ingrats. | [...] | Il est, de ces brigands la terreur & l’appui ; | Et, nourris par ses soins, ils tremblent devant lui». 724 Vgl. erneut passenderweise Baasners Ausführungen zum empfindsamen Individuum: «Von Natur aus zum Glück durch aktive Tugendausübung bestimmt, erreicht die empfindsame Seele diesen Zustand nur selten. In mehr oder weniger polemischer Abgrenzung gegenüber der korrupten, libertinistischen Gesellschaft zieht sie sich auf sich selbst und die wenigen verwandten Seelen zurück. Leiden an den Umständen der Realität gehört zu den Merkmalen eines Menschenideals, das gerade in diesem Leiden seine eigene Bestätigung findet» (Frank Baasner: Der Begriff ‘sensibilité’ im 18. Jahrhundert, S. 174). 725 Zahlreich sind daher die rhetorisch-strukturellen Analogien zwischen der Enklave Zilnas und Tindals und der Enklave der Isolationen 6a und 6b. Bei der Insel Zilnas und Tindals handelt es sich um ein unbekanntes Refugium fernab des Kontinents (vgl. NM II.64). Sie ist wieder in eine Landschaft blühender Gärten versetzt (vgl. «leur champ fécond», «[l]eur jardin gracieux par leurs soins cultivé», NM II.63). Auf die analog modellierte Landschaft der Eleutheres wird sowohl wörtlich angespielt (vgl. «Jamais, dans les vallons des heureux Eleutheres, | De plus brillants attraits n’ont paré leurs bergères») als auch durch verschiedene inhaltliche wie stilistische Parallelen: Zilnas weiße Haut hat «[d]’un riant incarnat la nuance légère» (NM II.61) genauso wie die Hautfarbe der Bewohner von Eleuthere (vgl. «la blancheur mêlée au plus doux incarnat», NM I.145). Zweimal wird Zilnas Insel mit dem Elysium verglichen (vgl. «le paisible Elisée», NM II.66; bzw. «Tel était Élisée», NM II.77). Einen solchen Elysium-Vergleich hatte es zuvor im Epos nur mit Blick auf Eleuthere gegeben. 726 Vgl. «De retour sur les bords qu’habitent ses soldats, | Dans un bois solitaire il égare ses pas» (NM II.66). 727 Vgl. «Il retourne souvent, de ce lieu sanguinaire, | Au sejour de Zilna, de sa touchante mère ; | Et cherche l’avantage, en des momens chéris, | De répandre son cœur dans des cœurs attendris. | Quittant, des Espagnols la demeure importune, | Il y laisse avec eux le crime & l’infortune ; | Et,

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Die selbstgewählten Isolationen (7a, 7c, 7e) auf Zilnas Insel läuten das Ende des Aufenthalts in der Neuen Welt ein und kulminieren schließlich in der Katastrophe. Aufgrund desselben Gefühls der Loyalität und Verpflichtung gegenüber seiner Semiosphäre, aus dem er Eleuthere (Isolation 6b) verlassen hatte, kehrt Kolumbus von Zilnas Insel immer wieder nach Hispaniola zurück. Dabei haben die Anfeindungen seiner Leute bereits wieder solche Ausmaße angenommen, dass sie ihm, als er sich auf Zilnas Insel befindet, über Las Casas die falsche Nachricht zukommen lassen, ein Abgeordneter des spanischen Königs sei nach Hispaniola gekommen und wolle ihn sofort sehen – woraufhin Kolumbus zügig abreist, um letztlich nur von den Spaniern in einen Kerker geworfen zu werden (Isolation 7d).728 Einen förderlichen intrasemiosphärischen Kontakt gibt es nicht mehr. Nach den langandauernden fremdbestimmten Isolationen (6a, 6b und 6c) durch die Spanier besiegelt Kolumbus’ permanentes selbstgewähltes Flüchten auf Zilnas Insel (7a, 7c, 7e) die beidseitige Distanz, die Inkompatibilität zwischen Kolumbus und den Spaniern. Am Ende leitet Kolumbus durch sein Hin- und Hergerissensein und seine tragische Personalunion selbst die Katastrophe ein: Zwar stiftet er in der Enklave einerseits sehr wohl Glück, indem er die beiden Halbgeschwister Tindal und Zilna vermählt,729 andererseits sorgt sein pendelndes Grenzgängertum just für das Einführen des Negativen in die Neue Welt. In Fortführung des Bildes des überspringenden Feuers (aus Isolation 6b) folgt das Unheil Kolumbus auf Schritt und Tritt: «‹Ah ! disait l’Amiral, je cause vos disgraces, | L’infortuné en tous lieux s’acharne sur mes traces›» (NM II.80). Zuerst ist es (in Isolation 7c) ein von den Spaniern angeheuerter Ureinwohner, der Kolumbus verfolgt und dann – beim Versuch Kolumbus zu töten – versehentlich Tindal mit einem Pfeil schwer verwundet. In Isolation 7e betritt dann die gesamte spanische Semiosphäre die Enklave, nachdem sie Kolumbus zuvor auf Hispaniola durch ein Getränk vergiftet hatte.730 Durch diese abschließende Interaktion zwischen Alter und Neuer Welt, diesem erstmaligen Eindringen der Spanier in eine zuvor

loin de ces cruels, près de ces doux objets, | Va trouver le Bonheur, l’innocence & la paix» (NM II.67, chant XVII). 728 Vgl. NM II.83, chant XVIII: «Colomb fait son devoir». Isolation 7d zeigt Kolumbus erstmals im Kerker in Hispaniola, wo ihn die Gedanken an Zilna und Tindal quälen. Verlassen kann er den Kerker (und Isolation 7d) schließlich aufgrund eines dort gelegten Brands, eines erneuten Mordversuchs der Spanier gegenüber ihrem Anführer. 729 Vgl. «[Q]u’enfin le bonheur, dans votre sein tranquille, | Exilé de la terre, ait ici son azile» (NM II.79). 730 Vgl. NM II.89: «les cruels dont la main forcenée | Prépara pour Colomb la coupe empoisonnée, | Arrivent furieux sur ce malheureux bord, | Pour jouir de sa peine & contempler sa mort». Durch die Einnahme von Heilkräutern kann Kolumbus der Vergiftung jedoch entgegenwirken.

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ausschließlich Kolumbus zugängige Enklave, wird die bisher gängige intersemiosphärische Raummodellierung des Epos beim letzten intersemiosphärischen Kontakt konterkariert. Eine ähnliche Abkehr vom Bekannten impliziert auch die Raummodellierung im Rahmen der anschließenden Einkerkerung von Kolumbus und Tindal in Hispaniola (Isolation 7f):731 Seines Isolationsortes beraubt, erscheint Kolumbus der Tod als letztmögliches Refugium, um sich vor den Greueltaten der Spanier abzusondern. In Gedanken formt er sich seinen eigenen, hypothetischen Rückzugsort (Isolation 7g): Levant les yeux vers le Ciel qu’il implore, Le Héros dans les airs croit voir Clémence Isaure, Zilna, sa tendre mère, & son époux heureux, Qui planent devant lui, fantômes lumineux. Détaché de la terre avec eux il respire, Loin des hommes cruels dont il brave l’empire ; Et, de son sort affreux, sentant moins la rigueur, Dans un monde celeste égare son cœur. (NM II.94)

Eine Isolation vor den Spaniern ist am Ende des intersemiosphärischen Kontakts nur noch innerhalb eines projizierten Raums möglich, nicht mehr innerhalb der Neuen Welt. Erstmals wird hier also etwas positiv Konnotiertes in einen solchen projizierten Raum verlagert. Das widerspricht dem bisherigen Vorgehen, bei dem der vom ‘gloire’-Streben motivierte Kolumbus im Rahmen seiner Isolationen in derlei projizierten Räumen mit Horrorszenarien konfrontiert worden ist. Europa (Kolumbus’ veränderte Sicht; Spiegelfiguren) Die letzten Gesänge zeigen Kolumbus auf dem Weg Richtung Europa bzw. in Spanien und Italien. Während die Spanier voller Freude ob ihrer Leistung die Rückfahrt antreten, sind Kolumbus’ Gefühle beim Verlassen der Neuen Welt negativ: Im vollen Bewusstsein seiner Schuld zieht er sich sichtlich belastet zurück (Isolation 8a) und es kommt zur längsten Beschreibung negativer Gefühle und Imaginationen im Epos.732 In Isolation 8b erreicht diese Gefühlslage einen

731 Die Spiegelfiguren Tindal und Kolumbus tauschen sich dort über ihr Liebesleid und ihren Wunsch, zu sterben, aus: «Ils savourent tous deux, aspirant à périr, | La douceur de pleurer, & celle de mourir»; «La mort est mon recours, dans son sein je m’élance» (NM II.93, chant XIX); «lasse des horreurs de son malheureux sort, | En fermant sa paupière, il [sc. Colomb; G.J.K.] appelle la mort» (NM II.94). 732 Vgl. u. a. «O Dieu, ces maux sont mon ouvrage !» und «Dans un sombre réduit lentement il se traîne» (NM II.99). Die gesamte Seite in NM II.100 und auszugsweise folgende Verse (Hervorh. G.J.K.) belegen, wie sehr Kolumbus auf allen sinnlichen Ebenen (optisch, auditiv, haptisch) von den imaginierten Greueltaten heimgesucht wird: «Il se peint les horreurs par

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Höhepunkt, als Kolumbus mit Albuquerque, dem Anführer eines den Weg kreuzenden portugiesischen Schiffes, ein ausführliches Gespräch anknüpft und gegen sein eigenes Projekt Position bezieht. Albuquerque bildet insofern Kolumbus’ Spiegelfigur, als er als Seefahrer im Dienste Portugals identische Qualen und die schlimmen Folgen für den jeweils betroffenen, neu entdeckten Kontinent (d. h. Asien bzw. Amerika) erleben musste. Albuquerque vereint in sich dabei die Elemente der bisherigen Spiegelfiguren. Wie Sébastos ist der Portugiese ein Weiser, der mit Kolumbus seine Sonderstellung teilt und mit «élans sublimes» ausgestattet ist, während die zu ihnen gehörigen «soldats, aux simples animaux | [...] à peine sont égaux» (jeweils NM II.108).733 Wie mit dem Dolmetscher zu Beginn des Epos spricht Kolumbus mit ihm ausgiebig über die zu erwartenden grausamen Folgen der Vereinigung der Welten. Anders als noch beim Gespräch mit dem Dolmetscher teilt Kolumbus nun die von all seinen Gesprächspartnern an ihn herangetragene negative Sichtweise.734 Die Unterhaltung, bei der die Spiegelfiguren völlig übereinstimmen, wird unter vier Augen geführt – nicht mehr in Anwesenheit seiner Spanier, d. h. Kolumbus spricht nicht mehr als Repräsentant ihrer Ideologie.735 Die ursprüngliche öffentliche Ideologie, das hybrisgeleitete ‘gloire’Streben, hat er ad acta gelegt.736 Wiederholt wird in den letzten Gesängen Kolumbus’ Einsicht angesprochen, die Entdeckung der Neuen Welt sei sein größter Fehler

l’Espagne exercées, | Du sang de leurs enfans ces terres engraissées ; | Ce Continent fatal, en proie à des tyrans, | Tombeau de tout son peuple & de ses conquérans ; | [...] | Il contemple des maux naissans de toutes parts, | Un monde entier couvert de cadavres épars ; | Et, déjà dans la nuit, son Oreille attentive, | D’un peuple de mourans entend la voix plaintive. | Le sang baigne à ses yeux, & la terre & les eaux, | Les glaives, les brandons brillent sur les vaisseaux. | Dans son cœur déchiré tant de cris retentissent ; | Et, dans son sein trouble, ses entrailles frémissent». Kolumbus’ dauernde negative Gefühle und seine Flucht in die Dunkelheit werden mit dem Verhalten einer Nachteule verglichen: «Alors sans mouvement, dans ses maux absorbé, | Sur le vase funèbre il demeure courbé, | Dans ses remords secrets s’accusant d’être cause | De la mort des humains dont la cendre y repose. | Comme l’oiseau nocturne, il passe chaque nuit | A contempler le Ciel, à respirer sans bruit ; | Et craignant la lumière, il fuit dans les lieux sombres, | Quand le Soleil naissant vient dissiper les ombres» (NM II.102). 733 Vgl. «Tant Dieu, pour varier les jeux de sa puissance, | Met entre l’homme & l’homme un intervalle immense !» (NM II.108). 734 In Kap. 2.3.2.2.2 wurde anhand semantisch ähnlicher, variiert formulierter Verse analysiert, inwiefern Kolumbus’ Gespräch mit Albuquerque gegenüber demjenigen mit dem Dolmetscher eine Weiterentwicklung impliziert. 735 Vgl. «Conversant à l’écart» (NM II.108) und «à l’écart ensemble s’entretiennent» (NM II.105). 736 Erwähnt wird sie lediglich in verächtlichem Ton in seinem Gebet an Gott: «pour gagner un nom par de brillants efforts, | Ma vaine ambition chercha ces nouveau bords» (NM II.101).

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überhaupt gewesen, so u. a. in chant XXVI: «Puissent, par les mers, ces fatales contrées | De l’Europe à jamais demeurer séparées ; | Puisse cet Univers, si loin de nos climats, | Être oublié de nous comme s’il n’était pas !» (NM II.202).737 Kurz darauf hält ihm auch Isaure (nach der Enthüllung ihrer wahren Identität) seine Schuld vor.738 Gleichermaßen äußert auch die letzte große Spiegelfigur, der Türke Zizim, noch in Unkenntnis, wer sein Gegenüber genau ist, in chant XXII im Gespräch mit Kolumbus den Wunsch, der Entdecker der Neuen Welt hätte umkommen sollen: O ! que n’a pu la mer engloutir dans ses flots Ces fiers navigateurs, ces prétendus Héros ! Que n’a péri l’auteur d’un projet téméraire Avant de découvrir ce nouvel hemisphere ! (NM II.140, Hervorh. G.J.K.)

Wie schon beim Gespräch mit Albuquerque bilden die fett markierten Verse des Gesprächs den Endpunkt einer Reihe über das Epos verteilter, ähnlich formulierter Verse.739 «Que n’a péri l’auteur d’un projet téméraire» ist aus dem Mund eines so überaus positiv valorisierten, aufgeklärten, Kolumbus’ nahestehenden Menschen740 für den Genuesen ein herber Schlag. Schließlich verbindet beide ihre empfindsame Haltung,741 beide mussten etliche Inhaftierungen über sich ergehen lassen (nicht zuletzt aufgrund ihrer zu fortschrittlichen Ansichten bezüglich der Neuen Welt); 742 beide befanden sich seinerzeit im Turmgefängnis

737 Besonders prägnant ist eine dort gegebene Spezifikation seiner Schuld: Hier unterscheidet Kolumbus zwischen seinem Hauptfehler, dem Vereinen der Welten, und seinem zweitgrößten Fehler, sich als öffentliches, politisches Instrument der spanischen Semiosphäre zur Verfügung gestellt zu haben: «aprenez tous mes crimes, | Le plus grand est d’avoir osé franchir les mers | Pour aller découvrir un nouvel Univers» und «des fiers Castillans, j’y plantai les drapeaux. | Voilà mon second crime ; ô fatale chimère ! | Et quels furent mes droits sur tout cet hemisphere? | Pour cueillir des lauriers dans les champs des combats | Aux querelles des Rois j’osai prêter mon bras» (NM II.196). 738 Vgl. «Que de maux épargnés à nous, à l’Univers ! | Que nous eussions coulé des jours heureux & chers ! | Tu préféras ta gloire à celle qui t’adore. | Un monde à tes regards effaça ton Isaure» (NM II.173). 739 Bisher hatte einmal Kolumbus selbst den Wunsch, zu sterben, geäußert (vgl. «Fais-nous périr», NM I.63) und dabei einen hypothetischen Zusatz als Bedingung angehängt, ein andermal auch der Dolmetscher (vgl. «Et périssez plutôt [...] que»), doch war er auch hier an eine Vergleichsproposition gekoppelt, deren Eintreten noch schlimmer wäre. Den drastischen Endpunkt bildet hier Zizims Formulierung ohne Bedingungen oder Zusätze. 740 Vgl. «Ce prévoyant viellard» (NM II.153). 741 Vgl. «ces deux cœurs formés sur le même modèle» (NM II.135). 742 Vgl. «De cachots en cachots j’ai traîné ma souffrance» (NM II.144). Genauso heißt es über Kolumbus in NM I.131: «Tant le sort condamnait ce Nautonnier célèbre, | [...] | A traîner ses destins de cachots en cachots». Vgl. zudem «Ah ! si, dans ces prisons, vous souffrez tant de

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in Cádiz und wurden dort von Isaure besucht.743 Zizims unbeabsichtigt anklagenden Worte führen bei Kolumbus zum erneuten Ausbruch negativer Gefühle.744 Im letzten Epenteil haben wir es im Grunde nur noch mit unterschiedlichsten Spielweisen des den Helden beherrschenden Wunsches zu tun, die Welten mögen doch wieder getrennt und alles wieder auf Null gesetzt werden. Damit hat auch die globale Raumkonstruktion quasi wieder ihre Ausgangslage erreicht, wenngleich mit einer Reduplizierung der extradiegetischen Erkenntnis im intradiegetischen Bereich der Handlungswelt (i. e. bei Kolumbus). Wir erinnern uns: Kolumbus legt eingangs eine positive Einstellung zum Vereinen der Welten an den Tag und wird dafür vom epischen Erzähler für seine Naivität en passant gerügt; erst im Laufe des Epos gerät Kolumbus’ positive Einstellung mehr und mehr ins Wanken und nähert sich im letzten Teil des Epos der Einstellung des omniscienten epischen Erzählers an, der ja schon gleich zu Beginn des Epos eine durchweg negative Weltsicht an den Tag gelegt hat. An diesem Punkt endet das Epos nun aber gerade nicht. Trotz des starken Propagierens des pessimistischen Weltbildes wird Kolumbus in den letzten Gesängen noch einmal in seinem Status als positiver Held retabliert. Eine der Konstanten des Lesuire’schen Epos ist ja die Ambiguität, mit der jeweils die Gefühlssituation des Helden in den Isolationen geschildert wird; und damit auch die Ambiguität, die das Unternehmen als solches kennzeichnet. Erstens geschieht diese Rehabilitierung durch ein erneutes Verunklaren der eben beschriebenen globalen Raumkonstruktion: Hatte Kolumbus auch quasi refrainartig die Trennung der Welten herbeigesehnt, erhält das Verbinden der Welten kurz vor seiner Verurteilung nochmals eine positive Valorisierung. Das geschieht dadurch, dass der epische Erzähler die von ihren Trieben geleiteten, durchweg negativ charakterisierten745 florentinischen Priester für die Trennung der Welten eintreten lässt. Ihnen werden dabei die Argumente der meuternden Matrosen zu Beginn des Epos in den Mund gelegt, wonach nur die Trennung der Welten gottgewollt sei.746 Zizim gehöre wie Kolumbus zu den von menschlicher

maux | Pour avoir découvert des rivages nouveaux, | Dans les mêmes cachots je souffre avec constance, | Pour avoir, de ces bords déviné l’existence» (NM II.141). 743 Vgl. NM II.135, 141 f. 744 «Le voilà devant vous, ce fléau des mortels, | Qui, découvrant un monde, accrut leurs infortunes. | [...] | Voilà de mes efforts la triste recompense ; | Je l’ai trop méritée, & je souffre en silence» (NM II.140). Nach dem Austausch ihrer Lebensgeschichten nimmt Zizim Kolumbus in den Arm und versichert ihn seines Mitgefühls. 745 Vgl. «Ces Pontifes zélés» mit ihrer «L’ardeur de dépouiller les vivants & les morts», NM II.152. 746 Vgl. «Pourquoi [...] | [...] tenter follement de réunir des Mondes | Que le suprême Auteur divisa par les ondes ?» (NM I.28).

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‘curiositas’ geleiteten ‘Aufklärern’, die zu Tode verurteilt werden müssten, «[puisqu’ils c]herchent avec orgueil l’auguste Vérité | Que Dieu voulut cacher» «[et qu’ils o]sent [...] sur son ouvrage interroger Dieu même» (NM II.154).747 Kolumbus und Zizim erscheinen in diesem Kontext als aufgeklärte Weise. Dadurch, dass sich Kolumbus im letzten Epenteil vermehrt in Gesprächen mit anderen, positiv valorisierten748 sensiblen Spiegelfiguren befindet, nehmen zweitens die Verweise auf Kolumbus’ ‘humanitas’ und seine ‘sensibilité’ zu. Kolumbus wird zwar bereits zu Eposbeginn als empfindsamer Held bezeichnet,749 doch gerade in den letzten Gesängen des Epos häufen sich die Verweise auf Kolumbus’ ‘âme’ bzw. sein ‘cœur sensible’.750 Auf dem Weg in den Kerker in Italien findet sich Kolumbus (in Isolation 9) auf dem Schlachtfeld der Italienkriege wieder. Während «son escorte inhumaine» (NM II.121) von Spaniern dabei ist, sterbende Krieger auszubeuten, sucht Kolumbus nach Hilfsbedürftigen «dont son heureux secours | Puisse adoucir la peine, & ranimer les jours» (NM II.124, Hervorh. G.J.K.). Dabei trifft er schließlich auf König Ludwig XII. von Frankreich, dessen Leiden ihn berühren751 und dem er – obwohl er kurz zuvor seinen eigenen Sohn auf dem Schlachtfeld sterben sah, und Ludwig als Initiator des Krieges für verantwortlich hält – Hilfe leistet, wobei sich ein von Empfindsamkeit geprägtes Verhältnis der beiden einstellt.752 In der letzten Isolation (10b) besucht der inhaftierte Kolumbus verschiedene Gefängniszellen, sorgt sich dabei selbst um Vespucci, den Usurpator seines Ruhms, und Valverde, der ihn ins Gefängnis gebracht hat.753

747 Zizim dagegen argumentiert dem genau entgegengesetzt mit der gottgewollten Entdeckung der Neuen Welt. Elemente aus Gottes Schöpfungswerk lieferten klare Indizien für die Existenz der Neuen Welt und deren Entdeckung und Anknüpfen an die Alte Welt liege daher in seinem Interesse. 748 Was Frank Baasner: Der Begriff ‘sensibilité’ im 18. Jahrhundert, S. 260, mit Blick auf die Konzeption Diderot’scher Theaterstücke äußert, gilt auch für Lesuires Personal: «Zunächst ist festzustellen, daß diejenigen Personen, die mit dem Adjektiv ‘sensible’ bezeichnet werden, durchweg tugendhafte Charaktere sind». 749 Vgl. «Le sensible Amiral» (NM I.23, chant II). In Isolation 5 verwahrt er die Botschaft der Atlantispriester «dans son cœur sensible & généreux» (NM I.103). 750 Vgl. NM II.126, chant XXI; NM II.147, chant XXII; NM II.183, chant XXV. 751 Vgl. «Le Monarque éploré [...] | Conçoit les maux du peuple en les souffrant lui même» (NM II.128) und «ces gémissements | Reveillent dans son cœur de tendres sentimens» (NM II.129) 752 Vgl. «Louis reconnaissant [...] | Le serre sur son cœur, le regarde & se taît» (NM II.130). 753 Vgl. NM II.187. Valverde, der Kolumbus angeklagt hatte, wurde von einem Anderen selbst der Häresie angeklagt. Trotz der Vorgeschichte legt Kolumbus Nächstenliebe an den Tag: «Le Héros, en secret, déplore sa misère | Et médite un projet qui pourra l’y soustraire» (NM II.185).

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Drittens, und das ist der entscheidendste Aspekt, sehen wir Kolumbus mit einer speziellen letzten Ideologie ausgestattet, die nicht mehr mit den bisher handlungsbestimmenden Ideologien (seinem ‘gloire’-Streben und der Intention, aktiv auf seine Leute Einfluss zu nehmen) in Verbindung gebracht werden kann. Abgesehen von den bereits zitierten, von ‘humanitas’ geprägten Episoden ist Kolumbus im Machtbereich der Europäer zu einer passiv agierenden Figur geworden. Er leistet etwa keinerlei Widerstand, als man ihn von Spanien aus nach Florenz eskortiert;754 auch impliziert die räumliche Verdopplung der Isolationen unter 10 eine Verdopplung der unangenehmen Situation, der Kolumbus hilflos ausgesetzt ist.755 In dieselbe Richtung zielt die Verdopplung des richtenden Konzils neidischer Europäer, vor dem sich Kolumbus zuerst in Spanien, dann in Italien verantworten muss. Zweimal spricht sich dabei Valverde gegen Kolumbus aus und plädiert ferner für eine gnadenlose Unterwerfung der Ureinwohner. Vor beiden voreingenommenen Versammlungen hat Valverdes Rhetorik durchschlagende Wirkung, was je eine intertextuelle Referenz auf Ciceros Erste Catilinarie nachzeichnet. In Spanien schreit er dem Konzil – analog zu Ciceros ‘O tempora, o mores!’ – «ô tems ! ô mœurs !» (NM II.117) entgegen; in Italien übernimmt er Ciceros ‘Exclamatio’ ‘Ubinam gentium sumus?’: «Où sommes-nous?» (NM II.159). Während sein Gegenspieler Valverde in der Öffentlichkeit aktiv zu einem zweiten Cicero avanciert, nähert sich Kolumbus im Privaten mehr und mehr Seneca und dessen Bild des stoischen Weisen an, der dem Tod freudig entgegengeht. Zu Beginn seiner Einkerkerung (Isolation 10a) ist der in konstant düstere Stimmung versetzte Kolumbus noch weit von dieser Einstellung entfernt. Doch Zizims ‘hilaritas’ trotz seiner Gefängnisstrafe macht Eindruck auf ihn. Kolumbus bittet ihn um Ratschläge für ein glückliches Leben in Haft.756 Zizim erklärt, dass er nach langen Jahren des Eingesperrtseins seit nunmehr drei Jahren den Schlüssel für ein glückliches Leben gefunden habe: Et depuis trois étés, je goûte dans ces lieux Un bonheur inconnu sous la voûte des Cieux. Du haut de cette tour, quand je vois les misères Que, dans un sort plus libre, endurent tous nos frères, Je me dis : ‹Ce cachot est un azile, un port

754 Vgl. «[il] se laisse conduire. | Sans proférer un mot il suit ses conducteurs» (NM II.131, chant XXI). 755 Einmal sehen wir Kolumbus vor der Verurteilung im oberen Teil des Turmgefängnisses (10a), dann nach der Verurteilung im untersten Kerker (10b). 756 Vgl. NM II.134.

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Où, sans orage au moins, je vois couler mon sort. [...] Et la fortune enfin, qui fait à tous la loi, M’ayant tout enlevé, ne peut plus rien sur moi.› (NM II.143 f., Hervorh. G.J.K.)757

Zizims Worte finden sofort ihren Weg in Kolumbus’ Herz,758 konkrete Anwendung jedoch erst etwas später, als sich Kolumbus in seiner letzten Isolation (10b) im untersten Kerker des florentinischen Gefängnisses befindet. In diesem grabähnlichen Gefängnis, dessen Verbindung zum nahenden Tod textuell permanent aufrechterhalten wird,759 sehen wir Kolumbus – analog zu den Worten seines Ratgebers Zizim (vgl. den obigen Fettdruck) – aller Dinge beraubt: «le sort ennemi | Vient de lui ravir tout» (NM II.166).760 Trotz (oder gerade wegen) dieser Lage kann er, wie Zizim, endlich dauerhaft Ruhe und Glück finden: Kolumbus «[s]ent son calme renaître au milieu des ténèbres». Den nahenden Tod erwartet er furchtlos,761 sieht ihn als befreiendes Moment, als Ausgang aus seiner bisherigen Sklaverei und seinem Leid. Zizims Beschreibung als «prisonnier, libre, heureux dans les fers» (NM II.135) wird in identischer Weise auf Kolumbus übertragen: «Libre, heureux dans les fers, sur le lit de la mort» (NM II.176). Dabei verbindet sich Kolumbus’ empfindsames Wesen mit der Inszenierung als ein der irdischen Welt enthobener, das Treiben auf Erden entspannt beobachtender (epikureischer) Gott (in einem ‘Intermundium’): Il y vit seul, il souffre, & son ame est contente. Sa sensibilité, doux fruit de son malheur, Entretient dans son ame une heureuse douleur, Qui pour tous les humains le touche & l’intéresse ; Et dont son cœur ému jouit avec tendresse ; Tel doit être l’état d’un Dieu compâtissant Qui, dans un calme heureux, plaint l’homme gémissant. (NM II.166, Hervorh. G.J.K.)

757 Vgl. zuvor «parmi les horreurs que la guerre suscite, | Sa prison est un temple où le repos habite» (NM II.136). 758 Vgl. «Et, voyant le viellard qu’il admire & qu’il aime, | Bannir de ses chagrins le fiel empoisonneur, | Il bénit sa prison qui lui rend le bonheur» (NM II.145). 759 Vgl. «On le plonge vivant dans de plus noirs cachots, | Dans des gouffres profonds plus enfoncés sous terre | Qu’un chêne ne s’éleve au-devant du tonnerre, | Où la Nature expire, & dont la profondeur | N’a jamais vu du jour la riante splendeur» (NM II.165, chant XXIII); «dans un cachot voisin des sombres bords, | Que la terre en son sein vit creuser pour les morts, | Séparé des vivans» (NM II.166, chant XXIV); «On rend de noir ses murs, pour fixer sous ses yeux | De la mort qui l’attend l’appareil odieux»; «Son cachot est la tombe & son lit le cercueil» (NM II.168); «ces lugubres lieux» (NM II.178), «ces voûtes obscures» (NM II.181). 760 V. a. seiner Gesundheit und ‘gloire’, vgl. «Privé du doux prestige»; «Dans un corps consumé» (NM II.166). 761 Vgl. «Colomb jouit en paix du soir de sa carrière» (NM II.168).

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Zizims analoge Inszenierung als von oben herab auf das irdische Treiben Schauender (vgl. die Unterstreichungen im obigen Zitat) erinnert seinerseits an den Beginn des zweiten Buchs in Lukrezens Darstellung epikureischer Physik in De rerum natura. Dort wird der epikureisch geschulte Weise als jemand beschrieben, der durch sein philosophisches Wissen das irdische Treiben freudig beobachten kann, ohne selbst in Gefahr zu sein, nicht etwa weil ihn das Leiden Anderer mit Lust erfüllt, sondern weil er Lust daraus zieht, dass er selbst nicht von diesem Leid betroffen ist.762 Zizims Blick vom Turmgefängnis herab auf das Elend und die Probleme der Menschen (vgl. «Du haut de cette tour, quand je vois les misères») entspricht dem Lukrez’schen Blick des Weisen vom Tempel der Weisheit, «von wo er herabblicken und Anderen dabei zusehen kann, wie sie versuchen, unter Fehltritten im schwankenden Leben Halt zu finden».763 Ausgestattet mit eben dieser Sichtweise, legt auch Kolumbus am Ende in seinem Kerker ‘hilaritas’ an den Tag: «il demeure attendri ; mais serein, mais riant» (NM II.180). Noch greifbarer als diese epikureisch geprägten Vorstellungen sind die permanenten Anspielungen auf Senecas Bild des stoischen Weisen.764 Folgende Stelle etwa setzt Kolumbus explizit als solchen ins Licht: Il touche au terme enfin de sa calamité. Là le Sage triomphe, & le sort est domté. Là finit le pouvoir que, par un ordre auguste, Le Ciel, à la Fortune, accorda sur le Juste. (NM II.167)

Die Vorstellung, dass mit dem Tod auch das Anrecht des Schicksals auf den Menschen ein Ende hat, stellt in Senecas Gedankengebäude bezüglich der

762 Vgl. Rer. nat. 2, 1–19, und insbes.: «tua sine parte pericli» (Rer. nat. 2, 5) bzw. «sed quibus ipse malis careas quia cernere suavest» (Rer. nat. 2, 4). 763 «Despicere unde queas alios passimque videre | errare atque viam palantis quaerere vitae» (Rer. nat. 2, 9 f.). 764 Zizims Vergleich des grabähnlichen Kerkers mit einem Hafen («Ce cachot est un azile, un port | Où, sans orage au moins, je vois couler mon sort») wiederholt sich bei der Beschreibung des sterbenden Kolumbus: «N’a-t-il pas essuyé d’assez cruels orages ? | N’est-il pas éprouvé par assez de naufrages ? | Il a rempli sa course, il respire, & la mort | Après tant de travaux à ses yeux est un port» (NM II.167). Mit demselben Bild versucht Seneca Marcia in seiner Trostschrift über den Tod ihres Sohnes hinwegzutrösten, wenn sie in ihm keine Klippe, sondern einen positiv konnotierten Hafen sieht, in dem jeder Mensch einmal ankommen muss, vgl. «Scopulum esse [mortem] putamus dementissimi: portus est, aliquando petendus, numquam recusandus» (Sen. Ep. mor. 70, 3). Die bereits zitierten Verse «Libre, heureux dans les fers, sur le lit de la mort» (NM II.176) lassen ebenso an Senecas Trostschrift Ad Marciam (20, 3) denken, wo es heißt: «Non est molestum seruire ubi [...] licet uno gradu ad libertatem transire. Caram te, uita, beneficio mortis habeo». Vgl. für einen Einblick in Senecas Todeskonzept Gerd König: Einleitung, S. 7–18.

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richtigen Einstellung zum Tod ein Kernargument dar: Mit der Geburt sei der Mensch im Machtgebiet Fortunas gelandet, wo Böses und Gutes auf ihn warten kann.765 Durch das ausgleichende Moment des Todes (vgl. «le sort est domté») werden etwaige ungleiche Verteilungen, zu denen es in der kurzen Lebenszeit kommt, nivelliert.766 Ausgestattet mit der Einsicht, dass die Macht Fortunas über den Menschen mit dem selbstbestimmbaren Tod endet, ist sich der Weise bewusst, dass Fortuna keinerlei Macht über ihn hat, dass «in eo, qui scit mori, nil posse fortunam».767 Die knapp umrissenen Textpassagen des Lesuire’schen Epos, in denen synkretistisch Elemente verschiedener antiker Philosophenschulen evoziert werden, zeigen den sensiblen Privatmann Kolumbus bei der Vorbereitung auf den Tod, die ihn selbst immer stärker mit persönlichem Glück erfüllt. Zum dritten Mal im Epos wird er dabei mit einem Gott verglichen.768 Einen solchen Vergleich des Kolumbus mit Gott hat Lesuire bereits zweimal zuvor im Epos eingesetzt: Zum ersten Mal bei der bevorstehenden Landung in Hispaniola, als Kolumbus an der Spitze seiner Semiosphäre seine ursprüngliche Ideologie des ‘gloire’-Strebens glücklich umsetzen konnte;769 und zum zweiten Mal bei seiner Rückkehr nach Hispaniola, wo ihm kurzzeitig das Glück vergönnt war, seine Leute durch die Lehren der früheren Atlantisbewohner zu besseren Menschen zu machen.770 Am Ende des Epos sehen wir Kolumbus also zum dritten Mal in göttlicher Darstellung. Diesmal ist es nicht mehr seine auf die Neue oder die Alte Welt gerichtete Ideologie, die ihm göttlichen Heldenstatus verleiht, sondern seine philosophische Einstellung. Über sein schmerzhaftes Mitleid mit der Menschheit trösten ihn insbesondere die Gemeinschaft mit seiner Isaure hinweg,771

765 Vgl. «In regnum fortunae et quidem durum atque inuictum peruenimus, illius arbitrio digna atque indigna passuri» (Sen. Marc. 10, 5). 766 Vgl. «haec [sc. mors; G.J.K.], ubi res communes fortuna male diuisit et aequo iure genitos alium alii donauit, exaequat omnia» (Sen. Marc. 20, 2). 767 Ep. mor. 70, 7. 768 Vgl. die obige Kursivierung: «Tel doit être l’état d’un Dieu compâtissant | Qui, dans un calme heureux, plaint l’homme gémissant». 769 Vgl. NM I.19: «Colomb, qui des humains semble excéder la sphère, | Et respirer loin d’eux dans un autre atmosphère» und NM I.20: «Il conduit ses guerriers, comme un Dieu tutélaire». 770 Vgl. «Goûtant du vrai Bonheur une ombre passagère»; «Colomb parut un Dieu dans la prospérité»; «il meut tout l’Univers ; | Et tempérant l’éclat de sa gloire suprême, | Fait le Bonheur du monde, & jouit de lui-même» (NM II.57). 771 Nach der Identifikation des Eremiten mit Isaure meint Kolumbus, vgl. NM II.172: «mes maux sont finis»; nach der Heirat der beiden ist die Rede von «ces plaisirs parfaits» (NM, II.175). Vgl. ferner NM II.174: «Condamné par la terre, en cet instant cruel, | Il a pour lui son cœur, son Isaure & le Ciel»; Kolumbus selbst ist «[p]longé dans le silence» (NM II.179).

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die Nähe zu Gott und der persönliche Abstand zu leidbringenden Menschen. Kolumbus’ glücklicher seelischer Zustand ist dabei dem früherer Isolationen gleichzusetzen, als er noch in der Natur Trost gefunden hatte: Telle, au sein des forêts, ou sur le bord des mers, Quand les flots sont émus par les tyrans des airs, Dans la nature au loin plaintive & désolée, L’ame sensible & douce est souvent consolée ; Et goûte sans remords, parmi ses déplaisirs, Une sorte de joie à pousser des soupirs. (NM II.169, chant XIV)

Durch die abschließende Positivierung des Kerkeraufenthalts wird Kolumbus’ aufoktroyierte Isolation (10) am Ende ein Stück weit auch zur selbstbestimmten Isolation. Denn die Gelegenheit, vom untersten Kerkerloch in Florenz in ein angenehmeres Gefängnis andernorts verlegt zu werden,772 schlägt Kolumbus aus. Letztlich kommt es unter Drängen der Verantwortlichen zu einer nur minimalen Zellenerweiterung seiner «obscure prison qui plaît à sa douleur», von der er sagt: «avec douceur sous mes maux j’y succombe, [...] puis-je desirer un plus heureux séjour [...] ?» (jeweils NM II.179).773 Abschließend ist viertens auf die Lehren des in freudiger Todeserwartung gezeichneten Kolumbus an die drei großen Oberhäupter Ferdinand, Ludwig XII. und den Papst einzugehen,774 die sich ganz am Ende des Epos an Kolumbus’ Sterbebett befinden.775 Ferdinand als Vertreter der Spanier gibt er den Auftrag, weniger Habsucht und mehr ‘modestia’776 an den Tag zu legen; der Papst solle für mehr religiöse Toleranz eintreten sowie seiner Aufgabe der ‘balance of power’ in Europa nachkommen. Den Franzosen unter Ludwig XII., die noch die Chance haben, nicht in den Strudel der ‘Légende noire’ zu geraten, gibt er die Botschaft des Antikolonialismus mit auf den Weg: «Alors libres, heureux, sans sortir de chez vous, | Vous jouiriez, Français, dans une paix profonde, | Et de votre richesse, & de celle du monde». Diese drei abschließenden Botschaften nehmen die Kernbotschaften des Epos wieder auf: Das Eintreten gegen Habsucht und gegen

772 Vgl. NM II.179. 773 Seine Bereitschaft, in den Tod zu gehen, kann auch seine Begnadigung und das Ersetzen des Feuertodes durch eine lebenslange Haftstrafe nicht mehr verändern, vgl. NM II.178. 774 Erwähnt auch bei Jean Fabre: Un thème ‘préromantique’, S. 217. 775 Zusammen mit einigen seiner positiv konnotierten Spiegelfiguren und weiteren positiven Bekanntschaften; dem Dolmetscher, Zizim, Zilna, Tindal, Eona, seinem Sohn, Isaure. 776 Vgl. «Condamnés à l’erreur vos Castillans cruels, | Egorgeant loin de vous de paisibles mortels, | Vont changer tout un monde en un desert sauvage» (NM II.202, chant XXVI) und die folgende Aufforderung (NM II.203): «cherchez la lumière & songez moins à l’or !» mit der Positionierung gegen «l’avarice», die die Spanier befallen hat.

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hybrisgeleitete Kolonialisierung passt zur zentral im Epos vermittelten ‘Wahrheit’ der Atlantispriester, die Kolumbus hiermit an die Europäer weitergibt, wenngleich er deren weitere Umsetzung selbst nicht mehr miterleben wird. Sein Aufruf zu mehr religiöser Toleranz greift die steten negativen Verweise auf die Papstbulle auf und nimmt damit den einer friedlichen Weltverbindung entgegenstehenden Fanatismus in den Blick. 2.3.2.3 Fazit: Lesuires epische Modellierung Lesuires Kolumbus-Epos unterscheidet sich von anderen Kolumbus-Epen durch die «nouveauté dans l’Épopée [...] de blâmer l’entreprise de son Héros», worin Lesuire in seiner ‘Préface’ (S. xxvi) selbst ein Alleinstellungsmerkmal seines Epos erkennt. Wir konnten zeigen, dass es sich bei der negativen Sicht auf Kolumbus’ Unternehmen nicht um einen über 26 Gesänge hinweg gleichbleibenden ‘refrain doloroso’ handelt, sondern die Beurteilung des Vereinens der Welten einer Entwicklung unterliegt, die Lesuire – in Abgrenzung von Marmontels Incas – intrapersonal in die Psyche seiner Hauptfigur hineinverlegt. Zu Beginn des Epos sehen wir einen sehr eng in die Semiosphäre der Alten Welt eingewobenen Kolumbus, der nach außen hin das klassische Heldenbild (mit dem Fokus auf dem ‘gloire’-Streben) verkörpert. Anfangs ist die Chronotopik des Epos von langen, gemeinsam mit den Spaniern vollzogenen (‘offenen’) Handlungen gekennzeichnet, während es nur zu einigen kurzen (‘versteckten’) Isolationen des Haupthelden kommt, wo er als Grenzgänger weiter in die Semiosphäre der Neuen Welt vordringen kann. Im weiteren Verlauf kommt es zu intrasemiosphärischen Veränderungen. Einerseits nimmt Kolumbus’ selbstbestimmtes Grenzgängertum zu, andererseits wächst spiegelbildlich zum abnehmenden Einfluss des Kolumbus in der Semiosphäre der Alten Welt der Einfluss des kolumbusfeindlichen Valverde. In dieser Phase des Austarierens lässt sich (in Hispaniola, Mexiko und Peru) eine eng miteinander verknüpfte doppelte (inter- und intrasemiosphärische) Raummodellierung nachvollziehen. Die zwei langen Isolationen (Kolumbus’ selbstbestimmte Isolation 5 bei den Atlantispriestern und das Zurücklassen des Kolumbus durch die Spanier bzw. seine einjährige Isolation 6 u. a. bei den ehemaligen Atlantisbewohnern in Eleuthere) zeichnen die wachsende Inkompatibilität des Kolumbus mit der spanischen Semiosphäre nach. Kolumbus rückt im Verlauf des Epos immer mehr von seiner ursprünglichen Ideologie ab, versucht bei einem erneuten Besuch Hispaniolas noch vergeblich die positiven Tugenden der Eleutheres dauerhaft auf seine Spanier zu applizieren, bis er am Ende dann weniger auf eine Veränderung der Situation der Alten oder Neuen Welt abzielt als vielmehr auf den richtigen Umgang mit seinen leidvollen Erfahrungen und

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seiner Resignation (in Auseinandersetzung mit sich selbst sowie seinen empfindsamen Spiegelfiguren). In eben dieser eigentümlichen räumlichen Modellierung des ‘sentimentalen Helden’ – bei der der intrasemiosphärische Kontakt mindestens genauso wichtig ist wie der intersemiosphärische – liegt die Besonderheit des behandelten Kolumbus-Epos. Kolumbus’ Glaube an das Gute im Menschen und den Weltfrieden – und damit das von ihm verkörperte positive Menschenbild der Aufklärung – erfüllt sich nur im Rahmen seiner von ihm alleine durchgeführten Isolationen und in abgeschotteten Enklaven; Harmonie ist nicht inmitten der breiten, negativ zu bewertenden Menschenmasse erfahrbar. Auf ganz unterschiedlichen Ebenen arbeitet der Text einerseits auf die wachsende Verdüsterung der Entdeckung als alle Menschen betreffendes ‘staatspolitisches’ Unternehmen hin sowie andererseits auf die zunehmende Internalisierung des Helden. Wirft man einen Blick in die Appendix und die Länge der Isolationen, lässt sich feststellen, dass die Isolationen ab der Mitte des Epos den Hauptteil der ‘histoire’-Ebene ausmachen. Hinzu kommen die im Laufe des Epos zunehmenden Referenzen auf Kolumbus’ sensible Seele, die klimaktisch angelegte Anordnung der Gespräche der Spiegelfiguren sowie der mit dem Eindringen der Spanier in eine bisher geschützte Enklave (und damit in der Katastrophe) endende intersemiosphärischen Kontakt. Trotz dieser Entwicklung wird in Lesuires Epos stets der epische Heldenstatus seines Kolumbus aufrechterhalten. Geknüpft ist dies an seine Inszenierung als stoischer Held. Während klassische Epen das stoische Moment meist im Sinne einer geduldig ertragenen, gottgläubigen Missionserfüllung einpflegen, wird Lesuires Kolumbus nur eingangs in dieser ‘epic mould’ präsentiert und dann auf ganz unterschiedlichen Ebenen als heldenhaft ‘stoisch’ inszeniert. Dies reicht vom Gefühle zeigenden, sentimental-stoischen Helden bis zum über dem Rest der Menschheit stehenden, mit Vertrauen in die göttliche ‘Providentia’ ausgestatteten stoischen Helden und schließlich zum stoischen Weisen, der durch seine richtige Einstellung zum Tod heroische Züge annimmt. Eine andere epische Konstante, die bei Lesuire gewissen Modifikationen unterliegt, ist Kolumbus’ Verbindung zu Gott. Eingangs wird Kolumbus – im Rahmen seiner ersten Ideologie des ‘gloire’-Strebens – noch als von Gott bei seiner Mission unterstützter Held gezeichnet. In bereits für die ersten neulateinischen Kolumbus-Epen typischer Manier werden oberflächlich die ‘gängigen’ pro-christlichen Elemente eingespielt (das Überbringen des Christentums, das Missionieren, vgl. die erste Landung auf Hispaniola). Mehr und mehr wird diese Basis ausgehöhlt, und der Fokus merklich auf die basalen Elemente einer eher ‘natürlichen’ Religion gelegt. Der entscheidende Bruch ist auch hier in der Mitte des Epos – im Rahmen der Isolationen 6 nach Peru – anzusetzen. Dort lernt Kolumbus den Deismus der Eleutheres kennen; dort etabliert sich (bei seiner Identitätskrise in Nordamerika) seine persönliche

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Beziehung zu Gott; dort kommt es schließlich zu seiner ideologischen Umkehr von der christlichen Missionierung der Neuen Welt hin zum beabsichtigten Applizieren der (u. a. religiösen) Tugenden der Ureinwohner auf die Spanier. Zum Christentum passende Ansichten vertritt der Held – im Gegensatz zu Valverde – nie in fanatischer Bibeltreue, sondern mal verquickt mit stoischen Aspekten (wie der ‘Providentia’ bei der Naturkatastrophe in Peru), mal in Form basalchristlicher bzw. universell gültiger Aspekte (wie in der Enklave Tindals). Was den Nouveau Monde, an dem der belesene ‘arrangeur’ Lesuire über zehn Jahre geschrieben hat, von seinen epischen Vorgängern ebenso unterscheidet, ist das besonders vielfältige Einflechten intertextueller Referenzen auf (nicht-epische) Texte seiner Zeit. Lesuire greift verschiedenste beliebte, zeitgenössische Thematiken und Vorgängertexte spielerisch auf, um auf deren Projektionsfläche die kolumbische Entdeckungsfahrt in ihrer (für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts typischen) Ambiguität herauszuarbeiten. In Kap. 2 wurde der Fokus v. a. darauf gelegt, wie Lesuire das Genre des sentimentalen Romans nutzbar gemacht hat. Dies war punktuell zur Gestaltung gewisser Episoden geschehen (z. B. die Gestaltung der Enklave Zilnas durch den Intertext der Lettres d’une Péruvienne; oder die Gestaltung der Isolation in Nordamerika durch atmosphärisches Aufgreifen des Intertexts von MacPherson); oder aber in Form eines das Epos durchziehenden roten Fadens (z. B. das stete Einarbeiten von empfindsamen Spiegelfiguren; oder die Inszenierung einer von ‘sensibilité’ geleiteten Isaure Clémence, die einen Kern des Lesuire’schen epischen ‘merveilleux’ ausmacht); und natürlich auf der Ebene der globalen ‘Dispositio’, indem Lesuire zum Nachzeichnen des intrasemiosphärischen Gegensatzes (‘Spanier vs. Kolumbus’) das Bild des empfindsamen, sich stets isolierenden Helden fruchtbar angewendet hat. In Kap. 3 werden diese Beobachtungen ergänzt durch die für das Epos zentrale Ausgestaltung einer zeitgenössischen Atlantistheorie, bei der die Neue Welt als die ältere der beiden Welten valorisiert wird, und so Kolumbus’ Entdeckungsfahrt im negativen Kontext eines zyklischen Degenerationskreislaufs erscheint. Beachtenswert hierbei ist, dass diese an intertextuellen Anspielungen reiche literarische Umsetzung einer Atlantistheorie – bei der Lesuire ebenso Prätexte Voltaires und Baillys wie auch Buffons oder De Pauws verarbeitet – keinen separaten Block bildet, sondern zwei geschickt in die sentimentale Raumkonstruktion eingewobene Episoden (Isolationen 5/6b). Während Marmontel das Ideal des sensiblen Helden nur sehr reduziert einsetzt und Baasner daher von einer «ansatzweise vorhandene[n] Distanz zum sensiblen Ideal» spricht, die ihn von «anderen, ungleich trivialeren Autoren seiner Zeit»777 unterscheidet, bietet Lesuire mit dem stets weinenden, empfindsamen,

777 Frank Baasner: Der Begriff ‘sensibilité’ im 18. Jahrhundert, S. 332.

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sich isolierenden Kolumbus eine auffallende Überrepräsentation dieses Ideals. Ist Lesuire daher einer dieser ‘trivialen’ Autoren, die sich (noch) nicht an einer ironischen Distanzierung vom Sensibilitätsideal versuchen? Unseres Erachtens sollte man Lesuires Werk nicht als eine bloße Verkitschung empfindsamer Literatur sehen, von der sich gewisse Zeitgenossen in ihren libertinistischen Werken vehement abheben wollten.778 Lesuire als beflissener Romanautor mag das sentimentale Moment freilich auch eingebunden haben, um die zeitgenössischen Erwartungen des Publikums zu erfüllen; doch gelingt es ihm auf individuelle Weise, seinen sentimentalen Helden mit der Gattung des Epos zu verbinden, und die für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts typische, negativ-ambige Beurteilung der Entdeckung der Neuen Welt bzw. die eher positiv-ambige Beurteilung des Genuesen auf die dem Epos zugrunde liegende, kondensierte Dichotomie ‘öffentliches ‘gloire’-Streben vs. empfindsamer Privatmann’ zurückzuführen. So ist Lesuires Text ein Beweisstück dafür, dass der Glaube an die Gattung ‘Epos’ im 18. Jahrhundert ungebrochen ist; dafür, dass die höchste literarische Gattung ‘alles kann’ – in diesem Fall auch scheinbar gattungsinkompatible Züge des zeitgenössisch bedeutenden ‘Sentimentalen’ annehmen.779

2.3.3 Laureau, L’Amérique découverte 2.3.3.1 Einführendes; Bemerkungen zum Forschungsstand Die im vorausgegangenen Kapitel dargelegte spezielle Machart des Nouveau Monde soll durch einen Seitenblick auf Laureaus Kolumbus-Epos unterstrichen werden. Nicht nur aufgrund ihrer beinahe zeitgleichen Abfassungszeit werden beide Epen sinnvollerweise in Sammelbänden stets in einem Atemzug genannt; im Gegensatz zu Du Boccage und Bourgeois beziehen sie beide laut Roulin stärker

778 Gemeint sind Vertreter wie Choderlos de Laclos, in dessen Werk das sensible Ideal als Schwäche gedeutet wird (man denke an Valmonts Spiel mit ‘sensiblen’ Opfern), oder auch der Marquis de Sade, der sensibles Verhalten in seiner Sinnlosigkeit entlarvt. Frank Baasner: Der Begriff ‘sensibilité’ im 18. Jahrhundert, S. 332–339, verweist auf L. C. Chéron de la Bruyères L’homme à sentimens ou le Tartuffe des mœurs (1801), in der sich der Autor über die allerorten zu findende ‘sensibilité factice’ moquiert. 779 S. zum universalen Geltungsanspruch der Epiker in der Frühen Neuzeit Bernhard Huss: Rinascimentale Epostheorie und das Projekt der Aktualitätsepik in Frankreich: Lesuires ‘Aufsprengen’ der Gattung kann insofern als Befolgen eines der «traditionelle[n] poetologische[n] Postulate zum Epos» (ebda., S. 14) verstanden werden, zu denen u. a. «der ihm durchgängig zugeschriebene ‹Jetztbezug› auf die Welt der Leserschaft mit ihren aktuellen Bedürfnissen und Wertsetzungen» (ebda., S. 18) zählt.

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eine negative Sichtweise auf die Kolonialisierung in ihr Werk mit ein.780 Wir haben versucht nachzuzeichnen, wie Lesuire einerseits die ‘Légende noire’ einflicht, indem er Kolumbus als (für den sentimentalen Roman typischen) Problemhelden inszeniert, der die von ihm initiierten Greueltaten der Spanier psychisch aufarbeitet. Andererseits nimmt er diese ‘romanisation’ ein Stück weit zurück: Lesuire folgt nicht dem Marmontel’schen Vorgehen der ‘dissémination’ der Heldenfigur, sondern ordnet den Text eindeutiger der Gattung ‘Epos’ zu: Indem er Kolumbus zwar durch seine konstant ‘stoische’ Charakterisierung stets als genretypischen, ‘positiven’ Helden inszeniert, aber die wachsende Distanzierung vom genretypischen ‘gloire’-Streben in Form einer figureninternen Entwicklung zum Ausdruck bringt. Lesuires ambige Einschätzung der Entdeckung der Neuen Welt bzw. der Person des Kolumbus fügt sich nahtlos in den zeitgenössischen Diskurs der Zeit ein.781 Derselbe zeitgenössische Kontext ist auch für Laureaus Epos maßgeblich. Und doch wird Laureaus Epos von Roulin in einer Randbemerkung als markante zeitgenössische Kontrastfolie für den Incas-Roman Marmontels benannt, da sich bei Laureau eine nirgends infragegestellte, durchweg positive Heldenfigur finde.782 Es soll in diesem knappen Kapitel also darum gehen, wie die beiden Feststellungen Roulins (einmal das ‘klassische’, rein positive Heldenbild, dann aber auch das Einspielen der negativen Folgen der Entdeckung) bei Laureau zusammengehen – und inwiefern sich gewisse Gemeinsamkeiten mit bzw. Unterschiede zu Lesuires Epos aufzeigen lassen. Wie Lesuires Nouveau Monde wurde auch Laureaus Amérique découverte bisher nur in einigen Sammelbänden behandelt.783 Das sechs Bücher umfassende

780 Vgl. Jean-Marie Roulin: L’Épopée de Voltaire à Chateaubriand, S. 114: «Le Suire et Laureau mettent en cause les bienfaits apportés par les colons en Amérique». 781 Vgl. Kap. 1.2.2. 782 Jean-Marie Roulin: La ‘romanisation’ du héros dans l’épopée du tournant des Lumières, S. 259. 783 Nennenswert sind zwei Beiträge Jean-Marie Roulins (L’Épopée de Voltaire à Chateaubriand und Les Incas de Marmontel) sowie Dietrich Briesemeisters (Columbus als ‘Apostel und Eroberer’ im französischen Epos des 18. Jahrhunderts). Ausführlich wurde auf den Text nur in einem Aufsatz von Renata Carocci (L’Amérique découverte de Pierre Laureau) eingegangen, der zwei Jahre später von der Autorin selbst zum Vorwort ihrer Textausgabe der Amérique découverte ausgearbeitet wurde. Dieses Vorwort (Renata Carocci: Introduction) repliziert den vorangegangenen Aufsatz teils wortwörtlich, teils ergänzt es ihn durch tiefergehende Erläuterungen. Hingewiesen sei auf folgende identische Übernahmen: S. 15–21 der ‘Introduction’ von 1994 entsprechen S. 24–28 des Aufsatzes von 1992; S. 23 von 1994 entspricht S. 28 von 1992; S. 27 entspricht S. 30. Das Fazit der ‘Introduction’ (S. 35) wurde ebenso unverändert übernommen und entspricht S. 31 f. von 1992.

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und Kolumbus’ erste Reise in den Blick nehmende Epos wurde 1782 in Autun und Paris ediert, danach nie wieder neu aufgelegt784 und ist bis heute «presque inconnu, même pour les spécialistes».785 R. Carocci kommt das Verdienst zu, den ohne Vornamen überlieferten Autor des Epos (‘Laureau’) mit Pierre Laureau de Saint-André zu identifizieren und Informationen über seine weitgehend unbekannte Vita zusammenzustellen. Der 1748 im heutigen Département Yonne (innerhalb der Région Bourgogne-Franche-Comté) geborene und in klassischen Studien bewanderte Laureau nimmt in Autun den Anwaltsberuf auf, bis er ab 1780 in Versaille dem Comte d’Artois (dem späteren Charles X) dient und dessen Historiograph wird. Neben einem verlorenen Werk (der Pharsale séraphique) und einem an Friedrich II. orientierten Fürstenspiegel (der Éloge du roi de Prusse, 1787) findet insbesondere seine Histoire de France avant Clovis (1785, erweitert 1789) häufiger Erwähnung, deren historischer Wert zwar gering, deren historiographisches Vorgehen mit besonderem Augenmerk auf der Archäologie aber heute noch aktuell ist. Später tritt Laureau nicht mehr literarisch in Erscheinung und übernimmt in der kleinen Commune Saint-André-en-Terre-Pleine politische Ämter.786 Die Amérique découverte ist das späteste, einzig in Prosa verfasste Epos unter den französischen Kolumbus-Epen ab 1750.787 Briesemeister bezeichnet den Text als einen Entwurf für ein zu schreibendes Epos, zu dem es nie gekommen sei.788 Zu dieser schwer völlig zu widerlegenden These kommt er wohl aufgrund einer Äußerung Laureaus selbst, wo dieser im Gestus des Understatements einlei-

784 Vgl. Daniel-Henri Pageaux: Colomb et le problème de la découverte de l’Amérique dans la France des Lumières, S. 323. 785 Renata Carocci: L’Amérique découverte de Pierre Laureau, S. 23. Hierauf deuten schon oberflächliche Ungereimtheiten in so manchem Sammelband hin, wie bei Bartolomé Bennassar/Lucile Bennassar: 1492. Un monde nouveau?, S. 51, wo fälschlicherweise von 1783 als Publikationsjahr die Rede ist. 786 1790 wird er in den Rat derjenigen gewählt, die den Département Yonne leiten; ab 1791 ist er sogar Staatsabgeordneter in der ‘Assemblée Législative’. Seine offen nach außen getragene, königstreue, pro-klerikale Haltung erschwert seinen politischen Stand. 1794 wird er inhaftiert und nach Robespierres Tod wieder freigelassen. Der kurzzeitig von seiner monarchischen Haltung Abstand nehmende, und sich ab 1814, zur Zeit der Restauration der Monarchie, wieder promonarchisch inszenierende Laureau hat von 1800 bis 1830 das Amt des Bürgermeisters von Saint-André inne. Vgl. zur Biographie u. a. Renata Carocci: Introduction, S. 10–13. 787 Vgl. ebda., S. 21. S. Jean-Marie Roulin: La ‘romanisation’ du héros dans l’épopée du tournant des Lumières, S. 259: «[Laureau] recourt à la prose, mais son héros reste épique». 788 Dietrich Briesemeister: Columbus als ‘Apostel und Eroberer’ im französischen Epos des 18. Jahrhunderts, S. 313.

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tend über seine sechs Bücher folgende Bemerkung abgibt: «En voilà enfin l’esquisse : puisse cet essai satisfaire les souhaits du public» (AD 45, ‘Avertissement’). Die These, es könnte sich lediglich um eine Skizze für ein zu schreibendes Epos handeln, ist auch deswegen nicht von der Hand zu weisen, da R. Carocci in nachvollziehbarer Weise am literarischen Wert des Textes Kritik übt und dessen Mängel auflistet. Zwar gebe sich Laureau in seinem Vorwort klar als Epiker zu erkennen und ihm seien «[d’]ambitieuses velléités épiques»789 zuzuerkennen, dieses Aufgreifen typischer Topoi alleine generiere aber noch kein Epos: «Laureau est absolument incapable d’écrire une épopée», «il ne sait pas maîtriser sa matière ni la fondre dans une symphonie de tons ou de thèmes».790 Im Rahmen ihrer kritischen Durchmusterung kommt sie auf den auffällig plumpen Aufbau des Epos zu sprechen, wobei sich für jedes Buch eine Zweiteilung nachzeichnen ließe: eine historiographische Ebene sowie eine Ebene des ‘merveilleux’.791 Sie hebt mitunter Laureaus Fähigkeiten als Historiograph hervor; auch bilden ihrer Meinung nach gewisse Exkurse die Höhepunkte des Texts,792 wenngleich diese wiederum die Einheit des Epos gefährden.793 Von der geringen Beachtung, die man dem Text bisher zukommen ließ, zeugen auch die Rezensionen der Textausgabe Caroccis.794 Sie sind knapp gehalten und bewerten stets Caroccis Vorwort. Lediglich Virolle (1996) bemerkt überhaupt den – unseres Erachtens – für eine neu aufgelegte Textausgabe groben Fehler, dass der Text des vierten Buchs kommentarlos vor dem eigentlichen Buchende abbricht.795 In Anbetracht der Tatsache, dass eindeutige Mängel der Textausgabe nirgends Erwähnung finden, kann man

789 Renata Carocci: Introduction, S. 30. 790 Ebda., S. 30. Besonders die epischen Reden zeugten von einem schlechten Stil, vgl. ebda., S. 35. 791 Vgl. «alternance de réalité et de merveilleux» (ebda., S. 25); vgl. exemplarisch ebda., S. 43, für livre I. 792 Vgl. ebda., S. 31 für die Beschreibung des Sonnentempels in Cuzco oder der ‘Cordillères du Pérou’. 793 Carocci spricht von «digressions sur des sujets trop disparates» (ebda., S. 23). Vgl. ebda., S. 67, zum zweiten Buch: «Ce livre donne l’impression d’être formé de la réunion de pages écrites dans le but d’illustrer, chacune, un style différent, reliées par une intrigue d’importance secondaire»; vgl. Caroccis Hinweise auf den störenden «déplacement de l’action principale dans plusieurs lieux qui souvent lui sont étrangers et qui sont mentionnés avec abondance de détails» (Renata Carocci: L’Amérique découverte de Pierre Laureau, S. 29). 794 Rezensionen stammen von Elena Aschieri in: Studi francesi 120 (1996), S. 666; Roland Virolle in: Revue d’Histoire littéraire de la France 6 (1996), S. 1198 f.; Malcolm Cook in: The Modern Language Review 93 (1998), S. 511 f.; Terry M. Pratt in: French Studies 53 (1999), S. 69 f. 795 Es wird daher in der Appendix zum Füllen der Lücke auf die Originalausgabe von Autun zurückgegriffen (Pierre Laureau: L’Amérique découverte, en six livres. Autun: Dejussieu 1782).

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davon ausgehen, dass eine genaue Lektüre des Originaltextes häufig ausgeblieben ist.796 2.3.3.2 ‘Dispositio’ des Epos: Kolumbus’ ‘gloire’-Streben 2.3.3.2.1 Das einschichtige Kolumbusbild Wie Delon unterstreicht, entfernt sich Laureaus Epos als letztes in der Reihe der französischen Epen am weitesten von der ursprünglich gängigen ‘christlichen Perspektive’.797 Laureau konzentriert sich ausschließlich auf das von Madame Du Boccage vorgezeichnete Bild des Kolumbus als Helden der Aufklärung und inszeniert ihn als Entdeckerpersönlichkeit ohne christlichen Impetus.798 Schon auf den ersten Seiten wird Kolumbus unverkennbar eingeführt als «savant» (AD 48), ausgestattet mit einem «génie lumineux» (AD 49). Er ist derjenige Held, der die bisher voneinander getrennten Menschen als Brüder vereint hat,799 der die geographischen Grenzen überwunden (sowie die Welt verdoppelt) und – entgegen

796 Auf zwei Aspekte sei kurz hingewiesen: Zum einen fügt Carocci zu den überlieferten Fußnoten ihrerseits erklärende Fußnoten hinzu, geht dabei jedoch mitunter willkürlich vor. So erklärt sie etwa das Wort ‘carnage’ auf S. 98 mit dem Synonym ‘massacre’, obwohl es mit derselben Betonung bereits zuvor auf S. 58 (und dementsprechend mit demselben Erklärungsbedarf) unkommentiert übergangen wurde. Andere Anm. sind schlicht überflüssig: Der Text auf S. 107 spricht z. B. davon, dass die goldsuchenden Spanier sich auf einer Insel danach erkundigen, «si cette terre produisait ce précieux métal». Als im folgenden Satz die Verbindung «terre précieuse» fällt, wird das Adjektiv in Anm. 164 mit den Worten «Parce qu’elle est supposée produire une grande quantité d’or» erklärt. Zum anderen hätte es gereicht, wenn es Carocci bei ihrem einmaligen negativen Urteil über das Laureau’sche ‘merveilleux’ und seine wenig aussagekräftigen Allegorien belassen hätte. Stattdessen kommt sie in einer ermüdenden Wiederholungsschleife im Vorwort, in den Fußnoten und in den Übersichten zu den Büchern immer wieder darauf zu sprechen: «Il s’agit de quelques personnifications qui, par leur platitude, frôlent le déjà dit, le lieu commun» bzw. «telles sont les pâles figures d’une rhétorique désormais épuisée» (Renata Carocci: Introduction, S. 28 f.). Es handle sich um «pâles fantômes d’un monde fantastique auquel il ne croit plus» (AD 43), «dépourvus de toute consistance littéraire» (AD 119). Bald macht sie eine «faible personnification oiseuse» (AD 66) ausfindig, bald eine «[personnification] inexpressive» (AD 101), bald ist eine Allegorie «faible» (AD 102), bald «tellement faible et dépourvue de tout relief plastique» (AD 84), bald moniert sie deren «fade gravure de routine» (AD 149), bald «la platitude du merveilleux» (AD 150) usw. 797 Vgl. Michel Delon: ‘Ce nouvel Ulysse méritait sans doute un autre Homère’, S. 84. 798 Vgl. Renata Carocci: Introduction, S. 25. Jean-Marie Roulin: L’Épopée de Voltaire à Chateaubriand, S. 114, merkt an: «Pierre Laureau célèbre l’homme de la découverte». 799 Zur weiteren Inszenierung als Familienvater, der die Völker der zwei Welten zusammenbringt vgl. Pierre Laureau: L’Amérique découverte, en six livres, S. 115: «qui les [sc. les Peuples des ‘deux mondes’; G.J.K.] rassembla & les unit des doux liens de l’amitié».

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der rückwärtsgewandten Tradition – durch seine kühne Heldentat auch die Grenzen des menschlichen Geistes überwunden hat.800 Es verwundert nicht, dass sich Laureau bei der Modellierung des Heldenbildes besonders an der Kolumbusbiographie Fernandos zu orientieren scheint, aus der er unseres Erachtens an mehreren Stellen gezielt schöpft. Fernando hatte in seiner Biographie erstmals seinem Vater zuerkannt, die Entdeckung sowohl im Vorfeld konzipiert als auch selbst in praxi umgesetzt zu haben.801 Laureau betont bei der Modellierung seines wissenschaftlichen Kolumbusbildes eben diese Grundeinstellung.802 Fernandos Lob gegenüber dem Vater gilt insbesondere dem Bewusstsein des Vaters für sein bahnbrechendes, weltveränderndes Projekt.803 Fernandos Historia kulminiert im In-Aussicht-Stellen des Nachruhms, der seinem Vater gebühre: «Eternellement vivra la mémoire du premier qui découvrit les Indes Occidentales, et qui fit que Ferdinand Cortez et François Pizarre purent conquérir les grands empires du Mexique et du Pérou».804 Ähnlich sehen wir im Verlauf des Laureau’schen Epos, wie Kolumbus als Impulsgeber für die folgenden wissenschaftlichen Expeditionen gefeiert wird.805 Im Unterschied zu Fernandos Biographie und anders als in den vorhergehenden Epen verfolgt Kolumbus jedoch keinerlei «mission supérieure»806 mehr, er schafft alles aus eigener Kraft;807 eine Art ‘Fatum’ oder einen leitenden Gott gibt es nicht.808 An denjenigen

800 Zum Überwinden der Unwissenheit früherer Jhdte. vgl. AD 168; beide Arten des Überwindens von Grenzen werden in AD 74 angesprochen: «[Colomb] recula tout à la fois les bornes de la terre & celles de l’esprit humain». 801 Vgl. Kap. 1.3.2 und Kap. 1.4.1. 802 Vgl. AD 48: «tu conçus & exécutas le projet le plus fier & les [sic!] plus étonnant qu’ait jamais enfanté l’esprit humain!». 803 Vgl. «je ne puis qu’approuver hautement l’Amiral de la force de caractère dont il fit preuve [...] qui prouve combien il avait conscience de la grandeur de son entreprise» (Fernando Colomb: Christophe Colomb raconté par son fils, S. 42). 804 Ebda., S. 256. 805 Vgl. AD 155, livre VI: «Le mouvement d’impulsion que vous avez donné à vos siecles vers les Sciences & les Arts, vous le reçûtes de Colomb»; «tout le bien qui en est résulté doit se rapporter à lui comme à son centre» und AD 166 f.: «[Colomb qui] alluma dans votre sein, le beau feu de l’émulation, & fit de vous un peuple de Héros» bzw. «le mouvement d’impulsion qu’ils reçurent dès ce moment vers les conquêtes & les découvertes». 806 Renata Carocci: Introduction, S. 42. 807 Vgl. ebda., S. 42: Er ist «simplement l’homme éclairé», «pour qui le Ciel est muet et indifférent». 808 Nur an drei Stellen wird auf Gott angespielt, an denen ihm jedoch keinerlei dispositorische Relevanz zukommt: Mal wird von Gott allgemein als Synonym der Kraft gesprochen, die die Welt geschaffen hat (AD 50, livre I), mal wird betont, dass das breite Volk dem christlichen Glauben angehört (AD 63), mal wird aus rhetorischen Gründen zur Steigerung der Redewir-

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Kernstellen, an denen in den anderen Epen stets auf das Christentum Bezug genommen wird, bleibt dies in Laureaus Epos schlicht aus. Am signifikantesten ist wohl die Beschreibung der ersten Landung, wo von Kolumbus nur die spanische Flagge in den Boden gerammt wird, es jedoch nicht zum üblichen (und historisch ja überlieferten) Setzen des Kreuzes kommt.809 Trotz dieses auffälligen inhaltlichen Wandels bedient sich Laureau bei der Modellierung seines Helden weiterhin der klassischen epischen Topoi und greift auf die schon in den frühen neulateinischen Epen gängige Ebene des ‘merveilleux’ zurück, die dort ja jeweils von paganen und christlichen Gottheiten eingenommen wird. Zum einen ist dies bei der Ausgestaltung eines ‘Götterapparats’ bzw. einer parallelen göttlichen Handlungswelt der Fall. Im Gegensatz zu Lesuire bleibt Laureau dem klassischen antagonistischen Schema des ‘merveilleux’ (sprich ‘gute Götter vs. böse Götter’) treu. Dieses Instrumentarium wird bei ihm jedoch nicht durch wirkliche ‘Gottheiten’ gefüllt, sondern durch einen Apparat von Allegorien des ‘Wissens’ bzw. ‘Nichtwissens’. Die größte Ähnlichkeit weist Laureaus ‘Götterapparat’ dabei mit (dem am wenigsten christlich orientierten neulateinischen Epos) der Atlantis retecta des Placcius auf. Placcius hatte zwar noch himmlische und höllische Gottheiten getrennt und auf der Seite der ‘guten Götter’ sowohl den christlichen Gott als auch die antike Gottheit Pallas Athene handeln lassen, als Hauptgottheit war bei ihm jedoch die Allegorie der ‘Vetustas’ inszeniert worden mit ihrem Hauptziel, den gegenwärtigen Ist-Zustand zu konservieren:810 Über Jahrhunderte hinweg hatte sie die Neue Welt in Dunkelheit gehüllt und jedwedem Kontakt mit der Alten entzogen.811 Bei Laureau wird ‘Gott’ als leitende Instanz völlig ausgeblendet, und die ‘beaux arts’ (AD 59) übernehmen die Seite der guten Götter. Den Platz der ‘bösen Götter’ nimmt eine Gruppe von Allegorien um die ‘Ignorance’, die ‘Nuit’ und den ‘Fanatisme’ ein. Analog zu Placcius’ ‘Vestustas’ wollen sie durch «leurs voiles obscurs» (AD 57, livre I) die Welt dauerhaft in Dunkelheit hüllen.812 Unter ihnen erhält die ‘Ignorance’ die

kung auf Gott hingewiesen, als ‘Amerika’ in ihrer Rede an Kolumbus erklärt, er werde sich in naher Zukunft an Gott wenden und Reue für seine Hybris zeigen. 809 Vgl. AD 98, livre III. 810 Sie wiederum hatte die höllische Macht ‘Discordia’ zum Handeln motiviert, die direkt mit der Hölle in Verbindung gebracht wird, «e tenebris atris» (Atl. ret. 820) stammt und auch wieder in die «Stygiis umbris» (868) zurückkehrt. 811 Vgl. folgende Verse des Proöms: «terra[e] reperta[e], | quas alta dudum per secula plurima nocte | texerat et mundo subduxerat atra Vetustas» (3 f.) 812 Die ‘Götterhandlung’ wird dadurch in Gang gesetzt, dass die allegorische ‘Nuit’ – es handelt sich hierbei nicht umsonst um das Gegenstück zur Lichtmetapher der Aufklärung – durch das aus dem Arbeitszimmer Toscanellis dringende Licht beunruhigt wird. Der ‘Fanatisme’ steht für

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schärfsten Konturen: Entscheidend ist ihre Befürchtung, heimatlos zu werden.813 Ihre Vorgeschichte entspricht dabei der der ‘Vetustas’, wenn sie beschreibt, wie sie seinerzeit «tout l’univers de voiles épais» (AD 58 f.) bedeckte,814 bis sie von den ‘beaux arts’ in den meisten Gebieten der Welt verdrängt wurde und nun durch Kolumbus’ Fahrt815 um ihr Überleben bangt: «une puissance si ancienne va donc cesser d’être?» (AD 60). Insgesamt bleibt die Götterhandlung jedoch wenig handlungsleitend, sie wird nur an drei Stellen näher beschrieben und es kommt kaum zu Interaktionen zwischen beiden Ebenen.816 Der epische Erzähler greift zum anderen – wie seine Vorgänger – auf einen Anruf ‘himmlischer Musen’ zurück, bittet dabei jedoch in seiner ‘Invocatio’ nicht etwa Musen, sondern den vergöttlichten Kolumbus selbst um ‘göttliche’ Inspiration.817 Im Gegensatz zu den Allegorien kommt nur Kolumbus ein wirklich göttlicher Status zu. In der Inszenierung des Kolumbus als ‘göttliches’ Wesen erkennen wir eine erste Parallele zu Lesuires Epos. Während es dort dreimal zu einem Vergleich mit Gott gekommen war (nämlich jeweils gekoppelt an unterschiedliche Stadien der sich wandelnden kolumbischen Ideologie), ist der Grund für Kolumbus’ Vergöttlichung bei Laureau stets auf derselben Ebene anzusetzen. Sie lässt sich jeweils auf seine herausragende, wissenschaftlich fundierte Entdeckerleistung zurückführen. Kolumbus wird vor der Abfahrt in der allgemeinen Charakterisierung seines ‘aufklärerischen Geistes’ aus der Sicht des epischen Erzählers als göttlicher Held gezeichnet,818 dann bei der Beschreibung

das Festhalten an überkommenen Maximen, insbes. der Annahme, es sei göttliche ‘Providentia’, dass die Welten getrennt bleiben müssten. 813 Vgl. «Bientôt je n’aurai plus ni temples, ni asyles» (AD 58). 814 Die Künste hatte die ‘Ignorance’ dabei völlig in den Norden (in die Antarktis) verdrängen können. 815 Vgl. an späterer Stelle die Inszenierung von Kolumbus als ‘Lüfter des Schleiers’: «[Colomb] dont la main hardie leva en leur présence [sc. des nautonniers; G.J.K.] le voile qui couvrait la moitié de l’univers, recula tout à la fois les bornes de la terre & celles de l’esprit humain» (AD 74, Hervorh. G.J.K.). 816 Vgl. die hervorgehobenen Stellen in der Appendix. Das Eingreifen der ‘bösen Götter’ äußert sich in einem Angriff auf Kolumbus auf dem Meer, wo sie unterirdische Vulkane ausbrechen lassen. Dies enspricht dem Vorgehen der ‘bösen Götter’ etwa bei Placcius: In Atl. ret. 885–893 provozieren die teuflischen Mächte ebenso einen Seesturm; in 762–781 wird beschrieben, wie u. a. ‘Discordia’ auf Island für den Ausbruch von Vulkanen zuständig ist, usw. 817 Vgl. «Colomb, puisse ton génie lumineux m’éclairer» (AD 48). 818 Vgl. AD 47: «toi dont le nom doit être [...] revéré sur l’océan, à l’instar de celui des Divinités marines, qui fus adoré encore vivant, & vis des hommes courageux prosternés à tes pieds, dans le silence & le respect de l’adoration» und «toi qui pouvais dire [...] j’en ai en quelque sorte été le créateur» (Hervorh. G.J.K.).

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der ersten Landung aus der Sicht seiner Matrosen,819 wenig später aus Sicht der Ureinwohner820 und schließlich nach seiner Rückkehr aus der Sicht der in der Heimat zurückgebliebenen Spanier.821 Die zentrale Qualität des Laureau’schen gottähnlichen Kolumbus besteht damit unverkennbar in seiner Absicht, einen Beitrag zum Fortschritt der Menschheit zu leisten. Diesen roten Faden der ‘Dispositio’ hat unseres Erachtens bisher als Einziger Briesemeister – in Form einer kleinen Randbemerkung – erkannt, wenn er schreibt, Laureau hebe im Vergleich zu den anderen französischen Epen «an Columbus mehr das uneigennützige Ruhmstreben hervor».822 Es soll nun exemplarisch vorgeführt werden, wie das ‘gloire’-Streben die gesamte ‘Dispositio’ des Epos durchzieht. Dabei – und das ist die zweite Parallele zu Lesuires Epos – wird das ‘gloire’-Streben stets mit Kolumbus’ stoischem Heldentum in Verbindung gebracht. Während die beiden Aspekte (‘gloire’-Streben und ‘Stoizismus’) bei Lesuire einem Wandel unterliegen (da sich Kolumbus vom ‘gloire’-Streben entfernt und sich die Art seines ‘stoischen’ Heldentums wandelt), wird dem Haupthelden bei Laureau vom Anfang bis zum Ende dieselbe Verbindung der beiden Aspekte zugeschrieben. Gleich zu Beginn ist die Rede von Kolumbus’ «vie infatigable & glorieuse» (AD 54). Er wird stoisch-geduldig charakterisiert als «[i]nfatigable dans la poursuite de son projet» (AD 55).823 Die Mischung aus ‘gloire’-Streben und stoischem Verhalten macht eben seine Sonderstellung gegenüber den restlichen Spaniern aus,824 wobei diese durchwegs als seine treuen Begleiter beschrieben wer-

819 Vgl. «les Espagnols [...] étaient tombés à ses pieds, l’envisageant comme un être divin, ils n’osaient lever les yeux»; vgl. ferner auf der Seite der Matrosen «les prières réitérées», die «sentiments de vénération» und dazu ihre Anrede: «Dieu des mers & de la navigation, créateur d’un monde, bienfaiteur du genre humain» (jeweils AD 94, livre III). 820 In AD 118 (livre IV) wird beschrieben, wie die Ureinwohner im gebildeten Menschen der Alten Welt einen Gott erkennen: «L’Homme aujourd’hui est donc l’égal des Dieux: comme eux il reçoit des adorations. [...] Ce sont les mains puissantes des Sciences & des Arts qui l’ont élevé à ce degré éminent où l’imagination de leurs anciens leur représentait leur Dieux. [...] | [...] les Européens paraissent des Dieux aux yeux de leurs freres de l’Amérique bruts & encore enveloppés du limon de la premiere création». 821 Vgl. «ils l’envisagent comme un être d’une espece supérieure, doué d’un génie divin» (AD 165, livre VI) und AD 167: «on le qualifiait d’homme divin, de créateur d’un monde». 822 Dietrich Briesemeister: Columbus als ‘Apostel und Eroberer’ im französischen Epos des 18. Jahrhunderts, S. 317. 823 Vgl. AD 62: «L’homme vraiment courageux ne se laisse jamais abattre; aussi Colomb [...] ne désespéra pas». 824 Vgl. «le respect que leur avait inspiré sa personne, ses dignités, ses connaissances & ses talens supérieurs» (AD 82, livre II).

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den,825 sodass es – anders als bei Lesuire – nicht zu intrasemiosphärischen Spannungen oder gefährlichen Rivalitäten kommt.826 Im weiteren Verlauf des Epos werden repetitiv Verweise auf Kolumbus’ stoische Art gesetzt: Mal sieht man, wie Kolumbus827 (als zweiter Aeneas) seinen Leuten stoische ‘Patientia’ vorgaukelt, um sie so in Gefahrensituationen zu beruhigen.828 Mal beweist er, dass er die stoische Affektlehre verinnerlicht hat, als ihm Pinzón bei der Überfahrt nach Spanien eilends davonfährt, um ihm den Ruhm zu entreißen. Zuerst reagiert er hierauf nämlich mit ‘Propatheia’,829 sogleich folgt das Aktivieren der ‘ratio’, das Reflektieren der Affektursache sowie die sofortige Distanzierung;830 hieran schließt sich der Glaube an die übergeordnete göttliche ‘Providentia’ an.831 Nicht weniger ‘stoisch’ zeigt sich Kolumbus, als er am Ende des Epos mit allerhand Adiaphora überhäuft wird, diese jedoch in ihrer Wertlosigkeit erkennt.832 Im Gegensatz zur

825 Vgl. «ils marchaient sous un Chef dont la main hardie leva en leur présence le voile qui couvrait la moitié de l’univers» (AD 74). 826 Die topische Meuterei bei der Überfahrt kann Kolumbus durch seine ‘stoische’ «voix ferme» und seinen «ton imposant» problemlos niederschlagen, seine Matrosen kann er beim Kompassausfall durch amüsante Geschichten ablenken. Vgl. «la contenance ferme de Colomb [...] plein d’enthousiasme & de confiance [...] dissipa bientôt toute inquiétude» (AD 81, Hervorh. G.J.K.). Vgl. auch die Apostrophe der Spanier im 6. Buch, wo sie mal als Kolumbus’ Mitstreiter ohne Neidgefühle beschrieben werden («L’envie & la jalousie [...] étaient sans force dans vos cœurs», AD 165), mal als seine Nacheiferer («la gloire de Colomb, cette gloire que vous encensâtes si hautement, alluma dans votre sein, le beau feu de l’émulation», AD 165 f.). 827 Ähnlich wie bei Lesuire zu Beginn des Epos. 828 Vgl. «[les Espagnols] accoutumés à lire ce qu’ils devaient craindre ou espérer sur le visage de leur Général, livre fautif dont il supprima toujours habilement les caractères de craintes & de défiance, son air les rassura [...] la tranquillité reprit le dessus» (AD 81, Hervorh. G.J.K.). 829 Vgl. «[il] fut saisi de la plus vive douleur» (AD 162). 830 Vgl. «sans s’arrêter à de vaines plaintes» (AD 162). 831 Vgl. «[Colomb] se plaît à croire que la fortune [...] ne lui préférera pas un lâche & un perfide, dans la distribution de ses grâces» (AD 162). 832 Vgl. «L’éclat du Diadème, le faste des honneurs, la réception flatteuse des Souverains, si éblouissans pour des hommes vulgaires, n’exciterent aucun changement dans Colomb. Son ame ferme ne fut émue par aucun de ces objets. Tranquille sur son siege [...] il parla» (AD 167, Hervorh. G.J.K.). Aus dem bekannten epischen Repertorium stammt auch der Vergleich einer Figur mit einem vom Meer umspülten Felsen, wenn sie sich einer Bedrohung von Außen ausgesetzt sieht, vgl. AD 159: «semblable à un rocher battu par les vagues, le Conquérant du nouveau Monde brave les éléments, les spectres, leurs fureurs & leurs menaces». Ein solcher Kurzvergleich findet sich etwa in der Aeneis (Aen. 7.586), wo Latinus im Chaos und beim bevorstehenden Krieg gegen Aeneas eine Zeit lang standfest bleibt, «wie ein unerschütterlicher Fels im Meer» («velut pelago rupes immota»). Solche Kurzvergleiche setzt z. B. auch der Franzose Bussières in seinem zeitgeschichtlichen Epos ein, als ein Kämpfer einem anderen Paroli bietet «wie ein Felsen im kristallhellen Meer» – «vitreo velut aequore rupes» (Ioannes de Bussières S.J.: De Rhea Liberata poemation, in tres libros distinctum. Lyon: Devenet 1655, S. 47.

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Masse der Spanier wird der ‘stoische’ Kolumbus damit auch nicht von Goldgier geleitet.833 Nicht minder repetitiv als die eher punktuelle Inszenierung als Stoiker ist das omnipräsente ‘gloire’-Streben des Helden. Auch in Lesuires Epos hatte es ja eingangs die Ideologie des Kolumbus bestimmt, bis es Stück für Stück zu einem internen Wandlungsprozess kam.834 Bei Laureau bilden ‘gloire’ und ‘honneur’ diejenigen Schlüsselwörter,835 die von Anfang bis zum Ende bei der Gestaltung einzelner Episoden überrepräsentiert sind.836 Dabei greift Laureau – deutlich stärker als seine Vorgänger – gezielt auf gewisse Aspekte aus Fernandos Historia zurück, die bereits dort mit dem ‘gloire’-Streben verknüpft worden sind, und gestaltet sie aus. Blickt man in die einführende Charakterisierung des Kolumbus im ersten Buch, wird dort in Form einer Antithese resümiert, wie der Genuese seine niedere Abstammung durch seine hehre, ruhmvolle Entdeckerleistung ausgleicht: «avec ses moyens, tout faibles qu’ils étaient, il allait faire plus que tous les Conquérans, & remplir la terre d’étonnement & de la gloire de son nom» (AD 48). Identisch hatte Fernando über seinen Vater geschrieben: «on aime ordinairement à croire qu’une haute naissance contribue à la gloire des grands hommes [...] alors que, au contraire, sa famille, de commune origine, vécut dans l’obscurité et dans la gêne».837 Als Kolumbus sein Projekt am portugiesischen Hof vorstellt, wird sein Vorhaben dort – anders als bei Lesuire838 – nicht nur lakonisch abgewiesen, sondern den Portugiesen wird die heimliche Intention unterstellt, «[de] lui enlever la gloire de son projet» (AD 54, livre I). Fernando hatte auf eben diesen Aspekt in seiner Historia hingewiesen: Kolumbus – «tout naturellement envieux de renommée et de gloire» – habe dem portugiesischen König «de grands honneurs et de notables avantages» in Aussicht gestellt, und der König kurzerhand den Entschluss gefasst, das vorgestellte Projekt eigenhändig ohne Kolumbus’ Hilfe umzusetzen, «sans qu[’il] eût à récompenser l’Amiral».839 Ohne im Detail auf sämtliche Aspekte dieser speziellen ‘gloire’-Inszenierung eingehen zu wollen, sei exempli gratia eine Reihe auffälliger Beispiele vorgestellt:

833 834 835 836 837 838 839

Vgl. Renata Carocci: Introduction, S. 27. Vgl. NM I.4: «La gloire, seul objet des efforts d’un Héros». Vgl. in den folgenden Zitaten jeweils unsere Hervorh. Vgl. die Hervorh. in der Appendix. Fernando Colomb: Christophe Colomb raconté par son fils, S. 7. Vgl. NM I.4: «Il voit, de son projet, les Portugais médire». Jeweils Fernando Colomb: Christophe Colomb raconté par son fils, S. 35.

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(a) Dass Spanien dem Kolumbusprojekt so positiv gegenübersteht, liegt bei Laureau nicht nur an dem besonders ‘aufgeklärt’ agierenden Individuum Isabella,840 sondern daran, dass Spanien durch seinen (Isabella zu verdankenden) Sieg über Granada aus dem bisherigen ruhmlosen Schattendasein an die Macht gekommen ist – weshalb Kolumbus’ Projekt nunmehr perfekt zum in Spanien aufkeimenden ‘gloire’-Streben passe.841 Interessanterweise lässt Laureau auch die Gegenseite, nämlich den konservativen Talavera, mit der ‘gloire’ Spaniens argumentieren, die seines Erachtens durch «le plus fou des projets» (AD 61) beschmutzt würde. (b) Der zweite Musenanruf zu Beginn des zweiten Buchs appelliert dezidiert an die Fähigkeit der paganen Musen, Autoren bei der Abfassung schriftlicher Dokumente Inspiration einzuhauchen, sodass den in den Schriften besungenen Helden ewiger Nachruhm zukommen könne. Der epische Erzähler apostrophiert die Musen mit «vous qui dispensez la réputation & la gloire» (AD 71) und äußert den Wunsch, sein Werk möge für seinen Helden ebenso ruhmspendend sein wie Cäsars Bellum Gallicum oder Xenophons Anabasis. (c) Die topisch gewordene Meuterei bei der ersten Überfahrt bricht bei Laureau nicht aufgrund des Widerwillens der Matrosen gegenüber dem Projekt aus; auch nicht aufgrund der Ablehnung des wissenschaftlichen Ansatzes, den Kolumbus vertritt. Sie beschweren sich auf der sich in die Länge ziehenden Überfahrt vielmehr über die lange Phase des Nichtstuns, und die fehlende Möglichkeit, ihre ‘gloire’ unter Beweis zu stellen: «donne-nous des dangers à affronter & des ennemis à combattre [...] tu vas nous voir voler à tes ordres» (AD 82). Kolumbus’ Antwort-Reden gegenüber seinen Matrosen sind passenderweise ebenso auf die Schlüsselwörter ‘honneur’ und ‘gloire’ ausgerichtet.842 Gerne dürften zwei seiner Schiffe umkehren, solange ein Schiff in der Neuen Welt lande, das mit Matrosen besetzt sei, die ein ‘gloire’-Streben an den Tag legten: accompagné seulement de ceux qu’anime le noble désir de la gloire; ou seul, si on m’abandonne, je poursuivrai mon entreprise; je prouverai à vos Rois, & à votre Nation que leur confiance a été bien placée, que j’ai répondu à leurs vues, & à l’honneur de leur choix, tandisque leurs propres sujets fuyaient, lorsqu’il était question de leur honneur, & de la gloire de leur Patrie. [...] Non, je ne consentirai jamais [...] à un départ aussi honteux, à abandonner une entreprise aussi glorieuse, au moment du succès; cette terre que nous cherchons, & dont tout nous annonce la proximité, attesterait à

840 Vgl. ihre Umschreibung als «Souveraine éclairée» (NM I.5). 841 Vgl. AD 56: «l’exécution de ses conseils [sc. ceux d’Isabelle; G.J.K.] avait [...] couvert de gloire Ferdinand. Ce fut devant ces Princes [sc. espagnoles; G.J.K.] glorieux que parut Colomb». 842 Vgl. etwa: «l’honneur est mort dans vos cœurs» (AD 83).

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jamais ma honte, si un Navigateur mieux secondé, sachant que je n’avais plus qu’un pas à faire, me dérobait, & à vous, toute la gloire due à nos travaux & à notre courage [...][.] (AD 84, Hervorh. G.J.K.)

(d) Kolumbus kann durch das stete Formulieren seiner Gedanken an die «gloire de ses succès» (AD 156, livre VI) auch seine Mitstreiter motivieren und so die Einheit der Semiosphäre der Alten Welt herstellen. Wie ihr Vorbild wollen die übrigen Spanier die Rückfahrt nach Spanien unbedingt meistern: «la crainte de passer pour de téméraires, qui ont péri dans une entreprise folle & sans gloire, sont les seuls sujets qui les affligent; l’idée de périr ignorés & méprisés après tant de gloire & de succès, fait leur seul tourment» (AD 160). An dieser Stelle eröffnet sich eine dritte Parallele zu Lesuires Epos: die Inszenierung der richtigen Einstellung zum Tod. Sowohl Lesuires als auch Laureaus Kolumbus werden in ihrer Todesverachtung herausgestellt. Während Lesuire die Geringschätzung des Todes dazu heranzieht, um dem atypischen, nunmehr im Privaten agierenden Kolumbus weiterhin heldenhaft-stoische Züge zuzuschreiben, wird sie bei Laureau schlicht mit dem ‘gloire’-Streben gleichgesetzt.843 Das Beenden eines Lebens ist bedeutungslos, solange die ‘gloire’ des Menschen weiterlebt.844 Im Moment, als Kolumbus’ Schiff zu kentern droht, schließt Kolumbus in einem Gefäß aus Holz die wichtigsten Informationen über seine Entdeckungen ein und sichert so – ungeachtet des Ausgangs des Seesturms – sein Erbe: [...] Colomb n’hésite plus entre sa gloire & sa personne; il lui suffit de sauver la premiere, & de conserver après lui les regrets & l’admiration de la postérité, il se retire seul, & dans un écrit aussi bref qu’instructif, donne la relation de son voyage[.] (AD 160, Hervorh. G.J.K.)845

Interessanterweise – das ist nunmehr die vierte Parallele zu Lesuire – setzt Laureau Kolumbus immer dann als Helden mit empfindsamen Zügen in Szene (vgl. die

843 Kolumbus’ Einstellung zum Tod springt auf die Spanier über: «[Eux aussi,] ils attendent fiérement la mort; mais ils sont résolus à se défendre jusques à la derniere extrêmité»; vgl. «la mort n’affaiblit pas ces ames courageuses» (AD 160). 844 Vgl. «Que l’honneur est puissant dans le cœur de l’homme généreux; il ne daigne pas s’appercevoir de la mort, tandis que l’ombre seule de la honte ou du mépris lui est insupportable» (AD 160). 845 Erneut übt Kolumbus’ Handeln auf den Ausläufer der Semiosphäre der Alten Welt homogenisierende Wirkung aus, vgl. AD 161: «Les Espagnols sont plus tranquilles après la précaution qu’ils ont prise, croyant avoir sauvé ce qu’ils avaient de plus précieux, ils mettent leur honneur à braver la tempête». Überall finden sich die beiden Schlüsselwörter, vgl. AD 161: «qui néglige le soin de ses jours pour l’honneur», «La gloire [...] fait de son nom un nom célebre, le titre Glorieux de sa famille», «voilà la récompense du Héros. Ce fut, sans contredit, celle de Colomb, & c’est la seule qu’il ait eu(e)».

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obige Unterstreichung), wenn sich der Held unmittelbar vor dem möglichen Scheitern seiner ‘gloire’ befindet. Dies ist der Fall, als sich die Landung in der Neuen Welt verzögert: «il était enseveli dans ses réflexions & sa douleur, il tendait les bras, & jettait avec attendrissement mêlé de désespoir les yeux du côté de la terre qu’il cherchait» (AD 85). Anders als bei Lesuire werden solche ‘sentimentalen’ Momente jedoch lediglich eingespielt, um kontrastiv den Grad der Freude beim schließlich doch erreichten (Zwischen-)Ziel herauszustreichen (in vorliegendem Falle die Entdeckung der Neuen Welt846). Angesichts der Menge an Einzelbelegen kann es nicht verwundern, dass bei genauer Analyse ebenso die globale Anlage des ‘merveilleux’ des Epos (also Götter- vs. Menschenhandlung) auf den Kontrast ‘Streben nach ‘gloire’’ vs. ‘Verhindern der ‘gloire’’ hinkomponiert ist. Anders als die ‘Vetustas’ des Placcius zielen die Allegorien der ‘bösen Seite’ bzw. die ‘Ignorance’ eben nicht nur auf das Beibehalten des ‘Alten’, das Eindämmen des Verbreitens von Wissen und das Verhindern des Schleierlüftens – sondern insbesondere auch auf das Vorgehen gegen die beiden unter (d) angeführten Aspekte: Kolumbus’ Leben und seinen Nachruhm.847 So schreit die ‘Ignorance’ Kolumbus (bei ihrem einzigen großen Einschreiten gegen ihn) entgegen: Que tes espérences, & cette gloire, pour laquelle tu as tant fait, ont été de courte durée. La mer va tout engloutir, elle anéantira jusqu’au souvenir de tes actions. Si ton nom encore te survivait! Mais non, il ne sera prononcé que comme celui d’un Aventurier obscur, d’un téméraire odieux à l’Espagne & à ses Rois, pour avoir entraîné leurs Sujets dans sa ruine; & ton exemple cité dans les siecles, comme la punition de l’audace & de la témérité, empêchera qu’on ne tente une pareille entreprise, & qu’on puisse jamais rendre justice à la tienne. (AD 159, livre VI, Hervorh. G.J.K.)

2.3.3.2.2 Die ‘Second voice’ des epischen Erzählers Gekoppelt an die eben umrissene ubiquitäre Verbindung aus Stoa und ‘gloire’Streben ist ein von der Sekundärliteratur bisher so nicht erkanntes, negatives Moment der Charakterisierung des Laureau’schen Kolumbus: sein Hochmut. Hie und da arbeiten kurze Textpassagen einer Unterminierung des rein positiven Kolumbusbildes zu. Dies ist etwa der Fall, wenn Kolumbus zwar vordergründig

846 Dabei heißt es über den Helden: «son corps tremble de plaisir» und «tout ce que le cœur humain peut contenir de joie est réuni dans le sein» (AD 86). Kurz darauf weist der epische Erzähler wieder auf Kolumbus’ Rückkehr in den Zustand stoischer ‘Apatheia’ hin: «Bientôt, maître de ses sentiments, quelques grands & quelques justes qu’ils fussent, il rappelle le calme dans son ame agitée». 847 Vgl. «la mort & [...] l’avilissement de sa mémoire» (AD 159) und «[ils] cherch[ai]ent à l’ensevelir, ainsi que son entreprise, dans un éternel oubli» (AD 156).

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positiven Einfluss auf seine Mannschaft ausübt, sie «de la honte à la gloire» führen will; diese Leistung aber durch seine selbstgefällige Begleitrede einen negativen Beigeschmack erhält: «la gloire de mon succès vous couvre actuellement de ses rayons»; «vous ne la [sc. cette immense conquête; G.J.K.] devez qu’à un seul homme, & la postérité n’en doit faire hommage qu’à lui seul» (jeweils AD 94, livre III). In dieselbe Richtung zielt Kolumbus’ selbstgenüssliche Schadenfreude gegenüber Portugals König nach seiner Entdeckungsleistung in AD 164: «[Colomb a] gouté un plaisir secret à se venger par sa gloire & ses succes, d’un Prince qui avait méconnu son génie & ses talens». Diese ‘Second voice’, die Laureau an das bestimmende, positive Kolumbusbild mit seinem ‘gloire’-Streben koppelt, erhält im dritten Buch ihre auffälligste Ausgestaltung: Die personifizierte ‘Amérique’ erscheint vor Kolumbus, hält vor ihm eine mit Vorwürfen gespickte Rede und spricht dezidiert die ersten negativen Konsequenzen der Kolonialisierung an.848 Nach eigener Aussage habe sie beim Verhüllen der Neuen Welt durch einen Schleier mitgeholfen, was sie klar in die Nähe der gegnerischen Seite der ‘bösen Götter’ rückt. Demgegenüber vertritt sie – wenngleich Gegenspielerin des Helden – positiv valorisierte Ansichten, da sie für die Wahrung jedes menschlichen Lebens kämpft; von den Ureinwohnern spricht sie als «ces enfans que j’avais dérobé(s) à la rage de leurs freres, & que tu tires [...] du calme de l’oubli, pour les livrer à la servitude, à mille maux & à la mort» (AD 103). Dabei kritisiert sie an Kolumbus’ Verhalten just seine arrogante Selbstüberschätzung: Er habe voller Hochmut ihr Gebiet betreten, werde für dieses Verhalten in naher Zukunft bestraft und in Ketten abgeführt werden; auch sein Nachruhm werde leiden: «cette terre sur laquelle tu posais ce matin un pied superbe, te donnera à peine une chétive sépulture, & dédaignera de prendre ton Nom» (AD 105, Hervorh. G.J.K.). Bisher beschränkte sich die Forschung auf das Konstatieren der von der ‘Amérique’ formulierten Kolonisationskritik: R. Carocci merkt (in AD 87, Hervorh. G.J.K.) an, Laureau greife mit der den Helden heimsuchenden ‘Amérique’-Vision als einer der ersten Schriftsteller zurück auf «un sentiment qui deviendra un motif conducteur dans les années suivantes: celui du génie persécuté [...] et la réflexion sur les maux causés aux Indiens par la découverte que les générations suivantes imputeront à Colomb lui-même; cette réflexion dans Le Nouveau Monde de Le Suire fait que le héros se sent tristement responsable et est en proie au remords». Briesemeister schenkt der ‘Amérique’-Vision ebenso kurz Beachtung und merkt an, die ‘vision des vaincus’ sei bei Laureau – wie bei Lesuire –

848 Sie betont, sie ertrage die von Kolumbus in die Neue Welt gebrachten Gestalten ‘Avarice’/ ‘Fureur’ nicht mehr.

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stärker präsent als in den vorigen Epen. Seine Zusammenfassung passt zu Caroccis obiger Feststellung des ‘sentiment du génie persécuté’: «Columbus erschrickt, als er den Fluch von America auf die Europäer vernimmt».849 Nach der Lektüre der überschaubaren Sekundärliteratur geht man bei der Vision der ‘Amérique’ im dritten Buch also am ehesten von einem monolithischen Block aus. Der ansonsten durchweg positiv gezeichnete Held erlebt eine erschütternde Vision, in der die ‘Légende noire’ thematisiert wird. Diese Deutung greift jedoch zu kurz bzw. ist durch den Textbefund nicht so zu belegen. Vielmehr wird im Rahmen der ‘Amérique’-Vision Kolumbus’ eigenwillige Reaktion auf die Greueltaten vorgeführt, die sich von der bei Lesuire (und Marmontel) vermittelten ‘humanitas’ des (der) Helden klar unterscheidet. Dabei erachtet es der epische Erzähler für nötig, Kolumbus’ Reaktion ausführlich zu kommentieren.850 Unseres Erachtens handelt es sich hierbei um eine Schlüsselstelle des Epos. Nicht zuletzt findet sie sich ziemlich genau in der Mitte des Epos (am Ende des dritten Buchs). Die Kommentierung geschieht zudem in Form des längsten Satzes des gesamten Epos, der sich über nahezu eine ganze moderne Druckseite hin erstreckt. Aus Gründen der Übersichtlichkeit wird er im Folgenden (vgl. Z. 4–21) in kolometrischer Form dargeboten: 1

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A ces terribles menaces, l’Amiral se réveilla; mais la fermeté qui le distingue toute sa vie, lui fit mépriser cette vision nocturne; il leva la tête, vit qu’il était arrivé à la gloire, tout le reste lui parut indifférent. En effet, si les noms des Héros ne survivent que par ce qu’ils ont fait de grand; si la postérité équitable place ces noms révérés en raison des actions; si dans ces actions elle choisit les plus belles & les plus utiles au genre humain, quel rang ne doit pas se flatter d’obtenir celui qui a doublé en quelque façon les connaissances humaines, & les agréments de la vie, qui a tissu le fil de nos jours de charmes & de plaisirs, qui a fait présent au Navigateur d’un Guide habile à conduire ses pas dans les deux mondes dont il lui a frayé le chemin; qui a mis dans les mains du Négociant le germe des plus vastes speculations portées dans tout l’Univers sur les ailes dorées du commerce; dans celles du savant, la clef des plus belles connaissances;

849 Dietrich Briesemeister: Columbus als ‘Apostel und Eroberer’ im französischen Epos des 18. Jahrhunderts, S. 320. 850 Eine ähnliche Kommentierung findet sich bei der bereits angesprochenen, von Schadenfreude geprägten Haltung des Kolumbus gegenüber dem portugiesischen König; sie sei angesichts des herausragenden Heldenstatus des Kolumbus nachzuvollziehen (vgl. AD 163).

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dans celles des Rois, de grands moyens, de vastes dominations; dans celles de l’homme un autre hémisphere; enfin, qui a doublé d’un seul coup par l’effet de son genie & de son courage l’étendue de l’Univers? Quels sentiments flatteurs doit concevoir en lui-même celui qui a fait de si grandes choses! Faut-il s’étonner si, après être parvenu à un si haut dégré, Colomb regarda depuis si fort au dessous de lui l’injustice & l’ingratitude? Sans s’arrêter à ce songe inquiétant, l’Amiral dès le matin parcourut les parties de l’Isle qu’il n’avait pas vu(es)[.] (AD 106; Anordnung und Hervorh. G.J.K.)

Blicken wir auf den Kontext der Stelle. Im Vorfeld ist die Rede von Kolumbus’ glorreicher Landung auf dem Neuen Kontinent, bis er ‘Amérique’ im Traum vor sich sieht. Sie wird zuerst in ihrem Erscheinungsbild als «spectre énorme» (AD 102) mit ihrem «visage [...] pâle» genauer beschrieben, daraufhin beginnt sie ihre lange Rede, ohne dass Kolumbus vom epischen Erzähler dabei noch in den Blick genommen wird. Erst einige Textseiten später folgt der obige Textauszug, in dessen Zentrum Kolumbus(’ Reaktion) steht. Das kurze ‘Erschrecken’ – wenn man dies gemäß Briesemeister aus dem «l’Amiral se réveilla» herauslesen möchte – ist mitnichten das zentrale Element dieser Passage: Kolumbus wird vielmehr in stringenter Anknüpfung an die oben dargelegte Charakterisierung völlig stoisch gezeichnet (vgl. Z. 1 f.). Anders als Lesuires Kolumbus, der sich angesichts drastischer Einblicke in die Zukunft ja stets in die Selbstisolation begeben hat, trägt er selbstüberzeugt seine Unantastbarkeit zur Schau. Die Erfüllung seiner Mission und die erreichte ‘gloire’ lässt ihn etwaige Kollateralschäden für unbedeutend erachten (vgl. Z. 3: «indifférent») und er geht sogleich weiter seinen Weg «[s]ans s’arrêter à ce songe inquiétant» (Z. 25). Der dazwischen geschobene, längste Satz des Epos bringt trotz seiner Länge inhaltlich keine neuen Informationen und ist für den Fortgang des Epos irrelevant. Hier wird lediglich vonseiten des epischen Erzählers eine rechtfertigende Kommentierung der Verhaltensweise des Helden geliefert. Mit der einleitenden dreiteiligen konditionalen Protasis (vgl. Z. 5–7) wird die Bedeutung glorreicher Taten für die Menschheit und den Nachruhm vorausgesetzt, in fünffacher und erneut vierfacher Anapher werden dann die Leistungen des Genuesen aufzählt (vgl. jeweils das ‘(celui...) qui’ bzw. ‘dans (les mains)’ in Z. 9–21). Die nachklappende rhetorische Frage (vgl. den Fettdruck in Z. 23–24) fasst die Quintessenz der langen Hypotaxe zusammen: In den Augen des epischen Erzählers ist es nachvollziehbar, dass Kolumbus aufgrund seiner Leistungen vom entstehenden Unrecht sowie vom Undank vonseiten der Europäer (den er über sich wird ergehen lassen müssen) nicht tangiert wird. Es bleibt nun nicht bei dieser einmaligen Erwähnung bzw. Problematisierung der Verbindung von Kolumbus’ ‘gloire’-Streben und seiner a-humanen

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‘Gefühlskälte’.851 Die negative ‘Amérique’-Vision ist eben kein einmaliger Exkurs inmitten eines sonst durchweg in positiven Tönen gehaltenen Texts. Die ‘Second voice’ durchdringt vielmehr das gesamte dritte Buch, in dessen Zentrum die erste Landung steht.852 Blicken wir hierzu auf ausgewählte Passagen, um R. Caroccis einseitig bleibende Beurteilung – «jamais, autant que dans les pages de cette troisième partie du poème, Laureau n’insiste sur la grandeur morale de l’homme, qu’il s’agisse du navigateur courageux» (AD 88 f.) – zu relativieren: (a) Zu Beginn des dritten Buchs wird in einem durchweg positiven Kontext vom epischen Erzähler atmosphärisch auf die bevorstehende heldenhafte Landung eingestimmt: Es handle sich um «Le plus mémorable des jours depuis celui où naquit l’Univers commençait à paraître», «L’Aurore bord[e] ses rayons naissans de son écharpe de rose», sie verstrahle ihre «douce lumiere» usw. Sodann wird Kolumbus’ Leistung figurativ umschrieben: [A]lors se déchira le voile qui couvrait la terre, ce dépôt que la nature avait confié à l’Ignorance & à l’antique Nuit, fut violé; l’œil de Colomb pénétra ce secret si long-temps gardé, sa main tira le rideau qui cachait à l’ancien monde les secrets du nouveau. Son œil fut le premier qui les vit, comme son génie fut le premier qui les devina. A cette vue, la joie inonda son cœur, il jouit du plus beau des triomphes. (AD 93, livre III, Hervorh. G.J.K.)

Die negativ konnotierten Begrifflichkeiten (‘violer un dépôt’, ‘pénétrer’) fallen zwar schon an dieser Stelle auf, sie wirken im gegebenen positiven Kontext

851 ,Amériques’ Prophezeiung vom drohenden Unheil findet ferner sofort Bestätigung dadurch, dass die Spanier sich nach ihrer Rede habgierig auf die Suche nach Gold begeben. 852 Der topische erste Kontakt mit der Neuen Welt, der sich bei Laureau im dritten Buch findet, wird bei ihm – anders als bei seinen Vorgängern – negativ geschildert. Ähnlich wie Lesuires Kolumbus bei der ersten Landung von einer Vision heimgesucht wird, wird auch bei Laureau eine Vorahnung eingespielt. Dies jedoch nur auf der Ebene des epischen Erzählers: Nach dem optischen und vor dem haptischen Kontakt mit der Neuen Welt kommt es zur akustischen Einnahme der Neuen Welt: Hier merkt der epische Erzähler an, der Lärm «ébranla les fondements de l’Isle, répandit la terreur, & fut le pronostic des maux qui allaient fondre sur ce malheureux pays» bzw. kommentiert den Lärm der Trompeten als «ce son qui annonce la mort & le carnage» (AD 98). Alle Handlungen gehen nur einseitig von den Europäern aus, die Indigenen werden nur en passant erwähnt, ihre Handlungen ins Plusquamperfekt gesetzt und stets nur ‘nachklappend’ behandelt. Sie sind Randerscheinungen «qu’on avait remarqué(s) sur la côte» (AD 96) – Man beachte an dieser Stelle eben die interne Fokalisierung aus Sicht der Europäer. Weniger stark ausgeprägt sind die Hinweise auf die Greueltaten der Spanier in anderen Büchern. In Buch IV lesen wir etwa die Schmährede eines Ureinwohners, der mit in die Welt kommen soll, gegenüber dem europäischen Lebensstil. Es kommt ferner zu punktuellen Anspielungen auf die unheilbringenden Folgen des ‘gloire’-Strebens des Heldens: Dieser will etwa «en signe de domination» (AD 121) ein Fort errichten, das die Ureinwohner zuerst annehmen und erst später als das negative Symbol der Sklaverei erkennen, das es ist.

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jedoch schlicht als drastische Formulierungen für das Durchbrechen des überkommenen, alten Weltbildes, das sich sofort wieder in der internen Fokalisierung des Kolumbus und seiner unbändigen Freude auflöst (vgl. die Kursivierung). Bei fortschreitender Lektüre des dritten Buchs (insbesondere der Klagerede der ‘Amérique’) nimmt die glorifizierende Beschreibung im Vorfeld der Landung allerdings im Rückblick durch und durch negative Züge an. Dort wirft Amérique Kolumbus vor: [Q]uelle fureur inquiete t’as porté à violer ce dépôt, qui n’était confié qu’au vieil Océan & à l’antique Nuit, & à chercher à travers mille dangers ces enfans que j’avais dérobé(s) à la rage de leurs freres, & que tu as tirés aujourd’hui du calme de l’oubli, pour les livrer à la servitude, à mille maux & à la mort. O jour à jamais malheureux pour ces Contrées[.] (AD 103, livre IV, Hervorh. G.J.K.)

Amériques Rede ist unverkennbar (vgl. jeweils den Fettdruck der beiden obigen Zitate) als Replik auf die Darstellung des epischen Erzählers formuliert; ferner wird der «plus mémorable des jours» unter diesem Blickwinkel zum «jour à jamais malheureux» (vgl. jeweils die Kursivierungen). Gerade ex post wird durch die Wahl des Vokabulars also eine eindeutige ‘Second voice’ über die epische Beschreibung der ersten Landung gelegt. (b) Im Anschluss an die ‘Amérique’-Vision kommt es zu einer Episode, bei der Kolumbus’ Leistung in die Nachfolge Heinrichs des Seefahrers gestellt wird, dessen Schatten folgendermaßen apostrophiert wird: Ombre du Prince Henry du Portugal; Ombre illustre du Héros qui donna au monde le premier mouvement d’impulsion vers les découvertes, dont la main généreuse osa la premiere saisir le voile qui couvrait une partie de la terre, dont le Génie lumineux [...] ranima les facultés humaines [...]: avec quel plaisir vous dûtes voir le Prince des Navigateurs dominer dans les mers de ce monde inconnu, dont vous aviez préparé la découverte! (AD 107)

R. Carocci fasst passenderweise in ihrer Inhaltsübersicht (vgl. AD 88 f.) zusammen, es handle sich um «l’exaltation du prince éclairé selon l’esprit des Lumières» (AD 88). Anders als diese knappe Bewertung der Passage es vermuten lässt, kommt es auch hier zu einer nicht völlig eindeutigen Kommentierung des kolumbischen ‘gloire’-Strebens: An den eben zitierten Textausschnitt (über die Vorbereitung der ‘Amerika-Entdeckung’ durch Heinrich) knüpft der epische Erzähler folgenden Satz an: «Si cet événement a manqué à votre gloire, la postérité reconnaissante vous en fait hommage; & l’approche des actes glorieux inscrits sur la pierre qui couvre la cendre, qui servit de vêtement à un génie sublime & bienfaisant» (AD 107, Hervorh. G.J.K.). Von der identischen Stoßrichtung der Taten der beiden ‘Brüder im Geiste’, Heinrich und Kolumbus, zeuge auch die Kurzzusammenfassung der Leistungen auf ihren Grabsteinen. Die Erwähnung

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des Grabsteins als typisches Symbol des Nachruhms (vgl. den Fettdruck) löst im epischen Erzähler einen spontanen, assoziativen Gedankengang aus, den er zu einem kurzen Exkurs weiterspinnt: A la vérité on ne voit pas sur ce monument [sc. la pierre tombale qui couvre la cendre; G.J.K.], ces trophées sanglans qui attestent les malheurs & les ravages; on n’y voit que ceux qui caractérisent la bienfaisance, la justice & le bonheur: mais ce spectacle est plus glorieux pour vous, plus flatteur pour celui qui le contemple, que des malheureux foulés aux pieds, des esclaves enchaînés s’agitant dans les accès du désespoir, & exhalant la plainte amere. (AD 107)

Der epische Erzähler reflektiert hier über den ‘geschichtsverzerrenden’ Aspekt von Grabsteinen: Angesprochen wird die Tatsache, dass man das wirklich Vorgefallene – d. h. die von blutigen Kämpfen zeugenden Trophäen (gemeint sind hier etwa erbeutete Sklaven oder Reichtümer) – beim bloßen Betrachten der auf den Grabsteinen verankerten Kurzversion der Taten nicht sehen kann.853 Etwaige negative Begleiterscheinungen sind für die ‘gloire’ eben nicht ausschlaggebend. Die Grabsteine heben lediglich die relevanten Bestandteile großer Taten (‘bienfaisance, justice, bonheur’) hervor. Das Ende des zitierten Absatzes (ab «mais ce spectacle») beschreibt den Umstand, dass man sich als Betrachter eines Grabsteines ein weitaus positiveres Bild von der historischen Leistung macht; ein solches Bild vermittle der Anblick von besiegten Sklaven nicht. Unseres Erachtens besteht die Besonderheit dieses assoziativen Erzählerkommentars nun in seiner ambigen Ausgestaltung. Die folgende ‘Exclamatio’ «Comment les hommes ont-ils été assez insensés, | assez ennemis d’eux-mêmes pour asseoir la principale gloire sur des sujets de larmes & de douleur!» (AD 107 f.) bringt auf einer vordergründigen Ebene die Erschütterung zum Ausdruck, wie borniert der Mensch doch ist und wie wenig er seine eigenen Leistungen doch wertschätzt, wenn er den potentiellen Nachruhm auf «sujets de larmes & de douleur» (AD 108) gründet: Si c’est pour entraîner leurs descendants dans leur erreur, qu’ils laissent voir ces monumens de leur faux goût, au lieu d’imitation, ils ne recueilleront que des regrets sur leurs malheurs, & des reproches sur ces leçons dangereuses. (AD 108, Hervorh. G.J.K.)

Mit «ces monumens» sind dann nicht mehr die Grabsteine gemeint, sondern die «trophées sanglans», die versklavten Gegner. Wie bei der ausufernden Kommen-

853 Seltsam mutet die Interpunktion an: Das Komma vor «ces trophées» findet sich auch in der Originalausgabe von Autun. Grammatikalisch muss ‘ces trophées sanglans’ das transitive Objekt zu «on ne voit pas» bilden; schließlich greift der zweite Satzteil mit demselben Verb als transitives Objekt «ceux» (d. h. die maskulinen ‘trophées’) auf. ‘À la vérité’ steht synonym für ‘en effet’. Das Komma insinuiert aber eine nähere Zusammengehörigkeit der Elemente im Sinne von ‘On ne voit pas à la vérité’ (‘Bis zur Wahrheit kann man auf den Grabsteinen nicht durchblicken’).

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tierung der ‘Amérique’-Vision verfolgt der epische Erzähler vordergründig die Absicht, die Entdeckerleistung des Kolumbus im positiven Licht des Nachruhms erstrahlen zu lassen. Das Fokussieren des Leids der besiegten Ureinwohner wird als irreführend herausgestellt. Denn würde an kommende Generationen nur ein derart pejorativ konnotiertes Bild der Leistung ihrer Ahnen weitergegeben werden, «ils ne recueilleront que des regrets sur leurs malheurs». Feststeht, dass bei dieser Argumentation die Greueltaten der Spanier in der Neuen Welt dezidiert angesprochen und so in den Fokus gerückt werden. Das Generieren immerwährenden Nachruhms gelingt nur durch das Verhehlen des Schadens für die Besiegten und das Überdecken negativer «leçons dangereuses». In diesem Sinne bietet sich bei der Lektüre solcher Abschnitte auch eine andere Lesart an, sodass man aufgrund eindeutiger Textbelege von einer «Implizitheit des Sinns» sprechen könnte. Mehrstimmig ist auch die äußerst neutral formulierte ‘Exclamatio’, die sich genauso als Kolonisationskritik lesen lässt: «Wie konnte der Mensch bisher so kurzsichtig sein und seiner eigenen (Menschen-)Rasse derart feindlich gesinnt, dass er Ruhm auf dem Leid und der Zerstörung brüderlich verbundener Menschen aufbaut?!»: «Comment les hommes ont-ils été assez insensés, | assez ennemis d’eux-mêmes pour asseoir la principale gloire sur des sujets de larmes & de douleur!». Ebenso intendiert ist das punktuelle Verunklaren von Referenzen: Liest man den Satz «Si c’est pour entraîner leurs descendants dans leur erreur, qu’ils laissent voir ces monumens de leur faux goût», verbindet man zumindest kurzzeitig die «monumens» assoziativ mit den zuvor bereits als «monumens» bezeichneten, geschichtsverzerrenden Grabsteinen. Damit würden also die Nachkommen durch die Grabsteine irregeführt, die in ihrer verkürzten Darstellung kein wahrheitsgetreues Bild vom Leid der Besiegten abgeben. Es ist außerdem nicht unwahrscheinlich, dass Laureau bei der Ausgestaltung dieser Passage mit dem Ende der Historia Fernandos spielt. Dort wird die Aufschrift auf Kolumbus’ Grabstein zitiert, auf dem steht: «Le grand Colomb donna un nouveau monde aux royaumes de Castille et de Léon».854 Wir haben es also mit einer konzisen Formulierung der Leistung zu tun, bei der Greueltaten keine Erwähnung finden und an die Fernando sein ausnahmslos positives Fazit bleibenden Nachruhms anschließt: «Eternellement vivra la mémoire [sc. de Colomb; G.J.K.]». Es verwundert jedenfalls nicht, dass R. Carocci in Anbetracht der Kürze ihrer Buchzusammenfassungen, die ihren modernen Leserinnen und Lesern erstmals einen Überblick über das Epos geben sollen, diese durchaus ambige Valorisierung der ‘gloire’ nicht raumgreifend erwähnt. Sie merkt schlicht neutral an, Kolumbus würde hier als «Héros certes, mais sans illusions» (in AD 89)

854 Fernando Colomb: Christophe Colomb raconté par son fils, S. 256.

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herausgestellt.855 Die Beurteilung von Laureaus Text steht und fällt mit dem Stellenwert, dem man der eben herausgearbeiteten ‘Second voice’ zugestehen mag. Auch eine noch ausführlichere Zusammenstellung von im Text zu findenen Belegen würde über das Problem ihrer Intentionalität nicht hinweghelfen und keine eindeutige Beantwortung der Frage erlauben, wie ‘strategisch’ die ‘Second voice’ tatsächlich in diesem Falle vom Autor angelegt ist. 2.3.3.3 Fazit: Laureaus epische Modellierung Trotz dieser Einschränkung bleibt zu betonen, dass Laureau wie Lesuire dezidiert die negative Seite der Entdeckungsfahrten thematisiert und ihr mehr Raum gewährt als dies in den früheren Epen der Fall gewesen war. Blickt man vergleichsweise in den zentralen französischen Vorgängertext der beiden Epen, Madame Du Boccages Colombiade, wurde dort die ‘Légende noire’ zwar nur an wenigen Stellen punktuell gegen Ende des Epos eingespielt.856 Doch wird schon bei Madame Du Boccage die für die Epen von Laureau und Lesuire zentrale Frage skizziert, wie Kolumbus im vollen Bewusstsein der drohenden unheilvollen Konsequenzen sein Handeln rechtfertigen kann. Die beiden später bei Lesuire bzw. Laureau zu findenden Alternativen der Rechtfertigung werden nebeneinander angesprochen: Auf der einen Seite sehen wir in Du Boccages Epos punktuell einen Helden, der sein Handeln vor sich kaum rechtfertigen kann und sich wegen seines unbeirrten «desiderio di sapere e di progredire nella conoscenza»857 kurzzeitig in einer Aporie befindet. Carocci spricht ebenda vom ‘dramma dell’eroe’ und einem Kolumbus, der zu kennzeichnen sei als «consapevole del proprio tragico destino». Exemplarisch sei verwiesen auf COL 147, chant IX: «Ce Héros consterné des maux qu’il envisage, | Gémit, & dans son trouble invoque [...] les Cieux».858 In diesen kurzen Passagen des ‘dramma dell’eroe’ ist Lesuires Problemheld angelegt; es lässt sich sogar schon das Versatzstück finden, das

855 S. hierzu R. Caroccis Fazit: «Seule la mort, la grande justicière, délègue à la postérité l’hommage impérissable dû aux personnes qui ont aidé au progrès de l’humanité. Leurs actions gravées sur leurs tombes transmettent leur mémoire dans les siècles. Telle est la leçon de l’histoire que Laureau a dégagée de ses études et qu’il offre à ses lecteurs à travers les paroles de son héros et la célébration d’un monarque du passé» (AD 89). 856 So im reuevollen Blick über die von Blut getränkte Naturlandschaft nach der Entscheidungsschlacht, vgl. «Ce champ [...] | Rougi des flots de sang fait frémir la Nature» (COL 183, chant X). 857 Renata Carocci: La Colombiade di Madame Du Bocage, S. 265. 858 Vgl. «O Potose fatal ! dangereux héritage ! | Dit le Génois frappé des maux qu’il envisage !» (COL 157).

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bei Lesuire mehrmals in unterschiedlichen Spielarten durchdekliniert wird:859 «Si j’y dois par mes soins enfanter tant de crimes, | Que n’ai-je dans les Mers terminé mes destins!» (COL 157, chant IX). Erst bei Lesuire wird dieser Aspekt des Kolumbus jedoch zum dispositorisch bestimmenden Moment. Erst bei Lesuire sehen wir, wie Kolumbus’ Rechtfertigungsdruck (nicht zuletzt vor sich selbst) ihn vor einen nicht zu lösenden Widerspruch stellt, wie seine Reflexion schließlich in die Einsicht mündet, dass er seine Taten nicht mehr rückgängig machen kann, sich nur durch eine veränderte Ideologie im Privaten vom ursprünglichen ‘gloire’-Streben distanzieren kann. Auf der anderen Seite sehen wir schon bei Madame Du Boccage den Versuch, Kolumbus’ Handeln durch das aufklärerische Fortschrittsdenken und den Verweis auf die «gloria ai posteri»860 zu rechtfertigen. In Form einer Vision wird Kolumbus von der göttlich inspirierten Seele der verstorbenen Ureinwohnerin Zama vorgeführt, wie seine Leistung zum Fortschritt des Menschengeschlechts beiträgt; der in Anbetracht des Ausblicks begeisterte861 Kolumbus wird hier zur bahnbrechenden, ruhmwürdigen Gallionsfigur.862 Genau in diesem Sinne sehen wir in Laureaus Epos einen Kolumbus, der auf der Figurenebene – anders als Lesuires Held – frei von Gewissensbissen unbeirrt seinem ‘gloire’-Streben nachgeht und frei ist von jeglicher Rechtfertigungsnotwendigkeit. In stoischer Gefühlskälte als ‘klassisch epischer Held’ modelliert, der sich von jeglichen negativen Assoziationen, die offen an ihn herangetragen werden (vgl. die ‘Amérique’-Vision) bezüglich seines Projekts hochmütig distanziert. Vonseiten des epischen Erzählers wird jedoch zweimal in auffallend langen Kommentaren apologetisch für Kolumbus Position bezogen, um zu begründen, weshalb gerade ein «dramma dell’eroe» ausbleibt bzw. ausbleiben muss; weshalb seine ‘gloire’ (d. h. seine positiven Leistungen) die negativen Folgen der ersten Eroberung überstrahlt. Dass die beiden ‘Lösungsmöglichkeiten’ bei Madame Du Boccage nur angesprochen, nicht aber näher thematisiert werden, liegt daran, dass Du Boccage ihre eigene Lösung des ‘dramma dell’eroe’ bietet: Kolumbus’ Handeln erfährt seine maßgebliche Rechtfertigung nämlich durch die Instanz Gottes. Die von ihm umgesetzte göttliche Mission wäscht ihn als Heldenfigur rein von jeglichem in der Zukunft womöglich folgenden Unheil. Daher erhält Du Boccages Kolumbus von seiner Begleitfigur Zama stets die Hinweise der höchsten, nämlich göttlichen, Au-

859 Vgl. Kap. 2.3.3. 860 Renata Carocci: La Colombiade di Madame Du Bocage, S. 265. 861 Vgl. «De ces tems à venir admirant la science» (COL 161, chant IX). 862 Vgl. u. a. «Vers la Gloire, où ton vol doit un jour parvenir, | Tu traces aux Héros une route nouvelle. | Cortèz dans ses exploits te prendra pour modéle» (COL 155, chant IX).

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torität.863 Dabei kommt es zu einer Relativierung des menschlichen Fortschrittsglaubens verglichen mit der göttlichen Sphäre: «Mais de tant de progrès, vains aux yeux des Elus, | Cessons de parcourir les succès superflus» (COL 167, chant IX). Aufgrund ihres Ausblendens der ‘perspective chrétienne’864 können beide Autoren nicht mehr auf Du Boccages’ einfache Art der Rechtfertigung zurückgreifen und entscheiden sich auf ihre Weise jeweils für einen der beiden schon bei Madame Du Boccage anklingenden Wege. Während Lesuires Epos die epische Gattung aufsprengt, lässt sich Roulins Feststellung zu Laureaus Text, nach der es sich um ein Epos klassischer Machart handle, scheinbar überall beweisen: Laureau übernimmt stringent den klassischen epischen Aufbau, behält die gängige Raummodellierung ohne intrasemiosphärische Spannungen bei, übernimmt als formales Kriterium einen genretypischen ‘Götterapparat’, indem er diese ‘formale Hülse’ durch eigene Allegorien des (Nicht-)Wissens füllt. Er inszeniert Kolumbus als rein positiven Helden, der sich selbst, seiner stoischen Einstellung, seinem ‘gloire’-Streben treu bleibt. Dabei gewinnt das ‘gloire’Streben überproportional an Raum, und es werden sogar Elemente, die bei Lesuire völlig anders genutzt werden, einseitig auf die ‘gloire’ hin ausgelegt (etwa Kolumbus’ empfindsame Momente, seine Vergleiche mit einem Gott).865 Schließlich wird Kolumbus’ Fokussierung des Nachruhms durch den epischen Erzähler zweimal rechtfertigend kommentiert. Trotz dieser ‘klassischen’ Machart erscheint Laureaus Epos nun aber nicht unbedingt weniger ‘kolumbuskritisch’ als Lesuires Text. Bei Lesuire gehen die Brüchigkeit des Genres und die Brüchigkeit der Heldenfigur Hand in Hand, gibt doch ein aus Genre-Sicht problematischer Held bei ihm seine ‘humane’ Seite offen zu erkennen. Laureaus Kolumbus dagegen handelt klar und zielsicher. In seiner Arroganz jedoch passt er nicht mehr zum noch bei Madame Du Boccage vermittelten – typisch aufklärerischen – Heldentypus, der neben der Gottestreue auch das nötige Understatement an den Tag legt: «Colomb, dont la sagesse égale le pouvoir, | Humble dans son triomphe, & sûr de sa conquête, | Au Souverain

863 Vgl. etwa «Du Ciel, reprit Zama, respecte les desseins» (COL 157, chant IX) oder: «Pense à servir le Dieu qui loin de toi m’appelle» (COL 167, chant IX). Ferner soll Kolumbus’ glückliches Unternehmen gekrönt werden durch die gottgewollte christliche Heirat mit der Ureinwohnerin Zama. So befiehlt ihm Zama: «Sers ton Dieu, suis ses loix ; faits qu’un jour dans sa gloire | Nos Destins réunis couronnent ta victoire» (COL 152, chant IX). 864 Sowie u. a. dem eindeutigen Fokus auf einer polygenetischen Abstammung der Ureinwohner, vgl. Kap. 3.2. 865 Um die einzelnen Kapitel kompakt zu halten, wurden in unserem Kapitel zu Laureau einige weitere Parallelen nicht erwähnt, etwa, dass auch in der Amérique découverte die Vorstellung eines ewigen, zyklischen Weltverlaufs angelegt ist, welche jedoch erneut nicht für die ‘Dispositio’ des Epos nutzbar gemacht wird. Vgl. AD 77, livre II.

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des Cieux en consacre la Fête» (COL 183, chant X, Hervorh. G.J.K.).866 Trotz all der oben aufgeführten Parallelen zu Fernandos Historia und der Inszenierung des Vaters mit ewiger ‘gloire’ fehlt bei ihm doch die entscheidende Komponente des Helden, auf die J. Heers auf den ersten Seiten seiner Kolumbusbiographie zu sprechen kommt: «la vertu de modestie si bien prônée par le fils».867 Laureaus Ausblenden der Rechtfertigungsnotwendigkeit lässt Kolumbus – gerade in seiner Modellierung als aufklärerischer Held – in zwiespältigem Licht erscheinen; nicht zuletzt wenn man an Laureaus Vorläufertexte wie Marmontels Incas denkt, die Laureau nicht nur gelesen, sondern passagenweise auch für sein Epos selbst nutzbar gemacht hat.868 Mit Blick auf die Bedeutung des ‘regard anthropologique’ und den zeitgenössischen Hintergrund des ambigen Blicks auf die Kolonialisierung869 ist es kaum denkbar, dass mit vollem Ernst ein rein positives Heldenbild verfolgt wird. Unseres Erachtens belegt neben Lesuire auch Laureau auf seine Art, dass das klassische Epos nicht mehr wirklich stimmig ist, um der zeitgenössisch ambigen Beurteilung des Helden Kolumbus gerecht zu werden. Der Romancier entscheidet sich für einen eigenen, kreativen Umgang mit der Gattung Epos und damit für eine Art der ‘romanisation’ des Genres, die zu Roulins Feststellung bezüglich Marmontel und Chateaubriand passt: [L]a forme épique classique apparaît au Tournant des Lumières comme insuffisante pour épuiser les paramètres de la compréhension historique. A un moment où les genres narratifs se donnent pour tâche de rendre compte de la complexité de l’Histoire, il convenait de renouveler la conception du héros épique pour l’adapter à cette nouvelle exigence.870

Lesuire ist damit in gewisser Hinsicht seinem Zeitgenossen Laureau einen Schritt voraus, der sein Epos übertrieben ‘klassisch’ modelliert und die ‘Légende noire’ auf einer deutlich oberflächlicheren Ebene ansetzt. Bei Laureau tangiert der kritische Aspekt die ‘Dispositio’ des Epos auf der Figurenebene gerade nicht, er dringt nicht bis in den Handlungskern vor, das klassische Heldenbild und die klassische Raummodellierung werden nicht modifiziert. Doch gerade die Verwendung dieses (mit voller Absicht noch übertrieben fest gezurrten) Korsetts stellt die Position eines rein positiven ‘Kolonialhelden’ auch bei Laureau in Frage.

866 S. ebenso COL 155, chant IX: «sois humble dans ta gloire». 867 Jacques Heers: Christophe Colomb, S. 6. 868 Vgl. z. B. Carocci (in AD 128) bezüglich der Beschreibung des Sonnentempels im fünften Buch: «on a la sensation très vive que Laureau paraphrase son devancier [sc. Marmontel; G.J.K.]» und (in AD 129) zu Anklängen an Paul et Virginie, wie sie sich ebenso bei Lesuire finden. 869 Vgl. Pierre Frantz: Introduction, S. 5. 870 Jean-Marie Roulin: La ‘romanisation’ du héros dans l’épopée du tournant des Lumières, S. 269.

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2.3.4 Peramás, De invento Novo Orbe 2.3.4.1 Forschungsstand und zeitgenössischer Kontext der Jesuitenvertreibung Nahezu zeitgleich zu den beiden französischen Epen Lesuires und Laureaus erscheint 1777 das letzte uns derzeit bekannte neulateinische Kolumbus-Epos, De invento Novo Orbe inductoque illuc Christi Sacrificio; es stammt aus der Feder des katalanischen Jesuiten José Manuel Peramás (1732–1793). Wie seine zwei französischen Pendants hat es bisher in der Forschung kaum Behandlung gefunden und es stellt unter den neulateinischen Kolumbus-Epen das am wenigsten bekannte Werk dar.871 Dabei wurde es anfänglich in ganz Europa und auch in Nordamerika gelesen, ja mit gewissem Interesse auch noch im 19. Jahrhundert verfolgt, wovon etwa ein in Mallorca und ein in Mexiko gefundenes Exemplar zeugen.872 Erst 2015 hat Maya Feile Tomes das Epos überhaupt wieder in den Fokus der modernen Wissenschaft gerückt und in Form von Vorträgen sowie insbesondere zweier Zeitschriftenartikel ihre diesbezüglichen Erkenntnisse dargeboten.873 Von ihren Vorarbeiten konnte meine eigene Arbeit stark profitieren.874

871 Vgl. Maya Feile Tomes: News of a Hitherto Unknown Neo-Latin Columbus Epic, Part I. José Manuel Peramás’s De Invento Novo Orbe Inductoque Illuc Christi Sacrificio (1777). In: International Journal of the Classical Tradition 22 (2015), S. 3: Peramás’ Epos «remains singularly neglected». 872 Vgl. ebda., S. 8, sowie Maya Feile Tomes: News of a Hitherto Unknown Neo-Latin Columbus Epic, Part II, S. 226 und S. 228–234. 873 Dies geschieht unter gewissen Seitenhieben auf Desiree Arbo/Andrew Laird, die durch ihren Aufsatz von 2015 ebenso die weitere Forschung antreiben wollen und scheinbar zeitgleich auf das Epos aufmerksam wurden. Vgl. Desiree Arbo/Andrew Laird: Columbus, the Lily of Quito and the Black Legend. The Context of José Manuel Peramás’ Epic on the Discovery of the New World: De Invento Novo Orbe Inductoque Illuc Christi Sacrificio (1777). In: Dieciocho: Journal of the Spanish Enlightenment 38 (2015), S. 7–32. Vgl. zusammenfassend den Beginn ihrer Doktorarbeit (Maya Feile Tomes: Neo-Latin America, S. 4–7), in der sie das Epos als einen exemplarischen Text für die bisher vernachlässigte, auf Latein schreibende «Hispanophone [...] sphere» (ebda., S. 21) der Neue-Welt-Literatur versteht, von denen «untold numbers [...] [are] still awaiting rediscovery and rehabilitation» (ebda., S 13). Eine umfassende Textanalyse kann sie in ihrer «first literary-critical study» (ebda., S. 27) nicht leisten. Das Hauptaugenmerk liegt auf grundlegenden Erkenntnissen bezüglich der Darstellungsart eines in der Peripherie gelegenen ‘Amerika’, vgl. ebda., S. 123: Ein Vergleich mit anderen Kolumbus-Epen wird nicht intendiert: «I do not analyse the DINO [sc. De invento Novo Orbe; G.J.K.] primarily as, or in relation to, Neo-Latin Columbus epic». Dort, wo sie detailliert Textarbeit betreibt, geschieht dies mit Blick auf spanische Autoren und Werke des Vergil sowie des Lukrez. Daher soll im Folgenden der Fokus auf Passagen gelegt werden, die von Feile Tomes ausgespart werden, sowie auf die christliche Motivik und auf Verbindungslinien zwischen christlichen und klassisch-epischen, paganen Motiven. 874 Insbes. ist auf den von den Mitgliedern des DFG-Projekts ‘Epische Modellierung ideologischer Konflikte in der Frühen Neuzeit’ durchgeführten Workshop ‘Kolumbus in Amerika’

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Feile Tomes zeigt auf, warum über die Jahre hinweg in Vergessenheit geriet, dass es sich bei diesem Text um ein Epos handelt, und warum der Text nicht mehr allzu oft gelesen wurde.875 Der wohl prägendste Moment für die Werkgeschichte ist die lange als «authorized biography»876 geltende Josephi Peramasii vitae sinopsis eines Anonymus aus dem Jahre 1793. Der dort implementierte Werkkatalog legt das Hauptaugenmerk auf den Inhalt der Bücher des Jesuiten, weshalb das Epos De invento Novo Orbe inductoque illuc Christi Sacrificio (also ‘Über die Entdeckung der Neuen Welt und das dort eingeführte Heilige Abendmahl’) nicht mit seinem vollen Originaltitel aufgeführt wird, sondern mit der Inhaltsperiphrase De Sacro in novum Orbem invecto Poema (es ist also die Rede von einem ‘Gedicht über das in die Neue Welt eingeführte Sakrament’).877 Über eine Reihe unbedachter Wiederaufnahmen dieses periphrastischen Titels in weitere Kompendien (sowie irreführendes Übersetzen)878 verliert der eigentlich

hinzuweisen, bei dem es zu einem regen Ideenaustausch kam. Vgl. ebda., S. 27: «Peramás’s epic is also one of the texts currently being considered in the doctoral project of Gerd König (Freie Universität, Berlin); it was thanks to his organization that a day-long ‘PeramásKolloquium’ was held there on 18 November 2016: the first-ever conference dedicated to Peramás or his DINO». Wenige später kam es zu einer Vertiefung des Kontakts im Rahmen der Tagung «Legacies of Conquest» vom 11–12. April 2017 in Cambridge. Die vom CRASSH (Centre for Research in the Arts, Social Sciences, and Humanities) organisierte Konferenz bot aus interdisziplinärem Blickwinkel Einblick in die Folgen des interkulturellen Kontakts und der Kolonisierung Lateinamerikas. 875 Vgl. Maya Feile Tomes: News of a Hitherto Unknown Neo-Latin Columbus Epic, Part I, passim. Anfangs wurde der Text problemlos als Epos gelesen. Um 1800 erwähnen einige Biographien bzw. Werkübersichten zum Jesuiten Peramás (z. B. die aus der Feder eines Manuel Luengo und Lorenzo Hervás y Panduro) das Epos De invento Novo Orbe. Parallel dazu wird ein gesondertes, zwölf Bücher umfassendes Werk mit dem Titel Eucharis genannt. 876 Ebda., S. 14. 877 Ferner ist hier erstmals (fälschlicherweise) die Rede von vier statt von drei Büchern. 878 Die gut 20 Jahre später verfasste Kompilation bzw. Biographie des Ramón Diosdado Caballero gründet auf der Sinopsis und versteht De Sacro als Werktitel, nicht mehr als Periphrase. Bei ihm werden die vier Bücher ferner als Teil der größeren, zwölf Bücher umfassenden Eucharis gesehen (vgl. ebda., S. 19 f.). Besonders skurril ist die Auflistung der Peramás’schen Werke in der Bibliothèque de la Compagnie de Jésus des Augustin de Backers von 1872, die belegt, dass De Sacro nicht mehr als ein mit De Invento gleichzusetzender Text erkannt wird: Es ist die Rede von einem De invento Novo Orbe (drei Bücher) neben einem unpublizierten De Sacro (vier Bücher). Wenig später nimmt auch Medina 1892 den Werktitel De Sacro in die Historia y bibliografía de la imprenta en el Antiguo Virreinato del Río de la Plata das Werk auf und übersetzt dabei De Sacro auf Spanisch: Der Titel La religión en el Nuevo Mundo verunklart damit schlussendlich jegliche Verbindungslinie zum Epos, da man spätestens hier beim Werktitel nicht mehr an ein (religiös motiviertes) Epos denkt, sondern an einen Traktat über die Religion in der Neuen Welt. Feile Tomes fasst die Irrwege konzise zusammen und spricht von «Medina’s

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epische Text seine genretypische Zuordnung und erscheint als eine traktatähnliche Abhandlung zum Thema ‘Religion in the New World’. Unter dieser Bezeichnung wird der Text nämlich dann in Übersichten des 20. Jahrhunderts geführt.879 Feile Tomes äußert die begründete Vermutung, der Jesuit Guillermo Furlong habe als einer der wenigen Gelehrten im 20. Jahrhundert das Epos – von dem er als ‘national treasure’ Argentiniens spricht – überhaupt im Detail gelesen; er ist auch derjenige, der Feile Tomes’ Interesse am Text geweckt hat.880 Wir möchten in unserer kurzen Einführung Feile Tomes folgen, die Peramás in ihren beiden Aufsätzen von 2015 als besonders lesenswerten Epiker herausstellt: «Peramás is in many ways an exceptional Columbus epicist».881 Durch seine Tätigkeit als jesuitischer Missionar in der «Old Province of Paraguay»882 im heutigen Argentinien ist Peramás für das Abfassen eines Epos «uniquely qualified».883 Dort stand er mit den Guaraní eigens in Kontakt und konnte in der Neuen Welt Autopsie betreiben, was allen bisherigen neulateinischen Ependichtern vorenthalten blieb.884 Insbesondere schreibt Peramás – im Gegensatz zu den frühen neulateinischen Epen – aus der Perspektive eines Spaniers. Das macht seinen Text mit Blick auf die im vorigen Kapitel behandelten französischen Texte interessant, da Kolumbus’ Entdeckungsfahrten bei Peramás eine ganz andere Modellierung erfahren, andere historische Vorlagen herangezogen und andere Persönlichkeitsaspekte des Genuesen herausmodelliert werden. Hatte Laureau sich auf Kolumbus’ (historisch belegtes) ‘gloire’-Streben und Fernandos Bordbuch konzentriert, rücken bei Peramás Kolumbus’ (nicht zuletzt durch das Libro de las Profecías belegte) prophetisch-eschatologische Vorstellungen ins Zentrum. Während Lesuire intertextuell zeitgenössische aufklärerische Texte und den empfindsamen Roman einflicht, finden sich bei Peramás insbesondere Aufnahmen aus Vergils Aeneis und der Vulgata. Bevor derlei Aspekte der speziellen epischen Modellierung des Konflikts konkret beleuchtet werden, soll der Kontext des De invento

Spanish translation of Backer’s 1859 reproduction of Caballero’s mysterious conflation of the anonymous biographer’s original paraphrase in the Sinopsis» (ebda., S. 22). 879 Etwa Marcelino Menéndez Pelayos’ Historia de la poesía hispano-americana oder Ricardo Rojas La literatura argentina. So auch noch im Jahre 1998 bei Gonzales Díaz Díaz. 880 Vgl. Maya Feile Tomes: News of a Hitherto Unknown Neo-Latin Columbus Epic, Part I, S. 25–27. 881 Ebda., S. 6; identisch bei Maya Feile Tomes: News of a Hitherto Unknown Neo-Latin Columbus Epic, Part II, S. 226. 882 Maya Feile Tomes: News of a Hitherto Unknown Neo-Latin Columbus Epic, Part II, S. 223. 883 Ebda., S. 226. 884 Vgl. ebda., S. 237 f. Der Dichter betont im Vorwort seines Epos seine Autopsie, vgl. «ubi diu viximus inter Indos» (DINO 8; ‘Prologus’).

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Novo Orbe aufgezeigt werden, durch den sich sein Alleinstellungsmerkmal, seine klar pro-imperialistische Stoßrichtung, erklären lässt. Weiten wir kurz den Fokus, um den in Europa vorherrschenden spanienkritischen Grundtenor besser fassen zu können: Peramás veröffentlicht sein AmerikaEpos wohlgemerkt im Jahre 1777, also zu einem Zeitpunkt, als die amerikanische Unabhängigkeitserklärung bereits unterzeichnet ist. Wenige Jahre später, 1787, gibt der gebürtige Amerikaner Joel Barlow mit The Vision of Columbus die erste Protoversion seines (1807 in der Endversion publizierten) Kolumbus-Epos The Columbiad heraus. Dabei handelt es sich um das bekannteste Kolumbus-Epos nach Madame Du Boccages Colombiade;885 es ist als Nationalepos der Amerikaner gedacht, als Loblied auf die Demokratie und den Frieden.886 Wie in den zuvor behandelten späten französischen Neue-Welt-Epen (d. h. bei Lesuire, Laureau, Marmontel) werden die Entdeckungsfahrten in keiner Weise mehr imperialistisch ausgedeutet; bei Barlow wird vielmehr der Sieg der sich vor den Invasoren verteidigenden Ureinwohner inszeniert.887 Die großen Entdeckerpersönlichkeiten, allen voran Cortés, der in der in Spanien beliebten Historia de la Conquista de Mejico des Antonio de Solís y Rivadeneiras noch als Nationalheld gefeiert wird, werden bei Barlow zu blutrünstigen Konquistadoren; die unterlegenen Inkas dagegen als «indigenous source for American pride»888 aufgewertet. Anders als die als schuldig gebrandmarkten, spanisch-katholischen Entdecker werden die protestantischen Siedler aus England positiv bewertet.889 Neben

885 Und eben auch außerhalb des ‘aufgeklärten’ Frankreich, wo die Thematik des spanischen Handelns in den Kolonien ja besonders umfangreich erörtert wurde (vgl. das Thema der ‘concours’ in Kap. 1.2.2). 886 Zum beim Volk beliebten Nationalepos wurde Barlows Text aus verschiedenen Gründen nicht. In erster Linie nennt Steven Blakemore (Joel Barlow’s «Columbiad», S. 331) seinen ungemein elaborierten Code, das Epos sei «an education event in which history, geography, and numerous disciplines coalesce to tell the progressive story of the race». Diese Wissensfokussierung wurde bereits in Kap. 2.3.1 zu Du Boccage/Bourgeois erwähnt. 887 Vgl. ebda., S. 4: «America’s great epic» oder ebda., S. 327: «an epic of ideas, an epic of ideological republicanism»; vgl. ferner ebda., S. 324. 888 Ebda., S. 62. Dabei wird bei Barlow das historische Faktum der Passivität und Friedfertigkeit der Azteken im Moment der spanischen Landnahme ausgestaltet. Bekannte blutrünstige aztekische Rituale werden gänzlich ausgeblendet, um ihren Status als «great, peaceful people» (ebda., S. 54) herauszustellen. Gleiches gilt für Pizarro und die Inkas (vgl. ebda., S. 56–61). Vgl. ferner Giuseppe Bellini: Amara America Meravigliosa, S. 111. 889 «Sir Walter Raleigh, John Smith and Pocahontas, Delaware and the Potomac, Baltimore, Penn, and the Pilgrim fathers» (ebda., S. 95) erscheinen in positivem Licht. Die Geschehnisse in den englischen Kolonien v. a. des 17. Jhdts. stehen im Vordergrund. Zum Transportieren dieser Ideologie verlagert Barlow daher konsequent das Hauptaugenmerk von Süd- auf Nordamerika. Zwar hatte auch Lesuire angesichts der aktuellen Unabhängigkeitsbestrebungen Nordamerikas

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einer ganzen Reihe von konfessionellen Seitenhieben gegen das katholische Spanien890 verfolgt Barlow in erster Linie ein «demystifying epic»,891 dem ein teleologisch-aufgeklärter Fortschrittsglaube zugrunde liegt. Nordamerika verkörpert in seiner Darstellung die «culmination of the progressive forces of history».892 Die Etablierung des neuen amerikanischen Staats ermöglicht endlich ein Ausbrechen aus dem «repetitive cycle of persecution and oppression»893 der Welt. Auch die Heldenfigur des Kolumbus verliert bei Barlow den klassisch epischen Zuschnitt, da sie in der ‘Dispositio’ nur noch eine Art einheitsstiftende Klammer bildet: Kolumbus’ Taten liefern die Initialzündung für die in der Kolonialisierungsgeschichte folgenden Prozesse. Wenngleich er weiterhin der Hauptheld des Gedichts ist, der den Grundstein für die gefeierte amerikanische Demokratie gelegt hat,894 stellt die Figur des wohlbetagten Kolumbus in erster Linie «a kind of absentee hero»895 dar. Diese liefert in einem fort in Form von Visionen Aus- und Einblicke in eine Zukunft, welche für die LeserInnen (um 1800) bereits in der Vergangenheit liegen. Eine eigentliche klassisch epische Heldenhandlung (mit Aristien, Kampfszenen o. Ä.) gibt es nicht mehr. Gerade gegen diese zu seiner Zeit vorherrschende antikatholische wie antispanische Stoßrichtung, die bei Barlow einen vielbeachteten Höhepunkt findet, positioniert sich Peramás in seinem eigenen, auf den ersten Blick sehr klassisch gehaltenen Kolumbus-Epos, mit dessen Abfassung er nach seiner Heimkehr in die Alte Welt als Exulant in Italien beginnt.896 Peramás ist einer der Jesuiten, die die spanische Kolonie in Paraguay verlassen mussten, nachdem der spanische

diese Region in sein Epos eingebunden, doch wurde es dort lediglich atmosphärisch mit Kolumbus’ ‘sensibler’ Identitätskrise und seiner Isolation verquickt. Bei Barlow dagegen liefern Kolumbus’ Reisen nur das Vorspiel für die im Epos v. a. verfolgten Geschehnisse in Nordamerika. 890 Exemplarisch sei der Seitenhieb gegen Philipp II. von Spanien genannt, der wegen seiner Verbindung zu ‘bloody’ Mary I. (1516–1558) kritisiert wird, die den Katholizismus wiedereinzurichten versucht, vgl. ebda., S. 71. 891 Ebda., S. 324. 892 Ebda., S. 88. 893 Ebda., S. 93. 894 Das für die Epen typische positive Kolumbusbild wird auch bei Barlow beibehalten. Laut Blakemore inszeniert Barlow Kolumbus als «universal blessing», Aufklärungsbringer und «patriarch of the New World» (ebda., S. 55). 895 TerenceMartin: Three Columbiads, S. 133. Vgl. Steven Blakemore: Joel Barlow’s «Columbiad», S. 323. 896 Vgl. Maya Feile Tomes: News of a Hitherto Unknown Neo-Latin Columbus Epic, Part I, S. 7 und Maya Feile Tomes: News of a Hitherto Unknown Neo-Latin Columbus Epic, Part II, S. 242–246.

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König Karl III. am 27. Januar 1767897 die Vertreibung sämtlicher Jesuiten aus Spanien sowie aus den spanischen Überseekolonien angeordnet hatte.898 Inwiefern macht ihn das nun zu einem pro-spanischen Autor?899 Erinnern wir uns: Gut 150 Jahre vor ihrer Vertreibung waren die Jesuiten überhaupt erst gezielt als Missionare der Guaraní nach Paraguay gekommen; wenig später waren sie dort von der spanischen Krone in leitender Funktion eingesetzt worden.900 Ihr Einsatz kam nicht von ungefähr, sondern beruht auf ihrer Expertise im Bereich der Missionierung.901 Das spanische Wirken in Übersee ist eben in erster Linie auch ein Wirken der Jesuiten. Wenngleich sämtliche Gläubige (und insbesondere Geistliche) von der ‘Entdeckung Amerikas’ und von der Existenz von Bewohnern einer anderen Welt «puzzled and profoundly disturbed» waren – «no matter which order they belonged to»902 – kommt im Jesuitenorden dem missionarischen Kontakt zu den Ureinwohnern seit jeher «un’ importanza originaria e centrale»903 zu, noch stärker als bei den Franziskanern und Domenikanern. Bekannt sind die Jesuiten für das positive Bild, das sie von den ‘amerikanischen’ Ureinwohnern haben, und für ihr Bestreben, die

897 Bereits 1759 wurden die Jesuiten aus Portugal (unter Sebastião José de Carvalho e Mello, dem ersten Minister Portugals, und später Marquês de Pombal) vertrieben; 1762 mussten sie Frankreich verlassen, vgl. Pierre Lanfrey: L’Église et les Philosophes au dix-huitième siècle (1879). Avec une étude biographique par M. de Pressensé. Genf: Slatkine Reprints 1970, S. 240. 898 Die Übersee-Jesuiten finden Exil in Korsika und im Vatikanstaat, bis wenig später Papst Clemens XIV. am 21. Juli 1773 den «breve papal Dominus ac Redemptor» (Dietrich Briesemeister/Manfred Tietz: Prólogo. In: Dies. (Hg.): Los jesuitas españoles expulsos, S. 7) unterzeichnet und der gesamte Jesuitenorden vorübergehend der Auflösung anheimfällt. Vgl. dazu Pierre Lanfrey: L’Église et les Philosophes au dix-huitième siècle (1879), S. 274: «cet étrange procès de l’Église contre elle-même». 899 Feile Tomes unterstreicht, dass nicht alle 1767 aus den spanischen Kolonien vertriebenen Jesuiten pro-imperialistische Werke verfasst haben und oft subtil anklagende Passagen in ihre Werke eingewoben werden. Sie verweist auf die finanzielle Unterstützung der spanischen Jesuiten seitens der Spanischen Krone und zusätzliche «rewards available for writing in defence of Spanish Empire» (Maya Feile Tomes: Neo-Latin America, S. 17 mit Anm. 99). 900 Vgl. Pierre Lanfrey: L’Église et les Philosophes au dix-huitième siècle (1879), S. 242 f. und insbes. S. 243: «les jésuites étaient les maîtres absolus du Paraguay». 901 Vor ihrem Wirken in Paraguay sind die Jesuiten bereits in Brasilien präsent (ab 1549), auch in Florida (ab 1566), Peru (1568) und Mexiko (1572). Vgl. Rosario Romeo: Le Scoperte americane nella coscienza italiana del Cinquecento, S. 76; Rosario Romeo: Jesuit Sources and the Italian Political Utopia in the Second Half of the Sixteenth Century. In: Fred Chiappelli (Hg.): First Images of America, S. 167. 902 Lewis Hanke: The Theological Significance of the Discovery of America, S. 368. Vgl. Kap. 1.4 zum Thema ‘Abstammungstheorien’. 903 Rosario Romeo: Jesuit Sources and the Italian Political Utopia in the Second Half of the Sixteenth Century, S. 166.

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Heiden unter sorgsamer Seelenleitung zu guten Christen zu machen.904 Der Stellenwert, den sie dem missionarischen Tun beimessen, lässt sich in erster Linie an der Tradition der mit großer Sorgfalt angefertigten missionarischen Jahresberichte, der Litterae annuae, ablesen, die in der Folge von anderen Orden übernommen wird.905 Sie belegen ferner die vom 15. bis zum 17. Jahrhundert anzusetzende Veränderung der Art des Missionierens, die sich immer mehr entwickelt zu einer «operazione collettiva guidata centralmente».906 Schließlich fällt die Gründung des Jesuitenordens (1540 durch Ignazio di Loyola, 1491–1556) in einen Kontext, in dem die Frage nach der Pflicht, Heiden zu missionieren – die noch im Rahmen der kreuzzugsmotivierten ‘Reconquista’ gegen die Moslems keine Rolle spielte – zunehmend (und ordensübergreifend) kontrovers diskutiert und immer stärker auch als gemeinsame Aufgabe der Christenheit verstanden wird.907 Schon für Kolumbus selbst hatten wir ja ein ambivalentes Verhältnis zum Missionieren konstatiert, eine Mischung aus Kreuzzugsbegeisterung (mit dem Niederringen von Heiden nach dem Vorbild der Eroberung Granadas) und einem

904 Romeo spricht von dem den Jesuiten eigenen «belief in the innocence of the primitives» (ebda., S. 180). Entgegen der gerade in Italien in der zweiten Hälfte des 16. Jhdts. vorherrschenden Meinung erachten sie sie als «fratelli e creature di Dio» (Rosario Romeo: Le Scoperte americane nella coscienza italiana del Cinquecento, S. 77), glauben an ihre Lernfähigkeit und ihre mögliche Zukunft als «ottimi cristiani» (ebda., S. 78). Vgl. ebda., S. 76–80, und Rosario Romeo: Jesuit Sources and the Italian Political Utopia in the Second Half of the Sixteenth Century, S. 166, S. 175 f. und passim. 905 Vgl. Luca Codignola/Giovanni Pizzorusso: Luoghi, metodi e fonti dell’espansione missionaria tra Medioevo ed Età moderna, S. 393; von ihrem im Orient ebenso ausgeprägten missionarischen Eifer zeugen ferner die Lettere indiane. 906 Ebda., S. 390. Auf die Litterae annuae der Jesuiten greift nämlich insbes. auch die von Papst Gregor XV. 1622 eingeführte «Sacra Congregazione ‹de Propaganda Fide›» (ebda., S. 390) zurück, die sich zentral geleitet um die Koordination und rechtliche Fragen bezüglich sämtlicher missionarischer Aktivitäten kümmert und betraut ist mit dem ausführlichen bürokratischen Festhalten der Erfolge auf diesem Gebiet. Vgl. ebda., S. 394. 907 Um 1540 spricht sich dagegen nicht nur der Bischof von Tlaxcala in Mexiko oder der Domenikaner Julián Garcés (1535) für das Missionieren und Beschützen der Ureinwohner aus, sondern auch Papst Paul III.: 1537 gibt er seine Bulle Sublimis Deus heraus, in der er bescheinigt, die Ureinwohner seien sehr wohl fähig, Christen zu werden und nicht mit Bestien gleichzusetzen, vgl. Aldo A. Cassi: Ultramar, S. 107; Giuliano Gliozzi: Adamo e il Nuovo Mondo, S. 291. Das Konzil von Trient (1545–1563) ist eines der einschneidenden historischen Ereignisse auf diesem Weg hin zur Institutionalisierung der Missionierung, wird dort doch «l’idea cardine della defensio et propagatio fidei» (Luca Codignola/Giovanni Pizzorusso: Luoghi, metodi e fonti dell’espansione missionaria tra Medioevo ed Età moderna, S. 389) speziell festgehalten, welche eben nicht mehr nur die Arbeit Einzelner darstellen könne. Neben den Jesuiten zählen die Kapuziner zu den aktivsten Orden im Bereich der Missionierung. Der wohl berühmteste theoretische Traktat De procuranda salute omnium gentium (1613) über das Missionieren stammt aus der Feder des Karmeliterbruders Tomás de Jesús (Diego Sánchez Dávila). Vgl. ebda., S. 389.

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friedlichen Evangelisieren. Er hatte sich bei den Vorbereitungen auf seine erste Reise auf den Beistand und die Expertise des Franziskanerordens verlassen, in deren eschatologischen Vorstellungen das Missionieren neuentdeckter Welten einen wichtigen Schritt auf dem Weg zum perfekten Reich des Friedens und der Harmonie darstellt.908 Der Umstand, dass die endzeitliche Hoffnung und eine friedliche Missionierungsarbeit der Franziskaner bereits den ersten ‘Entdecker Amerikas’ beeinflusst haben, macht die Kolumbusthematik für den von der Missionierung überzeugten Jesuiten Peramás auch Jahrhunderte später noch so interessant. Aufgrund dieser engen ‘ideologischen’ Parallele zum historischen Kolumbus flicht Peramás Referenzen auf die biblische Apokalypse in sein Epos ein und versteht das Christianisieren der Neuen Welt als Weg hin zu einer friedlichharmonischen neuen Weltordnung, weshalb er die Gebiete der Neuen Welt in Verbindung zum Irdischen Paradies, zum perfekten platonischen Staat und zum Goldenen Zeitalter setzt.909 Mit dem Fruchtbarmachen der eschatologischen Vorstellungen der Franziskaner bedient sich Peramás eines Vorgehens, das man bereits von Las Casas kennt. Las Casas hat jedoch im Rahmen seiner herben Kritik an den blutrünstigen spanischen Konquistadoren anders argumentiert: Das von den Franziskanern ins Feld geführte höhere, eschatologische Ziel könne ein gegebenenfalls gewaltsames Konvertieren nicht verzeihlich machen. Bei ihm erhält das Missionieren – im Gegensatz zur Nutzbarmachung bei Peramás – keine rechtfertigende «providential significance of the Franciscans».910 Peramás distanziert sich damit aber nicht nur von Las Casas, sondern – und das ist für unsere Darstellung nun das entscheidende – insbesondere auch von dem durch Las Casas beeinflussten, zeitgenössischen französischen Diskurs. Er knüpft dabei mit seinem positiven Blick auf die spanischen Kolonien an eine noch nicht allzu weit zurückliegende, noch bis ca. 1750 existierende Tradition an: In der ersten Jahrhunderthälfte wurde das missionarische Vorgehen der Jesuiten in Paraguay nämlich europaweit

908 Vgl. das einleitende Kap. 1.3.3. 909 Vgl. Kap. 2.3.4.3 zur Paradiesvorstellung bei Peramás im Gegensatz zu Borgeois. Hier schließt sich Peramás an die (nicht nur in Franziskanerkreisen) vorzufindende Identifizierung der Neuen Welt mit dem Goldenen Zeitalter oder auch einem perfekten platonischen Staat an. Vgl. über die beim Franziskaner Georgio Benigno oder beim Augustinermönch Giles de Viterbo zu findende Mischung aus der Rückeroberung Jerusalems, dem Erreichen eines platonischen Staats und der Verknüpfung spanisch-portugiesischer Eroberungen im Westen mit einem neuen Goldenen Zeitalter Harold J. Cook: Ancient Wisdom, the Golden Age, and Atlantis, S. 31. 910 José Rabasa: Inventing America, S. 167. Das Vorgehen (etwa des Cortés) kann für ihn eben nicht mehr durch gewisse endzeitliche Vorstellungen gerechtfertigt werden, vgl. ebda., S. 166: «The Moses-like image of Cortés among the Franciscans is gone in the reduction of the conquest to sheer destruction».

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(und insbesondere von den französischen ‘philosophes’) durchaus positiv bewertet.911 Laut Cro gilt den Frühaufklärern die mehr und mehr zur Utopie verklärte dortige Kolonialverwaltung als einzige Verquickung der Vorstellung des Goldenen Zeitalters mit einem real historisch existierenden Staat.912 Duchet unterstreicht dabei die engen Verbindungslinien, die sich zwischen Jesuiten und ‘philosophes’ ziehen lassen, sowie den Umstand, dass die jesuitischen Litterae annuae eine zentrale Informationsquelle für deren philosophisch(-utopisch)e Betrachtungen bilden.913 Um 1750 nehmen die Animositäten gegen die Jesuiten dann jedoch spürbar zu; es kommt zu einem Revidieren des vorgenannten positiven Jesuitenbildes

911 Die ‘philosophes’ sind insbes. der positiven Weltsicht und der dem Jesuitenorden zugrunde liegenden «théorie de l’homme de la nature» (Gilbert Chinard: L’exotisme américain dans la littérature française au XVIe siècle, S. 246) gewogen. Auf der positiven Sicht der Jesuiten auf die Bewohner der Neuen Welt gründet zum Teil der Mythos des ‘bon sauvage’, wenngleich bei ihnen noch nicht von einem ‘noble savage’ die Rede sein kann, da immer noch mehr als eindeutig die ‘superiority’ der Europäer vertreten wird, die es beim missionarischen Handeln zu erreichen gilt. Vgl. u. a. Rosario Romeo: Le Scoperte americane nella coscienza italiana del Cinquecento, S. 80: «Era, anche qui, una sorta di embrionale mito cristiano del buon selvaggio che veniva formadosi». 912 Vgl. Stelio Cro: Classical Antiquity, America, and the Myth of the Noble Savage, S. 417. Laut Marian Skrzypek: Les discussions autour de la «République des Guaranis» dans les Lumières françaises. In: Dietrich Briesemeister/Manfred Tietz (Hg.): Los jesuitas españoles expulsos, S. 608, loben französische Utopisten wie Mably und Linguet «la voie douce et humaine» der Jesuiten beim Missionieren. Vgl. ebda., S. 602. In Montesquieus De l’Esprit des lois oder Raynals Histoire des deux Indes ist vom Jesuitenstaat in Paraguay die Rede als neuer platonischer Staat, vgl. Pierre Lanfrey: L’Église et les Philosophes au dix-huitième siècle (1879), S. 241–245; Michèle Duchet: Anthropologie et histoire au siècle des Lumières, S. 210. 913 Vgl. Michèle Duchet: Anthropologie et histoire au siècle des Lumières, S. 76: «Presque tous les philosophes ont été les élèves des jésuites». Auf der Basis innerliterarischer Hinweise bei Rousseau, Raynal, Diderot, Helvétius, Buffon (sowie durch eine Untersuchung der Privatbibliotheken der ‘philosophes’ Voltaire, Turgot, D’Holbach, de Brosses und De Pauw) geht Duchet davon aus, dass die ‘philosophes’ für den Erwerb ihrer Kenntnisse bezüglich der Neuen Welt einerseits auf leicht zugängliche jüngere französische Reiseberichte zurückgreifen, andererseits auf historiographische Werke wie Prévosts Histoire générale des voyages (1754) oder Lafitaus L’Histoire des découvertes et conquêtes des Portugais. Wichtig sind jedoch auch die Lettres édifiantes der Jesuiten. Hierbei handelt es sich um 34 von 1702 bis 1776 edierte Bände, welche nicht ohne Anekdotenreichtum die jährlich edierten Litterae annuae zusammentragen. Dabei nehmen sie v. a. auf der Basis der Lektüre Montaignes einen anderen Blickwinkel ein. Vgl. ebda., S. 75 und S. 80. Stelio Cro: Classical Antiquity, America, and the Myth of the Noble Savage, S. 408, bilanziert: «PETER MARTYR and MONTAIGNE were probably read by authors of the Lettres édifiantes who, in turn, were read by MONTESQUIEU and CHARLEVOIX, who, in turn, were read by ROUSSEAU, DIDEROT, VOLTAIRE, RAYNAL, etc.» Vgl. ferner Gilbert Chinard: L’exotisme américain dans la littérature française au XVIe siècle, S. 245.

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und zur Vertreibung der Jesuiten, deren Beweggründe auch heute noch «una cuestión todavía muy controvertida» 914 darstellen. In der Forschung wird meist auf den wachsenden politischen Einfluss der Jesuiten verwiesen, deren «tendances théocratiques»915 man eindämmen möchte. Im Raum steht mitunter der Vorwurf eines «complot jésuitique universel»,916 angestoßen durch das einschneidende Erlebnis des 1758 in Lissabon verübten Attentats auf den portugiesischen König (Joseph I.), welches mit der Inhaftierung einiger der Mittäterschaft beschuldigter Jesuiten (u. a. Malagrida, Mathos, Souza) endet. Speziell in Frankreich hat sich ein von der breiten Masse getragener «anti-jésuitisme à la mode»917 etabliert, und die mit den Jesuiten rivalisierenden Jansenisten sehen die Jesuiten als Inkarnation «de la hipocresía y la superstición».918 Das massive Ausmaß dieser negativen Stimmung dokumentiert eine Vielzahl literarischer Werke;919 ebenso umfangreich ist die Fülle an künstlerisch gestaltetem, satirisch-karikierendem Bildmaterial, das zum Zwecke der anti-jesuitischen Propaganda in Frankreich in den Jahren nach der Vertreibung verteilt wird.920 Mit Blick auf ihr Vorgehen in Übersee müssen sich die Jesuiten mit dem Vorwurf auseinandersetzen, sie wollten sich durch ihre Präsenz in der Neuen

914 Dietrich Briesemeister/Manfred Tietz: Prólogo, S. 11. Vgl. Pierre Lanfrey: L’Église et les Philosophes au dix-huitième siècle (1879), S. 270. 915 Marian Skrzypek: Les discussions autour de la «République des Guaranis» dans les Lumières françaises, S. 608. 916 Rolf Reichardt: L’imaginaire social des jésuites bannis et expulsés (1758–1773), S. 482. 917 Ebda., S. 498. 918 José A. Ferrer Benimeli: La expulsión de los jesuitas de las reducciones del Paraguay y de las misiones del Amazonas. Paralelismo y consecuencias humanas. In: Dietrich Briesemeister/ Manfred Tietz (Hg.): Los jesuitas españoles expulsos, S. 296.Vgl. Michèle Duchet: Anthropologie et histoire au siècle des Lumières, S. 77. Bis 1750 sind jedoch beide Aspekte kopräsent. So spricht z. B. der Nicht-Jesuit Muratori in seinem 1743 veröffentlichten Il cristianesimo felice nelle missioni dei Padri della Compagnia di Gesù nel Paraguai als unabhängiger Autor einerseits über das schlimme Vorgehen der Konquistadoren, andererseits aber auch über die heilende Wirkung des Christentums für die Barbaren (vgl. Stefania Buccini: The Americas in Italian Literature and Culture, 1700–1825, S. 5–11). 919 Berühmt ist freilich auch Voltaires Kritik, wie sie etwa im berühmten Zitat ‘mangeons du jésuite’ aus seinem Candide zum Ausdruck kommt. Vgl. Pierre Lanfrey: L’Église et les Philosophes au dix-huitième siècle (1879), S. 259, und Rolf Reichardt: L’imaginaire social des jésuites bannis et expulsés (1758–1773): Aux origines de la polarisation idéologique entre Lumières et Anti-Lumières. In: Dietrich Briesemeister/Manfred Tietz (Hg.): Los jesuitas españoles expulsos, S. 497. In diesen Kontext fällt ferner D’Alemberts kritische Schrift Sur la Destruction des jésuites en France (1765), worin er das nahende Ende der Jesuiten auch andernorts weissagt, vgl. ebda., S. 473. 920 Diese sichtet Rolf Reichardt: L’imaginaire social des jésuites bannis et expulsés (1758–1773), S. 498, und belegt exemplarisch die Verbreitung der Neuigkeit der vertriebenen Jesuiten in Frankreich.

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Welt lediglich selbst finanziell bereichern.921 Angesichts zunehmender Aufstände in den Kolonien werden sie bald für sämtliche überseeische Probleme verantwortlich gemacht,922 bald wird ihnen das Abweichen von eigenen Idealen vorgeworfen.923 Insgesamt erhalten nunmehr sogar Aspekte ihres missionarischen Vorgehens, die zu Beginn des 18. Jahrhunderts noch positiv beurteilt wurden, einen negativen Beigeschmack.924 Diderot, der sich sowohl gegen eine harsche als auch die relativ moderate Form der Kolonisierung bei den Jesuiten ausspricht, hebt im Supplément au voyage de Bougainville (1772) dann vielsagenderweise die Lebensart der Bewohner Tahitis als ‘real’ existierenden utopischen Staat heraus, nicht mehr das von Jesuiten geleitete Paraguay, deren Agieren er als beispielhafte Despotie bezeichnet.925 Und doch wird bei alldem das Vorgehen der Jesuiten in Übersee – im Vergleich zur bissigen Kritik am Vorgehen des Ordens auf dem europäischen Kontinent – noch vergleichsweise konziliant gesehen, und unter den ‘philosophes’ ist auch nach der offiziellen Vertreibung der Jesuiten aus Frankreich ein großes Interesse an deren Wirken in Übersee spürbar.926 Ohnehin verbieten es die weltanschaulichen Überlappungen zwischen Jesuiten und ‘philosophes’, von einer allzu simplen Dichotomie ‘rationale Aufklärer vs. christliche Jesuiten’ auszugehen.927 Wright betont, dass einerseits die ‘aufgeklärten’ ‘philosophes’ durchaus auch an der Eucharistie teilnehmen bzw. wie die Jesuiten einen Fokus auf das Beibehalten der Sakramente legen; dass andererseits die Jesuiten sich sehr gut in der

921 Anders als die Janseisten haben die Jesuiten bewiesenermaßen auch die ‘traite des nègres’ betrieben und der berühmte ‘père Lavalette’ gilt als einer der bekanntesten ruhmgierigen jesuitischen Bankiere, vgl. Pierre Lanfrey: L’Église et les Philosophes au dix-huitième siècle (1879), S. 256 f. 922 Vgl. ebda., S. 241 f. 923 Wenn sie etwa in Anbetracht wachsenden Ungehorsams in den Kolonien auch vermehrt auf den ‘unchristlichen’ Einsatz der Peitsche zurückgreifen. 924 Anfangs positiv, dann negativ gesehen wurde u. a. die strukturierte Führung der Kolonien, das Beibehalten der seit jeher in den Kolonien etablierten Hierarchien der Ureinwohner, um so bei den Ureinwohnern (nach dem Aufoktroyieren einer neuen Führungsmacht) den Anschein zu erwecken, ihr Mitbestimmungsrecht bliebe aufrechterhalten. 925 Vgl. Marian Skrzypek: Les discussions autour de la «République des Guaranis» dans les Lumières françaises, S. 607. 926 1767 veröffentlicht beispielsweise Rousselot de Surgy seine Mémoires géographiques, physiques et historiques sur l’Asie, l’Afrique et l’Amérique, die ein sich möglichst enzyklopädisch gebendes Kompendium der Lettres édifiantes darstellen, das auf Voltaires und De Pauws Kritik an den lettres reagiert und in wissenschaftlich geläuterter Form fiktive Anekdoten und Episoden tilgt, vgl. Michèle Duchet: Anthropologie et histoire au siècle des Lumières, S. 78 f. 927 Vgl. insbes. Jonathan Wright: The Jesuits. Missions, Myths and Histories. London: Harper Perennial 22005, S. 184: «The Jesuits were in fact part of the very same culture that destroyed them».

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aktuellen wissenschaftlichen Diskussion auskennen – sei es nur, um sich und ihre Einstellungen adäquat dagegen verteidigen zu können.928 Die kurz umrissene anti-jesuitische Stoßrichtung verbindet sich in den drei großen historiographischen Werken der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts über die Neue Welt (von Robertson, Raynal, De Pauw) mit einer Negativzeichnung Spaniens per se.929 Spanien wird zum von religiösem Fanatismus geleiteten «país católico por antonomasia»930 und zum Sinnbild einer «cultura y una economía en plena decadencia»,931 deren Vorgehen in Übersee sich ihrer Meinung nach v. a. durch eine schlechte wirtschaftliche Führung auszeichnet.932 Trotz patriotisch-inquisitionärer Bestrebungen erreichen die genannten Werke schließlich auch in Spanien einen hohen Bekanntheitsgrad,933

928 Vgl. ebda., passim, insbes. S. 182. Feststeht, dass sie zu den führenden Forschern auf der Ebene der Geometrie oder der Flora und Fauna in ‘Amerika’ zählen. S. zum ‘Rationalismus’ der Jesuiten ebda., S. 182 f.: «Jesuits, of course, set a premium on the enlightenment of faith [...] and balked at an overreliance on man’s rational faculties, but they were a part of a Christian tradition that reviled fideism and insisted on the role of reason in the spiritual life: not using reason to create belief, perhaps, but seeing it as a tool with which belief could be explored and expanded». 929 Vgl. Kap. 1.2.2. 930 Manfred Tietz: Las Reflexiones imparciales de Juan Nuix y Perpiña (1740–1783), S. 642. Vgl. v. a. Tietz’ Fazit bezüglich Raynal und Diderot: Sie monieren in ihrem Werk «el ‘fanatisme de religion’, un fanatismo que, según ellos, tuvo su perfecta encarnación en la nación española donde, a su manera de ver, reinaban la intolerancia teológica, la Inquisición y un clero ignorante y cruel» (ebda., S. 644). 931 Ebda., S. 642. 932 Auf den Umstand, dass in Europa relativ wenig Konkretes über die spanischen Kolonien in ‘Amerika’ bekannt ist, ist auch zurückzuführen, dass nach 1800 etwa noch Humboldts Bericht einen einschlagenden Erfolg verbuchen konnte, vgl. Jürgen Osterhammel: Welten des Kolonialismus im Zeitalter der Aufklärung, S. 28 f. 933 Vgl. Manfred Tietz: Der lange Weg des Columbus in die Historia del Nuevo Mundo, S. 359 f. In Spanien wurden zwar v. a. auch antiphilosophische Werke aus Frankreich (welche dort nur wenig gelesen wurden) mit Interesse gelesen und von spanischen Autoren umgestaltet; so in etwa von den Autoren Claude-François Nonnotte oder Nicolas-Sylvestre Bergier; ein spanischer Vertreter ist P. Hervás y Panduro (vgl. Manfred Tietz: Las Reflexiones imparciales de Juan Nuix y Perpiña (1740–1783), S. 638). Doch erreichten die drei genannten historiographischen Werke nach ihrem durchschlagenden Erfolg in England und Frankreich auch das spanische Lesepublikum, wenngleich ihr Bekanntwerden möglichst unterbunden werden sollte (vgl. «no faltaron intentos de [las] silenciar», ebda., S. 624). Ganz ähnlich wurde auch an das Edikt der Vertreibung der Jesuiten eine Schweigeklausel angefügt, weshalb sich in Spanien (anders als in Frankreich) nur wenige Karikaturen und negative Artikel zu diesem Thema finden lassen. Vgl. Lucienne Domergue: Les jésuites espagnols écrivains et l’appareil d’État (1767–1808). In: Dietrich Briesemeister/Manfred Tietz (Hg.): Los jesuitas españoles expulsos, S. 265–269.

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und die vermittelte ‘Légende noire’ kann auch dort ein Stück weit Fuß fassen. 934 Aufgrund dieses immer zwingenderen Einflusses kommt es in Spanien zu einer Veränderung des literarischen Betriebs. Mit Blick auf die Kolonien in der Neuen Welt hatte man bisher v. a. zwei Arten von Literatur produziert: Für nichtspezialisierte LeserInnen gab es volksnahe, patriotisch-erbauliche, die Vergangenheit preisende Literatur (mit dem als Nationalhelden gefeierten Cortés);935 die gegenwärtige wirtschaftliche wie kulturelle Realität in den Kolonien wurde dagegen in Form von Texten technisch-administrativer Natur für ein spezialisiertes Publikum verschriftlicht. Dem breiten Volk wurde diese Sicht – da «altamente problemática e insatisfactoria» – systematisch verschwiegen.936 Ob der immer stärker werdenden Konfrontation mit der ‘Légende noire’ kommt es dann in den Werken spanischer Autoren zu einem bisher so noch nicht dagewesenen Aufarbeiten ihrer ‘wahren’ Kolonialgeschichte.937 Ein wichtiger Vertreter dieser neuen Geschichtsschreibung ist Juan Bautista Muñoz mit seiner umfangreichen Historia del Nuevo Mundo von 1793,938 in der erstmals wieder systematisch der Blick von Cortés weg auf Kolumbus verlegt wird. Muñoz liefert keine reine Apologie mehr, sondern eine ausgewogene Kritik, bei der etwa

934 Vgl. Manfred Tietz: Las Reflexiones imparciales de Juan Nuix y Perpiña (1740–1783), S. 617. 935 Hier sind insbes. die gut 20 Neuauflagen von Antonio de Solís y Rivadeneiras Historia de la Conquista de Mejico aus dem 17. Jhdt. zu nennen, in der Cortés als milder Missionar herausgestellt wird. Repetitiv werden hier Elemente der kolonialen Frühgeschichte verherrlicht. Nebenbei sei angemerkt, dass zur Zeit der Erstauflage von 1684 aufgrund der Cortés-Fixierung das Interesse Spaniens an Kolumbus nahezu bei Null lag. In diesem Kontext sind auch die detailverliebten, optimistischen vier Bände der Décadas o Historia General de los Hechos de los Castellanos en las Islas y Tierra firme del Mar Océano des Antonio Herrera y Tordesilla (1601–1615) zu verorten. Vgl. Manfred Tietz: Der lange Weg des Columbus in die Historia del Nuevo Mundo, S. 357. 936 Manfred Tietz: Las Reflexiones imparciales de Juan Nuix y Perpiña (1740–1783), S. 642. Vgl. Manfred Tietz: Der lange Weg des Columbus in die Historia del Nuevo Mundo, S. 357 f. Als prototypische Beispiele sind hier die Noticias secretas de América des Jorge Juan y Antonio de Ulloa zu nennen oder der Nuevo sistema de gobierno económico para la América des José del Campillo (1692–1742). 937 Vgl. Manfred Tietz: Las Reflexiones imparciales de Juan Nuix y Perpiña (1740–1783), S. 624. 938 Das Karl IV. gewidmete Werk ist ein Auftragswerk aus der Zeit, als Muñoz 1774 als ‘Cosmógrafo Mayor de Indias’ das neu eingerichtete Amt eines ‘Chronisten’ übernommen hat: Muñoz, Philosophieprofessor in Valencia, sollte mit seiner (nahe an die Aufklärung heranreichenden) Denkweise gegen Raynal und Robertson argumentieren. Nach umfassender Recherchearbeit werden jedoch im ersten Band nur die Geschehnisse bis 1500 (über die ersten drei Reisen) aufgearbeitet. Der zweite Band lag nur in Manuskriptform vor und ging dann verloren, vgl. Manfred Tietz: Der lange Weg des Columbus in die Historia del Nuevo Mundo, S. 359 f.

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u. a. in reflektierter Weise eine Einteilung der Spanier in ‘gut’ und ‘böse’ vorgenommen wird,939 wie wir es auch aus dem französischsprachigen Raum kennen, nicht zuletzt aus Lesuires Epos und seiner Inszenierung intrasemiosphärischer Spannungen.940 Angestoßen wird diese Auseinandersetzung durch eine Reihe vorausgehender Werke spanischer Jesuiten, «die [...] mit ihrem maßlos apologetischen Tenor dem arg lädierten Selbstwertgefühl der Spanier mehr schmeichelten».941 Ein einschlägiges Beispiel liefern die Reflexiones imparciales (1782/1788) des Juan Nuix y Perpiña, den Tietz als «uno de los numerosos antiphilosophes que surgieron entre los jesuitas en su exilio italiano»942 bezeichnet. Dabei werden meist die Annahmen und Argumentationsstrukturen der drei genannten spanienkritischen Werke aufgenommen und ins Gegenteil verkehrt.943 Während Raynal gegen den ineffizienten, inhumanen Kolonialismus Spaniens, die fanatische Ziele verfolgende christliche Kirche und gegen Spanien als Nation polemisiert, werden von Nuix

939 In positivem Licht erstrahlen der König und die Königin, negativ valorisiert werden gewisse Mitfahrende (Roldán oder Ojeda samt ihrem Drängen auf finanziellen Gewinn), vgl. ebda., S. 374. 940 Vgl. ebda., S. 359. Anders als bei De Pauw oder Raynal werden die Ureinwohner nicht mehr als hilflose Opfer betrachtet, die die Evangelisierung nicht voll begreifen können. Muñoz vertritt – wie Robertson – ein positives Bild der Kolonialisierung, spricht sich für die Überlegenheit der Europäer aus, sodass die Kolonialisierung der Spanier nicht mehr als Unrecht gegen die Menschlichkeit erscheint. Kolumbus wird – analog zu Robertson und Raynal, aber insgesamt stärker noch als in den aufklärerischen Werken – als «filósofo» (ebda., S. 373) inszeniert, der durch Fortschrittlichkeitsdenken, Tatkraft und Genie besticht: Kolumbus ist auch bei Muñoz «ein ins 15. Jhdt. verschlagener Aufklärer und humanitärer Geist» (ebda., S. 369), (stärker als bei Raynal) wird jedoch seine Religiosität herausgestellt, etwaige Fehler (wie seine Mitschuld am in der Folge eingerichteten ‘Repartimientos’-System) werden (analog zu Robertson) auf meuternde Spanier appliziert. Der einzige Makel, den Kolumbus bei Muñoz (analog zu Robertson) trägt, ist seine irrige Identifikation Amerikas mit Asien. Wie Tietz herausstellt, kommt seine detaillierte Stellungnahme zu den an Spanien gerichteten Vorwürfen historisch gesehen schlicht zu spät und findet gerade in Frankreich kaum Beachtung, wo mit dem Ausbruch der Revolution andere Themen wichtiger werden, vgl. ebda., S. 374. 941 Manfred Tietz: Der lange Weg des Columbus in die Historia del Nuevo Mundo, S. 377. An anderer Stelle (Manfred Tietz: Las Reflexiones imparciales de Juan Nuix y Perpiña (1740–1783), S. 642) spricht er von der «total desculpabilización de los conquistadores españoles» und einer «apología total de la nación española» sowie des Jesuitenordens. Zu nennen sind hierunter die Jesuitenpatres Javier Clavijero und Juan Arteta, die wie Peramás nach dem Verbot des Bundes nach Italien immigrierten, mit ihren Werken (Historia antigua de México bzw. der Difesa della Spagna e della sua America Meridionale, jeweils 1780). 942 Manfred Tietz: Las Reflexiones imparciales de Juan Nuix y Perpiña (1740–1783), S. 646. 943 Vgl. zu dieser Technik am Beispiel des Nuix ebda., S. 644.

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y Perpiña der spanische Nationalismus, Patriotismus und die Liebe zur Religion hochgehalten.944 In eben diesem Kontext ist nun unser Kolumbus-Epiker Peramás zu verorten, dessen bekanntestes Werk, der De administratione guaranica comparata ad Rempublicam Platonis commentarius (1793), gestaltet ist als direkte Antwort auf die in Frankreich vertretene philosophische Sicht auf die Jesuitenkolonie in Paraguay,945 und auf diese Weise «dialoga com os textos da Ilustração européia denegrindo o Novo Mundo»946 Während die französischen ‘philosophes’ Gesellschaftskritik betreiben, indem sie die Verhaltensweisen ihrer Mitbürger denen des ‘bon sauvage’ gegenüberstellen, zieht Peramás’ die in seinen Augen

944 Die Haltung des Nuix y Perpiña steht der von ihm als «nuestros filósofos» (ebda., S. 627) bezeichneten Gruppe diametral entgegen. Er positioniert sich gegen deren Toleranz und Kosmopolitismus und plädiert für die glücklich machende Klarheit der Inquisition. Der aufklärerischen Suche nach irdischem Glück stellt er das zukünftige göttliche Heil entgegen. Dabei wird dem Leser der Eindruck vermittelt, die Spanier hätten lediglich eine gewisse und stets notwendige Grundgewalt an den Tag gelegt (wie etwa Alexander der Große bei seinen Eroberungszügen), «dando al lector la impresión de que, más allá de algunos incidentes históricos inevitables y unas penurias económicas, América y los Indios no tienen ningún problema grave» (ebda., S. 636). 945 Vgl. Fabrizio Melai: The Impossible Dialogue between Plato and Epicurus: José Manuel Peramás’s Commentarius on Paraguayan Missions. Vortrag vom 12. 04. 2017, gehalten an der University of Cambridge im Rahmen der Konferenz ‘Legacies of Conquest. Transnational Perspectives on the Conquest and Colonisation of Latin America’. Laut Beatriz H. Domingues: Platão e os Guaranis: uma análise da obra de Joseph Perramás [sic!] à luz das utopias européias renascentistas e das teorias ilustradas sobre o Novo Mundo. In: História Unisinos 12 (2008), S. 98, besteht die Funktion des Commentarius in der Verteidigung des «colonização espanhola na América contra os ataques derrogatórios de Raynal e De Pauw». Feile Tomes betont, dass Peramás’ Commentarius (im Gegensatz zu seinem Kolumbus-Epos) große Aufmerksamkeit geschenkt wurde: «[it] has always [...] been studied variously» (Maya Feile Tomes: Neo-Latin America, S. 6). 946 Beatriz H. Domingues: Platão e os Guaranis, S. 94. Kap. 24 etwa ist Raynals kritischer Ansicht über den Jesuitenstaat in Paraguay gewidmet. Domingues sieht in Peramás insgesamt einen ebenso von den Ideen der französischen Aufklärer beeinflussten Autor: «sua crítica à Ilustração européia coexiste com a adesão a alguns de seus princípios mais caros» (ebda., S. 94). Peramás greift sich aus den Vorstellungen der zeitgenössischen Aufklärer punktuell eben auch Aspekte heraus, die er für seine Argumentation nutzbar machen kann, etwa die Überzeugung von der Unterlegenheit der Bewohner der Neuen Welt, worin Peramás «concorda com a construção conceitual de Buffon» (ebda., S. 103). Vgl. ferner Gabriele Cornelli: Platão e os Guaranis: Utopias transatlânticas na obra de administratione guaranica comparata ad rempublicam Platonis commentarius de José Manuel Peramás. In: Revista de Estudos de Cultura 6 (2016), S. 129.

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einem optimalen Staat gleichkommende,947 mustergültige Verwaltung der jesuitischen ‘Reducciones’ als Korrektiv heran. Er kritisiert die politischen und sozialen Zustände in Frankreich948 und rät zu einer jesuitischen Rückeroberung der Alten Welt im Sinne der von den Jesuiten verkörperten Theokratie. Der wohlorganisierte Jesuitenstaat konnte seiner Meinung nach nicht nur die von Natur aus bedürftigen, ihren Ängsten ausgesetzten Wilden mithilfe des christlichen Glaubens bändigen. Er könne auch (mit seinem ideologischen Blick auf die christliche Hoffnung auf das Jenseits und ein nahendes Neues Gottesreich) «uma ‹falsa modernidade›»949 der französischen ‘philosophes’ eindämmen, welche als fehlgeleitete Anhänger Epikurs nur dem diesseitigen Glück nachjagten.950 In seinem Commentarius setzt sich Peramás also direkt und unverkennbar mit den historiographischen Werken der Aufklärer auseinander, hält ihnen (analog zu Nuix y Perpiña) z. B. immer wieder ihre fehlende Autopsie und ihre Quellenarbeit vor, bei der es an Akkuratheit mangele,951 «contribuyendo así a la superación de la famosa leyenda negra».952 Mit seinem Kolumbus-Epos schlägt Peramás nun in dieselbe Kerbe wie mit seinem Commentarius. Er tut dies aber in weniger direkter Auseinandersetzung –

947 S. Gabriele Cornelli: Platão e os Guaranis, S. 132: «Peramás considera o regime político das missões guaraníticas, em comparação com a república de Platão, como o melhor possível». Der Commentarius besteht aus 27 Kapiteln mit insgesamt 344 Paragraphen, in denen dargelegt wird, inwiefern der Guaraní-Staat den des Plato (den des Morus oder den des Campanella) übertrifft. Die einzelnen Kapitel behandeln jeweils einzelne thematische Vergleiche des Jesuitenstaats mit den vorgenannten literarischen Vorbildern, vgl. ebda., S. 128 f. 948 Vgl. Beatriz H. Domingues: Platão e os Guaranis, S. 94: Peramás «mostra-se distante e até horrorizado pelas novidades da Ilustração e pelas idéias e ideais da Revolução Francesa». 949 Ebda., S. 94. 950 Vgl. S. Gabriele Cornelli: Platão e os Guaranis, S. 128: «che chama a contenda ‹insanientis Philosophiae Epicureus grex›». 951 Vgl. Hans-Jürgen Lüsebrink: Interkulturelle Dialogizität, S. 59–63. Vgl. zu Peramás’ Commentarius v. a. Beatriz H. Domingues: Platão e os Guaranis, S. 94: «Esta experiência in loco foi o argumento central utilizado pelo jesuíta, ao reagir contra os escritos dos ‹filósofos de gabinete› europeus contemporâneos a ele, como Cornelius de Pauw e Raynal» sowie ebda., S. 99: «Com forte formação acadêmica, reage às teses de De Pauw com argumentos empíricos, dos quais se apresenta enquanto testemunha ocular». 952 Moiséi S. Alperóvich: La expulsión de los jesuitas de los dominios españoles y de Rusia en la épica de Catalina II. In: Dietrich Briesemeister/Manfred Tietz (Hg.): Los jesuitas españoles expulsos, S. 33.Vgl. Hans-Jürgen Lüsebrink: Von der Faszination zur Wissenssystematisierung, S. 15; s. María Susana Cipolletti: Fruto de la melancolía, restos del naufragio: el Alto Amazonas en los escritos de los jesuitas expulsos. In: Manfred Tietz (Hg.): Los jesuitas españoles expulsos, passim, für exemplarische Ausführungen zum Jesuiten Juan de Velasco.

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und mittels einer anderen Gattung.953 Auch wenn er andere Vertreter der NeueWelt-Epik aus Frankreich nie erwähnt, dürfte er sich als gebildeter Jesuit sehr wohl auch in diesem in Frankreich beliebten Genre auskennen. Die Fokussierung auf Kolumbus (wie es in Frankreich seit Jahrzehnten typisch war – und eben nicht mehr auf den jahrhundertlang in Spanien so beliebten Cortés) passt zur angestrebten Verteidigungshaltung. Peramás orientiert sich im Gegensatz zu den zeitgenössischen epischen Versuchen Marmontels, Lesuires und Laureaus wieder stärker an einer möglichst klassischen Form des Epos in Anlehnung an Vergils Aeneis. Hinzu kommt, dass Peramás in seinem Epos den Fokus auf die christliche Religion richtet, die bei ihm wieder zum sinnstiftenden und zusammenhaltenden Element der epischen ‘Dispositio’ wird. Das hat zur Folge, dass bei Peramás – noch stärker als bei Madame Du Boccage954 – die Heldenfigur durch die von ihm umgesetzte göttliche Mission reingewaschen wird von jeglichem in der Zukunft womöglich folgenden Unheil. Bei Peramás wird die Schuldfrage nie gestellt; das Epos ist so gestrickt, dass man davon ausgeht, es bestehe überhaupt kein Bedarf einer Rechtfertigung. Im Grunde liegt dem Commentarius und dem De invento Novo Orbe dieselbe apologetische Stoßrichtung zugrunde, was sich an ihrer identischen thematischen Schwerpunktsetzung erkennen lässt. Beide Texte messen den ostentativen christlichen Riten und Sakramenten hohen Wert zu,955 beide setzen voraus, dass «a experiência missionária dos jesuítas na América do Sul foi baseada no modelo de Cristo, iniciada por seus apóstolos no Novo Mundo desde o século XVI».956 Peramás’ Kolumbus-Epos geht insofern über den Commentarius hinaus, als dort nicht mehr nur an exponierten Stellen das Wirken der Jesuiten in Paraguay als Höhepunkt des Missionierens in der Neuen Welt herausgestellt wird, sondern mitunter anachronistisch die Anfangszeit der ‘Entdeckung Amerikas’ mit dem 50 Jahre später anzusetzenden Beginn der Jesuitenmissionierung überblendet wird. Das hat zur Folge, dass sich sein Epos – in der stärksten Interpretation – als «aetiology for (Jesuit) missionarism in the Americas»957 lesen lässt. 953 Vgl. Peramás’ abfälliger Kommentar gegenüber Gegnern der spanischen Kolonisatoren im Prolog zu seinem Epos: «[...] quae ab aliis contra Hispanorum in America novas colonias vel nimio partium studio, vel inveterato gentis odio, vel errore quodam, aut etiam impio Religionis oppugnandae animo scripta sunt» (DINO 9). 954 Vgl. oben Kap. 2.3.3.3. 955 Vgl. Beatriz H. Domingues: Platão e os Guaranis, S. 95: «Seguindo a tradição católica jesuítica, Perramás [sic!] dá grande importância e significado aos cultos externos». 956 Ebda., S. 95. 957 Vgl. Maya Feile Tomes: News of a Hitherto Unknown Neo-Latin Columbus Epic, Part II, S. 246.

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Ein solches Fokussieren auf den Jesuitenorden hatte es in den bisherigen neulateinischen Epen nicht gegeben.958 In einem unveröffentlichten Vortrag an der Freien Universität Berlin macht Schaffenrath (2016) knapp en passant auf manche anachronistische Anspielung des Epos auf den Jesuitenorden aufmerksam. Er bemerkt insbesondere, dass Kolumbus auf seinem Weg nach Cádiz mit dem Fernziel der Etablierung der Eucharistie in der Neuen Welt mithilfe seiner Gefährten inszeniert wird als zweiter Ignatius von Loyola, der zur Gründung des Jesuitenordens mit seinen Gefährten nach Rom aufbricht und auf seinem Weg dorthin eine göttliche Vision hat.959 Mindestens genauso eindeutig ist unseres Erachtens das Proömium der zweiten Werkhälfte (DINO 2.344–355), wo im Unterschied zu Vergils Aeneis (Aen. 7.37–45) nicht mehr die Muse Erato adressiert wird, sondern Jesus selbst zur Muse für das ‘jesuitische’ Wirken des (dem Dritten Orden des Franziskanerbunds zugehörigen) Kolumbus wird. Abschließend sei noch auf die spezielle Widmungsempfängerin des Epos verwiesen,960 die amerikanische Jungfrau Mariana de Jesús y Paredes, die Nationalheldin des heutigen Ecuador. Ihr Heldenstatus speist sich aus ihrer Heiligenlegende, sich

958 Im Prolog zu seinem Kolumbus-Epos distanziert sich Peramás (DINO 9) klar von seinen Vorgängern Carrara und Gambara, die er namentlich erwähnt; er betont die christlich-jesuitische Stoßrichtung seines Epos, das dem Einrichten des Heiligen Abendmahls in der Neuen Welt gewidmet sei (und damit dem Zeichen der bleibenden Gegenwart Jesu Christi): «Verùm, quod huc attinet, poetæ isti rem hanc alio, quàm nos, tractarunt cum modo, tum ordine : neque id sibi proposuerant, ut de inducto in Novum Orbem Christi Sacrificio, quae operis nostri princeps pars est, praesertim agerent». Auch wenn Carrara (als Jesuit), Stella (als Protégé des Jesuiten Francesco Benci) und Gambara (als katholischer Priester) «were not lacking in religious sentiment» (Desiree Arbo/Andrew Laird: Columbus, the Lily of Quito and the Black Legend, S. 20), kommt es doch in den frühen neulateinischen Epen höchstens zu punktuellen Anspielungen auf den Jesuitenorden (vgl. Maya Feile Tomes: News of a Hitherto Unknown Neo-Latin Columbus Epic, Part II, S. 244). 959 Vgl. Florian Schaffenrath: Glanz und Abglanz des Jesuitenordens. Zeitbezüge in Ubertino Carraras und José Manuel Peramás’ Kolumbus-Epen. Vortrag vom 18. 11. 2016, gehalten an der Freien Universität Berlin im Rahmen des Workshops ‘Kolumbus in Amerika’. In der Tat zieht sich Kolumbus (in DINO 1.570–612) vor der Besteigung seiner Schiffe in einen Tempel zurück und nimmt dort an der Eucharistie teil (vgl. die «divinæ pabula mensæ», DINO 1.586). In der folgenden Rede (vgl. DINO 1.593–609) spricht er zuerst in einer Geminatio Jesus an (vgl. «Tu Jesu, tu me Jesu», DINO 1.593), hiernach versichert er seinen Gefährten (den ‘Mit-Jesuiten’) – ebenso in Form einer Geminatio (vgl. das zweimalige ‘socii’, DINO 602 f.) – die Unterstützung durch Jesus, der sie nach der Eucharistie von Innen heraus auffüllen werde, sobald sie dies zulassen und ihm ihre ‘frommen Herzen öffnen’ (vgl. die Aufforderung «pia pectora pandite» in DINO 1.607). 960 Vgl. DINO 3–6; die Widmung ist dem Prolog des Epos vergeschaltet.

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zur Verhinderung einer Naturkatastrophe in Quito selbst geopfert zu haben.961 Die sich dem Jesuitenbund verbunden fühlende Mariana962 tritt, da ihre Aufnahme in den Jesuitenbund unmöglich ist, dem Dritten Orden der Franziskaner bei, die sich nach ihrem Tod auch für ihre Heiligsprechung einsetzen.963 Damit kann auch sie als eines der Indizien für das Verschwimmen der Ordensgrenzen in diesem Epos stehen, das Kolumbus mitunter als einen Jesuiten avant la lettre zeichnet. 2.3.4.2 ‘Dispositio’ des Epos 2.3.4.2.1 Chronotopik der göttlichen Sphäre Bevor wir nun zur Behandlung des Texts selbst samt seinen dispositionellen Besonderheiten übergehen, sei vorausgeschickt, dass bisher eine ausgewogene, übersichtliche und zugängliche Inhaltsübersicht ein Desiderat darstellt, zumal es noch keine Übersetzung und keinen Kommentar gibt.964 Wir haben uns daher für das Anfügen einer detaillierten Inhaltsübersicht entschlossen, um auch einer eher frankophilen, weniger im Lateinischen versierten Leserschaft die Lektüre des Textes zu erleichtern. Hatte sich dieses Vorgehen bei Lesuire aufgrund der Quantität des Texts angeboten, empfiehlt es sich beim nur ca. 2500 Verse umfassenden Epos des Peramás aus qualitativen Gründen, da der Text – gerade verglichen mit den meist problemlos zu lesenden französischen Texten – gewisse Herausforderungen an seine LeserInnen stellt,965 die durch kurze Anmerkungen

961 Vgl. Natividad Gutiérrez Chong: La construcción del heroísmo de Mariana de Jesús: Identidad nacional y sufrimiento colectivo. In: Íconos. Revista de Ciencias Sociales 37 (2010), S. 154. Schon in den 1770ern wird ihre Heiligsprechung diskutiert und 1776 gibt Papst Pius VI ein diesbezügliches Dekret heraus, auf das Peramás in Form einer Fußnote zu sprechen kommt (DINO 5 f.). Ihre Beatifikation und Heiligsprechung erhält Mariana dann im 19. bzw. 20. Jhdt. 962 Vgl. etwa Regina Harrison: Convent in the Clouds. Quito as a Cultural Center. In: Mario J. Valdés/Djelal Kadir (Hg.): Literary Cultures of Latin America: Comparative History, vol. II. Oxford: Oxford University Press 2004, S. 464: «in the manner of Christ, she crucified herself by tying her head, her hair, and her four extremities to a large wooden cross each Friday». 963 Vgl. Stephen Haliczer: Between Exaltation and Infamy. Female Mystics in the Golden Age of Spain. Oxford: Oxford University Press 2002, S. 275. 964 Abgesehen von einem groben Abriss im Fließtext eines Aufsatzes von Maya Feile Tomes (News of a Hitherto Unknown Neo-Latin Columbus Epic, Part II, S. 247 f.) bzw. eine vor über 70 Jahren angefertigte knappe Gliederung von Furlong. Feile Tomes arbeitet zusammen mit Bram van der Velden (Leiden University) an einer englischen Übersetzung des Textes. 965 Anders als etwa bei Bourgeois muss man bei Peramás von einem stark durchkomponierten Epos sprechen. Das lässt sich schon an ganz en passant gesetzten sprachlichen Entsprechungen ablesen: Es sei darauf hingewiesen, wie ganz am Ende des zweiten Buchs (bei der

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in der Appendix aus dem Weg geräumt werden sollen.966 Um die Eigenheit der epischen ‘Dispositio’ besser fassen zu können, soll die Behandlung des Peramás’schen Epos mit der Beleuchtung der Ausgestaltung der ‘Götterhandlung’ beginnen. Peramás eröffnet sein Epos mit einem doppelten Eingreifen des Himmels in die Menschenhandlung. Einmal sehen wir in DINO 1.7–49a, wie Gott (den von

Darstellung des Hin und Hers beim Stierkampf im Rahmen der ersten in der Neuen Welt durchgeführten Wettkämpfe) an das Ende des ersten Buchs erinnert wird, wo das Hin und Her im Innern der (dem Alten Weisen der ‘îles fortunées’ geschenkten) Uhr beschrieben wird. Beide Male heißt es«trahiturque trahitque vicissim» (DINO 2.763; DINO 1.804). In unserem Kapitel werden wir exemplarisch nur eine kleine Auswahl solcher intra- und intertextueller Referenzen bzw. intendiert gesetzter sprachlicher Auffälligkeiten darbieten können. 966 Das trifft auf inhaltlich schwierige Passagen zu, wie DINO 1.403–407, wo wir es für angebracht hielten, in einer Anmerkung eine historische Verortung vorzunehmen: Der Text kommt dort im Rahmen der Beschreibung von Bildern auf der Holzverkleidung der kolumbischen Schiffe auf die Zerschlagung der Schiffsbrücke durch einen Fernandus zu sprechen. Bei der Inhaltsübersicht zu Beginn des zweiten Buchs versuchen wir, die Namen der im Epos erwähnten Inseln mit real existierenden Inseln gleichzusetzen, um so herauszustellen, ob es sich um fingierte oder importierte Schauplätze handelt bzw. um eine bessere topographische Lokalisierung der episch modellierten Kolumbusfahrt zu gewährleisten. Doch ergeben sich bei der Lektüre des Epos auch sonst hie und da punktuelle Schwierigkeiten beim vollen Textverständnis. In DINO 1.796–810 schenkt Kolumbus einem alten Greis auf der Kanareninsel La Gomera Kulturgegenstände. Unklar ist jedoch, um welchen Gegenstand es sich hier jeweils genau handelt. Während der Greis die Geschenke beäugt, liefert ihm Kolumbus eingangs (vgl. DINO 1.792–795) astronomische Erläuterungen, bei denen man spontan an einen Kompass als Geschenk denkt. Am Ende der Passage (vgl. DINO 1.802–810) wird dann jedoch eindeutig das Innere und das Äußere einer Uhr beschrieben. Im Innern (vgl. «intus», DINO 1.802) ist die Rede von einer ehernen Drehachse, Federwindungen, ineinandergreifenden Zahnrädern, also dem Spannen und Entspannen einer Feder, und dem physikalisch mit der Energie-Erhaltung zu erklärenden Hin und Her der Rädchen; von außen (vgl. «foris», DINO 1.808) zu sehen ist ein mit zweimal sechs Zeichen bemalter Rand und der kleine Stundenzeiger. Hier wird meines Erachtens insbes. verwiesen auf die Erfindung der Hemmung (Stichwort ‘mora’ in DINO 1.806) als eine der wichtigsten Erfindungen der Renaissance. Schwierig ist die dazwischenliegende Passage (vgl. DINO 1.796–801). Kolumbus gibt dem Greis ein (weiteres?) «eindrucksvolles Produkt des menschlichen Geistes – wenn auch von kleinem Gewicht – mit dessen Hilfe das Menschengeschlecht zwischen Erde und Himmel mit treuen Fesseln den Handelsverkehr eingerichtet hat. Unzählige Kreise von zurückrollbarem Erz geben die Himmelsläufe und die Gestirne, welche die unsteten Monate antreiben, und die flüchtigen Tage und Stunden wieder.» Ist hiermit nun schon die Uhr gemeint? Oder handelt es sich insgesamt nur um ein einziges Gerät, anhand dem Kolumbus seine theoretischen Erläuterungen exemplifiziert (vgl. «Addidit [...] opus», DINO 1.796 f.)? Handelt es sich etwa um eine Art astronomische Räderuhr (und somit eine Mischung aus Kompass und Uhr)? Weshalb ist dieses Gerät dann aber «von kleinem Gewicht»? Im Detail müssen solche Fragen jedoch der Arbeit eines/einer zukünftigen Kommentators/Kommentatorin vorenthalten bleiben.

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ihm eigens mit besonderem Talent ausgestatteten)967 Kolumbus dazu antreibt, dem spanischen König sein Vorhaben der Eroberung der Neuen Welt vorzutragen.968 Als der König dieses Projekt vorerst ablehnt,969 setzt Gott einen zweiten Impuls, indem er einen Engel vor Königin Isabella erscheinen lässt.970 In den folgenden Abschnitten des ersten Eposbuchs zeigen die beiden initiierenden göttlichen Impulse Wirkung.971 Am Ende klingt das Epos ebenso mit einer knappen Erwähnung der Unterstützung des Kolumbus durch Gott und seine Engel aus,972 was schließlich zur Bewilligung der beiden von Kolumbus an den König gerichteten Aufträge führt (die beide in enger Verbindung zu Kolumbus’ eschatologischendzeitlicher Hoffnung stehen): nämlich ihm das in der Neuen Welt gefundene Gold zu schenken973 sowie die christliche Missionierung weiter voranzutreiben.974 Schon das Adverb ‘clam’ im obigen Zitat liefert ein Indiz dafür, wie Gottes Einwirken auf die epische Handlung ausgestaltet ist: Wenngleich es das gesamte Epos hindurch vorausgesetzt wird und Gott als überwachende Instanz der Entdeckungsfahrten fungiert, findet dieses Agieren doch stets meist im Hintergrund statt bzw. bleibt in der Regel ohne explizite Erwähnung.975 Auf die wenigen (und besonders zentralen) Stellen, in denen Gottes Eingreifen doch explizit angesprochen wird, werden wir im Folgenden noch eingehen.

967 Vgl. u. a. DINO 1.23: «Ingenium dederat Deus». 968 Vgl. «Exstimulat Deus ipse» (DINO 1.9). 969 Vgl. «Reppulit orantem» (DINO 1.49a). 970 Vgl. DINO 1.65–240. 971 Vgl. Isabellas Überzeugungsarbeit in DINO 1.247–272 und Kolumbus’ Überzeugungsarbeit in DINO 1.284–354, was schließlich im positiven Resultat der Bewilligung endet (vgl. DINO 1. 360–375). Vgl. zum näheren Aufbau dieser Überzeugungsarbeit das Kap. 3.1. 972 Vgl. «pulcherrimus Aliger [...] se se | Intulerat medium, vires roburque Columbi | Addens clam monitis» (DINO 3.780–783). 973 Vgl. «regionis opimæ | Primitias Superum Regi, Rex alme, dicato» (DINO 3.757 f.; hier wird das erste in der Neuen Welt gefundene Gold metaphorisch als Gott zu widmende ‘Erstlingsfrüchte’ verstanden). 974 Vgl. v. a. «sacra fac mysteria norint» (DINO 3.761). 975 An vereinzelten Stellen, in denen es doch zu einer expliziten Erwähnung kommt, wie in DINO 2.42–55, wo ein Engel einen bedrohlichen Seesturm bändigt und Kolumbus’ Weiterfahrt begünstigt, wird erneut dessen unbemerktes Agieren herausgestellt, vgl. «Nulli visus agit» – der Engel handelt, ohne dass ihn jemand (‘nulli’ ist im Zitat ein dat. auctoris) wahrnimmt. Kolumbus selbst ist durch die anfängliche Initiation durch Gott der bestimmende Motivator der Reise, vgl. etwa DINO 1.284–287, wo Kolumbus im Gegensatz zu König Ferdinand in seiner ungebrochenen Bestimmtheit herausgestellt wird («At nihil interea turbatus pectora ductor | Magnanimus [...] | [...] ministros | Impulerat tantis ut cœptis sponte faverent»); vgl. ferner Kolumbus’ Selbstinszenierung vor den Dienern des spanischen Königs als Motivator und Vorreiter des Unternehmens: «Nihil ipse moror [...] pectora Numen | Nostra [...] stiumulat», DINO 1.298 f.) und gleich darauf das zweimal wiederholte «numen» in DINO 1.301 f.

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Wie Feile Tomes korrekt anmerkt, verläuft die gesamte Eroberung der Neuen Welt bei Peramás «conspicuously, emphatically smooth».976 Das liegt daran, dass das Eingreifen der (den Himmelsgöttern von Anfang an unterlegenen)977 Unterweltgottheiten kaum spürbar ist. Stets wird nur am Rande angemerkt, die zu missionierenden Bewohner der Neuen Welt stünden unter teuflischer Beeinflussung.978 Zu einem zeitlich mit dem (in der Menschenhandlung behandelten) Kolumbusprojekt zusammenfallenden Handeln der Unterweltgötter kommt es aber vorerst nicht.979 Sämtlichen Protagonisten, selbst Kolumbus, bleibt ein tieferer Einblick in Gottes Vorgehen verwehrt.980

976 Maya Feile Tomes: News of a Hitherto Unknown Neo-Latin Columbus Epic, Part II, S. 250. 977 Einmal wird in Peramás’ Epos die Furcht der Unterweltgottheiten vor dem himmlischen Gott verbalisiert, «quem metuunt imi manes» (DINO 2.284). Dieses Vorgehen ist aus den neulateinischen Epen bekannt, vgl. Kap. 2.1. 978 In DINO 1.54 f. macht der vor Isabella erscheinende Engel auf den unglücklichen Zustand der Ureinwohner aufmerksam: die Ureinwohner bedürfen der Rettung, da sie «der Teufel schon und immer noch in einem fort quält, indem er ihnen durch ein hartes Schicksal schlimm zusetzt» (im attributiven Relativsatz liegt ein duratives Imperfekt vor: «quos rex vexabat Averni Sorte premens dura»). Wenig später werden speziell die Peruaner und Mexikaner mit dem Teufel in Verbindung gebracht, der sie zu Verfehlungen und Sakrilegien motiviere (vgl. «quos arbiter Orci | Impulit in scelus, & Stygiis premit horridus armis», DINO 1.202 f.); wobei der Teufel insbes. für die Einrichtung der Menschenopfer verantwortlich gemacht wird (vgl. «regnator Averni | Crudeles addit stimulos, sacrisque nefandis | Viva jubet victæ servari corpora praedæ», DINO 1.182–184). 979 Wenig griffig wird in Buch 1 einmal in der Rede des Engels auf zu erwartende ‘pericula’ aufmerksam gemacht sowie auf gewisse (wohl teuflische) «hostiles turmas», denen man begegnen müsse, bevor man als Kompensation der Mühen Gold empfangen werde (vgl. DINO 1.225 f.). Die passiv-beobachtende Rolle der teuflischen Mächte wird besonders in DINO 2.280 ersichtlich, wo der epische Erzähler nach dem ersten Landen in der Neuen Welt und dem Aufstellen des Kreuzzeichens auf die Unterweltgottheiten zu sprechen kommt. Er spricht vom schicksalhaften, verderblichen Effekt, den das Kreuzzeichen für sie haben wird, vgl. «Tartareis [...] fatalia signa catervis». 980 Kolumbus folgt schlicht seinem göttlichen Auftrag und konstatiert, dass Gott aus unerfindlichen Gründen über viele Jahrhunderte geduldet habe, dass die Neue Welt in von Teufel provozierte Dunkelheit gehüllt daliegt (vgl. «Quem [sc. Orbem; G.J.K.] tot sæclis [...] altis | Obvolvi passus tenebris», DINO 2.287 f.); vgl. die Anmerkung Ferdinands gegenüber Boilades, die Bewohner der Neuen Welt seien ‘in dunkle Nacht gehüllt’ – ‘caeca nocte sepulti’, vgl. DINO 1.526 f.). Der wahre Grund hierfür sei ihm unbekannt und es sei nicht erlaubt, nach Gottes Beweggründen zu fragen, vgl. «nefas causam scrutarier» (DINO 2.287). Kolumbus nimmt hier die Rolle eines Christen ein, der einsehen muss, dass ‘die Wege des Herren unergründlich sind’. Typischerweise finden sich in nahezu allen pro-christlichen Kolumbus-Epen ähnliche Inszenierungen, vgl. Bourgeois’ Epos, in dem Kolumbus auf die Frage des Ureinwohners, warum Gott erst jetzt die Neue Welt von Satans Macht befreie, antwortet: «J’ignore, comme vous, ce célèbre mystère [...] il est un secret, un voile impenetrable, | Impossible à lever, & pourtant

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Erst relativ zu Beginn des letzten Buchs des Epos wird die Auflösung geliefert: Angestoßen wird diese Rückblende durch ein einmaliges Eingreifen der Unterweltgottheiten in die Menschenhandlung. Nach der Durchführung des ersten Heiligen Abendmahls (samt der Niederkunft Christi im Altarraum der ersten Kirche) auf Haiti machen die Unterweltgottheiten durch ein Erdbeben auf sich aufmerksam und beklagen lauthals vor den Spaniern ihr Los ungerecht behandelter Besiegter.982 Sie beschweren sich über ihre Vertreibung aus der Neuen Welt und fehlende Möglichkeiten, sich gegen die kolumbische Flotte zu wehren. Der das Abendmahl durchführende Priester Boilades983 klärt die Spanier über diese plötzlich zu vernehmenden ‘Seufzer’ der Götter aus der Unterwelt984 auf, die ihrer Enttäuschung über den Verlust ihres bisherigen Machtbereichs Luft machten.985 Dabei fügt Boilades sogleich eine eigene Interpretation der Sachlage an: Entgegen den Unterweltgöttern deutet er die Ankunft der Spanier sowie die Niederkunft Christi nicht negativ als widerrechtliche Annexion,986 sondern als Ende eines bereits viel zu lange andauernden Schreckensregiments des Teufels.987 Der ‘vates’ erteilt Kolumbus den Auftrag, die Missionierung sowie die Einrichtung der Eucharistie überall in der Neuen Welt weiter voranzutreiben.988 Das einmalige Eingreifen der 981

respectable : | Contentez-vous du soin que Dieu prend aujour’dhui, | Et de ce qui, pour vous, n’avoit point encor lui» (CCAD I.211; chant XII). 981 Während also im Epos auf der Ebene der Menschenhandlung alle Vorgänge chronologisch ‘ab ovo’ erzählt werden, wird auf der Ebene der Götterhandlung in Form einer Rückblende die Vorgeschichte nachgeliefert, welche die dem Epos zugrunde liegende Konstellation des Götterapparats erhellt. 982 Vgl. «Membra Dei vixdum præsentia senserat ara, | Motibus insolitis tremere omnia visa repente | [...] | Mox exaudiri gemitus, tristesque querelæ: | Pellimur heu! Priscis victi detrudimur aris» (DINO 3.117–121, Hervorh. G.J.K.). 983 Der in den Büchern 1 und 2 kaum eine Rolle spielende Priester Boilades (abstammend aus der ‘Boilidæ [sic!] gens’) ist in Buch 3 neben Kolumbus der Hauptprotagonist, ein ‘vates’, der mit Gott unmittelbar in Verbindung steht und Kolumbus seine Prophezeiungen kundtut. Nach seinem Hauptauftritt in Haiti zu Beginn von Buch 3 erhält er später in Portobelo nochmals einen Auftritt. 984 Vgl. ‘suspiria Stygiæ gentis’ (DINO 3.138 f.). 985 Vgl. den Ablativus separativus in «sceptris[...] moveri» (DINO 3.139). 986 Vgl. die Äußerung der Unterweltgottheiten: «regnis spoliamur avitis» (DINO 3.136); sie sind der Meinung, sie würden durch Kolumbus der ‘spes ultima tanti regni’ (vgl. DINO 3.127) beraubt. Dabei wird kurz erwähnt, wie die teuflischen Mächte zuvor bereits schon aus der Alten Welt vertrieben und zurück in die Unterwelt gedrängt wurden (vgl. DINO 3.123–125: «Veteris de limite mundi | Haud satis immeritos olim pepulisse sub umbras, | Pallentes umbras Erebi, noctemque profundam»). 987 Vgl. «queis [sc. sceptris; G.J.K.] tot sæcla (malum) miseros exercuit Indos» (DINO 3.140). 988 Vgl. «nova pergite condere templa» (DINO 3.146) und «ritusque abolete nefandos» (DINO 3.147).

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klagenden Unterweltgottheiten wird also durch die sofortige, diametral entgegengesetzte freudige Auslegung des Priesters zum Zeichen für eine durch den ‘Xro-ferens’ veränderte Neue Welt. Die Dringlichkeit des priesterlichen Auftrags an Kolumbus kommt nicht nur durch sprachliche Marker (wie das in Boilades’ Rede auf den folgenden Textseiten überrepräsentierte Adverb ‘tandem’)989 zum Ausdruck, sondern insbesondere inhaltlich, nämlich durch drei große apokalyptisch-eschatologische Prophezeiungen, welche Boilades wie folgt einleitet: «pergendum [sc. est tibi; G.J.K.] protinus [sc. eo; G.J.K.], urget | Quò Numen, vatumque vocant oracla priorum» (DINO 3.155 f.; «Du, Kolumbus, musst sofort da weitermachen, wo dich Gott und die Weissagungen früherer Propheten hinlenken»). Boilades beruft sich auf (in der Bibel überlieferte) prophetische Vorgänger (‘vates priores’), deren Prophezeiungen er daraufhin in eigenen Worten wiedergibt und eigens auslegt. Innerhalb dieser drei – unseres Erachtens den Höhepunkt (nicht nur) des dritten Buchs bildenden – Prophetien990 flicht Boilades einen einmaligen ‘Chronotopos der Vergangenheit’ auf der Götterebene ein: Lange vor der oben beschriebenen Klage der Unterweltgötter hatten bereits himmlische Gottheiten einmal vor Gott geklagt. Den Grund hierfür liefert das folgende Szenario: Nach der Schöpfung schickt Gott Engel sowie die Trias ‘Pietas’, ‘Pudor’ und ‘Fides’ als seine Vertreter in die Neue Welt, wo sie lange Zeit das ‘praesidium’ und die ‘tutela’ innehatten.991 Eines Tages dringt jedoch der aus der Hölle entstiegene Teufel992 in die göttlich geleitete Neue Welt ein. Beschrieben wird sein Auftreten dabei unter eindeutiger intertextueller Referenz auf den Beginn des ersten Buchs der Metamorphosen Ovids, wo beim Wandel vom Goldenen zum Eisernen Zeitalter993 letztlich sämtliche Übel über die Menschen hereinbrechen, vgl. Met. 1.128 f.: ‘protinus inrupit omne nefas’ (vgl. dazu im unteren Zitat das fett markierte ‘irrupit’, DINO 3.239). Analog zu Ovids Met. 1.130 f. – wo die degenerierend wirkenden Übel (mittels rhetorischer Dihärese) aufgesplittet werden in «fraudesque dolusque | insidiaeque et vis et amor sceleratus habendi» – fallen

989 Vgl. etwa DINO 3.144, 3.228, 3.265. 990 An die Seite der Ekphrasis des Schilds der Ameria (vgl. DINO 3.408–618), den Maya Feile Tomes (Neo-Latin America, S. 123–181) als Kulminationspunkt des Epos erachtet, muss unseres Erachtens die ebenso raumgreifende, vorangehende Boilades-Prophezeiung (vgl. DINO 3.93–309) gestellt werden. 991 Vgl. DINO 3.231–237. 992 Der Teufel war zuvor von Gott aus der Alten Welt vertrieben worden und begab sich – unzufrieden mit seinem Höllensitz – auf die Suche nach einem neuen Machtbereich. 993 Schon hier tritt Peramás’ Ureinwohnerbild klar zu Tage: Es handelt sich um hilfsbedürftige Seelen, die auf den richtigen Weg geführt werden müssen, vgl. ferner «Indi, gentis miserabile vulgus | Humanæ» (DINO 3.226 f.).

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bei der Peramás’schen Beschreibung des Teufels dieselben Schlagwörter (vgl. unten DINO 3.237). Durch das teuflische Einsäuseln (vgl. ‘insinuare’, DINO 3.241) werden die eingangs naiven, völlig schuldlosen Ureinwohner (vgl. ‘gens innocua’, DINO 3.244 f.) durch ‘crimina’ (DINO 3.244) belastet. Genauso entwickeln sich in Ov. Met. 1.100 die ‘securae gentes’ mit der Zeit zu ‘sceleratae’ (vgl. Met. 1.127). Donec fraudesque, dolosque Rex Erebi tacito secum sub pectore versans, Carcere ab inferno has atrox irrupit in oras. Idem animis se se juvenumque, virumque, senumque, Insinuans, diæ sensim vestigia flammæ, Effigiem sui rerum quam conditor olim indidit humanis membris, mentique, repertis artibus extinxit, gentemque in crimina traxit Innocuam. (DINO 3.237–245, Hervorh. G.J.K.)

Schließlich ist die eingangs in der gottgeleiteten Neuen Welt waltende ‘virtus’ vertrieben: «Victa fugit virtus, terrasque irata relinquit» (DINO 3.252). Eindeutig ist auch hier der Verweis auf die das Kapitel der Weltzeitalter abschließende Ovid-Passage: «victa iacet pietas, et virgo caede madentis | ultima caelestum terras Astraea reliquit» (Met. 1.149 f., Hervorh. G.J.K.).994 In der Folge sehen wir die Ureinwohner unter teuflischem Einfluss,995 und die überforderten niederen Himmelsgottheiten996 suchen Hilfe bei Gott.997 Analog zur Rede der Venus vor Jupiter im ersten Buch der Aeneis schließen sich an diese Klage der verzweifelten Gottheiten die beruhigenden Worte Gottes an – der an dieser Stelle passenderweise mit dem vergilischen «Divum pater, atque hominum rex» (DINO 3.263, vgl. identisch Verg. Aen. 1.65) eingeführt wird. Er prophezeit die baldige Ankunft der Spanier mit einer siegreichen Flotte in die Neue Welt: Wenn die Zeit reif ist, würden sie das christliche Kreuzzeichen dorthin bringen,998 dem armen Volk zur Hilfe kommen und den Teufel zurück in die Unterwelt drängen.999 Damit bildet der plötzlich und einmalig eingefügte 994 Vgl. parallel zum Peramás’schen «fugit virtus» auch Ov. Met. 1.129: «fugere pudor verumque fidesque». 995 Z. B. die vor «sacrilegi vapores» (DINO 3.253) rauchenden Altäre, vgl. die obige Beschreibung der Mexikanerriten. 996 Vgl. «Heu quid agant Superæ mentes. Geniique volantes?» (DINO 3.257). 997 Ihre Klagerede vor Gott wird im Text in indirekter Rede wiedergegeben, vgl. den Konjunktiv ‘det’ in DINO 3.260. 998 Vgl. DINO 3.270 f.: «Oceani, cum tempus erit, tranabit Iberum | Victrici gens classe, vehens sacra signa per undas». 999 Vgl. DINO 3.265–267.

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‘Chronotopos der Vergangenheit’ auf der Götterebene trotz seines ‘paganenantiken’ Kolorits keinen digressiven Fremdkörper in der biblisch geprägten prophetischen Rede des Boilades, sondern fügt sich nahtlos in sie ein, da auch er mit einer Prophezeiung (nämlich Gottes selbst) endet. Hebt man abschließend das Gesagte auf eine abstraktere Ebene, bleibt festzuhalten: Peramás’ Modellierung des Götterapparats kommt alles andere als überraschend. Er legt per se genau dieselbe Götter-Konstellation zugrunde, die sich bereits in den meisten neulateinischen wie französischen Kolumbus-Epen findet. Dennoch zeigen sich an gewissen Punkten Abweichungen von der topisch gewordenen Art der Darstellung seiner Vorgänger. Analog zu Vergils Aeneis beginnen die meisten Kolumbus-Epen mit einer knappen Darlegung des Inhalts sowie einem gegen den epischen Helden gerichteten Eingreifen der ‘bösen’ Seite (analog zu Junos hasserfülltem Besuch beim Windgott Aeolos). Danach erst reagieren darauf die ‘guten’ Mächte (analog zu Jupiters tröstender Prophetie unmittelbar nach der Klage seiner Tochter Venus).1000 Die epische ‘Dispositio’ gewinnt ihre Struktur durch den steten Wechsel des Eingreifens der ‘guten resp. himmlischen’ und der ‘bösen resp. teuflischen’ Seite. Dieses Wechselspiel ist in den Kolumbus-Epen unterschiedlich stark ausgeprägt; ein schier undurchschaubares Wechselspiel aus göttlichen Befürwortern und Gegnern des Kolumbusprojekts findet sich bei Mickl, bei dem sich nicht nur ‘klassisch’ (wie bei Stella) die ‘christlichen’ Antagonisten (‘Gott vs. Teufel’) gegenüberstehen, sondern auch einzelne pagane Götter jeweils verschiedenen Seiten zuzuordnen sind;1001 dazu kommen die am ehesten zur ‘bösen’ Seite gehörigen Zémès, deren Ziele allerdings des Öfteren auch mit den Absichten des Teufels konfligieren. Entfernt sich nun ein Epos von diesem Schema, lässt sich diese Modifikation stets funktionalisieren.1002 Bei Peramás kommt es nicht mehr zu einer (wie auch immer gear-

1000 Bei Stella beginnt das Epos (nach einer kurzen Inhaltsangabe) mit einer analog zur Junorede gestalteten Rede des Teufels (Col. 1.62–92) bzw. mit dem ersten Eingriff der ‘bösen’ Seite (vgl. 1.51 f.); analog auch in Carraras Columbus, wo nicht Juno, sondern Discordia eine hasserfüllte Rede in den Mund gelegt wird (vgl. 1.154–188). Auch bei Madame Du Boccage wird nach der knappen Beschreibung des Aufbruchs der kolumbischen Flotte das Eingreifen der Unterwelt geschildert (samt einer Rede des Winddämonen und einer Antwort Satans), auf das dann der Himmel neutralisierend reagiert. 1001 Jupiter etwa zeigt sich unterweltsaffin, Mars dagegen pro-spanisch. 1002 Die stärkste Abweichung hatten wir in Lesuires Epos konstatiert (vgl. Kap. 2.3.2), wo ganz auf den ‘klassischen’ Götterapparat verzichtet wird. Laureau dagegen (vgl. Kap. 2.3.3) behält das Grundgerüst des topischen Götterapparats bei, höhlt ihn jedoch dahingehend aus, als er – analog zu Placcius – an die Stelle von paganen oder christlichen Göttern Allegorien des (Nicht-)Wissens setzt, und nun die Position Junos durch die ‘böse’ Allegorie des vernebelnden NichtWissens, der ‘Nuit’, und ihrer Mitstreiter, der ‘Ignorance’ und des ‘Fanatisme’, ersetzt werden.

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teten) Spielart der antagonistischen, von Juno bzw. Venus repräsentierten Seiten. Peramás purifiziert den Götterapparat, indem er pagane oder indigene Götter völlig ausklammert,1003 und inszeniert minimalistisch nur ein einziges Eingreifen der Unterweltgötter. Dieser ‘Chronotopos der Vergangenheit’ spielt das für die Kolumbus-Epen so typische antagonistische Moment zwar noch quasi als ‘Erinnerungsort’ ein, die entscheidende Menschenhandlung (i. e. Kolumbus’ Entdeckungsfahrt) fällt aber eben nicht mehr in die Zeit der antagonistischen Aushandlung von ‘Gut’ und ‘Böse’, sondern bereits in die Zeit danach. Das ‘Gute’ hat bereits gewonnen, Kolumbus ist zum Heiland berufen, sein Weg ist frei. Unter Beibehaltung des topisch gewordenen, intertextuellen Rekurses auf die Aeneis verlegt Peramás den Fokus von der ‘ira’ Junos auf die Klagerede der Venus vor Gott; die für ein Epos topisch gewordene Parallelhandlung der Götter wird pro forma beibehalten, dient aber dispositorisch lediglich noch als Impuls für die viel bedeutendere priesterliche Prophezeiung, die den Leserinnen und Lesern ins Gedächtnis ruft, dass man mit Kolumbus’ Fahrten am Anfang einer Neuen Zeit steht. 2.3.4.2.2 Das Nebeneinander von biblischen und vergilischen Motiven Biblische Motivik in Peramás’ Epos Wie bereits an der eben kurz aufgezeigten intertextuellen Referenz auf das erste Buch der Aeneis Vergils sowie das der Metamorphosen Ovids ersichtlich wird, greift Peramás traditionsgemäß stark auf antike epische Vorbilder zurück. In der Tat werden an solchen Stellen, an denen typische epische Topoi behandelt werden, passende Zitate antiker Vorgänger eingespielt. Die in den klassischen Referenztexten bewanderte Maya Feile Tomes konstatiert aufgrund eben solcher Passagen, in denen sich kein besonderer Konnex zum Christentum findet, dass das Heimisch-Machen der Eucharistie alleine nicht die ‘princeps pars’ des Werks bilde.1004 Wir wollen nun über das bloße Konstatieren solcher antiker

1003 Anders als etwa Stella, Mickl, Du Boccage. Auch im christlich motivierten Epos des Bourgeois sind die Zémès wichtig: sie versuchen dort z. B. in den letzten chants an der Seite des Teufels, Kolumbus durch das Entflammen seiner körperlichen Gelüste (analog zum Sündenfall im Alten Testament) zu verführen. 1004 Maya Feile Tomes: News of a Hitherto Unknown Neo-Latin Columbus Epic, Part II, S. 249. Im weiteren Verlauf des Kapitels werden wir auf einige einschlägige Topoi, wie die Wettkämpfe am Ende des zweiten Buchs, eingehen. Am Rande sei außerdem hingewiesen auf kleinere Anklänge an klassische Epiker, wie z. B. in DINO 3.561–572, wo der Erzähler einen geographischen Abriss über die Amazonasregion liefert und dabei just einen Schlangenkatalog einbindet, der auf den Schlangenkatalog aus dem neunten Buch der Pharsalia Lucans anspielt; oder auch in DINO 1.63 f., wo bei der Beschreibung einer Vision wortwörtlich Aen. 2.589 f.

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Topoi hinausgehen und uns der Frage widmen, wie sie bei Peramás mit den ebenso offenkundigen Referenzen auf die Vulgata interagieren. Wir erhoffen uns durch den von uns zugrunde gelegten vergleichenden Blick darauf, wie andere Kolumbus-Epen die Bibel miteinbeziehen (und wie Peramás dies demgegenüber tut), die Eigenart des Peramás’schen Epos besser bestimmen zu können, und die unseres Erachtens durch die spezielle Verbindung paganer und biblischer Intertexte einzigartige ‘Dispositio’ dieses Kolumbus-Epos herauszuarbeiten. Aus dem absichtlichen Reaktivieren von Handlungselementen, die aus der Aeneis und der Bibel bekannt sind, ergibt sich ein Nebeneinander und Ineinander zweier verschiedener raumzeitlicher ‘Handlungsfenster’. Wir gehen also davon aus, dass Peramás bei der Gestaltung seines Handlungskosmos voller Absicht die epische Raumzeit (mit den für alle neulateinischen Epen typischen intertextuellen Referenzen v. a. auf Vergil) durch aus der Bibel stammende Motive und Handlungsabfolgen anreichert. Solche Motive können entweder eingebunden werden (a) auf einer eher oberflächlichen, nur von außen an das Epos herangetragenen Ebene, sodass sie die epische Diegese nicht direkt tangieren. Das trifft prototypisch auf epische ‘Gleichnisse’ zu, die im tabellarischen Überblick bei Huss/ König/Winkler 2016 auch als ‘Parachronotopoi’ bezeichnet werden,1005 denn hierbei werden die konkreten im Epos beschriebenen Handlungen mit einer

aufgegriffen wird (nur unter Veränderung des Genus: «videndum | Obtulit, & pura per noctem in luce refulsit»), um die Erscheinung des Engels vor Königin Elisabeth analog zum Erscheinen der Venus vor Aeneas zu gestalten. 1005 Gleichnisse zählen zum typischen Inventar epischer Texte bzw. zu deren «tópicos y motivos» (Israel Villalba de la Güida: Virgilianismo y tradución clásica en la épica neolatina de tema colombino, S. 131). Unter ‘Gleichnis’ versteht man im antiken Epos typischerweise «einen ausgeführten Vergleich eines Phänomens der epischen Handlung mit einem Phänomen aus einem anderen Gegenstandsbereich» (Werner Suerbaum: Vergils «Aeneis». Stuttgart: Reclam 1999, S. 274), der in seinem Aufbau für gewöhnlich einem gleichbleibenden Schema folgt. Der Begriff ‘Gleichnis’ mutet aus moderner Sicht in der von Suerbaum angeführten Definition etwas ungewöhnlich an. Einerseits wird der Begriff heute – wenn er auch nicht selten als eine Art «terminologischer Joker» (Bernhard Heininger: Gleichnis, Gleichnisrede. In: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Band 3 (Eup-Hör). Tübingen: Niemeyer 1996, S. 1000) verwendet wird – doch insbes. auf längere Erzählungen mit Bild- und Sachebene angewendet; andererseits erscheint der Begriff ‘Vergleich’ in der Suerbaum’schen Definition geeigneter. Nichtsdestotrotz hat sich für die antike Epik in der Tradition Homers dieser Terminus fest etabliert, was auch die Titel etlicher Arbeiten zu diesem Thema belegen, vgl. Rudolf Rieks: Die Gleichnisse Vergils. In: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt 2,31,2 (1981), S. 1011–1110; ein möglicher Anhaltspunkt für den Ursprung dieser Begriffstradition findet sich bei Quintilian, der in seiner Institutio oratoria 10, 1, 49 Homer für seine ‘similitudines’ lobt. S. auch Bernhard Heininger: Gleichnis, Gleichnisrede, S. 1001.

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extratextuellen Raumzeitlichkeit verglichen. Biblische Motive können (b) direkt das von den Figuren durchschrittene Setting (bzw. in Summe dann den Figurenraum) betreffen. Hier werden Handlungen oder Verhaltensweisen der Figuren durch mehr oder minder eindeutige intertextuelle Referenzen ‘biblisch’ ausgestaltet, indem Handlungsweisen und teils auch raumzeitliche Konfigurate, die sich dem Gattungshorizont der Bibel einschreiben, in das Epos eingespielt werden; während andere Handlungen von Figuren ‘vergilisch’ geprägt sind, da sie nach dem großen epischen Gattungsvorbild der Aeneis gestaltet werden. Überblickt man zunächst die epischen Gleichnisse in Peramás’ De invento Novo Orbe,1006 fällt ins Auge, dass Peramás – anders als seine neulateinischen Vorgänger – hier des Öfteren aus dem Bildbereich der Bibel schöpft. In sämtlichen neulateinischen Kolumbus-Epen wird bei der Gestaltung von Gleichnissen stets auf den klassischen, auf Homer und Vergil basierenden Bildbereich zurückgegriffen: Für Gambara zählt Villalba de la Güida beispielsweise insgesamt 28 Gleichnisse, darunter findet sich kein einziges aus dem biblischen Bereich.1007 Auch die detaillierte Übersicht zu den Gleichnissen des umfangreichsten neulateinischen Kolumbus-Epos aus der Feder des Jesuiten Carrara konstatiert für die ‘Wie-Stücke’ der Gleichnisse eine Mischung aus den Bildbereichen ‘Natur’, ‘Tierwelt’, ‘Mythos’; hinzu kommen mitunter historische Heldentaten (etwa Alexanders des Großen oder Caesars).1008 Nur ein einziges Mal wird in den zwölf Büchern Carraras im Rahmen eines Gleichnisses auch die Bibel eingebunden, als Kolumbus auf dem ihm präsentierten Schild mit dem Überblick über die Neue Welt deren Neuartigkeit bewundert – ganz so wie Adam seinerzeit bei seinem Blick über die ‘creatio mundi’.1009 Das mag etwas überraschen, da bei der Ge-

1006 Zusammengestellt am Ende der Appendix. Unsere Tabelle nimmt aus Gründen der Übersichtlichkeit nur das ‘Wie-Stück’ in den Blick. Gemäß Heininger (ebda., S. 1001) und Werner Suerbaum: Vergils «Aeneis», S. 274–277, lässt sich das Bauschema eines Gleichnisses prototypisch in drei (bzw. vier) Teile untergliedern: Einer erzählenden Schilderung der Vorgänge (‘Apodosis’ oder «Stichsatz», da hier das Stichwort für das folgende Gleichnis im engeren Sinne gegeben wird) schließt sich das Gleichnis im engeren Sinne an, das mit einem Vergleichswort («wie») eingeführt wird (‘Protasis’; ‘Wie-Stück’); hierauf folgt der Rückbezug zur Handlung (‘Antapodosis’; ‘So-Stück’), der schließlich in den weiterführenden Kontext mündet. Das eigentliche Gleichnis wird stereotyp durch Vergleichspartikeln eingeleitet (meist ‘velut’, ‘ut’, ‘qualis’, ‘quam’, ‘ceu’, ‘non magis quam si’, ‘non secus ac’). 1007 Vgl. Israel Villalba de la Güida: Virgilianismo y tradución clásica en la épica neolatina de tema colombino, S. 222. 1008 Oder anderer ‘heroischer’ Taten, vgl. Florian Schaffenrath: Einleitung, S. 31 f., samt der dortigen Gleichnis-Übersicht im Anhang der betreffenden Textausgabe. 1009 Vgl. Col. 3.592–604.

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staltung des Götterbilds der neulateinischen Epen1010 durchaus gewisse biblische Anspielungen greifbar waren, etwa wenn bei Carrara die von Kolumbus vertriebene ‘Superstitio’ den ligurischen Fischer Kolumbus mit dem Fischer Petrus vergleicht, der sie seinerzeit aus der Welt vertrieben hatte. Eine Analyse der beiden noch am stärksten biblisch geprägten Texte (Carraras und Stellas) zeigt, dass Kolumbus zwar gern im Sinne der heroischen «misión divina»1011 eine besondere Verbindung zu Gott zugeschrieben wird; dass aber bei der konkreten Ausgestaltung meist nicht die Bibel als Referenztext herangezogen wird. Stellas Kolumbus gibt in seinen intradiegetischen Reden höchstens recht allgemein gehaltene christliche Weisheiten kund.1012 Die zwei ausfindig zu machenden Bibelanspielungen, die Kolumbus in intradiegetischer Rede einflicht, bleiben punktuell: Einmal setzt Kolumbus seine Mission mit dem Weg der Israeliten aus Ägypten nach Kanaan gleich.1013 Ein andermal gibt er den auf Haiti zurückbleibenden Spaniern den Auftrag, keine Beutezüge zu unternehmen, sondern nur Gottes Wort zu verbreiten, wie es seinerzeit die sich von Unrecht enthaltenden zwölf Apostel der Alten Welt getan haben.1014 Bei Carrara motiviert Kolumbus – wiederum in intradiegetischer Rede – seine Matrosen auf Teneriffa, durchzuhalten, und zieht einen Vergleich zwischen Noahs Arche und seiner eigenen ‘Arche’, die sich nicht minder auf göttliche Unterstützung verlassen könne.1015 Als Carraras Kolumbus in den Büchern 3 und 4 mit der Gottheit ‘Aretia’ in Kontakt steht, finden sich auch in deren Rede knappe biblische Anspielungen.1016

1010 Vgl. Kap. 2.2. 1011 Javier Sánchez Quirós: Introducción, S. LXXI. 1012 Etwa dass ‘die Wege des Herren selbst für Eingeweihte wie ihn unergründbar sind’, vgl. «Fata latent diuum in gremio nec cernere quisquam | mente queat summi decreta abscondita coeli» (Col. 1.333 f.). 1013 Vgl. das folgende Kap. 1014 Vgl. im folgenden Zitat die Apostel unter der Bezeichnung ‘bisseni viri’: «Hoc unum precor: ah uetitis ne forte rapinis | conscelerate manus; non his fundamina regni | principiis iacienda novi nec talia quondam | bisseni gessere uiri, cum legibus orbem | fundarent» (Col. 2.395–99). 1015 Vgl. die folgende Stelle aus Carraras Columbus: «Non mundus nobis petitur minor, abdit eundum | nec minor unda globum. [...] eadem modo numinis aura, | quae rexit veterem, puppim comitetur Iberam!» (3.55–58, Hervorh. G.J.K.). 1016 ‘Aretia’ klärt Kolumbus u. a. über den korrekten Umgang mit dem auf Erden vorzufindenden Gold auf und fordert ihn zur Vernichtung des trügerischen Palasts der Theromantis auf den Kanaren auf, wodurch seinen Matrosen, die bisher dort in geistiger Verblendung vom Entdecken der Neuen Welt abgehalten werden, die Schuppen von den Augen fallen würden (vgl. «Protinus errorum squamas cadere ore tuorum», Col. 4.45). Hier wird eindeutig die Apostelgeschichte (9,18) aufgerufen, wo es heißt: «ceciderunt ab oculis eius [gemeint ist Saulus; G.J.K.] tamquam squamae et visum recepit». Wenig später beschreibt sie ihm, wie er den Palast zum Einsturz bringen könne, nämlich durch einen einzigen kleinen Lichtfunken, der Großes bewir-

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Während diese biblischen Referenzen grosso modo nur jeweils für eine punktuelle Ausgestaltung gewisser Episoden nutzbar gemacht werden, zielen die zahlreichen biblischen Referenzen bei Peramás auf ein großes Ganzes – im Sinne der eschatologischen Hoffnung auf ein Neues Gottesreich, das Alte und Neue Welt vereint. Die tragenden Säulen dieses Konstrukts – nämlich die großen Themen ‘Gold’, ‘Licht vs. Dunkelheit’ und ‘Kolumbus als Erwählter Gottes’ – lassen sich bereits bei einem Blick auf die epischen Gleichnisse erkennen, wo Peramás in der ersten Werkhälfte (also in Buch 1 und der ersten Hälfte von Buch 2) vier Gleichnisse anfügt, die mit der Bibel in Verbindung zu bringen sind. Neben einem Gleichnis zu den Heiligen drei Königen (mit dem für die biblische Apokalypse bedeutsamen Gold)1017 greift er auf ein Gleichnis zum Gegensatz ‘Licht vs. Dunkelheit’ zurück;1018 dann spielt er (womöglich inspiriert durch Stella) neben einem kurzen Gleichnis zu den zwölf Aposteln der Alten Welt1019 insbesondere den Auszug aus Ägypten als Parachronotopos ein, als Kolumbus in Lucaium das erste Mal seine Füße auf die Neue Welt setzt.1020 Vergleicht man die Länge der ‘Wie-Stücke’ dieser Gleichnisse, bilden sie mit sieben, neun und elf Versen die längsten Gleichnisse des Epos. Mit einem ‘Wie-Stück’ von elf Versen übertrifft das Kanaan-Josua-Gleichnis quantitativ sogar die in Vergils Aeneis vorgegebene Grenze von neun Versen.1021 Dass es in der zweiten Buchhälfte nicht mehr zu biblischen Gleichnissen kommt, liegt in erster Linie daran, dass durch die prophetische Rede des Boilades auf andere, länger ausgestaltete biblische Motive zurückgegriffen wird, indem aus der Bibel bekannte Szenarien individuell ausgestaltet

ken werde; dies ist analog zum biblischen Traum Daniels gestaltet, in dem ein kleiner Stein den ‘Assyrischen Koloss’ zum Einsturz bringt, vgl. «Metire lapillum | dissectum de monte, predes vibratus ut imos | perculit, Assyrio licuit num stare Colosso?» (4.49–51). 1017 Vgl. DINO 1.211–217. Analog zur Gemeinschaft der drei Kontinente der Alten Welt, für die symbolisch jeweils einer der Heiligen drei Könige steht, die dem Jesuskind Myrrhe, Weihrauch und Gold brachten, werden aus ‘Amerika’ weitere ‘reges dona ferentes’ (vgl. DINO 1.220) kommen und das Jesuskind empfangen (als Geschenke werden v. a. Gold und Edelsteine herausgestellt, vgl. DINO 1.208, 1.229 f.). 1018 Vgl. DINO 1.273–281. Hier kommt auf der Bildebene ein Mensch aus der Dunkelheit der Nacht ins Licht und schöpft dadurch neuen Mut. Zur ‘Lichtmetapher’ bei Peramás folgt gleich noch Näheres. 1019 Vgl. DINO 1.555–557; zu diesem Gleichnis mehr in Kap. 2.3.4.3. 1020 Vgl. DINO 2.227–237. Kolumbus wird hier zum einen mit Moses gleichgesetzt, der seine entsagungsvolle, lange Wüstenwanderung überstanden hat; zum anderen auch mit Josua, dem es im Gegensatz zu Moses vergönnt war, in das Gelobte Land einzuziehen. 1021 Vgl. insbes. Werner Suerbaum: Vergils «Aeneis», S. 274–277.

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werden, und daher schlicht kein Bedarf mehr an kurzen biblischen Gleichnissen besteht.1022 Uns ist nun allerdings nicht so sehr an einem systematischen Aufzählen sämtlicher Motive gelegen als vielmehr daran, die unseres Erachtens markantesten unter ihnen (in ihrer speziellen Modellierung) in Relation zu den aus der antiken Epik aufgegriffenen Handlungselementen zu stellen. Dazu betrachten wir zwei längere Textblöcke. Zum einen die Mitte von Buch 2, als Kolumbus erstmals in der Neuen Welt (auf den Lucayischen Inseln und dann auf Haiti) landet; zum anderen den ersten Teil von Buch 3, als die erste Eucharistie auf Haiti durchgeführt wird. Das biblische Motiv des Gelobten Landes Die Darstellung der Vorgänge der ersten Landung ist für uns von Interesse, da hier mehrere rote Fäden zusammenlaufen, die wir genauer betrachten wollen.1023 Dass es sich bei der Landung, also beim Aufeinandertreffen der beiden Welten, um eine zentrale Stelle in einem Neue-Welt-Epos handelt, muss nicht sonderlich erläutert werden. Villalba de la Güida rechnet sie nicht umsonst zu «los elementos o tópicos en los que se interrelacionan historia y tradición clasica».1024 Analog

1022 Neben den in diesem Kapitel behandelten ‘epischen Gleichnissen’ zählt v. a. auch das in das Epos eingespielte Motiv der Überfahrt der Salomonischen Flotte nach Tharsis unter die obige Kategorie (a). In DINO 1.755–767 ist die Rede von der alten Zeit, als die Juden unter Salomo (vgl. ‘Hebraei’, DINO 1.766; ‘Salomonica vela’, DINO 1.755 f.), alle drei Jahre (‘ternis annis’, DINO 1.759) zur edelmetallbringenden Insel Tharsis (vgl. ‘metallifera Tharsis’, DINO 1.756) aufbrechen. Dabei wird der Bericht der Bibel als historische ‘Wahrheit’, d. h. als geschichtlicher Referenzpunkt in das Epos projiziert. Vgl. zum biblischen Bericht: 1 Kön 5; 7; 9: 10 zum alle drei Jahre stattfindenden Aussenden von Salomons Flotte zusammen mit der Flotte des Königs von Tyrus Hiram nach Tharsis zum Gewinnen von Gold, Silber und Elfenbein für den Bau seines Tempels. Vgl. Kap. 1.3.4 zur Bedeutung von Tharsis bzw. Ophir in Kolumbus’ Libro de las Profecías und ferner Kap. 3.2.2 zur konkreten Umsetzung der Tharsis-Thematik. 1023 Ferner bietet es uns die Möglichkeit, kurz komparatistisch zu arbeiten. Denn anhand des überall zu findenden Topos der ersten Landung lassen sich Rückschlüsse auf die Modellierung des Peramás’schen Epos ziehen. Aus Zeit- und Platzgründen müssen wir auf eine ausgedehntere Behandlung dieses Aspekts jedoch verzichten. 1024 Israel Villalba de la Güida: Virgilianismo y tradución clásica en la épica neolatina de tema colombino, S. 156. In seiner Monographie (vgl. ebda., S. 156–161) beschreibt Villalba de la Güida zuerst die gängigen Elemente der Landungsbeschreibung (wie die atmosphärische Morgendämmerung, in der es zum ersten Erblicken der Erde kommt, die dreiteilige Begrüßung des neuen Landes, die Freude der Matrosen; das darauffolgende Anbeten der Götter usw. Dann kommt er in den Kapiteln zu den verschiedenen neulateinischen Epen auf die jeweilige Ausgestaltung zu sprechen und liefert eine katalogartige Nennung der Quellentexte. Bisweilen werden grobe chronologische Entwicklungslinien gezogen; einmal spricht er er z. B. von einem

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zu den beiden stark vergilisch geprägten Vorgängertexten Stellas und Carraras1025 setzt auch bei Peramás die Landungsbeschreibung mit einer dreigliedrig organisierten (und so an Vergil anklingenden) Begrüßung der sich abzeichnenden Küste ein, vgl. DINO 2.219 f. (Hervorh. jeweils G.J.K.): «coram jam litus, & ora, | Litus ibi: litus socii clamore sequuntur» und Verg. Aen. 3.522–524: «videmus | Italiam. Italiam primus conclamat Achates, | Italiam laeto socii clamore salutant».1026 Vor diesem erlösenden Begrüßungsruf hatten die am Erfolg des Unternehmens schon zweifelnden Matrosen eine schlimme Nacht voller Albträume verlebt.1027 An die vergilisch anmutende Passage knüpft der epische Erzähler eine ‘Exclamatio’, welche die unbändige Freude der Matrosen weiter ausführt: «O quæ tum nautis lacrimæ, dulcesque vicissim | Complexus inter se se! quantæ Columbo | Heroi laudes!» (DINO 2.223–225, Hervorh. G.J.K.). Die fett markierte Stelle liefert dabei das Stichwort für das längste Gleichnis des Epos, das den Auszug der Israeliten aus Kanaan als Parachronotopos einspielt. Wir hatten bereits kurz angemerkt, dass ein solcher Kanaan-Vergleich sich schon bei Stella finden lässt. Dort motiviert Kolumbus in einer der Landung vorausgehenden Rede seine zweifelnden Matrosen zum Durchhalten. Wie die Israeliten unter Moses stünden auch sie unter Gottes Einfluss und müssten sich nicht fürchten:1028 «transvase progresivo» (ebda., S. 156) gewisser Elemente, die sich in allen fünf von ihm behandelten Epen hinweg erhalten bzw. leicht modifiziert werden. Im Übergang von Gambara zu Stella wird eine ‘Vergilisierung’ festgestellt; Analogien zwischen Carrara und Stella werden auf die vergilähnliche Dichtung beider Jesuiten zurückgeführt. Aus unserer Sicht bietet die Monographie zwar ein reiches Sammelsurium an Quelltexten und Zitaten, für interpretatorische Zwecke werden diese aber nicht nutzbar gemacht. Wir wollen uns ganz zielgerichtet daraus bedienen und fragen, was Peramás’ Landungsbeschreibung und die ersten Handlungen in der Neuen Welt vor der Hintergrundfolie der neulateinischen Texte so eigentümlich macht. 1025 Vgl. bei Stella «Rodericus ab arbore signum | dat prior et terram repetita uoce salutat. | ‹Terram› omnes, ‹terram› ingeminant» (1.380–382) und bei Carrara «‹India!› confestim primus de puppe Columbus, | ‹India!› mox laeto sequitur clamore Learchus, | turba salutantum [sic!] concorditer ‹India!› clamat» (6.469–71). 1026 Ohne nun der Stoßrichtung Villalba de la Güidas folgen oder detailverliebt sämtliche Versatzstücke beleuchten zu wollen, sei kurz angemerkt, dass Peramás durch das von ihm gewählte Versatzstück ‘socii clamore’ zur Beschreibung des Freudentaumels eindeutiger dem vergilischen Original folgt, als etwa seine Vorgänger, die eher auf eine andere (aber ebenso authentische) vergilische Wendung zurückgreifen, nämlich den «clamor | nauticus» (vgl. Aen. 5.140 f.), vgl. «clamor | nauticus» in Col. 1.403 f., Atl. ret. 1201 f.; De nav. 1.332. 1027 Vgl. «Tristia quos [sc. nautas; G.J.K.] agitant ægris insomnia curis». Der/die vergilgeschulte LeserIn erkennt in der Wendung ‘strati per dura sedilia nautae’ (vgl. DINO 2.203) die Junktur ‘fusi per dura sedilia nautae’ aus Aen. 5.837, als der unheilbringende Schlaf nach den Matrosen auch den Steuermann Palinurus heimsucht und dieser von Bord stürzt. 1028 Vgl. bei Stella: «Nil desperandum Christo duce» (Col. 1.309).

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An non sic olim Isacidas deserta uagantes tesqua per et syluas coelesti nectare pauit ostenditque uiam silicisque e uulnere fontem largifluum elicuit? An non uia facta per undas Oceani, gressus qua legifer intulit heros, dum populum extorrem promissa in regna reducit?1029

Der anaphorische Gebrauch des «an non ... ?» (‘etwa nicht ... ?’) soll die Matrosen zur Einsicht führen, dass Gott bereits früher einmal in einer ähnlichen Situation dem christlichen Volk bei seinem Weg in ein Gelobtes Land geholfen hat. Der Vergleich eignet sich daher gut, da nicht nur Kolumbus‘ Matrosen zweifeln und meutern, sondern auch die Israeliten unter Moses auf ihrem Weg nach Kanaan (in Anbetracht mangelnder Nahrungs- und Trinkressourcen) immer wieder ihren Unmut äußern1030 – und letztlich durch Gottes Wundertaten besänftigt werden können. Gott ernährt – vgl. oben die unterstrichenen Passagen – die Israeliten mit seinem Nektar, weist ihnen (tagsüber als Wolkensäule und nachts als Feuersäule) den Weg,1031 lässt ihnen Wasser zukommen (indem er Moses den Auftrag gibt, mit einem Schlag auf einen Stein eine Wasserquelle zum Sprudeln zu bringen)1032 und öffnet ihnen den Weg durch die Teilung des Roten Meers.1033 Es kommt nun etwas überraschend, wenn Peramás sein Kanaan-Gleichnis mit der Meeresdurchschreitung (also dem Höhepunkt des Stella’schen Parachronotopos) beginnt, diese jedoch nicht überschwänglich lobend, sondern eher neutral erwähnt (vgl. unten DINO 2.227 f.), und gleich daran die in der Bibel zu findende pessimistische Lagesondierung Kanaans durch Moses anschließt:1034 Sic ubi pendentes Erythræi gurgitis undas Sacra patrum quondam tranarunt agmina, postquam Rumor iit per castra Gigantas, & area claustra,

1029 Col. 1.345–350, Hervorh. G.J.K. 1030 Beispielsweise heißt es – aufgrund mangelnder Wasserversorgung – in Ex 15,24: «et murmuravit populus contra Mosen» und – aufgrund mangelnder Nahrungsmittelversorgung – in Ex 16,2: «et murmuravit omnis congregatio filiorum Israhel contra Mosen et contra Aaron in solitudine». 1031 Vgl. Ex 13,21: «Dominus autem praecedebat eos ad ostendendam viam per diem in columna nubis et per noctem in columna ignis ut dux esset itineris utroque tempore». 1032 Vgl. Ex 17,6 auf dem Berg Sinai. Vgl. später erneut in Num 20,11 in Kadesch: «percutiens virga bis silicem egressae sunt aquae largissimae ita ut et populus biberet et iumenta». 1033 Vgl. Ex 14,21: «cumque extendisset Moses manum super mare abstulit illud Dominus flante vento vehementi». 1034 Das Rote Meer wird hier bezeichnet als ‘Erythraeus gurges’ (‘erythräischer Strudel’).

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Atque adamanteas arces circumdare opimam, Quò via, tellurem; pertæsi bella ducemque, Nectareasque dapes, loca per deserta vagantur. (DINO 1.228–232, Hervorh. G.J.K.)

Peramás bezieht sich hier auf den biblischen Bericht, demzufolge Moses zwölf Kundschaftler entsendet, um die Lage im Gelobten Land zu beurteilen. Diese berichten daraufhin von stark geschützten Mauern und dort hausenden Riesen,1035 was zu einer negativen Reaktion der Israeliten führt, die sich ihres Anführers und überhaupt der Eroberung des Gelobten Landes überdrüssig zeigen (vgl. den obigen Fettdruck). Erst der zweite Teil des Parachronotopos unter Josua positiviert die Reaktionen, vgl. das einleitende antithetische ‘sed’: Sed pavidæ rediit virtus ut prima phalange, Magnanimique ducis vestigia & arma sequuti. Aurea felicis tetigerunt limina regni, Exultant animis, & victa pericla viarum, Josuadæque canunt laudes, partosque triumphos. (DINO 1.233–237)

Nach Dtn 34 hat Moses die Leitung der Israeliten nach 40 Jahren Josua übertragen, wobei er seinem Nachfolger zusichert, Gottes Unterstützung werde ihn nie verlassen.1036 Er selbst dagegen war von Gott bestraft worden, das Betreten des Gelobten Landes blieb ihm versagt. Begründet wird dies durch eine fehlgeleitete Reaktion des Moses bei einem neuerlichen Aufruhr in Kadesch, als sich Moses in einem Moment der Schwäche selbstüberzeugt das Verdienst des göttlichen Wasserwunders selbst zugeschrieben hatte.1037 Josua erlebt demgegenüber sowohl den Beginn als auch das Ende der Wüstenwanderung mit und legt stets vollen Gehorsam gegenüber Gott an den Tag. In dem von Peramás aufgegriffenen biblischen Motiv ist es eben auf seine Leistungen als ‘magnanimus dux’ (vgl. DINO 2.234) zurückzuführen, dass die furchtsamen Israeliten (vgl. ‘pavida phalanx’, DINO 2.233) wieder die anfängliche ‘virtus prima’ erreichen und ihn mit (ihm anzurechnenden) «Josuadæ [...] laudes» (DINO 2.237) überhäufen. Mit dieser Junk-

1035 Vgl. Num 13,29: «urbes grandes atque muratas» und Num 13,33 f.: «monstra quaedam [...] de genere giganteo». 1036 Vgl. Dtn 31,8: «et Dominus qui ductor vester est ipse erit tecum non dimittet nec derelinquet te». 1037 In Anbetracht des Wassermangels in Kadesch wirft Moses seinen Leuten mangelndes Vertrauen in seine Fähigkeit vor, ihnen erneut Wasser beschaffen zu können; vgl. Num 20,10: «dixitque eis audite rebelles et increduli num de petra hac vobis aquam poterimus eicere». Außerdem vertraut Moses nicht auf Gottes Wort, da er – entgegen seinem Auftrag in Num 20,8: «loquimini ad petram coram eis et illa dabit aquas» – das Wasser nicht durch ein Gespräch mit dem Berg hervorbringt, sondern indem er mit seinem Stock zweimal auf ihn einschlägt.

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tur wird das ‘Wie-Stück’ des Gleichnisses dann auch sprachlich wieder an die ‘Heroi laudes’ (vgl. DINO 2.226) der epischen Diegese rückgebunden. Von Stella zu Peramás hat sich eindeutig der Schwerpunkt des Gleichnisses verschoben. Es ist nicht mehr nur das Vertrauen der Masse in die göttliche Lenkung entscheidend, sondern der Umstand, dass ihr Freudentaumel in beiden Fällen auf eine von Gottesgehorsam geprägte Führerpersönlichkeit zurückzuführen ist. Anders als bei Stella bildet das biblische Gleichnis bei Peramás nun gewissermaßen die Initialzündung für die weitere Modellierung der Landungen auf Lucaium und Haiti. Prinzipiell zeichnet sich ein episches Gleichnis ja durch die Tatsache aus, dass es den in der epischen Diegese beschriebenen Vorgang ganz punktuell einem Geschehen aus einem anderen konzeptuellen Bereich gegenüberstellt. Diese konzeptuellen Grenzen lösen sich an dieser Stelle des Peramás’schen Epos spürbar auf, da auch die epische Handlung selbst mehr und mehr mit dem konzeptuellen Bereich der Bibel (also durch biblische Motive) aufgeladen wird. Während Kolumbus’ Handeln in der folgenden epischen Diegese durch biblische Anspielungen geprägt ist, sind die Taten der spanischen Matrosen weiterhin stark an typischen, aus der Aeneis Vergils bekannten Handlungsweisen orientiert, und es werden die bereits beim Begrüßungsruf konstatierten Vergilreferenzen fortgeführt.1038 Blicken wir zuerst vordergründig auf Kolumbus’ Handlungen: Nach dem Josua-Gleichnis flicht der epische Erzähler (ab DINO 2.238) eine intradiegetische Rede des Helden ein. Entgegen der allgemeinen ausgelassenen Feierstimmung zeigt sich Kolumbus in keiner Weise überschwänglich oder anmaßend. Anders als Moses (im Rahmen des Wasserwunders bei Kadesch) lässt sich der (auch in der epischen Diegese weiterhin) als ‘Josua’ gezeichnete Kolumbus nicht zu einem Akt der Hybris verleiten und spricht seine Leistung ganz Gott zu. Dabei formuliert er ein und denselben Inhalt dreimal in rhetorischer ‘Variatio’: «nobis non debita laus hæc, | Non hic, inquit, honos» – «Superis ductantibus æquor | Vicimus,» – «optatisque rates Deus appulit oris» (DINO 2.238–240). Von diesem Vertrauen in Gott und in seine Zeichen ist auch seine weitere Rede geprägt: ‹Numinis illa fuit, mediæ quæ noctis in umbra Abdita detexit venienti litora classi, Aurea fax, dux certæ viæ. Vimque ominis almi Accipio agnoscoque libens. Jam nocte sepultis Æternæ populis Fidei lux alma propinquat.› (DINO 2.241–245, Hervorh. G.J.K.)

1038 Auffallend ist jeweils die antithetische Gegenüberstellung der Chronotopoi des Kolumbus und der Spanier, vgl. die Konjunktionen am Anfang der Absätze: «contra» (DINO 2.238), «interea» (DINO 2.248), «Ast» (DINO 2.276).

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Kolumbus deutet in dieser Passage ein goldenes Licht (vgl. ‘aurea fax’, DINO 2.243), welches er unmittelbar vor seiner Landung sichtet und das ihm den Weg bis zur Neuen Welt weist, als zu Gott gehöriges Zeichen (vgl. ‘Numinis fuit’, DINO 2.241). Das spannt thematisch durchaus den Bogen zurück zum vorigen Gleichnis, wurde doch dem biblischen Josua durch die goldende Bundeslade, durch das Symbol des Bundes zwischen Gott und den Israeliten, der Weg (durch den Jordan hindurch) bis nach Kanaan gewiesen.1039 So betont denn Kolumbus in der epischen Diegese, durch die Fahrt der Spanier durch das Meer hin zur Neuen Welt habe sich das erquickende Licht, das Zeichen des ewigen Treuebunds mit Gott (vgl. ‘alma lux aeternae Fidei’, DINO 2.245), den in Dunkelheit liegenden Völkern genähert, und deren Erhellung stehe unmittelbar bevor. Im Rahmen der durch das biblische Josua-Gleichnis eingefärbten Landungsbeschreibung wird außerdem erstmals eindeutig (und vom epischen Helden selbst) die im Epos insgesamt durchweg präsente Opposition ‘Licht vs. Dunkelheit’ rein christlich ausgedeutet. Wir wollen in einem kurzen Exkurs betrachten, inwiefern sich die bei Peramás im Kontext der Landung inszenierte ‘Lichtmetapher’ von der der anderen Kolumbus-Epen unseres Korpus unterscheidet. Dass bei der Landungsbeschreibung ein in der Neuen Welt gesichtetes Licht Erwähnung findet, ist gang und gäbe. Schon in Kolumbus’ Bordbuch-Eintrag vom 11. Oktober 14921040 heißt es: «vido lumbre» – «commo una candelilla de cera que se alçava y levantava».1041 In der Folge wird dieser sich in der Neuen Welt bewegende Fackelschein häufig als Begleiterscheinung der Entdeckung aufgegriffen – in historischen Reiseberichten, aber sogar in thematisch gänzlich anders gelagerten Texten.1042 Seine erste Funktionalisierung erhält es im Rahmen der Historia

1039 Für die Aufforderung an das Volk, der vorangetragenen Bundeslade zu folgen, die mit einigem Abstand den Weg druch den Jordan nach Kanaan weist, vgl. Jos 3,3 f.: «quando videritis arcam foederis Domini Dei vestri [...] consurgite et sequimini praecedentes» und «ut procul videre possitis et nosse per quam viam ingrediamini». 1040 Vgl. Heinz Hofmann: Adveniat tandem Typhis qui detegat orbes!, S. 490. Nachdem es am 25. September und am 7. Oktober zweimal zu einem Fehlalarm bezüglich der Meldung von Festland gekommen war (vgl. Caesare de Lollis: Cristoforo Colombo, S. 84 f.), kommt es in der Nacht vom 10. auf den 11. Oktober zu verstärkten Unmutsbekundungen der Matrosen, tags darauf zur Landsichtung und am 12. 10. dann zur eigentlichen Landung auf dem Archipel der heutigen Bahamas, den früheren Lucayischen Inseln, die von den Ureinwohnern ‘Guanahani’ genannt, von Kolumbus ‘San Salvador’ getauft wird (vgl. ebda., S. 89). 1041 Christopher Kolumbus: Das Bordbuch: 1492; Leben und Fahrten des Entdeckers der Neuen Welt in Dokumenten und Aufzeichnungen. Herausgegeben von Robert Grün. Tübingen: Erdmann 31974, S. 99. 1042 Das Sichten des Lichts vor dem Landen in der Neuen Welt findet sich z. B. auch am Ende des fünften Buchs der Plantarum libri VI des Abraham Cowley, in dem es um Obstbäume der Neuen Welt geht, vgl. Heinz Hofmann: Adveniat tandem Typhis qui detegat orbes!, S. 629.

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seines Sohns Fernando, wo es gleich doppelt ausgedeutet wird: Einmal führt Fernando den Lichtschein auf dort lebende Menschen zurück, die entweder bei Fackelschein ihrer Arbeit nachgehen oder von einem Haus zu einem anderen gehen;1043 dann wird das Licht im Sinne einer göttlichen Berufung des Genuesen für sein Projekt gedeutet.1044 Nimmt man nun die Funktionalisierungen des Fackelscheins in den verschiedenen Kolumbus-Epen in den Blick, wird es in den späteren französischen Kolumbus-Epen in der Regel zwar historisch korrekt thematisiert, jedoch eben nicht christlich ausgedeutet: Bei Laureau und Lesuire symbolisiert der ‘feu ambulant’ in der Neuen Welt schlicht das ersehnte Erreichen der Neuen Welt;1045 bei Bourgeois wird der Umstand, dass nur Kolumbus – nicht jedoch seine Leute – die «foible lumiere» (CCAD I.120, chant VII) erkennt, entweder auf eine göttliche Bestrafung der Spanier oder auf Kolumbus’ ausgezeichneten optischen Sinn zurückgeführt (ein für die ‘Dispositio’ des Epos denkbar wenig entscheidender Aspekt).1046 Ähnliches sehen wir in Placcius’ Atlantis retecta, wo Kolumbus ein stets an Stärke zunehmendes Licht erblickt und daraufhin einen anderen Matrosen um die Bestätigung seiner Beobachtung bittet.1047 Im Epos der Madame Du Boccage findet es (ähnlich wie in den neulateinischen Epen Gambaras, Carraras und Mickls) gar keine besondere Erwähnung. Peramás’ einziger wirklicher Vorläufer ist damit wiederum Stella, bei dem ein ‘tremulus ignis’1048 von einem der Matrosen (nicht von Kolumbus) erblickt und als göttli-

1043 Vgl. «ce pouvait être la chandelle ou la torche de quelque pêcheur, ou voyageur, qui tantôt élevait ou abaissait sa lumière, ou encore qu’elle pouvait être portée par des gens allant d’une maison à l’autre» (Fernando Colomb: Christophe Colomb raconté par son fils, S. 63). 1044 Vgl. «cette lumière, qui semblait être le symbole de la clarté spirituelle apportée par lui dans les ténèbres de cette entreprise» (ebda., S. 64). Vgl. Delno C. West/August Kling: The «Libro de las Profecías», S. 64, zu Don Hernando, dem ersten christlichen Interpretator der gesichteten Fackel. 1045 Vgl. AD 85 f., chant II: «tout à coup il apperçut dans l’éloignement une lumière qui changeait de place, & se portait d’un endroit à l’autre. Ce feu ambulant ressemblait à celui d’une mêche de paille que des paysans portent pendant la nuit». Vgl. NM I.31, chant II: «Au bord de l’horison, le Héros, dans la nuit, | Apperçoit un flambeau qui s’avance & qui luit | [...] | ‹Mon projet est rempli, la Terre va paraître, | Dit-il :› &, dans un calme immutable & serein, | Il attend les rayons du jour déjà voisin». 1046 Vgl. CCAD I.121, chant VII: «Hors lui nul n’entrevit cette utile lueur, | Qui ne frappa les yeux que de seul conducteur : | Soit que le Ciel voulût punir la perfidie | De ces Navigateurs dans leur trame hardie, | [...] | Soit qu’il eût une vue & plus fine & meilleure». 1047 Vgl. 1180 f.: «ecce vagae perstringunt lumina flammae | et crescunt semper». 1048 Vgl. Col. 1.369.

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ches Zeichen gedeutet wird.1049 Kurz darauf wird diese Interpretation durch einen unschädlichen Feuerkranz bestätigt, der auf Kolumbus’ Kopf sichtbar wird – ganz wie bei Ascanius in der Aeneis.1050 Peramás’ Ausgestaltung der Lichtsichtung ist im Vergleich zu den anderen Kolumbus-Epen auffallend raumgreifend, umfasst sie doch den Abschnitt von DINO 2.128–2.246, wobei etwa 50 Verse später (in DINO 2.292–296) nochmals eine knappe christliche Ausdeutung des Lichts nachgeschoben wird. Auch ist Peramás’ Inszenierung des Lichts kein auf die Landung in Buch 2 beschränktes Phänomen, sondern wird durch das erste Buch vorbereitet. Im gesamten Epos wird die Neue Welt charakteristisch der Isotopie-Ebene ‘AbgelegenheitFinsternis-Verborgenheit’ zugeordnet.1051 Ähnlich wie im zeitlich etwa parallel entstandenden französischen Kolumbus-Epos Laureaus wird Kolumbus dabei von Anfang an als derjenige herausgestellt, der in ihre abgelegene Dunkelheit vordringen und sie erhellen will. Während in Laureaus Epos das Licht metaphorisch als ‘aufklärerische Erhellung durch die Wissenschaft’ nutzbar gemacht wird, für die Kolumbus von Beginn an steht, haben wir es bei Peramás mit dem Erhellen der Neuen Welt durch das christliche Licht der Welt zu tun. Das Licht ist als Modus der Beschreibung der spanischen Missionierungsaufgabe durchweg präsent, wird aber im Laufe der Diegese bis hin zur ersten Landung, dem Kulminationspunkt, immer stärker konturiert, wo Kolumbus in seinem Bund mit Gott (sowie als messianischer Glaubens- bzw. Lichtbringer) inszeniert wird.1052

1049 Vgl. «Ipse manu nobis uibrantem ex aethere flammam, | ecce, quatit Deus et felicia littora signat». 1050 Vgl. Col. 1.377 und Aen. 2.682–684. 1051 Vgl. «mundus repostus» (DINO 1.305), «regio latet abdita» (DINO 1.334), «Tellus reposta» (DINO 1.368, 1.520), «ignotae undae» (DINO 1.524), «invia regna» (DINO 1.593). Auch in Buch 3 – also nach der Entdeckung und der Kirchengründung auf Haiti – werden diese Attribute beibehalten: vgl. z. B. ‘terrae repostae’ (in DINO 3.306). 1052 Noch im ersten Buch war Lichtmetapher teils weniger spezifisch und vage gebraucht worden. Der göttliche Auftrag zu Beginn des Epos (vgl. «Exstimulat Deus ipse», DINO 1.9), durch den die Ideologie des Epos durch das Thematisieren des göttlichen Auftrags grundgelegt wird, spricht das ‘Erhellen’ noch recht vage in einem Nebensatz an, Kolumbus solle die Völker der römisch-katholischen Kirche anschließen (vgl. ‘Romana castra’) und die verborgenen Gebiete des Erdkreises erhellen: «Trans anni solisque vias nova quærere regna, | Romanisque procul gentes adjungere castris | Barbaricas, Orbisque sinus lustrare latentes» (DINO 1.10–12, Hervorh. hier und im Folgenden G.J.K.). Dieses ‘Erhellen’, das ideologisch hinter dem Eroberungsprojekt des Kolumbus steht, begegnet im weiteren Verlauf in ähnlichen Formulierungen. Kolumbus selbst legt dieses ‘Erhellen’ vor seinen verschiedenen Gesprächspartnern im ersten Buch unterschiedlich aus (vgl. Näheres hierzu in Kap. 3.1 zum Thema wissenschaftlicher Exkurse) und adaptiert es je nach Argumentationskontext: In seinem Gespräch mit Priester Boilades wird das relativ neutrale ‘lustrare’ spezifiziert als christliches ‘caelesti lumine lustrare’ (vgl. DINO 1.527), in seiner

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Betrachten wir nun also diesen Höhepunkt der Lichtsichtung in der Neuen Welt noch genauer. Kurz vor seiner Landung in der Neuen Welt ist Kolumbus’ Schiff in Finsternis gehüllt. Die der Entdeckung unmittelbar vorausgehende nächtliche Dunkelheit ist zwar in ausnahmslos allen Kolumbus-Epen Bestandteil des Topos der ersten Landung,1053 sie wird aber nur bei Peramás eigens ausführlich thematisiert und umschrieben als ‘größte Quelle für Trauriges’, die alle Matrosen und auch Kolumbus beunruhigt.1054 Diese negative Aufladung der sorgenbringenden Nacht klang bereits in anderen dieser Stelle vorangehenden Textpassagen des Epos an, insbesondere im bereits kurz angesprochenen Gleichnis von ‘Licht und Dunkelheit’,1055 bei dem ein Mensch «media [...] nocte» (DINO 1.273) den Mut verliert, sich panisch «sollicitis oculis» (DINO 1.275) überallhin umschaut, keine Ruhe findet, in Angst lebt – um dann tags darauf bei neuem Sonnenlicht wie ausgewechselt wieder freudig neue Projekte anzugehen und Lebensfreude zu gewinnen: «Spes vitæ cum Sole redit» (DINO 1.280).1056 Passagen wie diese, in denen die Nacht eine klar negative Konnotation erhält, lassen sich atmosphärisch unseres Erachtens eindeutig mit der für gewöhnlich in der Bibel vorgenommenen Inszenierung des Lichts in Verbindung bringen – entsprechend dem bekannten Bibelzitat bei Johannes (8,12): ‘Ich bin das Licht

Rede gegenüber den finanziell motivierten Mitarbeitern am Hofe des Königs Fernandus spricht Kolumbus von der Aufgabe «novas [...] terrarum excurrere in oras, | Occiduique sinus scrutari litoris» (DINO 1.299 f.) und wenig später in der synonymisch leicht abgewandelten Formulierung «rerum [...] arcana latentum | Rimari» (DINO 1.316 f.). Hier wird das ‘lustrare’ durch die semantisch ähnlichen Begriffe ‘scrutari’ bzw. ‘rimari’ ersetzt und so der Isotopie-Ebene ‘erforschen’ und ‘durchsuchen’ zugeordnet. Immer wird dabei jedoch der Fokus auf das Vordringen in den Bereich dieser dunklen, unerreichbaren Abgelegenheit gelegt, vgl. etwa hier (DINO 1.334–36): «regio latet abdita, cultis | Gentibus, abs oculis prohibent quas æquora nostris. | Quin agite». 1053 Auch bei denjenigen Epen, in denen das in der Neuen Welt gesichtete Licht einer Fackel fehlt, ist es dennoch atmosphärisch vor der Entdeckung der Neuen Welt Nacht, vgl. «en attendant l’Aurore» (COL 10) oder «iam nox ipsa teneret | Oceanum et terras caligine» (De nav. 1.323 f. in Gambaras De navigatione Christophori Columbi libri IV.) usw. 1054 Vgl. «rerum maestarum maxima nutrix | Nox pavidos terret nautas; nec dux minus ipse | Sollicitus» (DINO 2.137). 1055 Vgl. DINO 1.273–281. 1056 Es sei auch auf die Überlappung mit Juvenals zwölfter Satire hingewiesen, wo es nach einem Schiffbruch in derselben Junktur heißt: ‘Spes vitae cum Sole redit’ (Iuv. 12, 70; zitiert nach Decimus Iunius Iuvenalis: Saturae. Herausgegeben von Alfred E. Housman. London u. a.: Cambridge Univ. Press 1956). Das Bild des hoffnungsbringenden Tags ist in der Antike geläufig. S. z. B. Seneca, der in Ep. mor. 104, 24 in seinem gefälligen Sentenzenstil schreibt, dass Vieles, was in der Nacht dunkel-dräuend erscheint, bei Tage an Schrecken verliert: «multa per noctem habita terrori dies vertit ad risum» (vgl. auch Ep. mor. 110, 10).

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der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben’. Ohne die immense Bedeutung der ‘Lichtmetapher’ in der Bibel auch nur ansatzweise umreißen zu wollen, seien exemplarisch einige Bibelstellen des Alten wie des Neuen Testaments ins Gedächtnis gerufen: Der biblische Bericht in Gen 1,2 beginnt eben mit dem Gegensatz von Dunkelheit und Licht, zumal nach der Erschaffung der Neuen Welt die Erde wüst und leer und in Finsternis gehüllt ist, bevor Gott das positiv konnotierte Licht ebendorthin bringt. Gottes Licht sei Dank, müssen diejenigen, die an ihn glauben, nicht in Dunkelheit leben1057 und werden zu ‘Kindern des Lichts’, als welche Paulus die Christen (in Eph 5,8) bezeichnet.1058 Die Nacht steht in der Bibel fürderhand für Momente göttlicher Bestrafung, wenn z. B. der ägyptische Pharao just «in noctis medio» (Ex 12,29) von der finalen Plage heimgesucht wird, und dort alle Erstgeborenen den Tod finden. Sie steht für Momente des Zweifelns1059 und fehlender Treue. So wird Jesus eben «in hac nocte antequam gallus cantet» (Mt 26,34) dreimal von Petrus verleugnet. Eine Positivierung erhält das Licht außerdem im eschatologischen Kontext, da Gott dereinst das Neue Reich dauerhaft vor Dunkelheit schützen werde.1060 Andererseits macht aber eben nach Gen 1,3–5 erst die Scheidung von Tag und Nacht (und damit die Koexistenz von Tag und Nacht) die Schöpfung vollkommen. Die Wechselwirkungen von Dunkelheit und Licht sind daher im Epos des Peramás auch bei der ‘Weltwerdung’ der Neuen Welt durch Kolumbus’ Entdeckung involviert. So ist es letztlich die Präsenz der dunkeldräuenden Nacht, wie sie Peramás der ersten Landungsbeschreibung voranstellt, durch die der Fackelschein überhaupt seine Leit- und Markierungsfunktion erhalten, zum Symbol der Hoffnung werden und Kolumbus zu seinem Zielpunkt führen kann – wie der biblische Stern in Bethlehem.1061

1057 Vgl. «ego lux in mundum veni ut omnis qui credit in me in tenebris non maneat» (Joh 12,46). 1058 Der Glaube an Gott schafft den Christen Abhilfe, wenn es um ihre genuine Furcht vor der Finsternis geht (vgl. Jes 26,9 oder Ps 91, wo geschrieben steht, man brauche sich vor dem Schrecken der Nacht nicht zu fürchten). Man denke ferner an den leidgeplagten Hiob, der temporär seine Hoffnung völlig verliert und der sich in seiner Klagerede daher die Annullation des Schöpfungsakts und des Lichts wünscht (vgl. seinen Wunsch, nicht geboren worden zu sein, um so dauerhaft ein Teil der in Dunkelheit gehüllten «terra[...] miseriae et tenebrarum» zu sein, «ubi umbra mortis et nullus ordo et sempiternis horror inhabitans», Hiob 37,22). 1059 In Ps 77 etwa wird der fehlende Glaube an Gott mit fehlgeleiteten Reflexionen bei Nacht in Verbindung gebracht. 1060 Vgl. u. a. Offb 22,5: «et nox ultra non erit et non egebunt lumine lucernae neque lumine solis quoniam Dominus Deus inluminat illos et regnabunt in saecula saeculorum». 1061 So sind es eben gerade Situationen der Finsternis und Not, die Gottes Wirken sichtbar machen und eine Rückkehr ins Licht überhaupt erst möglich machen (man denke an Christi

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Bei seiner Rede vor den unzufriedenen Soldaten kommt Kolumbus auf den (auch zuvor im Epos bereits stark präsenten) Umstand der Abgelegenheit der Neuen Welt zu sprechen1062 und verbindet ihn sogleich mit der negativ konnotierten (Zustände der Angst gebierenden) Nacht.1063 Diese Kombination ruft sogar beim als ‘sollicitus’ bezeichneten Haupthelden Panik hervor.1064 Durch den Besuch von einem in Lichtschein gehüllten1065 Engel, der über Kolumbus’ Seelenheil und die problemlose Überfahrt wacht,1066 und durch dessen Ankündigung, das vierte vom Himmel entsandte Tageslicht1067 werde die Entdeckung bringen, gewinnt Kolumbus seine Hoffnung zurück und wiederholt für seine Matrosen «lætus» (DINO 2.151) die Worte des Engels in ähnlicher Formulierung.1068 Da auch die dritte Nacht

Auferstehung). Führt man diese Analogien weiter, lässt sich die Nacht auch als Teil Gottes und seiner Abgeschiedenheit verstehen, vgl. 1 Kön 8,12, wo es heißt, Gott habe die Sonne an den Himmel gestellt, wolle selbst aber im Dunklen wohnen. Diese Positivierung der Nacht finden wir denn auch in Peramás’ Epos bei der Beschreibung des Wohnorts der gläubigen Priester um Boilades, die in Buch 1 in völliger Abgeschiedenheit und Dunkelheit ihr gottnahes Leben führen, vgl. v. a. DINO 1.495–509. 1062 Den Ausgangspunkt für die ‘Lichtmetapher’ im Rahmen der Landungsbeschreibung liefert Kolumbus’ Argumentation, die Entdeckung der über Jahrhunderte hinweg verborgen daliegenden Neuen Welt sei doch wohl eine Entdeckungsfahrt von ‘nur’ dreißig Tagen wert, vgl. DINO 2.128 f.: «Triginta haud digna diebus | Maxima pars mundi, quæ tot latet abdita sæclis» (Hervorh. G.J.K.). 1063 Vgl. «rerum maestarum maxima nutrix | Nox» (DINO 2.137 f.). Die Meuterei der Matrosen bei Nacht bzw. deren Sorgen kommen dabei nicht aus dem Nichts: Die Furcht vor der Nacht baut sich stückweise auf und kulminiert dann im erlösenden Moment der Entdeckung bzw. des Sonnenaufgangs am Ende des Fahrtweges. Zuvor hatten die Soldaten schon en passant ihre Furcht vor der Nacht (vgl. «Phoebi [...] relinquimus ortus», DINO 2.92) und dem ‘ignotum mare’ (DINO 2.75) geäußert. Hinzu kommt ihr Festhalten am alten Weltbild (vgl. «prudens natura voluit latere [sc. mundum; G.J.K.]», DINO 2.90) und ihre wachsende Sehnsucht, wieder in die Gegenrichtung, d. h. in Richtung des Kerns der eigenen Semiosphäre, zurückzufahren (vgl. DINO 2.101 f.). Das Material, das sich zum Thema der Inszenierung der Dichotomie ‘Licht vs. Dunkelheit’ zusammenstellen ließe, ist überaus weitläufig. Das Durchwandern eines dunklen Weges vor dem Erreichen eines hellen, erlösenden Ortes findet sich bei Lesuire (wo Kolumbus zu den Atlantispriestern vordringt, vgl. Kap. 2.3.2.2.2) ebenso wie bei Carrara, wo Fernandus nach seinem Schiffbruch erst eine dunkle Höhlenlandschaft durchquert, bis er Aletias Haus erreicht, das in Helligkeit erstrahlt (vgl. 10.60–77 und insbes. 10.332–334, wo das Licht dann seine reinigende Wirkung entfaltet und Fernandus’ Blick für das ‘Wahre’ eröffnet). 1064 Vgl. «Sollicitus nunc huc animum nunc dividit illuc | Ingentumque gravi curarum fluctuat æstu» (DINO 2.139, Hervorh. G.J.K.). 1065 Vgl. «stans ante oculos, manifesto in lumine, Divum | Interpres» (DINO 2.142 f.). 1066 Vgl. «cui cura viæ, cui cura Columbi» (DINO 2.143, Hervorh. G.J.K.). 1067 Vgl. «Cœlo quarta sereno | Missa dies» (DINO 2.148 f., Hervorh. G.J.K.). 1068 Vgl. «finemque viæ, finemque laborum | Quarta feret cœlo lux» (DINO 2.153 f., Hervorh. G.J.K.).

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ohne den entferntesten Hinweis auf Festland verstreicht, wird ein zweites Mal die völlige Verborgenheit der Neuen Welt betont1069 sowie die Nacht in ihrer Finsternis negativ valorisiert.1070 Ein zweites Mal durchlebt Kolumbus eine Gefühlsschwankung (vom Weinen bei Nacht1071 hin zum Zustand der Freude nach dem Erblicken des Lichts und der Erde).1072 Dieser doppelt durchgespielte Wechsel zwischen den Polen ‘hell’ und ‘dunkel’ sowie der (sonst bei Peramás’ Held nicht zu findenden) Gefühlsschwankung von ‘sorgenvoll-traurig’ zu ‘fröhlich’ ist nur einer der Belege für die rhetorische Verdopplungsstrategie dieses Abschnitts, die auf verschiedenen Ebenen durchdekliniert wird.1073 Eine weitere Verdoppelung findet sich auf der Ebene der Gleichnisse. Hier werden – zum ersten und einzigen Mal im Epos – gleich zwei Vergleiche für ein und denselben Umstand, d. h. das Sichten des Fackelscheins, angeführt. Zuerst wird er mit Sternen oder nächtlichen Blitzen am Firmament verglichen: Prospicit è puppi | flammam, | ceu sidera sæpe Noctivagique volant | ignes | & fulgura cælo (DINO 2.174 f., Hervorh. G.J.K.)1074

Im Anschluss befragt Kolumbus – analog zur Ausgestaltung bei Placcius – einen Nachtwächter um Bestätigung der Lichterscheinung: «flammamne vides [...] ire redire | Hac illac ? [...] Vigiles[ne] illudit visa per umbras | Fax oculos? An sponte venit [...] oræ | Lux index?» (DINO 2.177–180). Hinzu kommt ein (im klassischen Latein durchaus abgeschmacktes, da etymologisch) verdoppelndes Wortspiel von ‘videri’ und ‘videre’.1075 Wenig später wird das sich bewegende Licht der Fackel ein zweites Mal zum Komparandum und daher mit der Junktur ‘hæc fax eadem’ eingeführt:

1069 Vgl. «retro cedens pars ultima mundi, | [...] latitat sub æquore magno» (DINO 2.170 f.), das die beiden kurz zuvor gefallenen Wendungen «quæ tot latet abdita sæclis» (DINO 2.129) und «latet abdita tellus» (DINO 2.147) aufgreift und so diesen im Epos ohnehin stets präsenten Aspekt unmittelbar vor der Landung nochmals überrepräsentiert. 1070 Vgl. «Ruit Oceano nox | [...] nigrisque volans tegit æthera pennis» (DINO 2.162 f.). 1071 Vgl. «lacrimans» (DINO 2.166). 1072 Vgl. «Felix» (DINO 2.211). 1073 Die Unterstreichungen in den vorangegangenen und den folgenden zitierten Passagen sollen belegen, dass diese Rhetorik der Verdopplung auch auf sprachlich-stilistischer Ebene zum Ausdruck kommt. 1074 Auch metrisch sind die beiden Verse auffällig: Die Vokabel für das Licht auf der Bildbzw. Sachebene (‘flamma’ bzw. ‘ignis’) wird als Spondeus zwischen die Pent- und die Hephthemimeres gesetzt und so inmitten zweier verzögernder Verspausen in der Mitte des Verses extraponiert. 1075 Vgl. «Equidem [...] Surgentesque videre domos, hominumque labores [...] videor» (DINO 2.181–183).

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Hæc inter splendens iterumque iterumque videri Fax eadem, sensimque locis decedere primis, Abscondique: velut vicinis ædibus ædi Vicinæ torrem cum fert in lumina mater Noctem [...] (DINO 2.190–194, Hervorh. G.J.K.)

Im Rahmen dieses Gleichnisses wird der Fackelschein mit der Lichtquelle einer des Nachts webenden Frau (der Alten Welt) verglichen, die bis in die frühen Morgenstunden an ihrer Arbeit sitzt, das Zimmer wechselt und dorthin ihre Fackel mitnimmt. Auffällig ist die verdoppelnde Konstruktion in DINO 2.192 f., wo direkt an den ablativus absolutus ‘vicinis ædibus’ (‘wenn zwei Räume in Nachbarschaft nebeneinanderstehen’) erneut ‘ædi vicinæ’ als Dativ angeschlossen wird – also syntaktisch als Zielort, in den die Frau ihre Fackel trägt. Das Licht wird im Rahmen des Gleichnisses eindeutig mit menschlichem Leben assoziiert und so zum Zeichen für das sich nähernde ‘Festland’. Dabei werden exakt die Begrifflichkeiten aus dem ersten Gleichnis (s. den Fettdruck oben) wiederholt, vgl. DINO 2.196–200: «humanos splendet in usus | Lux [...] hæc, signatque virum vestigia flamma, | [...] venit obvia nobis | Ipsa sui tellus index, monstratque viam fax». Analog zu Fernandos Historia, wo das gesichtete Licht zuerst mit Menschen in Verbindung gebracht wird, dann erst mit Gottes Wirken gleichgesetzt wird, haben wir es auch bei Peramás’ zweitem Gleichnis wiederum mit dem ersten Teil einer zweiteiligen Ausdeutung zu tun. So bereitet das Gleichnis der Weberin nämlich auch sprachlich die bereits weiter oben dargebotene Passage der christlichen Ausdeutung des Lichts vor.1076 Schon hier (im ersten Teil der Deutung) fällt zwar das typisch biblische Schlagwort der ‘lux alma’ (vgl. DINO 2.215 und 2.245), doch wird es noch ganz neutral (und entsprechend der klassisch epischen Beschreibung des Sonnenaufgangs)1077 gedeutet als das ‘den Augen die nötige Helligkeit verschaffende, die Nacht durchdringende Licht der Morgendämmerung’. Es hat noch nicht die Bedeutung, die ihm Kolumbus (als entscheidender Vertreter des Bundes zu Gott) im zweiten Teil der Deutung in DINO 2.245 beimisst, wo er in ihm das ‘segnende, erquickende Licht Gottes’ sieht. Ohne den Licht-Exkurs in extenso weiterverfolgen zu wollen, sei konstatiert, dass die umfangreiche Textpassage zur Landung und Lichtsichtung unverkenn-

1076 Vgl. DINO 2.241–245. 1077 Vgl. Verg. Aen. 1.306: «ut primum lux alma data est» und DINO 2.215 f.: «Hinc lux alma colores | Reddidit amissos rebus, cœlum retexit» (Hervorh. G.J.K.). Es ist denkbar, dass sich Peramás hierbei an Stella orientiert hat. In Col. 1.365 f. findet sich ebenso eine vergilische ‘luxalma-Wendung’ zur Nachzeichnung des Sonnenaufgangs: «noctis tenebras sol candidus egit | sub terram et rebus lux reddidit alma colorem» (Hervorh. G.J.K.).

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bar einen Höhepunkt des Peramás’schen Epos bildet. Sie wird rhetorisch als solcher untermalt durch eine auf Fernandos Historia basierende Verdopplungsstrategie: Durch die doppelte Erwähnung der (bereits zuvor en passant eingeflochtenen) in Dunkelheit versteckt liegenden Neuen Welt wird die unmittelbar bevorstehende Entdeckung und das Lichtbringen als ersehnter Kulminationspunkt vorbereitet. Andererseits wird in der Passage eine doppelte Ausdeutung des Lichts als Indiz für menschliches Handeln und göttliches Wirken geliefert, wobei Letztere nur vom Helden Kolumbus als solche verstanden und formuliert wird. Genau in diesem Aspekt lässt sich die Fokusverlagerung gegenüber Stella, Carrara oder Mickl erkennen, in deren Epen die Opposition von ‘Licht vs. Dunkelheit’ zwar ebenso punktuell nutzbar gemacht wird, jedoch nicht als Zeichen des ‘Bundes’ mit Gott und als Hoffnung auf Veränderung, sondern schlicht zur Modellierung des zu bekämpfenden Feindes in seiner Zugehörigkeit zur bösen, dunklen ‘Seite’.1078

1078 Wir müssen uns hier auf einige wenige ausgewählte Aspekte beschränken. Die Untersuchung der ‘Lichtmetapher’ in Peramás’ Epos im Vergleich zu anderen Kolumbus-Epen hätte bei einem größeren Umfang dieser Arbeit durchaus auch ein separates Unterkapitel in Kap. 3 bilden können. Bei Stella wird insbes. der Kampf zwischen den teuflischen und den himmlischen Gottheiten mit der Lichtmetapher verknüpft und so prallt dann die «noctipotens legio» (Col. 2.410; vgl. «saeua cohors Erebi caecis emersa tenebris», 2.442), die der «tenebrosa sedes» (2.347) entstammt, auf Gott, der seinen Olymp «magna | luce» (1.234 f.) erstrahlen lässt. Atmosphärisch begleitet die Dunkelheit die Schar der Unterweltgottheiten (vgl. 2.411 f.) und das Licht eben die göttlichen Handlungen (vgl. 1.259: «lux optatas ostendat crastina terras»; vgl. 1. 261–263: «nitido perfusum lumine coelum | risit et obstantes penitus cessere tenebrae | pictaque non solita tremuerunt aequora luce»). Wenn im Kampf auf Götterebene z. B. die Unterwelt kurzzeitig die Oberhand gewinnt, geht dies mit mangelndem Licht und Nacht auf Erden einher (vgl. 1.193: «nox | merserat humanas letheo flumine curas»). In Mickls Plus Ultra wird die Licht-Dunkel-Metapher überhaupt nicht raumgreifend für das Ent-Schleiern der Neuen Welt nutzbar gemacht, sondern nur einmal punktuell in diesem Sinne erwähnt (vgl. 1.58 f.: «Illustrant radiisque fugant coelestibus umbras»). Bei ihm dient die Inszenierung von ‘Nacht’ ausschließlich der negativen Valorisierung der Neuen Welt, deren Semiosphärenkern von Dunkelheit gekennzeichnet ist, und die es niederzuringen gilt. Rudolf P. Schmidtmeyer: Plus Ultra, S. 104, erwähnt die Bedeutung des Lichts der Alten Welt im Kampf gegen die «Finsternis, Lähmung und Erstarrung» des Heidentums. So ist etwa die gesamte Passage 3.41–173 in Mickls Plus Ultra dem Kampf um den Raum der Neuen Welt gewidmet, der sich zwischen Proteus und dem personifizierten Frühling (‘Ver’) auf der einen Seite sowie ‘Superstitio’ samt dem personifizierten Winter (‘Hiems’) auf der anderen Seite abspielt. Exempli gratia sei auf Mickls drittes Buch und die Inszenierung der Kannibalen verwiesen, wo nach einer ausführlicheren Beschreibung der Dämmerung (vgl. 2.509) eine Passage analog der bei Nacht stattfindenden, vergilischen Episode um Euyalus und Nisus gestaltet ist; Ernestus dringt hier in der Absicht, seinen Freund Fernandus (Kolumbus’ Sohn) zu retten, ins Gebiet der Kannibalen vor, das von Dunkelheit gezeichnet ist (vgl. z. B. «Caribum, quos densior umbra | Occulit, [...] zona», 3.665 f.).

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Kehren wir nach dieser Digression zum Thema ‘Licht’ wieder zu Kolumbus’ Handlungen zurück. Kolumbus, durch das Licht als Zeichen des Bundes zu Gott ins Gelobte Land gewiesen, denkt schon im Moment der ersten Landung – im Gegensatz zum Rest seiner Leute – nur an ‘Größeres’: «Ast animo volvens jam tum majora Columbus» (DINO 2.276).1079 Er macht sich alleine1080 an das Aufstellen eines riesigen Kreuzzeichens, indem er einen riesigen Baum entastet und an dessen Stamm zwei ‘Arme’ bindet.1081 Das unterscheidet den Peramás’schen Kolumbus von demjenigen in Stellas Epos, der zwar dessen Aufstellen befiehlt, worum sich dann jedoch die übrigen Spanier kümmern.1082 Während bei Stella in Kolumbus’ erstem Gebet die Neue Welt apostrophiert wird, welche die neuen Kolonisten aufnehmen und vor Gott zurückweichen solle,1083 steht im

Die ausschließlich in der Dunkelheit agierenden Kannibalen, die mit dem Erebos in Verbindung stehen (vgl. 3.205–209 zum Vergleich der Kannibalen mit den Monstern des Erebos), finden den schlafenden Ernestus aufgrund seines im Mondlicht leuchtenden (!) Helms und zerfleischen ihn mit ihrer ‘monstrosa fames’ (vgl. 3.554–562). Ähnliches findet sich bei Carrara, der in seinem Columbus die Kannibalen als die ‘bösen Gegner’ der Einwohner Kubas inszeniert und dabei die Kannibalinnen als in dunklen ‘latebrosae silvae’ (vgl. 10.582) wohnende, lichtscheue Jägerinnen (vgl. ‘lucifugae venatrices’, 10.583) im Gefolge einer ‘schwarzen’ Diana (vgl. 10.575 f.) bezeichnet. Die Kannibalen stellen z. B. den europäischen ‘Kindern des Lichts’ eine ‘Lichtfalle’, indem sie einen Leuchtturm (vgl. 10.546) errichten, der diese anlocken soll, dabei aber eigentlich ein höhlenähnliches Gefängnis darstellt. Bei Peramás wird die Lichtmetapher im Kontext des Aufeinanderprallens von ‘Gut’ und ‘Böse’ lediglich am Ende des Epos eingesetzt (vgl. Kap. 2.3.4.2.1 zum Handeln der Unterweltgottheiten). Hier wird die Lichtmetapher schließlich auch noch auf der Ebene des Götterapparats funktionalisiert: Die Unterweltgottheiten wurden aus der Alten Welt in die Dunkelheit der Unterwelt verbannt (vgl. «sub umbras, | Pallentes umbras Erebi, noctemque profundam», DINO 3.124 f.). Dann kommt der Teufel aus dieser Dunkelheit in die Neue Welt (vgl. «carcer infernus», DINO 3.239; «nigra sedes», DINO 3.267) und bringt die Dunkelheit dorthin mit: Als er in die Neue Welt eindringt, löscht er die Erinnerung der Menschen an Gott, d. h. die Spuren des göttlichen Lichts in den Menschen, die keine ‘Kinder des Lichts’ mehr sind: «diæ sensim vestigia flammæ [...] extinxit» (DINO 3.241–244). 1079 Der Umstand, dass Kolumbus weiterdenkt als der Rest der Spanier, bildet die Ringkomposition der Handlung am ersten Ort der Neuen Welt (Lucaium). Kolumbus’ Handeln setzt nicht nur mit seinen Gedanken an die ‘majora’ ein, sondern endet auch mit dem Entschluss, die kleine Insel Lucaium zu verlassen, da seine Schiffe diesen Ort verlassen müssten, damit sie ‘Größeres miterleben’ (vgl. «visuras majora», DINO 2.330). Nach Lucaium will Kolumbus an einem späteren Zeitpunkt zurückkehren, wenn die Zeit dazu gekommen ist, vgl. DINO 2.336: «ubi tempus erit». 1080 Vgl. die 3. Pers. Sg. in den Verbformen «nectit» (DINO 2.278) und «statuit» (DINO 2.280). 1081 Vgl. ‘arbor ingens’, ‘truncus informis’ (DINO 2.277 f.). 1082 Vgl. ‘tolli iubet’ (Col. 1.419); «Ocius omnes | incumbunt operi cuneisque immania findunt» (1.421 f.). 1083 Vgl. Col. 1.396–403.

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langen Gebet des Helden bei Peramás’1084 das friedliche Erleuchten der Ureinwohner im Vordergrund. In seiner Apostrophe an Gott1085 wünscht sich Kolumbus nicht nur, die Ureinwohner mögen Gott kennenlernen1086 bzw. Gott solle den spanischen Königen den nötigen Mut zum Verbreiten des christlichen Lichts einhauchen,1087 sondern sein Gebet umfasst außerdem ein prophetisches Künden von der Niederkunft der Mutter Gottes, Maria,1088 das wiederum mit der erhofften Verehrung Gottes in der Neuen Welt endet,1089 sowie eine abschließende Bitte an Boanergus1090 mit dem attributiven Zusatz «proles Zebedæia» (DINO 2.318). Gemeint ist hier Jakob, d. h. Santiago, der spanische Nationalheilige, der als Friedensbringer die ‘rasenden Waffen des Mars’ bremsen soll.1091 Diese friedliche Missionierung ist ein zentrales Moment dieses neulateinischen Epos, das die für die Gattung des Epos typischen Kampfszenen gänzlich ausspart und diese lediglich – wie wir noch sehen werden – in Form von epischen Wettkämpfen bzw. jeweils nur unterschwellig durch kriegerisches Vokabular einflicht, um so zumindest noch ein Stück weit diese topische Vorgabe zu erfüllen. Während Stellas Kolumbus, göttlich motiviert, ohne Kriegsgrund aufmarschiert und (mit dem Priester Boylus und dem Kreuzzeichen vor der ersten Schlachtreihe) ins Landesinnere drängt,1092 sind die einzig verwendeten ‘arma’ in Peramás’ Epos die ‘arma litandi’, also die für die Opferriten nötigen Utensilien.1093 Hier liegt dann auch der große Unterschied zum biblischen Buch Josuas, das sich quasi in Gänze dem Krieg der Israeliten gegen die Kanaaniter widmet, und wo Gott an der Seite der Iraeliten kämpft.1094 Peramás ersetzt dieses Bild des Alten Testaments konsequent durch die Friedensbotschaft des Neuen Testaments.

1084 Vgl. DINO 2.282–324. 1085 Vgl. DINO 2.282–302. 1086 Vgl. den ersten Imperativ ‘fac’ (DINO 2.291), von dem die beiden folgenden Nebensätze (mit elliptischem ‘ut’) abhängen: «præsentem barbara norit | Te regio» und «immensum tuum [...] Numen adoret». 1087 Vgl. DINO 2.294–296 und 2.300–303. 1088 Vgl. DINO 2.304–317. 1089 Vgl. «Numen in vota precatur» (DINO 2.317). 1090 Vgl. DINO 2.318–324. 1091 Vgl. DINO 2.322–324: «vinclis [...] furentia Martis | Arma premens per regna sali, terrasque iacentes | Agmen Iberiacum duc ipse, præique sequenti». 1092 Vgl. das fulminante Ende des ersten Buchs «‹Hoc Duce uincendum, o comites, hoc fidite signo›» (Col. 1.602). 1093 Vgl. DINO 3.93 f. und die ‘longæque viæ arma’ in 1.412, die für die lange Überfahrt notwendige Schiffsausstattung. 1094 Vgl. etwa Jos 10,42: «enim Deus Israhel pugnabat pro eo».

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Blicken wir auf die Handlungen der Matrosen:1095 Schon die Beschreibung der Landung der spanischen Schiffe in Lucaium selbst hatte an Vergils Aeneis erinnert,1096 noch eindeutiger ist das vergilgetreue Bild der ersten Landung auf Haiti, dem Haupthandlungsort des Epos.1097 Die Handlungen der Matrosen sind analog zum ersten Buch der Aeneis und der Landung der Trojaner in Karthago gestaltet,1098 wo sich die Trojaner mitsamt Aeneas zuerst um das Stillen ihres

1095 An dieser Stelle ist von ‘Matrosen’ zu sprechen (die sich um das Technische der Fahrt kümmern) und nicht von ‘Mitfahrenden’ (zu denen auch die Priester zählen). Kurz vor der Einschiffung werden beide Gruppen erwähnt: die zwölfköpfige Priesterschar (vgl. DINO 1.556), die Kolumbus bei seinem Projekt unterstützt und die die gottesdienstlichen Utensilien vorbereiten (vgl. «pii rites», DINO 1.561; «pia munera, pia classis», DINO 1.566); dann die Matrosen, die in einer katalogartigen Auffächerung aufgezählt werden und das große «nautarum agmen» (DINO 1.645) bilden. Es hat in der Mitte des ersten Buchs den Anschein, beide Gruppen würden ineinander übergehen, da auch die Matrosen das Adjektiv ‘pius’ erhalten, als sie ihre «pia pectora» (DINO 1.607) öffnen sollen, um Christus in sich aufzunehmen. Andererseits werden die meist als ‘sacerdotes’ bezeichneten Priester im Gleichnis der Apostel der Alten Welt als ‘socii’ bezeichnet (DINO 1.556), während ansonsten der Begriff ‘socii’ (im Anklang an die ‘societas Jesu’) für die Matrosen gewählt wird. Farblos bleibt die Darstellung des breiten Volks, der ‘cives’, die den Abfahrenden nachjubeln. Bei Laureau wurden diese in ihrer Funktion als Motivatoren herausgestellt: Neben den aktiv mitfahrenden Spaniern gibt es die Masse der Spanier, welche die Seefahrer durch Umarmungen, Weinen und gute Wünsche unterstützt und deren Erwartungshaltung betont wird. Sie sind begeistert von der ‘gloire’, den Gefahren und spannenden Geschichten der Abenteuerer, vgl. AD 63 f. 1096 Vgl. «Ancora [...] jacitur, [...] stant unco puppes [...] morsu» (DINO 2.273) vs. «unco [...] alligat ancora morsu» (Aen. 1.169). 1097 Zur dritten Landungs-Episode in Peramás’ Epos, die ebenso intertextuell auf Vergils Aeneis und die Landung in Karthago rekurriert, vgl. Maya Feile Tomes (Neo-Latin America, S. 93). Feile Tomes behandelt die Landungsbeschreibung auf Haiti im Kontext einer von ihr erkannten, breit angelegten rhetorischen Strategie des Peramás, im Kontext eines «distancing effect of remoteness» (ebda., S. 101). Nicht nur die Bewohner Amerikas, sondern auch die Eroberer selbst fallen bei ihrer Entdeckung in «an earlier evolutionary stage» (S. 104) zurück, wenn z. B. Arana durch die «ur-activity of using flint to kindle fire» (S. 103) den ersten Beitrag zum «founding of culture» (S. 108) in ‘Amerika’ leistet. Auf S. 94–97 beschreibt Feile Tomes, wie Peramás’ in DINO 2.250–263 neben den Bezügen auf Vergil zudem intertextuell auf die Kulturentstehungsgeschichte aus Lukrezens 5. Buch der De rerum natura rekurriert. Vergils Aeneis und Lukrezens De rerum natura liefern intertextuelle Handlungsfenster, die in Peramás’ Epos hineingespiegelt werden. Hier setzt nun unsere Argumentation an: Kolumbus ist die einzige Person, die sich an diesem Ort des ‘kulturellen Nullpunkts’ vom Rest der Menschen insofern abhebt, als er mit Gottes Unterstützung «the advent of the Jesuit missionaries» (S. 105) in Gang setzt. So befreit er «the Guaraní from th[eir] highly questionable state» (S. 109) und initiiert quasi seinerseits eine Lukrez’sche Kulturentstehungsgeschichte in der Neuen Welt. 1098 Die Referenz auf die Aeneis hat bereits Feile Tomes in einer Nebenbemerkung erkannt, jedoch die Parallelstellen nicht völlig stimmig zitiert, noch Näheres dazu ausgeführt, vgl.

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Hungers kümmern.1099 Die Aufgaben bei der Durchführung des Mahls werden bei beiden Autoren zweigeteilt. Bei Vergil kümmert sich der Hauptteil der Trojaner vor Ort an der Küste um die Festmahlsvorbereitung und die Bereitstellung des Brotes; Achates ist zuständig für das Entzünden des Feuers durch einen Funken und das Nähren des Feuers durch trockenes Material.1100 Die anderen Trojaner backen aus dem noch zu rettenden Getreide Brot,1101 wozu sie entlang der Küste Kupferkessel aufstellen.1102 Dieselben Handlungselemente werden von Peramás mit klaren sprachlichen Übernahmen auf die spanischen Matrosen übertragen: Arana kümmert sich ums Feuer,1103 der Hauptteil bereitet Brot zu1104 und stellt entlang der Küste Kessel auf.1105 Der zweite Teil der Trojaner widmet sich unter der Führung des Aeneas1106 der Jagd auf weidende Hirsche.1107 Bei Peramás gehen die spanischen Matrosen ebenso der Jagd nach, scheuchen Hirsche auf, erlegen dann aber dreimal sechs Tapire.1108 Das Schlachten und Zubereiten der erlegten Tiere wird größtenteils wortwörtlich übernommen: Accingunt se se prædæ, sætosaque ferro Tergora diripiunt, & hiantia viscera nudant. Pars in frusta secat, sectos pars lenibus artus Mollit aquis [...] (DINO .–, Hervorh. G.J.K.)

illi se praedae accingunt dapibusque futuris Tergora diripiunt costis et viscera nudant; pars in frusta secant veribusque trementia figunt (Verg. Aen. .–, Hervorh. G.J.K.)

Während Aeneas jedoch nach der Landung in Karthago mitjagt, tut Kolumbus dies nach der Landung in der Neuen Welt gerade nicht. Peramás’ Kolumbus trägt viel-

«II.441–74: the whole sequence is reminiscent of the landing at Carthage at Aen. I.157–94, 305–9» (Maya Feile Tomes: News of a Hitherto Unknown Neo-Latin Columbus Epic, Part II, S. 249). 1099 Vgl. die Feststellung des gestillten Hungers in Aen. 1.216 f.: «exempta fames epulis mensaeque remotae». 1100 Vgl. «silici scintillam excudit Achates | succepitque ignem foliis atque arida circum | nutrimenta dedit» (Aen. 1.174–176). 1101 Vgl. «Cererem corruptam undis Cerealia arma | expediunt [...] | et torrere parant flammis» (Aen. 1.177–179). 1102 Vgl. «litore aëna locant» (Aen. 1.213). 1103 Vgl. «Attritu silicis | [...] | scintillam excudit Arana, | Arentesque comas nemorum [...] | Nutrimenta dedit» (DINO 2.403–406). 1104 Vgl. «Dura dein Cereris bis coctæ liba [...] | Expediunt» (DINO 2.408–410). 1105 Vgl. «locant per litus ahena» (DINO 2.410). 1106 Vgl. «Aeneas [...] interea» (Aen. 1.180, Hervorh. hier und im Folgenden G.J.K.). 1107 Vgl. «per valles pascitur agmen» (Aen. 1.186). 1108 Vgl.«Interea pascens alii sub vallibus agmen, | [...] exagitant» (DINO 2.411).

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mehr nur einen einzigen wirklich ‘vergilischen’ Zug: das heldenhafte ‘Weiter- bzw. Andersdenken’. Aeneas nämlich wird des Nachts von seinen Gedanken gequält und reflektiert dort mehr als der Rest der Trojaner – vgl. Aen. 1.305: «At pius Aeneas per noctem plurima volvens» – wonach er den Entschluss fasst, man müsse die Gegend weiter erkunden.1109 Analog zu dieser Vergilstelle gibt Kolumbus seinen Leuten einen Erkundungsauftrag.1110 Durch die eindeutige intertextuelle Referenz erklärt sich auch das weiter vorne erwähnte Adverb ‘iam tum’, als Kolumbus auf Lucaium gelandet war: «Ast animo volvens jam tum majora Columbus» (DINO 2.276). Das besondere Alleinstellungsmerkmal, das sich bei Vergils Aeneas an dieser Stelle nur andeutet, wird bei Peramás durch die (nun noch näher zu erhellende) biblische Motivik stärker untermalt.1111 Die ‘Arche Kolumbus’ Bei der Beschreibung der Handlungen des Gros der Spanier kommt es eben nicht zu einem Überlagern mit biblischen Querverweisen oder Anspielungen. Die Spanier verspeisen – genau wie seinerzeit die Trojaner – bei ihrem ersten Mahl nach der Landung zwar Brot und Wein,1112 beide Nahrungsmittel werden aber ohne singuläre Bedeutung und lediglich im ‘profanen’ Kontext des Hungerstillens erwähnt. Für Kolumbus dagegen (der nicht in diesen vergilischen Akt des bloßen Nahrungsstillens involviert ist) haben Wein und Brot eine tiefere Aufladung. An etlichen Stellen im Epos wird hierauf Wert gelegt.1113 Insbesondere Kolumbus’

1109 Vgl. «explorare novos [...] oras, | qui teneant [...] hominesne feraene, | quaerere constituit sociisque exacta referre» (Aen. 1.307–309). 1110 Vgl. «Explorare [...] | Qui teneant reges, atque ad se exacta referre» (DINO 2.444 f.). 1111 Auch der stark auf Vergil basierende und christlich motivierte Stella gesteht seinem Kolumbus Züge des ‘weiterdenkenden’ Aeneas zu – jedoch nur als ganz punktuelles Element (wie in der Aeneis). Während die Trojaner auf der ersten Insel entspannt essen (vgl. Col. 1.440 f.), will Kolumbus weitere Inseln besuchen, vgl. «haec illum cura una dies noctesque fatigat» (1.448). Dasselbe Element findet sich erneut, wenig ausgestaltet, im zweiten Buch, vgl. die speisenden Spanier in 2.270–278 und Kolumbus in 2.279 f., sowie ein letztes Mal in 2.389, als Kolumbus von Quiqueia aus weiterfährt und erklärt: «‹Ulterius me fata uocant; properare necesse est›». 1112 Vgl. zur Erwähnung des Weins die ‘vina’ in Aen. 1.195 bzw. den ‘vetus Bacchus’ in Aen. 1.215 sowie den ‘Hispanum merum’ in DINO 2.408 f. 1113 Bei der Beschreibung der Fruchtbarkeit der ‘île fortunée’ Gomera wird vom epischen Erzähler auf Bacchus und Ceres verwiesen (vgl. DINO 1.672 f.); bei der Einlagerung diverser Dinge im Innern der Schiffe erklärt Kolumbus seinen Spaniern, wie wichtig es sei, «cereris fruges» und «vini [...] liquores» (DINO 1.461) zu verstauen, da es diese in der Neuen Welt nicht gebe; wenig später wird das Verstauen von Weinreblingen und Getreide nochmals beschrieben (vgl. DINO 1.474–489.) kurz vor seiner Rückfahrt nach Spanien legt Kolumbus schließlich den in der Neuen Welt Verweilenden die Bedeutung des Acker- und Weinbaus ans Herz (vgl. DINO 3.674–684).

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Einlagern von Wein und Getreide in die Schiffe vor dem Abreisen gen Neue Welt ist Teil eines größer angelegten Komplexes aus biblischen Anspielungen, der in den ersten beiden Büchern des Epos präsent gehalten wird, und über deren Buchgrenze hinweg einen roten Faden darstellt. Durch die Entlehnung atmosphärischer Elemente der biblischen Arche Noah wird die Ereignisregion des Epos so als biblischer Handlungsraum gekennzeichnet – ohne dass aufgrund ihres Bekanntheitsgrads ein dezidiertes Verweisen auf die Bibelstelle nötig ist. So werden Kolumbus’ Schiffe im Rahmen der Entdeckung der Neuen Welt mit Blick auf die intertextuell präsente Arche Noah selbst zu einer ‘Arche Kolumbus’ erhöht. Anders als bei anderen Kolumbus-Epen, etwa bei Laureau und Lesuire, wo Kolumbus’ Erkundungen an anderen europäischen Königshöfen ausführlich Behandlung finden, sehen wir bei Peramás eine ganz spezielle ‘Vorbereitung’ auf die andersgeartete Semiosphäre der Neuen Welt. Die Textpassage DINO 1.376–642 ist dem ‘Vorbereiten und Füllen der Schiffe’ gewidmet.1114 Kolumbus bereitet sich hier auf die Abfahrt in Richtung Neuen Welt vor und rüstet sein Schiff auf zweierlei Art: einmal ‘äußerlich’,1115 indem er sein Schiff mit Bildern der historischen Siege über Granada schmückt und so des früheren (positiv verlaufenen) Zusammenpralls der europäischen Semiosphäre mit anderen, unchristlichen Semiosphären gedenkt. Dann aber auch innerlich,1116 indem Kolumbus seine Schiffe (d. h. den Ausläufer der europäischen Semiosphäre) mit den wichtigsten Dingen anfüllt, die den normierenden, christlichen Kern der Alten Welt ausmachen.1117 Unter Peramás’ Vorläufern lässt einzig Gambara in seinen De navigatione Christophori Columbi libri IV ein näher ausgestaltetes Befüllen der Schiffe erken-

1114 Vgl. die Appendix. 1115 Vgl. DINO 1.384: «Forma foris» und die Appendix zu: DINO 1.376–425: ‘Äußeres Schiffsequipment’. 1116 Vgl. DINO 1.442: «penetralia alta» und die Appendix zu: DINO 1.426–489: ‘Inneres Schiffsequipment’. 1117 Die Voraussetzung für das eigenwillige Befüllen der Schiffe ist Kolumbus’ Überzeugung von der Andersartigkeit der Neuen Welt. Das Eigene soll dorthin gebracht werden, da dort nur Unbekanntes sei, vgl. u. a. «alius axis» (DINO 1.429); «aliæ vires» (DINO 1.430); «diversum genus volucrum, diversa ferarum | Corpora» (DINO 1.431 f.); «insueti fœti» (DINO 1.432); «Orbis in alterius vectandum congerit oras» (DINO 1.435). Wenngleich Kolumbus in einem Gleichnis mit einem Händler im Ausland verglichen wird (vgl. DINO 1.436–441), der den Ausländern Waren bringt und sich auch selbst durch Tauschgeschäft bereichern kann, legt Kolumbus keinen Wert auf zeitgenössisch bedeutsame kulturelle Errungenschaften (wie etwa Spiegel oder Kompass, die beide im intersemiosphärischen Kontakt bei Madame Du Boccage eine entscheidende Rolle spielen; vgl. Kap. 3.2.2). Vielmehr handelt es sich schlicht um Lebewesen der Flora und Fauna der europäischen Semiosphäre. Die ‘Arche Kolumbus’ symbolisiert das Mitführen der gesamten Semiosphäre der Alten Welt in kondensierter Form, um damit die neue Semiosphäre umzupolen.

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nen.1118 Bei ihm wird dieser Aspekt jedoch – funktional gesehen – am ehesten als Moment der ‘Variatio’ eingeflochten; das Befüllen findet sich außerdem ohne tiefere Aufladung auch erst im Rahmen der zweiten Reise. Einmalig wird querbeet alles erwähnt, was auf den Schiffen und in deren Bäuchen Platz findet: ‘varii artifices’, ‘armenta‘, ‘omnigenus grex’, ‘semina herbarum’ usw.1119 Die ‘selecta farra’ werden dabei als ein solcher ‘Gegenstand’ genannt, ohne Verbindung zum (für das Abendmahl bedeutenden) Wein. Anders ist die Inszenierung bei Peramás. Während bei Gambara schlicht verschiedene Spezies eingeladen werden, geschieht dies in Peramás’ Epos in Zweierpärchen: Analog zu Noah in Gen 7,8 f., der ‘von allem, was sich auf der Erde bewegt’ zwei Exemplare mit auf seine Arche nimmt,1120 liest man über Peramás’ Kolumbus: «Omne [...] bis genus addit» (DINO 1.451). In ähnlicher Wendung ist die Rede ‘von allem, was der Acker spanischen Landes mit fruchtbarer Erde ertragreich hervorbringt’.1121 Hinzu kommen gewisse Details, wie biblisch wirkende sprachliche Strukturen.1122 Für die Landungsbeschreibung im zweiten Buch1123 ist das Freilassen der Tiere und damit das Ausladen der ‘Arche Kolumbus’ entscheidend,1124 das nach dem biblischen Leitsatz ‘Seid fruchtbar und mehret euch’ erfolgt.1125 Dabei wer-

1118 Das Anreichern der Neuen Welt durch Fauna aus der Alten Welt findet ansonsten nur en passant Erwähnung. Bei Bourgeois etwa in einer gelehrten Fußnote, vgl. CCAD II.175, chant XXII: «Colomb, voyant que l’Isle manquoit de bestiaux, en apporta dans tous les voyages qu’il y fit. [...] Toutes les espexes multiplierent bientôt au point que l’Isle en seroit surchargée, si les Français ne s’y fussent établis». 1119 Vgl. 1.735–740. 1120 Vgl. «ex omni quod movetur super terram [...] duo et duo». 1121 Vgl. DINO 1.433 f.: «quidquid fert ubere gleba | Hispanae telluris ager». 1122 Etwa das ‘ergo’ beim ‘Ein-’ sowie ‘Ausladen’ der ‘Arche’ in DINO 1.442 und 2.487; Vgl. dazu exempli gratia Gen 7,5: «fecit ergo Noah omnia quae mandaverat ei Dominus». Zu nennen ist aber z. B. auch der Umstand, dass als erstes die ‘rami oleae’ eingelagert werden (vgl. DINO 1.443), was durchaus eine Anspielung auf den ‘ramus olivae’ in Gen 8,11 sein kann, den die Taube nach der Sintflut zu Noah trägt, um ihm das Erreichen des Festlandes zu signalisieren. Der Ölzweig freilich steht auch wieder für das friedliche Annähern an die Neue Welt. 1123 Die erste Landung(sbeschreibung) auf Lucaium wird nur kurz gehalten und ist gedacht als Abschluss der ersten Werkhälfte der Überfahrt (bis zum Binnenproömium in DINO 2.344–355). In der zweiten Hälfte kommt es dann zur Landung(sbeschreibung) auf Haiti, die ausführlicher gestaltet ist, und wo das erste wirkliche Auskundschaften sowie die entscheidende erste Eucharistie stattfindet. 1124 Vgl. DINO 2.475–497. 1125 Vgl. v. a. DINO 2.479 («Egreditur [...] cavi de carceris alvo») mit Gottes Aufforderung in Gen 8,16 («egredere ex arca tu») mit dem Auftrag des ‘Seid fruchtbar und mehret euch’ («ingredimini super terram crescite et multiplicamini super eam», Gen 8,17) bzw. der gleich darauffolgenden Handlung Noahs («egressus est ergo Noe», Gen 8,18).

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den teilweise1126 andere Tiere ausgeladen als in DINO 1.451–455 eingeladen wurden, bzw. es wird einigen Rassen eine sexuelle Konnotation zugesprochen, die sich am ehesten im Sinne der gottgewollten Besiedlung der Neuen Welt deuten lässt.1127 Aus den eingeladenen «taur[i]» (DINO 1.452), die durch den attributiven Zusatz ‘agri laboribus olim cogendos curvo bijuges sub vomere’ klar mit landwirtschaftlichen Nutztieren assoziiert wurden, sind «boves» und «vitulae» mit der Apposition «futuri | Spes generis» (DINO 2.480 f.) geworden. Obwohl ‘plattnasige Ziegen’ eingeladen wurden, finden ‘geile Ziegenböcke‘ und ‘Lämmer‘ in der Neuen Welt ihr Zuhause.1128 Bevor es – ausgehend von den genannten europäischen Tieren – zum Vermischen der Fauna der beiden Tierwelten kommt,1129 schwärmen die Tiere aus. Unverkennbar wird auf kriegerisches Vokabular zurückgegriffen: Es ist die Rede vom «Martis [...] paratum in prœlia equorum | Agmen» (DINO 2.481 f.)1130 sowie vom «agmen | [...] Alituum» (DINO 1.456 f.). Das Einnehmen der neuen Landschaft nimmt durchaus aggressive Züge an, zumal die Tiere sich daranmachen, ‘agros invadere’ (vgl. DINO 2.487), ‘avido dente herbas terere’ (vgl. DINO 2.488), ‘arbuta decutere’ (vgl. DINO 2.488 f.), ‘salices vellere’ (vgl. DINO 2.489) – und von einem ‘longus tumultus’ (vgl. DINO 2.491) die Rede ist. Während Peramás im Rah-

1126 Manche Spezies werden schlicht eins zu eins übernommen, z. B. die ‘wolltragenden Schafe’ (vgl. die ‘lanigeri greges ovium’ in DINO 2.486 und 1.455). 1127 Die auf die Kolumbushandlung projizierte biblische Szene der ‘Arche’ wird schließlich auch im dritten Buch des Epos präsent gehalten. So wird z. B. das Ausladen nochmals als Gleichnis eingespielt, als kurz die Ureinwohner (Haitis) in den Fokus rücken. Ihre Reaktion auf den Invasor der Alten Welt wird hier verglichen mit der Reaktion der einheimischen Vögel auf einen fremden Artgenossen (vgl. DINO 3.613–618); beide Male nähern sich die Einheimischen nach anfänglicher Furcht dem Neuling an – wobei auch der sexuelle Aspekt mitanklingt (vgl. ‘nidus’): «posito timore | Cunctantem [sc. hospitem avem; G.J.K.] stimulant [sc. volucres; G.J.K.] patriis succedere nidis» (DINO 3.617 f.). Wenig später greift Kolumbus selbst das Ausladen der ‘Arche’ thematisch auf, indem er in seiner Rede seiner Freude über das von ihm geschaffene Naturschauspiel Ausdruck verleiht (vgl. DINO 3.663–673). Er misst dem Beobachten der durch die Landung seiner ‘Arche’ in Gang gesetzten Veränderungen in der Fauna hohen Wert bei (vgl. «gaudet ruris opes [...] invisere», DINO 3.667 f.). Erneut ist von den Tieren die Rede, die seinem Schiff entsteigen (vgl. «egressus magnæ penetralibus ædis», DINO 3.666) und sich der Fortpflanzung widmen (vgl. die erneut auch hier sexuell konnotierten Begrifflichkeiten: «fœtæ[...] juvencæ», DINO 3.669; «strati[...] per ubera matrum, | Spes gregis, his nuper nati sub vallibus agni», DINO 3.670 f., Hervorh. G.J.K.) sowie die von Kolumbus in die Neue Welt gebrachten Pflanzensamen (vgl. «peregrina semina campis | Credita inexpertis per se se [sc. Columbum; G.J.K.]», DINO 3.668 f.). 1128 Vgl. ‘simae capellae’ in DINO 1.455 und ‘hirci petulci’ bzw. ‘agni’ in DINO 2.485. 1129 Vgl. ‘foedera iungere’ in DINO 2.495. 1130 Bzw. in der entsprechenden Stelle aus dem ersten Buch der Zusatz «vocet si Mars in prœlia» (DINO 1.453)

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men seines apolegetischen Epos kaum auf die ungerechte Behandlung der Ureinwohner durch die spanischen Konquistadoren eingeht und auch mit Absicht kein kriegerisches Aufeinandertreffen inszeniert, spiegelt er doch in die Darstellung der Flora und Fauna die Unterlegenheit der Semiosphäre der Neuen Welt ein. So werden an anderer Stelle dann etwa auch die dort hausenden einheimischen Tapire in ihrer naiv-gutgläubigen Art dargestellt als «gen[s] nefandae fraudis, & artis | ignara [...], ac placidos solita [...] transducere Soles» (DINO 2.414 f.).1131 Die allgemein bekannte Brutalität des Umpolens der Semiosphäre der Neuen durch die Semiosphäre der Alten Welt wird bei Peramás aber über das Motiv der friedlichhoffnungsstiftenden ‘Arche Kolumbus’ vermittelt. Wie die Arche Noah transportiert eben auch die ‘Arche Kolumbus’ eine endzeitliche Botschaft, da Kolumbus – wie Noah – eine Grenzfigur zwischen zwei Welten ist1132 und dessen Arche – wie die des Noah – gedeutet werden kann als «Mutterschoß der Kirche, aus dem die in der Taufe geretteten Kinder eines neuen Geschlechts hervorgehen».1133 Kolumbus erscheint durch das Einspielen dieses biblischen Motivs – wie auch bereits beim Josua-Gleichnis – im Lichte des besonderen Bündnispartners Gottes – und als Hoffnungsträger für eine Veränderung und ein neues christliches Reich. Dabei bildet die ‘Arche Kolumbus’ nur den ‘inneren’ Aspekt der biblischen Aufladung der Flotte. Da wir in Kap. 3 noch kurz auf die Bedeutung Granadas und die in die Schiffswände geschlagenen Bilder zu sprechen kommen, sei hier nur kurz auf den Kulminationspunkt unter den äußerlich sichtbaren Insignien verwiesen. Er wird gebildet durch das vor der Abreise von Kolumbus eigenhändig an das Schiff montierte Kreuz mit dem leidenden Christus, der als «vexillum classis, & omen | Ponè sequuturis» Kolumbus’ Schiff ziert und der die Flotte schützend gen Neuen Welt führen soll.1134 Evoziert wird an dieser Stelle der symbolische Kon-

1131 Auch im dritten Buch behalten die ausgeladenen spanischen Pferde ihre kriegerische Funktion bei, vgl. «grave mox in opus ducendum Martis equorum | Impavidum genus» (DINO 3.672 f.), wobei besonders durch das ‘mox’ die ‘Black legend’ anklingt. Dennoch legt Kolumbus sofort wieder die Betonung auf einen gerechten Verteidigungskrieg im Ernstfall, vgl. DINO 3.691–694: «Mœnia [...] fortes defendite. Pacem [...] servate». 1132 Vgl. Hugo Rahner: Symbole der Kirche. Die Ekklesiologie der Väter. Salzburg: Müller 1964, S. 514: «In der Theosophie des Philon von Alexandrien ist Noe zum Ende der sündigen Welt geworden und eben darin zum Anfang einer neuen Welt, zum ‹Angelpunkt der beiden Welten›». 1133 Ebda., S. 531; vgl. S. 546. 1134 Vgl. «hic dux noster erit; nec tela, nec hostes | Hoc duce, nec ponti metuenda pericula» (DINO 1.636 f.) – und kurz darauf die Apostrophe direkt an Gott selbst: «Hæc audi, si justa precor; fac currere classem | Incolumem, dexterque laboribus annue nostris» (DINO 1.641 f.). Dabei erhält der schrecklich anzusehende, ans Schiff genagelte Passions-Christus auch aus sprachlicher Sicht besonderen Putz, wenn in rhetorischer Dihärese mit unterschiedlich langen Attributen sieben Körperteile Erwähnung finden und in Christus’ (mit der Lanze des Longinus)

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text der Kirche als Schiff.1135 Rahner hebt heraus, dass die Arche Noah und das (in Lk 5,3 angelegte) Schifflein des Petrus – die ‘navicula Petri’ – die beiden bekanntesten Bibelstellen zur Gleichsetzung von Kirche und Schiff darstellen.1136 Für Petrus, den ‘Menschenfischer’, ist Jesus «der wachsame Steuermann im Schiff des Petrus, darum ist es der heilssicheren Ankunft gewiß».1137 Mastbaum und Segelstange wurden bereits zur Zeit des Augustinus als Kreuzzeichen gedeutet; wie der Segelmast das entscheidende Element des Schiffs ausmacht, bildet Christus am Kreuz den Kern der christlichen Lehre. Eben dieses äußerliche Bild wird bei Peramás durch Jesus am Schiffsmast zusätzlich zur innerlichen ‘Arche Kolumbus’ eingespielt.1138 Die folgenden Handlungen der restlichen Spanier sind dagegen wieder bei weitem ‘profanerer’ Natur. Kolumbus lässt zur Erheiterung seiner Matrosen sowie zur Feier der wachsenden Stadt (bzw. der Kolonialisierung der Neuen Welt)1139 sportliche Wettkämpfe abhalten. Über mehrere Druckseiten hinweg ist am Ende des zweiten Buchs des Kolumbus-Epos der vergilische Intertext des fünften Buchs der Aeneis greifbar, wo ja in Erinnerung an den Todestag des Anchises Wettkämpfe durchgeführt werden. So unterschiedlich die Disziplinen in Peramás’ ‘Rewriting’ auch sein mögen, werden die von den Spaniern durchgeführten Wettkämpfe anhand eines ähnlichen dispositorischen Grundgerüsts dargestellt wie in der Aeneis. Stete Referenzen finden sich im Wettkampf-Geschehen selbst,1140 bei der Darstellung der vorangehenden einleitenden Vorbereitungen der Wettkämpfe,1141 bei der

durchbohrter Brust kulminieren, das zwei Attribute (ein Adjektiv und ein Partizip) erhält, vgl. DINO 1.631–635: «Tristi stant pallida tabo | Ora, cruentatumque caput, crinesque revulsi, | Temporaque hinc illinc spinarum horrentia sertis, | Transfixique pedes, transfixaque brachia clavis, | Et tenerum dura trajectum cuspide pectus». Auffällig ist auch die abbildende, alternierende Wortstellung in den letzten beiden Versen, die das Durchbohren der Körperteile nachahmt, vgl. DINO 1.634 f.: «transfixaque brachia clavis, | Et tenerum dura trajectum cuspide pectus» (Hervorh. jeweils G.J.K.). 1135 Vgl. DINO 1.628–642. 1136 Ebda., S. 240. 1137 Ebda., S. 488. 1138 Vgl. ebda., S. 241, S. 261 und insbes. S. 380, zur Tradition des Kreuzes als Tropaion bzw. Siegeszeichen in der Tradition des Justinus und Tertullian: «Es besteht gar kein Zweifel [...], daß der antike Christ sich an der Kreuzgestalt von Mastbaum und Antenne den gekreuzigten Erlöser vorstellte, der [...] auf den Antennen seiner Schultern die siegreiche Königsherrschaft trägt und so die Schiffahrenden das im unverletzten Segeltuch versinnbildete Heil sicherstellt». 1139 Vgl. DINO 2.501–504; 2.511–514. 1140 Z. B. entspricht DINO 2.629 f. («alternosque orbibus orbes | Impediunt») Aen. 5.584 f. 1141 Vgl. DINO 2.524: «præmia circo | in medio» und Aen. 5.109 f.: «munera [...] circo[...] locantur | in medio» oder DINO 2.528: «Prima [...] ineunt [...] prælia» und Aen. 5.114: «Prima [...] ineunt [...] certamina»

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Beschreibung der Reaktion des Publikums1142 sowie der Siegerehrung.1143 Kolumbus selbst ist in diese Wettkämpfe nur insofern involviert, als er dreimal jeweils am Ende einer Disziplin Preise verteilt,1144 was ihn in diesem Kontext farbloser macht als den vergilischen Aeneas. Dieser hatte nicht nur Preise verteilt1145 oder durch deren Inaussichtstellen die Trojaner motiviert,1146 sondern er war auch mit den Vorbereitungen der einzelnen Wettkampfarten beschäftigt, indem er mal eigenhändig Wendemarken in den Boden rammt, mal zwei Kontrahenten gleiche Kampfriemen bringt, mal einen Kämpfer vor dem ‘furor’ des Anderen beschützt.1147 Die rein ‘vergilisch’ geprägten Handlungen der Wettkämpfe erfüllen unseres Erachtens den Zweck, das topische Moment des Kriegs in das Epos einzuflechten, da es ansonsten – bei der Auseinandersetzung mit den Ureinwohnern – keine Rolle spielt.1148 Auf Krieg wird bei Peramás eben immer nur subkutan angespielt. Selbst die Erwähnung der Vertreibung der Heiden aus Granada wird nicht als aggressiver Krieg, sondern nur als ‘bellum iustum’ im Sinne eines Verteidigungskrieges eingespielt, indem die vorausgegangenen Raubzüge fremder Völker und die Belagerung Sevillas bzw. Granadas herausgehoben werden.1149

1142 Vgl. DINO 2.592: «Ingeminant laetum festiva theatra tumultum» und Aen. 5.227: «Tum vero ingeminat clamor». 1143 Vgl. DINO 2.595–97: «Illum alta [...] victorem voce Columbus | Declarat, viridisque advelans tempora lauri | Fronde» und Aen. 5.245 f.: «victorem magna praeconis voce Cloanthum | declarat viridique advelat tempora lauro». 1144 Vgl. DINO 2.594 f.; 2.683 f.; 2.773–776. 1145 Vgl. Aen. 5.282 f.; 5.530–532; in Aen. 5.348–366 wird über knapp 20 Verse hinweg beschrieben, wie Aeneas die Preise für die Sieger auswählt. 1146 Vgl. Aen. 5.292; 5.485–489. 1147 Vgl. Aen. 5.129–131; 5.424 f.; 5.461–467. 1148 Das Einspielen von Wettkämpfen passt zur Überlegenheit der Semiosphäre der Alten Welt: Schon in der Aeneis finden sportliche Wettkämpfe nur in einem Raum statt, den man beherrscht und in dem kein Krieg zu fürchten ist. 1149 Im Rahmen der Granada-Thematik klingt die ‘Légende noire’ nur an einer einzigen Stelle deutlich an, an der der epische Erzähler die beiden Jünglinge Pizarro und Cortés apostrophiert. Beide haben durch den Krieg gegen die Mauren Blut geleckt und legen ein immenses ‘gloire’Streben an den Tag. (Analog zu Verg. Georg. 4.71 spricht der epische Erzähler vom «rauci canor æris» (DINO 3.721), der die beiden Heranwachsenden prägt; vgl. DINO 3.715: «volvunt ingentia vota»). Während Kolumbus in seinem Bund mit Gott makellos erscheint, wird mit Blick auf die beiden Junghelden der Wunsch geäußert, sie mögen in ihrem (religiösen?) Eifer noch wachsen und sich eines Blutbads enthalten (vgl. DINO 3.728 und DINO 3.734 f.). Der epische Erzähler ist sich unschlüssig, ob ihre Ambitionen schlicht Zeichen jugendlichen Leichtsinns sind oder – wie bei Kolumbus – auf göttlicher Motivation beruhen, vgl. DINO 3.726 f.). Mit Blick auf die Granadathematik als typischem Topos der Kolumbusepik sei verknappend angemerkt: Bei Fracastoro und Gambara fehlt die Granadathematik in der Diegese. Bei Mickl ist sie nur für die Bildebene epischer Gleichnisse relevant. Bei Peramás wird das Granada-Motiv

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Die erste Kirche als Ort der Prophetie Die das ganze Werk durchziehende Ideologie friedlicher Missionierung kommt auch im Rahmen der drei prophetischen Parachronotopoi zum Ausdruck, die einen großen Teil des dritten Epenbuchs ausmachen. Wie bereits skizziert, gibt der Priester Boilades1150 nach der Durchführung des Abendmahls mit eigenen Worten drei prophetische Aussagen biblischer ‘vates’ kund, die Kolumbus und die Spanier zum weiteren Vordringen in die Neue Welt motivieren sollen. Dabei spielt er mit Malachia einen Propheten des Alten Testaments ein, wechselt dann zu einem prophetischen Gleichnis aus dem Munde Christi (gemäß Lukas und Matthäus im

nur als aktueller Aufhänger eingespielt, als Gott zu Beginn auf die Welt hinabblickt, wo er Ferdinand vor Granada sieht und einen glücklichen Ausgang bestimmt. Stella und Carrara stellen die Eroberung der Neuen Welt analog zur Epik Tassos in einen Kreuzzugskontext. Bei Stella wird neben den Paganen der Neuen Welt auf die Türken verwiesen, die, ebenso vom Teufel verführt, niederzuringen sind. Ferdinands Kampf gegen die Mauren in Afrika findet sich zudem als Bild auf dem Helm, den Kolumbus dem Ureinwohner Narilus überreicht. Carrara gestaltet eine historisch nicht belegbare, aber atmosphärisch passende Hintergrundgeschichte aus, bei der Granada und Kolumbus’ Fahrten geschickt in der Diegese verquickt werden (vgl. Francisca Torres Martínez/José A.Sánchez Marín: El poema epico Columbus de Ubertino Carrara, S. 41–44): Kolumbus hat sich just durch seine Vorleistungen in Granada für sein eigenes Projekt im Dienste Spaniens qualifiziert. Bei Peramás wiederum wird die Granadathematik ebenso als Initialzündung und Vorstufe für Kolumbus’ Projekt gesehen. Sie qualifiziert die Spanier so im eschatologischen Kontext für die Etablierung eines Gottesreichs und findet sich ferner in Bildform auf dem ‘äußeren Schiffsequipment‘ der ‘Arche Kolumbus‘ wieder, die so v. a. das friedliche Selbstverständnis der Spanier nach außen tragen soll (ganz im Gegensatz zum kolumbischen Gastgeschenk an Narilus). In Lesuires Epos dagegen wird Granada nirgends auch nur mit einem Wort erwähnt. Als historische, jedoch deutlich negativ gezeichnete Vorläufer des Kolumbus fungieren vielmehr die portugiesischen Entdecker. In einer Ringkomposition werden zu Epenbeginn die blutigen innereuropäische Kämpfe mit Portugal um indisches Gold thematisiert. Am Ende sehen wir Kolumbus im Zwiegespräch mit dem portugiesischen Seefahrer Albuquerque über die negativen Konsequenzen der Kolonialisierung. Permanent wird zudem auf Spaniens negative ‘Vorleistungen‘ verwiesen, z. B. die Inquisition oder die ‘innerchristliche‘ Verfolgung der Albigenser. Diesen negativen Ballast trägt Lesuires Kolumbus genauso in die Neue Welt wie Peramás’ Kolumbus das positive Wissen um die Siege gegen die Mauren. 1150 Während Kolumbus im zweiten Buch als ‘göttlicher Mittelsmann’ modelliert wird, der der ‘spanischen Semiosphäre’ vorangeht (vgl. für die erste Landbegehung DINO 2.390 f.: «Primus | Ipse subit portum sequiturque a tergore classis»), kann er im dritten Buch im Rahmen der ersten Eucharistie nicht mehr die entscheidende Persönlichkeit sein, da er kein Priester ist und das Abendmahl nicht selbst durchführen kann. Dennoch wählt er die Zuständigen für den Tempelbau aus (vgl. DINO 3.2) und ist der Erste, der nach Fertigstellung in die Kirche eilt (vgl. «pubes, lectique duces, primusque Columbus | Sacra in tecta ruunt» (DINO 3.99 f.). Als Erster bejaht er auch die friedliche Missionierung (vgl. «Annuit his Hispana cohors, primusque Columbus», DINO 3.148, Hervorh. jeweils G.J.K.).

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Neuen Testament) und schließt mit einem Chronotopos aus dem letzten Buch der Bibel, der Offenbarung des Propheten Johannes. Bevor wir uns diese drei Prophezeiungen konkret ansehen, soll der erste Tempel als Ort der Prophezeiungen des Boilades skizziert werden. Die ersten ca. 100 Verse des dritten Buchs widmen sich dem Bau sowie der Ausstattung der Kirche durch den Priester Boilades, der dort bildhafte Darstellungen aufstellen lässt.1151 Hierbei handelt es sich nicht nur um schmückendes Beiwerk, sondern durch die Statuenbeschreibung wird ein atmosphärischer wie ideologischer Rahmen für die folgende prophetische Rede vorgegeben. Nach der Darstellung der personifizierten Trias von ‘Fides’, ‘Spes’ und ‘Amor’ des Neuen Testaments1152 kommt der epische Erzähler nämlich sogleich auf Statuen prophetisch inspirierter biblischer Väter zu sprechen, die seinerzeit vom Neuen Gottesreich in Übersee gekündet haben.1153 Namentlich erwähnt werden Malachia und Jesaia, also die beiden ‘vates’, die uns bereits durch die drei dem Epos vorangestellten Bibelzitate bekannt sind. Dabei werden die Statuen insofern anthropomorphisiert, als sie mit einer für die dargestellte Persönlichkeit typischen Handlung umschrieben werden. Die Malachia-Statue sieht noch relativ neutral ‘glückliche Zeitalter sowie die Ankunft Gottes voraus’;1154 Jesaia gibt ‘geheime göttliche Orakel kund’, hatte er doch das selbst die letzten Winkel der Welt erreichende universale Friedensreich in Aussicht gestellt. Für die weiteren Statuen werden nur noch diese verrätselnden attributiven Umschreibungen angeführt, denen bibelbeflissene LeserInnen leicht die passende biblische Persönlichkeit zuordnen können:1155 Proximus huic vates, solitus dare tristia semper Carmina, jam lætus respondet, & inclyta pandit

1151 Die Autorität in Sachen Kirchenausstattung ist aber Boilades, vgl. «iussi sculpi», «posui» (DINO 3.159 f.). 1152 Vgl. DINO 3.21–28. Die Trias von Glaube, Hoffnung und (Agape-)Liebe ist zweifelsohne analog zu 1 Kor 13,13 gewählt, wobei im Lateinischen ‘amor’ statt ‘caritas’ gesetzt wird. Dass diese Statuen-Trias unmittelbar vor den prophetischen Statuen genannt wird, passt im Grunde auch zum 1. Korintherbrief des Paulus, wo diese drei als die überdauerndsten göttlichen Gaben – gerade auch gegenüber der Gabe der Prophetie – herausgestellt werden. Sie liefern die Basis des christlichen Glaubens und des Zusammenlebens der christlichen Gemeinde, ohne die auch die im Folgenden so bedeutenden prophetischen Kundgaben haltlos wären. 1153 Vgl. «patres, qui Numine quondam | Afflati, cecinere maris trans claustra futuras | Æterno sedes regi, templisque litanda | Sacra novis» (DINO 3.30–33). 1154 Vgl. «Vocat antevidens felicia sæcla, | Adventumque Dei senior Malachia, sinusque | Extremos Orbis circumspicit Isaias | Ex alto, reseratque oracla latentia Divum» (DINO 3.33–36). 1155 Anders als bei Du Boccage werden diese Rätsel bei Peramás nicht durch aufgeklärte Fußnoten erhellt. Nur ganz am Ende des dritten Buchs flicht Peramás die ein oder andere kommentierende Anm. ein (vgl. Desiree Arbo/Andrew Laird: Columbus, the Lily of Quito and the Black Legend, S. 16).

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Dona pio generi. | Tum qui rediviva sepulchro Artubus, & nervis animari viderat ossa. | Nec procul ille, cui tenebroso in carceris antro Magnorum dentes blanditi, anguesque Leonum. | Hìc etiam qui pastor oves ducebat, & agnos Ante, dein populos ingentes rexit, & urbes. (DINO 3.37–44; Trennungslinien G.J.K.)

Bei der Statue neben Jesaia handelt es sich um den auch in der Bibel gleich neben dem Buch ‘Jesaia’ stehenden – und daher in doppeltem Sinne als «proximus» (DINO 3.37) zu verstehenden – Jeremia, der sich im ersten Teil seines biblischen Buchs als Unheilsprophet par excellence zeigt (vgl. daher die ‘tristia carmina’ in DINO 3.39 f.), um dann im zweiten Teil die Heilsbotschaft für das fomme und treu gebliebene Israel zu akzentuieren. Hierauf folgt Kephas als Zeuge der Wiederauferstehung Jesu Christi und dessen lebensverändernder Wirkung (vgl. DINO 3.39 f. und 1 Kor 15). In DINO 3.41 f. schließt sich derjenige an, der ‘die Pranken und Zähne von riesigen Löwen gesehen’ hat, was auf die Geschichte von Daniel in der Löwengrube in Dan 6,17 anspielt und die Betonung darauf legt, dass Gott als Retter derjenigen auftritt, die ihn anbeten. Zuletzt wird David umschrieben, der vom Schäfer zum König aufgestiegen ist (vgl. DINO 3.43 f. und 1 Chr 17,7). Eine Rückversicherung für diese Interpretationen liefert nicht zuletzt unsere Behandlung des Libro de las Profecías des Kolumbus, in dem Jesaia, Jeremia, Daniel und David eine wichtige Rolle zukommt. Völlig unvermittelt schließt sich mit «Ante fores fulgent pulcherrima plaustra, quaternis | Raptæ feris» (DINO 3.45) eine weitere Beschreibung an, bei der es sich – wie sich in DINO 3.90–92 herausstellt – nicht um Statuen, sondern am ehesten um bildhafte (Relief-)Darstellungen im Außenbereich des Tempels handelt.1156 Der fließende Übergang von der Beschreibung von Plastiken hin zur bildhaften Darstellung liefert einen noch plastischeren, dreidimensionalen Eindruck der abgebildeten, von vier Tiergestalten gezogenen Quadriga. Wir haben es hierbei nicht mit einer einfachen Bildbeschreibung zu tun, bei der die Figuren in ihrer Statik beschrieben werden,1157 sondern sie gewinnen durch das Einspielen von biblischen Handlungselementen ein Eigenleben. Dem Flügelwagen geht ein geflügelter, mitunter schreiender Stier voran, daneben ist ein Löwe mit wallender Mähne;

1156 Die Außenseiten des Tempels werden durch die beschriebene Bild-Reihe geziert, darüber findet sich eine schattenspendende Porticus mit bemalter Decke, vgl. «Hæc latus augusti templi variabat utrumque | Magnarum series rerum: dat desuper ingens & | Porticus errantem pictis laquearibus umbram». 1157 So werden akustische Elemente eingefangen, wie das im Himmelzelt und auf Erden in Tälern widerhallende Brüllen des Stiers (DINO 3.55 f.), oder auch die Engel, die sich daran erfreuen, den Löwen immer wieder mit ihren Händen zu berühren (DINO 3.61 f.) usw.

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oben mittig auf dem Wagen sitzt Gott in Menschengestalt.1158 Dieses Szenario evoziert unverkennbar den Beginn des prophetischen Buchs Hesekiels und insbesondere seine Berufung, bei der er die Vision eines göttlichen Thronwagens hat und Gottes Botschaft in Form einer Buchrolle zu sich nehmen muss. In einer Wolke erkennt der Berufene eben vier Tiergestalten,1159 eine wird als Löwe, eine als Stier identifiziert1160 und Gott sitzt mit menschlichen Zügen darauf.1161 Mithilfe desselben Wagens und seiner ‘Engelsräder’ fährt einige Kapitel später Christus selbst in die ‘stellata sedes’ (vgl. DINO 3.74) ein bzw. der Thronwagen steht in diesem Kapitel Hesekiels «in introitu portae domus Domini» (Hes 10,19). Diese Beschreibung des Thronwagens spiegelt sich in der Formulierung «Aligera de gente rota[e] ax[is]que volan[s]» (DINO 3.73) wider, bei der Engel und Räder ineinander übergehen;1162 ferner erklärt sich so die Platzierung des Thronwagens in Peramás’ Epos ‘ante fores’. Bei der von ἐνέργεια gekennzeichneten Bildbeschreibung fordert schließlich Jesus selbst seine emsigen Engel zum Botendienst zwischen Himmel- und Erde auf,1163 wobei auf das Bild der ‘Jakobsleiter’ aus dem 1. Buch Mose rekuriert wird, welche den Engeln bei ihrer Mittleraufgabe als Hilfsmittel dient.1164 Der Tempel, in dem Boilades die erste Eucharistie durchführt und seine prophetischen Reden hält, ist nicht so sehr durch statische Figuren als vielmehr durch verschiedene biblische Episoden erfüllt und so bereits gänzlich in ein prophetisches Ambiente gebettet.1165 Ein ähnliches ‘Rewriting’ ausgewählter bi-

1158 Vgl. ‘currus ales’ (DINO 3.46); «TAURUS» (DINO 3.51); «celeres plumae» (DINO 3.52); «LEO» (DINO 3.58); «Deus ipse; sed ægra | Membra hominum auriga indutus» (DINO 3.48). 1159 Vgl. Hes 1,5: «et ex medio eorum similitudo quattuor animalium et hic aspectus eorum similitudo hominis in eis». 1160 Vgl. Hes 1,10. 1161 Vgl. Hes 1,26: «quasi aspectus hominis». 1162 Vgl. Hes 10,16: «cumque ambularent cherubin ibant pariter et rotae iuxta ea et cum levarent cherubin alas suas ut exaltarentur de terra non residebant rotae sed et ipsae iuxta erant». 1163 Vgl. «Tum vocat ad se se lætis clamoribus huc & | Huc cuncursantes genios, aulæque ministros | Æthereæ» (DINO 3.75–77). 1164 Vgl. Gen 28,12: «angelos [...] Dei ascendentes et descendentes per eam [sc. scalam; G.J.K.]». Bei Peramás ermöglicht die Leiter den Engeln, bald zur Erde hinabzugehen (vgl. «quos [sc. angelos; G.J.K.] Scala [...] | [...] nunc mittit in Orbem», DINO 3.77 f.), um die Menschen über Gottes Gebote zu belehren (vgl. 3.79 f.: «Stirpis Adamææ docturos germina summi | Jussa patris»), bald aber auch in den Himmel zurückzukehren (vgl. «nunc [...] | [...] remittit» (DINO 3.80 f.), um ihm wiederum Gebete, Bitten und Weihrauch zu überbringen. 1165 Wir maßen uns nicht an, sämtliche Details und punktuelle Anspielungen auf die ‘Endzeit’ gefunden zu haben; denn je detailverliebter man sich dem Text widmet, desto mehr Aspekte dieser Art vermag man zu entdecken. Sicher ist, dass der gesamte Text atmosphärisch mit der nahenden Apokalypse aufgeladen ist und so die Prophetien des Boilades im dritten

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blischer Szenarien bestimmt auch die im Folgenden umrissenen drei prophetischen Parachronotopoi in Boilades’ Prophetie. Die Malachia-Prophezeiung Im ersten Teil seiner prophetischen Rede zum Zwecke der Motivation der Spanier, weiter in die Neue Welt vorzudringen, stellt Boilades das kurze biblische Buch Malachia ins Zentrum.1166 Den Aufhänger dafür liefert die Statue des ‘vates Malachia’ (vgl. DINO 3.160), die Boilades «in extremo limine templi surgentis» (DINO 3.158) positioniert hatte. Ihren Platz an der Schwelle des Tempels erhält die Statue freilich deswegen, weil sich Malachia als letzter der kleinen Propheten auch in der Bibel an der Schwelle zum Neuen Testament befindet und als letzter Prophet des Alten Testaments zur Umkehr und zur neuen Hinwendung an Gott aufruft. Im ersten Kapitel dieses biblischen Buchs klagt Gott über das Volk Israel, das vom rechten Weg abgekommen ist,1167 sich u. a. durch Scheidungen und Mischehen mit Heiden schuldig gemacht hat1168 und durch das Darbringen unreiner Opfer Gottes Namen entehrt.1169 ‘Unrein’ ist die Opferhandlung dadurch, dass sich bei den Menschen die Gewohnheit eingeschlichen hat, Gott nur schlechte, kranke Tiere zu opfern, was dieser verflucht.1170 In Peramás’ Epos spielt Boilades den Zorn Gottes aus dem Buch Malachia ein und er formuliert Gottes Aufforderung, die Christen mögen sich vom bisheri-

Buch ausreichend vorbereitet werden. In DINO 1.238–41 ist z. B. die Rede von Palmzweigen, die der Engel nach seiner Vision der Königin Isabella in den Schoss wirft als Zeichen dafür, dass es sich nicht um einen eitlen, sondern einen bald in Erfüllung gehenden Traum handelt. Die Palmzweige assoziieren nicht nur eine ‘siegreiche Mission’ oder sondern lassen sich insbes. mit der Endzeit in Verbindung bringen: In Psalm 92,13 heißt es: «der Gerechte Gottes wird grünen wie ein Palmbaum», in der Johannes-Offenbarung 7,9 steht der Palmzweig als Symbol für die siegreichen Märtyrer und die Bewahrung der Gemeinde: 144.000 Gottesknechte aus allen Stämmen Israels bekommen ein Siegel auf die Stirn. Eine unzählige Menschenschar aus allen Nationen sammelt sich mit Palmzweigen in Händen (‘palmae in manibus eorum’) um den Thron Gottes, und es weidet sie das Lamm, was dem Lüften des sechsten Siegels entspricht. Damit tritt hier der prophetische Subtext klar zu Tage. 1166 Vgl. DINO 3.157–186. Obschon die Stelle Mal 1,11 nicht im Libro de las Profecías selbst erscheint, hat sie für die Jesuiten große Bedeutung und erscheint etwa in der Imago primi Saeculi Societatis Jesu (vgl. Maya Feile Tomes: Neo-Latin America, S. 111). 1167 Vgl. Mal 2,8: «vos autem recessistis de via». 1168 Vgl. passim Mal 2. 1169 Vgl. Mal 1,7: «offertis super altare meum panem pollutum». In Mal 1,12 unterstreicht Gott, die Israeliten brächten seinem Opfertisch und dem Opfer selbst nicht die nötige Achtung entgegen: «vos polluistis illud in eo quod dicitis mensa Domini contaminata est et quod superponitur contemptibile est». 1170 Vgl. Mal 1,13 f.

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gen ‘unreinen’ Opfer distanzieren.1171 Unrein ist das Opfer bei ihm nun jedoch nicht aufgrund der Opferung ‘mangelhafter’ Tiere. Gott nimmt ganz allgemein Anstoß an der Durchführung von Tieropfern und gibt seine Abscheu gegenüber den alten Opfergepflogenheiten kund, d. h. den blutigen Vogel- und Rinderopfern. Gottes Kritik in Mal 1 an dem stets qualitativ schwankenden Opfer toter Tiere wird von Boilades hier also vorausgesetzt, und er geht einen Schritt über Malachia hinaus, wenn er daran ein Lob der Opferpraxis der Eucharistie anknüpft, bei der – auf Basis der Transsubstantiation – stets ein und dasselbe, lebendig werdende Opfer dargebracht wird.1172 Bei Malachia klingt das neutestamentarische Opfer aus Brot und Wein nur insofern in einem einzigen Satz überhaupt an, als in Mal 1,11 ein ‘reines Opfer’ prophezeit wird, das auf der ganzen Welt gefeiert werden wird: «ab ortu enim solis usque ad occasum magnum est nomen meum in gentibus et in omni loco sacrificatur et offertur nomini meo oblatio munda».1173 Eben auf diese Stelle, für die das alttestamentarische Buch Malachia besonders bekannt ist und die bereits von den Kirchenvätern (insbesondere Augustinus) im Sinne der Transsubstantiation als Vorausahnung des ‘wahren’ Opfers des Neuen Testaments gedeutet wurde,1174 stützt sich Boilades bei seiner Malachia-Prophetie.1175 Der Satz aus Mal 1,11 wird weitgehend vom weiteren Kontext der Stelle abgekoppelt und ihm werden flankierend weitere, eindeutige Bibelreferenzen beigegeben. So wird gleich nach der Wiedergabe der Prophezeiung Malachias, ‘es werde eine Zeit kommen, in der Gott ein neues Opfer verlange’,1176 eine Passage aus dem

1171 Vgl. ‘vetus ira’ und ‘fulmina armatae dextræ’ in DINO 3.167 f. 1172 Daher ist die Rede von ‘spirantes dapes’, die Gott «æquis oculis ab alto» (DINO 3.166 f.) beguchtaten kann. Vgl. «Exosus volucrum [...] prisca piacla, boumque | Corpora, fumantique altaria sparsa cruore, | Intemerata sibi Numen jam pocula poscat, | Spirantesque dapes» (DINO 3.163–166). 1173 Dieses Zitat wurde von Peramás bereits unkommentiert dem Epos als Ganzem als eine von drei Bibelpassagen vorangestellt. 1174 Vgl. Johann G. Riegler: Die Eucharistie nach Schrift und Tradition, Bamberg: Schmidt 1854, S. 366–368, und insbes. Ludwig Ott: Die Kontroverspredigten des Eichstätter Weihbischofs Leonhard Haller (+1570) über das Messopfer. In: Adel-Theodor Khoury/Margot Wiegels (Hg.): Weg in die Zukunft. Festschrift für Prof. Dr. Anton Antweiler zu seinem 75. Geburtstag. Brill: Leiden 1975, S. 163: «Das von Malachias verkündete Opfer ist aber ein neues Opfer, das an die Stelle der Opfer des Alten Bundes treten soll. Die Reinheit des neuen Opfers muss im Opfer selbst begründet sein, unabhängig von der Person, die es darbringt. Niemand wird ein anderes Opfer aufweisen können [...] als das Opfer des Fleisches und Blutes Christi unter den Gestalten von Brot und Wein». 1175 Die entscheidende Quintessenz zum Propheten Malachia hat Boilades schließlich auch als Inschrift am Sockel seiner Malachia-Statue gewählt: «VATES MALACHIA REPOSTÆ | TRANS MARE TELLURI SPONDENS CONVIVIA DIVUM» (DINO 3.160 f.). 1176 Vgl. «Affore portendit tempus» (DINO 3.162).

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3. Buch Mose eingewoben, in dem das im Alten Testament gängige Motiv der Speisung der Gottheit durch Opferkuchen oder Früchteopfer benannt wird,1177 und von der sich die künftigen Christen laut Malachia zu distanzieren hätten.1178 Der spätere, etwas überraschende assoziative Übergang zum Lob des Weihrauchs1179 lässt sich durch die hebräische Urversion von Mal 1,11 erklären, die im Gegensatz zur Übersetzung der Vulgata (vgl. ‘sacrificatur’) von einem ‘Rauchopfer’ spricht,1180 weshalb auch in Boilades’ Auslegung der Malachiastelle die sinnfällige Erfahrung des Dufts der Erkenntnis Christi einen größeren Stellenwert erhält.1181 Ferner gestaltet Boilades den Satzteil «ab ortu enim solis usque ad occasum» im Sinne eines immerwährenden Opfers für Gott aus. Er argumentiert, durch den Anschluss der Neuen Welt und die erreichte geographische maximale Ausdehnung des Reichs Gottes1182 sei nun immer irgendwo auf der Erde Tag1183 und es könne immer irgendwo auf der Erde auch ein (tagsüber) durchgeführtes Eucharistie-Opfer dargebracht werden.1184 Der weitere Kontext des Buches Malachia ist zeitgenössischen LeserInnen sicherlich bekannt und wird von Peramás nicht eigens umrissen. Entscheidend ist die moralische Umkehr, die das Volk Israel mit Blick auf die Ankündigung des Jüngsten Gerichts1185 und die vorhergehende Niederkunft seines himmlischen Boten (Elia)1186 vollziehen muss. Das Große Abendmahl Nach der Prophezeiung Malachias aus dem Alten Testament wechselt Boilades zu «Divum majora oracula» (DINO 3.188) des Neuen Testaments. Dabei lässt er Gottes Sohn selbst mit einem seiner berühmten biblischen Gleichnisse zu Wort

1177 Vgl. die Schaubrote im Tempel bei Lev 3,24,5–9 und insbes. 5 f.: «duodecim panes [...] quorum senos altrinsecus super mensam purissimam coram Domino statues» (Hervorh. G.J.K.). 1178 Vgl. DINO 3.169–172 (Hervorh. G.J.K.): «Nec Mosis [...] ritu [...] | Liba Sacerdotes statuent bis sena, sacerve, | Ante fores ædis Solymaæ, messis opimæ | Dona tripus reddet». 1179 Vgl. «alma virum gens thura [...] plenis adolebit accerris» (DINO 3.175 f.). 1180 Vgl. Helmut Hoping: Mein Leib für euch gegeben. Geschichte und Theologie der Eucharistie. Freiburg: Herder 22015, S. 89. 1181 Vgl. 2 Kor 2,14. 1182 Vgl. «Immensi fines» (DINO 3.176) 1183 Vgl. DINO 3.177–186 und insbes. «longa dies» in DINO 3.185. 1184 Was der bisherigen Praxis der «dona interrupta» (DINO 3.181) ein Ende setzt, zumal stets «diæ renova[ntur] pabula mensæ» (DINO 3.186). 1185 Vgl. Mal 4,1: «ecce enim dies veniet succensa quasi caminus». 1186 Vgl. Mal 3,1: «ecce ego mittam angelum meum».

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kommen.1187 Boilades gestaltet seine eigene Version des bei Mt 22,1–14 und Lk 14,15–24 überlieferten biblischen Gleichnisses vom Großen Abendmahl aus.1188 Es handelt von einem Gastgeber, der zu einem Festmahl lädt, zu dem keiner der geladenen Gäste kommt, weshalb der Gastgeber schließlich auf der Straße scheinbar unwürdige Bedürftige zur Feier zwingt. Worauf das Gleichnis abzielt, wird bei Mt 22,2 dem eigentlichen Gleichnis bereits insofern vorausgeschickt, als dort die Gleichsetzung der Feier des Gastgebers mit der Feier Gottes im Himmelreich explizit gemacht wird.1189 Wenn Gott also sein neues Reich vollenden wird, wird es ein großes Fest geben, zu dem jeder eingeladen ist, zu dem aber (aus Selbstüberschätzung) nicht jeder erscheint. Dass Peramás gleichermaßen aus beiden Evangelisten – deren Gleichnisse und Kontextualisierungen sowie Interpretationen leicht voneinander abweichen und die im Epos selbst nirgends namentlich erwähnt werden – schöpft, wird schon daran deutlich, dass bei ihm ein ‘rex’ zu ‘lauta convivia’ einlädt.1190 So verbindet sich die Lukasstelle, bei der ein ‘homo quidam’ eine ‘magna cena’ (Lk 14,16) gibt, mit Mt 22,2, wo ein ‘rex’ zur Hochzeit seines Sohnes lädt. Blicken wir genauer auf die Machart des Gleichnisses bei Peramás, der für die Ausgestaltung aus den beiden Intertexten die für seine literarische Umsetzung geeignetsten Aspekte auswählt. Von Matthäus übernimmt Boilades den expliziten Hinweis auf den Gleichnischarakter des Folgenden;1191 an Lukas orientiert er sich jedoch genauso, indem er dem Gleichnis sogleich sogar eine subjektive Lehre voranstellt. Bei Lk 14,11 liest man die dem Gleichnis unmittelbar vorausgehende Anmerkung, diejenigen sollen von Gott erniedrigt werden, die sich selbst erhöhen – und umgekehrt.1192 Bei Peramás wird dem Gleichnis die Anmerkung ‘mutandae priores sortes hominum’ vorangestellt, d. h. Gottes schwer zu durchschauendes Vorgehen, im Himmelreich das zuvor bestimmte Los bzw. die Erwähltheit gewisser Menschen noch einmal zu ändern.

1187 Vgl. «Æterni quondam proles æterna parentis | Alta per ambages volvens arcana, priores | Mutandas hominum sortes, & fata canebat» (DINO 3.189–191). 1188 Vgl. DINO 3.189–230. 1189 Vgl. «simile factum est regnum caelorum homini regi qui fecit nuptias filio suo». 1190 Der assoziative Konnex zum ‘reinen’ Heiligen Abendmahl aus der Malachiastelle ist also durchaus gegeben. 1191 Vgl. Mt 22,1: «in parabolis [...] dicens» und DINO 3.190: «per ambages volvens». 1192 Vgl. Lk 14,11: «omnis qui se exaltat humiliabitur et qui se humiliat exaltabitur». Dem Gleichnis bei Lukas geht ferner die Lehre voraus, jeder Mensch solle bei einem Fest gezielt heidnische und bedürftige Menschen zu sich einladen – und keine Freunde, die einen selbst auch zurückeinladen. Denn die Vergeltung für die Nächstenliebe werde man im Jüngsten Tag erhalten (vgl. Lk 14,12–14).

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Die Matthäus-Stelle bietet ihm durch das königliche Hofambiente eine eingängigere Möglichkeit, die Pracht eines großen Festmahls zu inszenieren. Per analogiam kann auf diese Weise auch mehr oder minder unbemerkt ein vergilisches Versatzstück in den biblischen Parachronotopos eingewoben werden. Die Festmahlsvorbereitungen inmitten von Boilades’ biblischem Gleichnis fallen umfassender aus als bei den Evangelisten und implementieren die freudige Atmosphäre am Palast der karthagischen Königin Dido, als sie den in Karthago landenden Aeneas (in Verg. Aen. 1.695–756) zum Gastmahl einlädt: Instruxit rex lauta domi convivia: stratæ Argento circum mensæ, volucresque, feræque Auratis fumànt pateris, stant pocula vino. Quinquaginta pares annis, formaque ministri Fragrantes totis adolent penetralibus ignes, Expediuntque penu tonsis mantilia villis, Farraque, spumantesque locant ex ordine lances. Et cessant, cessant convivæ! (DINO 3.192–199, Hervorh. G.J.K.)

Beim Herausarbeiten des Prunks des Festmahls wird der klassisch epische Prätext intertextuell eingebunden,1193 wodurch kontrastiv die Enttäuschung des Gastgebers über das Ausbleiben der Gäste (vgl. die folgende ‘Exclamatio’ in DINO 3.199) noch pathetischer ausfällt. Handlungselemente aus Vergils Aeneis haben also hier in diesem biblisch-prophetischen Kontext des 3. Buchs am ehesten eine verstärkende Funktion. Im weiteren Verlauf des Gleichnisses folgt Peramás dann eindeutig Lukas, als es um die Rechtfertigungen der geladenen Gäste geht. Wie bei Lukas werden deren fadenscheinige Ausreden in direkter Rede eingespielt,1194 dabei dieselben Scheingründe in genau umgekehrter Reihenfolge aufgegriffen.1195

1193 Das erste Wort der Beschreibung des Mahls evoziert direkt das Signalwort des gedeckten Tisches aus Aen. 1.700 (‘stratus’); Vers 197 ist analog zu Aen. 1.702 – «expediunt, tonsisque ferunt mantelia villis» – gestaltet; die Beschreibung der Diener orientiert sich an Aen. 1.705 («pares aetate ministri»). Hinzu kommen punktuelle lexikalische Übernahmen, etwa die Zahl ‘50’, vgl. ‘quinquaginta’ (in Aen. 1.703), ‘penum’ (Aen. 1.704), ‘spumantem pateram’ (Aen. 1.739). 1194 Einer gibt an, er habe ein Haus gekauft und müsse es nun ansehen (vgl. Lk 14,18: «villam emi et necesse habeo exire et videre illam rogo te habe me excusatum»), ein zweiter habe neue Pflugstiere gekauft und müsse diese testen (vgl. Lk 14,19: «iuga boum emi quinque et eo probare illa rogo te habe me excusatum»), ein dritter habe sich eben erst vermählt (vgl. Lk 14,20: «uxorem duxi et ideo non possum venire»). Bei Weitem weniger lebendig werden bei Mt 22,5 schlicht zwei Gründe ohne direkte Rede genannt: «alius in villam suam alius vero ad negotiationem suam». 1195 Vgl. DINO 3.203: «Me pulchra moratur | Ducta puella domum» – «mihi pingula iugera tauris | exercenda novis» – «emptæ me prædia villæ | Urbe vocant» (DINO 3.201–204).

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Wenngleich der Gastgeber auch bei Peramás erzürnt,1196 nimmt sein Zorn bei Weitem nicht die drastischen Züge aus Mt 22,7 an, als der König die Neinsager töten und ihre Städte niederbrennen lässt,1197 sondern orientiert sich eher an Lukas’ weniger aggressiver Resignation. Nur kurz wird in Form eines pathetischen Monologs seine enttäuschte Reaktion eingefangen,1198 danach wird direkt zur Suche nach Gästen aus dem «squalens populus» (DINO 3.213) geschwenkt – wie sie sich auch in der Beschreibung der beiden Evangelisten findet. Ganz allgemein wird in Peramás’ Version konsequent auf einen harschen Ton verzichtet. Bei Mt 22,12–14 wird beispielsweise am Ende des Gleichnisses nochmals der Fokus auf die finalen Gäste gelegt, von denen einer gewaltsam aussortiert und in die Dunkelheit geschleudert wird – mit dem Verweis, alle Menschen seien geladen, nicht alle jedoch erwählt.1199 Peramás’ Zuschnitt des Gleichnisses ist eben nicht ausgerichtet auf ein wie auch immer geartetes Ausschließen von Unwürdigen, sondern es geht schlicht um die Ineins-Setzung der möglichen neuen geladenen Gäste mit dem bedürftigen Volk der Indigenen, das man durch das Christianisieren auf den rechten Weg führen will und das die Hoffnung für ein neues Gottesreich in sich trägt. Bei Peramás wird dagegen – anders als bei den beiden Evangelisten – aufs Klarste herausgestellt, in welcher Richtung man sein Gleichnis verstehen soll: Wenn es dort heißt ‘Öffnet nun (da unser Gastmahl dem hochnäsigen Geschlecht zuwider ist) das Innere des hohen Hauses für das schmutzige Volk und die niedere Masse’,1200 tritt der Neuanfang für die Christenheit, den sich Peramás durch die jesuitischen ‘Reducciones’ erhofft, klar zu Tage. Er setzt im Folgenden die Neinsager aus dem Bildbereich des biblischen Gleichnisses zuerst mit denjenigen Menschen der bisher bekannten drei Kontinente gleich, die aufgrund ihrer Laster und Schwächen (i. e. Trieb-, Hab-, Herrschsucht) Gott eine dauernde Absage erteilen: «Quot [...] Libyes, Asiæque coloni | [...] & Europæ [...] saepe vocati, | Saepe recusarint epulis accumbere Divum» (DINO 3.216–220). Dann folgt sein eigentlicher Schluss:

1196 Vgl. Mt 22,7: «rex autem [...] iratus est»; Lk 14, 21: «tunc iratus»; DINO 3.204: «tum exarsit in iras». 1197 Vgl. «missis exercitibus suis perdidit homicidas illos et civitatem illorum succendit». 1198 Vgl. «Sperni patiar mea munera» (DINO 3.206). Der König beschimpft hier seine Gäste als Angehörige des Eisernen Weltzeitalters (vgl. «stirps ferrea», DINO 3.205) und als «durum genus», also als Ahnen Deukalions und Pyrrhas (vgl. Ov. Met. 1.414). Die eindeutige, aber nur kurze Anspielung auf Ovids Metamorphosen wird wenig später dann noch eindeutiger aufgegriffen, vgl. die obigen Ausführungen. 1199 Vgl. für einen ähnlich dissonanten Schlussakkord Luk 14,24, wonach ‘keinem der geladenen Männer das Mahl schmecken werde’: «dico autem vobis quod nemo virorum illorum qui vocati sunt gustabit cenam meam». 1200 Vgl. DINO 3.211–213.

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Ergo sibi rex Omnipotens, hominumque repertor, Convivas alios alio sub sidere per te, Perque Sacerdotes, domitis quos fluctibus egit Orbis in alterius fines, accersit ad aulæ Augustæ, sprevit quam turba nefaria, sedes. Sunt hi sunt Indi, gentis miserabile vulgus Humanæ, per lustra procul silvasque vagantes. Compulit hos tandem Numen nova regna, Columbe, Ostentans intrare domus penetralia magnæ, Ambrosiæque sacræ succis, & nectare pascet. (DINO 3.221–230)

Erstmals wird hier aus dem ‘rex’ der Bildebene der ‘rex Omnipotens’ und damit auf der Sachebene Gott; die «Indi» (DINO 3.326) werden mit dem «miserabile vulgus» der Bildebene gleichgesetzt und damit zu hoffnungsvollen ‘alii convivae’ (vgl. DINO 3.222). Er, der Menschenfinder, hat durch Kolumbus und die Priester in der Neuen Welt neue Gäste für sein Fest gefunden, nachdem so manche Europäer – hier ist sicherlich der Seitenhieb auf die dem Hedonismus frönenden Franzosen zur Zeit der französischen Revolution herauszuhören1201 – ihn als ‘turba nefaria’ (vgl. DINO 3.225) verschmäht haben. Mögliche von dieser Interpretation ablenkende Aspekte des Ausgangsgleichnisses werden ausgespart. Das lässt sich z. B. daran erkennen, dass es bei Boilades nicht zu einer zweiten Suche kommt – anders als bei Lk 14,23, wo die Dichotomie von ‘geladenen Leuten, die nicht kommen’, und ‘armen Leute, die kommen’, nochmals verunklart wird, indem sich auch nach dem Abschluss der zweiten Suche noch eine zwanghaftere Akquise von (scheinbar im Vorfeld renitenten) Menschen anschließt: «exi in vias et sepes et conpelle intrare ut impleatur domus mea». Bei Peramás hingegen gibt es nur einen sofort Wirkung zeigenden Suchvorgang im breiten Volk. Und doch fällt diese kleine Änderung kaum ins Auge, zumal Peramás geschickt durch die lexikalische Übernahme von ‘compellere’ am Ende seiner Ausdeutung in DINO 3.228 f. (Hervorh. hier und oben G.J.K.) das Ende von Lukas mitaufgreift: «Compulit hos tandem Numen [...] intrare domus penetralia magnae». Die vorige Inzenierung der Ureinwohner als heimatlose Vagabunden,1202 die man in den Schoß der christlichen Kirche aufnimmt, sowie das Anfügen des Adverbs ‘tandem’ und der abgeschlossene Aspekt des Perfekts nehmen dem Verb in Peramás’ Kontext jegliche Bedrohlichkeit oder negative Konnotation. Dem Vorgehen der französischen Kolumbus-Epen, an das Lob des Friedens eine harsche Kritik am kolonisatorischen Vorgehen zu koppeln, stellt Peramás

1201 Man denke an Peramás’ Commentarius, in dem er die Lebensart so mancher Europäer anprangert und der christlichen Lebensweise in den jesuitischen ‘Reducciones’ gegenüberstellt, in denen ein Neues Reich Gottes beginnen kann. 1202 Vgl. das ‘miserabile vulgus gentis humanae’ in DINO 3.226 f.

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seine Adaption bzw. sein ‘friedliches Rewriting’ biblischer Motive bzw. Handlungselemente oder Szenen (wie der Arche Kolumbus, der Inszenierung eines unkriegerischen Josua, der gewaltlosen Einladung zum Großen Abendmahl)1203 gegenüber, mithilfe derer die Geschichte der ersten Kolonisierung einen eirenischen Anstrich erhält. Die Johannesoffenbarung Mit der dritten prophetischen Einspielung aus der Offenbarung des Johannes sind wir gemäß der kanonischen Reihenfolge der Bibelbücher am Kulminationspunkt der Rede des Boilades angelangt. Blicken wir kurz auf den Kontext der Stelle bei Peramás: Boilades gibt das Gespräch der himmlischen Gottheiten mit Gott wieder sowie Gottes prophetische Rede, in der er seinen unumstößlichen Plan für die Zukunft des neuen christlichen Reiches vorlegt. Sein Beschluss, den vom Teufel verführten Menschen zur Hilfe zu kommen, steht fest,1204 und er gibt sein Wort, dass eine spanische Flotte in die Neue Welt segeln dürfe und werde, sobald die Zeit gekommen ist.1205 Seither, so Boilades, versuchten die himmlischen Gottheiten intensiv und wiederholt, spanische Schiffe in die Neue Welt zu rufen.1206 An diese Darlegung des seinerzeit von Gott eröffneten Zukunftsplans schließt sich unvermittelt das letzte biblische Bild an: Boilades beschreibt auf einmal das

1203 In Peramás’ Gestaltung des Gleichnisses vom Großen Abendmahl lässt sich erneut – wie bei der Landungsbeschreibung – eine Verdopplungsstrategie aufzeigen. Ähnlich wie in Lukrezens De rerum natura oftmals Epanalepsen eingesetzt werden, um so – ohne die Möglichkeiten eines modernen Fett- und Kursivdrucks – bedeutende Textpassagen zu markieren, sehen wir auch hier an den zentralen Stellen – meist zu Beginn der Absätze – solche Verdopplungen. Vgl. DINO 3.199 («Et cessant, cessant convivæ», Hervorh. hier und im Folgenden G.J.K.), DINO 3.208 («Huc vos, huc famuli»), DINO 3.214 («Vulgus, inops vulgus»), DINO 3.226 («Sunt hi sunt Indi») oder DINO 3.234 («Illis præsidium illis»). Außerdem lässt sich diese Besonderheit im Stil durchaus mit einem ‘biblischen Stil’ in Verbindung bringen. Schon ein Blick ins Gleichnis des Großen Abendmahls bei Lukas weist gewisse Verdopplungsstrukturen auf, vgl. Lk 14,14: «quia non habent retribuere tibi retribuetur enim tibi in resurrectione iustorum» (Hervorh. G.J.K.). Derartige Verdopplungen finden sich auch noch an weiteren zentralen Stellen des Epos. So z. B. ganz am Anfang des Epos bei der ersten Charakterisierung des Kolumbus in DINO 1.42 («Hæc puer, hæc juvenis tractarat munera») und in DINO 1.48 («Talis erat, talis coram stat Rege Columbus»); hier ist die Verdopplung als rahmende Ringkomposition für die Passage zu Kolumbus’ Charakterisierung gedacht. Ferner am Ende des Epos, um abschließend noch einmal die Wahrung des Friedens durch die Etablierung der christlichen Kirche in der Neuen Welt herauszustellen, vgl. DINO 3.642: «Pax templum, pax dulcis habet nova moenia». 1204 Vgl. «sententia nobis | Certa sedet» (DINO 3.264 f.). 1205 Vgl. DINO 3.270 f. 1206 Vgl. den durativen Tempusaspekt in «Ex illo sacrasque rates, nautasque vocabant | Hesperios Superae mentes» (DINO 3.277 f.).

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apokalyptische Szenario aus Offb 10, als vor dem Blasen der letzten Posaune nach der Öffnung des siebten Siegels dem Johannes auf der Insel Patmos ein Engel erscheint:1207 «visusque per auras | Zebbedeæ proli [...] | [...] ad imum | Usque solum labi cælestis nuncius aulæ | Mole gigantæa» (DINO 3.278–282).1208 In Offb 10 empfängt Johannes mit der Engelsvision «eine erneute Berufung in das Amt des Propheten»,1209 durch die der zweite, bedeutendere Teil der Offenbarung eingeleitet wird.1210 Mit klarem Rekurs auf Offb 10 wird der Engel in seiner riesigen Gestalt beschrieben, mit seinem in buntes Regenbogenlicht gehüllten Antlitz,1211 wie er mit seinem linken Bein auf der Küste und dem rechten auf dem Meer steht1212 und ein Buch in Händen hält.1213Anstelle der generellen Ausdeutung der Passage, wonach das Stehen des himmlischen Repräsentanten auf Meer und Erde den universellen Machtanspruch Gottes über jedes von ihm erschaffene Element darstellt,1214 der daher auch über das Eintreten der Endzeit der von ihm

1207 Vgl. Offb 1: «Fuit in insula, que appellatur Pathmos» (zitiert in LP 254). 1208 Mit Blick auf die diegetische Einbindung unterscheidet sich diese letzte biblische Szene von den beiden vorhergehenden, als sie gewissermaßen auf der Ebene der Götterhandlung eingebunden wird. Hier weist Boilades erstmals nicht mehr explizit auf den Einbezug eines biblischen Elements hin. Das Sichten des Engels durch den endzeitlichen Propheten und spanischen Nationalheiligen Johannes ist kein Parachronotopos in einem separaten Raum mehr, sondern wird zum Indiz für die Bemühungen der Götter auf Götterebene, die Spanier in die Neue Welt zu senden – und spielt sich damit im betretbaren Figurenraum ab. 1209 Klaus Berger: Die Apokalypse des Johannes. Kommentar. Freiburg/Basel/Wien: Herder 2017, S. 720. 1210 Nachdem in Offb 1–9 die sieben Gemeinden Kleinasiens zum Adressaten seiner Prophezeiung wurden, richtet sich das Folgende nun an die Völker der ganzen christlichen Welt, vgl. Offb 10,11: «oportet te iterum prophetare populis et gentibus et linguis et regibus multis». Vgl. ebda., S. 720: «Nach der Christusvision in Kap. 1 ist die von Kap. 10 ein zweiter großer visionärer Anfang». Die Einführung eines zweiten Engels ist generell für die Gliederung einer apokalyptischen Vision typisch (vgl. ebda., S. 731 und S. 734). Sie gilt als Einleitung des großen Kampfs von Gut und Böse und der wichtigeren Botschaft über Gericht und Weltende. 1211 Vgl. Offb 10,1: «et iris in capite eius et facies eius erat ut sol» und DINO 3.286 f.: «Et pulchræ circum frontis cava tempora fulget | Iris, mille trahens adverso sole colores». 1212 Vgl. Offb 10,2: «posuit pedem suum dextrum supra mare sinistrum autem super terram» und DINO 3.288: «Litora pes lævus, dexter premit æquora». 1213 Vgl. Offb 10,2: «et habebat in manu sua libellum apertum» und «Fert dextera librum, | Attollitque super» (DINO 3.290 f.). 1214 Vgl. Klaus Berger: Die Apokalypse des Johannes. Kommentar, S. 740: «Der Engel, der auf Meer und Land steht, repräsentiert Gott, der beides erschaffen hat» und «Als der über die Schöpfung gesetzte Engel ist der Engel von Apk 10 auch in der Lage, Aussagen über das kommende Gericht und das baldige Ende zu machen. Denn diese Dinge betreffen die Schöpfung und werden von Gott in seiner Eigenschaft als Schöpfer vollzogen» (ebda., S. 729). So erklärt es sich auch, dass wenig später (in Offb 14,7) nach der Einforderung der nötigen Gottesfurcht vor

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eingeleiteten Zeit bestimmen kann, fügt Boilades seine individuelle Interpretation dieses apokalyptischen Szenarios an: Quod si mens ritè latentes Nostra videt sensus, Gades sunt litus, & ora, Unde parat pes laevus iter; sunt æquora, dextra Pressa pedi, fluctus quos vicit Iberica classis Oceani magni. Liber ille, volumina legis Divinæ, quam nunc, dux alme, docebimus Indos. (DINO 3.293–298)

Für ihn beinhaltet die biblische Vision eine versteckte Nebenbedeutung, die er als göttlich Inspirierter (vgl. V. 293 f.) zu durchschauen vermag. Die Pose des halb auf dem Meer und halb auf dem Land stehenden Engels deutet er so, als wolle dieser in die Neue Welt aufbrechen, wobei die Stelle, auf welcher der linke Fuß steht, mit Cádiz, d. h. mit Kolumbus’ Abfahrtsort, identifiziert wird. «Liber ille» (V. 297), den der Engel in Händen hält, wird verstanden als verschriftlichtes Wort Gottes, das den in der Neuen Welt wohnenden Völkern überbracht werden soll.1215 Das Buch, das der apokalyptische Engel im biblischen Bericht in Händen hält, wird von Johannes nach vorhergehender Aufforderung verspeist.1216 Dieser «entscheidende eucharistische Vorgang»,1217 sich Gottes Botschaft auch physisch einzuverleiben, bildet dort die Voraussetzung für das Weitertragen der Botschaft sowie für die Naherwartung – denn «[d]er Anfang des kommenden Reichs geschieht im Sohn».1218 Alle biblischen Szenen aus Boilades’ prophetischer Rede im dritten Buch stehen damit eindeutig in Verbindung zur Naherwartung. Der Kontext bei Malachia evoziert das letzte Gericht, das die Sünder erwartet, sowie die Erscheinung Elias; im Gleichnis vom Großen Abendmahl wird das ewige Himmelreich parabolisch umschrieben, zu dem in letzter Sekunde auch die Bewohner der Neuen Welt als neue und zuverlässigere Gäste geladen werden; bei Johannes’ prophetischer Initiation wird der apokalyptische Engel als Wegweiser in die Neue Welt gedeutet, dessen Bewohner vor der Endzeit als neugewonnene Christen Gottes Wort empfangen sollen. Der über die eigenwillige Bibelexegese seines epischen

dem anstehenden Jüngsten Gericht die Aufforderung folgt, Gott als denjenigen anzubeten, der Himmel, Erde und Meer geschaffen hat (vgl. ebda., S. 740). 1215 Vgl. «Litora pes lævus, dexter premit æquora, ceu qui | Per medii molitur iter vada cærula ponti | Orbis in alterius fines» (DINO 3.288–290) und «Fert dextera librum, | Attolitque super, populis habitantibus undas | Ultra [...] Superum mandata daturus» (DINO 3.291–292). 1216 Vgl. Offb 10,9. 1217 Klaus Berger: Die Apokalypse des Johannes. Kommentar, S. 748. 1218 Vgl. ebda., S. 722; vgl. S. 748: «Ich empfange die Kommunion nicht für meinen Seelenfrieden, sondern für alles Zeugnisgeben, für alles, was ich sage».

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Helden im Vorfeld seiner Reisen und dessen Franziskaneraffinität wohl informierte Peramás montiert über weite Strecken seines Epos – mit spürbar analogem Vorgehen zum Libro de la Profecías – recht zusammenhanglos verschiedene Bibelstellen, die die Existenz einer Neuen (Insel-)Welt vorausdeuten, die im Zusammenhang mit der (dort einzuführenden) Eucharistie stehen und die in einem prophetisch-endzeitlichen Gesamtzusammenhang eingebettet sind. Diese werden dabei in ihrer gewünschten Ausdeutung (etwa durch weitere biblische Querverweise und individuell ausgestaltete, textinterne bzw. intradiegetische Interpretationen) noch verstärkt. Unsere Analyse des Textblocks zu Beginn des dritten Buchs geht damit Hand in Hand mit der v. a. im zweiten Buch des Epos vermittelten Hoffnung auf ein neues Reich Gottes, wie sie im Rahmen der oben beschriebenen biblisch anmutenden Handlungselemente der ‘zweiten Genesis’ (der Lichtmetapher bei der Landung, der ‘Arche Kolumbus’) zum Ausdruck kommt. Eben dort, im zweiten Buch des Epos, konnten wir einen zweiten (die epische ‘Dispositio’ bestimmenden) Komplex von Bibelreferenzen ausfindig machen. Wir haben insofern ein unterschiedliches ‘Überschreiben’ der spanischen Handlungen beobachtet, als sich die Handlungen des Kolumbus als ‘biblisch’ geprägte und die der Spanier als ‘vergilisch’ geprägte Handlungen beschreiben lassen – mit dem Effekt, dass Kolumbus durch diese unter den Kolumbus-Epen einzigartige Modellierung als Anführer der Semiosphäre der Alten Welt in seinem besonderen Bund mit Gott herausgestellt wird. 2.3.4.3 Fokuserweiterung: Bibelreferenzen in den zeitgenössischen französischen Epen En passant wurde bereits durch das Einbinden früherer neulateinischer Texte versucht, Peramás’ spezielles Einbeziehen der Bibel als Alleinstellungsmerkmal zu betonen. Da weitere Exkurse innerhalb des Peramás-Kapitels vermieden werden sollten, wird nun als abrundender Vergleich auf die Bedeutung der Bibel in den französischen Epen ab 1750 eingegangen, in denen sie – auf den ersten Blick überraschenderweise – eine gewichtigere Rolle spielt als noch bei den stärker dem ‘christlichen Kampf’ gewidmeten neulateinischen Vorgängern. So wird beispielsweise in Gambaras Epos trotz des zeithistorischen Kontexts des Tridentinums auf keine einzige Bibelstelle explizit Bezug genommen.1219 Ferner

1219 An einer Stelle wird lediglich das Gebet ‘Te deum’ (vgl. 1.538) angestimmt, dessen Inhalt eindeutig auf dem Glaubensbekenntnis beruht, aber ja nicht im kanonisierten Text der Bibel enthalten ist. Nicht umsonst wurde in Kap. 2.3.4.2.2 Gambaras ‘Nicht-Arche’ kontrastierend Peramás’ ‘Arche Kolumbus’ gegenübergestellt.

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soll dieses Unterkapitel dazu dienen, eine erste punktuelle und thematisch begrenzte Zusammenschau der in Kap. 2 untersuchten Epen zu geben. In den Epen ab 1750 will man sich durch das Einspielen von Bibelreferenzen entweder dezidiert einer pro-christlich-religiösen Ideologie verschreiben – oder sich nicht minder dezidiert davon absetzen. Das einzige Epos ohne Bibelrekurs ist Laureaus Epos, in dem auch der gesamte gängige Götterapparat bar eines christlichen Gottes organisiert ist und auf reine ‘Wissensallegorien’ rekurriert wird, um konsequent eine christlich-religiöse Dimension des Epos völlig auszuklammern. In Lesuires gegen religiösen Fanatismus gerichtetem Epos werden dagegen gerne Bibelmotive evoziert, die denjenigen bei(m ideologisch gänzlich anders ausgerichteten) Peramás ähneln. So hatten wir bei der Behandlung der beiden Epen z. B. bereits einmal auf das Bild des riesigen, über dem Meer stehenden Engels der Johannesoffenbarung mit seiner Buchrolle und seinen Füßen auf je einem Kontinent verwiesen.1220 Anders als bei Peramás, wo diese Szene für das Herausstellen der Allmacht Gottes sowie für das Weitertragen der göttlichen Botschaft (‘Buchrolle’) und die das Neue Reich ankündigende Naherwartung nutzbar gemacht wird, wird der Engel bei Lesuire als höllischer Koloss und letztlich als Papst mit der betreffenden Papstbulle (‘Buchrolle’) identifiziert, der über die beiden Welten Blut bringen wird.1221 Anhand einiger weiterer Beispiele möchte ich untermauern, wie variabel Bibelpassagen sich mit dem Kolumbusstoff verquicken lassen, wobei im Grunde meist dieselben, topisch gewordenen oder zumindest dem Lesepublikum wohlbekannten Bibelstellen herangezogen werden und dann einen jeweils individuellen Zuschnitt erhalten. Zu den in nahezu allen Kolumbus-Epen verarbeiteten Motiven zählt der Auszug des Volks Israel unter Moses bzw. Josua von Ägypten nach Kanaan, auf das bereits in den vorigen Kapiteln punktuell eingegangen wurde: Stella erwähnt schlicht die positiven Hilfestellungen Gottes im Rahmen des Auszugs aus Ägypten, um das Vertrauen der Spanier in die göttliche Lenkung der Entdeckung herauszustellen. Ebenso oberflächlich spielt Madame Du Boccage diverse Referenzen auf den Auszug aus Ägypten ein: Mal fungiert Moses mit seinen Leistungen im Wüstenmarsch als Kolumbus’ Vorbild,1222 mal Josua, der darauf vertraut, dass Gott

1220 Vgl. zur Stelle bei Lesuire Kap. 2.3.2.1.4 und zu Peramás Kap. 2.3.4.2.2. 1221 Vgl. dagegen die neutrale Erwähnung der Papstbulle in DINO 1.533–537. 1222 Vgl. «Tels, que dans le Désert marchoit l’Israélite, | Nos Guerriers, délivrés des monstres du Cocyte, | A la voix de leur chef poursuivoient leurs travaux, | D’un Marais à leurs yeux sortent mille Roseaux | Remplis d’un suc exquis qui, dans leur soif funeste, | Pour ces nouveaux Hébreux fut la Manne céleste» (COL 90, chant V).

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für sie bei der Eroberung des Neuen Landes kämpft.1223 Die Beliebigkeit dieses Motivs wird bei Du Boccage geradezu auf die Spitze getrieben. Man findet Anspielungen auf die ersten Bücher Mose in durchaus witzelnd-pejorativer Konnotation, etwa wenn beschrieben wird, wie die Einwohner Hispaniolas von Natur aus unter wilden Tieren, Klima und Insekten litten – ganz so wie der ägyptische Pharao unter den zehn Plagen litt, die Gott zum Forcieren des Auszugs der Israeliten aus Ägypten über ihn hatte kommen lassen.1224 In dieselbe Richtung weist ein anderer verschrobener Moses-Vergleich, bei dem Kolumbus mit dem Gott der Bibel verglichen wird, und der Kazike Canaric zeitgleich als verschreckter Moses vor dem Brennenden Dornbusch steht.1225 Im Gegensatz zu Du Boccages freiem Umgang mit Bibelmotiven sehen wir in den beiden am stärksten an einer christlichen Ideologie orientierten Epen von Peramás und Bourgeois die Bibelmotive stringenter in das Gesamtkonzept eingewoben: Peramás wählt lediglich die Gegenüberstellung von Kolumbus und Moses/ Josua, um den Helden seines Epos im speziellen Bund mit Gott zu modellieren, zumal er sich wie Josua – und anders als Moses – nicht zu hochmütigen Handlungen verleiten lässt.1226 Bei Bourgeois sehen wir in Kolumbus aufgrund seines mangelnden Vertrauens in Gott einen zweiten Moses, wobei ihm Josua als besseres Vorbild anempfohlen wird; seine Bestrafung unterstreicht dort die Omnipräsenz des Rachegottes.1227 Am breitesten ausgestaltet wird das Moses-Josua-Motiv beim am wenigsten ‘pro-christlichen’ Epiker unseres Korpus, Lesuire. Er perspektiviert das unter Moses’ bzw. Josuas Führung vor den Ägyptern fliehende Volk Israel nochmals anders. Wir erinnern uns: das Christentum und seine basalen Werte werden bei Lesuire ja durchaus positiv gewertet. So bietet die Gegenüberstellung des aus spanischer Sicht ‘korrekten’ Verehrens des Kreuzzeichens und des scheinbar ‘falschen’ Idolenglaubens der Einwohner Hispaniolas1228 dem epischen Erzähler einen Anlass, das Motiv der ‘göttlichen Säule’ beim Auszug Israels aus Ägypten einzubauen:

1223 Vgl. COL 138, chant VIII: «Colomb [...] | Est tel que Josué promettant aux Hébreux | Que le bras du Très-Haut va combattre pour eux» – und Kolumbus ist sich (sofort darauf in seiner Rede) Gottes’ Hilfe gewahr: «le Ciel regle nos mouvemens : | Il veut que la victoire à nos travaux succede». 1224 «Pour venger Israël quand Dieu punit Memphis, | Moins d’insectes nuisoient aux peuples d’Osiris» (COL 88). 1225 «Le Monarque Indien [...] | Est tel qu’au Mont Oreb l’Hébreu saisi d’effroi, | Quand au feu des éclairs Dieu lui dicta sa Loi» (COL 98). 1226 Vgl. Kap. 2.3.4.2.2. 1227 Vgl. Kap. 2.3.1.3. 1228 Für die dieses «objet de leur hommage» lediglich «un bois sans ame» (NM I.61) darstellt.

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Ce qu’admirent les uns comme un trésor céleste, Aux autres, des Enfers, paraît un don funeste. Telle cette colonne, heureux présent du Ciel, Rempart, guide & flambeau des enfans d’Israel, Présentait, à la fois favorable & contraire, L’ombre au peuple du Nil, aux Hébreux la lumière. (NM I.61 f.)

Mit der ‘colonne’ wird dasselbe Symbol Gottes von den einen als großartig gewertet (bei Nacht leuchtet die Feuersäule den Israeliten den Weg), von den anderen als lästiges Hindernis (tagsüber verhindert die Wolkensäule, dass das Tageslicht die Ägypter erreicht, sie dient aber den Israeliten als Wegweiser). Das ‘Tertium comparationis’ liegt hierbei einerseits in der Relativität der menschlichen Einschätzungen und der unterschiedlichen Auslegung einer Sache aufgrund eines anderen kulturellen Hintergrunds.1229 Dadurch wird der möglichst wenig fanatische Lösungsansatz des Streits bereits in einem biblischen Bild vorweggenommen, nämlich Kolumbus’ Kompromiss, die Sonne als gemeinsames religiöses Zeichen für einen wie auch immer gearteten ‘Gott’ zu wählen.1230 Andererseits werden in diesem Vergleich implizit die gottlosen Bewohner der Neuen Welt den gottlosen Ägyptern gegenübergestellt – und die christlichen Spanier dem ‘christlichen’ Volk Israel, was ebenso den weiteren Handlungsverlauf widerspiegelt, nämlich Kolumbus’ ideologischen Standpunkt, seinen Glauben an die Überlegenheit und Wichtigkeit des Christentums, vgl. Kolumbus’ gleich darauf folgende Rede an seine Matrosen: «Nous les verrons d’eux-même [sic!] abjurer leurs chimères | Pour la pieuse foi» (NM I.62). Der biblische Verweis auf das Motiv des Auszugs aus Ägypten erfolgt bei Lesuire am wenigsten ‘direkt’, bei ihm wird am stärksten ‘um die Ecke gedacht’. Letztlich belegt es den intrasemiosphärischen Unterschied zwischen den fanatischen Spaniern und der reflektierteren Stimme des Helden Kolumbus. Von der Zielsetzung her ähnelt Lesuires Vorgehen dem Marmontels, wobei der Verfasser der Incas beim Einflechten von Bibelreferenzen weit weniger subtil vorgeht. So wird bei ihm nicht nur das Herabfallen-Lassen der Bibel durch den Peruanerkönig Ataliba zum Kriegsgrund.1231 Auch z. B. das (bei Du Boccage verwendete) Bild von Josua und seinem Vertrauen auf den für ihn in Kanaan kämpfenden Gott wird offensichtlich negativ konnotiert, indem es in den Mund eines fanatischen Christen gelegt wird, der dadurch seine aggressiven Handlungen zu recht-

1229 Vgl. die vorangehenden Verse: «Triste diversité qui fait des maux si grands, | Et donnant aux humains des yeux si différens !». 1230 Vgl. NM I.62. 1231 Vgl. Kap. 2.3.2.2.1.

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fertigen sucht. Auf diese Weise wird es argumentativ für den genau konträren Zweck, eine eirenische Weltsicht, nutzbar gemacht. Am jeweiligen Einbezug von Bibelreferenzen lässt sich nun aber nicht nur ein Unterschied zwischen mehr oder weniger christlich orientierten Epen herausarbeiten. Vielmehr ermöglicht uns ein genauer Blick auf diejenigen Kolumbus-Epen, die auf einer ‘biblischen Ideologie’ fußen, herauszustellen, wie unterschiedlich eine biblische Perspektivierung auf Kolumbus’ Entdeckungsfahrten ausfallen kann. Wir hatten in Kap. 2.3.1.3 beobachtet, wie Bourgeois immer dann Bibelstellen einbezieht, wenn es darum geht, die Omnipräsenz des Rachegottes und des Jüngsten Gerichts zu untermauern.1232 Bei Peramás dagegen werden in enger Rückkopplung an Kolumbus’ eigene Bibelexegese in seinem Libro de las Profecías Bibelstellen in den Text eingewoben, die der positiven Hoffnung auf ein neues Gottesreich Ausdruck verleihen sollen. Ein Vergleich bietet sich freilich dort an, wo beide Epen auf dieselben Motive rekurrieren. Das ist etwa der Fall bei der Inszenierung der Neuen Welt als Irdisches Paradies, bei der es sich freilich eher um einen biblisch motivierten Topos handelt, denn um das Aufgreifen einer konkreten Bibelstelle. Wie in Kap. 1.3.2 kurz ausgeführt, müssen sich die ersten Entdecker mit der Frage auseinandersetzen, ob die entdeckten Regionen mit dem Irdischen Paradies zu identifizieren sind. Wir hatten bilanziert, dass die typische Sicht «immediately following Columbus’ voyages»1233 den «Adamic view»1234 darstellt, bei der die Neue Welt als eine perfekte vorgefunden wird und als eine, in der der Mensch seinen festen Platz hat. Das erste Kolumbus-Epos Gambaras fällt in eben diese Zeit, in der das spanische Interesse an der ‘Neuartigkeit’ der von Kolumbus entdeckten Inseln die zentrale Rolle spielt,1235 weshalb die Inszenierung

1232 So Moses’ Bestrafung, dem wegen seines mangelnden Gottvertrauens der Weg ins Gelobte Land verwehrt bleibt. 1233 Martin D. Snyder: The Hero in the Garden, S. 143. 1234 Ebda., S. 140. 1235 Geneviève Demerson: Le paysage dans l’épopée colombienne de Lorenzo Gambara (De nauigatione Ch. Columbi). In: Yves Giraud (Hg.): Le Paysage à la Renaissance. Fribourg: Editions Universitaires Fribourg (Suisse) 1988 (Seges N.F., B. 3), S. 176, unterstreicht, dass die Modellierung einer an der «idéologie de l’Age d’or» orientierten Landschaft die «partie prenante de l’épopée» ausmacht. Die Gegend wird in Form einer synästhetischen Erfahrung mit allen Sinnen aufgenommen, und auch schon vor der Landung entwirft Kolumbus die zu entdeckende Landschaft als paradiesischen Ort voller Blumen, Gärten, ewigen Quellen, sprich «selon ses désirs culturels» (ebda., S. 171). S. Heinz Hofmann: Lorenzo Gambara di Brescia, S. 168 f., und Heinz Hofmann: Adveniat tandem Typhis qui detegat orbes!, S. 441–443, für die typische ans Goldene Zeitalter erinnernde Motivik in Gambaras drittem Buch; s. allgemein zu Gambara als «auteur connu de poésies bucoliques» Geneviève Demerson: La tradition antique dans la première épopée colombienne, S. 239 und passim.

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der Neuen Welt als Irdisches Paradies bzw. Goldenes Zeitalter sich dort besonders abzeichnet. Für die anderen Kolumbus-Epen erscheint eine ‘paradiesische Beschreibung’ der Neuen Welt für eine epische Konfliktmodellierung an sich wenig ergiebig: viel ergiebiger ist hier per se der «Noachic view» der Welt, nach dem die Menschen der Alten Welt beim Erstkontakt «in the face of chaos»1236 blicken und dieses erst einmal (heldenhaft) ordnen müssen. Und doch lässt sich am Textbefund beobachten, dass in den späten Kolumbus-Epen ab 1750 diese ‘verklärende’ Sicht weiter präsent ist. Madame Du Boccage greift spielerisch-assoziativ überall dort, wo es es thematisch passt, auf das Motiv des Irdischen Paradieses zurück. Wenn sie etwa in COL 12 schreibt: «des lieux où la Fable a feint tant de beautés, | Les isles que je chante ont les réalités» oder von den entdeckten Inseln als «heureux asyle», «ce lieu tranquille» (COL 61) u. v. m. spricht, wird dadurch schlicht ‘neutral’ die Bewunderung über die Neue Welt und ihre Andersartigkeit zum Ausdruck gebracht. An anderer Stelle dienen Verweise auf das Irdische Paradies etwa dazu, das Äußere oder den Charakter der Bewohner der Neuen Welt positiv zu zeichnen.1237 Du Boccages Epos verbindet außerdem das Motiv des Irdischen Paradieses insofern assoziativ mit einem negativen Blick auf Kolumbus’ Entdeckung, als die Spanier das vorgefundene Paradies zerstören.1238 Diesen Aspekt gestalten wiederum Laureau und Lesuire aus, bei denen das Irdische Paradies jeweils für die Beschreibung einer speziellen ‘Enklave’ genutzt wird, in der das Leben der Ureinwohner ohne Einwirken von Spaniern bzw. der Alten Welt seinen gewohnten, positiv konnotierten Gang gehen kann.1239 Deutlich stringenter als das hie und da assoziativ eingebaute Motiv des Irdischen Paradieses bei Du Boccage ist dessen Umsetzung bei Peramás. Kolumbus erreicht hier die mit dem Irdischen Paradies identifizierte Neuen Welt, die als optimales, Neues Gottesreich modelliert wird. Das Besondere an Peramás’ Para-

1236 Martin D. Snyder: The Hero in the Garden, S. 143. 1237 Vgl. etwa die Beschreibung der jungen Bewohnerin Zama: «Comme Eve, elle étoit nuë» (COL 16); oder diejenige ihres religiös motivierten Vaters, der am Morgen Gebete an Gott richtet: «Tel Milton nous dépeint qu’à l’Aurore nouvelle | Adam rendoit hommage à l’Essence éternelle» (COL 61, chant IV). 1238 S. zu Du Boccages Bild des zerstörten Paradieses u. a. Renata Carocci: La Colombiade di Madame Du Bocage, S. 264 f.; Jean Gillet: Le Paradis perdu dans la littérature française, S. 203. 1239 Alle übrigen Orte der Ereignisregion dagegen unterliegen dem «thème de l’idylle détruite par les colons, tel que l’exprimait le vieillard du Supplément au Voyage de Bougainville de Diderot» (Jean-Marie Roulin: L’Épopée de Voltaire à Chateaubriand, S. 117). Man beachte v. a. die Vergleiche der Peru-Gegend mit den Elysischen Feldern in Kap. 2.3.2.2.2; ferner Stellen wie NM II.30: «Après avoir perdu cette terre sacrée, | Où trouver un séjour aussi rempli d’attraits ?».

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dies ist der Umstand, dass die dort aktuell hausenden Einwohner «not at all idyllic and prelapsarian»1240 sind. Unter intertextuellem Rekurs auf Lukrezens ‘Kulturentstehung’ werden die Bewohner als «Lucretian humans at the dawn of time»1241 bezeichnet, was die von Kolumbus entdeckte Welt in ihrer absoluten ‘Neuheit’ herausstellt,1242 als einen möglichst unberührten Ort für die Etablierung des Neuen Gottesreichs, welches Kolumbus mit der Durchführung des ersten Heiligen Abendmahls einrichten will. Dabei erscheint Peramás’ Beschreibung der Bewohner zunächst wie eine Kopie des neulateinischen Epos’ Mickls, bei dem auf die Beschreibung der paradiesischen Natur sofort die Beschreibung ihrer rohen, unkultivierten Bewohner folgt.1243 Während bei Mickl jedoch deren unmittelbare kriegerische Unterwerfung eingefordert wird,1244 spielt bei Peramá der ‘Adamic view’ eine größere Rolle als der ‘Noachic view’.1245 Die Rolle seines Helden besteht bei ihm eben nicht im Unterwerfen der als ‘horribilis’ und ‘terribilis’ beschriebenen Ureinwohner, sondern in der Christianisierung des neu entdeckten Paradieses mithilfe des symbolischen Akts der Eucharistie. Ganz ähnlich erscheint auf den ersten Blick die Inszenierung des Irdischen Paradieses beim ebenso christlich motivierten Bourgeois. Nachdem Kolumbus über seine gottgewollte Mission in der Neuen Welt informiert worden ist, träumt er zu Beginn des Epos von einem an das Goldene Zeitalter erinnernden «nouveau Pays» (CCAD I.40), dessen Beschreibung paradiesischen Charakters sich über

1240 Maya Feile Tomes: Neo-Latin America, S. 98. 1241 Ebda., S. 95. 1242 Vgl. ebda., S. 95: «The Lucretianism [...] is especially apt for the portrayal of the poem’s first Amerindians: the people encountered at the moment the mundus was at its most ‘novus’». 1243 Vgl. «Aspera sed gens» (1.169). 1244 Es folgt unmittelbar der Auftrag «I fortis ad arma!». S. zu Mickls Ideologie Kap. 2.2. 1245 Ausführlichst wird schon zu Beginn des Epos der Königin Isabella in einer Engelsvision ein paradiesischer Blick auf die Ureinwohner und die Neue Welt gewährt (vgl. DINO 1.109–111): neben typischen Elementen wie dem sanft wehenden Zephyr, dem ‘perpetuum ver’ und der ganzjährigen Fruchtbarkeit des Landes, von der die stark bewohnten Gegenden profitieren, kommt man auf das einzige Manko zu sprechen: die dort hausenden «terribiles [...] populi». Die paradiesische Fruchtbarkeit der Insel bildet den Hauptgrund für Kolumbus’ Weiterfahrt vom ersten, sterilen Anlegeort (Lucaium) zum ‘paradiesischeren’, d. h. für das Erste Abendmahl und die Etablierung Christi in der Neuen Welt geeigneten Ort (Haiti) (vgl. etwa Kolumbus’ Aufruf «Abscedamus» (DINO 2.328), die «sterilis tellus» (DINO 2.342) Lucaiums zu verlassen). Hierin unterscheidet sich Peramás’ Epos auch von dem Du Boccages, wo die dispositorische räumliche Abfolge von ‘einem Ort mit guten Einwohnern’ zu ‘einem Ort mit bösen Einwohnern’ führt, und die ‘paradiesische’ Beschreibungsart auf beide Ort gleichermaßen zutrifft.

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2 Die fünf Kolumbus-Epen ab 1750

mehrere Druckseiten erstreckt.1246 Teil dieser Traumvision von der Andersartigkeit der Neuen Welt – «Tout étoit singulier dans ce nouveau Pays [!]» (CCAD I.40) – ist ferner der Umstand, deren Bewohner würden sich von denen der Alten Welt eindeutig unterscheiden.1247 Vielsagend ist allerdings eine dem Traum beigegebene Passage, die darauf verweist, dass Kolumbus eines Tages einsehen werde, dass sein Traum vom Irdischen Paradies sowie von der ‘Andersartigkeit der Menschen’ nur eine Täuschung war,1248 und dass die Neue Welt sehr wohl der Alten ähnelt, dass beide ferner demselben Sündenfall unterliegen und überall dieselben Charaktere und Laster heimisch sind.1249 Bei der späteren Beschreibung der konkreten Entdeckung der Neuen Welt wird diese Einsicht aufgegriffen,1250 als die Spanier im Moment des ersten Kontakts demselben verträumt-naiven Bild von der Andersartigkeit der Neuen Welt erliegen und diese mit dem Irdischen Paradies identifizieren: «‹Quel Pays ! quel climat ! qui pourroit le comprendre ? | C’est le Jardin d’Eden (dirent-ils à l’envi) | Que le péché d’Adam nous a long-temps ravi !›». Kolumbus, der in seiner christlichen Lebensweise seinen Mitstreitern bereits einen

1246 Vgl. auszugsweise CCAD I.39–41, chant III, Hervorh. G.J.K.: «Il se crut transporté dans de fertiles plaines, | Où jamais les moissons ne furent incertaines ; | La terre ouvroit son sein à d’heureux habitants, | Qui vivoient sans travail, paisibiles & contents : | [...] | Les fruits de toutes parts y naissoient sans culture, | Offrant aux yeux surprise leur étrange figure. | Tout étoit singulier dans ce nouveau Pays, | Les hommes, leurs façons, les maisons, les habits : | [...] | [...] ce goût ressembloit celui de l’âge d’or, | Et les mœurs rappeloient ce rare & vrai trésor, | Peut-être éclos, sorti du cerveau des Poëtes | Toujours ingénieux à trouver des fornettes. | Colomb dans ce moment les crut justifiés[.] | [...] | Ce séjour n’en parut que plus imaginaire. | Plus il y découvroit d’étonnantes beautés, | Moins il osoit s’en fier à ses sens enchantés. | [...] | Jamais enchantement ne fut plus agréable, | Mais aussi jamais rien ne parut moins croyable». 1247 «IL [sic!] voulut [sc. dans son rêve; G.J.K.] approcher d’un de ces Naturels, | Qu’il trouvoit étrangers au reste des mortels» (CCAD I.41). 1248 Vgl. «Un jour, désabusé de ce charme trompeur, | Il verra ce que vaut son éclat imposteur !» (CCAD I.40). 1249 Vgl. weiterhin CCAD I.40, chant III: «Est-il quelque climat habité par des hommes, | Qui ne ressemble en tout à celui dont nous sommes ; | Qui, des mêmes défauts pleinement infecte, | Puisse produire un cœur qui ne soit pas gâté ? | De l’homme en tous les lieux c’est le sûr appanage ; | Il a droit en naissant à ce triste héritage. | Colomb fut sur ce point la dupe de son cœur, | Il crut trop follement un si parfait Bonheur». 1250 Die Neue Welt wird also auch bei Bourgeois wie ein Irdisches Paradies beschrieben, vgl. «Ce zéphyr retiré dans le sein des montagnes, | Domine tour-à-tour sur de vertes campagnes, | Y caresse les fleurs, y mûrit tous les fruits, | Et fait de ce séjour un second Paradis : | Aussi nos gens trompés par ce qui les transporte, | Le prirent pour celui dont Dieu ferma la porte (1)» (CCAD 152 f., chant IX) samt der Anm. 1 (Hervorh. im Original): «Quand Colomb revint de cette merveilleuse découverte, ses gens répandirent le bruit en Europe, qu’ils avoient retrouvé le Paradis terrestre».

2.3 Die ideologische Diversität der fünf Kolumbus-Epen ab 1750

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Schritt voraus ist, «[a]ux propos de ses gens se permet de sourire ; | Car de la vérité seul il étoit instruit» (jeweils CCAD I.147, chant IX). So werden wenig später in CCAD I.154 zwar vom epischen Erzähler die Ähnlichkeiten der vorgefundenen Neuen Welt samt ihrer ‘nature brute’ mit dem ‘humble repaire’ des biblischen Irdischen Paradieses unterstrichen; aber wir sehen ebenso Kolumbus’ Einsicht darin, dass es sich angesichts der zahlreichen Bewohner und der dortigen Nahrungsmittelprobleme nicht um das fruchtbare Irdische Paradies der Bibel handeln kann, «[auquel] Dieu ne [...] donna que deux seuls habitants».1251 Trotz aller Ähnlichkeiten wird unterstrichen, dass es das Irdische Paradies nur einmal (i. e. für Adam und Eva) gegeben hat. Damit dient bei Bourgeois die Inszenierung der Neuen Welt als Irdisches Paradies lediglich dazu, anhand von rationalen, auf die Bibel rekurrierenden Argumenten eine abgeklärte Analyse der paradiesischen Züge der Neuen Welt zu liefern.1252 Auch dieses Motiv ist damit ein weiterer Beleg für die ‘Unbedachtheit’ und ‘geistige Beschränktheit’ der Spanier, die dem einsichtigen, weiter denkenden Kolumbus widerstrebt, der im Glauben seinen Matrosen einen Schritt voraus ist. Der Spielraum für eine assoziative Einbettung des Irdischen Paradieses (à la Du Boccage) ist in den beiden rein christlich geprägten Epen nicht (mehr) möglich. Bei Bourgeois ist der gesamte Handlungsstrang der Hintergrundfolie der omnipräsenten Erbsünde untergeordnet, sodass nach Adams und Evas Vertreibung aus dem Paradies auch kein Irdisches Paradies mehr vorhanden sein kann. Ebenso strikt wie Bourgeois’ Epos mit seinem pessimistischen Menschenbild vom Zweifel am Irdischen Paradies durchzogen wird, kennzeichnet der feste Glaube an das wiedergefundene Irdische Paradies Peramás’ Epos, bei dem es der ebenso christlichbiblisch motivierten, aber optimistischen Hoffnung auf die Erneuerung des Reichs Gottes zuarbeitet.

1251 Vgl. «Jamais l’homme créé, dans les premieres heures | N’a pu se pratiquer de plus simples demeures ; | C’est la nature brute, en ces premiers instants | Où Dieu ne lui donna que deux seuls habitants. | Les dehors resembloient à cet humble repaire» und insbes. «ALORS Colomb revient de son erreur profonde». 1252 Das ‘wirkliche’ Paradies erreicht Kolumbus bei Bourgeois dann am Ende des Epos in chant XXIII, als auf der Heimfahrt im paradiesischen Ort der drei Allegorien ‘Justice’, ‘Vérité’ und ‘Religion’ über ihn und sein Handeln in der Neuen Welt gerichtet wird. Dort befindet er sich im Irdischen Paradies, umringt von «murs, d’une hauteur immense» (CCAD II.200): «[On] ne voit que beautés dans ce lieu de délices | [...] | L’air étoit embaumé. Ce jardin agréable, | Aux plus célebres lieux eût été préférable : | [...] | La Nature rassemble en ce lieu plein d’appas, | Ce qu’elle a de plus beau dans les divers climats» (CCAD II.201).

3 Gegenüberstellung epischer Modellierungen der ‘Abstammungstheorie’ 3.1 Naturwissenschaftlicher Exkurs zur Bewohnbarkeit der Erde (‘Zonentheorie’) Speziell in den betreffenden Kapiteln zu den Epen von Du Boccage und Bourgeois konnte herausgearbeitet werden, wie sich die französischen Epen ab 1750 durch ihre Bezugnahmen auf aktuelle wissenschaftliche Errungenschaften und Kulturgegenstände sowie durch den enzyklopädischen Charakter ihrer Naturbeschreibungen und die Verwendung typisch ‘aufklärerischer’ Fußnoten von den neulateinischen Epen abheben.1 Diese offensichtlichen Neuerungen dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass in den jüngeren Epen auch konstant ‘antike’ bzw. ‘frühneuzeitliche’ Wissensdiskurse weiterdiskutiert werden. Im Folgenden soll zuerst kurz auf die Vorstellung der in fünf Zonen unterteilbaren Erde gemäß «der antiken, von Eudoxus von Knidos maßgeblich formulierten Lehre» 2 eingegangen werden, die sich – ähnlich wie Verweise auf den Krieg gegen die Mauren – v. a. im Kontext der Vorbereitung der Erkundungsfahrt des Kolumbus findet. Ausführlicher wird dann der Umgang mit dem Wissen um präkolumbische Entdeckungsfahrten nach ‘Amerika’ sowie mit dem Wissen bezüglich verschiedener Abstammungstheorien (Mono- vs. Polygenese; Karthager- und Atlantisthese) thematisiert. Zu einem Einflechten dieser schon zur Abfassungszeit der frühen neulateinischen Kolumbus-Epen ausgiebig behandelten Thematiken3 kommt es in diesen Texten nämlich nur vergleichsweise selten. Die von uns exemplarisch herangezogene Theorie der Einteilung der Erde in fünf Zonen wird z. B. nur bei Gambara und Placcius behandelt. Bei den anderen, eher das kriegerische Aufeinandertreffen fokussierenden Epen wird höchstens punktuell auf die antike Zonentheorie angespielt.4 Gambara kleidet sie in sein christlich motiviertes Gesamtkonzept ein und stellt sie an den Anfang seines Epos. Der Einfluss des dritten Bandes der Navigazioni e viaggi

1 Vgl. Kap. 2.3.1.4. 2 Heinz Hofmann: Lorenzo Gambara di Brescia, S. 150. Die Erde wird hierbei eingeteilt in zwei unbewohnbar kalte Zonen an den Polen, eine unbewohnbar heiße Zone in der Äquatorialgegend sowie zwei gemäßigte und bewohnbare in ihrer Mitte. 3 Vgl. Kap. 1.4. 4 So bei Stella, wo es in heißt, dass gemäß antikem Irrglauben die Heiße Zone, in der Kolumbus landet, leerstehen soll («vacare», Col. 1.40), da sie durch übermäßige Hitze («aestu», 1.39) verbrannt sei. https://doi.org/10.1515/9783110732405-003

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3 Gegenüberstellung epischer Modellierungen der ‘Abstammungstheorie’

Ramusios5 ist unverkennbar, denn wie Ramusio in seinem Widmungsbrief an Fracastoro hebt auch der epische Erzähler der De navigatione Christophori Columbi libri IV hervor, Gott habe durch seine Schöpfung die gesamte Welt bewohnbar gemacht und es sei nicht angebracht, von einer nur in zwei Zonen bewohnbaren Erde auszugehen: Mox hominem propriis manibus fabricator Olympi formavit facili ex limo, praesensque recentem illi inspiravit vitam, terramque patentem illius imperio subiecit et aequora aperta. Credere nec dignum est ipsum fecisse vacantes tot maris ingentes tractus, tot inhospita regna, et mundi liquisse duas habitabilis oras.6

Kolumbus steht es dabei zu, als Erster den bisher unbeschrittenen Weg7 durch sein Gottvertrauen zu meistern, wobei er «Ignarus [...] ipse viae»8 auf das nötige ‘auxilium summi Patris’9 angewiesen ist. Vorläufer (Athener, Karthager, Atlanter) werden stringenterweise nicht thematisiert.10 Placcius greift Gambaras Widerlegung der Zonentheorie auf und implementiert sie als Hauptargument11 in Kolumbus’ Bittgesuch am spanischen Königshof, das letztlich zur gewünschten Bewilligung des Projekts durch Ferdinand führt.12 In Form einer ‘Praeteritio’ spricht Kolumbus die Zonentheorie zuerst einmal an: «Quid referam, binas quod tantum vana vetustas | terrarum zonas concedi munere divum | credidit humano generi mediamque sub igne | perpetuo torreri, extremas frigore saevo | et glacie aeterna rigidos constringere cauros?».13 Placcius greift dabei in intertextuellem Spiel Vergils Georgica auf, wo die beiden aus antiker Sicht bewohnbaren Zonen ebenso bezeichnet werden als «duae [sc. zonae; G.J.K.] mortalibus [...] | munere concessae divum».14 Voller

5 Vgl. Kap. 1.4.2. 6 De nav. 1.96–102, Hervorh. G.J.K. 7 Vgl. «quae nullae secuere rates, non navita vidit» (De nav. 1.281). 8 De nav. 1.273. 9 Vgl. De nav. 1.276. 10 En passant hat der Erzähler an dieser Stelle auch eingeflochten, dass er den Menschen aus dem Urschlamm erschaffen hat und dieser als Herr über die Erde eingesetzt wurde. 11 Vgl. Atl. ret. 616–636. Deutlich kürzer werden die weiteren Hinweise auf die Existenz der Neuen Welt ausformuliert, so die antiken Berichte über Karthago und Atlantis (vgl. 637–641), die bereits umgesetzte Entdeckung der ‘îles fortunées’ (vgl. 612–615) sowie typische Indizien der Natur (vgl. 642–644). 12 Vgl. Atl. ret. 592–655. 13 Atl. ret. 616–619, Hervorh. G.J.K. 14 Verg., Geo. 1.237 f., Hervorh. G.J.K.

3.1 Naturwissenschaftlicher Exkurs zur Bewohnbarkeit der Erde (‘Zonentheorie’)

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Ironie – vgl. das folgende Signalwort ‘scilicet’ – wird sie dann in ihrer Sinnlosigkeit herausgestellt: «Scilicet usque adeo moles vastissima mundi, | naturae solertis opus, sine mente creata est, | ut nullos hominum pars maxima cedat in usus | et solis habitata feris aut qualleat undis».15 Die Distanzierung von der antiken Zonentheorie erfolgt – analog zu Gambara – mit Blick auf das wohldurchdachte Schöpfungswerk Gottes: «Rex superum meliora velit, certissimus ordo | cui talis placuit rerum».16 Zuvor wurde die Verblendung der im ‘antiken’ Weltbild verhafteten Menschen diffamiert: «O tardos hominum sensus, o pectora caeca!»17 Schon der Einbau einer solchen Argumentation vor dem spanischen Königshaus hat bei den frühen neulateinischen Epen Seltenheitswert: Dort, wo sie statthat, arbeitet sie der Modellierung der in sich geschlossenen christlichen Semiosphäre im Kampf gegen die ‘Heiden’ zu. Mickl verkürzt beispielsweise die historische Episode des Kolumbus vor dem Königshof derart, dass der spanische Hof in nur wenigen Versen dem gottgewollten Unterfangen zustimmt.18 In den Epen ab 1750 wird Kolumbus’ Planung des Unternehmens und einem Bittgesuch (und damit auch der durch seine dortige Argumentation widerlegten Zonentheorie) deutlich mehr Beachtung beigemessen. Die beiden in ihrer Ideologie durchweg christlich motivierten Epen von Bourgeois und Peramás weisen dabei das eben genannte Placcius’sche Verquicken der Widerlegung der Zonentheorie mit dem Vertrauen in die göttliche Schöpfung auf. Trotz seines stringent auf das Heimisch-Machen der Eucharistie angelegten Epos liefert Peramás anstelle einer einzelnen, klar christlich motivierten Begründung mit viel Liebe zum Detail eine breit aufgefächerte Palette an Begründungen für das Kolumbusprojekt: Abgestimmt auf die jeweils beteiligten Gesprächspartner changiert die argumentative Strategie Gottes bzw. seines Sprachrohres Kolumbus, um so die verschiedenen Einstellungen und Haltungen möglichst realitätsnah abzubilden. Zwar empfängt Kolumbus eingangs die göttliche Mission, und er soll insbesondere zur Verbreitung der christlichen Kirche beitragen,19 doch spricht er in seiner Motivationsrede gegenüber König Ferdinand nur von potenziellen weltlichen Errungenschaften, die für Ferdinand von Interesse sein könnten.20 Anders als ihr Mann ist Isabella leichter für das Kolumbusprojekt zu gewinnen: Die Argumentation eines von Gott zu ihr geschickten Engels zielt wiederum in eine andere

15 Atl. ret. 621–624. 16 Atl. ret. 629 f. 17 Atl. ret. 625. 18 Vgl. insbes. «Ocius unanimis concordat regia votis» (1.199). 19 Vgl. DINO 1.10–12. 20 Vgl. die ‘palmae’, ‘triumphi’ und das ‘immensum regnum’ in DINO 1.14 f.

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3 Gegenüberstellung epischer Modellierungen der ‘Abstammungstheorie’

Richtung und betont die Möglichkeit, durch die Eroberung der Neuen Welt den feindlichen Engländern zuvorzukommen.21 Am Ende der Rede vor Isabella flicht der Engel dabei auch eine Kosmovision mit ein, in der er die fünf Zonen der Erde aufzählt22 und – mit ähnlichem Verweis auf die Verblendung der früheren Menschen wie bei Placcius23 – die Fruchtbarkeit der heißen Äquatorialzone samt ihrer Fülle an zu missionierenden Bewohnern nachzeichnet.24 In ihrem Vortrag «Heaven on (American) Earth? The Earthly Paradise in José Manuel Peramás’s Columbus Epic» hat Maya Feile Tomes herausgearbeitet, in welchem intertextuellen Kontext Peramás sich mit der Bearbeitung des Themas der Zonentheorie (gerade mit Blick auf die spanische Literatur)25 verortet und dabei herausgestellt, wie Peramás die Zonenlehre nutzbar macht, um daran die Vorstellung des Irdischen Paradieses anzuschließen: Entgegen den früheren Erwartungen soll es sich just in der Heißen Zone finden lassen, in die nun die für die Beschreibung des Irdischen Paradieses typische Flora samt ihren Düften hineingespiegelt wird.26 Nachdem der Engel Isabella also von der bevorstehenden Entdeckung des Irdischen Paradieses in Kenntnis

21 Vgl. DINO 1.70–78. 22 Vgl. DINO 1.93–95. 23 Vgl. «Ignaræ o mentes hominum!» (DINO 1.104) und «O tardos hominum sensus, o pectora caeca!» (Atl. ret. 625); «aetas | prisca partum [...] | finxerat» (DINO 1.104–106.) und «vana vetustas | [...] | credidit» (Atl. ret. 616–618). 24 «Uber ager glebæ, silvæque & amœna vireta | Innumeris gignunt frondosam gentibus umbram» (DINO 1.102 f.). 25 Beginnend bei Juan Luis de la Cerda un seinem Kommentar ad Geo. 1.234 von 1608 oder Bernardo de Balbuenas Grandeza Mexicana (1604) bis hin zu Andrés Bellos A la agricultura de la Zona Tórrida von 1826, dessen Vorbild Peramás gewesen sein könnte. 26 Vgl. Maya Feile Tomes: Heaven on (American) Earth? The Earthly Paradise in José Manuel Peramás’s Columbus Epic. Vortrag vom 18. 11. 2016, gehalten an der Freien Universität Berlin im Rahmen des Workshops ‘Kolumbus in Amerika’. In leicht modifizierter Form wurde der Vortrag von Feile Tomes in ihrer Doktorarbeit von 2017 schriftlich fixiert. Die Beschreibung Amerikas findet sich an zwei Stellen, weshalb sie von einem «America-depicting diptych» (Maya Feile Tomes: Neo-Latin America, S. 44) spricht. Einmal zu Epenbeginn in der Vision des Engels am spanischen Königshof, dann am Ende in der Darstellung des Schildes der Ameria. Zu Beginn des Epos wird die Vision der Neuen Welt mit adaptierten Zitaten aus dem zweiten Georgica-Buch Vergils angereichert. ‘Amerika’ erscheint – ähnlich wie die in den Georgica thematisierten Randregionen des Mutterlandes Italien – als «Nova Aethiopia and Nova India» (ebda., S. 54), sodass die Neue Welt als «not the centre» (S. 62) erscheint und in seiner Funktion als Beweis für die enorme koloniale Macht Spaniens fungiert (vgl. S. 48–65). Ergänzend hierzu werden in Buch 2 bei der Beschreibung der Landung auf Haiti die zuvor ausgesparten Aspekte aus den Georgica eingespielt; sodass erst hier die Beschreibung des Landes vervollständigt wird und alle Elemente umfasst, die in der christlichen Tradition seit jeher zum Irdischen Paradies gehören. Haiti erscheint so als «terrestrial paradise itself» (S. 98).

3.1 Naturwissenschaftlicher Exkurs zur Bewohnbarkeit der Erde (‘Zonentheorie’)

403

gesetzt hat, leistet nun die überzeugte Isabella gegenüber ihrem Mann argumentative Vorarbeit,27 bis Kolumbus kurz darauf ein zweites Mal vor Ferdinand und seinen Gefolgsleuten (‘ministri’) spricht. In doppelter Frontstellung sieht sich Kolumbus dabei mit den ‘aulae ministri’ und den ‘ministri templi’ konfrontiert: Während die christlichen Gefolgsmänner nicht wirklich überzeugt werden müssen und in nur drei Versen über die ‘Agenda’ in der Neuen Welt belehrt werden,28 setzt Kolumbus hier, vor den wohl am schwersten zu überzeugenden Gegnern des Unternehmens, auf eine erneut variierende argumentative Strategie: Den insbesondere mit den Finanzgeschäften betrauten ‘aulae ministri’ winke durch die Eroberung der Neuen Welt ein enormer pekuniärer Zugewinn durch die vor Gold nur so strahlende Neue Welt.29 Zusätzlich zeigt sich Kolumbus als kluger Rhetoriker, der die potenziellen Gegner seines Projektes durch einen ‘paganen Wissensexkurs’ dort abholt, wo sie stehen, indem er sich auf deren die ‘ratio’ ansprechende Bedürfnisse einlässt: Er bewegt die begeisterten Anhänger der Wissenschaft30 zum Abrücken von der aristotelischen Theorie, nach der es außerhalb der asiatischafrikanisch-europäischen Landmasse nichts gebe außer Meer. Zwar argumentiert Kolumbus einerseits ‘christlich’ mit der ‘wohlbedachten Schöpfung’ Gottes31 und ihrer gleichmäßigen Verteilung von Wasser und Land, wonach es als Gegengewicht zu den drei Kontinenten der Alten Welt auch Ländereien auf der anderen Seite der Welt geben müsse. Andererseits setzt er in ihrer Gegenwart aber auch auf die pagane Theorie von Atlantis, um zu erläutern, dass es durchaus auch mehrere Inseln sein könnten, auf deren Suche er sich begeben möchte.32 Somit werden bei Peramás die bei Placcius geballt vorm König vorgetragenen antiken Begründungen (Atlantis und Zonentheorie) getrennt und als Argumente jeweils auf andere Adressaten zugeschnitten. Weniger subtil als das adressatengerecht ausgestaltete argumentative Wechselspiel der Befürworter des Kolumbusprojekts, das den ersten Teil des Peramás’schen Epos kennzeichnet, ist Bourgeois’ erstes Ependrittel. Repetitiv angelegt widmet es sich der Vorbereitung des Projekts und den Bittgesuchen an den ver-

27 Vgl. DINO 1.247–272. 28 Vgl. DINO 1.288–290. 29 Vgl. «Nil [sc. vos; G.J.K.] tangit [...] terra micantibus aurea glebis?» (DINO 1.295). 30 Die ‘aulae ministri’ werden schließlich insbes. durch eben den wissenschaftlichen Teil der argumentativen Rede des Kolumbus überzeugt, vgl. das Ende der Passage in DINO 1.352–354: «aulæ[...] ministri, | Magnanimæ stirpi qui Palladis artibus addunt | Eximium decus, assensere, faventque roganti». 31 Vgl. «conditor olim | Omnipotens miro sic ordine finxit» (DINO 1.337 f.). 32 Vgl. «Insulæ Atlantiades» (DINO 1.349).

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3 Gegenüberstellung epischer Modellierungen der ‘Abstammungstheorie’

schiedenen Höfen.33 Bei der Vorstellung seines Projekts in seiner Heimat Genua spricht Kolumbus von den Ländereien der Heißen Zone34 und setzt sie in Beziehung zur göttlichen Schöpfung: Diese Gegenden ließen ebenso den «divin Créateur» (CCAD I.56) hervorscheinen. Wie Peramás’ Kolumbus vor den ‘aulae ministri’ betont Bourgeois’ Kolumbus die Fruchtbarkeit des «midi de la Terre» (CCAD I.57); Gott lasse «tout croître & tout fructifier» (CCAD I.56): «C’est là que je prétends, sous un climat fertile | Que régit & gouverne une zone tranquile [sic!]» (CCAD I.57). Anders als bei Peramás wird noch eine ‘enzyklopädische Fußnote’ angefügt: On avoit long-temps cru que les Terres qui approchoient le plus du Pole Méridional, devoient être inhabitables. Les voyages que l’on y a faits, ont depuis démontré le contraire. Elles sont non seulement habitables & habitées ; mais, chose surprenante & qui ne devoit surprendre, si l’on eût mieux connu le cours du soleil, c’est qu’on y rencontre des glaces & un froid aussi violent que sous le Pole du Nord. (CCAD I.55, chant IV, Anm. 1, Hervorh. im Original)

Es liegt demnach nicht nur eine Unterscheidung des ‘antiken’ Wissens des genuesischen Hofes vom ‘frühneuzeitlichen Wissen’ des Kolumbus vor; sondern es wird zudem ergänzend der Status Quo des aktuell gültigen Forschungsstands eingespielt. Der Mensch der Aufklärung ist Kolumbus’ Zeitgenossen durch die auf weiteren Erkundungsreisen aufgetanen empirischen Beweise35 überlegen. Die Existenz eines Irdischen Paradieses kann auf Basis dieses Wissensstandes nicht mehr postuliert werden – ein Umstand, den Peramás freilich außer Acht lässt.36 Während Bourgeois bei seinem primär dem christlichen Weltbild folgenden Epos das ‘aufgeklärte’ Wissen (wie im Zitat oben) ohne große Eingriffe in den Text selbst in seine Fußnoten einspeist, geht der sich klar von der Institution Kirche distanzierende Laureau noch einen Schritt weiter. Zum einen ist er der

33 Renata Carocci: Nicolas-Louis Bourgeois, S. 14, spricht von einer «lunga introduzione». 34 Vgl. «sous l’âpre canicule» (CCAD I.56, chant IV). 35 Vgl. etwa zusammengefasst bei William Robertson: L’Histoire de l’Amérique. Traduite de l’anglais. Bd. 2. Maestricht: Dufour/Roux 1780, S. 157–160. Robertson spricht u. a. von den Anden («il acquiert un tel degré de froid, que la plus grande partie des pays qui se trouvent audelà n’éprouvent pas la chaleur dont ils paroissent susceptibles par leur position») und kommt auf die großen klimatischen Unterschiede zwischen ‘Amerika’ und Europa bzw. Afrika zu sprechen, selbst wenn man sich auf denselben Breiten befindet. 36 Vgl. Kap. 2.3.4.3 zum Irdischen Paradies bei Peramás und Bourgeois. Bei Lesuire wird die Darstellung des Irdischen Paradieses (das mit dem Gebiet des (peruanischen) Volkes Eleuthere gleichgesetzt wird) von der Darstellung der Heißen Zone getrennt, in der – gerade in den Bergen – große Kälte herrscht. So findet Kolumbus dort erfrorene Leichen und muss ein Feuer machen, um sich warmzuhalten: «Des corps qu’un froid mortel a surpris en ces lieux, | Glacés & conservés sous la zone torride | Par l’éternel hiver qui dans ces monts réside» (NM II.35).

3.1 Naturwissenschaftlicher Exkurs zur Bewohnbarkeit der Erde (‘Zonentheorie’)

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einzige Epiker, der dem Wissensexkurs am spanischen Königshof eine Vorgeschichte beigibt: Kolumbus wird in seiner Rolle als Weiser herausgestellt, wenn er mit der herausragenden Persönlichkeit der Zeit, Toscanelli, in einen frühneuzeitlichen Wissensdiskurs tritt.37 Zum anderen wird bei Kolumbus’ Bittgesuch die christliche ‘Schöpfung’ nicht mehr (auf die bereits hinlänglich bekannte Weise)38 mit der antiken Zonentheorie verknüpft. Die revolutionären frühneuzeitlichen Erkenntnisse sind bei Laureau gerade nicht mit den von den Klerikern vertretenen (überholten antiken) Ansätzen kompatibel, weshalb sich das Mitglied des spanischen Königshofes, Talavera, eben auf Grundlage seiner religiösen Überzeugungen gegen das Projekt ausspricht.39 Talavera ist der Inbegriff des bornierten Geistlichen, der an der ‘vorwissenschaftlichen’ Auffassung der Unbewohnbarkeit der Erde, ja sogar an der Vorstellung von der Erde als Scheibe festhält und – anders als die ‘ministri templi et aulae’ in Peramás’ Epos – nicht von seinem ‘antiken’ Wissen abrücken will. Es konnte anhand dieses überschaubaren Exkurses zur ‘Bewohnbarkeit der Erde’ herausgestellt werden, wie ein von den frühen neulateinischen Epen eher wenig beachtetes Element (s. Stella und Mickl) in den jüngeren Epen ab 1750

37 Kolumbus findet in Toscanelli, «cet homme rare» «dont les connaissances pouvaient lui servir de boussole» (AD 50, livre I) einen Gesprächspartner auf Augenhöhe, den er um Rat fragt: «je me suis formé le plan d’un autre continent, j’ai conçu le dessein d’aller le découvrir; je viens auparavant savoir si mes idées ne m’abusent pas. Si mon projet est aussi possible que je me le figure» (AD 51). Toscanelli gibt vor, den zuvor von Kolumbus (vgl. AD 50 f.) gegebenen Hinweisen auf die Existenz der Neuen Welt weitere gewichtige hinzufügen zu wollen. Doch sind diese größtenteils mit den von Kolumbus selbst genannten identisch, was Kolumbus’ jauchzende Reaktion («il est donc vrai qu’il existe ce monde que je soupçonnais!», AD 52) etwas übertrieben wirken lässt, da es sich vielmehr um eine Art Selbstbestätigung handelt. U. a. meint Toscanelli, er habe bei seinen Schifffahrten in Richtung Westen «[d]es arbres d’un bois & d’une dureté inconnue» (AD 52) gesehen, ebenso «une pièce de bois travaillée avec des instruments informes». Kolumbus hatte kurz zuvor von «une branche d’arbre garni d’un fruit ignoré» und einer «pièce d’un bois étranger travaillé de main d’homme» (AD 51) gesprochen. 38 Madame Du Boccage bindet den Exkurs zur Zonentheorie in ihre beiden ausgreifenden, ihr Epos rahmenden Wissensexkurse ein. Auch bei ihr findet sich die (schon bei allen vorigen beobachtete) Verknüpfung der Zonentheorie mit der göttlichen Schöpfung («La Terre & ses enfans de ce Dieu sont l’ouvrage» und kurz darauf: «La marche du Soleil [...] Divise en cinq Climats les Cieux, la Terre & l’Onde. | La Zône où vous regnez, sous ses brûlans aspects | Reçoit des jours égaux de ses rayons directs», COL 21, chant II). Du Boccages epischer Erzähler hebt dabei die Heimatliebe heraus, die Gott jedem Volk zu seinem Teil der Erde beigegeben habe: «Il grave dans nos cœurs un invincible amour | Pour la Terre où d’abord nous recevons le jour», COL 22, chant II. 39 Vgl. etwa: «Au sortir des colonnes d’Hercule, on ne trouve plus que des mers; & la terre n’étant qu’une surface plate, des téméraires qui poursuivraient leur navigation, tomberaient à la fin dans des abymes immenses» (AD 61).

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3 Gegenüberstellung epischer Modellierungen der ‘Abstammungstheorie’

mehr Bedeutung gewinnt. Der per se identische Wissensexkurs kann in unterschiedliche Richtungen hin modelliert werden. Gerade der von der Sekundärliteratur unter den neulateinischen Epen in seiner Sonderrolle herausgestellte Text von Placcius bildet dabei die Basis für die Argumentation der Epen ab 1750: Placcius hatte ja als erster Epiker die christlich ausgedeutete Zonentheorie mit der Bittstellung des Kolumbus verknüpft.

3.2 Abstammungstheorien und Atlantis 3.2.1 Placcius’ Atlantis retecta Der Einbau des ‘Wissensexkurses’ der Zonentheorie ist nicht nur ein punktuelles Phänomen, das Kolumbus’ Handeln im Rahmen der ‘Menschenhandlung’ des Epos betrifft, sondern vielmehr nur ein kleiner Ausläufer einer das gesamte Placcius’sche Epos umfassenden ‘naturwissenschaftlichen’ Hintergrundfolie. An den Anfang seines Werkes setzt Placcius nämlich eine ‘Kosmovision’,40 die den Topographischen Horizont des Epos aufspannt, vgl. die einleitenden Worte des Erzählers: «prius admirabile mundi | adspicite atque animo mecum comprendite corpus».41 Die drei Kontinente Europa, Asien und Afrika werden in dieser Globalsicht in ihrer netzartigen Verknüpfung herausgestellt, aus welcher der vierte (‘Amerika’) ausgeschlossen ist.42 Wie bei Kolumbus’ ‘Zonenexkurs’ am spanischen Hof, wo von Gottes Schöpfung als «naturae solertis opus»43 die Rede ist, wird hier analog mit «divinae rationis opus»44 auf die grundlegende göttliche Schöpfung verwiesen. Welche Funktion erfüllt nun diese Hintergrundfolie? Beim ersten Sichten des Korpus der Kolumbus-Epen schien es, als wäre Placcius’ Atlantis retecta aufgrund des Abbruchs des Epos vor der eigentlichen Begegnung der beiden Semiosphären für eine räumlich-semiosphärische Analyse eher ungeeignet. Doch handelt sich bei diesem Abbruch eben nicht um ein unbedachtes oder verfrühtes Beenden des Epos, sondern Placcius’ räumliches Globalkonzept basiert zum großen Teil auf der eben skizzierten Kosmovision.

40 Für die Weltentstehungsbeschreibung nennt Villalba de la Güida Ovids Metamorphosen als Quelle, vgl. Israel Villalba de la Güida: Virgilianismo y tradución clásica en la épica neolatina de tema colombino, S. 565. 41 Atl. ret. 22 f. 42 Vgl. «[sc. littora; G.J.K.] spreta male atque hominum nulli [‘nulli’ ist hier ein ‘Dativus auctoris’; G.J.K.] lustrata iacebant». 43 Atl. ret. 622. 44 Atl. ret. 25.

3.2 Abstammungstheorien und Atlantis

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Anders als der christliche Zonen-Exkurs am Anfang von Gambaras Epos ist sie nicht nur Spiegel der christlichen Gesamtideologie des Epos, sondern sie wird bei Placcius unmittelbar nutzbar gemacht, um das ersehnte ‘Andocken’ der Alten an die Neue Welt im Topographischen Horizont vorzubereiten. Wie im kurzen einleitenden Ideologie-Kapitel zu den neulateinischen Vorläuferepen bereits angedeutet wurde,45 wünscht sich die personifizierte Atlantis (i. e. ‘Amerika’) bei ihrer Klage vor Gott keine Veränderungen hinsichtlich ihrer Topographie. Zufrieden mit dem, was sie hat,46 beschwert sie sich vielmehr darüber, dass ihre Güter ungenutzt brachliegen.47 Zur Beseitigung dieses Missstands erbittet sie von Gott keinen rabiaten zerstörerischen Eingriff, etwa eine neue Sintflut,48 auch keine Reihe einzelner konkreter Veränderungen.49 Gott soll schlicht zu einem ihr bereits früher gegebenen Versprechen stehen und jemanden aus der Semiosphäre der Alten Welt schicken, «qui detegat orbes | et mea regna suis».50 Diese erste Kontaktaufnahme, bei der die Küsten von Atlantis der Welt als Ganzer zurückgegeben werden,51 stellt für Atlantis die sanfte Lösung52 sämtlicher Probleme dar, da durch die Verbindung der Welten ein gegenseitiges Ausagieren in einer neu entstehenden Pufferzone beginnen kann. Am Ende des Epos ist eben dieser Anschluss und damit Atlantis’ Ziel erreicht: «Vicimus, o socii. En magnum tranavimus aequor. | Venimus huc».53 In diese das Epos umspannende topographische Hintergrundfolie werden nun die aus den im Theorieteil behandelten Abstammungstheorien54 bekannten paganen Völker eingebunden. Durch sie ist erstmals eine Verbindung der beiden Welten über den Seeweg gelungen: Zur vollständigen Erforschung der Alten Welt trugen quasi als Vorboten die Vorstöße von Theseus, Jason, Herkules, Aeneas

45 Vgl. Kap. 2.2. 46 Der Beginn der Rede ab V. 215 zeigt klar all das auf, was sie sich nicht wünscht, vgl. «Non» (Atl. ret. 215), «haud» (218) «nec» (221) usw. 47 Etwa Gold, Getreide, Wein, Heilmittel, vgl. Atl. ret. 222–242. 48 Vgl. Atl. ret. 352 f. 49 Wie etwa das Entsenden von Gottheiten, die die Ureinwohner in religiösen Kulten unterrichten sollen, vgl. Atl. ret. 359–363: «Nec enim divos ad littora nostra | postulo dimittas, qui numina rite colenda | praecipiant neglecta illis aut iura ministrent, | edoceatve Ceres frumenta immittere sulcis | apportetve novus medicas Podalirius artes». 50 Atl. ret. 366 f. 51 Vgl. «reddantur mundo» (Atl. ret. 374). 52 Vgl. «mitis medicina» (Atl. ret. 355). 53 Atl. ret. 1227 f. 54 Vgl. Kap. 1.4.

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und Hanno, dem Seefahrer, mit seiner ‘Punica classis’55 bei. Die Entdeckung der Neuen Welt kam sodann den Athenern und den karthagischen Nachfahren Hannos zu: «Nox eadem, memoranda, tuas ingloria terras, | ATLANTI, oppressit, donec de Cecropis arce | Egressa ignotos tetigerunt carbasa portus | Et Poeni huc venere duces».56 Die des Nachts vor Kolumbus als Traumgesicht erscheinende Atlantis57 gibt nähere Details zu ihrer eigenen Geschichte preis58 und macht deutlich, dass bereits ihre erste Entdeckung durch die Athener auf ihre eigenen Bestrebungen zurückgeht, die wechselseitigen Handelsbeziehungen zwischen den anderen drei Erdteilen auf sich selbst auszudehnen,59 und sie gibt voller Enttäuschung zu bekennen, dass es sie schmerzt, unbeachtet ausgeschlossen zu sein.60 Seinerzeit hatte ihr der Windgott Aeolus beigestanden und athenische Schiffe in ihre Richtung befördert.61 Wie genau der aus Platons Bericht bekannte Kontakt zwischen Atlantis und Ur-Athen ausgesehen hat, wird dabei aber nicht beschrieben, es ist schlicht von aufkommenden «aspera bella»62 in der Neuen Welt sowie von Gottes strafender Reaktion die Rede: Neptuno immersit partem telluris et alta aequora colluvie tonsis impervia fecit, crebra satis longo fluxerunt secula tractu littora queis reliquae gentes Atlantica cunctae nescivere diu, donec quoque Punica vela non expectatis felicior Aeolus austris nautasque invitos (sic pectora vestra, quid optent, saepe fugit) trepidosque ignotum ad littus adegit.63

Nach der Teilüberschwemmung (vgl. ‘pars telluris’) sei sie bei sämtlichen Völkern (vgl. «reliquae gentes cunctae) wieder aus dem Bewusstsein gestrichen gewesen, bis sie durch günstige Winde ein zweites Mal, dieses Mal durch die Karthager, entdeckt worden sei. Doch auch dieses Angliedern sei – diesmal

55 Vgl. Atl. ret. 106–112. Der Weg in die Neue Welt war aber noch verschlossen: «Non tamen huic adeo faverunt fata labori» (Atl. ret. 121). 56 Atl. ret. 133–136. 57 Vgl. Atl. ret. ab V. 968. 58 Vgl. «nostros | ecce tibi casus varios sortesque retexam» (Atl. ret. 973 f.). 59 Vgl. die ‘mutua commercia’ in Atl. ret. 977. 60 Vgl. «non cognita sola relinqui» (Atl. ret. 979). 61 Vgl. «Cecropio raptas huc duxit littore classes» (Atl. ret. 981). 62 Atl. ret. 982. 63 Atl. ret. 986–993.

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durch die jegliche Art von Veränderungen verabscheuende Göttin ‘Vetustas’ – erneut annulliert worden.64 Denn gleich nach der Mitteilung der Entdeckung an die obersten karthagischen Anführer habe ‘Fama’ diese Schilderungen übertrieben, sodass ‘Vetustas’’ Wut auf die Karthager gewachsen sei.65 Atlantis berichtet weiter, dass Mars – von ‘Vetustas’ angestachelt – ‘Fama’ und ‘Timor’ das Gerücht streuen ließ, Feinde vom Balkan würden in Karthago landen. Auf diese Weise seien die bereits erneut gen Neuen Welt aufgebrochenen Karthager66 von einer intensiveren Besichtigung abgehalten worden und Atlantis schließlich in Vergessenheit geraten.67 So wird erst an dieser Stelle (am Eposende!) der bereits weit zuvor geäußerte Wunsch der Atlantis im Rückblick mit dem nötigen Kontext gefüllt: «sed magis his concessa puto, promissus ut olim, | cum nostro Poenos arceret littore Mavors, | adveniat tandem Typhis».68 Der ideologisch intendierte Anschluss der Alten Welt an die Neue und der daraus resultierende (primär auf Handel ausgelegte)69 Kontakt bestimmen die globale Raumkonstruktion des Epos und die Handlungen des Götterapparats. Bereits zweimal kam es auf der Ebene der Menschenhandlung durch die Athener und Karthager temporär zu diesem Andocken der Neuen Welt an die Alte. Zweimal wurde damit bereits zu unterschiedlichen Zeiten in derselben Ereignisregion dieselbe prototypische Annäherungsbewegung durchgeführt. Durch Kolumbus soll sie sich in der Menschenhandlung – im Sinne des epischen Motivs des ‘dreimal’ – erneut wiederholen. Nur sekundär gilt das Interesse der Personifikation des vierten Kontinents dabei anderen Aspekten, die sich aus dem Andocken an die Neue Welt dann ergeben können, etwa der Missionierung ihrer Einwohner, welche sich Atlantis in ihrer Klage über ihre Bewohner herbeisehnt. 64 Das Landen der Karthager (vgl. ‘adigere’, Atl. ret. 993) und ihre freudige Absicht, auf dem neuen Kontinent Agrikultur zu betreiben (vgl. ‘visere’, 999; ‘colere’, 1000) ist gleichermaßen nur von kurzer Dauer gewesen; vgl. «Felices equidem [sc. Poeni; G.J.K.], si munera tanta tulissent | perpetua! At curae nimis insidiosa Vetustas | humanae, ah, miseris subduxit littora Poenis» (994–996). 65 Vgl. ‘rectores alti’ (Atl. ret. 997). ‘Vetustas’ will im unveränderten, weiter unbekannten Atlantis leben und kann nicht verstehen, dass den Puniern «tanta haec mysteria» (1024) enthüllt wurden und sie nun aus dem ihr zustehenden Gebiet (vgl. ‘concessa regna’, 1025) vertrieben werden soll. 66 Vgl. Atl. ret. 1056: «inventae petunt Atlantidos oras». 67 «Sic iterum invisa tellus Atlantica nocte | conditur et deserta infelix regna Vetustas | occupat» (Atl. ret. 1063–1065). Hiermit ist wieder der Zustand erreicht, über den sich Atlantis ja beklagt hatte und der zu Beginn des Epos als Status Quo konstatiert wird, vgl. die alles in ‘atra nox’ verhüllt halten wollende ‘Vetustas’ aus Atl. ret. 3 f. 68 Atl. ret. 364–366, Hervorh. G.J.K. 69 Vgl. die Ideologie «des aufkommenden Merkantilismus» (Heinz Hofmann: Aeneas in Amerika, S. 59) sowie Placcius’ Kritik am Desinteresse an Gütern in Kap. 2.2.

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Während Schaffenrath betont, dass der Atlantismythos bei Placcius äußerst oberflächlich eingespielt ist, und «[d]ie Tatsache, dass in den platonischen Dialogen vom Untergang der Insel die Rede ist, [...] hier keine Rolle spielt»,70 sollte man noch etwas konkreter die Modifikationen gegenüber dem platonischen Bericht in ihrer Funktion herausstellen: Atlantis ist trotz seines Reichtums bei Placcius eben kein Symbol für einen perfekten Staat wie bei Platon.71 Atlantis ist – entgegen dem platonischen Bericht – keine mit ‘Ur-Athen’ gleichberechtigte und schließlich aktiv aus Hybris den europäischen Kontinent vereinnahmende und bekriegende Hochkultur, sondern sie wird lediglich passiv von Ausläufern der Semiosphäre der Alten Welt erreicht. Placcius muss den Kontakt (vom Platonbericht abweichend) in seiner Unilateralität herausstellen, da er den gleichberechtigten Anschluss des Kontinents ja als Ziel proklamiert. Auch das von Schaffenrath bemerkte ‘Ausblenden’ des Untergangs von Atlantis liegt streng genommen nicht vor: Der Untergang (eines Teils) von Atlantis wird auf textueller Ebene eben doch kurz verbalisiert (vgl. oben ‘pars telluris’).72 Die Überschwemmung führt dabei aber nicht zu einem Erneuern des Menschengeschlechts, sondern nur zu einer Teilvernichtung und einem erneuten Loslösen des vierten Kontinents von den anderen Kontinenten. Der schlechte Menschenschlag, der einst mit den ‘Ur-Athenern’ im Krieg lag, dürfte also genetisch derselbe geblieben sein. Auch wurde Atlantis nicht von Athen

70 Florian Schaffenrath: Zur Bedeutung des Atlantis-Mythos in der lateinischen Kolumbusepik, S. 348. 71 S. Hermann Wiegand: Antiquitas Superata: In carminis epici Ubertini Carrarae (1642–1716), cuius index est Columbus, librum sextum observationes selectae. In: Alexander Dalzell/Charles Fantazzi u. a. (Hg.): Acta Conventus Neo-Latini Torontonensis. Proceedings of the Seventh International Congress of Neo-Latin Studies. Toronto 8 August to 13 August 1988. Binghamton/ New York: Medieval & Renaissance Texts & Studies 1991, S. 812 f.: «Atlantidem [...] non more illo Platonis civitatem legibus ac institutis satis ornatam fingit». Wiegands Feststellung, dass Placcius’ Atlantis vielmehr «mores Christianos ac religionem veram desider[a]t» (ebda., S. 813) ist zuzustimmen, aber unter dem Gesichtspunkt, dass dies nicht das konkrete ‘Desiderium’ ist, sondern vielmehr eine Folge des Wunsches des Verbindens der Welten bzw. des beginnenden Austauschs. Alles Weitere, z. B. die Aneignung christlicher Sitten, ist nur deren Folge und wird nicht konkret thematisiert, sondern in die Zukunft verlegt. 72 Außerdem wird der Untergang von Atlantis auch anderweitig noch nutzbar gemacht: In der Menschenhandlung gehen die Meuterer unter Kolumbus (in ihrem Halbwissen) davon aus, dass Atlantis untergegangen ist und nicht mehr existiert. Deshalb wollen sie in ihrer Rage auch Kolumbus, der ja Atlantis wiederentdecken will, selbst ins Wasser werfen, da unter Wasser die Wahrscheinlichkeit des Fundes größer sei: «en praesens lethum: vades cum fratre sub undas, | queis sumus expositi te propter! Atlantica nobis | littora sic melius quaeres, quae mersa profundo, | at non tota tamen fallax narrare solebas» (Atl. ret. 909–912).

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besiedelt;73 noch weniger kann die kurze Sichtung der Atlanter durch die Karthager eine genetische Veränderung herbeigeführt haben. Mit Blick auf die Kosmovision zu Beginn des Epos, die von Gottes ubiquitärem Wirken spricht, liegt Placcius’ Epos damit am ehesten eine monogenetische These der Besiedlung zugrunde, wenngleich die von Atlantis monierte Schlechtheit des Menschenschlags in der Neuen Welt nicht näher begründet wird. Gott hat ihre Bewohner vernachlässigt,74 weswegen Atlantis ihn nach zwei erfolglosen Versuchen ein drittes Mal wachrüttelt. Der auf Ebene der Menschenhandlung agierende Kolumbus hat von alldem allenfalls ein vages Halbwissen. Man beachte seine naive Aussage am Ende des Epos: «Wenn es an diesen Küsten irgendwelche Menschen gibt, was ich hoffe, dann mache sie zu Christen».75 Auch wenn am Ende nach dem Erreichen der Neuen Welt also noch die (historisch relevanten) Aspekte des Missionierens und der ‘Annexion für das spanische Königshaus’ angesprochen werden,76 ist unseres Erachtens die primäre Ideologie des vorliegenden Epos in der ‘Andock-Bewegung’ zu sehen. Entscheidend ist der Umstand, dass das Ausagieren der beiden Semiosphären mit positiven Entwicklungsmöglichkeiten verbunden ist. Die konkreten Aushandlungen (Missionierung, Annexion usw.) der nunmehr dritten Verbindung der Welten unter Kolumbus werden dabei aber absichtlich ausgeblendet. Die auf die ‘Légende noire’ abzielende Frage, ob die dritte Verbindung der Welten ähnlich rabiat ausgehen wird wie die des ersten athenisch-atlantischen Kontakts, die Gott aufgrund der blutigen Kriege seinerzeit unterbunden hat, spielen in der Atlantis retecta keine Rolle.

3.2.2 Peramás’ De invento Novo Orbe Hatte also bei Placcius die Gleichsetzung der Neuen Welt mit Atlantis die Struktur des gesamten Epos (vgl. nicht zuletzt den Epostitel selbst) grundlegt, wirkt der Einbezug des Atlantismotivs bei Peramás auf den ersten Blick kaum bedeutsam: Kurz nach dem Aufbruch der spanischen Besatzung vom Zwischenstopp auf La Gomera aus in Richtung Neue Welt (DINO 2.56–77) wird die

73 Denn die Athener kommen zum gemeinsamen Handeltreiben in die Neue Welt, was die Existenz einer Atlantisbevölkerung voraussetzt. 74 Atlantis ist von ihren Bewohnern enttäuscht, da sie kaum menschliche Züge zeigen und ohne jegliche Künste und Fertigkeiten beinahe eher den Tieren zuzurechnen sind: «Homines nam forsitan esse putatis, | qui mea regna colunt, queis vasto pectore prorsus | humani nihil usque sedet» (Atl. ret. 240–242). 75 Nach Atl. ret. 1240 f.: «si quas, ut spero, haec littora gentes | forte tenent, tu flecte illas». 76 S. Atl. ret. 1229: «Haec Hispanorum tellus addicta monarchae est».

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3 Gegenüberstellung epischer Modellierungen der ‘Abstammungstheorie’

versunkene Insel unter Wasser gesichtet. In aller Kürze wird verwiesen auf ihren ehemals großen Reichtum,77 das einschneidende Erlebnis der tosenden Sintflut,78 ihren Untergang und ihr Schicksal, der Vergessenheit anheimzufallen.79 Das Sichten der atlantischen Ruinen stillt in gewissem Maße das Bedürfnis der Seemänner nach Land,80 was sich in ihrem hoffnungsvollen Staunen äußert,81 bis es am Ende doch wieder nur heißt: «Optatæ apparent nusquam vestigia ripæ» (DINO 2.72). Bei dieser Durchquerung des von Dunkelheit gekennzeichneten82 «ignotum mare» (DINO 2.75) bietet sich der Besatzung noch ein weiterer überraschender Anblick:83 Ihnen begegnen die sagenumwobenen Sirenen, die ihrerseits voller Verwunderung feststellen, dass erstmals sterbliche Menschen diese Gewässer durchfurchen.84 Bestärkt in ihrer Unsicherheit und ihrer Meinung, die Natur wolle zurecht die Neue Welt versteckt halten,85 muss sich Kolumbus unmittelbar darauf gegen eine Meuterei seiner Leute zur Wehr setzen.86 Ein tiefergehendes Thematisieren der Atlantissage wird nicht intendiert. Atlantis ist eine mehrerer Zwischenstationen auf dem gefährlichen, zum Umkehren einladenden Seeweg in die Neue Welt. Mit Blick auf die zweite Stelle des Epos, an der Atlantis Verwendung findet, lässt sich allenfalls konstatieren, dass die beschriebene Atlantisdarstellung (die ja kaum über das Postulieren seiner topographischen Existenz hinausgeht) zumindest Kolumbus’ wissenschaftlichen Exkurs vor dem königlichen Hof (aus DINO 1.345–35187) bestätigt, in dem er für die Existenz einer zweiten Welt im Westen plädiert und dabei auch Atlantis eingeflochten hatte. Der oberflächlich bleibende Atlantisbericht ist Teil der Charakterisierung des Seeweges von La Gomera in die Neue Welt, der mit

77 Vgl. «dives opum» (DINO 2.63). 78 Vgl. ‘magnus fragor’ (DINO 2.65). 79 Vgl. ‘caeca in nocte sepultae arces’ (DINO 2.67 f.). 80 Vgl. «Interea nautæ dulci telluris amore | Huc illuc volvunt oculos, si litoris ora | Ulla procul tremulas inter caput exerat undas» (DINO 2.56–58). 81 Vgl. ‘mirum’ (DINO 2.59), ‘mirari’ (DINO 2.66), ‘attonitus’ (DINO 2.70). 82 Vgl. «Phœbi[...] relinquimus ortus» (DINO 2.92). 83 Vgl. «Ignoti nova monstra maris» (DINO 2.75). 84 Vgl. «Per freta non aliàs mortali pervia genti» (DINO 2.77). 85 Vgl. «prudens natura voluit latere [sc. mundum; G.J.K.]» (DINO 2.90). 86 Rhetorisch geschmückt werden die Querelen der Seemänner durch die anaphorisch geäußerten Fragen der Matrosen (vgl. das zweimal in DINO 2.86 gesetzte ‘quò’ sowie das zweimalige ‘quem’ in DINO 2.89; außerdem die Aposiopese: ‘König Ferdinand wird ihn in Anbetracht seiner so großen Schuld doch wohl ...’ in DINO 2.96). 87 «Stet terra necesse est, | Quæ maris Occidui immensas discriminet oras. | Seu solidum litus circum liget Amphitritem, | Seu caput æquoreis attollant insulæ ab undis, | Insulæ Atlantiades, quarum vestigia nobis | In veterum fas nosse libris, ceu docta Platonis | Scripta [...] narrant».

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Absicht anders gestrickt sein soll als der von Spanien bis nach La Gomera. Der Text legt nahe, dass erst mit dem Verlassen La Gomeras die eigentliche semiosphärische Außengrenze der Alten Welt hin zur Neuen Welt überschritten wurde, und das Meer jenseits der Kanaren ist damit eine unbestimmte Pufferzone. Zwar wurde die Abfahrt von Spanien bereits als Akt des Verlassens des Bekannten gezeichnet88 und der Weg bis La Gomera ebenfalls dunkeldräuend beschrieben,89 doch rückt die beschriebene Vertrautheit der Vorfahren mit La Gomera die Kanaren in den Einzugsbereich der Alten Welt:90 Es handelt sich beim Weg dorthin nur um ein ‘refrangere’ (vgl. DINO 1.753, Hervorh. G.J.K.) eines länger unbefahrenen Seeweges.91 Die Ureinwohner, allen voran der Alte Weise Alethes, nehmen die Spanier dementsprechend wohlwollend, quasi als alte Freunde auf. Bei seinem Bericht von früheren Besuchern aus der Alten Welt kommt der Greis92 auf drei frühere Fahrten in Richtung Westen in die Nähe der Kanaren zu sprechen sowie auf deren Vorstöße in Richtung eines im Westen gelegenen Kontinents, der für ihn einer anderen Semiosphäre angehört.93 Dabei werden drei Quellen – Historie, Mythos, Bibel – in den Bericht eingeflochten. Zuerst erzählt er vom – aus heutiger Sicht – mythischen Bericht der Fahrt der Karthager unter König Agenor in Richtung Westen. Bei ihrer freundlichen Zwischenlandung auf La Gomera erstatteten sie seinerzeit den Einwohnern La Gomeras Bericht über ihre Entdeckungen: Verùm non omnibus una Mens animusque fuit: nec enim vaga litora navi Vestigare datum, propiusve accedere ripæ. Nullis culta viris, & aquis circumdata regna,

88 Vgl. DINO 1.666–670: Das Verlassen der Säulen des Herkules lässt sich klar als Verlassen des bekannten Raumes interpretieren: «Et jam Bætis agros præterlabuntur, & altas | Herculeæ molis respectant ponè columnas, | Vicinæque latus Libyes. Hìc vela Kolumbus | Torquet Atlanteas contendens lætus in oras | FORTUNATORUM NEMORUM». 89 Vgl. «nocte sepulta» (DINO 1.753); «vada caeca» (DINO 1.677). 90 Vgl. «Nota atavis regio» (DINO 1.674). 91 Klarer als zuvor (vgl. die vorige Anm.) wird das Verlassen der Kanaren als Eindringen in den Grenzbereich der Semiosphäre der Neuen Welt gedeutet und das erste Betreten der unbekannten neuen Gewässer wird typischerweise e negativo beschrieben, vgl. DINO 2.42: «litora nusquam | Apparent Libyæ, Fortunatique recessus, | Et TENERIFUS apex altissimus abditur undis». Vgl. hierzu die Darstellung der ‘Semiosphäre des Unbekannten’ bei Lucan in Bernhard Huss/Gerd König/Alexander Winkler: Chronotopik und Ideologie im Epos, S. 96–122. 92 Seine griechische Namensetymologie setzt ihn bereits als vertrauenwürdige Autorität ins rechte Licht, vgl. sein ‘fidum pectus’ in DINO 1.688. 93 ‘Nescio quae terrae’, ‘litora inhospita’ (DINO 1.793) befinden sich samt ‘gentes’ ‘alio sub axe’ (DINO 1.794).

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Pars ait; immensæ regionis claustra, locosque, Quos magnæ (procul ut visi per culmina fumi Ostentant) teneant urbes, populique frequentes, Pugnabant alii. (DINO 707–714; Hervorh. G.J.K.)

Der Bericht wird hierbei als historische Wahrheit verstanden. Dies belegen nicht nur die Referenz des Alten Weisen auf die Vorfahren als Gewährsmänner (samt Autopsie),94 sondern auch die typisch historiographischen Wendungen im Stile des Thukydides (vgl. den Fettdruck oben). Anders als bei Placcius wird den Karthagern kein Landen zugestanden, sondern nur ein Annähern an die Gebiete im Westen;95 sie waren sich sogar unschlüssig, ob es sich beim entdeckten Gebiet um eine unbewohnte, wasserumspülte Insel96 oder einen stark belebten Kontinent97 handelte. Wie bei Placcius bleibt den Karthagern nach der Meldung der Entdeckung bei den «patres» (DINO 1.716) eine erneute Entdeckungsfahrt verwehrt. Der genaue Grund hierfür ist schlicht unbekannt und wird (entgegen dem pseudoaristotelischen Ausgangstext) nicht genannt; anders als bei Placcius wird das Fernbleiben auch nicht feindlichem göttlichen Einwirken zugeschrieben.98 Seither99 kam es gemäß dem Alten Weisen nur zu zwei weiteren Annäherungen an La Gomera. Zu der – aus heutiger Sicht eigentlich geschichtlich fundierteren100 – Umsegelung Afrikas durch den Karthager Hanno, der zu diesem Zweck die Meeresenge von Gibraltar in Richtung der Kanaren verlassen habe.101 Und zur Annäherung durch den biblischen König Salomon. Der davon handelnde dritte Teilbericht des Alethes wird mittels zweier einleitender rhetorisch anmutender Fragen als Kulminationspunkt herausgestellt: «Sed cur quæ maxima laus est | Fortunatorum nemorum stet nocte sepulta? | Præcipuum decus morer alta silentia nectens?» (DINO 1.752–754). Laut Altem Testament hat König Salomon zum

94 Vgl. «atavos memini quondam sic dicere nostri | sanguinis auctores» (DINO 1.697 f.). 95 Vgl. «nec [...] datum [...] propius[...] accedere ripæ» (DINO 1.708 f.). 96 Vgl. DINO 1.710. 97 Vgl. DINO 1.711–714. 98 Vgl. «litora deinde | Nostra rates Tyriae numquam tetigere, latetque | Quæ super his Pœni fuerint responsa Senatus» (DINO 1.718–720). 99 Vgl. «Ex illo» (DINO 1.732). 100 Dieser Vorstoß wird jedoch bei Peramás als sagenumwoben gekennzeichnet (vgl. «fama est», DINO 1.732) und durch die angefügten mythischen Randgeschichten in diesem Status bestätigt. Im Bericht klingt das Aition zur Hautfarbe der Einwohner Afrikas an (vgl. das «ater quos inficit æstus» (DINO 1.738), das die Äthiopier im Sinne des Mythos von Phaëton kennzeichnet). Ferner wird Afrika als Standort der sagenumwobenen «nemora Hesperidum» (DINO 1.739) beschrieben, von dem Griechen in ihren ‘mendacia carmina’ (vgl. DINO 1.741) schreiben. 101 Vgl. ‘nostra iuga petens’ in DINO 1.749.

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Bau seines Tempels auch von der im Westen gelegenen Stadt Ophir102 mithilfe des phönizischen Königs Hiram von Tyros alle drei Jahre103 Gold erhalten. Da sich damals das phönizische Einflussgebiet bis zum Süden Spaniens erstreckt hat, verschmelzen in diesem Bericht Juden, Karthager und Spanier: «Salomonica quondam | Vela metalliferæ litus quærentia Tharsis | Ad se se hàc traxit Tartessia vestra [gemeint ist die Region um den an der spanischen Küste gelegenen Fluss Baetis; G.J.K.]» (DINO 1.755–757). La Gomera erlebt das Entlangsegeln der besagten Flotte104 mit Freude: Ihr Berggipfel blickt mit freudiger Bewunderung auf die Schiffe105 und gibt beim Annähern der jüdischen Flotte ein «lætum murmur» (DINO 1.764) von sich; das Echo lässt die Rudergeräusche und die Kommandos der jüdischen Besatzung widerhallen.106 Durch den wirklichen Kontakt zur Neuen Welt ist die Leistung des karthagisch-jüdischen Verbunds hierarchisch über die rein karthagischen Seefahrten Agenors zu stellen, dem ein Landen ja verwehrt blieb. An die Spitze dieser Hierarchie von chronotopischen Annäherungen an die Neue Welt lässt sich als ultimativer Höhepunkt jedoch klar Kolumbus’ christliches Unternehmen stellen: Der Alte Weise erachtet Kolumbus nicht nur als «[p]ar [...] Heroum» (DINO 1.768), sondern durch Gottes Macht als diesen überlegen: secundos Eventus dabit ipse Deus, qui ducit in altum. Et meliora tuos posthac, quàm carbasa Pœnum, Quàm classem Isacidum, conatus fata juvabunt. Quandoquidem ritusque pios, Divumque parentes Trans anni Solisque vias stat ferre trophæa. (DINO 1.769–774)

Durch diese abschließenden, christlich geprägten Worte werden die zu Beginn der Rede des Alten Weisen knapp gehaltenen und des genauen Kontexts entbehrenden Verse (i. e. DINO 1.694–696),107 nicht nur in einem Kyklos wiederholt, sondern auch näher erläutert: Aus der etwas zögerlichen Feststellung, Kolumbus könne sich auf Gottes Unterstützung verlassen, wird am Ende die sichere Erkenntnis der Überlegenheit des Unternehmens des Kolumbus gegenüber allen vorigen.

102 Bzw. der ihr gleichgesetzten Stadt Tharsis; zur Gleichsetzung der beiden Städte vgl. Kolumbus’ Libro de las Profecías (Kap. 1.3.4.) 103 Vgl. DINO 1.759: «ternis [...] annis». 104 Vgl. «vicina rates cum marmora arabant» (DINO 1.767). 105 Vgl. ‘admirari’ (DINO 1.763). 106 Vgl. «Remorum sonitus, Hebræorumque celeusma» (DINO 1.766). 107 Vgl. «tua sive huc virtus, sive secundum, | Ut magis ipse reor, Numen te compulit; ausus | (Ne dubita) tantos felix fortuna sequetur».

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Diese Vorrangstellung des kolumbischen Unternehmens lässt sich durch seine Zielsetzung der Einführung christlicher Riten in die Neue Welt begründen. So nehmen die ‘pii ritus’ (vgl. DINO 1.773) das von den Ureinwohnern La Gomeras vorausgesagte Landen frommer Könige auf La Gomera wieder auf.108 Der Zwischenstopp der spanischen Schiffe ist damit durch und durch positiv zu bewerten. Die drei dem Kolumbusprojekt vorausgegangenen Fahrten dienen nicht nur als ‘Prolusio’ für die Expedition unter Kolumbus; ob ihrer ehrwürdigen Zielsetzung erhalten die Spanier außerdem – durch Kolumbus argumentatives Zutun109 – noch bessere Gastgeschenke für ihre Überfahrt gen Westen als seinerzeit die Karthager.110 Außerdem erlaubt Alethes Kolumbus Einblick in die Karten des phönizischen Königs Agenor.111 Bei der Übergabe der spanischen Gastgeschenke und den anschließenden diesbezüglichen Erklärungen112 wird ebenso deutlich, dass die Semiosphäre der Alten Welt ihrerseits in der Zwischenzeit gereift ist: Durch die Erfindung des Spiegels sowie des Kompasses ist ihnen verglichen mit den Karthagern ein «ingens auxilium»113 an die Hand gegeben worden. Die technischen Fortschritte sind, wie sich bei der weiteren Überfahrt in Richtung Neuen Welt zeigt, als Geschenke Gottes zu sehen und von seinem Wirken beeinflusst: So lässt er seinen Engel unbemerkt das Schiff in die richtige Richtung fahren und die Kompassnadel im gläsernen Gehäuse in die richtige Richtung lenken: Aliger [...] Ipse manu gaudet currentem impellere classem, Molirique viam, & dextram mentemque Columbi, Dum puppi affixus clavi moderatur habenas, Nulli visus agit, vitreoque in carcere firmat Mobilis ingenium chalybis [...].114

Mehrere solche Elemente fügen sich in Peramás’ Epos zu einem Mosaik zusammen, das die mehr als günstigen Vorzeichen für die anstehende Überfahrt der ‘Arche Kolumbus’ (so das bestimmende Bild der Überfahrt)115 unterstrei-

108 Vgl. ‘pius’ (DINO 1.682). 109 Vgl. DINO 2.8–13. 110 Vgl. ‘armamenta’, ‘gaza’, ‘nautica dona’ in DINO 2.15 f. 111 Vgl. «miris descripta figuris | En tibi signa» (DINO 723 f.) sowie die ‘vestigia classis Agenoreae’ (DINO 1.722 f.). 112 Vgl. «monet ille senem» (DINO 1.792). 113 DINO 1.783 114 DINO 2.46–51 115 Vgl. Kap. 2.3.4.2.2.

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chen soll.116 Der Fortschritt dieser zweiten ‘Arche’ gegenüber der Arche des Alten Testaments ist evident: Mit ihrem Fokus auf den christlichen Werten des Neuen Testaments, zuvörderst auf dem Heiligen Abendmahl (wofür die Arche im Vorfeld beladen worden ist), soll die zweite Arche das erreichen, was im salomonischen Bericht im Alten Testament (bzw. im jüdischen Tanach) noch nicht erreicht worden ist: die Christianisierung der Neuen Welt durch die Alte.117 Der genaue Ablauf der Christianisierung (mit dem ‘verändernden’ Kontakt zu den Ureinwohnern) wird aber von Peramás – wie zuvor schon von Placcius – gerade nicht in den Blick genommen. Die Begegnung mit dem Alten Weisen von La Gomera ist und bleibt das einzige Aufeinandertreffen der spanischen Flotte mit ‘anders gearteten’ Menschen, bei dem es zu einer Art Austausch von ‘Gastgeschenken’ und Erläuterungen bezüglich des technischen oder wissenschaftlichen Fortschritts kommt. 118 Das liegt nicht zuletzt daran, dass die von Peramás inszenierten Ureinwohner gänzlich stumm sind.119 Der sonst in den Kolumbus-Epen

116 Das speziell nach außen getragene Selbstverständnis dieses kleinen Ausläufers der Semiosphäre der Alten Welt symbolisiert das eindringliche Bild des gekreuzigten Jesus als ‘Fahne’ des Schiffs (vgl. DINO 1.628–635). Hierunter fällt auch der Topos des ‘Überbietens’ der Eroberung Granadas, s. Anm. 1149 in Kap. 2. 117 Vgl. Maya Feile Tomes: Neo-Latin America, S. 84–90: Feile Tomes versteht diese Passage als einen Mosaikstein in einer breit angelegten Nutzbarmachung von Karthago als «the ultimate o/Other» (ebda., S. 84) und «as profoundly remote» (S. 85). Die repetitive Inszenierung eines «Carthaginian America» (S. 87) durch die Beschreibung des alten, weisen ‘Alethes’ und einer literarischen Verbindung zu ‘Aletes’ aus Aen. 1 arbeitet einer «great ideological distance» (S. 85), einer heterotopischen Vorstellung von der Neuen Welt zu, «[that] is thematised~produced by – the Carthaginian connection» (S. 86). 118 Gemeint sind Spiegel, Kompass, Räderuhr, vgl. DINO 1.775–810. Vgl. Anm. 966 in Kap. 2 sowie Kap. 2.3.1.4. Die Ekphraseis zu technischen Innovationen (Schießpulver, Uhrwerke, ...) gehören zur gängigen Praxis des ‘poeta doctus’ und lassen sich oft in humanistischer Dichtung (z. B. bei Nikodemus Frischlin) finden, vgl. Günther Oestmann/Matthias Schramm: Die astronomische Uhr des Straßburger Münsters von 1571–1574. In: Bulletin de la Cathédrale de Strasbourg 20 (1992), passim. Die Erklärung solcher Gegenstände nimmt in den neulateinischen Epen eine eher geringe Rolle ein. Eine Ausnahme ist vielleicht noch das Epos Carraras, wo sich ein einseitiger wissenschaftlicher Exkurs findet, bei dem Kolumbus in Lehrermanier dem Arviragus neueste technische Errungenschaften erläutert, durch die sich die Spanier in ihrer Überlegenheit auszeichnen (vgl. Columbus 8.141–336). Vgl. Kolumbus’ Ausführungen zu den Antipoden (vgl. 8.159–203), in denen er betont: «Primus ego e cunctis mortalibus indice coelo | et comite ingenio, rate, qua considimus, ista | vici undas» (8.196–198) oder Kolumbus’ Äußerung in seiner Rede an die Ureinwohner: «Discite» (12.129). 119 S. zur historischen Problematik der Sprachbarriere Katrin Dircksen: Die sprachlich Neue Welt. Die Suche nach Dolmetschern in den ersten europäisch-überseeischen Begegnungen. In: Katrin Dircksen, Heinz Schlüter u. a. (Hg.): El Atlantico – mar de encuentros/Der Atlantik – Meer der Begegnungen. Berlin/Münster: LIT 2006, S. 201–238.

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gängige kulturelle Clash zwischen den Semiosphären wird bei Peramás mit Absicht auf die Kanaren, an den Rand der Alten Semiosphäre verlegt und der eigentlichen Entdeckung vorangestellt. So wird der Fokus des Clashs zwischen Alter und Neuer Welt auf das religiöse Komponente verengt, damit gedämpft und nicht im Sinne der ‘Légende noire’ nutzbar gemacht. Ganz anders ist diesbezüglich das Vorgehen der Madame Du Boccage, die das Aufeinandertreffen in die Neue Welt verlegt, wo sich beginnend mit chant II ein (mehr oder minder typischer) aufklärerischer Dialog zwischen Kolumbus und einem Alten Weisen ergibt, der ebenso – wie Kolumbus selbst – seine Überzeugung vertritt. Im genauen Gegensatz zu Peramás spart sie den historischen Zwischenstopp auf den Kanaren aus120 und gestaltet eine möglichst direkte Verbindung der Welten, um den Fokus des Geschehens gleich zu Epenbeginn auf eben diesen Clash zu legen. Schließlich bleibt festzuhalten, dass Peramás aus dem Inhalt der ‘Abstammungstheorien’ ähnlich wie Placcius lediglich das chronotopische ‘Annähern’ über den Seeweg121 an die ‘passiv-unbewegte’ Semiosphäre der Neuen Welt nutzbar macht. Während Placcius hierzu auf die Gleichsetzung von Atlantis und ‘Amerika’ zurückgreift, legt Peramás Wert auf die Karthagerthese, während Atlantis nur eine marginale Etappe auf dem zweiten Abschnitt der Fahrt gen Neuen Welt jenseits der Kanaren darstellt.122 Zusammen mit der Erwähnung der Sirenen ist in Atlantis kaum mehr als ein zierendes Element eines ‘poeta doctus’ zu sehen. Just vor der Entdeckung der Neuen Welt stimmt Peramás durch den ehrfürchtig-bewundernden Blick auf die gesunkene Insel atmosphärisch auf die große Entdeckung ein, die begleitende Verwunderung der Sirenen soll wohl ihrerseits die herausragende Leistung der Spanier herausstellen, die trotz aller Widrigkeiten (vgl. auch die Meuterei) ihr Unternehmen fortsetzen.123

120 Du Boccage beschreibt nur, dass Kolumbus die Kanaren auf der Rückfahrt passiert und kurz besucht (vgl. COL 44). Von Don Hernando wird der historisch belegte Zwischenstopp auf den Kanaren auf La Gomera, beschrieben, wo für die Pinta ein neues Steuerruder gesucht wird, nachdem das alte gebrochen ist (vgl. Fernando Colomb: Christophe Colomb raconté par son fils, S. 48). 121 Die These einer Landbrücke, wie sie Acosta vorgebracht hat (vgl. Kap. 1.4), spielt hier keine Rolle. Dies ist in Peramás’ zeithistorischen Kontext mehr als beachtlich, vgl. die folgenden Ausführungen zu den französischen Epikern. 122 Der Einbau von Atlantis kurz vor der Landung könnte auch schlicht ein Reflex auf Carraras Vorgängerepos und dessen Atlantis sein. Vgl. unten. 123 Die beiden nur wenige Verse umfassenden Erwähnungen werfen bei genauerer Betrachtung weitere Fragen auf, etwa wie die Existenz von Atlantis (bei welcher man spontan an die Verbindung der Insel zum ‘europäischen’ Ur-Athen im platonischen Bericht denkt – auch wenn dies nicht erwähnt wird) mit dem unmittelbar folgenden Ausspruch der Sirenen verein-

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In den beiden bisher behandelten Epen wird damit die ansonsten vom 16. bis ins 18. Jahrhundert gängige Nutzbarmachung der Stoffe im Sinne der Abstammungstheorien ausgeblendet. Die Dichotomie ‘Monogenese’ vs. ‘Polygenese’ wird nirgends überhaupt thematisiert. Dieses Vorgehen ist kennzeichnend für die epische Modellierung der neulateinischen Epik insgesamt, bei der die monogenetische Abstammung am ehesten indirekt vorausgesetzt bzw. mitgedacht werden muss, um eine christliche Missionierung sinnvoll rechtfertigen zu können. Obwohl Placcius speziell in seiner Kosmovision zu Beginn die Allmacht Gottes statuiert, wäre die globale Raumstruktur (mit der über die unzureichende Bildung ihrer Einwohner klagenden Atlantis und ihrem Wunsch nach Handelsanschluss an die Neue Welt) durchaus auch an einen polygenetischen Ansatz wie bei Paracelsus anschließbar gewesen, von dem ja v. a. Vertreter des freien Handels, etwa im England des 17. Jahrhunderts, ausgingen. Ähnlich ist die Situation bei den iliadisch-tassianisch anmutenden Epen von Stella und Mickl, wo wir es mit der Gegenüberstellung von Gut und Böse, von durch Gott unterstützten Christen und teufelsgeleiteten Paganen zu tun haben. Die Ureinwohner werden als Angehörige der ‘bösen’ Seite ebenso negativ gezeichnet. Auf gemeinsame monogenetische Wurzeln wird in diesen Epen schon deswegen nicht näher eingegangen, um das ‘Niederringen des heidnischen Feindes’ wirkungsvoll zu inszenieren.124 Bei Peramás wird der Götterapparat noch am intensivsten besprochen125 und weist der Monogenese im Rahmen seiner klar schwarz-weiß-gezeichneten Götterhandlung ihren Platz zu: Die Alte und die Neue Welt seien zeitgleich entstanden, und der

bar ist, wonach kein sterbliches Menschengeschlecht je dieses Meer überquert habe. Zumindest der salomonischen Flotte ist dies ja gelungen, auch wenn sie ggf. eine andere Route gewählt haben könnte, da sie ja mit gewissem Abstand an La Gomera vorbeifuhr. Da die Worte den paganen Sirenen in den Mund gelegt werden, könnte man auch so argumentieren, dass diese in ihrer beschränkten ‘heidnischen’ Sicht das Überqueren noch nicht miterlebt haben. Allerdings schienen sich Kolumbus-Epiker nie daran gestört zu haben, Kolumbus’ Vorreiter in die Texte einzubauen (z. B. vorher dort gelandete Dolmetscher) und dennoch Kolumbus’ einzigartigen Heldenstatus herauszustellen. 124 Mickls Gott beabsichtigt schlicht die Unterwerfung des schrecklichen paganen Feindes (vgl. 3.245); demgegenüber will der Teufel seinen Kontrahenten samt seiner für ihn ‘giftigen Lehre’ in seinem aktuellen Einzugsbereich getilgt wissen, vgl. «[sc. peregrina pestis; G.J.K.] nostris spargat sua toxica terris?», 2.423). Eine begleitende Vorgeschichte auf Ebene der Götterhandlung gibt es nicht. Stella flicht eine solche kurz ein (vgl. Col. 1.62–92): Nach dem Sturz des Teufels vom Himmel sind ihm zwei ‘Arbeitsplätze’ geblieben, nämlich die islamische Welt im Osten sowie die Neue Welt. Kolumbus soll nun auch in der Neuen Welt die vorherrschenden ‘antiqui ritus’ ‘novare’ (vgl. 1.54). Nicht erwähnt wird hierbei, ob die Ureinwohner früher einmal Christen waren (vgl. 2.330 f., wo der Teufel davon spricht, Kolumbus werde die ‘antiqua sacra’ zerstören und ‘novi ritus’ einführen). 125 Vgl. Kap. 2.3.4.

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Teufel habe seine Macht in beiden Welten ausüben dürfen, bis er zunächst aus der Alten und dann auch aus der Neuen Welt vertrieben worden sei. Die Ureinwohner sind damit per se gute Menschen126 mit ‘christlichem’ Potenzial, die durch den Teufel verdorben wurden, der sie verführt und ihnen von der rechten Lehre Abweichendes eingesäuselt hat.127

3.2.3 Carraras Columbus Gehäufter noch treten in Carraras Epos Verweise auf die Monogenese auf: Bei ihm ergibt sich durch die gemeinsame monogenetische Basis aller Menschen ein insgesamt positiveres Bild der Ureinwohner, die bei ihm für Gottes Glauben aufnahmefähiger sind als die Mickls oder Stellas.128 In Carraras Epos wird u. a. eingangs herausgestellt, dass beide Welten zeitgleich geschaffen worden sind,129 der Erzähler lässt ‘Aretia’ vor Gott die Bitte äußern, der Bruder solle die Möglichkeit erhalten, seinen Bruder zu sehen,130 und Gottes Werk möge in seiner Größe erkannt werden.131 Die bedeutendste Veränderung ist jedoch der Umstand, dass sich – anders als bei den übrigen neulateinischen Epen – nur bei Carrara aus der Besiedlung durch die ‘Vorläufer’ des Kolumbusprojekts (hier durch die Athener) ein nennenswerter Mehrwert für die Neue Welt selbst ergibt, d. h. zu einer Veränderung der Topographie bzw. der Sitten seiner Bewohner führt.132 Dadurch, dass Carrara die bisher beobachtete manichäische Schwarz-Weiß-Zeichnung des christ-

126 Vgl. «gens innocua» (DINO 3.244 f.). 127 Vgl. DINO 3.240–246; 252: «Idem animis sese juvenumque, virumque, senumque, | Insinuans, diæ sensim vestigia flammæ, | Effigiemque sui rerum quam conditor olim | Indidit humanis membris, mentique, repertis | Artibus extinxit, gentemque in crimina traxit | Innocuam. [...] | [...] | Victa fugit virtus, terrasque irata relinquit». 128 Vgl. «coeperat interior dies in pectora labi» (Columbus 6.629): Durch die Mission kann auch in den Bewohnern Hispaniolas das göttliche Licht Einzug halten. 129 Vgl. «geniti sunt uno tempore mundi» (1.419). 130 Vgl. «da fratri cernere fratrem» (1.420). 131 Wie auch Gott selbst, vgl. «maior nosceris et ipse» (1.423). 132 Aufgrund der Lektüre des Columbus Carraras wurde im Projektantrag des DFG-Projekts «Epische Modellierung ideologischer Konflikte in der Frühen Neuzeit» die Hypothese aufgestellt, dass Strategien der ‘Wiederentdeckung’ zur Aufhebung der gegenläufigen Ideologien zwischen Alter und Neuer Welt allgemein in den Kolumbus-Epen der ‘Frühen Neuzeit’ von Interesse sein könnten. Die folgenden Ausführungen werden zeigen, dass dies im neulateinischen Epos nicht besonders von Interesse ist, dass dagegen das im Projektantrag noch nicht miteinbezogene späte Kolumbus-Epos Lesuires dieses Thema der ‘Wiederentdeckung’ und des Zusammenhangs der Alten und Neuen Welt ganz bewusst stärker gewichtet und die beiden Welten auf einen gemeinsamen Hauptnenner stellt.

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lichen Götterapparats durch das Einflechten des paganen Götterapparats ein Stück weit aufbricht, stellt er die schrittweisen Veränderungsprozesse der (mit den Einheimischen der Alten Welt durch Monogenese verbundenen) Bewohner der Neuen Welt klarer heraus. Die für das Epos entscheidende Frontstellung zwischen paganer und christlicher Religion wird einleitend durch die Atlantissage herausgearbeitet: Das Sichten von Atlantis begleitet und rahmt die Entdeckung der Neuen Welt stärker als etwa bei Peramás, der das bei ihm nur kurz erwähnte Atlantis nur als Antwort auf Carrara überhaupt eingebunden haben dürfte. Während andere Epen kurz vor der Entdeckung das ‘Licht’ funktionalisieren, das sich am Horizont auf dem sichtbarwerdenden Kontinent abzeichnet,133 wird bei Carrara Atlantis von der Figur des Ergastus im Sinne der nahenden Landung inszeniert. Seiner Meinung nach ist die eine bewohnbare Erde (Atlantis) untergegangen, damit die andere (der Kontinent ‘Amerika’) auftauchen konnte:134 Atlantis fungiert demnach für ihn (und dann auch für die Matrosen) als Zeichen der unmittelbar bevorstehenden Landung.135 Doch passt diese Auslegung durch Ergastus nur wenig zum kurz zuvor eigens von ihm wiedergegebenen platonischen Atlantisbericht. Dort hatte er erklärt, Atlantis habe seinerzeit die Alte Welt mit der Neuen Welt verbunden und es sei erst durch seinen Untergang zur Trennung der beiden Welten gekommen,136 was ja die vorherige Existenz ‘Amerikas’ voraussetzt, dass damit nicht als Gegenreaktion zu Atlantis’ Untergang aufgetaucht sein kann. Eindeutiger als die durch die interne Fokalisierung des Ergastus gegebene Funktionalisierung von Atlantis ist die Auslegung durch den epischen Erzähler: Durch ihn werden die Ruinen des untergegangenen Atlantis in einem epischen Gleichnis mit dem zerstörten Kolosseum Roms gleichgesetzt.137 Anders als etwa bei Gambara, wo die Beschreibung unbekannter Örtlichkeiten ebenso durch Vergleiche mit römischen Straßen vonstatten geht und etwa die Hütten der Ureinwohner als römische Stadt beschrieben werden,138 ist der Vergleich mit Rom bei Carrara nicht auf die eurozentrische Perspektive des Autors zurückzuführen.

133 Vgl. zur Lichtmetapher Kap. 2.3.4.2.2. 134 «Hanc superinducto mersit si gurgite terram | non procul hinc aliam voluit fortasse renasci» (6.463 f.). 135 Vgl. «At vos gaudendi tantorum strage locorum | sumite materiam et finem sperate viarum» (6.456 f.). 136 Vgl. 6.443: «mundumque diremit utrumque». 137 Vgl. «Tale» (6.402) und «Haud secus» (6.414). 138 Vgl. Heinz Hofmann: Lorenzo Gambara di Brescia, S. 155.

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Er denkt nicht aufgrund seiner humanistischen Bildung in antiken Vorstellungen,139 sondern ihm geht es bei seinem Vergleich um die genetische Verquickung der beiden Welten. Atlantis ist wie das Kolosseum ein «signum interitus antiquitatis paganae».140 Wie das heidnische Rom ging Atlantis durch seine Hybris zugrunde. Im weiteren Verlauf des sechsten Buchs wird dieser Vergleich der beiden Welten noch intensiviert: Beide Welten teilen das gemeinsame Schicksal einer stückweisen Christianisierung, das die Alte bereits erlebt hat und das der Neuen unmittelbar bevorsteht. Die Bewohner der Neuen Welt sind wie die der Alten Welt von Gott gewollt, in Monogenese hervorgebracht und geliebt.141 Durch die präkolumbische Entdeckung des Neuen Kontinents durch den Griechen Odysseus – wovon der epische Erzähler den alten Artemidorus im Folgenden berichten lässt – lassen sich in der Neuen Welt gewisse Spuren der Alten Semiosphäre wiederfinden.142 Die Neue Welt wurde also vor der Fahrt des Kolumbus bereits auf eine ideologisch ‘höhere’ Stufe gesetzt und Kolumbus muss nun ‘nur noch’ das leisten, was bereits in der Alten Welt geleistet wurde, nämlich eine falsche, pagane Zivilisation besiegen und keinen völlig unbearbeiteten Wilden mehr.143 Der Umstand, dass der Clash der beiden Semiosphären damit in der Auseinandersetzung der Semiosphäre der Alten Welt mit einer früheren Version ihrer selbst besteht, erhält in der Raumkonstruktion des ‘carmen epicum’ eine plastische Ausgestaltung: Sie baut auf der strukturellen Ähnlichkeit der Welten auf, die bei all ihrer Verschiedenheit doch zumindest gewisse Gemeinsamkeiten aufweisen.144 Durch Odysseus ist der Kult der Magna Mater in der Neuen Welt hei-

139 Vgl. Kap. 1.2. 140 Hermann Wiegand: Antiquitas Superata, S. 812. 141 Vgl. «Dilectae caelo gentes» (6.600); vgl. Kolumbus’ Bitte an die Erde der Neuen Welt, die Spanier gleichermaßen als Kinder aufzunehmen, da sie aus demselben Urschlamm entstanden seien: «alumnos crede tuos omnesque satos a principe limo» (6.498). 142 Vgl. «parva licet, reperire tamen vestigia nostrae» (6.686). Auch Florian Schaffenrath: Zur Bedeutung des Atlantis-Mythos in der lateinischen Kolumbusepik, S. 349, hat sich knapp mit der Frage auseinandergesetzt, weshalb Carrara überhaupt auf das Atlantisthema zurückgreift. Bei ihm ist Atlantis nicht nur ein die Odysseus-Geschichte ergänzender Teil, der die Zivilisation der Neuen Welt belegt. Seiner Meinung nach, die kaum abzustreiten ist, soll man die Schifffahrt als Metapher für das Dichtungswerk sehen. Die Nymphen, die das Schiff des Kolumbus über Atlantis hinwegfahren lassen, ist damit mit der Muse gleichzusetzen, die das KolumbusEpos über frühere Kolumbus-Epen hinwegführt. 143 Vgl. «vincit enim antiquitatem cultam, non feram barbariem» (Hermann Wiegand: Antiquitas Superata, S. 822) und «antiquitatem superari a Christianismo» (ebda., S. 820). 144 Das in 6.703 f. verwendete Bild des gegenseitigen Befruchtens und des Aufpfropfens des Baumes der Neuen Welt durch einen Ast der Alten Welt setzt ja ebenso sowohl eine gewisse strukturelle Ähnlichkeit voraus als auch eine Differenz: «opulentior exit | arbor adoptato peregrinae matris alumno».

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misch gemacht worden und ihr ist in ihrem eigenen Tempel ein Altar errichtet worden.145 Als bei der Landung der Spanier und der Ankunft des neuen Gottes die Natur in Form eines Erdbebens heftige Reaktionen zeigt,146 kommt es auch zu einer Reaktion im Kern der Semiosphäre der Neuen Welt: Alle Ureinwohner fliehen eilends hinein in den Tempel,147 der für sie als Schutzort fungiert.148 Durch das Erdbeben ist jedoch das Standbild der Magna Mater im Zentrum des Tempels umgefallen;149 im allgemein herrschenden Chaos150 stehen nur noch die Grundmauern des Rückzugsortes unverändert da. Nach diesem ideologischen ‘Entkernen’ der Semiosphäre der Neuen Welt kommt es zum Austausch der Gastgeschenke,151 der ansässige Priester der Ureinwohner legt bei seiner Rede ein zweites Mal die Neutralisierung des eigenen ideologischen Kerns dar152 und fordert daraufhin die Spanier auf, den leeren Kern zu füllen: «Quare age, sume locum templumque decentius imple!» (6.587). Ein drittes Mal wird der Vorgang des Entkernens in Kolumbus’ anschließender Rede wiederholt: Er betont dabei die Hinfälligkeit der Macht der alten Göttin153 und befiehlt den Zuhörern, den neuen Gott in den Tempel einziehen zu lassen: «reserate fores et cedite templum» (6.624). Am Ende des sechsten Buchs wird noch einmal, dieses Mal abschließend, der Vorgang der Ersetzung bzw. der Übergang vom paganen zum christlichen Hort durch die Korrelativa «ubi» und «hic» konstatiert: «Graia ubi adoratam tenuit Berecynthia sedem, | hic numen caeleste locant» (6.723 f.). Die durch die präkolumbischen Entdeckungsfahrten im Vorfeld bewirkte strukturelle Ähnlichkeit der beiden Welten (d. h. die zivilisatorische Grundlegung durch das Errichten eines Tempels) bildet die Voraussetzung für das überaus schnelle Ersetzen des ideologischen Kerns der Neuen Welt. Zweifelsohne sind wir beim bisherigen Durchzug durch die neulateinischen Epen unterschiedlichsten Modellierungen bzw. Arten des Einbaus der präkolumbischen Fahrten begegnet, doch dienten sie stets dem Bewerkstelligen gewisser Vorarbeiten in Richtung der Etablierung des Christentums: Bei Peramás und Placcius stand die Annäherung an die Neue Welt im Mittelpunkt. Bei Carrara wird (anders als bei Peramás oder Placcius) die Neue Welt nicht möglichst 145 Vgl. 6.655 und 6.723. 146 Vgl. 6.511–516. 147 Vgl. ‘ingressi’ (6.528). 148 Vgl. ‘salvae parietes templi’ (6.530). 149 Vgl. 6.530–533. 150 Vgl. «magnae stragis acervus | omnia miscuerat» (6.533 f.). 151 Vgl. «ociter ad portum donis comitantibus itur» (6.559). 152 Vgl. etwa «solo strata iacuit dea» (6.585). 153 Vgl. 6.615–617: «Divam si denique vestram | stravit humi, quaecumque ea sit, nullamque probavit, | huius opus» (Hervorh. G.J.K.).

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ideologisch diskrepant gezeichnet – um so den Bedarf an der Einführung des Heiligen Abendmahls (vgl. Peramás) und die Notwendigkeit des Anschlusses an die Alte Welt (vgl. Placcius) zu betonen – sondern die vorherigen Entdeckungen werden im Sinne eines bereits in Gang gesetzten ‘stufenweisen’ Missionierens gedeutet. Spannenderweise kann Carrara auch bei seinem problemlosen ‘Entkernen des ideologischen Gegners’ einen Clash im Sinne der ‘Légende noire’ weitestgehend vermeiden, ohne dabei auf einen vorzeitigen Abbruch (Placcius) oder ein Ausblenden der Missionierung der Ureinwohner (Peramás) zurückgreifen zu müssen. In jedem Falle bleibt festzuhalten: Eine politische Nutzbarmachung erfahren die Abstammungstheorien nicht; es wird kein Motiv der ‘Rückkehr’ national nutzbar gemacht, wie man es beispielsweise aus Ronsards Franciade kennt, oder auch nur im Sinne Fracastoros154 durch die Verwendung des Atlantismotivs ein politisches Statement zum Ausdruck gebracht. Am ehesten ist das politische Moment noch bei Placcius greifbar, dessen Epos vor dem politisch-wirtschaftlichen Hintergrunds des freien Handels zu sehen ist.

3.2.4 Lesuires Le Nouveau Monde Anders als bei seinen neulateinischen Vorgängern wird in Lesuires Epos die Atlantissage nicht als vorbereitende Theorie zur präkolumbischen Annäherung an die Neue Welt behandelt, sondern auch im engeren Sinne als Abstammungstheorie. Lesuire lässt im Laufe der Haupthandlung seinen Protagonisten Kolumbus selbst dezidiert die Frage nach der Abstammung der Ureinwohner stellen. Anders als bei den knapp gehaltenen Verweisen in den neulateinischen Epen erhält die Atlantisthematik bei Lesuire sogar eine ‘doppelte’ Ausarbeitung: Dem Helden wird im achten und dreizehnten Gesang je ein ‘Atlantisbericht’ erzählt, der ihn in die Vorgeschichte der ‘amerikanischen’ Ureinwohner einweiht. Diese beiden Berichte wirken auf den ersten Blick repetitiv und undurchdacht: Gewisse Inkongruenzen lassen spontan an die ebenso etwas unbeholfen wirkende (da seltsam verdoppelte) Aitiologie der Syphilis bei Fracastoro denken.155 Außerdem scheint der insgesamt mit etlichen Nebeninformationen bzw. -handlungen aufgeblähte Atlantisbericht dem Kolumbusbild R. Caroccis zu entsprechen, die in ihm einen von einem Abenteuer zum nächsten stürmenden «protagonista di avventure bi-

154 Vgl. Kap. 1.4.2 155 Vgl. Kap. 1.4.2.

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zarre ed irreali»156 und Comic-Helden sehen will.157 Wir gehen nun aber von der Prämisse aus, dass Lesuire seine beiden Atlantisberichte sehr wohl mit Bedacht verfasst hat. Sie weisen nämlich nicht nur schillernde Vagheiten auf, die gegebenenfalls auf eine mediokre Epos-Gestaltung hinweisen könnten, sondern lassen sich vielmehr zu einem globalen Atlantiskonzept zusammenführen, das bisher noch keine/n ForscherIn zur näheren Untersuchung angeregt hat. Genauer gesagt hat die bisherige Forschung die beiden Atlantisberichte nicht als solche erkannt bzw. nicht erkannt, dass die Atlantissage nicht nur punktuell eingesetzt wird. Renata Carocci hat in ihrem Aufsatz von 1991 den utopisch anmutenden Mittelteil (chants VIII–XIII) konstatiert, ihn jedoch in ihrem (einen ersten Überblick liefernden) Aufsatz in auffälliger Weise fast gänzlich ausgespart158 – und damit auch ihre atlantische Verbindung nicht festgestellt. Pratt räumt ebenso die Existenz eines utopischen Teils ein, der sich mit dem frei erfundenen Volk Eleuthere159 beschäftigt und von uns im Folgenden als ‘zweiter Atlantisbericht’ bezeichnet wird. Allerdings stellt er ihn in seiner besonders fabulösen Fiktion als scheinbar unwichtig heraus. Ohne die Einsicht, dass es auch einen ersten Atlantisbericht gibt, schreibt er lediglich in Form einer Randbemerkung, Lesuire würde «no emphasis on the attractions of pre-Columbian civilisations»160 legen, wobei die vorliegende Ausnahme die Regel bestätigen würde: He does, in truth, devote a couple of cantos to the description of a peculiarly fortunate people, who live out an agrarian life of social harmony, legal equality and public accountability in a uniquely temperate climate. But they are solitary survivors from the lost world of Atlantis rather than normal natives of the new world of America and, as Le Suire makes clear in his preface (i.XXV), they are fabulous folk, whose presence in the poem purely offers the opportunity for oblique objections to the life-style of late Enlightenment Europe.161

Pratt beruft sich hierbei auf Lesuires ‘Préface’, in welcher er die Fiktionalität etlicher Passagen seines Epos betont162 und unterstreicht, dass es ihm bei der Passage v. a. um die Ausgestaltung der staatlichen Organisation des Volks Eleuthere gehe, um so einen gesellschaftlichen mit dem zeitgenössischen Europa

156 Renata Carocci: Le Nouveau Monde di Robert-Martin Le Suire, S. 48. 157 Vgl. ebda., S. 36: «eroe da fumetti» und Kap. 2.3.2.1.1. 158 Vgl. ebda., S. 38: «Non pago di ciò, l’autore evoca paesaggi surreali e città di sogno, industriose ed amene». 159 Das Volk selbst heißt ‘Eleuthere’ (vgl. «ce peuple [...] qu’il appelle Eleuthere», NM I.148), die Bewohner ‘Eleutheres’ (vgl. «[l]es heureux Eleutheres», NM II.61). 160 Terry M. Pratt: Of Exploration and Exploitation, S. 307. 161 Ebda., S. 307. 162 Vgl. Kap. 2.3.2.

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vorzunehmen. Deswegen ist diese Passage aber noch lange nicht vollständig erklärt oder für eine nähere Untersuchung uninteressant. Unseres Erachtens sollte man in ihr sogar eine Schlüsselstelle des Epos erkennen: Hierauf deutet bereits die Länge der beiden Atlantisberichte hin (die sich eben nicht nur auf eine knappe Ekphrasis beschränken), ihre Positionierung im Mittelteil des Epos und insbesondere der Umstand, dass ihnen mit Blick auf die (räumliche) Struktur des Epos eine zentrale Rolle als Wendepunkt in der Ideologie des Kolumbus zukommt. Im Folgenden werden daher nun die zwei Atlantisberichte samt ihren scheinbaren Inkonsistenzen dargelegt und durch Verweise auf mögliche Intertexte erhellt. Lesuire rahmt die spanische Eroberung Perus durch das Einfügen mehrerer positiv valorisierter Nebenschauplätze, Rand-Chronotopoi bzw. Enklaven (namentlich die Priester-Enklave (Isolation 5), die Cusco-Enklave (Isolation 6a) und die Enklave des Bergvolks Eleuthere (Isolation 6b), wobei Kolumbus in der ersten und letzten Enklave jeweils einem der besagten Atlantisberichte lauscht.163 Der erste Atlantisbericht findet sich im achten Gesang (im Rahmen der 5. Isolation) vor der eigentlichen Einnahme Perus: Auf dem Weg dorthin stellt sich Kolumbus, von wissenschaftlichem Interesse geleitet, die Frage nach dem Ursprung der Bewohner der Neuen Welt. Dies setzt ihn klar von den übrigen Spaniern ab, da er sein Erkundungsprojekt isoliert und selbständig ohne Hilfe Anderer verfolgt: «Le Héros parcourant cette immense contrée, | Cherchait de ces deserts l’origine ignorée ; | Et voulait découvrir, dans ces climats lointains, | Comment le Ciel d’abord y jetta les humains» (NM I.98, chant VIII). Kolumbus hat es sich zum Ziel gesetzt «les mystères sublimes» (NM I.100) zu lüften. So wird er in I.98 durch eine Vielzahl anaphorisch gesetzter Personalpronomina der dritten Person (vgl. ‘il’ jeweils zu Versbeginn) als alleiniger Handlungsträger herausgestellt. Zunächst erblickt er eine hoch in die Luft ragende Pyramide;164 auf dem Weg zu ihr durchquert er ein unterirdisches Gebiet, das sich als «empire» gewisser Einwohner aus grauer Vorzeit erweist,165 die seinerzeit gierig nach Gold gegraben hatten.166 Am Fuße der Pryramide sieht er – voll der Bewunderung für die Macht der früheren Bewohner – einen Tempel samt Porti-

163 Vgl. jeweils Kap. 2.3.2.2.2. 164 Vgl. «Dont le sommet aigu vers les astres s’élance» (NM I.99). 165 Vgl. «jadis» (NM I.98). 166 Vgl. «Il y voit qu’autrefois, creusé par les humains, | Ce sol fournit de l’or à leurs avides mains» (NM I.98).

3.2 Abstammungstheorien und Atlantis

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cus, versehen mit indisch-brahmanischen Schriftzeichen. Nach dem Eintreten kommen alte, weise Priester auf ihn zu, die ihm Einblick in ihr bedeutendes Priesterbuch gewähren167 und er wird in die «secrets dérobés aux restes des mortels» (NM I.100) eingeweiht. Einer der Priester berichtet ihm von der weitreichenden Überschwemmung, welche die Neue wie die Alte Welt erfasst habe, und von der nur ihre Pyramidenenklave verschont geblieben sei: Avant que l’onde accrue ensevelît la terre, Et couvrît tour-à-tour l’un & l’autre hémisphère, Cet azile secret du calme & du repos, De rochers entouré, fut préservé des flots. Le vaste Continent qui forme votre monde S’éleva le premier des abîmes de l’onde ; Le nôtre plus récent, &, des eaux dégagé, Par d’humides vapeurs est encore ombragé. Depuis trois mille hivers, jamais interrompue, De Pontifes sacrés une suite assidue A gouverné ce Temple, où nos soins paternels Conservent des secrets trop cachés aux mortels. (NM I.101, chant VIII)

Die Alte Welt habe sich vor der Neuen wieder aus den Fluten erhoben und verfüge dadurch über einen Entwicklungsvorsprung;168 doch die Priester seien den Bewohnern beider Welten hinsichtlich ihres Wissens überlegen, da ihre Schriften, die sie seit 3000 Jahren in ununterbrochener Priesterlinie im Tempel verwahrten, auch Informationen über den vorsintflutlichen Zustand beinhalteten: «Ce volume secret, dans un récit fidèle, | Contient du genre humain l’histoire universelle» (NM I.101). Kolumbus erhält schließlich den Auftrag, diese Informationen an seine Landsmänner weiterzugeben, ähnlich wie es zuvor schon der ‘grand Législateur’ von Peru getan habe.169 Zum zweiten Atlantisbericht kommt es nach der Eroberung Perus, nachdem die Spanier mit ihrer Flotte in Richtung Hispaniola aufgebrochen sind und Kolumbus allein zurückgelassen haben: Kolumbus besteigt zehn Tage lang einen

167 Vgl. die Aufforderung: «vois-y la vérité» (NM I.100). 168 Diese Feststellung wird en passant immer wieder in das Epos eingeflochten, vgl. «ce peuple récent, novice dans les arts» (NM I.106) oder «Dans ce monde récent» (NM I.137). Schon vor der eigentlichen Erklärung durch die Überschwemmung wurde auf diesen Unterschied verwiesen: «le luxe abondant de sa jeune vigueur. | Plus que dans nos climats elle semble récente, | Et montre, vierge encor, une beauté naissante» (NM I.39, chant III). 169 Vgl. NM I.102: «Retourne, ainsi que lui, vers tes frères chéris, | Et, de notre lumière, éclaire leurs esprits».

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3 Gegenüberstellung epischer Modellierungen der ‘Abstammungstheorie’

Berg, bis er mit dem Bergvolk Eleuthere Bekanntschaft macht, dessen Alter Weiser, Sébastos, vom Untergang der früheren Heimat seines Volkes berichtet: Les mers ont englouti la première Patrie, Qui de ma Nation fut la source chérie. Vers les sables d’Afrique, aujourd’hui si déserts, Une terre, autrefois, dominant sur les mers, Formait une Isle, au sein de l’élément humide, Que nos aïeux, dit-on, nommaient l’Isle Atlantide. (NM II.2, chant XIII)

Im Gegensatz zum ersten Bericht, wo das Wort Atlantis nirgends im Text fällt, ist hier die Referenz auf Platons Text unverkennbar. Sébastos berichtet von der ehemaligen Macht von Atlantis, das auf seinem Zenit schließlich zu Fall gekommen sei: «D’un Empire si beau la perte était voisine. | Au comble de sa gloire il trouva sa ruine» (NM II.2). Vor ihrem Untergang hätten die 20 atlantischen Völker sogar in Griechenland 20 Tochterstädte bzw. Kolonien gepflanzt, mit denen sie respektvollen Umgang pflegten. Die Griechen ihrerseits hätten in den Atlantern nachahmenswerte Vorbilder gesehen, die Bewohner der Kolonien ‘atlantisch’ gesprochen (vgl. den Fettdruck): Ces Peuples, quelquefois, fondaient des Colonies A leur Mere-Patrie avec amour unies ; Et la Grèce déjà voyait, par leurs travaux, Ses plaines s’embellir de vingt Etats nouveaux, Où régnoit notre langue, où l’homme, avec aisance, Imitait de nos Arts la facile élégance. (NM II.2, chant XIII, Hervorh. G.J.K.)

Mitten in der Nacht, so berichtet Sébastos weiter, seien die mit Kunstfertigkeit errichteten Deiche der kultivierten Atlanter übergetreten und alle Bewohner hätten versucht, auf den Pyramiden Schutz zu suchen.170 Im Todeskampf der Atlanter habe der Mundschenk des Königs, Elitus, die von ihm geliebte Tochter des Königs, Aceste, geraubt und sie auf einen Berggipfel gebracht. Kurz bevor das alles verschlingende Wasser auch sie erreicht habe, soll Gott ihnen nach Stoßgebeten einen rettenden Nachen geschickt haben.171 Auf diesem ‘esquif’ hätten Elitus und Aceste bis nach Südamerika fahren können – in freudiger Erwartung einer großen Anzahl ebenso dorthin evakuierter Menschen: «Et bientôt la conduit jusqu’à ces bords nouveaux | D’un naissant Continent qui s’élevait des eaux. | La rive offre à leurs yeux une foule innombrable, | Ainsi qu’eux dérobée à l’onde redoutable.» Nach der Wahl der Königstochter zur Königin habe

170 Vgl. «S’efforçant de monter au haut des pyramides» (NM II.3). 171 Vgl. «Et le Ciel nous envoie une barque légère» (NM II.5).

3.2 Abstammungstheorien und Atlantis

429

man sich der Landwirtschaft gewidmet.172 Sébastos’ Volk habe seit nunmehr 3000 Jahren zurückgezogen ohne Kontakt zu anderen Völkern gelebt. Ferner sei aller Wahrscheinlichkeit nach die gesamte Bevölkerung des Kontinents auf Nachkommen von Atlantis zurückzuführen: Et notre Nation fut la source, peut-être, De celles qu’après nous ce Continent vit naître. Quelques frères, sans doute, échapés de nos bras, Fixerent leur séjour en différens climats. Trente siecles passés dans nos vallons propices, Ont conduit notre Peuple à l’état de délices Où tu le vois toi-même aujourd’hui parvenu. Le reste de la terre est pour nous inconnu. (NM II.6)

Am Ende seiner Ausführungen bemerkt Sébastos schließlich noch, dass der Herrscher über Peru, Manco-Capac, ursprünglich aus seinem Volk Eleuthere stamme: «Notre Peuple formé d’heureux agriculteurs, | A produit des Héros & des Législateurs. | Manco, loin de nos champs, alla sur d’autres plages, | Aux rives du Potose adoucir des Sauvages» (NM II.14). Wie passen nun diese zwei Berichte zueinander? Beide reichen exakt 3000 Jahre in die Vergangenheit. Die Atlanter des zweiten Berichts versuchten beim Kampf gegen die Flut auf ihren Pyramiden Schutz zu suchen, der Neue Kontinent des ersten Berichts wurde mit Ausnahme der Enklave und der dortigen Pyramide unter Wasser gesetzt. Es liegt nahe, die Flut, von der die Priester berichten, mit der Flut aus dem zweiten Bericht des Sébastos gleichzusetzen. Beide Berichte deuten den Grund für die große Flut in ähnlicher Weise an, wenn auch Sébastos’ Bericht mehr ins Detail geht: Er spricht davon, dass Atlantis auf dem Gipfel seiner Macht ins Unheil stürzt. Im ersten Bericht ist von der Pyramide als Symbol der Macht der Einwohner die Rede,173 bevor die plötzliche Flut eintrat. Wie ist es aber vereinbar, dass Sébastos so gut über die Vergangenheit Bescheid weiß – der ebenso von Atlantis abstammende Manco-Capac aber erst die Priester befragen muss, um sich und sein Volk in bestimmte ‘Wahrheiten’ einzuweihen?174 Auch berichtet der alte Priester von einer die beiden Welten umfassenden Flut,

172 Vgl. «Ils vinrent cultiver ces monts alors déserts» (NM II.6). 173 Vgl. «Qui [...] | Ont, par ce monument, signalé leur grandeur» (NM I.101). 174 Gemeint ist der ‘Législateur’ Perus aus NM I.101, vgl. «Des peuples du Pérou le grand Législateur | Vint connaître en ce Temple & l’homme & son Auteur». In NM I.107 wird er als «Manco-Capac» identifiziert.

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3 Gegenüberstellung epischer Modellierungen der ‘Abstammungstheorie’

während Sébastos’ Bericht textuell kaum über das Verschlingen von Atlantis hinausgeht: D’un Empire si beau la perte était voisine. Au comble de sa gloire il trouva sa ruine. La mer voyait ses eaux plus hautes que ses bords ; Des digues à grands frais suspendant ses efforts [...] Vainqueur de ces remparts, l’Océan vint un jour Couvrir l’immensité de ce riant séjour. Les Villes, les Etats, les Peuples & leurs Maîtres, Les Temples, les Palais, & les Dieux & leurs Prêtres, Tout disparut dans l’onde, (ô souvenir amer !) Ce vaste Continent fut une vaste mer. (NM II.2 f.)

Zielführender, als in den zwei Berichten nun eine leicht verschrobene Dublette zu sehen, ist es, ihnen vor der Hintergrundfolie wichtiger Texte von Vorgängern und Zeitgenossen ihren jeweiligen Sinn zuzuweisen. Exkurs zu Platons Atlantis Ihren Ursprung findet die Atlantissage bekannterweise in Platons Dialogen Timaios und Kritias, die eng miteinander verbunden sind, und in denen jeweils die beiden namensgebenden Persönlichkeiten als Berichterstatter auftreten.175 Die Atlantissage lässt sich auch in Platons Originaltext in zwei Dialogteile gliedern. Im ersten Dialogteil (Timaios) leitet Kritias durch seinen Bericht von Atlantis und Ur-Athen über zur großen Weltentstehungsrede des Timaios. Durch die auf ihn folgende ausführliche Kosmographie des Timaios wird der erste Atlantisbericht «auf eine höhere Ebene gehoben».176 Im zweiten atlantischen Dialog nach der Kosmographie (Kritias) erfährt der erste Bericht eine Vertiefung in Form «eine[r] moderne[n] ethnographische[n] Monographie».177 Kritias erzählt,178 Solon, der berühmte Gesetzge175 Vgl. Barbara Pischel: Die Atlantische Lehre. Übersetzung und Interpretation der PlatonTexte aus Timaios und Kritias. Frankfurt am Main/Bern: Lang 1982, S. 25. Lyon Sprague de Camp: Lost Continents, S. 227–231, betont, dass es unklar ist, ob die Atlantisgeschichte auch vor Plato bekannt war. Man kann aber davon ausgehen, dass Platons ausgreifende Fiktion auf vielen bekannten Legenden zum Thema ‘Überschwemmung’ (vgl. etwa Noah, Deukalion und Pyrrha), ‘Erdbeben’ und dem ‘Atlasmythos’ aufbaut (man denke an Geschichten über afrikanische ‘Atlantes’). Platon gilt in jedem Falle als erstes Zeugnis der Atlantisgeschichte in ihrem vollen Umfang, vgl. ebda., S. 16. 176 Barbara Pischel: Die Atlantische Lehre, S. 96. 177 So wird die im ersten Dialogteil kurz erwähnte geographische Lage der beiden Staaten (Atlantis und Ur-Athen) im zweiten Teil mit Details (etwa Maßangaben, genauer Aufbau der von Atlantis) ausgestattet, vgl. ebda., S. 98. 178 Vgl. Plat. Krit. 113a.

3.2 Abstammungstheorien und Atlantis

431

ber Athens, habe über Atlantis und seine Geschichte ein Epos schreiben wollen.179 Kenntnisse über Atlantis habe er durch die Befragung alter ägyptischer Priester aus Sais eingeholt.180 Diese Wechselrede Solons mit einem der Priester bestimmt den ersten Dialogteil. Sie «beleuchtet die wissenschaftlich ältere Überlieferung und genauere vorgeschichtliche Kenntnis der Ägypter im Vergleich zu den Griechen, selbst über deren Land».181 Der Priester bezeichnet die Griechen – in Form einer ‘Exclamatio’ – als völlig unerfahren und hält ihnen das vertiefte, durch den Lauf der Zeit geformte Wissen der Ägypter entgegen: ‘Oh Solon, Solon, ihr Griechen werdet stets Kinder bleiben!’ – «Ὦ Σόλων, Σόλων, Ἕλληνες ἀεὶ παῖδές ἐστε».182 Er erklärt, dass hinter der vermeintlich einzigartigen Sintflut, über die der griechische Mythos (um Deukalion und Pyrrha) Auskunft gibt, eigentlich etliche Fluten zu sehen seien, die früher stattgefunden hätten und auch weiterhin noch stattfinden würden. Die größte Flut habe dabei ca. 2500 Jahre vor Solons Bericht Atlantis und Ur-Athen getroffen und alle Menschen – mit Ausnahme einiger weniger schriftunkundiger Völkerreste in den Bergen – ins Verderben gerissen. Die Ägypter dagegen seien, vom Unwetter geschützt, nicht betroffen gewesen, weshalb sich in ihren Tempeln alle Informationen aufbewahrt fänden.183 Das Lob des ägyptischen Priesters gilt in Platons Bericht nun aber auch UrAthen, dem Gegner von Atlantis, das, ganz auf sich gestellt, dem sich in Europa und Asien ausbreitenden Machthunger von Atlantis Paroli geboten habe: «ἔπαυς[ε]ν [...] δύναμιν ὕβρει πορευομένην ἅμα ἐπὶ πᾶσαν Εὐροώπην καὶ Ἀσίαν».184 Der Priester erkennt in den Ur-Athenern schließlich den vorzüglichsten Volksstamm: ‘das trefflichste Geschlecht – «τὸ κάλλιστον καὶ ἄριστον γένος»185 – hattet ihr, ihr Griechen’. Atlantis ist nach Platons Bericht186 gegenüber der Meerenge von Gibraltar zu

179 Kritias wird in seiner Funktion als Gewährsperson besonders herausgestellt (vgl. Barbara Pischel: Die Atlantische Lehre, S. 26 f.), da er die Erzählung von seinem Großvater gehört hat und sein Urgroßvater Dropides mit Solon befreundet war, vgl. Plat. Tim. 20e: «φίλος σφόδρα ἡμῖν Δρωπίδου τοῦ προπάππου»; zitiert wird nach Platon: Opera. Bd. 4. Herausgegeben von Ioannes Burnet. Oxford: Oxford University Press 1989. 180 Vgl. Plat. Tim. 22a: «τὰ παλαιὰ ἀνερωτῶν ποτε τοὺς μάλιστα περὶ ταῦτα τῶν ἱερέων ἐμπείρους». 181 Barbara Pischel: Die Atlantische Lehre, S. 28. 182 Plat. Tim. 22b. 183 Vgl. Plat. Tim. 22 f. Harold J. Cook: Ancient Wisdom, the Golden Age, and Atlantis, S. 28, spricht von den «annals of Egyptian priests». 184 Plat. Tim. 24e. 185 Plat. Tim. 23b. 186 So auch aus Sicht heutiger InterpretatorInnen, s. Barbara Pischel: Die Atlantische Lehre, S. 34. Laut Pischels Interpretation der Platonstelle Tim. 24e ermöglicht die im Südatlantik be-

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3 Gegenüberstellung epischer Modellierungen der ‘Abstammungstheorie’

verorten und sein Machtbereich umfasst «die gesamte Insel, viele andere Inseln, Teile des Festlands, Libyen bis Ägypten, Teile von Europa bis zum Tyrrhenischen Meer».187 Die Darstellung im zweiten Atlantisdialog ist mit Blick auf Lesuire besonders von Bedeutung;188 nicht aufgrund der dort zu findenden detaillierten Darstellung des Ursprungs von Atlantis189 und ihrer Geographie resp. ihres ringartigen Aufbaus,190 sondern vielmehr durch das, was Pischel unter dem Begriff ‘Atlantische Lehre’ fasst:191 Kritias spricht über die Staatsformen der beiden alten Poleis (Atlantis und Ur-Athen) und hebt die anfängliche Treue der Atlanter gegenüber den göttlichen Gesetzen heraus – «κατήκοοί τε ἤσαν τῶν νόμων»192 – sowie ihre Einstellung gegenüber Luxusgütern (wie Gold): ῥᾳδίως ἔφερον οἷον ἄχθος τὸν τοῦ χρυσοῦ τε καὶ τῶν ἄλλων κτημάτων ὄγκον, ἀλλ` οὐ μεθύοντες ὑπὸ τρυφῆς διὰ πλοῦτον ἀκράτορες αὑτῶν ὄντες ἐσφάλλοντο νήφοντες δὲ ὀξὺ καθεώρων ὅτι καὶ ταῦτα πάντα ἐκ φιλίας τῆς κοινῆς μετ` ἀρετῆς αὐξάνεται, τῇ δὲ τούτων σπουδῇ καὶ τιμῇ φθίνει ταῦτά τε αὐτὰ κἀκείνη συναπόλλυται τούτοις.193

Hiernach sahen die Atlanter in den Luxusgütern eher eine Bürde als einen Grund zur Freude. Sie wussten, dass die Gier nach Gold das Zusammenleben zerstört, das auf der (die Gemeinschaft stärkenden) Freundschaft (vgl. ‘φιλία

findliche Insel Atlantis den Übergang zu etlichen Inseln im Nordatlantik und schließlich zum gleichnamigen Festland ‘Atlantis’ (ebda., S. 98). Dadurch, dass Atlantis untergeht, wird der Weg zum Nordatlantik versperrt (vgl. ebda., S. 52, zu Plat. Tim. 25c–d). 187 Ebda., S. 29. Vgl. Plat. Tim. 25a. Die Größe der Insel Atlantis wird bis heute kritisch diskutiert: Während Pischel (ebda., S. 32) Tim. 24e (vgl. Krit. 108e) «ἡ δὲ νῆσος ἅμα Λιβύης ἦν καὶ Ἀσὶας μείζων» so übersetzt, dass Atlantis’ Einfluss seinerzeit ‘bedeutender’ gewesen sei ‘als Libyen und Asien zusammen’, übersetzen Lesuires Zeitgenossen meist schlicht, ‘die Insel sei größer gewesen als Libyen und Asien zusammen’, s. «cette île avait plus d’étendue que [...]» (Jean-Sylvain Bailly: Lettres sur l’Atlantide de Platon et sur l’ancienne histoire de l’Asie. London: Elmesly/Paris: Debure 1779, S. 33; im Folgenden wird nach dieser Ausgabe mit der Abkürzung LA und der entsprechenden Seitenzahl zitiert). 188 Ab Plat. Krit. 109b. 189 Gewisse Parallelen lassen sich freilich auch hier erkennen, etwa wenn Lesuire von 20 Atlantisvölkern spricht; bei Platon sind es deren zehn: Kritias behandelt am Anfang seiner Rede die Aufteilung der Welt unter den Göttern, und spricht davon, dass sich Athene und Hephaistos im späteren Athen niederlassen, während Atlantis nach dem ersten König Atlas, dem erstgeborenen Zwillingssohn des Poseidon, benannt wurde. Die insgesamt fünf Zwillingssöhne ergeben die zehn Könige von Atlantis, die über fünf Generationen dort ansäßig sind und dann aus Hybris ihre Macht nach Europa und Asien ausdehnen möchten. 190 Vgl. u. a. Plat. Krit. 115. 191 Barbara Pischel: Die Atlantische Lehre, S. 44 f. 192 Plat. Krit. 120e. 193 Plat. Krit. 121a.

3.2 Abstammungstheorien und Atlantis

433

κοινῆ’) der Bewohner beruht. In Krit. 121b bekräftigt Kritias diese Formulierung, indem er unterstreicht, dass zwar von außen betrachtet Macht und Habgier nach Erfolg und Glück aussehen, darin aber Verderbtheit zu sehen ist. Zeus selbst will die Atlanter nach ihrer Degeneration, ihrem von Hybris geleiteten Akt, bestrafen und wieder Gerechtigkeit durchsetzen,194 weshalb er eine Versammlung einberuft – womit der Dialog abbricht. Verbindung von Plato und Lesuire Die zuvor angesprochenen Unklarheiten mit Blick auf die Vereinbarkeit der Berichte lassen sich mithilfe von Platos Prätext auflösen. Während der erste Bericht als literarische Antwort insbesondere auf den Timaios-Teil des platonischen Dialogs verstanden werden kann, in dem es um das mystische Kundgeben bzw. Einweihen in das hehre Wissen alter, weiser Priester geht, haben wir es beim zweiten Bericht mit dem unmittelbaren Kontext der Überschwemmung und der folgenden Herausbildung eines neuen Staates zu tun. Die Situierung des Volkes Eleuthere auf einem Berg, zu dem Kolumbus zehn Tage aufsteigen muss,195 impliziert, dass es sich bei Eleuthere um eben ein solches Bergvolk handeln könnte, von dem Kritias spricht: «τὸ γὰρ περιλειπόμενον ἀεὶ γένος [. . .] κατελείπετο ὄρειον καὶ ἀγράμματον».196 Aufgrund des Chaos der Flut hat das Volk bei Platon in der Folge keine Zeit für die Beschäftigung mit der eigenen Historie, weil es primär mit der Lebenserhaltung und dem Bedienen der ‘wichtigsten Grundbedürfnisse’197 beschäftigt ist. Dazu passt die Bemerkung aus NM II.6, wonach die Bewohner des Bergvolkes lediglich ihre eigene Gegend bzw. ihren Staat in den Bergen kennen, während ihnen der Rest der Erde unbekannt sei. Zwischen dem Untergang von Atlantis und ihrem Heimisch-Werden auf dem «naissant Continent qui s’élevait des eaux» (NM II.6) ist in der Tat wenig Zeit vergangen (vgl. die Setzung von «bientôt»), d. h. die Berg-Enklave, die den hilfesuchenden Überlebenden eine neue Heimstatt bot, ist – ähnlich wie die Priester-Enklave – nie von Wasser bedeckt worden. Damit ist die Berg-Enklave auch nicht dem Rest der Neuen Welt zuzurechnen, der nach dem Auftauchen noch ein nass-feuchtes Klima aufweist. Sébastos berichtet – anders als der omnisciente Priester – nicht von der generellen Tragweite der Flut, sondern nur von den seine Ahnen unmittelbar betreffenden Vorgängen:

194 Vgl. ‘δίκην ἐπιθεῖναι’ (Plat. Krit. 121b). 195 Vgl. «Dix fois l’aube me vit poursuivre ainsi ma route, | M’aprochant par degrés de la céleste voûte» (NM I.144). 196 Plat. Krit. 109d. 197 Vgl. «τοῦ βίου τἀναγκαῖα» (Plat. Krit. 110a).

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3 Gegenüberstellung epischer Modellierungen der ‘Abstammungstheorie’

Dois-je de ce fléau tracer la violence, La Terre qui s’enfonce, & l’onde qui s’élance, Qui va sous leurs toits même attaquer à grand bruit Les hommes endormis dans la paix de la nuit ; Ces hommes poursuivis par les flots homicides, S’efforçant de monter au haut des pyramides ? Te peindrai-je ces flots sans obstacle étendus, Absorbant dans leur sein les Peuples éperdus, Emportant les hameaux & les humbles chaumieres, Les tours & les remparts & les Villes entieres ? Peindrai-je les Bergers, les innocens troupeaux, Les Nations au loin flottantes sur les eaux [...] ? (NM II.3, Hervorh. G.J.K.)

Unter interner Fokalisierung und mit restringiertem Blickwinkel werden nur die Vorgänge um die Insel Atlantis in den Blick genommen und der globale Blick (etwa auf die Alte Welt) gänzlich ausgeblendet. Pathetisch und ausführlicher als im abgeklärten Priesterbericht hatte Sébastos die Macht von Atlantis herausgestellt, ebenso pathetisch zeichnet Sébastos das ubiquitäre Chaos nach, das über die Insel hereinbrach, vgl. oben das anaphorisch gesetzte «Peindrai-je» oder das plötzliche Hereinbrechen des Übels «dans la paix de la nuit» über friedlich schlafende Mitbürger. Anders als bei Placcius, aber analog zu Fracastoro, wird bei Lesuire Atlantis nicht völlig mit dem ‘amerikanischen’ Kontinent in Eins gesetzt, sondern die ehemaligen Bewohner der Insel Atlantis fliehen auf den angrenzenden atlantischen Kontinent. Der zweite Atlantisbericht bei Lesuire Während sich die Priesterenklave durch ihr vorsintflutliches Wissen über die gesamte Welt auszeichnet, haben die Eleutheres (allen voran Sébastos und MancoCapac, der Gesetzgeber Perus) nicht von vornherein Einblick in das hehre Wissen der Priester. Die Enklave des Bergvolkes Eleuthere ragt dagegen durch ihr über 3.000 Jahre gewachsenes politisches System heraus. Dieser nunmehr politische Anknüpfpunkt an die Atlantissage kommt nicht sonderlich überraschend, waren doch auch in Platons Bericht bezüglich ‘Ur-Athen’ und Atlantis Überlegungen zum ‘Idealstaat’ mit eingeflossen. Lesuires ‘Post-Atlantis-Staat’ des Bergvolks weist nun in eine Richtung, die dem platonischen Stadt-Konzept von Atlantis widerspricht. Eleuthere hat über die Jahrtausende viele staatliche Organisationsformen erprobt und sich so für ihr jetziges System entschieden: «On nous vit essuyer, dans des tems moins prospères, | Des Peuples policés l’éclat & les misères ; | Mais nous sûmes, guéris de nos illusions, | Détruire les Cités, fléaux des nations» (NM II.7). Auffälligerweise greift der Autor bei der Beschreibung der staatlichen Organisation des Bergvolkes auf die typischen Schlagworte

3.2 Abstammungstheorien und Atlantis

435

der französischen Revolution zurück, die sich ja im Zeitalter der Aufklärung herausbildeten: Nos Citoyens entr’eux partagerent les terres ; Et les cultivant tous, laboureurs volontaires, Etablirent entr’eux, avec la liberté, Le respect pour les Loix, la simple égalité. Alors, & le bonheur, & l’heureuse abondance, Des vertus parmi nous répendant la semence, Les mœurs & la santé, le repos & la paix Revinrent dans nos champs se fixer pour jamais. (NM II.7, chant XIII, Hervorh. G.J.K.)198

Im Sinne der drei Schlagworte unterstreicht Sébastos die Vorzüge der Hauptstadt des Staates der Bergvölker. Es handelt sich um eine mobile Stadt (‘ville ambulante’), die nicht an einen festen Ort gebunden ist, sondern im gesamten Reichsgebiet umherwandert. Hierbei hat sich Lesuire wohl vom zeitgenössisch nicht unbeliebten biblischen Bericht (aus 1 Sam 15,5) über die wandernde Stadt Amalec inspirieren lassen.199 Die ‘ville ambulante’, die in nur zwei Tagen an einem neuen Ort errichtet wird,200 wird beschrieben als perfekte Mischung aus Natur und Kultur.201 Nach

198 Die drei Schlagworte dominieren auch den folgenden Bericht über die Stadt und die dortigen Spiele im Amphitheater; vgl. etwa «La mère du Héros & l’idole du Sage, | L’auguste liberté lève un front radieux, | Et de nos Citoyens fait des Rois ou des Dieux. | Ici, dans ses foyers, & sous son toit champêtre, | L’homme est l’égal de l’homme, & ne craint point un maître» (NM II.13, Hervorh. G.J.K.). 199 Der zeitgenössische Bibelexeget Augustin Calmet: Commentaire littéral sur tous les livres de l’ancien et du nouveau testament. Les trois premiers livres des rois. Paris: Emery 1711, S. 188, kommentiert diese Bibelstelle, in der Saul die Stadt Amalec betritt, folgendermaßen: «Les Amalécites étoient des peuples vagabonds, qui n’avoient point de demeure assurée; la ville capitale étoit apparemment la seule du pays; elle étoit tantôt dans un lieu, tantôt dans un autre; selon que le Roi changeoit de demeure, in transportoit les tentes qui composoient cette ville ambulante. On dit aujourd’hui dans l’Ethiopie, il n’y a proprement point de villes; le lieu où le Prince a son camp est la capitale du pays, & ce camp est tantôt dans un canton, & tantôt dans un autre». Die Verknüpfung der ‘ville ambulante’ mit der Neuen Welt findet sich bei Joseph François Lafitau: Histoire des découvertes et conquestes des Portugais dans le Nouveau Monde. Bd. 2. Paris: Saugrain/Coignard 1733, S. 80, der nach den Entdeckungsfahrten Magellans auch auf die portugiesischen Eroberungen in Afrika zu sprechen kommt und dort die äthiopischen Prinzen mit ihrer ungewöhnlichen ‘wandernden Stadt’ beschreibt. 200 Vgl. «Et deux jours font éclore une Cité superbe» (NM II.8). 201 An mehreren Stellen wird dies knapp konstatiert, vgl. NM II.13: «Ici tout est campagne, & tout est cultivé» oder NM II.30: «un azile enchanteur | Où j’ai vu dans les champs les Arts & le bonheur». Vgl. ausführlicher: «un jardin riant aussi bien qu’une Ville ; | Puisqu’il unit enfin, par des accords touchans, | La splendeur des Cités, & les graces des champs. | La Nature y sou-

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3 Gegenüberstellung epischer Modellierungen der ‘Abstammungstheorie’

NM II.15 kümmern sich die Bewohner in ihrem Lebensalltag zuerst um die Belange der Natur und widmen sich dann der Kultur. Lesuires Ausführungen sind hierbei vom Diskurs des 18. Jahrhunderts über den perfekten Staat bzw. über die Verbindung der Kultur mit dem Naturzustand inspiriert, insbesondere wohl von Diderots Vorstellung vom besten Staat, die auf der Annahme gründet, dass man den Menschen in seiner ambigen Situation zwischen natürlichen und kulturellen Einflüssen am besten «als Zweiheit definiert»202 und auch ein tragendes Staatskonzept Natur und Kultur vereinen sollte. In Diderots Vorstellung eines ‘Gesellschafts-Kreislaufs’203 ist der Mensch von Anfang an ein gesellschaftliches Wesen; doch lässt sich eine kompetitive erste Phase, bei der das egoistische Erfüllen der eigenen Wünsche im Vordergrund steht (im Sinne eines kompetitiven, Hobbes’schen ‘bellum omnium contra omnes’) vom zweiten Zustand eines wohlgeordneten ‘état de lois’ unterscheiden. Der «état intermédiaire»,204 bei dem die eigenen Bedürfnisse mit denen der Gesellschaft übereinstimmen und der Mensch für sich und die Gesellschaft am meisten aus seinen Talenten macht, ist der ideale Höhepunkt,205 auf den aber bald wieder die Spaltung der Gesellschaft in Untergruppen samt Krieg und Despotismus folgt.206 Zum Erreichen dieses Idealzustandes plädiert Diderot für eine gesellschaftliche Veränderung; am eindrücklichsten tut er dies in seinem Supplément au Voyage de Bougainville,207 wo er auf ein «amendement des lois dans le sens d’un rapprochement avec la nature»208 abzielt. Bei der Beschreibung der Gesellschaft des Bergvolks tritt nun ein Troubadour auf, der den Zweck der Gemeinschaft – der oralen Tradition eines ‘jongleur’ gemäß – in

rit, dans sa riche culture, | Aux travaux des humains mêlés à sa parure» (NM II.8); «Les Cédres, sur les toits, étendent leurs ombrages, | Dispersent leurs parfums, balancent leurs feuillages ; | Et, des balcons rians qu’embrassent des berceaux, | On peut cueillir des fruits suspendus aux rameaux. | J’arrive au bord d’un fleuve, utile tributaire, | Qui vient prêter son onde en ces murs étrangère, | Qui partage la Ville, & voit, sur ses deux bords, | Un double amphithéâtre élever ses trésors» (NM II.9). 202 Thomas Stöber: Diskursformen der Aufklärung. Gespräch und Supplement in Diderots Supplément au voyage de Bougainville. In: Gabriele Vickermann-Ribémont/Dietmar Rieger (Hg.): Dialog und Dialogizität im Zeichen der Aufklärung, S. 105. 203 Die dem «mouvement circulaire» (Michèle Duchet: Anthropologie et histoire au siècle des Lumières, S. 391) des Helvétius ähnelt. 204 Ebda., S. 459. 205 Vgl. ebda., S. 462: «Diderot rêve d’une société où l’homme jouirait des commodités et des douceurs de la civilisation, tout en conservant la liberté et l’insouciance des sauvages». 206 Vgl. ebda., S. 386–390. 207 Vgl. ebda., S. 458: «une aspiration à une société autre». 208 Tzvetan Todorov: Nous et les autres, S. 38.

3.2 Abstammungstheorien und Atlantis

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volksnahem Ton, einem «langage trop simple & trop vrai pour l’Europe» (NM II.12), formuliert: Le sauvage isolé peut, dans la solitude, Borner à ses besoins sa juste inquiétude : Qui vit seul est son monde, & ne doit rien qu’à soi ; Mais la Société prescrit une autre loi. On se doit de bienfaits un échange équitable : Qui vit aidé d’autrui, doit aider son semblable. Formez un Peuple heureux de frères & d’amis, C’est peu d’être assemblés, il faut qu’on soit unis. (NM II.11)

Zu beachten ist auch der einleitende Kommentar des Erzählers: «Ce simple Citoyen trace aux yeux des mortels, | Les devoirs les plus saints & les plus solemnels: | Et sans pompe, sans art, d’une voix pastorale, | Expose & persuade une pure morale» (NM II.11). Eindeutig ist mit der ‘pure morale’ die christliche Moral der Nächstenliebe gemeint, die einer natürlichen Pflicht gleichkommt. Genauso hatte auch Diderot in seiner 1774 entstandenen Ausgabe der Histoire des Deux Indes Raynals postuliert, dass neben gesellschaftlichen auch religiöse Rechte und Pflichten immer auf dem Naturrecht basieren müssen.209 Der erste Atlantisbericht bei Lesuire Der zweite Atlantisbericht hat sich somit klar in Richtung einer Auseinandersetzung mit dem ‘perfekten Staat’ bewegt. Der erste Atlantisbericht dagegen setzt beim Wissensvorsprung der (die Sintflut überlebenden) Priester an und entwickelt diesen Gedanken weiter. Anders als bei Platon sind diese Alten Weisen jedoch nicht in Ägypten anzusetzen, sondern in der Neuen Welt. Von dort aus wurden vor der großen Flut bereits in Richtung Welt Schiffe ausgesandt, um Informationen zu sammeln. Davon berichtet einer der Priester dem genuesischen Helden: De la mer avant vous affrontant les orages, Nous avons envoyé sur vos lointains rivages Des confidens discrets, dont la sincérité A tracé vos erreurs avec naïveté. Ce volume secret, dans un récit fidèle, Contient du genre humain l’histoire universelle, Où la crainte jamais, ni le mensonge impur N’ont alteré des faits l’ordre constant & sûr. (NM I.101)

Das Hauptinteresse liegt dabei unverkennbar auf dem Preisgeben dieser im «volume secret» befindlichen ‘Botschaft’ der Priester des ‘Tempels der Wahrheit’. 209 Vgl. ebda., S. 441.

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3 Gegenüberstellung epischer Modellierungen der ‘Abstammungstheorie’

Doch wird die Antwort auf die Frage, welche ‘vérité’ Kolumbus nun eigentlich konkret im ‘Temple de la Vérité’ preisgegeben wird, bei der Lektüre des Textes recht offengehalten, d. h. die ‘vérité’ wird nicht konzise definiert. Verfolgen wir die bereits begonnene Passage der Priesterrede aus NM I.101 weiter:

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‹Apprends ces vérités pour instruire tes frères, A ne pas rechercher des rives étrangères. Des peuples du Pérou le grand Législateur Vint connaître en ce Temple & l’homme & son Auteur. Instruit des volontés du Maître du tonnerre, Il sut mépriser l’or, & cultiver la terre. Retourne, ainsi que lui, vers tes frères chéris, Et, de notre lumière, éclaire leurs esprits.› Colomb lut. Quels tableaux ! quels récits vénérables ! Que nous sommes enfans avec toutes nos fables ! C’est là qu’il reconnut l’origine des Rois, La nature du peuple, & ses mœurs, & ses droits. Il y vit le Néant de l’état où nous sommes. Il aprit sous la terre à connaître les hommes : ‹O vérité cachée au fond de ces deserts Qu’il faut aller chercher dans un autre Univers, Dit-il, comme tout cède à la force ou la ruse ; Et, pour nous dépouiller, combien on nous abuse ! Je vois la vérité dans ces secrets reduits. Un Sage a dit chez nous : Elle est au fond d’un puits. Ah ! ne m’ordonnez pas de rompre le silence ! A mon cœur déchiré je ferais violence ; Et, sur nos tristes bords, loin de rien révéler, Ami de mon repos, je veux tout y céler. Que je serais traité d’imposteur & d’impie ! Que je verrais, grand Dieu, persécuter ma vie ! › Trois fois l’astre du jour s’éleva dans les Cieux Tandis qu’il respira dans ces paisibles lieux ; Et que son ame pure aurait été contente D’y pouvoir terminer sa carrière innocente ! Mais il fallait quitter ses aziles chéris. (NM I.101 f.; Fettdruck G.J.K.)

Beginnen wir mit dem zweiten Absatz der zitierten Passage: Kolumbus ist völlig erschüttert, nachdem ihm in die geheimen «vérités» (man beachte den Plural) Einblick gewährt worden ist. Dabei werden ihm in V. 10 («Que nous sommes enfans») in nahezu wörtlicher Übersetzung die Worte des ägyptischen Priesters gegenüber Solon aus Platons Bericht in den Mund gelegt. Nur ist es hier der Fragestellende selbst, der von sich aus zu dieser Einsicht gelangt. Durch diese klare intertextuelle Referenz auf Platons Text werden zeitgenössische LeserInnen spä-

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testens an dieser Stelle dazu angeregt, den Bezug zu Platons Urtext zu schaffen, auch wenn der Name Atlantis im ersten Atlantisbericht nicht fällt. Dort wurde sich Solon (durch die Erläuterungen des ägyptischen Priesters) des Halbwissens der Griechen gewahr, die des tieferen Einblicks in die Vielzahl der sich wiederholenden Naturkatastrophen entbehrten. Darauf dürften sich hier die «fables» aus V. 10 beziehen. Die ‘vérités’ der Priester umfassen außerdem eindeutig (vgl. V. 11–13) das Wissen um vorige Seefahrten und weiteres Wissen über die vor der Sintflut existierenden Staaten, sei es historisch, politisch oder gesellschaftlich. Ab V. 14 (vgl. «connaître les hommes») verlagert sich der Fokus dann auf eine Art anthropologische Konstante, die Kolumbus als ‘vérité’ mitgeteilt wird, die trotz ihrer Vagheit unbestreitbar negativ gefärbt ist: ‘Macht’ und ‘Listenreichtum’ sind die den Menschen beeinflussenden Gewalten. Im Anschluss hieran erlebt man einen emotionalen Ausbruch des Kolumbus, der sich weigert, diese ‘vérités’ an seine Mitbürger weiterzuleiten. Kolumbus malt sich die schlimmen Szenarien dieses Kundtuns aus (vgl. V. 25 f.) und verbringt im Anschluss daran erst einmal drei Tage unter der Erde, bevor er – sichtlich belastet – zu seiner Flotte zurückkehrt: Il regagne le bord, il remonte sur l’onde, Gémissant des malheurs qu’il doit causer au monde ; Renfermant, dans son cœur sensible & généreux, De tristes vérités un dépôt douloureux. Il regarde de loin ce monument immense Où l’humble vérité résidait en silence ; Mais qui, détruit enfin par des guerriers cruels, Est ravi pour jamais aux regards des mortels. (NM I.103, Hervorh. G.J.K.)

Der zitierte Abschluss der Passage verleiht der Negativität der (nunmehr) «tristes vérités» weiter Nachdruck, welche Kolumbus in seinem ebenso traurigen Herzen (vgl. den «dépôt douloureux») zurückhält. Neu ist dabei jedoch Kolumbus’ Klage über die «malheurs qu’il doit causer au monde» als Folge der ‘vérités’. Der in die Zukunft weisende Zusatz des Erzählers aus den letzten Versen der zitierten Passage bestätigt Kolumbus’ düstere Gedanken: Aus der Ferne blickt Kolumbus auf die Priesterenklave, die samt der ‘vérité(s)’ durch die spanischen Soldaten (vgl. «des guerriers cruels») schlussendlich bald der völligen Zerstörung anheimfallen wird. Durch das bisher Dargelegte lässt sich auch der vage gehaltene einleitende Zweizeiler zu Beginn des Abschnittes (V. 1 f.) rückblickend erklären: ‘Empfange diese Wahrheiten, um deinen Brüdern die Augen zu öffnen, dass sie keine fremden Ufer suchen sollen’. Dieser Aspekt der ‘Botschaft’ gewinnt erst durch den Einbezug der Kenntnis der Platonlektüre klare Konturen: Zum einen war Platon – anders als Lesuire – dezidiert auf die Hybris der Atlanter eingegangen

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bzw. hatte die Athener als Gegenspieler des von Hybris geleiteten atlantischen Eroberungszugs positiv herausgestellt. Dass Atlantis seinerzeit aufgrund eben dieser Hybris untergegangen ist, wird in Lesuires zwei Berichten nirgends explizit erwähnt,210 muss jedoch zum besseren Verständnis vorausgesetzt werden. Zum anderen lässt sich vor der Hintergrundfolie Platons die Reaktion Manco-Capacs auf die Priesterbotschaft einordnen: ‘Von den Absichten Gottes in Kenntnis gesetzt, verstand Manco-Capac sich darauf, das Gold geringzuschätzen und die Erde zu beackern’ (V. 5 f.). Manco-Capac hat also aus der ‘vérité’ der Priester die Lehre gezogen, sein Volk solle die Gier nach Gold eindämmen und stattdessen Agrikultur betreiben.211 Das erinnert an die bereits behandelte Stelle im Kritias, nach der sich Atlantis anfänglich durch sein Vertrauen auf Gott und die Verachtung von Gold und Luxusgütern angemessen verhalten hat. Damit besteht ein wichtiger Teil der ‘vérité’ des atlantischen Priesters zweifelsohne darin, im ersten atlantischen Status zu verharren, nicht zu ‘degenerieren’ und aus Hybris und Machtgier fremde Länder aufzusuchen bzw. die von Natur aus getrennten Welten zu vereinen.212 Interessant ist der weitere Umgang mit diesem Teil der ‘vérité’: Kolumbus verweigert das Weiterleiten der Priesterbotschaft an seine Leute. Dabei schien dem Priester gerade das besonders wichtig zu sein (vgl. das iterierende Stichwort «frères» in V. 1 und V. 7), hatte er doch die Art, wie Manco-Capac mit der ‘vérité’ umging, als vorbildhaft herausgestellt. Im folgenden Gesang (chant IX) wird dann allerdings just dieses ‘vorbildliche’ Vorgehen als Misserfolg entlarvt: Zwar hat Manco-Capac durch das Einweihen seiner Untertanen temporär im Land für Frieden gesorgt,213 doch folgte prompt «un revers trop funeste»

210 Bei genauer Lektüre findet sich ein indirekter, diese Lesart stützender Hinweise; nämlich die Formulierung bei der Beschreibung der zur Pyramide führenden Höhlenlandschaft: «Il y voit qu’autrefois, creusé par les humains, | Ce sol fournit de l’or à leurs avides mains» (NM I.98). Sie kennzeichnet das frühere ‘empire’ zwischen den Zeilen hinreichend als machthungrigen Staat. 211 Dass Manco-Capac seinen Untertanen die Landwirtschaft lehrt, gilt als eines der wenigen historischen Fakten und wird so z. B. auch im Vorwort von Madame de Graffigny vorausgesetzt, vgl. Madame de Graffigny: Lettres d’une Péruvienne, S. 22. 212 Dieser Teil der ‘vérité’ ist auch deswegen besonders von Interesse, da er auch in anderen Epen ab 1750 Gewicht erhält. In Bourgeois’ Epos (vgl. CCAD II.252) tritt just die personifizierte ‘Vérité’ auf, die Kolumbus berichtet, er habe durch die Überfahrt die Büchse der Pandora geöffnet. Dies habe zur Folge, dass beide Seiten mit Übeln zu kämpfen hätten. Bei Bourgeois wird dieser Bericht der ‘Vérité’ zum Großteil neutralisiert, wenn kurz darauf vom positiven Effekt des Kontakts der Welten die Rede ist, u. a. vom Zugriff auf neue Heilmittel für diverse Krankheiten. 213 Vgl. «[Manco-Capac] les avait réunis sous de paisibles loix» (NM I.107).

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(NM I.107): Gleich nach seinem Tod kehrten die Untertanen seinen Gesetzen den Rücken und ‘degenerierten’.214 Schuld hieran ist – laut der Stimme des Erzählers – schlicht der Lauf der Dinge: «Le temps avait déjà renversé [s]on ouvrage» (NM I.107). Damit ergibt sich nach fortgeschrittener Lektüre (d. h. im Rückblick) aus dem ersten Atlantisbericht eine durch und durch pessimistische Weltsicht, da das wertvolle Wissen der weisen Priester in jedem Falle ungehört verhallt. Hierzu passt das dunkle Vorzeichen des Untergangs der Pyramide samt dem Tempel der Wahrheit – und damit das Versiegen der Quelle des Wissens selbst. Als Ergebnis bleiben ein degeneriertes Peru sowie ein degeneriertes Spanien. In Kap. 2 hatten wir beobachtet, wie diese beiden degenerierenden Semiosphären mit ihren durchaus ähnlichen, hierarchisch geordneten Kernen in ihrer jeweils eigenen, zueinander komplementären Art der Degenerierung aufeinanderprallen und wie es daraufhin zu einer erneuten (an Atlantis erinnernden) Flut bzw. Naturreaktion kam, die Peru vollends zerstörte. Bei dem eben genannten, degenerierenden ‘Lauf der Dinge’ Perus wird nun bei Lesuire geschickt auch Buffons bzw. De Pauws Hypothese vom Degenerieren der ‘amerikanischen’ Lebewesen durch das Klima eingebunden.215 Abgesehen von der Priester- sowie der Bergenklave, die vom schlechten post-sintflutlichen Klima nicht betroffen sind, zeigt das Klima allerorten in der Neuen Welt seine Wirkungen. Die von Manco-Capacs Gesetzen abgefallenen Peruaner führen einen von Müßiggang geprägten Lebensstil, bei dem sich deren unkontrolliert ausschweifende, ihren Luxus zur Schau stellende Art mit dem negativen Einfluss des Klimas verquickt.216 Das Klima trägt auch eine gewisse Mitschuld an der Naturkatastrophe, die Peru nach dem Aufeinanderprallen der Semiosphären-

214 Vgl. «Ces peuples avilis, & déjà corrompus, | Avaient trop tôt perdu leurs loix & leurs vertus» (NM I.107). 215 Vgl. später (NM II.36, chant XV) die Anm. Lesuires über die Lebewesen des amerikanischen Kontinents «qu’en général on y voit inférieurs à ceux de notre Continent». Die Klimatheorie findet auch en passant immer wieder einmal Erwähnung, so bei den Erläuterungen des Dolmetschers (vgl. NM I.75): «cet Etat [...], ou plus ou moins sauvage, | Des alimens, du sol, du climat est l’ouvrage». Dass Lesuire sich um ein ‘ausgewogenes’ Einbeziehen zeitgenössischer Quellen bemüht, wird auch daran ersichtlich, dass er De Pauws schärfsten Kritiker, Dom Pernety – bekannt u. a. für seine Fables égyptiennes et grecques dévoilées et réduites au même principe, avec une explication des hiéroglyphes (1758), vgl. Erica J. Mannucci: The Savage and the Civilised, S. 383 – gleichermaßen einen prominenten Raum in seinem Epos zugesteht. Zur Thematik des Ursprungs allen Wissens und der Verbindung von Ägypten, Griechenland, Atlantis und alten Hieroglyphen der Atlantisprieser vgl. die folgenden Ausführungen zu Bailly, Carli und dem Einfluss zeitgenössischer Atlantis-Interpretationen. 216 Vgl. NM I.107, chant IX: «sans avoir les arts qui policent les mœurs, | Ils avaient les trésors qui corrompent les cœurs ; | Et l’air qu’on respirait, par sa molle influence, | chassait de ce climat la force & l’innocence».

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kerne ins Unglück stürzt: Aufgrund des fehlenden Jahreszeitenwechsels in der Neuen Welt kommt es allgemein immer wieder zu Fluten und Erdbeben.217 Die volle Tragweite der Auswirkungen des schlechten Klimas begegnet im Nordamerika-Exkurs des Epos.218 Ohne externe kultivierende Einflüsse (wie das von Manco-Capac nach Peru getragene Wissen um das Kultivieren der Erde) wirken sich in Nordamerika ohne jeglichen Filter die in anderer Mischung als in Europa vorhandenen Elemente aus, insbesondere der überall präsente feuchte Schlamm.219 Die Bewohner sind müßig, langsam, haben einen geringen Sexualtrieb.220 Die von Kolumbus’ Bruder Barthélémi gestellte Frage, ob es sich bei der Neuen Welt um eine zu ‘alte’ oder zu ‘junge’ Welt handle,221 beantwortet folgerichtig die Erzählerstimme: «Des races habitans l’espèce languissante | Trahit du Continent l’existence récente» (NM I.135).222 Dieses pejorativ konnotierte Nordamerika, dieses weitreichende, aber nahezu unbewohnte Niemandsland – Roelens spricht von einem «gigantesque labyrinthe»223 – nutzt Lesuire geschickt als Teil der Ereignisregion, in dem Barthélémi

217 Vgl. NM I.109: «La terre y doit trembler, la nature inactive | Veut du froid & du chaud sentir l’alternative». Womöglich hat sich Lesuire hier auch an Platons Timaios (24c) orientiert, nach dem die «ἐυκρασία τῶν ὡρῶν» ausschlaggebend ist für Europas verständige Bewohner. 218 Vgl. die Appendix. Der Hauptteil des Nordamerika-Exkurses findet sich in NM I.131–135, als Barthélémi bei der Suche nach seinem Bruder Nordamerika durchquert. Als Kolumbus in einer Rückblende von seinem Besuch beim Bergvolk Eleuthere (mit den zweiten Atlantisbericht) berichtet, kommt er ebenso auf seinen eigenen Weg vom Äquator bis ans nordische Eismeer zu sprechen, sodass der Nordamerika-Durchzug Barthélémis in NM II.39–42 einen Nachhall findet, und der Nordamerika-Exkurs quasi aufgespalten wird und den zweiten Atlantisbericht rahmt. 219 Vgl. «Le terrein destructeur qu’on ne cultive pas | Exhale dans les airs le souffle du trépas» (NM I.134) und das Ende des Timaios (25d): Auch dort ist schon vom Schlamm die Rede, den der Untergang von Atlantis zurücklässt. 220 Lesuire lässt seinen Erzähler hier (in NM I.134) die typischen Gedanken Buffons in die Handlung einflechten: «Trop récemment sortis [sc. les bords du ‘Nouveau Monde’; G.J.K.] de l’Empire des eaux, | Que souvent des humains l’espèce peu féconde, | Semble y ramper plus bas que dans notre ancien monde. | Leur corps a moins de grace, & leur esprit moins vif, | Obscurci sous un voile, y demeure captif». Vgl. zum mangelnden Sexualtrieb NM II.45. 221 «‹La nature, dit-il [sc. Barthélémi; G.J.K.], trop vieille ou trop récente | Est-elle abatardie, est-elle encor naissante ? | Ou l’air triste & pésant, par sa malignité, | A-t-il des animaux altéré la santé ?›» (NM I.134, chant XI). 222 Wiederholt bei Kolumbus’ (Nord-)Amerikadurchzug: «un monde récemment sorti du sein des eaux» (NM II.43). 223 Maurice Roelens: L’Expérience de l’espace américain dans les récits de voyage entre La Hontan et Charlevoix. In: Theodore Besterman (Hg.): Transactions of the Fourth International Congress on the Enlightenment, vol. III. Oxford: Voltaire Foundation 1976, S. 1866. S. ebda., S. 1893: «l’espace de la sauvagerie, dont l’espace nord-américain deviendra la référence exemplaire».

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(zuerst scheinbar aussichtslos) auf die Suche nach seinem geliebten Bruder geht. Dass Barthélémi etwa seinen Bruder Kolumbus zuerst kaum wieder erkennt, weil der durch seinen gut einjährigen Aufenthalt auf dem Neuen Kontinent quasi selbst zu einem Wilden geworden ist,224 belegt, dass das Klima der Neuen Welt sogar die dort landenden Bewohner der Alten Welt verändert.225 Lesuires Nordamerika entspricht in seiner Inszenierung hier dem negativ gezeichneten Nordamerika aus den Reiseberichten der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts (bis 1744), die davon ausgehen, dass diese Gegend nur von wenigen Wilden bewohnt werden könne, die sich auf die vorliegenden Lebensumstände eingestellt hätten.226 Doch verbindet Lesuire dieses (chronologisch) ‘frühe’ Nordamerikabild der Reiseberichte geschickt mit dem späteren positiven Bild, welches das Gros der philosophischen Schriften der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts von Nordamerika zeichnet: Während die «thèse [...] de la nouveauté du continent américain, qui séduira des esprits comme Buffon ou De Pauw»227 in den früheren Reiseberichten völlig fehlt, reichert Lesuire seine Beschreibung Nordamerikas eben um die Buffon’sche bzw. De Pauw’sche Klimatheorie an und verbindet mit Nordamerika zusätzlich das Streben nach Freiheit, das bei Charlevoix bereits angelegt war.228 Er geht ebenso auf beeindruckende, sublime Naturspektakel (etwa die Niagarafälle) ein.229 Bei Barthélémis Durchzug durch Nordamerika liegt der Schwerpunkt auf dem Verquicken der ‘Nordwelt’ mit einem weiteren politischen Diskurs bzw. mit der Dichotomie ‘Naturzustand vs. Kulturzustand’. Anders als das Bergvolk Eleuthere in Kolumbus’ Bericht haben viele nördliche Naturvölker diesbezüglich noch nicht die perfekte Ausgewogenheit gefunden, was Lesuire im vergleichenden Blick auf europäische Staatssysteme zum Ausdruck bringt. Gegenüber dem scheinbar ‘perfekten’ Rousseau’schen Naturzu-

224 Vgl. «Des Sauvages grossiers se distinguant à peine» (NM I.139, chant XI). 225 Vgl. Kap. 1.4 zu Buffons Theorie. 226 Roelens, betont «[que] s’impose l’image d’un monde hostile à l’Européen, hérissé de barrières et d’obstacles, en face duquel il est mal outillé, physiquement, matériellement et mentalement» (ebda., S. 1879). 227 Ebda., S. 1892, Hervorh. im Original. 228 Vgl. Pierre-François-Xavier de Charlevoix: Histoire et Description générale de la Nouvelle France, avec le Journal historique d’un Voyage fait par ordre du Roi dans l’Amérique Septentrionale. Paris: Ganeau 1744, S. 172, lettre X, Eintrag zum April 1721: «ses Habitans naturels, qui mettent tout leur bonheur dans la liberté & l’indépendance». 229 So zu finden auch bei Louis Hennepin: Nouvelle Découverte d’un très-grand pays situé dans l’Amérique, Entre le Nouveau Mexique, & la Mer Glaciale. Leide: Vander 1704, S. 44–49, chapitre VII, «Description du Saut, ou chûte d’eau de Niagara, qui se voit entre le Lac Ontario & le Lac Erié». Bei Kolumbus’ Durchquerung des Nordens findet sich mit dem Nordlicht ein ähnliches Naturspektakel (vgl. NM II.39–42).

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stand mancher Völker sind die europäischen Staaten negativ zu bewerten. Verglichen mit etlichen barbarischen Staaten – gekennzeichnet von den «excès de vertus & d’horreurs» der «hordes féroces» (NM I.134) – sei die europäische Kultur aber durchaus gutzuheißen.230 Im Gegensatz etwa zu Bourgeois, der in seinem Epos gleichermaßen die nordamerikanischen Gebiete beschreibt,231 macht Lesuire das Gebiet v. a. für (staats)philosophische Betrachtungen nutzbar. Bourgeois hat den Nordamerika-Exkurs dahingehend eingesetzt, die Leistungen der Franzosen in ihren nördlichen Kolonien denen der Engländer und Spanier gegenüberzustellen. Ein besonderes Augenmerk legte Bourgeois hierbei auf den von den Franzosen in Kanada etablierten Handel mit Pelzen,232 der z. B. auch beim bereits in einer Fußnote kurz erwähnten Reisebericht Hennepins zusammen mit dem Exporttier ‘Biber’ Erwähnung findet.233 Diese Einblicke sollen genügen, um zu illustrieren, wie Lesuire in fließendem Übergang seine ‘idealstaatlich-politische’ Auslegung des Atlantisberichts mit den zeitgenössischen Theorien Buffons zum Klima, Diderots oder Rousseaus zum Thema ‘Kultur vs. Natur’ vermengt. Einfluss zeitgenössischer Atlantis-Interpretationen Lesuires geschichtsphilosophische Ausdeutung der Atlantissage (in seinem ersten Atlantisbericht) ist nun ebenso wenig eine gänzlich eigenständige Idee, sondern auch sie muss vor dem Hintergrund des zeitgenössischen aufklärerischen Diskurses gesehen werden. Anhand einschlägiger Beispiele soll daher nun die

230 Die vollständige Textstelle lautet: «Barthélemi contemple en ces lieux solitaires, | De cent Peuples errans les divers caractères ; | Et voit que la Nature, en ses sauvages mœurs, | Réunit des excès de vertus & d’horreurs. | Il regrette à l’aspect de ces hordes féroces, | Nos états policés sans doute moins atroces ; | Mais quand d’autres forêts offrent à ses regards | Des peuples doux, humains, sans police & sans arts, | Enviant l’humble état de la simple Nature, | Il maudit nos talens & leur triste culture» (NM I.134). 231 S. v. a. CCAD II.234–239, chant XXIV. 232 Vgl. «des plus chaudes fourrures» (CCAD II.235). 233 Vgl. z. B. Louis Hennepin: Nouvelle Découverte d’un très-grand pays situé dans l’Amérique, S. 289. Vielsagend ist die Erwähnung des Bibers bei Lesuire, der eben nicht als Exportgut bezeichnet wird, sondern dessen halb auf dem Land, halb im Wasser gebauter ‘Staat’ herausgestellt wird: «Il [sc. Barthélémi; G.J.K.] y voit le Castor respirer tour-à-tour | Sous l’humide élément, & dans notre séjour ; | Et sourit à l’aspect de cette République, | Qui, terrestre en partie, en partie aquatique, | Cimentant sous les flots de solides remparts, | Des hommes envieux étonne les regards. | Ils vivent sous des loix, on les y voit fidèles ; | Tandis que sur un mont veillent leurs sentinelles, | Ils travaillent en paix dans le fond du vallon» (NM I.132, Hervorh. G.J.K.). Der Handel mit dem eifrigen Biber wird negativ beurteilt; der natürlich lebende Biber wird als «victime [...] d’un tyran destructeur» (NM I.133) durch den scheinbar vernunftbegabten Menschen seinem Lebensraum entrissen.

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zeitgenössisch wohlbekannte Funktionalisierung von Atlantis als ‘Ursprungsort allen Wissens’ vor Augen geführt werden. Zwei Jahre vor der Veröffentlichung von Lesuires Epos publizierte Bailly in Paris seine Lettres sur l’Atlantide de Platon. Dabei handelt es sich um an Voltaire (kurz vor dessen Tod) adressierte Briefe, die – wenngleich sie nicht selbst als Prätexte und Inspirationquell für Lesuire gedient haben sollten – doch zumindest die ihn beeinflussende zeitgenössische Diskussion um das Atlantisthema widerspiegeln. In den etwa 450 Druckseiten umfassenden Briefen stellt Bailly seine Lesefrüchte zum Thema ‘Ursprung des Wissens und der Menschheit’ zusammen, welches für ihn von besonderem Interesse ist: «[L]es commencemens de la race humaine sont si intéressans! [... L]e souvenir des hommes n’a conservé que les germes de la morale & des sciences» (LA 463). Baillys Meinung unterscheidet sich insofern von der seines Adressaten, als er diese Anfänge nicht bei den Indern und Brahmanen sieht, sondern sie bis hin zu den Einwohnern des sagenumwobenen Atlantis zurückverfolgt.234 In seinem nicht paginierten ‘Avertissement’ schreibt er, Voltaire sei der festen Überzeugung gewesen, «que les Brames, qui nous ont enseigné tant de choses, étaient les auteurs de la philosophie & des sciences. L’auteur pense qu’ils n’ont éte que dépositaires».235 Die gelehrten, mitunter ausufernden traktatähnlichen Briefe liefern nach und nach eine spezielle Interpretation tradierter historischer Berichte und mythischer Geschichten, aber auch jüngster Entdeckungen verschiedener Völker im Osten Asiens. Diesen Umstand resümiert Bailly in Form einer zusammenfassenden Hypothese in seinem 24. Brief an Voltaire vom 12. Mai 1778 mit dem Titel «Du Peuple antérieur, & récapitulation de ces Lettres». Diese soll im Folgenden236 in nuce dargeboten werden: Auf die Analyse der platonischen Atlantissage, die gleich noch nähere Behandlung finden wird, folgt die Absicht, das verschollene Atlantis

234 Der wissenschaftliche Anspruch, mit dem die Atlantisthese verfolgt wird, wird anhand der Überschrift des 12. Briefs ersichtlich: «Récit de l’île Atlantide: ce n’est pas une fiction» (LA 27). Voltaire hat nicht weniger an die Existenz von Atlantis geglaubt, es aber u. a. in seinem Essai sur les mœurs mit Madeira gleichgesetzt: «Il est vraisemblable que cette terre n’était autre chose que l’île de Madère, découverte peut-être par les Phéniciens [...], oubliée ensuite, et enfin retrouvée au commencement du quinzième siècle de notre ère vulgaire» (François Marie Arouet de Voltaire: Œuvres complètes de Voltaire. Nouvelle édition, Bd. 11, S. 5). 235 Vgl. das Kapitel ‘De l’Inde’ aus Voltaires Essai sur les mœurs: «Les brames se vantent de posséder les monuments les plus anciens [...]. Les Grecs, avant Pythagore, voyageaient dans l’Inde pour s’instruire» (ebda., S. 49) usw. 236 Gemäß LA 465–471.

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in der gegenwärtigen Welt zu lokalisieren,237 was zunächst immer wieder erfolglos bleibt:238 Das ehemalige Atlantis lässt sich nicht in Amerika verorten oder mit den Kanaren gleichsetzen,239 sondern muss laut Bailly seinen Ursprung im Norden, nördlich des asiatischen Kontinents haben.240 Nach Asien selbst sind die Einwohner von Atlantis nach dem vorausgehenden Bereisen angrenzender Inseln gelangt. Bailly lässt schließlich den bis nach Asien vordringenden atlantischen Helden Herkules241 seine berühmten zwei Säulen dort aufstellen, sodass diese bei Platon betonte Grenzlinie samt dem dort statthabenden Kampf zwischen Atlantis und Ur-Athen in die Kaukasusgegend versetzt wird.242 Dadurch, dass die in Asien gelandeten, von Atlantis abstammenden Völker über Generationen hinweg in Asien leben und ihre eigentlichen Wurzeln vergessen, kommt es schließlich zu einem Aufeinanderprallen mit neuen aus Atlantis ankommenden Menschen am Kaukasus; die sich bekriegenden Parteien aus Platons Bericht (Atlantis und ‘Ur-Athen’) haben also dieselbe Abstammung. Durch weitere Kontaminierungen mit Sagen östlicher Völker werden dann zunächst die Atlanter – mehr oder minder vollständig – mit den sich bekämpfenden Urahnen der Perser243

237 Vgl. die Überschrift zu Brief 14 der Sammlung: «Premiere recherche du Peuple perdu» (LA 83). 238 Vgl. «ce peuple est perdu comme celui qui fut l’auteur des sciences» (LA 137). 239 Bailly unterstreicht die Tatsache, dass Kolumbus Atlantis mit ‘Amerika’ gleichsetzte, dass dort aber zu Kolumbus’ Zeiten wenig Landwirtschaft betrieben worden sei und somit nicht ausreichend Nahrungsmittel zur Verfügung gestanden hätten, als dass es für das gigantische Atlantisreich hätte ausreichen können. Peru und Mexiko seien wiederum noch nicht alt genug und hätten nicht den Willen, über das Meer hinaus auszuschwärmen (vgl. LA 86–88). 240 Die These, dass das Wissen aus dem Norden kommen muss, wird wiederholt an Buffons physikalische These geknüpft, nach der die Welt einem steten Abkühlungsprozess unterliege und der damals bewohnbare Norden nun zu kalt, der unbewohnbare Süden nun bewohnbar sei. Auch geht Bailly davon aus, dass Atlantis nicht untergegangen sei, sondern sich noch immer im Norden befinde (vgl. LA 416, 425). Diese Hypothese ist nicht neu, sondern wurde z. B. bereits von Olof Rudbeck Ende des 17. Jhdts. vertreten, der in seiner Atlantica (1675–1698) patriotisch Schweden als ‘neues Atlantis’ feiert, als Hort des Wissens und der Mythologie usw., vgl. Paul van Tieghem: Le Préromantisme, S. 91. 241 Bailly betont die Wahrscheinlichkeit, nach der sich etliche antike Mythen in den Norden (nach Atlantis) versetzen lassen, und lässt so z. B. die von Odysseus besuchte Insel Ogygia oder die Insel des Hesperidengartens mit Atlantis in Eins fallen. Passim streicht er heraus, dass der Feuer- sowie der Sonnenkult nur im Norden seinen Ursprung haben kann, z. B. «ce culte [sc. du Soleil; G.J.K.] est un culte du Nord» (LA 302). Vgl. dem widersprechend Voltaires Essai sur les mœurs, wo er betont, dass das Leben in den warmen Regionen der Erde begonnen habe, etwa in Indien und China (vgl. François Marie Arouet de Voltaire: Œuvres complètes de Voltaire. Nouvelle édition, Bd. 11, S. 9) Vgl. ferner NM II.35, chant XV, wo das Feuer als «ce feu l’ame de l’univers» bezeichnet wird. 242 Vgl. auch LA 404, 410. 243 «les Dives et les Péris» (LA 412).

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gleichgesetzt, deren 9000 Jahre andauernde Herrschaft sich mit Jahresangaben des platonischen Atlantisberichts decken. Die Überlebenden dieser Kämpfe ziehen sich nach Tibet zurück; es handelt sich um die Ahnen der Brahmanen bzw. Inder. Als weitere Atlantis-Abstammende werden (neben den Chinesen) die Phönizier, Ägypter und Griechen ins Feld geführt: Hinsichtlich ihrer Abstammungsmythen und ihres Wissensfundus ähneln sich letztgenannte stark, was ihren gemeinsamen (atlantischen) Ursprung untermauert.244 Entgegen der polygenetischen Theorie Voltaires baut Bailly auf der monogenetischen Linie mit dem Hauptvertreter Joseph Lafitau (Mœurs des sauvages américains, 1724) auf. Analog zu diesem versucht er durch den parallelen Einsatz aktueller zeitgenössischer ethnographischer Informationen und antiker Quellen eine «évolution linéaire de l’homme» nachzuzeichnen:245 «Cette nouvelle direction de l’histoire débouche sur une vision globale ou universelle de l’humanité. [...] Face aux peuples dont il découvrait l’existence, l’Européen cherchait à intégrer cet afflux nouveau de connaissances dans sa vision historique du monde».246 Bailly ist sich wohl bewusst, dass sein auf diese Weise arrangierter Weltentwurf einiger intellektueller Mühe bedurfte247 und verabsolutiert sein feinfühlig konstruiertes, möglichst ‘wahrscheinliches’, aber durchaus kritisierbares ‘System’ keineswegs: «Vous penserez de ce roman tout ce que que vous voudrez ; je n’y tiens pas plus que vous, & les choses que j’ai voulu vous prouver n’en dépendent point».248 Wichtiger als das Gesamtsystem sind ihm ‘les choses qu’il a voulu prouver’, also Einzelbeobachtungen, wie der Ursprung der Menschheit und des Wissens im Norden oder die Ähnlichkeiten der Völker untereinander.

244 Vgl. «Ce peuple des Atlantes [...] est le pere de tous les autres, pere pour la vie & pour l’existence, comme pour les institutions, pour les fables & pour les histoires. Voïez comme tout commence avec lui; ce sont les arts, l’écriture [etc.]» (LA 63). 245 Edna Lemay: Histoire de l’antiquité et découverte du nouveau monde chez deux auteurs du XVIIIe siècle, S. 1313; Lemay spricht von «le va-et-vient constant qu’ils font entre les sources de l’Antiquité classique et les récits modernes relatifs aux peuples du Nouveau Monde» (ebda., S. 1327). 246 Ebda., S. 1314. Als Nachfolger Lafitaus ist in diese Reihe ebenso Antoine-Yves Goguet mit seinem dreibändigen Werk De l’origine des loix, des arts, et des sciences ; et de leurs progrès chez les anciens peuples von 1758 einzuordnen: Bei ihm hat man den Eindruck, dass aktuelle Entwicklungen (in Peru oder Indien) und frühere (in Ägypten oder Griechenland) zeitgleich verlaufen. Er zeigt in seinem Werk eine (antike) Weltgeschichte auf und bestückt sie mit aktuellen Beispielen, um zu belegen, dass sich gewisse Prozesse auch heute noch in identischer Weise finden lassen, vgl. ebda., S. 1322 f. 247 «Je respire, Monsieur, en voïant la fin de ce pénible ouvrage» (LA 472). 248 Ebda., S. 473.

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Eine der zeitgenössischen Reaktionen auf Bailly kommt vom Italiener Gian Rinaldo Carli, der sich in seinen drei Bände umfassenden Lettere americane (veröffentlicht zwischen 1780 und 1783) nicht nur mit De Pauw oder Robertson kritisch auseinandersetzt, sondern seinen dritten Band dezidiert Bailly und der Theorie Buffons von der Abkühlung der Erde widmet.249 Carli hält diese These für unwahr und betont, Atlantis gehöre geographisch schlicht dorthin, wohin es in der Antike schon immer gesetzt wurde, und es gebe keinen Beleg für sein Verlagern in den Norden:250 Io sempre mi sono maravigliato che si prestasse fede a Platone, [...] e poi si contrastasse all’ubicazione, e situazione precisa in cui Solone e Platone posero l’Atlantide, cioè in mezzo a quell’ Oceano che da essa prese il nome fra il vecchio e ’l nuovo Continente di là dallo stretto di Gibilterra.251

Carli plädiert für eine atlantische Abstammung sowohl der Bewohner der Neuen252 als auch der Alten Welt. Über das Bindeglied Atlantis habe es einen Austausch zwischen den Welten gegeben und Atlantis habe mit seinem Wissen sowohl den ‘amerikanischen’ (bzw. ‘atlantischen’ Kontinent im Sinne Platons) als auch die Völker diesseits der Säulen des Herkules erreicht.253 Zusätzlich zu dieser Verbindung habe es eine Landverbindung, die Nordwestpassage gegeben, über die «un sicuro, e certo passaggio»254 von ‘Amerika’ nach Asien möglich gewesen sein soll. Carlis Zeitgenosse Cook habe diese gesucht und erprobt. Auf diese Weise sei der Kontakt zu den chinesischen Völkern möglich gewesen, was zur Herausbildung der Hochkultur Perus beigetragen habe. Trotz ihrer Differenzen bildet Atlantis sowohl für Bailly als auch für Carli den Ursprung des Wissens und es beeinflusst die Wissenskulturen insbesondere der Alten Welt. In dieser Funktion hat sich die Atlantistheorie deutlich von den zuvor im Theorieteil behandelten Atlantistheorien entfernt.255 Auch wenn

249 Vgl. Gian R. Carli: Delle Lettere americane. Parte prima. Cosmopoli 1780, S. 8 f. und insbes. S. 4: «La terza [sc. parte; G.J.K.] è critica ed in essa si chiama ad un severo esame e l’Atlantide del Sig. Baily [sic!], e l’ipotesi del Conte di Buffon per ciò che spetta alla origine de’ Pianeti, ed al loro reciproco raffreddamento». S. zu Carli ferner Kap. 1.2.3. 250 Vgl. Gian R. Carli: Delle Lettere americane. Parte terza. Cremona 1783, S. 50. 251 Ebda., S. 47, lettera IV. 252 Vgl. Gian R. Carli: Delle Lettere americane. Parte prima, S. 7, lettera I: «i miei pensieri, o sia sogni, sopra gli antichi Popoli dell’America, ch’io credo discendenti in gran parte dagli antichissimi Atlantidi, tanto noti nella Storia de’ primi tempi». 253 Vgl. «Dato anche che gli Atlantidi abbiano propagato tanto in Egitto, in Ispagna, in Italia, quanto nel Continente d’America le loro cognizioni, e i loro costumi» (Gian R. Carli: Delle Lettere americane. Parte seconda. Cosmopoli 1780, S. 186). 254 Ebda., S. 192. 255 Vgl. Kap. 1.4.

3.2 Abstammungstheorien und Atlantis

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Carli noch auf die bekannten Größen (‘Monogenese’ und Atlantis als ‘missing link’) zurückgreift, soll nicht mehr die Besiedlung der Neuen durch die Alte Welt erhellt werden, sondern wie beide Welten zu denjenigen wurden, die sie sind. V. a. Carlis These ist hierbei eine Art Synthese verschiedener Thesen der Besiedlung über den Land- und den Seeweg (d. h. über den Atlantik), ganz ähnlich wie seinerzeit die Synthese bei Horn. Lesuire baut nun etliche von seinen Zeitgenossen diskutierte Aspekte in passender Weise in seine episch modellierte Atlantisgeschichte ein, sodass sie sich in sein eigenes ideologisches Gesamtkonzept über Kolumbus und das Aufeinandertreffen der Alten und Neuen Welt einfügt. Gerade Bailly liefert ihm hierfür eine reiche Quelle, aus der er schöpfen kann, wenngleich Lesuire sich auf globaler Ebene sehr wohl von Bailly distanziert. Lesuire ist in keiner Weise daran interessiert, eine wissenschaftlich korrekte Gesamt-Genealogie aufzustellen; insbesondere erwähnt er Baillys diachrone Wissenstransferhypothese mit dem Negieren der Gleichsetzung von Atlantis und Amerika mit keinem Wort. Vielmehr teilt er – ganz wie Marmontel vor ihm in seinen Incas – «Carli’s unconditional admiration for Peru»256 und verquickt seinen ersten Atlantisbericht mit der Priesterenklave nahe Peru bzw. dem Staat der Incas.257 Dennoch weist Lesuires Text nicht minder frappante Unterschiede zu Carlis Theorie auf. Dieser hatte der These der Nordwestpassage einen großen Wert beigemessen, Lesuire dagegen lässt – wie das Gros der Kolumbus-Epiker vor ihm – die Verbindung der Welten nur über den Seeweg stattfinden. Zudem hat sich Carli dezidiert gegen De Pauws These einer rezenten Neuen Welt258 sowie der klimatisch

256 Stefania Buccini: The Americas in Italian Literature and Culture, 1700–1825, S. 81. 257 Es handelt sich hierbei um eine – vornehmlich in Italien zu findende – zeitgenössische Interpretation, wonach die Einwohner von Atlantis als Vorfahren der Inkas in Peru gelten. Die Vorliebe der Anhänger eines aufgeklärten Absolutismus für weit entwickelte ‘amerikanische’ Gesellschaften zeichnet Buccini kurz nach und spricht von der «little sympathy [sc. of the Italians; G.J.K.] for the idealisations and the nostalgia for the primitive that were so strong in [...] France» (ebda., S. XI). Sie sind Spiegel der Unzufriedenheit der Autoren mit den zeitgenössischen politischen Verhältnissen, die aufgrund eines «partial lack of faith in eighteenth-century institutions» ein «utopian model» bevorzugen. Neben einschlägigen Werken (z. B. Algarottis Saggio sopra l’imperio degl’Incas, 1753) ist hier an italienische Theaterstücke der zweiten Hälfte des 18. Jhdts. zu denken, etwa Goldonis Peruviana (1754), die nicht zuletzt durch die Lettres d’une Péruvienne (1747) der Madame de Graffigny inspiriert wurden. Nur einige wenige Ausnahmen – wie etwa Pietro Chiari – greifen auf das Verherrlichen primitiver, wilder Gesellschaftsformen zurück, sodass Buccini bei ihm von einem «revival of the noble savage» spricht, welches «against the tide» der «Italian literati of the 1780s» (beide Zitate ebda., S. 67) verlaufe. 258 Gian R. Carli: Delle Lettere americane. Parte prima, S. 10: «Per conseguenza sono que’ Paesi in certa guisa più recenti e le Nazioni non hanno avuto tempo di rendersi come nel vecchio continente robusti [sic!], e industriosi [sic!]».

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3 Gegenüberstellung epischer Modellierungen der ‘Abstammungstheorie’

begründeten Degeneration der Ureinwohner ausgesprochen – zwei Aspekte, die bei Lesuire hingegen als gegeben vorausgesetzt werden. Blicken wir nun auf die Aspekte, auf die Bailly bei seinem Durchzug durch verschiedene geographische Hypothesen einer möglichen Situierung von Atlantis zu sprechen kommt, und die sich bei Lesuire in ähnlicher Weise wiederfinden lassen. Ein solches punktuell gesetztes (und dem platonischen Bericht fremdes) Element ist im Epos Lesuires etwa die Höhlen-Welt, die Kolumbus auf dem Weg zur Pyramide mit dem Tempel der Wahrheit durchqueren muss. Bailly hatte ausgeführt, dass auf Teneriffa ein Volk (‘les Guanchos’) leben soll, in deren Lebensraum sich unterirdische Höhlen fänden, zu denen nur die ältesten weisen Männer Zugang hätten.259 Im Rahmen seiner Beschreibung der (genetisch auf die Atlanter zurückzuführenden) Perser erwähnt Bailly z. B. mehrmals Alte Weise, die dort typischerweise den Namen ‘Magier’ tragen.260 So verwundert es nicht, dass Lesuire bei der Beschreibung der Priester diese nicht nur als «vieillard[s] vénéré[s]» (NM I.100) sondern auch als «Mages souterreins» (NM I.103) bezeichnet. Der an Rom anklingende Terminus «Pontifes sacrés» (NM I.101) komplettiert die Reihe der aus dem Kulturraum der Alten Welt stammenden Bezeichnungen für die Atlantispriester.261 Ein weiterer scheinbarer Fremdkörper im Lesuire’schen Atlantisbericht ist die unkommentierte und als selbstverständlich vorausgesetzte Vorstellung Baillys, wonach die Inder bzw. Brahmanen ihr Wissen den Einwohnern von Atlantis zu verdanken haben.262 Moderne (nur mit Platons Text vertraute LeserInnen) mögen vom plötzlichen Einbinden der Brahmanen überrascht sein,263 zeitgenössische LeserInnen waren es nicht. Die Porticus des Tempels

259 Vgl. LA 95: «Ces souterreins sont fermés, leur entrée est un secret confié à une succession de viellards, qui se le transmettent». So auch bei Gian R. Carli: Delle Lettere americane. Parte seconda, S. 186: «un analogia di costumi con gli antichi Egizj [sic!], e particolarmente quello di imbalsamar i Cadaveri». 260 «Dans les Langues orientales, le mot Mage signifie sage» (LA 141, Anm. a); ähnlich spricht auch Madame Du Boccage von Persern als Magiern (vgl. COL 24, chant II). 261 Eine aufmerksame Lektüre fördert weitere Details zu Tage, wie das typische Versetzen antiker Völker in Gebirgslandschaften (vgl. LA 217) oder das Graben dieser Völker nach Gold (vgl. die Behandlung des Schlangenbergs in Krasnojarsk in LA 274). Doch sind diese Motive bereits durch antike Quellen hinlänglich bekannt und es bedarf nicht unbedingt der Lettres Baillys, um sie an dieser Stelle verständlich zu machen. 262 Bailly beginnt in seinem ersten Atlantisbrief mit der Darlegung der Möglichkeit, dass ein anderes Volk die Inder instruiert haben könnte (vgl. LA 14), was in der Folge bestätigt wird (vgl. LA 18). Basis ist die kurze Passage aus Platons Timaios (vgl. LA 20 f.), wonach Europa und Asien in Atlantis’ Machtbereich gefallen seien. 263 Die ‘indischen Schriftzeichen’ sind zwar «inconnue aux profanes» (NM I.99, chant VIII), aber Kolumbus kennt sie sehr wohl, da er durch seine vorigen Entdeckungsfahrten in der

3.2 Abstammungstheorien und Atlantis

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der ‘Vérité’ trägt nicht deshalb ‘indische Schriftzeichen’, weil etwa Inder Kolumbus bei der ‘Entdeckung’ der Neuen Welt zuvorgekommen waren, sondern weil sich die indische Sprache in ihrem Ursprung auf Atlantis zurückführen lässt und erst von Atlantis aus überhaupt (in grauer Vorzeit) ins heutige ‘Indien’ getragen wurde. Kolumbus – als weiser Mann – kann sowohl die indische Inschrift als auch das griechische Idiom des Alten Weisen des Bergvolks Eleuthere problemlos verstehen, da sich all diese Zeichensysteme auf das ‘ursprünglichste’ (d. h. atlantische) zurückführen lassen. Wenn R. Carocci also den romaneskabenteuerlichen Stil Lesuires moniert, der aus dem geschichtlichen Kolumbus eine eigenwillige Figur mache, die sich wie ein Westernheld aus jeder Gefahrensituation herausmanövrieren könne264 und – wie selbstverständlich – sämtliche Sprachen beherrsche,265 so muss hierbei doch die Rückbindung an ernstgemeinte zeitgenössische Theorien herausgestellt werden, die dieses romaneske Szenario zumindest ein Stück weniger abenteuerlich oder seltsam erscheinen lässt. Besonders bedeutend scheint Lesuires Rekurs auf den zeitgenössischen Diskurs bei seiner ‘geschichtsphilosophischen’ Auslegung des Atlantisberichts. Blicken wir hierzu – ausgestattet mit der Kenntnis der Bailly’schen Briefe – erneut auf die eingangs aufgeworfene Frage der ‘vérité’ bei Lesuire. Das bei Lesuire recht vage in zwei Interpretationsrichtungen eingeteilte Verständnis von ‘vérité’ wurde durch einen Blick auf Platons Basistext bestätigt. Durch die Hintergrundfolie des Bailly’schen Vergleichstextes treten diese zwei Aspekte der ‘vérité’ noch nuancierter hervor: Zum einen sticht in Baillys Text, wie zu erwarten war, die besondere Betonung der Wissensvermittlung heraus. Die ‘vérité’ umfasst für ihn die historische Wahrheit, über die nur die weisen Priester verfügen.266 Bailly legt einen starken Fokus darauf, dass die gemeinsamen Abstammungslinien der Griechen, Phönizier, Ägypter, Inder im Laufe der Zeit durch gewisse «mensonges historiques» (LA 67) vernebelt worden seien.267 Platon hatte dieses Thema eher peripher

Alten Welt bereits oft nach Indien gelangt ist («Il aborda souvent une lointaine plage | Où ce docte idiome est encore en usage», NM I.100). 264 Vgl. «[Che] sfugge sempre ad ogni pericolo» (Renata Carocci: Le Nouveau Monde di Robert-Martin Le Suire, S. 37). 265 Vgl. ebda., S. 39: «Nel poema di Le Suire è presentato come un vero poliglotta: non ha nessuna difficoltà ad esprimersi in francese [...], conosce il Greco [...]». 266 Bailly zitiert in wörtlicher Übersetzung hier just wieder die bekannten Worte des ägyptischen Priesters, die auch Lesuire in seinen Text einflicht: «vous êtes toujours enfans [...] Vous êtes tous des novices dans la connaissance de l’antiquité, vous ignorez ce qui s’est passé jadis, soit ici, soit chez vous-mêmes» (LA 29). 267 S. dazu bei Lesuire: «Ce volume secret [...] | Contient du genre humain l’histoire universelle, | Où la crainte jamais, ni le mensonge impur | N’ont alteré des faits l’ordre constant & sûr», NM I.101.

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3 Gegenüberstellung epischer Modellierungen der ‘Abstammungstheorie’

angedeutet, indem er davon spricht, dass als Überlebende großer Überschwemmungen jeweils nicht gebildete städtische, sondern nur unkundige Bergvölker hervorgingen. Dieses Moment wird bei Bailly nun zu einer Kernstelle und verallgemeinert: Das Wissen jedes Volkes für sich könne nur ein verschwommenes Halbwissen sein. Die (umgezogene, überlebende, eine Not überstehende, etc.) Bevölkerung vermische – über Generationen hinweg – ihre Erinnerungen an die Vorgeschichte des Ur-Volkes, von dem sie selbst abstamme (im folgenden Zitat «l’histoire du premier état»), mit den Erfahrungen und Taten, die sie in jüngster Vergangenheit selbst erlebt habe («l’histoire du second état»): Mais lorsqu’une nation en corps, ou seulement par des colonies, a changé d’habitation, elle a tout transporté avec elle dans ce noïage paisible; ses institutions, ses connaissances, le souvenir des grands faits passés & la mémoire de ses ancêtres. L’histoire de son premier état a toujours précédé l’histoire du second. A la longue les traditions se sont altérées par leur vieillesse, le tems a tout confondu, & les deux histoires n’en ont plus fait qu’une. (LA 31, Hervorh. G.J.K.)

Dieses Schema wird sodann am konkreten platonischen Beispiel exemplifiziert: Darin, dass der ägyptische Priester seinen Bericht über die Urzeit Ägyptens (und Ur-Athens) in Atlantis beginnen lässt, sieht Bailly die Kontamination des «premier» und «second état»: Le prêtre Egyptien déclare qu’il parle d’après des mémoires conservés à Saïs dans la basse Egypte; ces faits de 8 à 9000 ans sont donnés comme les faits du païs même; & cependant il commence son récit par l’histoire de l’île Atlantide, qui n’était sûrement pas en Egypte. Cette association des faits étrangers & des faits propres à l’Egypte, est donc une preuve positive de ce que je viens d’établir; & en même tems c’est un aveu formel que les Egyptiens tiraient leur origine de cette île, dont Platon nous a conservé la mémoire, & qu’il a rendue célebre. (LA 32)268

Damit kann nur das Urvolk über das reine Wissen verfügen, auf dessen Basis der «premier état» vom «second état» der folgenden Völker getrennt werden kann. Die letztgültige ‘vérité’ liegt bei den Priestern von Atlantis, die Kolumbus bei Lesuire nun eben im Rahmen seiner 5. Isolation besucht, nicht etwa im platonischen Ägypten – weshalb Lesuire die ägyptischen Pyramiden auch in die Neue Welt nach Peru versetzt. Auch erklärt sich durch diese Basis (vgl. den Fettdruck oben), dass Lesuire von «Kolonien» (NM II.2) spricht, die Atlantis in Griechenland pflanzt. Das platonische Gleichgewicht zwischen Atlantis

268 Vgl. LA 66: «[L’antiquité de ce peuple Atlantique,] les Egyptiens la reconnaissent euxmêmes, en commençant leur histoire par la sienne».

3.2 Abstammungstheorien und Atlantis

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und Ur-Athen verlagert sich bei Lesuire eindeutig zugunsten von Atlantis, das seine Macht über die ganze Alte Welt ausübt, Griechenland eingeschlossen. Zum anderen erfährt mit der ‘Translatio’ des Ur-Volkes (durch die es die Bailly’sche Abstammungstheorie ja überhaupt erst geben kann)269 ein weiterer Aspekt der Rede des ägyptischen Priesters besondere Betonung. Sie ist aufs Engste mit der Moral verbunden, die Platon dem Leser – Baillys Meinung nach – primär mit auf den Weg geben will:270 «Rappelez-vous, Monsieur, qu’il est question d’une ancienne race des hommes, de l’envahissement de la terre, d’une grande révolution, qui a tout détruit & tout changé. Je dois multiplier les preuves pour mettre la vérité dans un plus grand jour» (LA 48, Hervorh. G.J.K.). Die Hybris der Atlanter und die damit einhergehende Verlagerung ihrer Semiosphäre, d. h. das Austreten eines Teils des Volkes aus der Semiosphäre, sind die Gründe für das entstehende Leid: Ausführlich widmet sich Bailly bei seiner Interpretation des platonischen Texts dabei der Bestrafung von Atlantis: Les Atlantes crurent devenir plus heureux en accumulant des richesses injustes; ils crurent devenir plus grands en devenant plus puissans; la soif du luxe & du pouvoir les porta à dépouiller les peuples, à conquérir les provinces voisines, & ils se répandirent sur la terre, par le desir du repos & du bonheur, que l’homme trouve bien plus sûrement dans le champ qu’il cultive en paix, & sur le bord du foïer de ses peres. (LA 42)

Die Bestrafung der Atlanter durch Gott folgt auf dem Fuß: La justice divine a détruit le repaire d’où tant de déprédateurs & de conquérans avides s’étaient échappés pour le malheur du monde. Ils ont paru comme les fléaux de la terre, & les fléaux du ciel ont abîmé l’île qui les a vomis. (LA 43)

Bailly wird sich bewusst, dass es sich beim konkreten Fall von Atlantis um ein Modell handeln könnte, an dem sich spätere, von ihm abstammende Staaten orientiert haben dürften – ein Modell, das sich im Lauf der Geschichte immer wieder wiederholt hat: Je crains bien que les Atlantes, quoique fort anciens, n’aient été un peu tigres comme leurs successeurs. Je n’ose vous que dire que les Atlantes ont pu être voleurs comme les

269 Vgl. LA 30: «Mais ce qu’il est important d’observer, pour entendre ce passage, c’est l’effet de la translation des peuples; elle s’opérait de deux manières: par les irruptions & par la conquête, ou par un changement de demeure; soit que la nécessité forçât d’envoïer des colonies, soit que la nation entière changeât pour être mieux». 270 Bailly geht wegen des Detailreichtums des Atlantisberichts bei Platon davon aus, dass es Atlantis wirklich gab, und betont: «[Platon,] c’est un historien, qui trace une grande catastrophe, & qui en tire une grande leçon» (LA 44).

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3 Gegenüberstellung epischer Modellierungen der ‘Abstammungstheorie’

autres; peut-être avaient-ils envahi les contrées qu’ils ont animées de leur esprit, & peuplées de leurs institutions. (LA 138)

Dieses ‘Modell’ verbindet die Völker der Welt – oder (gemäß Lesuire) die Neue mit der Alten Welt: So ist es nicht verwunderlich, wenn Lesuire u. a. in der ‘Superstitio’ eines derjenigen Übel erkennt, welche die beiden Welten einen.271 In eben diesem Sinne hat bereits Bailly den Aberglauben als einen der vielen auf Atlantis zurückgehenden Mechanismen herausgestellt: C’est donc chez les Atlantes que repose la base de la théologie Grecque; c’est là, comme les Grecs le disaient eux-mêmes, que les Dieux ont pris naissance. C’est en même tems la source de la mythologie Egyptienne. Par-tout où nous retrouverons le nom de ces premiers Dieux, nous reconnaîtrons le sang d’Atlas & les titres de sa famille. Ce culte des hommes déifiés, des hommes placés dans les astres, puis des astres mêmes, puis enfin des idoles qui ont représenté, ou les hommes, ou les astres, aux peuples, qui voulaient des Dieux présens & des images sensibles, a donc sa source antique chez un peuple ignoré & perdu.272 (LA 62)

Gegen Ende fasst Bailly diese beiden von ihm aus dem Atlantisbericht herausdestillierten Kernaspekte («vérités», s. den Fettdruck unten) noch einmal zu-

271 Kolumbus vergleicht die paganen Mythen der Griechen mit den Gottheiten der Ureinwohner und sieht im Aberglauben ein entscheidendes Bindeglied der Welten (vgl. NM I.104). Das Bild des ‘vaste Colosse’ wurde in Kap. 2.3.2.1.4 mit der ‘fanatischen’ Kirche in Eins gesetzt; daher könnte man ein fanatisch betriebenes Christentum ebenso als ‘Superstition’ bezeichnen, was die anthropologische Konstante des Aberglaubens auch im ‘christlichen Abendland’ erkennen ließe. 272 Bailly steht mit seiner Behauptung des weltenumspannenden Aberglaubens nicht alleine. Auch Voltaire hatte dies betont, es jedoch auf die Natur des Menschen zurückgeführt, der allerorten dem Aberglauben zuneige (vgl. François Marie Arouet de Voltaire: Œuvres complètes de Voltaire. Nouvelle édition, Bd. 11, S. 15 f.). Lesuire wiederum ist der einzige Epiker, der den Aberglauben durch sein rational erklärbares System des auf Atlantis gründenden Wissensursprungs gründen lässt. Die Ubiquität des Aberglaubens hatte identischerweise zwar auch Madame Du Boccage in ihrem Epos verarbeitet (s. COL 7: «Mais les Démons qu’en Grèce adoroient les mortels, | Sous d’autres noms dans l’Inde encensés aux autels, | S’opposent aux Génois que leur pouvoir redoute»), doch folgt sie dabei schlicht Voltaires weniger tief vordringender These des Aberglaubens als eines anthropologisch beschreibbaren, typisch menschlichen Phänomens, ohne dabei auf Atlantis als Basis zurückzugreifen. Bei Bourgeois wird nicht minder betont, mit wie vielen abergläubischen Handlungen Christus allerorten zu kämpfen hat (s. CCAD II.41 f.: «Le Royaume de CHRIST avoit tant à combattre» [...] [Le] vil Paganisme | [...] dominoit en tous lieux, | Sous des noms différents cultivoit de faux-Dieux ; | Les Gentils, les Païens, suivant leur fantaisie, | En augmentoient le nombre au gré de leur envie»); bei ihm ist der Aberglaube aber eine typische Handlung ‘schlechter’ Menschen, die dereinst durch den Rachegott selbst geahndet werde. Bei Carrara werden die Ähnlichkeiten der beiden Welten hinsichtlich ihres paganen Aberglaubens auf die Besiedlung der Neuen Welt durch den paganen Odysseus zurückgeführt.

3.2 Abstammungstheorien und Atlantis

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sammen: Jedes Volk, das seinen Wohnort verlasse oder ihn ausdehne, behalte in sich die wenngleich verschwommene, so doch positive Erinnerung an das Alte und sei erfüllt vom «sentiment d’orgueil pour une gloire & des succès passés, sentiment de vénération & d’amour pour une origine antique» (LA 475). «Mais la même tradition [...] conserve aussi le souvenir des pertes; elle en montre les causes dans les émigrations puissantes, dans les flots de conquérans que le Nord a vomis, & qui ont dû tout changer & tout détruire; voilà, Monsieur, les vérités que j’ai cru appercevoir dans l’ancienne histoire» (LA 475, Hervorh. G.J.K.). Wurde der letztgenannte Aspekt der Bestrafung von Atlantis in den neulateinischen Epen erstaunlicherweise nie fokussiert, geschweige denn im Sinne der Gesamtideologie funktionalisiert, haben wir es bei Lesuire mit einem sich in der Geschichte der Menschheit dauerhaft wiederholenden ‘ewigen Kreis’ der Hybris und des Sündigens zu tun.273 Abschließendes zu Lesuire Nicht nur Platons ‘klassischer’ Referenztext kann Lesuires Atlantiskonzeption erhellen, auch musste die zeitgenössische Atlantisdiskussion des ausgehenden 18. Jahrhunderts mitberücksichtigt werden, um Abweichungen, Zusätze oder spezielle Interpretationen des Platontextes besser nachvollziehen zu können. Der ausführliche (doppelte) Atlantisdiskurs in Lesuires Epos erweist sich als

273 Dass der Diskurs um ein zyklisches und ein lineares Weltbild sowie die Degenerationshypothese, die Frage nach dem Ursprung des Wissens sowie das pessimistische Menschenbild per se in den Kolumbus-Epen ab 1750 eine entscheidende Rolle spielen, belegt der Seitenblick auf Barlows Colombiad um 1800 (vgl. Kap. 2.3.4.1). Kolumbus nimmt dort speziell in Buch 9 einen negativ perspektivierten Durchzug durch die (‘Wissens-’)Geschichte der Welt vor, während sein Gesprächspartner Hesper eine linear-positive Sicht auf die Weltentwicklung einnimmt. Am Ende des Epos, in Buch 10, erhält die positive Sicht mehr Gewicht: Dort sieht man einen Kolumbus, der letztlich versteht, «that his daring deeds made the enlightened future possible» (Steven Blakemore: Joel Barlow’s «Columbiad», S. 320). Vgl. zum Nebeneinander von linearen und zyklischen Weltvorstellungen im 18. Jahrhundert grundlegend Ludolf Herbst: Komplexität und Chaos: Grundzüge einer Theorie der Geschichte. München: Beck 2004, S. 137: «Es ist ein weit verbreiteter Topos, daß traditionale Gesellschaften eher zyklische Weltbilder besessen hätten und dies auch für die Antike und das Mittelalter gegolten habe. Erst mit der Aufklärung und der Entwicklung des Gedankens des Fortschritts seien diese zyklischen Weltbilder nicht zuletzt als Folge der technischen und der industriellen Revolution einem linearen Fortschrittsgedanken gewichen. Sieht man sich Zeitkonzepte der Vergangenheit genauer an, gerät jedoch eine komplexere Welt in den Blick» und «zyklische und lineare Vorstellungen bestehen [...] neben- und miteinander».

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3 Gegenüberstellung epischer Modellierungen der ‘Abstammungstheorie’

Dreh- und Angelpunkt des Epos sowie als Aufhänger für das aufklärerische Wissens-Spektrum. Er implementiert neben dem politischen Exkurs über den ‘idealen’ Staat (vgl. auch die zeitgenössisch beliebten Reise-Utopien)274 das im Wandel befindliche Bild Nordamerikas in der Mitte des 18. Jahrhunderts sowie die lineare Abstammungstheorie und Weltgeschichte von Lafitau bis hin zum speziellen Fokus auf dem Wissenstransfer bei Bailly. Der Umstand, dass man im Einflechten antiker Abstammungstheorien bzw. Vorabbesiedelungen eine Minderung bzw. Annullierung der Leistung des Kolumbus sehen könnte (dass nämlich andere vor ihm in der Neuen Welt waren oder über tiefere Kenntnisse verfügen als er selbst), wird in sämtlichen Epen jeweils hingenommen, da durch diesen Topos jeweils einer noch entscheidenderen Ideologie zugearbeitet wird. Bei Peramás dient der Einbau der Karthager sowie der Atlantissage lediglich der geographischen Annäherung an die Neue Welt und damit der Vorbereitung des Kulminationspunkts, dem Heimisch-Machen des Heiligen Abendmahls in ‘Amerika’. Ähnliches gilt für Placcius, wo nach den zwei vorhergehenden Versuchen (von Karthagern und Athenern), die beiden Welten zu vereinen, das personifizierte ‘Amerika’ (Atlantis) auf Kolumbus setzt. Bei Carrara wird die Neue Welt durch Odysseus’ Vorabbesiedelung zu einem zweiten paganen Rom, das durch die vorherige Kultivierung durch Odysseus nun in ähnlicher Weise wie die Alte Welt durch die christlichen Riten kultiviert werden kann. Lesuires Interpretation geht in die diametral entgegengesetzte Richtung: Spannenderweise liefert er dadurch nicht nur den ausführlichsten Rekurs auf Atlantis, sondern auch den, der am nächsten am ursprünglichen Platonbericht liegt. Schließlich war dieser durch etliche tiefgehende Interpretationen seitens zeitgenössischer AutorInnen für Lesuire leicht greifbar. Auf dessen Grundlage arbeitet Lesuire die Aktivität der Semiosphäre der Atlanter sowie ihre Übermacht gegenüber der Alten Welt heraus, zumal sie ja Kolonien in Griechenland gepflanzt hat und über tiefgründiges Wissen und Einblick in die Weltgeschichte verfügt. Auch wenn diese Vorstellung den genauen Gegenpol zur passiven Semiosphäre der Neuen Welt in den neulateinischen Epen darstellt, die dort von 274 Der Diskurs über den perfekten Staat wird nicht zuletzt in den politisch-sozial gefärbten Utopien der Zeit verhandelt. Die bekanntesten hierunter sind Gabriel Foignys La Terre Australe Connue (1676); Denis Vairasse d’Alais’ L’Histoire des Sévarambes (1677–79) und Fénelons Les Aventures de Télémaque (1699). Gabriel Foigny: La Terre australe connue, c’est-à-dire la description de ce pays inconnu jusqu’ici, de ses mœurs et de ses coutumes, par Mr. Sadeur, avec les avantures qui le conduisirent en ce continent. Genf: Verneuil 1676, ‘Avertissement’ n. p., sieht in seiner (in die Pazifikgegend versetzte) Utopie keine «fiction faite à plaisir», sondern sie soll dem Leser bzw. der Leserin «des veritez qui doivent edifier toute l’Europe» an die Hand geben, da sie gänzlich auf dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit beruhe, schließlich gebe es «rien d’impoßible en toute cette piece».

3.2 Abstammungstheorien und Atlantis

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der christlichen Welt erobert werden soll, klammert Lesuires Perspektivenwechsel die christliche Perspektive mitnichten völlig aus. Wie bereits in Kap. 2.3.4.3 ersichtlich wird, ist die Bibel bei Lesuire sogar noch präsenter als in den neulateinischen Epen, in denen man eher dem klassischen epischen Modell Homers oder Vergils ohne Bibelverweise gefolgt war. Auch im Rahmen der Abstammungstheorie kommt es bei Lesuire nun an zwei Stellen zu Bibelverweisen: Zum einen wird beim Übersiedeln der vor der Flut fliehenden Atlanter auf die Arche Noah angespielt. Die Alleinstellung der biblischen Flut wird durch das Implementieren eines rettenden ‘esquif’, auf dem Elitus und Aceste (also zwei Exemplare der menschlichen Spezies) fliehen, negiert und in die (wohl unendlich vielen) Geschichten von Völkern eingereiht, die in einer Art ‘Arche’ vor einer Flut geflohen sind. Dieses Vorgehen geht Hand in Hand mit Baillys zyklisch-repetitivem Gesamt-Modell, auf das Lesuire Bezug nimmt. Zum anderen – und das ist von besonderem Interesse – beschäftigt sich nicht nur Kolumbus (aus einem wissenschaftlichen Impetus heraus) mit der monogenetischen Abstammung der Ureinwohner;275 auch sein Gegenspieler Valverde bedient sich der Abstammungstheorie. Dieser verbindet dabei – ohne Rekurs auf rationale Argumente wie Atlantis als dem Hort des Wissens – die monogenetische Abstammungstheorie ausschließlich mit der Bibel. Aus ihm spricht der fanatische Anhänger einer Monogenese, der sich nicht auf die u. a. von Lafitau betriebene ‘geschichtsphilosophisch’ begründete Monogenese, sondern auf die alten christlich-monogenetischen Theorien der vergangenen Jahrhunderte beruft. Bei der Begegnung mit den Mexikanern nutzt Valverde die Monogenese dazu, die Mexikaner als Abtrünnige herauszustellen, die sich als schlechte Nachkommen Noahs erwiesen hätten. Gegenüber dem mexikanischen König betont er, alle Menschen stammten von nur einem Gott ab und müssten diesem huldigen; wer dies nicht tue, müsse – auch wenn er nichts von seinem Fehltritt wisse276 – analog zu den abtrünnigen Stämmen Israels – bestraft werden.277 Valverdes Wertlegen auf die ‘überholte’ christlich-monogetische Abstammungstheorie mit ihrer rigorosen Auslegung der Bibel – wie sie für das 16. Jahrhundert typisch gewesen war278 – wird untrennbar an den Fanatismus Valverdes gekoppelt, der prototypisch für die ‘degenerierte’ Semiosphäre der

275 Lesuire zeichnet Kolumbus als Anhänger der Monogenese: Er erkennt nicht nur durch die Atlantisberichte, dass alle Völker auf Atlantis zurückgehen, sondern spricht auch selbst vom «Créateur qui forma tout de rien» (NM II.23). 276 Vgl. «Malheur à qui l’outrage, & même à qui l’ignore» (NM I.90). 277 «Un Dieu vengeur t’attend, un suplice éternel | Doit punir l’incrédule & l’aveugle mortel | [...] | Qui ne connus jamais le vrai Dieu, ton Auteur» (NM I.90). 278 Vgl. Kap. 1.4.

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3 Gegenüberstellung epischer Modellierungen der ‘Abstammungstheorie’

Alten Welt steht – in ihrer (vom Papst) unterstützten, von Hybris geleiteten Absicht der Annexion der Neuen Welt.

3.2.5 Laureaus L’Amérique découverte Lesuires Epos sticht jedoch nicht nur im Kontrast zu den neulateinischen Epen durch seinen minutiös ausgearbeiteten Abstammungsdiskurs heraus, sondern hebt sich nicht minder von den anderen Epen der französischen Aufklärung ab, die nun noch untersucht werden sollen, um Lesuires Text richtig wertschätzen zu können. Für aufmerksame LeserInnen ist Lesuires Epos aufgrund der Verarbeitung verschiedenster Intertexte von besonderem Interesse. Anders als die eher monolithischen Epen des Bourgeois oder des Laureau scheut sich Lesuire nicht davor, trotz seines rational-geschichtsphilosophischen Fokus auch christliche und biblische Elemente an verschiedenen Stellen kritisch – aber mitunter durchaus auch affirmierend – in sein Werk einzubinden.279 Laureaus ausführlicher Bezug auf die Diskussion zwischen Kolumbus und Toscanelli bezüglich typischer Indizien für die Existenz der Neuen Welt wurde bereits in Kap. 3.1 beleuchtet. Atlantis hatte hierbei jedoch im Gegensatz zu den «récits des marins» (AD 50, chant I) oder gewissen Indizien der Natur (etwa bearbeitete Holzstücke) oder auch den Karthagern280 keine Verwendung gefunden. Dagegen wird Atlantis – analog zu Lesuire und passend zum dargelegten Wissensdiskurs der Aufklärung, aber entgegen dem Vorgehen der Neulateiner – en passant als Ursprung des Wissens miteingeflochten: In ihrer Rede in AD 58 f. (livre I) erklärt die personifizierte ‘Ignorance’, dass durch sie seinerzeit der gesamte Erdball in Unwissenheit gehüllt gewesen und die ‘beaux arts’ und die ‘lumières’ an den Nordpol verdrängt worden seien. Die Atlanter hätten als erstes Volk überhaupt die ‘beaux arts’ und die ‘lumières’ zu sich in die heiße Gegend

279 Dem (aufgrund der atlantischen Basis) weltumspannenden Aberglauben müsse man entgegenwirken, jedoch auf friedliche Weise. Nicht umsonst übernimmt Kolumbus in der Figurenzeichnung Züge des Las Casas bei Marmontel (vgl. Kap. 2.3.2), der es versteht, in Hispaniola durch einen Kompromiss (i. e. durch die Sonne als Symbol eines ‘höheren Wesens’) alle Gläubigen in Toleranz miteinander zu vereinen, und beachtet dabei die Voltaire’sche Erkenntnis aus dessen Essai sur les mœurs «[que c]haque État eut donc, avec le temps, sa divinité tutélaire» (François Marie Arouet de Voltaire: Œuvres complètes de Voltaire, Bd. 11, S. 12). 280 Thematisiert wird eine von den Karthagern auf den Azoren aufgestellte Reiterstatue, die Correa, ein Begleiter des Kolumbus, dort vorgefunden hat. Kolumbus selbst hat in diese Reiterstatue, die gen Westen zeigt, eine Inschrift eingraviert, dass man ihrer Weisung folgen solle. Kolumbus argumentiert: «je la regardai comme l’ouvrage d’un peuple instruit, ou comme la statue d’un Savant qui m’éclairait sur ce que je cherchais» (AD 81, livre II).

3.2 Abstammungstheorien und Atlantis

459

der Neuen Welt gerufen, bis die ‘Ignorance’ selbst diesen Akt der Hybris durch eine Überschwemmung ausgemerzt habe. Auch wenn in dieser Rede der ‘Ignorance’ keine genealogische Linie von den Atlantern zu den Bewohnern Amerikas gezogen wird, lässt sich doch implizit zumindest eine chronologische Abfolge gebildeter Völker nachzeichnen: Les Atlantes les [sc. les beaux arts et les lumières; G.J.K.] appellerent à haute voix, & par leurs secours me chasserent de vastes contrées. Des événements affreux, la mer comme de concert avec ma vengeance, anéantirent ces peuples ennemis; je repris mes droits, & régnai une seconde fois sur la terre. Je goûtais les douceurs de ce second regne, lorsque l’Indien commença à me faire la guerre, comme si la conspiration eût été générale; le Caldéen, le Chinois, l’Egyptien après, le Syrien & le Carthaginois, me chasserent [...] tour à tour de l’Asie & de l’Afrique [...]. (AD 59)

Die beiden letztentstandenen französischen Epen Lesuires und Laureaus belegen demnach einen neuen Seitenstrang der Funktionalisierung von Atlantis als Hort des Wissens – wenngleich die Diskrepanz hinsichtlich des quantitativen Einbaus natürlich kaum größer ausfallen könnte. Ähnlich punktuell bleiben Laureaus Verweise auf Buffons Thesen281 bzw. die Vorstellung Amerikas als ‘rezentere Welt’:282 Obwohl auch dies ohne besondere Nutzbarmachung bzw. nur wenig ausgestaltet im Epos zur Sprache kommt, lässt sich daran doch das Bedürfnis der französischen Autoren ablesen, aktuelle Thesen zur Abstammungshteorie in ihre Werke einzubauen. Auch in Bourgeois’ Epos mit seiner – im Gegensatz zu den späteren Epen Laureaus oder Lesuires – rein ‘christlichen’ Stoßrichtung lässt sich dieses Bedürfnis erkennen.

281 Vgl. «on voyait bondir sur la terre des animaux petits, mais inconnus à l’Europe» (AD 96, livre III) oder das Ansprechen verschiedener Menschentypen: «Les Espagnols cessent alors de lui [sc. dem Menschenaffen; G.J.K.] soupçonner une existence humaine: cette idée qui les avilissait, les avait d’abord attristés, ils se réjouissent de la voir dissipée: mais qui n’y eût pas été trompé, voyant des hommes nuds, sans arts, sans intelligence, couverts d’un cuir rougeâtre; voyant ensuite une autre espece, qui a beaucoup de rapport avec ces hommes, & autant d’adresse, n’était-il pas pardonnable d’imaginer dans un pays où tout paraissait extraordinaire, que ces êtres étaient des hommes d’une classe inférieure à l’autre, comme la premiere l’était à la nôtre?» (AD 97). Zudem wird die offensichtliche Unterschiedlichkeit der Menschen betont (vgl. AD 97) sowie die Überlegenheit der Spanier (vgl. AD 99). 282 Die Bewohner der jungen Neuen Welt haben aufgrund des Klimas einen anderen Charakter: «enfans d’une terre qui était elle-même en enfance, ils étaient sans barbe, inactifs, & peu vigoureux» (AD 99); vgl. den Vergleich der Bewohner der Neuen Welt mit Kindern: «Le tout ensemble rappelait ces mobiliers frivoles & légers, avec lesquels les enfans se jouent en Europe» (AD 100).

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3 Gegenüberstellung epischer Modellierungen der ‘Abstammungstheorie’

3.2.6 Bourgeois’ Christophe Colomb Wie Placcius beginnt Bourgeois sein Epos mit einer Kosmovision. Anders als sein neulateinischer Vorgänger distanziert sich Bourgeois dabei jedoch von antiken Abstammungstheorien (wie der bei Placcius zentralen Atlantisthese) und lässt die globale epische Raumkonstruktion allein auf der Bibel gründen.283 Wie in Kap. 2.3.1 genauer umrissen, stellt Bourgeois dem Epos eine biblische Kosmovision voran. In seiner Wiedergabe des Genesis-Berichts betont er die biblisch begründete Monogenese – bei der alle Menschen der «[u]ne famille seule» (CCAD I.3) Noahs entspringen – und hält diese dann im gesamten Epos präsent.284 Die Neue Welt, die Gott eine Zeit lang abgetrennt und versteckt hält, ist dabei eine Art Versuchsballon.285 Bis zu seinem Beschluss, sie solle nun dem Rest der Welt bekanntgemacht werden, hatte er sie mit Absicht sich selbst überlassen: «ll en laissa le soin au caprice des temps. | Elle dut au hasard ses premiers habitants» (CCAD I.3). Als wenig später ein Engel Kolumbus den göttlichen Auftrag überbringt, die Bewohner der Neuen Welt müssten christianisiert werden, beschreibt dieser die Bewohner wie folgt: Ils sortent comme vous, quoiqu’en diront vos cœurs, De ces mêmes parents, faux, prévaricateurs, Qui vous ont entraîné dans leur chûte coupable, Dont le crime a rendu l’homme si méprisable. Venus de l’Orient par des sentiers perdus, Vivants dans les déserts, ignorés, confondus, Ayant même effacé de leur foible mémoire Les moindres notions de ce que l’on doit croire ; Ne connoissant ni Dieux, ni sentiments, ni Loix. Pareils aux animaux, n’habitant que les bois ; Sachant s’ils sont à peine au-dessus de la bête, Et se livrant à tout, sans que rien les arrête. Ce sont là les mortels qu’il te faut conquérir. (CCAD I.28, chant II)

Auch wenn die Menschen der Neuen Welt ihren ersten Entdeckern nicht wie Menschen erschienen (vgl. «quoiqu’en diront vos cœurs»), stammten auch sie von Adam und Eva ab (vgl. «ces mêmes parents») und seien ebenso von der

283 Zum kurzen Vergleich der französischen Kolumbus-Epen mit den neulateinischen, in denen Bibelreferenzen eine geringere Rolle zu spielen scheinen, vgl. Kap. 2.3.4.3. 284 Bzw. er hämmert sie dem Leser bzw. der Leserin an den Kernstellen des Epos geradezu repetitiv ein; dies ist insbes. zu Beginn der zweiten Werkhälfte im zweiten Genesisbericht vor dem Kaziken Goacanaric der Fall. 285 Vgl. «Dieu vouloit seulement qu’elle fût ignorée» (CCAD I.3).

3.2 Abstammungstheorien und Atlantis

461

Erbsünde betroffen.286 Nach ihrer Überwanderung über eine mittlerweile unbekannte Landbrücke im Osten (vgl. «Venus de l’Orient par des sentiers perdus») hätten sie ihre Abstammung vergessen und seien nun den Europäern in jeder Hinsicht unterlegen.287 Es ist mit Händen zu greifen, dass Bourgeois hier die Hypothesen seines Zeitgenossen Buffon – und damit den aktuellen aufklärerischen Abstammungsdiskurs – verarbeitet.288 Er ist sogar der einzige aller EpikerInnen, der die These der Landbrücke einarbeitet, obschon sich diese in abgewandelter Form bereits bei Acosta finden ließ.289 Interessant ist jedoch, wie er sie in seine epische Fiktion einflicht: Die Buffon’sche These erfüllt den Zwecke eines Lückenfüllers, sie wird an einer Stelle des Vakuums göttlicher Prinzipien eingewoben; d. h. es wird erst dort auf das Wissen aufgeklärter ‘ratio’ zurückgegriffen, wo Gott keine Rolle mehr spielt, zumal er ja zuvor entschieden hatte, die Neue Welt sich selbst zu überlassen (vgl. «il en laissa le soin au caprice des temps»). Damit wird auch im Rahmen der Abstammungstheorie die bei Bourgeois bereits in Kap. 2.3.1.3 umrissene Prioritätensetzung bzw. die Zweitrangigkeit des ‘aufgeklärten Wissens’ gegenüber dem ‘göttlichen Wissen’ deutlich. In diesem Zusammenhang sei auf die Kernstelle der Landung der Flotte in der Neuen Welt und auf den ersten Kontakt zu den Bewohnern verwiesen:

286 Vgl. zur Abstammung aller Menschen von Adam auch Kolumbus’ Belehrung des Alten Weisen in chant XIV: «tout differe ! [...] | Cette diversité s’étend à l’homme même. Nous sommes, vous & moi, la preuve du systême : | Il n’est pas moins certain que nous sortons tous deux, | De la souche d’Adam, ce pere malheureux ; | Mais nous ne différons simplement qu’en nuance ; | [...] | Les jeux de la nature, autant que le climat, | Ont altéré, changé notre premier état. | De ces diversités il n’en faut rien conclure» (CCAD II.43). 287 An mehreren Stellen wird dieses von Gott unbeachtete Übersiedeln in die Neue Welt wiederholt: So im Rahmen der Erläuterungen des Kolumbus vor dem genuesischen Hof: «Il est [...] des Terres inconnues. | Des Nations sans doute y seront parvenues, | Par le Levant du monde» (CCAD I.55, chant IV). Vgl. CCAD II.47 (chant XIV), wo anhand der roten Hautfarbe der Asiaten Asien als «antique berceau» der Bewohner der Neuen Welt bezeichnet wird. 288 Vgl. die oft ausgearbeitete Hypothese der Lethargie der Ureinwohner: «les Sauvages, | Toujours accoutumés à suivre la lenteur | Qui les distingue en tout, fait le fond de leur cœur»; «Plongé[s] dans un sommeil profond & léthargique» (CCAD I.196 f., chant XI); «Ce peuple, qu’au repos tout invite & rappelle»; «leurs ames presque mortes» (jeweils CCAD I.201, chant XI). Ebenso die Buffon’sche Theorie des negativen Klimas der Neuen Welt mit ihren «putrides vapeurs» nach der Sintflut, durch die es zu Veränderungen «sur toutes choses» (CCAD II.44) komme. 289 Vgl. z. B. in CCAD II.45 Kolumbus’ Erläuterungen gegenüber dem Alten Weisen bezüglich der Landbrücke: «Vous en êtes venus. Votre heureuse Contrée, | Quoique du Monde entier elle soit séparée, | En est certainement un endroit isolé, | Perdu peut-être, après avoir été peuplé ?».

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3 Gegenüberstellung epischer Modellierungen der ‘Abstammungstheorie’

Le rivage est semé de races étrangères Qui n’ont rien de nos traits, ni de nos caracteres: Hommes faits comme nous ; cependant leur couleur (1) Surprend tous les esprits, les plonge dans l’erreur. | Le Génois, mieux instruit, sait qu’une même seve Les fit naître d’Adam & de sa compagne Eve : En vain l’assure-t-il à nos Européens ; Il n’en sauroit convaincre un seul des Castillans. Et la Religion dont il cite le Livre, Ne prend point sur des cœurs que l’apparence enivre. (1) La couleur des Américains ne differe pas naturellement de la nôtre ; ils naissent blancs comme nous, ce qui arrive aussi aux Negres: la nudité, l’air, le climat contribuent donc beaucoup à leur donner un teint basané. [...] (CCAD I.122 f., chant VII, samt Anm.)

Kolumbus wird hier vom epischen Erzähler als einziger Eingeweihter gekennzeichnet, der sich nicht vom Schein des Äußeren («l’apparance») trügen lässt und die in der Bibel («le Livre») verankerte monogenetische Abstammung durchschaut. Die in der Fußnote beigegebene Buffon’sche Erklärung der Veränderung der Menschen hat dabei lediglich dienende Funktion und stützt die christliche Monogenese. Kurz darauf wird der monogenetische Ansatz außerdem noch verteidigt gegen polygenetische und pagane Vorstellungen (etwa die Vorstellung der Erschaffung eines zweiten Adam durch einen anderen Gott), welche der epische Erzähler an anderer Stelle nochmals als ‘Absurditäten der Zeit’290 bezeichnet. Am ausführlichsten findet sich die Auseinandersetzung mit derlei ‘unchristlichen’ Interpretationen in CCAD I.124 f. (chant VII, samt Anm.; Fettdruck G.J.K.): Pour eux, tout étoit neuf. Rien de pareil encore N’avait frappé leurs yeux : venoit-il [sc. le sauvage; G.J.K.] donc d’éclore ? D’où sortoient des mortels, de nous si différents ? Dieu ne créa-t-il pas l’origine des temps ?.... L’homme se perd ainsi dans sa folie extrême ! Il ne bâtit jamais que sur un faux système ! Ces marins éblouis préparoient les erreurs Qui passerent depuis à de savants Auteurs. (1)

290 Vgl. «D’où seroient provenus, sortis ses habitants ? | [...] | Les auroit-on tirés d’un Jupiter nouveau | Qui les aurait concûs dans son fécond cerveau ? | De ces absurdités l’époque étoit passée ! | Du Paganisme faux l’idole est renversée. | Le véritable Dieu, reconnu des humains, | A su manifester l’ouvrage de ses mains» (CCAD I.130).

3.2 Abstammungstheorien und Atlantis

463

(1) Bien des Doctes ne sont point désabusés de l’erreur, que l’Amérique a été connue des Anciens ; que la connoissance s’en étoit seulement perdue, & qu’on a depuis retrouvé cette quatrieme partie du Monde. Rien n’est plus mal fondé que cette opinion, qui ne peut même être soutenue par aucune probabilité. Certaine opinion de la Philosophie moderne est aussi peu raisonnable, mais avec cela impie : c’est détruire notre Religion, que de vouloir que les Américains soient indigenes.

Die unter den Matrosen kursierenden Zweifel an der Monogenese werden zuerst in Form einer Frage formuliert («Dieu ne créa-t-il pas l’origine des temps?....»), um dann im folgenden Ausrufesatz als «folie extrême» entlarvt zu werden, von der sogar hochgebildete «savants Auteurs» befallen seien. Diese werden im Fußnotentext dann in zwei Lager gespaltet: Einerseits in das Lager der Befürworter der antiken präkolumbischen Entdeckungsfahrten, denen Bourgeois widerspricht, da ihre Thesen nicht wahrscheinlich seien.291 Andererseits in das der modernen ‘philosophes’ (allen voran natürlich Voltaire), die behaupten, dass die Ureinwohner eine eigene, nicht-adamitische, ‘amerikanische’ Wurzel hätten (vgl. «que les Américains soient indigenes»); gegen diese polygenetische Vorstellung stemmt sich Bourgeois noch vehementer, da sie den christlichen Glauben unterminiere (vgl. «c’est détruire notre Religion»). Analog zu dem in Kap. 2.3.1.3.2 dargelegten Beispiel werden die Matrosen also auch hier als bornierte Anhänger eines scheinbar ‘aufgeklärt-philosophischen’ Scheinwissens beschrieben. Durch seine stringente Ideologie und die mehrmals klar ausgesprochene Ablehnung antiken Vorwissens ist die bei Bourgeois immer wieder eingeflochtene Aussage, Kolumbus sei der Erste, der über den Atlantik fährt, «Où nul mortel encor n’avoit osé s’offrir» (CCAD I.93, chant VI),292 innerhalb seiner epischen Fiktion völlig widerspruchsfrei. Völlig stringent ist auch die Zeichnung seines Götterapparats, der sich mit dem bei Peramás deckt293 und zusätzlich gewisse Unsicherheitsfaktoren klärt.294 Obwohl Bourgeois’ Epos also im Kern denselben monogenetischen Ansatz zugrunde legt wie etwa Peramás oder – leicht modifi-

291 Bourgeois kennt die antiken Thesen genau: In einer Anm. kommt er z. B. auf Senecas Medea zu sprechen und stellt sich in die Reihe kluger Interpretatoren, welche die Senecastelle nicht mit ‘Amerika’ in Verbindung brachten: «Les critiques les plus éclairés n’y ont jamais pu voir qu’il parlât de l’Amerique, que l’Antiquité n’a certainement point connue» (CCAD I.82, chant V, Anm. 2; Kursivierung im Original). Einen ähnlichen Seitenhieb auf antikes Wissen finden wir z. B. dort, wo die Säulen des Herkules als Fiktion bezeichnet werden (vgl. CCAD I.96). 292 Vgl. u. a. CCAD I.22, chant II; CCAD I.113, chant VII. 293 Vgl. CCAD II.103 zur Einnahme beider Welten durch den Teufel und dessen Verbannung durch Gott. 294 Bei Peramás und bei Bourgeois weiß Kolumbus auf der Ebene der Menschenhandlung nicht, weshalb die Neue Welt so lange ohne göttliche Fürsorge brachlag (vgl. CCAD I.211: «il est un secret, un voile impénétrable, | Impossible à lever, & pourtant respectable» und DINO

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3 Gegenüberstellung epischer Modellierungen der ‘Abstammungstheorie’

ziert – auch Carrara setzt er anders als diese neulateinischen Vetreter die Monogenese nicht einfach implizit voraus, sondern sieht sich gezwungen, sich und seine zur Abfassungszeit seines Epos stark diskutierte Monogenese zu rechtfertigen.

3.2.7 Du Boccages La Colombiade Das nur knapp zuvor entstandene Epos der Madame Du Boccage weist seinerseits nochmals einen anderen Umgang mit der Abstammungstheorie auf: Während Bourgeois das historische Faktum, dass Kolumbus durch antikes Wissen von der Neuen Welt zu seiner Fahrt motiviert wurde, ausblendet,295 spielt Du Boccage die antiken Entdeckungsfahrten in ihr Epos ein. Sie motivieren Kolumbus für seine Fahrt in die Neue Welt: «L’Antiquité m’apprend qu’au couchant de nos Mers, | Des Champs qu’on a perdus ont été découverts» (COL 39, chant III),296 und er fügt hinzu «Je les [sc. mes conjectures; G.J.K.] fondois sur Dieu, qui ne fait rien en vain». Das christliche Verständnis und die Begründungsmethodik in Du Boccages Epos ähneln denjenigen des Bourgeois, der Gottes Entscheidungen mit ähnlichen Worten begründet.297 Anders als Bourgeois verschleiert sie nun jedoch einerseits geschickt den ihrem Epos zugrunde liegenden Götterapparat, da sie als Freundin Voltaires und Anhängerin seiner Lehren die Polygenese gewisser ‘philosophes’ nicht verunglimpfen kann bzw. will.298 Andererseits distanziert sie sich als treue Anhängerin des Papstes genauso wenig von der Institution Kirche, wie dies am

2.287: «nefas causam scrutarier»); doch wird bei Bourgeois auf der Ebene des omniscienten Erzählers der Grund genannt: Gott will die Menschen erneut in Versuchung führen. 295 Bei Bourgeois wird nur knapp davon gesprochen, dass Kolumbus vor den Königshöfen mit der sphärischen Gestalt der Erde und dem Wissen um die Antipoden argumentiert (vgl. insbes. CCAD I.44 f., chant III). Andere Elemente präkolumbischer Fahrten werden konsequent ausgeblendet. 296 Du Boccage kommt in einer Anm. auf die typischen ‘Vorgänger’ zu sprechen, insbes. auf Platons Atlantisbericht und die Karthager sowie die Statue des Reiters auf den Azoren, dessen Zeigefinger gen Westen weist. 297 Vgl. etwa CCAD I.5: «ce Dieu n’a jamais prononcé rien en vain». 298 Im Gegensatz zu Bourgeois gibt es bei Du Boccage kein durchdachtes Gesamtkonstrukt, das eine Hintergrundfolie vom Anfang der Welt bis zu deren Ende aufspannt. So wird etwa der Grund, weshalb es überhaupt zur Entdeckung der Neuen Welt kommt, und weshalb Gott diese ‘Entdeckung’ erst jetzt initiiert, bei ihr nirgends thematisiert. Du Boccage konzentriert sich vielmehr auf das punktuelle Einbeziehen und Ausgestalten von Aspekten, die in jede Richtung hin auslegbar sind, vgl. etwa den nicht näher spezifizierten Umstand, dass Gott der Schöpfer der Menschen ist: «La terre & ses enfans de ce Dieu sont l’ouvrage» (COL 21, chant II); oder die Stelle, an der Kolumbus in einem Gebet von «tant d’humains que ton pouvoir fit naître» (COL 147, chant IX) spricht.

3.2 Abstammungstheorien und Atlantis

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eindeutigsten Laureau in seinem Epos tut, aber auch Lesuire, in dessen geschichtsphilosophischem Gesamtkonzept man nur von ‘christlichen Einsprengseln’ sprechen kann. Auf der einen Seite spricht Du Boccage – anders als Bourgeois – stets von der Andersartigkeit der Neuen Welt und der dortigen Bewohner, wobei das Adjektiv ‘nouveau’ als festes Attribut mitgeführt wird.299 Dieser «Monde nouveau» (COL 99), «[où] tout prend un nouvel être : | Les animaux, les fruits, les arbres pleins d’encens | N’ont rien dans leur aspect qui ressemble à nos champs» (COL 13) ähnelt doch sehr der deistischen Vorstellung Voltaires, wonach sich Gottes Werk in der Natur nicht nur auf eine einzige Schöpfung begrenzen lassen kann. Doch bleibt diese Voltaire’sche Polygenese stets nur subkutan spürbar. Entscheidend ist für Du Boccage Voltaires Glaube an einen Gott als alleinigen Schöpfer der Welt.300 In Kap. 2.3.4.3 konnte etwa bereits herausgearbeitet werden, dass Du Boccage mit der Bibel (etwa in epischen Gleichnissen) deutlich freier umgeht als Bourgeois, der sie nicht als literarischen Text, sondern als unumstößliches Wort Gottes betrachtet. Das gleiche ‘vage’ Vorgehen findet sich auf der anderen Seite bei Du Boccages Götterapparat, den sie in deutlich geringerem Maße ausgestaltet als ihre Nachfolger Peramás oder Bourgeois. Analog zum Götterapparat bei Stella und Mickl wird schlicht ohne große Ausarbeitung die bestimmende Dichotomie ‘Gott vs. Teufel’ erwähnt.301 Tiefergehende Erläuterungen, wie wir sie bei Peramás oder Bourgeois finden – z. B. weshalb es aus Sicht der Götter zur Eroberung der Neuen Welt kommen muss – werden nirgends gegeben.302 Probleme, die sich bei einer Vertiefung der Voltaire’schen bzw. der christlichen Ansichten ergeben könnten, werden durch das Proklamieren einer eher oberflächlich bleibenden ‘Schnittmenge’ von Ansichten (etwa der Existenz eines ‘Creator mundi’) möglichst nicht aufgerufen. Unbeantwortet bleiben dabei Fragen wie diejenige, wie das Unterwerfen der Ureinwohner überhaupt zur Voltaire’schen Vorstellung der Vielgestalt der gottgewollten Natur passen kann – nicht zuletzt wurde der missionarische Eifer

299 Vgl. «ce Monde nouveau» (COL 12); «tant d’objets nouveaux» (COL 16); «un nouveau Rivage» (COL 39); «de nouveaux Climats» (COL 41); «ces nouveaux humains» (COL 83) usw. 300 Vgl. Kolumbus’ Ausführungen gegenüber dem Alten Weisen: «La Terre & ses enfans de ce Dieu sont l’ouvrage : | J’en suis un tel que vous, mais d’un autre rivage» (COL 21); oder sein Gebet, in dem er die Waffenkunst beklagt: «Falloit-il que notre art [...] | Détruisît tant d’humains que ton pouvoir fit naître ?» (COL 147). 301 Vgl. etwa Kolumbus’ Worte (in COL 86, chant V): «Je reconnois le Dieu qui conduit nos projets | En vain l’Enfer armé combattroit ses décrets». 302 In Kolumbus’ Gebet an Gott (in COL 83) heißt es schlicht: «Répands-y tes bienfaits sur ces nouveaux humains. | Pardonne les erreurs qu’y sema l’ignorance ; | Que ton culte en ces lieux prenne à jamais naissance».

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3 Gegenüberstellung epischer Modellierungen der ‘Abstammungstheorie’

ja für gewöhnlich mit der Monogenese, nicht mit der Polygenese verquickt.303 Schon Voltaire selbst hatte mehrmals die mangelnde Vereinbarkeit des aufklärerischen Wissens und des christlichen Glaubens herausgestellt. Hierbei genügt ein Blick in seinen Essai sur les mœurs, wo er selbst dieses Problem verbalisiert: «On n’a qu’une seule réponse à toutes ces objections sans nombre, et cette réponse est: Dieu l’a voulu, l’Église le croit, et nous devons le croire».304 Auch an der Modellierung der Abstammungstheorie lässt sich also Du Boccages Gratwanderung zwischen dem Einflechten von aufklärerischem Wissen und dem Propagieren des christlichen Glaubens dokumentieren. Bei Weitem problemloser konnte Laureau auf eine ähnlich subkutan polygenetisch angelegte Abstammung in seinem Epos zurückgreifen, zumal er Gott in seiner monolithischen Ideologie gänzlich ausblendet und den antik-epischen Götterapparat nur als Gerüst beibehält, den er mit Personifikationen des (Nicht-)Wissens bestückt. So können die Menschen der beiden Welten – ohne Missionierungsbedarf – schlicht als ‘frères’ bezeichnet werden, die (zu unterschiedlichen Zeiten) durch dieselbe göttliche Macht entstanden sind und in Freundschaft leben sollen,305 wenngleich die Europäer ihren Brüdern klar überlegen sind.306

303 Vgl. Kap. 1.4. 304 François Marie Arouet de Voltaire: Œuvres complètes de Voltaire, Bd. 11, S. 112. Vgl. auch ebda., Bd. 11, S. 29, wo die ca. 6000 bzw. 7000 Jahre angeführt werden, die seit der Schöpfung laut biblischem Bericht vergangen sind. In Anbetracht der Langsamkeit der menschlichen Entwicklung müsste man jedoch bedeutend mehr Zeit ansetzen. Er betont auch hier die Unvereinbarkeit der Wissens- und Glaubensfragen (vgl. «nous prévenons toujours le lecteur que nous ne touchons en aucune manière aux choses sacrées»). Man denke auch an Voltaires Kommentar zu einem biblischen Wunder: «c’est un miracle très-respectable dans la Bible; mais partout ailleurs c’est un conte absurde» (ebda., Bd. 11, S. 8). 305 Vgl. Laureaus Bild der Familienzusammenfindung: «les deux Peuples semblerent ne plus faire qu’une seule famille»; Kolumbus erfüllt die Rolle desjenigen «qui les ressembla & les unit des doux liens de l’amitié» (jeweils Laureau, Pierre: L’Amérique découverte, en six livres, S. 115). 306 Vgl. AD 99, livre III. In AD 118, livre IV, sehen die Bewohner der Neuen Welt zu ihren Brüdern der Alten Welt auf wie zu Göttern: «ils offrirent de l’or & des fruits, comme des offrandes faites à des Dieux irrités pour appaiser leur courroux». An anderer Stelle stecken die Indigenen aufgrund der Jugend der Welt noch im ‘Schlamm der Schöpfung’ fest (vgl. AD 119). Interessant ist, dass Laureau an einer Stelle seines Textes, aus dem Gott allerorten verbannt worden ist, doch auf den Genesis-Bericht referiert – um eine mögliche Zensur zu umgehen, wie Carocci in der zugehörigen Anm. zu AD 122, erläutert.

3.3 Schlussgedanken

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3.2.8 Fazit Wurde die Monogenese in den neulateinischen Epen kaum thematisiert, wird sie in den französischen Epen, ungeachtet der jeweiligen ideologischen Grundausrichtung, niemals ausgespart. Die Atlantis- und die Karthagerthese halten bereits in den frühen neulateinischen Epen Einzug, werden zur Stützung der jeweiligen Ideologie herangezogen und bestimmen sogar die zentrale globale Raumkonstruktion der Epen. Dabei greifen die Epen auf die aus den historischen Reiseberichten bekannten Möglichkeiten der Einbettung des Atlantisberichts zurück: Zum einen auf Atlantis als ‘missing link’ zur Verknüpfung der beiden Welten (vgl. Carrara), zum anderen als Gleichsetzung mit der Neuen Welt (vgl. Placcius). V. a. das unter den frühen neulateinischen Epen herausragende Epos des Placcius, mit seiner speziellen Ideologie und der globalen Raumkonstruktion samt einleitender Kosmovision, erweist sich als ein den französischen Kolumbus-Epen besonders nahestehender Vorläufertext, selbst wenn er wohl von deren AutorInnen nicht gelesen wurde. Lesuires doppelter Atlantisbericht mit seiner pessimistischen Ausrichtung auf Basis der atlantischen Hybris nimmt schließlich am detailgetreuesten auf den platonischen Quelltext Bezug und nimmt vom europazentrierten Bild eines von Passivität gekennzeichneten Atlantis/‘Amerika’ Abstand.

3.3 Schlussgedanken Unsere Arbeit begann mit einem Überblick über den Stellenwert der Gattung ‘Epik’ im Allgemeinen und der ‘Kolumbus-Epik’ im Speziellen, wie er in den auf die kolumbischen Entdeckungsfahrten folgenden Jahrhunderten und insbesondere in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auszumachen ist. Als Basis für die folgende Textarbeit wurde in Kap. 1 ein Abriss der historisch nicht leicht zu fassenden Persönlichkeit des Kolumbus und seiner unterschiedlichen Beweggründe für die Fahrten gegeben. In Kap. 2 wurden dann von uns vier französische Kolumbus-Epen und ein neulateinisches spanisches Kolumbus-Epos in ihrer Machart und ideologischen Grundausrichtung analysiert, namentlich Anne-Marie Du Boccages La Colombiade ou La foi portée au Nouveau Monde (1756), Nicolas Louis Bourgeois’ Christophe Colomb, ou l’Amérique découverte (1773), Robert-Martin Lesuires Le Nouveau Monde (1781), Pierre Laureaus L’Amérique découverte (1782) und José Manuel Peramás’ De invento Novo Orbe inductoque illuc Christi Sacrificio (1777). Die französischen Kolumbus-Epen spiegeln zum einen die Faszination der Epoche der Aufklärung am wissensaffinen Helden Kolumbus wider, und unterscheiden sich so von den frühen neulateinischen Kolumbus-Epen.

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3 Gegenüberstellung epischer Modellierungen der ‘Abstammungstheorie’

Zum anderen beziehen sie die zeitgenössisch in Frankreich spürbare Kritik an den spanischen Kolonisatoren mit ein. Neben Erhellungen etwa zum aktuellen Forschungsstand oder zu intertextuellen Einflüssen wurden in Kap. 2 der Arbeit vornehmlich die unterschiedlichen Möglichkeiten analysiert, wie die einzelnen Epen jeweils diese Ambiguität des kolonialen Helden Kolumbus in ihrer epischen Modellierung auflösen bzw. dafür nutzbar machen. Dabei nimmt die Durchmusterung der Epen ihren Ausgangspunkt bei der Frage nach der Ausgestaltung des stets präsenten Konflikts zwischen der christlichen Welt und der heidnischen Neuen Welt. Bei den frühen neulateinischen Epen ist das Vorgehen stets eindeutig auf ein ideologisches Überrennen und Umpolen der Semiosphäre der Neuen Welt durch die Alte ausgelegt. In den Epen ab 1750 ist eine Fokusverlagerung zu greifen, da die Bewertung des Konflikts anders ausfällt und die Inszenierung eines friedlichen Helden an Bedeutung gewinnt. Dies ist sowohl im neulateinischen spanischen Epos als auch in den französischen Epen der Fall. Außerdem wird in den Epen ab 1750 der in Vergils Aeneis und den frühen neulateinischen Kolumbus-Epen nur angelegte Individualismus des Helden deutlich stärker herausgearbeitet. Kolumbus verfolgt als Führungsfigur jeweils eine spezielle Zielsetzung, welche ihn vom Rest der Spanier absetzt: Sei es ein ‘gloire’-Streben (Laureau) oder ein ‘christlicher Missionierungseifer’ (Peramás) oder ein ‘sentimentales Moment’ (Lesuire). Beim Aufzeigen der den Epen zugrunde liegenden ‘Dispositio’ hat sich das raumtheoretische Begriffsinstrumentarium, das im DFG-Projekt ‘Epische Modellierung ideologischer Konflikte in der Frühen Neuzeit’ unter Prof. Dr. Bernhard Huss erarbeitet wurde, als nützlich erwiesen. Das liegt daran, dass die jeweils eigentümliche Inszenierung sich oft in der Raummodellierung niederschlägt. Ausführlich wird dies am schwerpunktmäßig behandelten Epos Lesuires aufgezeigt. Hier lassen sich zusätzlich zum intersemiosphärischen Kontakt zwischen der Neuen und der Alten Welt intrasemiosphärische Spannungen erkennen. Die Beurteilung des Vereinens der Welten durch die Hauptfigur Kolumbus unterliegt bei Lesuire außerdem einer intrapersonalen Entwicklung: Während Kolumbus eingangs noch das aus den frühen neulateinischen Kolumbus-Epen bekannte klassische Heldenbild verkörpern und als Teil der Semiosphäre der Alten Welt agieren will, zeichnen zunehmende Isolationsbewegungen des empfindsamen Grenzgängers sowie die Zunahme kolumbusfeindlicher Handlungen anderer Figuren die wachsende Inkompatibilität mit der spanischen Semiosphäre nach. Am Ende überdeckt die Auseinandersetzung des ‘Problemhelden’ Kolumbus mit seinen eigenen leidvollen Erfahrungen und denen anderer empfindsamer Spiegelfiguren den eingangs noch zentralen Kontakt zwischen Alter und Neuer Welt. Lesuires Epos belegt eindrucksvoll eine aus gattungsgeschichtlicher Sicht spannende Entwicklung der Gattung ‘(Kolumbus-)Epos’, ein vom zeitgenössischen senti-

3.3 Schlussgedanken

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mentalen Roman inspiriertes Ausreizen der Gattung – und fügt sich so in die literarische Tradition seiner besser erforschten Zeitgenossen bzw. Nachfolger ein. José Manuel Peramás (De invento Novo Orbe inductoque illuc Christi Sacrificio, 1777) richtet sich gegen den in Frankreich greifbaren antispanischen Grundtenor und nimmt – ähnlich wie die frühen neulateinischen Kolumbus-Epen – eine uneingeschränkt positive Modellierung des Helden vor, der sich von seiner religiösen Sendung überzeugt zeigt. Anders als bei den frühen neulateinischen KolumbusEpikern wird jedoch die klassisch-epische und v. a. tassianische Machart mit einem zentralen kriegerischen Konflikt zweier Semiosphären ausgeblendet und durch eine eirenische Ideologie ersetzt. So kommt es überhaupt nicht mehr zu einem kriegerischen Clash der Semiosphären, sondern es wird schlicht die Übermacht der Alten Welt inszeniert, wobei deren christliche Leitregeln der Neuen Welt übergestülpt werden, wo sie in gereinigter, verbesserter Form fortdauern sollen. Dabei werden nicht nur homerische und vergilische Motive mit dem Neuwelt-Thema überblendet, sondern auf verschiedene Weise einschlägige biblische Motive in die epische Diegese eingespielt. Kolumbus’ Projekt wird – unter spürbarem Rekurs auf den von Kolumbus um 1500 eigens verfassten Libro de las Profecías – atmosphärisch wie ideologisch in den Kontext einer lange prophezeiten friedlichen Heidenmissionierung gestellt. In diesem eschatologisch-apokalyptischen Gesamtkontext bildet ein neues christliches Gottesreich die ausnahmslos positiv valorisierte Hintergrundfolie des Epos. In diesem Sinne ist Peramás’ pro-imperialistisches Epos in seiner Machart deutlich konservativer als die seiner französischen Zeitgenossen. Zwar wird bei den Einzelanalysen im Hauptteil bereits punktuell darauf eingegangen, dass gewisse Topoi sich in allen Kolumbus-Epen finden lassen und – je nach der im Epos eingenommenen Ideologie – anders ausgestaltet werden. Konsequent wird diese vergleichende Perspektive dann in Kap. 3 exemplarisch anhand des Topos ‘Abstammungstheorien’ bzw. ‘Atlantis’ erläutert. Der konkrete literarische Umgang mit dem Problem der Herkunft der Bevölkerung der Neuen Welt sowie die argumentative Einbindung des sagenhaften, aus Platon bekannten Atlantis spiegelt eindrücklich den in die Epen eingespielten zeitgenössischen Diskurs wider. Zwar werden solche Elemente bereits bei den frühen neulateinischen Epen zur Stützung der jeweiligen Ideologie eingesetzt oder sind mitunter Bestandteil der globalen Raumkonstruktion. Zu einer expliziten Problematisierung der Abstammungstheorie kommt es jedoch erst in den Kolumbus-Epen ab 1750. Bei Lesuire wird die möglichst platongetreue Ausarbeitung der Atlantistheorie nachgerade zum Dreh- und Angelpunkt des Epos: Die Neue Welt wird als genuin ältere der beiden Welten valorisiert, Kolumbus’ Fahrt verliert damit ihren Status einer ‘Entdeckung’ und erscheint im Kontext eines Degenerationskreislaufs, welcher der melancholisch-pessimistischen Grundideologie des Epos zuarbeitet.

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3 Gegenüberstellung epischer Modellierungen der ‘Abstammungstheorie’

Die Abstammungstheorie wird zudem als Aufhänger für das aufklärerische Wissensspektrum genutzt, indem neben einem Exkurs über den idealen Staat auch die zeitgenössisch virulente Degenerationshypothese Buffons bzw. De Pauws, die lineare Weltgeschichte Lafitaus, das in der Mitte des 18. Jahrhunderts im Wandel befindliche Bild Nordamerikas oder die Vorstellung Voltaires und Baillys bezüglich Atlantis als Ursprungsort allen Wissens aufgegriffen werden.

4 Kurzfassungen der Ergebnisse der Dissertation 4.1 Kurzfassung der Ergebnisse der Dissertation auf Englisch Chapter I opens by considering the significance of the epic genre in the eighteenth century. Ever since the rediscovery of Aristotle’s Poetics, poets had striven to fill the perceived vacuum at the top of the ‘hierarchy of genres’ by producing a successful national epic – a tendency which continued unabated throughout the eighteenth century. Our overview of epic theory here surveys key models and materials, together with phenomena such as the lasting primacy of a Christian merveilleux, the rise of the prose epic alongside the popularity of biblical-pastoral and historical epics, and the growing importance of notions of an original oral epic tradition. This is illustrated through discussion of the salient eighteenth-century examples of Voltaire and Marmontel, who both produced ‘epic’ texts of relevance to the Columbus epic corpus on which this dissertation focuses. From here we proceed to survey the (sub)genre of Columbus epic itself, contextualised in relation to the later Enlightenment literary concours and historical works which took ‘America’ as their theme. This is accompanied by a sketch of the historical Columbus’ chimerical personality and possible motivations; in particular, his study of classical and biblical texts and contacts with notable fifteenth-century figures are discussed, as are key early modern scientific hypotheses on the shape of the earth and the navigability of the sea, as well as contemporary notions of the Golden Age and Earthly Paradise. A key text for these purposes is Columbus’s Libro de las Profecías (ca. 1500) which sheds light on his sense of mission and the nature of his eschatological and providential vision. Here the line between Columbus as a text-loving scholar and as an independent hero or philosophe éclairé avant la lettre is very thin. A subchapter at this point addresses the subject of Atlantis and the Descent Theories, which intersect with the question of the origin of the inhabitants of the New World which greatly exercised eighteenth-century thinkers. The Atlantean hypothesis, which is Platonic in origin, gained importance from the fifteenth century onwards and acquired particular significance in the context of eighteenth-century examinations of world history and the emergence of ‘knowledge’. We can, moreover, observe a trend whereby the ideologico-political, imperialistic ends which these ideas served in the sixteenth and seventeenth centuries evolved towards more anthropological, moralphilosophical concerns in the eighteenth. The Columbus epics produced after 1750 make use of these theories as they expound worldviews which oscillate between the twin poles of the ‘Christian’ and the ‘scientific’. https://doi.org/10.1515/9783110732405-004

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4 Kurzfassungen der Ergebnisse der Dissertation

In Chapter 2, four French-language Columbus epics and a Spanish Latinlanguage Columbus epic are introduced and analysed according to a series of stylistic and ideological criteria. These are: Anne-Marie Du Boccage’s La Colombiade ou La foi portée au Nouveau Monde (1756), Nicolas Louis Bourgeois’ Christophe Colomb, ou l’Amérique découverte (1773), Robert-Martin Lesuire’s Le Nouveau Monde (1781), Pierre Laureau’s L’Amérique découverte (1782) and José Manuel Peramás’ De invento Novo Orbe inductoque illuc Christi Sacrificio (1777). (The Appendix provides detailed overview of the contents of all five.) Particular prominence is accorded to the epics of Lesuire and of Peramás. In general, the French Columbus epics reflect Enlightenment fascination with their knowledgeable hero, differing clearly in this respect from the Neo-Latin Columbus epics of the sixteenth and seventeenth centuries. The epics of Du Boccage and Bourgeois are frequently taken together as both present Columbus’ voyages in an overwhelmingly positive light, evincing optimism about science and progress. Closer inspection, however, reveals key differences in their valorisation of ‘earthly progress’ and ‘enlightened knowledge’. Our examination of the epics thus takes as its starting point the question of the conflict between the Christian Old World and the pagan New. While in the earlier Neo-Latin epics one witnesses an ideological overrunning of the semiosphere of the New World by the Old, the epics of the later Enlightenment shift the focus of the conflict to the preservation of peace or the staging of a peaceful hero. This is the case with the French epics, which all weave in criticism of Spanish colonisers expressed in France at the time, as well as in the Neo-Latin epic of the Jesuit Peramás, who omits any mention of those Spanish atrocities made infamous by the ‘Leyenda Negra’. In all cases, moreover, the individualism of the epic hero – present in embryonic form in Virgil’s Aeneid – is strongly emphasised. Columbus, as the leading figure, pursues a specific objective in each case, which sets him apart from the rest of the Spanish. The poets each hone in on different, historically verifiable facets of Columbus’ life: thus Laureau’s epic is singularly concerned with Columbus’s pursuit of ‘gloire’ and Peramás’ with his missionary zeal, while Lesuire concentrates on more individualised, sentimental characterisation. Undergirding my analysis are the spatial-theoretical conceptual instruments developed in the DFG-funded research project ‘Epische Modellierung ideologischer Konflikte in der Frühen Neuzeit’ under Prof. Dr. Bernhard Huss, for in each case the peculiar nature of the staging is generally also reflected at the level of spatial modelling. A case in point is Lesuire’s epic, where, in addition to the intersemiospheric contact between the New and Old Worlds, intrasemiospheric tensions can be discerned. This plays out in an intrapersonal development in the characterisation of Columbus. On a chronotopic level, the first cantos of the epic are characterized by long acts performed together with the Spaniards,

4.1 Kurzfassung der Ergebnisse der Dissertation auf Englisch

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with only a few ‘secret’ movements reserved for the hero. The increasing number of self- and externally determined isolations is systematized and evaluated for all 26 cantos of the epic, showing how Columbus’ growing incompatibility with the Spanish semiosphere causes him to emerge as a kind of troubled hero and sensitive border crosser. As such, Lesuire’s epic proves an exciting development in the Columbus epic mode from the point of view of genre history. Lesuire’s procedure here is analysed in relation both to his contemporaries and successors as well as to his own ‘œuvre’, which comprise thrillers and adventure novels. This reveals Lesuire’s epic to be far from the slapdash series of juxtaposed Romanesque episodes which some have perceived; rather, it constitutes a coherent whole. A number of seemingly unrelated digressions can also be explained with regard to the Atlantean theme that is central to the epic. Laureau’s epic, in turn, offers a pointed contrast to Lesuire’s. His poem is no less critical of colonialism, despite an omnipresent optimism about progress and a hero who is completely convinced of his project. In a manner diametrically opposed to the approach of Lesuire, Laureau’s Columbus is unencumbered by remorse and given free rein to strive for fame with no need for justification. With ‘classic’ stoic coldness of feeling, he proudly distances himself from any negative associations concerning his project that are openly brought to his attention. At the same time, however, the epic narrator twice apologizes for Columbus’ behaviour in remarkably long commentaries. These remarks open up the level of a colonial-critical ‘second voice’, which is superimposed on the apparently unimpeachable actions on the part of the epic’s protagonists. In Peramás’ epic, Columbus is an unreservedly positive hero convinced of his religious mission, thus exhibiting strong affinities to the heroes of the earlier Neo-Latin Columbus epics. By contrast, however, the classical-epic style with a central warlike conflict between two semiospheres is here phased out and replaced by an irenic ideology. As such, the superiority of the Old World is simply staged as self-evident, with Christian precepts unproblematically imposed on the New World where they are to continue in ever better form. The subject of the ‘Leyenda Negra’ is conspicuous by its total absence. Columbus’ project is thus located, with notable recourse to the Libro de las Profecías, in the context of a long-prophesied peaceful mission to the ‘heathens’. The subchapters of this section examine how biblical motifs and the proclamations of the prophets are applied to the discovery of the New World. In this sense Peramás’ pro-imperialist poem is markedly more conservative than those of his French contemporaries. In the third and final chapter, the comparative perspective which has already seen us remarking upon many instances of ‘topoi’ shared by (yet differently developed in) the various Columbus epics is worked up into a case study centring on the topos of the Theories of Descent. Though these references to Atlantis were

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4 Kurzfassungen der Ergebnisse der Dissertation

present in the earlier Neo-Latin epics as well, explicit engagement with and problematization of these theories in Columbus epics only begins to occur from 1750 onwards. Lesuire’s treatment of the Atlantis theory, cleaving closely to Plato, becomes the pivotal point of his epic as the New World is deemed the genuinely older of the two Worlds: Columbus’ voyage thus loses its status of a ‘discovery’ and is instead inserted into the cycle of degeneration which is at the melancholic-pessimistic heart of this epic. More broadly, these theories of descent can be incisively used to exemplify the full Enlightenment spectrum of knowledge.

4.2 Kurzfassung der Ergebnisse der Dissertation auf Deutsch Die Arbeit liefert in Kap. 1 zunächst einen Überblick über den allgemeinen Stellenwert der Gattung ‘Epik’ im 18. Jhdt. Das Desiderat, die oberste Stelle in der Gattungshierarchie mit einem gelungenen Nationalepos zu füllen, hält sich ungebrochen von der Wiederentdeckung der aristotelischen Poetik bis ins 18. Jhdt. Ein Durchzug durch die Epentheorie behandelt die Wahl typischer Stoffe und Vorbilder, die bleibende Vorrangstellung des christlich geprägten ‘merveilleux’, die zunehmende Anzahl von Prosaepen, die Beliebtheit biblisch-pastoraler und (zeit)historischer epischer Texte sowie die wachsende Bedeutung einer möglichst ursprünglichen, oralen Epentradition, wie sie in Homers Ilias und Odyssee sowie uralten, nordischen Epen zu finden ist. Zudem wird auf ihre entscheidenden Vertreter, Voltaire und Marmontel, eingegangen, die mit ihren Werken (insbes. La Henriade und Les Incas, ou la Destruction de l’empire du Pérou) auch in praxi für die Kolumbus-Epiker relevante ‘epische’ Vorläufertexte hervorgebracht haben. Es folgt ein Überblick über den Stellenwert der Kolumbus-Epik im Speziellen. Hierbei wird auf die zeitgenössischen ‘concours’ eingegangen, im Rahmen derer eine Reihe von Akademien die Beurteilung der Vor- und Nachteile der Kolonisation als Thema für literarische Wettbewerbe stellen. Außerdem werden kurz die großen historischen Werke des 18. Jhdts. über ‘Amerika’ (von Robertson über De Pauw und Raynal) vorgestellt, von denen die Aufgabensteller dieser ‘concours’ sowie die AutorInnen der Kolumbus-Epen stark beeinflusst werden. Als Basis für die sich anschließende Textarbeit wird ein Abriss der historisch nicht leicht zu fassenden Persönlichkeit des Kolumbus sowie ein Überblick über die Beweggründe für seine Fahrten gegeben. Diese sind mit der Suche nach Gold und finanziellem Zugewinn teils pragmatisch-ökonomischer Natur; teils sind die Fahrten motiviert durch den angestrebten Nachruhm über den Tod hinaus; die in Spanien stets präsente Vision einer globalen Christianisierung bzw. Heidenmissionierung scheint Kolumbus gerade mit zunehmendem Alter verstärkt zu beschäftigen.

4.2 Kurzfassung der Ergebnisse der Dissertation auf Deutsch

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Zur Erhellung dieses Aspekts wird der von Kolumbus um 1500 eigens verfasste Libro de las Profecías behandelt, anhand dessen sich eindrucksvoll seine apokalyptisch-eschatologischen Vorstellungen von einem lange im Voraus prophezeiten, weltumspannenden, neuen Gottesreich aufzeigen lassen. En passant wird darauf verwiesen, wie sich diese Vorstellungen in den Reiseberichten und biographischen Werken der folgenden Jhdt. (beginnend bei Las Casas und Kolumbus’ Sohn Fernando) halten. Thematisiert wird in diesem Kontext auch Kolumbus’ langjähriges Studium antiker, mittelalterlicher und biblischer Texte sowie sein Kontakt zu Persönlichkeiten wie Toscanelli, die wiederum in den Kolumbus-Epen eine Rolle spielen. Auf wissenschaftliche Hypothesen der Zeit (etwa zur Kugelform der Erde oder zur Beschiffbarkeit des Meeres) wird ebenso eingegangen wie auf die Bedeutung der Beschreibungskategorien des Irdischen Paradieses oder des Goldenen Zeitalters. Der Grat zwischen Kolumbus als einem wissenschaftsaffinen, textbegeisterten Stubengelehrten und einem eigenständig, quasi als Aufklärer avant la lettre agierenden Helden ist denkbar schmal: Für eine epische Umsetzung darf seine Leistung kein ‘Zufallstreffer’, aber auch nicht zu stark durch antikes Wissen vorgegeben sein. Hieran schließt sich ein Unterkapitel zum Thema ‘Abstammungstheorien’ und ‘Atlantis’ an. Es liefert einen Überblick über das bis ins 18. Jhdt. gerne diskutierte Problem der Herkunft der Bewohner der Neuen Welt. Die entscheidenden Pole sind hierbei die Monogenese (d. h. ein Zurückführen der Bewohner der Neuen Welt auf alte Völker der Bibel und letztlich auf Adam und Eva) sowie die Polygenese (wonach Gott die versteckt gehaltene Neuen Welt abseits der Schöpfung mit anderen, menschenähnlichen Wesen besetzt habe, für die eine wie auch immer geartete ‘Rückführung auf den rechten Weg’ zwecklos ist). Diese Theorien lassen sich durch zahlreiche Details ergänzen, etwa die Prä-Adamiten-These und die Abstammung der Bewohner der Neuen Welt von den Karthagern sowie insbes. von den Bewohnern des sagenumwobenen Atlantis. Atlantis fungiert hierbei im Sinne eines verschütt gegangenen Bindeglieds zwischen der Alten und der Neuen Welt oder im Sinne eines mit ‘Amerika’ gleichzusetzenden Neuen Kontinents. Werden diese Theorien im 16. und 17. Jhdt. noch v. a. für ideologisch-politische Argumentationen und Unterwerfungsabsichten nutzbar gemacht, greift man im 18. Jhdt. dann mit verändertem Fokus (nämlich mit anthropologischem und moralphilosophischen Erkenntnisinteresse) auf sie zurück. Das Kapitel soll einführend auch ein möglichst breites Spektrum an relevanten Texten und Autoren liefern, die in den folgenden Kapiteln der Arbeit punktuell wieder aufgegriffen werden. Gerade die Atlantishypothese, die ihren Ursprung bei Platon hat und ab dem 15. und 16. Jhdt. verstärkt Bedeutung gewinnt, wird im Laufe der Zeit (von Francis Bacon hin zu Bailly, Voltaire oder Carli) im Kontext einer tiefgründigen Auseinandersetzung mit der Weltgeschichte und der Entstehung von ‘Wis-

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sen’ virulent. Die Kolumbus-Epen ab 1750 machen ihrerseits eben diese Theorien für die epische Modellierung ihrer jeweils zugrunde liegenden Weltsicht zunutze, die ja zwischen den Polen ‘gläubig-christlich’ und ‘wissenschaftlich-rational’ changiert. In Kap. 2 werden vier französische Kolumbus-Epen und ein neulateinisches spanisches Kolumbus-Epos jeweils in ihrer Machart und ideologischen Grundausrichtung analysiert, namentlich Anne-Marie Du Boccages La Colombiade ou La foi portée au Nouveau Monde (1756), Nicolas Louis Bourgeois’ Christophe Colomb, ou l’Amérique découverte (1773), Robert-Martin Lesuires Le Nouveau Monde (1781), Pierre Laureaus L’Amérique découverte (1782) und José Manuel Peramás’ De invento Novo Orbe inductoque illuc Christi Sacrificio (1777). Die Appendix liefert außerdem für jedes Epos eine eigens angefertigte, detaillierte inhaltliche Übersicht. Für jedes der fünf Epen wird knapp der aktuelle Forschungsstand umrissen, und bestimmte Vorgehensweisen und Ergebnisse früherer Forscher werden kritisch beäugt, um ausgehend von dieser Basis eigene Beobachtungen zu liefern. Dabei wird ein eindeutiger Schwerpunkt auf die in der Forschung bisher kaum oder wenig zielführend behandelten Epen von Lesuire und Peramás gelegt. Die französischen Kolumbus-Epen spiegeln die Faszination der Epoche der Aufklärung am wissensaffinen Helden Kolumbus wider und unterscheiden sich in dieser Hinsicht klar von den frühen neulateinischen Kolumbus-Epen des 16. und 17. Jhdts. Ein optisch auffälliger Unterschied ist der Einsatz ausladender enzyklopädisch-didaktischer Fußnoten der AutorInnen, der anhand der Epen von Du Boccage und Bourgeois aufgezeigt wird. Zwar werden diese beiden epischen Texte in der Sekundärliteratur fast immer in einem Atemzug genannt, da sie beide Kolumbus’ Fahrten in ein vornehmlich positives Licht stellen und einen Wissenschaftsund Fortschrittsoptimismus an den Tag legen. Aber sie unterscheiden sich bei genauerer Betrachtung doch deutlich voneinander, da sie auf ‘irdischen Fortschritt’ (etwa kulturelle Errungenschaften und ‘aufklärerisches Wissen’) unterschiedlich rekurrieren und ihn unterschiedlich beurteilen. Bourgeois’ Epos besitzt ferner einen eigenwilligen, christlich-biblisch motivierten Überbau, der als roter Faden das gesamte Epos durchzieht. Dabei wird stets göttliches Wissen mit weltlichem in Relation gesetzt und letzteres merklich abgewertet. Unsere Durchmusterung der Epen nimmt in der Regel ihren Ausgangspunkt bei der Frage nach der Ausgestaltung des stets präsenten Konflikts zwischen der christlichen Welt und der heidnischen Neuen Welt. Bei den frühen neulateinischen Epen ist das Vorgehen eindeutig auf ein ideologisches Überrennen und Umpolen der Semiosphäre der Neuen Welt durch die Alte ausgelegt. In den Epen ab 1750 ist eine Fokusverlagerung zu greifen, da die Bewertung des Konflikts anders ausfällt und die Bewahrung des Friedens bzw. die Inszenierung eines friedfertigen Helden zentral gestellt wird. Dies ist in den französischen Epen der Fall, die alle die zeitgenössisch in

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Frankreich geäußerte Kritik an den spanischen Kolonisatoren in unterschiedlicher Ausführlichkeit miteinbeziehen, aber auch im neulateinischen spanischen Epos des Jesuiten Peramás, obwohl dieser spanische Greueltaten im Sinne der ‘Légende noire’ gänzlich ausspart. Zudem wird in allen Epen ab 1750 der in Vergils Aeneis und den frühen Kolumbus-Epen des 16. und 17. Jhdts. nur angelegte Individualismus des epischen Helden deutlich stärker herausgearbeitet. Kolumbus verfolgt als Führungsfigur jeweils eine spezielle Zielsetzung, welche ihn vom Rest der Spanier absetzt. Die einzelnen Inszenierungen greifen dabei jeweils individuell historisch belegbare Facetten des Genuesen auf und gestalten diese schwerpunktmäßig aus: Laureaus Epos konzentriert sich einseitig auf Kolumbus’ individuelles ‘gloire’-Streben, Peramás’ Epos auf seinen christlichen Missionierungseifer und dasjenige Lesuires auf die individuelle, sentimentale Charakterzeichnung des Genuesen. Beim Aufzeigen der den Epen zugrunde liegenden ‘Dispositio’ hat sich das raumtheoretische Begriffsinstrumentarium, das im DFG-Projekt ‘Epische Modellierung ideologischer Konflikte in der Frühen Neuzeit’ unter Prof. Dr. Bernhard Huß erarbeitet wurde, als nützlich erwiesen. Das liegt daran, dass die jeweils eigentümliche Inszenierung sich oft auch in der Raummodellierung niederschlägt. Ausführlich wird dies am Epos Lesuires aufgezeigt. Hier lassen sich zusätzlich zum intersemiosphärischen Kontakt zwischen der Neuen und der Alten Welt – der noch in den frühen neulateinischen Epen den alleinigen Handlungskern ausmacht – zusätzlich intrasemiosphärische Spannungen erkennen. Die Beurteilung des Vereinens der Welten vonseiten der Hauptfigur Kolumbus unterliegt bei Lesuire zudem einer intrapersonalen Entwicklung: Eingangs will Kolumbus noch als Teil der Semiosphäre der Alten Welt agieren und verkörpert das aus den frühen neulateinischen KolumbusEpen bekannte klassische Heldenbild. Er strebt – ähnlich wie der epische Held seiner Vorgänger – nach Ruhm und wird von der Absicht geleitet, dem erhaltenen göttlichen Missionierungsauftrag zu entsprechen. Die Chronotopik des Epos ist dabei von langen, gemeinsam mit den Spaniern vollzogenen Handlungen gekennzeichnet, während es nur zu einigen kurzen ‘heimlichen’ Isolationsbewegungen des Haupthelden kommt. In der Folge nehmen nicht nur kolumbusfeindliche Handlungen anderer Figuren zu, sondern Kolumbus’ wachsende Inkompatibilität mit der spanischen Semiosphäre erhält insbes. durch zahlreiche Isolationen des zunehmend sentimentalen Helden Kontur. Diese selbst- und fremdbestimmten Isolationen werden systematisiert und für die 26 Gesänge des Epos ausgewertet. Kolumbus erscheint als empfindsamer Grenzgänger und als eine Art ‘Problemheld’. Seine Auseinandersetzung mit seinen eigenen leidvollen Erfahrungen sowie denjenigen anderer empfindsamer Spiegelfiguren überlagern v. a. gegen Ende des Epos den zu Beginn noch zentralen Kontakt zwischen Alter und Neuer Welt. Alles in allem belegt Lesuires Epos eindrucksvoll eine aus gattungsgeschichtlicher Sicht spannende Entwicklung der Gattung ‘(Kolumbus-)Epos’. Sein Ausreizen der Gat-

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tung wird dabei einerseits vor der Hintergrundfolie besser erforschter Zeitgenossen und Nachfolger (Chateaubriand, Lamartine und insbes. Marmontel) analysiert. Andererseits lässt dieses sich durch einen Blick auf das Gesamtwerk des Autors besser verstehen, welches v. a. Schauer- und Abenteuerromane umfasst und vom zeitgenössischen sentimentalen Roman Richardsons (aber auch von einschlägigen französischen Texten, etwa Madame de Graffignys) inspiriert ist. Nichtdestotrotz ist Lesuires Epos alles andere als ein – bisher von der Forschung als solches bezeichnetes – kaum durchdachtes Nebeneinander von romanesken Episoden, sondern ein durchaus kohärentes Gesamtkonstrukt. Dies lässt sich an bedachtsam aufeinander zukomponierten Passagen über die 26 Gesänge hinweg sowie anhand roter Fäden erkennen, die sich über das gesamte Werk erstrecken. So bleibt Kolumbus z. B. stets ein von einer göttlichen Instanz geleiteter Held, wenngleich sich dessen Definition von einem christlichen hin zu einem auf die basalen Elemente einer ‘natürlichen’ Religion reduzierten Verständnis wandelt. Dasselbe gilt für das Attribut ‘stoisch’, welches den Helden das gesamte Epos hindurch charakterisiert. Allerdings ist damit nur eingangs ein im ‘klassischen’ Sinne stoischepischer Held gemeint, der gottgläubig und geduldig seine Mission erfüllt. Im Laufe des Epos erscheint Kolumbus dann auf ganz unterschiedlichen Ebenen als heldenhaft ‘stoisch’. Dies reicht vom Gefühle zeigenden, sentimental-stoischen Helden (gemäß der Auslegung des Stoizismus, wie er im 18. Jhdt. rege diskutiert wird), bis zum über dem Rest der Menschheit stehenden, mit Vertrauen in die göttliche ‘Providentia’ ausgestatteten stoischen Helden oder dem stoischen Weisen, der durch seine richtige Einstellung zum Tod heroische Züge annimmt. Kap. 3 belegt zusätzlich, wie eine Fülle scheinbar zusammenhangloser Digressionen sich mit Blick auf die für das Epos zentrale Atlantisthematik erklären lässt. Laureaus Epos ist insbes. als Kontrastfolie zu Lesuires Epos von Interesse. Sein Epos ist trotz eines omnipräsenten Fortschrittsoptimismus und der Inszenierung eines Helden, der von seinem Projekt überzeugt ist, nicht weniger kolonialkritisch. Kolumbus agiert zwar auf der Figurenebene – in diametralem Gegensatz zu Lesuires Held – frei von Gewissensbissen und folgt bar jeglicher Rechtfertigungsnotwendigkeit unbeirrt seinem ‘gloire’-Streben. In ‘klassisch’-stoischer Gefühlskälte distanziert er sich dabei hochmütig von jeglichen negativen Assoziationen bezüglich seines Projekts, die offen an ihn herangetragen werden. Demgegenüber wird aber vonseiten des epischen Erzählers zweimal in auffallend langen Kommentaren apologetisch für Kolumbus Position bezogen. Diese Ausführungen eröffnen die Ebene einer kolonialkritischen ‘Second voice’, die sich über die scheinbar unantastbaren Handlungen auf der Figurenebene legt. Bei Peramás wird Kolumbus sowohl auf Erzähler- wie auf Figurenebene als uneingeschränkt positiver Held modelliert, der von seiner religiösen Sendung überzeugt ist. Dies rückt ihn in die Nähe der frühen neulateinischen Kolumbus-

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Epiker. Im Gegensatz zu diesen wird jedoch die klassisch-epische Machart mit einem zentralen kriegerischen Konflikt zweier Semiosphären (gemäß Gattungsvorbildern wie Vergil, Homer und insbes. Tasso) ausgeblendet und durch eine eirenische Ideologie ersetzt. So kommt es überhaupt nicht mehr zu einem kriegerischen Clash der Semiosphären, sondern es wird schlicht die Übermacht der Alten Welt inszeniert. Deren christliche Leitregeln werden der Neuen Welt ‘übergestülpt’, wo sie in gereinigter, verbesserter Form weiter fortdauern sollen. Dabei werden nicht nur homerische und vergilische Motive mit dem Neuwelt-Thema überblendet, sondern auf verschiedene Weise einschlägige biblische Motive in die epische Diegese eingespielt. Kolumbus’ Projekt wird unter spürbarem Rekurs auf den Libro de las Profecías atmosphärisch wie ideologisch in den Kontext einer lange prophezeiten friedlichen Heidenmissionierung gestellt. In den Unterkapiteln wird herausgearbeitet, wie biblische Motive (u. a. Kanaan, die Arche Noah, das Große Abendmahl) sowie Ankündigungen bekannter biblischer Propheten (Jeremia, Malachia, Johannes) auf die Entdeckung der Neuen Welt übertragen werden. In diesem eschatologisch-apokalyptischen Gesamtkontext bildet ein Neues Gottesreich die ausnahmslos positiv valorisierte Hintergrundfolie des Epos. In diesem Sinne ist Peramás’ pro-imperialistisches Epos in seiner Machart deutlich konservativer als die seiner französischen Zeitgenossen. Dem Epos liegt insgesamt dieselbe Stoßrichtung zugrunde wie Peramás’ 1793 publiziertem Commentarius, in dem er sich gegen den in Frankreich greifbaren antispanischen Grundtenor und für die von den Jesuiten in ihrer Kolonie in Paraguay vertretene Theokratie ausspricht. En passant wurde im Rahmen der Einzelanalysen in Kap. 2 bereits darauf eingegangen, dass gewisse Topoi sich in allen Kolumbus-Epen finden lassen und – je nach der im Epos eingenommenen Ideologie – anders ausgestaltet werden. Behandelt wurde etwa der individuelle Einbezug der Bibel. Konsequent wird diese vergleichende Perspektive dann im abschließenden Kap. 3 exemplarisch anhand des Topos ‘Abstammungstheorien’/‘Atlantis’ durchgeführt. Zwar werden Abstammungstheorien und Referenzen auf Atlantis bereits bei den frühen neulateinischen Epen des 16. und 17. Jhdts. zur Stützung der jeweiligen Ideologie eingesetzt, und sie sind mitunter Bestandteil der globalen Raumkonstruktion. Zu einer expliziten Auseinandersetzung und einer Problematisierung der Abstammungstheorie kommt es jedoch erst in den Kolumbus-Epen ab 1750. Bei Lesuire wird die möglichst platongetreue Ausarbeitung der Atlantistheorie nachgerade zum Dreh- und Angelpunkt des Epos: Die Neue Welt wird als genuin ältere der beiden Welten valorisiert, Kolumbus’ Fahrt verliert damit ihren Status einer ‘Entdeckung’ und erscheint vielmehr im Kontext eines zyklischen Degenerationskreislaufs, welcher der melancholisch-pessimistischen Grundideologie dieses Epos zuarbeitet. Die Abstammungstheorie wird zudem als Aufhänger

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4 Kurzfassungen der Ergebnisse der Dissertation

für das ‘aufklärerische’ Wissensspektrum genutzt, indem neben einem Exkurs über den idealen Staat auch die zeitgenössisch virulente Degenerationshypothese Buffons bzw. De Pauws, die lineare Weltgeschichte Lafitaus, das in der Mitte des 18. Jhdts. im Wandel befindliche Bild Nordamerikas sowie die Vorstellung Voltaires und Baillys bezüglich Atlantis als Ursprungsort allen Wissens aufgegriffen werden.

Appendix: Detaillierte Inhaltsübersichten Du Boccages La Colombiade chant I 3: Proöm (Kolumbus: von der Hölle verfolgter erster Entdecker der Neuen Welt; seefahrerische Fertigkeiten, Überbringer der Religion); Musenanruf an Kalliope 4: Herumirren der spanischen Flotte; Sichten einer Insel (Rede des Kolumbus; sein Dienst für den spanischen König; Gottes Unterstützung; Rede der Matrosen in Vorfreude) 4–7: Katalog der Matrosen; griechische Schiffsnamen (Argo, Alcide, Télamon: Spanier; Orphée: Genuesen; Calaïs und Zétès mit Pizarro und Cortés; Hilas: Schotten; Thésée: Franzosen; Pelée, Ajax: Andalusier; kleinere Schiffe); Kolumbus’ Trauer um verstorbene Männer 7–11: Seesturm – 7–9: Eingreifen der Zémès – 7: deren Gleichsetzung mit paganen Gottheiten Griechenlands – 7–8: Rede des Windgottes Teule an Satan (intendiertes Verhindern der Ausdehnung des Reichs Gottes; kein passives Erdulden; Kolumbus (aufgeklärt, tapfer, stoisch) als gefährlicher Sterblicher; geplantes Ertränken der Spanier) – 9: Seesturm (Erlaubnis Satans; Teules Entfesseln der Winde; Sturm; Gottes Dulden; Entfernen der spanischen Flotte vom Ufer) – 9–11: Eingreifen Gottes (Stoßgebet des Kolumbus; Abflauen des Sturms und der Furcht; paradiesisches Wetter und Düfte) 11–74: die erste Insel – 11–18: Landung – 11–12: Inselbeschreibung (unzugängliche vs. zugängliche Seite; Furcht der Bewohner; schattige Lage; Bächlein; Gartenlandschaft; angenehme Hitze) – 12–13: erste Begegnung mit den Ureinwohnern – 12–13: weißhaariger Alter auf naheliegendem Felsen; gegenseitiges Bestaunen; Überzeugt-Sein von Kolumbus’ göttlicher Abstammung – 13: Kolumbus’ Zurückgreifen auf einen zuvor kennengelernten Dolmetscher – 13: Kolumbus’ Rede (friedliche Absicht; Versprechen, bei einer positiven Aufnahme über die Inselbewohner andernorts positiv zu sprechen)

https://doi.org/10.1515/9783110732405-005

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Appendix: Detaillierte Inhaltsübersichten

– 13–14: Rede des Alten Weisen (Beauftragen eines Festmahls durch seine Leute; Gewähren friedlichen Asyls; Bitte an Kolumbus, ihm zu folgen) – 14–16: Weg ins bewohnte Tal (Neuartigkeit der Natur; Katalog der Flora und Fauna: Kolibri, Affe, Aloe, Kokospalme, Tabak, Baumwolle, Kakao, Magnolie, Mahagoni, Zeder, Ananas; Begeisterung der Spanier; Erläuterungen des führenden Alten Weisen) – 16–18: die Höhle des Alten Weisen (seine bildhübsche, scheue, halbnackte Tochter Zama; Rede des Vaters an Zama; Festmahl: Fisch, Affen, Tauben, Bananen; Rede des Alten Weisen: Erkundigungen bezüglich der göttlichen Abstammung des Kolumbus und seiner Ziele) chant II – 21–28: Kolumbus’ Rede zur Geschichte der Alten Welt (1) – 21–22: seine irdische Abstammung; Allgemeines zum Aufbau der Welt (Gott als Schöpfer und Weltlenker; Größe des Universums; die sich drehende Erdkugel; fünf Klimazonen; Einwirken der Sonne; Äquator; widrige Lebensumstände am Nord- und Südpol; Bewohnbarkeit der Erde; Heimatliebe des Menschen) – 22–23: Afrika (v. a. von Tieren bewohntes Zentralafrika; Idolenglaube) – 23–26: Asien – China (Bevölkerungsreichtum, religiöse Vorstellungen des Konfuzius) – Indien (Luxusverfallenheit, Müßiggang, Vorstellung ewiger Wiedergeburt) – kleinasiatische Philosophenschulen (auf der Suche nach der ἀρχή vs. christlicher Gott als Einziger mit Einsicht in dieses Geheimnis) – Persien (Vertreiben der ‘Mages’ durch den wahren Gott; jedoch Polygamie und Irreführung durch Mohamet und Ali; Macht der Osmanen) – Ägypten, Assyrien, Phoenizien (ewiges Verändern und Vergehen dieser Orte der Künste vs. Unabänderlichkeit der christlichen Gebote) – Griechenland (Nachahmer der Ägypter; Suche nach neuen Gottheiten; Vergöttlichung von Helden; anthropomorphisierte Gottheiten)

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– 26–28: Europa – Überwinden der Fehler der Griechen; Übernahme der Künste; Krieg – Kolumbus’ Heimatstatt Italien (Rom: vom Zentrum der Idolatrie zum Papstsitz; Übernahme der Künste und des Luxus aus dem besiegten Osten; Herrschsucht; Untergang der Freiheit; Germaneneinfälle) – Erbsünde: die Habsucht der Menschen als Gottes Strafe für ihren Undank (deren mühseliges Arbeiten für eine gerechte Güterverteilung; Herausbilden der Künste zur Verbesserung der Situation; unbefriedigendes Streben nach Luxus; Gesetze zur Regelung der Güterverteilung) 28: Rede des Alten Weisen (Unverständnis bezüglich des europäischen Systems; Eintreten für eine vernunftbasierte, gerechte Behandlung Aller; Ausschöpfen des kurzen Lebens in Bescheidenheit; Vorbereitung auf den Tod) 28–33: Kolumbus’ Rede zur Geschichte der Alten Welt (2): – Neue vs. Alte Welt (glückbringender einfacher Lebensstil vs. Künste/ Überbieten der Natur infolge des von Habgier geleiteten Kampfs ums Überleben) – positive Folgen der Erbsünde: Fortschritte der Alten Welt – industrielle Produkte (Metalle, Glas, Kleidung) – gesunder Umgang mit Leidenschaften (Hass, Liebe) – Kaschieren harter Wahrheit durch die Rhetorik – Bildende Künste; Astronomie; Eingriffe in die Beschaffenheit der Erde (samt Elementen) – die Goldgier als Triebfeder für die Entwicklung der Künste (Beispiel der Seefahrt: Schiffbau, Koordinatensystem, Kompass; Weltvermessung) 33–34: Rede des Alten Weisen (Bewunderung der Künste; fehlendes Verständnis für die Suche nach von Natur aus versteckt gehaltenen Gütern und für das Verlassen der Heimat; die Liebe zu seiner Tochter Zama) 34–35: Zamas Rührung; ihr Verliebtsein in Kolumbus; Frage nach Kolumbus’ Zielen

chant III – 39–50: Kolumbus’ Rede über sein Leben – 39–40: Projektvorbereitung (seit der Kindheit Interesse an Astronomie; antike Quellen zur Entdeckung des Westens (Platon); Projektunterstützung durch den Papst; Kritik Italiens; anfängliche Unterstützung, dann Vorbehalte Spaniens (exemplarische Rede spanischer Gegner);

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Appendix: Detaillierte Inhaltsübersichten

Kolumbus’ Gebet; Gottes Zuspruch; Erschütterung beider Welten; Kolumbus’ Vision der unbekannten Neuen Welt) – 40–42: Vorstellung an den Fürstenhöfen (Deutschland; England/ Frankreich: innere Kriege; Zusage Spaniens; Isabella über Kolumbus’ gottgewolltes Projekt) – 42–43: Abfahrt (Bekanntwerden des Projekts in Europa; Kolumbus’ Mitfahrende; Verabschiedung der Matrosen; Redepassagen einiger besorgter Zurückgelassener; Verlassen der Meerenge von Gibraltar) – 43–44: Kanaren (Ähnlichkeit mit der Insel des Alten Weisen) – 44–45: weitere Überfahrt mit negativen Vorzeichen und widrigen Umständen (Wale, Elmsfeuer, Wassersäule (vgl. NM II.102–103), Sinken des ‘Alcide’, Skorbut und Suizide; Meuterei unter Leitung des Pinzón); im Hintergrund agierende Unterweltgötter; Aufforderung Pinzóns zur Umkehr – 46–50: Landung auf vorgelagerten Inseln – Hinweise auf das nahende Festland (Pflanzen im Wasser, fliegende Fische) – Kolumbus’ Versprechen der baldigen Landung; Sichten der Küste; Lobrede der zuvor noch meuternden Matrosen – Annähern an den Hafen durch kleine Kanus; Angriff durch Killerhaie; wilde Tiere als Inselbewohner (Reptilien, Insekten, Tiger), giftige Mancinille; Palme im Sturm; beginnende Zweifel bei Kolumbus – Erblicken und Erreichen einer angenehmeren Insel in der Umgebung (Schildkröten, reife Früchte, Kiefernwald); Seufzer im Wald; Rede des sieben Jahre einsam lebenden Halbtoten (des künftigen Dolmetschers) – 50: interessiertes Nachfragen Zamas (Ablösen des zu seinen Schiffen zurückkehrenden Kolumbus durch den Dolmetscher Serrano) – 50–54: Rede Serranos über sein Schicksal (Teilnahme an einer spanischen Seeexpedition gen Westen aufgrund einer enttäuschten Liebe; Verschlagen in unbekannte Gebiete; Kapern des Schiffs durch Barbaren; Gefangennahme als Kriegsberater; Erlernen der fremden Sprache; Freilassen der Spanier gegen die Geiselstellung des Sohns des spanischen Anführers; Schiffbruch auf dem Nachhauseweg; Serrano als einziger Überlebender; Hunger; Tierangriffe; Leben ohne Mitmenschen; kannibalische Riesen; Angst und Sterbewunsch; Apostrophe der (schließlich erhörten) Seufzer)

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chant IV – 57–74: Amors Einfluss auf Kolumbus und Zama – 57–61: Eingreifen der Unterwelt: Zémès bei Amor – Amors Heimat Cythera; Anrede Amors durch Zémès (Möglichkeit der ungehinderten Ausdehnung seiner Macht auf die Neue Welt; Zama und Kolumbus als auserkorenes Ziel; Einpflanzen von Pflichtvergessenheit zur Abwehr der Invasion Gottes in die Neue Welt) – Überzeugen Amors; Flug gen Neuen Welt; Einwirken auf Kolumbus und Zama (Vorbeifliegen an seinen früheren Wirkstätten Karthago (Dido) und den Kanaren (Armida)); Traumvisionen für Zama (Malen eines detailgetreuen Bildes ihres Geliebten) und Kolumbus (sich ankündigende Pflichtvergessenheit) – 61: Kolumbus’ Aufsuchen des Alten Weisen; Verehrung des Sonnenaufgangs – 61: Erzählerkommentar: Vergleich von Zamas Vater mit dem eigenen Vater; Hoffnung, ihre Verse mögen die Menschheit vom Luxusstreben befreien; Musenanruf – 61–65: wachsende Liebe zwischen Kolumbus und Zama – 61–62: gegenseitige Avancen (Vorschlag des Vaters an Kolumbus, mit ihm und Zama den Alltag zu verbringen; Kolumbus’ Interesse an Zama; seine Hilfestellung beim Pflücken von Früchten; ihr Übergeben einer frischgefangenen Dorade) – 63: Apostrophe Amors und der unglücklichen Liebe – 63–65: Zamas Liebesrausch (Befragen des Dolmetschers über Kolumbus; schwindendes Interesse an sonstigen Aufgaben und Freundinnen (v. a. Zulma); Monolog in einer Grotte: Liebeseingeständnis; schreckliche Zukunftsvision: Kolumbus’ Entführung durch einen Greif; Bittgebet an den Sonnengott im Waldtempel: Wunsch sich zu entlieben oder Spanisch zu beherrschen) – 65–66: Kolumbus’ Selbstgespräch (Apostrophe Zamas; Bitte ihre Sprache zu beherrschen; Wiederholung der Worte durch einen Papagei; Mitnehmen des Papageien zur spanischen Flotte) – 66–67: Kolumbus und Zama in der Grotte (Auffinden der klagenden Zama in der Grotte; Zamas Begeisterung angesichts eines Spiegels; Liebesbezeugungen) – 67: Ablehnen der Vereinigung durch Zamas Vater (Erinnerung an ein früheres Eheversprechen an einen Einheimischen) – 67–73: Kolumbus zwischen ‘amor’ und ‘gloria’

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Appendix: Detaillierte Inhaltsübersichten

– 67–68: ‘amor’: Liebeswahn und enttäuschtes Einritzen eines Baums vs. Appell des Fährmanns zur Weiterfahrt, Zurechtweisung durch Marcoussy – 68–69: ‘gloria’: Appell eines Engels, die Mission fortzuführen; technische Errungenschaften als gottgewollte Voraussetzungen für die Mission – 69–71: Sieg der ‘gloria’: Überwinden der Apathie; Monolog (anfänglicher Plan des Konvertierens und Entführens Zamas; finale Entscheidung des spontanen Abfahrens (aus ‘pietas’ gegenüber ihrem Vater) – 71–74: Zama zwischen ‘amor’ und ‘pietas’ – 71–72: ‘amor’: Monolog der Verlassenen; Absicht Kolumbus zu folgen – 72: ‘pietas’: Zulma über Zamas Verpflichtung gegenüber dem Vater – 72–73: ‘amor’: Entscheidung für die Liebe; Verfolgen des gottgeleiteten Geliebten; Aufbruch mit Zulma in einem Kanu – 73–74: Beobachten der beiden durch Zamas enttäuschten Vater (auf einem Felsen); ihr Aufgreifen durch den Nachzügler Fiesqui chant V 77–78: Überfahrt gen Westen (Kolumbus in Gedanken bei Zama; Orientierungslosigkeit durch Ausfall nautischer Hilfsmittel; Sorge um das verloren geglaubte Schiff Fiesquis) 78–80: Kannibaleninsel – Eingreifen der Unterwelt: scheinbare Hilfestellung eines Seemonsters mit Menschenkopf (Wegweisen zu einer heilversprechenden Insel; Landung der ‘Hilas’ mit Kapitän Morgant) – Angriff durch von Satan bewaffnete Kannibalen in den Bäumen; deren Besiegen durch Alkoholisieren mit Wein; Flucht und Fernhalten der folgenden spanischen Schiffe 80–81: Seesturm – Zersprengen der Schiffe und Steuermänner; Untergang von ‘Pollux’ und ‘Argo’ – Kolumbus’ Einschließen der bisherigen Resultate in ein Holzfass zur Sicherung des Nachruhms 81–184: Hispaniola – 81–82: erste Landung – Kolumbus’ Verschlagen auf eine Insel; göttliches Eingreifen: Beschützen des an Land schwimmenden Kolumbus, Wiederfinden von zehn Matrosen, Beschleunigen der Wogen

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– Kolumbus’ Zurückschlagen der aggressiven Bewohner durch Feuerwaffen; Instigationsrede; Gebet an den omnipräsenten Schöpfergott: Christianisierung der Bewohner – Ruhen und Hungerstillen (Pfau, Seekuh, Mais, Coris) in Manier der Ureinwohner – 84–86: Bangen um mögliche Überlebende – 84: Erzengel: Hoffnungsspenden für die bangenden Spanier – 84–85: paradiesische Gegend (stets grünende, schattig, erntereife Früchte) vs. Angstträume der Matrosen über den Verbleib der restlichen Spanier – 85: Erzengel: Führen der Spanier auf einen Felsen; Blick aufs Meer und beruhigendes Sichten der übrigen Flotte; Neid des Spaniers Ximénès auf Kolumbus – 85–86: Kolumbus’ Rede (gottgewollte Unversehrtheit der Flotte und friedliche Mission) – 86–91: Vordringen ins Inselinnere – 86–87: Kolumbus’ Führung; Inselname ‘Hispaniola’; Unterkunft im Wald; Leuchtkäfer – 87–88: Kult für einen schlangenförmigen Gott; Kontakt zu opfernden Frauen; Übergabe von Kulturgegenständen; positive Gerüchte über die Spanier – 88: heiße, giftige Gegend abseits des Waldes – 88–90: Kolumbus’ Rede zur Abwehr des Komplotts durch Ximénès; dessen Reue; enttäuschte Unterweltgötter – 90–91: freundliche Kontaktaufnahme der Inselbewohner (Essensbereitstellung; Geschenke des Kaziken Canaric; seine Rede über Kolumbus’ Milde gegenüber den Frauen; Festmahl; Frage nach dem Grund für seinen Besuch) chant VI – 95–98: Gespräch zwischen Kolumbus und Canaric – 95: Rede des Kolumbus (über König Ferdinand und die christliche Religion; Angebot eines freundschaftlichen Gütertauschs mit Spanien; Frage nach Ausdehnung, Sitten, Bedürfnissen des Reichs) – 95–96: Rede des Canaric (Ausdehnung seines Machtbereichs; Aufteilung der Insel; verschiedene Könige; Natürlichkeit von Behausungen und Kleidung; kein Bedürfnis, Güter oder Götter mit Fremden teilen zu wollen) – 96–97: Unterbrechung durch einen Hofsänger (Geschichte der Vereinigung von Nacht und Sonne; Entstehung der Inselgottheiten; Einführung neuer Gottheiten; Mythos der Weltentstehung; Vascona als einzige für Canaric unerreichbare Frau der Insel)

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Appendix: Detaillierte Inhaltsübersichten

– 97–98: Unterbrechen des Hofsängers durch Canaric; Feierstimmung; Wunsch des Inspizierens der spanischen Schiffe; Kolumbus’ Führung; angsteinflößende Kanonenschüsse; Gütertausch (Glas gegen Gold) – 98–184: Krieg gegen die Bewohner Hispaniolas – 98–100: Eingreifen der Unterwelt: Entsenden der ‘Avaritia’ gegen die Spanier – Anrede der ‘Avaritia’ durch die Dämonen (ihre Leistungen in der Alten Welt) – Spanier: Befallen durch ‘Avaritia’, weitere Laster, ‘Discordia’ (Pflichtvergessenheit; Exzesse; Übergriffe an Frauen und Männern; Raub der Götterbilder) – Einheimische: Versenken von Gold (des vermeintlichen Gottes der Spanier) im Meer – Flucht der ‘Paix’ aus der Neuen Welt – 100–101: erste kriegerische Handlungen der Einheimischen (deren Unterwerfen durch die Spanier; Kolumbus’ Milde; deren Nahrungsmittellieferung an die Spanier) – 101–102: erneutes Ausbrechen der Habgier; Aushungern der Spanier durch die Einheimischen (Hilfsgesuch bei Canaric; Ermutigung der Spanier durch den Erzengel) – 102–112: Annahme des Bündnisangebots Vasconas – 102–103: Interesse der von der Unterwelt geleiteten Vascona an Kolumbus; ihr Bruder Cibao als Überbringer des Bündnisangebots – 103–106: Kolumbus’ Besuch bei Vascona – angesichts der Hungersnot Einwilligen ins Bündnis; prunkvoller Marsch durch Wälder; Vasconas Empfang (goldener Thron, prunkvoller Palast) – Kolumbus’ Monolog: ungebrochene Liebe für Zama trotz Vasconas reicher Aufmachung; Begrüßungsrede und Gastgeschenke – Vasconas Einladung zum Festmahl (Speisen; Ausstattung); ihre Verliebtheit in Kolumbus; Schlafen – 106–109: festliche Wettbewerbe – Vasconas Zirkus unter Orangenbäumen; junge Wettkämpfende; Vasconas Geliebte (Macatex/Zanex) im Duell; Unterhaltung durch Hofnarren – Schaukämpfe auf dem See Xaragua; Ehrungen der Zémès durch junge Mädchen; Schönheitswettbewerb; orgiastische Tanzeinlagen – 109–112: Ausschlagen des Eheangebots Vasconas – Vasconas Erregtheit; Bitte um die Vereinigung mit dem göttlichen Kolumbus; Selbstinszenierung als führende Königin der Insel

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– Kolumbus über seinen nichtgöttlichen Status und seine scheinbar göttlichen Künste (Kanonen, Pferde); Ausschlagen einer Ehe mit der Heidin Vascona; Angebot eines freundschaftlichen Bündnisses – Vasconas Enttäuschung; Rachelust; Setzen einer dreitägigen Frist zur Annahme des Eheangebots; Krieg bei Nichteinwilligung – Abreise der reich beschenkten Spanier chant VII – 115–120: Vasconas Befragung der Unterweltgötter – 115–116: Gespräch mit ihrem Bruder Cibao; geplantes Beschwören einheimischer Gottheiten zur Rache an Kolumbus – 116–118: Verlassen des Palasts, Besuch des Druiden Huscar in einer Waldhöhle; Huscars Fähigkeit zu Orakelei und Totenbeschwörung; Leitung des Göttertempels (Kultisches, Menschenopfer) – 118: Gebet Vasconas (Erbitten des Sieges über die Spanier, einer Vision über die Gefahren, einer Wiedervereinigung mit den Liebsten im Todesfall); Wünsche, Kinderopfer, Tänze, Tabakkonsum – 118–120: Huscars Bericht über negative Prodigien; bevorstehender Untergang der Einheimischen; Vasconas Unterschätzen der Vorzeichen, Beauftragen einer Zeremonie zur Götterbeschwichtigung; Kriegsabsicht mit Verstreichen der Frist – 120–125: Vasconas Kriegsvorbereitungen – 120–121: Versammlung der benachbarten Kaziken in Xaragua (Anabo, Isca, Banex, Azor, Naba, Zanex, Macatex) – 121: Instigationsrede der von allen respektierten Vascona (aktuelle Gefahrensituation; Vertrauen in die Unterweltgötter; Vernichtung der Gegner) – 122–123: pazifistische Rede des alten Anabo (Erinnern an ein altes Orakel von der Niederlage gegen aus der Ferne stammende ‘Kinder der Sonne’; himmlische Anzeichen für die Erfüllung dieses Orakels) – 123–124: begeistert aufgenommene kriegerische Rede des Macatex (gegen ein mildes Vorgehen; Eingestehen des alten Orakels; zwar hohe Kunstfertigkeit, aber niedrige menschliche Züge der Spanier; Vertrauen in die eigene Kriegsführung) – 124: ungehört verhallende Rede des Isca (Aufschieben des Kriegs, Aushungern) – 124: Vasconas Motivation zum Krieg – 124–125: Landung Fiesquis samt Zama; Angriff durch Vasconas Truppen

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Appendix: Detaillierte Inhaltsübersichten

– 125–128: Kolumbus’ Reaktion – 125–126: Canarics Absicht Vasconas Forderung der Geiselstellung zu entsprechen; Übermacht Vasconas mit zwanzig verbündeten Stammesfürsten – 126: Kolumbus’ Rede (Unterstützung Canarics; gegen eine Geiselstellung; Prophezeiung des Siegs mit Gottes Hilfe) – 126–127: Kolumbus als Rächer der Terrorherrschaft Vasconas; Unterstützung durch pfeiltragende Anhänger Canarics und die Königin von Sama – 127–128: Kolumbus’ Position (Ausschlagen eines erneuten Eheangebots Vasconas; geplanter Verteidigungskrieg bei einem Angriff Vasconas; Instigationrede; Vertrauen in seine Macht) chant VIII – 131–136: Katalog der Krieger – erneuter Musenanruf (Horror vor der Beschreibung der Kriegsgreuel; Inspirationsbitte an Klio insbesondere wegen des folgenden Katalogs der Krieger) – Magayens unter Zanex; androgyne Douross unter Azor; kannibalische Mayens ohne Anführer; sanftmütig-hedonistische Cibayens; deren Motivation durch hübsche Frauen; Anhänger Anabos; Zains aus Kuba; Macatex’ Giganten, Cibaos Bergvolk; Vasconas Amazonen und unmittelbare Entourage, Vasconas scheinbare Abstammung von den Unterweltgöttern; ihr Äußeres; ihre Giftkünste) – 136: Vasconas Gebet an die Nacht und die verstorbenen Ahnen: Kolumbus’ Vernichtung – 136–140: Kampfaufstellung und Instigationsreden – Aufstellung der Spanier; Kolumbus’ (bereits in Jerusalem verwendetes) Schwert – Morgengrauen; Aussehen der Einheimischen; Klang der Kriegstrompeten – Kolumbus’ Rede: Siegesgewissheit; Gottesvertrauen; Motivation der Spanier – Vasconas Engagement trotz vorbestimmter Chancenlosigkeit; Menge der Krieger; Vascona auf einem Wagen; Motivationsrede – 141–144: erste Kriegshandlungen (Deutung der europäischen Ordnung als Mangel an Wagemut; Apostrophe der den ersten Pfeilschuss abgebenden Vascona; Pfeilsalve; Kolumbus’ Attacke inmitten der Gegner; Befreiungsschlag durch Marcoussys Pferde; Rückzug Vasconas; Steigerung des Selbstbewusstseins der Einheimischen durch Azors Köpfen eines Pferds; Abwehr der auf Kolumbus gerichteten Pfeilschüsse Vasconas

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durch einen Engel; Kanonenschüsse; Angriffe durch Morgants Hunde; Nahkämpfe (Siege Einheimischer u. a. durch Einsatz flüssigen Goldes); Zurückschlagen der Einheimischen; deren Angriff auf Fiesquis Truppe; Vasconas Neid auf Zama; Verzögern ihres Todes) chant IX – 147: Kampfunterbrechung (Kolumbus’ fehlende Freude über den blutigen Krieg; konsterniertes Gebet; für ein Christianisieren der Einheimischen) – 147–168: Zama bei Kolumbus – 147–148: Kolumbus’ Überraschung; ihr Beherrschen des Spanischen – 148–149: Rede Zamas (1) (Verfolgen des Kolumbus aus Liebe; Suizid des Vaters; Erlernen des Spanischen auf Fiesquis Schiff; ihre Taufe zusammen mit Zulma) – 149: Rede des entzückten Kolumbus (Eheabsicht mit der Neuchristin) – 150–151: Rede Zamas (2) (Freude über die baldige Ehe; Bericht über Kriegserklärung, Einsperren, Ermorden der Spanier bei Vascona; deren Vergiften Zamas und Zulmas; Herführen der beiden durch den Dolmetscher; nahender Gifttod) – 151–152: Zamas Tod (Zama in Kolumbus’ Armen; an ihn gerichtete Motivationsrede zur Umsetzung der Mission; Zamas Seele; Mausoleum) – 152–168: Zamas Prophetie – 152–153: Kolumbus’ melancholischer Rückzug in eine Höhle; Einschlafen; Zamas Ernennung als Kolumbus’ Schutzpatronin durch Gott; ihr Erscheinen vor Kolumbus mit einem Globus – 153: Zamas Rede über die Glückseligkeit ihrer Seele – 153–154: Kolumbus’ Versuch, sie zu berühren – 154–157: Zamas negative Vision (antikes Verkennen der Erdausmaße; Da Gama in Afrika, sein Heldenstatus; Kolumbus’ fehlende Anerkennung; Namensgebung Amerikas durch Vespucci; Aufforderung zur Demut; Kolumbus’ künftiger Ruhm, seine Vorbildfunktion für weitere Seefahrer (Cortés, Pizarro); Untaten der Spanier bei den Inkas; Ercilla in Chile; Entdeckung des Potosí; Konsequenzen des gierigen Goldabbaus Spaniens für Europa; peruanisches Fiebermittel als einziges positives Importgut) – 157: Kolumbus’ Erschütterung (Apostrophe des Potosí; Kolumbus’ eigentliches eirenisches Ziel; Abscheu gegenüber seinen Taten)

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Appendix: Detaillierte Inhaltsübersichten

– 157–161: Zamas positive Vision (1) – Begrenzen der Spanier durch eine Papstbulle – das von Franzosen und Engländern geleitete Nordamerika (Jagd, Fischerei, industrielle Produktion, Handel zwischen den Welten) – Politisches (das stets katholische Frankreich; Englands Abfall vom und temporäre Rückkehr zum Papsttum) – Fortschritte der Zeit (Deutschland: Kopernikus; Italien: Torquato Tassos Gerusalemme liberata, Bau des Petersdoms) – 161: Kolumbus’ Begeisterung (Bitte um weitere Informationen) – 161–167: Zamas positive Vision (2) – Religionskriege in Europa (Heinrich IV., sein Dichter Voltaire) – künftige aufgeklärte Herrscherpersönlichkeiten (Stanislas Leszczyński in Polen; Peter I. von Russland; Christina von Schweden); der an deren Hof berufene Descartes; seine Astronomie); Wissenschaftler in England (Newton, Bacon, Locke, Addisson, Shakespeare, Milton); Frankreich unter Ludwig XIII. und Richelieu als Wiege der Aufklärung (u. a. Corneille, Racine, de la Fontaine, Perrault); weiterführender Blick auf die aufgeklärte Herrschaft Friedrichs des Großen und Frankreich unter Ludwig XV. bzw. Richelieu (Frieden von Aachen; Rousseau, Buffon) – 167–168: Kolumbus’ letztes fragendes Erwähnen seines baldigen Todes; ihr Widersprechen; sein Überwältigtsein durch die Vision chant X – 171–174: erneuter Angriff der Einheimischen (felsenschleudernde Riesen; Macatex’ Aufruf zu einem Zweikampf; Duell mit Marcoussy; Macatex’ Sieg; Flucht der Einheimischen; Kolumbus’ Grabrede für Marcoussy) – 174–175: Vulkanausbruch (als negatives Vorzeichen für die Einheimischen; deren neuer Mut durch Vasconas Befragung der Unterweltgötter; deren Eingreifen: Besiegbarkeit der Spanier bei Nacht) – 175–176: nächtlicher Angriff unter Isca (göttliche Vorahnung des Dolmetschers; dessen Informationsakquise verkleidet als Einheimischer; Iscas Siegesgewissheit; die auf seinen Angriff vorbereiteten Spanier; Iscas Wut; Ermorden des Dolmetschers; Azors Mord an Canaric; Sterbende: Naba, Banex, Morgant; Apostrophe des Kolumbus durch den Erzähler für weitere Informationen bezüglich Iscas Tod; spanische Hunde (Bérézillo))

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– 176–179: Angriff Vasconas (der alles beobachtende Gott; sein Besiegen der Unterweltsgötter, Windentsendung gegen Kolumbus’ Gegner; deren Flucht; Vascona im Wahn; ihre siegesgewissen, rachsüchtigen Reden an ihre Mitstreitenden und Kolumbus; Kolumbus’ Rede: Anbieten einer Kriegsbeilegung; seine Übermacht; deren Beleg durch die Voraussage einer Sonnenfinsternis); Vasconas Starrsinn; Pfeilschuss auf Kolumbus mit verliebt-zittriger Hand; Parieren durch Kolumbus) – 179–184: weitere Kampfhandlungen – Zanex (getötet durch Arcy; Rede an seinen Vater Anabo; über den ungerechten Gott der Spanier; Bitte um Fortsetzung des Kampfs für Ruhm, Vascona und die Zémès; Klage seines Vaters Anabo; tödlicher Pfeilschuss auf Anabo) – Kampfparänese eines alten Kommilitonen Anabos an seine 300 Söhne (Tod des Vasquez; Rache des Dias; Ermorden aller Söhne; Tod des seine Söhne sterben sehenden Vaters; Zerfleischen des Dias durch kannibalische Mänaden; Wüten von ‘Discorde’ und ‘Vengeance’) – Macatex’ Duell mit Kolumbus (Duellwunsch; Pfeilschüsse auf Kolumbus; Kolumbus’ Parieren; Erstechen des Macatex) – Eintreten der vorausgesagten Sonnenfinsternis; tödlicher Pfeilschuss auf Vascona im Gemenge ruckartig fliehender Einheimischer – 183–184: Kolumbus’ Sieg in blutiger Landschaft (seine Ideologie: Apostrophe des Schicksals; im Unterschied zum Sieg über große Städte kein Einnehmen eines Palasts; nur Annexion von Staaten für Spanien/Besiegen falscher Gottheiten) – 184: Ausblick: Rache der Unterweltgötter (deren Überschwemmen der Alten Welt durch Luxusgüter und Übel; Hoffnung des Erzählers auf ein ebenso starkes Überschwemmen mit tugendhaftem Verhalten)

Bourgeois’ Christophe Colomb, ou l’Amérique découverte chant I I.1: Proöm (Besingen der Entdeckung der Neuen Welt; Einfuhr des zerstörerischen Luxus in die Alte) I.1–2: erster Musenanruf – Entdeckung Amerikas als ruhmreiche Tat von Menschenhand; Gott jedoch als Urheber – bisheriges Verbergen der Neuen Welt; möglicher Grund für die Entdeckung: eine anstehende Prüfung der Menschen durch den Reichtum Amerikas – Bitte um poetische Inspiration für die (für ein Epos geeignete) Thematik

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Appendix: Detaillierte Inhaltsübersichten

I.3–4: göttliche Rahmenhandlung: Trennen bzw. Vereinen der Alten und Neuen Welt – I.3: Gottes Schöpfung: Chaos; Elemente, Tiere, lasterhafte Menschen; Rachegott: Sintflut zur Bestrafung der verkommenen Menschen; gütiger Gott: Rettung der unschuldigen Familie Noahs; erneute Besiedlung der Erde; heimliche Abtrennung Amerikas mit seinen verführerischen Reizen – I.3–4: Gottes Absicht: Zufallsbesiedlung und Prüfung, ob man sich dort des Unrechts enthält – I.4: Gottes spontanes Abweichen von der ersten Absicht: Rede über die omnipräsente Lasterhaftigkeit des Menschen; Freiheit des Menschen in seinen Handlungen; das Jüngste Gericht – I.4–5: aggressive Reaktion der Unterwelt (Erdbeben; Phänomene wider die Naturgesetze; Furcht der Menschen ohne charakterliche Veränderung zum Besseren) – I.5: furchtsame Reaktion der himmlischen Engel (Erwarten der göttlichen Zukunftsvision: die Neue Welt als Versuchung für die Menschen der Alten Welt; Aufforderung an die Menschen zum Widerstand gegen die Verlockungen und zur Gottestreue) I.5–7: zweiter Musenanruf (Bitte um Beistand und bereichernde Kombination aus ‘Histoire’ und ‘Fable’; Herausstellen von Voltaire (s Henriade) als Vorbild (gegenüber Homer, Vergil, Lukan) I.7–8: göttliche Rahmenhandlung – allgemeine Beschreibung der Engel: himmlische Engel (dem Menschen wohlgesinnt; sichtbar oder versteckt; bestimmte Aufgaben (wie der biblische Engel vor Saulus)); Unterweltsengel – Aufgaben der Engel nach der Zukunftsvision: Vorbereiten der Entdeckung; Landung eines Engels (in Gestalt eines alten Piloten) auf den ‘îles fortunées’ zur Wahl eines würdigen Anführers I.8–46: ‘îles fortunées’ – I.8–10: Exkurs zu den ‘îles fortunées’ (Bekanntheit in der Antike; Besiedlung durch Jean de Béthencourt; Verlust des idealen freien Handels durch spanisch-portugiesische Rivalitäten) – I.10–13: Kolumbus als himmlischer Auserwählter – I.10–11: Kolumbus’ seefahrerische Expertise; Lob Genuas; bisherige Inaktivität; Lebensunterhalt durch den Bau nautischer Instrumente – I.11–13: Kolumbus’ Auffinden eines gestrandeten Alten; Kolumbus’ Hilfsbereitschaft; Angebot des Alten, ihn mit wichtigen Informationen auszustatten – I.13–19: erstes Wechselgespräch in Kolumbus’ Haus – I.13–14: Kolumbus’ einfachere Bleibe (Seitenhieb auf den aktuellen Luxus in Europa; Omnipräsenz von Globen, Karten, Kompassen)

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– I.14: Kolumbus’ Rede über Armut; erfolglose Arbeit trotz seiner Gottestreue – I.14–15: Rede des Alten: In-Aussicht-Stellen göttlichen Lohns für die Tugendhaften; Vertagen des Gesprächs: Essenspause (Seitenhieb auf den zeitgenössischen Essensluxus) – I.15–16: Rast (Kolumbus’ Aporie; Vorschlag des Alten zu schlafen; Kolumbus’ Ungeduld) chant II – I.17–18: morgendliche Motivationsrede des Alten gegen übermäßige Ruhephasen – I.18–19: Wechselrede: Kolumbus’ stets wachsendes Interesse, mehr über den Alten zu erfahren; Betonung des Alten, seine Informationen könnten fingiert erscheinen – I.19–32: Wechselgespräch zwischen Kolumbus und dem Alten (Engel) in einer Höhle – I.19: Rückzugsort vor Neidern; über die zeitliche Begrenztheit tugendschädigen Neids – I.19–21: Vortrag des Alten (gnädiger Gott und Rachegott: Belohnung eines tugendhaften Lebens; Aufforderung mit dem gewährten Ruhm nicht schuldhaft umzugehen) – I.21–32: Wechselrede; der an seiner göttlichen Mission zweifelnde Kolumbus – I.21–22: Zweifel des von menschlicher ‘raison’ geleiteten Kolumbus an Erwähltheit/prognostiziertem Ruhm; Rede des Alten: Forderung Gottes nach ‘pura fides’ – I.23–25: Prognostizieren der göttlichen Bestrafung des zu wissenschaftsaffinen Kolumbus (Namensgebung der Neuen Welt durch einen Anderen; Kolumbus als Initiator eines blutigen Kriegs; Opfer diverser Feindschaften; In-Ketten-Legen; Undank des spanischen Königs; erst nach dem Tod Wiederherstellen des Nachruhms) – I.25–26: Vergleich mit dem an Gott zweifelnden Moses und Israel am Sinai-Gebirge – I.26: Rede des Alten (Vergleich des Ablegens seines Zweifels mit Paulus’ Konversion) – I.27: Proskynese des Kolumbus (deren Verurteilen durch den Alten als Idolatrie gegenüber dem wahren Gott); sein Schuldbekenntnis; Zusage für sämtliche Dienste – I.27–31: Rede des Alten – Informationen zum Weg gen Westen; Zusage göttlicher Unterstützung bei der Missionierungsarbeit (Abstammungstheorie:

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Appendix: Detaillierte Inhaltsübersichten

Ureinwohner als sündige Nachkommen Adams; Gottlosigkeit, Tierähnlichkeit, fehlende Kultur; wenige zivilisiertere Stämme) – Kolumbus’ zukünftige Gottestreue (Vergleich mit Josua); sein freundlicher Umgang mit den Ureinwohnern; Goldgier der übrigen Spanier; Kolumbus im Notfall mit dem Recht auf Gewalt; Auftrag, die Königshöfe aufzusuchen – I.31: göttliches Zeichen (Donner und Gewitter); Kolumbus’ Proskynese und Gebet an Gott mit der Zusage der Pflichterfüllung – I.31–32: Rede des Alten (Zusage unsichtbarer Unterstützung im Falle weiterer Gottestreue); Betonen der Freiheit jedes Menschen, Gutes oder Schlechtes zu tun; Möglichkeit der Verführung durch Engel der Unterwelt – I.32: Kolumbus’ erfolgloses weiteres Nachhaken chant III – I.33–34: Beschreibung des Gestrandeten; Bewunderung gegenüber dem erfahrenen Seefahrer vonseiten der einfachen (in der christlichen Religion verwurzelten) europäischen Matrosen – I.34–36: Rede des Engels (Ankündigung seiner Abreise; Warnung vor dem Jüngsten Gericht; Aufruf zu Nächstenliebe und Pflichterfüllung; Zusichern himmlischer Unterstützung; Einfordern einer gängigen Bestattung seiner sterblichen Überreste) I.36: dritter Musenanruf (Understatement als unwürdiger Ependichter; Muse als treibende Kraft) – I.36–39: Kolumbus’ Bereitschaft für das Unternehmen – Kolumbus’ Trauer angesichts des Verlusts des Alten; Selbstzweifel; Furcht vor dem Besuch der Königshöfe; Gebet (aufgrund menschlicher Imperfektion Angst vor der Aufgabe) – Kolumbus’ göttliche Erleuchtung; sein freudiges Vertrauen – I.39–42: Kolumbus’ Traumvision vom Paradies am Ufer – Vision (1): paradiesartiges Gebiet mit friedlichen, glücklichen Bewohnern ohne belastende Arbeiten; Hervorbringen natürlicher Produkte ohne Agrikultur – aktuell: Kolumbus’ Glaube an die Vision; bald: Entlarven der Vision als Täuschung – Vision (2): omnipräsentes, verderbliches Gold; Überwältigung angesichts der Andersartigkeit der paradiesischen Welt; Sichten eines Ureinwohners; Sprachbarriere

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– I.42–46: Kolumbus’ wissenschaftliche Basis für seine Entdeckungsfahrt – I.42–43: Kolumbus’ große Motivation; gottgewollte Fehlerhaftigkeit der wissenschaftlichen Argumentation für das Projekt (als Beweis für die Beschränktheit der Menschen, nur rational Wahrscheinliches für wahr zu halten) – I.43–44: Diskreditierung des Projekts durch Neider – I.44–45: rhetorische Ausgeklügeltheit des kolumbischen Plans (Vergleich mit Demosthenes) – I.45–46: Wiedergabe seines Plans in direkter Rede samt Erzählerkommentaren (Kugelform der Erde; Winde zwischen den Kontinenten; Antipoden als Gegengewicht zur Alten Welt) I.46–54 Weg nach Europa – I.46: Aufbruch gen Europa chant IV – I.47–53: Eingreifen der Unterweltgottheiten – I.47–48: ihre aktuelle Aufgabe: Verzögern der Entdeckungsfahrt; seit jeher: Prüfen der Menschen mit der Erlaubnis Gottes – I.48–52: Rede Luzifers vor der Unterweltsversammlung (Absicht der Entthronung Gottes aus Unzufriedenheit über das seinerzeit von Gott erhaltene Höllenreich; Aufruf zum Verhindern der Besiedlung der Neuen Welt durch Christen) – I.52–53: Kriegsvorbereitungen; ‘Discordia’ an den europäischen Königshöfen – I.53–54: Kolumbus’ Ungeduld bei der Überfahrt; bisheriges Verschweigen der Engelsvision I.54–95: an den europäischen Höfen – I.54–61: Genua – I.54: Mittelmeer; Abstieg des aktuell weniger imposanten Genua – I.54–57: Rede des Kolumbus vor dem Senat: In-Aussicht-Stellen von Unterstützung und Ruhm für seine Heimat; wissenschaftlicher Exkurs (Genua als Wiege der Antipoden-Forschung; Kugelform der Erde; Leistung der Sonne; Bewohnbarkeit des Südens) – I.57–58: Zweifel der von der Unterwelt beeinflussten Genuesen – I.58–60: Kolumbus’ prophetische Ankündigung der Rache Gottes (Vergleich mit biblischen Propheten vor dem ungläubigen Israel; Genuas künftiges Leid; Bereuen des Bevorzugens Genuas vor anderen Königshöfen) – I.60–61: Kolumbus’ Abreise; allgemeiner Exkurs über Undank in der Heimat

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Appendix: Detaillierte Inhaltsübersichten

chant V – I.62–69: Frankreich und England – I.62: beide Länder mit innenpolitischen Problemen – I.63–65: Frankreich (1) – historischer Rahmen (Tod Ludwigs XI., der junge König Karl VIII., Streit zwischen Anna von Beaujeu und dem späteren Ludwig XII. um die Vormundschaft) – Ablehnung des Projekts aufgrund des turbulenten Bürgerkriegs – I.65–69: England – historischer Rahmen (Monarchisten und abschätzig betrachtete Republikaner; Reichtum Londons (unter Heinrich VII.); Rosenkrieg zwischen Lancaster und York) – Kolumbus’ Rede vor dem König; dessen positive Reaktion; jedoch Verschieben des Projekts auf einen späteren, günstigeren Zeitpunkt – I.69–76: Portugal – I.69–70: historischer Rahmen (seefahrerische Vorleistungen im Osten, Umrundung des Kaps der Guten Hoffnung; Vasco da Gama als ebenbürtiger Held) – I.70–71: metapoetischer Kommentar (Camões als Dichter da Gamas; Bourgeois als Dichter des Kolumbus; Vorgängerin Du Boccage) – I.71: Johann II.; offenherziger Empfang; hintergründig voll des Neids; Kolumbus’ Kundgabe seines Projekts in schriftlicher Form – I.71–76: Eingreifen der Unterwelt: Einschleusen zweier (als gelehrte Juden verkleideter) Unterweltsengel in die Kommission zur Prüfung des Projekts an die Seite des (Diego) Ortiz (de Villegas); Kolumbus’ Kundgabe diverser Details; positive Sicht auf Portugals Monarchie; Überzeugungsarbeit der beiden Juden: Betonen der fehlenden Vertrauenswürdigkeit des Kolumbus; Durchführen einer Probefahrt mit unfähigen portugiesischen Seefahrern; Ausschlagen von Kolumbus’ Angebot – I.76–87: Spanien – I.76–77: historischer Rahmen (wiedervereintes Spanien unter Ferdinand und Isabella; aktueller Kampf gegen das von Sarazenen besetzte Granada) – I.77–78: Rede des Kolumbus (Vorstellen seiner 40-jährigen Bemühungen; In-Aussicht-Stellen eines neuen Machtgebiets) – I.78–79: Verlachen des Kolumbus; Alfons (de la Caballeria) als einziger Befürworter; diskretes Gespräch über sein Projekt mit Alfons (kleineres Eingreifen der Unterwelt: Vulkanausbruch) – I.79–80: Alfons vor dem Leiter des Ausschusses (dem Beichtvater Isabellas (Juan Pérez))

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– I.80–83: Eingreifen der Unterwelt: Traumerscheinung vor dem Beichtvater in Gestalt eines vom ketzerischen Projekt abratenden, eremitischen Mönchs; Abraten vom Projekt in der Versammlung; antike Argumente gegen die Möglichkeit des Besuchs der Antipoden chant VI – I.84–86: Kolumbus’ Situation am spanischen Hof (Opfer neidischer, sich selbst überschätzender Höflinge; Reinwaschen des Kolumbus von jeglicher Schuld mit Blick auf die in der Neuen Welt begangenen Greueltaten; Alfons als Verteidiger an seiner Seite) – I.86–87: Abreise nach Sevilla; wenig ertragreiches Vorsprechen vor zwei nahegelegenen Herzogtümern (Medinaceli und Medina Sidonia) – I.87–88: Frankreich (2) – I.87–88: nunmehr entspannte politische Lage unter Karl VIII. (Inkorporieren der Bretagne in das Staatsgebiet; Vorbereitung des irrationalen Italienkrieges) – I.88: Kolumbus’ Weg nach Frankreich – I.88–95: Spanien (2) – I.88–89: Rede des von Alfons überzeugten Santángel vor Isabella und Ferdinand (Kolumbus’ Abreise nach Frankreich; Vorzüge des Projekts mit Blick auf die anderen europäischen Staaten, v. a. Portugal) – I.89–90: Isabellas Auftrag, Kolumbus abzufangen und zurückzuholen – I.90–91: Spaniens Trägheit; finanzielle Engpässe; symbolische Schmuckgabe Isabellas und der Hofdamen; Finanzierung des Projekts durch Alfons – I.91–92: kurze Reaktion des Himmels und der Hölle – I.92: Kolumbus als Vizekönig der zu erobernden Gebiete; Kolumbus’ Gebet, Verbindung zu Gott, christliche Mission; Kolumbus’ Abfahrtsbereitschaft nach ca. acht weiteren Jahren – I.93–94: Apostrophe der sagenhaften Argonauten (Überlegenheit des Kolumbus: Zurücklegen eines bisher unbefahrenen Seeweges; friedliches Unterwerfen staunender Ureinwohner; Zurückbringen einer größeren Menge Goldes) – I.94–95: Vorbereiten der Schiffe in Palos; drei winzige Schiffe, 120 talentierte Matrosen; Kolumbus als strahlender Anführer I.95–128: Überfahrt gen Neuen Welt – I.95–96: Abfahrt bei gutem Wetter und Meeresstille; Verlassen der Säulen des Herkules – I.97–98: Eingreifen der Unterwelt: Erschrecken der Matrosen (monströse Vögel und Fische; Sturm; Kolumbus’ beruhigende Art)

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Appendix: Detaillierte Inhaltsübersichten

– I.98–99: Zwischenhalt auf den Kanaren (Mitteilung der Abfahrt dreier portugiesischer Karavellen; Kolumbus’ stoische Haltung als Beauftragter Gottes) – I.99–100: Eingreifen der Unterwelt: Manipulieren der Portugiesen (Einpflanzen des Gedankens, Kolumbus hege Eroberungsabsichten im Osten; Verhindern eines Anschlags durch den Himmel) – I.100–102: Flora (Kolumbus’ Kontemplation der angsteinflößenden, von Gott hervorgebrachten Natur; scheinbar andere Beschaffenheit der Meeresbewohner als in der Alten Welt) – I.102–118 Meuterei – I.102–104: beginnende Meuterei unter den Soldaten (als Folge des Sündenfalls bzw. der Verführung durch den Teufel; Hoffnung und Furcht bei den Matrosen; Kolumbus’ Haltung) chant VII – I.106–109: Eingreifen der Unterwelt (1): Mobilisieren der ‘Discordia’ – Anstacheln einer Rebellion unter den Gebrüdern Pinzón – Beschreibung der Brüder Pinzón (Kolumbus’ Freundschaft zu ihnen; ihr Mangel an stoischer Charakterstärke in Notsituationen; ihr Appell umzukehren) – Kolumbus’ beruhigende Einzelgespräche mit den Matrosen – I.109–116 Eingreifen der Unterwelt (2): Naturphänomene – I.109–111: Seesturm, Verdunkelung; blutiges Rot am Himmel – Kolumbus’ Reaktion: Betroffenheit; jedoch: stoische Ruhe und vernunftgeleitetes Erörtern der beobachteten Naturphänomene – I.111–112: Bild des in Nebel gehüllten Eingangs zur Unterwelt – allgemeine Reaktion: Furcht; Gebrüder Pinzón: Auslegen der Vision als Weltende analog zur Wirbeltheorie in Descartes mechanistischem Weltbild; Raten zur Umkehr – Kolumbus’ stoische Reaktion; vergebliche Überzeugungsarbeit – I.113–116: Erscheinen des Teufels am Hölleneingang; Rede über das Erreichen des Endes der Welt; Aufwühlen des Meeres durch Höllenengel – vorübergehend wirkungslose Beschwichtigung des gottgeleiteten Kolumbus – Rede Gottes; Verjagen des Teufels; Beruhigen des Meeres – Sichtung des Kreuzzeichens; Vergleich mit Konstantin (‘hoc signo vinces’) – I.116–118: permanentes Meutern unter den Soldaten – stete Panik und Zweifel trotz friedlicher Lage

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– optische Täuschung/Lichtreflexion: Vorwurf der Spanier, Kolumbus führe in die Irre – Kolumbus’ vergebliche Überzeugungsarbeit; In-Aussicht-Stellen des Erreichens des Festlands binnen dreier Tage – I.118–128: Landung – I.118–119: Indizienbeweise für das sich nähernde Festland; Freude der Matrosen – I.120–121: erste Landsichtung durch Kolumbus (ein den Matrosen entgehendes entferntes Licht; Sichten des Festlands durch den Matrosen im Mastkorb, seine enttäuschte Hoffnung auf den ausgeschriebenen Preis des ersten Landsichtenden; Umschwung der Matrosen von Furcht zu Freude; langfristiger Sieg der ‘vertu’ über den ‘vice’) – I.122–123: Andersartigkeit der Ureinwohner (1): Kolumbus’ Einsicht in die Abstammung der Ureinwohner von Adam; vergebliche Überzeugungsarbeit gegenüber den vom ersten Schein der Andersartigkeit geblendeten Spaniern – I.123–124: Betreten der Neuen Welt unter Kolumbus’ Führung (aggressiver erster Eindruck, friedliche Art der Bewohner; bewunderndes Interesse an den landenden Gästen) – I.124–125: Andersartigkeit der Ureinwohner (2): Sicht der Spanier analog zum Irrglauben einiger Aufklärer (an eine rezente Entstehung bzw. eine verlorene Kenntnis dieser Menschen) – I.125–128: erste Handlungen in der Neuen Welt – Kolumbus’ christliche Handlungen (Widmen der Neuen Welt an Gott; Kolumbus als lehrendes Vorbild für die reumütigen Spanier; Vergeben ihrer Meuterei; Reflexion über den Gefühlsumschwung der Matrosen von Hass zu Freude; allgemeiner Exkurs über das gottgewollte Auf und Ab der Menschen) – Exkurs über Spanien und die Neue Welt (die Neue Welt vertraglich in der Verantwortung Kastiliens trotz der Verbindung Aragons und Kastiliens) – Durchführung christlicher Riten (Kreuz; Flucht der Ureinwohner; Zurücklocken durch Geschenke; Gütertausch) chant VIII I.130–134: Guanahani – I.130: Abstammungstheorie (Betonung der identischen Abstammung der Bewohner mit der der Alten Welt; falsche zeitgenössische Hypothesen: anderer Gott, zweiter Adam)

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Appendix: Detaillierte Inhaltsübersichten

– I.130–133: Goldthematik – Sterilität und Goldreichtum der Insel – Goldgier als Antrieb der Spanier (falscher Glanz des Goldes; Quelle allen Übels; Absicht der weiteren Goldsuche im Süden) – Verbreiten des Christentums als Kolumbus’ Antrieb – I.133–134: Eingreifen der Unterwelt: Vorbereiten des nächsten Schlags (baldiges Ausmerzen der Erinnerung an die ursprünglich christlich inspirierte Namensgebung aller entdeckten Inseln) I.135–II.193: Hispaniola – I.135: Erreichen der Insel (Reaktion der Spanier; Freude und Erkennen als Bestimmungsort; Kolumbus’ Reaktion: Erkennen der Insel als Trauminsel aus seiner Vision, vgl. I.39–42) – I.135–136: Landung (topographische Probleme durch Felsen; Ankersetzen) – I.136–144: erster Kontakt zu den Ureinwohnern – I.136–137: ängstliche Reaktion der Ureinwohner im Wasser (teils bewaffnet; teils mit Fischschuppen bekleidet nereidenartig erscheinend) – I.137–139: Flucht der Ureinwohner zu Lande; Nachsetzen der Spanier – I.139–140: Aufgreifen junger Ureinwohner und eines Mädchens (Exkurs über das leicht zu verführende weibliche Geschlecht mit gewissem Einfluss auf die vom Rachegott hierfür empfindlich gemachten Männer; sexuelle Gier der Spanier; Kolumbus’ Bekleiden der Frauen) – I.140–144: Beschenken der eingeholten Geflohenen mit Kulturgegenständen – I.140–142: Für-Sich-Gewinnen der misstrauischen Ureinwohner durch Kulinarisches; Präsentieren diverser Gebrauchsgegenstände; zuversichtliches Abwarten der Rückkehr der mit den Gegenständen geflohenen Bewohner – I.142–144: Beschenken des schmuckbegeisterten Mädchens mit einem Spiegel (Exkurs über die fehlgeleitete Metaphysik Descartes: das Tier als Maschine); Kolumbus’ Zuversicht der Rückkehr des Mädchens mit weiteren Bewohnern chant IX – I.146–148: zauberhafter Wald (verführerische Flora; Ananas, Gewürze (‘Bois d’Inde’); Irrglaube der Spanier, es handle sich um das Irdische Paradies; Kolumbus’ tiefere Einsicht) – I.148–149: idyllischer Weiler (Sichten, Betreten, Auffinden basaler Instrumente für den Ackerbau; kein Diebstahl oder negatives Verhalten der Spanier) – I.149–184: ebenes Gebiet

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– I.149: Kolumbus: Überblicken der Gegend von einer Anhöhe aus (Fluss; Anspielen auf die Lethargie der Ureinwohner; große Anzahl überallhin flüchtender Ureinwohner) – I.149–152: Kolumbus’ Ausschlagen einer Umkehr (Furcht der Spanier vor der Masse der Gegner; Kolumbus’ Beharrlichkeit, seine Argumentation für eine Konfrontation, sein Exemplum für Ruhmstreben, entschiedenes Vordringen; kein negatives Verhalten der Spanier – I.152–153: Ausblick: siegreiche Spanier; deren Irrglaube, es handle sich um das Irdische Paradies – I.153–154: Betreten eines Weilers: karge Behausungen; fehlende Agrikultur; Nahrungsknappheit; Andenken der Abreise aufgrund von Hungersnot – I.155–169: Kontakt zu ansässigen Ureinwohnerinnen – I.155–157: Annähern mehrerer Ureinwohnerinnen; Kolumbus’ Gottverbundenheit; Begeistern einer Frau durch Schmuckgegenstände; global-universal anzusetzender Charakter der weiblichen Schwäche leichter Verführbarkeit – I.157–159: Kolumbus’ berechnendes, weises Handeln; Tausch der Schmuckgegenstände gegen Speisen; Kommunizieren über Zeichensprache – I.159–161: von den Frauen dargebotene Speisen: Brot, Früchte/Banane, Wurzeln (Maniok, Kartoffel, Yamswurzel), Samen; getrockneter Fisch chant X – I.163–164: Sichten der jagenden, zugehörigen männlichen Ureinwohner am gegenüberliegenden Ufer des Flusses; Kolumbus’ Absicht des nnäherns ohne Waffen (vertrauend auf die Macht der Ureinwohnerinnen über ihre Männer) – I.164–166: (widerwillig von Kolumbus erduldete) Avancen der Frauen; sexuelle Gier und Goldgier als Übel des kulturellen Kontakts – I.166–168: Tausch von Gold gegen europäische Nichtigkeiten (Kamm) – I.168–169: Kolumbus’ Plan der missionarischen Annäherung an die Männer – I.169–184: Kontakt zu ansässigen Ureinwohnern – I.169–170: Annähern an die Männer (voranschreitende tanzende Ureinwohnerinnen; natürliche Direktheit der Ureinwohner; Seitenhieb gegen europäische Sitten) – I.170–171: überschwänglicher Empfang durch den (weisen, mit christlichen Zügen ausgestatteten) Kaziken; der Kazike als Instrument der

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Appendix: Detaillierte Inhaltsübersichten

göttlichen Missionierung; Kolumbus’ Vertrauen in die göttliche Vorsehung; rundum friedlicher Kontakt – I.172–173: Kolumbus’ Überzeugung der Erfüllung seines damaligen Traumes; Problem der Sprachbarriere – I.173–174: Sichten einer höhergelegenen Kleinstadt; mit Holzpflöcken umgebene Häuser; Vielzahl der Bewohner; Kolumbus’ Staunen über die Menge an von Gott bisher vernachlässigten Menschen – I.174–176: lebhaftes Interesse der Ureinwohner; Kolumbus’ Absicht, der Vater des Volkes zu werden; Zufriedenheit der Ureinwohner beim Blick in den Spiegel – I.176–184: Lebensweise – I.176–177: naturbelassene Stadt; Strohhütten; keine Bekleidung – I.177–179: armseliges Haus des Kaziken; Einladung an den vorsichtig agierenden Kolumbus; Sichten einer Küstenlinie (spätere von Frankreich und Spanien geteilte Anlegestelle ‘Cap-Français’); Unverständnis der Spanier angesichts der Armut des Kaziken; Relativismus der Perspektive; Kolumbus’ Freude bezüglich der Verachtung des Reichtums – I.180–183: karges Abendessen und dessen negative Beurteilung durch die Spanier; Vorstellen verschiedener Gerichte (Seekuhfleisch, Brot aus Maniok, fermentiertes Getränk); als wachslose Kerze verwendete Kakteenart – I.183–184: Schlafenszeit: Hängematten, Leuchtkäfer; Begeisterung der Spanier; Kolumbus’ objektiv-ausgeglichen-beurteilender Blick chant XI – I.186–203: Verlassen der Ebene aufgrund der zurückgelassenen Schiffe; Verlagern des Ankerplatzes in den Cap-Français – I.186–188: göttliche Rahmenhandlung – I.186–187: Eingreifen des Teufels: Provozieren eines Seesturms – I.187: Eingreifen Gottes: mildernde Gegenreaktion (Schiffbruch nur eines der drei Schiffe und Rettung der Mannschaft; Gottes Bestrafung der mangelnden Vorsicht des Kolumbus beim Zurücklassen der Schiffe) – I.187–188: Kolumbus’ Albtraum: Gottes Vorzeichen des baldigen Schiffbruchs – I.188–193: Rückweg zur Anlegestelle (Kolumbus’ Befehl; Rückweg entlang der Küste; Verwenden zufällig gesichteter Kanus der Ureinwohner; gestikulierende Überzeugungsarbeit; Kolumbus’ Tatendrang; Lächerlich-

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Machen mediokrer indigener Kultur vonseiten der Spanier (eigenwilliger Schiffbau; Tabakgenuss) I.193–195: Sichten des zerstörten Schiffs (zwei fahrtaugliche Schiffe; ergebnislose Suche nach den Toten; Mitgefühl der Ureinwohner) I.195: Kolumbus’ Reue; Schuldbekenntnis als Sünder I.195–200: Reparatur der beiden verbleibenden Schiffe (Kolumbus’ vergeblicher Versuch, die lethargischen Ureinwohner zu motivieren; Besteigen des Schiffs durch den Kaziken, Motivationsrede an seine Leute; wachsendes Vertrauen und Freundschaft I.200–202: europäisches Mahl; negative Beurteilung durch die Ureinwohner; Relativität des Geschmacks; positive Beurteilung des Alkohols, seine Wirkung auf die Ureinwohner; Kolumbus’ Unterbinden des weiteren Alkoholkonsums durch einen Kanonenschuss; Flucht aller Ureinwohner bis auf den Kaziken; Verfolgen der Kanus durch die Spanier I.202–203: Ankerlegen im Cap-Français (Hervorheben seiner zeitgenössischen Bedeutung); Empfangen des Kaziken durch seine Untertanen; Lob der Herrschaftsform Santo Domingos; Vergleich seiner Beliebtheit mit der Ludwigs XV.

chant XII – I.205–II.79: Kolumbus’ Missionierungsarbeit beim Kaziken – I.205–206: Kolumbus’ prunkvolles, gottähnliches Erscheinungsbild – I.206–217: Kolumbus’ Spaziergang mit dem Kaziken – I.206–208: Eingreifen Gottes: Kolumbus als Apostel in göttlichem Licht, Geschenk der Beherrschung der Ureinwohnersprache; Kolumbus’ Missionierungsabsicht – I.208: Ehrfurchtsbezeugungen des Kaziken aufgrund Kolumbus’ Sprachbeherrschung – I.208–210: Kolumbus’ Erläuterungen zur christlichen Religion (1) – I.208–209: göttlicher Ursprung des Lichts; Kolumbus als Mensch in Gottes Hand; Gott als Lenker der Welt, Bestimmer über Leben und Tod – I.209–210: Gottes Weltgericht (Milde gegenüber Bußwilligen; Rache an Uneinsichtigen); Chance der Ureinwohner von Luzifers zu Gottes Einfluss zu wechseln; Gottes Allmacht; Jüngstes Gericht (ewiges Leben vs. Höllenqualen) – I.210–211: Reaktion des Kaziken (Hoffnung und Furcht; Bußbereitschaft; Umarmung durch Kolumbus; Kolumbus‘ fehlende Antwort auf die Frage, weshalb diese Wahrheit ihm erst jetzt offengelegt werde);

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Appendix: Detaillierte Inhaltsübersichten

Bitte des Kaziken um ein Fortsetzen der Rede nach Kolumbus’ Motivation, sich über Gottes gegenwärtige Hilfe zu freuen – I.211–214: Kolumbus’ Erläuterungen zur christlichen Religion (2) – I.211: Freude über die Anlagen eines guten Christen im Kaziken – I.212–213: Gottes Schöpfung (Chaos; sechstägige Genesis; Elemente; Sterne; Tiere; Mensch; Frau; glückliches Leben im Paradies) – I.213–214: Unterweltsengel (Schöpfung der Engel; Vertreiben der abtrünnigen Engel in die Hölle; Hölle als Hort allen Übels) – I.214–215: Sündenfall (Verführen Evas durch Unterweltsengel; Übertreten des göttlichen Verbots; Naschen vom Baum der Erkenntnis; Vertreibung aus dem Paradies; seither Wiederholen des Versündigens) – I.215–216: Sintflut (Sündhaftigkeit der Menschen, Noahs Nachkommen) – I.216: Lob des christlichen Kults (Meiden allen Übels, Praktizieren des Guten; Kampf gegen verdorbene Menschen) – I.216–217: In-Aussicht-Stellen der Taufe; Freiwilligkeit der Entscheidung; jedoch Anklingen-Lassen der Rache Gottes bei Widersetzen; Bedenkzeit chant XIII – II.7–8: Blick auf die Spanier (Sorge wegen Kolumbus’ langer Abwesenheit; Staunen angesichts seiner neuen Sprachbeherrschung; fehlender Glaube an Gottes Wirken) – II.8–10: Reaktion des Kaziken (nächtliche Reflexion über Kolumbus’ Rede; Signalisieren der Bereitschaft des Beitritts zum Christentum und der Unterweisung seiner Mitbürger; Schildern seiner Einsicht in das Wirken der Unterweltsengel sowie des beschützenden, die Welt lenkenden Gottes) – II.10: Absicht des Kolumbus, ihm bald alle Geheimnisse zu eröffnen – II.10–38: Fest der Ureinwohner zu Ehren des Kolumbus – II.10–11: Zwiegespräch der Anführer (Kundtun weiterer Informationen über Gott nach dem Vertiefen der Freundschaft auf dem Fest) – II.11–16: Riten (Ähnlichkeiten mit Europa; Primitivität; Begrüßungsgesänge, Friedenspfeife; Festzug in die für ihren Idolenglauben genutzte Höhle; Kolumbus’ kritische Worte; Rede des Kaziken gegen eine überstürzte Veränderung des Glaubens; Kolumbus’ Einlenken; Abscheu vor den Riten (Glaube an die Existenz eines guten und eines bösen

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Gottes, deren Gleichwertigkeit, Verehren/Beschwichtigen des böswilligen Gottes; Erbrochenes als priesterliche Weihgabe); der Kazike als bereits voller Christ; Fortsetzen der Unterweisung unter Ulmen – II.16–22: Kolumbus’ Erläuterungen zur christlichen Religion (3a) – II.16–17: Wahlmöglichkeit zwischen ‘Gut’ und ‘Böse’; Juden als abschreckendes Vorbild für den Rückfall in den Idolenglauben; anthropologische Konstante des sündigen, leidenschaftlichen Menschen; Unterscheidung des Menschen in Körper und (zu Gott zurückkehrender) Seele – II.18–20: Kirche: harmonischer Schutzort; Wunder des Opfers von Gottes Sohn; Dreifaltigkeit Gottes; Kolumbus als sein Bote; Jesu Entsendung zur Errettung der Menschheit – II.20–22: Besiedeln der Welt durch Noah; Stammväter Israels; Moses (Gebote; Spaltung des Meeres); Josua; Fehltritte Israels; Idolenglaube – II.22: Rede des Kaziken (Begeisterung; Missbilligen von Undank gegenüber Gott); Kommentierung durch den Erzähler – II.23–34: Kolumbus’ Erläuterungen zur christlichen Religion (3b) – II.23–25: Ägypten (dessen Kultur; Abfall von Gott; Kämpfe gegen Juden; deren Imitation Ägyptens; Gottes Wohltaten für das undankbare Israel) – II.25–35: Jesus Christus – II.25–28: Gottes Menschwerdung als Wohltat; Jesu niedere Herkunft; unbefleckte Empfängnis; Gottes Allmacht; Pflicht eines Christen: Verzicht auf ein Hinterfragen Gottes; Erlösung von den Sünden – II.28–30: Jesu Tod als Grundstein des Christentums; Eucharistie als einziger sichtbarer Kult; kein Abzielen der Religion auf ein rein vernunftgesteuertes Publikum; Mittlerfunktion der Priester – II.30–32: Ans-Kreuz-Schlagen Christi durch Zutun der Juden; Auferstehung; antisemitischer Seitenhieb – II.32–34: Bekanntheit des Christentums überall auf der Welt; Pflicht jedes Christen: ungebrochener Glaube an Christus; letztes Gericht; ewiges Leben; Rolle der Priester; Taufe

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Appendix: Detaillierte Inhaltsübersichten

chant XIV – II.35–36: im Hintergrund eingreifende Unterwelt: Absicht, die bereits geschlossenen ersten Bande zwischen den beiden Welten zu entzweien – II.36–38: musikalische Darbietung der Spanier; gemeinsames Tanzen; Angleichen der Äußerlichkeiten (nackte Spanier, angezogene Ureinwohner); Kolumbus’ Missbilligung; vorprogrammierter Streit aufgrund fehlender Distanz – II.38–40: Bau eines kleinen Forts mit Zustimmung des Kaziken; Anklingen der ‘Légende noire’; ihre enge Verbundenheit: der Kazike als Schuljunge voller Interesse an europäischer Kultur; Kolumbus als Lehrer voll der Bewunderung ob seines Lernfortschritts – II.40–41: Rede des Kaziken (Identifikation eines alten Orakels von landenden Fremden mit den Spaniern; Relativieren negativer Orakelaussagen; Frage nach Kolumbus’ Herkunft) – II.41–57: Kolumbus’ Erläuterungen zur profanen Geschichte der Alten Welt (1) – II.41: Geschichte Gottes bedeutender als die profane Weltgeschichte – II.41–43: Besiegen und Konvertieren diverser (fanatischer) Gegner der Christenheit – II.43–56: drei Teile der Alten Welt – II.43–44: Unterschiedlichkeit der drei Teile (Rassentheorie: äußerliche Unterschiede der Menschen, innerliche Ähnlichkeit; Veränderung aller Dinge mit der Zeit; Künste der Menschen als göttliche Wohltat und Bestrafung zugleich; deren wachsende Arroganz; Religion als Schutz vor Verdorbenheit) – II.44–45: Asien (Wiege der Menschheit; früherer Glanz; Indiens Flora im Frühling als Relikt; heute: wüst und leer; ehemalige Landbrücke und Besiedlung der Neuen Welt über Asien; sphärische Form des Universums) – II.46–47: Afrika (Größe; Hitze; Hautfarbe; Verlust des früheren Glanzes) – II.48–56: Europa – II.48–49: Allgemeines (kleinster, ehrwürdigster, meistbesiedelter Teil; Reichtum; Leistungsgesellschaft; Strukturiertheit; Rolle der Könige; Staatsformen; Gerechtigkeitsprinzip; Basis: Gottes Wille) – II.49–50: Frankreich (sanftmütige Herrscher; Blüte der Künste; kriegerische Ausdehnung des Reiches; erstes großes Reich unter dem Franken Karl dem Großen)

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– II.51–56: Italien (Garten Europas, Zentrum der Künste und Liebe; günstiges Klima; viele Beutezüge in der Geschichte; Italienische Kriege; Kolumbus’ Heimat; sein Exil; Stadtstaaten: Kontrast zum riesigen Imperium der Römer; deren blutrünstige Eroberungszüge; Bürgerkrieg; der Kirchenstaat als Enklave; die einst pagane, nun christliche Hauptstadt Rom; der gotterwählte Petrus; Papst: Insignien, Aufgaben, väterliche Fürsorge; Einflussbereich des Kirchenstaats) – II.57: Kolumbus’ Fokus auf christlicher Geschichte; Lob der christlichen Religion chant XV – II.58–60: Kolumbus’ kurze Erholungspause nach seinem langen Bericht; Kazike in Aporie – II.60–72: Kolumbus’ Erläuterungen zur profanen Geschichte der Alten Welt (2) – II.60–61: Mittelmeerregion (Handel und wirtschaftliche Zusammenarbeit) – II.61–63: Rhodos (und sein Kampf gegen die Osmanen) – II.63–67: Klimatheorie (heiße Äquatorialzone; kalter Nord- und Südpol; gemäßigte Zonen mit Jahreszeiten; flüchtende, teils räuberisch einfallende nordische Völker; die Befriedung der Normannen durch die Franzosen als Exemplum für die Befriedung der Bewohner der Neuen Welt) – II.67–68: England (Rivale Frankreichs; gemäßigtes nördliches Klima; Seemacht; Irland; Schottland; eines der besten Völker, wenngleich arrogant und herrschsüchtig) – II.68–69: Portugal (Glanz; Kampf gegen stets schwächer werdende Mauren) – II.69–72: Spanien (vehementer Kampf gegen die Mauren; Kolumbus’ Auftraggeber; Absicht, die Bewohner der Neuen Welt als Schüler ihrer Künste zu gewinnen; Herrscherhäuser Leon und Kastilien; Ferdinand (finaler Kampf gegen die Mauren); Isabella (Beschützerin der Religion; Lob als Initiatorin der Entdeckungsfahrt) chant XVI – II.74–78: Rede des Kaziken – II.74–75: Begeisterung; Unglaube betreffs der so lange vorenthaltenen Informationen

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Appendix: Detaillierte Inhaltsübersichten

– II.75–76: Bericht von einem nach Mexiko (‘eine im Wasser gelegene Stadt’) verschlagenen Ureinwohner; dessen Einweihung in Geheimnisse und Riten – II.75–76: mexikanische Riten als Ursprung ihres Götterkults; jedoch Ersetzen des menschlichen Blutes als Weihgabe durch Erbrochenes – II.76–77: mexikanischer Goldkult; bisherige Unfähigkeit des Volks des Kaziken, das harte Gold zu bearbeiten – II.77–78: an die Kaziken weitergegebene Fertigkeit des Brennens von Ton; die überlegenen Fertigkeiten der Europäer und die Unmöglichkeit, Kolumbus ein angemessenes Gastgeschenk zu machen; Annahme des Bündnisangebots des spanischen Königs trotz fehlender Produkte für einen Tauschhandel – II.78–79: Kolumbus’ Reiseabsicht in die vom Kaziken beschriebene Gegend; Unklarheit, über die tatsächliche Macht des ‘christlichen’ Kaziken in (der Hierarchie) der Neuen Welt – II.79–116: Konfrontation mit weiteren Einwohnern Hispaniolas – II.79–82: Eingreifen des Teufels: Traumvision der als verstorbener, ehemals einflussreicher Kazike verkleideten ‘Discordia’ vor sämtlichen Kaziken; ihre Rede: Verweisen auf uraltes, von lügnerischen Fremden kündendes Orakel; Prophezeien von Greueltaten bei weiterer Untätigkeit der Kaziken; Anstacheln zu einem Kampf gegen die Spanier und Gott – II.82–84: Versammeln der Kaziken aufgrund der Traumvision; Informieren der Nachbarstämme, Kolportieren von Gerüchten über die fremde Nation; Aufbringen gegen den mit Kolumbus verbündeten Kaziken (‘Roi du Marien’/Goacanaric) – II.84–85: unzweideutige Drohrede des Botschafters der Kaziken an Kolumbus; Kolumbus’ überraschte, aber bestimmte Reaktion, Widerstand leisten zu wollen; Absicht Goacanarics, den Botschafter umzubringen; Kolumbus’ sanftmütiges Einschreiten – II.85–86: Kolumbus’ Reflexion über und Entscheidung für einen Kampf an der Seite Gaocanarics zur Vermeidung der Bestrafung seines Ungehorsams durch den Rachegott – II.86–88: Erläuterungen Goacanarics zur Kazikenhierarchie: fünf gleichwertige Kaziken; Überzeugtsein von der Einsichtigkeit der Bewohner Santo Domingos; Problem des aggressiven, in das Land eingedrungenen Kannibalenvolks aus dem Süden; deren enorme Körpergröße, Goldgier, goldener Körperschmuck; Furcht vor ihnen; Hoffnung des Siegs der Spanier über die Kannibalen, Zusage seiner Unterstützung

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– II.88–89: Kolumbus’ Ungewissheit angesichts der Informationen; Zusage einer gemeinsamen Abreise an Goacanaric und Formulieren seiner Siegesgewissheit aufgrund göttlicher Hilfe – II.89–90: Zusammenstellen der Armee (Goacanarics Argument: Kampf gegen den langjährigen Gegner mithilfe der Spanier; Kolumbus’ Argument: Notwendigkeit eines Kampfs zum Einstreichen des dort vorhandenen Goldes) – II.90–92: Aufbrechen der Armee (helfende Ureinwohner; Informieren des Kaziken über die europäische Kriegsführung; Weg ins Gebirge; Goldgier als Motivation; fruchtbares Gebiet des ‘Roi de Magua’; Lob der Art der Kolonialisierung Frankreichs; antispanischer Seitenhieb – II.92–93: schnelle, übermächtige Invasion und Hemmung der kriegerischen Absichten der feindlichen Kaziken; Friedensverhandlungen; Anspielung auf Italiens zeitgenössische Politik chant XVII – II.94–96: anthropologische Konstante: Wechsel von Furcht und Mut; göttlicher Einfluss; Freiheit der Lebenswahl des Menschen; seine Disposition zu spontanen Fehlern – II.96: Kolumbus als Vaterfigur und Eroberer ohne Krieg – II.96–116: Aufeinandertreffen im Felde (Kolumbus – Caonabo – Goacanaric) – II.96–98: Kolumbus’ Ruhe vs. Zurschaustellung falschen Heldenmuts aufseiten des gegnerischen Anführers Caonabo; Gegner: defensives Abwarten; Schilde aus Gold; Caonabo: alt, arrogant, bedrohlich; Kolumbus’ erstes Zugehen auf den Gegner – II.98–99: Caonabos Rede (Frage nach dem Grund für Kolumbus’ Erscheinen; Aufforderung, sie in Ruhe zu lassen; Machtdemonstration; Absicht, das von ihm unlängst eroberte Hispaniola zu verteidigen; Zusage von Schutz an seine Untertanen) – II.100–101: Goacanarics Rede (Tyrannei des nicht aus Hispaniola stammenden Caonabo; Gastfreundschaft gegenüber den Spaniern; seine Gastfreundschaft seinerzeit gegenüber Caonabo; positive Sicht auf Kolumbus und die Spanier) – II.101–109: Kolumbus’ Rede – II.101–102: Formulieren seiner Ideologie der christlichen Missionierung; kein Verfolgen böser Absichten; Intention des Glücklichmachens

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Appendix: Detaillierte Inhaltsübersichten

– II.103–104: Teilhabenlassen an den Schätzen der Alten Welt; der Gott des Friedens; Aufforderung, von den bisherigen Gottheiten abzulassen – II.104–106: milder und strafender Gott (unendliches Glück beim Einhalten seiner Gebote; Unterweltgötter als rebellische Diener Gottes; besseres Leben seit Gottes Niederkunft als Mensch; Pflicht des Menschen: liebende Verehrung Gottes, gute Taten, Meiden des Bösen; Jüngstes Gericht) – II.106–107: Spanier (göttliche Mission) vs. Ureinwohner (aktuelles Verkennen ihres sündhaften Lebensstils; momentane Bestrafung durch Unterweltgötter) – II.107–108: Ankündigen einer Mondfinsternis als Zeichen der Macht Gottes; Notwendigkeit der Reue; Goacanaric als Träger der göttlichen Botschaft – II.108–109: In-Aussicht-Stellen eines von Frieden geprägten Landes sowie eines regen Handels mit Europa – II.109: Machtdemonstration als Antwort auf die einleitende Drohrede Caonabos: Kanonenschuss auf einen Vogel chant XVIII – II.111: Kolumbus als Apostel des neuen friedlichen, Liebe einfordernden Gottes; nicht mehr eines gewalttätigen Rachegottes der Juden aus dem Alten Testament – II.111–112: flüchtende Anhänger Caonabos; Kolumbus’ Beruhigen Goacanarics – II.112–116: Mondfinsternis als Mittel zum völligen Gehorsam (Rede des Kaziken: Überzeugtsein von Kolumbus’ Macht; Kolumbus’ Auftrag, die Ureinwohner zurückzuholen; Mondfinsternis; völlige Unterwerfung der Ureinwohner; Schuldbekenntnis Caonabos vor Gott; erniedrigende Bußgeste Caonabos im Fackellicht; Kolumbus’ göttlicher Status; sein bescheidenes Ausschlagen einer Vergöttlichung) – II.116–143: Kolumbus am Hofe Caonabos – II.116–117: Einladung; Kolumbus’ Ausschlagen von Reichtum/Frauen; Angebot sexueller Vergnügungen; Kolumbus’ Verzicht auf Körperlichkeiten – II.117–119: Gold im Übermaß; Habgier der Spanier; deren Respekt gegenüber Kolumbus – II.119–124: Caonabos Intention: Beschleunigen eines Friedens durch das Erregen körperlicher Sinnenlust der Spanier – Präsentieren edler Speisen; Kolumbus’ fingierte Nonchalance

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– irrealer Wunsch des Erzählers: Meiden dieses Orts (aufgrund der mit ihm verbundenen für Europa schädlichen Konsequenzen) – erotische Tänzerinnen; Kolumbus’ angewidertes Verlassen des Etablissements; Forderung der Spanier nach lockereren moralischen Regeln; Kolumbus’ Rede über die Lasterhaftigkeit seiner Leute; Prophezeien künftiger Untaten; kurzzeitiges Unter-brechen der Sünden; anthropologische Konstante des Rückfalls in die Lasterhaftigkeit chant XIX – II.126–127: Kolumbus’ Scheltrede; Versuch der Korrektur der Sitten bei Hofe; Durchkreuzen seiner Intention durch die Untaten der Spanier – II.127–132: Kolumbus’ Liebe zu Caonabos Tochter (1) – II.127–129: an Europas Künsten interessierte, hübsche Prinzessin; Einschleichen der Liebe; Kolumbus’ reine Absichten als ihr christlicher Lehrer; völlige Hingabe des Mädchens an seinen Lehrer; Tipps der Spanier; Anklingen künftiger göttlicher Strafe; der positive und negative Einfluss der Liebe – II.129–132: die Prinzessin als Thronfolgerin; Caonabos taktische Absicht ihrer Vermählung mit Kolumbus; Kolumbus’ Verliebtheit; Befürworten der Ehe durch die Spanier; Natürlichkeit der Liebe des Mädchens; Apologie des verliebten Kolumbus – II.132–141: Kolumbus’ eifersüchtiger Widersacher – II.132: Rolle der Zémès: Manipulieren der Gefühle – II.132–133: Durchkreuzen der bisher problemlosen Liebe durch die Eifersucht eines benachbarten jungen Kaziken; Raserei und Anschläge allerorten – II.133–135: Unterstützung des Kolumbus durch Caonabos und Goacanarics Anhänger; Kolumbus’ Absicht, durch Kanonenschüsse für ein schnelles Ende des Terrors zu sorgen; die Prinzessin als Anführerin einer Reihe von Amazonen – II.135–136: Eingreifen der Zémès: Anstacheln der Wut des jungen Kaziken; Morde und Verwüstung; Caonabos Zorn; Kolumbus’ Beschwichtigung – II.136–137: Konfrontation der beiden Verliebten: Flucht der Angehörigen des Kaziken; Angriff des Kaziken, dessen Neutralisieren durch Kolumbus; Kolumbus’ Rede (Gewähren von Verzeihung im Falle des Ergebens); angriffslustige Antwort des Kaziken; Außer-Gefecht-Setzen des Kaziken; Kolumbus’ Ruhe und Bescheidenheit – II.138–139: eindrucksvolle Rede des Kaziken an Caonabo (Liebe als Beweggrund; Wunsch, die Prinzessin vor seinem Tod noch einmal

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Appendix: Detaillierte Inhaltsübersichten



– – –

zu sehen; Herbeisehnen des Todes aufgrund des noch lebenden Widersachers) II.139–140: Antwort Caonabos (Liebe als unzureichender Grund für Verwüstungen; Anordnung, Kolumbus’ persönlicher Gefangener zu werden) II.140: Antwort der Prinzessin (Ablehnung seines Versuchs, ihr durch Gewalt zu gefallen; Gewähren von Verzeihung) II.140–141: Antwort des Kolumbus (Gewähren von Verzeihung und Freiheit; Freundschaftsangebot) II.141: Heuchelei des jungen Kaziken; Vorschau auf das Vergießen spanischen Bluts und auf Gottes letztlich ausgleichende Gerechtigkeit

chant XX – II.143: Zeitraum des Entspannens; Kolumbus’ Absicht, die gesamte Insel zu erkunden; Enttäuschung der Prinzessin über die fehlende Ehe – II.143–156: Erkunden der gesamten Insel – II.143–145: Weg der von Einheimischen geleiteten Spanier Richtung Süden; Bewundern der Natur; die in der Neuen Welt noch fehlende Agrikultur – II.145–146: Kolumbus’ Absicht des Städtebaus am Fluss Ozama (ein zweites Rom); Ausblick auf diese zeitgenössisch verfallene Stadt (sc. Santo Domingo) – II.147–148: Herrschaftsgebiet einer verwitweten Prinzessin am anderen Ufer; ihre Kapitulation; Kolumbus’ Erlaubnis der Weiterführung ihres Regiments samt Aufforderung zum Christentum zu konvertieren; Bündnisschluss durch ihre Hochzeit mit dem Spanier Diaz – II.148–149: Anfertigen von wissenschaftlichen Lageplänen; Ausblick: schädliche Depopulation Spaniens durch die zukünftige Auswanderungswelle in die Neue Welt – II.149–151: Kolumbus’ Interesse für Naturschätze (Purpur, Kräuter, Insekten, Holz); Goldgier der Spanier (Midas-Vergleich; antispanischer Seitenhieb); Kolumbus’ Belehren der Einwohner über das Bergen, Schmelzen, Verwenden diverser Metalle – II.151–156: ‘Ophir’ – II.151–152: Gegend mit immensem Goldvorkommen; goldsammelnde Spanier – II.152–156: Goldberg ‘Cibao’, Informationen durch Goacanaric, Bestätigung durch Caonabos Tochter; ihr Einreden auf den geizigen Caonabo; Spanier mit Zugang zum Berg; kleiner dunkler Eingang; Hesperidengarten; Ineinssetzung mit Salomons Ophir durch Kolumbus; Namensgebung: ‘Hispaniola’

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– II.156–157: Führung Caonabos durch sein Goldlager; vom Rachegott angekündigte Auslöschung des Volks Caonabos; Mithilfe der Spanier bei der Goldbearbeitung chant XXI – II.159–172: Kolumbus am Hofe Caonabos (2); seine Liebe zu Caonabos Tochter (2) – II.159–160: langer Aufenthalt bei Caonabo(s Tochter); zwischen Liebe und Vernunft; Gottes baldige Bestrafung des kolumbischen Liebes-Fauxpas; Schein der Instruktion, tatsächlich aber Frönen der vom Teufel geschürten Liebe – II.160–163: Unterstützung der Zémès durch den Teufel (Wiederholen des Sündenfalls: Kolumbus und die Prinzessin im ‘Locus amoenus’) – II.163–165: Eingreifen Gottes: Wiederherstellen von Ordnung in Kolumbus’ Seele; bisher kein sexueller Kontakt zwischen Kolumbus und der Prinzessin; vom Teufel eingegebener Traum vom Tod der Prinzessin; von einem Engel eingegebener Albtraum vom Krieg der Spanier gegen die Ureinwohner – II.165–166: Kolumbus’ Absicht den Krieg zu verhindern; Unmöglichkeit der Vereinigung mit der Prinzessin ohne deren Taufe; Kolumbus’ vorläufiges Verlassen der traurigen Prinzessin – II.166–167: Rede der Prinzessen; Schwanken zwischen ‘amour’ (Wut wegen Kolumbus’ Abreise) und ‘raison’ (Notwendigkeit der Abreise zum Zwecke einer späteren Taufe) – II.168–169: Kolumbus’ wachsendes Pflichtbewusstsein; seine Rede an die Prinzessin (Goldbedarf der spanischen Krone; potentielle Rückkehr samt ihrer Taufe nur durch Goldspende vonseiten Caonabos); ihr Versprechen – II.169–170: Kolumbus’ Aufforderung der im Goldfluss badenden Spanier zur prompten Abreise (zur Vermeidung göttlicher Strafe) – II.170–172: Caonabos Goldspende; sein Überdruss an den Spaniern; beabsichtigter Bau einer Schutzmauer; fingierte Trauer beim Abschied; Kolumbus’ Durchschauen der Täuschung – II.172–188: Rückweg zu den Schiffen – II.172–173: Abreise; Zufriedenheit der Spanier; mitfahrende Prinzessin; Schleppen des Goldes; ein von zehn Ureinwohnern getragener Goldklumpen als Geschenk für Ferdinand chant XXII – II.175: Gebiet ohne Fauna (Kolumbus’ Anreichern dieser Gegend durch Tiere auf seinen späteren Reisen; keine giftigen Reptilien; sofortiges Sterben dort eingeführter Schlangen)

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Appendix: Detaillierte Inhaltsübersichten

– II.176–178: Exkurs: gute und schlechte Naturprodukte Gottes (giftige Pflanzen; Gegengifte; giftige Luft); Besuch eines Exil-Dorfs ekliger, den Tod erwartender Menschen (Anführer Syphilis); Kolumbus’ Hilfsabsicht, Aufforderung der Prinzessin, den Ort sofort zu verlassen – II.178–179: Salzsee in Xaragua ohne direkten Meereszugang (Hai, Krokodil) – II.179–180: dunkle Vorahnungen des zum Hafen zurückgekehrten Kolumbus – II.180–181: Rückblick auf das Eingreifen der Zémès während Kolumbus’ Abwesenheit: Aufbringen der Ureinwohner; Zerstörung des Forts; Caonabos überspielte Schadenfreude – II.181–182: Kolumbus’ Anklagerede gegen Goacanaric: Ankündigen (göttlicher) Rache – II.182: Rede des unschuldigen Goacanaric (Racheabsichten gegen seinen in absentia regierenden Bruder; Eile; Sondieren der wirklichen Schäden) – II.182–183: Kolumbus’ Erleichterung beim Anblick der vor Anker liegenden Schiffe – II.183–185: Bericht von Gaocanarics Bruder über die Zerstörung des Forts (Respektlosigkeit, Regelmissachtung, Vergewaltigung, Mord, Raub der Spanier; Niederbrennen des Forts durch den jungen Kaziken Guarionex; Einsperren des Guarionex) – II.185: Kolumbus’ Rede über die gerechtfertigte Rache des gütigen Gottes – II.185–186: Guarionex’ Hasstirade gegen die Spanier (Auffordern zum Vernichten der Eindringlinge; kein Abwarten ihrer Rückkehr mit Verstärkung) – II.186–188: Kolumbus’ ruhige Rede (Absicht, Guarionex mit nach Europa zu nehmen; Begnadigung); Ausblick auf Guarionex’ spätere Konversion chant XXIII – II.190–193: Abreise – Einladen kostbarer Güter; anthropologische Konstante: Interesse an exotischen Gütern (Anspielung auf zeitgenössisches Interesse an China) – Guarionex’ Einschiffung in Ketten; Goacanarics ernstgemeinte und Caonabos fingierte Trauer beim Abschied; die Prinzessin als zweite Dido – Abfahrt; imposant befahnte Schiffe; Gesänge der Matrosen; PapageienEcho II.193–198: Rückfahrt gen Europa (1) – Eingreifen der Unterwelt: Sturmwinde; Kolumbus’ Gebet (vermutete Bestrafung eines ihm unbewussten Fehltritts; Bitte um Gnade); Angst der Matrosen; Gott: allwissend, richtend, barmherzig

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– Gottes Eingreifen (Vertreiben der Winde; Nebelschwaden zur Prüfung der Matrosen); Lähmung der Matrosen; Kolumbus’ Gelassenheit; sein Gebet; gottgewollte sichere Landung auf einer Insel II.198–262: Antilleninsel – II.198–199: teuflisches Eingreifen: schnelle Ausbreitung der Syphilis bei den Spaniern – II.199–200: Sorge des keuschen Kolumbus um die Infizierten; Suche nach einem Gegengift im Wald – II.200–259: Kolumbus im paradiesischen Exil bei den drei Gottheiten – II.200–201: mit Steinmauern umgebener Ort; Spalten eines Felsens; Öffnen des Zugangs zu einem wunderschönen Land, antiken Palast, paradiesischen Garten; Schließen des Zugangs – II.201–202: Vorstellen der drei Gottheiten (bzw. Attribute Gottes) – ‘Vérité’: jugendhafte Göttin mit Spiegel (darauf: Speichern ewiger Abbilder) – ‘Religion’: ältere, verschleierte, von Verlusten gezeichnete, weise Göttin; goldenes Buch unter ihrem Arm; auf Kolumbus gerichteter Blick – ‘Justice’: strenge Göttin mit verbundenen Augen und riesiger Waage – II.202–203: Rede der ‘Vérité’ (einzig Kolumbus mit Zugang zum Exil; ihre Geschichte: in Ermangelung ehrlicher Menschen Flucht aus der Alten in die Neue Welt, dann ins Exil) – II.203–204: Rede der ‘Religion’ (positive Beurteilung des Missionierungsprojekts trotz künftiger Untaten; entweihende Kulte sündiger Menschen als anthropologische Konstante) – II.204–205: Rede der ‘Justice’ (Kolumbus als Sünder; Gewichtigkeit aller Fehltritte; ihr Exil aufgrund der sündigen Menschheit; über die fehlgeleitete Rechtsprechung der Menschen) – II.205: Erschütterung des weinenden Kolumbus – II.206: Verteidigungsrede der ‘Religion’ für Kolumbus (seine Leistungen für das Christentum; Bitte der ‘Justice’ um Gnade) – II.206–207: Verteidigungsrede der ‘Vérité’ für Kolumbus (der beste unter den fehlbaren Menschen; seine Bußbereitschaft) – II.207: Rede der ‘Justice’ (Zugestehen seiner Leistungen; Kritisieren seinerFehler; In-Aussicht-Stellen seiner Bestrafung nicht im Himmel, sondern lediglich auf Erden) – II.207–209: Rede des Kolumbus (Bußwilligkeit; Absicht, noch mehr Gutes zu tun; Apostrophe der drei Göttinnen; Schuldeingeständnis; Rechtfertigung einer Bestrafung) – II.209: Geschenk der ‘Religion’ (Aushändigen eines Papiers)

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Appendix: Detaillierte Inhaltsübersichten

– II.209–214: Geschenk der ‘Vérité’: Präsentieren des ‘Weltspiegels’ (1) (mit Kolumbus’ Eroberung zusammenhängende Vorgänge der Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft) – II.209–210: Abstammungstheorie (Bevölkerung Amerikas über Landbrücke; Trennen der Welten; Vergessen der ursprünglichen Abstammung; Kriege) – II.210–211: Kolumbus’ Ruhmverlust; Satans Zutun; Greueltaten auf Hispaniola – II.212–214: zweite Szenerie: erfolgreiche Eroberung Mexikos (Cortés; Sitten; Stadt im Wasser; blutige Eroberung) – II.214–215: Einwurf der ‘Justice’ (Ablehnen der Glorifizierung; Betonen der Greueltaten) – II.215: Antwort der ‘Vérité’ (sehr wohl Berücksichtigen der Greueltaten in ihrer Darstellung) – II.215: Einwurf des Kolumbus: Sichten eines ruhmreichen Italieners – II.215–219: ‘Vérité’: Präsentieren des ‘Weltspiegels’ (2) – II.215–216: Vespucci als Entdecker des Festlands und Namensgeber des Kontinents; künftige Entschädigung des Himmels: seine Erben als Teil des Königshauses – II.216–218: Begegnung der Spanier mit Amazonen, Kannibalen – II.218–219: La Condamine (Messungen am Äquator; Beschreibung des Amazonas) – II.219: Zerstörung Perus durch Pizarro – II.219–220: Unterbrechung durch ‘Religion’ (gegen Aberglaube und Fanatismus) – II.220–250: ‘Vérité’: Präsentieren des ‘Weltspiegels’ (3) – II.220: Versprechen an ‘Religion’: gerechte Bestrafung der Sünder durch ‘Justice’ – II.220–221: Vernichten des Sonnentempels der Inkas aus Goldgier, nicht aus religiöser Ambition; Rache der Chilenen – II.222–225: Englands Taten (Vergessen der spanischen Leistungen durch Drakes Nachfolger; Raleighs Suche nach dem Goldsee Parime; Vater und Sohn Cabot in Nordamerika, Eskimos; Narborough, Dampier, Anson im Süden) – II.225–226: Spaniens Kampf um Erhalt der Vormachtstellung; Demarkationslinie (Spanien–Portugal); Koloniegründung mit Fokus auf ausbeuterischer Minenarbeit

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chant XXIV – II.228–239: Frankreich – II.228–232: frühes koloniales Eingreifen (Villegagnons calvinistische Kolonie in Brasilien; Gourgues antispanisches Vorgehen in Florida; Kaperfahrer (Filibuster) als gottgesandte Rächer gegen Spanien; Richelieus Zutun; Handel (Jagd, Fischerei); französische Kolonien unter Colbert; florierende Wirtschaft, Reichtum für das Volk unter Ludwig XIV./XV.) – II.232–239: aktuelle französische Kolonien – II.232–234: Hispaniola: Erfolg der Franzosen (unter dem Marquis de Larnage) im Gegensatz zu den schlecht wirtschaftenden Spaniern – II.234–235: Kolonien auf dem Festland/Kanada: erste französische Provinz (Aufbau einer Beziehung zu den Ureinwohnern (Algonkins und Hurons) im Gegensatz zu den spanischen Provinzen) – II.235–237: Nordamerika: (dem spanischen Goldhandel überlegener) Pelzhandel; Louisiane/Nouvelle Orléans am Mississippi (Cavelier de la Salle/d’Iberville; Rolle von Philippe d’Orléans; friedliche Besatzung (kurzer Kampf gegen die Natchez und Chicachas) – II.238–239: Südamerika/Amazonas: Omnipräsenz der Franzosen; weniger ausgeprägt als im Norden; verschiedene Exportgüter; Unterstützung des Gold- und Silberhandels Spaniens – II.239–245: England – II.239–242: verspätetes Eingreifen; den Franzosen unterlegen; Seitenhiebe auf protestantisches Florida (Kämpfe; Städtebau; Besiedlung teils durch Franzosen; katholisch-protestantische Kämpfe um Kanada; Auswirkung auf die Metropolen); Pennsylvania, protestantische Sekten in Neu-England – II.243–245: New-Providence, Jamaika; Seitenhieb auf die britische Monarchie; Krieg gegen Spanien; versuchte Einnahme Cartagenas und Vertreibung Frankreichs; Frankreich als Opfer seines Ruhms; spanisch-französisches Bündnis gegen England – II.245–247: Niederlande (Le Maire, Entdeckung des Kap Hoorn; Surinam) – II.247–248: Dänemark – II.248–249: Deutschland (Friedrich II. von Preussen; Tobago; Antimachiavelli) – II.249–250: Portugal (Schlacht gegen Frankreich am Rio de Janeiro)

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Appendix: Detaillierte Inhaltsübersichten

– II.250–251: Kolumbus’ Erschütterung (wegen der Kriege/fehlenden Religios-ität) – II.251–252: Bitte der ‘Religion’ (um die Darlegung der positiven Errungenschaften des Kolumbus auf dem Gebiet der christlichen Religion) – II.252–259: ‘Vérité’: Präsentieren des Weltspiegels (4) – II.252–255: ‘Légende noire’ (Kolumbus’ Öffnen der Büchse der Pandora; unmenschliche Gewalt; Habgier der Kolonisatoren; Sklavenhandel; typisch menschliche Sündhaftigkeit als Grund für alle Übel) – II.255–257: negative Folgen des Gierens nach/Kultivierens von Luxusgütern in der Neuen Welt (Zuckerrohr, Indigo, Baumwolle, Schokolade, Kaffee) – II.257–258: Heilpflanzen der Neuen Welt (Quinquina, Jalap, Ipecacuanha) – II.258–262: Kolumbus zurück im Wald (Einschlafen und Erwachen; Zettel mit goldener Schrift: Anweisung zur Heilung der Syphilis (durch den Baum Gayac); Heilung der Matrosen; Benennen der Antilleninsel ‘Desirade’; Weiterfahrt; von Gott zurückgedrängte Unterweltgötter) II.262–266: Rückfahrt gen Europa (2): gutes Wetter; Hinweis auf verbesserte zeitgenössische Seeroute nach Amerika; Gottes Schutz; Überlegenheit göttlicher Lenkung gegenüber der Fehlbarkeit menschlicher Erfindungen (Kompass); Landung in Spanien; Portugals Neid; allenthalben interessierte Freude; anfängliche Ehrbezeugungen gegenüber Kolumbus, sein später folgendes Leid

Lesuires Le Nouveau Monde chant I: ‘les amours’ I.1–2: Selbstpräsentation des epischen Erzählers als reflektierender Beobachter – melancholisch-kontemplativer Blick aufs Meer; Ankunft von Schiffen aus der Neuen Welt – vornehmlich negative Gesamtsicht auf die Vorgänge in der Neuen Welt: Übel für beide Teile der Welt; positive und negative Sicht auf die Entdecker I.3–4: Apostrophe der ‘vérité’, Einleitendes über Kolumbus – sein Wissen, seine Fertigkeiten, sein Streben nach ‘gloire’; Anspielungen auf seine Einkerkerung; – sein Projekt im Vergleich zu dem der Portugiesen – direkte Rede des Kolumbus: über die zwei Hemisphären I.4–5: Kolumbus bei den europäischen Königshöfen – Absagen Portugals, Englands, Frankreichs; Zusage Spaniens

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– Spaniens zwei Reiche ‘Arragon’ und ‘Castille’; deren Vereinigung unter Ferdinand und Isabella – Vorbereitung der Reise I.5–15: Cádiz – I.5–14: Isolation 1: Kolumbus im Kerker – I.5–6: Neid auf Kolumbus; Einkerkern in einen dunklen Turm – körperliche Qualen in dunkler Umgebung – durch das Projekt: erhebende Hoffnung und Licht im Geiste – I.6–10: Erscheinen der Isaure Clémence – ihre Annäherung; ihre Beschreibung; Kolumbus: Handkuss und Anrede Isaures unter Betonung ihrer übernatürlichen Art – Antwort Isaures: Absicht, Kolumbus und anderen Gefangenen beizustehen; Kolumbus: Ausdruck seiner Freude über göttlichen Beistand auf der überall verkommenen Erde; erste (Freuden-)Tränen des Kolumbus; beidseitiges Weinen – Entschwinden Isaures; Kolumbus’ bewundernde Blicke und erste Liebesflamme – auch Isaure in Gedanken bei Kolumbus; beidseitige Liebe – Isaures zweites Erscheinen vor Kolumbus; Verbalisieren seiner Freude und Liebe – Versüßen seiner Inhaftierung durch ihr häufiges Erscheinen – I.11–14: Kolumbus und Isaure auf der Terrasse des Turms – Rede des Kolumbus: Absicht, ihr Ländereien der Neuen Welt als Mitgift zu geben – beide als Beobachter eines dunklen Vorzeichens: um Gold rivalisierendes portugiesisches und englisches Schiff (aus der Indusregion) als Spielball des Sturms – schmerzvolle Trennung: Isaure: Verlassen des Kolumbus wegen seiner Prioritätensetzung; Kolumbus’ erstmalige Reue – I.14–15: Kolumbus’ Entlassung aus dem Kerker – Befreiung; Auftrag des spanischen Königshauses; Ernennen zum ‘Viceroi’ künftig eroberter Länder – Untersagen des Besuchs der im Sterben liegenden Isaure; ihr vermeintliches Ableben – von der Passivität des Kolumbus hin zum strahlenden Anführer der Seefahrer

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Appendix: Detaillierte Inhaltsübersichten

chant II: ‘le voyage’ I.16–19: vor der Abfahrt – I.16–17: Befürworten des Projekts durch Papst/Kirche; Feierlichkeiten; Segnen des Schiffs – I.17–19: Katalog der Seemänner (Cortés, Pizarro, Las Casas, Valverde, Barthélémi Colomb, Eremit samt Bruder Alvarès und Frau Adèle); Zurückgezogenheit des Eremiten (=Isaure); Sonderstellung des Kolumbus I.20–32: Überfahrt in die Neue Welt – I.20–21: Abfahrt – Ablegen (rituelle Handlungen; günstige Wettervorzeichen; Freudenschreie des Volks) – I.20–21: Isolation 2a: Gedanken des zurückgezogenen Kolumbus an Isaure – Entdecken eines Bildes von Isaure an der Wand; gewisse Hoffnung – Wunsch zu sterben, um Isaure nahe zu sein – I.21–27: auf dem Meer – I.21–22: Fahrt Richtung Süden durch Nordwind – Exkurs zur Rivalität zwischen Portugal und Spanien: Ost-West-Aufteilung; Kolumbus’ Sorge vor Krieg – Gegend um Madeira: Schiffbruch eines der drei Schiffe – I.23–24: Ausbleiben des Windes – Hitze und Hungersnot: Essensrationierung; Fangen einer Taube durch Alvarès; Freilassen der Taube aufgrund ihres geringen Nährwerts; Rede des Kolumbus: Wunsch eines glücklichen, von Liebes erfüllten Lebens an die Taube; freudiges Liebespicken der Tauben in der Luft – Meuterei: Fordern des Umkehrens oder des Mordes an Kolumbus; Gewähren von drei Tagen Aufschub – I.24–25: Isolation 2b: Kolumbus’ Traum – Rückzug des Kolumbus vor meuternden Spaniern mit Mordabsichten; Schlaf – Traum vom Meerungeheuer (Öffnen des Meeres; Höllenungeheuer mit Füßen auf beiden Welten; Verbindung der beiden Welten durch ubiquitäres Blutbad) – I.26–27: Erwachen und Vereiteln eines Attentats auf sich – Rede des Kolumbus: Analyse der Feigheit des nächtlichen Attentäters – Entschuldigungsrede des Attentäters; Valverde als Drahtzieher; Wiedergabe dessen Motivationsrede (Kolumbus als Lügner; Attentat als Wille Gottes) – Verzeihen durch Kolumbus – I.27–28: Pläne der Matrosen gegen die Hungersnot

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– Absicht, die Nahrungsmittel vernichtenden Frauen ins Meer zu werfen – Vorschlag des Kannibalismus; Auswahl Adèles; Verteidigungsrede des Alvarès – I.28–30: beschwichtigender Auftritt des Kolumbus: Hinweis auf Anzeichen der nahen Landung (Schwalbenflug; Windzug; Äste und Blätter im Wasser; Vogelgesang) – I.30–32: vor der Landung – kurze Befürchtungen des Kolumbus wegen der beängstigenden Nacht; beruhigtes Einschlafen nach dem Sichten einer Fackel – Sichten des Landes durch Triana; Freude, Kanonenschüsse; Bitte der Matrosen um Verzeihung; Friedfertigkeit, Verständnis und Ruhe des Kolumbus chant III: ‘l’Amérique’ I.33–74: Hispaniola – I.33–36: erste Vorgänge an Land – I.33: erste Reaktionen bei der Landung (Annähern neugieriger Ureinwohner; freudiges Lärmen der Spanier; Flucht der scheuen Ureinwohner) – I.34: Spanier am Strand (Setzen von Kreuz/Flagge; christliches Fest; Kolumbus’ Trauer) – I.34–35: Ureinwohner im Wald (Hort schrecklicher Riten, Wiederholung der alten Voraussage der Ankunft göttlicher Kinder der Sonne) – I.35: erster Kontakt (freundliches Annähern der Ureinwohner mit Geschenken; freundliche Aufnahme durch Kolumbus; besondere Freundlichkeit der Frauen) – I.36: beginnende Ausschreitungen der Spanier (billige Tauschgeschenke; Darbieten von Luxusgegenständen) – I.36–42: Isolation 3: Kolumbus im Gefühlschaos – I.36–37: Spanier: verstreut auf Nahrungssuche, tyrannisch; Kolumbus: für kommunistisches Teilen – I.37–39: Kolumbus’ Bewunderung für die Natur – Hund, Schlange, giftige Bäume, Vogelgefieder – Ureinwohner als herausragendes Untersuchungsobjekt (Aussehen, Federschmuck der Anführer; Vorhandensein gewisser Grundlagen der Moral; Glückseligkeit; im Inselinneren: wildere, völlig nackte Menschen) – frischere, jugendlichere Natur als in Europa – I.39–40: Kolumbus zwischen Freude und Reue über seiner Entdeckung; Bedauern des Verlusts Isaures; gefühlte Omnipräsenz Isaures in der Natur der Neuen Welt

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Appendix: Detaillierte Inhaltsübersichten

– I.40–42: Kolumbus als melancholischer Beobachter: Erblicken eines verliebten Ureinwohners; dessen Anrede an seine geliebte Olinna über die unerhörten Vorgänge auf der Insel; Kolumbus’ fehlendes Sprachverständnis; Kolumbus’ baldiges Kennenlernen des Dolmetschers; Benennen der Insel (‘Hispaniola’) – I.42–44: erste Greueltaten der Spanier – wachsende Goldgier; Hineinführen in die Goldminen durch die naiven Ureinwohner – Stimmungswechsel bei den Ureinwohnern; grausame Reaktion der Spanier: Ermordung der ersten 20 Ureinwohner – Kolumbus: völlige Erschütterung; Spanier: brutale Unterwerfung der Ureinwohner – I.44–45: Alter Weiser vor spanischer Versammlung und Kolumbus – Rede des Weisen: christlich-moralische Sicht auf das Leben nach dem Tod und das Jüngste Gericht – Rede des Kolumbus: Über die Ziele der Neuen-Welt-Erkundung und seine Ideologie – I.46–47: Gegenüberstellung von spanischen Helden und Greueltätern – positiv: Las Casas (Predigen), Eremit (Wundversorgung); Kolumbus (Friedensmission, Ausgleich der Greueltaten) – negativ: Greueltaten und Goldgier der Spanier; Davila und seine Bluthunde – Apostrophe der spanischen Nation chant IV: ‘les combats’ – I.48–50: Kriegsbeschreibung – der personifizierte Kriegsfuror und dessen Beeinflussung der Spanier – Kriegserklärung durch entrüsteten Kaziken – waffenkundige Spanier vs. unbeflissene Ureinwohner – Katalog der spanischen Krieger; Schutz des Alvarès durch Adèle – chancenlose Ureinwohner auf der Flucht – I.50–54: Isolation 4: Kolumbus im Kriegsgeschehen: Teufelskreis aus Kampf und Reue – I.50–51: aktiv-agierend: Verfolgen der Ureinwohner; Reue: Zurückziehen in eine Höhle – I.51–53: passiv-reagierend: Verteidigung gegen ihn ausräuchernde Ureinwohner – I.51: Ruhepause in einer einsamen Höhle, Einschlafen; Raub des Gewehrs des Kolumbus durch einen in der Höhle Schutz suchenden Ureinwohner – I.51–52: Ausräuchern des Kolumbus

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– I.52–54: Nahkampf und Pfeilschüsse auf Kolumbus; Kolumbus unter göttlichem Schutz; Verteidigung und Niederstrecken etlicher Ureinwohner, Reue – I.54: passiv-reagierend: Kampf gegen einen die Ureinwohner verteidigenden patagonischen Riesen; beidseitiges Schleudern von Gesteinsmassen; Kolumbus’ Sieg; Reue – I.54–57: Nächtlicher Angriff der Ureinwohner – I.54–56: Motivationsrede des Kaziken an seine Leute; Absicht eines nächtlichen Angriffs auf die spanischen ‘Kinder der Sonne’; Betonen der Sterblichkeit der Spanier – I.56: Vereiteln des nächtlichen Angriffs durch Wachposten; Flucht der meisten Ureinwohner; Verbleiben des Königs und weniger Auserwählter; giftige Pfeilschüsse – I.57: Verfolgung der Kleingruppe durch einen jungen Spanier; Töten des Spaniers; Motivationsrede des Kaziken: Betonen der Sterblichkeit der Spanier – I.58–60: Kolumbus’ Kunstgriff zur Wiederherstellung des Friedens – I.58–60: Vorhersagen einer Sonnenfinsternis zum Beweis der Macht der vermeintlichen ‘Kinder der Sonne’; freiwilliges Unterwerfen der Ureinwohner; Umarmungen; Kolumbus’ Appell an gutes Verhalten der Spanier gegenüber den Ureinwohnern – I.60–62: retardierendes Moment: erneute Kriegsgefahr durch religiöse Differenzen: beide Völker mit der Intention, den Bund vor dem jeweils eigenen Gottessymbol zu schwören – I.62–63: beschwichtigende Rede des Kolumbus: Wahl der Sonne als gemeinsames Symbol; gemeinsamer Schwur; Gebet an Gott; individuelle Ausführung der Riten; Feier – I.64: Wiederherstellung des Machtverhältnisses von vor dem Krieg; Bau des Forts mit Hilfe der Ureinwohner; Kolumbus’ Intention weiter zu segeln chant V: ‘l’interprète’ – I.65–74: Kolumbus’ Dolmetscher Rémond – I.65–66: Beschreibung Rémonds: hohes Alter; von Ureinwohnern zu Kolumbus gebracht; zweisprachig; Furcht vor Spaniern – I.66–70: wechselseitige Rede (1) – I.66: Kolumbus: französischsprachige Anrede und Erkundungen – I.66–67: Rémond: Albigenser; Anklage der Spanier aufgrund deren Greueltaten gegen die Albigenser – I.67: Las Casas: Nachfragen

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Appendix: Detaillierte Inhaltsübersichten

– I.67: Rémond: Verurteilung der spanischen Ausschreitungen gegen Christen – I.68: Kolumbus: Angebot gegenseitiger Hilfe – I.68–70: Rémond: nähere Erläuterung: Abkömmling der Comtes de Toulouse; Waldenser unter Albigensern; Herausstellen der Albigenser als eremitisch, friedlich lebende Christen; Greueltaten der Katholiken gegenüber Frauen, Kindern, Alten; er als Augenzeuge seiner verbrennenden Frau und Kinder – I.70: Rémonds Bewusstseinsverlust; Aufwecken – I.70–74: wechselseitige Rede (2) – I.70–72: Rémond: weitere Erzählung: 15-jährige Gefangenschaft; Bitte an Gott zu sterben; Verzicht auf Suizid aus Liebe zu Gott; Flucht aufs Meer, Herbeiwünschen des Todes; er als einziger Überlebender; Flucht in die Dunkelheit kulturferner Wälder; Suche nach natürlicher Einfachheit; Lebensekel – I.72: Kolumbus: Motivation zum Weiterleben; Zusichern von Hilfe; Bitte um Kundtun seiner Erfahrungen und Beschreibung der Inseln und des Kontinents – I.72–73: Rémond: bisher wenig detaillierte Beobachtungen; Bericht von zwei großen Staaten mit abgestumpften Völkern, etlichen plumpen Naturvölkern – I.73: Kolumbus: weiteres Nachhaken; Interesse an kultivierten Staaten – I.73–74: Rémond: aufgrund seiner Vorerfahrungen Vorliebe für eremitisches Nomadendasein; Unterscheidung zwischen friedlebigen und gewaltsamen Ureinwohnern je nach Klima und Nahrungsaufnahme; Aufforderung an Kolumbus, auf Waffenunterweisung der Ureinwohner zu verzichten, umzukehren und nicht Bericht zu erstatten – I.74: Kolumbus: Darlegung seiner Intention: Wissenschaften und Künste; glückliche ‘Win-win-Situation’ für beide Kontinente – I.74: Freundschaft zwischen Kolumbus und Rémond: Gegenüberstellung von Kolumbus und den übrigen goldgierigen Spaniern chant VI: ‘Le Méxique’ I.75–76: Aufbruch gen Kontinent mit einem Schiff; Zurücklassen des Las Casas zur Erhaltung des Friedens; friedliche Natur; Rede des Kolumbus: gegen blutige Ausschreitungen; Sichten des Kontinents I.77–95: Mexiko – I.77–78: Kultur und Bildung Mexikos (Empfangen des Kolumbus durch Vielzahl von Ureinwohnern; Festhalten der Landung durch mexikanische Maler; Kanonenschüsse)

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– I.78–79: Kolumbus’ Weg zum König (Beschreibung des spanischen Einzugs; hierarchische Struktur des mexikanischen Reichs mit König im Zentrum) – I.79–86: Kolumbus vor dem mexikanischen König – I.79–80: Andersartigkeit der Natur der Neuen Welt; Beschreibung der Wasserstadt; Einzug der Spanier, Neugier der Mexikaner; Verehrung der Spanier als Götter – I.80: mexikanischer König und Kolumbus: Eindruck auf die jeweils andere Partei – I.81–82: Erkundigung des mexikanischen Königs; Kolumbus über seine Intentionen: Vereinen der zwei Welten, Weitergabe von Künsten, Gütertausch – I.82: König: Bewunderung der Überlegenheit des Kolumbus; Kolumbus’ Präsentieren technischer Gegenstände (Kompass, Uhr, Mikroskop, Teleskop) – I.82–83: Präsentieren der (den Mexikanern unbekannten) verlebendigen Bildkunst anhand des Bildnisses der Isaure; Diskussion der beiden Anführer über das Bild – I.84: Kanonenschüsse; Erschrecken durch unbeabsichtigten Abschuss bunter Vögel – I.85: Erläuterungen zu europäischem Wissen (Kompass, nautische Fertigkeiten, Waffenkunst, Literatur, Einsicht in Ursprung und Lenkung der Welt durch Gott) – I.85: Thema ‘Glück’: – König: vom Glück der Europäer überzeugt – Kolumbus: Vereinigung der Welten in gegenseitiger Hilfe als künftige Glücksbasis – I.86: König: Überzeugung der Unterlegenheit; Vorausahnen künftiger Greueltaten – I.86: Spanier: Zufriedenheit über würdigen Empfang – I.86: Kolumbus: Bitte um künftigen Frieden gegenüber Cortés und Montezuma – I.86: Spanier: Absicht, nach Hause zu fahren und mit stärkerer Flotte zurückzukehren – I.86: Kolumbus: Kennenlernen (und nicht Erobern) der Gegend chant VII: ‘le Fanatisme’ – I.87–89: Menschenopfer im mexikanischen Tempel – Hineinführen der Spanier in den Tempel des Gottes Viliputzi; Fanatismus der Priester sowie deren Menschenopfer (Herabrollenlassen der Leichname über 100-stufige Treppe; Verspeisen der Toten)

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Appendix: Detaillierte Inhaltsübersichten

– Absicht der Spanier, Altäre und Bildnisse umzustürzen vs. Kolumbus’ Beschwichtigung – Bewunderung des mexikanischen Königs für die ‘humanitas’ des spanischen Eremiten – I.89–95: fanatisches Vorgehen Valverdes – I.89: mexikanischer König: Abneigung gegenüber Valverde; Valverdes Intention als Überlegener über Mexikaner zu herrschen; Valverdes Überzeugungsarbeit beim Volk – I.89–91: Valverde vor dem mexikanischen König: Einfordern seiner Krone im Namen Roms; (Nachfragen des Königs bezüglich Rom;) Ankündigung der Rache Gottes wegen des falschen mexikanischen Kults; (Rechtfertigung des Kults durch den König;) Absetzung und Proskription des Königs; todverheißende Blicke – I.91–92: mexikanischer König: Bewunderung für Kolumbus vs. Hass auf Valverde – I.92: Valverde: Aufbringen der Mexikaner gegen den König – I.93–94: Valverde: Überzeugungsarbeit gegenüber der Königsgattin, den Gatten zu töten; Anrede der Gattin an ihre Kinder; Aufwachen des Königs; Vereiteln des Anschlags – I.94–95: Angriffe der Untertanen auf den Königspalast unter Valverdes Motivation – I.95: Kolumbus: Neutralisieren der Angriffe, übereilte Flucht nach Tlascala I.95–96: Zwischenstopp in Tlascala: Tlascala als republikanische Enklave im mexikanischen Gebiet; Hilfestellung gegenüber den Spaniern durch die autarken, ruhigen, die Armut liebenden Einwohner chant VIII: ‘la pyramide’ I.97: Entlangsegeln am Kontinent (Guyana, Brasilien, Magellanstraße); Wenden und Fahrt gen Norden; veränderte Natur I.98–125: Peru – I.98–104: Randgebiet: Enklave der Priester: Tempel der Wahrheit; Isolation 5: Kolumbus’ Reflexion über die Abstammungstheorie – I.98–99: Kolumbus’ Alleingang: Absicht, mehr über den Ursprung der Bevölkerung zu erfahren; Erblicken einer Pyramide; Landung des Kolumbus; Überqueren von Hängebrücken; Durchschreiten einer dunklen, früher als Goldquelle genutzten Höhle – I.99–102: Kolumbus bei den Priestern – Betrachten der hohen viereckigen Pyramide; eingemeißelte Schriftzeichen; an ihrer Spitze ein Globus mit zwei durch Wasser getrennten Welten; darauf eine Statue (Hand in Richtung Welt weisend); am Fuß

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der Pyramide ein Tempel mit der indischen Aufschrift Le Temple du silence & de la Vérité – Bewundern der Statue der ‘Vérité’, Aushändigen eines Buches durch die Priester – Rede eines alten Priesters (1. Atlantisbericht) – Aufforderung zu lesen; Einblick in die Geheimnisse – Pyramidengegend seinerzeit durch Mauern geschützt vor ubiquitärer Sintflut; spätes Auftauchen des amerikanischen Kontinents – vor Kolumbus’ Reise schon Aussenden von Kundschaftern in die Welt; 3000-jährige Aufbewahrung einer umfassenden Weltgeschichte – Auftrag an Kolumbus: Weitergabe der Kenntnisse an seine Leute und Ablassen von der Erkundung neuer Welten – vorausgegangene Unterweisung des Herrschers Perus (MancoCapac) und die Weitergabe an sein Volk (u. a. Goldverachtung, Agrikultur) – Kolumbus: erschüttert, begeistert, traurig; Selbstgespräch: Absicht, die Wahrheiten vor den Europäern geheimzuhalten; dreitägiges Verweilen I.103–104: Rückweg zum Schiff: Verbergen der Wahrheiten in seinem Innern; Trauer wegen des baldigen Untergangs dieses heiligen Rückzugsorts; Aberglaube als Verbindung der zwei Welten: anders als bei den Griechen hier jedoch bedrückende Höllenmächte chant IX: ‘le Pérou’ – I.105–113 Kernbereich: Hauptstadt Perus – I.105–106: Annähern an die Hauptstadt – Unterscheidung: armes Randgebiet vs. reiches Inneres; durch ebene Straßen und Kanäle kultivierte Gegend, hoch aufragende Stadt samt Sonnentempel – Kolumbus’ Befehl, die Stadt ohne Waffen zu betreten – I.106–112 Habsucht der Spanier; exzessiver Luxus der Peruaner; Naturreaktion – I.106–107: Dualismus (1): Peru (gewaltiger Luxus von Natur und Stadt; perver-tierte Sitten nach dem Tod Manco-Capacs) vs. Spanier (Habsucht) – I.107–109: Sonnentempel (von der Sonne entflammbarer Feueraltar; reflektierendes Gold; Vestalinnen; Rede des Kolumbus über die Omnipräsenz/Macht der Sonne); ewiger Frühling der Gegend als Auslöser für zahlreiche Erdbeben – I.110: Dualismus (2) und Folgen:

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Appendix: Detaillierte Inhaltsübersichten

– Spanier (Pizarro): erste Eroberungsabsichten vs. Peruaner (Inka): Darbieten des Luxus – Naturreaktion als Bestrafung des lasterhaften Lebens der Peruaner und als Vorbote des Unheils durch die Spanier; dennoch Fortsetzen der Feier – I.111–112: Dualismus (3) und Folgen: – Spanier (Eroberungsabsichten) vs. Peruaner (ausladender Empfang) – Naturreaktion (Erdbeben, Überschwemmungen, Feuersbrünste) als Vorzeichen künftiger Greueltaten: Tote; Räuber; versuchter Raub der Adèle – I.112–I.113: Reaktionen des Valverde und des Kolumbus auf die Naturreaktion (Valverde: überspielte Furcht und Gebet an Gott zur eigenen Rettung; Kolumbus: stoische Ruhe, Selbstvergessenheit; Ausblick: Tod des Königs und seiner Untertanen) chant X: ‘le tremblement de terre’ – I.114–117: Randbereich: Enklave der Vestalinnen – I.114–115: Kolumbus’ Beobachten der vom Treiben der Natur unbehelligten Jungfrauen in deren Hort; Entwenden einer Jungfrau durch einen Verehrer – I.115–117: Familienzusammenführung – Eremit: Rettung des Rémond vor dem Tod durch herunterstürzende Trümmer in einen geschützten Garten – Klage des Rémond vor der in Flammen stehenden Stadt über den vermeintlichen Tod seiner Frau und Kinder auf dem Scheiterhaufen – Alvarès und Eremit als Zwillinge und Kinder des Rémond; Rede der verlorengeglaubten Frau des Rémond – Rede des Eremiten: über die göttliche Auserwähltheit des Kolumbus; seine Aufgabe der Familie in Spanien aus Liebe zu Kolumbus – Bitte der Frau an Rémond, Kolumbus solle nie von dieser Familienbande erfahren – Freude Rémonds – I.118–122: Kernbereich: Hauptstadt Perus – I.118–121: Die Spanier kurzzeitig auf dem Scheiterhaufen – I.118: Valverde vor dem bald ablebenden König: Vorschlag, Kolumbus und die Spanier zur Beschwichtigung der Naturkatastrophe zu opfern; Bestimmung des Königs, alle Spanier samt Valverde lebendig verbrennen zu lassen

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– I.118: Klage des Rémond vor Gott wegen des nicht enden wollenden Unheils – I.119: Spanier auf dem Scheiterhaufen; stoisch-gelassene Rede des Kolumbus – I.119–120: parallele Verurteilung der Spanier und des Liebespaares; Todesstrafe für die Vestalin (lebendiges Begraben) samt Liebhaber (Feuertod) und Familie – I.121: Mystiker: Auslegen des Fehltritts des Liebespaars als Grund für das Erdbeben; Freilassen der Spanier; bevorstehendes VestalinnenOpfer – I.121–122: erneute katastrophale Naturreaktion; Befreien des Liebespaares durch Kolumbus im Naturchaos – I.122–125: Randbereich: Isolation 6a: Kolumbus in der Enklave ‘Cusco’ – Kolumbus: Verlassen der Stadt auf der Suche nach seinen Freunden – Ankunft in friedlicher Gegend; Auffinden des befreiten Liebespärchens samt einem ehemaligen Inka-König; dessen Gespräch mit Kolumbus: Beharren des alten Mannes auf dem glücklichen Ist-Zustand ohne Tyrannei in seinem Garten; Ablehnen der Krone; Übertragen des Rechts auf seinen Sohn – Proklamieren seines Sohnes als König; Wiederaufbau der Hauptstadt durch die Spanier; Verlagerung des neuen Königreichs unter dem Sohn nach Cusco – I.125: Kernbereich: Hauptstadt Perus – Rückweg des Kolumbus in die in Feuer gelegte Hauptstadt – abtrünnige Spanier: Aufbruch unter Valverdes Einfluss; Seesturm – Kolumbus’ Versuch, ihnen zu folgen I.126–127: Spanien (Ankunft der von Kolumbus bei der ersten Landung entsandten Matrosen; Verbreitung des Gerüchts überbordender Reichtümer; Goldgier der Spanier; Entsenden des Barthélémi Kolumbus mit Kriegsschiffen) chant XI: ‘les deux frères’ I.128–130: Hispaniola – Überfahrt Barthélémis nach Hispaniola; schrecklicher Zustand – Las Casas als Überlebender; Befragen des Barthélemi nach seinem Bruder; Überzeugung des Todes aller Spanier aufgrund fehlender Neuigkeiten seit einem Jahr – Landung der abtrünnigen Spanier; Bericht von Kolumbus’ Tod; Herausstellen ihrer Leistung und der gesammelten Reichtümer in Peru und Mexiko als Kompensation der Mühen

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Appendix: Detaillierte Inhaltsübersichten

I.130–II.49: Nordamerika – I.130–135: Erkundung des nördlichen Kontinents durch Barthélémi – I.130–131: Barthélémi auf der Suche nach Kolumbus; durch Spanier fehlgeleitet in Richtung Norden – I.131–132: Nordamerika (Mississippi; Louisiana, Virginia); Vorausblick auf englische Kolonien; positive Anspielung auf künftige Unabhängigkeit Nordamerikas – I.132–133: Kanada, Huronen; Biber; Niagarafälle – I.134–135: Hyperboreer/Nordvölker – zwischen Rousseau’schem Naturzustand und mangelnder Moral/Kultur; Ansprechen möglicher Gründe für wenig zahlreiche, lethargische Menschen: Alter des Kontinents, negativer Einfluss des Klimas, fehlende Agrikultur – Betonung der jungen Entstehungsgeschichte der Neuen Welt – I.135: Barthélemi: Nachdenken über die vorherrschende Meinung von Kolumbus’ Tod – I.136–II.49: abgelegener Strand; Auffinden des Bruders – I.136–137: Andenken einer Beerdigung für den Bruder; letzte Suche: Sichten eines Löwen und eines auf dem Boden liegenden Körpers; Erkennen des Bruders; scheinbar erfolglose Wiederbelebungsversuche; Rede des Barthélemi über seine vergebenen Mühen – I.138: Spüren des klopfenden Herzens; Erwachen des Kolumbus; gemeinsames Weinen; erleichterte Rede des Kolumbus – I.139: Ähnlichkeit des Kolumbus mit einem Wilden aufgrund von Strapazen und Klima – I.139: Bericht des Barthélémi über die Erzählungen der abtrünnigen Spanier sowie der Reaktionen des Königshauses – I.139–140: Aushändigen eines Briefs Isabellas; Übergeben eines Schals mit einem Bild des Kolumbus und der scheinbar inzwischen verstorbenen Isaure – I.140: Kolumbus’ enttäuschte Hoffnung auf ein Wiedersehen Isaures; Trauer ohne Vergießen weiterer Tränen – I.140: Kolumbus’ Erkundigungen nach Hispaniola – I.140–141: Bericht Barthélémis (Überleben weniger tyrannischer Spanier und Ureinwohner; viele Tote; Landen Vespuccis in der Neuen Welt; Namensgebung (‘Amerika’); große Zahl der Neider des Kolumbus; Angebot, beim spanischen König Schutz zu suchen) – I.141: Kolumbus: Ablehnen eines Rückzugs; Rache und beabsichtigtes Ausbremsen der habgierigen Spanier; Einsetzen für die Opfer

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chant XII: ‘les montagnes’ – I.142: Pause vor dem Rückweg; Rückzug des Löwen in eine Höhle – I.142: Erkundigung des Barthélémi nach Kolumbus’ zwischenzeitlichen Erlebnissen – I.142–II.48: Kolumbus’ Bericht an seinen Bruder – I.142: Ankündigung wenig erfreulicher Erlebnisse – I.143–II.30: Bericht (1): Randbereich Perus: Isolation 6b: Kolumbus in der Enklave des Bergvolks ‘Eleuthere’ – I.143: Schiffbruch und Zurückgespült-Werden zum erdbebenreichen Peru – I.143–146: Rückzug in das unberührte Randgebiet; Genießen der Natur; keine monarchische Herrschaft; 10-tägiges Besteigen der Berge; Vergessen seelischer Schmerzen; Beschreibung der Natur: kopräsente Jahreszeiten; fruchtbare Gegend; gottähnliche Menschen; Blick vom höchsten Berg; Sichten zweier graziler Frauen von europäischem Aussehen; Einladung an Kolumbus, ihnen nachzufolgen; harmonische Körperzüge aller Bewohner; Ähnlichkeit mit homerischen Gottheiten – I.146–148: Gastfreundlichkeit des gesamten Volkes ‘Eleuthere’; Blick von oben und Sichten einer Stadt, geplante Besichtigung am folgenden Tag; Interesse am Alten Weisen Sébastos; Konversation auf Griechisch; Aufnahme in sein Zelt; hübsches Paar Almide und Ador; Übernachten – I.149: frühes Aufwachen; erneutes Besteigen des Berges; Konstatieren der verschwundenen Stadt; Rede des Sébastos (Eleuthere als Nomadenvolk; Fehlen eines festen Palasts; Angebot, einen Tag mit dem Volk in seinem Wald zu verbringen; hiernach Fortsetzen der Reise) chant XIII: ‘la ville ambulante’ – II.1–2: dreitägiger Fußmarsch; Bergbesteigung; Ausruhen in der Natur – II.2–7: Erzählung des Sébastos (2. Atlantisbericht) – II.2: Atlantis als Insel zwischen Peru und Afrika mit 20 Völkern – II.2: 20 Atlantis-Kolonien auf dem Festland in Griechenland; atlantischer Ursprung der griechischen Sprache; Griechen als Imitatoren der atlantischen Künste – II.2: Untergang von Atlantis auf seinem Zenit – II.2–3: Übertreten der Deiche; grausames Überfluten; Rettungsversuche auf die Pyramiden

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Appendix: Detaillierte Inhaltsübersichten

– II.3: Raub der jungfräulichen Königstochter Aceste durch den in sie verliebten Mundschenk Elitus und auf einen sicheren Felsen – II.4–5: Aufwachen der Aceste; Bittgebete; Rettung durch Arche – II.6: Überfahrt zum Kontinent; weitere Überlebende; Proklamieren der Aceste als Königin – II.6: Urbarmachen der Berggegend; Atlantisbewohner als möglicher Ursprung der amerikanischen Völker; seit 3000 Jahren völlige Isolation des Bergvolkes – II.6–7: auf Nachfrage des Kolumbus: Bericht von schwierigen Zeiten des Bergvolkes (aufgrund ehemals städtischer Organisation); Zerstörung der Städte, Einführen eines Lebens basierend auf Freiheit, Gleichheit, Frieden – II.7–11: Die wandernde Stadt – II.7–8: Erreichen eines ländlichen Feldes; Errichten einer mobilen Stadt binnen zweier Tage – II.8–9: perfekte Mischung aus Kultur und Natur in der Stadt – II.9–11: Beschreibung des Palasts (Statuen/Monumente); Sébastos’ Erklärung zu deren Bedeutung für die Erinnerung an frühere Taten; Herausstellen des in der mobilen Stadt präsenten, alle Staaten besuchenden Machthabers – II.11–12: Darbietung eines ‘jongleur’ zur reinen Moral der Nächstenliebe und Brüderlichkeit; Abgrenzung des Volks vom alleinlebenden Wilden – II.12–15: Amphitheater für Kriegsspiele (Beschreibung der Sitzverteilung; Erläuterungen des Sébastos zu Sitten/Gebräuchen/Gesetzen: Bedeutung von Freiheit/Gleichheit/Agrikultur; Rolle der Herrscher; Umgang mit Verbrechern; Manco-Capac als einer aus dem Volk Eleuthere; staatliche Institutionen, Wahlen; Fehlen von Waffen; Arbeitswerkzeuge als Waffen im Verteidigungsfall; ausreichend Muße für die Betätigung in den freien Künsten) chant XIV: ‘Les spectacles’ – II.16: Präsenz des Königs (väterliche Rolle des Königs; volle Unterstützung der Untertanen aufgrund freier Wahl) – II.16–20: tägliche ‘circenses’ – II.16–17: neidloses Herausstellen herausragender Persönlichkeiten (Entdeckungen, Literatur, Kunstwerke, sportliche Wettkämpfe) – II.17–21: ‘Exempla’ – Wettlauf und Sieg des Ador

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– Ringkampf – Schaukämpfe der Jugend mit landwirtschaftlichen Geräten zu Fuß und auf fliegenden Adlern – Schießwettkämpfe; Befreien sanft festgebundener dressierter Vögel durch gezieltes Durchschießen der Knoten aus Blumen; Hinfliegen jedes der Vögel in Richtung eines ehefähigen jungen Mädchens – Schiffswettkämpfe und Wettschwimmen – Sieger der Wettkämpfe mit Vorrecht auf Heirat; Reaktion der Familien; Ador und Almide; Abschlusstanz – II.21–22: Bewunderung des Kolumbus bezüglich der Vorgänge – II.22–26: Gespräch in einer Gartenlaube des Sébastos – II.23–25: Kolumbus – Vergleich der Gärten mit den Elysischen Feldern – Vergleich mit dem scheinbar kultivierten Europa (fehlender Kommunismus, Ungleichheit, Leid der Arbeiter, Volk als Spielball der Großen; keine Bedeutung der ‘gloria’; Vorurteile; Papstbulle als Auslöser des brutalen Vereinens der Welten) – II.25: Sébastos: negative Sicht auf Kolumbus, Fluchtabsicht – II.25–26: Kolumbus: weinend; Rede über Gott (Positivieren des Gottesglaubens der Alten Welt gegenüber dem fehlenden Gottesverständnis der Neuen; Glaube an ein Leben nach dem Tod als moralische Basis für das Handeln im Diesseits) – II.26: Sébastos: In-Aussicht-Stellen einer Besichtigung seines Gottestempels am folgenden Tag – II.26–29: Besichtigung des ‘Gottestempels’ am Isthmus von Panama; Verabschiedung von Sébastos – II.26–27: Weg in Richtung des Isthmus; eindrucksvoller Blick auf die Natur und die beiden Meere – II.27–28: Erläuterungen des Sébastos zum Gottesverständnis: Pantheismus, Erkennen Gottes als individueller Akt einiger Auserwählter; Ausschluss einer Nutzbarmachung von Religion als Rechtfertigung für verbrecherische Handlungen – II.28: Sébastos und Kolumbus als über dem Volk Stehende – II.29: Umarmen und gemeinsames Weinen; Absicht des Kolumbus, die Tugenden der Eleutheres in die Welt zu bringen chant XV: ‘les déserts’ – II.30: Einschub: Ankündigung wenig erfreulicher Erlebnisse nach dem vorangegangenen positiven ersten Teilbericht

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Appendix: Detaillierte Inhaltsübersichten

– II.30–48: Bericht (2): Isolation 6c: Kolumbus in Nordamerika – II.30: Verlassen der paradiesischen ‘Peru-Enklave’ voller Melancholie – II.31–34: heiße Äquatorialzone – II.31: Vordringen des Kolumbus (wie Herkules in ein Löwenfell gehüllt) in das Zentrum der heißen Äquatorialgegend – II.31–32: Flucht in einen ‘Locus amoenus’; Einschlafen – II.32–34: Sichten eines Löwen; Kolumbus’ Absicht, ihn zu töten; Vorstrecken seiner Pranke mit einem darin steckenden Dorn; Herausziehen des Dorns; Freudenbekundungen; freundschaftliches Schutzverhältnis – II.34–38: zwischen Heißer Zone und Norden – II.34: Kolumbus in Erwartung des Nahrung bringenden Löwen – II.34–36: Sichten eines Monuments zweier von einem Tiger zerfleischter Liebender; Kolumbus voller Furcht in der Nacht; Gefahren; Wunsch nach Erhellen der Dunkelheit; Schlafen auf einem Berg; Aufwachen durch Kälte und Schnee, Sichten von erfrorenen Leichen im Gebirge in der Heißen (!) Zone; Feuermachen; Anlocken wilder Tiere; Fernhalten der Tiere durch glühendes Holzstück und Schlafen innerhalb eines Feuerrings – II.36–38: Kannibalen-Exkurs – Angriff durch Wilde; Gefangennahme, Misshandeln – Festrituale der Kannibalen; Garen der Gefangenen; triumphierender Gesang der Gefangenen – Rede des jüngsten Gefangenen (Angehöriger eines anderen Kannibalenstammes) – zur Unterhaltung der Kannibalen: Vorwerfen des Kolumbus vor einen ausgehungerten Löwen – Anagnorisis: Liebesbekunden des Löwen gegenüber Kolumbus; Durchbeißen seiner Fesseln – II.39–48: eisiger Norden – II.39–40: Flucht des Kolumbus und des Löwen gen Norden; Vulkane; halbjährig Tag, halbjährig Nacht; Beschreibung der Nordlichter; Ausdeuten als Warnsignal – II.41: Hoffnung auf Sonnenaufgang; äußere Kälte als Mittel der Steigerung für Kolumbus’ intrinsisch-glühende Motivation – II.41: Eismeer als Endpunkt des Marsches zum Nordpol – II.41–42: unveränderter, alter, chaotischer Naturzustand – II.42: Inbrandsetzen der eisigen Gegend durch Kolumbus’ Feuer (Kolumbus’ verheerende Spuren auf dem neuen Kontinent)

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– II.42–43: Endstation: Ostküste – II.43: Fazit seiner Erfahrungen nach einem Jahr des Durchwanderns des Kontinents – II.43: Tugend- vs. Lasterhaftigkeit; Gastfreundschaft vs. körperliche Angriffe; herumirrende Wilde – II.44: verschiedenste physische Merkmale; (relativistischer Blick auf) Schminke und Körperschmuck – II.45–46: ‘le Sauvage heureux’: natürliche Bedürfnisse, Selbstbeherrschung, freundliche Gastfreundschaft; ausgeprägte Duldsamkeit, reduzierte sexuelle Gier; schlechte Behandlung der Frauen; fehlende Habgier – II.46–47: trotz der erlebten Übel: Herausheben des Positiven der Isolation: freie Entfaltung der Seele ohne sozialen Kontakt; Beziehung zu Gott; Bild Isaures im Herzen – II.47: Kolumbus kurz vor dem Hungertod – II.48: Reue über frühere Entscheidung für das Projekt und gegen das gottgewollte Zusammensein mit Isaure; möglicher Tod als Rache Gottes; Amerika möge Europäern unentdeckt bleiben – II.48: Schlaf des völlig ausgezehrten Kolumbus samt Löwen; Auffinden durch Barthélémi; Umarmung chant XVI: ‘l’auto-da-fé’ – II.49: Nachhallen des spannenden Berichts des Kolumbus; Rede des Barthélémi II.49–50: Rückweg von Nordamerika nach Hispaniola – Zurücklassen des Löwen aufgrund der Furcht der Matrosen; Trauer des Kolumbus – zwei Tage und Nächte Nachschwimmen des Löwen über das Meer; nahendes Ertrinken – dessen Rettung durch Kolumbus; Tod des an Bord gezogenen Löwen; Trauer des Kolumbus II.51–59: Hispaniola – II.51: glorreiche Ankunft des herkulischen Kolumbus; Wiedereinsetzen in seine leitende Funktion und Ablösen seines Stellvertreters Las Casas; Einberufen einer Versammlung – II.52: Las Casas ohne Durchsetzungsvermögen gegenüber habgierigen Spaniern; Rede des Las Casas über die Greueltaten der Spanier – II.52–54: Valverde

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Appendix: Detaillierte Inhaltsübersichten

– Durchführung eines Autodafé zur Bestrafung aller Abtrünnigen; Fokus auf einem jungem Ureinwohner (Tindal) auf dem Scheiterhaufen – Kolumbus’ Aufruf an Valverde, von den Taten abzulassen – Valverdes Aufforderung an die Soldaten, Kolumbus zu opfern – Weigerung der Soldaten – Valverdes Aufforderung, zumindest Kolumbus’ Blut zu opfern – Aggression der Soldaten gegen Valverde; Befreien der Gefangenen, Flucht Valverdes – Ehrerbietung gegenüber Kolumbus; Kolumbus’ Absicht, den Ureinwohner zu befreien – II.54–58: Kolumbus’ Handeln in Hispaniola – II.54: Suchen nach weiteren Soldaten; Beschreiben der düsteren Örtlichkeit; wenige überlebende Einheimische und Spanier – II.55: Besuch der Minen: verstreute Leichen und Berge an Gold – II.55: Feuerbestattung und Urne (gemeinsame Asche von Spaniern und Ureinwohnern) – II.55–56: Rede eines überlebenden Ureinwohners über Kolumbus’ Gnade; Angebot, die Spanier in Agrikultur zu unterweisen – II.56: Erfolg der Agrikultur; Umschreibung zukünftiger landwirtschaftliche Handelsgüter (Tabak, Zuckerrohr, Kaffee, Baumwolle)1 – II.56: folgenlose Rede des Kolumbus: Bodenfrüchte als wahre Bodenschätze – II.57–58: Kolumbus temporär auf dem Gipfel der Freude: Niederringen des Fanatismus; Einfluss; friedlicher Status Quo; sittliche Vervollkommnung der Spanier; Gottvergleich – II.58: düsterer Ausblick nahenden Sturm chant XVII: ‘l’isle fortunée’ II.59–60: Musenanruf: Blick weit weg vom nur temporär bleibenden Glück Hispaniolas hin zu einer angenehmen Naturbeschreibung II.60–66: Isolation 7a: Enklave der Insel der Zilna (1) – II.60: Kolumbus’ Absicht, eine vor 15 Jahren durch ein Erdbeben abgesonderte und seither von niemandem besuchte Insel zu bereisen; Aufbrechen mit einem kleinen Schiffchen – II.60–61: ‘Locus amoenus’; weinendes, bezauberndes, weißhäutiges 14-jähriges Mädchen (Zilna) an Grab; Absicht des Kolumbus, ihre Trauer nicht zu unterbrechen; Vergleich mit Göttin Diana

1 Die vier Güter werden im Text nur in Form von kleinen Rätseln umschrieben.

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– II.61–62: Erkundigung Zilnas über Kolumbus’ Herkunft; begeistert von Kolumbus’ Äußerem – II.62: freundliches Nachfragen des Kolumbus bezüglich ihrer Trauer – II.62: Klage um früheren Freund; Bitte an Kolumbus, ihn zurückzubringen – II.62–63: Annähern der hübschen Mutter Zilnas (Eona); Schönheit beider Frauen – II.63–64: gastfreundliche Aufnahme; paradiesischer Garten; Höhle der Familie; Mahl – II.64: Rede der Eona: Bewohnen der Insel ursprünglich durch Eona, eine Freundin und einen Mann; Verschwinden des Mannes; Zurücklassen der schwangeren Eona und ihrer Freundin mit deren Kleinkind (Tindal); baldiger Tod der Freundin; Aufnahme des Tindal durch Eona; enge Bindung der beiden Halbgeschwister; Verschwinden Tindals – II.65: Zurückziehen Zilnas zum Weinen – II.65: Rede Eonas: Erziehung Zilnas ohne Kenntnis des anderen Geschlechts – II.65: Rückkehr Zilnas; Begeisterung vom männlichen Geschlecht (verkörpert durch Kolumbus) – II.65–66: Begeisterung des Kolumbus von den beiden Frauen; überwältigt von ihrer Geschichte; Trauer; Rückfahrt, Schwur zurückzukehren II.66–67: Hispaniola – II.66: Isolation 7b: Rückzug des Kolumbus (Höhle); Zilna und Eona vor Augen; Isaures Bild – II.66–67: Kolumbus und die Spanier – ambige Beziehung: Angewiesensein auf und Halt durch Kolumbus, dazu wachsender Neid und Hass auf Kolumbus’ Taten – Unverständnis für Kolumbus’ Sicht auf die Ureinwohner und seine Priorität auf der Agrikultur gegenüber der Goldgewinnung II.67: häufiges Pendeln des Grenzgängers Kolumbus zwischen Hispaniola und der Insel der Zilna II.67–83: Insel der Zilna (2): Isolation 7c: Kolumbus als Beförderer der jungen Liebe – II.67–68: Sichten des Tindal; freudiges Umarmen Zilnas und Eonas – II.68–69: Anagnorisis: gegenseitiges Erkennen des Kolumbus und des Tindal; Kolumbus als sein Befreier aus den Fängen Valverdes beim Autodafé; Freudenbekundungen – II.69–70: Bericht des Tindal über seine Gefangennahme (beim Schwimmen am Ufer Sichten eines irreführenden Bildes Zilnas im offenen Meer; Forttragen durch die Strömung; Retten auf ein herrenloses Kanu; Landen auf Hispaniola; Aufgreifen durch Valverde; Verurteilung zum Feuertod wegen der

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– – – – – –

Appendix: Detaillierte Inhaltsübersichten

Verweigerung der Proskynese vor christlichem Bildnis; Rettung durch Kolumbus; Verurteilung zur harten Minenarbeit; Befreiung) II.70: Kolumbus’ Entzückung angesichts der jungen Liebe; Erkennen des Täuschungsversuchs Eonas: bisheriges Verdecken der Sexualität durch identische Kleidung II.71: Liebesgeständnisse Tindals (Befördern der Liebe durch die spanische Gefangenschaft) und Zilnas (Bau eines Mausoleums aus Trauer um den Geliebten); gegenseitiges Umarmen II.71–73: Wechselrede (Zilna und Tindal) – Einstimmen auf die Wechselrede durch sexuell aktive Vögel und Widder – Tindal: Hinweisen auf die Sexualität und das Vorhandensein zweier Geschlechter in der Natur; Erlernen dieses Wissens in der spanischen Gefangenschaft – Zilna: Bestätigung der Sicht, Liebesbekenntnis – Tindal: Kolumbus als männliches Vergleichsobjekt; Aufruf zur Vereinigung – Zilna: zögerliche Zusage II.73: Kolumbus’ Absicht, das unschuldige Paar zu vermählen; Aufruf, das bisherige Verbergen der Sexualität der beiden zu beenden II.73–74: Absicht Eonas, die unschuldige Kindheit der beiden zu verlängern; Grund: eigene negative Erfahrungen mit dem männlichen Geschlecht II.74: Rede Tindals an Eona: Bitte, die naturgewollte Einheit der beiden zu unterstützen II.74: weitere Argumente des Kolumbus II.74: Eonas Einwilligung; Freude allerseits II.75: Tindal des Nachts vor Zilna; Ausblasen einer Kerze als Symbol des Sich-Hingebens

chant XVIII: ‘l’Alceste américaine’ – II.76–83: Hochzeitstag – II.76–79: Durchführung der Ehe – II.76–77: Brautpaar; natürlicher Altar auf einem Hang in geothermischem Gebiet; Girlande aus beschriebenen Palmblättern; weißer Fels im Hintergrund; Magie des Ortes; Eindruck der Präsenz Gottes und seiner Engel; Elysium-Vergleich – II.77: Segen der Mutter; Kolumbus als Vater und Priester – II.78–79: Eheversprechen Tindals und Zilnas – II.79: Kolumbus’ Gebet an Gott; Bitte um Glück für die abgeschottete Enklave

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– II.79: Pfeilschuss auf Kolumbus; Durchbohren des Kolumbus schützen wollenden Tindal; tödliches Verwunden des Pfeilschützen durch Kolumbus – II.79: Rede des Feindes: Kolumbus als eigentliches Ziel; Beauftragung durch die Spanier – II.80: Trauer Eonas und Zilnas um Tindal – II.80: Kolumbus’ schlechtes Gewissen und Selbstbeurteilung als Unheilbringer – II.80: Eona: Erkennen des Pfeilschützen als Vater Tindals – II.80: Rede des sterbenden Vaters: Auftrag an ein von ihm zuvor gefangenes Paar, einer der beiden solle das Gift aus der Wunde seines Sohnes saugen – II.81: Tod des Vaters; scheinbares Aufnehmen des Mörders in den Erebos – II.81–82: Rede des Tindal: Unwille, ein anderes Menschenleben für seines zu opfern; Befreien des gefangenen Paares durch Zilna – II.82: Rede des Kolumbus: Kenntnis von einem Heilkraut; Suche danach – II.82: Überbringen der Nachricht durch Las Casas, Kolumbus müsse sofort nach Hispaniola zu einem Abgeordneten des Königs zurückkehren – II.82–83: Betrauen des Las Casas mit der Suche nach der Heilpflanze II.83–86: Hispaniola: Isolation 7d: Kolumbus im Kerker (1) – eilende Abfahrt des Kolumbus gen Spanien; Einkerkern; Gedanken an Tindal – Gerüchte in Spanien über Kolumbus’ schlechtes Verhalten, Einsetzen eines neuen Generals – Erleuchten des Gefängnisses durch Isaure; Kolumbus’ Überzeugung, es handle sich um eine Vision – Befreien des Kolumbus durch Barthélémi; Racheplan – Kolumbus’ Unwille, sich über staatliche Hierarchien hinwegzusetzen; Verweilen im Kerker – plötzlicher Brand (gelegt durch den neuen Viceroi); Flucht des Kolumbus auf Zilnas Insel II.86–90: Insel der Zilna (3): Isolation 7e: – II.86: Trauer Eonas und Zilnas angesichts des bevorstehenden Todes Tindals – II.86: Zilnas Rede an den Sterbenden; Aussagen der tödlichen Wunde – II.87: Aufwachen Tindals; Trauerrede Tindals um sterbende Gattin – II.87: Rede der Mutter: Absicht, gemeinsam mit beiden zu sterben – II.88: Rede Zilnas: Fordern eines alleinigen Ablebens im von ihr errichteten Mausoleum

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Appendix: Detaillierte Inhaltsübersichten

– II.88: Kolumbus’ Ankunft mit Heilpflanze; Wiederbelebung und tiefer Schlaf Zilnas; Trauer – II.89: erste Wirkung der zuvor eingeleiteten Vergiftung des Kolumbus durch die Spanier; eigene Einnahme der Heilpflanze; tiefer Schlaf des Kolumbus neben Zilna – II.89: Eindringen sämtlicher Spanier in die Insel zum Miterleben des Gifttodes des Kolumbus – II.89–90: fadenscheinige Mordanschuldigung gegenüber Eona und Tindal; Mitnahme der zwei scheinbaren Leichen und der beiden beschuldigten Mörder chant XIX: ‘le retour’ II.91–96: Hispaniola: Isolation 7f: Kolumbus im Kerker (2) – II.91: Kolumbus: Gefängnis, Folter, Trauer; kleine Lampe; Trauer vor der Urne mit der Asche – II.91–92: Sorge um den im Todeskampf befindlichen, gefolterten Tindal neben ihm – II.92–93: Bericht des Tindal: ungewisses Schicksal Eonas; mehrfache Rettung des bewusstlosen Kolumbus vor weiteren Mordanschlägen auf ihn – II.93–94: gemeinsames Ergehen im Leid: – Rede Tindals: Tod als Schutzort; Kolumbus als einzig verbliebener Grund zu leben – Rede des Kolumbus: Selbstanschuldigungen; er als Grund für den Tod der drei Ureinwohner der Insel – Rede Tindals: Unterscheidung Kolumbus vs. Spanier; Erwartung des von Gott gegebenen ewigen Lebens im Gegensatz zu sterblichen Spaniern – II.94: scheinbarer Tod Tindals; Kolumbus’ Sterbewunsch; Isolation 7g: Gleichnisraum – II.94–95: Erscheinen des Eremiten samt geheilter Eona und Zilna; Heilung des Tindal durch Saft – II.95: Kolumbus’ Zuneigung zum Eremiten – II.95–96: Absicht des Bovadil, Kolumbus als scheinbaren Übeltäter in Ketten und die von ihm gesammelten Reichtümer unter seinem Namen nach Spanien zu schicken II.96–109: Überfahrt nach Spanien (unter dem von Bovadil auserwählten Kapitän Alvares) – II.96: Befreiung des Kolumbus und Einsetzung als Vorgesetzter; Wiedersehen Adeles – II.97: Kolumbus’ Seesturmvorhersage; Missachten des Ratschlags des entthronten Kolumbus – II.97–98: Havarie sämtlicher mit Reichtümern beladener Schiffe

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– II.98–99: Manifest des Bovadil (Referenz auf die Papstbulle und das spanische Vorrecht; gottgewolltes Versklaven aller Bewohner der Neuen Welt unter der Macht Spaniens) – II.99–102: Isolation 8a: Kolumbus’ Selbstvorwürfe und Rückzug – II.99: Ablegen des Schiffs, Freude der Seemänner – II.100: kontemplativer Blick des Kolumbus auf die Neue Welt: Imaginieren von Horrorgreueln und Leichen; Selbstvorwürfe; Frage nach der eigenen Schuld – II.100: Durchführen des Heiligen Abendmahls durch einen Priester; Bitte um Verzeihung für die Konquistadoren – II.101: Beichtgebet des melancholischen Kolumbus: Bitte um harte himmlische Bestrafung für all die kommenden Greuel in der Neuen Welt – II.101: Kolumbus’ hehre Ziele vs. die bittere Realität – II.102: Kolumbus’ konstanter ‘courage’; gute Navigationsleistung anhand des Mondlichts; Präsenz der Urne; Gedanken an Isaure; Gebet an den Mond; Rückzug in die Nacht (Vergleich mit einer Nachteule) – II.102–103: Sichten einer Wassersäule; gezielter Kanonenschuss zur Neutralisierung2 – II.103: Sichten eines Schiffs: Kampfvorbereitungen; Erkennen seiner Hilfsbedürftigkeit – II.103–104: Aufnahme der Überlebenden; Rede des Anführers: Sich-zu erkennen-Geben als Portugiese Albuquerque; Angebot der Freundschaft trotz der Rivalitäten der Königshäuser; bestätigende Rede des Kolumbus – II.105–109: Isolation 8b: Kolumbus und Albuquerque: private Unterhaltung über die Aufgaben Albuquerques im Dienste der portugiesischen Krone – II.105–107: Rede des Albuquerque – heimliches Verachten der auferlegten Greueltaten in Übersee – Sprechen über die Erkundung Afrikas (Senegal, Niger, Abstammung der Afrikaner, Versklavung; Entvölkerung; Wüste) und Asiens (bessere Gegend; über Perser und Babylonier; schwächliche Inder; Reich der Catai: Blüte der Künste bereits vor Europa) – resultierende Übel für beide Kontinente – Bericht über die Greueltaten in Indien (Einschließen, Missionieren, Foltern; Gier nach Reichtümern als Kriegsgrund)

2 Bereits François Timoléon de Choisy: Journal Du voyage de Siam fait en 1685 & 1686. Paris: Mabre-Cramoisy 1687, S. 53, spricht in seinem Reisebericht über das Phänomen der ‘tubae aquaticae’/‘trombes’/‘pompes d’eau’: «C’est une maniere de colomne d’eau, qui s’éleve de la mer jusqu’aux nuës; & Malheur aux vaisseaux sur qui elle tombe. On lui tire des coups de canon quand on la voit venir; & pourveu qu’on la puisse toucher, elle est dissipée».

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Appendix: Detaillierte Inhaltsübersichten

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– pessimistische Distanzierung vom eigenen ‘gloire’-Streben angesichts der Greueltaten und des Neids der eigenen Leute II.107: Rede des Kolumbus: identisches Leiden unter Neid und Intrigen II.107–108: Umarmung der beiden seelenverwandten Spiegelfiguren; Distanz der beiden zum breiten Rest ihres jeweiligen Volkes II.108: Sichten des pejorativ konnotierten Europa und des Turms in Cádiz; Erinnerung an die Gefangenschaft, Isaure und die frühere Chance auf Liebesglück II.109: Kolumbus: Bereuen der falschen Wahl; Imagination Isaures und ihrer Vorwürfe ihm gegenüber II.109: gemeinsames Klagen mit dem Eremiten; Kolumbus’ Trost; Kolumbus’ leuchtender ‘courage’ subkutan noch spürbar

chant XX: ‘le triomphe’ II.110–119: Spanien – II.110–114: Cádiz: Triumphzug durch die Stadt – überschwänglicher Empfang; Kanonenschüsse zur Begrüßung; Sichten des Kolumbus in Ketten; Vermengung von Schrecken und Freude – von den Strapazen gezeichneter Kolumbus; im Gegensatz zum Königshof Ehrenbezeugungen durch das Volk und Durchschauen der Unschuld des Kolumbus – ‘Défilé’ durch Cádiz mit 100 Gefangenen und 30 Kaziken in Ketten – Weiterziehen des Albuquerque nach Portugal – ‘Défilé’ in Richtung des Königshofes; Abnahme der Freudenbekundungen des Volkes; Kolumbus’ äußerliche Ähnlichkeiten mit den besiegten Ureinwohnern; Beschreibung der Reichtümer; die personifizierten ‘Gloire’/‘Renommée’/‘Enthousiasme’ – II.114–119: spanischer Königshof – II.114: Ankunft bei Hofe; Größe des Kolumbus trotz seiner Ketten; Vorgeben des Ferdinand, Kolumbus nicht zu kennen – II.114–115: hochmütige Rede des Kolumbus: Selbstbeschreibung als Staatsdiener; seine Leistungen (Gebietserweiterung, Lieferung von Reichtümern und Gefangenen) und sein bisheriger Lohn (Ketten); einziger Wunsch, in Ruhe gelassen zu werden – II.115: fingierte Emotionslosigkeit angesichts der bewegenden Rede – II.115–116: Rede eines Höflings: Herunterspielen der Entdeckung der Neuen Welt; Verunglimpfen der Qualität der Gefangenen, der Quantität des Goldes, Seitenhieb gegen Kolumbus’ niedere Herkunft – II.116: breite Zustimmung des Hofes, demonstratives Abwenden von Kolumbus

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– II.116: Kolumbus’ Replik: Er als Entdecker, Fassen des Entschlusses in der ‘tour’ – II.116–117: Rede eines Höflings: Höflinge auf dem Gipfel der ‘gloire’; Kolumbus als gesellschaftlicher Abschaum, der sich durch Leistungen erst profilieren müsse – II.117: Kolumbus’ Anklagen der ständischen Überheblichkeit; Kolumbus’ leuchtende Blicke gegen die Höflinge; seine den König überzeugende Haltung; Einwilligung in die Anerkennung des Heldenstatus – II.117–118: Auftritt Valverdes: Herausstellen des Kolumbus als Feind Gottes; seine Kompromissbereitschaft gegenüber dem barbarischen Kult; Ankündigen des ewigen Leids bei Verzicht auf Kolumbus’ Ermordung – II.118: Einlassen der Höflinge auf den absurden Vorschlag Valverdes aufgrund des großen Neids auf Kolumbus; Vergleich des Kolumbus inmitten der rasenden Neider mit Orpheus inmitten der Bacchantinnen – II.118–119: Rede des Ferdinand: fehlende Autorität in theologischen Entscheidungen; Verweisen auf florentiner Versammlung hoher Geistlicher; Befehl des Übersendens des Kolumbus nach Italien – II.119: Begeisterung des Hofes; Isabella ohne Handlungsmöglichkeiten gegenüber dem personifizierten Neid chant XXI: ‘l’Italie’ II.120: Apostrophe des eigenen ‘génie’ für die bevorstehende Beschreibung Europas (seiner Greueltaten) II.120–131: Weg von Spanien nach Florenz – II.120–121: Barcelona und Korsika; Exkurs über dessen Unabhängigkeitsbestrebungen – II.121: Genua: Entvölkerung; eigene Kinder im Kriegseinsatz für den französischen König – II.121–123: Italien – Weitblick über die Kriegszerstörungen; Bewunderung der Landschaft; kunstvolle Kirchen und Straßen; negativer Blick auf Klöster; moderne Bauten und antike Ruinen; Antikes als Kriegsgrund; Beschreibung der leidenden Bewohner – II.123: Klage des Kolumbus über die Ungleichheiten in Europa (im Vergleich zu den Bewohnern der Neuen Welt) – II.123–124: Kriegsgreuel; Verwüstungen, Leichen, Geschrei; Grund: Ludwigs (sc. XII.) Kampf um Mailand; chaotischer Naturzustand; Spanier: Bestehlen der Halbtoten; Einbruch der Nacht; Laben von Raben und Wölfen an Leichenhaufen; Kolumbus’ Absicht, den Halbtoten auf dem Schlachtfeld zu helfen

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Appendix: Detaillierte Inhaltsübersichten

– II.125–130: Isolation 9: Kolumbus auf dem Schlachtfeld des zweiten Italienkrieges – II.125–127: Kolumbus’ Sohn – Nachkommen der Bitte eines sterbenden Soldaten um Wasser; Hoffnung des Soldaten auf Gelingen des Projektes seines Vaters; Erkundigung des Kolumbus nach der Identität seines Vaters; Darlegen des Neue-Welt-Projekts des Vaters; Erkennen, Umarmen, Weinen, kurzzeitige Hoffnung auf Überleben des Sohnes (= Fernando); Tod – Ausheben eines Grabs für den Sohn; Hineinlegen; Hoffnung auf eigenen Tod; Gebet; Flucht – II.127–130: Ludwig XII. – weinender, sterbender Ludwig (XII.) in Soldatenuniform auf dem Schlachtfeld; Selbstkritik; Vision des Sensenmannes; himmlische Stimme: Erlebtes als Folgen der ‘gloire’; Aufschrei und Schließen der Augen – II.129: Kolumbus: Hören der Schreie; Suchen des Opfers – II.129–130: Ludwig XII.: Herbeirufen des vorbeigehenden Kolumbus; Rede: Zurücklassen durch Untertanen; Kolumbus’ Erkennen des Königs, Nächstenliebe trotz seiner Mitschuld am Tod des Sohnes – II.130: Kolumbus’ Rüge des Königs wegen der Ausnutzung seiner Machtposition und des Vernichtens eines Volkes – II.130: Monolog Ludwigs XII. über den lehrreichen Perspektivenwechsel und die Sicht eines am Boden Liegenden – II.130: Kolumbus: Bedecken des Königs mit seiner Kleidung; ungläubiger Dank des Königs – II.130: Ankunft königlicher Gefolgsleute; Freude über das Auffinden des Königs; Ludwigs Suche nach Kolumbus; Kolumbus in den Fängen der Spanier – II.131: Kolumbus: letzter Blick aus der Distanz auf das Schlachtfeld und das Grab seines Sohnes; Schließen der Augen; Folgen der spanischen Eskorte II.131–205: Florenz – II.131: Ankunft in Florenz; erneutes Einkerkern; aber freies Bewegen im Gebäude

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chant XXII: ‘le prisonnier content’ – II.132–150: Turm-Gefängnis: Isolation 10a: Kolumbus im oberen Gefängnisbereich – II.132: Kolumbus auf der Dachterrasse; Besuch eines alten Staatsgefangenen (Zizim) durch die Tochter und deren Kinder; Apostrophe der die Besuchszeit beendenden Nacht – II.133–134: Zufriedenheit des Zizim; Anstimmen eines Gesangs für Gott: Ankunft Gottes in Form von Licht; sein positiver Blick auf die Welt; Freude über die Freiheit seiner Familie – II.134: Kolumbus in den Armen Zizims; Einfordern von Glückstipps – II.134–135: Freiheit von Gewissensbissen als Basis für Sorgenfreiheit – II.135: Kolumbus’ Freude über einen neuen Seelenverwandten; Sichten einer Statuette Isaures bei Zizim – II.135: Rede Zizims: Isaure als Besucherin zur Zeit seiner Inhaftierung in Cádiz. – II.135: Rede Kolumbus: Isaure als zeitgleiche Trösterin der beiden in Cádiz – II.135–136: Kolumbus als Teil der Familie Zizims; Positivieren des Gefängnisraums – II.136: Zizim und Kolumbus: Austausch über Gott und die Welt; Kolumbus’ Verschweigen der ambigen Entdeckung der Neuen Welt – II.136–140: Zizim über die Vorgänge in Europa – Bevorstehen einer Revolution analog zu der unter Konstantin – Sich-zu-erkennen-Geben als Türke – Aufstieg der christlichen Kirche und des Papstes; Teilung Europas in einen weltlichen und einen geistlichen Anführer; scheinbarer Friede – Unbilden der Inquisition; gegenseitiges Anzeigen sogar innerhalb der Familie; Anklagen des religiösen Fanatismus – Effekte der Inquisition: Streben nach einer aufgeklärten Revolution; harsches Vorgehen der Türken gegen antike Wissenschaft in Asien und partiell in Europa – ‘Translatio’ der Weisheit von Griechenland nach Europa; wachsende Anzahl aufgeklärter Köpfe und Dichter (Dante, Petrarca); Auflehnen gegen die Tyrannei – Krieg als Quelle des Unglücks in der Alten Welt: Kämpfe gegen die Attentate Roms und Italiens; in der Neuen Welt: Gold als Kriegsauslöser; Wunsch Zizims, der Entdecker der Neuen Welt wäre umgekommen – II.140–141: Kolumbus’ Replik: Sich-zu-erkennen-Geben als Schuldiger trotz hehrer Absichten; Bericht über seine Entdeckung – II.141–144: Rede Zizims: Einkerkerung wegen ketzerischer Behauptung der Existenz der Antipoden; Absicht der Kirche, ihn auszuhungern;

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Appendix: Detaillierte Inhaltsübersichten

Verzögern des Todes durch die Muttermilch seiner ihn besuchenden Tochter; Erweichen der Henker; Wiederaufnahme der Nahrungsgabe; seit drei Jahren Glück im Gefängnis ohne körperliche Freiheit aber auch ohne das Miterleben äußerer Unbilden; Zizim seinerzeit als designierter König; Thronbesteigung des Bruders; Flucht vor demselben; Aufgreifen durch Papst Alexander VI.; Vergiften, Zurückschicken, Inhaftierungen; Gerücht des scheinbaren Gifttods Zizims – II.144–145: Freude und wachsendes Glück im Innern des Kolumbus – II.145–148: Bericht des aus Hispaniola kommenden Las Casas über die Spanier – Ausdehnen der Eroberungen auf den Kontinent – Autopsie bezüglich der Güte der Ureinwohner und friedliche Missionsarbeit unter Gottes Geboten vs. Ermordungen und Versklavung der Spanier – offenkundige Widersprüche im Verhalten der Spanier (gepredigter milder Gott vs. unchristliche Handlungen gegenüber den Ureinwohnern) – Wiedergabe der Rede eines Ureinwohners über die tyrannischen Spanier; sexuelle Gewogenheit der einheimischen Frauen gegenüber den spanischen Soldaten; Hilferuf vor der christlichen Versammlung mit ähnlicher Rede – Führungsstil des Barthélémi (Agrikultur) vs. das Gros der goldhungrigen Spanier – die in Europa wütende Syphilis – II.149–150: abschließendes Bild: melancholische Dreiergruppe der Freunde Zizim, Kolumbus, Las Casas; gewisse Erleichterung durch Kolumbus’ leuchtenden ‘courage’ chant XXIII: ‘le faux concile’ – II.151: Apostrophe der ‘Vérité’; Bitte um Unterstützung bei der Beschreibung des Konzils und der Unterscheidung zwischen göttlichem Willen und menschlichem Gutdünken der Geistlichen – II.151–165: Priesterkonzil – II.151–152: Charakterisierung der Florentiner Priester (Neid und Triebe; Vergleich mit homerischen anthropomorphen Gottheiten) – II.152: Beschreibung des Intérieurs der Kirche (Auditorium; darunter Luther) – II.152–165: Ablauf des Konzils – II.152: Beginn des Konzils – II.153: Kirchenfürsten über die Unbilden der Christen in der Neuen Welt

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– II.153–156: Zizims Verhandlung – Vorladen Zizims als die Entdeckung vorbereitender Ketzer – Priester: Plädieren für die Todesstrafe des gottlosen Zizim – Zizim: Darlegen seiner auf Himmelsbeobachtung gründenden Weltsicht; absichtliches Geheimhalten seiner Entdeckung; Kundtun der Entdeckung nur durch inquisitorisches Interesse der Priester an seinen Schriften – Eremit: Verfolgen des Prozesses; Sichten der betenden Tochter; Vorführen vor das Konzil; fehlende Reaktion aufseiten der Priester angesichts der säugenden Mutter – Zizim: Erwähnen des Gesäugtwerdens durch die Tochter; Herausstellen ihrer Mutterschaft, Seitenhieb auf das Zölibat; Wunsch, einen natürlichen Tod sterben zu dürfen – Weinen der Tochter; Begnadigung bei Abschwören seiner Theorie – Zizim: Betonung der Fehlerfreiheit seiner Theorie – Begnadigung auch ohne Einlenken Zizims – II.157–161: Las Casas und Valverde über den Umgang mit Ureinwohnern – äußerer Eindruck der Kommunikation des Konzils mit Gott; Auftreten der beiden Widersacher Las Casas und Valverde – Las Casas: Augenzeugenbericht über die Einfachheit der Ureinwohner, über Bluthunde/Massenmorde der Spanier; Bitte an das Konzil, seine Mittlerrolle zu Gott wahrzunehmen, für die Interessen der Neuen Welt einzutreten – kaum merkliche Reaktion des Konzils – Valverde: aggressive Verteidigung des harten (gottgewollten) Durchgreifens; Barbarei der Ureinwohner; Milde der Spanier (den Großteil der Ureinwohner am Leben gelassen zu haben); Vorschlag der Ermordung des Gottesfeinds Las Casas – Reaktion des Konzils: Beschluss der Freilassung und Christianisierung der gefangenen Ureinwohner; Ziel der Christianisierung der Neuen Welt – Las Casas: Herausstellen seiner missionarischen Absichten – Valverde: aggressives Ablehnen des ‘religiösen Fanatismus’ des Las Casas; Aussprechen gegen das Zugestehen gleicher Rechte und Betonen des naturgegebenen Sklavenstands der Ureinwohner – Reaktion des Konzils: Ablehnen des Las-Casas’schen Vorgehens – II.161–165: Las Casas und Valverde über den Umgang mit Kolumbus – Valverde: Einfordern der Ermordung des Urhebers aller Übel

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Appendix: Detaillierte Inhaltsübersichten

– Auftritt des Kolumbus vor bewegt-schweigendem Konzil (mit abgewandten Köpfen) – Kolumbus: äußerste Hilfsbedürftigkeit der Neuen Welt; Zugeben seiner Schuld; Betonen seiner guten Absicht; Schuld der Spanier; Wille, seine Schuld mit dem Tod zu entsühnen – merkliche Reaktion des Konzils – Valverde: harsches Eintreten für eine Bestrafung des Kolumbus; dessen fingiertes Weinen, seine Verehrung der Sonne; Kolumbus als Grund für fehlenden christ-lichen Glauben in der Neuen Welt; Tod des Kolumbus als Sühne für alle Spanier – Reaktion des Konzils: Rede des Vorsitzenden (bisher ohne Interesse für die Bedürfnisse der Ureinwohner): Erschütterung ob des Einrichtens eines falschen Kults durch Kolumbus – Zwecklosigkeit weiterer Verteidigung vonseiten des Kolumbus; Verurteilung zum Feuertod; Zusammenbrechen des Eremiten; Abtransportieren; Kolumbus’ stoisch-duldende Reaktion – Erscheinen der personifizierten ‘Vertu’ vor dem Konzil und Krönung des Kolumbus auf den Gräbern ehemaliger Könige – Einsperren des Kolumbus in den untersten Kerker; Fehlentscheidung des Konzils aufgrund des Verkennens des eigentlich Zentralen; Verbleiben des dargelegten Konzils ohne historische Erwähnung chant XXIV: ‘l’hymenée’ – II.166–191: Turm-Gefängnis: Isolation 10b: Kolumbus im untersten Kerker – II.166–169: Kolumbus’ Status quo und Einstellung zum Tod – Befreiungsplan des verfolgten Zizim – Kolumbus’ Todeserwartung; gottähnliche seelische Zufriedenheit trotz/wegen fehlender Hoffnung auf Prestige; Tod als rettender Hafen – Rede des Kolumbus: Zufriedenheit über den schnellen Feuertod; der Tod als Ende des vom Himmel der Fortuna zugestandenen Macht über den Menschen – Dunkelheit; der einem Grab nachempfundene Raum; Urne; Bildnis Isaures – Rede des Kolumbus: Gewissheit über ein Wiedersehen mit Isaure, seinem Vater, seiner Frau und seinen Kindern nach dem Tod – Beistand der personifizierten ‘vertu’ und ‘paix’ – Vergleich der im Kerker Trost findenden Seele des Kolumbus mit der Seele eines empfindsamen Menschen in der Natur

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– II.169–176: Kolumbus’ Ehe mit Isaure – II.169: Beistand des Eremiten in der Zelle – II.169: Rede des Kolumbus: Eremit als Zeuge der Leiden; Betonen seiner glücksverheißenden Einstellung – II.169–170: Weinen des Eremiten; Erblicken des Bildnisses Isaures – II.170: Rede des Kolumbus über Isaure; Definition von Glück als Liebe zu Isaure – II.170: emotionale Betroffenheit des Eremiten – II.170: Rede des Kolumbus: Trauer nicht wegen Isaure, der ein glorreiches Schicksal bevorstehe, sondern wegen seines eigenen doppelten Fehltritts (Verlust der Geliebten und Befördern des Unglücks auf der Welt) – II.171: Frage des Eremiten, ob die Präsenz Isaures ihn wieder glücklich sein ließe – II.171: Kolumbus’ bejahende Antwort, Kolumbus’ Hoffnung auf ein Wiedersehen – II.171–172: Enthüllen der eigentlichen Identität des Eremiten; Gefühlsexplosion – II.172–173: Anklage des fassungslosen Kolumbus: jahrelanges Sehnen nach Isaure; aufgrund des Versteckspiels und kommentarlosen Miterlebens seines Leids – II.173–174: Enttäuschung Isaures über die damalige Entscheidung gegen sie; Entschluss, ihn heimlich zu begleiten; Bewunderung seiner ‘gloire’; Eheabsicht – II.174: Kolumbus’ Erkundigung nach dem Ernst der Absicht; Isaures Bestätigung – II.174–175: Kolumbus’ Bitte, Isaure möge nach seinem Tod auf Erden weiterleben – II.175–176: Heirat; Las Casas als Priester; Beiwohnen Zizims, seiner Tochter, Rémonds; Las Casas’ Hochzeitsgebet – II.176: Vergleich des Ehepaares mit angebeteten Göttern chant XXV: ‘les prisons’ – II.177–179: Kolumbus’ Begnadigung und Einfinden in sein Schicksal – göttliches Licht im Kerker; Kolumbus’ partielle Erleichterung – Bericht des Las Casas über die Begnadigung des Kolumbus durch Ludwig XII.; Geschenke durch Ludwigs Untertanen; Akzeptieren durch Kolumbus – Kolumbus’ Rede an Las Casas: Gewissheit des nahenden Todes

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Appendix: Detaillierte Inhaltsübersichten

– negative Raumgestaltung; Kolumbus’ Ablehnung des Angebots des Umzugs in einen besseren Raum durch französische Höflinge; Positivieren des für seine Lage adäquaten Raums; Alleinlassen des Kolumbus; lediglich Vergrößern der Zelle – II.179: scheinbares Ableben des Kolumbus inmitten seiner besorgten Freunde; Wiederbelebungsversuche Isaures – II.180–191: letzter Rundgang des Kolumbus durch den Kerkertrakt – II.180: letzte Atemzüge; Rede des stoischen Kolumbus; Einschlafen der Freunde – II.181–188: Besichtigen weiterer Kerkerzellen – II.181: niedergeschlagene, leidende Gefangene – II.181: Apostrophe an die Richter, über die Gefangenen zu richten – II.181–185: Mitleid mit gewissen Straftätern – Siegelfälscher und Steuersünder (aufgrund des Lebensunterhalts straffällig Gewordene; Geiz der Großen) – wegen Diebstahls zum Tode verurteilte, unter Folter zum Geständnis gezwungene Schönheit – zum Tod verurteilte, aus dem Dienst scheiden wollende, schlecht bezahlte Soldaten – mit Geschwüren versehene, um Gnade und Tod bettelnde verkrüppelte Gefangene; Kolumbus’ Mitleid; Verurteilung aufgrund leichter Verdachtsmomente – für die angenehmere Einrichtung von Gefängnissen; Fehlbarkeit menschlicher Gesetze; für die Veränderung europäischer Sitten – Gefangener Valverde – Gerechtigkeit: Sichten des gefolterten Valverde im Gefängnis; durch Feind der Häresie angeklagt – Mitleid und Rettungsgedanken des Kolumbus – II.185–188: Besichtigen verschiedener Gräber – prunkvolle Grabstätten von Souveränen; zerfressen-modriger Zustand; Gräber etrurischer Könige (Medici, Päpste) in tiefster Dunkelheit – sterbliche Überreste des Vespucci: aus dem Sarg gefallen; Sich-Befreien aus dem Leichentuch; Rede an Kolumbus über seinen Sturz; etwaige Berechtigung des Schicksals: Eingestehen der Usurpation seines Ruhms – Kolumbus’ Sorgfalt und Kümmern um Vespucci – Rede des Vespucci: Entgehen des Feuertods durch fingierten Tod; Horror des Lebendig-Begraben-Werdens; Hunger und nahender Tod

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– Rede des weinenden Kolumbus: Sich-zu-erkennen-Geben als Kolumbus – Sterben des Vespucci in Kolumbus’ Armen – II.188–191: Besteigen des Gefängnisturms – Kolumbus’ Drang nach oben; Besteigen des Gefängnisturms nach zweimonatigem Kerkeraufenthalt – Blick über das Universum; Winzigkeit der Erde und Machtlosigkeit des einzelnen Menschen im göttlichen Machtbereich – Morgenröte, Abschiedsrede des gotterfüllten Kolumbus an die Natur; Freude der Seele trotz körperlicher Leiden – Erscheinen Isaures, Zurückgeleiten ins Sterbebett im untersten Kerker chant XXVI: ‘la mort’ – II.192–193: Kolumbus auf dem Sterbebett – II.192: Rückkehr; Kolumbus in todesähnlichem Schlaf in Isaures Armen – II.192–198: Kolumbus’ letzte Beichte – Las Casas’ Aufforderung zur Ablegung der letzten Beichte – Besuch der Könige Ludwig XII. und Ferdinand; Kolumbus als Bindeglied – Ludwigs XII.: Dank für Trost auf dem Schlachtfeld – Auftritt des Sohnes Diego; freudige Rede des Kolumbus; Anvertrauen des Sohnes in die Obhut Isaures – Kolumbus: Lob der ‘humanitas’ der beiden Könige – Las Casas’ Beichtappell; Kolumbus’ Absicht des Öffentlichmachens der bereits vor sich selbst angelegten Beichte – Kolumbus’ Beichte: – größter Fehler: seine Entdeckungsfahrt – zweiter Fehler: Handeln als politisch-öffentliches Werkzeug und Zurückdrängen der christlichen Werte – Las Casas: Lossprechen von den Sünden – II.198–199: Kolumbus’ Suche nach einer selbstlosen guten Tat; Auftritt eines dankbaren Anonymus (Vorstellen als beinahe Verdurstender im Gebiet der Neuen Welt; Nacherzählen des Wasserlieferns durch Kolumbus; Dank; Rede des Kolumbus: Höherwerten dieser guten Tat als seine Entdeckung der Neuen Welt) – II.200: Besuch des Papstes; Durchführen des Heiligen Abendmahls für Kolumbus

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Appendix: Detaillierte Inhaltsübersichten

– II.200: Eintreten Eonas sowie Zilnas und Tindals; Überfluten ihrer Insel und Schutzsuche in Europa; Präsentieren ihres gemeinsamen Sohnes – II.201: Kolumbus’ Lob der Versammelten; Lob der einfachen Bürger (Zizim mit Tocher; Zilna, Tindal, Eona; Diego; Rémond mit Familie; Isaure) – II.202: Rede des Ferdinand: künftige Ehren und Erbe für Kolumbus’ Sohn – II.202–205: Kolumbus’ letzte Wünsche – allgemein: ewige Trennung der beiden Welten – an Ferdinand: Zurückhalten der Spanier, ihrer Goldsucht, gegen das Auslöschen der Ureinwohner Amerikas und das Neubesiedeln – an Ludwig XII.: Heraushalten aus dem Kampf um Kolonien – an den Papst: Aufbau einer harmonischen ‘balance of powers’ in Europa an die Könige: Regieren im Sinne Gottes und des Gottesgnadentums

Laureaus L’Amérique découverte livre 1 47: Proöm (Entdeckung: Verdopplung der Welt; Kennenlernen von Brüdern; Hinzufügen eines vierten Kontinents; Leistung des Kolumbus; Zerreißen des Schleiers des Geheimnisses der Neuen Welt) 47–48: Musenanruf an Kolumbus (seine Entdeckerpersönlichkeit; kühnes Sprengen bisheriger Grenzen des menschlichen Geistes; göttlicher Status; Bitte um die Erhellung durch seinen aufklärerischen Geist) 48: Hintergrund des Kolumbus-Projekts: Glück der Spanier durch die Befriedung Granadas 48–49: Charakterisierung des Kolumbus – niedere Abstammung vs. seine hehre ‘gloire’ – zwischen aufgeklärtem Weisen und Seemann/Krieger – Verbindung zu portugiesischen Seemännern; Sonderstellung seines alles überragenden Projekts – Charakterzüge (Intelligenz, Ruhe, stoische Seele, ‘gloire’-Streben, Wissensdurst: Überwinden tradierter Vorurteile) – wissenschaftliche Einsichten (Erdrotation; Existenz/Erreichbarkeit der Antipoden; Kompass) – einziges Ziel: Einweihen der Bewohner der Alten Welt in die Existenz der Neuen Welt

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50–53: Gespräch zwischen Toscanelli und Kolumbus – 50: Toscanelli als Weiser und Genie auf dem Gebiet der Kosmographie – 50–51: Rede des Kolumbus – Betonen seiner Sonderstellung gegenüber dem Gros des Volkes – Erfragen von Hilfe beim ebenbürtigen Toscanelli – Anführen dreier Quellen für seine eigene Überzeugung von der Existenz der Neuen Welt (eigene Reiseerfahrung; Berichte anderer Matrosen; Indizien der Natur) – Wissenschaftliches (Kugelgestalt der Erde, notwendige Existenz der Antipoden) – fremde Zeugnisse (Vögel, Winde, auf dem Meer treibende, fruchttragende Äste) – eigene Zeugnisse (bearbeitetes Holzstück; Reiterstatue auf den Azoren) – 52: Rede des Toscanelli – Absicht zu motivieren, nicht zu belehren – Bestätigen der wissenschaftlichen Beobachtungen (Kugelgestalt, Erdrotation) – Liefern eigener Indizien (Auffinden von besonders hartem, in der Alten Welt so nicht bekanntem Holz; bearbeitetes Holzstück; Kanu) – 52: Freude des Kolumbus ob der Existenz der Neuen Welt – 52–53: Toscanelli über eine in Afrika angespülte, aus der Neuen Welt stammende Leiche – 53: Freude des Kolumbus; das Neue-Welt-Projekt als Zusammenspiel beider Genies 53–57: Kolumbus an den Königshöfen – Suche nach Unterstützung als größeres Problem als die Entdeckung selbst – achtjähriges vergebliches Suchen – Bruder Barthelemy in England; Kolumbus in Portugal – Portugal: schändlicher Versuch, Kolumbus zuvorzukommen und seine ‘gloire’ zu usurpieren – Frankreich/Spanien: noch zu wenig aufgeklärt – Genua: zu wenig Machtmittel – 55–57: erneuter Blick auf Spanien; Exkurs zur Geschichte Spaniens – Spaniens untergeordnete Rolle im Römischen Reich, dann unter Vandalen und Arabern – ca. 800 Jahre andauernder Kampf gegen die Araber bis zur Befreiung Granadas – Kolumbus’ Projekt als Beitrag zur Reichserweiterung imperialistischen ‘gloire’ Spaniens

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Appendix: Detaillierte Inhaltsübersichten

– bevorstehende Prüfung des Projekts durch Hernando Talavera (‘confesseur de la Reine’) 57–62: Ebene der ‘Götterhandlung’: ‘Nuit’, ‘Fanatisme’, ‘Ignorance’ – 57: ‘Nuit’ beunruhigt durch das aus Toscanellis Zimmer dringende Licht; Benachrichtigung von ‘Ignorance’ und ‘Fanatisme’ – 57: ‘Ignorance’: Wohnort in der Türkei – 57–58: ‘Fanatisme’ auf einem Gebirge herrschend über die Welt; ‘Fureur’ und ‘Meurtre’ an seiner Seite; Rede derselben; Blick auf die Inquisition – 58–60: ‘Ignorance’: beunruhigte Rede – Sorge um den Verlust ihres Machtbereichs; seit Anbeginn der Zeit großer Einfluss – historischer Abriss unter ihrer Perspektivierung – Urzeit: Bedecken der Welt durch dicken Schleier der drei großen Mächte (‘Nuit’/’Fanatisme‘/’Ignorance’) – Die ‘beaux arts’ als lichtbringende Gegenspieler; Besiegen derselben; Verbannen in die Antarktis. – Befreien der ‘beaux arts’ durch die ‘Felicité’; Heimisch-Machen in der Heißen Zone; Heimisch-Werden in den großräumigen Gebieten von Atlantis; Sintflut und Retablieren der ‘Ignorance’; ihr stückweises Zurückdrängen durch Inder, Chaldäer, Chinesen, Ägypter, Syrer, Karthager, Griechen, Römer, Perser; Zurückrufen der ‘Ignorance’ ins Gebiet der Syrer und Ägypter; dieser als nun einzig verbleibender Machtbereich neben der Neuen Welt – Klage – 60: Auftrag des ‘Fanatisme’ an die ‘Ignorance’, ihm zu folgen; ‘Fanatreisme’ und ‘Ignorance’ als Grund für das jahrelange Scheitern des Kolumbus an den Königshöfen; Folge: Bekämpfen des Kolumbus durch Neider, insbesondere Talavera am Spanischen Hofe – 61: Rede des von ‘Fanatisme’ und ‘Ingorance’ angestachelten Talavera: Diskreditierung des Projekts; Gegenargumente: Unwahrscheinlichkeit der Einsicht eines Einzigen in Dinge, die vorher niemand gesehen hat; Kolumbusprojekt als Perversion und Widerspruch gegen göttliche ‘Providentia’, etwas von Gott seit jeher Verstecktes zu suchen; ‘wissenschaftliche’ Argumente: Erde als Scheibe, ausschließlich Meer außerhalb Eurasiens – 61–62: Zustimmung Ferdinands aus Angst vor finanzieller Last und Risiko; Isabella gegen Talaveras Rede (klare Positionierung des Erzählers); Sieg der ‘Ignorance’ und des ‘Fanatisme’ 62: Kolumbus’ heldenhafte Konstanz und Geduld 62–63: Isabellas Traum (Kolumbus’ Vereinigung der Welten) Rückruf mithilfe des Perez/Santangel

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63–64: Abfahrt in Palos: Unterstützung des Projekts durch das Volk (als Mitfahrer oder Lieferanten von Nahrung und guten Wünschen); Aufregung und Furcht im Volk livre 2 71: Argonauten-Vergleich; deren Überbieten (Distanz; Unbekanntheit; besseres Goldenes Vlies) 71–72: Musenanruf (Kolumbus’ Fahrt als bisher großartigstes Thema zum Besingen; ‘gloire’-Streben des Erzählers analog zu Caesar, Xenophon, dem König von Preußen) 72–74: Katalog der Seemänner (Martín Alonso Pinzón, Francisco Martin Pinzón, Yanes Pinzón, Diego de Araña, Pedro Salcedo, Pierre Gutierrez) 74–86: Überfahrt – 74: Ausfall des Kompasses (Panik der Matrosen, Beschwichtigung durch den erfahrenen Kolumbus; und Kolumbus’ Onkel, Correa de Cunha) – 74–80: Correas Bericht über seine vorherigen Fahrten unter dem Portugiesen Diaz – 74–75: Sturm und Landung im Orient – 75–77: Entdeckung eines Gemäldes (Überbleibsel eines gestrandeten Schiffs): Beschreibung der abgebildeten Personifikationen (der alles vernichtende ‘Temps’ und der wiederbelebenden ‘Génie’) und Repräsentanten früherer Jahrhunderte; immerwährendes πάντα ῥεῖ, frühere kulturelle Höhepunkte – 77–78: Correa mit zwei seiner Kollegen in Afrika: Hitze; Durst; Sichten eines Panthers und eines zweiten ‘Monsters’ (= Dunkelhäutiger); deren Kampf – 78–79: Rückfahrt über die Azoren: karthagische Reiterstatue mit (gen Westen) ausgestreckter Hand; moderne Aufschrift à la savante statue – 79: kurze Unterbrechung: Kolumbus’ vielsagendes Grinsen – 79: Kolumbus’ Projekt als noch größere Herausforderung als die unter Diaz – 79–80: empfindsames Miterleben des Maurenrückzugs nach Granada; deren Trauer – 80–81: Kolumbus’ Bericht über die Azorenstatue: eigenhändiges Hinzufügen der Aufschrift; erbaut von karthagischen Weisen als Indiz für die Neue Welt im Westen; frühere Reisen – 81: Kolumbus’ stoischer Heldenmut – 82–86: unmittelbar vor der Landung; Meuterei – 82: Situationsbeschreibung (Verschwinden der Indizien für Landnähe: Baumstämme, Vögel); Rede der Soldaten (Meuterei wegen fehlender

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– – – –

Appendix: Detaillierte Inhaltsübersichten

Herausforderung/Chance auf ‘gloire’ trotz Kolumbus’ Beruhigung); nach acht Tagen Ausbruch des Aufstandes 82–83: vorwurfsvolle Rede des am wenigsten aufgebrachten Soldaten (Möglichkeit des Umkehrens; gefährliches, als nutzlose Illusion entlarvtes Projekt; Absprechen legitimer Befehlsgewalt; Aberkennen des Führerstatus bei der Weiterfahrt; Todesdrohung) 83–84: Kolumbus’ erste Rede (Appell an ‘honneur’, ‘gloire’, ‘virtus’; Möglichkeit, zwei der drei Schiffe umkehren zu lassen; Ziel: Erfüllen der Hoffnungen des spanischen Königs) 84: vorübergehend Ruhe; dann Generalaufstand unter der Allegorie der ‘Sédition’; Kolumbus’ Insignien: Ruder und Schwert 84–85: Kolumbus’ zweite Rede (erneuter Appell an die ‘gloire’, dreitägige letzte Frist) 85: Einlenken der Meuterer aufgrund der Standhaftigkeit des Kolumbus 85–86: Indizien für die Landnähe (Zweige, Wind, Vögel, Muscheln); kein Land in Sicht; Sorgen des ‘empfindsamen’ Kolumbus; Sichten eines ‘feu ambulant’; Bitte an Gutierres um Bestätigung; ‘Land-in-Sicht’-Ruf

livre 3 93–101: Guanahaní – 93: Sonnenaufgang; ambig konnotierte Landung: Zerstören des alles bedeckenden ‘voile’ – 94: Kolumbus’ Rede: selbstüberzeugte Rede über seine Entdeckerleistung; ‘gloire’ – 94–95: Inszenierung des Kolumbus als über der Natur stehender, gottähnlicher Mensch; Rede des Yanes Pinzón voller Ehrerbietung; Reue bezüglich der Meuterei – 95: Reaktion des Kolumbus: klare Distanzierung vom wechselhaften breiten Volk, das kurz zuvor noch eine Meuterei angezettelt hatte3 – 95: Feiern der nahenden Landung; Erschrecken der Ureinwohner und erstes Vorzeichen der zu erwartenden Greueltaten – 95–97: erste Landung: Kolumbus als Erster an Land; Flucht der Ureinwohner; die Gegend als ‘Locus amoenus’; Beobachten der andersartigen Neuen Welt (Vögel, Hominiden, Naturspezifika) – 98: Kolumbus: Errichten einer Säule samt spanischer Flagge; Spanier: Feiern

3 Entgegen Carocci (in AD 95, Anm. 134) bezieht sich diese Wechselhaftigkeit hier noch nicht auf deren zukünftige «infidélité», sondern schlicht auf die zuvor beschriebenen Morddrohungen gegenüber Kolumbus an Bord.

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– 98–99: Indigene: Annähern und Feierlaune beim Hören der spanischen Kriegstrompeten – 99–101: ambiges Bild der Indigenen unter Rückgriff auf die Abstammungstheorie: Ureinwohner als Brüder und zeitgleich interne Fokalisierung der Indigenen auf ihre kulturelle Unterlegenheit und Minderwertigkeit (Beschreibung ihrer mediokren Behausungen; Vergleich des Vorgehens der Ausstattung mit dem europäischer Kinder); Beschreibung ihrer Nahrungsmittel und Früchte 101–107: Ebene der ‘Götterhandlung’: ‘Avarice’ und ‘Fureur’ – 101: im Gefolge der Europäer: Landung von ‘Avarice’/‘Fureur’; deren Blick von den Kordilleren – 101–102: Verwunderung der personifizierten ‘Amérique’; Beklagen der von ‘Avarice‘ und den ‘Passions’ geleiteten Neuankömmlinge – 102–107: Traumerscheinung der ‘Amérique’ vor Kolumbus – 102: ‘Amérique’ vor Kolumbus; ihre Insignien: zerbrochener/s Ölzweig/ Füllhorn – 103–105: Rede der ‘Amérique’ – Kolumbus als barbarischer Übeltäter; Zerstörer des Friedens und Glücks – ‘Avarice’/‘Fureur’/‘Guerre’ als Kolumbus‘ Vorboten (!) in Amerika – Kolumbus als Verkehrer der Regeln ‘Amériques’: Durchkreuzen der Absicht, die unschuldigen Ureinwohner vor den Brüdern der Alten Welt zu schützen – Kolumbus als Unglücksbringer für beide Welten – negative Prophezeiung: Folgen der Entdeckung für Kolumbus; Anspielung auf... – ... Kolumbus’ vierte Reise und die fehlende Erlaubnis im Hafen von Santo Domingo zu landen – ... Kolumbus’ dritte Reise und seine In-Ketten-Legung durch Bobadilla – ... Kolumbus’ spätere Reue aufgrund des Undanks der Alten Welt – ... Vespuccis Usurpation des Ruhms seiner Reise und den Streit um den Verbleib seiner sterblichen Überreste – 106–107: Ausbleiben einer Veränderung; Reaktionen der Spanier – Blick auf Kolumbus: größere Bedeutung der vollbrachten Heldenleistung gegenüber möglicher Ungerechtigkeit und möglichem Undank – Blick auf die goldgierigen Spanier: Abreise in Richtung des vermeintlich goldreicheren Südens

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Appendix: Detaillierte Inhaltsübersichten

107–108: Apostrophe des Schattens von Heinrich dem Seefahrer – Heinrich als Wegbereiter des Kolumbus-Projekts (und Schleierlüftens); Annehmen einer großen Freude aufseiten Heinrichs beim Verfolgen des Kolumbusprojekts – typischer Nebeneffekt von Grabsteinen/Denkmälern: Definieren der den Tod überdauernden ‘gloire’ rein durch positive Errungenschaften, nicht durch etwaige schlimme Nebeneffekte; Verweis auf die Gefahr eines geschichtsverzerrenden, positiven Blicks auf die Entdeckung livre 4 115–119: Kuba – 115–116: Motivation des Kolumbus, die Neue Welt zu erleben; Beschreibung des paradiesischen Kuba; gierige Blicke der Spanier in Anbetracht der fruchtbaren Natur – 116–117: ängstliche Ureinwohner; Kolumbus’ Kanonenschüsse; erstmalige Lärmbedrohung Kubas; Flucht der Ureinwohner – 118: Rede des Alten Weisen von Kuba: Bitte um Mitleid für die unterlegenen Ureinwohner – 118–119: Gottähnlichkeit des Menschen der Aufklärung – 119: Kolumbus’ Versprechen, gewaltfrei vorzugehen; Absicht der Spanier in goldreichere Gegend vorzudringen – 119: Gespräch über Kuba(s Goldreichtum) – Alter Weiser (als Antwort auf Kolumbus Frage nach dem Reichtum der Insel): Reichtum an Früchten und Fauna – Zwischenfrage der Spanier nach Lokalisation der goldreichen Gegend – Antwort des Alten Weisen: Existenz weniger fruchtreicher, aber freigebiger und goldreicherer Inseln 119–125: weitere Insel – 119–120: überhastete Abfahrt des goldgierigen Martin Pinzón; Missachten der paradiesischen Natur der Gegend – 120: zwei Träume des goldkranken Pinzón (von einem goldreichen Flussufer; von Goldräubern) – 120–121: Kolumbus: ‘gloire’-Streben, Errichten eines Forts; Ureinwohner: zu spätes Durchschauen ihres Sklavenstatus – 121: Absicht des Kolumbus sowie der Spanier, Erfolge (Gold vs. ‘gloire’) nachhause zu melden – 121: Angebot des Kolumbus an einen Ureinwohner, ihn nach Europa zu begleiten – 122–123: Antwort des Ureinwohners: Zufriedenheit mit eigenem Lebensstil; gegen europäische ‘curiositas’; Lob ihrer ‘tranquillitas’ und ihrer Handlungen

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(Fischerei; Jagd); gegen freiheitsbeschneidende Kleidung; gegen überhebliche Einstellung des freien Verfügens über die Erde; gegen die Goldsuche, für das Genießen der Produkte der Natur – 123–125: Kolumbus’ Anerkennen der unerwarteten Rede; seine Einsicht in die Grenzen einer Entdeckungsfahrt; Vertagen weiterer Entdeckungen (Guyane, Mexiko, Peru; York-Town als Kriegsschauplatz des Unabhängigkeitskrieges George Washingtons unter Mithilfe der Franzosen) 125 (114–115):4 Abfahrt der spanischen Schiffe – mitfahrende Ureinwohner mit hoher Meinung von Spaniern und spanischem König – Freude der mitfahrenden Ureinwohner angesichts der mobilen Wohnstätten – Kolumbus’ freundliche Handlungen gegenüber den Mitfahrenden – mitfahrende Ureinwohner und Europäer als eine einzige Familie – Apostrophe Genuas als Geburtsort eines ‘weltenverbindenden’, völkervereinenden Helden livre 5 133–147: Überfahrt nach Spanien – Erzählung des mitfahrenden Ureinwohners Azara von seinen eigenen Erkundungsfahrten in der Neuen Welt – 133: Südamerika: Kopräsenz von Winter und Sommer, Hitze und Kälte, je nach Höhenlage – 134–136: Beschreibung der südamerikanischen Kordilleren (Anden); Lärm; Vulkanausbrüche; Goldminen; große Vogelart: der Kondor – 136–137: Reich der Inka; Macht über benachbarte Stämme durch ihre Weisheit; lobenswerte Gesellschaft – 137–140: Die Sonne als Gottheit; Sonnentempel Cuzcos mit Feueraltar; Wiedergabe der allmorgendlichen Rede des ersten ‘Pontife’ der Inka an die Sonne (Aretalogie der Sonne: verschiedene Intensität ihrer Strahlkraft über den Tag hinweg; Aufgaben der Sonne: Befruchten der Erde) – 140–145: Wiedergabe der Rede eines ‘Etranger’ – 140–143: über ein zweites Leben nach dem Tod – über leichenbewahrende Höhlen in den Bergen – Einhauchen eines zweiten Lebens in die konservierten Körper durch einen ‘Ministre’

4 Wegen des plötzlichen Abbruchs der Textausgabe referieren die Zahlen auf die Ausgabe von 1782, vgl. Kap. 2.3.4.

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Appendix: Detaillierte Inhaltsübersichten

– Wiedergabe der Rede des ‘Ministre’ (Möglichkeit eines zweiten Lebens mit dem Erfahrungsschatz des ersten Lebens) – Voraussetzungen für ein zweites Leben; Bescheidenheit – Vorteil des zweiten Lebens: Umkehren eines etwaigen negativen Lebensschicksals aus dem ersten Leben – 143–145: Beispiel: das im Leben unglückliche Liebespaar ‘Haran und Ziliée’ – seit Kindheit starke Verliebtheit der beiden; die Naturgewalt der Liebe; Harans starke Gefühle – Ziliées Eltern mit der Wahl eines anderen Partners für ihre Tochter – Qualen der unerfüllten Liebe; marternde Träume und Erinnerungen an den Wunschpartner – von ‘furor’ erfüllter Haran (physische Veränderungen, Lebensekel; Schicksalsverneinend) und tiefe, stumme Trauer Ziliées – Veränderung der Umstände durch den Tod – 146–147: Spuren früherer Bewohner des heutigen Inka-Reichs: riesige, verdorbene, böse Giganten und schwache, sanftmütige Albinos – Ermorden und Flucht einiger Albinos auf die Appalachen; Bitte um Gottes Hilfe – Vertreiben der Giganten durch göttliche Wesen; Flucht einiger Giganten nach Patagonien; dortiges Überdauern; dort auch noch einige Albinos livre 6 155: Apostrophe der Nachfolger des Kolumbus (Magellan, Drake, Anson, Gama, Cook, Nassau, Bougainville); deren Motivation durch Kolumbus’ Projekt 156: Kolumbus’ eilender Rückweg; Absicht, der Alten Welt die ruhmreiche Entdeckung zu berichten 156–158: Ebene der ‘Götterhandlung’: nach Amerika gefolgte ‘Ignorance’ und ‘Fanatisme’ – 156: Absicht der beiden Allegorien, Kolumbus’ Projekt in Vergessenheit zu bringen; ‘Amérique’ erblickt ‘Ignorance’ und ‘Fanatisme’ mit anderen Monstern auf den Anden – 156–158: Gespräch der ‘Fanatisme’ (verkleidet als Peruaner) mit dem Goldgott (Mammone) – Beschreibung des ‘Mammone’ – ‘Fanatisme’: Rede über das baldige Ende seines Reichtums durch habgierige Europäer – ‘Mammone’: erschreckte Reaktion

Laureaus L’Amérique découverte

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– ‘Fanatisme’: Vorschlag, die Europäer mitsamt dem entwendeten Gold zu ertränken – ‘Mammone’: Nachfragen bezüglich dem Einverständnis des Meergottes – ‘Fanatisme’: Vorschlag, metallreiche Vulkane unter dem Meer zu ausbrechen zu lassen – ‘Mammone’: Annahme des Vorschlags – 158–159: Kolumbus als Opfer einer heftigen, alle Elemente umfassenden Naturkatastrophe – 159: Rede der (als Furie verkleideten) ‘Ignorance’ gegenüber Kolumbus: Androhen des baldigen Vergessen-Werdens des auf ‘gloire’ abzielenden Kolumbusprojekts – 159: Kolumbus’ stoische Ruhe; heldenhaftes Motivieren seiner Leute – 159–160: Spanier: Eintreten für die ‘gloire’; mit Kampfeswillen bis zum Tod – 160–161: Kolumbus: Voranstellen der ‘gloire’ vor das eigene Leben; Einschließen einer Nachricht der Entdeckung der Neuen Welt in einen Holzkoffer zur Gewährleistung des Nachruhms – 161: beruhigte Spanier angesichts der Sicherstellung des Nachruhms; sich beruhigende See – 161: Rückzug der ‘Ignorance’ in den Osten; Rückzug des Mammone in den bald eroberten Potosí 162: Pinzóns Versuch, Kolumbus zuvorzukommen (überhastete Abfahrt; Absicht, Kolumbus die ‘gloire’ zu rauben; Kolumbus’ stoische, dem Fatum vertrauende Reaktion) 162–164: Portugal – Aufkommen eines zweiten Sturms und Notlandung des Kolumbus in Lissabon – Verbreiten der Botschaft der gelungenen Entdeckungsfahrt – Düpieren Portugals und Ablaufen als erste Entdeckermacht; Furcht vor einem Attentat – positives Gespräch mit dem portugiesischen König (Johann II.) 164–169: Spanien – 164–166: Palos – Landung (sämtliche Stadtbewohner im Hafen zum Empfang; Freude und Bewunderung für Kolumbus’ Taten; Kolumbus’ göttlicher Status; Kanonenschüsse) – Apostrophe der die Leistung zu würdigen wissenden Spanier; Kolumbus’ ‘gloire’ als Antrieb für eine ‘Aemulatio’, keine neidischen Reaktionen – Landung des Pinzón; Kolumbus als erster Überbringer der Nachricht – 166–167: Freude und Staunen der Spanier angesichts des von Kolumbus aus der Neuen Welt Mitgebrachten; Kolumbus’ übermenschliche Sonderstellung

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Appendix: Detaillierte Inhaltsübersichten

– 167: Kolumbus’ stoische Reaktion auf entgegengebrachte Ehrenbezeugungen (Adiaphora) – 167–168: Rede des Kolumbus an die spanischen Fürsten: Entdeckungsfahrt als größtes Ereignis; Gold und andere Produkte als Tribut für die Welt; Lob Spaniens als erstes Reich mit der Macht über beide Welten; Kolumbus’ Hoffnung auf ein friedliches, glückspendendes Erbe seiner Weltvereinigung – 169: lobende Worte Isabellas; Ferdinands Argwohn gegenüber Kolumbus’ geringer Herkunft; seine Ehrenbezeugungen, der durch Ferdinands verhaltene Umsetzung bzw. Zugestehen zugestandener Ehren eingeleitete Streit um Kolumbus Erbe; Kolumbus’ Rehabilitierung nach dem Tod als ‘sang illustre’

Peramás’ De invento Novo Orbe Buch 1 1.1–6: Proöm (Thema: Kolumbus als Überbringer der Eucharistie in die Neue Welt) und Musenanruf (Bitte des ‘vates’ um Begleitung durch die Muse) 1.7–49a: göttliches Eingreifen: Initiieren des Kolumbusprojekts; seine Zurückweisung – 1.7–12: zur Zeit der Belagerung Granadas: göttliches Bestärken des Kolumbus in seinem Bestreben der Suche neuer Herrschaftsräume, des Zuführens der Barbaren zur römischen Kirche, des Erhellens verborgener Gegenden – 1.13–17: Versprechen des Kolumbus an den König, ihm im Falle der Bereitstellung von Schiffen und Männern Triumphe und ein neues Reich jenseits der bekannten Welt zu eröffnen – 1.18–21: vorläufiges Zögern des Königs ob der Größe des Unterfangens – 1.22–48: Exkurs: Kolumbus’ gottgegebene Veranlagung – 1.22–25a: Begabung; literarische Studien – 1.25b–41: Erfahrung als Seemann und nautische Fähigkeiten – 1.42–44: Seemann seit frühester Jugend – 1.45–48: innere Stärke – 1.49a: endgültige Zurückweisung durch den König 1.49b–246: göttliches Eingreifen: Abwenden der Fehlentscheidung durch einen Engel – 1.49b–55: Eingreifen des Engels zum Abwenden ewiger Qualen der Ureinwohner durch den Teufel – 1.56–64: Erscheinen des Engels vor der schwankenden und Gott um Hilfe bittenden Isabella im Traum – 1.65–240: Überzeugungsarbeit des Engels vor Isabella/Prophetie

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– 1.65–78: Ermunterung zum Umdenken: Betonen des göttlichen Willens hinter dem Projekt; Vermeiden der Entdeckung der Neuen Welt durch die Engländer – 1.79–84a: Herausstreichen Spaniens als würdigen Entdeckers der Neuen Welt ob seiner Leistung in Granada – 1.84b–120: Beschreibung Amerikas – 1.84b–92: Namensgebung; größter Erdteil im Vergleich mit der bisher bekannten Welt – 1.93–103: Aufbau der geographischen Zonen; Fruchtbarkeit der Äquatorialgegend, Vielzahl der unzivilisierten Bewohner – 1.104–108: Apostrophe an die unwissenden Menschen, Verunglimpfung deren Irrglaubens, der Westen sei ob der Hitze unbewohnbar und jenseits von Cádiz gebe es nichts – 1.109–120: Klima, Flora, Naturgüter (der Brasilianer, der Guaraní) – 1.121–161: Anrede der ‘Dia Fides’ – künftiges Verhalten in der Neuen Welt – 1.121–122: Etablieren christlicher Sitten und Gebäude in knapp 100 Jahren – 1.123–128: Handeln der Priester (Befreien der Ureinwohner aus ihren Höhlen, Hausbau) – 1.129–148: Handeln der Ureinwohner (entstehende Freude an züchtiger Ehe, wachsendes Bewusstsein für das Rechte und Gesetze; kein Drangsalieren von Unschuldigen; funktionierende soziale Gemeinschaft; besonderer Fokus auf dem Tempelbau; Verwendung des geschürften Goldes für Spanien und Gott) – 1.149–161: Handeln der indigenen Jugend (Ackerbau und Jagd für den Eigenbedarf; züchtiger Zeitvertreib: Betätigung mit Pfeil, Bogen, Speer; Begleiten der Festtagsriten mit Trommeln, kein Reigentanz und Weingenuss) – 1.162–230: Anrede Isabellas – 1.162–171: Zukunftsweisung (1): großer Ruhm für Spanien durch das beschriebene Reich im Osten in der Äquatorialebene, speziell durch die ‘Lily of Quito’ (Ecuador) – 1.172–206: Zukunftsweisung (2): Befreien der Neuen Welt vom Aberglauben – 1.172: Zweiteilung des (weiteren) Reichs – 1.173–189: Mexiko im Norden: intelligente Völker, doch Kämpfe und vom Teufel geleiteter Aberglaube mit Menschenopfern – 1.190–200: Peru im Süden: übertriebener, dummer, aber mitunter bewundernswerter Sonnenkult; Beschreibung des Sonnentempels

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Appendix: Detaillierte Inhaltsübersichten

– 1.201–206: Entsenden von Priestern (Tempelbau, Altäre) in die vom Teufel beherrschten beiden Reichsteile – 1.207–230: Zukunftsweisung (3): Rolle des Golds – 1.207–210: Erinnerung, die ersten Edelmetalle Gott darzubringen; Gold als gern von der Neuen Welt bezahlter Tribut für missionarische Leistungen (Verwendung für Altäre) – 1.211–221: Gleichnis: Hervorbringen von geschenkebringenden ‘heiligen Königen’ analog zu den Heiligen Drei Königen der Alten Welt – 1.222–230: das Auf-Sich-Nehmen von gefährlichen Herausforderungen als Voraussetzung für das Unterfangen; deren Kompensation durch Edelmetall – 1.231–237: letztes Gebot: Mitgeben von Getreide und Weinreben zum Durchführen der Eucharistie im Falle fehlender Ressourcen vor Ort – 1.238–240: Ankündigen des Zurücklassens von Palmzweigen zur Bestätigung der ‘Realität’ des Traums; Übergeben von Palmzweigen – 1.241–246: kurze Antwort Isabellas: Aufforderung, den Schiffen als Anführer voranzugehen 1.247–283: Überzeugungsarbeit Isabellas gegenüber Ferdinand – 1.247–272: Rede Isabellas an Ferdinand – 1.247–252a: epische Beschreibung des Tagesanbruchs; Rede Isabellas inmitten der tagenden Versammlung – 1.252b–256: kritische Worte, Forderung materieller Unterstützung für Kolumbus; Gott als Urheber der Mission – 1.257–266:5 Granada als Basis der neuen Triumphe; Fortsetzen des Bekämpfens unchristlicher Riten auch außerhalb Europas – 1.267–272: günstige geographische Ausgangslage Spaniens für die Mission; Vorhandensein ehrenwerter Kämpfer, einzig fehlender Wille des Königs – 1.273–283: Nachzeichnen der tiefen Erschütterung des Königs samt impliziertem Meinungswechsel durch das Gleichnis eines bei Nacht furchtsamen Mannes, der bei Tag neuen Mut gewinnt 1.284–354: Überzeugungsarbeit des Kolumbus – 1.284–287: Kolumbus’ doppelte Frontstellung: Überzeugungsarbeit bei den ‘ministri aulae’ und den ‘ministri templi’ – 1.288–290: Belehrung der ‘ministri templi’ – 1.291–351: Rede des Kolumbus an die ‘ministri aulae’

5 Hingewiesen sei auf die falsche Nummerierung, da die Beschriftung ‘260’ dem Vers 261 beigegeben wurde.

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– 1.291–295: Hinlenken des Interesses der Diener auf das große neue Herrschaftsgebiet und das Gold der Neuen Welt – 1.296–306: Argumentieren für das Verlassen der heimischen Gefilde; Betonung des göttlichen Auftrags; eigenes Herausstellen als Vorreiter: Bestehen des Plans seit über 25 Jahren – 1.307–319: Herbeisehnen des seekundigen (1481 verstorbenen) Königs Alfons V. von Portugal, der sein Unterfangen sofort bewilligt hätte – 1.320–325: Unverständnis über das bisherige Ausschlagen der Mission durch Ferdinand – 1.326–335: Betonung der Existenz der Neuen Welt im Westen in Abhebung von den gen Osten fahrenden Portugiesen (und den in Indien entdeckten Schätzen) – 1.336–351: wissenschaftlicher Exkurs über die Verteilung von Wasser und Land auf der Welt und die Notwendigkeit der Existenz von Inseln/Festland im Westen – 1.352–354: Befürworten der Mission durch die ‘aulae ministri’ aufgrund von Kolumbus’ Überzeugungsarbeit und seines wissenschaftlichen Exkurses 1.355–359: anaphorischer Rückgriff auf die Prophezeiung des Engels und die Überzeugungsarbeit Isabellas 1.360–375: positives Resultat der Überzeugungsarbeit – 1.360–362: Vorfreude des Königs, Entsprechen aller geäußerten Wünsche – 1.363–375: Freude und Dankrede des Kolumbus; Zusicherung materieller Belohnungen, des Triumphs sowie unsterblicher Ehren durch Gottes Hand aufgrund der Verbreitung des Glaubens 1.376–642: Vorbereiten und Füllen der Schiffe, Einstimmung auf die Abfahrt – 1.376–425: äußeres Schiffsequipment – 1.376–382a: Ablassen und Beschreibung dreier riesiger Schiffe – 1.382b–410: Ekphrasis: in Holz geritzte Bilder auf den Schiffen – 1.386–391a: Raub von Waren aus Spanien durch die Phönizier – 1.391b–402: Raub von Waren durch die Mauren; spanischer Gegenangriff – 1.403–407: Geschehnisse um eine ‘urbs insignis‘ am Baetis, Zerschlagung einer Schiffsbrücke durch Fernandus6 – 1.408–410: Eroberung Granadas – 1.411–425: Ausrüstung und eigenhändige Inspektion der Schiffe

6 ‘Baetis’ ist der frühere Name des heutigen Guadalquivir. Es handelt sich um eine Anspielung auf die erfolgreiche sechzehnmonatige Belagerung Sevillas unter Ferdinand III. und den Teilsieg gegen die Mauren von 1247/48.

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Appendix: Detaillierte Inhaltsübersichten

– 1.426–489: inneres Schiffsequipment (Kolumbus’ Arche Noah) – 1.426–432: Nachsinnen über das Mitführen natürlicher Rohstoffe in die anders geartete Neue Welt – 1.433–457: Zusammenscharen von allerhand Natur-Produkten und Tieren der Alten in die Neue Welt (Ölzweige, Äpfel, Granatäpfel, Ambrosia, Stiere, Pferde, Schweine, Schafe, Ziegen, Vögel) – 1.458–473: Rede des Kolumbus – 1.458–463: Betonung des für die Eucharistie unabdingbaren Getreides und Weins – 1.464–473: Betonung der Unterstützung des in der Alten Welt bereits gegenwärtigen Jesus in der Neuen Welt – 1.474–489: Einlagern von Weinreblingen und Getreide (wie bei früheren Expeditionen) – 1.490–569: Besatzung und christliche Riten – 1.490–510: Herbeirufen eines alten, weisen Eremiten ‘vom Blute des Boil’ vom Heiligen Berg in der Gegend der Laletaner7 durch König Ferdinand – 1.511–542: Rede des Ferdinand an den Eremiten – 1.511–524: Umreißen der von Gott unterstützten christlichen Mission – 1.525–532: Aufgabenstellung an den Eremiten: Erleuchten der Gegenden mit himmlischem Licht; Zerstören der heidnischen und Einrichten christlicher Altäre und Riten; Herabrufen Jesu mittels der Eucharistie – 1.533–538: analoger päpstlicher Auftrag – 1.539–542: geringer Stellenwert der Fruchtbarkeit und des Goldes im Gegensatz zur Missionierung – 1.543–550:8 Antwort des Eremiten: Gottverehrung durch die Indigenen als missionarischer Lohn – 1.551–557: Aufmachen zum Abfahrtsort; Folgen der zwölfköpfigen Priesterschar – 1.558–569: Besteigen der Schiffe, Einladen von Altären, Statuen, wertvollen christlichen Gegenständen aus dem Hof Isabellas – 1.570–573: epische Tagesumschreibung des 3. August – 1.574–592 Kolumbus’ letzte gottesdienstliche Handlung vor dem Aufbruch – 1.574–584: Unsicherheit des demütigen Kolumbus

7 Gemeint ist der Montserrat in der ‘Hispania Tarraconensis’. Boil war Teilnehmer der zweiten Reise des Kolumbus. 8 Fälschlicherweise wird Vers 550 in der frühneuzeitlichen Textausgabe mit der Zahl ‘500’ versehen.

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– 1.585–592: Anwachsen von ‘Spes’, ‘Fides’, ‘Amor’ in Kolumbus’ Innern durch Vergebung der Sünden und Aufnahme Jesu Christi in sich durch die Eucharistie – 1.593–609: Rede des Kolumbus – 1.593–601: Gebet an Jesus: Bitte um Beistand für den Hinweg sowie zur Erfüllung des göttlichen Auftrags; Versprechen der Opfergabe und des Altarbaus aus gefundenem Gold – 1.602–609: Rede an die Mitfahrer: Unterstützung durch Jesus aus dem Inneren – 1.610–612: Zustimmung der ‘Hispani Heroes’, Aufsuchen der Schiffe – 1.613–628a: Katalog der die Schiffe besteigenden Seemänner:9 Pinzonides, (Xeresinus) Arana, Salcedo aus Hispalis, Rascon, ‘Rodrigui soboles’ aus Triana, Quinterus, Villa, Turrias, Durius, Byas, Lagus, Sorias, Astures, ‘alii’ aus Navarra – 1.628b–642: Die Flotte unter Jesu Schutz – 1.628b–635: Jesus am Kreuz als Flagge für das Schiff – 1.636–637: Rede an Mitfahrer: sorgenfreie Fahrt unter Jesu Führung – 1.638–642: Gebet an Jesus: Bitte um Hilfe und Unversehrtheit 1.643–663: Abfahrt – 1.643–651: Ablegen der Schiffe – 1.643–644: Ablegen durch Kolumbus – 1.645–647: geschäftiges Treiben – 1.648–651: Kolumbus’ (unter dem Lärm kaum auszumachende) Befehle – 1.652–663: Reaktion der zurückgebliebenen Bürger (Blick auf Mütter: Wunschgebet an Gott und Maria; Enttäuschung über Verschwinden und zunehmende Winde; Verweilen bis zum Verschwinden der Schiffe)

9 Eine ausführliche Liste der Besatzungsmitglieder der ersten Reise findet sich bei Alicia B. Gould: Nueva lista documentada de los tripulantes de Colón en 1492. Boletín de la Real Academia de la Historia 86 (1925), S. 491–532. Peramás nennt hier zuvörderst die Gebrüder Martín Alonso und Vicente Yáñez Pinzón, Diego de Arana aus Cordoba (nahe Xeréz), Diego de Salcedo aus Sevilla (= ‘Hispalis’) (vgl. «Salcédo» in INC 402), Gómez Rascón, Cristóbal Quintero (der Besitzer der Pinta), Pedro de Villa – alle aufgeführt bei Gould (ebda., passim). Mit ‘Turrias’ könnte Bartolome oder Luis de Torres gemeint sein; Gleiches gilt für ‘Sorias’, der für Miguel oder Pedro de Soria stehen kann; die ‘Rodrigui soboles’ dürfte sich auf Rodrigo de Triana – auch bekannt unter dem Namen Juan Rodríguez Bermejo – beziehen. Schwieriger zuzuordnen sind die Namen ‘Durius’, ‘Byas’ (= Bartolome Biues?) und ‘Lagus’. Mit ziemlicher Sicherheit wird es sich bei ‘Durius’ um Luis Durea handeln, der wie Kolumbus’ Bruder (vgl. «Germanus», DINO 1.621) erst Teilnehmer der dritten Reise ist. Namentlich wurden die Matrosen noch in keiner vergleichbaren Liste wie bei Gould aufgedröselt.

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Appendix: Detaillierte Inhaltsübersichten

1.664–810: Zwischenhalt auf La Gomera, einer der ‘insulae felices’ – 1.664–665: Wehen des Boreas, Reaktion des Kolumbus; Verlassen des Südwestens Spaniens, der Säulen des Herkules, des benachbarten Libyens – 1.670–677: Exkurs über die ‘insulae felices’ – 1.670–673: Fruchtbarkeit (Wein und Getreide) – 1.674–677: erst in jüngerer Zeit wiederentdeckte Gegend; den Ahnen bekannt – 1.678–684: Verbreiten der Nachricht der Landung auf La Gomera durch die ‘vaga fama’ – 1.685–693: freudiges Annähern eines Alten Weisen an die Europäer (Alethes, der noch über ‘facta memoranda’ der Vorfahren Bescheid weiß), deren Aufnahme in sein Haus; Anrede – 1.694–774: Rede des Alethes – 1.694–696: Überzeugung, dass Kolumbus’ Mission göttliche Unterstützung genießt (gerade aufgrund vorausgehender Landungen auf La Gomera) – 1.697–732: Erzählung von der mythischen Landung der Karthager auf La Gomera – 1.697–715: Landung der Karthager und deren Bericht von ihrer Fahrt gen Westen, von ihrer Landung auf einer nicht näher bestimmten großen Insel ohne nähere Erkundung der Gegend; Anführen zweier Meinungen bezüglich der Gegend im Westen: a) Identifikation als wasserumspülte Insel mit unbestellten Äckern, b) als Zugang zu einem reich besiedelten, weiten Festland – 1.716–720: in Aussicht gestellte Rückkehr der Karthager in den Westen nach Befragung des Senats in der Heimat; aber keine Wiederkehr – 1.721–731: Zeigen wundersamer phönizischer Karten des mythischen Königs Agenor, die Kolumbus den Weg gen Westen erleichtern sollen – 1.732–767: Bericht von seither durchgeführten Annäherungsfahrten durch karthagische Seefahrer – 1.732–754: unter Hanno dem Seefahrer Entlangsegeln an der Atlantikküste Afrikas; Beschreibung der Fauna – 1.755–767: Vorbeifahren der Juden an den ‘insulae felices’ (Verbund des Königs Salomon mit dem phönizischen König Hiram von Tyros zur Beschaffung des Goldes aus Tharsis); Freude der anthropomorphisierten Natur La Gomeras über die Nähe der jüdischen Schiffe – 1.768–774: Überzeugung, dass Kolumbus’ Unternehmen göttliche Unterstützung genießt und erfolgsversprechender ist als das der Karthager oder der Juden – 1.775–810: Dank des Kolumbus; Geschenkübergabe, kulturelle Belehrung – 1.775–791: Spiegel; Dädalus-Gleichnis

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– 1.792–795: Belehrung über astronomisch-geographische Situierung – 1.796–810: Übergabe einer Räderuhr – 1.796–801: Erleichtern von Handelbeziehungen, Abbilden von Himmelsläufen durch den Ablauf von Stunden, Tagen, Monaten – 1.802–807: Beschreibung des Inneren einer Uhr – 1.808–810: Beschreibung des Äußeren einer Uhr Buch 2 – 2.1–16: Kolumbus’ Anrede der Ältesten Gomeras (Bitte um materielle Unterstützung seines Unternehmens, die noch größer ausfallen müsse als die seinerzeit gegenüber den Karthagern); freiwillige Gaben durch die Ältesten – 2.17–24a: Kolumbus’ Nachbessern und Überprüfung der Schiffe; Nachfüllen der Vorräte – 2.24b–34: Kolumbus’ Rede an die Seemänner; Betonung des Ziels des Entdeckens der Neuen Welt 2.35–200: Auf dem Weg in die Neue Welt – 2.35–55: Weiterfahrt – 2.35–41: Kolumbus: Befehl zur Abfahrt, Weisung des Weges, Naturbeobachtungen – 2.42–55: göttliches Eingreifen: ungesehene Aktivitäten des Engels: Motivation der Seemänner, Lenken des Kolumbus und der Flotte, Gewährleisten des korrekten Funktionierens des Kompasses, Sicherstellen eines sicheren Seeweges – 2.56–77: erster Sichtkontakt – 2.56–72: Atlantis: Ausschauhalten der Seefahrer nach Land, Sichten der Ruinen von Atlantis, kein Land in Sicht – 2.73–77: verwunderter Blick der Sirenen (‘nova monstra’) – 2.78–200: kurz vor der Landung: zwischen Hoffnung und Furcht – 2.78–136: Meuterei ob der Länge des Seeweges – 2.78–103: nach 30 Tagen auf See beginnender Widerwille der Matrosen; exemplarische Klagerede (Hirngespinst der Neuen Welt; Betonen der Widernatürlichkeit des Vorhabens; Versagen der Unterstützung gegenüber Kolumbus; Unterbreiten der Alternative umzukehren bzw. einen anderen Anführer zu wählen) – 2.104–136: dezidierte Erwiderung durch Kolumbus; Kolumbus als Fels in der Brandung (Vorwurf mangelnder ‘virtus’; Betonen des Ruhms für Europa und die Nachwelt; Betonung der göttlichen Unterstützung; hoffnungsvolle Erwartung der Kuriosa der Neuen Welt als angemessener Ansporn: Pfau, Phönix, Kranich, Wasserschlange, Gans, pfeiltragender Inder, geflügelte Fische, Zentaur, Wolf)

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Appendix: Detaillierte Inhaltsübersichten

– 2.137–140: Sorgen in dunkel-dräuender Nacht – 2.137–140: negative Gedanken bei Kolumbus und seinen Matrosen – 2.141–157: göttliches Eingreifen: leuchtende Erscheinung des Engels; tröstende Rede an Kolumbus; Prophezeiung des Festlandes in vier Tagen; freudige Wiedergabe der Prophezeiung durch Kolumbus an seine Matrosen – 2.158–172: Angst und Hoffnung in der dritten Nacht; suchende Blicke des Kolumbus; Gebet an Gott: Wunsch nach dem Erscheinen der Neuen Welt – 2.173–189: göttliches Eingreifen: Lichtzeichen – 2.173–189: Sichten einer Flamme und gewisser Umrisse durch Kolumbus; Nachfrage des Kolumbus an einen Nachtwächter; dessen Bestätigung – 2.190–195: Lichtbewegung; Vergleich mit der Lichtbewegung einer bei Nacht das Zimmer wechselnden, webenden Frau – 2.196–200: Rede des Kolumbus: Gewissheit einer von Menschen bewohnten Insel; Licht als Wegweiser – 2.201–246: Annäherung an die ‘insula parva Lucaium’ (h. Lucayische Inseln10) 10 Zwar benennen die Karten von Abraham Ortelius (Cartographe. Culiacanae, Americae regionis, descriptio: Hispaniolae, Cubae, aliarumque insularum circumiacientium, delineatio. Antwerpen: Ch. Plantin 1579) und von Theodore de Bry Leod (Occidentalis Americae partis, vel carum regionum quas Christophorus Columbus primum detexit tabula chorographicae multorum auctorum scriptis, praesertim vero ex Hieronymi Benzoni... historia, conflata et in aes incisa. Frankfurt am Main: J. Feyrabend 1594) jeweils eine separate Insel mit der Bezeichnung ‘Iucayo’ bzw. ‘Lucaya’; aber der Inselname ‘Lucaium’ dürfte wohl eher als Exemplum bzw. als Sammelbegriff für die ‘Lucaiae insulae’ stehen, die heute v. a. zum Staatsgebiet der Bahamas gehören. In der Tat sind die Lucayan-Indianer die ersten Einwohner gewesen, auf die Kolumbus traf, als er auf der Insel Guanahani (San Salvador) landete. Die genaue Identifizierung der Insel spielt im Textverlauf keine große Rolle; auch wirkt das folgende katalogartige Aufzählen relativ frei gewählt: Die Insel ‘Isuma’ (DINO 2.362) dürfte am ehesten ebenso als Sammelbegriff für eine heute als ‘Exuma-Cays’ bezeichnete Inselgruppe stehen. Während die ‘Testudo’ (DINO 2.364) als kleine Insel nordwestlich von Hispaniola und ganz in der Nähe Kubas noch gut in die im Text nachgezeichnete Linie ‘Lucaium – Isuma – Kuba’ passt (die in etwa dem Reiseweg von Kolumbus’ erster Reise entspricht), ist der dazwischenliegende Einbau zweier weiterer Inseln durchaus verwunderlich: Es ist von ‘Antigoe’ die Rede (h. Antigua; Bei Jean-Baptiste Bourguignon d’Anville: Carte des isles de l’Amérique et de plusieurs pays de terre ferme autour du golfe de Mexique.... Paris: s. n. 1731 wird die zwischen St. Barthémely und Guadeloupe liegende Insel «Antigoa» genannt; sie wurde von Kolumbus in seiner zweiten Reise besucht) und von ‘Becoia’ (h. Bequia; bei Anville: «Becouia»), die sich noch weiter südlich ganz in der Nähe der Antilleninsel Grenada befindet und höchstens im Rahmen der vierten Reise gesehen werden konnte. Damit bricht der Text nicht nur historisch gesehen aus der Reiseroute der ersten Kolumbusreise

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– 2.201–202: epische Beschreibung des Sonnenaufgangs – 2.203–211: Kolumbus: fröhlich-beschwingtes Wecken der unter Albträumen leidenden Matrosen; Befehle an die Matrosen – 2.212–226: Matrosen: Aufwachen; Begierde, Land zu sehen; Sichten der Erde durch Rodriguius; Begrüßungsruf an das Festland; Annähern an das Ufer; auktorialer Kommentar zum Lob des Kolumbus durch die Matrosen – 2.227–237: biblische Hintergrundfolie: Gleichnis des Auszugs des Volkes Israel unter Moses/Josua: vom Widerwillen hin zu neuem Mut und Freudentaumel beim Erreichen des Gelobten Landes – 2.238–246: Kolumbus’ Rede: Ablehnen des Lobes für sich; Betonung der göttlichen Hilfe bei der Annäherung an das Land; Annäherung des göttlichen Lichts an die Neue Welt – 2.247–249: Matrosen: festliche Begrüßung der neuen Gegend durch Kanonenschüsse – 2.250–263: Ureinwohner: tierähnliche, unstete Lebensweise ohne Gesetze; kriegerische Art und unstete Libido der Männer – 2.264–271: Matrosen: lärmende Annäherung an die Küste 2.272–355: Lucaium – 2.272–275: Matrosen: erste Handlungen (Küssen des Bodens, Sichten der Gegend) – 2.276–280: Kolumbus: erste Handlung: Aufstellen des Kreuzes – 2.281–324: Gebet des Kolumbus – 2.281–303: Gebet an Gott – 2.281–291: Apostrophe, Aretalogie, erster Wunsch: Bewegen der Indigenen zur Gottesverehrung – 2.292–303: Bitte um Kraft für das spanische Königshaus für das Missionieren und Zivilisieren der Indigenen und für das Anfügen des Landes an die Welt – 2.304–317: Prophetie: Künden von goldenen Tempeln und Altären, von der Niederkunft Marias und huldigenden Ureinwohnern

heraus, sondern die Reihenfolge der Erwähnung verdunkelt schlechthin eine sinnvolle Route, bei der diese Inseln erblickt werden können. Spannend ist, nebenbei bemerkt, dass die Karte von Theodore de Bry Leod eine äußerst eigenwillige Anordnung der Antilleninseln zeigt und in die Nähe von ‘Antiga’ ein zweites ‘Guanahaní’ setzt. Es trägt die Unterschrift: «In hanc Insulam prima Navigatione appulit Kolumbus», nicht im ebenso verzeichneten ‘Guanahany’ in der Bahamasregion.

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Appendix: Detaillierte Inhaltsübersichten

– 2.318–324: Gebet an den spanischen Patron Boanergus, Sohn des Zebedäus:11 Bitte um Beistand zur Herstellung des Friedens und um das Anführen der Spanierzugs – 2.325–343: Kolumbus: Sichten der verlassenen, nicht bebauten Gegend; Rede: geplante Abfahrt; Aufschieben des missionarischen Handelns auf Lucaium bis zum Ablegen der Scheu der Ureinwohner; Absicht, den ersten Tempel in fruchtbarer Gegend zu errichten 2.344–355: Proöm zur zweiten Werkhälfte: Anruf an Jesus 2.356–390a: Weiterfahrt: Suche nach einer würdigen Insel – 2.356–364: Meiden der Insel der Kannibalen, Vorbeifahren an den Inseln Isuma, Becoia, Antigoe, Testudo – 2.365–376a: Sonderstellung Kubas durch seine Größe – 2.376b–383: Freude am Entlangfahren an Jamayca und den Anthylia – 2.384–390a: Kolumbus: in Gedanken bei Isabella; Entscheidung, die Insel Haiti nach Isabella zu benennen 2.390b–3.309: Haiti – 2.390b–398: Landung und Namensnennung als erste Handlung – 2.399–402a: Kolumbus: Rede an die Matrosen; Aufforderung, die Grundlegung des Reichs zu zelebrieren – 2.402b–439: Handlungen der Matrosen – 2.402b–407: Feuermachen durch Arana – 2.408–410: ein Teil: Vorbereiten von Brot und Wein – 2.411–423: ein Teil: Jagd mit Schusswaffen auf Tapire; Flucht diverser Tiere – 2.424–433: Tapirexkurs: Könige des Reichs aufgrund ihrer Fähigkeit, Gewässer zu entgiften – 2.434–439: Töten, Schlachten, Zubereiten von 18 Tapiren zur Sättigung der Mannschaft – 2.440–445: Kolumbus: Auftrag an zehn Kundschafter auszuschwärmen und Bericht zu erstatten – 2.446–472: Kundschafter: Ausschwärmen und Beschreibung der Gegend (Flüsse ‘Ozama’ und ‘Neiva’, Flora und Fauna; Verfolgen der Ureinwohner auf Bärenjagd; Beschreibung der Ureinwohner (fehlende ‘pietas’, fehlende Achtung vor der Ehe, Nomadentum) – 2.473–497: Kolumbus: Freilassen der heimischen Tiere, deren Ausschwärmen

11 Gemeint ist Santiago, d. h. der Heilige Jakob, Bruder des Johannes; letzterer wird in DINO 3.279 mit demselben Patronymikon umschrieben.

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– 2.498–500: Kolumbus: Vorantreiben des Baus von Gebäuden – 2.501–689: Wettkämpfe – 2.501–521: Kolumbus: Zusammenrufen der Edelsten; Auftrag, bei Morgengrauen Spiele zu veranstalten samt Schießwettbewerben und Stierkämpfen – 2.522–527: Auftreten der Teilnehmer, Bereitstellen der Preise – 2.528–603: Kanonenwettschießen auf einen vierfarbigen Rundschild zwischen Vasco,12 Guardia und Turrius in schattigem Tal; Vorbereitung des Schießpulvers durch drei spanische Gehilfen (zuständig für Schwefel, Hanf/Zellulose, Natron); Schuss des Vasco in den äußeren grünen Bereich, des Guardia in den zentrumsnahen grauen, des Turrius mit weniger Schwefel genau ins Zentrum; Preisverteilung – 2.604–689: Lanzenwurf mit Schauwettkampf zwischen den Gebrüdern Pinzón mit je fünf Mitstreitern (Valcarcel, Miniana, Teranus, Salafranca, Orozcus vs. Arellanus, Villena, Davalus, Uson, Ibar): Versuch, einen an einem Faden zwischen zwei Lorbeerbäumen aufgehängten Ring durch Lanzenwürfe zu treffen; Sieg des jüngeren Pinzón – 2.690–777: Stierkämpfe13 – 2.690–729: erster Stierkampf – 2.690–705: Auftrag an Daza: Holen des Leitstiers aus der Herde des Virbius; Einführung der drei Torreros (Sorias, Durius, Byas); Gleichnis – 2.706–729: Ausrüstung: Spieße und Tücher; Sorias: Durchbohren des Stiers; Byas: Triezen durch Einsatz des Tuchs; Durius: lärmendes Aufsich-aufmerksam-Machen und Flucht auf eine Platane; Abgang des verwundeten Stiers in den Wald – 2.730–770: zweiter Stierkampf – 2.730–740a: Heranlocken des neuen Stiers durch den auf dem Boden liegenden Sorias: Aufdrücken seiner in Pech getauchten Füßen auf sein Maul – 2.740b–750a: Herabspringen des Durius von der Platane und Flucht – 2.750b–770: Byas: Überwältigen des Stiers durch Erdrosseln – 2.771–777: Reaktion des Publikums, Preisverteilung

12 Vasco Núñez de Balboa, der inspiriert durch Kolumbus 1501 die Südsee entdeckt? 13 Der «lengthy bullfight», von dem Maya Feile Tomes (News of a Hitherto Unknown NeoLatin Columbus Epic, Part II, S. 249) spricht, besteht aus zwei Teilen.

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Appendix: Detaillierte Inhaltsübersichten

Buch 3 – 3.1–92: Kirchenbau – 3.1–8: Voranschreiten der Bauvorhaben; Prävalenz des Kirchenbaus – 3.9–20: Kirchenbau an erhabener Position; Erzgießen der Spanier – 3.21–74: Beschreibung verschiedener, teils aus Bronze gegossener14 und mit Edelmetall und Edelsteinen verzierter bildhafter Darstellungen – 3.21–28: ‘Fides’, ‘Spes’, ‘Amor’ – 3.29–36: Bibelväter (Malachia, Jesaia), die das neue Reich im Westen vorausgesagt haben – 3.37–44: weitere biblische Persönlichkeiten15 – 3.37–39a: Jeremia – 3.39b–40: Kephas – 3.41–42: Daniel – 3.43–44: David – 3.45–74: geflügelter Wagen in Anlehnung an Hesekiels biblischen Bericht (Gott, Wagenlenker, geflügelter Stier, Löwe, Engel, Maria und Jesus, an der Jakobsleiter agierende Engel; Forderung, den christlichen Kult in die Neue Welt zu bringen) – 3.90–92: schattenspendende Porticus – 3.93–309: erste Eucharistie unter Boilades; Boilades’ Prophetien – 3.93–116: Durchführen der Eucharistie – 3.93–97: Heranholen der Utensilien für das Heilige Sakrament – 3.98–116: Beschreibung der Eucharistie tags darauf unter Boilades – 3.117–153: Reaktion der Unterweltgötter auf die Eucharistie – 3.117–119: Beben der Erde nach der ersten Eucharistie – 3.120–136: Seufzen und Klagen der Unterweltgötter – 3.120–127: Unverständnis, weshalb sie auch in der Neuen Welt nun von Gott vertrieben werden

14 Etwas unklar ist das genaue Material der Darstellungen. Die Überleitung erfolgt vom Erzgießen zum Gestalten der ersten Statuen (der Himmelsbewohner) aus Bronze und deren Ausstattung durch verschiedene Utensilien. Im späteren Textverlauf erfährt man rückwirkend, dass dies aber nicht auf die Fertigungsweise des Malachia-Bildnisses zutrifft («effigie[s] vario [...] de marmore», DINO 3.159). Die Beschreibung des Himmelswagens und die folgende realitätsnahe Bildbeschreibung samt direkter Rede (DINO 3.84–89) lässt am ehesten an Reliefdarstellungen denken. 15 Im Text werden diese lediglich in Form von kleinen Rätseln umschrieben.

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– 3.128–136: Unverständnis, weshalb es nicht erlaubt war, die gegen die Unterweltgötter in die Neue Welt Segelnden in einen Seesturm zu verwickeln – 3.137–147: Erläuterung der Klagen durch Boilades: deren Enttäuschung über den Verlust des Machtbereichs; Ablösung der weichenden Unterweltgötter durch Gottes Ankunft; Aufforderung, weitere Tempel zu bauen und mit der Christianisierung der Neuen Welt fortzufahren – 3.148–153: Rede des einwilligenden Kolumbus: Betonung der bereits geleisteten Stadtgründung; Anpeilen weiterer Regionen – 3.154–230: prophetische Rede des Boilades – 3.154–186: Prophezeiung unter Rekurs auf Malachia – 3.154–156: Forcieren einer sofortigen Weiterfahrt unter Berufung auf Gott und seinen ‘afflatus vates’ Malachia – 3.157–186: Paraphrase der biblischen Prophezeiung durch Malachia – 3.157–176: Ankündigung des Rauchopfers und der Eucharistie – 3.177–186: Vision einer weltumspannenden, ununterbrochenen Opferhandlung für Gott bei Tage – 3.187–230: Prophezeiung unter Rekurs auf das biblische Gleichnis vom Großen Gastmahl: Ureinwohner als gottgewollte Empfänger der Eucharistie – 3.231–276: Rekurs auf vormalige Beschlüsse Gottes nach einer Klage der Himmelsgottheiten – 3.231–256: Klage der Himmelsgottheiten vor Gott über den Zustand der Neuen Welt – 3.231–239: vor der Herrschaft des Teufels: Rolle der Engel sowie der ‘Pietas’, ‘Pudor’, ‘Fides’ – 3.240–256: zur Zeit der Herrschaft des Teufels: lasterhafter Zustand – 3.240–247: mentale Verführung der Ureinwohner – 3.248–252: Durchzug durch die Laster (1): Ehebruch – 3.253–256: Durchzug durch die Laster (2): Sakrilegien – 3.257–262: Klage der göttlichen Diener vor Gott – 3.263–276: Trostrede des einsichtigen Gottes: Betonen des festen Plans, den armen Ureinwohnern zur geplanten Zeit zu helfen; Auftrag an die Gottheiten, den Spaniern bei der weiteren Fahrt in die Neue Welt (Mexiko, Peru, Chile, Paraguay) beizustehen – 3.277–299: Vorbereitung der Gottheiten zur Rückeroberung der Neuen Welt – 3.277–278a: Zusammenrufen der spanischen Flotte

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Appendix: Detaillierte Inhaltsübersichten

– 3.278b–299: Erscheinen des Götterboten vor Johannes;16 Deutung durch Boilades im Sinne der Missionierung der Neuen Welt – 3.300–309: Kolumbus’ Antwort: Forcieren der Weiterfahrt des Großteils der Mannschaft 3.310–349: Weiterfahrt – 3.310–312: Wegweisung durch geflügelte Fische – 3.313–336: Besichtigen weiterer Inseln17 – 3.313–314: auf der einen Seite: Alpha und Omega (h. Berg an der Ostspitze Kubas) – 3.315–317: auf der anderen Seite: Martinica (h. Martinique) und namenlose Inseln – 3.318–322: Tabago (h. Tobago): nackte Bewohner, Kakaopflanze – 3.323–326: Portus Dis (h. Puerto Rico), Mons Serratus (h. Montserrat) – 3.327–333: Margaris (h. Isla Margarita): Muschelsuche; Jagd auf wilde Tiere, Tapire, Vögel – 3.334–336: Trias (h. Trinidad): dreifaches Gebet an den drei Bergen – 3.337–349: Kursänderung zum Schutz vor der Hitze; Sichten von Ureinwohnern: Korkkähne; Flucht derselben 3.350–618: Portus Bellus (h. Portobelo am Isthmus von Panama) – 3.350–354: Landung am Portus Bellus – 3.355–362: Boilades: Bau eines Altars – 3.363–381: Boilades: Durchführung der Eucharistie, Herabrufen Gottes; Rede des Priesters über Gottes Anwesenheit, freudige Reaktion der Natur

16 Johannes (vgl. das Patronymikon ‘Zebbedæa proles’ in DINO 3.279) ist auf der griechischen Insel Patmos im Exil (vgl. ‘Pathmicus exul’, DINO 3.279) als er das Buch der Offenbarung verfasst. Problematisch ist die in DINO 3.279 geöffnete, jedoch nicht mehr geschlossene Klammer in der Textausgabe. Syntaktisch und sinngemäß muss sie in DINO 3.280 nach «rebus» geschlossen werden. 17 Maya Feile Tomes: News of a Hitherto Unknown Neo-Latin Columbus Epic, Part II, S. 250, bezeichnet den Weg als «albeit ahistorical[...]». Dennoch ist der Weg hier eindeutiger nachzuzeichnen als der Weg nach Haiti: Ausgehend von Haiti mit Blick auf Kuba gen Westen folgen Martinique und Tobago. Puerto Rico und Montserrat werden als auf dem Weg dorthin («Illac», DINO 3.323) passierte Inseln nachgeschoben, es folgen Marguerite und Trinidad. Es handelt sich doch auch hier insgesamt eher um ungenaues ‘Namedropping’, das angefügte «Longius evectus» (DINO 3.334) passt kaum zu den nahe zusammenliegenden Inseln Tobago und Margarita. Auch der Weg nach dem Umkehren («deflectere cursum | Imperat», DINO 3.338 f.) bis nach Portobelo ist geographisch gesehen sehr weit, ohne dass ein längerer Weg beschrieben würde. Historisch gesehen wurde Trinidad in Kolumbus’ dritter Reise, Portobelo erst in der vierten Reise besucht.

Peramás’ De invento Novo Orbe

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– 3.382–407: Kolumbus’ Blick über den Kontinent – 3.382–389: Kolumbus: Besteigung des Bergs und Blick über das Land; Spiegeleinsatz – 3.390–395: Matrosen: Freude über das Erreichen des Festlands als Grenze des Atlantik – 3.396–402: Kolumbus: Anrede an Gott; Erreichen des Festlands als sein größtes Ziel – 3.403–407: Kolumbus: Rede an die Matrosen, sofortige Meldung an das Königshaus – 3.408–618: Die Nymphe Ameria – 3.408–411: Erscheinen Amerias – 3.412–419: Beschreibung Amerias – 3.420–427: Begrüßen der Spanier, Zeigen des Gebiets; mangelnde Kommunikation – 3.428–585: optischer Hilfsanker: Vorhalten eines Schildes; Schild-Ekphrasis – 3.428–435a: Beschreibung der Verarbeitung des Schilds – 3.435b–441: Grobeinteilung analog zur Geographie: Mittelbereich zwischen den Meeren: Isthmus von Panama, Mexiko im Norden, Peru im Süden – 3.442–446: allgemeine Auffälligkeit: ‘pax aurea’ und Ruhe auf der See; mythisches Bild des Nestbaus der Halcyones – 3.447–497: Mexiko – 3.447–457: Königreich Motezumas: den römischen Städten (an Bauten) ebenbürtige ‘urbs Mexicea’; viele kleine Kanäle und Häfen; kleine Garteninseln, ewiger Frühling – 3.458–463: Fischen der Einwohner unmittelbar an den Wohnhäusern – 3.464–467: Federkleidung; unzählige Völker – 3.468–472: der kriegerische Stamm der Tlaxcalteken (‘gens Tlascala’) – 3.473–487: andere Seite des Schilds: Vulkane bei Nacht – 3.473–480: Beschreibung von Vulkanausbrüchen – 3.481–487: vier Begründungen für Vulkanismus – 3.488–497: Gold und Quecksilber in der Erde: Anlocken der Ureinwohner – 3.498–519: Peru – 3.498–505: Hitze, Ruhe, Fruchtbarkeit; künftige Hauptstadt Lima und Fluss Rimach (h. Rímac) – 3.506–512: Region des Silbers: Silberberg Potosí; Silber unter der Erde; von Natur aus vor dem Menschen versteckt

580

Appendix: Detaillierte Inhaltsübersichten

– 3.513–519: Einsturz von Silberhöhlen – 3.520–572: Amazonas-Region – 3.520–522: Darstellung des stärksten Flusses der Welt am Rande des Schilds – 3.523–531: Beschreibung der dargestellten Personifikation des Amazonas – 3.532–539: der Hauptfluss Amerikas; Katalog der Nebenflüsse Iza, Maderius (h. Madeira), Niger (h. Negro), Napus (h. Napo), Guallaga (h. Huallaga) – 3.540–549: Fokus auf der Fauna (Ziege, Reh, Wolf, Lama, Vikunja, Affe, Tapir, Löwen-/Bärenart, Tiger, Panther, Guanaco) – 3.550–555: Katalog der Stämme – 3.556–560: Bewaffnung, Kampfweise der Stämme (Nah- und Fernkampf) – 3.561–572: Schlangenexkurs (Hydra, Aspis) – 3.573–585: Schildmitte: die von Kolumbus erbaute Kirche samt Götterfiguren – 3.586–593: Amerias Herabwerfen des Schilds; Aufzeigen des Weges ins Landesinnere – 3.594–595: Unsicherheit der Spanier – 3.596–604: Deutung des Kolumbus: die Haltung Amerias als positivfriedenversprechend – 3.605–618: Bestätigung der Deutung durch Verhaltensänderung bei den Ureinwohnern – 3.605–609: von früherer Flucht zu freiwilligem Annähern an die Spanier – 3.610–612: Beschenken mit Nahrungsmitteln – 3.613–618: Vergleich des Annäherungsverhaltens der Ureinwohner mit dem der Vögel 3.619–695: Haiti – 3.619–624: Beschluss, nach Haiti zurückzufahren; Besuch der dort Verbliebenen – 3.625–627: Freude der in Haiti Verbliebenen – 3.628–630: Freude des Kolumbus beim Anblick der wachsenden Stadt – 3.631–641: Kirche – 3.631–641: Beschreibung des Interieurs – 3.642–649: die Kirche als Hort des Friedens: Ende der kriegerischen Tätigkeit des Teufels, sein geschlagener Rückzug – 3.650–651: Kolumbus: Gebet auf dem Boden

Peramás’ De invento Novo Orbe

581

– 3.652–673: Kolumbus: Rede an seine Leute im Stehen:18 Vergeltung des materiellen Einsatzes für den Kirchenbau durch Gott: zuerst Eucharistie, dann Ausschwärmen zur freudigen Erkundung des Reichtums des Landes – 3.674–684a: Kolumbus: besondere Bedeutung des Acker- und Weinbaus; Rede an Verweilende – 3.684b–695: Abschiedsrede des Kolumbus an Verweilende: Informationen über die geplante Rückfahrt, seine Rückkehr; insbesondere Auftrag der Verteidigung der neuen Stadt und des Friedens 3.696–700: zweimonatige Rückfahrt auf dem kürzesten Weg 3.701–786: Barcelona – 3.701–708: Landung im heutigen Barcelona; großes Interesse der Spanier vor Ort – 3.709–736: Reaktion des Pizarrus und des Cortesius – 3.709–728: starkes Interesse der beiden jungen Männer an Kolumbus’ Fahrt; ihre Kriegsleidenschaft – 3.729–736: Apostrophe der beiden künftigen Seefahrerhelden; Vorschau auf deren Eroberung von Peru und Mexiko; Ermahnung, von Gewalt Abstand zu nehmen. – 3.737–768: Kolumbus vor dem König – 3.737–747: Kurzbericht über Klima, Flora, Fauna, Reichtümer – 3.748–779: Rede des Kolumbus an den König – 3.748–758: Vorzeigen erster Goldfunde und Vorschlag/Auftrag, sie Gott zu schenken – 3.759–764: zweiter Auftrag: Vorantreiben der christlichen Missionierung – 3.765–768: Entschuldigen seiner anmaßenden Aufträge – 3.769–779: Präsentieren einer kleinen Auswahl eingeschiffter Ureinwohner, an denen christlicher Unterricht exemplarisch durchgeführt und die dann zurückgeschickt werden soll – 3.780–786: Zoom auf den sich im Hintergrund für (den zu Beginn des Epos verlachten) Kolumbus einsetzenden Engel (göttliches Eingreifen)

18 Es verwundert etwas, dass im Text kein Ortswechsel angesprochen wird. Man muss wohl aber doch davon ausgehen, dass Kolumbus seine Rede außerhalb der Kirche hält.

582

Appendix: Detaillierte Inhaltsübersichten

Überblick über die Gleichnisse in Peramás’ De invento Novo Orbe Stelle

Gleichnis

Entsprechung in der Erzählung

.– ( V.)

die Heiligen drei Könige der Alten Welt

Amerikas Bereitstellung neuer Heiliger Könige bzw. neuen Goldes als vierter Kontinent

.– ( V.)

ein bei Nacht furchtsamer, bei Tag neuen Mut gewinnender Mann

Meinungswandel des Königs

.– (, V.)

das Aufbrechen eines erfolgreichen Handelsmanns mit heimischen Waren

Füllen der ‘Arche Kolumbus‘

.– ( V.)

die im Skythenland bereits umgesetzte Eucharistie

Vorbereitungen für die Eucharistie in der Neuen Welt

.– ( V.)

Schneidearbeit eines Handwerkers

das Auf und Ab des Montserrat

.– (, V.)

zwölf für die Welt erwählte Apostel

zwölf von Jesus erwählte Jünger für die Neue Welt

.– ( V.)

Dädalus’ Flucht aus Kreta

Kolumbus’ technisches Knowhow

.– Fels in der Brandung ( V.)

Kolumbus’ standhaftes Verhalten bei der Meuterei

.– (, V.)

Bewegungen der auf Lucaium erblickten Flamme

Sternbewegungen

.– Bewegungen einer nachts webenden (, V.) Frau

Bewegungen der erblickten Fackel

.– Freudenschreie für Josua (nach seiner ( V.) erfolgreichen Übernahme des MosesProjekts der Auswanderung aus Ägypten)

Freudenschreie für Kolumbus

.– (, V.)

Kubas herausragende Größe inmitten der anderen Inseln

Herausragen von Elefanten unter Lämmern

.– Feierlichkeiten und Wettkämpfe in Rom ( V.) anlässlich einer Reichserweiterung in Rom

Feier und Wettkampf auf dem eroberten Haiti

.– das Fließen des Mäander ( V.)

das Hin und Her der Waffen beim Schauwettkampf

Überblick über die Gleichnisse in Peramás’ De invento Novo Orbe

583

(fortgesetzt) Stelle

Gleichnis

Entsprechung in der Erzählung

.– ein in eine Höhle eindringender Tiger (, V.) wird von den dort hausenden Löwen attackiert

der im Zirkus befindliche Stier wird von drei Torreros attackiert

.– ( V.)

die Jägerin Harpalice

die Nymphe Ameria

.– ( V.)

schrittweises, freundschaftliches Annähern von Vögeln untereinander

freundschaftliches Annähern der Bewohner von Portobelo an die Spanier

Literaturverzeichnis Primärliteratur/Kommentare/Kartenmaterial Anville, Jean-Baptiste Bourguignon d’: Carte des isles de l’Amérique et de plusieurs pays de terre ferme autour du golfe de Mexique …. Paris: s. n. 1731. (Online zugänglich unter: https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b8468654t; letzter Zugriff am 26. Dezember 2020). Bacon, Sir Francis: The New Atlantis. In: Bacon. His Writings and his Philosophy. Bd. 1. Herausgegeben von George L. Craik. London: Knight 1846, S. 109–139. Bailly, Jean-Sylvain: Lettres sur l’Atlantide de Platon et sur l’ancienne histoire de l’Asie. London: Elmesly/Paris: Debure 1779. (Online zugänglich unter: http://gallica.bnf.fr/ark:/ 12148/bpt6k922701; letzter Zugriff am 26. Dezember 2020). Berger, Klaus: Die Apokalypse des Johannes. Kommentar. Freiburg/Basel/Wien: Herder 2017. Bourgeois, Nicolas Louis: Christophe Colomb, ou l’Amérique découverte. Paris: Moutard 1773. Bry Leod, Theodore de: Occidentalis Americae partis, vel carum regionum quas Christophorus Columbus primum detexit tabula chorographicae multorum auctorum scriptis, praesertim vero ex Hieronymi Benzoni … historia, conflata et in aes incisa. Frankfurt am Main: J. Feyrabend 1594. (Online zugänglich unter: https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/ btv1b8446639z letzter Zugriff am 26. Dezember 2020). Bussières, Ioannes de S.J.: De Rhea Liberata poemation, in tres libros distinctum. Lyon: Devenet 1655. (Online zugänglich unter: https://play.google.com/store/books/details/ Ioannis_de_Bussieres_e_Societate_Iesu_De_Rhea_libe?id=gee5qNjVtvsC&hl=da; letzter Zugriff am 26. Dezember 2020). Calmet, Augustin: Commentaire littéral sur tous les livres de l’ancien et du nouveau testament. Les trois premiers livres des rois. Paris: Emery 1711. Carli, Gian R.: Delle Lettere americane. Parte prima. Cosmopoli 1780. — : Delle Lettere americane. Parte seconda. Cosmopoli 1780. — : Delle Lettere americane. Parte terza. Cremona 1783. Carrara, Ubertino S.J.: Columbus. Carmen epicum (1715). Herausgegeben von Florian Schaffenrath. Berlin: Weidler Buchverlag 2006. Charlevoix, Pierre-François-Xavier de: Histoire et Description générale de la Nouvelle France, avec le Journal historique d’un Voyage fait par ordre du Roi dans l’Amérique Septentrionale. Paris: Ganeau 1744. Choisy, François Timoléon de: Journal Du voyage de Siam fait en 1685 & 1686. Paris: MabreCramoisy 1687. Colomb, Fernando: Christophe Colomb raconté par son fils. Herausgegeben von Eugène Muller/Jacques Heers. Paris: Perrin 1986. Colombo, Cristoforo: La lettera della scoperta: Febbraio-Marzo 1493 nelle versioni spagnola, toscana e latina con il Cantare di Giuliano Dati. Herausgegeben von Luciano Formisano. Neapel: Liguori 1992. Columbus, Christopher: The «Libro de las profecías». Herausgegeben von Delno C. West/ August Kling. Gainesville: University of Florida Press 1991. Diderot, Denis: Œuvres complètes de Diderot: revues sur les éditions originales comprenant ce qui a été publié à diverses époques. Etude sur Diderot et le mouvement philosophique au XVIIIe siècle. Bd. 2. Herausgegeben von J. Assézat et M. Tourneux. Paris: Garnier 1875.

https://doi.org/10.1515/9783110732405-006

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Personenverzeichnis Acosta, Joaquín 48, 91–92, 103–105, 111, 418, 461 Augustinus 43, 48, 80–81, 174, 200, 202, 373, 380 Bacon, Sir Francis 48, 57, 110–111, 141, 475 Bailly, Jean-Sylvain 293, 445–456, 470, 475, 480 Barlow, Joel 124, 322–323, 455 Bourgeois, Nicolas-Louis 2, 20, 31, 87, 122–125, 132–133, 140–177, 189, 212, 214, 220, 237, 294, 322, 337, 340, 345, 356, 370, 391–440, 444, 454, 458, 465, 467, 472, 476 Buffon, Georges-Luis Leclerc de 100, 141, 177, 272, 293, 327, 441–442, 446, 448, 459, 461–462, 470, 480 Carli, Gian-Rinaldo 37, 448, 475 Carrara, Ubertino 115, 118, 121, 141, 213, 336, 344, 347–348, 351, 356, 360, 363–364, 375, 417–418, 420, 454, 456, 464, 467 Charlevoix, Pierre François Xavier de 27, 129, 161, 443 Chateaubriand, François-René de 9, 12, 196–198, 243, 318, 478 Cortés, Hernán 17, 25, 30, 73, 79, 109, 122, 185–186, 322, 326, 331, 335, 374 Diderot, Denis 18, 36–37, 100, 140, 201, 204, 206, 211, 285, 327, 329–330, 436–437, 444 Du Boccage, Anne-Marie 2, 19, 29, 31, 36, 87, 122–141, 147, 150–151, 159–161, 177, 189, 195, 212, 220, 229, 294, 298, 315–317, 322, 335, 344–345, 356, 369, 376, 390–392, 394–395, 397, 399, 405, 418, 450, 454, 464–467, 472, 476

https://doi.org/10.1515/9783110732405-007

Ferdinand II. (Aragón) 63, 70, 73, 77, 79, 81, 221, 237, 290, 339–340, 375, 400–401, 403 Fracastoro, Girolamo 107–108, 114, 121, 145, 161, 374, 400, 424, 434 Gambara, Lorenzo 114, 120–121, 154, 219, 238, 336, 347, 351, 356, 369, 374, 389, 393, 399–400, 407, 421 Gessner, Salomon 19, 127, 184, 195 Graffigny, Françoise de 28, 207–210, 212, 293, 440, 449, 478 Heinrich der Seefahrer 58, 65, 312 Homer 9, 11, 18, 47, 117, 122, 144–145, 263, 347, 457, 469, 474, 479 Isabella I. (Kastilien) 58–60, 63–64, 70, 72–73, 76–77, 81, 162, 235, 241, 305, 339–340, 379, 395, 401–402 Kolumbus – Bartolomeo 186, 222, 269, 277, 442–443 – Fernando 40, 44, 54–55, 66, 69, 82, 87, 94, 109, 189, 299, 304, 314, 356, 418, 475 Lafitau, Joseph-François 46, 99, 327, 435, 447, 456–457, 470, 480 Lahontan, Baron de 35–36, 100, 140, 202 Las Casas, Bartolomé de 21, 26, 44, 46–47, 50–51, 54–55, 73, 91, 95, 104, 109, 192, 194, 217–218, 226–228, 230–231, 244, 266, 280, 326, 458, 475 Laureau, Pierre 2, 12, 31, 57, 59–60, 62, 87, 124, 133, 140, 147, 165, 168, 189, 198, 229, 294, 335, 344, 356–357, 366, 369, 390, 394, 404, 458–459, 465–467, 472–473, 476

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Personenverzeichnis

Léry, Jean de 93, 273 Lesuire, Robert-Martin 2, 4, 11, 14, 18, 31, 35–36, 40, 62, 70, 103, 111, 124, 132–133, 138, 140, 147, 161, 174, 178, 294–295, 300–304, 306, 308, 310–311, 315–319, 321–322, 332, 335, 337, 344, 356, 360, 369, 375, 390–392, 394, 404, 420, 424, 442, 458–459, 465, 467–469, 472–474, 476, 479 Lucretius Carus, Titus 288, 319, 366, 386, 395 MacPherson, James 18, 275, 293 Manco-Capac 263, 429, 434, 440–442 Marmontel, Jean-François 11–19, 29–30, 35–36, 40, 123, 126, 128, 140, 192, 198, 212, 214, 216, 218, 225–233, 243, 245, 254, 266, 277, 291, 293, 295, 309, 318, 322, 335, 392, 449, 458, 471, 474, 478 Martire d’Anghiera, Pietro 25, 44, 50, 109 Mickl, Johann Christian Alois 115, 119–121, 238, 344–345, 356, 363, 374, 395, 401, 405, 419–420, 465 Milton, John 9, 11, 15, 19, 127, 129, 135, 151, 176, 225 Ovidius Naso, Publius 43, 46, 145, 183, 208, 342–343, 345 Pauw, Cornelis de 27, 36–38, 102, 293, 327, 329–330, 332, 441, 448–449, 470, 474, 480 Peramás, José Manuel 2, 4–5, 60, 74–75, 79–80, 83–84, 86, 88, 93, 96, 101, 105, 116, 152, 158, 161, 164, 172–174, 220, 246, 319, 401–405, 411, 421, 423, 456, 463, 465, 467, 469, 472–473, 476, 478 Pinzón, Martín-Alonso 23, 62, 303 Pizarro, Francisco 30, 185–186, 225–231, 265, 278, 322, 374 Placcius, Vincentius 115, 121, 220, 233, 237, 300–301, 307, 344, 356, 361, 399–402, 406, 423–424, 434, 456, 460, 467

Platon 51, 104–105, 107, 110–111, 179, 326–327, 333–334, 408, 410, 418, 421, 428, 430, 467, 469, 474–475 Ramusio, Giovanni Battista 104, 107, 400 Raynal, Abbé de 37–38, 101, 327, 330–333, 437, 474 Robertson, William 38, 184, 330–332, 404, 448, 474 Ronsard, Pierre de 8, 424 Rousseau, Jean-Jacques 28, 37, 103, 139, 141, 207, 327, 443 Seneca, Lucius Annaeus 1, 47, 57, 80, 174, 203–204, 227, 266–267, 286, 288, 358, 463 Stella, Giulio Cesare 115, 118, 121, 219, 336, 344–345, 348–349, 351–352, 354, 356, 362–364, 368, 375, 390, 405, 419–420, 465 The Question – A Brief History and Examination of M 51 Toscanelli, Paolo dal Pozzo 50, 53, 57, 168, 300, 405, 458, 475 Valverde, Vicente de 252 Valverde, Vicente de 214, 221–222, 228, 241, 243, 266, 268, 277, 279, 285–286, 291, 293, 457 Vergilius Maro, Publius 9, 11, 46–47, 117, 119, 122, 129, 134–135, 145, 175, 220, 303, 319, 321, 335–336, 343–347, 349, 351, 354, 357, 366, 368, 373, 383, 400, 457, 468, 477, 479 Vespucci, Amerigo 23–24, 26, 30, 40, 42, 44, 51, 156, 268, 285 Voltaire 10, 28–29, 36, 99–100, 125, 127–129, 133–134, 138, 141, 144–145, 178–179, 204, 269, 293, 327–329, 445–447, 454, 458, 463–465, 470–471, 474, 480

Stichwortverzeichnis Abstammungstheorie 5, 88–112, 116, 177, 189, 235, 250, 324, 399, 406–407, 418–419, 424, 453, 456–457, 460–461, 464, 466, 469, 475, 479 Aeneas 94, 141, 172, 175, 221, 229, 303, 366–368, 374, 383, 407 Ägypten 78, 105–106, 137, 155, 157, 179, 257, 348–349, 359, 390–392, 431, 437–438, 441, 447, 451–453 Alter Weiser 134, 136, 141, 150, 191–192, 199, 212, 243, 254, 278, 338, 413–415, 417, 428, 437, 450–451, 461, 465 Arche 101, 246, 348, 368–372, 375, 386, 389, 416, 457, 479 Atlantis 5, 49, 88, 188, 233, 262–263, 270, 272, 277–278, 289, 291, 293, 356, 403, 406, 469, 471, 473, 475, 479 Bon sauvage 26, 93, 119, 140, 150, 327, 333 Chronotopos 7, 118, 222, 234–235, 239–240, 243–244, 246–247, 251, 257, 274, 291, 337, 342, 344–345, 354, 376, 415, 418, 426, 477 Concours 32, 34, 36, 38, 471, 474 Degeneration 36–38, 46, 101, 103, 263–264, 433, 440–441, 450, 455, 457, 470, 480 Deismus 99, 174, 193, 211, 216, 292, 465 Eleuthere 186, 188, 191, 193, 208, 243, 269–270, 272, 277–280, 291–292, 404, 425, 428–429, 433–434, 442–443, 451 Empfindsamkeit 31, 181, 183, 187, 189, 197–199, 218, 230, 235–238, 242, 250, 266, 268, 270, 283, 285, 287, 289–290, 292–293, 295, 306, 317, 321, 323, 468, 472, 477 Enklave 63, 217–218, 226, 230, 234, 257, 269, 279–280, 292–293, 394, 426, 429, 433–434, 441 Epikur 200, 287–288, 334 Ereignisregion 7, 245, 247, 250, 252, 256–257, 262, 272, 278, 369, 394, 409, 442 https://doi.org/10.1515/9783110732405-008

Eschatologie 47, 68–69, 71–72, 74–75, 78, 80–81, 84, 87–88, 321, 326, 339, 342, 349, 359, 375, 378, 387–388, 390, 469, 475, 479 Eucharistie 329, 336, 341, 345, 350, 370, 375, 378, 380–381, 389, 395, 401 Fanatismus 38, 136, 140, 213–216, 230, 232, 256, 291, 293, 330, 332, 390, 392, 454, 457 Figurenraum 6, 347, 387 Fortschritt(soptimismus) 4, 35, 133, 139, 151, 165, 170, 172–173, 176, 302, 316, 323, 417, 455, 476 Franziskaner 59, 73, 75–79, 326, 337, 389 Gelobtes Land 92, 348–353, 355, 390, 392, 479 Genesis 151–152, 161–162, 171, 389, 460, 466 Gleichnis 7, 113, 118, 190, 346–347, 349, 351–352, 354–355, 358, 361–362, 366, 369, 371, 374–375, 381–384, 386, 388, 421, 465 Gold 33–34, 52, 60–61, 78, 84, 87, 95–96, 156, 159, 163, 231, 246, 263, 277, 311, 339–340, 348–350, 375, 403, 415, 426, 432, 440, 450, 474 Goldenes Zeitalter 26, 46–47, 50, 106, 139, 326–327, 393–395, 475 Götterapparat 13, 300, 317, 341, 344, 364, 390, 409, 419, 421, 464–466 Granada 64–65, 67, 79, 116, 136, 305, 325, 369, 372, 374, 417 Grenzgänger 218, 234, 245, 247, 280, 291, 468, 477 Haiti 21, 35, 86, 341, 348, 350, 354, 357, 366, 370–371, 395, 402 Hispaniola 47, 50, 61–62, 68, 142, 165, 172, 190–192, 199, 213, 216, 222, 224, 226, 228, 232, 234–235, 238, 242, 244–245, 251–252, 256, 258, 261–262, 266, 272, 275, 277–278, 280, 289, 291–292, 391, 427, 458

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Stichwortverzeichnis

Ideologie 2–3, 4, 6, 9, 39, 47, 55, 59, 77, 86–87, 89, 93, 103–104, 113, 116, 118–119, 121–122, 125, 133, 137, 142, 146, 151–152, 160, 174, 189, 211, 221–222, 230, 232–233, 235, 256, 261, 272, 277–278, 282, 286, 289, 291–292, 301, 304, 316, 322, 326, 334, 375–376, 390–393, 401, 407, 409, 411, 422–426, 449, 456, 463466, 469, 472, 475–476, 479 Irdisches Paradies 44, 47–48, 50–51, 75, 135–136, 326, 393–397, 402, 404, 475 Isolation 221, 226, 234–236, 240–243, 245, 248–251, 257, 261–262, 266–268, 270, 272, 274, 277, 279–281, 284–287, 290–293, 323, 426, 452, 477 Israel 83, 90–92, 99, 155, 157, 348, 351–353, 355, 365, 377, 379, 381, 390–392, 457 Jeremia 86, 377, 479 Jerusalem 38, 69, 75, 78, 81–82, 84, 326 Jesaia 81–86, 376–377 Jesuit 27, 74, 79–80, 91, 98–99, 102, 201, 319–321, 323–328, 330, 332, 334–336, 347, 351, 366, 379, 384–385, 472, 477, 479 Johannes 82, 86, 358–359, 376, 379, 386–388, 390, 479 Josua 92, 157, 349, 353–355, 365, 372, 386, 390–392 Jüngstes Gericht 153, 155–156, 191, 381, 388, 393 Karthager 84, 104, 106, 366–367, 383, 400, 408–409, 414, 416–418, 456, 458, 467, 475 Kolonialisierung 4, 31–32, 38, 98, 110–111, 267, 291, 295, 308, 314, 318, 331–332, 373, 375, 468, 473 Landung 61, 121, 147, 190, 218, 238, 241–245, 247, 252, 261–262, 289, 292, 300, 302, 307, 310–312, 350–351, 355, 357–358, 361–362, 364, 366–368, 370–371, 389, 393, 402, 418, 421, 423, 461, 494

Légende noire 21, 33, 79, 119, 138, 148, 158, 161, 163, 214, 232, 244, 290, 295, 309, 315, 318–319, 331, 334, 336, 374, 411, 418, 424, 477 Lichtmetapher 172, 243, 300, 355, 359–360, 363, 389 Lukas 373, 375, 382–386 Malachia 375–376, 379–381, 388, 479 Matthäus 81–82, 359, 375, 382–384 merveilleux 12–16, 117, 120, 144, 175, 198, 216, 225, 293, 297–298, 300, 307, 471, 474 Mexiko 25, 30, 79, 102, 110–111, 186, 213, 232, 234, 245, 252–254, 256–257, 262, 271, 291, 299, 319, 324–325, 446 Missionierung 26, 33, 65–66, 76, 78, 87, 89, 91, 96, 98, 120, 133, 136, 150, 156, 160, 162, 189, 194, 214, 217, 223, 230, 292, 321, 324–327, 331, 335, 339, 341, 365, 375, 409, 411, 419, 424 Monogenese 90, 96–101, 103–106, 110, 152, 177, 411, 419–420, 422, 447, 449, 457, 460, 462–464, 466–467, 475 Mose 73, 98, 157, 349, 351–354, 378, 381, 390–391, 393 Noah 51, 88, 92–94, 95, 99, 111, 154, 348, 369–370, 372–373, 394–395, 430, 457, 460, 479 Nordamerika 22, 37, 110–111, 186, 268, 272–273, 275–276, 292–293, 319, 322–323, 442–443, 456, 470, 480 Odysseus 229, 422, 446, 454, 456 Ophir 68, 85–86, 95–96, 107–108, 111, 415 Papst 22, 43, 64–66, 78, 97, 106, 128, 138, 214–215, 290, 324–325, 337, 390, 458, 464 Paraguay 28, 102, 321, 323–324, 326–327, 329, 333, 335, 479 Peru 17, 28, 30, 96, 102, 110–111, 186, 188, 191–192, 199, 208, 216, 226–227, 229–232, 235, 245, 257–258, 261–264, 267–269, 277, 279, 291–292, 324, 394,

Stichwortverzeichnis

426–427, 429, 434, 441–442, 446–449, 452 Pessimismus 29, 35, 70, 151, 161, 171, 200–201, 233, 236, 258–259, 261, 267, 284, 352, 397, 441, 455, 467, 469, 479 Polygenese 90, 96, 98–99, 103–104, 317, 399, 419, 447, 462–466, 475 Portugal 57, 60, 65, 68, 282, 308, 324, 375 Prophezeiung 47–48, 78, 124, 157, 311, 321, 341–342, 344, 349, 365, 375–376, 378, 379, 380–381, 383, 386–388 Pyramiden 258, 426, 428–429, 440–441, 450, 452 Reisebericht 2, 4, 21, 23, 27, 39, 44, 46–47, 50, 55–56, 73, 94, 117, 327, 355, 443, 467, 475 Roman 12, 16, 28, 35, 44, 110, 178–189, 196, 200, 205, 207–208, 210, 212, 216, 225, 227, 229–232, 242, 245, 249, 261, 267, 293, 295, 321, 451, 469, 478 Romantik 182, 195–198, 207 Schauplatz 6, 134, 241–242, 247, 272, 338 Second voice 32, 118, 212, 216, 307–308, 311–312, 315, 478

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Semiosphäre 52, 113, 119, 137, 139, 160, 197, 219–223, 225, 230, 232, 234–235, 240–241, 243, 245–246, 248, 250–257, 262–264, 266–268, 271–272, 274, 277–278, 280–281, 283, 289, 291–293, 303, 306, 317, 332, 360, 369, 372, 375, 389, 392, 401, 406–407, 410, 413, 416–418, 422, 441, 453, 456–457, 468–469, 476, 479 Setting 6, 347 Spiegelfigur 193, 243, 270, 272, 281–283, 285, 292–293, 468, 477 Stoa 121, 133, 135, 200–204, 227, 229, 234, 237, 242, 245, 266–268, 278, 286, 288, 292, 295, 302–304, 306–307, 310, 316–317, 473, 478 Teufel 66, 117, 143, 154, 163, 169, 190, 301, 340–345, 363, 375, 386, 419–420, 463, 465 Traum 154, 215, 243, 310, 349, 379, 396 Utopie 28, 110, 178, 186, 188, 206, 270, 276, 327, 329, 425, 456 Zonentheorie 56, 58–59, 273, 399, 406