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German Pages 208 [214] Year 1966
HUBERT
FAENSEN
Die bildnerische Form
STUDIEN ZUR ARCHITEKTURUND KUNSTWISSENSCHAFT
BAND 4
HUBERT F A E N S E N
Die bildnerische Form Die Kunstauffassungen Konrad Fiedlers, Adolf von Hildebrands und Hans von Marées
AKADEMIE-VERLAG • BERLIN 1965
Erschienen im Akademie-Verlag GmbH, 108 Berlin, Leipziger Straße 3—4 Copyright 1965 by Akademie-Verlag GmbH Li2enznummer: 202 • 100/191/65 Gesamtherstellung: V E B Druckhaus „Maxim Gorki", Altenburg Bestellnummer: 2112/4 • ES 12 A
Inhalt
Zur Problemstellung: Fiedler und seine Zeit
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I. Methodenwechsel als „dritter Weg" 1. Philosophische Entwicklung 2. Bildnerische Praxis 3. Konstruktion eines neuen Kunstbegriffs
13 20 31
II. Wirklichkeit als Bewußtseinsprodukt 1. Relativität, Spontaneität, Eigenbedeutsamkeit 2. Abbild und Gebilde 3. Künstlerische Wahrheit
. . .
43 53 70
III. Kunst als „reine" Sichtbarkeit 1. Ästhetik und Psychologie 2. Isolierung der Anschauung 3. Verhältnis zum Begriff
77 88 101
IV. Kunst als Ausdrucksbewegung 1. Analogie der Sprache
110
2. Technische Realisierung
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V.Formalismus, Aristokratismus, Ästhetizismus VI. Verhältnis zu Marées und Hildebrand
.
.
.
.123 138
Anmerkungen
157
Literaturauswahl
169
Anhang: Studien über Hildebrands Problem der Form . . . 1 7 3 (Abhandlung aus dem handschriftlichen Nachlaß Fiedlers)
Zur Problemstellung: Fiedler und seine Zeit
Der Kunsttheoretiker Konrad Fiedler schrieb und veröffentlichte seine Arbeiten in den Jahren 1870 bis 1890. Es war die Zeit, in der Deutschland aus einem Agrar- zu einem Industrieland wurde. Seine Wirtschaft schien in voller Blüte zu stehen. Der Kapitalismus konnte sich ungehindert entfalten, denn das Haupthindernis der ökonomischen Entwicklung war beseitigt worden: die staatliche Zersplitterung. Allerdings erfolgte die nationale Einigung nicht durch eine „Revolution von unten", sondern durch eine „Revolution von oben". Bismarck erreichte im Interesse der Bourgeoisie, wozu diese aus eigenen Kräften unfähig gewesen war. Folglich fehlte dem Deutschen Reich der demokratische Charakter. Es beugte sich der preußischen Militärsuprematie. Konrad Fiedler war der Repräsentant einer intellektuellen deutschen Bourgeoisie. Ihrem Klassenstandpunkt verhaftet, erlebte er die Ausweglosigkeit des Widerspruchs zwischen den ursprünglichen Idealen des bürgerlichen Humanismus und der kapitalistischen Wirklichkeit. Er empfand, daß die klassische Einheit des Guten, Wahren und Schönen zerbrochen und daß das Streben nach Ganzheit einer „Notwendigkeit des Fragmentarischen" gewichen war. Humanitas und universitas sind illusionär in einer entfremdeten, fragmentierten, krisenhaften Welt. Die fortschreitende Kapitalisierung führte schon in den siebziger Jahren zu den ersten Niedergangserscheinungen. Der „Gründerzeit" folgte der „Gründerkrach". In wenigen Wochen brachen Hunderte von Unternehmungen zusammen. Die Gewinner waren die großen Industriellen und die Bankiers, deren Vermögen mehr und mehr verschmolz. Es begann eine Konzentration der Produktion und des Kapitals. Mit dieser Entwicklung verbunden war einerseits eine verstärkte Ausbeutung und damit ein verschärfter Klassengegensatz, andererseits eine ständig wachsende Zusammenballung der Arbeiterschaft. Die Arbeiterklasse wurde sich allmählich als Klasse bewußt. Sie begann, sich politisch in den Gewerkschaften und in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei zu formieren. Die Lohnkämpfe und Streikbewegungen gewannen an Intensität. Gleichzeitig setzte sich der Marxismus als die herrschende Lehre durch. Eine besonders revolutionierende Wirkung übte im März 1871 die Pariser Kommune aus. Als erste proletarische Erhebung kündigte sie den Verfall des Kapitalismus im Weltmaßstab an. Allmählich bildeten sich die Merkmale des Imperialismus heraus. Die deutsche Misere potenzierte das Krisenbewußtsein des Bildungsbürgertums. Der Enttäuschung nach der gescheiterten Revolution von 1848 folgte sukzessiv eine vielfältig differenzierte, in der Regel kritische Akkomodation an den „preußischen Weg". Aus der Erkenntnis der gesellschaftlichen Ausweglosigkeit resultierte der Versuch einer intellektuellen Distanzierung, freilich ahne je den Klassenstandpunkt zu verlas-
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sen. Bei Konrad Fiedler äußerte sich das einerseits in einem Stolz auf seine politische Enthaltsamkeit und in Kritik an der offiziellen Kunstauffassung, andererseits aber in gelegentlichen Sympathieerklärungen für die Politik Bismarcks. Diese Haltung war charakteristisch für den Klassenkompromiß in den Jahren zwischen 1870 und 1890. Im Gegensatz zu England und Frankreich hatte sich die Bourgeoisie in Deutschland „so träge, feig und langsam entwickelt, daß im Augenblick, wo sie gefahrdrohend dem Feudalismus und Absolutismus gegenüberstand, sie selbst sich gefahrdrohend gegenüber das Proletariat erblickte..." (Marx) Die neue Klasse jagte ihr hundertmal mehr Angst ein als die alte. So wählte sie 1848 das für sie kleinere Übel. Sie verbündete sich mit der feudalen Reaktion. Das Bündnis sicherte ihr größere Profite, aber es verlangte von ihr auch vorerst den weitgehenden Verzicht auf eigene Regierungsgewalt. Die feudale Reaktion ihrerseits wußte, daß sie ihren Sieg nicht sich allein verdankte, und war zu Konzessionen bereit. Zudem wuchs ihre Fronherrschaft auf dem Land allmählich selbst hinüber in kapitalistische Ausbeutung 2 , ökonomisch wurde auf dem Weg langsamer und kleinlicher Reformen erwirkt, was revolutionär von der Bourgeoisie hätte erkämpft werden müssen. Politisch wurden die Forderungen der demokratischen Revolution preisgegeben, um eine neue proletarische Revolution im Keim zu ersticken. Das Leben Fiedlers ist, sowohl der Herkunft als auch dem Verlauf nach, charakteristisch für die bürgerliche Intelligenz dieser Zeit. Fiedler wurde am 23. September 1841 in dem sächsischen Städtchen ö d e r a n geboren. Sein Großvater hatte als kapitalistischer Verleger bei den erzgebirgischen Webern ein großes Vermögen erworben. Sein Vater kaufte, um es gewinnbringend anzulegen, das Rittergut Crostewitz bei Leipzig. Er selbst sollte Jura studieren, um dann in den Staatsdienst zu treten 3 . Das tat er an den Universitäten Heidelberg, Berlin und Leipzig in den Jahren 1861 bis 1865. Ein Jahr juristische Praxis, das er nach dem Doktorandum und dem Staatsexamen absolvierte, mag ihm die letzte Lust an dem ursprünglich von seinem Vater und nicht von ihm vorgesehenen Beruf genommen haben. Da er nicht den Leidensweg des Kleinbürgers durchlaufen mußte, vielmehr sich auf gesicherte Bezüge aus dem Vermögen der Familie stützte, vermochte er ganz der privaten Liebhaberei zu leben. Er genoß ein RentnerDasein. Schon während des Studiums hatte er sich mit philosophischen und ästhetischen Problemen befaßt. Er wollte sie jetzt durch die persönliche Kenntnis der bedeutendsten Kunst- und Kulturstätten bereichern. So unternahm er ausgedehnte und kostspielige Reisen nach Frankreich, England, Italien und Griechenland. Während seines römischen Aufenthaltes im Winter 1866/67 lernte er anfangs Hans von Marées und etwas später Adolf Hildebrand kennen. Der geistige Umgang mit ihnen festigte die Liebhaberei zur Lebensaufgabe. Die Philosophie fand ihre bestimmte Richtung in der Kunsttheorie. Fünf Schriften, die Fiedler veröffentlichte, erregten besonderes Interesse: „Über die Beurteilung von Werken der bildenden Kunst" (1876), „Über Kunstinteressen und deren Förderung" (1879), „Moderner Naturalismus und künstlerische Wahrheit" (1881), „Über den Ursprung der künstlerischen Tätigkeit" (1887) und „Hans von Marées" (1889). Die Vermögenslage gestattete Fiedler, den beiden Künstlern, die ihm Freunde wurden, pekuniär in großzügiger Weise behilflich zu sein. Auch lud er sie zu Auslandsreisen ein, Marées nach Spanien und Frankreich, Hildebrand nach Dalmatien. Andere
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förderte er durch Ankäufe ihrer Bilder, z . B . Feuerbach, Böcklin und Thoma. 1876 heiratete er Mary, die Tochter von Julius Meyer, Direktor des Alten Berliner Museums. Durch sie wurde er in den Bayreuther Wagner-Kreis eingeführt, freilich ohne sich ihm ideenmäßig besonders verbunden zu fühlen. Beide Ehegatten ließen sich 1880 in München nieder, wo sie ein gastliches Haus führten. Unter anderen verkehrte bei ihnen der junge Heinrich Wölfflin. Persönliche Beziehungen bestanden auch zu Wilhelm Bode, Henri Thode, Hermann Hettner, Karl Hillebrand, Gottfried Semper, Hermann Helmholtz, Leopold Kronecker, Clara Schumann, Anton Bruckner. Immer wieder zog es Fiedler aber auf Reisen, vor allem natürlich nach Italien, wo er die Freunde Marées und Hildebrañd antraf. Am 3. Juni 1895 starb er in München infolge eines Sturzes aus dem Fenster. E s konnte nie geklärt werden, ob es sich dabei um einen Unfall oder einen Selbstmord handelte. Fiedler war der Typ des mit dem Kapitalismus verbundenen Rentnerschriftstellers. Seinen ganzen Lebensaufwand vermochte er aus Erträgen zu bestreiten, die er aus seinem Kapital bezog. E r glich darin Schopenhauer, für den er als junger Mann schwärmte. Beiden garantierte die wirtschaftlich gesicherte Lage eine Unabhängigkeit von staatlich bestimmten Lebensbedingungen, z. B. von der Beamtenkarriere. Fiedler schlug 1874 das Angebot aus, Direktor des Leipziger Museums, und 1875, Direktor des Berliner Kupferstichkabinetts zu werden. Zwei Gründe waren dabei maßgebend. Einerseits wollte Fiedler die offizielle staatliche Kulturpolitik nicht unterstützen, die er als Schädigung der Kunst empfand. Als Museumsdirektor hätte er sich den Anweisungen der Ministerien beugen und seine „Unabhängigkeit" aufgeben müssen. E r wollte sich aber eine eigene geistige Position erarbeiten, die von der offiziellen Kunstauffassung Abstand nahm. Andererseits war er der praktischen Betätigung überhaupt abhold. E r nahm an, sie würde die selbständigen Reflexionen stören: „Ich komme eben immer mehr zu der Überzeugung, daß diese Art, aus der Beschäftigung mit der Kunst Metier zu machen, nur mit einer totalen Unkenntnis des eigentlichen Wesens, der eigentlichen Bedeutung der Kunst zusammenhängt. Und ich kann mich nicht dazu bekennen, daß man aus Nützlichkeitsgründen für sich selbst eine praktische Tätigkeit ergreifen solle, die in sich selbst keine Rechtfertigung h a t . . . Ich würde mir selbst untreu werden, wenn ich diese Stellung angenommen hätte." (Tagebucheintragung vom Mai 1874) 4 . „All dieses Treiben, welches die Kunst nur ganz äußerlich zum Gegenstand hat, steht im schneidenden Widerspruch zu dem, wonach ich s t r e b e . . . Wie wertvoll es ist, wie zu jedem wahren geistigen Fortschritt unentbehrlich, sich ungestört in einer bestimmten Folge von Reflexionen einzuleben, das erfuhr ich eigentlich erst in diesem Winter, nur das kann man ein Leben im höheren Sinne nennen. Was ist dagegen alle praktische Tätigkeit, sie mag noch so erfolgreich, noch so segensreich sein." (Tagebucheintragung vom Mai 1875) 5 . Aus diesen Ausführungen spricht die typische Rentner-Ideologie: D a s eigene Ich, „das von der Beteiligung an irgendeinem Unternehmen völlig losgelöst", dessen „Beruf
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der Müßiggang ist" (Lenin), wird zum Selbstzweck aufgebauscht. Seine Tätigkeit löst sich von der gesellschaftlichen Basis ab, wendet sich ganz nach innen und kultiviert individuelle Eigentümlichkeiten und Liebhabereien. Philosophie und Kunst betreibt es quietistisch. Es will nichts ändern, vielmehr nur anschauen. Die Folge ist ein Ästhetizismus. Thomas Mann weist darauf hin, daß es sich bei dem Verzicht auf die Beteiligung an politisch-sozialen Angelegenheiten nicht um eine echte Eigenständigkeit, sondern um eine „machtgeschützte Innerlichkeit" handelt. Tatsächlich war Fiedler der hochmütige Rückzug von allen öffentlichen Aufgaben und Aufträgen nur unter der Voraussetzung möglich, daß der herrschende Staatsapparat unaufgefordert-selbstverständlich sein Rentner-Dasein garantierte, d. h. sein Vermögen und die Einkünfte gegen irgendwelche Angriffe schützte. Nur auf Grund dessen konnte er sich auch erhaben von den üblichen Spekulationen der Gründerjahre, ja von der bürgerlichen Geschäftemacherei schlechthin abwenden. Die Aufblähung des eigenen Ichs bzw. der privaten Neigungen und Interessen zum absoluten Selbstzweck war nichts anderes als ein Ausdruck der beginnenden Dekadenz. Die „Unabhängigkeit" Fiedlers war eine typisch bürgerliche Rentnerillusion. Er war sich im Grunde auch völlig darüber klar, daß seine geistige Existenz von der Unversehrtheit seiner Vermögenslage und diese wiederum von dem Fortbestehen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung abhing. Fiedler hat zeitlebens unter einem Minderwertigkeits-Komplex gelitten. Das ist den Tagebuchaufzeichnungen, Briefen und den Berichten der Freunde zu entnehmen. Eine physiologisch-psychologische Ursache mag seine allergische und depressive Veranlagung gewesen sein. Sie fand ihren Ausdruck vor allem in der übertriebenen Zurückhaltung, Bescheidenheit und Selbstlosigkeit. Die Ehe konnte sich nur negativ auswirken, da die der bürgerlichen Geselligkeit und Repräsentation zugeneigte Frau Mary keine geeignete Gefährtin war. Eine andere Ursache mag der Gram über das verfehlte Studium gewesen sein, das ihm zwar eine gute Stellung als Staatsbeamter garantierte, ihn aber nicht seinen philosophischen und künstlerischen Neigungen völlig nachgehen ließ. Im Mai 1873 beklagte er sich in seinem Tagebuch: „Zu den Gelehrten der Universität (Leipzig) kann ich auch kein rechtes Verhältnis gewinnen, denn dazu muß man Mitglied der Zunft sein." Ohne Zweifel spielte aber die allgemeine gesellschaftliche Situation die entscheidende Rolle. Eine sensible Natur wie Fiedler mußte hinter dem Automatismus der kapitalistischen Verhältnisse die latente Krise und hinter dem hohlen Pomp der Gründerjahre den geistigen Niedergang des Bürgertums spüren. Während Schopenhauer sich heftig bemühte, durch weitere Bereicherung seine Renten zu erhöhen, traf Fiedler dazu nicht die geringsten Anstalten. E r begnügte sich mit den vorhandenen Bezügen und sorgte sich weniger um die Mehrung als um den Verbrauch. Dabei war er durchaus kein Verschwender. Er schränkte sogar die eigene Lebenshaltung relativ ein, uim künstlerische Bestrebungen zu fördern, die er für wesentlich hielt. Immer wieder loben seine Freunde die Hilfsbereitschaft und Großzügigkeit. O f t ist er der „letzte Mäzen" genannt worden. Er gehörte nicht zu den üblichen großbürgerlichen „Gönnern", die den Künstlern durch unangemessene Forderungen die Fragwürdigkeit ihrer „freien" Existenz vor Augen führten. Wie anständig er
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handelte, zeigte das Beispiel Marées. Ihm wies er jährlich 4800 Goldmark an, und zwar ohne die entstehenden Bilder zu kennen und ohne Zulaß zu seinem Atelier zu haben. Er zahlte sie sogar noch in der Zeit, als die persönlichen Verbindungen brüchig wurden, ja eine gewisse Entzweiung eintrat. Bescheidenheit und Edelmut waren Fiedlers hervorstechendsten Charaktereigenschaften. Persönlich war er alles andere als ein „Parasit". Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß sein Rentner-Dasein abhing von Einkünften aus einem parasitären Vermögen und daß dieses Vermögen wiederum abhing von dem allmählich in sein „parasitäres und faulendes", d. h. imperialistisches Stadium (Lenin) übergehenden Kapitalismus. Klassenmäßig war Fiedler schon zu einem Zeitpunkt auf die spätbürgerliche Rentnerschicht orientiert, als diese sich noch herauszubilden begann. Er gehörte ihr schon vor 1890 an und damit war seine materielle Existenz von vornherein imperialistischen Merkmalen verhaftet. Freilich erst nach 1890 entwickelte sich der Imperialismus zur vollen Geltung und erst nach diesem Zeitpunkt sollte die Rentnerschicht „außergewöhnlich anwachsen" (Lenin) 6 . Im Frühjahr 1866 schrieb Fiedler in sein Tagebuch, er wolle „ruhig am Strand des Lebens stehen". „Warum selbst eingreifen und tätig sein . . . ? " fragte er sich. Als Ideal schwebte ihm vor, dem Treiben der Menschen mit philosophischer Ruhe zuzuschauen und sich auf diese Art über sie zu „erheben" 7 . In einem späteren Gedankenfragment stellte Fiedler fest: In verschiedenen Formen zeige sich bei den Menschen das Bedürfnis, sich den beengenden Schranken der gesellschaftlichen Praxis zu entziehen. Gerade den „edleren und feineren Naturen" sei die Einsicht unerträglich, ohne die Betätigung praktischer Fähigkeiten nicht existieren zu können. Immer wieder tauche der Trieb auf, alle Rücksichten des äußeren Lebens hintanzusetzen und unbekümmert um das äußere Schicksal seiner selbst und anderer zu leben. Auch derjenige, der sich in der Praxis bewähre, müsse eingestehen, „daß all sein Tun und T r e i b e n . . . nur dem Windhauch auf der See gleicht, der hie und da die Wellen kräuselt, der ewigen Ruhe und Gleichmäßigkeit des Elementes aber nichts anhaben kann." Eine Möglichkeit sah Fiedler als Erfüllung der Sehnsucht, „statt zu handeln, zu betrachten": das Streben nach Erkenntnis um der reinen Erkenntnis willen. Da er zwei Erkenntnisarten unterscheidet, die wissenschaftlich-begriffliche und die künstlerischanschauliche, bedeutet das eine radikale und kompromißlose Emanzipation der Wissenschaft und der Kunst von allen historisch-gesellschaftlichen Bindungen. Diese Emanzipation spiegelt die fortschreitende Kapitalisierung und den Klassenkampromiß wider. Durch die eine fetischisieren sich die zwischenmenschlichen Beziehungen und erscheinen als fremder, unkontrollierbarer, dem eigenen Einfluß entzogener Automatismus, der andere, verbunden mit dem bürgerlichen Verzicht auf politische Macht, suspendiert weltanschaulich Probleme überhaupt. Die politisch-gesellschaftlichen Zusammenhänge, ursprünglich integrierender Bestandteil humanistischer Ideale, treten zurück. Die unbefriedigende Wirklichkeit zwingt Fiedler zur Flucht in eine abstrakte Subjektivität. Diese Art der Resignation ist charakteristisch für die Selbstauflösung des bürgerlichen Humanismus. Wissenschaft und Kunst sollen von ihrer realen Grund-
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läge losgelöst werden und, in dieser Abstraktheit um ihrer selbst betrieben, der Kultivierung eigener Innerlichkeit dienen. Ideologische Kehrseite der kapitalistischen Fetischisierung und des Klassenkompromisses ist die Illusion der persönlichen Unabhängigkeit. Der vereinzelte Einzelne wird zum Denkimodell. Es beginnt die intellektuelle „Robinsonade". Mit ihr verbunden sind in der Regel Elite-Ideen. So schreibt Fiedler: „Wer alle praktischen Rücksichten hintansetzt und vernachlässigt, selbst bis zu der Gefahr an Leib und Leben Schaden zu erleiden, nur um jenem höheren menschlichen Bedürfnis Genüge zu tun, der gehört recht eigentlich zur Elite der Menschheit . . . " Als geistige Aristokratie betrachtete Fiedler „die Forscher und die Künstler". Sie würden nicht den Lebensbedürfnissen dienen, so erklärte er, sondern der „rücksichtslosen Erforschung der Wahrheit" 8 . In diesen Ausführungen zeigt sich einerseits im Ansatz Fiedlers Elitebewußtsein. Er stellte hohe Ansprüche. Eigentlich hätte ihn das Beispiel seines Freundes Marées, dessen materielle Schwierigkeiten die geistigen Fähigkeiten erheblich beeinträchtigten, eines anderen belehren sollen. Unter der „Gefahr an Leib und Leben" muß auf die Dauer die Tätigkeit sowohl der Forscher als auch der Künstler leiden. Fiedler selbst hatte freilich keine materiellen Sorgen. Er konnte mit Leichtigkeit die Betrachtung dem Handeln vorziehen. Andererseits zeigt sich hier, daß Fiedler ganz auf dem Boden der herrschenden bürgerlichen Philosophie steht. Zwischen gesellschaftlicher Praxis und Wahrheit sah er keinen Zusammenhang, sondern nur einen sich ausschließenden Gegensatz. In diesem Sinn sind für ihn sowohl Forschung als auch Kunst selbstgenügsam und dürfen über ihren spezifischen Bereich nicht hinausweisen. Meier-Graefe spricht von einer „Anwendung Schopenhauers", die Fiedler in Marées erblickt habe, als er ihn kennenlernte. Es ist das durchaus nicht abwegig. In Fiedlers Augen lag über dem römischen Künstlerkreis die Weihe des Aristokratismus der Einsichtigen, die ihn an der Philosophie Schopenhauers begeisterte: Die Masse der Menschen vermag, getrübt durch den „Schleier der Maja", das Wesen der Welt nicht zu begreifen. Den durch geniale Begabungen ausgezeichneten philosophischen und künstlerischen Menschen dagegen steht es offen. Da es jenseits aller wirklichen Erscheinungen liegt, scheint das alltägliche Leben, die alltägliche Bewährung in der Praxis sinnlos zu werden. Ganz im Sinne Schopenhauers notierte sich Fiedler bei seinem Florenzer Aufenthalt am 26.11.1866 in sein Tagebuch: „Die edelste Art, sich selbst zu vergessen, ist die Betrachtung der schönen Künste." Nur in der Verneinung aller gesellschaftlichen Beziehungen, in der freiwilligen Resignation, die die praktische Aktivität ausschließt und eine rein geistige Aktivität zu sein scheint, besitzt die „Elite" das Wesentliche der Welt. Fiedler fühlte sich freilich durch das Nichts als Lebenshorizont auch gehemmt. Wenige Tage später schrieb er in Rom: „Der Pessimismus Schopenhauers hat mich wie die Furien des Orestes bis an die Grenzen dieses Heiligtums verfolgt, mag er mich draußen erwarten, ich werde zu
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ihm zurückkehren, aber hier will ich Atem schöpfen und mich ganz in die Welt künstlerischer Vorstellung versenken." (Tagebuchaufzeichnung vom 11.12.1866). Fiedlers Abwendung vom tätigen Lebensprozeß entsprach die Zurückhaltung vor einem politischen Engagement. Freilich hatte er nicht die Illusion, vom politischen Geschehen unabhängig zu sein. Er beklagte die Tendenz des staatlichen Automatismus, den Einzelnen „zu schädigen". Vom Sommer 1870 datiert folgende Tagebucheintragung: „In der Politik gleicht die Welt einem Kranken, der sich beständig von einer Seite auf die andere legt und meint, dadurch Besserung zu erlangen. - Darum halte man sich fern von solcher Tätigkeit der Danaiden." Nachdem Bismarck im Januar 1887 den Reichstag aufgelöst hatte, schrieb Fiedler seinem Freund Hildebrand: „Am besten wäre übrigens, wenn man sich um diese ganze Geschichte nicht zu kümmern brauchte, der man ein rechtes inneres Interesse doch nicht abgewinnen kann; nur geht die ganze Tendenz des modernen Staatslebens darauf hinaus, den Einzelnen nicht in Ruhe zu lassen und ihn zu schädigen, wenn er nicht mittut und sich seiner Haut wahrt." 9 Trotzdem kannte Fiedler die Kreise genau, die sein Rentner-Dasein garantierten. Zwar gibt es wenige schriftliche Äußerungen, mit denen ich eine solche Behauptung belegen könnte. Aber selbst auf die Gefahr hin, die Proportionen ein wenig zu verschieben, will ich sie zitieren. Sind sie doch charakteristisch für die Haltung eines bürgerlichen Intellektuellen, der sich aus der herrschenden Politik heraushalten möchte, dessen wirtschaftliche und geistige Situation aber von ihr abhängig ist. So erklärte Fiedler im gleichen Brief, in dem er den Automatismus des Staatslebens beklagte: „Bismarck hat wieder wundervoll geredet und der Reichstag sich wieder recht erbärmlich benommen; die neuen Wahlen werden aber kaum viel besser ausfallen als die alten." Fiedler war ein glühender Verehrer des „eisernen Kanzlers". Er achtete an ihm in einer Zeit „organisierter Mittelmäßigkeit" die respektable Persönlichkeit. Zwar nahm er von vornherein an, Bismarck könne sich nicht durchsetzen, er sei „zu der Rolle des tragischen Helden verdammt" und müsse die „Beute untergeordneter Naturen" werden 10 . Das tat seinen Sympathien aber keinen Abbruch. Im Gegenteil, er sah nur die eigene Auffassung bestätigt, daß sich die „Elite" vom praktischen Leben zurückziehen muß. Ist es Zufall oder nicht, daß Bismarck gerade die Politik betrieb, durch welche die materielle Existenz, d. h. das Rentner-Dasein Fiedlers gesichert wurde? Die von der Regierung trotz des Widerstandes der freihändlerischen Bourgeoisie festgelegten Schutzzölle lagen ganz im Interesse des Großgrundbesitzes, dem er durch das Miteigentum an Crostewitz verbunden war 11 . Ist es Zufall oder nicht, wenn er der sich
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anfänglich zum Sprecher der freihändlerischen Bourgeoisie aufschwingenden Nationalliberalen Partei außerordentlich reserviert gegenüberstand? Im März 1878, kurz nachdem sie das Angebot Bismarcks an Ministersesseln abgelehnt und seiner Zollpolitik eine Absage erteilt hatte, schrieb Fiedler an Hildebrand: „Übrigens verkehre ich ab und zu mit Bamberger, er ist sehr klug und sehr angenehm, steht aber eben ganz auf nationalliberalem Boden." 1 2 Als Hildebrand ihm im Dezember 1880 mitteilte, er habe einen Abend mit dem nationalliberalen Reichstagsabgeordneten Eduard Lasker verbracht, antwortete er: „Um Deinen Abend mit Lasker 'beneide ich Dich nicht, das sind die Menschen, an denen Bismarck zugrunde geht." 1 3 Bekanntlich war die Zwietracht zwischen Bismarck und den Nationalliberalen nie grundsätzlicher Art. Nach ihrer Ablehnung der Zollpolitik und der sich anschließenden politischen Niederlage im Wahlkampf beteiligten sie sich noch oft am Kabinett. Es ging immer nur darum, den geeigneten Boden für den Klassenkompromiß zu finden. Trotzdem ist Fiedlers Stellungnahme aufschlußreich, zumal in der Verehrung Bismarcks und der Antipathie gegenüber den Nationalliberalen sein Verhältnis zur Arbeiterklasse mitschwingt. E r bezeichnete den Sozialismus als „verhängnisvoll". Jedoch war er über die liberale Illusion hinaus, in „der besten aller Welten" zu leben. E r sah die Primitivität einer direkten Apologetik des Kapitalismus. Hinter dem scheinbaren Aufschwung spürte er die lauernde Krise. Über sie durch falschen Optimismus hinwegzutäuschen, hielt er für verfehlt. Auf eine Anfrage Hildebrands erklärte er: „Bamberger über den Sozialismus habe ich gelesen und gehöre eigentlich zu den Gegnern dieser Art, die Sache zu behandeln. Den Standpunkt zugegeben, so sind die Artikel vorzüglich, und auch abgesehen davon enthalten sie vieles, nicht nur geistreiches, sondern auch vortreffliches. Aber diese Art, die Unhaltbarkeit und Verwerflichkeit des Sozialismus darzulegen, trifft den allein wichtigen Kern der Sache nicht. Auf den Sozialismus kommt es nicht an, der mag so törricht und verhängnisvoll sein wie er will, sondern darauf, d a ß er ein Sympton von einer Gärung ist, die sich den kurzsichtig spießbürgerlichen Liberalismus, der heutzutage das Wohl der Völker als Beruf betreibt, entgegenstellt." 14 Fiedler machte den Liberalismus für den Gründerschwindel verantwortlich. In der inneren und äußeren Ausweglosigkeit begrüßt er die Periode in der Bismarckschen Politik, die Franz Mehring als „milde Praxis" charakterisiert. Kurz nach der Ankündigung der Sozialreformen, in seinem Brief vom 29. 11. 1881, fragte er Hildebrand: „Liest Du eigentlich jetzt Zeitungen oder befindest D u Dich in glücklicher Abgeschiedenheit von der politischen Welt? Steht man dem Schauplatz näher, so wird man unwillkürlich in das Interesse hineingezogen und allerdings handelt es sich jetzt um große Dinge und wenigstens um einen großen Menschen. Hast D u die Botschaft gelesen? Bismarck erfüllt die Politik geradezu mit einem dramatischen Interesse, wenn er nur nicht selbst zu der Rolle des tragischen Helden verdammt wäre." 1 5
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Am 17. 11. 1881 war ein neu gewählter Reichstag mit einer kaiserlichen Botschaft eröffnet worden, die Krankenkassen- und Unfallversicherungsgesetze ankündigte und für deren finanzielle Durchführung das Tabakmonopol forderte. Trotz Weiterbestehens der Sozialistengesetze wurde der Arbeiterklasse etwas größerer Spielraum gelassen. Vor allem wurden die Anfänge einer neuen Gewerkschaftsbewegung geduldet. Wieder traten die Liberalen eine Zeitlang als Widersacher auf, weil sie der Regierung das Tabakmonopol nicht zuerkennen wollten. Wieder schlug Fiedler sich auf die Seite Bismarcks. Er begrüßte die Sozialreformen, weil sie ihm das einzig wirksame Mittel zu sein schienen, dem offenen Ausbruch der Krise vorzubeugen und den Sozialismus einzudämmen. Freilich pries er auch in diesem Brief das Glück der Abgeschiedenheit von jeder Politik. In der Ablehnung der gesellschaftlichen Praxis hielt sich Fiedler ganz im Rahmen der herrschenden bürgerlichen Philosophie. Die dominierenden Strömungen waren in den Jahren zwischen 1870 und 1890 Neukantianismus und Positivismus. Von der klassischen deutschen Philosophie mußten sie sich lossagen, da sich die modernen naturwissenschaftlichen Forschungsergebnisse nicht mehr in metaphysische Systeme zwängen ließen. Das bedeutete deshalb aber keine Abkehr vom Idealismus. Sie gingen lediglich von seiner objektiven und spekulativen zu seiner subjektiven und sensualistischen Form über. Ihre Devise „Zurück zu Kant" .bedeutete in Wahrheit eine Rückkehr zu Berkeley und Hume. Bekannten sich diese aber noch offen zum Idealismus, so distanzierten sich jene von ihm. Sie erklärten, sich über den Gegensatz von Idealismus und Materialismus erheben und die Einseitigkeiten beider überwinden zu wollen. In Wahrheit vollzogen sie nur einen Methodenwechsel. Dieser Mefihodenwechsel hatte in gesellschaftlicher Hinsicht zwei verschiedene, aber einander bedingende Seiten. Er war Reflex der kapitalistischen Wirklichkeit im bürgerlichen Bewußtsein und Waffe gegen den durch den Fortschritt der Naturwissenschaften erstarkenden Materialismus. Für Neukantianismus und Positivismus war die Welt, infolge des durch den Fetischisierungsprozeß verzerrten Individualitätsbewußtseins, disharmonisch und fragmentarisch. Sie überspitzten das Relative aller menschlichen Erkenntnis. Die Feststellung der durchgängigen Relativität war ihnen wiederum Anlaß, die gesellschaftlichen Problame zu suspendieren. Wenn sie doch eine weltanschauliche Einsicht vermittelten, so war es diese, daß die Welt bruchstückhaft sei und ewig so bleiben werde. Gesellschaftliche Teilnahmslosigkeit galt ihnen als größte wissenschaftliche Korrektheit. Die herrschende bürgerliche Philosophie hatte die Funktion, von jedem - als sinnlos dargestellten - politischen Handeln abzuhalten, erst recht natürlich von dem Versuch, die bestehende Ordnung zu verändern. Der apolitische, abstrakte, überspitzte Relativitätsstandpunkt ist charakteristisch für Fiedlers kunstfcheoretische Abhandlungen. Das kommt schon in seinem individuellen Stil zum Ausdruck. Liest man seine Schriften, so ist man zunächst verwundert über die trockene, ganz aufs Begrifflich-Abstrakte abgestimmte, alle Bildhaftigkeit meidende Sprache. Sie stimmt so gar nicht überein mit dem Thema, das er behandelt. Daran Anstoß zu nehmen, wäre allerdings unsinnig, denn theoretische Reflexionen können in die Kunst einführen, das unmittelbare Erleben aber nicht ersetzen. Wesentlicher ist schon, daß Fiedlers rationale Sprache seiner aphoristischen, fragmentarischen Gedankenwelt widerspricht. Jeder Versuch würde scheitern, seine Ansichten in ein System bringen zu
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wollen. Der Mangel an Einheitlichkeit in den gedanklichen Konstruktionen und an logischer Folgerichtigkeit ist der Grund £ür zahlreiche sowohl terminologische als auch inhaltliche Unklarheiten. Fiedlers Ausführungen sind oft verworren, mehrdeutig, ja widerspruchsvoll. Es erschwert das eine Untersuchung außerordentlich. E r selbst schreibt unter zwei verschiedenen Daten in sein Tagebuch: „Ich könnte mein Dasein recht wähl ein aphoristisches nennen, nicht ein zusammenhangloses, aber auch kein systematisches. Gute Aphorismen sind immer noch besser als ein schlechtes System." (Tagebucheintragung vom 14.1.1869 zu Berlin). „Wenn ein autodidaktischer Bildungsgang vor der Gefahr schützt, die Energie eigenen originellen Nachdenkens in der Schule der anerkannten Muster einzubüßen, so bringt er auf der anderen Seite den Nachteil mit sich, in dem selbsterworbenen Gebäude der Erkenntnis -und der Weltanschauung mancherlei Lücken zu lassen. Ich fühle an mir gar sehr den Zwiespalt zwischen einem bruchstückartigen Wissen und einer weit vorgeschrittenen Erkenntnis. Meine Tätigkeit erhält dadurch etwas Fragmentarisches und es wird mir unendlich schwer, gewonnene Erkenntnisse systematisch vorzuführen. So wird man freilich bei allem Streben nach Vollständigkeit wieder in die Notwendigkeit des Fragmentarischen zurückgewiesen und sieht zuletzt ein, daß aus allen den Bruchstücken schließlich nicht einmal ein ganzes Gebäude fertig werden kann, noch soll; der Schluß aller Weisheit ist eben der, daß man die Arbeit der Erkenntnis tun muß, weil man die Fähigkeit dazu bekommen hat, nicht aber darf man Fähigkeit und Arbeit des Erkennens als Mittel zu irgendeinem zu erreichenden und der Menschheit bevorstehenden Zweck ansehen. Es ist das die alte Überhebung des Menschengeistes." (Tagebucheintragung vom Mai 1873 zu Crostewitz). Hier kommt ein typischer Zug der sich hochmütig, aber auch verzweifelt von der gesellschaftlichen Praxis abwendenden Rentnerideologie zum Ausdruck. Auf die Rentnerbasis wird der allgemeine Widerspruch zwischen Erkennen und Handeln aufgepfropft, in dem sich die ganze kapitalistische Ordnung bewegt. Fiedler versuchte, aus der Not eine Tugend zu machen. Einerseits klagte er über das eigene Unvermögen, zu systematisieren, andererseits zog er den Schluß, eine Systematisierung verbiete sich auf Grund der durchgängigen Relativität aller Erkenntnis von selbst. Aus dem gleichen Grund lehnte er ab, die Erkenntnis in den Dienst praktischer Zwecke zu stellen. In Verkehrung des Tatbestandes hielt er die eigene Verachtung der Praxis für Bescheidenheit, die praktische Anwendung der Philosophie dagegen für die „alte Überhebung des Menschengeistes". Hier geht es schon um mehr als um die Systematisierung von bloßen Gedankengängen, es geht um die Einordnung der Philosphie in ein größeres Ganzes, um ihre weltverändernde Kraft. Fiedler wollte sie eingeschränkt sehen auf eine Erkenntnis und der reinen Erkenntnis willen. Es war ihm darum zu tun, ihr und auch der Kunst einen „reinen" Bereich zu sichern. Er löste beide aus den realen Lebenszusammenhängen heraus und suspendierte alle weltanschaulichen Probleme. Das hieß aber, die Philosophie existierte nur für die Philosophie, die Kunst nur für die Kunst: l'art pour l'art. Fiedler selbst untersuchte vom Standpunkt einer selbstgenügsamen Philosophie
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aus eine selbstgenügsame Kunst. E r verband sozusagen zwei in sich abgeschlossene Spezialgebiete. Diese Tendenz zur Spezialisierung war den neukantianischen bzw. positivistischen Gedankengängen inhärent. Die Einzelwissenschaften wurden sowohl von den philosophischen Verallgemeinerungen als auch voneinander weitgehend isoliert. D i e Philosophie selbst wurde zur Spezialwissenschaft und beschränkte sich auf die Ausarbeitung der Erkenntnistheorie und der Psychologie. Hier konnte sie sich scheinbar ungebunden bewegen und, nur einem kleinen Kreise Intellektueller verständlich, akademische Formeln ausklügeln. Den Mittelpunkt ihres Denkens bildete ein geschichtsund gesellschaftsloses, abstrakt theoretisches Erkenntnissubjekt. In der Tendenz zur Spezialisierung reproduzierte sich auf abstrakte Weise die unter den Bedingungen des Kapitalismus fortschreitende Arbeitsteilung. Die menschliche Persönlichkeit wurde zerstückelt, so mußte auch ihr Bewußtsein in getrennte Spezialgebiete zerfallen, denen der einheitliche Bezugspunkt fehlte. Während sich Fiedler in seiner apolitischen Haltung und in der Abweisung historisch-gesellschaftlicher Zusammenhänge dem Rahmen der herrschenden bürgerlichen Philosophie einpaßte, kritisierte er die offizielle Kunstauffassung des bürgerlich-feudalen Klassenbündnisses. In der bildenden Kunst dominierte der Idealismus der Historien-Malerei. Idealisierte Darstellungen aus der deutschen Geschichte - meist süßliche Apotheosen der gekrönten Häupter und Häuser - sollten dem Beschauer patriotisch das Herz schwellen lassen. Unverhohlen wurde politische Parteinahme für die bestehende Ordnung gefordert. Fiedler wandte sich entschieden gegen alle offiziellen Bestrebungen, die bildende Kunst in den Dienst der herrschenden Politik zu stellen. Was er aus der Philosophie eliminierte, wollte er auch aus der Kunstauffassung herauslösen: die historisch-gesellschaftlichen Bindungen. In der Zeit von 1870 bis 1890 bestand in Deutschland - im Unterschied zu Frankreich - zwischen der Philosophie und der Kunstauffassung der herrschenden Klassen ein gewisser richtungsmäßiger Widerspruch. Die eine sollte sich des offenen politischen Engagements enthalten, die andere sollte es eingehen. In der einen war man durch den Fortschritt der Naturwissenschaften und das Vordringen des Sozialismus zu einer Defensivhaltung gezwungen. Möglichst diskret sollten die brüchig gewordenen idealistischen Thesen umgeformt und gefährliche weltanschauliche Konsequenzen ausgeschaltet werden. In der anderen dagegen fühlte man sich bis etwa 1890 in der Offensive. D i e Idealisierung vaterländischer und religiöser Themen wurde lauthals mit gewaltigem Aufwand betrieben. In der einen betrieb man durch die scheinbare weltanschauliche Entihaltsamkeit eine indirekte, in der anderen eine direkte Apologie der herrschenden Ordnung. Die Philosophie durfte nicht populär sein, die Kunst aber mußte es sein. Fiedler wandte sich einerseits gegen den Idealismus der Historien-Malerei, andererseits aber auch gegen den zeitgenössischen Naturalismus. Der Naturalismus war unmittelbarer Gegner der herrschenden, offiziellen Kunstauffassung. Ihn bekämpfte sie mit allen Mitteln. Sie übersah dabei anfangs, daß er keine einheitliche, eindeutige, stets am gleichen Wirklichkeitsbegriff orientierte Konzeption war. Reichte er doch vom naiven Materialismus der sozialkritischen Realisten bis zum Positivismus der Impressionisten. Der offiziellen Kunstauffassung galt als „naturalistisch", was nicht der gewünschten 2
Faensen
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Zur Problemstellung: Fiedler und seine Zeit
Idealisierung und damit der Glorifizierung des herrschenden Regimes entsprach. Hier entdeckte sie Opposition. Später sah sie die politische Harmlosigkeit der wahrhaft naturalistischen Richtungen ein und erkannte ihren eigentlichen Gegner im Realismus, vor allem, sofern er proletarische Züge trug. Fiedlers Kampf sowohl gegen die Idealisierung als auch gegen den Naturalismus entsprang der Überzeugung, beide seien extreme Einseitigkeiten und der Gegensatz zwischen ihnen müsse zum Wohl der bildenden Kunst überwunden werden. Diese Überzeugung einte ihn mit Marées und Hildebrand. Die drei Freunde sahen die eigentliche bildnerische Aufgabe in der Klärung der Sichtbarkeit. Durch ein besonders qualifiziertes Sehen soll das optisch Mannigfaltige und Verworrene zur geordneten Einheit emporgebildet werden. Wesentlich ist die formale sinnliche Anschauung. Der historisch-gesellschaftliche Inhalt soll weitgehend reduziert bzw. überhaupt eliminiert werden. Fiedler, Marées und Hildebrand unternahmen den Versuch eines dritten Weges. Ihr Versuch entsprach der ideologischen Funktion nach dem Methodenwechsel in der herrschenden bürgerlichen Philosophie. In der Kunstauffassung wurde nachgeholt, was Neukantianismus und Positivismus in der Erkenntnistheorie bereits vollzogen hatten: der Übergang von der objektiven und spekulativen zur subjektiven und sensualistischen Form des Idealismus. Dieser kunsttheoretische Methodenwechsel führte in der Konsequenz zum Formalismus.
I. Methodenwechsel als „dritter Weg"
1. Philosophische
Entwicklung
Als die Spätphase des Kapitalismus angebrochen und die Bourgeoisie gezwungen war, die Position der Sachwalterin allgemeiner Interessen gegenüber der feudalen Reaktion aufzugeben und ein Bündnis mit ihr einzugehen, konnte die bürgerliche Ideologie nicht mehr Anspruch auf Universalität erheben. Ihre sogenannte klassische Periode war zu Ende. In ihr mochte sie sich noch durch weltanschauliches Bekennertum, durch eine fruchtbare Wechselwirkung zwischen philosophischer Seite einerseits und natur- .bzw. geisteswissenschaftlicher Seite und künstlerischer Seite andererseits, durch einen starken und feinen Wirklichkeitssinn ausgezeichnet haben. In der neuen Entwicklungsphase wurden andere Kriterien maßgebend. Wesentlich progressiver Tendenzen war die bürgerliche Ideologie nicht mehr fähig. Sie geriet sogar in Widerspruch zu ihren eigenen „klassischen" Ideen und Idealen. Dieser Widerspruch drückte sich einmal in der Zerstörung des fortschrittlichen Erbes, zum anderen in einem eklektischen Zusammenschluß der Trümmer des Alten aus. Dazu kam, daß die Entwicklung der Natur- und Gesellschaftswissenschaften im Laufe des 19. Jahrhunderts den philosophischen Idealismus beeinträchtigt hatte, dieser aber ideologisch geeignet war, das Bewußtsein und den Willen der Menschen von einer revolutionären Umgestaltung der bestehenden Verhältnisse abzulenken. Ein Methodenwechsel der herrschenden bürgerlichen Ideologie war notwendig, um der Herausbildung des Imperialismus mit der verschärften Ausbeutung und dem verstärkten Klassenkampf zu entsprechen. Die bürgerliche Ideologie ging allmählich über von einer direkten zu einer indirekten Apologie. Bemühte sich die direkte Apologetik, die Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaftsordnung zu verschleiern, nährte sie die liberale Illusion, in der ,/besten aller Welten" zu leben, so gab die indirekte Apologetik diese Widersprüche unverhohlen zu, ja ging von ihrer Unabänderlichkeit aus. Sie erklärte sie zu Eigenschaften nicht des Kapitalismus, sondern des menschlichen Daseins schlechthin. Daraus folgte dann zwangsläufig, daß ein revolutionärer Sturz der bestehenden Ordnung sinnlos und eine Sozialreform ä la Bismarck als einziges „Heilmittel" erscheinen mußte. Die Arbeiterklasse sollte ideologisch ins Schlepptau des Kapitals genommen und dem Einfluß des Sozialismus sowie des mit diesem verbundenen philosophischen Materialismus entzogen werden. Neukantianismus und Positivismus leiteten in der herrschenden bürgerlichen Philosophie den Methodenwechsel ein, um den Idealismus den neuen gesellschaftlichen Verhältnissen anzupassen. Sie identifizierten den individuellen menschlichen Bewußtseinsinhalt, je nach ihrer philosophischen Schattierung entweder das begriffliche Denken oder die Empfindungen bzw. Empfindungs-Koimplexe, mit der Wirklichkeit. Unter 2*
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I. Methodenwechsel als „dritter W e g "
diesem Gesichtspunkt mußte jeder Versuch, über die Bewußtseinsgrenzen hinauszukommen, einem unerlaubten Transzensus gleichkommen. D i e objektive Realität der Welt, ihre Urspminglichkeit gegenüber dem menschlichen Bewußtsein und ihre Erkennbarkeit wurden bestritten. D a aber - um nicht mit der naturwissenschaftlichen Forschung zu kollidieren - der Anschein eines Anknüpfens an die objektive Realität vorgetäuscht werden mußte, präsentierte sich der subjektive Idealismus vorerst vor allem als Sensualismus. D i e logizistische Linie lasse ich hier bewußt außer acht, da sie im Zusammenhang mit Fiedler keinerlei Rolle spielt. Es wurde behauptet, die Quelle aller Erkenntnis sei die sinnliche Erfahrung. Weiter ging man freilich nicht. D i e Frage nach dem Ursprung der sinnlichen Erfahrung wurde entweder falsch oder gar nicht gestellt. Im Gegenteil tat man so, als sei diese kein Bewußtseinsinhalt, sondern die alleinige überhaupt mögliche Wirklichkeit. Man verlieh ihr eine A r t Schein-Objektivität. Lenin wies schon nach, daß sich aus der Voraussetzung des Sensualismus zwei Schlußfolgerungen ziehen lassen, eine subjektivistische und eine objektivistische. D i e eine betrachtet die Empfindungen bzw. Empfindungs-Komplexe als einzige Realität, die andere führt sie auf Einwirkungen der objektiven Wirklichkeit zurück und erklärt sie als deren Abbilder. 1 6 Zum Subjektivismus gesellte sich der Agnostizismus. D i e Grenzen der subjektiven Erfahrung durfte ein „positiver" Denker nicht überschreiten. Hinter ihnen lag das Unerkennbare. Nicht zugänglich waren mystizistische Abstraktionen, nicht zugänglich war im Grunde auch die ganze objektive Wirklichkeit. Mit dem objektivistischen und mystizistischen Idealismus wurde zugleich jede realistische und materialistische Auffassung ins Reich der Spekulation verwiesen. Der dem subjektiven Idealismus verbundene Agnostizismus machte es möglich, von den für die ökonomische Entwicklung unentbehrlichen Naturwissenschaften alles zu gebrauchen, was dem Kapitalismus nützte und zugleich einer weltanschaulichen Stellungnahme vor dem dadurch veränderten Weltbild auszuweichen. Das entstehende weltanschauliche Vakuum konnte dann mit Anbruch des Imperialismus mühelos von der Lebensphilosophie, dem E x i stenzialismus und dem Faschismus ausgefüllt werden. Denn die Konsequenz der Abkehr vom politischen Handeln genügte nur den Bedürfnissen der vorimperialistischen Bourgeoisie. Nach den 90er Jahren ging der Auftrag an die bürgerliche Philosophie weiter: sie sollte zur aktiven Unterstützung des Imperialismus mobilisieren. Fiedler hatte, wenn auch mit einem unmittelbaren künstlerischen Sinn begabt, einen bewußt philosophisch reflektierenden Ausgangspunkt. Ursprünglich begeisterter Schopenhauerianer, führte ihn der Weg über den neukantianischen Phänomenalismus zum Positivismus. Während dieses philosophischen Entwicklungsweges ging es ihm aber immer um eine Grundfrage: Wie schafft das subjektive Bewußtsein die Wirklichkeit? Derselben nach einer bestimmten Seite hin überhaupt erst Gestalt zu verleihen, betrachtete er als Wesen der künstlerischen Tätigkeit. Philosophisch war er von vornherein subjektiver Idealist. Das Zentrum seines Subjektivismus ist der in Anlehnung an Kant gewonnene Formbegriff. Dieser Formbegriff wertet den Abbildcharakter der Erkenntnis ab und setzt an seine Stelle den „Gebildecharakter" einer rein subjektiven Bewußtseinsproduktion. E r richtet sich ausdrücklich gegen die Abbildtheorie, die die Erkennbarkeit der unabhängig und außerhalb unseres Bewußtseins existierenden Realität hervorhebt und die Objektivität der Erkenntnis garantiert.
1. Philosophische Entwicklung
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Kant hatte in der „Kritik der reinen Vernunft" die Erkenntnis als Zusammengesetztes aus sinnlichem Stoff und geistigen Formen erklärt. D e r eine werde uns von außen gegeben, indem die „Dinge an sich" auf uns einwirkten und Empfindungen erregten, die anderen würden unabhängig und vor jeder Erfahrung in unserem Bewußtsein wirken. Für Kant haben die geistigen Formen die Funktion von Prinzipien apriori. Sie bringen den sinnlichen Stoff in bestimmte Ordnungen. Ohne sie würde er ein unverständliches Chaos bleiben. D a die Erkenntnis ihnen von vornherein eingepaßt ist, erkennen wir nur, was wir geformt haben, nämlich die Erscheinungen bzw. Phänomene. Wir erkennen eine Wirklichkeit, wie sie uns auf Grund der Struktur unseres Bewußtseins erscheint, wie wir sie durch die Formen selbst schaffen, nicht jedoch, wie sie abgesehen von ihnen, wie sie an sich beschaffen ist. D i e „Dinge an sich" bleiben unerkennbar. Die Erkenntnistheorie Kants enthält Elemente, die der Anerkennung einer unabhängig und außerhalb vom menschlichen Bewußtsein bestehenden, objektiven Realität Rechnung tragen. In ihr dominieren aber die idealistischen Elemente. Ein solches E l e ment ist der Agnostizismus. Die erkennbare Wirklichkeit wird auf Erscheinungen unseres Bewußtseins eingeschränkt, die wir selbst erst gebildet haben. Sie erhält den Charakter der Phänomenalität. Die objektive Realität dagegen wird in das dunkle unbekannte Reich der „Dinge an sich" verdrängt, also vom Bezirk möglicher Erfahrung getrennt. W i r sollen die Wirklichkeit stets durch die Brille unseres subjektiven Bewußtseins sehen und nie wissen, wie sie eigentlich beschaffen ist. Nach dieser Auffassung lebt jeder letztlich in seiner eigenen Erscheinungswelt. Ein objektives Kriterium der Erkenntnis gibt es nicht. Ein weiteres idealistisches Element ist der Apriorismus. Kant geht von der irrigen Annahme aus, daß es Prinzipien „apriori" gibt, die wir als Gesetze der Wirklichkeit gleichsam in dieselbe hineintragen, um sie dann in ihr wiederzuerkennen. Was aus der praktischen Erfahrung erst durch Abstraktion gewonnen wurde, verwandelt er in eine über alle Erfahrung hinausgehende und durch keine Erfahrung begründbare Allgemeinheit und Notwendigkeit. Lenin macht darauf aufmerksam, daß wegen der philosophischen Halbheiten sowohl die konsequenten Materialisten als auch die konsequenten Idealisten einen harten Kampf gegen Kant führen. 17 D i e einen kritisieren ihn von links, die anderen von rechts. Fiedler orientierte sich auf die Kant-Kritik von rechts, auf Schopenhauer, Liebmann und F . A. Lange. Eine seiner ersten Tagebuchaufzeichnungen erwähnt K a n t und Schopenhauer in einem Atem: „In Rom ist mir erst der Ernst des Lebens aufgegangen und ich habe die Notwendigkeit eingesehen, mir auf Grund von Kant und Schopenhauer eine ganz neue geistige Grundlage zu schaffen. - D i e Philosophie von K a n t und Schopenhauer ist der eigentliche Stein der Weisen, wer sie nicht inne hat ist ein Narr und faselt sein Leben lang, wer sie erkannt und verstanden hat (und derer sind sehr wenige) wird eine Art höheren Wesens, er überragt die Menge und führt gleichsam ein Doppelleben, indem er in seinem Umgang mit der Menge zu dieser herabsteigen muß." (Tagebucheintragung vom Mai 1867). In einem Brief, den Fiedler am 1 8 . 1 . 1 8 6 9 an Irene Koppel, die spätere Frau Adolf von Hildebrands, schrieb, weist er auf die am Ende des ersten Bandes von Schopen-
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I. Methodenwechsel als „dritter Weg"
hauers „Welt als Wille und Vorstellung" befindliche Kant-Kritik und auf Liebmanns Schrift „Kant und die Epigonen" hin. Gleicherweise beeinflußte ihn die erste Auflage von F. A. Langes „Geschichte des Materialismus". Schopenhauer, Liebmann und Lange werfen Kant mangelnde Konsequenz in der Durchsetzung des Formbegriffs vor. D e r gleiche Widerspruch, den Aenesidemus Schulze, Salomon Maimon und Fichte schon erkannt haben, wird von ihnen weiter ausgearbeitet: Einerseits setzt Kant Einwirkungen der „Dinge an sich" als Ursachen sinnlicher Empfindungen voraus, wendet also das Kausalitätsprinzip jenseits möglicher Erfahrung an, andererseits behauptet er, Kausalität sei eine Verstandeskategorie apriori und gelte nur innerhalb der Grenzen möglicher Erfahrung. Aus diesem Widerspruch zieht man die Schlußfolgerung, die Existenz von „Dingen an sich", soweit sie der objektiven Realität entsprechen, müsse bestritten werden. Fiedlers jugendliche Begeisterung für Schopenhauers Aristokratismus wich bald einem nüchternen neukantianischen Phänomenalismus. In den beiden Frühschriften „Uber die Beurteilung von Werken der bildenden Kunst" (1876) und „Über Kunstinteressen und deren Förderung" (1879) wird die objektive Realität in den Hintergrund geschoben, aber noch anerkannt. Gesprochen wird von einem „unbekannten Reich", „welches wir als hinter der Welt der Erscheinung, in der wir leben, liegend voraussetzen müssen." 18 Wie Kant bezeichnet Fiedler die Sinnesempfindungen als den Punkt, wo wir mit den „Dingen an sich" zusammenhängen: „Alles, was diesseits der Sinnesempfindung wahrgenommen wird, ist bereits ein Produkt der menschlichen'Natur. So sind es allein die Tatsachen der Sinnesempfindung, bei denen man sich mit dem Bewußtsein, daß sie in Abhängigkeit von der menschlichen Natur stehen, zugleich das andere Bewußtsein verbindet, daß in ihnen dem Menschen etwas zugeführt wird, was nicht von seiner Natur abhängig ist." Fiedler meint, jeder Mensch, auch der geringste, müsse sich seine Wirklichkeit selbst erzeugen. E r finde nichts Gestaltetes unabhängig und außerhalb von sich vor und spiegele es geistig wider, vielmehr bringe er Gestaltetes überhaupt erst zum Dasein. Die Welt konstituiere sich in subjektiven Formprozessen. Erkennbar sei jeweils nur, was geistig erzeugt wird. Fiedler erklärt: Wenn „die gesamte Wirklichkeit in einem subjektiven Vorgang aufgelöst" sei, „der mit einem vorausgesetzten Gebiet des objektiv Seienden nur in seinem Ausgangspunkt, in den Sinnesempfindungen" zusammenhänge, „wird jener althergebrachte Unterschied .von einer erkennenden und verschiedenen umgestaltenden Tätigkeiten, denen der menschliche Geist die Wirklichkeit unterwerfen könne, hinfällig. Die sogenannte erkennende Tätigkeit, so gut wie die sogenannten umgestaltenden Tätigkeiten müssen, wenn auch nicht ihren Resultaten, so doch ihrem Wesen nach insofern gleich sein, als sie in nichts anderem bestehen können, als in Formungen des gemeinsamen, in den Sinnesempfindungen gegebenen Stoffs." 19
1. Philosophische Entwicklung
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Unter dem fortdauernden Einfluß der Kant-Kritik von rechts gab Fiedler den widerspruchsvollen Phänomenalismus allmählich aber wieder auf. Er begann, das „hinter der Welt der Erscheinung" angenommene „unbekannte Reich" nach dem Vorbild Schopenhauers, Liebmanns und F. A. Langes abzubauen. Zwar reduziert er nicht wie Schopenhauer die „transzendenten" „Dinge an sich" auf ein einziges und mystifiziert dieses zum immanenten Willen. Zwar bekennt er sich nicht wie Liebmann zur „Metaphysik". Aber er greift eine Tendenz auf, die bei beiden eine untergeordnete, bei F. A. Lange eine übergeordnete Rolle spielt: die „psycho-physiologische" Kant-Interpretation. Durch sie wiederum wurde er dem Positivismus nahegebracht. Die Umorientierung Fiedlers setzte in den achtziger Jahren ein. In seinem Hauptwerk „Über den Ursprung der künstlerischen Tätigkeit" (1887), vor allem in den sogenannten drei Bruchstücken gibt er ein Bekenntnis zur positivistischen Immanenzphilosophie W. Schuppes ab. Bei seiner Abneigung gegen alles Zitieren und Berufen kann das nicht hoch genug veranschlagt werden. Er machte sich auch umfangreiche Exzerpte aus der „Erkenntnistheoretischen Logik" Schuppes. Andererseits darf man die Verbindungslinien nicht zu eng ziehen. Fiedler legte sich nie direkt auf einzelne Gedankengänge, vielmehr nur auf das immanenzphilosophische Prinzip als solches fest. Zudem wirkte die „psycho-physiologische" Tendenz weiter. Abgesehen von F. A. Lange sind hier vor allem H. Helmholtz, G. Fechner und W. Wundt von Einfluß. Die „psycho-physiologische" Kant-Interpretation, der Fiedler zuneigte, begreift das Apriori nicht streng gnoseologisch. Sie findet es nicht im methodischen Charakter der Allgemeinheit und Notwendigkeit, sondern in der „psychophysischen" Organisation bzw. Natur des Menschen, die letztlich freilich immer wieder als individuelles Bewußtsein aufgefaßt wird. Die Formprozesse haben keinen transzendentalen, sondern „psycho-physiologischen" Charakter. Ein Punkt mag Fiedler besonders berührt haben: die Physiologie der Sinnesorgane, von A. F. Lange bezeichnet als „entwickelter oder berichtigter Kantianismus". Die von Johannes Müller entworfene und von H. Helmholtz fortenwickelte Theorie von den spezifischen Sinnesenergien 20 wird zu der Auffassung radikalisiert, die sinnlich-anschauliche Erkenntnis sei nicht nur abhängig von der Struktur der Sinesorgane, vielmehr werde sie durch diese überhaupt erst erzeugt. Die „psycho-physiologischen" Gesetze sollen z. B. für den Sehakt ebenso gelten wie für die sichtbare Beschaffenheit der Welt, entsprechend die Formprinzipien des Bewußtseins für den Erkenntnisakt des Subjekts ebenso wie für das zu erkennende Objekt. Die ganze Sinnenwelt wird zum Produkt der geistig-körperlichen Organisation des Menschen. Dem physischen Faktor fehlt freilich die objektive Wirklichkeit, wenn F. A. Lange erklärt: „jede physische Organisation... i s t . . . eben doch nur meine Vorstellung und kann sich zu ihrem Wesen nicht von dem, was ich sonst geistig nenne, unterscheiden."21 Für Fiedler gilt die gleiche Regel. In einem Punkt geht er aber über F. A. Lange hinaus. Bemängelt dieser an Kant, daß er die intelligible Welt nicht als Welt der Kunst ansehen wollte, so nimmt Fiedler sich vor, die Kunst auf den Boden „positiver Erfahrung" zurückzuholen. Seinem Freund Hildebrand schrieb er: nur so viel, daß ich meinen Ausgangpunkt nicht gar so weit zurück suche, als Du denkst; die Anschauung von der geist-körperlichen Natur des Menschen und
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I. Methodenwechsel als „dritter Weg"
von seiner Stellung innerhalb der Welt, welche sich an den Fortschritten physiologischer, psychologischer und philosophischer Unternehmungen allmählich entwickelt und ergeben hat, muß ich acceptieren; das ist der Boden, von dem man nicht weg kann, und es handelt sich für mich eigentlich nur darum, zu zeigen, daß das Phänomen der künstlerischen Tätigkeit eben auch aus diesem Boden herauswächst, in ihm wurzelt und auf im steht."22 Durch die „psycho-physiologische" Kant-Interpretation wurde Fiedler zum philosophischen Positivismus geleitet. Hier sind verschiedene Systembildungen zu unterscheiden. Alle eint ein Grundzug: subjektiver Idealismus. Alle haben sie irgendwie Berührung mit den Gedankengängen von Hume und Berkeley. Eine von ihnen nennt sich Immanenzphilosophie. Ihr Hauptvertreter ist Wilhelm Schuppe. Wie die anderen bekämpft er mit „Metaphysik" auch die „Dinge an sich". Jeden Schritt über das Ich hinaus hält er für einen unerlaubten Transzensus. Er erklärt, die Wirklichkeit existiere nur als Inhalt des eigenen Bewußtseins. Alles Sein sei bewußtseinsimmanent. Schuppe gebraucht dabei die Begriffe des Ich und des Bewußtseins im gleichen Sinn. Im „sichseiner-bewußt-sein" bestehe das Ich. Unsere Erkenntnis falle demgemäß mit dem Erkenntnisobjekt zusammen. Wie die beiden zueinander kommen, so äußert er, könne nicht gefragt werden, da feststehe, daß sie ohne einander überhaupt nicht existieren können. Objekt der Erkenntnis seien die Regungen des eigenen Bewußtseins. Schuppe unterscheidet sich durch zwei Züge von anderen positivistischen Denkern. Diese reduzieren in der Regel sowohl die realen Objekte als auch das Ich auf Komplexe von „Elementen" bzw. Empfindungen. Er dagegen hält am Dasein des individuellen Ich fest und läßt neben dem primär sinnlich Gegebenen auch noch Abstrakta und Gefühle gelten. Gewisse Anklänge an Kant tauchen auf. Zwar lehnt er ab, die Empfindungen aus bewußtseinsunabhängigen Einwirkungen hervorgehen zu lassen. Doch ist er mit Kant einer Meinung über die Zusammengesetztheit der Inhalte unseres Bewußtseins. Er bringt den Formbegriff ins Spiel. Das sinnlich Gegebene sei immer schon durch geistige Prinzipien, u. a. Identität und Kausalität, strukturiert. An sich wechselhaft und unbestimmt, werde es durch sie zu klaren und bestimmten Erscheinungen geordnet. Schuppe lehnt die Abbildtheorie ausdrücklich ab. Indem er nicht nur feststellt, daß ausschließlich die Gebilde des eigenen Bewußtseins erkennbar seien, sondern auch, daß es außerhalb desselben überhaupt kein Seiendes gäbe, überwindet er den phänomenalistischen Agnostizismus zugunsten der Tendenz zum Solipsismus. Er bestreitet nicht nur die Erkennbarkeit, sondern auch die Existenz einer objektiven Realität. Die beiden Züge, durch die sich Schuppe von anderen positivistischen Systemen unterscheidet, sind maßgebend für seinen Einfluß auf Fiedler. Die Beibehaltung des individuellen Ich gewährleistet das künstlerische Persönlichkeitsideal. Die Beibehaltung des Formbegriffs garantiert auch unter positivistischem Aspekt die Auffassung vom subjektiven Gebildecharakter der Wirklichkeit. Der Unterschied zur phänomenalistischen Phase, in Einzelheiten freilich nicht immer offensichtlich, macht sich vor allem in Fiedlers Bekenntnis zum Monismus des immanenzphilosophischen Prinzips bemerkbar. War er vorher von der Existenz einer objektiven, wenn auch unerkennbaren Welt
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neben der vom menschlichen Bewußtsein hervorgebrachten Welt der Erscheinungen überzeugt, so sträubte er sich nunmehr gegen eine „Aufspaltung der Wirklichkeit in zwei Hälften". Er polemisierte gegen „dualistische" Tendenzen. Die Zwiespältigkeit will er zur Einheit wenden. In seinem Hauptwerk „Über den Ursprung der künstlerischen Tätigkeit" tadelt er den kantianischen Phänomenalismus wegen der „Inkonsequenz" in der Abkehr von der objektiven Realität. Sei durch ihn auch die „Gegenüberstellung" von erkennendem Subjekt und erkennbarem Objekt aufgehoben worden, so nütze die Einsicht nichts, solange noch eine unbekannte wahre Wirklichkeit außerhalb der Gebilde des eigenen Bewußtseins vorausgesetzt werde. Selbst Kant könne man den Vorwurf des „Dualismus" nicht ersparen. „Dinge an sich" anzunehmen beruhe auf der Täuschung, eine unabhängig und außerhalb des menschlichen Bewußtseins existierende und unerkennbare Realität denken zu können. Der trügerische Schein falle, wenn man einsehe, daß das, was man für eine unüberwindliche Schranke hielt, nur in der eigenen Einbildung besteht. Dann sei man vom Dualismus endlich zu einem konsequenten Monismus gelangt. 23 Der Kampf Fiedlers galt aber nicht nur dem agnostizistischen Phänomenalismus. Gegenüber der Religion erhob er den Vorwurf, sie versuche den Zwiespalt der Welt durch den Glauben, gegenüber der spekulativen Philosophie, sie versuche ihn durch mystische Stimmungen zu überbrücken. Die eine verleugne das erkennende Bewußtsein. Die andere betäube es durch eine Steigerung der Gefühle. Im sogenannten ersten Bruchstück schreibt Fiedler: „Hat man es einmal unternommen, den Inhalt dessen zu prüfen, was wir Sein nennen, ist man einmal zu der lebendigen Überzeugung gelangt, daß in diesem Sein nichts anderes zu finden ist, als was wir zugleich Inhalt unseres Bewußtseins nennen müssen, so gewinnt es erst den richtigen Sinn, zu sagen, daß das Bewußtsein nicht vom Sein, sondern das Sein vom Bewußtsein abhängt." 24 Fiedler ist der Auffassung, daß alles Sein bedingt wird durch das menschliche Bewußtsein. Ohne das Bewußtsein höre es zu bestehen auf. Aus dieser Auffassung zieht er die Konsequenz, „der Begriff des Seins" habe „unweigerlich das Merkmal der Relativität". Im Grunde ist das eine tautologische Definition, denn Relativität bedeutet für ihn, daß die ganze Wirklichkeit „gleichsam zum abhängigen Besitz des Menschen geworden" ist. Zugleich wendet Fiedler sich gegen die Anerkennung eines „absoluten Seins", versteht unter diesem Terminus im Grunde aber das objektive, materielle Sein. Er meint eigentlich die „Eigenschaft" aller Dinge, außerhalb und unabhängig vom menschlichen Bewußtsein zu existieren. Wir müßten uns losreißen von der Annahme einer objektiven Realität. Über die Sinnesempfindungen, die Fiedler in der ersten Phase auf die Einwirkungen unbekannter, aber realer Objekte zurückführte, wagt er nicht mehr hinauszugehen. Er behauptet, „daß alle Wirklichkeit nichts anderes ist, als das jeweilige Resultat eines sinnlichgeistigen Vorgangs, dessen Anfänge in dem dunklen Gebiet der sinnlichen Empfindung verschwinden und der sich aus diesen dem Licht des Bewußtseins entzogenen Anfängen zu der mannigfaltig wechselnden Bestimmtheit und Fülle der Erscheinungen entwickelt und ausbreitet." 25
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I. Methodenwechsel als „dritter Weg"
Fiedler legt sich voll und ganz auf einem subjektiv idealistischen Positivismus fest. Aber er behält den neukantianischen Formbegriff bei, ja er akzentuiert ihn noch. Seiner Auffassung nach ist „ursprünglich" nichts gegeben außer den Empfindungen. Sie sind sozusagen der Ausgangspunkt aller Erkenntnis. „Bereitet" werden sie in einer „inneren Werkstatt", die unterhalb der „Schwelle des Bewußtseins" liegt. Während des Erkenntnisprozesses sollen sie aber vermöge der Formung fortentwickelt werden zu klaren und deutlichen Gebilden. Da lichtet sich, was „ursprünglich" ein sinnliches „Chaos" ist. Fiedler wollte sozusagen einen Zweifrontenkampf führen, auf der einen Seite gegen den „naiven Realismus" und den Materialismus, auf der anderen Seite gegen einen „nicht konsequent durchgeführten Idealismus"26. Ein solcher Idealismus beginnt bei den religiösen Ideen und reicht über den Mystizismus eines Plato, Plotin, Schelling, Schopenhauer bis zum Agnostizismus Kants. Beide Parteien unterzieht Fiedler der Kritik. Er wirft ihnen vor, sie hätten die uralte Erkenntnis, daß „der Mensch das Maß der Dinge" sei, nicht voll und ganz begriffen. Schon an diesem Vorwurf wird deutlich, daß Fiedler den Idealismus überhaupt nicht preisgibt. Da aber der alte objektive und spekulative Idealismus überholt ist, sieht er sich gezwungen, einen methodischen Wechsel vorzunehmen. Er behauptet, einen „dritten Weg" einzuschlagen. In Wahrheit begibt er sich auf den Boden des subjektiven und sensualistischen Idealismus. Dahinter steckt die Absicht, zu verhindern, daß der in den Naturwissenschaften immer wieder erzeugte spontane Materialismus zu einem bewußten Materialismus wird. Dahinter steckt vor allem die Absicht, den künstlerischen Realismus zu diskreditieren.
2. Bildnerische
Praxis und
Theorie
Den Versuch eines dritten Weges gab es auch in der bildenden Kunst. Er wurde von Hans von Marées und Adolf von Hildebrand unternommen. Allerdings erwies er sich in den Jahren zwischen 1870 und 1890 nicht als die herrschende Tendenz, d. h. als ideologischer Ausdruck des herrschenden Klassenkompromisses. Nicht die klassenbedingten, aber die richtungsmäßigen Fronten lagen anders als in der Philosophie, bei der die Konstruktion des „dritten Weges" im Neukantianismus und im Positivismus dominierte. Die Architektur wurde vom pompösen Neubarock, die bildende Kunst von der Historien-Malerei beherrscht. Sie feierte die Gegenwart in der Vergangenheit und betrieb dadurch eine direkte Apologetik des Bündnisses zwischen Bourgeoisie und feudaler Reaktion. Wer zu Ansehen und Rang kommen wollte, mußte sich ihr ergeben. Nur sie erhielt die großen Aufträge. Sie wurde von den staatlichen Instanzen verlangt, von den Industriellen gefördert und von den Akademien gepflegt. Der Klassizismus mußte seine Vorherrschaft abtreten. Ebenso erging es dem sich anfänglich aufrührerisch gebärdenden, später aber offiziell gebilligten romantischen Nazarenertum. Die mythologisch-allegorische und die religiös-sentimentale Idealisierung wurde beiseite gedrängt von einer monumental historisierenden Idealisierung. Man spricht deshalb oft von Ideen-Malerei. Gemeint ist, daß sich die inhaltlichen Bestimmungen nicht vollständig in der unmittelbaren künstlerischen Form auflösen und zum Teil ein äußerer, gedanklich-abstrakter Zusatz bleiben.
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I. Methodenwechsel als „dritter Weg"
Fiedler legt sich voll und ganz auf einem subjektiv idealistischen Positivismus fest. Aber er behält den neukantianischen Formbegriff bei, ja er akzentuiert ihn noch. Seiner Auffassung nach ist „ursprünglich" nichts gegeben außer den Empfindungen. Sie sind sozusagen der Ausgangspunkt aller Erkenntnis. „Bereitet" werden sie in einer „inneren Werkstatt", die unterhalb der „Schwelle des Bewußtseins" liegt. Während des Erkenntnisprozesses sollen sie aber vermöge der Formung fortentwickelt werden zu klaren und deutlichen Gebilden. Da lichtet sich, was „ursprünglich" ein sinnliches „Chaos" ist. Fiedler wollte sozusagen einen Zweifrontenkampf führen, auf der einen Seite gegen den „naiven Realismus" und den Materialismus, auf der anderen Seite gegen einen „nicht konsequent durchgeführten Idealismus"26. Ein solcher Idealismus beginnt bei den religiösen Ideen und reicht über den Mystizismus eines Plato, Plotin, Schelling, Schopenhauer bis zum Agnostizismus Kants. Beide Parteien unterzieht Fiedler der Kritik. Er wirft ihnen vor, sie hätten die uralte Erkenntnis, daß „der Mensch das Maß der Dinge" sei, nicht voll und ganz begriffen. Schon an diesem Vorwurf wird deutlich, daß Fiedler den Idealismus überhaupt nicht preisgibt. Da aber der alte objektive und spekulative Idealismus überholt ist, sieht er sich gezwungen, einen methodischen Wechsel vorzunehmen. Er behauptet, einen „dritten Weg" einzuschlagen. In Wahrheit begibt er sich auf den Boden des subjektiven und sensualistischen Idealismus. Dahinter steckt die Absicht, zu verhindern, daß der in den Naturwissenschaften immer wieder erzeugte spontane Materialismus zu einem bewußten Materialismus wird. Dahinter steckt vor allem die Absicht, den künstlerischen Realismus zu diskreditieren.
2. Bildnerische
Praxis und
Theorie
Den Versuch eines dritten Weges gab es auch in der bildenden Kunst. Er wurde von Hans von Marées und Adolf von Hildebrand unternommen. Allerdings erwies er sich in den Jahren zwischen 1870 und 1890 nicht als die herrschende Tendenz, d. h. als ideologischer Ausdruck des herrschenden Klassenkompromisses. Nicht die klassenbedingten, aber die richtungsmäßigen Fronten lagen anders als in der Philosophie, bei der die Konstruktion des „dritten Weges" im Neukantianismus und im Positivismus dominierte. Die Architektur wurde vom pompösen Neubarock, die bildende Kunst von der Historien-Malerei beherrscht. Sie feierte die Gegenwart in der Vergangenheit und betrieb dadurch eine direkte Apologetik des Bündnisses zwischen Bourgeoisie und feudaler Reaktion. Wer zu Ansehen und Rang kommen wollte, mußte sich ihr ergeben. Nur sie erhielt die großen Aufträge. Sie wurde von den staatlichen Instanzen verlangt, von den Industriellen gefördert und von den Akademien gepflegt. Der Klassizismus mußte seine Vorherrschaft abtreten. Ebenso erging es dem sich anfänglich aufrührerisch gebärdenden, später aber offiziell gebilligten romantischen Nazarenertum. Die mythologisch-allegorische und die religiös-sentimentale Idealisierung wurde beiseite gedrängt von einer monumental historisierenden Idealisierung. Man spricht deshalb oft von Ideen-Malerei. Gemeint ist, daß sich die inhaltlichen Bestimmungen nicht vollständig in der unmittelbaren künstlerischen Form auflösen und zum Teil ein äußerer, gedanklich-abstrakter Zusatz bleiben.
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W. Kaulbach, K . Piloty, H. Makart, A. v. Werner u. a. schufen riesenformatige Werke, deren geschichtliche Helden sich so bewegten, wie sich die einflußreichen Zeitgenossen zu bewegen wünschten. In ihnen spiegelte sich das luxusbedürftige, großmannssüchtige Lebensgefühl einer Gesellschaftsschicht, die aus bürgerlichen Emporkömmlingen bestand und aus einer alten Aristokratie, welche in das moderne kapitalistische Geldgeschäft eingestiegen war. Der hemmungslose Egoismus, die Barbarei und der ganze falsche Prunk der Gründer jähre kamen in einem pathetischen Stilgemisch zum Ausdruck. Monumental dargebotene historische Themen sollten die kirchlichen oder weltlichen Herrscher verherrlichen und einen gottesfürchtigen und vaterländischen Sinn im Volk wachrufen. Von diesem nationalistischen Patriotismus zum Chauvinismus und zum Haßausbruch gegen den „teuflischen" und „vaterlandslosen" Sozialismus war dann kein weiter Sprung. Entsprechend dem Herrscher-Ideal war die Malerei vor allem figürlich. Die Bedeutung der Figuren unterstrich das große Schaugepränge. Auf die genaue Wiedergabe des historischen Beiwerks, der Möbel, Geräte, Kostüme etc. legte man betonten Wert. E s hatte das aber auch noch einen anderen Zweck. Die Treue des Details wurde gepflegt, um realistische Tendenzen abzufangen, die volkstümlich waren. Allerdings rückte man, wie Anton Springer im Handbuch der Kunstgeschichte feststellt, „niemals zu der Eindringlichkeit und Überzeugungskraft Menzels auf, sondern beschränkte sich auf einen Theaterrealismus, der sich im günstigsten Falle mit dem späten Meiningertum, öfter aber mit dessen pathetisch-äußerlichen Entartung, der Meiningerei, vergleichen läßt." 2 7 Die Historien-Malerei kam dem Klassenkompromiß zugute. Sie entsprach der offiziellen Kunstauffassung. Folglich trat nicht nur die feudale Reaktion, sondern anfangs auch die Großbourgeoisie als ihr Förderer auf. D i e eine, im Besitz der Regierungsgewalt, beeinflußte zu ihren Gunsten die Akademien, Museen und das Ausstellungswesen. Die andere, im Besitz der ökonomischen Gewalt, bestimmte den Kunsthandel und die private Käuferschaft. Aufträge bekam neben der Historien-Malerei nur noch die Porträtkunst. Auch sie war freilich historisch in einem ganz besonderen Sinn. F. v. Lenbach und F. A. v. Kaulbach malten immer nur „Männer, die Geschichte machten". Nicht die wirklichen, sich in Kopf und Haltung ausprägenden Charakterzüge wurden dargestellt, vielmehr imponierende, pathetische Gesten von Persönlichkeiten, die repräsentieren, also auf die Öffentlichkeit wirken wollten. Zur offiziellen, d. h. herrschenden Kunstauffassung stand in Opposition der „Naturalismus". Seine Hauptquelle lag in Frankreich. Von hier aus griff er auf Deutschland über. In sich war er stark differenziert. D a s ist der Grund, weshalb ich den Terminus in Apostrophe setze. Um die Spanne zu ermessen, die der „Naturalismus" umfaßte, seien als Beispiel zwei Namen genannt: Courbet und Renoir. Beide Maler hatten gegen die Konvention, gegen den Geschmack der herrschenden Klassenschichten anzukämpfen. In beider Werken lassen sich Merkmale des künstlerischen Realismus nachweisen. Aber die soziale Aussage ist grundverschieden. Für Courbet waren Realismus und Revolution nur verschiedene Erscheinungen ein und derselben Sache. E r nahm selbst an der Pariser Kommune teil und zeigte dabei mehr Weitsicht als sein Freund Proudhon. Der politischen Einsicht entsprachen die künstlerischen Prinzipien. Nachdem alle „klassischen" bürgerlichen Ideale - Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - zerbrochen waren,
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mußte jede Idealisierung lächerlich erscheinen. Courbet forderte deshalb eine streng „objektive", d. h. wahrheitsgetreue Wiedergabe der Wirklichkeit. Im philosophischen Sinn war er naiver Materialist. Daraus resultiert, daß er sich vor allem der kritischen Darstellung des sozialen Lebens zuwandte. Er zeigte die Menschen zerfallen oder im unerbittlichen Kampf mit der kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Louis Aragon stellt sehr richtig fest, daß sein Auftritt in der Malerei, sein Bruch mit der herrschenden Konvention zusammenhängt mit dem Erwachen der Arbeiterschaft. Für Courbet hatte die Kunst eine sozialkritische Aufgabe. Renoir dagegen malte die bürgerliche Wirklichkeit, soweit er sie bejahte. Das konnte nur ein begrenzter Bereich sein: die Schönheit des Intimen und die Heiterkeit des Festlichen. Aber er malte unkonventionell, indem er auf neue Art zu sehen lehrte. Er erschloß neue ästhetische Seiten, vor allem in den Beziehungen von Licht, Luft und Farbe, und zerbrach den alten akademischen Kanon der Schönheit. Wichtig in diesem Zusammenhang ist die Absicht, faktologisch äußere Erscheinungen darzustellen, nicht sozialkritisch innere Zusammenhänge zu offenbaren. Renoir neigte wie alle Impressionisten im philosophischen Sinn zum naiven Positivismus. Dem entsprach, daß er politische Vorgänge ignorierte. Während der Kommune malte er in Paris weiter, als ob sich nichts ereignen würde. Andere Maler zeigten eine stärkere politische Aufgeschlossenheit, z. B. Monet und Pissarro bei der Dreyfus-Affäre. Alle Impressionisten lehnten aber eine gesellschaftliche Verpflichtung der Kunst ab, denn sie begriffen die tiefgreifenden sozialen Prozesse nicht. Hatte sich Courbet mit der revolutionären Arbeiterschaft verbündet, so teilten sie die schwankende Haltung der kleinbürgerlichen Boheme. Ähnlich war es in Deutschland. Künstler, die sich die realistischen Prinzipien zueigen machten, verbanden mit ihnen fast nie ein revolutionäres Bekenntnis und ein kunstpolitisches Engagement. Es genügte jedoch, um sich den konzentrierten Angriffen der Ministerien, der Akademien und der offiziellen Kunstkritik auszusetzen. Heftig wurde W. Leibi angefeindet, der nach Paris ging, um bei Courbet zu studieren. Ebenso erging es allen anderen, die das wirkliche Leben der Gegenwart schilderten, z. B. K. Hübner, Munkaczy und M. Liebermann. A. Menzel, der in Bildern wie dem „Eisenwalzwerk" ohne Zweifel zu ihnen zählte, versuchten die offiziellen Stellen von der „anrüchigen" Nachbarschaft zu befreien. Wenn Nedoschiwin als Spezifikum des Realismus im 19. Jahrhundert die innere Zwiespältigkeit hervorhebt, so gilt das für Deutschland auf Grund der Klassenlage, d. h. des Bündnisses zwischen Bourgeoisie und feudaler Reaktion im besonderen Maße. Der „Naturalismus" hat keine einheitliche, eindeutige Konzeption. Er drückt sich in verschiedenen künstlerischen Richtungen aus. Zu unterscheiden ist zudem die politische Haltung, die kunsttheoretische Auffassung und die bildnerische Praxis des individuellen Künstlers. Im Einzelfall wird man eine Fülle dialektischer Widersprüche entdecken. Deshalb ist Vorsicht am Platz bei dem Versuch, die von Zola formulierte Theorie des „Naturalismus" auf den Impressionismus zu übertragen. Aber der Versuch bietet sich an, denn zwischen beiden lassen sich auf dem Boden begrifflicher Abstraktion Gemeinsamkeiten ermitteln. Gemeinsam ist beiden z. B. der naive Positivismus. Daß er als methodisches Prinzip in der künstlerischen Praxis ständig durchbrochen wurde, lasse ich dabei bewußt außer acht. Während der Materialismus Courbets scharfe Kritik an der kapitalistischen Gesellschaftsordnurig übte, erschöpfte sich der Positivis-
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mus Zolas und der Impressionisten in der bloßen Feststellung des „Tatsächlichen". Er beschränkte sich auf die Forderung nach Kopie beliebig sinnlich wahrnehmbarer, d. h. durchschnittlicher und mittelmäßiger Erscheinungen. Alles Existierende erschien ihm gleichwertig. Das menschliche Leben war ebenso bedeutsam wie das Dasein irgendwelcher materieller Gegenstände. Auf protokollarische Weise sollte alles unterschiedslos festgehalten werden, ohne daß sich der Künstler um eine aktive Einstellung bemühen mußte. In diesem Sinn erwies sich der „Naturalismus" nicht als Antipode, sondern als Erbe der Romantik. Besonders offensichtlich wurde das, als er nach 1890 in den Formalismus hinüberwuchs. Weder im bonapartistischen Frankreich noch im bonapartistischen Deutschland kümmerte sich die offizielle Kunstauffassung vorerst um die weitgehende Differenzierung des „Naturalismus". Was nicht zur Verherrlichung des herrschenden Regimes beitrug, wurde ihm zugeordnet. Selbst die Feststellung des „Tatsächlichen" erschien oppositionell. Arnold Hauser schreibt: „In der Ablehnung des Naturalismus drückt sich also nichts als der Selbsterhaltungstrieb der herrschenden Klassen aus: ihr durchaus richtiges Gefühl, daß jede das Leben unvoreingenommen und hemmungslos darstellende Kunst an und für sich eine revolutionäre Tat ist. Der Konservatismus verfügt bezüglich dieser Gefahr über klarere Begriffe als die Opposition selbst. Gustave Planche spricht es in der Revue des Deux Mondes unumwunden aus, daß der Widerstand gegen den Naturalismus ein Glaubensbekenntnis neben der bestehenden Ordnung sei und daß man mit seiner Ablehnung zugleich den Materialismus und die Demokratie des Zeitalters ablehne." 28 Man muß aber streng zwischen einer klassenbedingten und einer richtungsmäßigen Opposition unterscheiden. Als der Kapitalismus in das Stadium des Imperialismus eintrat und sich der Klassenkampf zuspitzte, zeigte sich, daß die echten Fronten nur die klassenmäßigen Fronten waren. Erkennbar ist das weniger an der formalen Neuerung, als vielmehr an der neuen sozialen Aussage. Das Verhältnis der Kunst zur gesellschaftlichen Wirklichkeit bildet das Kriterium. An ihm scheidet sich z. B., was Zola als die Prinzipien seines Naturalismus formulierte, was im Werk der Impressionisten Gestalt gewann und was Courbet als Realismus charakterisierte. Der eigentliche Gegenspieler der offiziellen Kunstauffassung war der sozialkritische Realismus. Seine Klassenwurzel lag in den revolutionären Bestrebungen der geknechteten und ausgebeuteten Massen. Die offizielle Kunstauffassung sah allmählich - in Deutschland freilich erst nach 1890 - die soziale Harmlosigkeit der anderen Richtungen des „Naturalismus" ein. Schon durch offizielle Anerkennung wurden sie gesellschaftlich entschärft. Z. B. berichtet L. Aragon von einem „der verdienstvollen Kritiker für die Bourgeoisie, der sich .Hoheit' Josephin Peladan nennen ließ". Dieser Peladan habe Courbet mehr als sechs Jahre nach seinem Tod im „Artiste" einen „unförmigen Wechselbalg" genannt, und zwar zu dem Zweck, „ihn von jenen abzusondern, die man in aller Ruhe bewundern konnte: Monet, Manet, Renoir, Sisley usw., die gesellschaftlich .vernünftiger' waren . . Z'29 In der Pressefehde, die 1897-98 in Berlin um E. H. von Tschudi entbrannte, als er die Tore der Nationalgalerie modernen Kunstrichtungen öffnete, verdammte die preußische iHofästlhetik noch den „Naturalismus" in Bausch und Bogen, d. h. ohne näher zu differenzieren. Der „Naturalismus" verzichte auf jede höhere Moral und wühle im Schmutz des Niedrigen und Gemeinen. Ihr Haupteinwand war aber
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ästhetischer Natur. Hinter ihm konnte sie die eigentliche klassenmäßige Ablehnung geschickt verbergen. Sie behauptete, der „Naturalismus" stelle eine subalterne sklavische und wahllose Nachahmung der Wirklichkeit dar. Zolas Forderung, unter Ausschaltung aller künstlerischen Einbildungskraft eine „wissenschaftlich" exakte Beobachtung mechanisch-präzise zu registrieren, war ihr für diese Argumentation die willkommene Bestätigung. Sie ignorierte jedoch, daß Courbet eine ganz andere Ansicht vertrat, welcher durchaus der Begriff der künstlerischen Verallgemeinerung geläufig war. Sie ignorierte auch die Widersprüche, die - z. B. bei Zola selbst - zwischen Theorie und künstlerischer Praxis existierten. In Wahrheit nahm die offizielle Kunstauffassung auch gar nicht am Grad, sondern am Gegenstand der Nachahmung Anstoß. Sie merkte, daß das „Wühlen im Schmutz", d. h. die unkonventionelle Darstellung des Lebens staatsgefährlich zu werden drohte. J e d e kritische Tendenz in der Kunst, auch wenn sie über den formalen Bereich nicht hinausging, wenn hinter ihr keine direkte politische Absicht stand, mußte die revolutionäre Bewegung der Volksmassen unterstützen. Neben der offiziellen und der von ihr scharf bekämpften „naturalistischen" Kunstauffassung existierte noch eine dritte. Sie versuchte einen Weg, der diesen Gegensatz überwinden sollte. In der Auseinandersetzung der ersten beiden spiegelte sich, wenn auch nicht direkt, der Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Adelskaste einerseits und dem erstarkenden Proletariat bzw. kleinbürgerlichen Strömungen andererseits. Welche Position aber bezog die dritte? Genau festzustellen war das erst mit Anbruch des Imperialismus. Vorher wurde aber schon eines deutlich: Der Versuch eines „dritten Weges" in der Theorie der bildenden Kunst entsprach seiner ideologischen Funktion nach der Konstruktion des „dritten Weges" in der bürgerlichen Philosophie. Wie hier der objektivistische und mystizistische Idealismus, so hatte sich dort die idealisierende Historien-Malerei wegen ihres Eklektizismus und Akademismus, wegen ihrer phraseologisch-pathetischen Grundhaltung kompromittiert. Aber nicht nur ihre Fehler, auch die des „Naturalismus" sollten beseitigt werden. Die Vertreter des „dritten Weges" führten einen Kampf an zwei Fronten. Nach 1890 wurde offensichtlich, welche der Fronten nur, richtungsbedingt und welche klassenbedingt gewesen war. Richtungsbedingt war die Opposition gegen die von der offiziellen Kunstauffassung geforderte und geförderte Ideen-Malerei. Man gab vor, den in ihr wirksamen künstlerischen Idealismus überwunden zu haben. In Wahrheit erfolgte nur ein Methodenwechsel. Man ging von der objektivistischen und mystizistischen zur subjektivistischen und sensualistischen Form des künstlerischen Idealismus über. Der Methodenwechsel erfolgte freilich allmählich und widerspruchsvoll. So darf man bei Marées und Hildebrand weder hinsichtlich der Theorie noch der bildnerischen Praxis von einem ausgeprägten Formalismus, höchstens von formalistischen Tendenzen sprechen. Klassenbedingt war die Opposition der'Vertreter des „dritten Weges" gegen den auch von der offiziellen Kunstauffassung bekämpften „Naturalismus". Indem sie von ihr die Verschwommenheit dieses Terminus übernahmen, übersahen sie bestehende Gemeinsamkeiten, z. B. mit der positivistischen Theorie des Impressionismus. Der eigentliche Gegenspieler war auch für sie der sozialkritische Realismus. Sie wollten die Scharte auswetzen, die die offizielle Kunstauffassung bot. Hielten sie die eigenen Prinzipien doch für weitaus wirksamer als die der gewünschten Idealisierung, um ein Umsichgreifen des sozialkriti-
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sehen Realismus zu verhindern. Ähnlich wie die neukantianische und die positivistische Philosophie suspendierten sie alle sozialen und weltanschaulichen Probleme. Das Verhältnis der Kunst zur gesellschaftlichen Wirklichkeit sollte nicht wie bei der HistorienMalerei verzerrt, d. h. zur Glorifizierung der herrschenden Klassen ausgenutzt, es sollte - was freilich nur abstrakt-theoretisch möglich war - überhaupt abgebaut werden. Hans von Marées und Adolf von Hildebrand nahmen an, die Kunst dürfe nur die „reine" Natur erfassen. Die eigentliche bildnerische Aufgabe bestand für sie in der optischen Klärung der räumlichen Erscheinungen. Beide beschränkten sich selbst auf eine äußerst anspruchslose Thematik. Will man einmal von den Porträts absehen, so malte Marées und modellierte Hildebrand vorwiegend nackte menschliche Gestalten, die nichts anderes ausdrücken als ein ruhiges und einfaches körperliches Sein. Beide sahen den Menschen nicht überdimensional ins Heroische erhoben. Sie sahen ihn aber auch nicht geworfen in die soziale Misere, Not und Leid erduldend. Für sie war er ein Teil der Natur, der sich dieser entfremdet hatte und die Entfremdung aufzuheben strebte. Die Aufhebung im Bereich der Kunst zu vollziehen, betrachteten sie als ihre ureigene Aufgabe. Freilich handelte es sich um einen verselbständigten Bereich, nicht eingebettet in die allgemeine Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit. In ihm sollte die Harmonie gefunden werden, die jene vermissen ließ. Einerseits lehnten Marées und Hildebrand die allegorisch-mythologischen, die religiösen und die vaterländisch-historisierenden Themen ab, andererseits die sozialkritischen. Einerseits wandten sie sich gegen die offiziell gewünschte Idealisierung, andererseits gegen die „naturalistische" Nachahmung. Inhaltliche Bestimmungen wurden zwar nicht verworfen, aber als unwesentlich abgewiesen. Künstlerische Verallgemeinerung und künstlerische Imitation behielten Geltung. Sie sollten sich jedoch auf die „reine" Sichtbarkeit beziehen. Als Wesen der bildenden Kunst erklärten Marées und Hildebrand die gesteigerte und vertiefte sinnliche Anschauung. Das Bestreben von Marées und Hildebrand, der Kunst einen selbstgenügsamen Bereich zu gewinnen, war zwiespältig. Es hatte sowohl progressive als auch regressive Züge. Die Zwiespältigkeit erklärt sich nicht zuletzt aus ihrer Klassenposition. Beide Künstler stützten sich wie Fiedler auf das Bildungsbürgertum, das der offiziellen Machtpolitik seinen abstrakten und deshalb wirkungslosen Humanismus entgegenzusetzen versuchte und, nachdem dieser Versuch gescheitert war, eine kritische Akkomodation vornahm. Es entfloh dem Unbehagen an der gesellschaftlichen Wirklichkeit in eine idealisierte Welt. Marées und Hildebrand widersprachen der offiziellen Kunstauffassung, schlössen sich ihr aber im Kampf gegen den „Naturalismus" an. Sie opponierten - und das war durchaus progressiv - gegen die Art des offiziell gewünschten Sujets in der Malerei, leisteten aber der eigentlichen Opposition des sozialkritischen Realismus einen Bärendienst, indem sie die Bedeutung des Sujets schlechthin schmälerten. Gegen die realistische Aktivität stellten sie eine ästhetisierende Kontemplation. Sie entschärften die Kritik, die gegen den Kapitalismus gerichtet war, und trugen dadurch selbst bei zur Aufrechterhaltung des reaktionären Klassenbündnisses. Eng befreundet mit Marées und Hildebrand war Konrad Fiedler. Isolde Kurz erzählt, er spielte in der „Trinität" die „Rolle des heiligen Geistes" 30 . Oft wird angenommen, durch ihn sei die künstlerische Konzeption der beiden begrifflich formuliert wor-
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den. Das ist aber nicht der Fall. Marées hatte die bestimmte Absicht, seine Meinung, die er mit Vorliebe gesprächsweise vortrug, schriftlich niederzulegen. Hildebrand veröffentlichte sogar ein Buch über das „Problem der Form". Und Fiedler selbst zeigte eine durchaus eigenständige Auffassung. Die beiden Künstler verallgemeinerten theoretisch, was sie in ihrer Arbeit erlebten. Er dagegen ging von der Philosophie, also von der geistigen Abstraktion aus. Die künstlerische Konzeption von Marées und Hildebrand hatte eine philosophische Grundlage, freilich spontaner und naiver Natur. Anerkannt wurde eine außerhalb und unabhängig yom menschlichen Bewußtsein existierende und auf dasselbe einwirkende Realität, wenn auch isoliert von allen gesellschaftlichen Bestimmungen. Besondere Einwirkungen auf besondere Art und Weise umzuformen, sollte die Aufgabe des Künstlers sein. Fiedler dagegen ging es immer um eine Frage: Wie schafft das Bewußtsein die sichtbare Wirklichkeit? Fiedler versuchte, die künstlerische Konzeption des „dritten Weges", die Marées und Hildebrand vertraten, von den bei ihnen noch vorhandenen realistischen Elementen loszulösen und mit der Konstruktion des „dritten Weges", wie sie die herrschende bürgerliche Philosophie aufgestellt hatte, in Übereinstimmung zu bringen. Folglich mußte, was bei den beiden Künstlern nur als Tendenz anzusehen ist, bei ihm voll zur Geltung kommen: der Formalismus. In dem Artikel „Kunstwissenschaft" der Großen Sowjet-Enzyklopädie wird er als einer der „Schöpfer" der formalistischen Kunsttheorie in Deutschland bezeichnet.31 Die Ideologie des herrschenden Klassenpromisses fügte in den Jahren zwischen 1870 und 1890 unverfroren Kunst und Künstler in ihr Propaganda- und Erziehungssystem ein. Jede bewußte Indifferenz war ihr ebenso zuwider wie offene Gegnerschaft, freilich nicht ebenso gefährlich. Neben der apologetischen Historien-Malerei förderte sie nur noch die unproblematische, anspruchs- und geschmacklose Unterhaltung. Für den Massenbedarf wurden wehmutvolle und rührselige Phantasiebildchen produziert, darstellend gut frisierte Hirten mit niedlichen Schäfchen, zarte Elfen- und Feenreigen, Alpenglühen über blumenübersäten Wiesen etc. Diente der sentimentale Kitsch nicht direkt den eigenen Ideen, so vermittelte er doch indirekt die gewünschten Werte, lenkte von den wesentlichen Lebensfragen ab und füllte die Kassen des Kunsthandels. Unter diesen Bedingungen mußte jeder Protest gegen die offiziellen Maßstäbe in progressiver Hinsicht wirksam sein, selbst wenn das gar nicht beabsichtigt war. Das gilt in verschiedenem Maß - für die Opposition von Fiedler, Marées und Hildebrand. Der „dritte Weg" der bildenden Kunst war vor 1890 noch nicht eindeutig bestimmt. Mit Anbruch des Imperialismus wurde offensichtlich, welche Position dem „dritten Weg" der bildenden Kunst im ideologischen Kampf der gesellschaftlichen Klassen zukam. Mit dem stärkeren Heranwachsen eines klassenbewußten Proletariats, dem verschärften Klassenkampf und den zunehmenden Krisen war den herrschenden Klassen der Verzicht auf soziale Stellungnahme ebenso willkommen wie eine direkte Apologetik. Neutralität stützte ihre Position ähnlich wie offene Allianz. Als die Regierung der feudalen Militär- und Adelskaste die idealisierende Historien-Malerei zu offensichtlich begünstigte, mußte sie sich von ihren eigenen Bundesgenossen, der Großbourgeoisie, heftige Kritik gefallen lassen. In der Reichstagsdebatte vom 15. und 16. Januar
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1904 polemisierten die bürgerlichen Parteien energisch gegen die „preußische Hofästhetik" Anton von Werners. Sie taten das aber nicht aus dem gleichen Grund wie die SPD, nämlich weil sie den „Naturalismus" befürworten wollten, sondern weil sie in der indirekten Apologetik des „dritten Weges" ebenfalls eine wirksame, da unauffällige Stütze des kapitalistischen Systems erblickten. Außerdem mochten sie annehmen, sie würden den Einfluß auf die junge Künstlerschaft verlieren, wenn sie ausschließlich eine antiquierte Richtung förderten. Oft werden A. Böcklin und A. Feuerbach mit Marées und Hildebrand in einem Atem genannt. Obwohl mancherlei freundschaftliche Beziehungen zwischen ihnen bestanden, ist das falsch. In den Werken von Böcklin und Feuerbach kündete sich eine andere bürgerliche Geistesströmung an, die ebenfalls nach 1890 erst zur vollen Blüte gelangte. Der Imperialismus stellte die Bourgeoisie vor ganz neue ideologische Probleme. Vor allem galt es, das wachsende Bedürfnis weiter Kreise nach einer Weltanschauung zu befriedigen und den Sozialismus zu diskreditieren. Theorie und Praxis, Erkennen und Wollen sollten wieder zur Einheit verschmelzen. Die Kathederphilosophie des Neukantianismus und Positivismus existierte zwar weiter, doch mußte sie ihre Vorherrschaft an die verschiedensten Varianten der irrationalistischen Lebensphilosophie abtreten. In der bildenden Kunst hatte sich die idealisierende HistorienMalerei bloßgestellt. Das vom Leben isolierte Formprinzip des l'art pour l'art, dem sich Marées und Hildebrand bedenklich näherten, konnte aber dem Weltanschauungsbedürfnis nicht genügen. Eine neue bürgerliche Ideenkunst mußte den oppositionellen Tendenzen des „Naturalismus" entgegengesetzt werden. Ihre ersten Ansätze zeigten sich in dem, in sich wiederum grundverschiedenen, Schaffen A. Böcklins und A. Feuerbachs. Bezeichnenderweise wurden sie, obwohl ihre Wirksamkeit zeitlich früher lag, erst nach 1890 populär, und zwar mit Hilfe eines gewaltigen Reklameaufwands. Drucke ihrer Bilder hingen in den gutbürgerlichen Heimen und schienen ein allgemeiner Begriff geworden zu sein für „deutsches Wesen und deutsche Art" 32 . Was beide von Marées und Hildebrand trennte, war kein klassenmäßiger, aber ein richtungsmäßiger Unterschied. Das bloß Anschauliche genügte ihnen nicht. Richtunggebend blieb, was Böcklin sagte: „Form und Farbe müssen sich der Idee unterordnen" 33 . Marées und Hildebrand ihrerseits hielten Böcklin und Feuerbach für Abtrünnige, die das „rein" künstlerische Streben über der Jagd nach billigen Erfolgen vernachlässigten. Marées und Hildebrand wurden von der offiziellen Kunstauffassung abgelehnt. Nicht nur, daß sie sich von dem geforderten Inhalt und dem bildnerischen Pomp distanzierten, sie genügten auch dem Anspruch nach Gemeinverständlichkeit nicht. Indem sie sich jeder Bezugnahme zur gesellschaftlichen Praxis enthielten, vermochten sie nur eine Kunst für einige wenige zu schaffen, denen die spezifisch künstlerischen Kriterien vertraut waren. Eine solche Kunst wurde aber von den herrschenden Klassen nicht benötigt. Auch in der folgenden Zeit erhob sich das l'art pour l'art zur herrschenden Auffassung nur in Perioden nach den beiden Weltkriegen. Zumeist brauchte die deutsche Bourgeoisie eine Kunst mit positiver, weiten Kreisen zugänglicher Zielsetzung. Man mußte volkstümlich sein, mußte wirken können. Das war bei Böcklin und Feuerbach der Fall. In der Tendenz erwies sich ihr künstlerischer Mystizismus oft als Partner der irrationalistischen Lebensphilosophie. 3
Faensen
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Die Opposition, in der Marées, Hildebrand und auch Fiedler zur offiziellen Kunstauffassung standen, ihre Flucht in eine idealisierte Welt, war Resultat der sich unter den kapitalistischen Bedingungen der Abeitsteilung vollziehenden Entfremdung. Die Schattenseiten der kapitalistischen Entwicklung erlebten Fiedler und seine Freunde naturgemäß dort am stärksten, wo sie unmittelbar mit ihnen Berührung hatten: im Kunstbetrieb der Gründerjahre. Das Kunstwerk war zur Ware, der Künstler zum Warenproduzenten geworden, gezwungen, für einen anonymen Markt zu arbeiten. Als Kunstbetrieb bezeichneten Fiedler und seine Freunde nicht nur die verhängnisvollen Spekulationen des Kunsthandels, sondern auch die Maßnahmen der Museen, Akademien, Ausstellungsgremien und staatlichen Behörden. Durch sie wurden Marktgängigkeit und Salonfähigkeit der Bilder bestimmt. Von ihnen waren die Künstler ebenso abhängig wie die Arbeiter von den Aktionen der Unternehmer. Wer sich ihnen nicht beugen wollte, dem drohten Hunger und Vereinsamung. Fiedler und seine Freunde empfanden sie als feindliche Mächte, die das Leben der Künstler beherrschten, falls nicht zufällig andere materielle Mittel zur Verfügung standen. Zum Kunstbetrieb der Gründerjahre gehörte auch die Manie des Kunstsammelns der verspießerten, emporgekommenen Bourgeoisie. Marx hat darauf hingewiesen, daß durch die Existenz des Privateigentums im Kapitalismus an die Stelle aller physischen und geistigen Sinne die einfache Entfremdung aller dieser Sinne, der „Sinn des Habens" getreten ist. Ein Gegenstand scheint erst dann der unsrige zu sein, „wenn wir ihn haben", wenn er „von uns unmittelbar besessen, . . . kurz gebraucht wird" 34 . Man möchte meinen, Fiedler interpretiert diese Erkenntnis, wenn er schreibt: „Diejenigen, denen eine günstige Lebenslage die Erwerbung von Kunstwerken gestattet, trachten nach dem Besitz derselben nicht mehr aus der inneren Überzeugung, daß nur ein dauernder intimer Verkehr mit den Kunstwerken das Verständnis derselben allmählich erschließen kann, ja nicht einmal mehr aus einem, wenn auch oberflächlichen, so doch erfreulichen Bestreben nach einer gewissen Verschönerung der Umgebung; vielmehr hat sich die Freude am Besitz von Kunstwerken zu einer Manie des Sammeins ausgebildet, für die der Wert des Kunstwerkes hinter der eingebildeten Wichtigkeit der Bemühung um die Erlangung desselben verschwindet; es ist eine ganze Welt von Tätigkeiten um dieses eine Interesse entstanden, und es ist nicht mehr der Anteil an der Kunst, der den einzelnen in diese Welt hineinzieht, sondern die Genugtuung, sich in den Zusammenhang eines weiten Gebietes von Bestrebungen versetzt zu sehen, für die die Kunst selbst nur noch den Vorwand bildet." 35 Fiedler spürte mit dem gesunden Sinn des Kunstkenners, daß der bloße Kauf der Kunstwerke noch nicht genügt, um sie sich entsprechend ihrer wahren Bedeutung anzueignen. Die auf Geld beruhende Weise des Besitzes kann nicht auf geistige Werte übertragen werden. Sie fördert höchstens die banausische Gier nach neuen Erwerbungen. Aber Fiedler zog eine falsche, für das späte Bildungsbürgertum freilich typische Schlußfolgerung. E r meinte, nicht eine Geld-, sondern eine Geistesaristokratie sei in der Lage, echtes Kunstverständnis aufzubringen. Was er nicht bemerkte, war, daß die Kunstwerke die ihnen adäquate Form der Realisierung erst in der gesellschaftlichen
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Praxis finden, also gerade dort, wo er sich hochmütig distanzierte. Sie sind bestimmt, Objekt des allgemeinen gesellschaftlichen Interesses zu sein, nicht aber des Interesses einer Elite bzw. vereinzelter Einzelner. Der Privatbesitz steht zu dieser Bestimmung im Widerspruch. Fiedler kehrte dem Banausentum des bürgerlichen Kunstsammelns zwar den Rücken. Im Grunde lief jedoch das, was er beabsichtigte, auf dasselbe hinaus: die Kunstwerke der gesellschaftlichen Konsumtion zu entziehen. Fiedler konnte sich in Eifer reden, wenn er gegen den Automatismus des zeitgenössischen Kunstbetriebs, gegen das „Schattenreich von Bedingungen und Verhältnissen" wetterte 36 . Der „barbarische Charakter der Zeit" drohe alle echten künstlerischen Bestrebungen zu vernichten37. Aufgebracht erklärt er in einem Brief an Hildebrand: „Die Zustände für diejenigen, die zuerst an die Leistung und dann ans Verdienen denken, sind schon schlimm; wer sich rein erhalten will, läuft Gefahr materiell zugrunde zu gehen und wer sich materiell sicher stellen will, muß sich unter die Bande begeben, die den Schwindel der modernen Kunstblüte in Szene setzt und herrlich und in Freuden lebt." 38 Unter dem unmittelbaren Eindruck dieses Automatismus schrieb Fiedler 1879 die Streitschrift „Über Kunstinteressen und deren Förderung". „Kunstinteressen" nannte er nicht die allgemeinen Beziehungen zur Kunst, sondern die offiziellen Bestrebungen seiner Zeit. Heftig polemisierte er gegen die „Unproduktiven", die an die Künstler unangemessene Forderungen stellen. Sie würden die Beteiligung an ihren Aufgaben verlangen, ohne zu fragen, wie die Kunst den eigenen Anforderungen gerecht werde. In ihnen paare sich „Mangel an Einsicht und ein gewisses unklares, von Illusionen und Phrasen leicht bestimmbares, ideales Streben mit oberflächlichem Hang zur Geschäftigkeit und mit berechnender, auf persönlichen Vorteil bedachter Klugheit." 39 Fiedler brachte sehr richtig den kapitalistischen Geist, besser Ungeist, in Zusammenhang mit der Forderung nach Idealisierung. Das eine schloß das andere ein. Die gesellschaftlichen Schattenseiten durften nicht augenscheinlich werden. Eine verlogene Schönfärberei und Sentimentalität sollte sie verschleiern. Fiedlers Abneigung gegenüber dieser direkten und daher vulgären Apologetik führte aber nicht etwa zu einer echten Frontstellung, sondern zu einer indirekten Apologetik. Er wollte die Kunst nicht von der kapitalistischen, sondern von der gesellschaftlichen Grundlage schlechthin loslösen. In diesem Sinn erklärte er, die offiziell geforderten Kunstprinzipien seien hinter der modernen geistigen Entwicklung zurückgeblieben und hätten den Boden des alten, überholten Idealismus noch nicht verlassen. Einerseits kritisierte er die Mittelmäßigkeit, die „mit einer Art offizieller Geltung ausgestattet" sei und die seltenen selbständigen Talente aus dem öffentlichen Kunstleben verdränge 40 , „denn es muß notwendig weniger auf die Tüchtigkeit, als auf die Brauchbarkeit der Künstler ankommen, und gerade die tüchtigsten werden die am wenigsten brauchbaren sein, weil sie am wenigsten in fremde Absichten einzugehen, fremden Forderungen sich zu unterwerfen geneigt sein werden." 3*
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Andererseits kritisierte Fiedler, daß die „Unproduktiven" für ihre kunstfeindlichen Absichten alle materiellen Mittel zur Verfügung hätten, zudem auch als Interessenwalter des Staates und der Gemeinden auftreten könnten. Sie würdern sich der besten Unterstützung der öffentlichen Gewalten erfreuen. Fiedler warnte: Indem man der Kunst „eine Stelle unter den Elementen des Staatslebens anweist, würdigt man sie herab; denn man ignoriert dabei vollständig ihren eigentlichen Wert "41 In der Marées-Schrift (1889) wurde Fiedler noch deutlicher. Unverblümt wandte er sich direkt gegen staatliche Instanzen, wenn er die „falschen Bildungsmittel" beanstandete, durch welche junge Talente zur offiziellen Kunstauffassung erzogen werden sollten. Er wußte ganz genau, daß die Vertreter von Kapital und Regierung die gleichen Anforderungen stellten : „Verwüstend wirkt vor allem der akademische Unterricht; hier tritt die Mittelmäßigkeit mit der Anmaßung einer öffentlich anerkannten Bedeutung auf; die größten Verirrungen werden einer noch unverdorbenen Jugend als nachahmenswerte Leistungen derer entgegengehalten, die zu Meistern und Lehrern der Kunst berufen sind. Wem das Selbstvertrauen fehlt, um der eigenen Einsicht einen höheren Wert beizulegen, als den Beispielen und den ihm entgegentretenden Meinungen, oder wer den Mut nicht hat, alles aufs Spiel zu setzen, wenn es ihm nur gelingt, sein besseres Teil zu retten, der ist verloren. Ungezählte gesunde Begabungen gehen zugrunde, indem sie auf die breitgetretenen Wege geleitet werden, die zu äußeren Erfolgen und zu öffentlicher Anerkennung führen." 42 Kein Wunder, daß Fiedler eine Bildermappe der Werke Marées', die gleichzeitig mit der theoretischen Schrift erschienen war und die er, freilich ohne jene, an die Münchener Akademie gesandt hatte, postwendend zurückerhielt. Stand die Akademie doch damals unter der Direktion des Historien- und Porträtmalers F. A. von Kaulbach, der als einer der prominentesten Vertreter der offiziellen herrschenden Kunstauffassung galt. 43 Fiedler rühmte gegenüber dem „öffentlichen" das „nicht öffentliche" Kunstleben, das seine Freunde Marées, Hildebrand und andere repräsentierten : „Der öffentlichen Kunstwelt steht eine nicht öffentliche gegenüber ; während dort untergeordnete Fähigkeiten und unlauteres Streben zu unverdientem Glanz und Ruhm gelangen, ist das wahre Kunstleben der Zeit hier zu finden, wo man vergeblich nach Anerkennung, Achtung, Förderung sucht. Gerade diejenigen, die sich durch echte Begabung und ernstes Streben auszeichnen, sind von der Gunst der Verhältnisse ausgeschlossen und leiden unter dem unwürdigen Druck, den Anmaßung und Unverstand nur ausüben können."44 Fiedler beabsichtigte, den Widerspruch, der zwischen Philosophie und Kunstauffassung der herrschenden Klassen bestand, zu überwinden. An die Stelle der offiziellen Kunstprinzipien sollten die Prinzipien treten, die seine Freunde Marées und Hildebrand ver-
3 . Konstruktion eines neuen Kunstbegriffs
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traten. D e r philosophische Methodenwechsel wurde in der Kunsttheorie, deren objektiver und spekulativer Idealismus, deren Akademismus überholt war, nachgeholt. Subjektivismus und Sensualismus sollten auch die neuen Kunstprinzipien entwickeln helfen.
3. Konstruktion eines „neuen"
Kunstbegriffs
Behauptete Fiedler in der Philosophie, er wolle einen „dritten W e g " einschlagen, der die Einseitigkeiten von Idealismus und Materialismus überwindet, so wiederholte er den Versuch in der Kunsttheorie auf zwei neuen Ebenen. Einmal distanzierte er sich von der alten Idealisierung und vom „Naturalismus" bzw. Realismus. D i e Wirklichkeit soll weder beschönigt noch nachgeahmt, sie soll überhaupt nach der Seite der klaren und deutlichen Sichtbarkeit hin erzeugt werden. Zum anderen distanzierte er sich von der Auseinandersetzung über Form und Inhalt. W i e er erklärt, kann man die Form nie in ein Verhältnis bringen zu einem Inhalt, selbst dann nicht, wenn man ihr das Primat zubilligt. Inhalt sei immer eine inadäquate gefühlsmäßige oder begriffliche „Assoziation". Im künstlerischen Schaffen gelte nur die zum sichtbaren Ausdruck ihrer selbst emporgebildete Anschauung. In einem Aphorismus charakterisiert Fiedler den „dritten Weg", den er der künstlerischen Tätigkeit weist. Entweder Ideen-Darstellung oder Naturnachahmung, so erklärt er, sei bisher das Dilemma gewesen und sei es noch, „das Richtige liegt auf keiner Seite; nur der wird es treffen, der das dritte findet . . .' , 4 5 Was die herrschenden Stile angeht, wandte er sich einerseits gegen den mythologischallegorischen sowie den religiös-sentimentalen Klassizismus und gegen die HistorienMalerei, andererseits gegen „die Schulen der Realisten, Naturalisten, Impressionisten, Veristen" 4 6 , die er, ohne näher zu differenzieren, unter dem verschwommenen Terminus „moderner Naturalismus" zusammenfaßte. Einen „Streit" zwischen idealistischen und realistischen Kunstprinzipien hielt er für müßig und überflüssig. E r erklärt, die künstlerische Tätigkeit sei „immer idealistisch, weil alle Realität, die sie schafft, ein Produkt des Geistes ist." Sie sei aber immer auch realistisch, „weil sie das hervorzubringen sucht, was dem Menschen allererst die Realität ist." 4 7 Fiedler hatte die Absicht, die bisherigen Fronten aufzulösen, um einen Einbruch für seine Tendenz zum Formalismus zu erreichen. Schon in einer frühen Tagebucheintragung bezeichnet er als „Geheimnis der Kunst" das „Einhalten der Mitte" zwischen Stilisierung und Naturnachahmung 48 . Wie er später behauptet, ist „eine Schlichtung des Streits nur dadurch möglich, daß an die Stelle dieser beiden Prinzipien ein drittes gesetzt wird, das Prinzip der Produktion der Wirklichkeit." 4 9
3 . Konstruktion eines neuen Kunstbegriffs
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traten. D e r philosophische Methodenwechsel wurde in der Kunsttheorie, deren objektiver und spekulativer Idealismus, deren Akademismus überholt war, nachgeholt. Subjektivismus und Sensualismus sollten auch die neuen Kunstprinzipien entwickeln helfen.
3. Konstruktion eines „neuen"
Kunstbegriffs
Behauptete Fiedler in der Philosophie, er wolle einen „dritten W e g " einschlagen, der die Einseitigkeiten von Idealismus und Materialismus überwindet, so wiederholte er den Versuch in der Kunsttheorie auf zwei neuen Ebenen. Einmal distanzierte er sich von der alten Idealisierung und vom „Naturalismus" bzw. Realismus. D i e Wirklichkeit soll weder beschönigt noch nachgeahmt, sie soll überhaupt nach der Seite der klaren und deutlichen Sichtbarkeit hin erzeugt werden. Zum anderen distanzierte er sich von der Auseinandersetzung über Form und Inhalt. W i e er erklärt, kann man die Form nie in ein Verhältnis bringen zu einem Inhalt, selbst dann nicht, wenn man ihr das Primat zubilligt. Inhalt sei immer eine inadäquate gefühlsmäßige oder begriffliche „Assoziation". Im künstlerischen Schaffen gelte nur die zum sichtbaren Ausdruck ihrer selbst emporgebildete Anschauung. In einem Aphorismus charakterisiert Fiedler den „dritten Weg", den er der künstlerischen Tätigkeit weist. Entweder Ideen-Darstellung oder Naturnachahmung, so erklärt er, sei bisher das Dilemma gewesen und sei es noch, „das Richtige liegt auf keiner Seite; nur der wird es treffen, der das dritte findet . . .' , 4 5 Was die herrschenden Stile angeht, wandte er sich einerseits gegen den mythologischallegorischen sowie den religiös-sentimentalen Klassizismus und gegen die HistorienMalerei, andererseits gegen „die Schulen der Realisten, Naturalisten, Impressionisten, Veristen" 4 6 , die er, ohne näher zu differenzieren, unter dem verschwommenen Terminus „moderner Naturalismus" zusammenfaßte. Einen „Streit" zwischen idealistischen und realistischen Kunstprinzipien hielt er für müßig und überflüssig. E r erklärt, die künstlerische Tätigkeit sei „immer idealistisch, weil alle Realität, die sie schafft, ein Produkt des Geistes ist." Sie sei aber immer auch realistisch, „weil sie das hervorzubringen sucht, was dem Menschen allererst die Realität ist." 4 7 Fiedler hatte die Absicht, die bisherigen Fronten aufzulösen, um einen Einbruch für seine Tendenz zum Formalismus zu erreichen. Schon in einer frühen Tagebucheintragung bezeichnet er als „Geheimnis der Kunst" das „Einhalten der Mitte" zwischen Stilisierung und Naturnachahmung 48 . Wie er später behauptet, ist „eine Schlichtung des Streits nur dadurch möglich, daß an die Stelle dieser beiden Prinzipien ein drittes gesetzt wird, das Prinzip der Produktion der Wirklichkeit." 4 9
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I. Methodenwechsel als „dritter Weg"
Fiedlers Ablehnung der herrschenden Kunstauffassung war zwiespältig. Seine Kritik der offiziell geforderten und geförderten Ideen-Malerei schien den „Naturalismus" zu unterstützen. Nicht die Idee, sondern eine auf besondere Weise qualifizierte Anschauung soll das Wesen der bildenden Kunst kennzeichnen. Die sensualistische Tendenz hat aber ihre Kehrseite. Das Sinnliche erweist sich als reiner Bewußtseinsakt. Die künstlerisch gesteigerte und vertiefte Sichtbarkeit soll keine Einwirkungen aus der objektiven Realität abbilden. Hinter dem Sensualismus lauert der subjektive Idealismus. In dieser Hinsicht widersprach Fiedlers Formalismus dem „Naturalismus", d. h. hier dem Realismus, der das objektive Sein nicht zuletzt deshalb voraussetzte, weil er es nachahmen wollte. Fiedler aber stellte sich ganz auf die Seite der offiziellen Kunstauffassung, wenn er die Nachahmung als unkünstlerisches Prinzip par excellence diffamierte. Wandte sich Fiedler gegen die mythologisch-allegorischen, die sentimental-religiösen und die vaterländisch-historischen Sujets, so tat er es nicht zuletzt, um die Kunst von den offiziellen Wertmaßstäben zu befreien. In dieser Hinsicht stand er in einer Front mit dem „Naturalismus". Die Natur des herrschenden Sujets zu kritisieren, war durchaus oppositionell. Andererseits fiel Fiedler der eigentlichen Opposition des „Naturalismus", d. h. des Realismus in den Rücken, wenn er die Bedeutung des Sujets überhaupt in Frage stellte. Er suspendierte nicht nur die restaurative, sondern auch die sozialkritische Tendenz. Der Gegenstand der Darstellung, das Motiv, die Thematik wurden uninteressant. Sie dienten als rein äußerlicher Vorwand, um eine künstlerische Aufgabe zu lösen. Fiedler riß undialektisch Sujet und Form auseinander, Belanglos war, w a s man gestaltete, vielmehr kam es darauf an, w i e man es gestaltete. Fiedler ignorierte, daß das „Was" von dem „Wie" gar nicht zu lösen, ja die Bedingung desselben ist. Er plädierte für die Reinheit und Eigengesetzlichkeit der künstlerischen Mittel. Im Künstlerisch-Anschaulichen selbst sah er den eigentlichen Inhalt der Kunst. Alles andere war für ihn eine unangemessene „Assoziation". Kunst erwies sich als bloßer Selbstzweck. Für den sozialkritischen Realismus aber war das Sujet durchaus nicht bedeutungslos. Er vertiefte sich, ohne jede Herablassung und mit einem bis dahin noch nicht existierenden „Wirklichkeitsfanatismus", in die sozialen Genreszenen des Alltags. Hier konzentrierte sich sogar sein Hauptangriff auf die verlogene Idealisierung. Progressiv schien Fiedlers Polemik gegen den religiösen und vaterländischen Bedeutungsgehalt der Ideen-Malerei zu sein. In dieser Hinsicht erhielt der „Naturalismus" beachtliche Unterstützung. Fiedler erkannte, daß dieser die Fesseln althergebrachter Prinzipien abstreife und der Kunst Anschluß an das „positive" Streben der Zeit zu verschaffen versuche. Fiedler wollte wie der „Naturalismus" die Idealisierung und die verlogene Schönfärberei ablösen durch die Darstellung der Wahrheit. Heftig polemisierte er gegen diejenigen, die einer „rückläufigen Bewegung des geistigen Lebens" verfallen waren und annahmen, es existiere „ein märchenhaftes Reich der Schönheit, des Ideals", „welches jenseits dieser schnöden Wirklichkeit stehe und von dem uns die Kunst ab und zu Kunde zukommen lasse."50 Zolas experimenteller Methode und Courbets „Negation des Ideals" widmete er anerkennende Worte, ohne freilich beide zu unterscheiden. Die Unwahrheit der offiziell
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verlangten Kunst sah er in der unangemessenen Idealisierung und in dem auf dieser beruhenden maßlosen Eklektizismus, durch den die eigentlichen künstlerischen Kräfte verkümmerten und durch den man sich zu Vorbildern einer „nie wiederholbaren Vergangenheit" flüchtete. Mit ihm brachte Fiedler in Zusammenhang das ständige Suchen nach anderen und neuen Sujets. Er pries die Aufrichtigkeit des „naturalistischen" Protestes, der, wenn auch mit grellen Farben zeige, wie die Zeit eigentlich ausieht. Ihm sei es zu verdanken, daß die Kunst aus dem Bereich des Vergnügens und der Liebhaberei zurückgeführt werde zur Wahrheit. In der Annahme, der Inhalt könne stets nur rein gedanklicher oder gefühlsmäßiger Natur sein und müsse in solcher Gestalt eine „Assoziation", ein unkünstlerischer Zusatz zur sinnlichen Form bleiben, wurden von Fiedler aber nicht nur die dem reaktionären Klassenkompromiß dienenden, sondern die inhaltlichen Bestimmungen schlechthin abgewiesen. Fiedler wollte einerseits nicht einsehen, daß es einen spezifisch künstlerischen Inhalt gibt, der nicht mit der künstlerischen Form identisch ist. Andererseits wollte er nicht wahrhaben, daß Elemente des Gefühls- und Begriffsvermögens, dialektisch verwandelt, in die Anschauung eingehen. Gefährdet wird das künstlerische Prinzip ja nur, wenn die Verwandlung undialektisch vor sich geht, z. B. wenn eine abstrakte Idee „illustriert" wird. Die in dieser Hinsicht berechtigte Ablehnung durfte aber keineswegs zu einem absolut gültigen Kunstprinzip erweitert werden. Indem Fiedler jede inhaltliche Bestimmung als unkünstlerisch verwarf, arbeitete er indirekt der offiziellen Kunstauffassung in die Hände. Der Realismus hatte eine ganz andere Prätention. Er wollte die aus der Nachahmung der Wirklichkeit gewonnene Form dem sozialkritischen Inhalt dienstbar machen. So zwiespältig Fiedlers Ablehnung der offiziellen Kunstauffassung war, so zwiespältig war auch sein Verhältnis zur wesentlichen künstlerischen Opposition. In der Schrift „Moderner Naturalismus und künstlerische Wahrheit" (1881) gab er genau die Grenze an, bis zu der er ihr zu folgen gedachte. Das Neue der „naturalistischen" ¡Theorie bestehe nicht allein in der Forderung nach Naturtreue, so erklärte er. In diesem Fall wäre nur eine bestimmte Seite der offiziellen Kunstauffassung angegriffen worden. Die „naturalistische" Theorie richte sich gegen deren Voraussetzung, nämlich die in Mythologie und Religion großgezogene philosophische Spekulation. Sie stelle sich in eine Reihe mit dem zeitgenössischen Positivismus, der die Wisssenschaft schon längst aus dem Bann der Metaphysik erlöst habe. Ihre eigentliche Bedeutung bestehe darin, die Kunst von der Bevormundung durch den alten Idealismus emanzipiert und sie auf den Boden der „positiven" Welt gestellt zu haben. Hier aber entdeckte Fiedler die Grenze, bis zu der er dem Naturalismus zu folgen bereit war: „Mag man sich der Einsicht nicht verschließen können, daß die modernen Naturalisten in ihrer Auflehnung gegen die auf dem Gebiet der Kunst noch herrschenden Anschauungen im Recht sind, so darf man darüber doch nicht vergessen, das von jenen ausgesprochene Prinzip selbst und die Art seiner Betätigung in der künstlerischen Produktion der Prüfung zu unterwerfen. Hier allein ist der Punkt getroffen, auf den es ankommt." 51
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I. Methodenwechsel als „dritter Weg"
Fiedler fragte sich, ob der „Naturalismus" in seinem Prinzip der herrschenden Philosophie des Positivismus einen richtigen Ausdruck verleihe. Und, da er unter „Naturalismus" vor allem den Realismus verstand, verneinte er die Frage. Wie der naive, unwissende Mensch, so kümmere sich auch der „Naturalismus" überhaupt nicht um das zentrale Problem, „was Wirklichkeit eigentlich ist". „Denn der Begriff der Wirklichkeit, bei dem jene Neuerer sich beruhigen, ist ein sehr unentwickelter und bildet in seinem unentwickelten Zustande gerade die Fessel, die sich der moderne Naturalismus selbst anlegt, nachdem er sich von allen anderen Fesseln glücklich befreit hat." 52 Fiedler bemerkt sehr richtig, daß sich der „Naturalismus", d. h. der Realismus philosophisch auf einen, wie er formuliert, „naiven Realismus" stützt und dem herrschenden Positivismus nicht im geringsten entspricht. So warf er ihm vor, sich der „Fessel des Dualismus" nicht zu entledigen, d. h. den Künstler einer Wirklichkeit „gegenüberzustellen". Es komme nicht auf die Nachahmung, sondern auf die spezifische Produktion der Wirklichkeit an. Die künstlerische Tätigkeit erzeuge „allererst" das Sein „nach einer gewissen Richtung hin". Sie finde nicht eine sichtbare Erscheinung vor und stelle sie dar. Vielmehr werde durch sie eine „verworrene Masse des Sichtbaren" zu einer klaren und deutlichen Sichtbarkeit, d. h. „zum gestalteten Dasein entwickelt". „Was sie schafft ist nicht eine zweite Welt neben einer anderen, die ohne sie existiert, sie bringt vielmehr überhaupt erst die Welt durch und für das künstlerische Bewußtsein hervor." unter künstlerischer Produktion im allgemeinen kann nichts anderes verstanden werden, als die in dem menschlichen Bewußtsein und für dasselbe sich vollziehende Hervorbringung der Welt ausschließlich in Rücksicht auf ihre sichtbare Erscheinung." 53 Fiedler baute den „alten", d. h. objektiven und mystizistischen Idealismus ab, dem er das Prinzip der Idealisierung (Stilisierung) zuschreibt, und er baute den Realismus bzw. Materialismus ab, auf den er das Nachahmungsprinzip zurückführt. Der subjektive Idealismus veranlaßte ihn, das künstlerische Erkennen als ein geistiges Erzeugen zu begreifen. Während aber die herrschende bürgerliche Philosophie nur eine geistige Produktionsweise akzeptierte, die theoretische, erklärt er: Das menschliche Bewußtsein produziere die „positive" Welt nicht nur auf wissenschaftlich-begrifflichem, sondern auch auf künstlerisch-anschaulichem Wege. Die Welt komme in der Kunst überhaupt erst nach einer besonderen Seite, nämlich der klaren und bestimmten Sichtbarkeit hin, zustande. Fiedler überträgt die Prinzipien des Neukantianismus bzw. Positivismus auf die Kunsttheorie. Das subjektive geistige Erzeugen soll auch hier Gültigkeit haben. Richtig ist, wenn Fiedler gegen das vulgäre, mechanistische Prinzip der Nachahmung Stellung nimmt, das er freilich auf Grund seines verschwommenen Naturalismus-Begriffs auch dem Realismus unterschiebt. Die „peinigende und ängstliche Genauigkeit", die „minutiöse Ausführung", die „Inventarisierung der Welt" haben mit Kunst tatsächlich nichts zu tun. Falsch ist aber, wenn er zugleich mit diesem einseitig überspitzten Prinzip das Prinzip der Umformung bzw. der umformenden Nachahmung ver-
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wirft, weil er die objektive Existenz des Nachzuahmenden bzw. Umzuformenden bezweifelt. Auf diesen Punkt kommt es ihm jedoch eigentlich an. Nicht den Grad der Nachahmung, sondern die Nachahmung überhaupt und mit ihr die Anerkennung einer unabhängig und außerhalb vom menschlichen Bewußtsein bestehenden Realität empfindet er als Störung seiner subjektiv idealistischen Konzeption. Natürlich eignet sich der Künstler die Wirklichkeit auf eine andere Art und Weise an als der Wissenschaftler, ja es ist eine besondere Sphäre der Wirklichkeit, die er sich aneignet. Aber deshalb dürfen die objektiven Bestimmungen nicht in subjektive Bewußtseins-Bestimmungen aufgelöst werden. Grundfalsch ist, wenn Fiedler die Berechtigung bestreitet, überhaupt „von einer Wirklichkeit zu sprechen, die dem Künstler als Gegenstand seiner Tätigkeit gegeben sei." 5 4 Um den „naturalistischen" Wirklichkeitsbegriff von seinen Fesseln, d. h. die Kunst vom „Naturalismus" zu befreien, reinigte sie Fiedler von der Wirklichkeit überhaupt. Seine vom Unbehagen an der gesellschaftlichen Realität genährte Sehnsucht nach künstlerischer Harmonie ließ ihn die Kunst radikal von allen objektiven, äußeren Bindungen emanzipieren und das künstlerische Spezifikum verabsolutieren. Von der allgemeinen Funktion des menschlichen Bewußtseins, die Wirklichkeit abzubilden, die in besonderer Weise auch in der bildenden Kunst wirkt, wollte er nichts wissen. Fiedler meinte, die Kunst dürfe nur solchen Maßstäben unterworfen werden, die ihrem eigenen, spezifischen Bereich entnommen wurden, nie aber „fremden Gebieten des Lebens und Denkens". Erkenntnisse von der Eigengesetzlichkeit der bildenden Kunst benützte er, um das reale Objekt absolut im erkennenden Subjekt aufzulösen, d. h. die für jeden E r kennungsprozeß charakteristische Objekt-Subjekt-Beziehung zu eliminieren. Das künstlerische Bild hört auf ein Bild, ein Abbild der Wirklichkeit zu sein und reduziert sich auf ein Zeichen privater Erlebnisse eines vereinsamten und vereinzelten Künstlers, der sich selbst als notwendige Bedingung für das Dasein der Außenwelt empfindet. Was die Kunstphilosophie angeht, wandte sich Fiedler einerseits gegen den Mystizismus und „spekulativen Idealismus" eines Plato, Plotin, Schelling, Hegel, Schopenhauer und J . Langbehn. Die Auffassung von der durchgängigen Relativität der begrifflichen Erkenntnis veranlaßte Fiedler nicht, einen mystizistischen Ausweg zu suchen. Aus der Tatsache, daß die Wirklichkeit immer reicher, vielfältiger, verwickelter ist, als es das diskursive Denken je sein könnte, zog er nicht die Schlußfolgerung, eine „höhere", intuitive Erkenntnis sei notwendig. Das war eine Konsequenz seines Zeitgenossen Nietzsche, der klare Ideen durch gefühlsmäßige, bildhaft geschilderte Stimmungen ersetzte. Fiedler dagegen nahm an, die künstlerische Anschauung müsse einsetzen, wo der Begriff versage. Sie habe den Teil der W e l t zugänglich zu machen, der jenem verschlossen bleibe. E r betrachtete den Mystizismus und „spekulativen Idealismus" als eine zwieschlächtige Angelegenheit. Anerkennenswert sei das Bestreben, die Wahrheit nicht nur in begrifflicher Hinsicht zu erringen. Jedoch dürfe das, was sich dem Begriff nicht füge, nicht in das Gewand der Spekulation eingekleidet werden. D e r Bann der Gefühle und der Phantasterei sei schädlich. Durch ihn werde die künstlerische Tätigkeit letztlich wieder in den Dienst transzendenter Mächte gestellt. Sie sei jedoch weder ein irrationaler Prozeß, noch habe sie den Zweck, die Schönheit aus einem übersinn-
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I. Methodenwechsel als „dritter Weg"
liehen Reich des Ideals herabzuholen ins Reich der Sinnlichkeit.' Sie sei auch keine Darstellung des Vollkommenen und Unendlichen (Absoluten) in unvollkommener und endlicher Erscheinung. Andererseits wandte sich Fiedler gegen alle Schattierungen dessen, was er unter „modernen Naturalismus" verstand. Kennzeichnend für die Verschwommenheit dieses Terminus ist, daß er z. B . gleichermaßen die von Zola vertretene „sklavische Naturnachahmung" verwirft, die das Durchschnittliche bzw. Mittelmäßige mechanisch zu kopieren strebt, und die von Aristoteles vertretene „modifizierende Nachahmung" („Umgestaltung"), die auf das Typische abzielt. Ihnen allen stellte er seine formalistische Konzeption gegenüber. Sein Vorwurf gipfelt darin, sie würden ein vom subjektiven B e wußtsein unabhängiges Sein - die einen ein solches ideeller, die anderen ein solches materieller Natur - voraussetzen, das dargestellt bzw. abgebildet werden soll. Fiedler versicherte, er wolle dem Vorgang ein Ende machen, den man in der Geschichte der Philosophie immer wieder feststellen könne: Einerseits werde die Kunst von denen gewürdigt, die dem Mystizismus verfallen sind. Andererseits werde sie von denen unterschätzt, die auf dem Boden „positiver" Forschung stehen. Alle „positiven" Denker wären bisher von der falschen Voraussetzung ausgegangen, daß die Erkenntnis nur Sache des begrifflich-wissenschaftlichen Denkens sei. D e r Kunst hätten sie untergeordnete Aufgaben zugewiesen, entweder, angenehme Unterhaltung, oder Erziehungsmittel zu kunstfremden Zwecken zu sein. Den einen gegenüber betonte Fiedler, man dürfe den Boden „positiver" Forschung nie verlassen. Wesentlich sei, „allem Trug und aller Illusion zu entsagen, die Gebiete des Wissens und Forschens von allen Irrtümern und Hirngespinsten unerschrocken zu b e f r e i e n , . . . den geistigen Besitz auf sichere, der Erfahrung entnommene Werte zurückzuführen." 5 5 Den anderen gegenüber hob er hervor, die Erkenntnis der Wahrheit sei nicht nur eine Sache der Wissenschaft, sondern auch eine Sache der Kunst. In diesen Argumenten Fiedlers steckt eine relative Berechtigung. Tatsächlich erstreckt sich das, was man für das Mystische hält, sehr oft auf einen solchen Wirklichkeitsbereich, den die Kunst angemessener wiederzugeben vermag als das begriffliche Denken. Tatsächlich kann die Wahrheit auf künstlerischem und auf begrifflichem Wege errungen werden. Was Fiedler aber ignoriert, ist, daß Mystizismus und Positivismus eine gemeinsame idealistische Grundlage haben und auch er selbst sich auf dieser Grundlage fortbewegt. Nachdem Fiedler die künstlerischen Prinzipien des Mystizismus bzw. „spekulativen Idealismus" und des Realismus bzw. „Naturalismus" ausgeschaltet hatte, ging er dem Inhalt-Form-Verhältnis zu Leibe. D i e Produktion der klaren und deutlichen Sichtbarkeit bezeichnete er als einen spezifischen, und zwar anschaulichen Erkenntnisprozeß. Dem „spekulativen Idealismus" warf er vor, er führe zu einer Inhalts-Ästhetik. Einerseits stelle er die Forderung nach einem bedeutenden Inhalt. Folglich versuche er, „kunstfremde" Elemente, entweder ein mystisches oder ein ethisches Gefühl oder einen abstrakten Gedanken, zu „illustrieren". Ihnen ordne er unter, was eigentlich im Mittelpunkt stehen müßte, die Anschauung. Andererseits versuche er, aus der Ästhetik künstlerische Regeln zu gewinnen. E r betrachte die künstlerische Tätigkeit lediglich
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als sinnliche Verwirklichung eines durch Schönheit charakterisierten absoluten Seins 'bzw. Ideals. Fiedler war dagegen bestrebt, Kiunstphilosophie und Ästhetik streng zu trennen. D i e eine, so erläuterte er, beschäftige sich mit der anschaulichen Erkenntnis, dieanderemitdem durch Schönheit ausgelösten Gefühl des Wohlgefallens. Schön könne aber nicht nur ein Kunstwerk, schön könne auch ein handwerkliches Erzeugnis und ein Naturprodukt sein. Das ästhetische Wohlgefallen könne nicht nur die Anschauung, es könne auch andere sinnliche Qualitäten, abstrakte Begriffe, ja ethische Gefühle begleiten. D e r eigentliche künstlerische Wert offenbare sich nicht in ihm. E r richte sich nach dem Grad anschaulicher Erkenntnis: „Alle Wirkungen der Kunst als solcher dürfen nur aus der Erkenntnis abgeleitet werden; denn wenn z. B. ein Werk der bildenden Kunst eine ästhetische Wirkung hat, so hat es diese nicht als Kunstwerk; denn dieselbe ästhetische Wirkung kann ebenso gut von einem Naturprodukt ausgehen." 5 6 Wie Fiedler betont, verfehlt die Inhalts-Ästhetik das Wesen der Kunst zweifach, nämlich durch die Forderung nach dem bedeutenden Inhalt und durch die Forderung nach der schönen Form. In dieser Hinsicht kritisierte er nicht nur die „spekulativen" Philosophen, sondern auch Winckelmann und Lessing. Den Realismus bzw. „Naturalismus" beschuldigte Fiedler, er nehme eine bewußtseinsunabhängige, materielle Natur zum Vorbild der Nachahmung und bleibe damit bei „einem niedrigen Durchschnittsmaß von Vorstellungen", d. h. bei einem „unentwickelten anschaulichen Bewußtsein" stehen, wie es „in gewöhnlichen, gemeinen Köpfen" vorhanden ist. 57 Zwar suche er im Gegensatz zum „spekulativen Idealismus" das Wesen der Kunst nicht in der Schönheit, sondern in der Wahrheit. E r stelle nicht das ästhetische Gefühl, sondern das Streben nach Erkenntnis in den Mittelpunkt. So billige er auch der Form eine durch keinen Anspruch auf Wohlgefälligkeit getrübte Anschaulichkeit zu. Aber auf Grund seines „niedrigen" und „unentwickelten" Bewußtseinsstandes betrachte er die anschauliche Erkenntnis als Unterart der Wissenschaft. Folglich „illustriere" der Inhalt nur einen theoretischen Gedanken. Das Ergebnis sei eine Hieroglyphe, aber kein Kunstwerk. Der idealistischen Inhalts-Ästhetik und der „naturalistischen" Nachahmung warf Fiedler gleichermaßen vor, sie würden die Spezifik der Kunst, d. h. die Eigenbedeutsamkeit anschaulicher Erkenntnis ignorieren. Diese Abgrenzung genügte ihm aber nicht. E r wandte sich auch gegen die Formal-Ästhetik, die Kant und R. Zimmermann vertreten. Eine Berechtigung gestand er ihr insofern zu, als sie sich auf den Gefühlsbereich erstreckt und sich nicht den Bereich der Kunst unterordnet. Im Kampf gegen den objektiven Idealismus stellte er sich sogar auf ihre Seite. E r erklärt, sie sei in ästhetischer Hinsicht der „spekulativen Philosophie" überlegen, weil sie nicht eine absolute Schönheit, sondern das subjektive Wohlgefallen untersuche, das sich im menschlichen Bewußtsein vorfindet. Allerdings bestreitet Fiedler ihre Behauptung, daß Elemente der Schönheit nur in formalen Verhältnissen zu suchen seien, also in Harmonie, Symmetrie, Rhythmus etc. Wenn sie der Inhalts-Ästhetik zum Vorwurf mache, diese vermenge die ästhetische Forderung nach der schönen Form mit der außerästhetischen Forderung nach dem bedeutsamen Inhalt, so sei das einseitig. Ein ethisch-gefühlsmäßiger oder
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gedanklich-abstrakter Inhalt könne durchaus ästhetisch wohlgefällig wirken. An diesem Punkt setzte Fiedler sein „drittes" Prinzip aufs neue ein. Er erklärt, ästhetische Forderungen zu stellen, widerspreche überhaupt dem Wesen der Kunst. Man dürfe den künstlerischen Wert nicht im Ästhetischen suchen. In dieser Hinsicht sei sowohl die inhaltliche als auch die formale Ästhetik zu verwerfen. Zwar könne der Inhalt so gut wie die Form ätherischen Wert besitzen. Derselbe sei aber ebenso wie die auf Schönheit abzielende Form nur denkbar als „kunstfremdes" Element. Von künstlerischem Wert sei ausschließlich die Form, und wiederum nur insofern, als sie anschauliche Erkenntnis ist. Fiedler wendet sich ausdrücklich auch gegen den von der Formal-Ästhetik unter der Bestimmung der Form anerkannten inhaltlichen Rest. Fiedler versteht unter Ästhetik die Lehre vom Schönen bzw. von dem besonderen Gefühl des Wohlgefallens. Damit hielt er sich im Rahmen aller vorausgegangenen Philosophie. Gesprengt wurde dieser nur, wenn er behauptete, ästhetische Gesichtspunkte hätten in der Lehre von der Kunst nichts zu suchen. Er ging von der durchaus richtigen Annahme aus, daß der Maßstab für den essentiell künstlerischen Wert nicht die Schönheit, sondern die Wahrheit ist. Dürer und Rembrandt galten ihm als Beispiel für das durch das Prinzip der Schönheit nicht zu erschöpfende Wesen der Kunst. Allerdings verfiel er einem Extrem, wenn er das Ästhetische überhaupt aus der Kunsttheorie ausscheiden wollte. Er verabsolutierte einen Teilaspekt. Die idealistische Inhalts-Ästhetik, in der die alte Kalokagathie fortwirkt, und die Formal-Ästhetik, die das Schöne zwar vom Guten, nicht aber vom Wahren unterscheidet, wurden im 19. Jahrhundert heftig von Vertretern des „Naturalismus", jedoch auch von realistischen Künstlern bzw. Kunsthistorikern wie Courbet und materialistischen Philosophen wie Tschernyschewski angefeindet. Ihr Kampf gegen den idealistischen Schönheitskanon war, wenn auch oft unbewußt, ein Kampf gegen die offizielle Meinung der herrschenden Klassen. Die Forderung nach dem schönen Schein hatte in dieser Zeit eine apologetische Funktion. Die Wahrheit über die latente gesellschaftliche Krise durfte nicht an den Tag kommen. In der verschönenden Kunst sollte die Disharmonie des Kapitalismus verschleiert werden. Fiedler stellte sich scheinbar auf die Seite der Kritik. Im Grunde ersetzte er aber nur die direkte durch eine indirekte Apologetik. Über die konservativ-liberale Illusion war er hinaus. Er spürte, daß unter den veränderten Bedingungen des heranreifenden Imperialismus im Kampf gegen den Realismus und den Materialismus sowie gegen die mit ihnen verbundenen sozialistischen Tendenzen ein Methodenwechsel vorgenommen werden mußte. Den Maßstab des Kunstwertes bildet die künstlerische Wahrheit. Die Schönheit ist mit dieser zwar nicht identisch, aber sie ist ein Sonderfall. Die künstlerische Wahrheit beruht auf einer spezifischen Übereinstimmung des künstlerischen Abbildes mit dem künstlerisch Abgebildeten. Die Spezifik selbst wird noch näher zu untersuchen sein. Hier nur so viel: Schönheit liegt vor, wenn die Übereinstimmung zugleich Harmonie ist. Man darf nicht, wie das der Idealismus tut, die Schönheit als zentrale künstlerische Kategorie betrachten und mit der Wahrheit identifizieren. Man darf aber auch nicht, wie das der Naturalismus - und Fiedler in seinen Spuren - tut, die Schönheit aus der Kunst völlig eliminieren. Die eine gehört zur anderen. Das Gebiet der Kunst ist freilich weiter als das Gebiet der Schönheit, und umgekehrt.
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Fiedler trennt die künstlerische Wahrheit nicht nur von der Schönheit, er trennt sie auch von der Wahrheit im wissenschaftlichen Sinn. In dieser Hinsicht stellt er sich gegen den „Naturalismus". E r geht von der durchaus richtigen Annahme aus, daß die künstlerisch-anschauliche Erkenntnis spezifisch anderer Natur ist als die begrifflich-diskursive Erkenntnis, sich also der kunsttheoretische Maßstab der Wahrheit unterscheiden muß von dem wissenschaftstheoretischen. Seiner Polemik gegen die „naturalistische" Verschmelzung von künstlerischen und wissenschaftlichen Prinzipien kommt eine relative Berechtigung zu. Tatsächlich handelt es sich nicht nur darum, ob Wahrheit die zentrale Kategorie ist, sondern auch darum, was Wahrheit im künstlerischen Sinne ist. Tatsächlich darf man das wissenschaftliche Modell der Kunst nicht unterschieben. Den Ansatz, der es erlauben würde, der künstlerischen Spezifik nachzuspüren, gibt Fiedler aber wieder preis, wenn er die Wahrheit überhaupt und damit auch die künstlerische Wahrheit als ausschließliches Produkt des subjektiven Bewußtseins erklärt. E r praktiziert den üblichen Zirkel: Die künstlerische Wahrheit gilt als Maßstab der künstlerischen Tätigkeit und die künstlerische Tätigkeit als Maßstab der künstlerischen Wahrheit, wodurch letztere in der Konsequenz selber aufgehoben wird. Selbst wenn man von der subjektiv-idealistischen Konzeption absieht, erweist sich Fiedlers,Annahme als falsch. Man darf nicht, wie das beim Naturalismus geschah, den rationalwissenschaftlichen Maßstab verabsolutieren und zum Maßstab auch in der Kunsttheorie machen. Man kann aber auch nicht, wie das Fiedler tat, die künstlerische von der rational-wissenschaftlichen Wahrheit isolieren; denn die künstlerische Tätigkeit zeichnet sich - wie noch näher zu belegen sein wird - nicht durch eine „reine", sondern durch eine spezifische Anschaulichkeit aus. Fiedler wiederholte den „dritten Weg". Das Verfahren war das gleiche. E r bemühte sich, den „alten Streit", ob dem Inhalt oder der Form imKunstwerk das Primat zukomme, zu überwinden. E r stellte fest: von einem künstlerischen Inhalt könne man nicht sprechen, weil es sich bei ihm um eine der Anschauung unangemessene, gefühlsmäßige oder begriffliche Beifügung handele. Von der künstlerischen Form zu sprechen sei dagegen tautologisch, denn Kunstwerk und Form seien ein und dasselbe. Ein Verhältnis zwischen Inhalt und Form existiere überhaupt nicht. So könne auch nicht dem einen oder der anderen das Primat zukommen. Nachdem Fiedler das „alte" Inhalt-Form-Verhältnis abgebaut hatte, „erneuerte" er den Formbegriff, freilich nunmehr ohne jedes Pendant: Die eigentliche künstlerische Aussage, so erklärte er, bestehe in der Form. Die Form selbst sei der Inhalt. Sie drücke nichts anderes aus als sich, d. h. die im subjektiven Erkenntnis- bzw. geistigen Produktionsprozeß zur Klarheit und Deutlichkeit entwickelte Anschauung. Alles das, was mit ihr nicht identisch ist, sei ein außerkünstlerischer Nebenwert und liege als solcher jenseits der Grenzen des Kunstwerks : „Der essentiell künstlerische Wert der Form besteht in der durch die Form vermittelten und zum Ausdruck gebrachten Erkenntnis. So besteht der eigentlich künstlerische Inhalt des Kunstwerks in der Form; während sowohl der ästhetische Wert der Form als auch der ästhetische, ethische, abstrakte usw. Wert des Inhalts nur Nebenwerte des Kunstwerks vorstellen. - ' , 5 8
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I. Methodenwechsel als „dritter Weg"
Fiedler kritisiert sowohl die idealistische Inhalts-Ästhetik als auch die realistische Nachahmung, ja selbst die Formal-Ästhetik Kants und Zimmermanns, die einen von der künstlerischen Form bestimmten inhaltlichen Rest akzeptiert. Es ist in allen drei Fällen eine Kritik von rechts. Wo Fiedler die Idealisierung und die „naturalistische" Nachahmung ablehnt, eliminiert er inhaltliche Bestimmungen. Wo er die Idealisierung anerkennt, akzeptiert er den Idealismus. Wo er den „Naturalismus" anerkennt, akzeptiert er sensualistische, nie realistische Elemente. Wo er die Formal-Ästhetik ablehnt, aber auch, wo er sich zu ihr hingezogen fühlt, tendiert er zum Formalismus. E r führt die „formelle Betrachtung", freilich nicht in ästhetischer, sondern in gnoseologischpsychologischer Hinsicht, neu ein: „Gleichwohl fühlt man sich in einer Beziehung nach der Seite der formalistischen Ästhetiker hingezogen; denn es kann einem nicht entgehen, daß das Hauptgewicht der Kunstwerke allerdings in ihrer Form liegt.. . Der Irrtum besteht nur darin, daß man der Form als einzigen und somit essentiell künstlerischen Wert einen ästhetischen beimißt;.. ." 5 9 Übrig bleibt das reine Sichtbarkeitsgebilde, zu dem sich die künstlerische Anschaunng emporsteigert. Es bezieht sich auf nichts und drückt nichts aus. Einen künstlerischen Inhalt gibt es nicht. So ist es einfach, von vornherein jedes Mißverhältnis, aber auch jede echte Kongruenz zwischen ihm und der Form auszuschließen. Diese inhaltliche Entleerung bedeutet letztlich die Selbstauflösung der Kunst. Das Kunstwerk kann nicht nur, es muß sogar etwas darstellen und folglich eine ideelle Bedeutung haben, weil es eine ideelle Einstellung des Künstlers ausdrückt. Die Frage ist nur, wie weit es das in vollkommener Weise tut, d. h. wie weit der Inhalt in der Form künstlerisch realisiert ist. Wenn sich Fiedler gegen einen „tendenziösen" Inhalt wandte, der an sich, außerhalb der Form existiert und von ihr nur „illustriert" wird, war seine Kritik berechtigt. Im Fall der von ihm kritisierten, mit der idealistischen Inhalts-Ästhetik verbundenen zeitgenössischen Ideen-Malerei waren gefühlsmäßige und gedankliche Elemente als aufdringliche Sentimentalität und Schönfärberei äußerer Zusatz zur künstlerischen Form geblieben. Aber Fiedler ignorierte, daß gefühlsmäßige und gedankliche Elemente sich durchaus auch im unmittelbar Anschaulichen inkarnieren können. Die Opposition gegen den „intellektuellen", „literarischen", „sentimentalen", d. h. künstlerisch unaufgelösten Inhalt war für ihn Anlaß, den Inhalt schlechthin, auch den in der Form inkarnierten, als außerkünstlerisch zu diffamieren. In Wahrheit kann man Form und Inhalt gar nicht trennen, geschweige denn eines von ihnen ausschalten. Einerseits ist die Form kein äußeres Gewand, das der Inhalt anlegt oder abwirft, ohne sein Wesen zu verändern. Sie dient nicht nur dazu, ihn nach außen in Erscheinung treten zu lassen und dem Publikum zu vermitteln. Indem der Inhalt in der Form ausgebildet wird, erhält er erst seine Struktur. Andererseits ist die Form selbst inhaltlich, schon deshalb, weil ihre Bestimmungen historisch-gesellschaftlich gewachsen sind. Es handelt sich um ein dialektisches Verhältnis, in dem jede der beiden Seiten den Widerschein der anderen an sich hat. Fiedlers Methodenwechsel, die Distanzierung von Idealisierung und Nachahmung und von der Auseinandersetzung über Form und Inihalt, vollzog sich auf dem Boden
3. Konstruktion eines neuen Kunstbegriffs
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der herrschenden „positiven" Philosophie. Was diese versäumt hatte, wollte er nachholen. Fiedler erklärte, Neukantianismus und Positivismus hätten noch keinen, den neuen geistigen Bedürfnissen genügenden Kunstbegriff erarbeitet. Im Gegenteil, sie würden sogar auf dem Gebiet der Kunst den alten, überholten Idealismus unterstützen, den sie auf dem Gebiet der Wissenschaft bekämpfen. Zu nichts anderem sei ihre Annahme angetan, daß die Kunst den Boden gesicherter Erfahrung verläßt und sich durch die Einbildung eine selbständige Welt schafft, die keinen Anspruch auf „positive" Wahrheit erheben kann. Die Gegenüberstellung von Kunst und Wirklichkeit entspreche ganz und gar der kunstfremden, aber herrschenden Forderung nach schönfärberischer Idealisierung. Fiedler dagegen wollte, „ausgehend vom Mittelpunkt moderner Denkweise", die „neue Formel" finden, „auf die das Wesen der Kunst gebracht wird", damit sie ebenso wie die Wissenschaft völlige Unabhängigkeit und Selbständigkeit genieße. Die „neue Formel" ist die anschaulich-formale Seinsproduktion. Sie erwies sich als Anpassung an die neuen, durch den sich allmählich herausbildenden Imperialismus veränderten Ansprüche der ideologischen Auseinandersetzung. Fiedlers formales Bestreben, in Opposition gegen Idealisierung und Nachahmung, Ideen-Malerei und „Naturalismus", Inhalts- und Formal-Ästhetik der Kunst einen autonomen, selbstgenügsamen Bereich zu gewinnen, war zwiespältig. Es war zwiespältig wiederum in doppelter Weise, und zwar im Hinblick auf die historisch-gesellschaftliche Situation des ausgehenden 19. Jahrhunderts und im Hinblick auf die methodologisch-erkenntnistheoretischen Voraussetzungen. Was die historisch-gesellschaftliche Situation anbelangt, so trifft das zu, was G. W. Plechanow zur Zwiespältigkeit des l'art pour l'art sagt 60 : Einerseits kann die Kunst, wenn die herrschende politische Macht reaktionär ist, vor politischem Mißbrauch geschützt werden, indem sie zum Selbstzweck erklärt wird. Andererseits droht bei der Ausschaltung der ideellen und gesellschaftlichen Zusammenhänge eine indirekte ideologische Unterstützung gerade der Macht, vor der man sich auf die Insel der Kunst retten will. Einerseits revoltiert man gegen den bürgerlichen Staat und gegen die bürgerliche Gesellschaft, die kunstfremde, ja kunstfeindliche Zwecke verfolgen, andererseits fördert man durch die Entgesellschaftung zugleich die Enthumanisierung. In historisch-gesellschaftlicher Hinsicht handelte es sich also bei Fiedlers Oppositionsbestrebungen um Richtungskämpfe, die sowohl progressive als auch regressive Ergebnisse hatten. Als unmittelbarer Bestandteil des Klassenkampfes wirkte seine Feindschaft gegen den sozialkritischen Realismus. Was die methoologisch-erkenntnistheoretischen Voraussetzungen anbelangt, so hatte Fiedlers formales Verfahren den Vorzug, die Eigengesetzlichkeit der bildenden Kunst evident zu machen. Schon Marx weist bekanntlich darauf hin, daß bestimmte Blütezeiten der Kunst nicht in einfacher Übereinstimmung stehen mit wirtschaftlichen bzw. gesellschaftlichen Blütezeiten. Die künstlerischen Leistungen sind mit der ökonomischen Basis nur mittelbar und indirekt, über viele komplizierte Zwischenglieder, verbunden und haben einen vorgefundenen und übernommenen Ideenbestand, von dem sie ausgehen. Vor allem die künstlerische Form kann nicht unmittelbar und direkt aus wirtschaftlichen bzw. gesellschaftlichen Voraussetzungen erklärt werden. Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite drohte aber die Gefahr, die künstlerische
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I. Methodenwechsel als „dritter W e g "
Eigengesetzlichkeit aus den allgemeinen, den historisch-gesellschaftlichen Zusammenhängen herauszureißen, zu verselbständigen und zu verabsolutieren. Die bildende Kunst wird nur Maßstäben unterworfen, die ihrem eigenen spezifischen Bereich entnommen wurden. Schließlich führte das dahin, daß sie sich überhaupt von der lebendigen Wirklichkeit ablöst als Selbstausdruck und Selbstbetrachtung eines isolierten künstlerischen Subjekts. Fiedlers Methodenwechsel auf der Grundlage des subjektiven und sensualistischen Idealismus hat in der Konsequenz diesen Formalismus. Was als Stärke erscheint, die Entwicklung der Theorie der bildenden Kunst zur eigenständigen Wissenschaft, ist zugleich beachtliche Fehlerquelle.
II. Wirklichkeit als Bewußtseinsprodukt
1. Relativität, Spontaneität,
Eigenbedeutsamkeit
Das Hauptkettenglied, an dem die Vereinigung der „dritten Wege" deutlich wird, ist der Formbegriff. Fiedler verbindet den philosophischen Formbegriff mit dem künstlerischen. Philosophisch kommt er etwa zu folgendem Schema: Der Mensch eigne sich im Erkenntnisprozeß nicht eine außerhalb und unabhängig von ihm bestehende objektive Realität an, vielmehr werde alles Sein überhaupt erst in und durch Produktionsweisen, d. h. Formprozesse seines Bewußtseins, geschaffen. Es sei „reines" Bewußtseinserzeugnis. Diese Haltung zwingt Fiedler, alle objektiven bzw. materiellen Bedingungen zu leugnen. Zentrum seiner Angriffe ist die mit der Anerkennung der objektiven Realität untrennbar verbundene Abbildtheorie. Er schreibt: „Der entscheidende Wendepunkt für den nach Erkenntnis strebenden Geist tritt in dem Augenblick ein, wo sich dem tieferen Nachdenken die anscheinend mit absoluter Realität ausgestattete Wirklichkeit als ein trügerischer Schein enthüllt, wo sich die Einsicht auftut, daß das menschliche Erkenntnisvermögen nicht so einer von ihm unabhängigen Außenwelt gegenübersteht, wie ein Spiegel dem Gegenstande, dessen Bild in ihm erscheint, sondern d a ß das, was man Außenwelt nennt, das ewig wechselnde und ununterbrochen von neuem sich erzeugende Resultat eines geistigen Vorgangs ist." 61 „Die als relativ erkannte Wirklichkeit besteht schlechterdings aus nichts anderem als aus den Formen, in denen sie unseren Sinnen und unserem Geiste, unserem Anschauungsvermögen und unserem Erkenntnisvermögen gegeben ist und wenn wir diese Formen streichen, so geht die gesamte Wirklichkeit ohne Rest auf, es bleibt absolut nichts übrig. Während das naive Bewußtsein in den sinnlich-geistigen Formen, die sich in dem menschlichen Bewußtsein entwickeln, doch nur bruchstückartige und unvollkommene Abbilder von etwas sieht, was ganz und vollkommen und unabhängig von allem menschlichen Auffassungsvermögen vorhanden ist, muß die durchgeführte philosophische Besinnung dahin gelangen, jede Existenz abgesehen von dem Inhalt des Bewußtseins schlechthin als auf einem Trugschluß beruhend von sich zu weisen." 62 Der Abbildtheorie stellt Fiedler seinen Formbegriff gegenüber. Um ihn und das auf ihn zurückgeführte Wesen der Kunst zu bestimmen, arbeitet er Merkmale der Erkenntnis bzw. des Seins heraus. In einem Aphorismus charakterisiert er als die beiden wesentlichsten: durchgängige Relativität und beständige Spontaneität. 63 Ich will ein drittes, für Fiedler ebenso charakteristisches hinzufügen: die Eigenbedeutsamkeit. 4
Faensen
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II. Wirklichkeit als Bewußtseinsprodukt
Infolge der Auflösung des objektiven Seins im subjektiven Bewußtsein schreibt Fiedler nicht nur den Erkenntnisprodukten, sondern allem Seienden d u r c h g ä n g i g e R e l a t i v i t ä t zu. Wollte man sich an seine ontologische Deutung halten, so wäre das ein Nonsens. Einen ontologischen Relativismus gibt es nicht. Nehmen wir Fiedlers Relativitätsbegriff also so, wie er eigentlich gemeint ist, nämlich gnoseologisch. Soll das ganze Sein relativ sein, muß es sich auf ein anderes beziehen, dem gegenüber es relativ ist. Und dieses andere liegt für Fiedler auf der Hand. Es ist das eigene subjektive Bewußtsein. E r verfällt der Tautologie, das Seiende aus dem erkennenden Bewußtsein zu entwickeln und es dann wieder auf dieses zurückzuführen. Der Relativitätsbegriff zielt auf diese Abhängigkeit. „Relativ", so konstatiert Fiedler, „d. h. nicht außer Verhältnis zu seiner eigenen Natur." 64 Es bestehe eine „durchgängige Abhängigkeit dieser Welt von dem Individuum". 65 Man müsse wissen, daß die „Trennung von Welt und Individuum nur ein trügerischer Schein ist, und daß die Welt im Individuum ihre immer sich erneuernde Entstehung vollzieht."®6 Dem „alten" Idealismus wirft Fiedler vor, er habe das als relativ erkannte Sein nicht mehr als Wirklichkeit schlechthin, sondern als Erscheinung aufgefaßt, hinter der die wesentliche, „absolute" Wirklichkeit erst zu suchen sei. Das Wesen habe er mystifiziert oder in den Bereich der Unerkennbarkeit entrückt. Fiedler übt berechtigte Kritik an der „metaphysischen" Trennung von Wesen und Erscheinung, die der rational erfahrbaren Wirklichkeit zweitrangigen Charakter beimißt. Er übt auch berechtigte Kritik an dem agnostizistischen „Ignorabimus". Wie bereits erklärt, spielt das „absolute" Sein bei ihm aber eine doppeldeutige Rolle. „Absolut" ist nicht nur Schopenhauers „Wille" und Kants „Ding an sich", „absolut" ist die ganze objektive Realität. Unnachgiebig bekämpft Fiedler scheinbar jede Art von „Metaphysik". Aber Immanenz und Transzendenz haben für ihn eine besondere Bedeutung. Wenn die Erkenntnis sich nur innerhalb des subjektiven Bewußtseins bewegt, ist bereits das Erfassen der materiellen Realität „transzendent", mithin „metaphysisch". Fiedler spricht von einer „Metaphysik" des Objekts insofern, als dieses außerhalb und unabhängig vom eigenen Ich existiert. Er meint, der Übergang über die Grenzen der Empfindungen bzw. Wahrnehmungen hinaus zum realen Dasein des Seienden und die Feststellung äußerer Einwirkungen sei ein „Transzendieren". Der Terminus „absolut" bedeutet in dieser Hinsicht nichts anderes als „objektiv". Bestätigt wird das dadurch, daß Fiedler erklärt, solange man die Wirklichkeit als etwas außer sich selbst Gegebenes betrachte, solange werde man ihr ein „absolutes" Sein zuschreiben.67 Er kommt zu dem Resultat: „Nachdem die ganze Welt ihres absoluten Seins entkleidet und gleichsam zum abhängigen Besitz des Menschen geworden war, hatte jener Begriff einer absoluten Existenz tatsächlich jeden Inhalt verloren." 68
1. Relativität, Spontaneität, Eigenbedeutsamkeit
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B e s t ä n d i g e S p o n t a n e i t ä t bedeutet für Fiedler: Alles Seiende bildet sich heraus in einem und durch ein menschliches Bewußtsein, das Tätigkeitscharakter trägt. Die Tätigkeit vollzieht sich spontan. D . h. das Bewußtsein ist fähig, ohne Einfluß von außen, aus eigenem Antrieb, sozusagen selbsttätig zu produzieren. Schon Georg Klose hat in seiner Dissertation darauf aufmerksam gemacht, daß dieser Produktionsbegriff doppeldeutig ist. Produktion geschieht einmal als ein aktives Gestalten und Entwikkeln, zum anderen als eine dem psychophysischen Ablauf eingeordnete Selbstentwicklung. In diesem zweifachen Sinn gibt es für Fiedler Formprozesse. In ihnen und durch sie soll sich jeder Mensch seine Welt selbst erzeugen. In Fiedlers Abwertung der Abbildtheorie dominiert die Bekämpfung des Materialismus. Mit Recht wirft er dem materialistischen Mechanizismus vor, er würde sich auf eine starre, unveränderliche Wirklichkeit beschränken, d. h. sein Seinsbegriff sei „absolut". Einmal unterschiebt Fiedler aber dem gesamten Materialismus grob mechanizistische Formulierungen. E s sind u. a. offenkundige Unzulänglichkeiten einiger vulgärer Auffassungen, die den Erkenntnisprozeß als ein passives Wirken der Sinnesorgane darstellen, in denen sich die Eindrücke einer unveränderlichen Außenwelt abprägen. Über die Registrierung der Erscheinungsformen gelangen sie nicht hinaus. Mit relativer Berechtigung betont Fiedler ihnen gegenüber die tätige, aktive Seite der Erkenntnis. In der Regel entsprechen die mechanizistischen Formulierungen, die Fiedler bekämpft, aber noch nicht einmal dem, was vulgäre Auffassungen feststellen. Auch beruht die Hervorhebung der tätigen Seite noch auf weitaus abstrakteren Kategorien, als sie Marx einem Idealismus im Sinne Hegels zuschreibt. Was Fiedler am mechanizistischen Abbilden stört, ist im Grunde überhaupt nicht die mechanizistische Art des Abbildens, sondern die vorausgesetzte Existenz eines Abzubildenden. Zum anderen nimmt Fiedler selbst an, daß der Begriff einer objektiven Außenwelt immer die Begriffe der Starrheit und Unveränderlichkeit voraussetzt. E r sieht den Prozeßcharakter der Wirklichkeit deshalb nur gewahrt von der Position des subjektiven Idealismus aus. Diese Position ist leicht zu erschüttern. Sie gerät schon durch den Nachweis ins Wanken, daß die objektive Realität selbst sich verändert. Die objektive Dialektik ist überhaupt erst die Voraussetzung des Prozeßcharakters unserer Erkenntnis. Der Vorwurf gegenüber dem Mechanizismus, er behaupte ein „absolutes" Sein, trifft im Grunde immer die Annahme einer außerhalb und unabhängig vom menschlichen Bewußtsein existierenden Realität. In der Beantwortung dieser Frage ist der alte Vulgärmaterialismus Fiedler freilich turmhoch überlegen. Fiedler erklärt, seine Spontaneitätsauffassung packe das Erkenntnisproblem von einem völlig veränderten Standpunkt aus an: „Unterschied man sonst das Erkennen vom Schaffen, so kann man jetzt nicht sowohl in dem Schaffen ein Erkennen, als vielmehr in dem Erkennen ein Schaffen sehen. Dadurch wird die große Kluft beseitigt, welche die erkennende von der produzierenden Tätigkeit in der Wurzel scheidet. Die ursprüngliche Einheit in der menschlichen Natur wird wieder hergestellt und die Unterschiede werden in die sich imer mehr differenzierenden Tätigkeiten verlegt." 6 9 4*
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II. Wirklichkeit als Bewußtseinsprodukt
Daraus folge, daß „der erkennende Geist nichts anderes in seinen Besitz bringt, als das Produkt seiner eigenen Tätigkeit". 7 0 Diese Konzeption Fiedlers kulminiert im idealistischen Tätigkeitsbegriff. Freilich ist der Erkenntnisprozeß ein echtes Schaffen in dem Sinn, daß sich die Bewußtseinsinhalte konstituieren. E r ist aber nie ein Schaffen der Objekte selbst. Trotzdem steckt in Fiedlers Spontaneitätsauffassung ein rationelles Element. Sie ist erkenntnistheoretischer Reflex der menschlichen Praxis: Alles, was wir erzeugen, erkennen wir auch. Selbst als Reflex bleibt sie freilich abstrakt. Der idealistische Tätigkeitsbegriff erfaßt die wirkliche, sinnliche Praxis als solche nicht. Ausgangspunkt muß der Begriff der Arbeit sein. Die menschliche Sinnlichkeit ist nicht nur passiv bzw. rezeptiv. Sie empfängt in den Empfindungen und Wahrnehmungen nicht nur Einwirkungen von außen. Sie ist zugleich auch das Organ des menschlichen Handelns. Sie verwirklicht die geistigen Erkenntnisse in der Praxis, da sie selbst praktische Tätigkeit ist. Man darf also nicht nur ihre kontemplative, man muß auch ihre aktive Seite beachten. Sie ist das Vermittlungsglied zwischen Bewußtsein und Außenwelt, und zwar nach beiden Seiten hin. Sie ist das Zentrum einer „Oszillation". Für Fiedler handelt es sich nicht um die gegenständliche Auseinandersetzung des Menschen mit der objektiven Wirklichkeit, sondern um eine rein geistige „Selbsttätigkeit". Von der menschlich-sinnlichen Praxis wendet sich Fiedler ab. In ihr besteht aber gerade die reale Grundlage des Erkenntnisprozesses. In ihr liegt auch das Kriterium der Wahrheit. Würde man dasselbe nur innerhalb enger gnoseologischer Grenzen suchen, käme man über eine formal-logische Widerspruchsfreiheit nicht hinaus. Um den dialektischen Zusammenhang von subjektivem Bewußtsein und objektiver Außenwelt zu erfassen, muß man einerseits die Außenwelt in ihrer objektiven Realität anerkennen und zugleich andererseits die praktische Beziehung zwischen dem Menschen und ihr berücksichtigen. Die Frage nach der objektiven Realität ist nicht nur eine theoretische, sondern auch eine praktische Frage. D a s bewußtseinsmäßig produzierte Sein unterscheidet Fiedler zweifach: der Spezifik der Sinnesorgane und der Entwicklungsstufe nach. E r erklärt, es gibt kein „Sein schlechthin". D a s Bewußtsein sei nicht als allgemeiner Zustand, vielmehr in der Gestalt spezifischer Seinsarten vorhanden. Die Produktionsweisen, d. h. Formprozesse, durch die sie hervorgebracht werden, seien abhängig von der physiologischen Struktur des Sinnesapparates. Die Spezifik der Seinsarten führt Fiedler auf die Spezifik der Sinnesorgane zurück. Im Bereich seiner entleerten Abstraktionen kann es aber kein dialektisches Verhältnis zwischen Besonderem und Allgemeinem geben. So verleugnet er zugunsten der Spezifik das Gemeinsame. Einen dialektischen Zusammenhang zwischen den Sinnesorganen, folglich auch zwischen den Seinsarten erkennt er nicht an. Fiedler betont die Selbständigkeit des Gehörten, Getasteten, Gesehenen, Gefühlten und Gesprochenen. Freilich muß er die Existenz von „Assoziationen" zugeben. Aber er läßt sie nur als starres Begleitverhältnis in sich unveränderlicher Elemente gelten. Was man als einen objektiven Gegenstand kennt, begreift er als „assoziatives Gemisch" grundverschiedener Sinnesqualitäten. Benennt man dieses Gemisch, so handelt es sich seiner Auffassung nach bei dem Begriff nicht um
1. Relativität, Spontaneität, Eigenbedeutsamkeit
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eine höhere Aneignung, sondern um ein anderes, unabhängiges und selbständiges Gebilde, das sich hinzugesellt. Fiedler betrachtet vor allem zwei Produktionsweisen, d. h. Formen, nämlich die begriffliche bzw. diskursive und die anschauliche bzw. intuitive. Voll entwickelt führe die eine zur Wissenschaft, die andere zur bildenden Kunst. D i e eine leite sich ab vom Stimmbildungsorgan, die andere vom Gesichtssinn. Begriffliches Sein entstehe in der und durch die Sprache. In dem und durch das Sehen konstituiere sich das anschauliche Sein, im entwickelten Sinn die bildende Kunst. Auf ihre Problematik reduziert Fiedler im Grunde die Problematik aller Kunstgattungen. D i e Eigenart von Dichtung, Musik, Tanz etc. übergeht er. Fiedler unterscheidet das bewußtseinsmäßig produzierte Sein nicht nur der Spezifik der Sinnesorgane, sondern auch der Entwicklungsstufe nach. Man fühlt sich an das Leibnizsche Stufenreich der Monaden erinnert, wo der Vorstellungsverlauf von dem Grad der Bewußtheit unterschieden wird, den eine bestimmte Vorstellung repräsentiert. D i e ideellen Gebilde weisen unterschiedliche Entwicklungsgrade auf, die von der Dunkelheit und Verworrenheit bis zur Klarheit und Deutlichkeit reichen. J e durchgängiger ein spezifischer Formprozeß funktioniert, desto einseitiger beschränken sie sich auf ein spezifisches Sein. J e einseitiger sie sich aber auf ein spezifisches Sein beschränken, desto klarer und deutlicher sind sie. Zumeist existieren sie Fiedlers Auffassung nach freilich als „assoziative Gemische". Fiedler spricht von einem „geistigen Mittelreich", das, unendlich individualisiert, „Wirklichkeitsbesitz" aller Menschen sei. E r nennt es auch schlechtweg „Natur", dergestalt die Realität der objektiven Gegenstände in einer Welt sinnlicher Assoziationen auflösend. Dabei nimmt er an, daß in den „assoziativen Gemischen" zwar schon eine bestimmte Gestaltung vorliegt, jedoch noch kein hoher Grad der Entwicklung. Die Spezifik der verschiedenen Formprozesse vermag sich noch nicht durchgängig durchzusetzen. Ziel ist aber, wie Fiedler angibt, Klarheit und Deutlichkeit der ideellen Gebilde. Ein Wort bzw. Begriff erreiche diese höchste Entwicklungsstufe, wenn alle sinnlichen Qualitäten und Gefühlsbeziehungen aus dem Bewußtsein entschwinden, ein Gesichtsbild erreiche sie, wenn alle anderen Seinsgebiete, z. B . Tasten, Fühlen, begriffliches Denken etc., in den Hintergrund treten. D i e Formungen seien zugleich Reinigungsprozesse, in denen das Sein in seiner Besonderheit immer bestimmter herausgearbeitet wird. Fiedler kommt es vor allem auf die „Reinheit" der Wörter bzw. Begriffe und der Sichtbarkeitsgebilde an. D i e in einem solchen Sinn gereinigten Produkte nennt er Formen. Fiedlers philosophischer Standpunkt wird ergänzt durch einen psychologistischen, vor allem dort, wo er dem Sein das Merkmal der E i g e n b e d e u t s a m k e i t zuschreibt. E r meint, wenn man die spezifischen Formprozesse betrachtet, dürfe man das geistige Geschehen vom körperlichen nicht trennen. E s sei ein großer Irrtum, anzunehmen, das eine könne das andere in seinen Dienst nehmen oder sich seiner enthalten. Beide seien im Grund nur zwei verschiedene Erscheinungsweisen eines einheitlichen psychophysischen Prozesses. Es sei immer ein und derselbe Vorgang, so behauptet Fiedder, ein körperlicher, weil es im menschlichen Bewußtsein keinen geistigen Vorgang gibt, der nicht ein körperlicher wäre, und ein geistiger, weil es keinen körperlichen Vorgang gibt, der für uns anders als in geistiger Form vorhanden sein könne. Fiedler löst das Geistige im Körperlichen und das Körperliche im Geistigen auf. So dient der psy-
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II. Wirklichkeit als Bewußtseinsprodukt
chologistische Standpunkt dazu, den Unterschied zwischen dem Physischen und dem Psychischen zugunsten des letzteren aufzuheben. Fiedler stellt fest, daß der psychophysische Formprozeß sozusagen zwei Entwicklungsstadien aufweist. Im ersten Stadium trete er als ein inneres Geschehen in Gestalt verworrener, wechselhafter und vermischter Empfindungen bzw. Wahrnehmungen auf, im zweiten und höheren Stadium als äußerlich dargebotene Ausdrucksbewegung. In der Ausdrucksbewegung erfahre sowohl die psychische als auch die mit der inneren Erregung der sensiblen Nerven beginnende physische Komponente eine vorher nicht erreichte „Entwicklung". Vollkommen falsch sei es, das innere Geschehen mit der psychischen Komponente und die Ausdrucksbewegung mit der physischen Komponente zu identifizieren. Sowohl in der einen als auch in der anderen wirkten beide Komponenten gemeinsam. Der Sinn der Ausdrucksbewegung könne also weder der sein, daß ein innerer Vorgang in einem zweiten äußeren Vorgang, noch der, daß ein Inhalt geistiger Herkunft in einer Bewegung körperlicher Organe abgebildet oder symbolisiert werde. Vielmehr müsse in ihr die höchste Entwicklungsstufe der psychischen wie der physischen Komponente eines einheitlichen Formprozesses anerkannt werden. Einerseits setze sich in der Ausdrucksbewegung das innere Geschehen fort, andererseits erlange in ihr und durch sie der geistige Verlauf erst den Höhepunkt gesteigerter Klarheit und Deutlichkeit, erreiche er in ihr einen Grad des Bewußtseins, der vor und außer ihr nicht erreicht werden kann. In Wahrheit drücke die Ausdrucksbewegung also nichts anderes aus als sich selbst. Sie sei nicht Ausdruck eines Inneren, weil sie eine Fortsetzung ist, und sie sei nicht Ausdruck einer geistigen Bedeutung, weil diese als identisch mit ihr angesehen werden müsse. Die durch die Formprozesse entstehenden Gebilde sind Fiedlers Meinung nach ebenfalls psychophysischer Natur. Sie haben nicht zwei verschiedene Seiten, eine geistige und eine körperliche, wobei die eine durch die andere fixiert oder registriert wird. Sie sind für Fiedler einheitliche Produkte, die sich auf der niederen Entwicklungsstufe der Formprozesse als Wahrnehmungen im Inneren, auf der höheren Stufe als äußerliche Ausdrucksformen repräsentieren. Auf der niederen Stufe sind sie angeblich verworren, vermischt und wechselhaft, auf der höheren klar, deutlich und beständig. Die klaren, deutlichen und beständigen Ausdrucksformen treten z. B. als Wörter oder als Kunstwerke auf. Sie haben eine feste mitteilbare Gestalt und erweisen sich deshalb selbst wiederum als Objekt der Wahrnehmungen der Menschen. Sie sind es, die Fiedler im eigentlichen Sinn als Formen bezeichnet. So wie die Ausdrucksbewegung als Teil des psychophysischen Formprozesses nichts anderes ausdrücken soll als sich selbst, so sollen auch die Ausdrucksformen weder Ausdruck eines inneren Gebildes sein, vielmehr seine Fortsetzung, noch Ausdruck eines geistigen Inhalts, vielmehr dieser Inhalt selbst. Fiedler erklärt: Der Wert einer Form dürfe nicht in einer Bedeutung gesucht werden, die über diese Form hinausgeht. Jede Form, ein Wort so gut wie eine Gebärde oder ein Kunstwerk, bedeute immer nur sich selbst. Sie sei kein Abbild und kein Symbol eines anderen Gebildes. Der Schein, daß sie eine Bedeutung besitzt, die von ihr verschieden ist und sie überragt, beruhe darauf, daß sich auf dem Weg der „Assoziation" andere Formen mit ihr verbinden, die ebenso wie sie selbst wiederum nur sich selbst bedeuten können. Ihre geistige Sphäre sei nicht größer und nicht anders als ihr äußerlich faßbarer Ausdruck. Beide würden sich im
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Grunde als ein und dasselbe erweisen. Das Abhängigkeitsverhältnis, das ohne Zweifel zwischen beiden besteht, verabsolutiert Fiedler zu einem Verhältnis der starren Identität: D e r „körperliche Bereich" eines in und durch einen Formprozeß erzeugten klaren und deutlichen Gebildes sei voll und ganz identisch mit dem „geistigen Bereich". D i e Ausdrucksform stelle nichts anderes dar als sich selbst. Im Zusammenhang mit dieser Feststellung reduziert Fiedler die Bedeutung eines Wortes auf das in eine bestimmte Ordnung gebrachte Lautmaterial, die Bedeutung eines Kunstwerkes auf die sinnfällige künstlerische Gestalt. Sowohl das Wort als auch die künstlerische Form sind eigenbedeutsam. D . h. aber nichts anderes, als daß Fiedler beim Wort den begrifflichen Inhalt und beim Kunstwerk den künstlerischen Inhalt eliminiert. Auf der einen Seite kommt er zum idealistischen Nominalismus, auf der anderen zum kunsttheoretischen Formalismus. D e r Psychologismus Fiedlers spielt bei der Konstruktion des künstlerischen Formbegriffs eine beachtliche Rolle. Unverständlich bleibt allerdings, wie sich mit seiner hier ausgedrückten entschiedenen Ablehnung jeder „dualistischen Sonderexistenz von Geist und Körper" sein Bekenntnis zum „psychophysischen Parallelismus" verträgt. D e r Parallelismus setzt gerade die selbständige Existenz des Psychischen und des Physischen als zweier in sich geschlossener Zusammenhänge, die sich gegenseitig nicht beeinflussen, voraus. Noch unverständlicher bleibt, daß Fiedler den Widerspruch zwischen Psychologismus und immanenzphilosophischer Konzeption nicht bemerkt. Einerseits erklärt er, Ausdrucksbewegung und Ausdrucksform seien äußerlich faßbar und mitteilbar, andererseits löst er sie im subjektiven Bewußtsein auf. In psychologistischer Hinsicht ist er der Meinung, sie würden durch uns hervorgebracht. In immanenzphilosophischer Hinsicht vertritt er die Anschauung, sie würden nicht nur durch, sondern in uns erzeugt. Unter beiden Gesichtspunkten bestreitet er den Abbildcharakter und eliminiert er die objektive Realität. Nur erklärt er das eine Mal, die Welt der Ausdrucksformen, die wir aus einem chaotischen Stoff produzieren, sei nichts anderes als die Außenwelt 7 1 . Das andere Mal reduziert er selbst diese geistig subjektivierte „Außenwelt" auf die Innenwelt unseres Bewußtseins. So erklärt er, daß das, was als das Allerkörperlichste sich erweist, der Widerstand der Materie, ein Geistiges sein müsse, wenn es überhaupt vorhanden sein solle 7 2 . So ist für ihn das in psychologistischer Hinsicht sinnlich feste Gebilde des Wortes philosophisch eine „Wortvorstellung", die nur in dem und durch das menschliche Bewußtsein vorhanden ist. So bezeichnet er die künstlerische Ausdrucksform als Bestandteil des Bewußtseins. Was er vom Psychologischen her als das „materielle" Sein der Kunstwerke herausgearbeitet hat, schraubt er in philosophischer Hinsicht wieder zurück auf die künstlerische „Vorstellung" im Sinne eines „reinen" Bewußtseinsinhalts: „Wir sehen uns mit unserem ganzen Wirklichkeitsbewußtsein auf ein Geschehen angewiesen, welches nicht außer uns, sondern in uns, durch uns sich ereignet." 7 3 W i e aus diesen Ausführungen hervorgeht, ist der philosophische Formbegriff Fiedlers doppeldeutig. E r betrifft einerseits die Formung, andererseits das Geformte. Das eine Mal spricht Fiedler von Tätigkeit, Vorgang, Prozeß, Entwicklung, das andere Mal von Gebilde, Gestalt, Erzeugnis, Ausdruck, Daseinsform, Form. Das eine Mal ist die
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II. Wirklichkeit als Bewußtseinsprodukt
spezifische Produktionsweise gemeint, das andere Mal die Daseinsweise, durch die sich die von der jeweiligen Produktionsweise gebildeten Produkte auszeichnen. Zu bemerken ist freilich, daß weder das eine noch das andere eine praktische, materielle Basis besitzt. D i e Produktion geht ausschließlich auf abstrakt-geistigem Wege vor sich. Folglich kommt dem Produkt auch nur eine abstrakt-geistige Existenz zu. E s handelt sich um die Emanation eines vom realen Lebensprozeß isolierten Bewußtseins. Mit subjektiv idealistischen Argumenten verwirft Fiedler die Abbildtheorie. D a er keine objektive Realität kennt, die im Erkenntnisprozeß abgebildet werden kann, sondern nur Formen, die „erkennend" erzeugt werden, reduziert sich die Grundfrage der Philosophie auf die Frage nach der subjektiven Wirklichkeitsproduktion. Fiedler meint, die Abbildtheorie stecke das Ziel der Erkenntnis von vornherein fest. Ihrer Annahme gemäß könne der Mensch nicht weiter kommen als dahin, sich z. B . eine Wahrnehmung von einem Gegenstand zu bilden, die eine „richtige" Wahrnehmung ist, d. h. die mit dem Gegenstand übereinstimmt. Diese Hypothese sei falsch. D e r Gegenstand müsse überhaupt als etwas Selbständiges beseitigt werden. E r existiere nur als Wahrnehmung, als Vorstellung, etc. 74 . Die Empfindungen seien nichts anderes als die „ursprünglichen" oder „letzten" Elemente des Seins. Im Gegensatz zie Fiedler muß festgestellt werden, daß es sich bei den Empfindungen nicht um eine Scheidewand, vielmehr um eine direkte Verbindung zur objektiven Realität handelt. Als Ergebnisse der Verwandlung der Energie äußerer Reize in Bewußtseinstatsachen tragen sie einen unmittelbaren sinnlichen Abbildcharakter. Man kann nicht, wie es Fiedler tut, die subjektiven „Erscheinungen" abgrenzen von dem, was objektiv erscheint. Gleichgültig, ob es sich um einen wissenschaftlichen oder um einen künstlerischen Bewußtseinsinhalt handelt, derselbe entsteht nie formell abstrakt aus dem eigenen Bewußtsein heraus, sondern setzt objektive Einwirkungen voraus. A novo, sozusagen aus dem Nichts heraus kann nichts erkannt bzw. geschaffen werden. Die Sinnesorgane sind kein voraussetzungsloses physiologisches Apriori, vielmehr selbst ein Produkt der historisch-gesellschaftlichen Entwicklung - Kanäle, durch welche die objektive Wirklichkeit in das menschliche Bewußtsein eindringt.' 3 Fiedler philosophiert, wie das dem bürgerlichen Neukantianismus und Positivismus eigen ist, ausschließlich auf einer erkenntnistheoretisch-psychologischen Grundlage. Wenn er auf diese Weise den phänomenalistischen „Dualismus" durch einen idealistischen „Monismus" zu überwinden versucht, so muß im Gegensatz zu ihm festgestellt werden: D i e Wirklichkeit existiert objektiv, d . h . unabhängig und außerhalb vom menschlichen Bewußtsein. Gegenüber diesem erweist sie sich als das Primäre, als das Ursprüngliche, weil sie die Quelle aller Empfindungen und Wahrnehmungen, alles Denkens und Erlebens ist. Sie wird im menschlichen Bewußtsein abgebildet, steht ihm dabei freilich nicht - wie Fiedler dem Materialismus unterschieben will - „absolut", d. h. starr und unveränderlich gegenüber. Ist das menschliche Bewußtsein doch verbunden mit der auf besondere Weise organisierten menschlichen Materie. Hat es sich doch selbst erst im Ergebnis materieller Tätigkeit, nämlich gesellschaftlicher Arbeit emporgebildet. Man muß zwar in erkenntnistheoretischer Hinsicht streng zwischen Erkenntnisobjekten und bewußtseinsmäßigen Erkenntnisprodukten unterscheiden. Dadurch wird in ontologischer Hinsicht die Einheitlichkeit des menschlichen Seins und der Welt
1. Relativität, Spontaneität, Eigenbedeutsamkeit
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aber nicht angetastet 76 . Es gibt für das Verhältnis des Seins zum Bewußtsein immer eine erkenntnistheoretische und eine ontologische Fragestellung. In der Annahme, man müsse die Erkenntnis untersuchen, ehe man die zu erkennenden Objekte nachweisen könne, sind Fiedler die Bedingungen der Erkenntnis zugleich Bedingungen der Objekte der Erkenntnis. Alle ontologischen Probleme reduziert er auf gnoseologisch-psychologische Probleme. Im Ergebnis dessen sind die Bewußtseinsinhalte als Resultate der Erkenntnis identisch mit den Erkenntnisobjekten. Wenn Fiedler von der Einheitlichkeit der Welt spricht, so hat das immer nur den Sinn, die objektive Wirklichkeit im subjektiven Bewußtsein aufzulösen. Fiedler verfällt einem Zirkelschluß, der später in der Lebensphilosophie und im Existenzialismus Schule macht: Wenn sich das Erkennen, das den Menschen zum Sein führen soll, selbst als Sein erweist, so wird das vorausgesetzt, was erst bewiesen werden muß. Natürlich ist, objektiv betrachtet, der Bewußtseinsinhalt ein Produkt des Erkenntnisprozesses, der vom Erkenntnisobjekt seinen Ausgang nimmt. Unterscheidet man allerdings wie Fiedler nicht mehr zwischen Erkenntnisobjekt und Bewußtseinsinhalt, kennt man nur schlechthin Subjektivität, dann scheint gleichsam das Erkenntnisobjekt ein Produkt der Erkenntnis zu sein. Dann bringt das erkennende Bewußtsein nichts anderes in seinen Besitz als ein Erzeugnis der eigenen Tätigkeit. Dann gilt die tautologische Definition Heideggers: Das Sein ist „es selbst". Das aber stellt die objektive Relation auf den Kopf und führt in den Zirkel hinein. Fiedler versucht, die Abbildtheorie dadurch zu widerlegen, daß er die Existenz der objektiven Realität bestreitet, aber auch dadurch, d a ß er sich auf die Behauptung stützt, beim Abbildprozeß handle es sich um einen rein mechanischen Akt. Beide Prämissen sind falsch. Selbst dort, wo er sich mit relativer Berechtigung gegen den Mechanizismus wendet, erweist sich, daß seine eigene Argumentation auf einer ScheinDialektik beruht. Ihm selbst eignet ein mechanizistisches Denken. Unbewußt setzt er selbst voraus, daß die Erkenntnis ein rein passives und aktuelles Einprägen eines isolierten Objekts in einem isolierten Bewußtsein ist. Aber wir erlangen die Erkenntnis nicht einfach dadurch, d a ß wir „apriori" gegebene Empfindungen aufnehmen und zu höheren Formen fortentwickeln. Im Gegenteil, wir erlangen sie, indem wir uns praktisch mit der Wirklichkeit auseinandersetzen, Gegenstände verändern und Gegenstände erzeugen. Die Erkenntnis ist keine passive und aktuelle Übertragung, vielmehr ein aktiver und historischer Prozeß. Ihre Grundlage ist die gesellschaftliche Praxis. Fiedler betrachtet, was er „positive Erfahrung" nennt, auf eine mechanizistische Weise: Das erkennende Subjekt erscheint als in sich vollkommen abgeschlossenes Bewußtseins-Atom, als fensterlose Monade. Jeder Mensch soll nur seine eigene, private Erkenntnis haben, die sich von den eigenen, privaten Empfindungen ableitet. Da aber die praktische Auseinanderset?ung mit der Wirklichkeit historisch sowie gesellschaftlich erfolgt, ist die Erkenntnis ein historisch-gesellschaftliches Produkt. Man darf weder das materielle Objekt noch das Bewußtsein aus dem historisch-gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang herauslösen. Beide befinden sich in Veränderung. Folglich kann das Objekt nicht von vornherein in seiner ganzen Objektivität erkannt werden. Um das zu vollbringen, müßte das Bewußtsein unmittelbar, aktuell die vollständige absolute Wahrheit aufdecken und völlig souverän sein. Da sich die Erkenntnis aber als historisch-gesell-
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II. Wirklichkeit als Bewußtseinsprodukt
schaftliches Produkt in vielen einzelnen menschlichen Gehirnen manifestiert, wird sie durch allgemein historische und individuelle Schranken begrenzt. Das heißt nicht, daß es für sie prinzipielle Grenzen im agnostizistischen Sinne gäbe. Sie ist allerdings eine „partielle" Erkenntnis, die sich der vollständigen absoluten Wahrheit unendlich annähert. Privat, vereinzelt, in sich abgeschlossen, kann kein Mensch sich auch nur irgendeine Vorstellung von irgend etwas machen. Erst recht nicht kann er die Summe der Erkenntnis, die durch das gesellschaftliche Zusammenwirken ganzer Generationen erworben wurde, allein gewinnen. Es handelt sich also in unserem Zusammenhang nicht nur darum, beschränkt gnoseologisch oder psychologisch zu untersuchen, wie Empfindungen, Wahrnehmungen, Vorstellungen, Begriffe entstehen. Zu untersuchen ist auch die geschichtliche und soziale Dialektik der praktischen und geistigen Aneignung. Die objektive Realität, zu der das menschliche Bewußtsein ein Abbildverhältnis hat, besteht nicht nur aus dem natürlichen, sondern auch aus dem gesellschaftlichen Sein. Engels schreibt: „Grade die Veränderung der Natur durch den Menschen, nicht die Natur als solche allein, ist die wesentlichste und nächste Grundlage des menschlichen Denkens, und im Verhältnis, wie der Mensch die Natur verändern lernte, in dem Verhältnis wuchs seine Intelligenz." 77 Von einer bestimmten Stufe der Menschheitsentwicklung an ist das gesellschaftliche Sein das Primäre. Unter ihm muß vor allem die Arbeitstätigkeit im materiellen Produktionsprozeß sowie die klassen- und schichtengebundene Wechselwirkung der Menschen untereinander verstanden werden. Weder erweist sich die objektive Realität als eine abstrakte, reine Objektivität noch das subjektive Bewußtsein als eine abstrakte, reine Subjektivität. Einerseits sind die Objekte in menschliche, d. h. gesellschaftliche Verhältnisse einbezogen. Andererseits hat das subjektive Bewußtsein einen objektiven Inhalt, und zwar auf Grund dessen, daß es trotz aller subjektiven Züge immer gesellschaftliches Bewußtsein ist. Erst durch die historisch-gesellschaftliche Erfahrung wird objektive Erkenntnis möglich. Auf dem Boden der gesellschaftlichen Praxis, vor allem des Arbeitsprozesses und der Klassenverhältnisse, vollzieht sich die materielle und geistige Aneignung der Realität. Das menschliche Subjekt wirkt auf Objekte ein, bearbeitet und verändert sie, um Bedürfnisse zu befriedigen. Dadurch objektiviert es sich in seinen Arbeitsprodukten. Dadurch tritt es aber auch zu anderen Menschen in soziale Beziehung. Die Bedeutung, die seiner Tätigkeit in dem auf Arbeitsteilung beruhenden Leben zukommt, hängt von der Bedeutung für die Gesellschaft ab. Indem das menschliche Subjekt mit Objekten operiert und sich somit sozial einordnet, formt es sich zugleich selbst. Es behauptet sich als eigene Individualität. Dabei geht der objektive Gehalt der Objekte und des gesellschaftlichen Lebens als bestimmendes Prinzip in sein Bewußtsein ein. Vom unmittelbaren, historisch gewachsenen, praktischen Leben geht die Erkenntnis aus und sie mündet wieder in dasselbe ein. Von ihm ist „der Reichtum der subjektiven menschlichen Empfindungsfähigkeit" (Marx), die Bildung der Begriffe und Denkformen, Philosophie, Wissenschaft und Kunst abhängig. Kurzum: Das gesellschaftliche Sein bestimmt das subjektive Bewußtsein. Er bestimmt dieses aber nicht nur unmittelbar, sondern auch mittelbar über das von ihm abhängige gesellschaftliche Bewußtsein. Das gesellschaftliche Bewußtsein umfaßt den allgemeinen, unmittelbar gegenstandsbezogenen Bedeutungsgehalt, den die Realität für alle Menschen unabhängig von ihrer Klassenlage hat und der in
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der einheitlichen Sprache zum Ausdruck gelangt. Es umfaßt das direkt mit dem materiellen Arbeitsprozeß verbundene Wissen und es umfaßt die indirekt, nämlich vermittels der Klassenverhältnisse mit ihm verbundenen, folglich klassenbedingten ideologischen Vorstellungen, Ideen und Theorien. Es ist nicht so, wie Fiedler glauben machen will, daß nämlich das menschliche Subjekt beim Erkennen eine „Natur" befragt, die sich dann letztlich wiederum im eigenen Bewußtsein auflöst. Wenn es etwas wissen will, befragt es zunächst die anderen Menschen. Man könnte von einer „sozialen Perspektive" sprechen, der gemäß die Wirklichkeit geistig angeeignet wird. Dabei spielt der Entwicklungsstand der Produktion und der Wissenschaft, aber auch der Einfluß jener falschen ideologischen Vorstellungen eine Rolle, die durch das Erziehungs-, Bildungs- und Unterrichtswesen im Interesse der herrschenden Klassen verbreitet werden. Wie einleitend bereits bemerkt, hat auch Fiedler eine „soziale Perspektive". Sie beruht auf einem Rentner-Dasein, das die Merkmale des in sein parasitäres Stadium eintretenden Kapitalismus aufweist. D a für die kapitalistische Gesellschaftsordnung keine historische Aussicht mehr besteht, macht Fiedler die historisch-gesellschaftliche Aussichtslosigkeit zur immanenten Voraussetzung seiner Philosophie und seiner Kunsttheorie. Sich selbst als Einzelwesen begreifend, negiert er bewußt die historisch-gesellschaftliche Praxis. Seine „soziale Perspektive" ist im Grunde perspektivlos. Folglich wird der Blick durch sie auf ein radikal subjektiviertes Bewußtseins-Atom gelenkt. E s wird nicht nur die objektive Realität und hier wiederum besonders das gesellschaftliche Sein, es wird vor allem auch das gesellschaftliche Bewußtsein ignoriert. Ich nehme an, der eigentliche Grund für Fiedlers subjektiven Idealismus war überhaupt sein soziologischer Individualismus. Denn erst die vollständige ideelle Auflösung der Realität gab ihm die Möglichkeit, die Existenz aller anderen Menschen außer sich selbst unbeachtet zu lassen. E r konstruiert ein geschichtsloses und gesellschaftsfreies Bewußtseins-Atom, das ein in gleicher Hinsicht „gereinigtes" Objekt aus sich heraus entwirft. Und um selbst hier alle gesellschaftlichen Relikte zu beseitigen, spricht Fiedler von einer leblosen, entleerten „Natur". Übrig bleibt eine subjektive, formelle, sinnlose Bewußtseinsproduktion. Den psychischen Gebilden fehlt jeder, durch das gesellschaftliche Bewußtsein bedingte, Bedeutungsgehalt.
2. Abbild und Gebilde D a Fiedler seine Kunsttheorie ausschließlich auf dem Formbegriff aufbaut, bleibt sie unberührt von der unterschiedlichen Nuancierung der beiden philosophischen Entwicklungsphasen. Sie untersucht die spezifisch künstlerische Produktion eines spezifisch künstlerischen Seins, d. h. ein spezifisch künstlerisches Bewußtsein, und sie untersucht die Produkte. Wie in Fiedlers Philosophie, so ist auch hier der Formbegriff doppeldeutig. Form bezeichnet einmal die künstlerische Tätigkeit. Dabei handelt es sich um eine spezifische Produktionsweise des subjektiven Bewußtseins, in der eine ursprünglich verworrene und vermischte Anschauung gleicherweise von allen unanschaulichen Elementen gereinigt und zum sichtbaren Ausdruck ihrer selbst entwickelt wird. Form
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der einheitlichen Sprache zum Ausdruck gelangt. Es umfaßt das direkt mit dem materiellen Arbeitsprozeß verbundene Wissen und es umfaßt die indirekt, nämlich vermittels der Klassenverhältnisse mit ihm verbundenen, folglich klassenbedingten ideologischen Vorstellungen, Ideen und Theorien. Es ist nicht so, wie Fiedler glauben machen will, daß nämlich das menschliche Subjekt beim Erkennen eine „Natur" befragt, die sich dann letztlich wiederum im eigenen Bewußtsein auflöst. Wenn es etwas wissen will, befragt es zunächst die anderen Menschen. Man könnte von einer „sozialen Perspektive" sprechen, der gemäß die Wirklichkeit geistig angeeignet wird. Dabei spielt der Entwicklungsstand der Produktion und der Wissenschaft, aber auch der Einfluß jener falschen ideologischen Vorstellungen eine Rolle, die durch das Erziehungs-, Bildungs- und Unterrichtswesen im Interesse der herrschenden Klassen verbreitet werden. Wie einleitend bereits bemerkt, hat auch Fiedler eine „soziale Perspektive". Sie beruht auf einem Rentner-Dasein, das die Merkmale des in sein parasitäres Stadium eintretenden Kapitalismus aufweist. D a für die kapitalistische Gesellschaftsordnung keine historische Aussicht mehr besteht, macht Fiedler die historisch-gesellschaftliche Aussichtslosigkeit zur immanenten Voraussetzung seiner Philosophie und seiner Kunsttheorie. Sich selbst als Einzelwesen begreifend, negiert er bewußt die historisch-gesellschaftliche Praxis. Seine „soziale Perspektive" ist im Grunde perspektivlos. Folglich wird der Blick durch sie auf ein radikal subjektiviertes Bewußtseins-Atom gelenkt. E s wird nicht nur die objektive Realität und hier wiederum besonders das gesellschaftliche Sein, es wird vor allem auch das gesellschaftliche Bewußtsein ignoriert. Ich nehme an, der eigentliche Grund für Fiedlers subjektiven Idealismus war überhaupt sein soziologischer Individualismus. Denn erst die vollständige ideelle Auflösung der Realität gab ihm die Möglichkeit, die Existenz aller anderen Menschen außer sich selbst unbeachtet zu lassen. E r konstruiert ein geschichtsloses und gesellschaftsfreies Bewußtseins-Atom, das ein in gleicher Hinsicht „gereinigtes" Objekt aus sich heraus entwirft. Und um selbst hier alle gesellschaftlichen Relikte zu beseitigen, spricht Fiedler von einer leblosen, entleerten „Natur". Übrig bleibt eine subjektive, formelle, sinnlose Bewußtseinsproduktion. Den psychischen Gebilden fehlt jeder, durch das gesellschaftliche Bewußtsein bedingte, Bedeutungsgehalt.
2. Abbild und Gebilde D a Fiedler seine Kunsttheorie ausschließlich auf dem Formbegriff aufbaut, bleibt sie unberührt von der unterschiedlichen Nuancierung der beiden philosophischen Entwicklungsphasen. Sie untersucht die spezifisch künstlerische Produktion eines spezifisch künstlerischen Seins, d. h. ein spezifisch künstlerisches Bewußtsein, und sie untersucht die Produkte. Wie in Fiedlers Philosophie, so ist auch hier der Formbegriff doppeldeutig. Form bezeichnet einmal die künstlerische Tätigkeit. Dabei handelt es sich um eine spezifische Produktionsweise des subjektiven Bewußtseins, in der eine ursprünglich verworrene und vermischte Anschauung gleicherweise von allen unanschaulichen Elementen gereinigt und zum sichtbaren Ausdruck ihrer selbst entwickelt wird. Form
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bezeichnet zum anderen das fertige Kunstwerk. Dabei handelt es sich um die spezifische Daseinsweise des „reinen" Sichtbarkeitsgebildes. Mit dieser Argumentation überträgt Fiedler den sensualistischen subjektiven Idealismus auf die Kunsttheorie. Das Resultat ist der Formalismus. Ein ästhetisiertes Bewußtseins-Atom, dem jeder Abbildcharakter fehlt, beschäftigt sich mit dem Erzeugen „reiner" Formen, die nichts darstellen und die nichts aussagen. Die künstlerische Tätigkeit, von inhaltlichen Bestimmungen entleert, bewegt sich innerhalb der Grenzen der Bewußtseinsimmanenz. Sie ist, so stark Fiedler diesen Eindruck auch erwecken möchte, kein realer Prozeß, geschweige denn eine „Realisation", d. h. eine Darstellung im Werkstoff. Das Kunstwerk ist kein materialisiertes, vielmehr ein abstraktes Bewußtseinsprodukt. Wenn Fiedler von Benedetto Croce kritisiert wird, weil er das Schwergewicht nicht auf die innere Anschauung, sondern auf die äußere Tätigkeit lege, so beruht das auf einem Mißverständnis. Demonstriert wird dadurch nur, wie geschickt Fiedler in manchen Schriften die immanenzphilosophischen Grundthesen hinter psychologistischen Erörterungen zu verbergen weiß. Im Grunde sind B. Croce und Fiedler Gesinnungsverwandte. Beide leugnen jegliche Realität außer dem „Geist". Beide negieren in der Konsequenz die Möglichkeit der Vergegenständlichung künstlerischer Vorstellungen bzw. Ideen im materiellen Werkstoff. Beide sehen im Künstler eine Monade, die sich selbst genug ist und eines „Publikums" nicht bedarf. 78 Gemäß der Grenzen, die sich Fiedler selber steckt, erstreckt sich die Auseinandersetzung mit seiner Kunsttheorie im folgenden Teil vor allem auf gnoseologische und psychologische Probleme. Auch hier gibt es wieder eine Einschränkung. Fiedler reduziert die Frage nach dem Wesen der Kunst auf die Frage nach dem Wesen der künstlerischen Tätigkeit. Sein Formbegriff ist zwar doppelsinnig. Primär hat er aber immer die Bedeutung der Formung. Erst sekundär bezeichnet er das Kunstwerk. Fiedler erblickt in diesem eigentlich nur ein unvollkommenes Resümee der künstlerischen Tätigkeit. Da er dieselbe nicht als Ganzes fixieren kann, schreibt er ihm nur einen fragmentarischen Charakter zu: „Das Kunstwerk ist nicht die Summe der künstlerischen Tätigkeit des Individuums, sondern ein bruchstückartiger Ausdruck für etwas, was sich in seiner Gesamtheit nicht ausdrücken läßt." 79 Fiedler meint, wesentlich sei nur die Gestaltung selbst. Im Grunde habe sie kein Resultat, sondern sei selbst das Resultat 80 . Man müsse sie als eine endlose Bewußtseinstätigkeit betrachten, der kein festes Ziel gesetzt werden kann 81 . Sie sei ein sich ständig wiederholender Versuch, in die Sichtbarkeit vorzudringen und sie zur Klarheit und Deutlichkeit emporzubilden. In Fiedlers Angaben steckt ein rationelles Moment. Wenn er behauptet, die künstlerische Tätigkeit lasse sich nicht als Ganzes im Kunstwerk ausdrücken, so hat er recht. Das Produkt kann immer nur das Resümee der Produktion sein82. Ein Resümee ist aber eine vollständige und konzentrierte Zusammenfassung, nicht jedoch - wie er feststellt - bloßes „Bruchstück" einer „Gesamtheit". Die platonisierende, objektiv idealistische Auffassung, die im Kunstwerk nur das armselige Fragment der künstlerischen
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Idee erblickt, wird subjektivistisch verkehrt. Die gleiche Zwieschlächtigkeit tritt auf, wenn Fiedler angibt, das Kunstwerk an sich sei ein toter Besitz. Scheinbar hat er recht. Tatsächlich entfaltet dasselbe seinen Wert nur dann, wenn ein Betrachter es sich aneignet. Kunst ist immer ein Prozeß gesellschaftlicher Wechselwirkung. Sie entsteht nicht nur aus der gesellschaftlichen Praxis, sondern wirkt auch aktiv auf sie zurück. Wenn das Kunstwerk den Betrachter nicht anspricht bzw. bewußt auf ein Publikum verzichtet, wenn es nicht selbst wiederum angeeignet, erlebnismäßig reproduziert" wird, bleibt es ein leeres Zeichen. Es muß das Allgemeine, die Ereignisse, Erlebnisse und Gedanken seines Volkes, seiner Klasse, seines Zeitalters gestalten. Folglich stammt es nicht nur aus dem realen Leben und bildet dieses ab, es wirkt auch auf dieses zurück, Es trägt aktiv dazu bei, ihm eine bestimmte gesellschaftliche Form zu geben. Nicht nur durch die Sprache, auch durch die Kunst wird das menschliche Subjekt mit gesellschaftlicher Erfahrung gespeist. Fiedler kommt auf Grund seines subjektiven Idealismus freilich gerade zu dem entgegengesetzten Standpunkt. Er meint, das Kunstwerk sei letztlich nur von Wert für das künstlerische Individuum, weil es sein Streben bruchstückhaft festhalte: „Man schmeichelt sich vergebens mit der Meinung, d a ß die Erkenntnis, zu der das einzelne bedeutende Individuum hindurchgedrungen ist, der Welt eine unverlorene sei; mit dem Individuum erlischt auch die E r k e n n t n i s ; . . ." a3 Eine präzise Analyse ist Fiedler auf Grund seiner Elite-Theorie, seiner vom subjektiven Idealismus getragenen Gnoseologie und auf Grund seines idealistischen Psychologismus nicht möglich. Unter dieser stofflich gegebenen Voraussetzung wird sich die Auseinandersetzung mit Fiedler auf die Theorie der künstlerischen Tätigkeit konzentrieren müssen. Nachzuweisen wird sein, daß es sich hier nicht um eine vom subjektiven Bewußtsein vollzogene Objektsetzung, sondern um eine spezifische Aneignung der objektiven, primär gesellschaftlichen Wirklichkeit durch das künstlerische Subjekt handelt. Diese Aneignung ist sowohl praktischer als auch geistiger Natur. Entsprechend der gegebenen Problematik steht hier wiederum im Mittelpunkt der Auseinandersetzung der bewußtseinsmäßige Abbildprozeß bzw. die idealistische Verzerrung dieses Sachverhalts. Eine Kritik darf sich nicht auf den einseitigen Standpunkt Fiedlers festlegen lassen. Sie braucht für ihre Zwecke aber auch nicht alle kunstphilosophischen Fragen erschöpfend zu behandeln. Sie kann sich auf das Problem des spezifischen Abbildprozesses in der künstlerischen Tätigkeit konzentrieren. Fiedler überträgt seine philosophische Grundthese, d a ß nur das, was subjektiv erzeugt wird, erkannt werden kann, auf die Kunsttheorie. Der sich im subjektiven Bewußtsein vollziehende anschauliche Formprozeß ist für ihn Bedingung der künstlerischen Erkenntnis und zugleich des sichtbaren Seins. Seinen Angaben nach durchläuft er drei Stufen. Jede von ihnen repräsentiert einen bestimmten Erkenntnis- bzw. Seinsgrad. Von der ersten Stufe dürfte Fiedler eigentlich gar nicht sprechen. Sie liegt „unterhalb" des Bewußtseins. Es handelt sich um die chaotische Empfindungsmasse bzw. um die Substanz, die keine Feststellung über spezifische Sinnesanteile zuläßt. Ausgehend von ihr, steigert sich der anschauliche Formprozeß vorerst zur Produktion von Gesichtswahrnehmungen und „gewöhnlichen" Vorstellungen. In ihnen liegt schon eine ge-
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wisse Gestaltung vor. Jedoch bleiben sie noch unvollkommen, unbestimmt und unklar. Fiedler charakterisiert sie sogar als „wechselhaft" („flüchtig") und „verworren", wobei sich freilich der Unterschied zum Empfindungschaos stark verwischt. Sie bilden die zweite Stufe oder das sogenannte Mittelreich („Zwischenreich"). Bei ihnen handelt es sich um sichtbare „Naturerscheinungen". Fiedler betrachtet die ganze Natur als ein unentwickeltes sinnliches Bewußtsein. Unter ihren Objekten versteht er nichts anderes als „Assoziationen" bzw. Gemische der Wahrnehmungen und Vorstellungen verschiedener Sinne. Er gesteht ihr nicht nur eine sichtbare, sondern auch eine tastbare, hörbare, etc. Seite zu. Einer sinnlichen Fortentwicklung unterwirft er aber nur die sichtbare Seite. Wie Fiedler angibt, gelangt der anschauliche Formprozeß zur höchsten Steigerung in der Produktion von künstlerischen Bildern. Fiedler behauptet: Diese zweite Etappe unterscheide sich von der ersten grundlegend. Was vorerst nur innerlich vor sich gehe, werde nunmehr äußerlich ausgedrückt. Was vorerst einfacher Sehakt ist, werde nunmehr künstlerische Tätigkeit. In dieser zweiten Etappe vollziehe sich der anschauliche Formprozeß nach zwei Richtungen hin. Einmal sei er Reinigung. Die Sichtbarkeit werde vom Fühlen und vom begrifflichen Denken, von allen anderen Sinnesqualitäten, vor allem den haptischen, befreit. Sie werde auch von störenden anschaulichen Bestandteilen, z. B. denen der Nahsicht, gesäubert. In „reiner" Gestalt könne sie dann zu einheitlichen Gebilden zusammengefaßt und konzentriert werden. Zum anderen sei der anschauliche Formprozeß Ausdrucksbewegung. Wo der einfache Sehakt abschließe, setze ein Hantieren ein, das vom Auge dirigiert wird. Erst in der „Realisierung" vermöge die Sichtbarkeit aus dem unentwickelten Naturzustand erlöst und verselbständigt zu werden. Die künstlerischen Bilder repräsentierten die dritte und höchste Stufe. Fiedler charakterisiert sie als vollkommen, bestimmt und festumrissen. Es handelt sich um die im subjektiven Bewußtsein erzeugten „reinen", d. h. klaren und deutlichen Gesichtsvorstellungen bzw. um die ideell aufgelösten Kunstwerke selbst. Da Fiedler alle Einwirkungen der objektiven Realität ausschaltet, bestreitet er sowohl den Abbildcharakter der Wahrnehmungen und Vorstellungen als auch den Abbildcharakter der künstlerischen Bilder. Sichtbarkeit entsteht für ihn überhaupt erst durch den subjektiven, anschaulichen Formpozeß. So tragen die' einen wie die anderen rein ideellen Gebildecharakter. Verschieden sind sie nur in ihrem erkenntnis- bzw. seinsmäßigen Entwicklungsgrad. Von diesem Standpunkt aus bezeichnet Fiedler das Verhältnis zwischen Natur und Kunst als ein Verhältnis zwischen unentwickeltem und entwickeltem Bewußtsein. In den Naturobjekten sei die Sichtbarkeit unklar und undeutlich. Erst in den Kunstwerken trete sie klar und deutlich entgegen. Folglich, so meint Fiedler, werde erstens vermittels der Kunstwerke die Sichtbarkeit der Natur erkannt. Folglich könne zweitens auch die künstlerische Tätigkeit keine Nachahmung sein. Zum ersten Punkt erklärt Fiedler: „Der Mensch lernt die Natur erst aus den Werken der Künstler kennen und die Nichtübereinstimmung, die er zwischen Natur und Kunstwerk findet, beruht gemeiniglich auf dem unentwickelten banalen Zustand seiner eigenen Naturanschauung. - "
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„Nicht der Künstler bedarf der Natur, vielmehr bedarf die Natur des Künstlers. Nicht was die Natur ihm so gut, wie jedem Anderen bietet, weiß der Künstler nur anders als ein Anderer zu verwerten, vielmehr gewinnt die Natur nach einer gewissen Richtung hin erst durch die Tätigkeit des Künstlers für diesen und für jeden, der ihm auf seinem Wege zu folgen vermag, ein reicheres und höheres Dasein." „Künstlerische Form und natürliche Form stehen sich also in keinem anderen Sinn gegenüber, als in dem, daß erst in der künstlerischen Form die natürliche Form erkannt zu werden vermag." 84 In Wahrheit erzeugt weder die bewußtseinsmäßig sich vollziehende anschauliche Formung das „gewöhnliche" sichtbare Sein. Noch bringt sie in ihrer höchsten Steigerung, in der künstlerischen Tätigkeit, ein sich durch Klarheit und Deutlichkeit auszeichnendes sichtbares Sein hervor. Was sichtbar ist, bestimmt die objektive Realität in ihrem dialektischen Verhältnis zum subjektiven Bewußtsein. So ist das Verhältnis zwischen Natur und Kunst kein Verhältnis zwischen unentwickeltem und entwickeltem Bewußtsein, sondern zwischen Wirklichkeit und künstlerischer Abbildung. In einem Sinn hat Fiedler freilich recht. Das Bewußtsein erfährt der Anschaulichkeit nach in der künstlerischen Tätigkeit eine Steigerung. Der Künstler, der sich eine sichtbare Erscheinung aneignet, hat eine besondere Beobachtungsgabe. Er versteht, wie er den Blick lenken, welche Details er optisch abtasten und wie er das Ganze überschauen muß, wieviel Aspekte benötigt werden etc. In der alltäglichen Praxis vollzieht man diese Arbeit zumeist nicht. Deshalb bleiben die Gesichtswahrnehmungen unvollkommen. Zumeist brechen sie in dem Moment ab, wenn man das Wesen der Erscheinung begrifflich erkannt hat und wenn diese Erkenntnis genügt, um die Erscheinung nutzbar zu machen. Da sich sowohl in ontogenetischer als auch in phylogenetischer Hinsicht der Entwicklungs- und Erziehungsprozeß auf eine begriffliche Distinktion ausrichtet, scheint das anschauliche Bewußtsein zu verkümmern. Die meisten Menschen bemerken nicht, daß die Sichtbarkeit ein weiteres Gebiet einnimmt, als ihnen aus ihrem täglichen Leben bekannt ist. Insofern wird, wenn man von der Anschauung nicht zu begrifflichen Abstraktionen übergeht, sondern sie selbständig ausbildet, sich auf sie konzentriert, die künstlerische Anlage geweckt und das Reich der bildenden Kunst erschlossen. Trotzdem wäre es falsch, zu behaupten, die Gesichtswahrnehmungen seien im Prinzip unklarer und undeutlicher als künstlerische Bilder. Die von Fiedler verachtete materielle Praxis beweist das Gegenteil. Durch quantitative und qualitative Steigerung der zugeführten Sinnesreize verfeinert sich der optische Analysator bei verschiedenen Berufsgruppen, z. B. in der Textilindustrie, in der Medizin, im Eisenbahn-, Marine- und Militärdienst etc. K. N. Kornilow gibt an, Arbeiter einer Seidenfärberei könnten mit bloßem Auge etwa 40 Nuancen der schwarzen Farbe unterscheiden 85 . Eine, wie man sagt, anschauliche Sinneskultur kann also durchaus schon in der Praxis erworben werden. Während sie aber hier, wie das angeführte Beispiel zeigt, einseitig wirksam ist, offenbart sie in der künstlerischen Tätigkeit alle Möglichkeiten. N. N. Wolkow erklärt: „Nur der Künstler nimmt die Form und Farbe des Gegenstandes allseitig wahr und verschärft sein .visuelles Urteil' bis zu dem Grad des Adäquaten, den sein Beruf
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von ihm verlangt. In der alltäglichen Praxis beschränken wir uns auf die summarischen Einschätzungen dieser Eigenschaften, die für das Erkennen und die praktische Orientierung ausreichend sind.' ,86 Aber selbst in der künstlerischen Tätigkeit wird kein sichtbares Sein produziert. Erst recht nicht wird die sichtbare Seite der Natur durch sie überhaupt erkennbar gemacht. Man kann nur davon sprechen, daß sie den Blick schult. Das gilt auch für den Rezeptiven, der dank der künstlerischen Betrachtung manche Feinheiten der sichtbaren Wirklichkeit besser sehen lernt. Was geschaffen wird, ist durchaus das, was Fiedler bezweifelt: „eine zweite Welt neben einer anderen, die ohne sie existiert." Es ist die Welt der künstlerisch typisierten Vorstellungen bzw. Ideen, in der die Realität zur Abbildung, jedoch nicht zur eigenen Entwicklung gelangt. Man darf sich nicht dadurch täuschen lassen, daß die künstlerischen Bilder im Werkstoff materielle Gestalt annehmen. Sie sind und bleiben Bewußtseinsprodukte. Als fertige Kunstwerke sind sie realisierte Abbilder. Das Gegenteil ist der Fall bei der objektiven Realität. Sie existiert unabhängig vom Bewußtsein, folglich auch von der künstlerischen Tätigkeit. Der Sichtbarkeit nach ist sie weder „verworren" noch „wechselhaft". Ihre Erscheinungen sind gesetzmäßig bestimmt. Das Bewußtsein vermag die Bestimmungen zu reflektieren, ja im Prozeß der Verallgemeinerung bzw. Typisierung zu konzentrieren, es vermag sie aber nie aus sich heraus festzusetzen. Insofern hat es die Kunst durchaus mit „Gestalten zu tun, die sie vor ihrer Tätigkeit und unabhängig von derselben vorfindet". Wenn ihre Bestimmungen derart abgebildet werden, daß ihre Abbilder dem objektiven Tatbestand entsprechen, handelt es sich um ein klares und deutliches Sehen bzw. Wahrnehmen. Klarheit und Deutlichkeit sind Kriterien, die erst der bewußtseinsmäßigen Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit entstammen. Sie entstehen in der praktischen Arbeit, in der materiellen Produktion. Wenn sie in der künstlerischen Tätigkeit besonders allseitig und profiliert wirksam sind, so liegt der Grund darin, d a ß dieselbe selbst im Arbeitsprozeß ihren Ursprung hat und sich immer praktisch-geistig vollzieht. Indem Fiedler die materiellen Einwirkungen abweist, verwirft er die Möglichkeit objektiver Gesetzmäßigkeiten. Im Grunde kennt er nur ein ideelles und subjektives Prinzip, und auch nur - idealistisch verzerrt - innerhalb des anschaulichen Bewußtseins: die Einheit in der Mannigfaltigkeit. In einem einmaligen Sichtbarkeitsgebilde sollen bestimmte Gesichtswahrnehmungen bzw. Gesichtsvorstellungen synthetisiert werden. Da sich dieses Prinzip in den Bildwerken klar und deutlich ausdrückt, meint er, erst im höheren Sichtbarkeitsgebilde werde das niedere verständlich, erst in der künstlerischen Form vermöge die natürliche Form, die sichtbare Naturerscheinung, erkannt zu werden. Fiedler ignoriert, d a ß das Gesetz bzw. Prinzip der Einheit in der Mannigfaltigkeit physiologisch und psychologisch nur deshalb wirksam ist, weil es in den sichtbaren Erscheinungen der materiellen Realität herrscht. Für ihn ist die Einheit in der Mannigfaltigkeit ein ausschließliches Bewußtseinsprinzip. Trotzdem weist er auf einen richtigen Tatbestand hin, wenn er das Prinzip gleicherweise in den „gewöhnlichen" Gesichtswahrnehmungen bzw. Gesichtsvorstellungen und in der künstlerischen Tätigkeit feststellt. Es ist sowohl psychologisches Wahrnehmungsgesetz als auch künstlerisches Formgesetz. Das eine Mal wirkt es, bedingt durch die Funktion des optischen Analysators, unabhängig vom eigenen Wollen oder Nichtwollen. Das andere Mal wird
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es wissentlich angewendet, geht es unter der Kontrolle des Denkens vor sich. Wenn Fiedler das Prinzip der Einheit in der Mannigfaltigkeit aber ausschließlich subjektiv und geistig auffaßt, stellt er das eigentliche Verhältnis auf den Kopf. Die künstlerische Tätigkeit verläßt die Gesichtswahrnehmungen und Gesichtsvorstellungen nicht, indem sie diese fortentwickelt, sondern sie baut auf ihnen auf und diese haben wiederum zur Voraussetzung die Einwirkung objektiver Reizfelder. Die Menschen objektivieren sich im gesellschaftlichen Arbeitsprozeß in den Produkten. Es erfolgt einerseits eine „Vermenschlichung" der Objekte, andererseits verändert sich die subjektive menschliche Beschaffenheit selbst, und zwar ebenso materiell-physiologisch wie ideell-psychologisch. In materiell-physiologischer Hinsicht gleichen sich im historischen Verlauf Bau und Funktionsweise des optischen Analysators den objektiven Reizfeldern an. Eine der Gesetzmäßigkeiten dieser visuellen Reizfelder ist die Einheit in der Mannigfaltigkeit. Sie drückt sich in der Harmonie, in der Symmetrie, im Rhythmus der Farben und Formen etc. aus. Die Menschen finden sie objektiv vor, z. B. in den Proportionen der Pflanzen und Tiere, des eigenen Körperbaus, vor allem im materiellen Produktionsprozeß. Infolge des physiologischen Angleichungsprozesses verlangt die menschliche Anschauung allmählich auch ihrerseits die Einheit in der Mannigfaltigkeit. Unter der Vielfalt visueller Eindrücke trifft sie von sich aus eine Auswahl in Richtung auf Ordnung und Einheitlichkeit des Sehbildes. Sie fühlt sich durch Harmonie, Symmetrie, Rhythmus etc. angezogen, durch uneinheitliche Form- und Farbanordnung verletzt. So wird aus ihr in einem komplizierten historischen Prozeß ein künstlerisches Organ. In ideell-psychologischer Hinsicht geht der objektive Gehalt der Objekte und der Gesellschaft in das menschliche Bewußtsein als bestimmender Faktor ein. Die Menschen erkennen die sichtbare Wirklichkeit, indem sie auf sie einwirken. Dabei wird ihnen als spezifische Gesetzmäßigkeit die Einheit in der Mannigfaltigkeit bewußt. Man darf die Einheit in der Mannigfaltigkeit nicht ausschließlich auf das sinnlichanschauliche Bewußtsein zurückführen. Sie ist abhängig von der Funktionsweise des optischen Analysators, und zwar auch nur deshalb, weil sie eine Gesetzmäßigkeit der sichtbaren Erscheinungen darstellt und den Arbeitsprozeß mitbestimmt. Auf Grund dessen, daß die Menschen allen Objekten „das inhärente Maß" anzulegen wissen (Marx), formieren sie diese auch nach dem Prinzip der Einheit in der Mannigfaltigkeit. Sie legen ihnen das „inhärente Maß" der Sichtbarkeit an. Im Arbeitsprozeß ist das eine unter- und nebengeordnete Handlung - nicht so aber in der bildenden Kunst. Im ersten Fall dient die Einheit in der Mannigfaltigkeit der materiellen Nützlichkeit, im zweiten Fall einer ideellen Bedeutsamkeit. In diesem zweiten Fall hat sie auch keine unterund nebengeordnete, sondern eine relativ selbständige Rolle. Wenn die Sichtbarkeit ein reines Bewußtseinsprodukt wäre, könnte Fiedler gar nicht, wie er das vor allem in der Umarbeitung des „Problems der Form" von Hildebrand tut, zwischen Nah- und Fernsicht unterscheiden. Folglich ist die natürliche Form nicht vermöge der künstlerischen, sondern die künstlerische erst vermöge der natürlichen Form zu erkennen. Das normale Sehen und - vermittels dessen - die künstlerische Tätigkeit transformieren in Richtung auf die Einheitlichkeit der Anschauung, weil sie sich nach der objektiv vorhandenen „guten Gestalt" richten. W i r nehmen die visu5
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eilen Zusammenhänge der Wirklichkeit nicht wahr, weil unsere Wahrnehmungen die Struktur von dialektischen Einheiten haben. Vielmehr haben unsere Wahrnehmungen die Struktur dialektischer Einheiten, weil die Wirklichkeit selbst ein zusammenhängendes einheitliches Ganzes ist. Freilich ist das psychologische Gesetz von den im objektiven Sein wirkenden Gesetzen qualitativ zu unterscheiden. Es wäre jedoch grundverkehrt, diesen Unterschied dahingehend zu radikalisieren, daß nur durch das psychologische Gesetz die Einheit in der Mannigfaltigkeit hergestellt werden könnte. Eine Abhängigkeit von objektiven Faktoren besteht sowohl im Hinblick auf die optischen Reizfelder als auch im Hinblick auf den Bau und die Arbeitsweise des optischen Analysators. Werden sie negiert oder abgewertet, wie das bei Fiedler und u. a. auch bei der Ganzheits- bzw. Gestaltpsychologie der Fall ist, so führt das unweigerlich in den Idealismus hinein. Was den zweiten Punkt betrifft, so fragt Fiedler vom Standpunkt seiner Immanenzphilosophie durchaus folgerichtig: „Damit etwas nachgeahmt werden könne, muß das, was nachgeahmt werden soll, vor allererst überhaupt vorhanden sein. Wie aber soll die Natur, die in der künstlerischen Darstellung entsteht, auch ohne diese und vor ihr ein Dasein besitzen? Muß sich doch selbst der Geringste von uns seine Welt ihrer sichtbaren Gestalt nach produzieren; denn von nichts können wir sagen, daß es da sei, bevor es nicht in unser erkennendes Bewußtsein eingetreten ist." 87 Fiedler meint, da das Kunstwerk ein höheres Bewußtseinsgebilde sei als das Naturprodukt, vermöge es dieses weder schematisch (Zola) noch modifizierend (Aristoteles) nachzuahmen. Ein Entwickeltes könne kein Unentwickeltes zum Vorbild haben. Selbst wenn man die unvollkommene Naturform nachahmen würde, so sei das Resultat kein Kunstwerk, sondern eine zweite, ebenfalls unentwickelte Form. Das sei z. B. der Fall bei der Fotografie. Da das Nachahmungsprinzip die Anerkennung der objektiven Realität voraussetzt, beseitigt Fiedler zugleich mit dieser auch jenes. Das bedeutet, daß eine reale Aneignung überhaupt nicht stattfinden kann. Fiedler kennt nur eine Gestaltung, und auch diese wiederum nur in der verzerrten Form subjektiver Bewußtseinsproduktion. Fiedlers subjektiv idealistischer und formalistischer Konzeption gegenüber macht es sich nötig, die gnoseologische Spezifik der künstlerischen, gemeint hier immer im Sinn der bildnerischen Tätigkeit umrißhaft anzudeuten. Primär ist sie stets eine geistige Aneignung, d. h. ein Abbildprozeß. Die Erkenntnis ist nicht, wie er behauptet, ein Schöpfungsakt der Wirklichkeit. Freilich verläuft der Abbildprozeß nicht wie eine mechanische Spiegelreflexion. Er hört auch nicht bei der sinnlichen Gewißheit auf. Er ist ein komplizierter dialektischer Umformungsprozeß, der über die unmittelbare sinnliche Wahrnehmung zum mittelbaren bildhaften und begrifflichen Denken führt. Wenn ich das menschliche Erkennen als einen dialektischen Abbildprozeß bezeichne, setzte ich folgendes voraus: 1. ein objektives, materielles Modell, das abgebildet werden soll, 2. das im subjektiven Bewußtsein vorhandene Abbild, welches zum Modell in einem bestimmten Ähnlichkeitsverhältnis steht. Das Erkenntnismodell ist ein primäres Modell, das Erkenntnisresultat ein sekundäres Abbild. Das Modell kann
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zwar ohne Abbild, das Abbild aber nie ohne das Modell existieren. 3. ist vorauszusetzen ein Vermittler, das „materielle Substrat" (S. L. Rubinstein) der bewußtseinsmäßigen Abbildung. Ich meine die Sinnesorgane und das Gehirn bzw. die physiologischen Nervenprozesse. Der Vermittler ist subjektiv insofern, als er zum menschlichen Organismus gehört. E r ist aber zugleich objektiv, und zwar insofern, als er selbst hochorganisierte Materie ist. 88 Der bildnerische Abbildprozeß hat einen spezifischen Gegenstand, eine spezifische Methode und er realisiert sich in spezifischen Produkten. Untersucht werden soll vorerst der Gegenstand: Marées und Hildebrand erklären als Gegenstand der künstlerischen Tätigkeit schlechthin die sichtbare Natur. Sie sind nicht die einzigen. Auch Fiedler schließt sich, freilich idealistisch verkehrt, dieser Auffassung an. Tatsächlich sind es Formen und Farben, Licht und Schatten, räumliche und lineare Beziehungen, die das Auge des Künstlers fesseln. Der Künstler beginnt seine Tätigkeit damit, wahrnehmend oder vorstellend einen bestimmten, besonders reizvollen Ausschnitt der sichtbaren Wirklichkeit als Objekt auszuwählen. E s handelt sich um das sogenannte Sujet. Schon diese Auswahl ist ein komplizierter Prozeß. Sie erfolgt sowohl nach formalen als auch nach inhaltlichen Gesichtspunkten, denn der Künstler ist in seiner ganzen Individualität und damit Gesellschaftlichkeit engagiert. E r nimmt nicht nur das sinnlich Gegebene auf, er enthüllt zugleich den Sinn. E r betrachtet den Wirklichkeitsausschnitt nicht, wie er „an sich" existiert, sondern danach, welche menschliche Bedeutung ihm zukommt: „ D a s Bild, als Bild von einem Gegenstand, hat semantischen Gehalt. Jedes von uns wahrgenommene oder vorgestellte Bild tritt gewöhnlich auf im Zusammenhang mit einer bestimmten Bedeutung, die in einem Wort zum Ausdruck kommt: es bezeichnet einen Gegenstand. Wenn wir etwas anschaulich und bildhaft wahrnehmen, so machen wir und den Gegenstand b e w u ß t ; . . . " (S. L. Rubinstein 89 ). Mit der Bedeutungs- bzw. Bezeichnungsfunktion verbindet sich in der künstlerischen Vorstellungsbildung der Ausdruck persönlicher Emotionen. Sie wirkt anthropomorphisierend im psychologischen Sinn. D a s Objektive ist künstlerisch wesentlich nicht als solches, nicht in seiner gesellschaftlichen, z. B. ökonomischen Objektivität, sondern in seiner Beziehung zum künstlerischen Subjekt. Die Aneignung bleibt folglich nicht bei der sinnlich-sinnhaften Abbildung des ausgewählten Wirklichkeitsausschnittes stehen. Ein isoliertes Objekt gibt es nicht. Der visuelle Wirklichkeitsausschnitt wird repräsentativ für bestimmte menschliche, gesellschaftliche Beziehungen. E r ist ein Vermittler. Abgebildet wird daher nicht allein das Sujet. D a s Sujet vermittelt eine Fülle menschlichen Lebens. Abgebildet werden auch die Beziehungen der Menschen zu dem Objekt und die Beziehungen der Menschen untereinander. Nicht ein unvollendetes, totes Bruchstück, wie auf einem Spiegel, sondern menschlich vollendete Wirklichkeit wird reflektiert. Was weit über das unmittelbar sichtbare Objekt hinausgeht, nämlich das Ganze des Daseins überhaupt, findet im künstlerischen Abbild einen Niederschlag. Die menschliche Universalität - im Gegensatz zur gesellschaftswissenschaftlichen Spezialität - entsteht, indem der optische Blickpunkt dialektisch integriert wird von einem psychologischen und einem ideologischen Blickpunkt. Der Blütenzweig auf einem chinesischen Bild weist über sich hinaus auf den ganzen erblühten Baum und auf das Frühlingserwachen. D a s Frühlingserwachen ist 5*
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wiederum ein kompliziertes, vielschichtiges menschliches Erlebnis. Das künstlerische Abbild umfaßt also nicht nur das optisch gegebene Objekt, sondern eine Fülle persönlich-individueller, gesellschaftlicher Beziehungen. Es reflektiert über den subjektiven Erlebnisbereich des Künstlers einen gesellschaftlichen Erlebnisbereich. Dabei kann das persönlich und individuell Bedeutsame mit dem gesellschaftlich Bedeutsamen dialektisch übereinstimmen, es kann ihm aber auch widersprechen, wie das z. B. in einigen formalistischen Experimenten der Fall ist. Freilich ist auch das formalistische Gebilde ein Abbild. Aber es ist ein verzerrtes Abbild. Es werden lediglich visuelle „Teile" wiedergegeben, die „unibehütet durch ein Ganzes" 90 sind. Auf das Ganze verzichten heißt nichts anderes als die gesellschaftlichen Beziehungen abwerten oder liquidieren zu wollen. In ihnen liegt aber die eigentliche Quelle des künstlerischen Inhalts. Ohne sie erfaßt das künstlerische Abbild keinen vollendeten und vollkommenen, also humanen, sondern nur einen „zerbrochenen Menschen", ganz so, wie ihn die kapitalistische Ordnung hinterläßt, wenn er sich nicht wehrt. Daraus ist zu schlußfolgern: Die Entleerung von inhaltlichen Bestimmungen ist nicht nur auf die Methode der künstlerischen Abbildung und auf die Realisierung zurückzuführen, sie setzt schon dort ein, wo der spezifische Gegenstand auf das „rein" Visuelle - das für sich, isoliert immer ein Abstraktum ist - beschränkt wird. Natürlich kann alles, was sichtbar ist, künstlerisch abgebildet und dargestellt werden. Der spezifische Gegenstand ist aber nicht die sichtbare Wirklichkeit schlechthin. Diese wird vom sinnlich-anschaulichen Bewußtsein schlechthin abgebildet. Der spezifische Gegenstand ist das visuell vermittelte menschliche Leben in seinem vielgestaltigen materiellen und ideellen Sein. Dazu gehört auch die „vermenschlichte Natur". Der künstlerische Abbildprozeß hat einen anderen Ausgangspunkt als die wissenschaftliche Erkenntnis. Einmal richtet er sich auf die Beziehung des sichtbaren Objekts zum künstlerischen Subjekt. Zum anderen richtet er sich auf die Individualität des Objekts, d. h. auf die reiche, sinnlich-konkrete Totalität vieler Bestimmungen. Während die wissenschaftliche Erkenntnis das Allgemeine durch begriffliche Operationen „objektiv" abstrahiert, dringt die künstlerische Abbildung „subjektiv" ein in das konkret Individuelle. Das Allgemeine umfaßt jeweils nur eine Seite, die das Objekt mit anderen Objekten gemeinsam hat, aber es schöpft die Individualität des Objekts nicht aus. Der spezifische Gegenstand der künstlerischen Abbildung verlangt eine spezifische Methode. Wie bei jeder Bewußtseinsreflexion werdenVerallgemeinerungen vorgenommen, um Wesenszusammenhänge zu erfassen. Aber in den Verallgemeinerungen wird die sinnlich konkrete Individualität nicht preisgegeben, sondern noch angereichert. Das ist nur dadurch möglich, daß der Abbildprozeß anschaulich vor sich geht. Die Anschaulichkeit ist das Spezifikum der künstlerischen Methode. So erweist sich die Verallgemeinerung als eine Typisierung. S. L. Rubinstein erklärt: „Ein Bild, in dem die Individualität des einzelnen zerstört ist, wäre nur ein totes Schema. Und ein Bild, in dem nur das Individuelle in seiner zufälligen Einmaligkeit dargestellt ist, entbehrt jeder Bedeutung. Um etwas zu bedeuten, muß das künstlerische Bild im Individuellen, Einzelnen, das Allgemeine, Typische wiedergeben." 91 Das Spezifikum der Anschaulichkeit bedeutet nicht, daß gefühlsmäßige und begriffliche Prozesse völlig verdrängt würden. Es kommt hier lediglich auf die Vorherrschaft an. Und die Vorherrschaft im künst-
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lerischen Abbildprozeß hat das Bildhaft-Anschauliche. Es integriert sowohl das Gefühlsmäßige als auch das Begriffliche. Von der Wahrnehmung bis zum typisierten Vorstellungsbild bzw. bis zur künstlerischen Idee, immer handelt es sich um - jeweils qualitativ verschiedene - gefühlsgetönte und „begreifende" Anschauungen. Das heißt nicht, daß Assoziationen ausgeschlossen wären. Man darf das Verhältnis der Anschauung zu den beiden anderen Bewußtseinskomponenten nur nicht auf sie reduzieren. Sekundär sind sie durchaus wirksam. Primär jedoch handelt es sich hier nicht darum, daß sich die Anschauung mit dem Gefühl und mit dem Begriff - bzw. umgekehrt - in einer gegenseitigen Wechselbeziehung befindet, vielmehr darum, daß sie als realer psychischer Prozeß bereits eine dialektische Einheit des Sinnlichen, Emotionalen und Intellektuellen darstellt. 92 Primär gehen in der künstlerischen Abbildung Gefühle und Begriffe, dialektisch verwandelt, in die Anschauung ein. Sekundär treten sie als assoziative Begleiterscheinung auf, Gefühle z. B. bei der sinnlichen Affizierung, begriffliche Operationen z. B. bei der Verwertung technischer Kenntnisse. Freilich handelt es sich hier um notwendige psychische Verbindungen und nicht - wie bei Fiedler - um ein zufälliges und loses Beieinandersein. Ich bin mir bewußt, daß diese Unterscheidung außerordentlich diffizil ist. Praktisch wird sie in zahlreichen Fällen gar nicht zu treffen sein. Trotzdem muß sie kunsttheoretisch aufrecht erhalten werden. Z. B. muß man differenzieren zwischen dem „Freudigen" einer Farbe und dem Gefühl der Freude. Man kann das eine sehr wohl empfinden, ohne dabei von dem anderen erregt zu werden. Die gefühlsmäßige Qualität der Farbe ist, da anschaulich integriert, primär. Sie kann freilich derart ergreifen, daß ein vorhandenes trauriges in ein freudiges Gefühl umgewandelt wird. Das ist aber, obwohl in den künstlerischen Prozeß eingeschmolzen, stets sekundär. Ebenso muß man differenzieren zwischen der begreifenden Wahrnehmung und begrifflichen Reflexionen, die z. B. bei der künstlerischen Ausführung die Farbenherstellung dirigieren. 93 Die Vorherrschaft des Bildhaft-Anschaulichen im künstlerischen Abbildprozeß wird durch physiologische und psychologische Untersuchungen bestätigt. I. P. Pawlow kennt, physiologisch gesehen, zwei menschliche Typen, den künstlerischen und den wissenschaftlichen. Für beide soll gelten, daß das zweite Signalsystem überwiegt, dessen Charakteristikum das begriffliche Denken bzw. die Sprache ist. Trotzdem unterscheidet Pawlow zwischen Menschen, die vorzugsweise mit dem sich in Wahrnehmungen und Vorstellungen ausdrückenden ersten, und Menschen, die vorzugsweise mit dem zweiten Signalsystem arbeiten. Es ist das kein Widerspruch. Man muß nur das Verhältnis zwischen Allgemeinem und Besonderem berücksichtigen. Gegenüber den Tieren, bei denen lediglich das erste System vorhanden ist, zeichnet sich die menschliche Gattung durch die Wirksamkeit eines zweiten Systems aus, welches das erste reguliert und kontrolliert. Dadurch erhält das erste System einen anderen Charakter. Das menschliche Spezifikum des zweiten und des von ihm überformten ersten Signalsystems wird aber zum Allgemeinen, wenn man innerhalb der Menschheit weiter spezifiziert. Pawlow stellt fest, daß eine besondere Benutzung des einen oder des anderen Systems stattfindet. Der Künstlertyp bevorzugt das erste, das sich von dem der Tiere qualitativ unterscheidet, der Denkertyp das zweite. Leider arbeitet Pawlow die besondere Qualität
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des ersten Signalsystems beim Menschen, die nicht nur durch die Abhängigkeit vom zweiten, sondern auch durch die gesellschaftliche Herkunft, den Arbeitsprozeß gegeben ist, nicht heraus. 94 Wie Pawlow erklärt, erfaßt der Künstlertyp die Wirklichkeit sinnlich als ein Ganzes, „ohne jegliche Zerstückelung und Aufteilung". Der Typ des Wissenschaftlers dagegen „zerstückelt" die Wirklichkeit, indem er im begrifflichen Denken von ihrer unmittelbaren Ganzheit abstrahiert. Bei beiden Typen wirken Sinnliches und Gedankliches als Einheit, wenn auch in ganz unterschiedlicher Weise. Der Typ des Wissenschaftlers kann die Sinnlichkeit nicht entbehren, weil sie die Quelle seines Wissens ist. Der Künstlertyp kann das Begriffliche nicht missen, weil ihm sonst die Wirklichkeit mit der unmittelbaren Anschauung zusammenfallen, d. h. unmittelbar nützlich, aber in geistiger Hinsicht wesen- und zusammenhanglos erscheinen würde. Bei dem einen ist das Begriffliche, bei dem anderen das Sinnlich-Anschauliche dominierend, ohne daß die jeweils andere Komponente preisgegeben würde. Die Psychologie bestätigt ihrerseits die Feststellungen Pawlows. Sie kennt ein anschaulich-gegenständliches bzw. bildhaftes und ein abstrakt-logisches Denken. „Denken" ist beides. Man darf deshalb keinen absoluten Unterschied voraussetzen. Im realen psychischen Prozeß geht das eine zumeist in das andere über. Aber es überwiegen das eine Mal bildhaft-anschauliche Vorstellungsmomente, das andere Mal abstrakt-logische Momente, die der unmittelbaren sinnlichen Konkretheit ermangeln. D a s eine Mal dienen die Begriffe der Anschauung, das andere Mal dient die Anschauung dem Begriff. D a s bildhaft-anschauliche Denken ist vorzugsweise, wenn auch ganz verschieden, bei den sogenannten Primitiven, bei Kindern, bei Eidetikern und - auf besonders hohem Niveau - bei künstlerischen Naturen wirksam. D a s abstrakt-logische Denken ist immer das Ergebnis eines auf begriffliche Distinktion ausgerichteten Entwicklungs- und Erziehungsprozesses. E s dominiert in der Praxis, vor allem aber in der Wissenschaft. 95 Die Vorherrschaft des Bildhaft-Anschaulichen im künstlerischen Abbildprozeß macht sich schon bei der Rezeption bemerkbar. Dabei ist es praktisch gleichgültig, ob der Künstler sein Werk vor einem Modell oder ob er es aus der Vorstellung heraus schafft. In beiden Fällen geht er von einem ausgewählten visuellen Wirklichkeitsausschnitt aus, den er geistig - sei es unmittelbar oder mittelbar - reflektiert. Arbeitet er vor dem Modell, so verbinden sich dialektisch die unmittelbaren Eindrücke mit den mittelbaren. Nie vermag er, wie das der Fotoapparat tut, ein sichtbares Objekt als das Bild zu kopieren, das sich auf der Netzhaut seiner Augen abspiegelt. Sein optischer Analysator ergänzt die direkten Empfindungen durch solche, die sich im sinnlichen Erfahrungsschatz verfestigt haben. Ganz abgesehen davon, tritt eine vorstellungsmäßige, gefühlsmäßige und gedankliche Apperzeption ein. Arbeitet der Künstler ohne Modell, wie das in der Regel Marées tat, so muß er alle Wahrnehmungen gedächtnismäßig reproduzieren. In beiden Fällen ist jedoch ein reicher Schatz an Gesichtsvorstellungen notwendig. E s sind freilich Vorstellungen besonderer Art. Sie unterscheiden sich von den üblichen dadurch, daß sie durch ein anschaulich geschultes Bewußtsein gewonnen wurden. So sind sie nicht, wie üblich, blasser, unvollständiger und unbeständiger als die Wahrnehmungen. Sie haben nicht die Nachteile und sie haben doch die Vorteile ihrer Gattung. Ihnen fehlt der undeutliche, fragmentarische und labile Charakter. Aber
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sie weisen wie alle Vorstellungen ein starkes Element der Verallgemeinerung auf, das sie über die Wahrnehmungen erhebt. Das Sujet, d.h. der ausgewählte und abgebildete visuelle Wirklichkeitssausschnitt wird im Verlauf des weiteren Prozesses zur sogenannten künstlerischen Vorstellung verdichtet. Bei ihr handelt es sich um die im Werkstoff zu realisierende bildhafte Idee. Es ist wiederum eine Vorstellung besonderer Art, die von den üblichen, ja auch von den Vorstellungen des künstlerischen Stoffs unterschieden werden muß. Sie ist das Produkt bewußter künstlerischer Verallgemeinerung, d. h. Typisierung. Die Typisierung wird vollzogen durch die Einbildungskraft und das bildhafte Denken. Man muß sie als den wesentlichsten Vorgang der Aneignung betrachten. Sie setzt auf anschaulichem Weg fort und bildet auf anschaulichem Weg aus, wodurch die üblichen Vorstellungen gekennzeichnet sind: Besondere Merkmale verschiedener Ansichten entweder einer Gruppe ähnlicher Objekte oder eines besonderen Objektes werden vereint und als wesentlich herausgehoben. Die Typisierung ist ein äußerst komplizierter Vorgang. Es würde zu weit führen, an dieser Stelle alle Faktoren ausführlich zu erläutern. Nur zwei hauptsächliche sollen erwähnt werden: die der Zergliederung, d. h. der Analyse und die der Vereinigung, d. h. der Synthese. Beide treten auch bei der begrifflichen Abstraktion auf, allerdings in anderer Form und in anderer Gewichtigkeit. Z. B. geht aus Pawlows Ausführungen hervor, daß bei dem Denkertyp die erstere, bei dem Künstlertyp die letztere das übergreifende und dominierende Moment einer dialektischen Einheit darstellt. In seiner Einbildungskraft formt der Künstler den Anschauungsstoff um und verarbeitet ihn. Dabei zerlegt er die Gesichtswahrnehmungen bzw. Gesichtsvorstellungen in einzelne Merkmale, scheidet aus, gruppiert um, ändert ab und vereinigt die herausgeschmolzenen Merkmale zu dem Bild einer neuen, der künstlerischen Vorstellung. Die Analyse dient der Hervorhebung bestimmter Vorstellungsbestandteile aus der Gesamtvorstellung bzw. der Herauslösung aus Vorstellungsassoziationen. In der Synthese werden die ausgegliederten Bestandteile in einen neuen und tieferen Zusammenhang gebracht. Das allen Menschen gemeinsame physiologisch-psychologische Spezifikum, die übergreifende Funktion des Denkens garantiert dem Künstler, das Wesen der Erscheinungen zu erfassen. Das besondere Spezifikum seines Typs, die Bevorzugung des ersten Signalsystems bzw. der Anschauung ermöglicht ihm, die Erscheinungen als vollständiges, sinnlich-konkretes Ganzes anzueignen. Er vollzieht die Verallgemeinerung weniger auf analytischem als auf synthetischem Wege. Der Boden konkreter Anschaulichkeit wird nicht verlassen. Es dominiert die Synthese, was nicht ausschließt, daß nicht zugleich auch analytisch verfahren würde. Burow erklärt deshalb sehr treffend, der künstlerische Abbildprozeß erfasse den Gegenstand, d. h. das visuell vermittelte menschliche Leben bzw. Erleben „synthetisch": „Denn .synthetisch' ist der Erkenntnisgegenstand selbst; entsprechend seinem menschlichen Wesen ist er eine Gesamtheit vieler Seiten des Lebens und stellt jene dialektische Einheit des Allgemeinen und des Besonderen, des Gesellschaftlichen und des Persönlichen dar." 96 Im Typisierungsprozeß der Einbildungskraft erfolgt die Umgestaltung des Anschauungsstoffs. Charakteristisch ist dabei eine relative Unabhängigkeit von dem wahrnehmungs- oder vorstellungsmäßig Gegebenen. Rubinstein spricht von „einer gewissen
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Freiheit in bezug auf das, was umgewandelt wird." 9 7 Die Einbildungskraft erzeugt ein neues Bild. Sie erzeugt es aber nur auf Grund des gegebenen Anschauungsstoffes unter Beteiligung der ganzen individuellen Erfahrung, der individuellen Bedürfnisse, Interessen und Ideale. Wer wie Fiedler die Tatsache der „Produktion" einseitig herausreißt und verabsolutiert, verzerrt den realen Vorgang und hebt den Typisierungsprozeß in der Konsequenz auf. Handelt es sich doch nicht um eine absolute Neugestaltung, sondern um eine Transformierung, um eine besondere dialektische „Ubersetzung". D a s neue Bild ist immer ein Abbild. Und wenn es dem Wahrheitsanspruch genügt, so wird es die objektive, primär gesellschaftliche Wirklichkeit tiefer, wesensgemäßer reflektieren als es unmittelbare oder gedächtnismäßig reproduzierte Wahrnehmungen vermögen. „ D a s Wesen dieser Umbildung besteht darin, daß er (der Künstler) sich nicht von der Wirklichkeit entfernt, sondern sich ihr nähert, daß er von ihr gleichsam die Schichten des Zufälligen und die äußeren Hüllen wegnimmt." (Rubinstein) 93 Die Wahrnehmungen bzw. Vorstellungen erfassen zufällige und notwendige Merkmale einer Erscheinung in ungegliederter, synkretistischer Einheit. D a s typisierte Bild dagegen konzentriert sich auf das Wesentliche. Die Umgestaltung beginnt schon bei der Auswahl und wirkt noch in der Realisierung. Sie modifiziert die Erscheinungsmerkmale, um den wesentlichen Charakter zu verdeutlichen. Aus diesem Grund kann die optische „Richtigkeit" kein Wahrheitskriterium sein. Die Abbildtheorie schließt aber von sich aus schon jede Möglichkeit passiver und aktueller Reproduktion, wie sie in der Fotografie vorliegt, aus. E s wäre ein Irrtum, aus der dialektischen Einheit, die zwischen spezifischem künstlerischem Gegenstand und spezifischer künstlerischer Abbildungsmethode besteht, schlußfolgern zu wollen, die Gegenständlichkeit müsse ganz und gar aufgelöst werden. E s wäre falsch, anzunehmen, die allgemeine, objektive Bedeutung der sichtbaren Erscheinungen müsse einer willkürlichen Interpretation weichen. Wer das meint, verabsolutiert einen Teilaspekt. D a s subjektive künstlerische Bewußtsein steht dem Objekt selbst dann noch gegenüber, wenn es dieses angeeignet hat. Aber es steht ihm anders gegenüber. E s erfaßt dasselbe in Beziehung zu sich selbst, nicht aber, wie es „an sich" existiert. Folglich ist die subjektive Modifikation bzw. Transformierung einerseits an das Objekt gebunden, andererseits ist sie dessen Gestalter. Goethe hat diese Doppelbeziehung sehr treffend erläutert, als ihm Eckermann ein Bild von Rubens zeigte, in dem das Licht aus zwei verschiedenen Richtungen kommt und die Schatten in zwei verschiedene Richtungen fallen. E r erkärt: „Der Künstler muß freilich die Natur im einzelnen treu und fromm nachbilden, er darf in dem Knochenbau und der Lage von Sehnen und Muskeln eines Tieres nicht willkürlich ändern, so daß dadurch der eigentümliche Charakter verletzt würde. Denn das hieße die Natur vernichten. Aber in den höheren Regionen des künstlerischen Verfahrens, wodurch ein Bild zum eigentlichen Bild wird, hat er ein freieres Spiel, und er darf hier sogar zu Fiktionen schreiten, wie Rubens in dieser Landschaft mit dem doppelten Licht getan. Der Künstler hat zur Natur ein zwiefaches Verhältnis: er ist ihr Herr und ihr Sklave zugleich. E r ist ihr Sklave, insofern er mit irdischen Mitteln wirken muß, um verstanden zu werden; ihr Herr aber, insofern er diese irdischen Mittel seinen höheren Intensionen unterwirft und ihnen dienstbar macht." 99
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W a s Goethe unter der Formel versteht, der Künstler sei Sklave und zugleich Herr der Natur, trifft dasselbe, was ich hier meine: Einerseits muß der Künstler die Erscheinungen imitieren, andererseits muß er sie in seiner Einbildungskraft modifizieren, umgestalten, d. h. den eigenen Prinzipien dienstbar machen. Einerseits bestimmt die Wirklichkeit ihn - und das ist primär - andererseits bestimmt er die Wirklichkeit. Goethes Worte sind eine Kritik am Idealismus, gleichgültig ob objektiver oder subjektiver Prägung. Jede Abkehr von der objektiven Realität - mag sie nun zu einem Absoluten oder, wie bei Fiedler, zu einem übersteigerten Individuellen führen - ist falsch. Die Worte sind aber auch eine Kritik am Naturalismus, der die Transformierung zu einer bloßen Kopierung der Wirklichkeit degradiert und die schöpferische Rolle des künstlerischen Bewußtseins negiert. Der künstlerische Abbildprozeß ist eine dialektische Korrelation zwischen subjektivem Bewußtsein und objektiver, primär gesellschaftlicher Wirklichkeit. Beide Seiten sind, freilich nicht gleichwertig, maßgebend. Naturalismus und Idealisierung der Historien-Malerei neigen zur Verabsolutierung der objektiven Seite, d. h. zu einem extremen Objektivismus. Eine echte Umgestaltung lehnen sie ab. Sie reduzieren die Rolle des schöpferischen künstlerischen Bewußtseins auf die Rolle eines mechanischen Vermittlers von materiellen („natürlichen") und ideellen Erscheinungen. Fiedler dagegen negiert die objektive und verabsolutiert die subjektive und ideelle Seite. Er gelangt zu einem Subjektivismus. Wenn er gegen die „naturalistische" und idealistische Einseitigkeit opponiert, ist er nur scheinbar im Recht, denn er verfällt dem anderen, weit schlimmeren Extrem des Formalismus. Ein zweites, mit der Anschaulichkeit eng verbundenes Spezifikum der künstlerischen Methode ist die Emotionalität. Die typisierte Vorstellung hat eine weitaus stärkere gefühlsmäßige Ausdruckskraft als der wissenschaftliche Begriff. Sie reflektiert nicht nur den objektiven Sachverhalt, sondern vor allem das subjektive, persönliche Erleben dieses Sachverhalts. Entzücken und Abscheu, Liebe und Haß, Humor, Ironie, Erhabenheit, Tragik, etc. werden abgebildet. Erfaßt wird die ganze psychische Struktur der künstlerischen Individualität. Eine besonders dominierende Rolle spielen dabei die ästhetischen, moralischen und intellektuellen Emotionen. W a s den Künstler angenehm und was ihm unangenehm ist, was ihn entspannt und was ihn löst, was ihn erregt und was ihn beruhigt, verdeutlicht das Verhältnis zur Wirklichkeit und kommt im künstlerischen Abbild zum Ausdruck. Der künstlerische Abbildprozeß hat einen psychologischen, er hat aber auch einen ideologischen Aspekt. Der Künstler ist in seiner ganzen Individualität engagiert, mit allen seinen Bedürfnissen, Interessen und Idealen, mit seinen leidenschaftlichen Erlebnissen und seinen sachlichen Erkenntnissen. Der optische Blickpunkt, der das auswählt, was er sieht, wird dialektisch integriert von seiner persönlichen, innerlichen, psychischen Verfassung und diese wiederum wird dialektisch integriert von seiner Weltanschauung. Er vertritt bestimmte politische, philosophische, moralische, religiöse etc. Auffassungen, die wiederum charakteristisch sind für bestimmte gesellschaftliche, vor allem klassenmäßige Kräfte. Gerade hier muß die aktive Rolle des subjektiven Bewußtseins berücksichtigt werden 100 . Der Künstler ist, ob bewußt oder nicht, immer parteilich. Die absolute Freiheit von gesellschaftlichen Bindungen, die Fiedler im Sinn des l'art pour
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l'art fordert, erweist sich nach den Worten Lenins als „bürgerliche Phrase". Mehr noch, die scheinbare Un- oder Überparteilichkeit ist eine indirekte Apologetik der herrschenden kapitalistischen Ordnung. Wenn die ideologische Position des Künstlers fortschrittlich ist und die objektiven Tendenzen der historisch-gesellschaftlichen Entwicklung reflektiert, d. h. wenn sie mit den Lebensinteressen der Volksmassen übereinstimmt, wird die Typisierung zur künstlerischen Wahrheit gelangen. Besteht ein Widerspruch zwischen individuell-persönlich und progressiv-gesellschaftlich Bedeutsamen, so hat das zur Folge, d a ß die Typisierung die eigentlichen Wesenszusammenhänge verzerrt. Freilich kann auch eine regressive, reaktionäre ideologische Position die Grundlage eines künstlerischen Abbilds sein: „Gerade deshalb sind die Werke der verschiedensten dekadenten Richtungen nicht unschädlich und üben eine ganz konkrete Wirkung aus. Eine verzerrte, falsche, auf ihre Art konsequente Vorstellung vom Leben kann ein lebendiges Bild entstehen lassen." 101 (W. Nasarenko) Der künstlerische Abbildprozeß weist nicht nur einen spezifischen Gegenstand und eine spezifische Methode, er weist auch eine spezifische Realisierung auf. Ausführlicher wird über die Gestaltung im Werkstoff noch zu sprechen sein. Hier jedoch schon folgendes: Der Künstler behält die typisierte Vorstellung nicht bei sich in seinem Bewußtsein, er drückt sie allgemein wahrnehmbar aus, indem er sie mit seinen Händen materiell formt. Marx nennt aus diesem Grund den künstlerischen im Unterschied zum wissenschaftlichen Abbildprozeß eine „praktisch-geistige Aneignung" 102 . Zwei Verhältnisse spielen bei der künstlerischen Tätigkeit eine Rolle: Einmal handelt es sich um das Verhältnis des visuell vermittelten menschlichen, gesellschaftlichen Lebens zum subjektiven künstlerischen Bewußtsein, also um die geistige Aneignung. Zum anderen handelt es sich um das Verhältnis des subjektiven künstlerischen Bewußtseins bzw. der bildhaften Idee zu dem durch die Formung des Werkstoffs hervorgebrachten Kunstwerk, also um die Gestaltung. Das subjektive künstlerische Bewußtsein ist in dieser dialektisch widerspruchsreichen Einheit sozusagen das Hauptkettenglied. Es steht zwischen der materiellen Abhängigkeit von vordergründig optischen, hintergründig gesellschaftlichen Eindrücken und der materiellen Abhängigkeit vom Material, das ja auch gesellschaftlich bearbeitet ist, also von Leinwand, Palette etc. Zweifach ist das subjektive künstlerische Bewußtsein an das Objekt gebunden (ausgeschlossen freilich die physiologische Voraussetzung). Die geistige Aneignung, in der die Gesichtswahrnehmungen und Gesichts vorstellungen zur bildhaften Idee verdichtet werden, trägt Abbildcharakter. Die Gestaltung, in der die bildhafte Idee zum sinnlich faßbaren Kunstwerk realisiert wird, trägt Gebildecharakter. Abbild- und Gebildecharakter existieren in dialektischer Einheit, nämlich als Bildcharakter: Einerseits bildet die künstlerische Tätigkeit die Wirklichkeit ab, andererseits verändert sie diese materiell. Schon Aristoteles hat von der Dialektik zwischen Abbild und Gebilde Kenntnis. Im zweiten Satz der „Poetik" findet sich die Definition, Kunst sei mimesis. W i e die etymologische Untersuchung von H. Koller beweist, hat der Terminus einen zweifachen Sinn. Er bedeutet einmal Nachahmung. Er bedeutet zugleich aber auch Darstellung 103 . In der deutschen Sprache läßt sich eine ähnliche Überprüfung anstellen. Das in der Ausgabe von Hildebrand und Adelung erschienene Grimmsche Wörterbuch (Leipzig 1862 und 1873) besagt, der Terminus Bild habe so-
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wohl den Sinn des sich nach einem objektiven Modell richtenden Abbilds, als auch des unter der schöpferischen Hand hervorgegangenen Gebildes. Im Russischen steckt im Wort obraz (bild) otrashenie (Widerspiegelung) gleicherweise wie obrazowat (bilden). Natürlich können etymologische Erklärungen keinen endgültigen Aufschluß geben. Aber sie sind doch ein Hinweis auf die Dialektik, die sich in der Doppeldeutigkeit des Bildbegriffs auftut. Sie sind auch schon ein Hinweis darauf, daß es sich in jedem Fall um eine einseitige Auffassung handelt, wenn eine der beiden Bedeutungen eliminiert wird. Marées und Hildebrand erfassen, wenn auch nur in einigen Zügen, beide. Fiedler dagegen kennt nur eine, die des Gebildes, und auch sie nur in der idealistischen Verkehrung der Bewußtseinsproduktion. Was für jeden dialektischen Prozeß zutrifft, gilt auch für die künstlerische Tätigkeit: Beide Seiten sind einander nicht völlig gleichwertig. Eine von ihnen dominiert. D i e dominierende Seite in der künstlerischen Tätigkeit ist die bewußtseinsmäßige Aneignung. Der Abbildcharakter bestimmt nicht nur den geistigen Verlauf, sondern auch die Realisierung im Werkstoff. So ist die Aneignung eigentlich erst abgeschlossen, wenn sich das künstlerische Subjekt nicht nur „intellektuell, sondern werktätig, wirklich verdoppelt und sich daher in einer von ihm geschaffenen Welt anschaut." 104 Solange das künstlerische Bild bloße Vorstellung bleibt, ist die künstlerische Tätigkeit unvollständig. Sie muß in einen materiellen, werktätigen Prozeß umschlagen. Dabei ist der Abbildcharakter potentiell stärker als der Gebildecharakter. Primär veranschaulicht das Kunstwerk die künstlerische Vorstellung bzw. Idee, d. h. das Abbild. Sekundär erst ist es ein besonderes materielles Erzeugnis. Man würde dem Formalismus das Wort reden, würde man diese Relation umkehren. Wie aus dem gesellschaftlichen Arbeitsprodukt in erster Linie die ihm eingeprägte Gebrauchsfähigkeit spricht, so spricht aus dem Kunstwerk in erster Linie die ihm eingeformte anschauliche Bedeutsamkeit. D i e Menschen können die Objekte zweckentsprechend nützen, d. h. physisch ge- oder verbrauchen, sie können sie aber auch, vor allem, was den Niederschlag ihrer Arbeit anbelangt, geistig aneignen. D a s geschieht in der Kunst. Bei ihr handelt es sich nicht um den zweckmäßigen Gebrauch, vielmehr um einen besonderen Prozeß menschlicher Bewußtwerdung. Praktisch ermöglicht wird sie dadurch, daß sich durch die fortschreitende gesellschaftliche Arbeitsteilung eine geistige, also auch eine künstlerische Tätigkeit von der unmittelbaren materiellen Produktion loslösen und verselbständigen kann. Sie wird das, was Marx in der „Deutschen Ideologie" eine individuelle „Selbstbetätigung" nennt. In ihr ist eine der Möglichkeiten gegeben, „universell", d. h. „frei vom physischen Bedürfnis" zu produzieren 105 . Die künstlerische Realisierung ist die materielle Darstellung einer im anschaulichen Typisierungsprozeß verdichteten, gefühlsgetönten und begreifenden Vorstellung, dergestalt, daß der volle Sinn des Dargestellten sich einem Betrachter wiederum nur in einer gefühlsgetönten und begreifenden Anschauung erschließt. Die materielle Produktion dagegen ist die Herstellung eines Produkts, das primär nicht betrachtet, vielmehr unmittelbar physisch verbraucht wird. Folglich verkörpern sich im künstlerischen Werk ideologische, d. h. klassenbedingte Elemente. Im materiellen Arbeitsprodukt manifestiert sich dagegen eine allgemeine gesellschaftliche, d. h. klassenindifferente Produktionserfahrung.
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Da die künstlerische Tätigkeit ein dialektischer Prozeß ist, wäre es unsinnig, wollte man sich darüber streiten, wo die geistige Aneignung aufhört und wo die Gestaltung beginnt. Jede der beiden Seiten hat den Wiederschein der anderen an sich. Auf keinen Fall darf man von der Annahme ausgehen, daß das aus Gesichtswahrnehmungen und Gesichtsvorstellungen verdichtete künstlerische Vorstellungsbild in das Material gewissermaßen nur projiziert wird. Gesichtspunkte der Gestaltung spielen von vornherein eine Rolle. Wie Rubinstein hervorhebt, lernt der Künstler die Wirklichkeit sehen entsprechend den Anforderungen, die von den Bedingungen der Darstellung ausgehen. Würde Fiedler gegenüber einer schematischen Trennung beider Seiten behaupten, Kunst fange erst da an, wo der Ausdruck einsetzt, so hätte er durchaus recht. In Wahrheit aber faßt er die dialektische Einheit als eine starre Identität auf, und zwar zu dem Zweck, die Aneignung auf die Gestaltung zu reduzieren. Und in Wahrheit ist für ihn wiederum die Gestaltung, deren Charakteristikum gerade der materielle Formprozeß ist, eine reine isolierte Bewußtseinsproduktion. Indem Fiedler die Wirklichkeit und die reale geistige Aneignung eliminiert, suspendiert er den Abbildcharakter. Das anschauliche Erkennen wird zum Erzeugen - freilich nicht in der Praxis, sondern als formaler Bewußtseinsakt. Fiedler reißt den Gebildecharakter aus dem dialektischen Zusammenhang heraus, idealisiert und verabsolutiert ihn. Gebilde kann das Kunstwerk aber nur insofern sein, als es Abbild ist. Gestaltung kann sich nur insofern vollziehen, als eine geistige Aneignung stattfindet: eine Transformierung des geistig angeeigneten Anschauungsstoffs und eine Realisierung des Transformierten. Z. B. scheint Dürer jedes Detail von der Natur abzukopieren, während K. Kollwitz auf präzise Einzelheiten verzichtet. Trotzdem ist es nicht so, daß bei dem einen der Abbild- und bei der anderen der Gebildecharakter dominiert. Beider Werke sind Abbild und zugleich Gebilde. In beiden Fällen werden die sichtbaren Erscheinungen erst angeeignet und dann gestaltet. In beiden Fällen beherrscht der Abbild- den Gebildecharakter. Es ist das eine objektive Gesetzmäßigkeit, der sich kein Künstler entziehen kann. Eine ganz andere Frage ist, ob die Erscheinungen künstlerisch derart umgebildet, transformiert werden, daß sie in ihrer neuen Form Wesenszusammenhänge verdeutlichen oder derart, daß sie diese verzerren.
3. Künstlerische
Wahrheit
Als Ziel aller Erkenntnis preist Fiedler die Wahrheit. Da er die objektive Realität eliminiert, verfällt er einem Zirkel: Für ihn ist die Wahrheit der Maßstab der Erkenntnistätigkeit. Fragt man aber nach dem Kriterium der Wahrheit, so gibt Fiedler an, es liege in der Erkenntnistätigkeit selbst, dürfe keinesfalls in anderen Bereichen gesucht werden. Er kann sich aus dem Zirkel nur retten, indem er die Wahrheit als Endprodukt eines Prozesses erklärt, der Erkenntnis und zugleich Erzeugung des Seienden ist. Folglich geht er das Problem von zwei Seiten an, und zwar von der Spontaneität und von der Relativität her. Vom Spontaneitätsstandpunkt aus erklärt er, Wahrheit sei „nicht etwas, was der Mensch findet, sondern was er hervorbringt". 106
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II. Wirklichkeit als Bewußtseinsprodukt
Da die künstlerische Tätigkeit ein dialektischer Prozeß ist, wäre es unsinnig, wollte man sich darüber streiten, wo die geistige Aneignung aufhört und wo die Gestaltung beginnt. Jede der beiden Seiten hat den Wiederschein der anderen an sich. Auf keinen Fall darf man von der Annahme ausgehen, daß das aus Gesichtswahrnehmungen und Gesichtsvorstellungen verdichtete künstlerische Vorstellungsbild in das Material gewissermaßen nur projiziert wird. Gesichtspunkte der Gestaltung spielen von vornherein eine Rolle. Wie Rubinstein hervorhebt, lernt der Künstler die Wirklichkeit sehen entsprechend den Anforderungen, die von den Bedingungen der Darstellung ausgehen. Würde Fiedler gegenüber einer schematischen Trennung beider Seiten behaupten, Kunst fange erst da an, wo der Ausdruck einsetzt, so hätte er durchaus recht. In Wahrheit aber faßt er die dialektische Einheit als eine starre Identität auf, und zwar zu dem Zweck, die Aneignung auf die Gestaltung zu reduzieren. Und in Wahrheit ist für ihn wiederum die Gestaltung, deren Charakteristikum gerade der materielle Formprozeß ist, eine reine isolierte Bewußtseinsproduktion. Indem Fiedler die Wirklichkeit und die reale geistige Aneignung eliminiert, suspendiert er den Abbildcharakter. Das anschauliche Erkennen wird zum Erzeugen - freilich nicht in der Praxis, sondern als formaler Bewußtseinsakt. Fiedler reißt den Gebildecharakter aus dem dialektischen Zusammenhang heraus, idealisiert und verabsolutiert ihn. Gebilde kann das Kunstwerk aber nur insofern sein, als es Abbild ist. Gestaltung kann sich nur insofern vollziehen, als eine geistige Aneignung stattfindet: eine Transformierung des geistig angeeigneten Anschauungsstoffs und eine Realisierung des Transformierten. Z. B. scheint Dürer jedes Detail von der Natur abzukopieren, während K. Kollwitz auf präzise Einzelheiten verzichtet. Trotzdem ist es nicht so, daß bei dem einen der Abbild- und bei der anderen der Gebildecharakter dominiert. Beider Werke sind Abbild und zugleich Gebilde. In beiden Fällen werden die sichtbaren Erscheinungen erst angeeignet und dann gestaltet. In beiden Fällen beherrscht der Abbild- den Gebildecharakter. Es ist das eine objektive Gesetzmäßigkeit, der sich kein Künstler entziehen kann. Eine ganz andere Frage ist, ob die Erscheinungen künstlerisch derart umgebildet, transformiert werden, daß sie in ihrer neuen Form Wesenszusammenhänge verdeutlichen oder derart, daß sie diese verzerren.
3. Künstlerische
Wahrheit
Als Ziel aller Erkenntnis preist Fiedler die Wahrheit. Da er die objektive Realität eliminiert, verfällt er einem Zirkel: Für ihn ist die Wahrheit der Maßstab der Erkenntnistätigkeit. Fragt man aber nach dem Kriterium der Wahrheit, so gibt Fiedler an, es liege in der Erkenntnistätigkeit selbst, dürfe keinesfalls in anderen Bereichen gesucht werden. Er kann sich aus dem Zirkel nur retten, indem er die Wahrheit als Endprodukt eines Prozesses erklärt, der Erkenntnis und zugleich Erzeugung des Seienden ist. Folglich geht er das Problem von zwei Seiten an, und zwar von der Spontaneität und von der Relativität her. Vom Spontaneitätsstandpunkt aus erklärt er, Wahrheit sei „nicht etwas, was der Mensch findet, sondern was er hervorbringt". 106
3. Künstlerische Wahrheit
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Als ausschließliches Produkt der formenden bzw. erkennenden Tätigkeit identifiziert sie Fiedler schlechtweg mit der Ausdrucksform. W a s für das entwickelte, klare und deutliche Bewußtseinsgebilde zutrifft, gilt auch für die Währheit. Mit dieser Feststellung verfolgt Fiedler einen ganz besonderen Zweck: Da das Unvollkommene kein Maßstab des Vollkommenen sein kann, vermag das „geistige Mittelreich" der „assoziativen Gemische", von ihm Natur genannt, nicht zum Erkenntniskriterium gemacht zu werden. Vom Relativitätsstandpunkt aus erklärt Fiedler, jeder habe seine eigene Wahrheit, weil jeder in seiner eigenen Wirklichkeit lebe. Man dürfe nicht von einer Wirklichkeit und von einer Wahrheit als von etwas sprechen, das eine gleichmäßige, für alle bindende Gültigkeit habe. Die Menschen würden sich zueinander verhalten wie historische Epochen. Jede Zeit weise der vorhergehenden Zeit ihre Beschränktheit nach, ohne den Dorn im eigenen Auge zu spüren. W a s Irrtum war, werde Wahrheit, und was als Wahrheit erscheine, werde dereinst Irrtum sein. Die Wahrheit müsse von jeder historischen Epoche und von jedem einzelnen Ich ständig neu erzeugt werden. Ihre Produktion sei ein unendlicher Prozeß. Freilich würden nur einige wenige Bevorzugte diesen Prozeß vorantreiben und zerstören, was ihnen als scheinbar unveränderlich entgegentrete. Die „Masse" begnüge sich mit dem Stillstand. Fiedler opponiert heftig gegen die „naive" Auffassung, die das Erkenntniskriterium in der Außenwelt sucht. Er opponiert auch gegen den „entwickelten" Standpunkt, der zwar die Abhängigkeit des Seins vom Bewußtsein einsehe, jedoch das Erkenntniskriterium in der Übereinstimmung bzw. Nichtübereinstimmung zwischen den Bewußtseinsgebilden verschiedener Individuen zu entdecken glaube. Bei oberflächlicher Betrachtung könne man annehmen, Fiedler stimme mit der Kritik am Konventionalismus überein. Das Gegenteil ist der Fall. Er kritisiert den Konventionalismus von rechts. Er verurteilt ihn sozusagen als Behinderung des konsequenten Relativismus. Fiedler negiert das logische Prinzip der Widerspruchsfreiheit, das Aristoteles bereits gegen Sophisten wie Protagoras ins Feld führte. So kann seiner Auffassung nach, selbst wenn ein und dieselbe Beziehung herrscht, das, was für das eine Individuum wahr ist, für das andere falsch sein. Fiedler leugnet jedes objektive Erkenntniskriterium und jeden objektiven Erkenntnisfortschritt. Im Sinne seines Relativitätsstandpunkts entscheidet sich Fiedler für die Relativität der Wahrheit. Er will sie total abhängig machen vom subjektiven Bewußtsein. Gnoseologisch beruht Wahrheit auf der Übereinstimmung zwischen Bewußtseinstatsache und realem Sachverhalt. Sie ist die richtige Abbildung eines Erkenntnisobjekts. Man darf sie deshalb weder von der ideellen noch von der materiellen Seite, weder vom Abbild noch vom Abgebildeten loslösen. Der reale Sachverhalt an sich ist weder wahr noch falsch. Er existiert einfach, und zwar unabhängig vom subjektiven Bewußtsein. Folglich entfällt die Feststellung der Wahrheit, wenn der reale Sachverhalt, auf den sich die Bewußtseinstatsache bezieht, eliminiert wird. Das geschieht bei Fiedler. Er nimmt der Wahrheit ihren objektiven Charakter. Wenn die Bewußtseinsgebilde die einzige Wirklichkeit darstellen, dann kann es in den menschlichen Empfindungen, Wahrnehmungen, Vorstellungen, Begriffen keinen Inhalt geben, der vom Menschen und von der menschlichen Gattung unabhängig ist. Ein solcher Inhalt muß aber im Gegensatz zu Fiedler vorausgesetzt werden. Die Erkenntnis ist nicht etwas rein Subjektives, denn
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II. Wirklichkeit als Bewußtseinsprodukt
sie ist immer Erkenntnis von etwas. Sie hat objektiven Charakter insofern, als sie mehr oder weniger adäquat die objektive Realität abbildet. 107 Fiedler kennt nur die im Hinblick auf die Spontaneität unbeständige, im Hinblick auf die Relativität individuell bedingte, in beiden Fällen relative Wahrheit. Er verfällt einem totalen Relativismus. Obwohl er aber den objektiven Charakter leugnet, versucht er trotzdem, innere Gesetzmäßigkeiten der Wahrheit festzustellen, denen Wissenschaft und Kunst folgen. Hier tut sich ein Grundwiderspruch auf, der sich durch seine ganze Konzeption zieht. Fiedler kündet an, er wolle die Gesetzmäßigkeiten der subjektiven Formprozesse bzw. Bewußtseinsformen, also des wissenschaftlichen Denkens und der künstlerischen Tätigkeit ausmachen. Sein Formbegriff involviert nahezu den Gesetzesbegriff. Seinen Bemühungen wird auch von zahlreichen Kunstwissenschaftlern Erfolg zugebilligt. Diese Bemühungen sind jedoch von vornherein zum Scheitern verurteilt. Einmal steht ihnen die Spontaneitätsauffassung entgegen. Jede Gesetzlichkeit erklärt Fiedler aus dem Wesen der Objektsetzung, die sich im subjektiven Bewußtsein vollzieht. Zum anderen steht seinen Bemühungen seine Relativitätsauffassung entgegen. Fiedler behauptet, die Gesetzlichkeit würde nicht von einer äußeren Instanz vorgeschrieben, sondern durch die subjektiven Formprozesse selbst bestimmt. Wenn sich Fiedler gegen eine „absolute Wahrheit" wendet so bekämpft er primär den objektiven Erkenntnischarakter. Erst in zweiter Linie geht es ihm darum, den „absoluten" Charakter der Wahrheit zu bestreiten. Soweit er hier tatsächlich die starre, undialektische Auffassung der spekulativen Idealisten meint, kommt seiner Kritik eine gewisse, freilich rein negativ begrenzte Berechtigung zu. Es gibt keine erschöpfende und damit unveränderliche Erkenntnis der gesamten Wirklichkeit. Die geistige Aneignung ist ein historisch sich entwickelnder Prozeß, an dem ganze Generationen beteiligt sind. Aber Fiedler stützt sich gar nicht auf diese eigentliche Dynamik, die ein Reflex ist der ständigen Veränderung und Bewegung in der objektiven Realität. Wenn er von der durchgängigen Relativität spricht, so meint er, daß eine Wahrheit, die in dem einen Augenblick als gültig anerkannt wird, in einem anderen Augenblick überholt ist, ja in einem anderen Zusammenhang im selben Augenblick schon unwahr werden kann. Er zieht die Konsequenz, daß es keinen Erkenntnisfortschritt gibt. Es sei eine Täuschung, daß eine fortschreitende Befreiung des Geistes von Irrtümern sattfinde.108 Dem muß entgegengehalten werden: Die Erkenntnis der objektiven Realität ist ontogenetisch und phylogenetisch einer ständigen Entwicklung vom weniger vollkommenen zum vollkommeneren Wissen unterworfen. Sie hat gewisse individuelle und historische Schranken. Folglich ist sie immer nur annähernd, relativ wahr. Die Relativität besteht darin, daß sie, sofern sie objektive Wahrheit ist, einen realen Sachverhalt zwar richtig abbildet, jedoch nicht alle seine Seiten, Zusammenhänge, Gesetzmäßigkeiten erfaßt und daher der Vervollständigung und Vertiefung bedarf. Die Geschichte der Wissenschaft zeigt, daß jede Theorie im Vergleich zur vorhergehenden Theorie eine genauere Abbildung der Wirklichkeit darstellt. Bestimmt wird die Relativität durch das Niveau der gesellschaftlichen Praxis. Es gibt aber keine Erkenntnisschranken im agnostizistischen Sinn. Folglich entsteht eine neue Wahrheit nicht, wie Fiedler angibt, durch radikale Beseitigung des gesamten früheren Wissens. Die ontogenetische und phylogenetische Entwicklung der Erkenntnis weist hinsichtlich des objektiv wahren Inhalts
3. Künstlerische Wahrheit
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konstante Elemente auf. Diese Elemente gehen in den Bestand der neuen Wahrheit dialektisch ein. Von diesem Standpunkt aus ist das Problem der künstlerischen Wahrheit zu lösen. E s unterscheidet sich von dem wissenschaftstheoretischen Problem, schließt dieses aber nicht aus. In rational-wissenschaftlicher Hinsicht ist Wahrheit die Eigenschaft eines Bewußtseinsaktes (eines Urteils), der mit einem objektiven Sachverhalt übereinstimmt. Dabei handelt es sich nicht um eine „absolute Identität" (Lenin), sondern um eine wesensmäßige Entsprechung. Ähnlich ist es in der bildenden Kunst. Freilich geht es nicht um die Wahrheit als Eigenschaft einer begrifflichen Operation, sondern als Eigenschaft einer im Werkstoff realisierten künstlerischen Vorstellung bzw. Idee. Der wissenschaftstheoretische Maßstab spielt nur insofern eine Rolle, als in der Anschauung eine begriffliche Seite angelegt ist. D a s Kriterium wesensgemäßer Übereinstimmung gilt aber auch hier. Für eine solche Übereinstimmung sind drei Voraussetzungen nötig. Erstens müssen sich Inhalt und Form im Kunstwerk entsprechen. D a s bedeutet, daß Qualitäten des Gefühls- und des Begriffsvermögens möglichst umfassend in der realisierten Anschauung „inkarniert", d. h. dialektisch „aufgehoben" sind. Wenn sie nur als Anweisung, also assoziativ, verkörpert werden können, so haben sie das „Inkarnierte" zu potenzieren, nicht jedoch abzuschwächen. Was unter der Übereinstimmung zwischen den Formelementen und den Formganzen verstanden wird, fällt im Grunde unter die Übereinstimmung zwischen Inhalt und Form. Wirkt das Prinzip der Einheit in der Mannigfaltigkeit doch nicht nur formal, sondern auch inhaltlich. Jedes Formelement ist immer zugleich ein Aussageelement, das mit dem Ganzen der Aussage harmoniert. Zweitens muß der Gestaltungsprozeß, durch den das Kunstwerk im Werkstoff realisiert wird, dem Aneignungsprozeß entsprechen. D a s bedeutet, daß die in der künstlerischen Vorstellung bzw. Idee bestehende Konzeption des Künstlers adäquat dargestellt wird. Wenn eine Verzerrung erfolgt, ist die künstlerische Wahrheit gefährdet. Drittens muß das formal und inhaltlich Angeeignete der Wirklichkeit entsprechen. D a s bedeutet, daß die in den sichtbaren Erscheinungsformen sich offenbarenden Wesenszüge nicht verzerrt, sondern verdeutlicht werden. Wenn das künstlerische Abbild dem Wahrheitsanspruch genügt, muß es mit einem objektiven Sachverhalt übereinstimmen. Wie bereits betont, handelt es sich jedoch bei dem objektiven Sachverhalt nie um etwas „rein" Visuelles. D a s sichtbar vermittelte menschliche Leben wird erfaßt. Folglich wäre es falsch, wie Nedoschiwin zu behaupten, „die unmittelbare Richtigkeit des sinnlich wahrnehmbaren Äußeren der Dinge" sei maßgebend. „Richtigkeit" in der genauen optischen Wiedergabe der Erscheinungsmerkmale kann kein zureichender künstlerischer Maßstab sein. Ein solches Verlangen würde das Äußerliche zum Selbstzweck aufbauschen. D a s eigentliche Wahrheitskriterium ist die inhaltliche Wesensgemäßheit. A. Dürer z. B. hält sich an die Treue des Details, K . Kollwitz, die für diesen kein Verständnis finden konnte, ganz und gar nicht. Beider Werke aber sind künstlerisch wahr, weil sie wesensgemäß sind. Eine Verdeutlichung erfolgt immer dann, wenn sich der Künstler auf Grund seiner Erfahrung auf die Position der fortschrittlichen gesellschaftlichen Kräfte orientiert. Sind diese drei Voraussetzungen erfüllt, so kann man von einer Übereinstimmung zwischen Kunstwerk und Wirklichkeit sprechen. D a s Kriterium künstlerischer Wahrheit
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II. Wirklichkeit als Bewußtseinsprodukt
trifft zu. W i e in der Theorie, so erfolgt allerdings auch hier die eigentliche Bewährung erst in der Praxis, d. h. dann, wenn das Kunstwerk betrachtet und rezipiert wird. Fiedler verlegt das Kriterium künstlerischer Wahrheit ausschließlich in den anschaulichen Formprozeß. Abgesehen davon, daß er einem Zirkel verfällt, hat das zwei Folgen. Einerseits wird der allgemeine Maßstab der Wahrheit nicht anerkannt, der für die Bewußtseinsprozesse schlechthin gilt, also sowohl in der Wissenschaft als auch in der Kunst zutrifft: die Übereinstimmung zwischen subjektivem Bewußtseinsakt und objektivem Sachverhalt. Andererseits wird die rational-wissenschaftliche Wahrheit aus der künstlerischen Wahrheit eliminiert. Fiedler will die Kunst völlig isolieren, sowohl von der Wirklichkeit als auch vom begrifflichen Erkennen. Sie soll ausschließlich um ihrer selbst willen betrieben werden. Einerseits kann es aber keine Kunst ohne Wirklichkeit geben - wohl aber eine Wirklichkeit ohne Kunst. Andererseits geht die rational-wissenschaftliche Wahrheit in die künstlerische Wahrheit ein, da die künstlerische Anschauung stets, dialektisch verwandelt, begriffliche Qualitäten enthält. Das begriffliche Erkennungsmoment darf weder verabsolutiert, noch darf es ausgeschaltet werden. Es spielt deshalb eine beachtliche Rolle, weil im künstlerischen Prozeß das erste Signalsystem vom zweiten überformt wird und trotzdem vorwiegend anschaulich verläuft. Folglich muß das im Kunstwerk realisierte künstlerische Abbild das Moment des Wiedererkennens in sich einbeziehen, wenn es verständlich sein soll. Die künstlerischanschauliche Erfassung des Objekts, wie es in Beziehung zum menschlichen Subjekt („für uns") existiert, vermittelt in letzter Instanz auch immer, wie das Objekt „an sich" beschaffen ist. Man darf nicht, wie das der Naturalismus beabsichtigt, die rationalwissenschaftliche Wahrheit verabsolutieren und zum Maßstab auch in der Kunsttheorie machen. Man darf sie aber auch nicht, wie das Fiedler tut, völlig eliminieren. In diesem Zusammenhang ist ein Wort zum Problem der Richtigkeit nötig. Anzunehmen, daß die „Richtigkeit" in der künstlerischen Tätigkeit keine Rolle spielt, nur weil sie nicht zureichender künstlerischer Maßstab ist, wäre verkehrt. Mit dem Moment des Wiedererkennens eng verbunden bildet sie eine conditio sine qua non. Von der Antike über die Renaissance bis heute haben sich die Künstler mit einem planmäßigen, allseitigen und bewußten Sehen beschäftigt. Dabei handelt es sich um eine Anschauung, die sich in ständiger Auseinandersetzung mit der Praxis entwickelt und korrigiert. Ihre „Richtigkeit" ist nicht die Richtigkeit der mechanizistischen Reproduktion, die durch die Fotografie oder das geometrische Meßverfahren geboten wird. Also bestehen zwischen dem „subjektiven","d. h. menschlichen Sehen und dem „objektiven" Sehen des fotografischen „Objektivs", dessen Abbild in etwa dem Netzhautbild entspricht, wesentliche Unterschiede. Der tote Mechanismus kann nicht den im menschlichen Subjekt angehäuften und ständig wirksamen Erfahrungsbesitz berücksichtigen. Er abstrahiert von der für jede Gesichtswahrnehmung wichtigen Apperzeption. Dazu gehört, daß ihm die durch die dynamischen Stereotype des Gesichtssinnes bedingte Invarianzmöglichkeit fehlt, die - bei ständig wechselnden Eindrücken - eine relative Konstanz der Sehgröße, der Form, der Farbe etc. garantiert. Ein ähnlicher Unterschied wie zwischen fotografischem Abbild und Wahrnehmungsbild existiert zwischen geometrischer Messung und subjektivem Sehen. Der Euklidische Raum weicht ab von dem visuell wahrnehmbaren Raum. Als die Künstler der Re-
3. Künstlerische Wahrheit
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naissance die Gesetzmäßigkeit der Perspektive entdeckt hatten, waren sie zunächst geneigt, die neue Erkenntnis zu überschätzen. Z. B. würde man bei einem Versuch mit dem wirklichen Objekt die Mandoline, die A. Dürer in seiner Schrift „Unterweisung der Messung" als Instrumentarium angibt, in einer anderen als der dargestellten Verkürzung erblicken. Ein Bild, in dem die perspektivische Verkürzung nach allen Regeln der Geometrie „richtig" gezeichnet ist, wirkt sogar ausgesprochen unnatürlich109. W. Waetzoldt schreibt: „Zeichnet der Künstler im Sinne der Euklidischen Optik .richtig', so wirkt seine Zeichnung optisch ,falsch', zeichnet er so, wie er sieht, so hält sie Euklidischer Messung nicht stand. Die großen italienischen Theoretiker und Praktiker, Piero della Francesca und Leonardo, wußten sehr wohl um diesen Zwiespalt zwischen Rechenwesen und Sehen, sie kannten beispielsweise die Randverzerrungen, die eine perspektivische Konstruktion mit sich führt. Bilder, wie Antonio und Piero Polaiuolos' .Verkündigung', wie Uccellos,Reiterschlachten', Masaccios Dreifaltigkeitsbild in Santa Maria Novella zu Florenz und andere mehr lassen deutlich die Begeisterung für die Anwendung der Linearperspektive erkennen, aber auch, wie die Künstler nach einer Milderung der Diskrepanz zugunsten des betrachtenden Auges gesucht und allmählich auch einen Ausgleich gefunden haben!" 110 Beim normalen Sehen machen sich die Form- und Farbverzerrungen, die auf Fotos und perspektivisch genauen Zeichnungen störend wirken, nicht bemerkbar. Z. B. nimmt man wahr, daß die Bäume einer Landstraße in der Ferne ebenso hoch sind wie die Bäume rechts und links neben einem, daß ein Tisch rechtwinklig begrenzt ist, obwohl seine Kanten nach "hinten „schief" verlaufen etc. Die „Richtigkeit" der Wahrnehmung wird gerade durch die Qualitäten garantiert, die Fiedler zu isolieren strebt, nämlich durch das dialektische Einfließen von Tast- und Bewegungsempfindungen und Erfahrungsurteilen. So sieht man eben z. B. die objektiven Größenverhältnisse und übersieht ihre perspektivischen Verzeichnungen. Auch für die Richtigkeit, d. h. Klarheit und Deutlichkeit des Sehens gilt letztlich der Satz, daß das beste Kriterium der Wahrheit die Praxis ist. Auf Grund dieser visuellen Wahrheit, d. h. der Übereinstimmung des Wahrnehmungsgebildes mit einem objektiven Sachverhalt muß der Blick geschult werden. Wer dergestalt planmäßig, allseitig und bewußt sehen lernt, wird ganz allein auf das künstlerische Problem stoßen. Der Künstler hat sein Auge sozusagen trainiert. In der Auseinandersetzung mit der sichtbaren Wirklichkeit erfaßt er nicht nur die einzelnen Feinheiten, sondern auch die wesentlichen Zusammenhänge der Formen und Farben. Nur deshalb, weil er die Natur klar und deutlich sehen gelernt hat, vermag er den Anschauungsstoff im Kunstwerk zu konzentrieren. Die Stellung, die Fiedler beim Problem der Schönheit für den „Naturalismus" bzw. Realismus einzunehmen vorgibt, revidiert er beim Problem der künstlerischen Wahrheit. Er macht ihm zum Vorwurf, er begnüge sich mit einem „unentwickelten", d. h. materialistischen Wirklichkeitsbegriff. Er habe die Kunst „aus dem dogmatischen Schlummer erweckt", nämlich durch die Ablehnung der idealistischen Inhalts- und Formal-Ästhetik, aber nur „um sie sofort in einen neuen dogmatischen Schlummer zu versetzen." Die sprachliche Formulierung verweist auf Kant. Wie dieser in der Erkenntnistheorie, so will Fiedler in der Kunsttheorie den „unentwickelten" Wirklichkeitsbegriff überwinden. Er erklärt die künstlerische Objektivität nicht aus dem dialekti6
Faensen
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II. Wirklichkeit als Bewußtseinsprodukt
sehen Verhältnis zwischen objektivem, primär gesellschaftlichem Sein und künstlerischem Bewußtsein, sondern aus einer durch ein isoliertes und subjektiviertes BewußtseinsSubjekt vollzogenen Objektsetzung. Eine solche Objektivität verdient den Namen nicht. Sie ist Pseudo-Objektivität. Fiedler erreicht auf einem anderen Weg das gleiche Ziel wie die alte Idealisierung: Ausschaltung der Wahrheit über die Wirklichkeit. Genau wie ihr kommt es ihm nicht auf eine Übereinstimmung mit dem Objekt an. Schon die Beschäftigung mit diesem, soweit es mit der materiellen Realität identisch ist, erregt Anstoß. Fiedler übt nicht am Grad, sondern am Gegenstand der Nachahmung Kritik. Seine Forderung nach einer spezifischen Wahrheit der Kunst hat genau wie die offizielle zeitgenössische Forderung nach Schönheit eine apologetische Funktion.
III. Kunst als „reine" Sichtbarkeit
1. Ästhetik und Psychologie Wie Fiedler erklärt, vollzieht sich in der künstlerischen Tätigkeit sowohl die Herauslösung der Anschauung aus unanschaulichen Elementen, als auch die Fortentwicklung zum klaren und deutlichen Ausdruck. E r trennt die beiden Vorgänge nicht. Seiner Auffassung nach setzt sich der Reinigungsprozeß in der Ausdrucksbewegung überhaupt erst durch. Aber er behandelt die beiden Vorgänge nicht durchgängig im Zusammenhang. Ich entscheide mich gleichfalls für eine getrennte Darlegung, einerseits der besseren Verständlichkeit wegen, andererseits, weil jeder Vorgang für sich auf eine besondere Kunsttheorie hinweist. Die Betonung des Optischen erinnert an den Impressionismus, die Betonung der Realisation an Fauvinismus, Expressionismus und Kubismus. Es geht Fiedler wie Cézanne - er wird mit allen Richtungen in Zusammenhang gebracht. Die idealistische Verkehrung besteht schon darin, daß Fiedler behauptet, die Anschauung könne in der künstlerischen Tätigkeit nur zu sich selbst kommen, wenn man sie „isoliere". Die Emanzipation von anderen Sinnesqualitäten sowie vom Fühlen und vom begrifflichen Denken sei die Voraussetzung, daß Sehen „um seiner selbst willen" betrieben wird. Während im „unentwickelten" Bewußtsein noch ein „assoziatives" Beieinander festzustellen sei, kristallisiere sich im Verlauf der Entwicklung die optische Qualität in besonderer Klarheit und Deutlichkeit heraus, indem sie die anderen Qualitäten verdränge. Eine solche „Reinigung" ist aber unmöglich, da im Bewußtsein erst sekundär ein „assoziatives" Beieinander, primär aber ein innerer dialektischer Zusammenhang besteht. Es gibt kein „reines", sondern immer nur ein gefühlsgetöntes und begreifendes Gesichtsbild, zugleich beeinflußt von den Qualitäten anderer Sinnesorgane, vor allem solchen haptischer Natur. In Fiedlers Auffassung spielt ohne Zweifel eine Rolle die Einwirkung der zeitgenössischen Elementen- bzw. Assoziationspsychologie, die das Seelenleben in einzelne, grundverschiedene, voneinander unabhängige psychische Teile atomisiert. Ihre Anregung aufgreifend, radikalisierte er ästhetische Gedankengänge Kants und Schopenhauers. In der bisherigen Interpretation Fiedlers wird behauptet, er habe den Formbegriff aus Kants „Kritik der reinen Vernunft" auf die Kunsttheorie angewendet. Von der „Kritik der Urteilskraft" habe er sich distanziert. Diese Behauptung bedarf der zweifachen Korrektur. Einerseits verwertet Fiedler nicht den Formbegriff Kants, sondern den des idealistischen Kantianismus seiner Zeitgenossen. Andererseits ist er durchaus von der „Kritik der Urteilskraft" beeinflußt. Nur behält er sich vor, eine ähnliche Auslegung vorzunehmen wie bei der Vernunftkritik. Auf drei Punkte richtet er seinen Blick: auf die synthetisierte Sinnlichkeit, auf die Reinheit der künstlerischen Form und auf die Einteilung der Künste. 6*
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III. Kunst als „reine" Sichtbarkeit
Kant bestimmt das ästhetische Urteil als einen Akt des Bewußtseins, der weder mit der sinnlichen Wahrnehmung noch mit dem begrifflichen Denken identisch ist. Er soll beruhen auf einem „freien Spiel" zwischen Vorstellungskräften, d. h. je nach dem Schönen oder dem Erhabenen, zwischen Anschauungsvermögen (Einbildungskraft) und Verstand oder Anschauungsvermögen und Vernunft. In diesem Zusammenhang spielt die „reflektierende Urteilskraft" eine große Rolle. Sie zielt auf eine „synthetische Allgemeinheit". Es geschieht das im Gegensatz zu der im Erkenntnisprozeß wirkenden „bestimmenden Urteilskraft", die zu einer „analytischen Allgemeinheit" führt. Fiedler ist durch diese - in der Tendenz durchaus richtige - Gegenüberstellung stark beeindruckt. Freilich mag ihn auch Kants Behandlung der ästhetischen Idee als einer „inexponibelen", d. h. auf keinen Begriff zu bringenden und dennoch eine „unnennbare Gedankenfülle" in sich bergenden Anschauung bewegt haben. Sei es wie es sei, Fiedler will auf dasselbe hinaus. Was er unter künstlerischer Tätigkeit versteht, ist der Bewußtseinsakt, der sich über die sinnliche Gesichtswahrnehmung erhebt, ohne die Sinnlichkeit preiszugeben. In ihr erblickt er das Vermögen, die Anschauung auf anschaulichem Weg zu verallgemeinern. So spricht er in einem Brief an Marees von „gleichsam sinnlichen Abstraktionen", die der Künstler geben müsse111. So schreibt er in einem Fragment: „Eine Anregung, der Möglichkeit einer Entwicklung des rein intuitiven Bewußtseins nachzugehen, kann darin gefunden werden, daß der menschliche Geist Operationen aufweist, die über die einfache sinnliche Vermittlung der Kenntnis der wahrnehmbaren Gegenstände hinausgehen und doch rein sinnlicher Natur sind. Kant (Anthropologie § 30) bezeichnet sie als sinnliches Dichtungsvermögen der Bildung, der Beigesellung, der Verwandtschaft." 112 Unter dem subjektiv idealistischen Gedankengängen von Kant und Fiedler verbirgt sich eine richtige Einsicht in den Unterschied der begrifflichen und der ästhetischen bzw. künstlerischen Verallgemeinerung. D a ß die eine analytisch und diskursiv und die andere synthetisch und intuitiv (nicht im gefühlsmäßigen, sondern im anschaulichen Sinn) vor sich geht, bestätigt aufs neue die moderne Physiologie. Desgleichen trifft zu, daß die künstlerische Vorstellung eine „unnennbare", d. h. durch die Sprache der Begriffe nicht zu erschöpfende inhaltliche Fülle birgt. Kant charakterisiert das ästhetische Urteil als besonderes Gefühl der Lust und Unlust, das von dem Genuß am Angenehmen und dem Gefühl für das Gute unterschieden werden muß. Diese hätten immer Interesse an der Existenz eines bestimmten Gegenstandes. Jenes sei ein „interesseloses Wohlgefallen". Es richtet sich nicht auf irgendeinen materiellen Zweck, der zugleich das Begehrungsvermögen reizen würde. Das ästhetische Urteil sei nicht nur in einem höheren Grade subjektiv (da gefühlsbedingt), sondern auch in einem höheren Grade formal als die Erkenntnis. Das Materiale spiele überhaupt keine Rolle. Das „freie Spiel" der Vorstellungskräfte werde nur ausgelöst, wenn die Form unabhängig von ihrer Materie, d. h. aus der Kantschen Terminologie übertragen, unabhängig von konkreten Bestimmungen wirkt. Es handele sich um eine „Zweckmäßigkeit ohne Zweck". Durch die „reine" Form eines Gegenstandes werde das ästhetische Urteil erregt. Zum Beispiel behauptet Kant - übrigens ganz im Sinne des Klassizismus - das Wesen der Malerei sei die Zeichnung, da nur sie durch die
1. Ästhetik und Psychologie
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Form gefalle. Die Farben würden zu den materialen Reizen gehören und das Wohlbehagen hemmen. Fiedler übernimmt die formale Betrachtungsweise. E r will, daß die künstlerische Tätigkeit sich emanzipiert von allen konkreten Bestimmungen. Sie soll auf die Darstellung einer haptisch erfahrbaren „Gegenständlichkeit" ebenso verzichten wie auf die Einflußnahme weltanschaulicher Ideen. Der Künstler darf durch sie kein gesellschaftliches Interesse, keinen gesellschaftlichen Zweck verfolgen. Rein um ihrer selbst willen soll sie vollzogen werden. Fiedler gilt die Form an sich, nicht die sinnerfüllte Form. Nur das reine Sichtbarkeitsgebilde soll künstlerisch wirken. Aufbauend auf K a n t wird Fiedler zum modernen Theoretiker des Formalismus. D a s Einteilungsprinzip der Künste nimmt Kant aus dem Vergleich zu drei Arten des menschlichen Ausdrucks: Wort, Ton, Gebärde. So kennt er eine Wortkunst (Beredsamkeit, Dichtung), eine Kunst des schönen Spiels der sinnlichen Empfindungen (Musik, Farbenharmonie) und eine bildende Kunst (Plastik, Architektur, Malerei). Im letzteren Fall erscheint etwas gezwungen die „Gebärdung" als Mittel des Ausdrucks für die künstlerische Anschauung. Kant mag das selbst empfunden haben, denn er bemerkt: „Wie aber die bildende Kunst zur Gebärdung in einer Sprache (der Analogie nach) gezählt werden könne, wird dadurch gerechtfertigt, daß der Geist des Künstlers durch diese Gestalten von dem, was und wie er gedacht hat, einen körperlichen Ausdruck gibt und die Sache selbst, gleichsam mimisch, sprechen macht: ein sehr gewöhnliches Spiel unserer Phantasie, welche leblose Dinge ihrer Form gemäß einem Geist unterlegt, der aus ihnen spricht." 113 Aber gerade an dieser Stelle scheint Fiedler anzuknüpfen. E r bezeichnet es als ein wesentliches Moment der bildenden Kunst, daß sich die Anschauung umsetzt in eine Ausdrucksbewegung. Schon in der einfachsten Gebärde glaubt er einen ersten, noch unvollkommenen Ansatz zur künstlerischen Realisierung der Sichtbarkeit zu entdecken. Allerdings wird in dieser Hinsicht auch noch der Einfluß von psychologischer Seite mitsprechen, z. B. von W. Wundt. Wenn Fiedler in drei Punkten an Kants „Kritik der Urteilskraft" anknüpft, so setzt er sich in einem ganz entschieden von ihr ab: E r trennt die Ästhetik von der Kunsttheorie. Beide seien, so erklärt er, in ihrem Ausgang und in ihrem Ziel völlig selbständig 114 . E s ist das auch der Punkt, wo er sich von der als „Formwissenschaft" deklarierten Ästhetik seines Zeitgenossen R. Zimmermann distanziert: „Nicht aus der Ästhetik darf der Begriff des Schönen verbannt werden; denn diesen Begriff zu ergründen ist die eigentliche Aufgabe der Ästhetik; wohl aber muß die Ästhetik aus dem Bereiche der Kunstbetrachtungen verbannt werden; denn beide haben nichts miteinander gemein." 115 Kant unterteilt das menschliche Seelenvermögen in ein solches der Erkenntnis, der Begehrung und des Gefühls. Aus dem letzteren leitet er - und in Anlehnung an ihn R. Zimmermannn - die Kunst ab. Fiedler dagegen behauptet, die Kunst entstamme dem Erkenntnisvermögen. Zwar gesteht er der ästhetischen Gefühlsbeurteilung, insofern sie auf das Schöne abzielt, eine Berechtigung zu. E r bestreitet jedoch, daß sie das Wesen der Kunst erfaßt. Sie erstrecke sich sowohl auf Gegenstände der Natur (auf
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III. Kunst als „reine" Sichtbarkeit
das Naturschöne) als auch auf Werke der Kunst (auf das Kunstschöne). Folglich würden ihr gerade die Eigenschaften entgehen, die einem Kunstwerk als solchem zukommen und aus denen allein ein Begriff der Kunst konstituiert werden könne. Fiedler gelangt schließlich zu der Auffassung, das ästhetisch-gefühlsmäßige behindere und hemme das eigentlich künstlerische Urteil: „ . . . so paradox es klingen mag, die Empfindung des Schönen muß aufgegeben werden, wenn man zu dem eigentlichen Reiche der Kunst gelangen will." 116 Irreführend ist, wenn Fiedler von dem künstlerischen als einem „logischen" Urteil spricht. G. Klose hat das zum Anlaß genommen, heftige Kritik zu üben. Er wirft Fiedler vor, er verwechsle das theoretische Urteil über ein Kunstwerk („Kunsterkennen") mit dem unmittelbar ästhetischen Verhalten („Kunsterleben"), verlege das Wesen der Kunst ins begriffliche Wertgebiet und ignoriere dadurch ihre Spezifik. Das ist aber durchaus nicht der Fall. Fiedler geht es gerade darum, die künstlerische von der wissenschaftlichen Erkenntnis zu unterscheiden. Daß ihm das nur bedingt gelingt, liegt nicht an einer „intellektualistischen" Verkennung der künstlerischen Spezifik, sondern an der philosophischen Grundkonzeption des subjektiven Idealismus. Wenn er vom künstlerischen als dem logischen Urteil spricht, will er lediglich den Erkenntnischarakter hervorheben. Er bezieht sich direkt auf Kants Unterscheidung zwischen dem Logischen der Erkenntnis und dem Gefühlsmäßigen der Kunst. In diesem Zusammenhang und nur in ihm - legt er Wert auf die „logische" Akzentuierung. Auf den Terminus selbst kommt es ihm gar nicht an: „Ob man in dieser Operation des Verstandes logische Urteile erkennen will, steht dahin, jedenfalls sind es Urteile des Verstandes und nicht des Geschmacks." 117 Fiedler geht es darum, die sich durch das Moment synthetisierter Sinnlichkeit von der begrifflichen Verallgemeinerung unterscheidende künstlerisch verallgemeinerte Anschauung nicht dem Gefühls-, sondern dem Erkenntnisvermögen zuzuschreiben. So trennt er sie sowohl vom Gefühl als auch vom Denken, nicht aber schlechthin vom Erkenntnisprozeß. Sie soll keine begrifflich-diskursive, sondern eine spezifisch anschauliche bzw. intuitive Erkenntnis sein. Fiedler weist auf die Möglichkeit der Entwicklung des anschaulichen bzw. intuitiven Bewußtseins hin. Die Gefahr der Irreführung scheint ihm auch selbst bewußt geworden zu sein. In einem Brief an Hildebrand erklärt er, man solle den Terminus Erkenntnis auf die Wissenschaft beschränken und in bezug auf die Kunst besser von „Darstellung" sprechen. Freilich hat er diesen Hinweis in allen späteren Abhandlungen selbst nicht befolgt. Nur einem Punkt ist er immer wieder nachgegangen, „die Natur dieser anschaulichen Erkenntnis analog dem Wesen der abstrakten Erkenntnis mit ihrem Satz vom zureichenden Grunde, ihren logischen Denkgesetzen usw. zu entwickeln . . . " 1 1 8 In diesem Sinn unterscheidet Fiedler zwischen einer rational-wissenschaftlichen Wahrheit und einer künstlerischen Wahrheit. In diesem Sinn unterscheidet er auch zwischen
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einer Logik des Denkens und einer „Logik" der künstlerischen Anschauung. Hinaus kommt er über diesen Punkt nicht. Aber an diesen Punkt knüpft später Wölfflin und, auf ihm aufbauend, eine ganze kunsthistorische Schule an. Wölfflin leitet aus der immanenten Entwicklung anschaulicher Logik eine Reihe historischer Etappen des „künstlerischen Sehens" ab. Bei der Unterscheidung der künstlerischen Anschauung vom Begriff stützt sich Fiedler auf die „Kritik der Urteilskraft", bei ihrer Unterscheidung vom Gefühl nähert er sich wieder der „Kritik der reinen Vernunft". Er entnimmt beiden Kritiken bestimmte Gedankengänge und kombiniert sie, freilich immer unter dem Blickpunkt des zeitgenössischen idealistischen Subjektivismus. Soweit seine Bestrebung auf eine bloße Unterscheidung hinausläuft, weist sie auf die Spezifik der bildenden Kunst hin. Soweit sie die Anschauung vom Begriff und vom Gefühl isoliert, führt sie zum Formalismus. Wie Kant kennt Fiedler ein anschauliches und ein kategoriales Vermögen der Erkenntnis ( - verwirrend wirkt, daß er für das Erkenntnisvermögen auch den Terminus „Verstand" gebraucht). Legt Kant aber, trotz getrennter Behandlung in der „transzendentalen Ästhetik" und in der „transzendentalen Logik", auf die Einheit beider Wert, so will Fiedler das Anschauungsvermögen verselbständigen. Untersucht Kant die Bedingung „reiner" Geometrie, Arithmetik und Mechanik, so richtet Fiedler den Blick auf die Bedingung „reiner" Kunst. E r durchleuchtet das Vermögen der Erkenntnis bzw. Anschauung nach einer neuen, der künstlerischen Gesetzgebung. Dieselbe soll nicht nur die spezifisch künstlerisch-anschauliche Erkenntnis, sondern auch ihren Gegenstand, die Sichtbarkeit möglich machen. Auf diesen Punkt weist zwar die bisherige FiedlerInterpretation - Konnerth, Utitz, Janner, Klose, Paret - hin. Aber sie scheut sich, ihn als das zu charakterisieren, was er in Wahrheit ist: subjektiver Idealismus und Formalismus. Fiedler schlußfolgert: Wenn das künstlerische Anschauungsvermögen nicht genau so zu einem geregelten und bewußten Gebrauch ausgebildet wird wie das begriffliche Denken, bleibe der Menschheit die Welt nach einer großen, unendlichen Seite hin verschlossen. Kunst sei nicht untergeordnet und entbehrlich, sondern unersetzlich. In der Wissenschaft gewinne man die Welt dem Begriff, in ihr gewinne man sie der Anschauung nach. Wenn aber bei Kant das Vermögen der Anschauung identisch ist mit dem der Sinnlichkeit schlechthin, so schränkt Fiedler die Sinnlichkeit, was die Kunst anbelangt, ein auf die reine Sichtbarkeit. Die Gefahr kommt auf, daß alle Kunstgattungen, die sich nicht wie die bildende Kunst unmittelbar mit dem Gesichtssinn in Verbindung bringen lassen, ihre Spezifik einbüßen. Blickt man zurück in die Philosophiegeschichte, so stellt man fest, daß vor dem „Naturalismus" bereits A. Baumgarten von einer „sinnlichen Erkenntnis" spricht. „Total neu" und „noch nicht ausgesprochen"119, wie Fiedler angibt, ist die Bestrebung also nicht. Allerdings bedeutet für Baumgarten die sinnliche eine verworrene Erkenntnis und die Schönheit die Vollkommenheit der verworrenen d. i. undeutlichen, aber reichen Vorstellung. Er ordnet die Ästhetik der Logik als Lehre von der begrifflich klaren und deutlichen Erkenntnis unter, auch verweist er auf die Beziehung zum Gefühl. Baumgarten gegenüber ist es ein unbestreitbares Verdienst Kants, die Ästhetik nicht nur dem Grad, sondern auch der qualitativen Besonderheit nach von den anderen
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Seelenvermögen unterschieden zu haben. Er hebt ihre Ebenbürtigkeit zur Logik bzw. Erkenntnistheorie hervor. Freilich leugnet er im „interesselosen Wohlgefallen" jedes, notwendig mit Interesse verbundene Erkenntniselement, folglich in der Konsequenz auch jede menschlich-gesellschaftliche Bedeutung. Fiedler will die Linie Baumgartens fortsetzen, ohne auf die Errungenschaften Kants verzichten zu wollen. Einerseits versteht er - und das ist in der Tendenz durchaus richtig - unter der Kunst eine spezifische Art der Erkenntnis, die nicht nur wertmäßig gleich, sondern auch gleicherweise notwendig ist wie das begriffliche Denken. Er unterstellt die Anschauung nicht dem Begriff, sondern untersucht sie, insofern sie an sich, unabhängig von diesem wirkt. Der Rationalismus Baumgartens wird ersetzt durch einen Sensualismus. Andererseits rückt Fiedler, nicht zuletzt unter dem Einfluß des „Naturalismus", ab vom Ästhetischen. Kunst wird zwar nicht wie bei Zola zur angewandten „positiven Wissenschaft". Aber sie hat weder etwas zu tun mit der Schönheit, noch mit dem Gefühl der Lust und Unlust. Sie zielt - und das ist in der Tendenz wieder richtig - auf Wahrheit und Erkenntnis. Die Ästhetik Kants wird ersetzt durch eine Theorie der Kunst. Beide Seiten sind so originell ausgeprägt, daß z. B. Utitz Fiedler als den Begründer der modernen Kunstwissenschaft preist. Unbeachtet läßt die bisherige Fiedler-Interpretation zumeist den Einfluß der Schopenhauerschen Ästhetik. Ein solcher ist aber durchaus festzustellen, in den Jugendjahren direkt, später indirekt über den befreundeten Schopenhauerianer K. Hillebrand. W i l l man einmal von dem, einleitend bereits behandelten, Geistesaristokratismus absehen, so erhält Fiedler auch hier wieder eine Anregung für die Auffassung vom anschaulichen Charakter der Kunst. Auf seiner griechischen Reise notiert er sich am 2 3 . 1 1 1867 zu Athen in sein Tagebuch: „ . . . es ist, wie Schopenhauer sagt: ,die platonische Idee ist das Objekt der Kunst'." Am 4 . 1 . 1 8 6 8 , nach Rom zurückgekehrt, schreibt er: „Ich glaube, wenn man auf Grund der Schopenhauerschen Ästhetik an die Behandlung der Kunstgeschichte ginge, so würde man zu ganz neuen, überraschenden aber schlagenden Resultaten gelangen. Man würde einsehen, daß die Kunst in etwas ganz anderem besteht, als in der Verwendung der Mittel der Kunst zum Ausdruck von Abstraktionen und man würde vielleicht dahin gelangen, ganzen Völkern und Epochen eine Kunst im eigentlichen Sinne abzusprechen und ihnen nur eine Art Hieroglyphik im ausgedehntesten Sinne zuzugestehen. Die Kunstgeschichte unserer Zeit, indem sie von der Absicht ausgeht, daß diese Hieroglyphik die eigentlich wesentliche Seite der Kunst sei, ist eigentlich nicht viel Anderes, als eine Geschichte dieser Hieroglyphik, sie betrachtet den Künstler als einen Verlängerer der Gedanken und setzt daher die Entwicklungsgeschichte der Kunst in einen eigentümlich abhängigen Zusammenhang mit dem geistigen Leben der Menschheit. Man müßte nachweisen, daß das Gedankenleben der Menschen, wie es sich in der Entwicklung der Wissenschaften vornehmlich manifestiert, für die Kunst im eigentlichen Sinne nichts Bedingendes ist, sondern, wo es durch die
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Kunst eine derselben eigentümliche Offenbarung enthält, die sozusagen hieroglyphische Seite a u s m a c h t ; . . . " In der ersten Tagebucheintragung richtet Fiedler sein Augenmerk auf die platonische Idee als Objekt der Kunst. D a ß Schopenhauer diese in seine Willensmetaphysik einordnet, mag ihn weniger interessiert haben als die Tatsache, daß er ihre Anschaulichkeit und Unendlichkeit im Gegensatz zur Abstraktheit und Endlichkeit des Begriffs hervorhebt. Schopenhauer wendet sich gegen eine Kunst, deren Ursprung statt im Anschaulichen im Begrifflichen liegt und die sich vollgültig ins Begriffliche übertragen läßt. Aus dieser Gegenüberstellung wird die zweite Tagebucheintragung verständlich. Fiedler rechnet zur eigentlichen Kunstgeschichte, was Ausdruck der Anschauung, zur Hieroglyphik aber, was „Verlängerung des Gedankens" bzw. Ausdruck der begrifflichen Abstraktion ist. An einer anderen Stelle bemerkt er in seinem Tagebuch: „Wenn man bei künstlerischem Schaffen von der Verlängerung von Gedanken spricht, so ist dies ein barer Unsinn, der Ausgangspunkt, die Inspiration kommt stets von der Anschauung.-" 1 2 0 In zweierlei Hinsicht wahrt Fiedler bewußt Distanz. Für Schopenhauer bildet die Kunst nur ein Sprungbrett zum „Ding an sich" (Willen). Fiedler lehnt die Einordnung in die Willensmetaphysik ab. Ihr schreibt er es zu, daß Schopenhauer in der Kunst ein Abbild der platonischen Idee bzw., was die Musik anbelangt, unmittelbar des Willens erblickt. Fiedlers Subjektivismus ist, da durch keinen Mystizismus getrübt, weitaus konsequenter. Verworfen wird jedes Verhältnis von Vorbild und Nachbild, sowohl hinsichtlich des irrationalistischen Idealismus als auch hinsichtlich des realistischen Nachahmungsprinzips. 121 Fiedler meint, die anschauliche Erkenntnis äußere sich und vollziehe sich nur als autonome Selbsttätigkeit des künstlerischen Bewußtseins. Zwar emanzipiert er die Individualität von allen realen Beziehungen, aber er verlangt nicht wie Schopenhauer - und in Anlehnung an diesen auch K . Hildebrand 1 2 2 - , um eines mystizistischen Quietivs willen, ihre vollständige Preisgabe: „Nur der voll ausgeprägteste Individualismus kann in der Kunst Vollendetes schaffen. . . . Im gleichen M a ß wie die Individualität des Gegenstandes muß auch die Individualität des Künstlers in Rechnung gezogen werden, indem diese das Element ist, in welchem sich die Welt der Erscheinung nach aufbaut." 1 2 3 Mit diesem Blickpunkt hängt zusammen ein zweiter. Fiedler macht Schopenhauer zum Vorwurf, er trenne das anschauliche Erkennen von der Darstellung des Erkannten und billige der letzteren nur den Rang eines mechanischen Vollzugs zu: „Schopenhauer steht in seiner Ableitung der Kunst durchaus selbständig und ist bis zu einem hohen Grade von Unbefangenheit in der Erklärung der künstlerischen Tätigkeit gelangt. Aber indem er in der Kunst eine Darstellung der durch das (reine) Subjekt des Erkennens zu vollziehenden Erkenntnis der Idee der E r scheinung als einer Objektivation des Willens sieht, trennt er die künstlerische Tätigkeit in zwei Hälften: das Erkennen und das Darstellen; jenes als das Wesentliche kann im Grunde auch durch den Nichtkünstler stattfinden, sofern er
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zum willenlosen Subjekt des Erkennens wird, dieses, wodurch doch das Kunstwerk entsteht, ist nur mechanische Tätigkeit." m Sofern Fiedlers kunsttheoretische Konzeption nur in der Richtung der angedeuteten Kritik verlaufen würde, wäre nichts einzuwenden. Geistige Aneignung und praktische Gestaltung sind ein einheitlicher Prozeß, in dem die Gestaltung nicht zu einer mechanischen Ausführung degradiert werden kann. Fiedler geht es aber noch um etwas anderes: Wenn kein Objekt, was nachgebildet werden könnte, unabhängig und außerhalb vom künstlerischen Bewußtsein existiert, so muß der künstlerische Prozeß ein voraussetzungsloses, absolutes Neuschaffen sein. Fiedler selbst löst die praktische in der ideellen Tätigkeit auf. Eine Aneignung vermag er selbst in mystizistischer Verkleidung nicht zu akzeptieren. Kunst hat folglich reinen Gebildecharakter. Fiedler bringt die künstlerische Tätigkeit in einen unmittelbaren Zusammenhang mit der Tätigkeit des Gesichtssinnes. Es geschieht das nicht ohne Einfluß der zeitgenössischen Elementen- bzw. Assoziationspsychologie, die sich auf dem Boden des „psychophysiologischen Neukantianismus" und des Positivismus herausbildete. Dieselbe hat sozusagen zwei Seiten. Einmal fördert sie durch exakte Untersuchungen die naturwissenschaftliche Forschung. Zum anderen vermischt sie sich durchgängig mit dem den Empfindungen und Empfindungs-Komplexen zugewandten sensualistischen Subjektivismus, in dem sich Tendenzen von Berkeley und Hume erneuern. Die experimentell gewonnenen Erkenntnisse von Helmholtz, Wundt, Fechner, Mach haben unabhängig von der methodologischen und weltanschaulichen Interpretation objektive Gültigkeit. Eine falsche methodologische und weltanschauliche Interpretation hat freilich zu einer völlig falschen Auswertung geführt. Zwei Punkte sind hervorzuheben, durch die die Konzeption Fiedlers bestimmt wird. Bei dem ersten handelt es sich um das sogenannte physiologische Apriori. Johannes Müller erklärt, ausschließlich die spezifischen Energien der Sinnesorgane würden über die Spezifik der Empfindungen des Bewußtseins entscheiden. Die Empfindungen sollen nichts mitteilen über die Qualität und den Zustand äußerer Objekte, vielmehr nur die Eigenart unserer psychophysischen Organisation demonstrieren. Wie die moderne Forschung nachweist, ist eine solche Behauptung falsch. Sie reißt eine Erscheinung aus dem Zusammenhang heraus und verabsolutiert sie. Die Empfindungen sind sowohl abhängig von spezifischen Einwirkungen aus der Außenwelt als auch von der spezifischen Funktionsweise der Sinnesorgane. Der „psycho-physiologische" Idealismus verabsolutiert die Tatsache, daß die Empfindungen bzw. Wahrnehmungen durch physiologische Prozesse vermittelt werden. H. Helmholtz behauptet in Anlehnung an J. Müller, die Empfindungen bzw. Wahrnehmungen seien keine Abbilder, sondern nur „Zeichen", „Symbole" der realen Objekte. F. A. Lange bestreitet im Ergebnis nicht nur den Abbildcharakter, sondern sogar die Existenz einer objektiven Realität, die abgebildet werden könnte. Wenn Helmholtz schon eingestehen muß, von seinem Standpunkt aus sei ein System des Solipsismus nicht zu widerlegen, so gilt das mehr noch für F. A. Lange. Es gilt aber besonders für Fiedler, der unter dem Einfluß Langes steht, ja diesen noch subjektivistisch radikalisiert. Fiedler verabsolutiert den physiologischen Vermittler, indem er ihn total subjektiviert.
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Seiner Auffassung nach wird z. B . der Charakter einer Farbempfindung nicht bestimmt von objektiven Lichtwellen, sondern ausschließlich von der physiologischen Struktur des Sinnesorgans, d. h. des optischen Analysators. Ohne Zweifel hat der Vermittler auf die Bildung der Empfindung entscheidenden Einfluß. Das ist besonders der Fall bei den sogenannten sekundären Qualitäten (Locke), d. h. bei Farben, beim Geschmack, beim Kälte- und Wärmegefühl etc. Sie sind nicht in den materiellen Objekten selbst vorhanden. Besonders Einwirkungen der materiellen Objekte aber sind ihre Ursachen. 125 Um Fiedlers Beispiel beizubehalten: D e r Charakter der Farbempfindung ist abhängig von der Struktur des optischen Analysators, z. B. dem Stäbchen- und ZäpfchenApparat der Netzhaut, der Adaption, der Kontrastierung, der Nachbildung, der Wechselwirkung etc. Letztlich bestimmt wird er aber dem Farbton nach durch die Wellenlänge bzw. Frequenz der Lichtwellen, der Helligkeit nach durch die Amplitude der Schwingungen und der Sättigung nach durch die Mischung von Lichtwellen verschiedener Längen. Den entscheidenden Einfluß des Vermittlers zugegeben, ausschlaggebend ist letztlich nicht er, sondern das Erkenntnisobjekt, hier also die Lichtwelle. Fiedler zieht aus der Tatsache, daß der Bau der Sinnesorgane die Sinnesempfindung beeinflußt, die falsche Schlußfolgerung, er sei ihre ausschließliche Quelle. Sie sei nicht von der Natur äußerer Reize abhängig, sondern nur von dem physiologischen Prozeß. J a er geht noch weiter. Gnoseologisch erkennt er nicht einmal mehr das Sinnesorgan als objektive Voraussetzung der Sinnesempfindung an. E r löst den Unterschied zwischen Physiologischem und Psychologischem zugunsten des letzteren auf. Das menschliche Subjekt hat keinen Organismus, kein „materielles Substrat" mehr. E s ist ein reines Bewußtseins-Subjekt, eine ideelle fensterlose Monade. Im Gegensatz zu Fiedler muß der doppelte Aspekt in bezug auf die materielle Grundlage des menschlichen Bewußtseins bzw. der Abbildcharakter betont werden. Gegenüber Fiedlers Einwand, die Farbempfindung könne nicht Abbild einer Lichtwelle sein, ist festzustellen: Zwischen der Lichtwelle als Erkenntnisobjekt bzw. Modell und der Empfindung als Abbild besteht eine Ähnlichkeit. D i e Frage, wie weit die Übereinstimmung reicht, ist keine grundsätzlich philosophische Frage, sondern ein Problem der physiologischen Optik. Sie untersucht den „influxus physicus" dort, wo er allein untersucht werden kann: am optischen Analysator. Gäbe es die Ähnlichkeit zwischen Abbild und Modell nicht, so könnte man nicht von einem Abbildprozeß sprechen. Sie ist aber nachweislich vorhanden, wenn auch nicht in Gestalt absoluter Übereinstimmung bzw. Identität. Fiedlers Einwand berücksichtigt nicht, daß das Verhältnis der Farbe zur Lichtwelle nicht identisch sein kann mit dem mechanistischen Verhältnis eines Spiegels zum Widergespiegelten. 126 Wenn man dagegen den Abbildprozeß als eine dialektische „Übersetzung" bzw. Umformung auffaßt, anerkennt man in gewisser Weise auch den Gebildecharakter. E r ist formal auf die physiologisch und psychologisch bedingte Vermittlung zurückzuführen. Inhaltlich beruht er auf den durch das Bewußtsein ermöglichten Verallgemeinerungen bzw. Abstraktionen, die zudem schon in der unmittelbaren sinnlichen Rezeption wirksam sind. Sie sind, wie Lenin erklärt, „subjektiv" in ihrer Abstraktheit, Losgelöstheit, Einseitigkeit und Vergröberung. Fiedler verfällt aber zwei schwerwiegenden Fehlern: Einerseits reflektiert und verabsolutiert er die
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erste, die formale Seite. Andererseits berücksichtigt er nicht, daß sein Formbegriff, sofern er die psychophysische Organisation des Menschen betrifft, selbst Ergebnis der historisch-gesellschaftlichen Entwicklung ist. Man braucht nur die richtigen Tatsachen, die ihm zugrunde liegen, richtig zu interpretieren, gleich rückt das Problem in ein ganz anderes Licht: Die Funktionsweise der Sinnesorgane hat sich selbst erst im Verlauf der Phylogenese spezialisiert. Sie ist Ergebnis einer sich unter dem regelmäßigen Einfluß bestimmter Affektionen vollziehenden zweckvollen Anpassung an die Außenwelt. In der aktiven Auseinanderseitzung mit der materiellen Wirklichkeit, im Arbeitsprozeß entwickeln sich die Sinnesorgane. Folglich sind die Empfindungen nicht nur unmittelbar abhängig von äußeren Reizen, sondern auch mittelbar. Trotzdem birgt das physiologische Apriori ein relativ berechtigtes Moment. Es deutet auf die relative Eigenständigkeit physiologischer und psychologischer Prozesse hin. Auch Empfindungen sind keine mechanischen, sondern dialektisch umgestaltete, „übersetzte" Abbilder. Den Vorgang der „Übersetzung" durchleuchtet zu haben, ist ein beachtliches Verdienst der Psychologie des 19. Jahrhunderts. Die Psychologie kam damit zahlreichen Gesetzen des sinnlichen Bewußtseins auf die Spur. Die spezifisch sinnliche „Übersetzung" der physiologischen Analysatoren als Ausgangspunkt der künstlerischen Tätigkeit hervorgehoben zu haben, ist wiederum eine anzuerkennende Leistung Fiedlers. Hier steckt ein richtiges Moment, das vor ihm unter psychologischem Aspekt kaum beachtet worden war. Er kommt damit der Spezifik der bildenden Kunst auf die Spur. Tatsächlich wird im rationalen Erkenntnisprozeß der Unterschied in der Funktionsweise der Sinnesorgane durch die begriffliche Verallgemeinerung ausgeglichen. In der Kunst dagegen spielt die unterschiedliche Funktionsweise eine entscheidende Rolle. Auf ihr beruht die Spezifik der einzelnen Kunstgattungen. Marx weist in den Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten auf den gleichen Tatbestand hin. 127 Die Kunstgattungen unterscheiden sich nach dem Organ, mit dessen Hilfe sie vorrangig arbeiten. H. Konnerth versucht, Fiedlers Konzeption von jedem „kunstpsychologischen" Einschlag zu säubern und ihr den Transzendentalstandpunkt Kants zuzuweisen. Meines Erachtens ist aber gerade die Psychologie das Gebiet, auf dem sie einige richtige Teilerkenntnisse aufweist. Freilich vermag Fiedler die entdeckte Spur nicht zu verfolgen. Sein subjektver Idealismus und auch sein idealistischer Psychologismus führen ihn in die Irre. Nicht die Bestimmtheit des Verhältnisses zwischen realem Objekt und spezifisch sinnlichem Bewußtsein bleibt maßgebend. So muß der Nachweis der künstlerischen Spezifik eine vage Andeutung bleiben. Bei dem zweiten Punkt handelt es sich um die mechanistische Auffassung der Assoziation. Helmholtz, Wundt, Fechner, Mach atomisieren das sinnliche Bewußtsein in unzählige, in sich unveränderliche Empfindungselemente, die sich zu bestimmten Komplexen assoziieren, nicht aber ineinander übergehen, sich nicht zu dialektischen Einheiten verbinden können. Falsch ist nicht ihre Behauptung, daß „schlechthin Beliebiges" miteinander verknüpft werden kann. Falsch ist ihre Annahme, daß die miteinander verknüpften Elemente, gleichgültig in welcher Verbindung sie auftreten, in sich invariant bleiben. Im praktischen psychischen Verlauf existieren Empfindungselemente überhaupt nicht. Es gibt nur „ganzheitliche Gebilde" (Rubinstein), also z. B. Wahrnehmungen, in denen eine bestimmte Anzahl von Empfindungen zusammentreten,
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die aber immer mehr sind als deren bloße Summierung. Sie sind als Ganzes ebenso veränderlich wie die Teile veränderlich sind, aus denen sie bestehen. Ursache ist sowohl die dialektische Einheit (Komplexibilität) als auch die Veränderlichkeit der Reizerreger. Wenn man allerdings, wie das bei der Elementen- bzw. Assoziationspsychologie der Fall ist, die Erkennbarkeit der Qualität und des Zustands der äußeren Objekte leugnet, geht der Zusammenhang der Welt und des Bewußtseins verloren und wird der Ablauf des Seelenlebens reduziert auf eine mechanische Umgruppierung invarianter Elemente. Fiedler steht ganz unter dem Einfluß der Elementen- bzw. Assoziationspsychologie. Er meint, sobald ein Begriff das Bewußtsein einnehme, entschwinde die Anschauung bzw. umgekehrt, sobald eine Anschauung das Bewußtsein beherrsche, vergehe das Getastete, Gehörte, Gerochene bzw. umgekehrt usw. Kunsttheoretisch geht sein Bestreben dahin, die „Assoziationen" aus dem Gebiet der Sichtbarkeit auszuscheiden. Wieder geht er einen Irrweg^Sofern er die optischen Bewußtseinsvorgänge in ihrer Vorherrschaft über andere untersucht, kommt er der Spezifik nahe. Sofern er aber die Anschauung isoliert, verfällt er dem Formalismus. Die in der künstlerischen Tätigkeit vollzogene anschauliche Verallgemeinerung entdeckt er zwar, das Problem selbst bleibt aber ungelöst. Es ist das auch gar nicht anders zu erwarten, wenn man von der ausschließlichen Bewußtseinsimmanenz sowie der absoluten Trennung und der Invarianz psychischer Elemente ausgeht. Das Wesen der künstlerischen Verallgemeinerung besteht ja gerade in der Heranziehung des gesamten Vorstellungs- und Erfahrungsschatzes und in einer dialektischen Verschmelzung bzw. Aussonderung. Trotz grundlegender Einwände ist es nötig, Fiedlers Hinweis nachzugehen. Man darf nicht vergessen, daß Fiedler auf eine richtige Spur stößt, wenn er auf den Zusammenhang zwischen dem Sehen und der künstlerischen Tätigkeit aufmerksam macht. Er bezeichnet die künstlerische Produktion als „Fortsetzung des Sehprozesses". Zwar hat sich die Theorie der bildenden Kunst seit jeher, schon in der Antike und in der Renaissance, mit der Optik beschäftigt. Es geschah das aber einmal auf eine beschränkt empirische Art. Bei einigen griechischen Tempelbauten wurde z. B. das Geison des Giebeldreiecks nach oben leicht gewölbt. Man wollte dadurch eine optische Täuschung ausgleichen. Wenn man die Grundlinie eines Dreiecks betrachtet, so scheint es, als ob sie nach unten konvex gekrümmt wäre. Durch eine leichte Wölbung nach oben wird die optische Täuschung kompensiert. Man nannte einen solchen Ausgleich eine „Temperatur". Weitere Beispiele für „Temperaturen" sind die Entasis der altgriechischen Säulen und Proportionsänderungen bei hoch aufgerichteten Bildwerken. Probleme der künstlerischen Sichtbarkeit wurden schon von antiken Schriftstellern in der „Optik" behandelt. Sie spielten auch bei Renaissancetheoretikern wie Alberti, Ghiberti etc. eine Rolle. Zu gesetzmäßigen Verallgemeinerungen konnte man auf Grund des naturwissenschaftlichen Forschungsstandes freilich noch nicht kommen. Zum anderen geschah die Beschäftigung mit dem Sehen auf eine wissenschaftlichmathematische Art. In der Renaissance entdeckten Künstler die Gesetze der Zentralperspektive. Mit Hilfe eines streng geometrischen, sich auf einen einheitlichen Fluchtpunkt beziehenden Grund-Aufrißverfahrens versuchten sie, die Illusion der Raumtiefe auf der ebenen Bildfläche zu erreichen. So schreibt z. B. Leonardo über die per-
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spektivisch verkleinerten Proportionen: „Der zweite Gegenstand, der vom ersten ebenso weit entfernt ist wie der erste vom Auge, wird um die Hälfte kleiner erscheinen als der erste, obwohl beide gleich groß sind." 128 Dürer praktiziert die gleiche Auffassung am augenscheinlichsten, wenn er die Instrumentarien zu seiner Schrift „Unterweisung der Messung" darstellt (z. B. „wie eine Laute gezeichnet wird"). 129 In beiden Fällen entspricht die mathematisch konstruierte Perspektive aber nicht der eigentlichen Gesichtswahrnehmung. Der optische Analysator, der aus dem Sinnesorgan (Rezeptor), den Nervenbahnen und den entsprechenden Gehirnrindenabschnitten besteht, formt die realen Eindrücke um. Wenn man einmal so sagen darf: das „Hirnrindenbild" weicht ab vom Bild einer geometrischen Messung, es weicht sogar ab vom Netzhautbild des Rezeptors, d. h. des Auges. Da uns nur das „Hirnrindenbild" zu Bewußtsein kommt, ist das Abbild der Gesichtswahrnehmung immer schon im gewissen Sinn modifiziert. Psychische Gesetze wirken „übersetzend". Wesentlich in diesem Zusammenhang ist, daß weder die empirisch, noch die mathematisch ausgerichtete Kunsttheorie der Antike und der Renaissance präzise Kenntnis von diesen psychischen Grundlagen des Sehens hatte. Die eine Richtung gelangte nicht zu gesetzmäßigen Verallgemeinerungen, die andere identifizierte irrtümlich geometrische Gesetze mit physiologischen bzw. psychologischen Sehgesetzen. Fiedler aber konnte sich auf die ersten Resultate einer Empfindungspsychologie stützen, welche sowohl aus experimentellen Ergebnissen Gesetze abzuleiten wußte als auch den spezifischen Unterschied zwischen Messung und optischer Wahrnehmung berücksichtigte. Die Forschung seiner Zeit gab die Grundlage ab für die Einsicht, daß die Gesetze des Sehens in den Gesetzen der künstlerischen, d. h. bildnerischen Tätigkeit ihre Fortsetzung und Ausbildung erfahren. Diese Einsicht fortzuentwickeln, freilich methodologisch und weltanschaulich richtig, muß u. a. auch die Aufgabe einer realistischen Theorie der bildenden Kunst sein. Fiedler konnte sie nur idealistisch verkehrt verwerten. 2. Isolierung der Anschauung Fiedlers erster Schritt bei der Isolierung der Anschauung beruht auf seiner subjektiv idealistischen Grundkonzeption. Er behauptet: Sichtbarkeit sei keine Eigenschaft eines materiellen Objektes. Ein solches existiere überhaupt nicht. Existent sei nur ein in unserem Bewußtsein vorhandenes „sinnlich Vielfaches", in dem sich Elemente der Tastbarkeit, Hörbarkeit, vor allem aber der Sichtbarkeit „assoziieren". Fiedler identifiziert die objektive Sichtbarkeit mit der subjektiven Anschauung. Die Tatsache, daß in den Farbempfindungen die physiologische Transformierung besonders stark wirkt, nimmt er zum Anlaß, das Umformen zum Neuschaffen zu verabsolutieren und bezüglich der Raum- und Formempfindungen ebenfalls jede Abhängigkeit von objektiven Einwirkungen zu bestreiten. Fiedler betont, jeder Vergleich zwischen realem Vorbild und bewußtseinsmäßigem Abbild, jede Feststellung einer Übereinstimmung oder NichtÜbereinstimmung sei überflüssig. Es würde keinen Unterschied zwischen Richtigsehen und Falschsehen geben. Wenn man darüber zu urteilen meine, ob eine Gesichtswahrnehmung oder Gesichtsvorstellung mit einer sichtbaren Wirklichkeit übereinstimmt, so
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III. Kunst als „reine" Sichtbarkeit
spektivisch verkleinerten Proportionen: „Der zweite Gegenstand, der vom ersten ebenso weit entfernt ist wie der erste vom Auge, wird um die Hälfte kleiner erscheinen als der erste, obwohl beide gleich groß sind." 128 Dürer praktiziert die gleiche Auffassung am augenscheinlichsten, wenn er die Instrumentarien zu seiner Schrift „Unterweisung der Messung" darstellt (z. B. „wie eine Laute gezeichnet wird"). 129 In beiden Fällen entspricht die mathematisch konstruierte Perspektive aber nicht der eigentlichen Gesichtswahrnehmung. Der optische Analysator, der aus dem Sinnesorgan (Rezeptor), den Nervenbahnen und den entsprechenden Gehirnrindenabschnitten besteht, formt die realen Eindrücke um. Wenn man einmal so sagen darf: das „Hirnrindenbild" weicht ab vom Bild einer geometrischen Messung, es weicht sogar ab vom Netzhautbild des Rezeptors, d. h. des Auges. Da uns nur das „Hirnrindenbild" zu Bewußtsein kommt, ist das Abbild der Gesichtswahrnehmung immer schon im gewissen Sinn modifiziert. Psychische Gesetze wirken „übersetzend". Wesentlich in diesem Zusammenhang ist, daß weder die empirisch, noch die mathematisch ausgerichtete Kunsttheorie der Antike und der Renaissance präzise Kenntnis von diesen psychischen Grundlagen des Sehens hatte. Die eine Richtung gelangte nicht zu gesetzmäßigen Verallgemeinerungen, die andere identifizierte irrtümlich geometrische Gesetze mit physiologischen bzw. psychologischen Sehgesetzen. Fiedler aber konnte sich auf die ersten Resultate einer Empfindungspsychologie stützen, welche sowohl aus experimentellen Ergebnissen Gesetze abzuleiten wußte als auch den spezifischen Unterschied zwischen Messung und optischer Wahrnehmung berücksichtigte. Die Forschung seiner Zeit gab die Grundlage ab für die Einsicht, daß die Gesetze des Sehens in den Gesetzen der künstlerischen, d. h. bildnerischen Tätigkeit ihre Fortsetzung und Ausbildung erfahren. Diese Einsicht fortzuentwickeln, freilich methodologisch und weltanschaulich richtig, muß u. a. auch die Aufgabe einer realistischen Theorie der bildenden Kunst sein. Fiedler konnte sie nur idealistisch verkehrt verwerten. 2. Isolierung der Anschauung Fiedlers erster Schritt bei der Isolierung der Anschauung beruht auf seiner subjektiv idealistischen Grundkonzeption. Er behauptet: Sichtbarkeit sei keine Eigenschaft eines materiellen Objektes. Ein solches existiere überhaupt nicht. Existent sei nur ein in unserem Bewußtsein vorhandenes „sinnlich Vielfaches", in dem sich Elemente der Tastbarkeit, Hörbarkeit, vor allem aber der Sichtbarkeit „assoziieren". Fiedler identifiziert die objektive Sichtbarkeit mit der subjektiven Anschauung. Die Tatsache, daß in den Farbempfindungen die physiologische Transformierung besonders stark wirkt, nimmt er zum Anlaß, das Umformen zum Neuschaffen zu verabsolutieren und bezüglich der Raum- und Formempfindungen ebenfalls jede Abhängigkeit von objektiven Einwirkungen zu bestreiten. Fiedler betont, jeder Vergleich zwischen realem Vorbild und bewußtseinsmäßigem Abbild, jede Feststellung einer Übereinstimmung oder NichtÜbereinstimmung sei überflüssig. Es würde keinen Unterschied zwischen Richtigsehen und Falschsehen geben. Wenn man darüber zu urteilen meine, ob eine Gesichtswahrnehmung oder Gesichtsvorstellung mit einer sichtbaren Wirklichkeit übereinstimmt, so
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vergleiche man im Grund nur das Sichtbare mit dem Resultat eines anderen Sinnes. Man prüfe es an einer nicht-visuellen Qualität. D a s sei aber unzulässig, Sichtbares könne nur am Sehen selbst geprüft werden. 130 Fiedler verwirft die Annahme, „daß wir das, was wir sehen, auch tasten und infolgedessen wägen und messen, daß wir es vielleicht hören oder schmecken oder riechen können. Diese Ausdrucksweise ist deshalb irreführend, weil man das, was man sieht, jedenfalls durch die Tätigkeit keines anderen Sinnes wahrnehmen kann, als durch die des Gesichtssinnes." 1 3 1 Auf das Problem der optischen Täuschung eingehend, stellt Fiedler fest: Spiegele das Auge die Existenz von etwas vor, was nicht vorhanden ist, so beziehe sich dieses Nichtvorhandensein nicht auf das, was man sieht, denn das sei vorhanden, sondern auf das, was niemals gesehen werden kann. Wahrheitsgemäß müsse man sagen, das Auge sehe etwas anderes, als z. B. der Tastsinn fühle. Diese Auffassung erinnert lebhaft an das bekannte Beispiel von E . Mach, ein ins Wasser getauchter Bleistift sei optisch wirklich geknickt, haptisch und metrisch dagegen gerade. Man dürfe den Augenschein nicht an der tastbaren Form messen und etwa sagen, der Bleistift erscheine nur geknickt, ohne es in Wahrheit zu sein. Die sichtbare Form habe dieselbe Berechtigung wie die tastbare. Beide Formen könne man höchstens als Konglomerat betrachten. 132 Wie Mach sieht sich Fiedler gezwungen, den objektiven Zusammenhang subjektiv verzerrt wieder einzuführen. D i e Formen, so gibt er an, könnten sich „assoziieren". D a s Zauberwort „Assoziation" soll den Ersatz bilden für die wirkliche Erklärung. Von diesem subjektiv idealistischen Standpunkt aus hat Fiedler kein Kriterium für den Unterschied zwischen Empfindungen bzw. Wahrnehmungen einerseits, die richtige, wahre Abbilder der objektiven Welt sind, und Halluzinationen, Illusionen und Sinnestäuschung andererseits. Was Wahrheit und was Irrtum ist, kann er nicht nachprüfen. Ein offenbares Problem versucht er dadurch zu lösen, daß er die Problematik überhaupt nicht als vorhanden anerkennt. Bei dem Beispiel Machs handelt es sich um eine optische Täuschung. Betrachtet man es genauer, so findet man, daß sich der täuschende Schein besonders durch das Aufdrängen der Überzeugung, d. h. des Urteils verstärkt, der „optische" Bleistift sei mit dem „haptisch-metrischen" Bleistift identisch, während andererseits zugleich der Widerspruch einer solchen Identität bewußt wird. D a ein logischer Widerspruch nicht existieren kann, ergibt sich die Notwendigkeit, einen der beiden Sachverhalte für falsch zu halten und durch eine genauere Auffassung der materiellen Welt die Täuschung zu beseitigen. Als Kriterium dient die Praxis. Dank ihrer können wir die der Wirklichkeit adäquaten Aussagen der Sinnesorgane unterscheiden von Halluzinationen, Illusionen und Sinnestäuschungen. Fiedler meint, solange „Assoziationen" auftreten, befinde sich das Bewußtsein in einem unentwickelten Zustand. Eine Fortentwicklung könne sich aber nie für alle sinnlichen Qualitäten gemeinsam vollziehen. E s sei nur möglich, jeweils eine von ihnen zur Klarheit und Deutlichkeit emporzubilden: „Jeder Versuch, das, was sich als ein sinnlich Vielfaches in einer gewissen Entfernung zeigt, uns in seinem gesamten sinnlichen Reichtum nahe und immer näher
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zu bringen, muß mißlingen. Indem wir die sinnliche Mannigfaltigkeit eines Eindrucks als solche zu erfassen und uns anzueignen suchen, vermögen wir doch nur eine einzelne Sinnesqualität zu ergreifen. Zu Gunsten dieser einen treten die anderen zurück; ja sie werden bis zu beinahe gänzlichem Verschwinden aus der Wahrnehmung vertrieben, je intensiver wir uns den Eindruck der einen Sinnesqualität zu machen vermögen." 1 3 3 Fiedler ist aber auf dem Holzweg, wenn er die unmittelbar anschauliche Aneignung der Wirklichkeit aus der sinnlichen Aneignung schlechthin auszuklammern versucht. D i e objektiven Gegenstände, Erscheinungen, Vorgänge etc. sind komplexer Natur, d. h. sie vereinen in sich zahlreiche sich unterscheidende Eigenschaften. In der Regel wirken mehrere dieser Eigenschaften zugleich auf die menschlichen Sinnesorgane ein, verursachten Erregungsprozesse, die über die zentripetialen Nerven in Abschnitte der Großhirnrinde weitergeleitet werden, wo sie die Empfindungen auslösen. D a die E r reger komplexer Natur sind, bilden auch die gehirnphysiologischen Erregungsprozesse bestimmte Verbindungen. Das hat wiederum zur Folge, daß die Empfindungen nur komplex, d. h. als dialektische Einheiten existieren. In den Wahrnehmungen treten sie zu Ganzheiten - es sind das die eigentlichen sinnlichen Abbilder des Bewußtseins zusammen. Ohne der idealistischen Interpretation der sogenannten Ganzheits- oder Gestaltpsychologie zu verfallen, muß man von einem „Ganzheitscharakter der Wahrnehmungen" sprechen. Sowjetische Forscher wie Rubinstein, Kornilow, Smirnow und Teplow haben in dieser Hinsicht ausführliche Untersuchungen angestellt. Sie weisen darauf hin, daß das dialektische Ganze immer mehr ist als die mechanische Summe seiner Teile, d. h. die Wahrnehmung mehr ist als die bloße Summierung ihrer Empfindungen m . Auch I. P. Pawlow hat in seinen Untersuchungen über die bedingten Reflexe bewiesen, daß bei Erregungskomplexen die Wahrnehmungen nicht von der Individualität einzelner Reize, sondern von der Eigenart des Zusammenhanges abhängig sind. Mit dieser Feststellung dürfte sowohl Fiedlers Behauptung widerlegt sein, daß der Gegenstand eine mechanische Summe sinnlicher Qualitäten, ein „sinnlich Vielfaches" ist, als auch die Annahme, daß ein näheres Bewußtwerden zur Isolierung einer einzigen Sinnesqualität führt. An der Bildung der Wahrnehmungen sind immer Erregungen aus mehreren Sinnesgebieten beteiligt, die sich gegenseitig erheblich beeinflussen. Dabei handelt es sich nicht nur um unmittelbare Reize, sondern auch um Einwirkungen aus der vorausgegangenen, zu einem bestimmten Vorstellungsbesitz erhobenen Erfahrung. Selbst wenn wir einen Gegenstand nur sehen, also andere als optische Erreger nicht wirksam sind, verschmelzen Tast- und Temperatur-, unter Umständen auch akustische Vorstellungen mit dem Gesehenen zu einer dialektischen Einheit. Trotzdem kann man freilich von Gesichts-, Tast-, Gehörwahrnehmungen etc. sprechen. Die Reize werden nicht in gleicher Weise empfunden. Einer tritt immer in den Vordergrund und beansprucht einen spezifischen Sinn: „Wenn man vom Einfluß des Ganzen auf die Wahrnehmung der Teile spricht, so besteht dieser im wesentlichen 1. in der inneren Wechselwirkung und gegenseitigen Durchdringung der Teile und 2. darin, daß einige dieser Teile beherrschende Bedeutung für die Wahrnehmung der übrigen haben. Jeder Versuch, das Ganze von der Einheit seiner Teile zu lösen, ist eine
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Mystifizierung. Jeder Versuch, die Teile im Ganzen aufgehen zu lassen, führt unweigerlich zur Selbstaufhebung des Ganzen" (S. L. Rubinstein) 135 . J e nach der sinnlichen Qualität, die bei der unmittelbaren Aneignung dominiert, bezeichnet man die Wahrnehmung. D a s bedeutet jedoch nicht, daß etweder der Gesichtssinn oder der Tastsinn oder der Gehörsinn das sinnliche Abbild konstituieren. D a s bedeutet nur, daß jeweils einer von ihnen der führende Sinn ist. Was die Gesichtswahrnehmungen angeht, beweisen zahlreiche psychologische Versuche, daß gerade bei ihnen der Anteil aus anderen Sinnesgebieten eine besondere Rolle spielt. Ich erinnere an die Bewegungsempfindungen der Augen, an Synästhesien (z. B. „Farbenhören") etc. 136 . Selbst in der bildenden Kunst, der Fiedlers Isolierungsprozeß letztlich zugute kommen soll, gibt es kein „reines" Augenerlebnis. W. Waetzoldt, der seine Untersuchungen hauptsächlich auf psychologischen Ergebnissen aufbaut, erklärt sehr richtig: „Wenn das Auge aufgerufen wird, so melden sich auch zugleich die anderen Sinne. Man wähnt bei der Betrachtung eines Bildes es nur mit dem Sehen zu tun zu haben, aber schon sind die Sinneskameraden, das Hören, das Riechen, das Tasten, auch zur Stelle. Aufs engste versippt hängen unsere Sinne aneinander. Der eine zieht den anderen nach sich, läßt sich von ihm begleiten. D a s ist ein Lebensgesetz der Kunst, auf das sich der Künstler verlassen kann und verlassen muß. Vor einem Bildwerk sind wir ,ganz Auge', aber nun begibt sich das Wunder: wir sehen zugleich, was hart, was weich ist, wir sehen Wärme und Kälte , . . . und durchs Auge schleicht die Kühle sänftigend ins Herz hinein'." 137 Fiedlers zweiter Schritt besteht in der Isolierung der Sichtbarkeit von der Tastbarkeit. Zumeist schwanke die Kenntnis, die wir von der „Form" eines „sinnlich Vielfachen" haben, zwischen den Daten, die der Gesichtssinn, und den Daten, die der Tastsinn liefere. J e genauer man sie aber kennen lernen wolle, desto weniger ziehe man den Gesichtssinn zu Rate und desto mehr verlasse man sich auf den Tastsinn. Schließlich verstehe man unter „Form" überhaupt nur noch die tastbare, meßbare, berechenbare Form. In Wahrheit gäbe es aber keine „Form schlechthin". Fiedler nimmt an, daß das „sinnlich Vielfache" soviel Formen hat, wie sinnliche Qualitäten an ihm beteiligt sind. Man könne nicht die gleiche Form sehen, die man auch taste, bzw. greife. Zwischen der Form, die in das Gebiet des Gesichtssinnes, und der Form, die in das Gebiet des Tastsinnes gehört, bestehe keinerlei Ähnlichkeit. Fiedler fordert, die Sichtbarkeit dürfe nicht herabgewürdigt werden, die Gewißheit einer durch den Tastsinn zu konstatierenden „Gegenständlichkeit" zu geben. Sie müsse um ihrer selbst willen erzeugt werden. Habe der Mensch die Isolierung vollzogen, so sei „alles körperlich Feste . . . entzogen, da es eben nichts Sichtbares ist, und der alleinige Stoff, in dem sich sein Wirklichkeitsbewußtsein gestalten kann, sind die Lichtund Farbempfindungen, die er seinem Auge verdankt. D a s ganze ungeheure Reich der sichtbaren Welt enthüllt sich ihm nun angewiesen in seinem Bestand auf den zartesten, gleichsam unkörperlichen Stoff, in seinen Formen auf die Bildungen, zu denen der Einzelne jenen Stoff zusammenwebt." 138 Um den Unterschied zwischen Sichtbarkeit und Tastbarkeit besonders deutlich zu demonstrieren, hat sich Fiedler ein Beispiel ausgedacht: Man möge sich ein „sinnlich Vielfaches" vergegenwärtigen, an dem sowohl haptische als auch optische Qualitäten 7
Faensen
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beteiligt sind. Wolle man die haptischen Qualitäten darstellen, könne man das nur, indem man das „sinnlich Vielfache" selbst wiederhole. Durch die Wiederholung würde aber die ursprüngliche Tastwahrnehmung lediglich zum zweiten Male hervorgerufen. Man komme keinen Schritt weiter. Die haptischen Qualitäten seien aus dem „sinnlich Vielfachen" nicht herauszutrennen. Das Gegenteil sei der Fall bei den optischen Qualitäten. Im gleichen Fall könne man sie als etwas Selbständiges gleichsam loslösen. Indem man nur einen unbeholfenen Umriß ziehe, tue man etwas für den Gesichtssinn, was man für den Tastsinn nie tun könne. Man bringe etwas Neues, etwas völlig anderes hervor, als was vorher den Bewußtseinsbesitz ausmachte. Man schaffe etwas, was die Sichtbarkeit sichtbar darstellt. Fiedler degradiert den Tastsinn. Er erklärt, haptische Qualitäten seien die Produkte eines niederen, optische Qualitäten dagegen die Produkte eines höheren Sinnes. Nur dem Gesichtsinn sei die Möglichkeit gegeben, den sichtbaren Stoff „zu einem Ausdruck seiner selbst zu entwickeln".139 Wie die Psychologie feststellt, spielt der Gesichtssinn im menschlichen Sinnesleben tatsächlich eine primäre Rolle. Soweit hätte Fiedler Recht. Aber seine Erklärung, man könne die haptische „Gegenständlichkeit" eines „sinnlich Vielfachen" nur gemeinsam mit den anderen Qualitäten wiederholen, die Sichtbarkeit jedoch isolieren und selbständig fortentwickeln, ist willkürlich. Der Satz könnte ebenso gut umgekehrt gelten. Ebenso gut könnte die Sichtbarkeit wiederholt und die Tastbarkeit fortentwickelt werden. Es handelt sich um eine fiktive Scheidung. In einem Gebiet der bildenden Kunst, nämlich in der Plastik, spielt der Tastsinn sogar eine ganz besondere Rolle. Selbst Hildebrand gibt zu, daß die plastische Gesichtsvorstellung in Verbindung mit ursprünglich haptischen Qualitäten steht. L. Curtius berichtet einen interessanten Vorfall: Kurz nachdem die Statue der „Aphrodite von Kyrene" im Nationalmuseum in Rom aufgestellt worden war, sei Rodin gekommen und habe sie betrachtet. Er habe sie wie ein Rasender mit den Händen abgetastet, so daß ein Museumsdiener eingeschritten sei. Rodin soll geantwortet haben: „Dies göttliche Werk kann nur verstehen, wer den Hebungen und Senkungen seiner Oberfläche nicht nur mit den Augen, sondern auch mit den .Händen folgt. Wir sind doch Menschen und haben nicht nur Augen zu sehen, sondern auch die wunderbaren Instrumente unserer Hände, um die uns die Tiere so sehr beneiden, um zu fühlen." Verursacht durch die menschliche Praxis, hat sich gerade zwischen den Gesichtsempfindungen und den Haut- und Bewegungsempfindungen, deren Verbindungen die Tastempfindungen ergeben, ein besonders enges, dialektisches Verhältnis herausgebildet. Bei jeder Arbeit wird das „Hantieren" der Kontrolle des Auges unterworfen. Nehmen wir die Sichtbarkeit eines Objektes wahr, so haben wir zugleich die Gewißheit seiner „Gegenständlichkeit". Sichtbarkeit und Tastbarkeit lassen sich nicht, wie Fiedler es will, trennen. Optische und haptische Reizungen sind in ihrer gemeinsamen, ständigen, gleichartigen und regelmäßigen Wiederholung ein sogenanntes äußeres Stereotyp. Die Einwirkung des äußeren Stereotyps auf den menschlichen Sinnesapparat führt dazu, daß sich in der Großhirnrinde bestimmte Ketten von Nervenprozessen zu einem organisierten, ausgeglichenen System festigen, das Pawlow ein dynamisches Stereotyp nennt. Es handelt sich dabei um einen Komplex von bedingten und unbedingten Reflexen.
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Der Tastsinn unterstützt die Augen vor allem bei der Auffassung des Raumes und der Formen. Das hat zwei Ursachen. Die eine ist die: Dynamische Stereotype bilden sich schon in frühester Kindheit heraus, wenn die Gegenstände zugleich gesehen und sorgfältig betastet werden. Auf Grund dessen können wir später Raum- und Formverhältnisse bestimmen, ohne ihre Träger zu berühren. Auf Grund dessen erscheinen uns später bestimmte Gegenstände schwer, andere leicht, obwohl das Sehen keine Empfindung der Schwere oder der Leichtigkeit geben kann. Die Orientierung im praktischen Leben ist nie vermittels einer „reinen" Anschauung möglich. An den Gesichtswahrnehmungen sind, obwohl die optischen Empfindungen überwiegen, immer auch haptische Empfindungen beteiligt. Haben sich die Verbindungen zwischen beiden zu bedingten bzw. unbedingten Reflexen eingeschliffen, so genügt ein spezifischer Reiz, um im sinnlichen Erfahrungsschatz die andere Komponente zu erwecken. So ist der Inhalt der Wahrnehmung immer größer als der Inhalt der unmittelbaren Empfindungen. So können wir Raum- und Formverhältnisse nur unmittelbar bestimmen, weil die haptische Erfahrung hinzutritt. D a wir auf die bedingten bzw. unbedingten Reflexe angewiesen sind, müssen krankhafte Störungen verheerende Folgen haben. Wenn die direkte Aufnahme durch die Sinnesorgane leidet, so spricht man von einer Störung der „Projektionszone". Leiden aber die Einflüsse aus dem Erfahrungsschatz, so spricht man von einer Störung der „Integrationszone". Beide Zonen beruhen auf verschiedenen Abschnitten der Großhirnrinde, deren Erregungen sich miteinander verbinden. Bei einer Erkrankung der „Integrationszone" - und auch nur bei einer Erkrankung, nicht etwa, wie Fiedler annimmt, bei einer bewußten „Konzentration" - wäre sozusagen eine „reine" Anschauung möglich. Im Resultat „bleiben die Empfindungen erhalten, aber die Wahrnehmung selbst ist desorganisiert: Der Kranke nimmt die Gegenstände nicht wahr, obwohl er unverständliche Flecken und Konturen von etwas sieht, was er nicht mit Sinn erfüllen kann ..." 1 4 0 Fiedler und alle impressionistischen Theoretiker schalten - freilich nur in ihren verzerrten theoretischen Abstraktionen - die Einwirkungen der Erfahrung, die natürlich nicht ausschließlich haptischer, sondern auch akustischer, gefühlsmäßiger, begrifflicher etc. Natur sind, radikal aus. Was in Wirklichkeit nur als Anomalität auftritt, erheben sie zum Prinzip der bildenden Kunst. Freilich tun das die Impressionisten immerhin noch mit relativ größerer Berechtigung als Fiedler. Die Auffassung der Farbe, um die es ihnen geht, bezieht haptische Qualitäten nie in dem Maß ein wie die Raum- und Formauffassung, die Fiedler in Anlehnung an Marées und Hildebrand in den Vordergrund stellt. Für letztere gilt besonders, daß Gesichtswahrnehmungen sich nicht „rein" anschaulich vollziehen. Sie sind zugleich „gegenständliche" Wahrnehmungen. Die Raum- und Formverhältnisse der Realität werden als „gegenständliche" Verhältnisse erkannt und wiedererkannt. Selbst wenn nur optische Reize auftreten, ergänzt sie unser Sinnesapparat aus dem seit frühester Kindheit gewonnenen Erfahrungsbesitz. W. Ehrenstein schlußfolgert sogar, „daß Dinge, die reizmäßig unter bestimmten Bedingungen gleiche optische Qualitäten haben, bei Hinzukommen von komplexqualitätlich sich auswirkendem Wissen um die außeroptischen Eigenschaften der Dinge auch in ihren rein optischen Qualitäten verändert werden können". 141 7*
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Die andere Ursache für die Verbindung von optischen und haptischen Qualitäten ist die, daß die Augen selbst eine dem Tastsinn eigentümliche Bewegung aufweisen. Bei der Umstellung des Blicks von einem fernen Gegenstand auf einen nahen oder umgekehrt, drehen sich ihre Achsen (Konvergenz und Divergenz), verkrümmen oder erweitern sich ihre Linsen (Akkomodation). Die Drehung wird durch eine Verkürzung oder Verlängerung der Augenmuskeln bewirkt, ebenso die Linsenveränderung. Dabei entstehen, gewöhnlich unbemerkt, Bewegungsempfindungen, die zu den Gesichtswahrnehmungen erheblich beitragen. Wir betasten gleichsam mit unseren Augen. Selbst wenn ein Gegenstand, wie Hildebrand feststellt, als gut übersehbares „Fernbild" auftritt, also die Augenmuskulatur nicht direkt reizt, spielen diese Verbindungen eine Rolle. Schauend umfahren wir seine Form. Experimentell nachweisbar ist die Einheit zwischen optischen und haptischen Qualitäten bei sogenannten Winkeltäuschungen. Z. B. scheinen sich Parallelen, die von einer Anzahl Querstriche geschnitten werden, einander zu nähern (zu konvergieren) oder sich voneinander zu entfernen (zu divergieren), und zwar je nach Neigung der Querstriche (Höllnersche Muster). Helmholtz hat den Beweis erbacht, daß diese optischen Täuschungen durch Augenbewegungen erzeugt werden v a . Fiedler will die Anschauung isolieren. Optische Empfindungen als solche kommen aber in der Praxis so gut wie niemals vor. Sie sind eine Abstraktion. Es existieren nur Gesichtswahrnehmungen, in denen sie eine dominierende Rolle spielen und in denen sie mit Bewegungsempfindungen und Einwirkungen aus dem Erfahrungsbesitz zu dialektischen Ganzheiten verschmelzen. Freilich kann man bei psychologischen Untersuchungen die optischen Empfindungen durch Abwandlung der Reizbedingungen isolieren. Es zeigt sich dann, daß die Gesichtswahrnehmungen, an denen außeroptische Qualitäten beteiligt sind, auf einer höheren Stufe stehen. Z. B. können wir beim Lesen mit voller Deutlichkeit gleichzeitig nie mehr als sechs bis sieben Buchstaben der gewöhnlichen Druckschrift „sehen", d. h. optisch empfinden. Jedoch lesen wir, d. h. nehmen wir wahr mit Leichtigkeit Wörter von zehn bis zwölf Buchstaben, selbst wenn sie nur für eine Zehntelsekunde gezeigt werden. Unseren unmittelbaren Empfindungen ist nur ein Teil der Buchstaben zugänglich, den übrigen Teil fügen wir aus der Erfahrung hinzu. Das Beispiel beweist, daß eine Wahrnehmung nie reduzierbar ist auf die mechanische Summe der an ihr beteiligten Empfindungen. Es beweist aber auch, daß die Wahrnehmung quantitativ und qualitativ höher steht als die Empfindungen. W i e experimentell festgestellt wurde, sind Wahrnehmungen relativ beständig, klar und deutlich, Empfindungen dagegen flüchtig, unklar und undeutlich. Ein anschauliches Erfassen der Objekte wäre ausgeschlossen, wenn die Wahrnehmungen dieselbe geringe Widerstandskraft gegen Schwankungen der Reize hinsichtlich der Intensität und der qualitativen Zusammengesetztheit zeigen würden wie die Empfindungen. Einerseits aber hat sich durch ererbte und bedingte Reflexe in unserem optischen Analysator ein dynamisches Stereotyp herausgebildet, das eine gewisse Formen-, Farben- und Bewegungskonstanz garantiert. Andererseits sind die Schwankungen der unmittelbaren Reize um so geringer, je komplexer die Reizerreger auftreten 143 . Da alle Objekte mehrere Eigenschaften haben, gibt es isolierte Reize im praktischen Leben so gut wie gar nicht.
2. Isolierung der Anschauung
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Aus diesem Tatbestand geht hervor, daß Fiedler die realen Relationen auf den Kopf stellt. Einmal ist eine Isolierung der Anschauung nur experimentell möglich. In experimentellen Abstraktionen kann aber nicht die Voraussetzung einer Kunsttheorie gefunden werden, die Hinweise für die künstlerische Praxis geben soll. Zum anderen meint Fiedler, Flüchtigkeit, Unklarheit, Undeutlichkeit des sinnlichen Bewußtseins seien zurückzuführen auf „Assoziationen" unterschiedlicher Sinnesqualitäten. In der künstlerischen Tätigkeit sieht er eine Steigerung deshalb, weil in ihr die Anschauung „gereinigt" wird. Das Gegenteil ist der Fall. Unvollkommen sind die „rein" optischen Qualitäten, wie sie sich in isolierten Empfindungen zeigen. Beständigkeit, Klarheit und Deutlichkeit werden erst erreicht durch die Verbindungen mit außeroptischen Qualitäten. Solche Verbindungen existieren in den Wahrnehmungen, mehr noch in den Vorstellungen. Eine qualitativ hochgradige Steigerung vollzieht sich in der künstlerischen Tätigkeit. Das typisierte Bild zeichnet sich aus durch den Reichtum der dialektischen „Übersetzung" zahlreicher anderer Sinnes-, Gefühls- und Begriffsqualitäten ins Anschauliche. Die Isolierung, die Abstraktion der Anschauung führt nicht zur Kunst hin, sondern von der Kunst weg. Fiedlers dritter Schritt beruht auf der Reinigung der Sichtbarkeit vom Fühlen - von ihm auch Empfinden genannt - und vom begrifflichen Denken bzw. Erkennen. Wie er angibt, sind einerseits Gefühlserlebnisse und ästhetische Lustempfindungen, andererseits begriffliche Prozesse abhängig von optischen Qualitäten. In beiden Fällen komme die Abhängigkeit der Anschauung selbst aber nicht zugute.144 Fiedler stellt fest: „Empfinden und Denken vernichtet... die Sichtbarkeit der Erscheinung und setzt eine andere Form des Seins an ihre Stelle." 145 Das „Erwachen des Gefühls" und das „Auftreten des Begriffs" würden den „Endpunkt der Anschauung" bezeichnen.146 Sowohl das eine als auch der andere täusche uns über die Beschaffenheit unserer optischen Qualitäten. Wir könnten die Täuschung nur dadurch zerstören, „daß wir unseren sichtbaren Wirklichkeitsbesitz aus jenen Verbindungen, die er beständig in unserem Bewußtsein einzugehen versucht, lösen. Erst dann haben wir es wirklich und ausschließlich mit einem sichtbaren Sein zu tun." 147 . Die Herauslösung erfolge durch die künstlerische Tätigkeit. In ihr würden sowohl die gefühlsmäßigen als auch die begrifflichen Qualitäten eliminiert. Ihr Wesen beruhe „ganz ausschließlich auf dem Auge." 148 Die künstlerische Anlage stelle sich so dar, „daß auf Grund der allgemeinen Voraussetzung, nach der die Wirklichkeit nichts anderes ist als ein Produkt der sinnlich-geistigen Natur des Menschen, es in diesem besonderen Falle das Auge ist, dem der wesentliche Anteil an der Hervorbringung des Weltbildes zufällt." „Anstatt nun an diesem Punkte einzuhalten und das Gewonnene einem fremden Strome zuzuleiten, isoliert sich vielmehr im Künstler die Tätigkeit des Auges und, während die Entwicklungen, die sich auf Grund anderer Sinnestätigkeiten vollziehen, unterbrochen und zum Stillstand gebracht werden, vollzieht sich hier all-
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mählich eine Entwicklung, die sich in einer ganz eigentümlichen und selbständigen Welt von Gestaltungen darstellt." 149 Fiedler erklärt, in der künstlerischen Tätigkeit sei die Anschauung „rein um ihrer Sichtbarkeit willen vorhanden". 150 Fiedler geht davon aus, daß - wenn auch nicht im unentwickelten, so doch im entwickelten Bewußtsein - eine Herauslösung der optischen Elemente vor sich geht. Das Gegenteil ist der Fall. I. P. Pawlow hat drei, einander dialektisch bedingte Instanzen der Nervenarbeit festgestellt, die den Abbildcharakter vermitteln. Die erste ist eine Funktion der unteren Abschnitte des Zentralnervensystems, des Rückenmarks und der subkortikalen Teile des Gehirns. Sie besteht aus den ständigen angeborenen Nervenverbindungen, den unbedingten Reflexen. Psychologisch findet sie in Instinkten, Trieben, Affekten und Gefühlen ihren Ausdruck. Auf der Grundlage der ersten erhebt sich eine zweite Instanz, die eine Funktion der Großhirnrinde ist. Sie setzt sich aus den erworbenen, zeitweiligen Nervenverbindungen zusammen, aus den bedingten Reflexen. Psychologisch drückt sie sich in Wahrnehmungen aus. Sie ist zugleich das erste Signalsystem. Beide Instanzen bilden wiederum die Voraussetzung für eine dritte. Auch sie ist eine Funktion der Großhirnrinde, besonders aber der Stirnlappen. Sie gründet sich auf bedingte Reflexe, denen, im Unterschied zum ersten Signalsystem, keine unmittelbaren und konkreten Reize entsprechen, sondern mittelbare und abstrakte. Es handelt sich um das zweite Signalsystem, dessen Charakteristikum die Sprache ist. In der Sprache wird von den unmittelbaren und konkreten Reizen abstrahiert, indem diese durch die verallgemeinernden Wörter ersetzt werden. So treten zu den unmittelbaren Signalen die mittelbaren „Signale der Signale", die kinästhetischen Reizungen der Sprachorgane hinzu. Wie Pawlow erklärt, sind alle drei Instanzen qualitativ verschieden, bilden aber eine dialektische Einheit. Keine kann von den anderen isoliert werden. Das gilt auch für die Anschauung. Sie gehört zur zweiten Instanz, steht also sozusagen zwischen Fühlen und Denken (Sprechen). Trotz ihrer qualitativen Eigenart, sind Komponenten des Gefühls und des begrifflichen Denkens in ihr von vornherein angelegt. Wenn sie in der bildnerischen Tätigkeit gegenüber den gefühlsmäßigen und den begrifflichen Qualitäten die übergreifende Seite darstellt, so bedeutet das nicht, daß diese eliminiert, sondern daß sie integriert werden. Natürlich kann es im Resultat Kunstwerke geben, in denen sentimentale oder schönfärberische bzw. literarische oder wissenschaftliche Momente aufdringlich wirken. Solche Fälle bestätigen aber nicht Fiedlers Isolationsstandpunkt. Sie geben keinen Anlaß zu der Annahme, eine dialektische Integration dürfe nicht stattfinden. Sie beweisen im Gegenteil, daß die Integration vollzogen werden muß, und zwar in vollkommener Weise vollzogen werden muß. In solchen Fällen haben sich nämlich gefühlsmäßige bzw. gedankliche Momente nicht in der Anschauung inkarniert, sondern bleiben ein unaufgelöstes, zusätzliches, störendes Beiwerk. Das „Erwachen des Gefühls" und das „Auftreten des Begriffs" bezeichnen keineswegs den „Endpunkt der Anschauung", vielmehr tragen sie bei zu ihrer inhaltlichen Fülle und zu ihrem inhaltlichen Reichtum. Jede Anschauung hat ihren besonderen Gefühlston und ihre besondere begriffliche Bedeutung, ohne daß sie deshalb mit einem
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Gefühl oder einem Begriff identisch wäre. Eine isolierte, d. h. „reine" Anschauung gibt es nicht. Was das Gefühl anbelangt, so erklärt Fiedler: „Wenn wir uns recht beobachten, so werden wir finden, daß wir von Seiten der Empfindung nicht eine Anregung, eine Förderung bei der Entwicklung unserer anschaulichen Vorstellung, vielmehr eine Hinderung empfangen. Das Interesse unseres Gefühls ist ein anderes, als das Interesse anschaulicher Auffassung, und wenn jenes in den Vordergrund unserer Seelentätigkeit tritt, so muß dieses zurückstehen. Beharren wir z. B. bei der Empfindung für die Schönheit eines Gegenstandes, so vermögen wir uns mit dieser Empfindung ganz zu durchdringen, sie zum vorherrschenden Inhalt unseres momentanen Daseins zu machen, ohne auch nur einen Schritt in der anschaulichen Beherrschung des Gegenstandes vorwärts zu tun. In dem Augenblick aber, wo uns das Interesse an der Anschauung wieder packt, müssen wir jede Empfindung vergessen können, um das anschauliche Verständnis des Gegenstandes um seiner selbst willen verfolgen zu können. Daß viele die Anschauung in Empfindung umsetzen, ist ein Grund, warum ihre Anschauung auf einer niedrigen Stufe der Entwicklung stehen bleibt." 151 Mit dieser Argumentation trifft Fiedler die Gefühlsduselei der zeitgenössischen Historien-Malerei. Natürlich zeichnet sich die künstlerische Tätigkeit nicht durch sentimentale Stimmungen, sondern durch einen besonderen Grund der Bewußtheit aus. Aber anschauliche Klarheit und Deutlichkeit schließen eine gefühlsmäßige Komponente nicht aus. Sie ist primär dialektisch verwandelt, sekundär assoziativ wirksam. Physiologisch hat das seine Ursache darin, daß sich durch die im optischen Analysator abspielenden Nervenprozesse in den subkortikalen Zentren des Gehirns, insbesondere in den Seh-Hügeln (oberstes Zentrum des sympathischen Teils des vegetativen Nervensystems), Reflexbögen schließen. Das sympathische Nervensystem greift „regulierend" (nicht „determinierend") ein.152 Herztätigkeit, Blutkreislauf, Atmung etc. erhöhen sich, die innere Sekretion verändert sich (Absonderung von Adrenalin) etc. Das Modell von M. B. Arnold und D. B. Lindsley weist nach, daß sich in die kortikale Bearbeitung von Sinnesreizen eine subkortikale Bewertung einreiht. Es ist die Bestätigung des von Pawlow festgestellten Gesetzes der wechselseitigen Induktion zwischen nervlichen Erregungs- und Hemmungsprozessen153. Was sich der Künstler anschaulich aneignet, ist für ihn nie neutral. E i nimmt nicht nur Sichtbarkeit wahr, sondern erlebt auch sein Verhältnis zu ihr. Was zur Anschauung gelangt, ist ein Etwas, das ihn innerlich bewegt, das ihm Freuden und Leiden schafft. Was ihn gleichgültig läßt, wird nie Gegenstand künstlerischer Aneignung. Das emotionale Moment tritt in der künstlerischen Tätigkeit viel stärker hervor als im wissenschaftlichen Erkenntnisprozeß. Allerdings handelt es sich um keinen Animimus, der bei Kindern und sogenannten Primitiven festgestellt werden kann. Ihnen fehlt die Fähigkeit, ein Objekt „an sich" wahrzunehmen. Sie beziehen es immer dergestalt auf sich, daß es selbst ihnen beseelt, d. h. freundlich oder feindlich erscheint, also so, als veranlasse eine innere Regung dasselbe zu einem für den Beschauer angenehmen oder unangenehmen Verhalten. Der Künstler dagegen hat die Fähigkeit, zwischen objek-
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tiven Eigenschaften und subjektiver Reaktion zu unterscheiden. Er weiß, wie das Objekt „an sich" aussieht. Er weiß es deshalb, weil er der Herrschaft des zweiten Signalsystems unterliegt. Er ist, ebenso wie der erwachsene bzw. zivilisierte Mensch einem auf begriffliche Distinktion ausgerichteten Erziehungs- bzw. Entwicklungsprozeß unterworfen worden 154 . Trotzdem betrachtet er das Objekt, wie es „an sich", unabhängig von ihm existiert, nur in sekundärer Hinsicht. Er tut es insofern, als begriffliche Erkenntnismomente in der Anschauung wirksam und als begriffliche Reflexionen für die künstlerische Darstellung notwendig sind. Primär erlebt er sein Verhältnis zu dem, was er betrachtet. Seine gefühlsmäßige Anteilnahme tönt die Wahrnehmung. Z. B. hat für ihn große Bedeutung, ob Farben „regsam, lebhaft strebend" oder zu einer „unruhigen, weichen, sehnenden Empfindung" stimmen (Goethe). Dem Naturwissenschaftler sind die „sinnlich-sittlichen" Wirkungen der Farben unwichtig. Zwar ist er dem Objekt seiner Analyse gegenüber nicht gleichgültig. Immer aber wird er die intellektuelle Kontrolle und die rationale Herrschaft behalten. Z. B. untersucht der Physiker den Farbeindruck hinsichtlich des Farbtons, der Sättigung und des Helligkeitsgrades. Seine eigene subjektive Reaktion wird er auszuschalten versuchen i55 . Was das begriffliche Denken anbelangt, so erklärt Fiedler, es beginne dort, wo das Sehen endet bzw. umgekehrt, „daß das Sehen im Sinne des Künstlers erst da anfängt, wo alle Möglichkeit des Benennens und Konstatierens im wissenschaftlichen Sinn aufhört." 156 In der Wissenschaft, ja in der gewöhnlichen Praxis, entschwinde die Anschauung als solche, sobald der Punkt erreicht ist, wo der Übergang zum Begriff erfolgt 157 . Selbst wenn man etwas Sichtbares genau beschreibt, so berechtige das noch nicht zu der Meinung, daß sein Aussehen visuell bewußt sei, „denn in demselben Augenblick, in dem wir das Gesehene aussprechen, ist es nicht mehr ein Gesehenes; in dem sprachlichen Ausdruck führen wir etwas in das Bewußtsein ein, was nicht aus dem Stoff besteht, der durch die Gesichtsempfindung geliefert wird, und daher, anstatt der Entwicklung des Gesichtsbildes zugute zu kommen, dieselbe vielmehr unmöglich macht." 158 Gerade die wissenschaftliche Beschäftigung, die es mit der sichtbaren Seite der Natur zu tun habe, pflege die künstlerische Anlage zu unterminieren. Sie laufe „nicht auf ein Sehen, sondern auf ein Wissen hinaus". Ihr Maßstab könne daher nicht der Maßstab künstlerischer Gestaltung sein. Die Psychologie bestätigt in bezug auf den empirischen Tatbestand die Annahme Fiedlers, daß die Anschauung in der alltäglichen Praxis und in der wissenschaftlichen Forschung unentwickelt bleibt. Die Gesichtswahrnehmungen und Gesichtsvorstellungen, derer wir uns zumeist bedienen, sind summarisch und unvollkommen. Kaum machen wir uns die Mühe, das Blatt eines Baumes, den Hund des Nachbarn, den Kollegen im Betrieb genau anzusehen. W i r stellen nur fest: das ist ein Lindenblatt, das ist ein Pudel, das ist Johannes B. Die meisten von uns sind nicht imstande, sich die Äderung des Blattes, die Augenfarbe des Pudels, den Haarschnitt des Kollegen aus der Erinnerung genau zu vergegenwärtigen. Unsere Anschauungen dienen dem begriff-
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liehen Denken, ohne die sichtbaren Erscheinungen allseitig erfaßt zu haben. Für die Orientierung und den Gebrauch ist das zumeist auch gar nicht nötig. Beim gewöhnlichen Umgang mit den Objekten brauchen wir gar keine vollständigen und exakten Wahrnehmungen. N . N . Wolkow stellt fest: „In der alltäglichen Praxis entsteht die Aufgabe der Wahrnehmung der Form lediglich nebenbei; der Prozeß der Wahrnehmung der Form bricht ab, sobald der Wahrnehmende das Ding erkannt hat. D a s Erkennen genügt vollkommen, um das Ding zu benutzen." 159 N . N . Wolkow weist ausdrücklich darauf hin, daß das Sehen des Wissenschaftlers, des Technikers, des Ingenieurs etc. die gleichen Unvollkommenheiten aufweist. Nur im Prozeß der künstlerischen Tätigkeit, so meint er, „erhebt sich die visuelle Wahrnehmung bestimmter Seiten des Gegenstandes, der Form, der Farbe und der Lage auf eine viel höhere Stufe. Sie entwickelt und offenbart dabei alle ihre Möglichkeiten. Sie zeigt das offensichtlich und aufgegliedert, was in den anderen Aufgaben, die dem Sehvermögen vom Leben gestellt werden, summarisch und unexakt gelöst wird." 1 6 0 In der künstlerischen Tätigkeit konzentrieren sich sozusagen die Erfahrungen aller der Berufe, die sich mit sichtbaren Erscheinungen auseinandersetzen müssen, jedoch das nur wie das Beispiel der Seidenfärberei zeigt - in einer einseitigen Richtung tun. Der Künstler ist gezwungen, das Anschauungsvermögen allseitig zu entwickeln. In ihm vereinen sich die Fähigkeiten des Färbers, Webers, Eisenbahners, Jägers etc. und schlagen dialektisch um in eine neue, praktisch-geistige Qualität. Seine Wahrnehmungen sind nicht „begriffsstutzig", wie die der meisten Menschen, sondern allseitig „begreifend". 1 6 1 Zusammengefaßt für die Wissenschaft erschöpft sich der Wert der Anschauung darin, daß diese den „Übergang" zum Begriff ermöglicht. Für die künstlerische Tätigkeit dagegen besitzt sie eine selbständige, von aller begrifflichen Abstraktion unabhängige Bedeutung. In ihr wird sie uim ihrer selbst willen ausgebildet. Aber Fiedler irrt, wenn er den „Übergang" mechanisch und nicht dialektisch auffaßt. Weder wird in wissenschaftlicher Hinsicht die Anschauung total durch den Begriff verdrängt noch muß in künstlerischer Hinsicht der Begriff eliminiert werden, wenn die Anschauung zur Entwicklung gelangen soll. Der Begriff löst sich von der unmittelbar wahrgenommenen Erscheinung, ohne die Verbindung zu ihr zu verlieren. Die Anschauung konzentriert sich auf dieselbe, ohne das Denken auszuschalten. Die begriffliche Qualität geht, dialektisch umgeformt, in die Anschauung ein. So vermag sie auf ihrem eigenen Boden die Objekte als bezeichnete und damit, wenn auch erkenntnistheoretisch nicht vollgültig, als begriffene wahrzunehmen. Ohne in begriffliche Reflexionen umzuschlagen, erfaßt sie Wesenszusammenhänge, die sich in der Erscheinung ausdrücken, aber über den unmittelbaren sinnlichen Eindruck hinausgehen. Physiologisch ist das möglich auf Grund des untrennbaren Zusammenhangs zwischen dem ersten und dem zweiten Signalsystem. 162 Die Isolierung der Sichtbarkeit, die Fiedler zur Grundlage aller bildenden Kunst erklärt, ist primär nur möglich als theoretische Hypothese. Wie er meint, wird sie von Marées und Hildebrand praktisch verwirklicht. E r täuscht sich darin. Eine Umsetzung in die künstlerische Praxis ist ganz unmöglich. Freilich vertreten beide Freunde seine Auffassung noch nicht einmal in theoretischer Hinsicht. Weit verwandter sind ihm dagegen die Bestrebungen einer Richtung, die er in den „Naturalismus" einreiht 163 , deren
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Konzeption er aber - wie seine Tagebücher und Aufzeichnungen belegen - gar nicht genauer gekannt hat. Ich meine die Theorie des Impressionismus, soweit sie ausgeht von einer im positivistischen Geistesgut verwurzelten Annahme: Gegenstand der künstlerischen Darstellung sei ein subjektives Chaos optischer Empfindungen, das in einem bestimmten Augenblick fixiert und zur Form des Kunstwerks geordnet werde. Um sich von allen historisierenden, gedanklich-ideenhaften und sentimentalen Bildinhalten zu lösen, versucht der Impressionismus, jede vorstellige, vor allem haptische, und jede begriffliche Erfahrung auszuschalten und sich auf „rein" farbige Impressionen zu beschränken. Die malerische Verwendung der Farbe emanzipiert sich darüber hinaus vom Zeichnerischen, Plastischen und Tektonischen, ja sogar von der sogenannten Gedächtnisfarbe bzw. der Lokalfarbe. W. Hess schreibt: „Mit diesem Schritt aber, der die Farbe von der Bindung an die körperlichen Dinge freimacht (die ,Lokalfarbe' ausschaltet), scheint die Malerei eine ganz neue Welt zu entdecken, in der die bisher stoffgebundenen Farben ungehemmt ihre strahlenden Kräfte versprühen. Farben werden zerlegt in ein Gewimmel kleinster Teile immer reinerer, den Spektralfarben angenäherter, sich gegenseitig steigernder Werte. D a s Bild wird zum Gewebe, zu einem schwebenden, flächenfarbigen Lichtschleier. E s ist primär nicht aus Gegenstandsmerkmalen, sondern aus .Farbmolekülen' gemacht." 164 Der spätere Neoimpressionismus analysiert jeden Farbton in seine Bestandteile an reinen Spektralfarben und setzt diese Teilchen dann wie Mosaiksteine zusammen. Im Auge des Betrachters sollen sie sich zu der gewünschten Farbe mischen (Divisionismus). Freilich handelt es sich auch bei diesen künstlerischen Entwürfen um keine voraussetzungslose Seinsproduktion. R. Hamann hat in seinem bekannten Werk nachgewiesen, wie die besondere Sehweise der Natur Ausgangspunkt impressionistischer Gestaltung ist. Flächenhaftigkeit, Weichheit und Verschwommenheit der Konturen sind z. B. das Ergebnis einer durch zahlreiche Luftschichten getrübten Fernsicht bzw. einer in Dunst, Nebel oder Dämmerung gewonnenen Anschauung 165 . A. Gehlen setzt Fiedlers Theorie in Beziehung zur „optischen Verselbständigung" des Impressionismus. A. Hauser spricht von impressionistischen „Reduktionen" auf die „Visualität", die sich im Verzicht auf eine eigene Bedeutung des Sujets, in der Eliminierung des „Tastbildes" und der Gedächtnis- bzw. Lokalfarbe ausdrückt. A. Malraux nennt die Welt der künstlerischen Entwürfe, die sich von allen vorgegebenen Inhalten zu lösen versuchen, „selbstherrlich" und „autonom". H. Sedlmayr charakterisiert das „Streben nach Reinheit" als „Primärphänomen der modernen Kunst" 1 6 6 . Man könnte eine große Zahl von Äußerungen anderer zeitgenössischer Kunsttheoretiker hinzufügen. Wenn ich auch weit entfernt bin, die unter sich grundverschiedenen Positionen der vier genannten Wissenschaftler bzw. Essayisten zu teilen, so finde ich doch in ihnen eine Bestätigung für meine Kritik an Fiedlers Konzeption. Mit der Verabsolutierung der Eigenbedeutsamkeit der optischen Elemente beginnt der sogenannte dritte Weg in der bildenden Kunst. Fiedler steht theoretisch an seinem Ausgangspunkt. Wenn der Impressionismus es verstand, die künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten zu erweitern, und eine neuartige Behandlung von Licht, Luft und Bewegung aufbrachte, so ist das seiner enormen künstlerisch-praktischen Potenz zu verdanken, nicht aber positivistischen Theoremen. Echte Kunst schuf er nicht durch, sondern gegen sie.
3. Verhältnis zum Begriff
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3. Verhältnis zum. Begriff Fiedler hat das durchaus löbliche Bestreben, der bildenden Kunst einen gleichwertigen Platz neben der Sprache, d. h. dem Denken, anzuweisen. Zu diesem Zweck muß er den Unterschied zwischen beiden und, was unmittelbar damit verbunden ist, die Spezifik zu ergründen versuchen. E r befindet sich auf einer richtigen Spur, wenn er erklärt, daß Empfindungen bzw. Wahrnehmungen nur in der Kunst zum Ausdruck ihrer selbst entwickelt werden könnten. Aber subjektiver Idealismus macht ihn unfähig, die Spur zu verfolgen. Abgesehen davon, wird ihm philosophisch ein anderer Schritt zum Verhängnis : J e mehr er Raum für die Kunst zu gewinnen trachtet, um so mehr isoliert er die sinnliche von der begrifflichen Erkenntnisstufe. J e mehr er die Bedeutung der Kunst hervorheben will, um so mehr schmälert er die Bedeutung unmittelbarer Erfahrung für das rationale Denken. Diese Manipulation kommt in letzter Hinsicht der Kunst selbst gar nicht zugute, im Gegenteil, sie entwertet sie. Mit Recht betont Fiedler, das begriffliche Denken verzichte auf die Entwicklung bestimmter sinnlicher Elemente. E s setze keine vollständige anschauliche Aneignung voraus. In seinen Ausdrucksformen versande gleichsam das unendliche Empfindungsmaterial. Folglich reiche der begriffliche Weg allein nicht aus. D i e sinnliche Anschauung habe noch eine andere Aufgabe als die, den Stoff für die Begriffsbildung zu liefern. Sie diene der künstlerischen Tätigkeit. Ohne die Kunst bleibe die Wirklichkeit nach einer unendlichen, und zwar der sinnlichen Seite hin verschlossen. Fiedlers Hinweis ist richtig insofern, als er nicht nur auf den Erkenntniswert, sondern auch auf den Zwang der Einengung aufmerksam macht, der dem Begrifflichen anhaftet. Will man einmal von der Wortform absehen, so verläßt das Begriffliche die Ebene anschaulicher Sinnlichkeit. Obwohl es aus ihr hervorgeht, ja mit ihr im realen Denkprozeß eine dialektische Einheit bildet, ist es selbst frei von ihrem Material. F. Chaßchatschich erklärt: „Der logische Gedanke ist frei von Sinnesmaterial, aber er wächst aus diesem hervor, setzt es voraus, hat es zur Grundlage." 1 6 7 Das Begriffliche ist eine verallgemeinerte und vermittelte (mittelbare) Abbildung. Insofern vergröbert es die besonderen, d . h . konkreten und unmittelbaren Eindrücke, unterbricht es die objektive Kontinuität, erfaßt es die konkrete Wirklichkeit nicht als ein Ganzes. Es bildet die tieferen Wesenszusammenhänge der objektiven Realität, es bildet das Allgemeine ab. Aber das Allgemeine schöpft niemals das Individuelle aus, die Wesenszusammenhänge umfassen die einzelnen Erscheinungen nicht vollständig. 168 So kann das eine dem anderen weder unternoch übergeordnet werden. Das Individuelle ist einfach etwas anderes als das Allgemeine, und die Erscheinung ist einfach etwas anderes als das Wesen. Im Hinblick auf die einmaligen, individuellen Merkmale erweist sich das Anschauliche reicher als das Begriffliche, weil es selbst individuell ist. Dagegen vermag das Begriffliche tiefer in die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten einzudringen, weil es selbst den Charakter der Allgemeinheit hat. Diese Unterscheidung bestimmt die Spezifik der Kunst auf der einen Seite und der Wissenschaft auf der anderen. Fiedlers Feststellung schleust aber, bedingt durch den idealistischen Spontaneitätsund Relativitätsstandpunkt, ganz neue, agnostizistische Elemente ein. D e r „alte" Agno-
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III. Kunst als „reine" Sichtbarkeit
stizismus, der das Unerkennbare „jenseits" möglicher Erfahrung sucht, wird bekämpft. Statt dessen wird ein neuer Bereich des „begrifflich" Unerkennbaren „diesseits" der Erfahrung aufgebaut. Die Einsicht, daß sich in der künstlerischen Tätigkeit eine Entwicklung innerhalb der Sinnlichkeit vollzieht, bringt Fiedler zu der vorerst von ihm ganz unbeabsichtigten Konsequenz, die Anschauung vom begrifflichen Denken zu isolieren. D a s Sein, was ihr zugänglich ist, wird begrifflich unzugänglich. Im Ergebnis trennt Fiedler den anschaulichen vom begrifflichen Formprozeß. Wieder gibt es zwei Welten. Fiedler errichtet neue Schranken, wo er alte zerstören wollte. E r unterscheidet nicht nur zwischen Kunst und Wissenschaft, er spaltet das Bewußtsein auf in zwei Hälften, in eine anschauliche und eine begriffliche. Der Agnostizismus schlüpft durch das Hintertürchen wieder herein. Wo das Begriffliche bzw. Sprachliche anfängt, hört das Sinnliche auf, und umgekehrt. Eine neue Grenze trennt das begrifflich Erkennbare vom Unerkennbaren, nur ist sie diesmal dem eigenen Bewußtsein immanent. Der positivistische Monismus birgt in sich einen neuen Dualismus. In gemilderter Form spricht Fiedler davon, daß Empfindungen, Wahrnehmungen, Vorstellungen als „Assoziationen" der Wörter, d. h. Begriffe auftreten. In radikalerer Form erklärt er, die Enge des Bewußtseins sei die Ursache, wenn eine Bewußtseinsform die andere ablöse. Wer in der einen zur Klarheit und Deutlichkeit gelange, verliere die Klarheit und Deutlichkeit, die sich in der anderen herausbildet. Fiedler schlußfolgert: Die Anschauung bzw. die Kunst verkümmere dort am meisten, wo das begriffliche Denken den höchsten Grad der Ausbildung erlange. Erst dann trete das künstlerisch-anschauliche Bemühen wieder in seine Rechte ein, wenn das begriffliche Denken verschwinde. Im Gegensatz zu der im Prinzip vorgenommenen Trennung zwischen Sinnlichem und Begrifflichem stehen aber folgende Angaben Fiedlers: Die begriffliche Bewußtseinsproduktion gewinne ihr Material aus den „niederen" Entwicklungsstadien anderer Prozesse, z. B. aus dem Hören, Sehen, Tasten, also aus den verschiedenen Empfindungsbündeln, die als Objekte erscheinen. E s sei bereits vorgeformt, ohne zu einem klaren und deutlichen Ausdruck gekommen zu sein. Alle sinnlich-seelischen Fähigkeiten, alle Empfindungen, Wahrnehmungen, Vorstellungen seien beteiligt, auch die des Gesichtssinnes. D a s begriffliche Denken knüpfe an sie an, ja sei ohne sie überhaupt nicht möglich. Wenn man ihm vorwerfe, daß es oft zu rasch die sinnliche Substanz verläßt und dadurch leer,und willkürlich wird, so wisse man doch, daß es jederzeit auf sie zurückgreifen kann, um aus dem besser Wahrgenommenen die reinere Erkenntnis zu gewinnen. Z. B. habe berichtigte Anschauung eine Berichtigung der Begriffe, erweiterte Anschauung eine Erweiterung der Begriffe zur Folge. Fiedler bezeichnet es sogar als „groben Fehler", wenn man in das Extrem verfalle, „die Sinnlichkeit ganz vom Verstände trennen zu wollen" 1 6 9 . Alle diese Angaben Fiedlers sind, selbst wenn er das ursprünglich gar nicht beabsichtigt, irreführend. Scheinbar erkennt er die Wechselwirkung zwischen Sinnlichem und Begrifflichem an. Aber das ist eben nur scheinbar der Fall. Man kann nicht in ein und demselben Zuge zwischen Sinnlichem und Begrifflichem eine absolute Schranke errichten und einen korrelativen Zusammenhang feststellen wollen. Man kann nicht einerseits erklären, der Empfindungsstoff entschwinde bzw. er verbleibe nach wie vor in seinem unbeständigen, ewig wechselhaften Zustand, wenn man ihn zum Denken entwickeln will, und andererseits konstatieren, er gehe in
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dasselbe ein. Die eine Behauptung stimmt mit der anderen nicht überein. Die eine ist prinzipieller, die andere pseudo-objektiver Natur. Fiedler betrachtet die Kunst als legitime Erbin der sinnlichen Anschauung. Durch sie sollen die Wahrnehmungen im eigenen Stoff zur Klarheit und Bestimmtheit entwickelt werden. Indem er für sie Platz zu schaffen versucht, kommt er zu der falschen Konsequenz, dem begrifflichen Denken würden bestimmte Gebiete der Wirklichkeit, die sinnlich erfahrbar sind und künstlerisch zum Ausdruck gelangen können, verschlossen bleiben. Es gibt jedoch ein solches Nebelreich nicht, dessen sich das begriffliche Denken nicht zu bemächtigen vermag, und zwar deshalb nicht, weil es nicht über den Wahrnehmungen schwebt, sondern sie verarbeitet. Für das begriffliche Denken gibt es prinzipiell nichts Unerkennbares. Ihm ist die Erscheinung ebenso zugänglich wie der Wahrnehmung, durch die sie ihm vermittelt wird. Freilich läßt sich die Fülle und Unmittelbarkeit der Wahrnehmungen, vor allem der künstlerischen Vorstellungen, nicht begrifflich erschöpfen. Aber die durch sie zu erfahrende Wirklichkeit kann auch begrifflich erfahren werden. Die begrifflich reproduzierte Erscheinung unterscheidet sich nur der Quantität und der Qualität nach von der z. B. anschaulich, im entwickelten Sinn künstlerisch angeeigneten Erscheinung. Die Stelle der realen Objekte nehmen bei Fiedler die Empfindungsbündel ein. Ähnlich wie Schuppe verlegt er den Unterschied, der im objektiven Sinn zwischen Bewußtsein und Außenwelt besteht, in das individuelle Bewußtsein. Nachdem er das abgebildete Objekt und das bewußtseinsmäßige Abbild identifiziert und beide in die geistige Immanenz gepreßt hat, leben sie in subjektivierter Gestalt und hypostasiert wieder auf. Das unentwickelte innere Wahrnehmungsgeschehen erhält die Rolle des Objekts und die spezifischen Ausdrucksbewegungen, also sowohl die Sprache bzw. das Denken als auch die künstlerische Tätigkeit, erhalten die Rolle des Subjekts. Fiedler geht es vor allem um die Feststellung, daß durch die Begriffe die Objektseite unangetastet bleibt. Die sinnliche Substanz soll, entgegen seinen pseudo-objektiven Ausführungen, gerade nicht in das Denken eingehen. Erst durch die künstlerische Tätigkeit soll sie verändert und fortentwickelt werden. So tritt die Anschaulichkeit „objektiviert" als unentwickeltes Wahrnehmungsgeschehen und „subjektiviert" als entwickelter künstlerischer Ausdruck auf. Fiedler will den - wenn auch verzerrten - sinnlichen Charakter auf keinen Fall preisgeben. Er glaubt, allein durch die künstlerische Tätigkeit vermöge die immanenzphilosophische Einheit zwischen Ich-Objekt und Ich-Subjekt hergestellt zu werden. Der Erkenntnis, nicht der Kunst bleibt die Objektseite fremd. Das begriffliche Denken wird abgewertet. Um Fiedlers eigenes Beispiel anzuziehen: Die Empfindung existiert nicht unabhängig von der begrifflichen bzw. sprachlichen Bezeichnung, unabhängig von ihr existiert wohl aber der empfundene Gegenstand. Identifiziert man wie Fiedler erst die Empfindung mit dem empfundenen Gegenstand, um diesen zu eliminieren, so kann man ihr dann nicht das Attribut des eliminierten Gegenstandes geben, um sie vom Denken zu isolieren. Wenn Fiedler erklärt, die sinnliche Substanz bleibe ein Nebelreich, dessen man begrifflich nicht habhaft werden könne, muß man ihm vorerst entgegenhalten, daß das Denken sich zur Realität ganz anders verhält als zu den Wahrnehmungsvorgängen. Das eine Mal handelt es sich um eine Abbildbeziehung, das andere Mal um eine höhere
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Entwicklungsstufe der Erkenntnis. Fiedler eliminiert den Abbildcharakter der Bewußtseinsprozesse. Übrig bleibt allein der Entwicklungscharakter. Indem Fiedler ausschließlich ihn hervorhebt, verabsolutiert er einen Teilaspekt. Natürlich verhält sich die Wahrnehmung zum Begriff nicht analog der Beziehung eines Abgebildeten zu seinem Abbild. Es liegt tatsächlich eine Entwicklung vor. Man kann jedoch die subjektive Dialektik nicht begreifen, wenn man sie nicht als Abbild der objektiven Dialektik auffaßt. Der Entwicklungsprozeß der Erkenntnis ist analog der Entwicklung der Realität. Will man ihn wahrhaft verstehen, darf man den Abbildcharakter nicht wegeskamotieren. So ist selbst der Teilaspekt, den Fiedler verabsolutiert, noch subjektivistisch verzerrt. In Wahrheit kann man von einer Entwicklung gar nicht sprechen, wenn man gleichzeitig behauptet, der sinnliche Inhalt begleite den Begriff „assoziativ", werde jedoch nicht von ihm aufgenommen. Dann gibt es zwischen beiden überhaupt keine Verbindung, auch keine entwicklungsmäßige. I. P. Pawlow hat die Korrelation zwischen Sinnlich-Anschaulichem und Begrifflichem analysiert. Er erblickt in den Empfindungen bzw. Wahrnehmungen unmittelbare, konkrete Signale der Wirklichkeit, die eine Orientierung nach den Eigenschaften der realen Objekte ermöglichen. Sie sind in bestimmter Hinsicht den Tieren und den Menschen gemeinsam. Unter dem Einfluß der gesellschaftlichen Arbeit entwickeln sich die Menschen aber aus dem Tierreich heraus. Es bildet sich bei ihnen das zweite Signalsystem, charakterisiert durch die Sprache, durch das Denkvermögen. In phylogenetischer Hinsicht ist es das Resultat der gesamten Menschheitsgeschichte, in ontogenetischer Hinsicht der gesamten individuellen Erfahrung. Unter seinem Einfluß hat sich im Verlauf der Entwicklung auch das erste System verändert und eine höhere Stufe als im Tierreich erlangt. Die Menschen können keine Eindrücke des ersten Systems verarbeiten, ohne mit Hilfe des zweiten Signalsystems die Wahrnehmung von der wahrgenommenen Erscheinung und die Erscheinung von ihren Wesenszügen zu unterscheiden. Sie sind daher in der Lage, vermöge der Erscheinung auf die Wesenszusammenhänge zu schließen. Das zweite System reguliert das erste, erhält aber aus diesem ständig neue Impulse und wird von ihm korrigiert, wenn es sich von der Wirklichkeit löst. Beim Tier fällt der regulierende Einfluß weg. Es kann die Empfindungen nicht vom Erreger trennen. Das Signal fällt zusammen mit der Sache selbst. Die physiologisch festzustellende Korrelation zwischen Sinnlich-Anschaulichem und Begrifflichem wird vom psychologischen Standpunkt aus bestätigt. Ja von ihm aus sind noch weitaus tiefere Einsichten zu gewinnen. Zu konstatieren ist folgendes: Anschauung und Begriff sind beide Bewußtseinstatsachen und tragen als solche Abbildcharakter. Beide beziehen sich auf die Realität. Beide bilden sich im Prozeß der gesellschaftlichen Praxis heraus. Da sie in einem dialektischen Zusammenhang stehen, hat jede von beiden den Widerschein der anderen an sich. Wie der Mensch keine Empfindungen bzw. Wahrnehmungen haben kann, ohne sie nicht mehr oder weniger begrifflich zu verarbeiten, vermag auch kein Gedanke ohne Empfindungen bzw. Wahrnehmungen zu entstehen. Mehr noch, in den Empfindungen bzw. Wahrnehmungen wirkt selbst schon ein begriffliches Moment. Einerseits ist die Wahrnehmung mehr als eine bloße Summe isolierter Empfindungsqualitäten. Sie schließt den rationellen Akt des Verstehens und der Sinnerfüllung in sich ein. Ihr sinnlicher und ihr sinnvoller Gehalt durchdringen
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sich. Dasjenige, was wir wahrnehmen, begreifen wir zumeist unmittelbar. Wir begreifen es deshalb, weil ein begriffliches Moment, dialektisch umgeformt, in der Wahrnehmung wirksam ist. Unmittelbar werden bestimmte Wesenszusammenhänge erschlossen. Der spezifische Aspekt des unmittelbaren Verstehens wird von der Lebenspraxis bestimmt. Andererseits treten im realen Denkprozeß die Begriffe nicht in losgelöster, isolierter Gestalt auf. Sie bilden eine dialektische Einheit mit anschaulichen Vorstellungsmomenten. Vorstellungen vermögen sogar wesentliche Denkfunktionen zu erfüllen, da sie immer einen bedeutungsmäßigen, d. h. semantischen Gehalt aufweisen. Z. B. können selbst hohe begriffliche Abstraktionen wie mathematische Operationen nicht auf geometrische Anschaulichkeit verzichten. Freilich werden die Vorstellungen stark intellektualisiert. Die Bedeutung, deren sinnlicher Träger sie sind, wandelt ihren sinnlichen Bestand selbst um. In den Vordergrund treten die Züge, die mit ihr verbunden sind. Die Bedeutung ist der gemeinsame Nenner für die Vorstellungen und die Begriffe. Trotzdem besteht zwischen anschaulichen Vorstellungsmomenten \ind Begriffen keine starre Identiät: „Die Vorstellung, selbst die allgemeine, ist mehr oder weniger unmittelbar mit der anschaulichen Einmaligkeit verbunden und spiegelt die Erscheinung in ihrer unmittelbaren Gegebenheit wider, während im Begriff die Begrenztheit der Erscheinung überwunden und ihre wesentlichen Seiten in ihrer wechselseitigen Verbindung aufgedeckt werden. Nichtsdestoweniger sind Begriif und Vorstellung miteinander verknüpft und durchdringen einander, ebenso wie dies mit Erscheinung und Wesen, Einzelnen und Allgemeinen in der Wirklichkeit selbst der Fall ist." (S. L. Rubinstein) 170 . Daraus folgt: Das Sinnlich-Anschauliche ist immer unmittelbar. Zwischen ihm und der Wirklichkeit gibt es keine vermittelnden Zwischenglieder. Zwar vermag es die Mannigfaltigkeit der realen Objekte in ursprünglicher Gestalt nicht vollständig zu erfassen. Die Wahrnehmungen sind Abstraktionen. Sie sehen von bestimmten Einzelheiten ab, u. a. auch solchen, die die Aufnahmefähigkeit der Sinnesorgane überfordern m . Aber es sind sinnliche Abstraktionen. Sie bleiben unmittelbar konkret. In ihnen wird die Besonderheit bzw. Individualität, durch die sich die Erscheinungen der Wirklichkeit auszeichnen, direkt abgebildet. Folglich haben sie selbst den Charakter der Besonderheit bzw. Individualität. Im Gegensatz dazu geht das begriffliche Denken mittelbar vor sich. Zwischen ihm und der Wirklichkeit existieren als Vermittlungsglieder die Wahrnehmungen. Was bedacht wird, muß vorher wahrgenommen worden sein, entweder direkt, oder durch die Mitteilung anderer. Die Begriffe sind immer Abstraktionen, aber verstandesmäßige, die sich von den sinnlichen nicht nur dem Grad, sondern auch der Qualität nach unterscheiden. Hegel hat davon gesprochen, daß die Begriffe auf eine höhere Art konkret-allgemein sein sollen. Das will heißen, sie müssen trotz ihres allgemeinen Charakters die individuell sich darbietende Wirklichkeit richtig abbilden. Das tun sie dann, wenn sie den sinnlichen Stoff als ein im doppelten Sinn „aufgehobenes" Moment, nämlich überwunden und aufbewahrt, in sich enthalten. Nicht jeder der Begriffe ist auf ein KonkretAllgemeines, eine inhaltsreiche Abstraktion zurückzuführen. Das Abstrakt-Allgemeine bzw. die schlechte und inhaltsarme Abstraktion verflüchtigt das sinnliche Material zu unwesentlichen, unkonkreten Bestimmungen172. So erweist sich gerade der Gedanke,
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den Fiedler von den Wahrnehmungen isoliert und somit zu einer inhaltsentleerten Abstraktion stempelt, wenn er durch die Sinnlichkeit richtig vermittelt und im Denkprozeß richtig verallgemeinert wird, als inhaltsreich. Dagegen ist die „gedankenlose" Sinnlichkeit, die Fiedler konstatiert, eine tote Abstraktion. Indem das menschliche Bewußtsein zum abstrakten Denken übergeht, reißt es sich nicht vom Konkreten los, sondern kehrt immer wieder zu ihm zurück. Die Rückkehr ist dabei mit einer Bereicherung der Erkenntnis verbunden. Völlig falsch wäre es, aus der Tatsache, daß die Erscheinungen der Wirklichkeit konkret, d. h. individuell sind, schlußfolgern zu wollen, das generalisierende Denken könne sie nicht erfassen. Es vermag dies durchaus, vorausgesetzt, es bildet Begriffe, die konkret-allgemein sind. Fiedlers Trennung der Anschauung vom Begriff steht im Widerspruch zu allen physiologischen, psychologischen, gnoseologischen und logischen Resultaten. Sie isoliert im Hinblick auf die theoretisch-wissenschaftliche Aneignung die sinnliche von der rationalen Erkenntnisstufe, eine Manipulation, durch die jede Erkenntnis negiert wird. Gerade das, was Fiedler ablehnt, entspricht den Tatsachen: Die aus den Empfindungen entstehenden Wahrnehmungen steigern sich zu Vorstellungen, aus denen sich Begriffe entwickeln. Sinnliches und Begriffliches sind verschiedene Momente ein und desselben Prozesses und dürfen nicht voneinander isoliert werden. Die Einwirkung eines Komplexes von Reizerregern auf die Sinnesorgane und die Umsetzung in Empfindungen bzw. Wahrnehmungen ist keine hinreichende Bedingung für die Erkenntnis. Die Wahrnehmungen bedürfen der rationalen Durchdringung, um sie von Widersprüchen (z. B. optischen Täuschungen) zu befreien. Das in ihnen gewonnene Material begleitet die Gedanken nicht „assoziativ", vielmehr geht es in sie ein, wird umgeformt und verarbeitet. Fiedlers Trennung von Anschauung und Begriff negiert aber nicht nur die theoretischwissenschaftliche Erkenntnis, sie negiert auch die künstlerische Aneignung. Ohne die dialektische Einheit des sinnlich Gegebenen und des Sinnvollen ist Kunst unmöglich. „Sinn" hat hier eine doppelte Bedeutung, und zwar ganz genau diese, die Hegel in seiner Ästhetik formuliert: ,,,Sinn' nämlich ist dies wunderbare Wort, welches selber in zwei entgegengesetzten Bedeutungen gebraucht wird. Einmal bezeichnet es die Organe der unmittelbaren Auffassung, das andere Mal aber heißen wir Sinn: die Bedeutung, den Gedanken, das Allgemeine der Sache. Und so bezieht sich der Sinn einerseits auf das unmittelbar Äußerliche der Existenz, andrerseits auf das innre Wesen derselben. Eine sinnvolle Betrachtung nun scheidet die beiden Seiten nicht etwa, sondern in der einen Richtung enthält sie auch die entgegengesetzte und faßt im sinnlichen unmittelbaren Anschaun zugleich das Wesen und den Begriff auf." 173 Die Anschauung hört also nicht auf, wo das Benennen bzw. begriffliche Konstatieren anfängt, vielmehr setzt sie dieses voraus. Sie ist immer „sinnvoll". Sie beschränkt sich nicht auf die unmittelbare Aufnahme, sondern wird mitgeformt von dem, sozial und individuell bedingten, begrifflich verarbeiteten Erfahrungsbesitz: „Soweit das Sehen eine geistige Tätigkeit ist, wird die trübe Masse der Farbenflecke nach Begriffen gesichtet. Wir deuten die durch das Auge vermittelten Daten und erkennen den Baum, das Haus, den Berg, das Tier, den Menschenleib. Sehen ist Wiedererkennen der unserm Bewußtsein vertrauten Außenwelt" (Max. J. Friedländer). 174 Die erfahrungsmäßige
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Abhängigkeit bestimmt Vollständigkeit, Genauigkeit und Deutlichkeit der Anschauung. Wie das Beispiel der zerstörten Integrationszone beweist, wäre ohne sie eine „menschliche", d. h. verstehende Aneignung unmöglich. Alles würde in ein sinnloses Chaos von Form- und Farbeindrücken zerfallen. „Diese gegenseitige Durchdringung des sinnlichen und sinnhaften Gehalts wird besonders in pathologischen Fällen deutlich. Bei der sogenannten Seelenblindheit oder -taubheit und bei der Gesichts- oder Gehörasymbolie (Agnosie) nimmt der Kranke die sinnlichen Eigenschaften der Dinge und ihre Form und Struktur wahr, aber sie verlieren für ihn ihre Bedeutung. E r erkennt und versteht nicht, was er sieht oder hört, er kennt die Namen der wahrgenommenen Gegenstände nicht und ist nicht imstande, sie zu benutzen" (S. L. Rubinstein). 175 Damit ist das Gegenteil der Fiedlerschen Annahme bewiesen. Anschauliche Verworrenheit und Flüchtigkeit überwindet man nicht, indem man sie ausbaut. Die Klarheit des Gesichtsbildes wird nicht vermittels der Isolierung, sondern vermittels der Integration des begrifflichen Denkens gewonnen. Man spricht von einer „begreifenden" Anschauung, ohne dieselbe als eigentliche Verstandeserkenntnis zu betrachten. Was dergestalt für einfache Gesichtswahrnehmungen und Gesichtsvorstellungen zutrifft, gilt für die künstlerische Aneignung im besonderen Maße. Sie erfaßt in den sichtbaren Erscheinungen bestimmte Wesenszusammenhänge, ohne ihren sinnlichen Charakter preiszugeben, d. h. ohne in rational-begrifflichen Operationen zu enden. Die in ihr wirkenden, dialektisch veränderten begrifflichen Qualitäten sichern das unmittelbare Verständnis. Sie sichern aber auch die anschauliche Verallgemeinerung bzw. Typisierung. Die künstlerische Aneignung beschränkt sich nicht auf Wahrnehmungen und Vorstellungen, sie geht über zum bildhaften Denken, zur Einbildungskraft usw. E s ist deshalb eine unhaltbare Hypothese, wenn Fiedler - und in seinen Spuren der moderne Formalismus - das Moment des Wiedererkennens mit der Begründung auszuschalten versucht, es lenke vom Eigenwert der künstlerischen Anschauung ab. Zwar stammt es aus der begrifflichen Sphäre, aber es behindert die künstlerische Sphäre nicht, vorausgesetzt, es wird dialektisch verwandelt. Soll die Anschauung „anschaulich", d. h. sinnvoll sein, muß es gewahrt und darf es nicht zerstört werden. S. L. Rubinstein schreibt: „ D i e sinnerfüllte Wahrnehmung von Gegenständen setzt immer ihr Identifizieren, das heißt ein Wiedererkennen der Objekte voraus. Dieses findet nicht nur statt, wenn wir einen bestimmten Gegenstand als den gleichen erkennen und identifizieren, den wir schon früher einmal wahrgenommen haben, sondern auch als ein verallgemeinertes Erkennen, indem wir den soeben von uns wahrgenommenen Gegenstand als Tisch, Stuhl, Lampe, Buch usw. identifizieren. Ohne ein solches verallgemeinertes Wiedererkennen der Gegenstände als zu der entsprechenden Gattung gehörend kann man überhaupt nicht von sinnerfüllter Wahrnehmung sprechen." 176 Freilich erschöpft sich der künstlerische Wert nicht im bloßen Wiedererkennen. Nur eine vulgäre Auffassung bleibt bei dem Vergleich dessen, was ihr das Kunstwerk bietet, mit dem, was ihr aus der Wirklichkeit bekannt ist, stehen. Die „Richtigkeit" in der Wiedergabe unmittelbarer Erscheinungen ist kein zureichender künstlerischer Maßstab. Aber das Moment des Wiedererkennens bildet eine notwendige Voraussetzung für die Verständlichkeit. Die künstlerische Modifikation der gegebenen Erscheinungen kann sehr weit getrieben werden. In vielen Fällen dient die Abwandlung des „richtig
Faensen
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III. Kunst als „reine" Sichtbarkeit
gen" Eindrucks sogar dazu, die künstlerische Wirkung zu verstärken. Bekannt ist der Vergleich Rodins zwischen Géricaults Bild „ D a s Rennen in Epsom" und der Momentfotografie von Pferden im gestreckten Galopp. Die gemalten Pferde strecken gleichzeitig die Vorder- und Hinterbeine, während, wie die Fotografie zeigt, die wirklichen Pferde eine solche Haltung in keinem Augenblick aufweisen. Trotzdem wird sich jeder Betrachter für das künstlerische Werk entscheiden. In ihm ist der Vorwärtsdrang, durch den sich ein Pferderennen auszeichnet, sozusagen konzentriert. Man könnte noch zahlreiche Beispiele anführen, die beweisen, daß ein Künstler unter Umständen Formen und Farben „falsch" geben muß, um eine „richtige" Wirkung zu erreichen. Bedenklich ist allerdings, wenn das Moment des Wiedererkennens bewußt preisgegeben wird, wenn die sichtbaren Erscheinungen so weit modifiziert werden, daß ihr Sinn verlorengeht. Um das Moment zu garantieren, genügen meist sparsame Andeutungen. W. Waetzoldt schreibt: „Unser Auge stellt sehr bescheidene Ansprüche, es ist geübt und geschickt, aus wenigen, aber wesentlichen sehbildgetreuen Zügen das Gesamtbild der Wirklichkeit erkennbar aufzubauen." 1 7 7 Aber diese wenigen, wesentlichen Merkmale sind eine unbedingte Voraussetzung für das künstlerische Bild. Sie sichern das allgemeine Verständnis. Wer sie herauslöst, verleugnet den künstlerischen Mitteilungscharakter. Um ein Beispiel M. Friedländers zu zitieren: „Eine Schrift ist nicht schön, weil die Buchstaben lesbar geformt sind, wenn dies aber nicht der Fall ist, kann die Schrift weder als schön noch als charaktervoll noch als persönlich bewundert werden, sie ist dann nichts als sinnloser Schnörkel und Spielerei. Ähnlich steht's um die bildende Kunst, die uns in vertrauten, gültigen Zeichen, allen sichtbaren Naturformen spricht, wie ein Gedicht Goethes aus Worten besteht, die jedermann benutzt. Der Moses Michelangelos wirkt monumental, pathetisch, gewaltig. Wenn er aber nicht mehr an den normalen Menschenleib, von dem die Gestaltung ausgegangen ist, erinnern würde, könnten wir nicht, im Unbewußten vergleichend, die Steigerung, die Wucht, die Größe empfinden." 1 7 8 Fiedler freilich leugnet überhaupt die Notwendigkeit einer gemeinsamen Sprache zwischen Künstler und Betrachter. In Anlehnung an die romantische Genie-Konzeption meint er, die Mehrzahl der Menschen sei verdammt, im unentwickelten anschaulichen Bewußtsein der „Natur" zu verharren. Keine erzieherische Maßnahme könne davon befreien. Nur einzelnen Individuen sei es gegeben, sich zu der klaren und deutlichen Sichtbarkeit der Kunst zu erheben. In ihr liege eine Art „Geheimschrift" vor, zu der nur eine Elite den Schlüssel habe 1 7 9 . Fiedler eliminiert nicht zuletzt das begriffliche Element des Wiedererkennens aus der künstlerischen Anschauung, weil es seinen Aristokratismus gefährdet. Wenn Kunst eine Sache weniger Auserwählter ist, dann dürfen ihre Werke nicht „ablesbar" sein. Ist sie aber eine Sache aller, dann muß ihr Mitteilungscharakter gewahrt bleiben. D a s weiß Fiedler sehr gut. So weist er im Gegensatz zu Marées und Hildebrand die kommunikative Funktion der Kunst ab. Selbst wenn man den primären Vorgang der Integration unbeachtet läßt und die begrifflichen Operationen in ihrem assoziativen Verhältnis betrachtet, so entdeckt man in ihnen keine Störung, vielmehr eine Förderung der künstlerischen Anschauung und des bildhaften Denkens. Schon beim konzentrierten Sehen sind sie wirksam. Die künstlerische Beobachtung muß geschult sein durch eine - immer begrifflich bedingte - Auf-
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merksamkeit. D a s gleiche trifft zu für die Auswahl des Sujets und die vorstellungsmäßige Typisierung. Beide werden nicht nur bestimmt von der Anordnung der sichtbaren Erscheinungen, sondern auch von der begrifflich verarbeiteten künstlerischen Erfahrung und der begrifflich determinierten weltanschaulichen Haltung. Die großen Maler der Renaissance, Alberti, Leonardo, Dürer etc. haben in ihren theoretischen Äußerungen immer wieder auf die Notwendigkeit des Wissens in der Kunst hingewiesen. Sie betonen damit den Wert, der im anschaulich-bildhaften Denken den begrifflichen Operationen zukommt. E s genügt nicht, daß der Künstler im Gedächtnis einen reichen Schatz von Gesichtsvorstellungen aufbewahrt, auf den sich der Typisierungsprozeß stützen kann. E r muß auch eine ausgedehnte Kenntnis der Gesetzmäßigkeiten der sichtbaren Wirklichkeit haben. Wenn Fiedler die Meinung vertritt, naturwissenschaftliches Wissen störe den künstlerischen Prozeß, befindet er sich im Widerspruch zur künstlerischen Praxis von Jahrhunderten. Seit der Antike haben sich die Künstler bemüht, Gesetzmäßigkeiten der Optik zu verwerten. Hildebrand gibt im „Problem der Form" das beste Beispiel. Die Schaffung eines Kunstwerkes ist, obwohl das anschaulich-bildhafte Denken vorherrscht, stets mit intensiver gedanklicher Verarbeitung sowohl des Anschauungsstoffes als auch des Materials verbunden. Zur begrifflichen Einordnung der Wahrnehmungen bzw. Vorstellungen dient z. B. das Wissen um die Perspektive, um die Figur-Grund-Differenzierung, um den Unterschied von Lokal- und Oberflächenfarbe etc. Zur begrifflichen Einordnung des Materials dient z. B. das Wissen um die Farbenbereitung, um die Grundierung, um die Vorzeichnung, um die Farbengebung etc. Auf Grund dieses Wissens kann sich der Künstler, noch ehe er einen Pinselstrich getan hat, vor Augen halten, was er von einer bestimmten Technik zu erwarten hat. Fiedlers Forderung, das Sehen „um seiner selbst willen" zu betreiben, muß eine bloße Deklamation bleiben. In der künstlerischen Praxis ist sie unmöglich erfüllbar. Sie führt höchstens zu Verzerrungen, wie sie die Werke des Formalismus aufweisen. Eine Augenkunst im Sinne absoluter Eigenbedeutsamkeit gibt es nicht.
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IV. Kunst als „Ausdrucksbewegung"
1. Analogie der Sprache Von seinem psychologistischen Standpunkt aus, der in der Konzeption von der Eigenbedeutsamkeit aller Bewußtseinsgebilde gipfelt, kommt Fiedler zum Nominalismus. Er erklärt, das Denken im engeren Sinn, das eigentlich begriffliche Denken stelle sich in der Sprache nicht dar, drücke sich in ihr nicht aus. Es sei „nicht nur mit der Sprache unauflöslich verbunden, sondern mit ihr identisch . . ,"180 Das Wort sei nicht der materielle Träger eines geistigen Gehalts, vielmehr dieser Gehalt selbst181. Begriff und Lautgebilde müßten als identisch betrachtet werden. Der sprachliche Ausdruck drücke einzig und allein sich selbst aus. Fiedler bezeichnet den nominalistsichen Standpunkt als den „unbedingt herrschenden"182. Der alte Nominalismus, nach Marx „der erste Ausdruck des Materialismus" 183 , legte das Schwergewicht im Erkenntnisprozeß nicht auf die begrifflichen Abstraktionen, die er nur als flatus vocis (Lauterschütterungen) kannte, sondern auf die unmittelbare intuitive Kenntnisnahme. Er meinte, Begriffe könnten wegen ihres allgemeinen Charakters die Wirklichkeit, die nur in besonderen Objekten vorhanden sei, nicht erfassen. Was am Anfang des werdenden Wissens steht, setzte er ans Ende, die unmittelbare Gewißheit der Erscheinung. In der Abwertung des Begrifflichen zugunsten des Sprachlichen bzw. Sinnlichen bedient sich Fiedler der Argumente des alten Nominalismus. Im Gegensatz zu der materialistischen Konzeption von diesem, hat aber das, was er unter subjektiver Sinnlichkeit versteht, keinen Kontakt mit der objektiven Außenwelt. Der Nominalismus wird idealistisch umfunktioniert. Trotzdem ist es nötig, sich mit der nominalistischen Argumentation Fiedlers auseinanderzusetzen. Behauptet er doch, sie sei eine „Analogie" zur Beweisführung in der Kunsttheorie. Wie er das Denken auf die Sprache reduziert, so reduziert er den künstlerischen Inhalt auf die künstlerische Form. Im Gegensatz zu Fiedler ist die dialektische Einheit, nicht aber die starre Identität von Denken und Sprache, künstlerischen Inhalt und künstlerischer Form zu betonen. Dementsprechend muß unterschieden werden zwischen Wortbedeutung und Wortleib, zwischen Begriff und Laut- bzw. Schriftbild, zwischen Urteil und Satz, zwischen Logik und Syntax etc., kurzum zwischen dem, was ausgedrückt wird, und dem Ausdruck selbst. Was ausgedrückt wird, ist der bedeutungsgemäßige, d. h. semantische Inhalt. Der Ausdruck selbst ist die materielle Form. Den Ansatz zur Darlegung seiner Sprachtheorie findet Fiedler im erkenntnistheoretischen Grundproblem. Da das Denken auf die Sprache zurückzuführen sei, erklärt er,
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stehe und falle die Frage, ob man berechtigt ist, das denkende Erkennen als eine auf das Sein als Objekt gerichtete Tätigkeit aufzufassen, mit der anderen Frage, ob die Sprache fähig ist, ein Seiendes zu bezeichnen. Wir können die Antwort Fiedlers im vorhinein geben: das begriffliche Denken ist nicht auf die objektive Realität gerichtet, also bezeichnet die Sprache nichts unabhängig von ihr Seiendes, sondern nur sich selbst184. Die beiden Fragen darf man aber nicht identifizieren. Auch wir geben unsere Antwort im vorhinein: Die Sprache vermag ein Objekt zu bezeichnen. Desgleichen ist die begriffliche Erkenntnis auf ein Objekt gerichtet. Das Verhältnis der Sprache ist jedoch ein anderes als das des Denkens zu ihm. Das Verhältnis der Sprache zum Objekt trägt Zeichencharakter, das des Denkens Abbildcharakter. Schon deshalb sind Sprache und Denken nicht identisch. Obwohl die eine nicht ohne das andere bestehen kann, unterscheidet sich die materielle Ausdrucksform von dem in ihr ausgedrückten ideellen Gehalt. Der Unterschied bedingt keine absolute Trennung. Weder existiert der ausgedrückte Inhalt abgesehen von der Ausdrucksform, noch geht er ihr zeitlich voran. In der historischen Entwicklung gibt es keine Stufe des Denkens ohne Sprache. Beide haben sich gemeinsam in der gesellschaftlichen Praxis herausgebildet. Man darf deshalb nicht annehmen, das Denken könne, sozusagen von einer unabhängigen Position aus, die Sprache als Darstellungsmittel wählen. Es ist auf sie angewiesen. Es bildet mit ihr eine dialektische Einheit. Falsch ist auch die Behauptung Fiedlers, der Ursprung des Denkens liege in der Tatsache des Sprechens. Ohne Zweifel ist er eng mit der Entstehung der Sprache verbunden. Er liegt aber darin, daß die im gesellschaftlichen Arbeitsprozeß mit der Wirklichkeit sich auseinandersetzenden Menschen, beginnend mit der einfachen Klassifizierung der realen Objekte, Abstraktionen und Verallgemeinerungen vorgenommen haben. Ein Wort ist ein allgemeines Zeichen für bestimmte Objekte nur deshalb, weil der Begriff, den es ausdrückt, ihr verallgemeinerndes Abbild darstellt. In dieser Beziehung - und nur in dieser - heben wir gerade die Ansicht hervor, gegen die sich Fiedler wendet, nach der nämlich das begriffliche Denken die Sprache in seinen Dienst nimmt. Zwischen realem Objekt und begrifflichem Abbild besteht ein Verhältnis der Übereinstimmung bzw. Ähnlichkeit. Der Begriff wird notwendig von der Natur des Gegenstandes bestimmt. Das ist beim sprachlichen Zeichen nicht der Fall. Es bleibt dem bezeichneten Objekt gegenüber äußerlich. Ein Verhältnis der Übereinstimmung bzw. Ähnlichkeit existiert nicht. Das sprachliche Zeichen ist nur ein Hinweis. Aus ihm vermag man das Bezeichnete nicht seiner Beschaffenheit nach zu erkennen. Ein und dasselbe Objekt kann mit verschiedenen Namen belegt werden. Es geht das allein schon aus der Tatsache hervor, daß es eine Laut- und eine Schriftsprache gibt. Das Lautgebilde „Haus" ist völlig anders als das Schriftzeichen „Haus". Trotzdem ist der begriffliche Inhalt derselbe. Dazu kommt, daß eine Vielzahl von Nationalsprachen existiert. Jede von ihnen hat für ein und dasselbe Objekt einen ganz anderen Ausdruck. Der begriffliche Inhalt aber bleibt gleich. Andererseits vermag man mit ein und demselben Namen grundverschiedene Objekte zu bezeichnen. Zum Beispiel heißt das russische „mir" gleicherweise „Welt" und „Friede". Vor allem auf frühen Entwicklungsstufen operiert die Sprache mit vieldeutigen Wörtern. Das sprachliche Zeichen als
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IV. Kunst als Ausdrucksbewegung
Form des begrifflichen Inhalts bildet also ein Objekt nicht ab, sondern benennt es lediglich. J. H. Horn schreibt: „Steht man auf dem Standpunkt, daß bereits das Zeichen den Gegenstand abbilde, so müßten verschiedene Zeichen Abbilder verschiedener Gegenstände sein. Allerdings gibt es verschiedene Zeichen zur Kennzeichnung verschiedener Dinge. ,Baum', ,Gras', .Metall' sind verschiedene Zeichen, aber natürlich für verschiedene Gegenstände. .Wasser', aqua, l'eau usw. aber sind nicht disjunkt-verschieden, sondern äquipollent-verschieden, d. h. unterscheiden sich nur dem Zeichen, aber nicht dem Begriffsinhalt und damit auch nicht dem Gegenstand nach, den sie wiedergeben." 185 In den verschiedenen Sprachen unterliegen die gleichen Objekte dem gleichen Begriff. Man vermag nie durch einen präzisen Begriff grundverschiedene Objekte, d. h. solche, die keine ähnlichen Merkmale aufweisen, abzubilden. In dem dialektischen Zusammenhang zwischen Sprache und Denken geht keine der beiden Seiten der anderen zeitlich voraus. Trotzdem muß man das Denken als die übergreifende, bestimmende Seite ansehen; denn das Schwergewicht liegt bei dem Abbildcharakter tragenden bedeutungsmäßigen, d. h. semantischen Inhalt. S. L. Rubinstein schreibt: „In der Einheit von Denken und Sprache ist das Denken führend und nicht die Sprache, wie das die formalistischen und idealistischen Theorien betonen, die das Wort als Zeichen zu einer .erzeugenden Ursache' des Denkens machten."186 Indem Fiedler Sprache und Denken identifiziert, reduziert er den Abbildcharakter auf den Zeichencharakter. Vom Zeichencharakter der Sprache aus ist die Außenwelt leichter für illusorisch zu erklären als vom Abbildcharakter des Denkens aus. Gleicherweise versucht Fiedler, die Beziehung einerseits zwischen Begriff und Wahrnehmung, andererseits zwischen Begriff und Wortleib abzubauen, indem er feststellt, die sinnliche Substanz habe nichts mit dem sprachlichen Ausdruck zu tun. Tatsächlich besteht zwischen der Farbempfindung und dem Wort „grün" keine Verwandtschaft. Trotzdem läßt sich eine Beziehung nicht leugnen. Die Wahrnehmung wird auf mittelbarem Weg in den Wortleib aufgenommen durch Vermittlung der begrifflichen Bedeutung. Diese erweist sich einmal, nämlich in bezug auf die sinnliche Substanz, als Form, und ein andermal, nämlich in bezug auf den sprachlichen Ausdruck, als Inhalt. Fiedler sucht sich diese vermittelte Beziehung heraus, um die Unmöglichkeit der beiden objektiven Inhalt-Form-Verhältnisse zu demonstrieren. Die Gefahr der Identifizierung von Denken und Sprache zeigt sich vor allem in der Identifizierung von Urteil und Satz. Wenn auch jedes Urteil als Satz ausgedrückt wird, darf man beides doch nicht gleichsetzen. Der Satz ist nur die sprachliche Form des Urteils. Für ihn gilt die Syntax bzw. Grammatik, nicht aber die Logik. Es ist charakteristisch für Fiedler, daß er den zeigenössischem Sprachforscher H. Steinthal, der diese Unterscheidung herausarbeitete, attackiert187. Die Argumente Steinthals sind jedoch stichhaltiger als die Fiedlers. Steinthal gibt an: Wenn Satz und Urteil identisch wären, würde es unmöglich sein, das unlogisch Gedachte sprachrichtig auszudrücken. Umgekehrt weise die Grammatik zahlreiche unlogische Komplexe auf, z. B. die Unterscheidung der Geschlechter lebloser Wesen. Noch vielerlei Dinge lassen sich anführen, die gegen eine Gleichsetzung von Sprache und Denken sprechen. Zum Beispiel müßte ein und derselbe reale Sachverhalt nur auf ein und dieselbe Art syntaktisch wiedergegeben werden können. Das ist aber nicht der
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Fall. Ohne daß sich der logische Gehalt ändert, kann der grammatikalische Satzbau verändert werden. Zum Beispiel müßte die Bedeutung eines Wortes bereits aus dem Lautgebilde verständlich werden. D a s ist jedoch nicht der Fall, wie am Beispiel der Erlernung von Fremdsprachen oder der Beobachtung von Kleinkindern, die ihre ersten sprachlichen Versuche unternehmen, nachgewiesen werden kann. Die Bedeutungen erfahren wir immer von anderen, entweder durch direkte Hinweise oder durch inhaltlich bereits bekannte Wörter. E s müßte dann auch mit dem Absterben alter Sprachen deren ganze Begriffswelt verlöschen. D a s ist ebenfalls nicht der Fall. Fiedler betrachtet die Sprache und die künstlerische Gestaltung als analoge Ausdrucksbewegungen. Abgesehen davon, daß es sich nur bedingt um eine Analogie handelt, ist der Terminus Ausdrucksbewegung selbst irreführend. Für Fiedler wird weder das begriffliche Denken in der Sprache, noch wird das Wahrnehmen und Vorstellen in der Gestaltung „ausgedrückt", also z. B. einer „fremden Intelligenz" zugänglich gemacht. Der Sinn der Ausdrucksbewegung soll nicht der sein, daß ein geistiger Inhalt in einer Bewegung körperlicher Organe zum Ausdruck kommt. Der Sinn soll darin bestehen, daß in ihr der „psychophysische" Formprozeß, der vorerst und bei der Mehrzahl der Menschen nur im Innersten vor sich geht, eine höhere Entwicklungsphase erlangt. Fiedler lehnt folglich nicht nur eine Ubereinstimmung zwischen objektiven Vorgängen und Bewußtseinsinhalten ab, sondern auch zwischen Denken und Sprache bzw. zwischen Anschauen und Gestalten. E r identifiziert das eine mit dem anderen, reduziert den Begriff auf das Wort, die künstlerische Vorstellung auf das realisierte Kunstwerk. Bei dem Verhältnis zwischen Wirklichkeit und begrifflichem bzw. anschaulichem Bewußtsein handelt es sich um ein Abbildverhältnis. In dieser Hinsicht ist Übereinstimmung bzw. Nichtübereinstimmung festzustellen. Wie steht es aber bei dem Verhältnis zwischen Denken und Sprache bzw. zwischen künstlerische Vorstellung und Gestaltung? An diesem Punkt wird augenscheinlich, daß die von Fiedler aufgestellte Analogie zwischen Sprache und Kunst ihre Grenzen hat. D a s Denken verhält sich zur Sprache nicht wie das Vorbild zum Abbild, sondern genau wie zur objektiven Realität, als Zeichen. Anders ist es in der bildenden Kunst. D a s Kunstwerk hat Abbildcharakter. In der Konsequenz dessen muß die Ausdrucksgestaltung bei der Kunst spezifisch anderer Natur sein als beim Denken. Bei der Kunst handelt es sich um einen werktätigen Prozeß, an dem der Künstler in seiner ganzen individuell-persönlichen Struktur engagiert ist. Bei der sprachlichen Formulierung des Gedachten handelt es sich um einen physiologisch bedingten Bewußtseinsprozeß. D a s Material, in dem sich die eine verkörpert, Leinwand und Farbe, Papier und Blei, Ton, Marmor etc. entstammt der materiellen gesellschaftlichen Produktion. D a s Material der anderen ist mit dieser zwar verbunden, d. h. gesellschaftlich überformt, bleibt in materieller Hinsicht aber ein rein physiologisches Produkt. E s besteht aus Lauten (flatus vocis) 188 . Der Künstler muß bei der Gestaltung ständig reflektieren. Er realisiert die künstlerische Vorstellung, indem er durch formale und technische Griffe und Kniffe um einen adäquaten Ausdruck ringt. E s ist das ein wissentlicher bzw. bewußter Prozeß, an dem die ganze Erfahrung, also auch eine begriffliche Komponente, mitwirkt. Dagegen reflektiert der Wissenschaftler nicht über den sprachlichen Ausdruck, er formuliert ganz einfach. Was als Reflexion
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IV. Kunst als Ausdrucksbewegung
angesehen werden könnte, das Suchen nach richtigen Wörtern, ist im Grunde nichts anderes als das Suchen nach den richtigen Gedanken. Die terminologische Formulierung erfolgt auf Grund physiologischer und psychologischer Vorgänge ganz stereotyp. Von einer Gestaltung dürfte man hier eigentlich gar nicht sprechen. Das Spezifikum der künstlerischen Realisierung ist aber die ständige Reflexion. Sie sorgt dafür, daß die typisierte Vorstellung adäquat in das Material übertragen wird. Zwischen künstlerischer Vorstellung und materieller Gestaltung existiert ein echtes Abbildverhältnis. Die geistige Aneignung der Wirklichkeit ist primär. Sie bestimmt die manuellen Manipulationen am Werkstoff. Folglich ist das künstlerisch realisierte Gebilde direkt Abbild der künstlerischen Vorstellung und vermittels dieser indirekt Abbild der Wirklichkeit. Das Gegenteil von Fiedlers Behauptung ist der Fall: daß das Kunstwerk sich nur selbst bedeute und weder auf einen Bewußtseinsinhalt noch auf einen realen Vorgang hinweise. In Wahrheit bezieht dasselbe sich unmittelbar auf etwas Geistiges, auf eine bildhafte Idee, mittelbar auf etwas Materielles, auf sichtbare Erscheinungen der Außenwelt. Es existiert eine Doppelbeziehung. So muß man nicht nur von der Übereinstimmung zwischen Vorstellung und Wirklichkeit, sondern auch zwischen vorstellungsinäßigem und realisiertem Abbild sprechen.
2.
Realisierung
Fiedler gibt an, die Isolierung der Sichtbarkeit sei nur möglich in der „Realisierung". Er versteht unter ihr die körperliche Ausdrucksbewegung, das Hantieren am Werkstoff, kurzum die Gestaltung. Durch sie sollen die optischen Qualitäten zu festen „Ausdrucksformen" emporgebildet werden. Eine bloße Konzentration auf Gesichtswahrnehmungen und Gesichtsvorstellungen, so meint er, führe in einen „Zustand dumpfer Kontemplation". Erst wenn es gelinge, das, was das Auge liefert, im Kunstwerk für das Auge sichtbar darzustellen, könne man von einem „entwickelten" anschaulichen Bewußtsein sprechen. Dasselbe erhebe sich aus dem Zustand der Flüchtigkeit und Verworrenheit in den Zustand der Klarheit und Deutlichkeit, indem sich der im Inneren ablaufende einfache Sehakt zu den äußeren Manipulationen bildnerischer Tätigkeit steigere. Fiedler schreibt: „Nur in dieser Tätigkeit ringt sich das, was an einem sichtbaren Ding dessen Sichtbarkeit ist, von dem Ding los und tritt nun als freies selbständiges Gebilde auf." „Gerade der Künstler wird sich bewußt sein, daß die höhere Entwicklung seines geistig-künstlerischen Lebens erst in dem Augenblick beginnt, in dem sein Vorstellungsdrang die äußeren Organe seines Körpers in Bewegung setzt, in dem zur Tätigkeit des Auges und des Gehirns die Tätigkeit der Hand hinzutritt. Dann erst betritt er die Bahn, auf der er sich aus der Dunkelheit und Beschränkung zu steigender Klarheit und Freiheit emporarbeitet. All seine Begabung, all seine Genialität entwickelt sich erst in diesem äußerlich wahrnehmbaren Tun, in dem sich nicht die Darstellung, sondern die Entstehung der künstlerischen Vorstellungswelt vollzieht." 189
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angesehen werden könnte, das Suchen nach richtigen Wörtern, ist im Grunde nichts anderes als das Suchen nach den richtigen Gedanken. Die terminologische Formulierung erfolgt auf Grund physiologischer und psychologischer Vorgänge ganz stereotyp. Von einer Gestaltung dürfte man hier eigentlich gar nicht sprechen. Das Spezifikum der künstlerischen Realisierung ist aber die ständige Reflexion. Sie sorgt dafür, daß die typisierte Vorstellung adäquat in das Material übertragen wird. Zwischen künstlerischer Vorstellung und materieller Gestaltung existiert ein echtes Abbildverhältnis. Die geistige Aneignung der Wirklichkeit ist primär. Sie bestimmt die manuellen Manipulationen am Werkstoff. Folglich ist das künstlerisch realisierte Gebilde direkt Abbild der künstlerischen Vorstellung und vermittels dieser indirekt Abbild der Wirklichkeit. Das Gegenteil von Fiedlers Behauptung ist der Fall: daß das Kunstwerk sich nur selbst bedeute und weder auf einen Bewußtseinsinhalt noch auf einen realen Vorgang hinweise. In Wahrheit bezieht dasselbe sich unmittelbar auf etwas Geistiges, auf eine bildhafte Idee, mittelbar auf etwas Materielles, auf sichtbare Erscheinungen der Außenwelt. Es existiert eine Doppelbeziehung. So muß man nicht nur von der Übereinstimmung zwischen Vorstellung und Wirklichkeit, sondern auch zwischen vorstellungsinäßigem und realisiertem Abbild sprechen.
2.
Realisierung
Fiedler gibt an, die Isolierung der Sichtbarkeit sei nur möglich in der „Realisierung". Er versteht unter ihr die körperliche Ausdrucksbewegung, das Hantieren am Werkstoff, kurzum die Gestaltung. Durch sie sollen die optischen Qualitäten zu festen „Ausdrucksformen" emporgebildet werden. Eine bloße Konzentration auf Gesichtswahrnehmungen und Gesichtsvorstellungen, so meint er, führe in einen „Zustand dumpfer Kontemplation". Erst wenn es gelinge, das, was das Auge liefert, im Kunstwerk für das Auge sichtbar darzustellen, könne man von einem „entwickelten" anschaulichen Bewußtsein sprechen. Dasselbe erhebe sich aus dem Zustand der Flüchtigkeit und Verworrenheit in den Zustand der Klarheit und Deutlichkeit, indem sich der im Inneren ablaufende einfache Sehakt zu den äußeren Manipulationen bildnerischer Tätigkeit steigere. Fiedler schreibt: „Nur in dieser Tätigkeit ringt sich das, was an einem sichtbaren Ding dessen Sichtbarkeit ist, von dem Ding los und tritt nun als freies selbständiges Gebilde auf." „Gerade der Künstler wird sich bewußt sein, daß die höhere Entwicklung seines geistig-künstlerischen Lebens erst in dem Augenblick beginnt, in dem sein Vorstellungsdrang die äußeren Organe seines Körpers in Bewegung setzt, in dem zur Tätigkeit des Auges und des Gehirns die Tätigkeit der Hand hinzutritt. Dann erst betritt er die Bahn, auf der er sich aus der Dunkelheit und Beschränkung zu steigender Klarheit und Freiheit emporarbeitet. All seine Begabung, all seine Genialität entwickelt sich erst in diesem äußerlich wahrnehmbaren Tun, in dem sich nicht die Darstellung, sondern die Entstehung der künstlerischen Vorstellungswelt vollzieht." 189
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Fiedlers Ausführungen inhärent sind zwei grundlegende Widersprüche. Einer von beiden liegt auf der Hand: Indem Fiedler die manuelle Betätigung in den künstlerischen Prozeß einbezieht, ja als ausschließliches Kriterium erklärt, hebt er die „Isolierung" der Sichtbarkeit wieder auf. In einem ersten Schritt trennt er die optischen von den haptischen Elementen, in einem zweiten Schritt bezeichnet er eine Funktion des Tastsinnes als Quelle aller Genialität. Fiedler scheint die praktische Unmöglichkeit einer „reinen" Anschauung zu bemerken, ohne selbst die notwendigen Konsequenzen ziehen zu wollen. Wenn er meint, in den einfachsten Gebärden, „welche ein zu Sehendes andeuten", sei der Ansatz aller bildnerischen Tätigkeit zu suchen, so hat er recht. Jeder Künstler wird zugeben, d a ß er, um eine Form sich richtig anzueignen, dieselbe abzeichnen, d. h. sozusagen in die Hand bekommen muß. Es stimmt aber durchaus nicht, wenn Fiedler annimmt, es sei „einzig und allein der Gesichtssinn, . . . der, wie er zunächst die Empfindungen und Wahrnehmungen eines Sichtbaren liefert, nun auch den äußeren Mechanismus des menschlichen Körpers in Bewegung s e t z t . . . " 1 9 0 Das manuelle Tun ist unvereinbar mit einer „reinen" Sichtbarkeit. Keineswegs kann „einzig und allein" der Gesichtssinn wirksam sein. W . Ehrenstein weist u. a. darauf hin, daß schon „das optische Erkennen von Formen wenigstens von unterstützenden Hilfsbewegungen verschiedener Teile der Motorik, der Augen, des Kopfes, der rechten Hand, begleitet" wird, „die allerdings oft nur in schwachen Bewegungstendenzen bestehen und im täglichen Leben daher meist nicht ins Bewußtsein treten." 191 W a s alltäglich nicht ins Bewußtsein tritt, wird bei dem Künstler zu einem bewußten Vorgang. Er eignet sich Formen und Farben einer bestimmten Erscheinung an, indem er sie zu einem Bild gestaltet. Dabei sind die Bewegungen seiner gestalteten Hände im Grund nur eine Fortsetzung und Ausbildung der am Sehen beteiligten haptischen Empfindungen 192 . Freilich werden sie vom Auge dirigiert. Sie sind dem Sehvermögen untergeordnet. Die Vorherrschaft hat aber eben keine isolierte, sondern eine dialektisch komplexe Anschauung, zu der andere Komponenten, auch solche haptischer Natur, beitragen. Das gleiche gilt für gefühlsmäßige und begriffliche Komponenten. Die anschaulich dirigierte Ausdrucksbewegung käme überhaupt nicht zustande, wäre sie nicht zugleich auch Darstellung eines inneren Gefühls und hätte sie nicht zugleich auch eine Erkenntnisfunktion. 193 Der andere Widerspruch in Fiedlers Ausführungen ist ein Widerspruch zwischen kunstpsychologischer Einsicht und immanenzphilosophischer Grundkonzeption: Einerseits behauptet Fiedler, die künstlerische Tätigkeit setze ein, wo der innere Sehakt umschlage in einen äußeren Ausdruck. Das Auge produziere für die Mehrzahl der Menschen nur Wahrnehmungen und Vorstellungen, während es beim Künstler die Hand dirigiere, um im sinnlichen Stoff Sichtbares sichtbar darzustellen. Im Kunstwerk erst sei das sichtbare Sein „entwickelt" und „vollkommen". Andererseits löst Fiedler die Wirklichkeit auf im subjektiven Bewußtsein. Wenn er die Existenz einer Außenwelt ablehnt, müßte er aber konsequenterweise auch eine „äußerlich wahrnehmbare Ausdrucksbewegung" verwerfen. Konsequenterweise dürfte er von einem „realisierten" Sein des Kunstwerkes überhaupt nicht sprechen. Wird die gesellschaftliche Funktion der
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IV. Kunst als Ausdrucksbewegung
Kunst liquidiert, so ist das auch gar nicht nötig. Auf der einen Seite bezeichnet Fiedler - erkenntnismäßig und seinsmäßig - als höchste Entwicklungsstufe, was im Werkstoff realisiert wird. Auf der anderen Seite bezieht er das verkörperte Sichtbarkeitsgebilde ein in das subjektive menschliche Bewußtsein. Im Grunde handelt es sich auch nie um materielle Kunstwerke, sondern um „künstlerische Vorstellungen" 194 . Im Grunde ist die äußere Auseinandersetzung mit dem Werkstoff, die den Künstler erst zum Künstler machen und über die Menschheit erheben soll, für Fiedler ein abstrakter, innerer, rein geistiger Bewußtseinsakt. Auch in der „Realisierung" wird die Grenze des subjektiven Bewußtseins nicht überschritten. Die immanenzphilosophische Grundkonzeption ist stärker als jede kunstpsychologische Einsicht. Folglich weiß Fiedler in keiner seiner veröffentlichten Schriften über die manuelle Gestaltung nähere Angaben zu machen. Er bleibt in Allgemeinplätzen stecken. Lediglich in den im Anhang zu dieser Arbeit wiedergegebenen drei Kapiteln zum „Problem der Form" bemüht er sich - und zwar auch nicht selbständig, sondern immer in Anlehnung an Hildebrand um eine genauere Analyse. Er wird dabei gezwungen, den subjektiven Idealismus zu sprengen, also solche Konsequenzen zu ziehen, die seiner eigenen philosophischen Voraussetzung widersprechen. Er hat diese Abhandlung nie veröffentlicht. Wahrscheinlich ist ihm die innere Widersprüchlichkeit sehr, bald bewußt geworden. In Fiedlers Auffassung vom Realisierungsprozeß kommt, selbst wenn man von der immanenzphilosophischen Verkehrung absehen will, ein idealistischer Psychologismus zum Ausdruck. Ihn gilt es näher zu untersuchen: Die künstlerische Tätigkeit setzt keineswegs erst ein, wenn der Sehakt umschlägt in eine manuelle Ausdrucksbewegung. Marees und Hildebrand haben das sehr gut begriffen. Sie wissen, daß dem Darstellen ein besonderes Vorstellen vorausgehen muß. Fiedler begreift es nicht. Er überspringt den komplizierten und grundlegenden Prozeß der geistigen Aneignung, weil er keine Wirklichkeit kennen will, die angeeignet werden könnte. Zunächst ignoriert er das ganze Problem der Auswahl. Setzt doch hier schon die Ordnung ein, die Fiedler erst in der Gestaltung festzustellen meint. So bleibt unbeachtet, daß die spezifische Ergreifung der sichtbaren Erscheinung davon abhängt, ob diese den Künstler künstlerisch interessiert. So bleibt auch unbeachtet, daß jeweils der prototypische oder fruchtbare oder prägnante Augenblick erfaßt und fixiert werden muß, aus welchem in räumlicher Hinsicht das Ganze offenbar und in zeitlicher Hinsicht der vorhergehende und folgende Moment begreiflich wird. Fiedler läßt sich dadurch ein Spezifikum bildender Kunst entgehen. Für den Wissenschaftler hat es eine sekundäre Bedeutung, oib der Blick von bestimmten optischen Verhältnissen gefesselt oder abgestoßen wird, ob diese Verhältnisse für den räumlichen Zusammenhang und die zeitliche Abfolge typisch sind oder nicht. Das Verlangen nach der „guten Gestalt" dominiert nicht. Zum Beispiel richtet der Psychologe seine Aufmerksamkeit nicht auf die „sehbaren", sondern auf die „übersehenen", nicht auf die durch Symmetrie, Harmonie etc. hervorragenden, sondern auf die versteckten Teile. Die ganze Wahrnehmungslehre praktiziert das, um das deutlich Gesehene am undeutlich Gesehenen, z. B. an den optischen Täuschungen, zu demonstrieren. Beim Künstler steht die Sache ganz anders. Er gibt dem Verlangen nach der „guten Gestalt" primär nach. Die optischen Verhältnisse müssen ihn fesseln und sie müssen für den räumlichen Zusammenhang und die zeitliche
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Abfolge bzw. die sich in diesen offenbarenden historisch-gesellschaftlichen Beziehungen typisch sein. Während den Wissenschaftler nur die objektiven Wesenszüge, nicht aber die sichtbaren Erscheinungen interessieren, wird das künstlerische Interesse bestimmt von der anschaulichen Wirksamkeit. Den Wissenschaftler fesselt am anschaulichen Charakter lediglich der Charakter, und zwar in sachlicher Hinsicht, d. h. rationalerkenntnismäßig. E r würde z. B. eine Farbe nach ihrer optisch-spektralen Qualität untersuchen. Für den Künstler dagegen ist der anschauliche Charakter als die dialektische Einheit wichtig, und zwar nicht in rein sachlicher, sondern in individuell-persönlicher Hinsicht. Wirkt auf ihn z. B. die Farbe „Rot", so reflektiert er nicht über ihre optisch-spektrale Qualität, vielmehr erlebt er einen „brennenden, energischen kraftvollen" Eindruck (nach J. v. Allesch), der in einem ganz bestimmten erscheinungsmäßigen Zusammenhang eine ganz bestimmte Bedeutung hat. Sodann ignoriert Fiedler das Problem der vorstellungsmäßigen Typisierung. Die geistige Aneignung bleibt nicht bei der Auswahl stehen. D i e direkten und die gedächtnismäßig reproduzierten Gesichtswahrnehmungen werden in der Einbildungskraft zu einem künstlerischen Bild verallgemeinert. Für Marées und Hildebrand ist die Typisierung eine selbstverständliche Voraussetzung künstlerischer Gestaltung. Sie erheben zur Prämisse, was Fiedler ausdrücklich ablehnt, nämlich daß der Künstler schon im Anschauungsvermögen eine „besondere G a b e des Wählens, des Zusammenfassens, des Umgestaltens, des Veredeins, des Verklärens" besitzt. Sie wissen, daß sich die geistige Aneignung immer in Rücksicht auf die Gestaltung, aber vor jeder manuellen Betätigung im Werkstoff vollzieht. Zunächst muß die künstlerische Vorstellung im Bewußtsein typisiert worden sein, ehe sie realisiert werden kann. Indem W. Waetzoldt einen „Blick hinter den Ateliervorhang" tut, stellt er fest: „Man kommt immer erst zum zweiten Akt des Schauspiels. Der erste, das heißt der eigentlich schöpferische Vorgang: die Empfängnis und Geburt der künstlerischen Idee, entzieht sich der unmittelbaren Beobachtung, da er sich in der Brust des Künstlers abspielt." 1 9 5 Nicht erst in der äußeren Gestaltung am Werkstoff, sondern schon im Inneren spielen sich wesentliche künstlerische Prozesse ab. Bei der Realisierung handelt es sich um die adäquate Darstellung des Vorstellungsbildes. Dazu gehört technisches Können. In der Skizze erfolgt eine erste, vorläufige Fixierung. Dabei zeigt sich manche Unzulänglichkeit, die in der Vorstellung noch nicht bemerkt werden konnte. Der Künstler sieht jetzt, daß da etwas heraus muß, weil es dem Ganzen schadet, daß dort etwas fehlt, um das Ganze richtig zu charakterisieren, daß an einer dritten Stelle etwas zu matt, an einer vierten etwas zu stark erscheint, etc. Dieses Weglassen, Ergänzen, Verbessern, Zusammenstimmen geschieht immer im Hinblick auf die angemessene, d. h. klare und deutliche Darstellung des vorgestellten Bildes. Dieses selbst wird adäquat verändert, es sei denn, eine ganz neue Konzeption setzt ein. Bei formalistischen Künstlern geschieht das freilich im Verlauf der Gestaltung mehrfach. Die ursprüngliche Vorstellung wird nicht beibehalten, sondern von Mal zu Mal abgeändert bzw. preisgegeben. 196 Fiedler verabsolutiert den zweiten und eliminiert den ersten Akt. D i e geistige Aneignung - Auswahl und vorstellungsmäßige Typisierung - schaltet er aus. E r läßt den schöpferischen Prozeß nur als Gestaltung gelten. Indem er die geistige Aneignung abwertet, verleugnet er aber nicht nur den Abbildcharakter der Kunst, sondern auch
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IV. Kunst als Ausdrucksbewegung
die Transformierung, durch die dieser charakterisiert wird. Die künstlerische „Übersetzung" wird somit nicht nur vom Naturalismus angegriffen, der einer „sklavischen" Nachahmung durchschnittlicher Erscheinungsformen anhängt. Sie wird auch vom Subjektivismus Fiedlers attackiert, weil sie überhaupt objektive Erscheinungsformen voraussetzt. W o nichts existieren soll, was verändert werden kann, ist auch keine Modifikation möglich. Fiedler ignoriert die Transformierung sowohl in der Aneignung als auch in der Gestaltung. Gerade bei der letzteren tritt sie jedoch besonders evident hervor. Würde nicht bei der geistigen Aneignung schon eine Ubersetzung der Erscheinungen vor sich gehen, so würde bei der Gestaltung die Struktur des Materials dazu zwingen. Auf die Fläche muß übertragen werden, was räumlich wahrgenommen worden ist. Mit der beschränkten Helldunkel-Skala der Palette (etwa 1:100) muß wiedergegeben werden, was innerhalb der gewaltigen Helldunkel-Skala der objektiven Realität (etwa 1 : 800 000) gesehen worden ist. Der Künstler wird ziur Transforimierung gleichsam genötigt. Das geschieht zeichnerisch z. B. durch die Mittel der Perspektive, der Überschneidung, der Verkürzung etc. Malerisch geschieht es, wenn - entsprechend dem Weber-Fechnerischen Gesetz - das Verhältnis des eben merklichen Reizzuwachses zum Reiz konstant bleibt. So können selbst mit gedämpfteren Farben die Helligkeitseindrücke der Wirklichkeit und mit helleren Farben die Dunkeleindrücke dargestellt werden. In beiden Fällen aber werden objektive Einwirkungen vorausgesetzt, die transformiert werden können. Eine voraussetzungslose Produktion von Form und Farbe, wie sie Fiedler behauptet, ist unmöglich. In beiden Fällen wird auch ein objektives Material vorausgesetzt, in dem die Realisierung erfolgt. Ohne ein solches ist künstlerische Gestaltung ein Unding. Was sich im realen künstlerischen Prozeß als Aneignung und Gestaltung erweist, wird von Fiedler auf eine abstrakte Kompositionstechnik reduziert. Dabei geht er von zwei grundverkehrten Annahmen aus: Einmal soll in der Komposition sinnliches Chaos überhaupt erst geordnet werden, soll das Sein „allererst" nach seiner klaren und deutlichen Sichtbarkeit hin entstehen. Zum anderen soll in ihr eine rein formale Organisation optischer Elemente erfolgen. Fiedler ignoriert, daß das bildnerische Herstellen immer zugleich ein Darstellen ist. Nur als Abbild hat ein Kunstwerk Gebildecharakter. Fiedler hat in einem Punkt recht: Die Realisierung, die technisches Können voraussetzt, gehört zum Schöpfungsakt. Sie ist nicht schematische Übertragung irgendeines Vorstellungsbildes in das Material, vielmehr bestimmt sie selbst die Spezifik der künstlerischen Tätigkeit. Die Anschauung muß sichtbare Gestalt gewinnen. Man kann den bewußtseinsmäßigen Abbildprozeß nicht von der künstlerischen Praxis trennen. In dieser kommen psychische Tatsachen nicht nur zum Ausdruck, sie entstehen bzw. formen sich zugleich in ihr. S. L. Rubinstein schreibt: „Die Wahrnehmung der Wirklichkeit durch den Künstler und die Darstellung des Wahrgenommenen darf man nicht voneinander trennen. Nicht nur das Kunstwerk ist durch die Wahrnehmung des Künstlers bedingt, sondern auch die Wahrnehmung selbst ist in gewissem Maße durch die Darstellung des von ihm künstlerisch Wahrgenommenen bedingt; sie ist den Bedingungen der Darstellung unterworfen und entsprechend abgewandelt. Der Künstler lernt die Wirklichkeit sehen und wahrnehmen entsprechend den Anforderungen, die von den
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Bedingungen ihrer Darstellung ausgehen. Darum kann man in gewissem Sinne sagen, daß die Wahrnehmung des Künstlers in ihrer künstlerischen Eigenart zum Teil durch die Technik der künstlerischen Darstellung bedingt ist." 197 Soweit dieser Punkt herausgearbeitet würde, wäre nichts einzuwenden. Selbst eine Kritik der klassischen Ästhetik wäre zweckmäßig, sofern diese sich auf die platonisierende Auffassung stützt, wonach das Kunstwerk am reinsten in der Idee enthalten ist, die Idee durch ihre Realisierung nichts zu gewinnen, wohl aber viel zu verlieren hat. Das Kunstwerk ist das Ergebnis dialektischer Wechselwirkung zwischen künstlerischer Vorstellung und Realisierung. Zudem ist ein Bild nicht von vornherein starr und fertig ausgedacht. Es wird während der Gestaltung abgewandelt, immer zu dem Zweck freilich, deutlicher noch hervorzutreten. Da Fiedler aber einerseits die Wirklichkeit und den realen Aneignungsprozeß eliminiert, andererseits nur formale Bestimmungen gelten läßt, erhebt er die technische Ausführung zum Selbstzweck. So wird die Technik obwohl immanenzphilosophisch nie praktisch, sondern als abstrakter Bewußtseinsakt gemeint - selbst zur künstlerisch-anschaulichen Erkenntnis: „Das Geniale, echt Künstlerische, Individuelle manifestiert sich gerade in dem was diese Leute Technik nennen... wo das Technische als etwas Gelerntes gehandhabt wird, da ist Manier schon an die Stelle der Kunst getreten; nur wo sie als etwas beständig Suchendes erscheint, da ist wahre Kunst."198 Fiedler plädiert nicht nur für die Reinheit, sondern auch für die absolute Eigenbedeutsamkeit der künstlerischen Mittel. Die Abhängigkeit des subjektiven künstlerischen Bewußtseins von der Wirklichkeit schließt nicht aus, daß es unmittelbar den Realisierungsprozeß der typisierten Vorstellung bestimmt. Der Ausgangspunkt, die Wirklichkeit, und der Endpunkt, das Kunstwerk, werden durch das subjektive künstlerische Bewußtsein als „Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse" (Marx) vermittelt. In diesem Vermittlungsprozeß ist die letztlich bestimmende Kraft die Wirklichkeit. Trotzdem ist das künstlerische Bewußtsein unmittelbar für die Gestaltung maßgebend. Das bedeutet nicht, daß man sich auf Fiedlers idealistische Theorie festlegen und die Gestaltung als Produktion der Wirklichkeit auffassen müßte. Sie realisiert nur, was geistig angeeignet wurde. Sie realisiert es aber auf eine besondere Art. Das Spezifikum ist: Ihr Gebildecharakter trägt selbst Abbildcharakter. In der künstlerischen Tätigkeit wird die Einheit in der Mannigfaltigkeit sowohl in formaler als auch in inhaltlicher Hinsicht bewußt fortgeführt und ausgebildet. Sie wirkt sowohl in der geistigen Aneignung als auch in der praktischen Realisierung. So setzt die Kompositionstechnik auf anderer Ebene fort, was in der gewöhnlichen Anschauung als psychologisches Wahrnehmungsgesetz ohne und in der vorstellungsmäßigen Typisierung als künstlerisches Gesetz mit Prätention auftritt. Das Ganzheitliche kommt weit stärker noch zum Ausdruck als in der bloßen Wahrnehmung. Die anschauliche Bedeutung wird immer anschaulicher und immer bedeutungsvoller. Der Ordnung optischer Qualitäten entspricht die Vertiefung des Charakters. Das heißt aber, daß die Komposition nicht nur formal im Hinblick auf die Organisation der Bildelemente begriffen werden darf. Nicht zu unrecht hat man festgestellt, daß die Komposition die
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IV. Kunst als Ausdrucksbewegung
beste ist, der man ein bemerkbares Arrangement nicht nachweisen kann. Die geordnete Ganzheit des Bildes bedeutet immer etwas. Sie hat einen besonderen Inhalt. Wenn sich in der Wirklichkeit die sichtbare Formierung verschiebt, so treten andere Wesenszusammenhänge hervor. Im Kunstwerk ist es nicht anders. Es weist jedem einzelnen Bildelement seine „notwendige" Stellung zu. Ändert sich die Stellung, so ändert sich die formale Ganzheit, ändert sich die Ganzheit, so ändert sich die Bedeutung. Sie bestimmt die künstlerische Wertigkeit z. B. der roten Farbe des Gewandes einer darzustellenden Figur. Das Rot hat seinen Sinn nur in diesem besonderen Zusammenhang. In einem anderen Bild könnte es etwas ganz anderes bedeuten. Wo bei der Komposition nur die formale Organisation der Bildelemente, die Linienführung oder Farbgebung, im Vordergrund künstlerischen Bemühens steht, ist die Einheitlichkeit gefährdet. Freilich darf man nicht annehmen, daß z. B. die Bedeutung des Rots, mit dem der Künstler das Gewand malt, begrifflich klar und deutlich definiert werden kann. Sie vermag innerhalb der Gesamtbedeutung den Sinn einer vagen, diffusen, durch Worte nur anzudeutenden Stimmung zu haben. Aber gerade dieser Sinn würde preisgegeben, und damit auch der Gesamtzusammenhang, wenn der Künstler dieses besondere Rot durch eine andere, mag sein harmonischere Farbe ersetzen wollte. Über der äußeren Glättung darf er nie den inneren Gehalt vergessen. Fiedler hat also, wenn man von seiner immanenzphilosophischen Grundkonzeption absehen will, noch in einem weiteren Punkt recht: Die Komposition als Ergebnis gesteigerter sinnlicher Synthese ist eine ordnende Macht. Leider ermittelt er - mit Ausnahme des im Anhang veröffentlichten Fragments - die Ordnungsfunktionen nicht: Wie z. B. durch die Komposition die Transformierung der räumlichen Gegenständlichkeit in die zweidimensionale Bildfläche erfolgt oder wie die Komposition die Anleitung der künstlerischen Rezeption, die anschauliche Aneignung der im Kunstwerk realisierten Bedeutung bewirkt. Schon die einfache Gebärde ist eine emotionale Ausdrucksbewegung, die den Sinn hat, sich anderen Menschen verständlich zu machen, z. B. durch Lächeln Sympathie oder durch Drohen Furcht zu erwecken. Sie tritt als Begleitung, Ergänzung oder Ersatz des gesprochenen Worts auf und ist, analog diesem, ein verallgemeinerndes Zeichen. Die für die menschliche Gattung zutreffende Spezifik des ersten Signalsystems in diesem Zusammenhang ist meines Wissens noch nicht hinreichend untersucht worden. Der Mitteilungscharakter und die Emotionalität - beide von Fiedler bewußt ausgeschaltet - potenzieren sich in der künstlerischen Ausdrucksbewegung, vor allem in der Komposition. Sie hat nicht wie die Gebärde den Sinn, unmittelbaren Nutzen zu bringen, sondern Wirklichkeit, primär gesellschaftliche, „nachzuahmen", d. h. durch konkrete Gebilde ganzheitlich abzubilden. Was in der Gebärde flüchtig und zufällig erscheint, ist im Kunstwerk für die Rezeption geordnet, d. h. fixiert und konzentriert. Das bedeutet wiederum eine Vertiefung des gesellschaftlichen Bewußtseins. Hätte Fiedler diese Funktion näher ermittelt, wäre die Widersprüchlichkeit seines subjektiven Idealismus und Formalismus freilich offensichtlich geworden. Wie sich zwischen Fiedlers Isolierung der Sichtbarkeit und den Thesen des Impressionismus Parallelen ziehen lassen, so erinnert seine „Realisierung" an Gedankengänge des Fauvinismus, Expressionismus und Kubismus. Freilich soll sie keinen irrationalen und prälogischen Seelenschichten zu einem symbolischen Ausdruck verhelfen. Der
2. Technische Realisierung
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Mystizismus liegt Fiedler fern. Aber sie soll die unvollkommene Sichtbarkeit der Natur zur vollkommenen Sichtbarkeit der Kunst emporbilden, d. h. eine Welt erzeugen, statt Erscheinungen einer bereits bekannten und vertrauten Welt nachzuahmen. An diesem Punkt setzen die drei genannten Richtungen ein. Wie Fiedler kehren sie das real gegebene Verhältnis zwischen dem Objekt und dem subjektiven Bewußtsein um. Die Erscheinungen der Wirklichkeit, wie sie die meisten Menschen sehen, erklären sie als unwichtig. Je mehr man sich von ihnen entferne, um so näher komme man der Kunst. Wesentlich sei nur der eigenständige kompositorische Organismus des Bildes, der vom künstlerischen Subjekt entworfen werde. In ihm drücke sich kein Abbild, sondern ein reines Gebilde aus199. W. Hess schlußfolgert, für den Künstler werde Wirklichkeit somit „etwas, das er ganz voraussetzungslos mit rein künstlerischen Mitteln erst zu schaffen hat. Er stellt nicht dar, sondern macht wirklich. Er sieht sich vor die Aufgabe gestellt, durch eine ungedeutete wirre Mannigfaltigkeit von Erscheinungen hindurchzugreif en ins Unbekannte; Ordnung, Sinn und Ganzheit durch den rein künstlerischen Prozeß zu finden, sichtbar zu machen oder ahnen zu lassen."200 W. Hess hat auch auf die Parallele zwischen Fiedler und Cézanne aufmerksam gemacht, die in dem Terminus Realisation evident wird, den beide gebrauchen 201 . Cézanne versteht unter Realisation die auf Grund einer rein „anschaulichen Logik" (Farbenlogik) kompositorisch gestaltete künstlerische Welt. Er geht nicht vom Naturvorbild, sondern von der Struktur der Bildelemente aus, deren Eigenbedeutsamkeit er zu legitimieren beabsichtigt. In seinen Gesprächen mit Gasquet finden sich zahlreiche Äußerungen, die Fiedlers Konzeption in frappanter Weise entsprechen. Ich zitiere zwei Stellen: „Alles, was wir sehen, nicht wahr, verstreut sich, entschwindet... Nichts von dem, was uns von der Natur erscheint, b l e i b t . . . wir müssen ihr Dauer verleihen . . . " . „Sie sprachen mir neulich von Kant. Vielleicht rede ich dummes Zeug, aber mir scheint, daß ich das subjektive Bewußtsein dieser Landschaft wäre und meine Leinwand ihr objektives Bewußtsein. Meine Leinwand und die Landschaft, beides außerhalb von mir, aber die letztere chaotisch, vergänglich, wirr, ohne logisches Dasein, ohne jede Vernunft; die erstere beharrend, wahrnehmbar, kategorisiert, teilhabend an der Modalität der I d e e n . . . Ich weiß, ich weiß, das ist eine Deutung, ich bin kein Universitätler..." 2 0 2 Fiedlers Realisierung ist es auch, welche von westdeutschen Kunsttheoretikern unserer Tage aufgegriffen wird, die sich zu Fürsprechern der sogenannten Abstrakten machen. Sie erblicken in ihr eine willkommene Bestätigung ihrer These, die Kunst müsse sich vom Abbilden kösen und auf ein voraussetzungsloses kompositorisches Neugestalten besinnen. Zwei Beispiele sollen genügen. W. Haftmann beruft sich auf Fiedlers Analyse der „Bildwerdung", wenn er die „Seite des Argumentierens" über das „Problem der abstrakten Form" in der „deutschen U m w e l t . . . avisiert" 203 . W. Hofmann stellt Fiedlers „Prinzip der Produktion der Wirklichkeit" als das Bemühen hin, durch das „die Sichtbarkeit der Dinge in der Gestalt reiner Formgebilde" verwirklicht wird. Er erklärt: „Für Matisse wie für Kokoschka, für Braque wie für Chagall gilt darum das Wort Fiedlers von der .Produktion der Wirklichkeit': der Künstler bringt, indem er die Welt gestaltet, diese überhaupt erst hervor."204
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IV. Kunst als Ausdrucksbewegung
M a g man es als Zufall ansehen oder nicht, immerhin ist es erstaunlich, daß zwei bekannte Interpreten Fiedlers, H. Konnerth und J. Eichner, zu Apologeten des „Blauen Reiters" wurden. H. Konnerth, der Fiedlers Schriften gesammelt herausgab und in seiner kunsttheoretischen Abhandlung zu systematisieren versuchte, hat selbst im Stile Kandinskiys zu malen begonnen 205 . J. Eichner, in dessen Besitz sich bis vor kurzem der Nachlaß Fiedlers befand und der beachtliche Studien zu einer psychologischen Arbeit über diesen zusammentrug, hat diesen ursprünglichen Plan aufgegeben und statt dessen ein Werk über Kandinsky und G . Münter veröffentlicht 206 . D a s mag, wie gesagt, Zufall sein. Im Zusammenhang mit den oben angeführten Beispielen ist es aber symptomatisch für die Tendenz, mit der Fiedlers Gedanken heute fortwirken. Sie sind eine ideologische Stütze des modernen spätbürgerlichen Formalismus. Für Fiedler ergibt sich, was Denis einmal über Cézanne sagte. E r ist „so verwickelt und vieldeutig, daß jeder von ihm die Bestätigung seines Systems erwartet, so sehr verlangen . . . seine Gedanken nach Interpretation." 207 Deutlicher formuliert: Fiedlers kunsttheoretische Konzeption ist so abstrakt, daß jede der modernen formalistischen Richtungen in sie hineinlegen kann, was sie gerade vertritt. D a s wäre freilich nicht möglich, käme diese ihnen nicht entgegen. Die drei Punkte, die im Mittelpunkt stehen, finden sich vollgültig wieder: der absolute Gebildecharakter der Kunst, die „reine Sichtbarkeit" und die technisch-kompositorische Realisierung, die allerdings für Fiedler letztlich selbst nur ein isolierter Bewußtseinsprozeß ist.
V. Formalismus, Aristokratismus, Ästhetizismus
Zusammenfassend läßt sich sagen: Fiedlers kunsttheoretischer Formbegriff, und zwar im weiteren Sinn als künstlerische Tätigkeit, läßt sich zurückführen auf drei Gedankenkomplexe, die ständig wiederkehren: Erstens: Die künstlerische Tätigkeit ist eine spezifische Produktionsweise des von der objektiven Wirklichkeit isolierten subjektiven Bewußtseins, trägt somit absoluten Gebildecharakter. Zweitens: Die künstlerische Tätigkeit ist ein Reinigungsprozeß, in dem die Sichtbarkeit von allen „unanschaulichen" Elementen isoliert wird. Drittens: Die künstlerische Tätigkeit als Ausdrucksbewegung bzw. Realisierung ist nichts anderes als Kompositionstechnik. W a s für den kunsttheoretischen Formbegriff im weiteren Sinn zutrifft, gilt für ihn auch im engeren Sinn. Folglich liegt die Besonderheit, durch die sich das Kunstwerk hervorhebt, darin, daß es Sichtbarkeitsgebilde ist. Fiedler spricht dabei nicht einfach von einer Form, d . h . von einem Bewußtseinsprodukt; denn einen absoluten Gebildecharakter schreibt er dem gesamten Sein und nicht allein der Kunst zu. Er spricht vielmehr von einer „gestalteten Form" 208 , womit er ohne Zweifel den technischen bzw. kompositorischen Charakter unterstreichen will. Einerseits soll das Kunstwerk auf einem „rein" anschaulichen Formprozeß beruhen, im Unterschied zum Wort, das einem begrifflichen Formprozeß entstammt. Andererseits soll es sein Dasein einem zur technisch-kompositorischen Gestaltung gesteigerten Formprozeß verdanken, im Unterschied zur sichtbaren Natur, die ihr Dasein nur auf den durch das sehende Auge vollzogenen Formprozeß zurückführen kann. Mit dieser spezifischen Doppelwertung glaubt Fiedler das Wesen der bildenden Kunst bestimmt zu haben. Wenn Fiedler annimmt, das Kunstwerk sei reine Form, weil es der voraussetzungslosen Formung des subjektiven Bewußtseins entstamme, verabsolutiert er ein Teilmoment. In Wahrheit ist diese Formung eine Transformierung, die sich nach der erscheinungsmäßigen Voraussetzung der Realität richten muß, und die künstlerische Form selbst eine „wiedergefundene Unmittelbarkeit". Was die Wissenschaft in der begrifflichen Abstraktion vollzieht, praktiziert die künstlerische Tätigkeit in der anschaulichen Verallgemeinerung bzw. Typisierung. Das Wesen der Erscheinungen wird herausgehoben. Das Wesen ist aber wesentlich immer nur in einem ganz bestimmten Verhältnis, hier in seiner Beziehung zum künstlerischen Subjekt als „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse". Die bildende Kunst hat folglich ihre eigene, durch die Sichtbarkeit und die besondere Subjekt-Objekt-Korrelation charakterisierte Aneignungssphäre. Ihr 9
Faensen
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V . Formalismus. Aristokratismus, Ästhetizismus
kommt es nicht auf Wesenszusammenhänge „an sich" an, sondern darauf, wie diese visuell erscheinen können, und welche subjektive Bedeutung sie haben. Wenn auch mit Unterstützung begrifflicher Reflexionen, bewegt sie sich auf sinnlich-anschaulichem Boden. In ihr erfolgt in formaler Hinsicht eine Umbildung und in inhaltlicher Hinsicht eine bedeutungsmäßige Vertiefung der Anschauung. D a s erscheinungsmäßige Gegebene wird nicht nur modifiziert, sondern auch bewertet. Der Ordnung verschiedener Wahrnehmungs- und Vorstellungsbestandteile entspricht das Sichausprägen eines besonderen Charakters bzw. einer besonderen Bedeutung. Beides geschieht nicht getrennt, sondern als einheitlicher Prozeß. So wirkt, was in der Realität als Dialektik zwischen Erscheinung und Wesen auftritt, in der künstlerischen Vorstellung als Dialektik zwischen Anschauung und anschaulicher Bedeutung und im realisierten Kunstwerk als Dialektik zwischen Form und Inhalt. Fiedler reduziert das Wesen auf die Erscheinung, die anschauliche Bedeutung auf die „reine" Anschauung und den Inhalt auf die Form. Dadurch hebt er sowohl die materielle als auch die künstlerische Dialektik auf. Alle Wesensbestimmungen werden von ihm eliminiert. Freilich ist das, d a er nur subjektive Bewußtseinsprozesse kennt, keine dreifache, sondern eine einfache Maßnahme. Wenn Fiedler annimmt, das Kunstwerk sei reine Form, weil es eine Anschauung ausdrückt, die von allen gefühlsmäßigen und begrifflichen Qualitäten isoliert wurde, verabsolutiert er ein Teilmoment. Eine solche Isolierung ist nie im geistig-praktischen künstlerischen Prozeß, sondern nur unter bestimmten experimentellen bzw. pathologischen Bedingungen möglich. Dieselben vorausgesetzt, wird die Anschauung ihrer Bedeutung entkleidet. Sie zerfällt in ein chaotisches Durcheinander optischer Empfindungen und hat keinen verständlichen Sinn mehr. Praktisch besitzt die Anschauung jedoch immer einen besonderen Gefühlston und einen besonderen begrifflichen Erkenntnischarakter. In ihnen hat sie ihre Bedeutung. Die gefühlsmäßigen und begrifflichen Qualitäten bilden sozusagen den Inhalt der Anschauung. Sie werden von ihr dialektisch integriert, wirken also sinnlich, obwohl sie über die unmittelbare Sinnlichkeit hinausweisen. Gerade das, was Fiedler bestreitet, ist psychologisch nachweisbar: Der Inhalt „überragt" die Form. Wenn in der künstlerischen Umgestaltung eine inhaltliche Vertiefung erfolgt, so heißt das nichts anderes, als daß der formalen Umbildung der Anschauung eine Anreicherung gefühlsmäßiger und begrifflicher Qualitäten entspricht. Die sichtbare Erscheinung eines materiellen Objekts sagt unmittelbar nicht das gleiche aus, was die künstlerische Darstellung bieten würde. Weder wird die Form mechanisch entlehnt, noch die Bedeutung mechanisch übernommen. Die Erscheinungsform wird im Hinblick auf eine umfassendere Ordnungs modifiziert, die Bedeutung wird im Hinblick auf den Gefühls- und Erkenntnischarakter vertieft. Was im Kunstwerk realisiert worden ist, muß im künstlerischen Bewußtsein transformiert worden sein. Menschliche Erlebnisse werden dargestellt, d. h. bestimmte gefühlsmäßige und begriffliche Qualitäten, die in der anschaulichen künstlerischen Vorstellung bzw. in der bildhaften Idee dialektisch enthalten sind. In diesem Sinn muß man als künstlerische Form die im Werkstoff anschaulich realisierte, verdichtete Anschauung begreifen und als künstlerischen Inhalt die in ihr integrierten gefühlsmäßigen und begrifflichen Qualitäten. Wenn Fiedler annimmt, das Kunstwerk sei reine Form, weil es das Produkt technischer Gestaltung ist, verabsolutiert er ein Teilmoment. Infolge seines subjektiven Idea-
V. Formalismus, Aristokratismus, Ästhetizismus
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lismus löst er die Komposition aus der dialektischen Einheit des künstlerischen Gesamtprozesses heraus, idealisiert und hypertrophiert sie. Sie geht in einem von allen realen Einflüssen „gereinigten" subjektiven Bewußtsein vor sich. Einerseits wird sie von der geistigen Aneignung, andererseits von der objektiven Quelle der Aneignung, der Realität isoliert. In der Komposition wird aber nur adäquat dargestellt, was vorher vorstellungsmäßig zum typischen Bild verdichtet wurde. So wie Marx bei dem wissenschaftlichen Prozeß zwischen Forschung und Darstellung unterscheidet, so muß man weit mehr noch - bei dem künstlerischen Prozeß zwischen geistiger Aneignung und praktischer technischer Gestaltung unterscheiden. Im Nachwort zur zweiten Auflage des „Kapital" erklärt Marx: „Allerdings muß sich die Darstellungsweise formell von der Forschungsweise unterscheiden. Die Forschung hat den Stoff sich im Detail anzueignen, seine verschiedenen Entwicklungsformen zu analysieren und deren innres Band aufzuspüren. Erst nachdem diese Arbeit vollbracht, kann die wirkliche Bewegung entsprechend dargestellt werden. Gelingt dies und spiegelt sich nun das Leben des Stoffs ideell wider, so mag es aussehn, als habe man es mit einer Konstruktion apriori zu tun." 209 Fiedler verfällt diesem idealistischen Trugschluß. Er nimmt an, in der Realisierung des geistig Angeeigneten vollziehe sich eine „Konstruktion apriori". In Wahrheit handelt es sich nicht um den Entstehungsprozeß des Konkreten, sondern um eine spezifische Darstellung des „Gedankenkonkretum", d. h. hier der bildhaften Idee 210 . Dem Nominalismus in der Philosophie entspricht der Formalismus in der Kunsttheorie Fiedlers. Das, was sich nicht auf die Form reduzieren läßt, bezeichnet er als „unkünstlerischen Nebenwert" 211 . In erster Linie meint er den Stoff bzw. das Sujet. Das Sujet scheint für ihn alle Bestimmungen zu erschöpfen, die man als inhaltliche Bestimmungen anzusehen hat. Einem solchermaßen entleerten Inhalt kann er dann mühelos alle künstlerische Kraft absprechen. So rühmt Fiedler an Marées, er habe sich von der „stofflichen Bedingtheit" zu emanzipieren versucht. Als Künstler dürfe man nie einem „gegenständlichen Interesse" nachkommen. Der künstlerische Wert bzw. die künstlerische Wahrheit liege allein innerhalb der formalen Gestaltung. Die Wahrheit dessen, was das Kunstwerk darstellt (nachahmt), sei keine künstlerische Wahrheit. Um historische Treue brauche sich der Künstler nicht zu kümmern. 212 Fiedlers Auffassung ist charakteristisch. Sie nimmt Gedankengänge aller folgenden formalistischen Theorien vorweg. Später wird nämlich üblich, zu behaupten, das Sujet sei der bildenden Kunst fremd. Es müsse in die Literatur, in die Philosophie etc. verwiesen werden. Wenn der Künstler nicht der „Illustration" verfallen wolle, dürfe er es nur als äußerlichen Vorwand gebrauchen, ein Gebilde „reiner Sichtbarkeit" zu schaffen. A. Hauser schreibt: „Der Gegenstand der Darstellung verliert allmählich jeden ästhetischen Wert, jedes künstlerische Interesse, und die Kunst wird in einem Grade formalistisch, wie sie es nie gewesen war. Es wird vollkommen belanglos, was man malt; man fragt nur danach, wie es gemalt ist. Eine solche Indifferenz gegenüber dem Motiv zeigte noch nicht einmal der spielerische Manierismus. Nie betrachtete man bisher einen Kohlkopf und einen Madonnenkopf als gleichwertige künstlerische Vorwürfe." 213 Zwar hat dieser Gedankengang eine relative Berechtigung, nämlich insofern, als das Sujet auf spezifisch bildnerische Art behandelt werden muß. Das Literarische und Philosophische interessieren nicht als Stoff außerhalb des Kunstwerks, sondern als bild9*
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V. Formalismus, Aristokratismus, Ästhetizismus
nerische Aussage. Manches Sujet, das visuell faßbar zu sein scheint, erweist sich bei näherer Überprüfung als völlig ungeeignet zur künstlerischen Darstellung. Aber eine Opposition gegen die „Illustration" darf den Stoff nicht als solchen eliminieren. Nicht der Stoff schlechthin erzeugt „Illustration" oder „Literarisierung", sondern die falsche Auswahl und die wirkungslose Handhabung bildnerischer Mittel. S. L. Rubinstein schreibt sehr treffend: „Wenn das anschauliche Bild in sich keinen Ideengehalt aufnehmen könnte, dann wäre das Kunstwerk, das immer mit anschaulich-bildhaftem Material arbeitet, entweder ideenlos oder tendenziös. Denn tendenziös und unkünstlerisch wäre ein Kunstwerk, das den Ideengehalt außerhalb und neben den Bildern nur in allgemeinen Formulierungen wiedergibt, und ideenlos ein solches, das ihn überhaupt nicht wiedergibt. Im wesentlichen kann jedes Kunstwerk nicht nur, sondern es muß auch irgendeine ideelle Bedeutung haben, weil jedes Kunstwerk eine bestimmte ideelle Erscheinung ausdrückt. Die Frage ist nur, wie weit es das in vollkommener Weise tut. In einem echten Kunstwerk, das gleichzeitig aus der Idee geboren und künstlerisch ist, ist der bildliche Gehalt und nur er allein der Träger des Ideengehalts." 214 Fiedler verabsolutiert seine relativ berechtigte Opposition gegen den in der Form unaufgelösten Inhalt. Scheinbar wendet er sich gegen das „Tendenziöse", im Kern aber plädiert er für das „Ideenlose" (Rubinstein). Fiedler vollzieht den entgegengesetzten Schritt zu G. Th. Fechner, ohne freilich den Boden der atomistischen Elementen- bzw. Assoziationspsychologie zu verlassen. Fechner erklärt, das ästhetische bzw. künstlerische Gefallen werde durch einen äußeren und direkten und einen inneren und indirekten, d. h. „assoziativen" Faktor ausgelöst. Sehe man z. B. Farbe und Gestalt eines Objekts, so bringe man zu diesem unmittelbaren optischen Eindruck auf Grund früherer Erfahrungen eine Fülle von reproduzierten Vorstellungen „assoziativ" hinzu. Sie enthielten die Bedeutung, „die geistige Farbe", die das Objekt habe. Was Fechner als notwendige Voraussetzung ästhetischen bzw. künstlerischen Gefallens postuliert, will Fiedler gerade eliminiert wissen. Er meint, die „Assoziationen" würden den künstlerischen Wert zerstören. Zwar erkennt er sie als existent an, verlangt aber ihre Isolierung. Gemeinsam ist Fiedler und Fechner der Irrtum der atomistischen Psychologie. Während Fechner aber trotz dieser verkehrten Voraussetzung eine Anerkennung inhaltlicher Bestimmungen anstrebt, benutzt Fiedler sie, um die inhaltlichen Bestimmungen zu eliminieren.215 In Wahrheit ist der assoziative Faktor im künstlerischen Prozeß zwar vorhanden, aber man kann die Bedeutung der Anschauung nicht auf ihn reduzieren. Es handelt sich nicht nur um die Beigesellung von Vorstellungen. Weitaus wesentlicher ist die dialektische Integration. In der vermeintlichen Abwehr außerkünstlerischer Tendenzen entleert Fiedler die künstlerische Form von der ihr inhärenten Bedeutung. Er suspendiert alle inhaltlichen und verzerrt dadurch die formalen Bestimmungen. Selbstverständlich hat der Gedanke einen Sinn, daß nur das als künstlerischer Inhalt betrachtet werden kann, was in die Form eingegangen ist. Dabei handelt es sich aber um keine starre Deckungsgleichheit, sondern um ein dialektisches Verhältnis. Der Inhalt verflüchtigt sich weder in der Form, noch bleibt er, wenn das nicht der Fall ist, völlig ungeformt. Man könnte meinen - und hat gemeint - die Form sei das, was mit Figur, Farbe, Harmonie, Symmetrie etc., kurzum dem sinnlich Unmittelbaren zusammenfällt, Inhalt dagegen sei die mittelbare gei-
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stige Aussage. Eine solche abstrakte Unterscheidung kann das Problem nur streifen. Sie legt sogar die Annahme Fiedlers nahe, das Geistige als unkünstlerisch zu verwerfen. In Wahrheit ist die inhaltliche Aussage in bestimmter Hinsicht immer sinnlich unmittelbar, wenn sie auch in anderer Hinsicht über das Unmittelbare hinausweist. Sie wirkt als direkter und als indirekter Faktor. In Wahrheit erweisen sich Inhalt und Form auch als relative Begriffe. Beide schlagen dialektisch ineinander um. Zum Beispiel hat das Sujet im Verhältnis zu den materiellen Erscheinungen, die in ihm auf individuelle Weise abgebildet werden, eine Formfunktion. Gleichzeitig ist es etwas Inhaltliches im Vergleich zu den bildnerischen Gesetzen, die bei seiner Darstellung angewendet werden. Fiedler macht es sich leicht, dem Problem auszuweichen. Die Annahme der Identität schließt eine Übereinstimmung bzw. Nichtübereinstimmung von Inhalt und Form von vornherein aus. Selbstverständlich ist eine solche aber in jedem Kunstwerk festzustellen. Sie richtet sich einmal nach dem Maß anschaulicher Integration, zum anderen nach der Mitwirkung assoziativer Faktoren. Einmal müssen die gefühlsmäßigen und begrifflichen Qualitäten, die der Künstler auszudrücken wünscht, ganz und voll in die sinnliche Erscheinung der Form treten. In bestimmten Fällen ist das nicht möglich. Dann aber müssen sie dergestalt angedeutet sein, daß sie die unmittelbare inhaltliche Aussage potenzieren. Eine Integration vollzieht sich immer. D a s ist ein objektives Gesetz. Unabhängig vom künstlerischen Wollen oder Nicht-Wollen hat jede vorgefundene (natürliche Erscheinungs-) und geschaffene (künstlerische) Form einen Inhalt, der dialektisch in sie eingeht. Selbst bei einem Ornament ohne Träger oder bei einer mit Spektralfarben befleckten Wand sind Form und Farbe nicht „rein" anschaulich - auch sie haben eine, freilich ganz vage, Bedeutung. Vom künstlerischen Wollen oder Nicht-Wollen abhängig ist dagegen, wie weit einer Konzentration der Erscheinungsmerkmale eine Konzentration des Inhalts entspricht. E s kommt künstlerisch darauf an, die Integration möglichst weit voranzutreiben. Was nicht integriert und nur angedeutet ist, unterrichtet zwar über die Absicht des Künstlers, bleibt an sich aber im Stadium des Vorkünstlerischen stecken. E s wird zur „Illustration". Wenn auch nur deklariert, so ist das „Illustrierte" trotzdem Inhalt. Aber es ist eben an sich kein künstlerischer Inhalt. E s kann diesen verstellen wie bei der Historien-Malerei und beim Naturalismus. E s kann diesen auch fördern. In diesem Fall wird es selbst zu einem künstlerischen, bildnerischen Faktor. Der Unterschied zwischen integrierten und assoziativen inhaltlichen Bestimmungen ist praktisch sehr schwer festzustellen. Trotzdem ist er vorhanden. E r kommt schon in der Tatsache zum Ausdruck, daß, unbeschadet der Einheit der künstlerischen Gesamtform, nicht alles mit allem im gleichen Grad zusammenhängt. Folglich existieren verschiedene Bedeutungsschichten. E s gibt einen unmittelbaren, sozusagen „wörtlichen" Bildsinn. E r umfaßt das Sujet, reduziert sich allerdings nicht auf dieses. Das Sujet ist nur sein beschreibender, konstatierender Teil, der nie alleine steht. Eine vulgäre Kunstbetrachtung meint, mit dem unmittelbaren, „wörtlichen" Bildsinn den Inhalt überhaupt erfaßt zu haben. Einer ausgebildeten Kunstbetrachtung wird dagegen auch der mittelbare Bildsinn offenbar. Dieser erschließt sich allerdings nur auf Grund eines gediegenen Wissens. In formaler Hinsicht muß man die Komposition in die einzelnen Bildelemente zerlegen, z. B. in die verschiedenen Pläne, in die Blick-
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V. Formalismus, Aristokratismus, Ästhetizismus
bewegungen, in das Zusammenspiel der Farben etc. In inhaltlicher Hinsicht muß man die allgemeinen historischen Zusammenhänge und die besonderen Voraussetzungen, unter denen der Künstler das Werk schuf, kennen. Auf diese Art entfaltet sich das, was in die Form eingegangen ist. Es handelt sich nicht um beliebige Anregungen, die den Betrachter zu einem mehr oder weniger willkürlichen Hinzuphantasieren verleiten. Es handelt sich um eine objektive realisierte Anweisung auf eine Fülle inhaltlicher Beziehungen, die künstlerische Beziehungen werden können. Insofern erklärt M. Friedländer: „Wer am meisten weiß, sieht am meisten. Man soll aber auch das Wissen nicht überschätzen. Dem, der nicht sieht, nützt es nichts."216 Der mittelbare, durch begriffliche Reflexionen sich offenbarende Bildsinn kann den unmittelbaren fördern und auch hemmen. Im ersten Fall wirkt er spezifisch künstlerisch. Im zweiten Fall/verwandelt er das anschauliche in ein literarisches, mystisches oder gelehrtes Verhältnis. Der Betrachter stellt z. B. nur fest, daß das Gewußte auf dem Bild richtig dargestellt ist - etwa wie manche Reisende nur feststellen, daß die Angaben ihres Reiseführers stimmen. Folglich herrscht eine Übereinstimmung zwischen Inhalt und Form immer dann, wenn die gefühlsmäßigen und begrifflichen Qualitäten, so umfassend das möglich ist, anschaulich integriert zum Ausdruck gelangen und wenn die Assoziationen derart angewiesen werden, daß sie das künstlerisch-anschauliche Verhältnis unterstützen. Die in der künstlerisch komponierten Einheit sich ausdrückende Bedeutung weist immer über den formalen Rahmen des Kunstwerks hinaus. Sie bedeutet etwas, und zwar das besondere künstlerische .Vorstellen bzw. Erleben, das zur Realisierung führte, und die sich in diesem abbildende historisch-gesellschaftliche Wirklichkeit. Durch die komponierte Einheit wird das Kunstwerk formal in sich abgeschlossen, inhaltlich eröffnet es dem Blick neue und weite Bereiche. Es verweist auf eine Fülle von Beziehungen, unter denen die begriffliche Reflexion nur eine Seite unter anderen darstellt. Man spricht deshalb sehr treffend - im Gegensatz zur Eindeutigkeit wissenschaftlicher Gedankengänge - von einer Mehrdeutigkeit. Das Kunstwerk muß als Anweisung auf ein im Prinzip unendlich reiches Guthaben verstanden werden, als - wenn ein Gleichnis gestattet ist - zusammengelegter Fächer, der erst in der Entfaltung sein volles Wesen enthüllt. Die formale, durch den Rahmen gekennzeichnete Grenze des Bildes darf nicht identifiziert werden mit seiner inhaltlichen Grenze. Der sowjetische Kunstwissenschaftler Michail Alpatoff hat in seinem Aufsatz über das Selbstbildnis Poussins im Louvre 217 nachgewiesen, daß zahlreiche, nur der Anlage nach vorhandene, an sich aber außerhalb der formalen Grenzen liegende Faktoren die eigentliche Bedeutung sogar näher charakterisieren können als die in den formalen Grenzen eingeschlossenen Faktoren. Man muß als eine echte Dialektik betrachten, daß jedes Kunstwerk eine in sich abgeschlossene kleine Welt und zugleich Durchgangspunkt zu einem gewaltigen, realen, gesellschaftlichen Geschehen ist. Diese Dialektik, die bei der künstlerischen Rezeption evident wird, ist in Wahrheit Ausdruck der gleichen Dialektik, welche die künstlerische Tätigkeit beherrscht, der Dialektik zwischen Aneignung und Gestaltung, zwischen Abbild- und Gebildecharakter. Die sogenannte formelle Ästhetik, die in der Prägung von Kant und Zimmermann vorliegt, wird von Fiedler radikalisiert. Kant und Zimmermann räumen dem Inhalt bzw. Stoff selbst zwar keinen ästhetischen Wert ein, scheiden ihn aber auch nicht aus.
V. Formalismus, Aristokratismus, Ästhetizismus
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Sie akzeptieren ihn insofern, als er mit der Form in Einklang steht. Kant spricht von der „anhängenden Schönheit" und Zimmermann interpoliert den Stoff bzw. Inhalt der Form 2 1 8 . Dem Einklang zwischen Inhalt und Form billigen sie ästhetischen Wert zu. Fiedler eliminiert dagegen den Inhalt überhaupt und will ihn noch nicht einmal unter dem Primat der Form anerkennen. Für Kant und Zimmermann hat die Form ästetische, d. h. gefühlsmäßige Bedeutung. So bleibt ein zwar vereinseitigter und entleerter, aber immerhin noch inhaltlicher Rest. Fiedler dagegen erblickt in der Form das Produkt eines rein anschaulichen Erkenntnisprozesses, dem jedes objektive Korrelat fehlt. Auf das, was erkannt wird, kommt es ihm gar nicht an. So bleibt nichts anderes übrig als die abstrakte Feststellung der reinen Anschaulichkeit. Diese Entleerung von inhaltlichen Bestimmungen, und seien es selbst solche allgemeiner gefühlsmäßiger Art, ist die Voraussetzung für die moderne bürgerliche Kunsttheorie. Wie Fiedler strebt sie nach einem anti-ästhetischen Formalismus. Wie Fiedler verabsolutiert sie die Form, ohne das emotionale Bedürfnis nach Schönheit anzuerkennen. Untersucht man die sogenannte reine Form, so bemerkt man nicht nur, daß eine Isolierung unmöglich ist, sondern auch, daß sie selbst eine mindestens allgemeinste inhaltliche Bedeutung besitzt. Der Vergleich zum begrifflichen Denken liegt nahe. Erstens bewegt sich dieses nie ausschließlich in logischen Formen, vielmehr hat es einen ganz bestimmten Gedankeninhalt. Zweitens spiegeln selbst seine logischen Formen Beziehungen der Realität wider, sind also keine Prinzipien des Bewußtseins, die unabhängig von der Wirklichkeit wirken. Ähnlich ist es bei den „formalen Momenten" der bildenden Kunst. Was den ersten Punkt anbelangt, so wurde auf die Einheit zwischen formaler Ordnung und bedeutungsmäßiger Vertiefung schon eingegangen. Die künstlerische Anschauung bewegt sich nicht in „reinen" Formen und Farben, z. B. in symmetrischen Schachtelfiguren, komplementären Farbverhältnissen etc., immer hat sie einen konkreten Charakter. E s interessiert vor allem aber der zweite Punkt: Wie Pawlow feststellt, führen regelmäßig sich wiederholende Erscheinungen der Wirklichkeit bei ständiger Einwirkung auf das menschliche Nervensystem dazu, daß sich in der Großhirnrinde bestimmte Prozesse zu einem ausgeglichenen System festigen, einem sogenannten dynamischen Stereotyp. Ein solches dynamisches Stereotyp kann, wenn viele Generationen unter dem gleichen äußeren Einfluß leben, die Beständigkeit erblicher Anlagen erhalten. Eine besondere Rolle spielt es bei der Entwicklung mathematischer und logischer Formen. D a sie als „Resultate .geläufiger Vererbung' " 2 1 9 auftreten, entsteht der Eindruck, sie seien apriori dem Bewußtsein gegeben. In Wahrheit haben sie empirischen Ursprung. Die mathematischen und logischen Formen spiegeln in gnoseologischer Hinsicht allgemeinste und konstante Erscheinungen der unabhängig und außerhalb des Bewußtseins existierenden Wirklichkeit wider. Nicht nur der Inhalt des Vorstellens und Denkens, auch die Formen stammen aus der Erfahrung. Beide haben einen einheitlichen Ursprung. Beide unterscheiden sich allerdings auch. D a s eine Mal handelt es sich um veränderliche Begriffe und Gedanken, das andere Mal um axiomatische Strukturen, denen eine gewisse Selbständigkeit zukommt. D a s eine Mal geht es um die individuelle Erfahrung, das andere Mal um die, in psysiologischer Hinsicht an vererblich gewordene dynamische Stereotype gebundene Erfahrung ganzer Generationen 220 . Wenn K a n t die
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V. Formalismus, Aristokratismus, Ästhetizismus
Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit der Bewußtseinsformen apriorisch erklärt, so befindet er sich ohne Zweifel im Irrtum. Relativ berechtigt ist seine Hypothese nur insofern, als sich der allgemeine und notwendige Charakter tatsächlich nicht aus der Erfahrung eines Einzelnen ableiten läßt, es vielmehr dazu der historischen Praxis der ganzen Gesellschaft bedarf. Lenin weist deshalb darauf hin, daß „die Praxis des Menschen sich dadurch, daß sie sich Milliarden Male wiederholt, im Bewußtsein des Menschen als logische Figuren einprägt. Diese Figuren haben gerade (und nur) kraft dieser milliardenmaligen Wiederholungen die Festigkeit eines Vorurteils und axiomatischen Charakter." 2 2 1 Was Engels und Lenin von den mathematischen und logischen Formen aussagen, gilt auch für die künstlerisch-anschaulichen Gesetze. Entstanden durch milliardenfache Wiederholung praktischer Erfahrung im Umgang mit den sichtbaren Eigenschaften der Gegenstände, bilden sie allgemeinste Zusammenhänge der sichtbaren Wirklichkeit ab. Durch den gesellschaftlichen Arbeitsprozeß stoßen die Menschen auf bestimmte, sich wiederholende Form- und Farbanordnungen. Sie entdecken diese nicht nur wie die Tiere an besonders auffallenden Erscheinungen. Einmal erkannt und beobachtet, bemerken sie diese auch in den Durchschnittseindrücken. Schließlich wissen sie, daß z. B. die Maße der Pflanzenblätter, des menschlichen Körpers etc. gleiche Verhältnisse aufweisen, sie wissen, welche Farben zusammen harmonieren, sie wissen, daß beim Glanz die Lokalfarbe und die Beleuchtung eine Rolle spielen etc. Erkennen und Handeln vollziehen sie jedoch in einem einheitlichen Vorgang. So legen sie den Gegenständen in verschiedener Hinsicht, immer aber auch der Sichtbarkeit nach die ihnen inhärenten Maße an. Die Gesetze, durch welche die Anordnung und Struktur der Formen und Farben bestimmt wird, erkennen sie nicht nur, sie verwerten sie auch. Folglich erfolgt die Produktion u. a. auch z. B. nach dem goldenen Schnitt, den komplementären Farbverhältnissen etc. Im Verlauf der historischen Entwicklung prägen sich dann dem Bewußtsein verschiedene Anschauungsformen ein, in denen sich die konkreten Anschauungen vollziehen. D a s Auge stellt von sich aus Ansprüche an die sichtbare Wirklichkeit. Wichtig ist dabei das Prinzip der Einheit in der Mannigfaltigkeit. E s handelt sich, genau wie bei den mathematischen und logischen Formen, um psychische Faktoren, die in physiologischer Hinsicht an vererblich gewordene dynamische Stereotype gebunden sind. Drei solcher Anschauungsformen mögen als Beispiele dienen: Einmal werden beim Sehen immer bestimmte Form- und Farbverhältnisse gegenüber anderen herausgehoben. Man nennt das die Figur-Grund-Differenzierung. In jedem psychologischen Lehrbuch wird sie nachgewiesen an einem antiken Kylix-Gefäß, dessen Umriß die Form zweier einander zugekehrter Gesichter hat. Bei näherem Hinblicken tritt Reversion auf. In der Regel ist der Reversionseindruck in einer Richtung größer als in der anderen. Beide Richtungen bestimmen sich aber gegenseitig. J e stärker die Figur hervortritt, um so mehr verblaßt der Grund, und umgekehrt. Zum anderen werden beim Sehen immer gewisse Form- und Farbverhältnisse verschluckt. Man nennt das eine Absorption der Teile durch das Ganze. Sie läßt sich z. B. bei Vexierbildern, optischen Schachtelfiguren, der Gesamtform gelesener Wörter etc. nachweisen. Zum dritten findet beim Sehen immer eine bestimmte Gruppierung der Form- und Farbverhältnisse nach Geschlossen-
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heit, Ausgleich, Symmetrie, Harmonie, Uberschneidung, Aufteilung, Kontrast etc. statt. Der Beispiele sind unzählige. Ich kann hier nur auf die im Werk von M. Metzger zusammengefaßten Versuche hinweisen. Durchgängig ist also festzustellen: Unser Blick faßt bestimmte Verhältnisse zusammen, schlägt über Zwischenräume hinweg Brücken, ergänzt von sich aus, was fehlt, und absorbiert, was stört. Alle Vorgänge haben den Zweck, Einheit in die Mannigfaltigkeit der Eindrücke zu bringen. Die Zusammenhänge, die optisch objektiv vorliegen, werden durch die Anschaiuungsformen subjektiv noch konzentriert. So erscheinen in den subjektiven Formen visuelle Wahrnehmungsgesetze. In den genannten drei Fällen wirken sie nie „rein", d. h. isoliert vom konkret angeeigneten Anschauungsstoff. Abgesehen davon, haben sie auch selbst einen besonderen Erkenntnischarakter und einen besonderen Gefühlsgehalt. E s scheint so, als seien sie apriorische Forderungen des Bewußtseins. In Wahrheit aber bilden sie allgemeinste Zusammenhänge der sichtbaren Wirklichkeit ab, denen sie die vorliegenden Zusammenhänge unterwerfen. Mit dem anschaulichen Abbild dieser allgemeinsten Zusammenhänge verbunden ist nicht nur eine begriffliche Wahrheit, sondern auch ein gefühlsmäßiges Wohlgefallen. Die materielle Produktion erfolgt nur unter anderem, nicht aber vorzüglich nach den Gesetzen des Sehens bzw. nach den Anschauungsformen. Bei der bildenden Kunst ist das anders. In der künstlerischen Tätigkeit werden die Gesetze des Sehens ausgebildet und bewußt angewendet. Was dasselbe ist: der Schatz der durch die Arbeitspraxis gewonnenen Einsichten wird erheblich bereichert und verfeinert. Nun genügt es aber nicht, die Gesetze des Sehens zu wissentlich verwerteten und relativ verselbständigten Kunstprinzipien zu entwickeln. D a s ergibt zwar, wie Wölfflin erklärt, eine „Logik" der Anschauung 222 . D a s ergibt aber noch keine Kunst. Freilich kann man, ebenso wie von der formellen Logik, von einer formellen Lehre der Anschauung sprechen. Sie spielt nicht nur in der Kunsttheorie, sondern auch in der Geometrie und in der Psychologie eine Rolle. Die formelle Logik muß aber ergänzt werden durch die dialektische Logik. Geschieht das nicht, so dominiert der logische Formalismus. Ebenso ist es bei der formellen Lehre von der Anschauung. Sie muß ergänzt werden durch die Kunstphilosophie, d. h. durch eine inhaltliche bzw. ästhetische Betrachtung. Geschieht das nicht, so dominiert der kunsttheoretische Formalismus. H. Wölfflin teilt zwar nicht Fiedlers anti-ästhetische Einstellung - die klassische Schönheit hat für ihn hohen künstlerischen Wert - , aber er teilt die Auffassung, daß die „formalen Momente" unabhängig von jeder historischen Voraussetzung die künstlerischen Prinzipien par excellence sind. Wie Fiedler versteht er unter der Funktion der Form eine „Klärung des Sichtbaren", eine Organisation der Bildelemente zu einem einheitlichen Ganzen. Die entsprechende inhaltliche Vertiefung klammert er aus, vor allem im Hinblick auf die gesellschaftlichen Bestimmungen. In frappierender Übereinstimmung mit Fiedler schreibt er: „Es gibt eine Auffassung der Kunstgeschichte, die in der Kunst nichts anderes sieht als eine Übersetzung des Lebens' (Taine) in die Bildersprache und die jeden Stil als Ausdruck der herrschenden Zeitstimmung begreiflich zu machen versucht. Wer wollte leugnen, daß das eine fruchtbare Betrachtungsweise ist? Allein sie führt doch nur bis zu einem gewissen Punkt, fast möchte man sagen, nur bis dahin, wo die Kunst anfängt. Wer sich nur an das Stoffliche im Kunst-
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werk hält, wird vollkommen damit auskommen; allein sobald man mit künstlerischen Werturteilen die Dinge messen will, ist man genötigt, auf formale Momente zu greifen, die an sich ausdruckslos sind und einer Entwicklung rein optischer Art angehören." 223 In späteren Schriften, vor allem in den „Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen", konstruiert Wölfflin eine vom allgemeinen historischen Geschehen weitgehend unabhängige Geschichte der Sehweisen. Zwei von ihnen sollen in der Neuzeit, sich einander abwechselnd, immer wieder hervortreten, nämlich die der Klassik und die das Barock. Anhand von fiünf Begriffspaaren versucht Wölfflin sie zu charakterisieren: linear-malerisch, Fläche - Tiefe, geschlossene Form - offene Form (tektonisch-atektonisch), vielheitliche Einheit - einheitliche Einheit, unbedingte Klarheit - bedingte Klarheit. In allen fünf Fällen wird von den historischen bzw. gesellschaftlichen und ideologischen Bedingungen weitgehend abstrahiert und nur die reine, von der Praxis gelöste Anschauungsform betrachtet. Wölfflin erklärt, es sei „kein glücklicher Versuch, wenn man die Kunst den Spiegel des Lebens nennt." 224 E r will die „optischen Möglichkeiten untersuchen, die an sich ausdruckslos, „Schemata" der realen Anschauung sind. Freilich kommt er dabei zu anderen Ergebnissen als Fiedler, vor allem im Hinblick auf die bildnerische Bedeutung haptischer Qualitäten, aber er führt doch - wie sowohl E . Utitz als auch W. Passarge bestätigen 225 - die Konzeption Fiedlers fort. Insofern wirken Fiedlersche Gedankengänge auch in den Theorien von G . Britsch, E . Kornmann, P. Frankl, E . Preetorius, K . Riezler, ja - ungeachtet der formellen Distanzierung - in B. Crocces „Ästhetik". Ist Wölfflin bemüht, die Funktionsweise der Gesetze des Sehens und der formalen Kunstprinzipien der allgemeinen menschlichen Beurteilung zugänglich zu machen, so meint Fiedler, sie könne der „Masse der Menschen" nie verständlich werden. Wölfflin sieht eine didaktische Aufgabe. E r will „Anschauungsstunden" für die Jugend einrichten 226 . E r will „für die Erziehung der Menschen zum Sehen" sorgen 227 . Fiedler dagegen sieht die Möglichkeit esoterischer, aristokratischer Abgrenzung. E r lehnt jeden pädagogischen Versuch ab, Kunstverständnis anerziehen zu wollen. Wo die „künstlerische K r a f t " versage, könne keine Belehrung helfen. Werde sie trotzdem gegeben, so führe sie nicht zu der Kunst hin, sondern von ihr weg. 228 Für Fiedler ist die Kunsttheorie im Grunde immer nur ein Beleg des Subjektivismus und Aristokratismus, nicht Wissenschaft der Kunst und als solche Anleitung zur praktischen Auseinandersetzung mit dieser. Fiedlers Aristokratismus steht im engen Zusammenhang mit seiner subjektiv idealistischen Gnoseologie. E r erklärt: Messe man die Wirklichkeit am erkennenden Bewußtsein, so werde man inne, daß man das Sein der Gegenstände nicht „als etwas für alle Gleiches auffassen kann". „Was eine gleichmäßige, für alle bindende Gültigkeit habe", gäbe es nicht. Fiedler unterscheidet zwischen der „Masse" und der Minorität einer geistigen Elite. D i e „Masse" würde auf Grund des Bedürfnisses nach gegenseitiger Verständigung ein stillschweigendes Übereinkommen über den gemeinsamen Gebrauch gewisser unentwickelter Wahrnehmungen, Vorstellungen, Wörter treffen. Dieser Formelschatz sei zwar unentbehrlich für die menschliche Praxis, zugleich aber hemmend für echte philosophische oder künstlerische Erkenntnis. Fiedler bezieht sowohl die Natur als auch die gesellschaftliche Praxis auf ein unentwickeltes Bewußtsein. Während die „Masse" bei ihm stehen bleibe, würden sich „zu gewissen Wahrheiten
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immer nur einzelne erheben". Was die bildende Kunst anbelange, beharrten die meisten bei einem konventionellen Formelschatz von Anschauungen bzw. Gebärden. Sie gäben sich zufrieden, wenn das an Sichtbarkeit Überlieferte und Angelernte hinreiche zur alltäglichen Orientierung und zur Herausbildung des begrifflichen Denkens. Folglich würden sie sich in einen anschaulichen „Dogmatismus" bzw. „Formalismus" verstricken. Was überliefert und angelernt werde, müsse sich eigentlich aber jeder für sich neu erzeugen. Das könne freilich nicht „jeder". Nur der Künstler sei in der Lage - in ständiger Opposition gegen die allgemeine „Konvention" - „gleichsam von vorn anzufangen", d. h. die Sichtbarkeit a novo zu formen. Fiedler schließt sich dem Konventionalismüs an, wenn dieser das objektive gesellschaftliche Beziehungsgeflecht auf ein System willkürlicher gegenseitiger Übereinkünfte reduziert. Schon das ist eine idealistische und subjektivistische Verzerrung. Was überliefert und erlernt werden kann, erweist sich keineswegs alles als subjektiv gegeben. Fiedler sieht sich jedoch genötigt, sich selbst von dieser inhaltsentleerten Abstraktion noch zu distanzieren. Zwar läßt er sie für die Mehrzahl der Menschen gelten. Was die künstlerische Elite anbetrifft, wertet er die gesellschaftlichen Beziehungen aber selbst noch in ihrer verzerrten Form ab. Die Elite soll lediglich von sich selbst abhängig sein. Alle anderen Faktoren werden eliminiert. Fiedler erklärt, die Mehrzahl der Menschen beruhige sich bei einem konventionellen Standpunkt. Für sie sei Wahrheit nichts anderes als eine gegenseitige Übereinkunft. Wolle man aber zur eigentlichen Wahrheit gelangen, müsse man den Standpunkt verlassen und sich völlig auf sich selbst stellen. Fiedler fordert die absolute Autonomie des Subjekts. Der im Konventionalismus angelegte Subjektivismus ist ihm nicht radikal genug229. In der Isolierung des Künstlers äußert sich immer eine aristokratische Erhabenheit. Fiedler meint daher auch, mit der „künstlerischen Kraft" begabt seien immer nur „einzelne Individuen" 230 . Aus dem Unterschied zwischen ihnen und der „Mehrzahl" oder der „Masse" der Menschen leitet er den Unterschied zwischen „entwickelter" und „unentwickelter Sichtbarkeit ab.231 Während die einen zur kompositorischen Gestaltung übergehen, bleiben die anderen bei Vorgängen stehen, die sich im Inneren abspielen und sich höchstens zu unbeholfenen Gebärden steigern. Eine unüberbrückbare Kluft tut sich auf. Die „Einzelnen" und „Wenigen" entziehen sich dem Bewußtsein, das sie mit ihren Mitmenschen vereinigt. 232 Diese vermögen ihnen nicht mehr in ihre „Höhen" zu folgen. Folglich, so schlußfolgert Fiedler, darf der „gemeine Maßstab" auch nicht der künstlerische werden. 233 Er erklärt zwar, es sei in seltenen Augenblicken dem NichtKünstler möglich, den Geltungsprozeß sozusagen innerlich nachzuvollziehen. Dieser Nachvollzug bleibt aber stets unvollkommen. Fiedler erklärt: Im Grunde könne allein der Künstler den Künstler verstehen, letztlich verstehe jeder Künstler aber nur sich selbst. Kunst sei eine „Geheimschrift", zu der die „Masse" keinen Zugang habe. Selbst die Erziehung zum allgemeinen Kunstverständnis lehnt Fiedler ab. Er schreibt: „Dann aber ist es doch der Künstler allein, der den Künstler begreifen kann; denn sprechen die Künstler eine Sprache, die niemand verstehen kann außer ihnen, weil nur sie die Fähigkeit besitzen, sie zu sprechen. Dann ist die Kunst, an der mehr als an etwas anderem alle Menschen ihr Recht geltend machen, eine Ge-
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heimschrift, zu der nur wenige den Schlüssel haben, während die anderen sich mehr oder weniger kindlich an ihr vergnügen, ohne den wahren Sinn zu ahnen, der in ihr verborgen liegt! Und freilich muß man von vornherein darauf verzichten, daß Kunst etwas Allgemeinverständliches sein könne. Dieses Gebiet menschlicher Leistungen, welches so offen vor aller Blicken zu liegen scheint, ist tatsächlich einem großen Teil der Menschen vollständig verschlossen. Denn wo sich in der Zusammensetzung der individuellen Natur das Bedürfnis nicht vorfindet, das Wirklichkeitsbewußtsein, soweit es auf den Wahrnehmungen des Gesichtssinnes beruht, zu höheren Formen zu entwickeln, da fehlt die Möglichkeit, der künstlerischen Tätigkeit auf ihren Wegen zu folgen. Und wo die Natur versagt, da kann kein Bemühen, keine Belehrung helfen." 2 3 4 Wenn sich die künstlerische Gestaltung der allgemeinen menschlichen Beurteilung entziehen soll, emanzipiert sich das künstlerische Bewußtsein von allen Maßstäben, die es sich nicht selber setzt. E s schafft die Sichtbarkeitsgebilde nur zu seinem eigenen Vergnügen. Sein Formprozeß hat keinen Gegenstand, sondern ist selbst der Gegenstand. Folglich hat die fertige Form kein Publikum. Was in der Klassik als Kampf gegen die verspießerten deutschen Zustände rationelle Elemente enthält und in der romantischen Agressivität gegen das Philistertum eine verhängnisvolle Einengung erfährt, wird bei Fiedler zu einer Opposition gegen die Gesellschaft schlechthin radikalisiert. E r reduziert die reale, dem Dialog dienende künstlerische Formensprache auf den unverständlichen Monolog eines künstlerischen Subjekts, das unbeschränkte Freiheit genießt. Der Künstler produziert als eine Art Schöpfer-Gott, dessen Schöpfungen über jede Kritik erhaben sind. Die ideologisierte Abkehr von der gesellschaftlichen Praxis hat verschiedene Konsequenzen. Zuerst ist mit ihr der Abbau des Inhalts verbunden, nicht nur in der Kunsttheorie, auch in der Sprachtheorie. Fiedler wertet sowohl die signifikative als auch die kommunikative Funktion ab. Die Sprache soll weder Objekte der Wirklichkeit bezeichnen, noch als Mittel des menschlichen Verkehrs dienen. Die Unentbehrlichkeit der Mitteilung wird gegeben, zugleich wird diese aber als Quelle konventioneller Irrtümer und Unvollkommenheiten charakterisiert. Die künstlerische Form soll weder reale Erscheinungen abbilden, noch etwas bedeuten. Diesen Standpunkt muß man immer im Auge behalten, wenn man verfolgt, wie Fiedler das subjektive Bewußtsein „aufbläht". Die Suspension des bedeutungsmäßigen Inhalts geschieht nur im „Himmel der Einbildung". Trotzdem ist es notwendig, Fiedler innerhalb der selbst gesteckten Engen zu widerlegen. E s ist notwendig, darauf hinzuweisen, daß jeder Entleerung der Welt eine Entleerung des eigenen Ich entspricht. Wenn die Begriffe bzw. künstlerischen Gehalte fehlen, gibt es nichts mehr, was anderen mitgeteilt werden könnte. E s gibt aber auch nichts mehr, was man sich selbst zu sagen hat. Stammt der Reichtum des menschlichen Wesens doch nicht aus einer eigenständigen Bewußtseinsproduktion, sondern aus der gesellschaftlichen Erfahrung. D a s subjektive Bewußtsein formt sich in dem auf der Praxis beruhenden geistigen Verkehr mit den Mitmenschen. Schon die unabhängig vom künstlerischen Wollen oder Nicht-Wollen sich vollziehende Wahrnehmung hat den Zweck, anschauliche Bedeutungen zu offenbaren. Gerade weil die optischen Verhält-
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nisse immer eine ganz bestimmte Ordnung aufweisen, bedeuten sie etwas ganz bestimmtes. Einer anderen Ordnung würde eine andere Bedeutung entsprechen. Im Gegensatz zur atomistischen Psychologie und in Anlehnung an Chr. v. Ehrenfels und M. Wertheimer weist W. Metzger in seinem Buch „Gesetze des Sehens" auf die objektive Gegebenheit des „Charakters" hin. „In der Gruppierung und Anordnung der T e i l e . . . bzw. in der Form oder Gestalt", so erklärt er, enthülle sich das „eigentliche Wesen". 235 Mit dem Abbau des Inhalts ist wiederum verbunden die Abwertung jeder gesellschaftlichen und historischen Einflußnahme auf den Künstler. Fiedler behauptet, der Künstler lebe weder für sein Volk noch für seine Zeit 236 . In ihm äußere sich eine „künstlerische Kraft", die an jedem Ort und zu jeder Epoche gleich unmittelbar vor der ewig gleichen Aufgabe stehe, Sichtbares sichtbar zu gestalten. Infolgedessen verwirft Fiedler eine durch die allgemeine gesellschaftliche und historische Entwicklung bedingte besondere Entwicklung der Kunst. Er meint, geschichtliche Kunstbetrachtung sei dem Wesen der Kunst „feindlich" 237 . K. Schnaase bezichtigt er der „Phantasie und Willkür" 238 . Er kennt nur künstlerische „Hochzeiten", in denen sich die „künstlerische Kraft" steigert, und Zeiten der „Verirrung", in denen sie „erlahmt". In dieser Hinsicht, so betont er, sei eine „Kunstgeschichte" überhaupt noch zu schreiben239. Fiedler will eine „von der Anmaßung der Wertbestimmung freie Betrachtung der Erscheinungen, der die historische Bedeutung als eine sekundäre ganz gleichgültig ist; sie müßte der historischen eigentlich vorausgehen und da würde sich zeigen, daß das innerste geheimnisvolle individuelle Wesen einer jeden Erscheinung einer historischen Bedeutung überhaupt ermangelt." 240 Fiedler schaltet zwar alle Bestimmungen der lebendigen, historisch gewachsenen Wirklichkeit aus, welche die Kunst beeinflussen. Dessenungeachtet spricht er aber umgekehrt von einer Einflußnahme der Kunst auf die Wirklichkeit. Er behauptet, das künstlerische Subjekt könne seinerseits Volk und Zeit prägen: „Die Künstler sollen keinen Inhalt der Zeit zum Ausdruck bringen, sie sollen vielmehr der Zeit erst einen Inhalt geben." 241 Das Leben wird nicht als Quelle und Vorbild der Kunst, vielmehr wird die Kunst als Modell eines Lebens betrachtet, das ohne sie „verkümmern" würde. Eine solche Auffassung ist Ästhetizismus. In ihr schlägt Schopenhauers Kunstphilosophie durch, welche die Genie-Konzeption der Romantik und Kants „ohne Interesse" zum zentralen Problem radikalisiert. Die Kunst gilt als Quietiv, das vom „Willen", von allen Begierden und Leidenschaften „erlöst", d. h. die realen Einflüsse tötet. Fiedlers Grundhaltung gegenüber der gesellschaftlichen und historischen Wirklichkeit wird von Schopenhauers Quietismus bestimmt. Was auf der Seite der Praxis aber reine Passivität und Kontemplation ist, schlägt auf der Seite des isolierten Bewußtseins um in eine Spontaneität, die das ganze Sein zur Domäne des Subjekts machen soll. Es existiert ein ständiger Widerspruch zwischen Handeln und Erkennen. In der Konsequenz dessen erhebt Fiedler die künstlerische Tätigkeit nicht nur zu einem Surrogat für alles das, was
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das Leben gibt, er macht sie darüber hinaus zum Maßstab des Lebens selbst. Er meint, wenn sie um ihrer selbst willen, als l'art pour l'art betrieben werde, könne sie für das unvollkommene Dasein in einer unvollkommenen Welt entschädigen. Und nicht nur das, er nimmt an, sie könne den einzigen Weg überhaupt zur Vollkommenheit ebnen. Die ursprüngliche romantische Auflehnung gegen klassizistische Kunstregeln radikalisiert er zu einer Revolte gegen alle objektiven Werte, vor allem solche sozialer Natur. Um den Preis der gesellschaftlichen Enthaltsamkeit will Fiedler dem Künstler - und sich selbst - die Ruhe eigenbedeutsamer Erkenntnis erkaufen. Damit wird auch jede Geschichtlichkeit entwertet. Fiedler stellt zwar in der Natur einen ununterbrochenen Wechsel fest. Die Natur ist aber nichts anderes als das unvollkommene Bewußtsein, und das Werden und Vergehen ist nichts anderes als eine kaleidoskopartige Statik. Im Grunde bleibt nur das künstlerische Bewußtseins-Subjakt, isoliert in einer sinn- und wertlosen, selbstgenügsam erzeugten und eigenbedeutsamen Welt. Die Gesellschaft und der menschliche Fortschritt werden zu inhaltsleeren Abstraktionen degradiert. Wie bei Schopenhauer bedeutet die Sinnlosigkeit der realen Praxis die Emanzipation des künstlerischen Subjekts von allen sozialen Pflichten und von der Verantwortung für die Vorwärtsentwicklung der Menschheit. Fiedler spricht sehr viel davon, daß man das Wesen der Kunst nicht auf die Wirkungen der Kunstwerke, sondern auf den Ursprung der künstlerischen Tätigkeit zurückführen müsse. Aber er glaubt, den Ursprung in einem zur kompositorischen Gestaltung gesteigerten rein bewußtseinsmäßigen Formprozeß entdecken zu können, der im isolierten Bewußtsein vor sich geht. Weiter reicht seine Erklärung nicht. So wird das Problem von ihm nicht gelöst, sondern verzerrt, d. h. auf eine subjektiv idealistische Ebene geschoben. Die einzigen Hinweise, die eine Lösung ermöglichen würden, wertet Fiedler ab. Denn nur, wenn man den gesellschaftlichen und historischen Zusammenhängen nachgeht, der Entwicklung der materiellen Produktion, der Arbeit, stößt man auf den Ursprung künstlerischer Tätigkeit. Aus der produktiven Aneignung sichtbarer Objekte geht die bildende Kunst hervor. Während aber hier die Sichtbarkeit eine Eigenschaft unter anderen ist, rückt sie dort zu einer relativen - nicht, wie Fiedler annimmt, einer absoluten - Selbständigkeit empor, löst sich aus dem Bereich physischer Nützlichkeit und erhält den Charakter anschaulicher Bedeutsamkeit. Trotz des strukturellen Unterschieds gilt bis in das Quattrocento hinein die bildnerische Gestaltung als Handwerk. Die Künstler sind mit den Handwerkern in Zünften und Gilden vereinigt. Das Etymologische bewahrt diesen Zusammenhang auf. Im Griechischen heißt Kunst „techne", aus dem sich unser Terminus Technik herleitet. Das leiteinische „ars" bedeutet ebenso Kunst wie Arbeit 242 . Auch das Verhältnis des Künstlers zu seinem Abnehmer und die gesellschaftliche Position sind diejenigen des Handwerkers. Der Begriff einer selbstherrlich schaffenden künstlerischen Einbildungskraft, die sich nicht an soziale Werte binden will, existiert nicht. Erst im Verlauf der durch den Kapitalismus bedingten fortschreitenden Teilung zwischen geistiger und körperlicher Arbeit, die sich in der Renaissance anzukünden beginnt, vermag sich die künstlerische Tätigkeit zu lösen von der handwerklichen Produktion, zum Schaden nicht nur des Handwerks. Sie emanzipiert sich jedoch nie völlig von der gesellschaftlichen Praxis. Freilich vermehren und differenzieren sich die Vermittlungsglieder. Der Zusammenhang wird
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oft sogar durch Disproportionen verschleiert. Aber auch ein „unegales Verhältnis der materiellen Produktion zur künstlerischen" darf über seine Existenz und innere Notwendigkeit selbst nicht hinwegtäuschen243. Es gibt keine „künstlerische Kraft", die unabhängig ist von „Volk und Zeit" und ewig vor der gleichen Aufgabe steht. Wenn Fiedler das behauptet, erweist sich sein eigener Standpunkt als entfremdetes Resultat kapitalistischer Arbeitsteilung. Den eigenen Ästhetizismus projiziert er auf den Künstler. Er sperrt diesen in einen Elfenbeinturm, weil er selbst in einem solchen sitzt. Er ignoriert, daß jede Einflußnahme des Künstlers auf das Leben erst möglich ist auf Grund der realen Bestimmungen, denen er unterliegt und die er sich dienstbar machen muß. Die Kunst wirkt auf die Wirklichkeit nur deshalb ein, weil die Wirklichkeit die Quelle aller Kunst ist. Fiedler will dem künstlerischen Subjekt das ganze Sein retten. Aber er zerreißt es gedanklich noch mehr, als es die kapitalistische Realität tut.
VI. Verhältnis zu Marées und Hildebrand
Marées und Hildebrand sind die beiden Künstler, die - wenn auch in ihrem Schaffen verschieden - in der bildenden Kunst gegenüber der zeitgenössischen HistorienMalerei und dem „Naturalismus" einen „dritten Weg" einschlagen wollen. Ihre theoretische Konzeption gewinnen sie empirisch, d. h. aus ihrer künstlerischen Praxis 244 . Beide beeinflussen maßgeblich Fiedlers Gedankengänge. Aufschlüsse über die aufgeworfenen Fragen lassen sich aus den Briefen gewinnen. Im Mittelpunkt haben aber immer die persönlichen Gespräche gestanden. Hier geben die Tagebuchaufzeichnungen Fiedlers einen gewissen Anhalt 2 4 5 . In theoretischer Hinsicht bestanden zwischen Marées und Hildebrand geringe, zwischen beiden und Fiedler jedoch beachtliche Unterschiede. H. Konnerth hat in seiner Schrift über die Kunsttheorie Fiedlers gleicherweise dessen Originalität und die Einheitlichkeit in der Auffassung der drei Freunde hervorgehoben. Er meint, „es stelle sich in Marées die Beobachtung und erste Hypothese, in Fiedler deren begriffliche Entwicklung und in Hildebrand die Bestätigung im Experiment und die letzte Formulierung dar". 246 J. Meier-Graefe nimmt an dieser vereinfachenden Darstellung Anstoß. Er betont, d a ß die künstlerisch-praktischen Zusammenhänge zwischen Marées und Hildebrand oberflächlicher Art seien. Lediglich als Denker würden sie zusammenhängen. Zum anderen erklärt er, Fiedler habe keine Marées'sche Hypothese begrifflich entwickelt. Er habe mehr und weniger, namentlich aber etwas ganz anderes getan. 247 W i e weitgehend Fiedlers Auffassung von der der Freunde abweicht, wird zu belegen sein. H. Konnerth selbst hat in einem späteren Zeitschriftenartikel sich revidieren und „die vollständige Unabhängigkeit der drei Gedankenkomplexe voneinander, ja sogar den größten Unterschied der drei Denkcharaktere" feststellen müssen. 248 Gemeinsam ist den Freunden, daß sie als spezifische Grundkategorie der bildenden Kunst die Anschaulichkeit herausarbeiten. Aus dieser Gemeinsamkeit ergeben sich dann zahlreiche gleichlaufende Gedankengänge. Wie Meier-Graefe schildert, kam Fiedler als 26jähriger junger Mann bei der Italienreise vom Winter 1866/67 nach Rom „in den Marées'schen Ideenkreis mit der unverbrauchten Kraft eines Ideologen, der eigentlich nur in die Welt gegangen war, um einen würdigen Gegenstand seines Enthusiasmus zu finden."249 Neigung und Anlagen, so führt Meier-Graefe aus, hätten Fiedler zum Philosophen bestimmt, die Gelegenheit, nämlich die Bekanntschaft mit dem Maler, habe ihn zum Kunsttheoretiker gemacht. Marées habe Fiedler den „Beruf" gegeben. Unter seiner Anleitung seien die ersten schriftstellerischen Versuche entstanden. Allerdings übertreibt Meier-Graefe. Man darf den Einfluß von Marées gewiß nicht unterschätzen, man darf ihn aber auch nicht
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überbewerten. Fiedler beschäftigte sich schon vor der Bekanntschaft mit der Kunst, wenn auch nicht im gleichen Maß, wie er es mit der Philosophie tat, und wenn auch mehr aufnehmend als theoretisierend. Sein Tagebuch enthält diesbezügliche Eintragungen 250 . Freilich hat sich sein Blick durch die Gespräche mit Marées - und später auch mit Hildebrand - außerordentlich geweitet und geschärft. Zur unmittelbaren Rezeption trat die spezifisch kunsttheoretische Reflexion. Sie fand einen, vorwiegend durch das Studium von Kant und Schopenhauer bereiteten Boden vor. Die philosophische Grundkonzeption, in die Fiedler alle neuen Überlegungen einordnete, garantierte die Selbständigkeit seines Denkens. 251 Marées setzt in seiner Kunsttheorie, wie sie in Briefen und Darlegungen seiner Freunde vorliegt, eine objektiv sichtbare Wirklichkeit voraus, die auf das künstlerische Bewußtsein einwirkt und deren Einwirkungen durch dasselbe umgeformt werden. Er erklärt: „Der bildende Künstler soll nicht von sich, sondern von dem, was außer ihm ist, reden." 252 Ständig betont er die Wichtigkeit des Naturstudiums. Seinen Schülern empfiehlt er, die verallgemeinernden Vorstellungen durch unmittelbare Wahrnehmungen immer neu zu nähren. Häufiges Zeichnen nach der Natur soll ihre Beobachtungsgabe verbessern. W i e er erläutert, geben die Naturstudien, indem sie als Vorlage für die malerische Ausführung dienen, die „Illusion des natürlichen Körpers". Karl von Pidoll berichtet „aus der Werkstatt" von Marées 2 5 3 , für ihn sei das weite Reich der sich den Augen darbietenden „Außenwelt" die einzige Grundlage des künstlerischen Seh- und Darstellungsvermögens gewesen. Er behauptet sogar, Marées habe sich auf den „Realismus" festgelegt. Dieser Realismus liege jedoch gleich fern von „freien" Bildnereien", die des Maßes an notwendiger Überzeugungskraft entbehren, wie von oberflächlichen Naturnachtäuschungen. Er beziehe die Gesetze der spezifisch künstlerischen Umformung ein. Pidoll deutet an, Marées sei die Wechselwirkung zwischen exakter Abbildung der Wirklichkeit und ihrer typisierenden „Modifikation" bewußt gewesen. Diese Andeutung ist deshalb interessant, weil sie der Marées-Interpretation Fiedlers völlig widerspricht. Fiedler legt Marées im eigenen Sinn aus. Er meint, dieser habe keine „Modifikation", sondern „Wirklichkeitsproduktion" betrieben. Dem idealistischen Kern nach wäre das aber dasselbe wie das, was Marées - nach den Angaben Pidolls - als „freie Bildnerei" ablehnte. Fiedler hat Marées offensichtlich mißverstanden. Es ist deshalb kein Wunder, wenn dessen Biograph, Meier-Graefe, die Schrift, in der die „Produktion der Wirklichkeit" als „drittes" künstlerisches Prinzip verkündet wird („Moderner Naturalismus und künstlerische Wahrheit"), als die schwächste Fiedlers bezeichnet 254 . Marées selbst soll zu Tschudi geäußert haben, Fiedlers Schriften seien nur eine falsche Interpretation seiner eigenen Ansichten 235 . Marées vertritt die Meinung, als Ausgangspunkt seiner Tätigkeit habe der Künstler solche Erscheinungen zu nehmen, in denen sich das Wesen besonders deutlich offenbart. Sie habe er auszuwählen und sowohl in der Vorstellung als auch bei der Darstellung zu verallgemeinern. Als das Wesen im künstlerischen Sinne betrachtet Marées die optisch geklärte Räumlichkeit. Folglich, so erklärt er, muß der Künstler die charakteristischen Grundformen und Grundgliederungen und ihre Beziehungen zum natürlichen Licht und zur Tiefe erkennen und aus unwesentlichen Verbindungen herauslösen. Maßgebend sei die Illusion des Räumlichen (Plastischen) auf der ebenen Bildfläche. Ihr 10 Faensen
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diene auch die Farbgebung. Stets soll - im Gegensatz zur geometrischen - die künstlerische Perspektive zur Geltung kommen. Marées betont, es sei die Aufgabe der bildenden Kunst, die Sichtbarkeit der Erscheinungen zu konzentrieren. Zahlreiche Anregungen geben ihm dabei die akademischen Vorträge von Sir Joshua Reynolds 256 . Der kunsttheoretischen Konzeption von Marées inhärent ist eine naive Anerkennung der objektiven Realität. Trotzdem wird diese nicht voll reflektiert. Das Wesen, das Marées in den Erscheinungen hervorheben will, beschränkt sich auf das Formale räumlicher Bestimmungen. Kunsttheoretisch hält er die gesellschaftlich und historisch konkreten Bestimmungen für unwesentlich, wobei er sie freilich nicht - wie das Fiedler tut - philosophisch eliminiert. Er will die sichtbare Außenwelt als „reine" Natur erfassen. Bekanntlich gibt es aber diese „Reinheit" nicht. Abgesehen davon, daß die Wirklichkeit nicht nur aus dem natürlichen, sondern auch aus dem gesellschaftlichen Sein besteht, tritt uns die Natur immer schon überformt von historisch-gesellschaftlichen Kräften entgegen. Folglich kann ein Künstler sie nicht „rein" darstellen. Ob er es will oder nicht, er wird stets „den menschlichen Sinn der Natur, also auch den natürlichen Sinn des Menschen" (Marx) offenbaren. Die Natur, die Marées im Auge hat, ist eine entleerte Abstraktion. Das äußert sich z. B. in seinem bildnerischen Schaffen in vorwiegend figuralen Darstellungen, die nichts anderes bedeuten sollen als vollendet geformte menschliche Körper. Theorie und Praxis von Marées gehen auseinander. Ob er es theoretisch bejaht oder nicht, seine Naturauffassung ist in seinem malerischen Werk immer schon ideologisch, d. h. also auch gesellschaftlich vermittelt. Selbst die Entleerung von konkreten inhaltlichen Bestimmungen weist auf einen, freilich verzerrten Inhalt hin. In den Bildern dominieren formale Gesichtspunkte. Trotzdem offenbaren sie eine Weltanschauung. Marées' Vorliebe für die Antike und die Renaissance gibt den Hinweis. Er sieht den Menschen als ein Stück individualisierter Natur, die sich vermöge ihrer gesteigerten Organisation der übrigen Natur entgegensetzt und einen eingeborenen Trieb nach Einheit und Harmonie als Drang nach Erkenntnis äußert. Was ihm als Ideal vorschwebt, ist die klassische Harmonie des Menschen. Ihr will er in seinen figuralen Darstellungen Ausdruck verleihen. Er erkennt freilich nicht, daß die Grundlage der klassischen Harmonie in der antiken Polis-Demokratie bzw. in progressiven gesellschaftlichen Tendenzen der bürgerlichen Aufstiegsepoche (Renaissance) zu suchen ist. Er schränkt die Harmonie ein auf ein ruhiges und wohlgeordnetes körperliches Dasein. Das Formale ist entscheidend. Inhaltlich kann man etwa - wie das zahlreiche Kunsthistoriker tun - von der Wirklichkeit biologisch-anatomischer Bestimmungen sprechen. Die inhaltliche Entleerung äußert sich einerseits in dem Verzicht auf bedeutsame Sujets. Wo historische oder biblische Themen Gegenstand der Darstellungen sind, bleiben sie bloßer Vorwand für die Gestaltung der „Sichtbarkeit". Auch der Hintergrund wird bei späteren Werken immer so gewählt, daß gesellschaftliche Werke, z. B. Architektur, keine Rolle spielen. Andererseits gestaltet Marées keine historisch-konkreten Menschen, vielmehr gestaltet er „den Menschen". Das bekannte Bild von drei Jünglingen unter den Orangenbäumen zeigt Beispiele „des" Stehens, „des" Sitzens und „des" Liegens. Man erblickt „räumlich geklärte Ansichten" der drei „Grundfunktionen" des menschlichen Leibes. Jedoch vermißt man jede inhaltliche Belebung. H. Wölfflin schreibt sehr tref-
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fend : „Marées vermeidet es absichtlich, stärkere geistige Beziehungen zwischen seinen Figuren zu schaffen . . . Er scheint der Ansicht gewesen zu sein, daß bei der Darstellung nackter Figuren Gemütsbewegungen nicht zum Ausdruck gebracht werden sollten. Seine Menschen haben fast alle nur ein physisches Dasein." 257 Die sensualistische Idealität der Gestaltung ist einerseits retrospektiv, andererseits weist die weitgehende Abstraktion vom Motiv und das strenge Ordnungssystem des Bildaufbaus in die bürgerliche Moderne. Das Bildwerk soll den Betrachter nicht durch den Stoff emotionell fesseln, sondern anschauliche Erkenntnis vermitteln. Marées versucht sein Schaffen zu dirigieren durch ein bild-einigendes, synthetisches Sehen, das die Wärme des Gefühls entbehren kann und unter der Leitung des Verstandes steht. Die schlichte, von allen Zufälligkeiten befreite sichtbare Erscheinung soll möglichst klar und deutlich wirksam werden. Deshalb macht er die entscheidenden Formen für den ersten Blick bildnerisch offenbar. Starke Wendungen und Verkürzungen sind vermieden. Nur selten gibt es bedeutende Überschneidungen. Einfache Vertikalen und Horizontalen, elementare Proportionen und harmonische Massenverteilungen klären die Räumlichkeit. Die durch Verallgemeinerung gewonnene, bildnerisch entwickelte Gesichtsvorstellung ist auf die „klassische Form" gerichtet, ohne sie zu erreichen. Den Bemühungen von Marées sind historisch-gesellschaftliche und persönliche Schranken gesetzt. Er selbst war sich über das Unerreichbare seines Ziels durchaus im klaren, ja er machte die Relativität zu einem Stück seiner Weltanschauung. Immer war ihm der Weg wichtiger als das Werk, das er nur als Durchgangsstation kannte. Bezeichnend dafür ist, daß er manche Bilder nur skizzenhaft und unvollendet hinterließ, weil es ihn zu neuer Problemstellung drängte, und daß er immer wieder Verbesserungen an fertigen Werken vornahm. Das zuweilen hundertmal wiederholte Übermalen ließ handwerkliche Rücksichten außer acht und hat die Materie vieler Bilder stark geschädigt. In diesem Punkt ist schon ein wichtiger Unterschied zu klassischen Kunstzeiten. Auch von Leonardo heißt es, er sei mit dem Erreichten niemals zufrieden gewesen. Aber das Wesentliche für ihn war immer das fertige Werk in seiner Vollkommenheit. Für Marées ist - ähnlich wie für Fiedler in der Kunsttheorie - das Wesentliche die künstlerische Tätigkeit. Ihr werden die Einzelwerke als solche aufgeopfert. Während sich die Künstler der klassischen Antike und der Renaissance um Allseitigkeit und Ganzheit bemühten, zu denen die Vollkommenheit des Werks gehört, ist Marées als Künstler des ausgehenden 19. Jahrhunderts sich seiner gesellschaftlich bedingten Einseitigkeit bewußt. Sein bürgerlicher Humanismus ist noch heroisch, aber schon pessimistisch gefärbt. Das Ideal der klassischen Harmonie hat Ende des 19. Jahrhunderts eine ganz bestimmte gesellschaftliche und historische Funktion. Es ist in der Ausweglosigkeit der kapitalistischen Misere eine Art sozialer Utopie. Je stärker Marées die Misere zu spüren bekommt, desto heftiger wird seine Sehnsucht nach dem Einklang zwischen Mensch und Welt, nach antiker Abgeklärtheit. Insofern erweist sich sein Gemälde des „Goldenen Zeitalters" als gesellschaftlicher Wunschtraum. Sein Leben und sein Werk sind bestimmt von humanistischen Ideen, die im Widerspruch zur kapitalistischen Wirklichkeit stehen. Er war, wie er selbst an Fiedler schreibt, ein Mensch „der von frühester Jugend an sich in den schwersten Kämpfen mit seiner Umgebung, mit sich selbst und mit der Existenz befand, der äußerlich verhärtet, doch noch empfindsam genug". 10«
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Marées weicht den eigentlichen Problemen seiner Zeit aus. Er flüchtet sich in eine zum ästhetischen Schein erhobene und idealisierte Vergangenheit, die er sich ohne konkrete Menschen denkt. Die Ursache liegt in dem kapitalistischen Kunstbetrieb, der ihn ständig hart bedrängt. Zum Beispiel klagt er seinem Freund Fiedler: „Der Hauptfeind der Kunstausübung bleibt doch immer die Spekulation und auf die bleibt man doch immer angewiesen, wenn keine äußere Veranlassung zur Herstellung eines Werkes vorliegt." 258 Seinem Bruder Georg schreibt Marées: „Von der Menschheit im Allgemeinen, diesem Conglomérat erbärmlicher Schufte, kann man nichts anderes verlangen, als was sie von einem in Anspruch nimmt, d. h. Geld." 2 5 9 Zuweilen freilich wird Marées hellsichtig. Aber er fühlt sich, ebenso wie Fiedler, nur als Betrachter, nicht als Gestalter der Zeit: „Im übrigen glaube ich, daß es schwer halten wird, die Verbreitung sozialistischer Ideen zu verhindern; eine Regeneration oder Reform scheint mir fast in allen Dingen nötig zu sein ; daß durch die Durchführung des Nationalitäten-Prinzips wenig genug für das Fortkommen des Menschengeschlechts geschieht, stellt sich eigentlich schon jetzt heraus. Schließlich gehen die Dinge wie sie gehen. Man selbst kann wohl schwerlich mehr tun als nach Klarheit zu ringen und gegen den Strom der Zeit nach Kräften zu stemmen." 260 Weil Marées den kapitalistischen Geist seiner Zeit mißbilligt, wendet er sich gegen den „Zeitgeist" überhaupt. Er will, daß sein künstlerisches Schaffen „von den zufällig bestehenden sozialen Zuständen, vom Spießbürgertum möglichst wenig tangiert wird". 261 Er will sich jeder Parteinahme enthalten. Da er sich der Gesellschaft aber nicht entziehen kann, vor der eigentlichen Auseinandersetzung jedoch zurückschreckt, muß er wie viele andere Künstler tragisch scheitern, und zwar sowohl menschlich als auch künstlerisch. In theoretischer Hinsicht sind es vor allem drei Gedankengänge, durch welche Fiedler von Marées beeinflußt worden sein mag. Alle drei radikalisiert Fiedler zum Formalismus. Erstens geht es um das Problem der Sichtbarkeit. Marées erblickt in der Kunst ein spezifisches, der Wissenschaft ebenbürtiges Mittel, sich die Wirklichkeit anzueignen. Er hebt hervor, daß die Anschauung nicht nur der begrifflichen Erkenntnis dienen darf, sondern eine eigene Ausbildung erfahren muß. Immer wieder betont er: „Sehen lernen ist alles". Durch Modifikation der optischen Eindrücke einerseits und des Werkstoffes andererseits will er Formen bilden, die bei andauernder Betrachtung die Illusion eines klar und deutlich geordneten Raumes erwecken. Obwohl er das Problem der künstlerischen Tätigkeit in den Mittelpunkt rückt, ist für ihn die Rezeption unabdingbarer Bestandteil des künstlerischen Prozesses. Als M a ß der künstlerischen Illusion gibt er an, die Darstellung müsse auf jeden Menschen von normalem Sehvermögen den Eindruck der Wahrscheinlichkeit machen: Er erklärt: „Die Kunst beschäftigt sich mit dem, was möglichst allen bekannt ist; nicht nur die Bühne soll ein Spiegel des Lebens sein; in ihren Wirkungen stimmen, glaube ich, beide darin überein, daß das Bekannte durch sie eine stets neue oder reichere, ausgebildetem Physiognomie erhält." 262 Fiedler verabsolutiert die Modifikation zur voraussetzungslosen geistigen Produktion. Bei ihm handelt es sich nicht darum, daß eine allen Menschen bereits bekannte Sichtbarkeit der Klarheit und Deutlichkeit nach konzentriert wird. Bei ihm handelt es sich darum, daß in der künstlerischen Tätigkeit überhaupt erst sichtbares Sein entsteht.
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In der Konsequenz dessen betrachtet Marées die Kunst als eine Sache aller. In einem Brief an Hildebrand hebt er ausdrücklich die Forderung nach Allgemeinverständlichkeit hervor: „Seine Freunde zu befriedigen, ist noch lange keine Kunst: die fängt erst da an, wo man die Gleichgültigen aus ihrer Ruhe auf schreckt."263 In einem Brief an Fiedler wird er noch deutlicher: „Die leichte Zugänglichkeit bleibt immer eine der schönsten Eigenschaften eines Kunstwerks." 264 Fiedler dagegen betrachtet die Kunst als eine Sache der durch ein besonderes Formvermögen Privilegierten. Nur demjenigen, der die künstlerische Tätigkeit ausübt, erschließt sich das gestaltete sichtbare Sein. Die Rezeption ist ein unvollkommener und wertmindernder Nachvollzug. Damit ist das zweite Problem schon gestreift. Bei ihm geht es um die sogenannte Elite. Weniger in den Gedanken Marées', mehr in seiner praktischen Lebenshaltung gibt es aristokratische Tendenzen (die nicht unbedingt mit dem ererbten Adel zusammenhängen). In einem Brief an Fiedler stellt er fest: „Die Kunst ist durchaus aristokratisch. Adel der Gesinnung ist für Kunsttreibende und Kunstfördernde die conditio sine qua non." 265 Damit rückt er aber in den Blickwinkel, was er eigentlich unter Adel versteht. Er meint ein moralisches Prädikat. Den ganzen kapitalistischen Kunstbetrieb hält er für amoralisch. Immer wieder betont er den Wert sittlicher Beziehungen des Künstlers zu den anderen Menschen. Im Gegensatz zu Fiedler geht er nicht von einem Elitebewußtsein aus. Das beweist allein schon die Tatsache, daß er im gleichen Brief seinen italienischen „Vergolder" rühmt: „Wenn unter unseren Kunstverständigen nur zehn wären, die so viel Auge hätten, wie ein solcher Handwerker." Wenn er sich dem entseelten, unsittlichen, entfremdeten Treiben der bourgeoisen Welt entziehen will, so tut er das nur, um der Menschheit - freilich einer abstrakten, idealisierten Menschheit näher zu kommen, nicht aber, weil er sich über diese „erheben" will.266 Fiedler sieht in der Lebenshaltung von Marées vorerst nur eine Bestätigung seiner eigenen Geisteshaltung. Eintragungen im Tagebuch haben schon vor der Bekanntschaft mit diesem eine esoterische Akzentuierung. Nicht an Marées, sondern an Schopenhauer knüpft sein auf dem Rentner-Dasein beruhendes Elitebewußtsein an. In dieser Beziehung amüsiert sich Marées sogar über ihn. Wie Meier-Graefe nachweist, fertigte Marées zwei Karikaturen an, die Fiedlers fanatische Verehrung für Schopenhauer lächerlich machen.26' Seine Beziehung zur Praxis ist zwar genau wie die Fiedlers idealistisch stark verzerrt. Er versucht, sich jeder Parteinahme zu enthalten, und dient damit indirekt nur denen, gegen die er innerlich aufbegehrt. Aber er entwertet die Gesellschaftlichkeit nicht schlechthin, wie das Fiedler tut, vielmehr setzt er sie, was die Rezeption des Kunstwerkes betrifft, sogar voraus. Er fordert vom Künstler, Werke zu schaffen, die dem Publikum verständlich sind. Bei dem dritten Punkt geht es um das Problem des Gefühls. Marées fordert, gefühlsmäßige Reaktionen dürften nicht wirksam sein, wo es sich um den künstlerischen Bau einer wesenhaften Erscheinung handelt. In einem Brief an seinen Bruder Georg klagt er über die allgemeine Auffassung, der Künstler sei ein im Genuß der Anschauung schwelgender Schwärmer 268 . Er verwirft das Gefühl als Quelle der Kunst ebenso wie den wissenschaftlichen Begriff. H. Konnerth schreibt: „Bei Marées finden wir es vielleicht zum ersten Male klar erkannt, daß es möglich ist, auf dem Grunde der Anschauung höchste Tätigkeit des Geistes zu entfalten, ohne dabei in das Bereich der
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Begriffe oder in das des Gefühls überzugehen oder die Hilfe einer mystischen .Intuition" (Spinoza, Schopenhauer) in Anspruch zu nehmen.. ,"269 Die Abwertung des Gefühls erweist sich, bedenkt man die verlogene Sentimentalität in der offiziell geförderten Kunst der Gründerjahre, als ein durchaus löbliches Bemühen. Freilich wird auch diese Tendenz in ihrer Überspitzung einseitig und falsch. Das ist bei Fiedler der Fall, wenn er apodiktisch feststellt, das Gefühl habe mit der künstlerischen Tätigkeit nicht das geringste gemein. So vertreibt er in allen drei Fragenkomplexen die objektiven Elemente. Gestützt auf seine immanenzphilosophische Grundkonzeption radikalisiert er die Gedankengänge von Marées in Richtung auf den subjektivistischen Formalismus. Etwas später als Fiedler, Anfang 1867, kam Adolf von Hildebrand in den Kreis von Marées. Beide Künstler bekamen sofort guten Kontakt. Fiedler mußte den Eindruck haben, hinter der neuen Bekanntschaft zurückzustehen. Es trübte das anfangs die Verbindung zu Hildebrand. Je mehr aber die Verbitterung von Marées gegen die ungünstigen Lebensumstände zunahm, um so ungefälliger, gereizter und ungerechter wurde er den Freunden gegenüber. Ein Ergebnis war, daß sich Fiedler und Hildebrand enger aneinander anschlössen. Sie unternahmen gemeinsam eine Reise nach Dalmatien. Sie stimmten auch theoretisch ihre Auffassungen in mancherlei Hinsicht aufeinander ab. Das hat später zu der weit verbreiteten Meinung geführt, Fiedler sei der geistige Vater vom „Problem der Form". Eine solche Meinung ist aber unsinnig. In seiner philosophischen Haltung vertritt Hildebrand wie Marées einen naiven Realismus. Beide befinden sich im Gegensatz zu Fiedlers subjektiven Idealismus. Da die Kunsttheorie von der philosophischen Konzeption nicht isoliert werden kann, ergeben sich auch hier zahlreiche Unterschiede. Eingangs kommt es nur auf die Feststellung an, daß Hildebrand seine Kunsttheorie durchaus selbständig niederlegt, wenn auch im Dialog mit Fiedler entwickelt hat. Fiedler war dabei nicht nur Gebender, sondern vor allem Nehmender. Befangen in seiner eigenen Gedankenwelt, wurden ihm die Diskrepanzen zu Hildebrands Auffassung gar nicht bewußt. Er schmolz die Anregungen seiner Konzeption ein, und zwar oft im Widerspruch zur ursprünglichen Absicht des Verfassers. Besonders deutlich wird das in seiner Umarbeitung der ersten drei Kapitel des „Problems der Form", die im Anhang erstmalig veröffentlicht werden. Hildebrand ist Bildhauer. Marées Gedanken über die Räumlichkeit ¡haben für ihn besondere Anziehungskraft. Bestärkt durch sie, versucht er Prinzipien der Formgestaltung herauszuarbeiten. Auch er geht aus von der Wechselwirkung zwischen exakter Abbildung der Wirklichkeit und ihrer typisierenden Modifikation. Er erklärt, auf der einen Seite sei die künstlerische (bildnerische) Tätigkeit Imitation der sichtbaren, real vorhandenen Natur und als solche eine Art Naturforschung. Diese Seite allein genüge aber nicht. Sie sei durch eine andere, die „architektonische" zu ergänzen. Unter „Architektonik" versteht Hildebrand den Bau eines Formganzen insofern, als die das Wesen verdeutlichenden Beziehungen verwertet werden. Die Imitation stelle eine der Natur entnommene Formenwelt dar. Aber erst architektonisch verarbeitet werde diese zum Kunstwerk. Folglich erstrecke sich die künstlerische Tätigkeit sowohl auf ein „Anschließen" und „Fortführen" als auch auf ein Produzieren. Sie sei Abbilden und Neubilden zugleich.
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In Anlehnung an Marées erblickt Hildebrand das Wesen der sichtbaren Erscheinungen im Verhältnis ihrer begrenzten Formen zu dem unbegrenzt sich ausdehnenden Raum. Auf dieses Verhältnis reduziert er den „objektiv vorhandenen Gehalt" 270 . Künstlerisch zur Geltung gebracht, d. h. imitiert und architektonisch umgestaltet werden immer nur Raumwerte. Hildebrand stellt fest, in der Natur würde ein unerschöpflicher Schatz an sichtbaren Formen liegen. Sie seien in ihrer Stellung und Anordnung jedoch zufällig und oft unverständlich. Der Künstler habe die Konstellationen, die am zwingendsten den Raumeindruck erzeugen, zu konzentrieren und die nichtssagenden, schwächlichen auszuscheiden. Durch das Reinigungs-System der Auswahl, Zusammenfassung und Vervollständigung (Typisierung) setze er an die Stelle der zerstreuten, zufälligen Anregungen der Natur eine für das Auge notwendige Bildkonstellation 271 . In der künstlerischen Tätigkeit gehe es darum, die realen Erscheinungen dergestalt umzuformen, daß ihr Bild dem menschlichen Sehvermögen am besten entspricht. In einem Aufsatz mit dem charakteristischen Titel „Wie die Natur und wie die Kunst arbeitet" führt Hildebrand als Beispiel die Schutzfärbung eines grauen Vogels an. Die Schattierung des Vogels vom dunklen Rücken zum hellen Bauch arbeite der Beleuchtung von oben entgegen und hebe die plastische Wirkung von Licht und Schatten wieder auf. Die Natur mache ihn unsichtbar. Aufgabe der bildenden Kunst sei es dagegen, ihn sichtbar zu machen. Sie müsse seine räumliche Erscheinung steigern. Erst im Vollbesitz des plastischen Eindrucks würden wir die Existenz des Vogels als eine wirklich sichtbare erleben. Hildebrand schlußfolgert aus diesem Beispiel, das Maß der Naturimitation sei abhängig davon, inwieweit die Natur für und nicht gegen das Auge gearbeitet habe. Dem „Naturalismus" wirft er vor, er folge blindlings dem Modell. Ihm sei ganz gleichgültig, ob er „Unsichtbarkeiten" darstelle oder nicht. Er gehe nicht über die imitative Seite hinaus. Echte Kunst aber habe zu berücksichtigen, daß das optisch Gegebene im Sinne der räumlichen Klarheit verändert werden muß. Im Verhältnis zur sichtbaren Natur weist Hildebrand dem Künstler einen ganz bestimmten Standpunkt an. Er plädiert für die Fernsicht. Wenn man einen Gegenstand aus unmittelbarer Nähe betrachte, habe man nie seine Gesamterscheinung im Blick. Die Augen wandern von Punkt zu Punkt. Immer müsse der Sehfocus neu eingestellt werden. Die gesehenen Teile addiere man im Bewegungsakt der Augen zu einem Ganzen. Betrachten verwandele sich in ein optisches Abtasten, und die darauf fußenden Vorstellungen seien, obgleich durch den Gesichtssinn vermittelt, keine reinen Gesichtsvorstellungen. Die verschiedenen Wahrnehmungen würden nur zur Illustration einer durch die Augen vollzogenen Bewegungsvorstellung dienen. Form und Raum fasse man diskursiv auf, d h. es gibt das Ganze nur in der Bewegung, nicht aber für die Anschauung. Wie Hildebrand hervorhebt, ist die diskursive Raumauffassung die Grundlage der praktischen Orientierung und der Wissenschaft. Sie führt zu dem, was er im „Problem der Form" die „Daseinsform" eines Gegenstandes nennt. Es handelt sich dabei um eine mathematisch-zahlenmäßig berechenbare und geometrisch meßbare, von den Lichtverhältnissen, der Umgebung, kurzum dem Wechsel der anschaulichen Erscheinungsfaktoren unabhängige Größe. Hildebrand erklärt, die diskursive Raumauffassung gewinne die Form eines dreidimensionalen Gegenstandes durch ein zeitliches Nacheinander von Wahrnehmungen.
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Dagegen könnten die aus der Ferne ruhig schauenden Augen, deren Achsen parallel stehen, das Dreidimensionale im wahrnehmungsmäßigen Nebeneinander, d. h. als einheitliches Bild empfangen. Die verschiedenen Wahrnehmungen würden einer reinen Gesichtsvorstellung dienen. Form und Raum fasse man anschaulich auf. D a die echte Einheit für das Auge allein im Fernbild möglich ist, bezeichnet Hildebrand als Grundlage der künstlerischen Tätigkeit die anschauliche Raumauffassung. Sie führt zu dem, was er die „Wirkungsform" eines Gegenstandes nennt. Dabei handelt es sich um sogenannte Verhältniswerte, die abhängig sind vom Licht, Schatten, Umgebung, kurzum vom Wechsel der anschaulichen Erscheinungsfaktoren. Die räumlichen Bestimmungen werden nicht, wie das bei der „Daseinsform" der Fall ist, im absoluten, sondern im relativen Sinn erfaßt, d. h. in ihrer Beziehung zueinander und zum Raumganzen. Sie haben nur für das Auge Gültigkeit. Außerhalb des anschaulichen Zusammenhanges verlieren sie ihre künstlerische Bedeutung. Die „Wirkungsform" ist also nichts anderes als die Einheit der räumlichen Verhältniswerte. Hildebrand charakterisiert das Fernbild nach zwei Seiten hin. Einmal sei es, trotz aller plastischen Wirkung, rein zweidimensional. Alles Nähere und Fernere des Gegenstandes, alle Modellierung werde nur durch Gegensätze in der Bildfläche wahrgenommen, die ein Näheres oder Ferneres bedeuten, z. B. durch Perspektive, Helligkeitsgrade usw. Die plastische Wirkung beruhe auf einem latenten Anreiz zur Bewegung. Gäbe man sich der Anregung hin, so gehe man sozusagen im Fernbild spazieren. Zum anderen seien die Flächenmerkmale dergestalt wirksam, daß sie ein einheitliches Ganzes ergeben. Hildebrand fordert, die Einigung, die sich in der Natur für den Blick durch die größere Distanz einstellt, sollte - konzentriert - in das Kunstwerk übergehen. Seiner Angabe gemäß geschieht das in zwei Vorgängen. Zunächst werden im Prozeß der Typisierung die in der Fernsicht gewonnenen Wahrnehmungen zu einer reinen Gesichtsvorstellung entwickelt. Sodann wird im Prozeß der Darstellung der abstrahierte Vorstellungsbesitz wieder „eingekleidet", d. h. für den Beschauer wahrnehmbar gemacht. Im künstlerisch realisierten Fernbild ist der latente Anreiz zur Bewegung immer in einer bestimmten Richtung wirksam. Der Blick wird, ohne daß sich der Sehfocus verändert, von vorn nach hinten gelenkt. Durch die einheitliche Anordnung der Raumwerte vermag der Beschauer den dargestellten Bildraum und seine Formen in einer einheitlichen Tiefenbewegung abzulesen und als Ganzes anschaulich klar zu erfassen. Hildebrand schreibt: „Wie weit der Künstler fähig ist, jeden Einzelwert als Verhältniswert zu diesem allgemeinen Tiefenwert darzustellen, bedingt die Harmonie der Bildwirkung. Seine Schöpfung erhält dadurch erst einen einheitlichen Maßstab. J e klarer dieser fühlbar wird, desto einheitlicher und wohltuender der Eindruck. Diese Einheit ist das eigentliche Problem der Kunst, und wie weit das Kunstwerk diese Einheit erreicht, danach bestimmt sich sein Wert." 2 7 2 Aus diesem Blickpunkt ergibt sich Hildebrands Reliefauffassung. Das Dargestellte soll sich ausbreiten innerhalb einer Flächenschicht von gleichem Tiefenmaß, so daß seine Hauptpunkte sich in der Vorderseite vereinen und mit den Punkten, die die Hinterseite bilden, zwei parallele, für die Anschauung deutliche Ebenen abgeben. Schichtenweise schreitet der Beschauer dann in einer einheitlichen Tiefenbewegung in den
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Bildraum hinein, ohne daß sich seine Augenachsen bewegen müssen. Wesen der künstlerischen Gestaltung ist, die Einheit dieser Tiefenbewegung zu sichern. Gelingt ihr das, so geht die unmittelbare Wahrnehmung des Kunstwerks beim Beschauer ohne Rest in eine reine Gesichtsvorstellung auf. Gelingt es ihr nicht, so bleibt der künstlerische Eindruck auf der Stufe des Natureindrucks: Er ermöglicht kein gereinigtes Vorstellungsbild. Das ist, wie Hildebrand hervorhebt, der Fall beim „Naturalismus". Er stelle nicht die „Wirkungsform" dar, sondern eine der zufälligen Teilansichten, aus denen sich die „Daseinsform" zusammensetzt. Hildebrand stimmt mit Marées darin überein, daß das künstlerisch zur Geltung zu bringende Wesen in Raumwerten besteht. Der formale Gesichtspunkt steht im Vordergrund. Trotzdem geht Hildebrand theoretisch, was die Anerkennung des inhaltlichen Gesichtspunktes anbelangt, über Marées hinaus. Im „Problem der Form" widmet er ein Kapitel dem sogenannten Funktionsausdruck. Es handelt sich dabei zwar um eine Form, aber nicht als Einheit von Raumwerten, sondern insofern, als sie Ausdruck eines Motivs, einer Handlung oder eines Vorganges ist. Als Beispiel gibt Hildebrand an: Die sichtbare Mimik des Menschen, z. B. Lachen oder Weinen, weise stets auf eine innere seelische Bewegung hin. Es gäbe ein ganzes Kapitel von Funktionsmerkmakn, die zu Trägern der Beziehungen zwischen Mensch und Außenwelt werden. Hildebrand stellt auch hier wiederum der Zufälligkeit der Natur das Typische der Kunst gegenüber. In natura kümmere sich der Ausdruck nicht in jedem Fall um die Form. Ein Kerl mit starken Kinnladen könne trotzdem ein schwacher Mensch, eine langfingrige sehnige Hand könne trotzdem steif und ungeschickt zum Greifen sein. Zahlreiche Ausdrucksgesten seien für die künstlerische Darstellung unbrauchbar, weil sie einen unkenntlichen Eindruck abgeben. Andere müßten umgeordnet werden. Der „Naturalismus" freilich kopiere sie unbesehen, ohne Rücksicht, ob sie charakteristisch und deutlich sind oder nicht. Hildebrand geht es hier um die Übereinstimmung von Form und Ausdruck. Als primär bezeichnet er freilich in jedem Fall die Raumwerte. Auf ihre Einheit müsse sich die Einheit der Funktionswerte beziehen. Wenn er im Gegensatz zu Marées die inhaltliche Bestimmtheit nicht abwertet, so weist er ihr doch auch nicht den ihr gebührenden Platz zu. Zudem richtet er sich formal und inhaltlich gleichermaßen nur danach, „wie die Natur arbeitet". Genau wie Marées entdeckt er nicht, daß die Natur selbst immer gesellschaftlich überformt ist. Das Objekt der künstlerischen Abbildung ist nie eine „an sich" existierende Naturerscheinung. Von der gesellschaftlichen Bezogenheit her kommt der eigentliche Inhalt in die Kunst. Die Einseitigkeiten in Hildebrands Reliefauffassung, zurückzuführen auf die Verkennung der historisch-gesellschaftlichen Grundlage der bildenden Kunst, erstrecken sich nicht nur auf die inhaltlichen Reduktionen. Sie beziehen sich auch auf die Verengung des Formbegriffs. Die an Relief und Statue gestellten Forderungen werden weder der plastischen noch dem Reichtum bildnerischer Kunstübung überhaupt gerecht. Die Beschränkung auf einen einzigen Standpunkt ist schon unzulänglich, mehr noch die Zurückführung der künstlerischen Einheit auf ein einheitliches Fernbild. Die von Hildebrand zugrunde gelegten Erkenntnisse des menschlichen Sehens sind von der neueren Forschung zum großen Teil überholt worden. Zum Beispiel läßt sich die Trennung in rein schauende und sich rein bewegende Augentätigkeit praktisch nicht vollzie-
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hen. Sie ist eine theoretische Hilfskonstruktion. Das mag ein Grund gewesen sein, weshalb Hildebrand der Reliefauffassung in seiner Bildnerei nicht die Bedeutung verlieh, die er ihr im „Problem der Form" zumaß. Auch der Steinarbeit schenkte er nicht die geforderte Aufmerksamkeit. Trotzdem ist festzustellen: Er entwickelte sich zum Hauptvertreter jener bildnerischen Richtung, deren Streben nach der einfachen, klar überschaubaren, zum Allgemeinen erhobenen räumlichen Form ging. Dabei blieb seine Opposition einerseits gegen den „Naturalismus" und andererseits gegen den Neubarock bzw. die historisierende Monumentalisierung nicht ohne Entgegnung. Rodin kritisierte Hildebrand ebenso wie die Konservativen. Als Hildebrand sich 1889 an dem Preisausschreiben für ein Kaiser-Wilhelm-National-Denkmal in Berlin beteiligte, Wurde er angegriffen : „Wer einen solchen Entwurf mit einem Preis auszeichnet, verleugnet die ganze Bedeutung des in der deutschen Kunst aus langem Schlaf erwachten Nationalgefühls." Hildebrands künstlerisches Schaffen unterscheidet sich von dem des älteren Freundes Marées. In einer bestimmten Richtung hat es jedoch die gleiche Tendenz. Es wird beseelt von dem Streben nach Harmonie, das die Kunst der Antike und der Renaissance aufweist. Auch bei Hildebrand hat das Ideal der Ruhe, Klarheit und Würde die ideologische Funktion im Reich des ästhetischen Scheins herzustellen, was die kapitalistische Wirklichkeit vorenthält. Er sehnt sich zurück in eine utopische Vergangenheit. Für ihn gilt ganz besonders, was A. Springer über den „neurömischen Kreis" schreibt: „Die Wünsche dieser Künstler vom Ende des 19. Jahrhunderts sind doch andere als die der alten Meister, andere auch als die der Klassizisten um 1800. Zu viel Erfahrung, zu viel Erkenntnis liegt dazwischen; sie treten nicht mehr naiv an die Welt der idealisierten Körperlichkeit, sondern ein leiser Hauch von Schwermut ruht über ihren besten Werken." 273 Da Berichte über Hildebrand immer wieder seine Frohnatur hervorheben, mag diese Behauptung gewagt erscheinen. Sie trifft aber, was den inneren Gehalt seiner Plastiken angeht, durchaus zu. Es ist die „Schwermut", die aus einer, wenn auch bruchstückhaften und inkonsequenten Einsicht in die latente soziale Krise des 19. Jahrhunderts resultiert. Hildebrands Vater war alter Achtundvierziger und mußte nach dem Scheitern der Revolution in die Schweiz flüchten. Seine gesellschaftliche Resignation mag sich auf den Sohn übertragen haben. Adolf Hildebrands Sehnsucht nach klassischer Harmonie ist immer überschattet, mag er das eingestehen oder nicht. Er macht das Eingeständnis sogar. In einem Aufsatz „Arbeiter und Arbeit" polemisiert er heftig gegen das „Maschinenzeitalter". Als Kennzeichen nennt er u. a. die industrielle Arbeitsteilung und das Gewinnstreben. Einerseits erfaßt er dabei eine durchaus richtige Seite der kapitalistischen Fetischisierung bzw. Entfremdung, wenn er erklärt, die Fabrikarbeiter hätten keine Freude mehr an ihrer Arbeit. Sie seien in ihr nicht mehr zu Hause. Aber es ist eben nur die seelische Seite. Beschränkt man sich auf sie, so bagatellisiert und verzerrt man das Problem. Andererseits nimmt Hildebrand fälschlich an, die soziale Frage betreffe nur die Fabrikarbeiterschaft. Die Landarbeiter, Angestellten und Beamten würden ungeschoren bleiben. Aus beiden Gründen sucht er die Lösung nicht in einer revolutionären Umgestaltung, sondern in bestimmten Reformen. Die Fabrikarbeiter sollen die Freude am Schaffen in einer zweiten Tätigkeit gewinnen. Hildebrand denkt dabei an die Landbestellung. Gäbe man ihnen, so schlägt er vor, ein Stück Land, das sie bewirtschaften
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müßten, so könnten sie den notwendigen Ausgleich und damit einen neuen Lebensinhalt finden. Auch meint er - ähnlich wie sein großer Antipode Rodin - , nach dem Modell der künstlerischen Praxis den gesellschaftlichen Produktionsprozeß umgestalten zu können. Hildebrand bemerkt nicht, daß er das soziale Problem verzerrt, auch verniedlicht. Mit einem Schrebergarten ist dem Proletarier nicht geholfen. Die kapitalistische Ausbeutung ist abzuschaffen, wenn der harmonische Einklang zwischen Mensch und Welt wiederhergestellt werden soll. Dann bildet auch die individuelle Selbstbetätigung eine echte - und nicht wie bei den meisten Künstlern des 19. Jahrhunderts eine falsche - Einheit mit der gesellschaftlichen Arbeit. Hildebrand scheint, selbst die Mangelhaftigkeit seiner Reformvorschläge zu empfinden. Es ist das für ihn aber kein Grund, den Kern des Problems zu untersuchen, sondern nur ein Grund mehr, ins Reich der künstlerischen Harmonie zu flüchten.274 Vergleicht man Hildebrands kunsttheoretischen Standpunkt mit demjenigen Fiedlers, so ergibt sich vor allem eine Gemeinsamkeit: Beide Freunde betrachten die bildende Kunst als ein spezifisch anschauliches Mittel zur Aneignung des Seins. Hildebrand erklärt, im alltäglichen Leben brauche der Mensch zu seiner Orientierung den sichtbaren Erscheinungen nur wenige Anhaltspunkte zu entnehmen. Sein bereits vorhandenes Wissen tue das übrige. So werde ihm nicht bewußt, wieviel die optischen Wahrnehmungen an tatsächlichen Anregungen für die reine Gesichtsvorstellung enthalten und wieviel er aus seiner diskursiv gewonnenen Erfahrung ergänzt. Fiedler vertritt, allerdings auf einer anderen philosophischen Ebene, eine ähnliche Auffassung. Beide Freunde betonen, der unentwickelte Zustand des anschaulichen Bewußtseins könne durch die künstlerische Tätigkeit behoben werden. In ihr sei man genötigt, sich auf die Darstellung des reinen Augenerlebnisses zu konzentrieren. Sie unterscheide sich grundlegend von der begrifflich-diskursiven Erkenntnis, wie sie in der alltäglichen Praxis und im wissenschaftlichen Denken herrscht. Folglich sei auch ihr Resultat ein anderes. Die in ihr emporgebildete klare und deutliche Sichtbarkeit dürfe deshalb dem Begriffsschatz der Praxis und der Wissenschaft nicht unter-, vielmehr müsse sie diesem gleichgeordnet werden. Sowohl für Hildebrand als auch für Fiedler ist das Problem der Form hauptsächlich ein Problem der Formung. Hier macht sich allerdings der philosophische Unterschied geltend. Hildebrand versteht unter Formung eine Umgestaltung der Anregungen, die die objektiv sichtbaren Erscheinungen bieten. Er geht aus von der Existenz einer bewußtseinsunabhängigen, visuell wahrnehmbaren Außenwelt. Die aus ihr stammenden Eindrücke sind einerseits zu imitieren, andererseits zu modifizieren. In der imitativen Seite erblickt er die Garantie, daß der künstlerische Prozeß eine „in der Natur gegebene . . . reale Voraussetzung" hat.275 Sehr treffend schreibt er im „Problem der Form": „Das, was aber der Kunst immer neues Leben zuführt und sie immer freudig macht, ist die neue Situation. Die gegebene Natursituation zu einer künstlerischen Gestalt weiter zu formen, führt immer zu Neuem innerhalb der künstlerischen Gesetze. Fehlt diese natürliche Anknüpfung, so sucht man das Neue in sogenannten neuen künstlerischen Gesetzen und läßt zwei mal zwei fünf werden." 276 In einem Aufsatz erklärt Hildebrand: „Mit der Einsicht, daß hier ein unendlicher und schöpferischer Schatz von Wirkungsmitteln in der Natur verborgen liegt, welchen der
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Künstler zu heben hat, wird erst die Kunst zu einer objektiv fruchtbaren, schöpferischen und einer unbegrenzten Entwicklung fähigen Tätigkeit." 2 7 7 Brieflich bekräftigt Hildebrand diese Auffassung auch gegenüber Fiedler: „Ich sehe immer deutlicher, wie alle Phantasie mit einer gegebenen Situation rechnen muß, um ganz real zu werden. Irgend ein Etwas künstlerisch zu gestalten, heißt eben das Etwas zur Erscheinung bringen, aber das Etwas muß gegeben sein, weil sonst die Unbeschränktheit der Phantasie die Richtung nimmt und weil der direkte Lebensanschluß fehlt, welcher die Kunst als eine natürliche Konsequenz erscheinen läßt." 2 ' 8 Wie Hildebrand betont, muß die Imitation ergänzt werden durch eine „architektonische" Modifikation. Diese garantiert die anschauliche Verallgemeinerung, d. h. die Typisierung. Hildebrand ist fern davon, das Nachahmungsprinzip zu eliminieren. Wenn er sich gegen den „Naturalismus" wendet, so nicht deshalb, weil dieser das Nachahmungsprinzip proklamiert, sondern deshalb, weil er es einseitig verabsolutiert. Er wirft ihm Schematismus und Mißachtung der spezifisch künstlerischen Typisierung vor. E s darf daher nicht wundernehmen, daß er im Vollzug der Opposition die „architektonische" Seite besonders hervorkehrt. Wenn Hildebrand von der reinen Gesichtsvorstellung spricht, die sich im Kunstwerk ausdrückt, so meint er das vom Fernstandpunkt durch verschiedene optische Wahrnehmungen gewonnene und anschaulich umgestaltete Bewußtseinsresultat. E r läßt keinen Zweifel darüber, daß der abstrahierte und im Werkstoff realisierte Vorstellungsbesitz nicht identisch ist mit der realen Erscheinung. Der Unterschied zwischen dem vom Bewußtsein abhängigen Sein der Kunstwerke und dem bewußtseinsunabhängigen Sein der Wirklichkeit ist ihm durchaus geläufig. E r hebt ihn nicht besonders hervor, weil ihn in erster Linie der Charakter der Vorstellung beschäftigt. Jedoch ist er seiner Konzeption immanent. D a s wird z. B . deutlich, wo Hildebrand die räumlich-optische Einheit des Kunstwerkes der kausalen Einheit der Natur gegenüberstellt: „So ist denn das Kunstwerk ein abgeschlossenes, für sich und in sich beruhendes Wirkungsganzes und stellt dieses als eine für sich bestehende Realität der Natur gegenüber." 279 Im Gegensatz zu Hildebrand geht Fiedler aus von der Existenz eines bewußtseinsimmanenten Seins. Wenn er gegen den „Naturalismus" opponiert, scheint er in die gleiche Kerbe zu schlagen wie Hildebrand. D a s macht den Eindruck allgemeiner Übereinstimmung. Aber er schlägt die Kerbe anders. Seiner Auffassung nach gibt es objektiv sichtbare Erscheinungen weder als Vorbild einer Nachahmung noch als Anregung einer Umgestaltung. Unausgesprochen wendet sich Fiedler gegen die Konzeption des eigenen Freundes. Die „architektonische" Seite des künstlerischen Prozesses, die Hildebrand als notwendige Ergänzung der imitativen Seite gelten läßt, reißt er aus dem Zusammenhang heraus und verabsolutiert sie. Von der „Anknüpfung" an eine „gegebene Natursituation" will er nichts wissen. So verfällt er der von Hildebrand als verhängnisvoll charakterisierten Konzeption, die der künstlerischen Vorstellungskraft den „direkten Lebensanschluß" nimmt und „zwei mal zwei fünf" sein läßt. E r verwirft die Nachahmung nicht, insofern sie schematisch, ohne Rücksicht auf die Typisierung betrieben wird, er verwirft sie als Prinzip überhaupt. Im Gegensatz zu Hildebrand erklärt Fiedler das Verhältnis zwischen Natur und Kunst nicht als ein solches zwischen objektiv sichtbarer Wirklichkeit und subjektiven Bewußtsein, sondern als Verhältnis zwischen unentwickelter und entwickelter Be-
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wußtseinsimmanenz. Wenn Hildebrand, gestützt auf seinen philosophischen Standpunkt, die „Wirkungsform" nicht nur auf den subjektiven Sehakt, sondern auch auf das objektive Dasein („Daseinsform") zurückführt, so legt Fiedler Protest ein. E r notiert sich bei der Umarbeitung des „Problems der Form": „Befremdend ist, d a ß . . . plötzlich die durch die künstlerische Tätigkeit entstehende Anschauungsform als Wirkung der Daseinsform aufgefaßt wird." „Kann man den Gesichtseindruck als eine Wirkung der Daseinsform bezeichnen? Man könnte den Satz ebensogut umkehren." Trotz der realistischen Elemente tendiert Hildebrand kunsttheoretisch zu einer Unterbewertung inhaltlicher Bestimmungen. Vor allem bemerkt er den primär historischgesellschaftlichen Charakter nicht. In dieser Hinsicht treffen sich beide Freunde. Wenn sie das Produkt der künstlerischen Tätigkeit kennzeichnen, legen sie den Hauptwert auf die Form. Hildebrand betont das Primat einer einheitlichen Anordnung der Raumwerte. Jeder einzelne von ihnen habe sich durch das dargestellte Raumganze, nicht aber an sich zu modellieren. Fiedler erklärt, das künstlerische Spezifikum komme ausschließlich der „rein" anschaulich wirksamen Form zu. E r eliminiert den Inhalt überhaupt als ein außerkünstlerisches Element. Mit dieser Radikalisierung geht er aber wiederum weit über Hildebrands Auffassung hinaus. Hildebrand spricht einerseits von einem räumlichen „Forminhalt". Wie aus einem nachgelassenen Entwurf zu einem Aufsatz „Über die Kantsche Raumauffassung" hervorgeht, versteht er unter den Raumwerten keine apriorischen Feststellungen. E s handelt sich um „Erfahrungsprodukte", die aus objektiven Einwirkungen von außen und einer subjektiven Umgestaltung im Inneren entstehen.280 Diese Erfahrungsprodukte sind es, die in der künstlerischen Tätigkeit zum einheitlichen Ganzen des „Forminhalts" verarbeitet werden. Andererseits leugnet Hildebrand gar nicht, daß sich in der Einheit der Raumwerte ein „Funktionsausdruck" kundgibt. Indem er den Terminus einführt, anerkennt er die Wirksamkeit konkreter inhaltlicher Bestimmungen (ohne freilich Einsicht in den historisch-gesellschaftlichen Zusammenhang zu haben). Er fordert sogar - vor allem im Hinblick auf den „literarische Motive illustrierenden Naturalismus" - ihre Übereinstimmung mit der Form. Die künstlerische Form bedeutet immer etwas, wenn auch immer nur in sekundärer Weise. Fiedler aber läßt eine künstlerisch-inhaltliche Bedeutung noch nicht einmal als zweitrangig gelten. Als er Teile des entstehenden „Problems der Form" zu lesen bekommt, beanstandet er in einer Tagebuchnotiz sogleich das Kapitel über den Funktionsausdruck, „(Funktionsvorstellung): D a s Bild vom Gewebe der Kunst, durch das der Körper der Natur als Stoff oder als Vorgang durchscheint, ist nicht glücklich." E r empfiehlt, das Kapitel auszulassen: „In G (Funktionsvorstellung) kommt ein ganz neuer Punkt zur Sprache, der eine weitere Ausführung fordert, als ihm hier gegönnt ist; besser wäre es, diese ganze Untersuchung auf die Gestaltung der räumlichen Vorstellung zu beschränken, als Grundlage für alles künstlerische Schaffen."
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Bei Fiedler wäre wahrscheinlich die Analyse des Funktionsausdrucks auf die Untersuchung einer „Hieroglyphik" hinausgelaufen. Bezeichnenderweise ist Hildebrand seinem Rat, das Kapitel zu streichen, nicht gefolgt. Außer dem eben behandelten Gedankenkomplex gibt es noch einige andere Probleme, zu denen Hildebrand einen rationelleren Standpunkt einnimmt als Fiedler. Das eine bezieht sich auf das Verhältnis des Optischen zum Haptischen. Hildebrand erklärt die reine Gesichtsvorstellung, die er auf die vom Fernstandpunkt vollzogene anschauliche Raumauffassung zurückführt, als Zentrum des künstlerischen Prozesses. Sie biete ein in sich abgeschlossenes, einheitliches Bild, das durch Bewegungsakte der Augen nie gewonnen werden könne. Trotzdem schließt er die diskursive Raumauffassung nicht aus. E r meint, die wirkliche Tastbewegung - sei es nun der Augen oder der Hände müsse übersetzt werden in Flächeneindrücke, die zu einer Bewegung anregen, d. h. diese latent in sich enthalten. Im reinen Gesichtsbild seien die Tiefenunterschiede nicht direkt, sondern indirekt gegeben. Durch bestimmte Flächenmerkmale, z. B. Perspektive, Helligkeitsgrade etc. sei eine Anweisung auf sie vorhanden. Um den plastischen Anreiz zu bieten, bedürfe der Künstler aber vorerst der diskursiven Raumauffassung. Aus der in ihr gewonnenen haptischen Erfahrung vermöge er die Dreidimensionalität in die Fläche des reinen Gesichtsbildes zu übertragen. Hildebrand berücksichtigt, „daß wir der Natur nicht nur als Augengeschöpfe gegenüber stehen, sondern mit allen unseren Sinnen zugleich." 281 So schreibt er in einem Brief vom 17. 6. 1876 an Fiedler: „Das Sehen ist eine geistige Verarbeitung sinnlicher Wahrnehmungen. Das Kind sieht falsch, solange es nur Gesichtswahrnehmungen dazu verarbeitet. Erst wenn der Verstand den Tastsinn zu Rate zieht, kombiniert er ein richtiges Sehen. Das reife Sehen ist also ein Schluß aus Wahrnehmungen verschiedener Sinne in Gestalt eines Bildes für das Auge. Man sieht das mit, was man tastet, seine Tasterfahrung und gelangt zur Form - oder räumlichen Vorstellung. Und letztere ist richtig, wenn das Bild den Erfahrungen des Tastsinnes entspricht. Es wäre also die Aufgabe darzustellen, was die Wahrnehmungen des Auges an sich und die des Tastsinnes an sich sind und wie sie sich vereinigen und sich zur Formvorstellung entwickeln, zum Sehen. In dieser auf Naturgesetzen beruhenden Entwicklung liegt die anschauliche Notwendigkeit..." In späteren Auflagen seines „Problems der Form" wiederholt Hildebrand seine Auffassung, u. a. erklärt er: „Alle unsere Erfahrungen über die plastische Form der Objekte sind ursprünglich durch Abtasten zustande gekommen, sei es mit der Hand oder mit dem Auge." „Die Formvorstellung der Natur beruht auf einem unendlichen Erfahrungsausausch der Gesichts- und der Bewegungsvorstellung e n . . . " 2 8 2 Dieser Auffassung enspricht die Abneigung Hildebrands gegen den Impressionismus. Fiedler will die haptischen Qualitäten vollständig aus dem Gesichtsbild entfernen. Er lehnt auch eine „Gegenständlichkeit" der künstlerischen Darstellung als inadäquaten Einfluß des Tastsinnes ab. Hildebrand setzt sie dagegen voraus: „Die Erweckung der gegenständlichen Vorstellung dagegen bringt es mit sich, daß wir einen Flächenteil als ein Zusammengehöriges absondern von der übrigen Flächenerscheinung. Damit hängt es auch zusammen, daß sich Flecken und Klexe, wenn sich plötzliche Gegenstandsvorstellungen mit ihnen verbinden, zu modellieren anfangen und wir ein Bild in ihnen zu
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erkennen meinen."283 Hildebrand bedient sich sogar des bei der modernen bürgerlichen Dekadenz so verpönten Begriffs der „Ablesbarkeit". Die gleiche Bedeutung hat für ihn der Terminus „Positivität". Er gebraucht ihn in einem Brief an Fiedler, in dem er auf seine Arbeit an einer Porträtsbüste eingeht: „Denn das ist richtig, ich kann über die Undeutlichkeit nicht hinwegkommen und brauche einen gewissen Grad von Positivität, ohne den bin ich nicht beruhigt." 284 In künstlerischer Hinsicht akzeptiert Fiedler keine Bewegungseindrücke, auch nicht, wenn sie in eine optische Fläche übersetzt werden. Folglich muß er sich gegen das Bestreben Hildebrands wenden, die diskursive Raumauffassung als notwendige Erfahrungsgrundlage vorauszusetzen. In seinen Notizen zum „Problem -der Form" meint er, das reine Gesichtsbild dürfe nur auf Mittel zurückgeführt werden, „die nun einmal das Sehen liefert, um Raum- und Formvorstellungen hervorzurufen. Alle Bewegungs- und plastischen Formvorstellungen würden dabei einfach ausgeschieden werden, die Natur wäre die Sprache, die von der Kunst gesprochen werden müßte, zunächst ohne Rücksicht auf das, was sie auszusprechen hätte. Von einem Inbeziehungsetzen der Gesichtsvorstellungen und der Bewegungsvorstellung zueinander brauchte dann nicht die Rede zu sein." „.Plastische Form' als Resultat von Bewegungseindrücken besser nicht zu verwenden, da es an eine künstlerische Form erinnert, die eben nicht gemeint ist." Frappant ist, wie Fiedler im dritten Kapitel seiner Arbeit „Uber den Ursprung der künstlerischen Tätigkeit" (1887) auf den Brief Hildebrands vom 17. 6. 1876 (vgl. S. 152) reagiert. Er geht auf die einzelnen Hinweise genau ein, ja er versucht, sie in der angegebenen Reihenfolge zu widerlegen. Einmal verwirft er die von Hildebrand vertretene Auffassung, daß etwas Gesehenes getastet und etwas Getastetes gesehen werden könne. Was man durch das Auge wahrnehme, sei nicht durch einen anderen Sinn festzustellen. Fiedler spürt sehr richtig, daß die Annahme eines Objekts, das zugleich gesehen, getastet, gehört, gerochen etc. wird, eine objektive Realität voraussetzt. Während er aus diesem Grund die Annahme ablehnt, wird sie von Hildebrand aus dem gleichen Grund gebilligt. Fiedler ist aber nicht nur subjektiver Idealist, überdies atomisiert er das Bewußtsein psychologistisch in einzelne Elemente. So wendet er sich zum anderen gegen den von Hildebrand vertretenen Standpunkt, die sichtbare Gestalt sei an der tastbaren Form zu prüfen und umgekehrt. Er meint, die eine habe mit der anderen nicht das geringste gemein. Beide seien grundverschiedene Bewußtseinselemente. Nie könne die eine als Maßstab der anderen dienen. Fiedler bedient sich in diesem Zusammenhang eines Terminus, der in späteren formalistischen Kunsttheorien eine beachtliche Rolle spielt: „Gegenständlichkeit". Die Gegenständlichkeit ist seiner Ansicht nach nichts anderes als die tastbare Form. Deshalb betont er, das Sehen sei erst dann „gereinigt", d. h. es werde erst dann um seiner selbst willen betrieben, wenn jede Beziehung auf eine Gegenständlichkeit verschwindet. Fiedler schlägt die richtigen Erwägungen seines Freundes in den Wind. Seine philosophische Konzeption und sein Psychologismus veranlassen ihn, das Problem der Form zum Problem des Formalismus zu radikalisieren.
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Ein weiteres Problem ist das Eliteproblem bzw. die Geniekonzeption. Hildebrand kann die esoterische Tendenz schon an der Philosophie Schopenhauers nicht ausstehen. Noch mehr mißfällt sie ihm bei Fiedler. In einem Brief wendet er sich gegen dessen Auffassung von der absoluten Produktivität (Spontaneität) der Geisteskräfte: „Was Du am Ende von Energie und dem M a ß an aufgewandter Kraft und von sogenannten produktiven Geisteskräften sagst, so muß ich es so auffassen, als gäbe es nur produktives Denken, wir bezeichnen dasselbe aber erst bei einem höheren Grad der angewandten Kraft als produktiv, während ein niederer Grad unproduktiv genannt würde. So kann ich es aber nicht gelten lassen . . . Die Geisteskräfte sind wohl ilhrem Inhalt nach bei Allen ausgeteilt." In einem Bruchstück zu diesem Brief finden sich die Worte: „Mit dem Begriff Genie mag ich nichts zu schaffen haben, es ist ein hohles Ding und heißt was man will. An eine spezielle andere Tiergattung Genie hab ich nie geglaubt." 285 Wie Marées, so hält auch Hildebrand die Kunst für eine allen Menschen zugängliche Sache. Er mag verzichtet haben, Fiedler seine Ansicht so prononciert vorzutragen, wie er sie in dem Bruchstück äußert. Vielleicht wollte er ihn nicht noch mehr verstimmen. Im vorhergehenden Brief Fiedlers an ihn hatte sich dieser nämlich beklagt und erklärt: „ . . . schon wiederholt hat mich ein Abweichen unserer Urteile stutzig gemacht; mündlich würden wir uns gewiß bald verständigen" (Brief vom 2 7 . 1 . 1 8 7 8 ) . Mit diesen wenigen Hinweisen hoffe ich die allgemein geläufige Auffassung entkräftet zu haben, Hildebrand und Fiedler würden unterschiedslos ein und dasselbe Prinzip vertreten. W a s bei dem einen als Streben nach Formenklarheit wirkt, schlägt bei dem anderen um in Subjektivismus und Formalismus. Hildebrand selbst konnte außerordentlich ungehalten werden, wenn er die Meinung hörte, ohne Mitwirkung des Freundes wären seine Darlegungen nicht zustande gekommen. In einem Brief an H. Wölfflin betont er, es sei falsch zu sagen, „daß Fiedlers philosophische Anschauung auf mich eingewirkt hätte und im kausalen Zusammenhang zu meinem Buch stünde. W i r haben auf ganz verschiedenen Punkten gebohrt, hatten ganz verschiedene Probleme und gerade das schöne und spezielle unserer geistigen Beziehung war diese gegenseitige Unabhängigkeit. Jeder verstand den anderen, hatte aber seine eigene innere Quelle." 2 8 0 In dem Konzept eines Briefes, der an H. Konnerth abgeschickt werden sollte, wird Hildebrand noch deutlicher: „Da aber von anderer Seite die Fiedlersche Wirklichkeitsauffassung als mißverstandene Kantauffassung hingestellt und angegriffen wird, womit man glaubt, seine ganzen Auseinandersetzungen hinfällig zu machen, hielte ich es für sehr angebracht, klarzulegen, daß die Frage, ob die Außenwelt in letzter Instanz als reale Existenz oder (auch) als Produkt der menschlichen Natur aufzufassen ist, gar nichts mit dem Kernpunkt der Fiedlerschen Auffassung zu tun hat. Seine Auffassung der künstlerischen T ä t i g k e i t . . . bleibt vollständig dieselbe, wie auch die Wirklichkeitsidee aufgefaßt werden m a g . . . W a s mein .Problem der Form' betrifft, so scheint es mir, als brächten Sie es zu Ihrem Zweck in einen zu direkten Zusammenhang mit Fiedlers Auseinandersetzungen. Das .Problem der Form' entspringt aus einem ganz anderen Interesse und geht auf ganz anderes hinaus . . . " Offensichtlich befürchtet Hildebrand, eine Kritik am subjektiven Idealismus Fiedlers könne gleichzeitig die Kunsttheorie aus dem Wege räumen und damit auch die gemein-
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samen Ansätze zerstören. Er reagiert auf zweifache Art. Einerseits distanziert er sich von Fiedlers Philosophie. In einer persönlichen Aufzeichnung betont er, man dürfe seine Konzeption nicht von der Richtigkeit der Fiedlerschen Philosophie abhängig machen oder gar mit ihr verquicken. Sie fuße auf der direkten künstlerischen Naturerfahrung und nicht auf philosophischen Allgemeinheiten. Nachdrücklich hebt er das Primat der Außenwelt hervor. Es ist das auch der Anlaß, weshalb er sich zu einer „Physik der Erscheinung" bekennt. Er versteht darunter, daß „alle Erscheinung fürs Auge als das Resultat von realen Erscheinungskräften anzusehen ist". Er schreibt: „Je mehr ich darüber nachgedacht habe, komme ich zu der Überzeugung, daß mein »Problem der Form' in keinem direkten Zusammenhang mit Fiedlers philosophischen Ansichten gebracht werden kann, denn der Schwerpunkt meines Buches liegt in einer Begründung einer Physik der Erscheinung und diese bleibt unverändert bestehen und unabhängig von allen philosophischen Kunstanschauungen, wie sie sich auch ändern mögen." Andererseits versucht Hildebrand die Kunsttheorie Fiedlers unverändert aus der subjektiv idealistischen Philosophie herauszulösen und vor der Kritik zu retten. Das kann ihm freilich nicht gelingen. Die kunsttheoretischen Thesen lassen sich nicht von der philosophischen Konzeption isolieren. Immer geht es um das Problem, daß die Welt ihrer klaren und deutlichen Sichtbarkeit nach überhaupt erst durch die künstlerische Tätigkeit zustande kommt. Hildebrand muß sich in Widersprüche verwirren, wenn er diese Tatsache nicht berücksichtigt. So nimmt er in einem Brief an seinen Sohn Dietrich eigentlich wieder zurück, was er H. Konnerth gegenüber erklärt. Denn wie kann er dort die Philosophie Fiedlers von der Kunsttheorie trennen wollen, wenn er hier als Besonderheit Fiedlers angibt, „sich auf die Stellung des künstlerischen Erfassens der Welt zur Philosophie" zu beziehen? Er stellt fest, das „Problem der Form" gehe von gar keinem philosophischen Standpunkt aus, es mache nur das anschaulich Erlebte klar: „So liegen z. B. die Probleme meines Freundes Fiedler, die sich auf die Stellung des künstlerischen Erfassens der Welt zur Philosophie beziehen, ganz abseits meiner Fragestellung und ebenso wäre es gänzlich verkehrt, mein Buch als eine Konsequenz seines philosophischen Standpunktes anzusehen, ich fange ganz ab novo an." Ich fasse zusammen : Marées und Hildebrand nehmen an, die künstlerische Tätigkeit vollziehe sich in einer Wechselwirkung zwischen exakter Nachahmung objektiver Erscheinungen und typisierender bzw. „architektonischer" Umgestaltung. Fiedler dagegen isoliert und verabsolutiert die modifizierende Seite zu einem Prinzip totaler Neugestaltung. Marées und Hildebrand untersuchen, wie die Erscheinungen ihrer Sichtbarkeit nach auf die menschliche Anschauung wirken. Schon im einfachen Sehakt stellen sie eine die äußeren Eindrücke verändernde Tendenz fest. Die Modifikation wird in der künstlerischen Tätigkeit zum bewußt angewendeten Prinzip erhoben: Alles soll augengerecht geformt werden. Fiedler dagegen untersucht, wie durch die Produktionsweise des anschaulichen Bewußtseins sichtbare Erscheinungen entstehen. Auch er meint, die im Sehakt festzustellende Gestaltung setze sich fort in der künstlerischen Tätigkeit. Aber er reduziert auf das besondere wahrnehmungspsychologische bzw. kunstpsychologische Gesetz die ganze Gesetzmäßigkeit des objektiven Seins. Marées und Hildebrand haben bei der künstlerischen Umgestaltung primär formale Gesichtspunkte im X1 Faensen
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Sinn. Indem sie aber in philosophischer Hinsicht von einem naiven Realismus ausgehen, kommen sie nicht umhin, inhaltliche Bestimmungen - wenn auch stark verzerrt - zu berücksichtigen. Fiedlers einseitige Hervorhebung der formalen Gesichtspunkte wird durch seinen philosophischen Subjektivismus zum Formalismus gesteigert.
Anmerkungen
Die vorliegende Arbeit ist der gekürzte Text der Dissertation, die unter dem gleichen Titel 1959 der Philosophischen Fakultät der Humbold-Universität eingereicht wurde. Eine inhaltliche Neubearbeitung wurde nicht vorgenommen. Deshalb erfolgt auch keine ausdrückliche Bezugnahme auf das 1962 von B. Sattler besorgte Werk „Adolf von Hildebrand und seine Welt - Briefe und Erinnerungen". Ein großer Teil des Materials, soweit es Fiedler betrifft, hat mir aber vorgelegen. Die Zitate im letzten Abschnitt, mit freundlicher Genehmigung B. Sattlers, haben direkte Abschriften zur Vorlage. Die Leitgedanken der vor nunmehr fünf Jahren abgeschlossenen Arbeit vertrete ich, obwohl ich heute meine, daß viele Probleme eine differenziertere Behandlung erfordern würden. Das gilt auch im Hinblick auf die besondere Bedeutung der gesellschaftlichen Subjektivität für die Kunst. Anregungen verdanke ich Dr. J. Eichner, Prof, Dr. R. Hamann, Prof. Dr. W. Heise, Dr. H. Konnerth, B. Sattler und Prof. Dr. G. Strauss. Der Verfasser
1 K. Marx/F. Engels, Die Revolution von 1848, Berlin 1949, S. 184. 2 W. I. Lenin nennt das den „preußischen Weg der kapitalistischen Entwicklung der Landwirtschaft", vgl. Marx/Engels/Lenin/Stalin, Zur deutschen Geschichte, Band II/l, Berlin 1954, S. 8 7 9 - 881. 3 Diese Angaben verdanke ich Herrn Dr. J. Eichner, der vor wenigen Jahren in Murnau am Staffelsee (Obb.) verstorben ist. Er hat eine intensive Forschung der Fiedlerschen Familienverhältnisse betrieben. Wörtlich erklärte er mir, die Herkunft des Vermögens sei außerordentlich trübe. Die Verleger der Weber standen besonders im Ruf von Ausbeutern, was dann bekanntlich zu den offenen Aufständen der Ausgebeuteten führte. Der väterliche Kauf des Großgrundbesitzes war wiederum typisch für die Kapitalisierung der Landwirtschaft. 4 Diese Eintragung erfolgte nach der Ablehnung des Angebots, die Direktion des Leipziger Museums zu übernehmen. 5 Diese Eintragung erfolgte nach der Ablehnung des Angebots, die Direktion des Berliner Kupferstichkabinetts zu übernehmen. Den Winter hatte Fiedler bei Hildebrand in Italien (Kloster San Francesco bei Florenz) verbrachte, wo er dessen Schaffensprozeß beobachtete und im lebhaften Gedankenaustausch mit ihm stand. 6 W. I. Lenin, Ausgewählte Werke, Band I, Moskau 1946, S. 849 ff. 7 Die Tagebuchaufzeichnung vom Frühjahr 1866 wurde in Paris verfaßt. Fiedler hatte die Last der juristischen Ausbildung abgeworfen und sich auf Reisen begeben, um sein Rentner-Dasein voll und ganz zu genießen. Genau lautet die Notiz: „Ist es nicht ein des Strebens wertes Ideal, ruhig am Strand des Lebens zu stehen, ruhig und groß, im Geiste sammelnd, was die Vorwelt und die Mitwelt Großes und Schönes geschaffen hat? Warum selbst eingreifen und tätig sein und über dem 11*
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Anmerkungen Einzelnen den Blick auf das Ganze verlieren? Gewiß ist es für das Glück vieler notwendig, im Strom selbst zu schwimmen, zu schaffen und zu wirken. Mir scheint es ein höheres Glück zu sein, mit philosophischer Ruhe dem Treiben der Menschen zuzuschauen. Ist es nicht ein Erheben über die Menschheit? Und ist eine solche Lebensaufgabe ohne Nutzen? Wirkt nicht eine durch und durch ausgebildete Persönlichkeit durch sich selbst? Ist sie nicht ein Felsen in dem rastlos treibenden Strom der Menschen, ein Ruhepunkt, von dem Viele Erholung und Kräftigung finden? Mir scheint, es müsse solche Persönlichkeiten geben, solche Felsen, die ruhig und ernst ihre Häupter über die Wogen des Lebens erheben, die sich an ihnen brechen. Und wahrlich ist es nicht leicht, diese Aufgabe zu erfüllen, denn um fest zu stehen, sich hoch zu erheben über die anderen, muß man einen festen Grund finden, der unverrückbar den Wechsel der Zeiten überdauert."
8 Bis auf die Tagebuchaufzeichnung stammen alle zitierten Stellen aus dem Gedankenfragment, das abgedruckt ist in: Konrad Fiedlers Schriften über Kunst, herausgegeben von Hermann Konnerth, Band II, München 1913, S. 1 3 1 - 1 3 4 . 9 Adolf von Hildebrands Briefwechsel mit Conrad Fiedler, herausgegeben von Günther Jachmann, Dresden 1927, S. 249. 10 Ebenda, S. 167. 11 F. Mehring, Deutsche Geschichte vom Ausgang des Mittelalters, Berlin 1947, S. 197. 12 Briefwechsel, herausgegeben von G . Jachmann, S. 110. Bamberger war der Führer der sogenannten Sezessoinisten, die sich von den Nationalliberalen abspalteten, weil diese Bismarcks Finanz- und Sozialpolitik trotz ursprünglicher Ablehnung zu billigen begannen. Die Sezessionisten galten als die Fraktion der „geärgerten Freihändler". Sie vereinigten sich dann mit der Fortschrittspartei Eugen Richters zur Deutschen Freisinnigen Partei. 73 Briefwechsel, herausgegeben von G. Jachmann, S. 148, 351. 14 Ebenda, S. 1 0 9 - 1 1 0 . 15 Ebenda, S. 167. 16 „Von der Empfindung ausgehend, kann man die Linie des Subjektivismus einschlagen, die zum Solipsismus führt (,die Körper sind Komplexe oder Verbindungen von Empfindungen'), man kann aber auch die Linie des Objektivismus einschlagen, die zum Materialismus führt (die Empfindungen sind Abbilder der Körper der Außenwelt)." W . I. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, Berlin 1949, S. 115. 17 Ebenda, S. 1 8 4 - 1 9 4 . 18 Konrad Fiedlers Schriften über Kunst, Band I, S. 122. 19 Ebenda, Band I, S. 1 2 3 - 1 2 4 . 20 J . Müller baut seine Theorie von der spezifischen Energie der Sinnesorgane auf einem Ausnahmefall auf. E r stellt fest, daß die Netzhaut des Auges nicht nur Lichtempfindungen auslöst, wenn Lichtwellen auf sie einwirken, sondern auch, wenn ein mechanischer Druck z. B. ein Schlag aufs Auge erfolgt. Auf Grund dieser Tatsache sollen die Empfindungen nicht bestimmt werden durch die Natur äußerer Reize, sondern durch die spezifische Energie der jeweiligen Sinnesorgane, hier also der Netzhaut. Helmholtz entwickelt diese Theorie weiter. E r bezeichnet den Unterschied zwischen den Empfindungen verschiedener Sinnesorgane, z. B. zwischen Farbe und Geschmack, als den Unterschied in der Modalität. Den Unterschied zwischen den Empfindungen desselben Sinnesorgans, z. B. zwischen rot und blau, nennt er den Unterschied der Qualität. Wie er behauptet, wird die Modalität ganz und gar durch die spezifische Energie des Sinnesorgans bestimmt. Welche Reize auch immer einwirken, in jedem Sinnesorgan würden nur diejenigen
Empfindungen
entstehen, die der spezifischen
Energie des betreffenden Nervs entsprächen. Die Qualität dagegen werde von der Natur des
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äußeren Reizes mitbestimmt. In beiden Fällen lehnt Helmholtz die Abbildtheorie ab. An ihre Stelle setzt er seine Theorie der Symbole. Die Empfindungen sollen nur Zeichen äußerer Objekte sein und mit diesen weder übereinstimmen noch nicht-übereinstimmen können. Zwischen beiden soll keine andere Ähnlichkeit bestehen außer der Gleichzeitigkeit ihrer Erscheinung. Lenin hat diese Theorie in seinem Werk „Materialismus und Empiriokritizismus" (S. 224 f.) ausführlich kritisiert und mit Recht erklärt, sie bringe ein völlig unnötiges Element des Agnostizismus mit sich. Vgl. auch F. Chaßchatschi Über die Erkennbarkeit der Welt, Berlin 1949, S. 32-37 und S. L. Rubinstein, Grundlagen der allgemeinen Psychologie, Berlin 1958, S. 241-42. 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30
F. A. Lange, Geschichte des Materialismus, Leipzig 1921, Band II, S. 391. Briefwechsel, herausgegeben von G. Jachmann, S. 111. Konrad Fiedlers Schriften über Kunst, Band II, S. 69, 190, 193, 211. Ebenda, Band II, S. 221. Ebenda, Band I, S. 173. Ebenda, Band II, S. 199. A. Springer, Handbuch der Kunstgeschichte, Band V, Leipzig 1906, S. 204. A. Hauser, Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, Band II, München 1953, S. 308-309. L. Aragon, Das Beispiel Courbet, Dresden 1956, S. 75. J. Kurz, Adolf Hildebrand zu seinem 60. Geburtstag, Deutsche Rundschau, Oktober 1907, S. 118. 31 Große Sowjet-Enzyklopädie, Reihe Kunst und Literatur, Heft 49: Kunst und Kunstwissenschaft, Berlin 1954, S. 28. 32 Julius Meier-Graefe polemisierte zugunsten von Menzel und Marées gegen die völkischen Apologeten Böcklins, vgl. J. Meier-Graefe, Der Fall Böcklin und die Lehre von den Einheiten, Stuttgart 1905. 33 G. Floerke, Zehn Jahre mit Böcklin, München 1902, S. 43, vgl. auch S. 39, 229-230. 34 K. Marx, Ökonomisch-Philosophische Manuskripte, Kleine ökonomische Schriften, Berlin 1955, S. 132. 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55
Konrad Fiedlers Schriften über Kunst, Band I, S. 104-105. Briefwechsel, herausgegeben von G. Jachmann, S. 233. Ebenda S. 110. Ebenda S. 181-182. Konrad Fiedlers Schriften über Kunst, Band I, S. 109. Ebenda, Band I, S. 99-100. Ebenda, Band II, S. 53. Ebenda, Band I, S. 450. Briefwechsel, herausgegeben von J. Jachmann, S. 296. Konrad Fiedlers Schriften über Kunst, Band I, S. 449. Ebenda, Band II, S. 97. Ebenda, Band I, S. 136. Ebenda, Band I, S. 64. Tagebucheintragung vom 23. 11. 1867 zu Athen. Konrad Fiedlers Schriften über Kunst, Band I, S. 180. Ebenda, Band I, S. 160. Ebenda, Band I, S. 159. Ebenda, Band I, S. 161. Ebenda, Band I, S. 52, 55. Ebenda, Band I, S. 169. Ebenda, Band I, S. 120, vgl. auch Band II, S. 334-341.
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Anmerkungen
56 Ebenda, Band II, S. 45. 57 Ebenda, Band I, S. 63. 58 Ebenda, Band II, S. 2 4 - 2 5 , vgl. auch S. 6 0 - 6 1 . 59 Ebenda, Band II, S. 24. 60 G . W . Plechanow, Über Kunst und Literatur, Berlin 1955, S. 2 3 0 - 3 1 0 . 61 Konrad Fiedlers Schriften über Kunst, Band I, S. 170. 62 Ebenda, Band II, S. 2 1 8 - 2 1 9 . 63 Ebenda, Band II, S. 69. 64 Ebenda, Band II, S. 198, vgl. auch S. 206. 6 5 Ebenda, Band II, S. 207. 66 Ebenda, Band II, S. 175. 67 Ebenda, Band II, S. 1 9 7 - 1 9 8 . 68 Ebenda, Band II, S. 193. 69 Ebenda, Band II, S. 153. 70 Ebenda, Band II, S. 243. 71 Ebenda, Band II, S. 153. 72 Ebenda, Band I, S. 2 2 0 - 2 2 1 . 73 Ebenda, Band I, S. 233. 74 Ebenda, Band II, S. 1 8 4 - 1 8 5 . 75 W. I. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, S. 40. 76 Ebenda, S. 235 f. F. Engels, Dialektik der Natur, Berlin 1952, S. 265. 77 Ebenda, S. 245. 78 B. Croce, Die Theorie der Kunst als reine Sichtbarkeit, in: Kleine Schriften zur Ästhetik, herausgegeben von J . v. Schlosser, Band II, Wien 1911, S. 1 9 1 - 2 0 5 . 79 Konrad Fiedlers Schriften über Kunst, Band I, S. 58. 80 Ebenda, Band I, S. 56. 81 Ebenda, Band I, S. 3 0 6 - 3 0 7 , 328. 82 K . Marx, Kleine ökonomische Schriften, Berlin 1955, S. 101. 83 Konrad Fiedlers Schriften über Kunst, Band I, S. 57. 84 Ebenda, Band II, S. 98, Band I, S. 5 4 - 5 5 , 3 2 4 - 3 2 5 . 85 K . N. Kornilow, Einführung in die Psychologie, Berlin-Leipzig 1949, S. 46. 86 N. N. Wolkow, Die Wahrnehmung des Gegenstandes und der Zeichnung, Studienmaterial, Bildende Kunst, 4/1954, S. 37. 87 Konrad Fiedlers Schriften über Kunst, Band I, S. 50. 88 „Jede psychische Erscheinung ist einerseits das Produkt und die abhängige Komponente des individuellen organischen Lebens, andererseits die Widerspiegelung der äußeren Welt, die das Individuum umgibt." „Wenn wir davon sprechen, daß die Psyche das Produkt des Gehirns, das Gehirn aber das Organ der Psyche ist, so darf man nicht vergessen, daß die Psyche die Wirklichkeit, das Sein widerspiegelt. Die höchste Form der Psyche, das Bewußtsein des Menschen, ist das Bewußtsein seines gesellschaftlichen Seins. Die Beziehungen zwischen Psyche und Gehirn drücken nur die Beziehungen der Psyche zu ihrem organischen Substrat aus. Die andere Seite der Be* Ziehung der Psyche zu ihren materiellen Grundlagen stellt die Beziehung der Psyche zum Objekt dar, das sie widerspiegelt." S. L. Rubinstein, Grundlagen der allgemeinen Psychologie, S. 18, 123. 89 Ebenda, S. 437. 90 M. Picard, Zerbrochener Mensch, Bildende Kunst, Heft 2/1955. 91 S. L. Rubinstein, Grundlagen der allgemeinen Psychologie, S. 715.
Anmerkungen
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92 Ebenda, S. 233, 436 ff, 447 ff, 453 ff, 583. 93 G. J. v. Allesch, Die ästhetische Erscheinungsweise der Farbe, Berlin 1925. E. Utitz, Grundzüge der ästhetischen Farbenlehre, Stuttgart 1908. 94 Da, wie Pawlow erklärt, das zweite System als eine Funktion besonders der Stirnlappen aufzufassen ist, erfaßt beim Künstlertyp „die Tätigkeit der Großhirnhemisphären, obwohl sie sich auf ihre gesamte Masse erstreckt, die Stirnlappen am allerwenigsten und konzentriert sich hauptsächlich in anderen Teilen. Bei den Denkern ist es umgekehrt, sie konzentriert sich hier vorwiegend in den Stirnlappen." (Pawlow, Ausgewählte Werke, Berlin 1953, S. 396.) Pawlow gibt an, zwischen den beiden Typen seien „Übergänge in Masse" möglich. Aber, so meint er, „in überwältigender Mehrheit sind sie in einzelnen Individuen vertreten". Das würde belegt durch die Tatsache, daß „die Vereinigung eines großen Künstlers und eines großen Denkers in einer Person eine äußerste Seltenheit" ist. Das würde aber vor allem auch durch pathologische Erscheinungen belegt. Bei krankhafter Übersteigerung neige der Künstlertyp zu Hysterie, der Denkertyp zur Psychasthenie. (Ebenda, S. 395-396, 433-434.) 95 Ebenda, S. 437, 459 ff. E. Albrecht, Die Beziehungen von Erkenntnistheorie, Logik und Sprache, Halle 1956, S. 84 bis 130. 96 A. L. Burow, Das ästhetische Wesen der Kunst, Berlin 1958, S. 160. 97 S. L. Rubinstein, Grundlagen der allgemeinen Psychologie, S. 408. 98 Ebenda, S. 414. 99 Goethes Gespräche mit Eckermann, Berlin 195;?, S. 319. 100 W. Nasarenko, Die Sprache der Kunst, Kunst und Literatur, 11/1958, S. 1113 ff. 101 Ebenda, S. 1138. 102 K. Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie, Berlin 1947, S. 258. 103 H. Koller, Die mimesis in der Antike - Nachahmung, Darstellung, Ausdruck, Bern 1954. 104 K. Marx, ökonomisch-philosophische Manuskripte, Kleine ökonomische Schriften, S. 105. 105 Ebenda. 106 Konrad Fiedlers Schriften über Kunst, Band II, S. 275. 107 Streng formallogisch handelt es sich bei der Bewußtseinstatsache, die mit dem realen Sachverhalt übereinstimmt, um ein Urteil. Das Urteil ist formell die Verbindung zweier Begriffe, nämlich des Subjekts und des Prädikats. Inhaltlich ist es die Feststellung eines in der Wirklichkeit bestehenden Zusammenhanges oder Nicht-Zusammenhanges. Im Urteil wird der reale Sachverhalt abgebildet. Ist die Abbildung adäquat, liegt ein wahres, ist sie inadäquat, liegt ein falsches Urteil vor. Gestützt auf die Wahrheitsdefinition des Aristoteles, wird von formallogischer Seite oft behauptet, im Gegensatz zum Urteil könnten Empfindungen bzw. Wahrnehmungen weder wahr noch falsch sein. In ihnen habe man keine Wahrheit, sondern nur das wahrgenommene Wirkliche. In psychologischer Hinsicht spielt jedoch in den Wahrnehmungen immer schon das begreifende, d. h. aber das „beurteilende" Moment eine Rolle. Vor allem bei typischen Erscheinungen der Wirklichkeit, in denen das Wesen besonders deutlich zutage tritt, vermögen durch Wahrnehmungen bestimmte Zusammenhänge erfaßt zu werden, ohne daß die Stufe konkreter Sinnlichkeit verlassen wird. Auf Grund der Korrelation zwischen Sinnlichem und Rationalem brauchen sich die Menschen nicht in jedem Fall in begriffliche Reflexionen zu verlieren. Sie erfassen die Mehrzahl der Objekte bereits unmittelbar als bezeichnete und damit in gewisser Hinsicht, wenn auch nicht vollständig, als begriffene. Folglich vermögen die Wahrnehmungen durchaus richtige, d. h. wahre Abbilder zu vermitteln. Ich weise auf diesen Punkt deshalb besonders hin, weil er bei der Behandlung des Wahrheitsproblems in der bildenden Kunst eine Rolle spielt. 108 Konrad Fiedlers Schriften über Kunst, Band II, S. 275.
162
Anmerkungen
109 W. Metzger gibt in seinem Buch „Gesetze des Sehens", Frankfurt a. M. 1953, die verschiedenen Ursachen der „unnatürlichen Wirkung" einer „richtig" gezeichneten Perspektive an. E i n e von ihnen besteht darin, daß die Perspektive immer nur für einen einzigen Standpunkt richtig sein kann, und zwar den, den der Vermessende einnimmt, vgl. S. 2 1 8 - 2 2 2 . 110 W. Waetzoldt, D u und die Kunst, Berlin 1957, S. 1 4 1 - 1 4 2 . 111 K o n r a d Fiedlers Schriften über Kunst, Band II, S. 101. 112 Ebenda, Band II, S. 87. 113 I. Kant, Kritik der Urteilskraft, herausgegeben von R. Schmidt, Leipzig (Reclam), 1944, S. 231. 114 Fiedler belegt diese These vor allem in seiner ersten Schrift („Über die Beurteilung von Werken der bildenden K u n s t " ) und in zahlreichen Aphorismen. E s muß jedoch vermerkt werden, daß er in jungen Jahren einen Unterschied zwischen ästhetischem Gefühl und künstlerischem Urteil nicht macht. In dieser Zeit unterliegt er ohne jede kritische Regung dem Einfluß Kants und Schopenhauers. So ist in einer längeren Tagebucheintragung vom Winter 1867/68 aus Rom zu lesen: „Die
Ausbildung
des
Schönheitsgefühls
ist
eine unendlich
schwierige Aufgabe,
ich
be-
trachte sie als den Hauptgrund meines hiesigen Aufenthaltes, denn Kunst und Philosophie sind die beiden höchsten Gebiete des menschlichen Daseins und nur wer mit ihnen seine Existenz ausfüllt, kann darauf Anspruch machen, dem höchsten Kreise menschlicher Bildung anzugehören. Wenn nun schon Philosophie sich nicht aus Büchern lernen läßt, so versagt sich die ästhetische Ausbildung erst recht dem Bücherstudium. D e r Philosoph muß zwar als solcher geboren sein, doch seine Geistesrichtung muß ihn unwiderstehlich zu einer philosophischen Betrachtung der Welt hindrängen. Gleicfiwohl ist die Rolle, die bei dem Philosophen das Studium spielt, eine sehr große. Anders bei dem Ästhetiker, oder wenigstens ist bei ihm das Studium anderer Art. Wenn jemand, der von der Natur mit einem gewissen Sinn für die Schönheiten der Natur und Kunst ausgestattet ist, glauben wollte, diesen Sinn durch umfassende künstlerische Studien ausbilden zu können, so würde er sich gewaltig irren. E s ist eine intensive Arbeit, durch die er allein sein ästhetisches Gefühl zu einer größeren Reinheit herausarbeiten kann, und zwar sind die Mittel dazu einmal die eigene, beständige Betrachtung der Natur und der Kunstwerke, das andere Mal das Sichhineindenken in d i e Betrachtungsweise von Künstlern oder solcher, deren ästhetisches Gefühl schon zu größerer Reinheit durchgedrungen ist. N u r dadurch, daß man versucht, mit den Augen des Künstlers zu sehen, wird man nach und nach sein eigenes Auge aus der Roheit herausbilden können." „ G e r a d e die bildende Kunst ist nur dem zugänglich, der im Stande ist, die Schönheit der Erscheinungswelt zu fühlen, der wenigstens eines von den Elementen empfangen hat, die vereinigt den Künstler selbst ausmachen. So aber haben sie für das Wesentliche der Kunst kein Gefühl und kein Verständnis . . . "
US K o n r a d Fiedlers Schriften über Kunst, Band II, S. 380. 116 Ebenda, Band II, S. 87. 117 Ebenda, Band II, S. 3 9 0 - 3 9 1 . 118 Briefwechsel, herausgegeben von G . Jachmann, S. 91. 119 Indem Fiedler die Kunst in der N ä h e der Erkenntnis und der Wahrheit ansiedelte glaubte er, „etwas total Neues, von allem sonstigen Natur- und Menschenwerk fundamental Verschiedenes" entdeckt zu haben. E r erklärt: „ D i e s ist, so lange sich die Welt mit den Künsten beschäftigt, noch nicht ausgesprochen worden und doch beruht hierauf allein die der Kunst würdige Stellung im Leben." K o n r a d Fiedlers Schriften über Kunst, Band II, S. 387, 9. 120 Tagebucheintragung vom Winter 1867 in Rom. 121 K o n r a d Fiedlers Schriften über Kunst, Band II, S. 396.
Anmerkungen
163
122 Karl Hillebrand, Zwölf Briefe eines ästhetischen Ketzers, anonym erschienen, Berlin 1874, 5. Brief. 723 Tagebuchaufzeichnung vom Winter 1867 in Rom. 124 Konrad Fiedlers Schriften über Kunst, Band II, S. 395. 125 Vgl. zu diesem Problem Viktor Stern, Zu einigen Fragen der marxistischen Philosophie, Berlin 1954, S. 23-24, und F. Chaßchatschich, Über die Erkennbarkeit der Welt, Berlin 1949, S. 29. 126 Vgl. zu diesem Problem W. I. Lenin, Aus dem philosophischen Nachlaß, Berlin 1954, S. 101, 195, und Materialismus und Empiriokritizismus S. 314. 127 K. Marx, Kleine ökonomische Schriften, S. 135. 128 Leonardo da Vinci, Tagebücher und Aufzeichnungen, Leipzig 1952, S. 770. 129 Albrecht Dürers schriftlicher Nachlaß, herausgegeben von K. Lange und F. Fuhse, Halle 1893. 130 Konrad Fiedlers Schriften über Kunst, Band I, S. 238, 245-246, 250. 131 Ebenda, Band I, S. 244. 132 E. Mach, Die Analyse der Empfindungen, Jena 1902, S. 8 f. 733 Konrad Fiedlers Schriften über Kunst, Band I, S, 238-239. 134 S. L. Rubinstein, Grundlagen der allgemeinen Psychologie, S. 306-321. K. N . Kornilow, S. M. Smirnow, B. M. Teplow, Psychologie, Berlin-Leipzig 1951, S. 129. 735 S. L. Rubinstein, Grundlagen der allgemeinen Psychologie, S. 313. 136 K. N . Kornilow, S. M. Smirnow, B. M. Teplow, Psychologie, S. 125. 737 W. Waetzoldt, Du und die Kunst, Berlin 1957, S. 38. 138 Konrad Fiedlers Schriften über Kunst, Band I, S. 255-256. 139 Ebenda, Band I, S. 246-248, 255-256, 263-271. 140 K. N . Kornilow, S. M. Smirnow, B. M. Teplow, Psychologie, S. 132. 141 W. Ehrenstein, Probleme der ganzheitspsychologischen Wahrnehmungslehre, Leipzig 1954, S. 8. 142 Ebenda, S. 142-147. 143 Ebenda, S. 56-59. S. L. Rubinstein, Grundlagen der allgemeinen Psychologie, S. 315-316. 144 Fiedlers Schriften über Kunst, Band I, S. 352. 145 Ebenda, Band I, S. 316. 146 Ebenda, Band I, S. 40. 147 Ebenda, Band I, S. 253. 148 Ebenda, Band II, S. 157. 149 Ebenda, Band II, S. 156, 162. 150 Ebenda, Band I, S. 317. 151 Ebenda, Band I, S. 32-33. 152 S. L. Rubinstein, Grundlagen der allgemeinen Psychologie, S. 591, 603. 153 P. R. Hofstätter, Psychologie, Frankfurt a. M„ 1957, S. 117 f. B. M. Teplow, Psychologie, Berlin 1953, S. 17-18. S. L. Rubinstein, Grundlagen der allgemeinen Psychologie, S. 586-596. 154 Aus diesem Grund ist auch die Forderung Lévy-Bruhls, zur „prälogischen", d. h. durch keine Begriffe „getrübten" gefühlsmäßig-anschaulichen Geistart zurückzukehren, die bei expressionistischen Künstlern Anklang fand, illusorisch. 155 W. Waetzoldt weist in diesem Zusammenhang auf einen interessanten Versuch hin: Man könne, wenn man z. B. die gleiche Landschaft nacheinander durch verschiedenfarbige Gläser betrachte, einen starken Stimmungsumschwung bemerken. Waetzoldt geht auch der Bedeutung verschiedener Farbbezeichnungen der Umgangssprache nach. Vgl. W. Waetzoldt, Du und die Kunst, S. 100 f.
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Anmerkungen Konrad Fiedlers Schriften über die Kunst, Band I, S. 284. Ebenda, Band I, S. 34-40. Ebenda, Band I, S. 256-257. N . N . Wolkow, Die Wahrnehmung des Gegenstandes und der Zeichnung, Studienmaterial für die künstlerischen Lehranstalten der D D R , Reihe Bildende Kunst, Heft 4, Berlin 1954, S. 35. Ebenda, S. 34. Ebenda, S. 38. B. M. Teplow, Psychologie, S. 56. Konrad Fiedlers Schriften über Kunst, Band I, S. 136. W. Hess, Dokumente zum Verständnis der modernen Malerei, Hamburg 1956, S. 12. R. Hamann, Der Impressionismus in Leben und Kunst, Köln 1907, S. 27-51. A. Gehlen, Zeit-Bilder, Frankfurt a. M„ 1960, S. 59 ff. A. Hauser, Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, Band II, S. 420-423. A. Malraux, Psychologie der Kunst, Hamburg 1957, Band I, S. 45-55, Band II, S. 58-80, 88-91, 98-103. H. Sedlmayr, Die Revolution der modernen Kunst, Hamburg 1955, S. 16, 23-43. F. Chaßchatschich, Über die Erkennbarkeit der Welt, S. 54. W. I. Lenin, Aus dem philosophischen Nachlaß, Berlin 1954, S. 101, 195, 287. Konrad Fiedlers Schriften über Kunst, Band II, S. 88. S. L. Rubinstein, Grundlagen der allgemeinen Psychologie, S. 448-449. Auf Helmholtz' Behauptung von der Mangelhaftigkeit des menschlichen Auges, das nicht alle Reize verarbeite, eingehend, erklärt Engels in der „Dialektik der Natur": Diese Beschränkung sei notwendig, denn „ein Auge, das alle Strahlen sähe, sähe ebendeshalb gar nichts." F. Engels, Dialektik der Natur, Berlin 1952, S. 256. K. Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie, Berlin 1947, S. 256-257. G. W. F. Hegel, Ästhetik, Berlin 1955, S. 160-161. M. J. Friedländer, Kunst und Kennerschaft, Berlin 1955, S. 13-14. S. L. Rubinstein, Grundlagen der allgemeinen Psychologie, S. 318. Ebenda, S. 357. W. Waetzoldt, Du und die Kunst, S. 136. M. Friedländer, Kunst und Kennerschaft, S. 50. Konrad Fiedlers Schriften über Kunst, Band I, S. 332-338. Ebenda, Band II, S. 77. Ebenda, Band I, S. 221. Ebenda, Band II, S. 217. K. Marx/F. Engels, D i e Heilige Familie, Berlin 1953, S. 257. Konrad Fiedlers Schriften über Kunst, Band I, S. 196-197. J. H. Horn, Widerspiegelung und Begriff, Berlin 1958, S. 17. S. L. Rubinstein, Grundlagen der allgemeinen Psychologie, S. 521. Konrad Fiedlers Schriften über Kunst, Band II, S. 75-77. Die Lautsprache ist sowohl phylogenetisch als auch ontogenetisch ursprünglicher als die Schriftsprache. Primitive sind „Analphabeten", sie schreiben und lesen nicht, sprechen aber. Ebenso ist es bei den Kindern, sie sprechen, ehe sie schreiben und lesen lernen. Auch im täglichen Umgang dominiert die Lautsprache. Die Schrift ist nur eine mittelbare Verkörperung. Jeder Gedanke wird auch erst „still" gesprochen, ehe er schriftlich fixiert wird.
189 Konrad Fiedlers Schriften über Kunst, Band I, S. 320, 293-294. 190 Ebenda, Band I, S. 273.
Anmerkungen
165
191 W. Ehrenstein, Probleme der ganzheitspsychologischen Wahrnehmungslehre, S. 8. 192 Ebenda, S. 296-300. 193 N . N . Wolkow, Die Wahrnehmung des Gegenstandes und der Zeichnung, S. 17. S. L. Rubinstein, Grundlagen der allgemeinen Psychologie, S. 597-603. 194 Konrad Fiedlers Schriften über Kunst, Band I, S. 53-60, 294, Band II, S. 172. 195 W. Waetzoldt, Du und die Kunst, S. 26. 196 Charakteristisch ist ein Ausspruch Picassos gegenüber Christian Zervos: „Ein Bild ist nicht von vornherein fertig ausgedacht und festgelegt. Während man daran arbeitet, verändert es sich im gleichen Maß wie die G e d a n k e n . . . . Man muß das Bild zerstören, es mehrere Male überarbeiten." W. Hess, Dokumente zum Verständnis der modernen Malerei, S. 53. 197 S. L. Rubinstein, Grundlagen der allgemeinen Psychologie, S. 308, 717. 198 Konrad Fiedlers Schriften über Kunst, Band II, S. 369. 199 L. Zahn, Kleine Geschichte der modernen Kunst, Berlin 1956, S. 21-66. 200 W. Hess, Dokumente zum Verständnis der modernen Malerei, S. 9. 201 W. Hess, Probleme der Farbe, München 1953, S. 168-171. 202 P. Cézanne, Über die Kunst, Hamburg 1957, S. 9 - 1 0 . Wie schon den Zitaten zu entnehmen ist, wäre es trotz aller Parallelen verfehlt, Cézanne genau wie Fiedler im philosophischen Sinn als subjektiven Idealisten bezeichnen zu wollen. Er war durchaus kein präzise analysierender Denker. Im Grunde geht es ihm immer nur darum, die schöpferische und ordnende K a f t der künstlerischen Tätigkeit und ihre relative Selbständigkeit hervorzuheben. Die Außenwelt will er als solche gar nicht eliminieren, sondern „repräsentieren", d. h. nichts anderes, als übersetzen. Zu Denis sagt er: „Ich habe die Natur kopieren wollen, es gelang mir nicht, aber ich war mit mir zufrieden, als ich entdeckt hatte, daß die Sonne (z. B.) sich nicht darstellen läßt, sondern daß man sie repräsentieren muß durch etwas anderes . . . durch die F a r b e . . . Man muß die Natur nicht reproduzieren, sondern repräsentieren, durch was?: durch gestaltete farbige Äquivalente." W. Hess, Problem der Farbe, S. 26. In diesem Gedankengang steckt nicht die Forderung voraussetzungsloser Neugestaltung, sondern der Transformation. Was auf der künstlerischen Ebene „repräsentiert" werden soll, muß immer real vorhanden sein. Das bestätigt auch ein Brief an Bernard: „Im Kontakt mit der Natur wird das Auge erzogen, es wird konzentrier durch das viele Schauen und Arbeiten." W. Hess, Problem der Farbe, S. 28. 203 W. Haftmann, Malerei im 20. Jahrhundert (Textband) München 1954, S. 79. 204 V. Hofmann, Zeichen und Gestalt, Frankfurt a. M. 1957, S. 24, 32, 85. 205 Man vergleiche den Katalog zur Ausstellung des Kunstamtes Berlin-Charlottenburg vom 20. Oktober bis 10. November 1956. Im „Vorwort des Malers", das H. Konnerth für diesen Katalog schrieb, findet sich ein beachtlicher Satz, der ganz und gar aus der Sphäre Fiedlers stammt: „Der eigentliche Sinn des Begriffes Bild hängt mit der Tätigkeit des Bildens zusammen, keineswegs aber mit jener des Abbildens." 206 Johannes Eichner, Kandinsky und Gabriele Münter, Von Ursprüngen moderner Kunst, München 1957. 207 W. Hess, Problem der Farbe, S. 25. 208 Konrad Fiedlers Schriften über Kunst, Band I, S. 328. 209 K. Marx, Das Kapital, Band I, Berlin 1947, S. 17. 210 K. Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie, S. 257 ff. 211 Konrad Fiedlers Schriften über Kunst, Band I, S. 345, Band II, S. 259.
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Anmerkungen Ebenda, Band I, S. 13-14, 143-144, 336, 425-431, Band II, S. 96-97, 382. A. Hauser, Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, Band II, S. 231. S. L. Rubinstein, Grundlagen der allgemeinen Psychologie, S. 455. In einer Anmerkung zum Band II der „Vorschule der Ästhetik" setzt sich Fechner selbst mit der ersten Schrift Fiedlers („Über die Beurteilung von Werken der bildenden Kunst") auseinander. Er wirft ihm vor, das Assoziationsprinzip als Kunstprinzip zu ignorieren, vgl. Vorschule der Ästhetik, Leipzig 1925, Band II, S. 62 f. M. Friedländer, Kunst und Kennerschaft, S. 122. M. Alpatoff, Das Selbstbildnis Poussins im Louvre, in: Kunstwissenschaftliche Forschungen, Band II, 1933, S. 121. M. Hamburger, Das Formproblem in der neueren deutschen Ästhetik und Kunsttheorie, Heidelberg 1915, S. 5 - 6 , 55. F. Engels, Dialektik der Natur, S. 284. Ebenda, S. 234. W. I. Lenin, Aus dem philosophischen Nachlaß, S. 110, 139. Ebenda, S. 139. H. Wölfflin, Kleine Schriften, herausgegeben von J. Gantner, Basel 1946, S. 171. H. Wölfflin, Die klassische Kunst, Basel 1946, S. 294-295. H. Wölfflin, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, München 1915, S. 237. E. Utitz, Über Grundbegriffe der Kunstwissenschaft, Kant-Studien, 34. Band, Berlin 1929. W. Passarge, Die Philosophie der Kunstgeschichte in der Gegenwart, Berlin 1930.
H. Wölfflin, Kleine Schriften, S. 163. Ebenda, S. 180. Konrad Fiedlers Schriften über Kunst, Band I, S. 333, 340-341. Ebenda, Band II, S. 67, 84, 98, 125 f., 159, 164 ff., 169-186, 190, 213 f., 222-237. Ebenda, Band I, S. 303, 313. Ebenda, Band I, S. 314. Ebenda, Band I, S. 297. Ebenda, Band II, S. 98 f., 108. Ebenda, Band I, S. 332-333. W. Metzger, Gesetze des Sehens, S. 6 - 7 . Konrad Fiedlers Schriften über Kunst, Band II, S. 121. Ebenda, Band II, S. 142. Ebenda, Band II, S. 113-114. Ebenda, Band I, S. 326-328, 337 ff., 347-350, Band II, S. 109 ff. Ebenda, Band I, S. 117. Ebenda, Band II, S. 131. Noch Dürer beruft sich nicht auf sein künstlerisches Talent, sondern auf den unerwartet großen Zeitverlust sowie auf die hohen Kosten der verwendeten Farben, als er von seinem Frankfurter Auftraggeber Jacob Heller ein höheres Honorar erbittet. 243 K. Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie, S. 267 ff. K. Marx / F. Engels, Die deutsche Ideologie, Berlin 1953, S. 28. 244 In einem Brief Hildebrands an seinen Sohn Dietrich aus dem Jahr 1906 ist zu lesen: „Mein Buch stellt keine Denkmethode dar, um zu einer künstlerischen Erkenntnis zu gelangen. Die künstlerische Erkenntnis ist vielmehr vorausgesetzt, hat mit keinem Raisonnement zu tun, ist ein Produkt der Erfahrung und Begabung und trägt ihre Wahrheit in sich. Diese künstlerischen Wahrheiten, die sich dem Künstler mehr oder weniger offenbaren, stehen einzeln nebeneinander als Erfahrungsprodukte, mit denen er hantiert, deren Zusammenhang aber unklar bleibt. Den Zusammenhang dieser Erfahrungswahrheiten zu entdecken und darzulegen war die Auf-
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gäbe in meinem Buch. Durch die Erkenntnis dieses Zusammenhangs werden die Wahrheiten verständlich und deutlich und man sieht, wie eine die andere bedingt als sachliche Notwendigkeit. Ich suche also aus der Natur der Sache künstlerische Wahrheiten zu begründen und ihnen einen sachlichen objektiven Untergrund zu geben gegenüber einem bloß historischen und subjektiven." Der Briefwechsel Fiedlers mit den beiden Künstlern ist lediglich zum Teil veröffentlicht worden, und zwar in dem dreibändigen Werk von J. Meier-Graefe über Marées und in der Ausgabe von G.Jachmann. Beide Publikationen legen das Schwergewicht auf die Äußerungen der Künstler. K. Konnerth, Die Kunsttheorie Conrad Fiedlers, München und Leipzig, 1909, S. 28. J. Meier-Graefe, Hans von Marées, München und Leipzig 1910, Band I, S. 308 f. H. Konnerth, Nekrolog „Adolf von Hildebrand", Kunst und Künstler, Jahrgang 1921, 6. Heft, S. 225-226. J. Meier-Graefe, Hans von Marées, Band I, S. 124. Tagebucheintragung vom 26. 11. 1866, vgl. S. 11. Auf keinen Fall gelangte Fiedler - wie oft von der Seite der Kunsthistoriker angenommen wird - als bloßer Geldmann zur Kunst, der sich naturgemäß für das Gebiet zu interessieren beginnt, das er finanzierte. Sein Mäzenatentum bewährte sich erst viel später. J. Meier-Graefe, Hans von Marées, Band III, S. 50. K. v. Pidoll, Aus der Werkstatt eines Künstlers, Erinnerungen an den Maler Hans von Marées aus den Jahren 1880-1881 und 1884-1885, Augsburg 1930. J. Meier-Graefe, Hans von Marées, Band I, S. 402. J. Meier-Graefe, Hans von Marées, Band I, S. 547. Briefwechsel, herausgegeben von G. Jachmann, S. 290. H. Wölfflin, Kleine Schriften, S. 78. J. Meier-Graefe, Hans von Marées, Band III, S. 198. Ebenda, Band III, S. 205. Ebenda, Band III, S. 178. Ebenda, Band III, S. 234. Ebenda, Band III, S. 147. Ebenda, Band III, S. 50. Ebenda, Band III, S. 233. Ebenda, Band III, S. 256-257. Vgl. dagegen die Tagebucheintragung Fiedlers vom Frühjahr 1866, wo er von einem höchsten Glück im „Erheben über die Menschheit" spricht. J. Meier-Graefe, Hans von Marées, Band II, S. 146. J. Meier-Graefe, Hans von Marées, Band III, S. 192, 234. H. Konnerth, Die Kunsttheorie Conrad Fiedlers, S. 16. A. v. Hildebrand, Das Problem der Form, Straßburg 1893, S. 33-34. Gesammelte Aufsätze, Straßburg 1909, S. 80. A. v. Hildebrand, Das Problem der Form, S. 5 - 6 . Ebenda, S. 67. A. Springer, Handbuch der Kunstgeschichte, Band V, S. 407. A. v. Hildebrand, Gesammelte Aufsätze, S. 43 ff. Briefwechsel, herausgegeben von G. Jachmann, S. 304. A. v. Hildebrand, Das Problem der Form, S. 100. A. v. Hildebrand, Gesammelte Aufsätze, S. 30. Briefwechsel, herausgegeben von G. Jachmann, S. 302-303.
279 A. v. Hildebrand, Das Problem der Form, Vorwort zur 3. Auflage.
168
Anmerkungen
280 Aus dem Entwurf zu einem Aufsatz Hildebrands „Über die Kantsche Raumauffassung": „Die Vorstellung des Raumes ist als Vorstellung ein Erfahrungsprodukt und stammt als solches aus zwei Quellen, aus der unseres inneren Denkvermögens und aus der des von außen sinnlich empfangenen Materials. So wenig wie wir das Produkt unserer sinnlichen Erfahrung auffassen dürfen als einen realen Bestandteil der außer uns liegenden Welt oder des empfangenen Materials, weil eben unser inneres Vermögen bei dieser Empfängnis mit tätig und gestaltend eingegriffen hat, ebensowenig können wir eine Vorstellung irgendwelcher Art als einen Bestandteil inneren Vermögens ansehen, weil dasselbe erst durch das zugeführte Sinnesmaterial sich als formend bestätigen kann. Es scheint mir, daß Kant bei seiner Auffassung der Raumvorstellung als apriori nur insofern recht hat, als daß dieselbe notwendig auch eine innere Quelle haben muß, daß er aber unrecht hat, wenn er die Art der Vorstellung, oder die Anschauungsform, wie er es nennt, nicht mehr als Produkt ansieht der beiden Quellen, sondern als Ursache, als ein nicht erworbenes, sondern als ein vor der Erfahrung ruhender Besitz unseres inneren Vermögens. Als solcher aber ist überhaupt keine Vorstellung und auch nicht die allergemeinste denkbar." 281 282 283 284 285 286
A. v. Hildebrand, Das Problem der Form, S. 33. Ebenda, S. 17. Ebenda, S. 47-48. Briefwechsel, herausgegeben von G. Jachmann, S. 197. Ebenda, S. 104-105. Brief vom 16. 9. 1917, Manuskript in Basel.
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i. Konrad Fiedler, Über die Beurteilung von Werken der bildenden Kunst, Leipzig, 1876 - Bemerkungen über Wesen und Geschichte der Baukunst, Deutsche Rundschau XV, 1878 - Über Kunstinteressen und deren Förderung, Deutsche Rundschau 1879 - Moderner Naturalismus und künstlerische Wahrheit, Wissenschaftliche Beilage der Leipziger Zeitung 1881 - Ein Künstler über Kunst und Kunstgelehrte, D i e Grenzboten, 41. Jahrgang Nr. 32, 1882 - Die Brunnenkonkurrenz in Leipzig, Wissenschaftliche Beilage der Leipziger Zeitung 1882 - Die Hildebrandausstellung in Berlin, Die Grenzboten, 43. Jahrgang, Nr. 44, 1884 - Über den Ursprung der künstlerischen Tätigkeit, Leipzig 1887 - Hans von Marées, Privatdruck 1889 - Ein Brief aus Bayreuth, München 1891 - Einleitung zu Julius Meyers Geschichte und Kritik der modernen deutschen Kunst, Leipzig 1895 Konrad Fiedlers Schriften über Kunst, herausgegeben von Hans Marbach, Leipzig 1896 Konrad Fiedlers Schriften über Kunst, herausgegeben von Hermann Konnerth, 2 Bände, München 1913/1914 Über die Beurteilung von Werken der bildenden Kunst, herausgegeben von Klaus Leopold, Berlin 1926 Konrad Fiedler, Vom Wesen der Kunst (Auswahl), herausgegeben von Hans Eckstein, München 1942 Konrad Fiedler, Hans von Marées, herausgegeben von Hermann Uhde-Bernays, München 1953, Dresden 1956 Briefwechsel
mit Marées in: Julius Meier-Graefe, Hans von Marées, Sein Leben und sein Werk,
Band III, München und Leipzig 1910 Briefwechsel
mit Hildebrand
in: Adolf von Hildebrands Briefwechsel mit Conrad Fiedler, heraus-
gegeben von G. Jachmann, Dresden 1927 Briefwechsel
mit Tboma in: Briefwechsel Hans Thoma-Konrad Fiedler, bearbeitet von A. Schnei-
der, Karlsruhe 1939 Dissertationen
und Abhandlungen
über Fiedler:
Ernst Rethwisch, Das Wesen der bildenden Kunst, Berlin 1877 Hans Marbach, Das Mysterium der Kunst, Leipzig 1890 Hermann Konnerth, Die Gesetzlichkeit der bildenden Kunst, Berlin 1908 (Dissert.) - D i e Kunsttheorie Konrad Fiedlers, München und Leipzig 1909 Arminio Janner, Adolf Hildebrands und Konrad Fiedlers Kunsttheorie, Straßburg 1912 (Dissert.) Ernst Tross, Das Raumproblem in der bildenden Kunst, Kritische Untersuchungen zur FiedlerHildebrandschen Lehre, München 1914 Emmy Voigtländer, Zur Gesetzlichkeit der abendländischen Kunst, Bonn und Leipzig 1921
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Georg Klose, D i e Kunstphilosophie Konrad Fiedlers, Berlin 1922 (Dissert.) Hans Paret, Konrad Fiedler und das Wesen der künstlerischen Tätigkeit, Stuttgart 1922 (Dissert.) Johannes Eichner, Wie Adolph Hildebrands „Problem der Form" entstand, Manuskript Murnau Zeitschriften- und Zeitungsaufsätze über Hans Marbach, Konrad Fiedler -
Fiedler:
Ein Lebensbild, in: D i e Grenzboten, 54. Jahrgang
1895,
3. Viertelj. Wilhelm Porte, Konrad Fiedler, in: Frankfurter Zeitung vom 8. 6. 1895 Wilhelm von Bode, Doktor Konrad Fiedler, in: Repertorium für Kunstwissenschaft X V I I I , 1895 Ferdinand Laban, Dr. Konrad Fiedler, in: Bayreuther Blätter 1901 - Fiedlers Schriften über Kunst, in: Wissenschaftliche Beilage der Leipziger Zeitung vom 3. 12. 1898 H. A. Lier, Konrad Fiedler, in: „ADB"-Band 48, 1904 Georg Fuchs, Konrad Fiedler, in: Deutsche Form X V I , 1906 Paul Fechter, Konrad Fiedler, in: Kunst und Künstler, Juli 1914 Hans Eckstein, Konrad Fiedler, in: Neue Rundschau, September 1941 II. E . Albrecht, D i e Beziehungen von Erkenntnistheorie, Logik und Sprache, Halle 1956 C. J. von Allesch, Die ästhetische Erscheinungsweise der Farbe, Berlin 1925 M. Alpatoff, Das Selbstbildnis Poussins im Louvre, in: Kunstwissenschaftliche Forschungen, Band II, 1933 L. Aragon, Das Beispiel Courbet, Dresden 1956 W . Besenbruch, Zum Problem des Typischen in der Kunst, Weimar 1956 G . Britsch, Theorie der bildenden Kunst, herausgegeben von E . Kornmann, 1926 A. I. Burow, Das ästhetische Wesen der Kunst, Berlin 1958 F. Chaßchatschich, Über die Erkennbarkeit der Welt, Berlin 1949 H. Cornelius, Elementargesetze der bildenden Kunst, Leipzig 1908 B. Croce, Die Theorie der Kunst als reine Sichtbarkeit, in: Kleine Schriften zur Ästhetik, herausgegeben von J . v. Schlosser, Band II, Wien 1911 - Zur Theorie und Kritik der Geschichte der bildenden Kunst, in: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte, 1926 - Grundriß der Ästhetik, Leipzig 1913 W. Ehrenstein, Probleme der ganzheitspsychologischen Wahrnehmungslehre, Leipzig 1954 J . Eichner, Das Problem des Gegebenen in der Kunstgeschichte, Halle 1914 - Kandinsky und Gabriele Münter, München 1957 F. Engels, Anti-Dühring, Berlin 1953 - Dialektik der Natur, Berlin 1952 G . Th. Fechner, Vorschule der Ästhetik, Leipzig 1925 F. Floerke, Zehn Jahre mit Böcklin, München 1902 M. Friedländer, Von Kunst und Kennerschaft, Berlin 1955 A. Gehlen, Zeit-Bilder, Frankfurt a. M., 1960 W. Haftmann, Malerei im 20. Jahrhundert (Textband), München 1954 R. Hamann, Der Impressionismus in Leben und Kunst, Köln 1907 - Die deutsche Malerei vom Rokoko bis zum Expressionismus, Leipzig 1925 M. Hamburger, Das Formproblem in der neueren deutschen Ästhetik und Kunsttheorie, Heidelberg 1915 A. Hauser, Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, München 1953 - Philosophie der Kunstgeschichte, München 1958 W. Heise, Grundtendenzen der bürgerlichen Philosophie nach 1870/71 in Deutschland, Manuskript
Literaturauswahl
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Anhang Studien über Hildebrands Problem der Form (Abhandlung aus dem handschriftlichen Nachlaß Fiedlers)
1. Bewegung und
Gesichtsvorstellung
Ohne schon hier tiefer auf die so mannigfach entwickelte Aufgabe der bildenden Kunst einzugehen, begnüge ich mich damit zu sagen, daß der Künstler sein Streben darauf richte, die Natur zum Ausdruck zu bringen. In seiner anspruchslosen Allgemeinheit wird dieser Satz kaum zum Widerspruch herausfordern, und er hat seinen Zweck erfüllt, wenn er als Anknüpfungspunkt für die folgenden Erörterungen dient. Zunächst muß man sich darüber klar sein, daß man von „Natur" nicht so schlechthin sprechen kann; denn die Natur ist kein Ding, was sozusagen stille hielte und sich uns in unbeirrter Unwandelbarkeit darböte, sobald wir seiner nur bedürften. Vielmehr sehen wir uns, je unmittelbarer wir uns der Natur gegenüber zu stellen suchen, vor einem immer rastloser sich unseren Sinnen darbietenden Wechsel von Eindrücken. Je mehr wir bemüht sind, unsere sinnliche Aufmerksamkeit zu schärfen, desto mehr wird es uns zum Bewußtsein kommen, daß wir uns nicht einem Beständigen g e g e n ü b e r , sondern inmitten eines ungeheuren Wirbels von verschiedenartigen, wirr durcheinander spielenden Sinneseindrücken befinden. Es stellt sich als eine Täuschung heraus, wenn wir meinen, durch diesen verwirrenden Schein hindurch zu einem hinter demselben verborgenen festen Bestand hindurchdringen zu können. Vielmehr muß sich jedes Beharren der äußeren Erscheinung mehr und mehr auflösen, je eindringender wir unsere sinnliche Empfänglichkeit auf die Natur richten. Es vereinigen sich dazu Vorgänge außer uns mit Vorgängen in uns. Wir vermögen weder den ununterbrochenen Veränderungen, denen die Objekte unserer Wahrnehmung durch Bewegung, Beleuchtung usw. unterworfen sind, Stillstand zu gebieten, noch steht es in unserer Macht, die unendliche Bewegung der subjektiven Bedingungen, unter denen wir wahrnehmen, in starre Unbeweglichkeit zu verwandeln. Nun ist es klar, daß, wenn wir von Natur sprechen, wir ein doch einigermaßen Beständiges meinen; auch würden wir ja nicht bestehen können, wenn wir uns ohne Halt jenem chaotischen Durcheinander rastlos wechselnder Eindrücke hingegeben fühlten. Ist nun aber jener feste Bestand aus der unmittelbaren Wahrnehmung nicht zu gewinnen, wird er vielmehr durch die unmittelbare Wahrnehmung in Frage gestellt und zerstört, so müssen wir ihn anderswo suchen. In der Tat bilden sich als Ergebnisse der unmittelbaren Wahrnehmungen bei jedem Menschen Vorstellungen, die sich an die Stelle der unmittelbaren Wahrnehmungen setzen, von jenem Wechsel, der mit den Sinneseindrükken verbunden ist, nicht mehr angetastet werden können und für den einzelnen die eigentliche Wahrheit der Natur bilden. Dieser Vorstellungsbesitz ist es, der den Stoff dessen bildet, was wir so im allgemeinen mit dem Ausdruck Natur zu bezeichnen berechtigt sind; auf ihn nur können 12*
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wir es beziehen, wenn wir sagen, daß der Künstler die Natur zum Ausdruck zu bringen suche; denn seine Aufgabe würde ihn an den Rand der Verzweiflung führen, wenn er mit derselben vor der Natur im Sinne jener unmittelbaren Wahrnehmung stände; ihn auch müssen wir prüfen, wenn wir näher zusehen, was es damit für eine Bewandtnis habe, daß der Künstler die Natur zum Ausdruck zu bringen sich bemühe. Es sind nämlich diese Vorstellungen zunächst von sehr gemischter Beschaffenheit, ermangeln der Klarheit und Bestimmtheit, und sind durchaus ungeeignet, sich einem Ausdruck zu fügen. Im täglichen Leben hat der Mensch alle Ursache, sich bei diesem etwas verschwommenen Vorstellungsbesitz zu begnügen; ist doch das menschliche D a sein derart, daß es nur bestechen kann, wenn sich die Gesamtheit in einem gewissen Mittelstand der Bewußtheit erhält. Jeder Versuch, nach irgendeiner Seite hin das Bewußtsein zu steigern, ein Versuch, auf dem für den einzelnen alle Möglichkeit geistiger Entwicklung beruht, müßte sofort das menschliche Zusammenleben zerstören, wenn es allgemein würde. E s wird dies noch deutlicher werden, wenn wir eingesehen haben werden, daß jener Versuch der Steigerung des Bewußtseins immer zu einer Tätigkeit führen muß, die andere Tätigkeiten ausschließt. Für die Bedürfnisse des gewöhnlichen Lebens also reicht jener unentwickelte Vorstellungsbesitz vollständig aus; er wird dem einzelnen mühelos zuteil, er bildet sich ohne jegliches Zutun aus den Wahrnehmungen der Sinne, und auf ihm beruht das sichere Gefühl, einer realen W e l t anzugehören, selbst ein Bestandteil dieser aus realen Dingen bestehenden Welt zu sein. Auf diesen Vorstellungen beruht ganz eigentlich die unerschütterliche Überzeugung von der Realität der Außenwelt; sie bilden um so mehr die eigentliche Wahrheit der vorhandenen Welt, als sie in ihrer Unbestimmtheit und Umbildsamkeit sich nicht der unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmung gegenüberstellen, sondern sich an dieser ununterbrochen erneuern, berichtigen und so eine untrügliche Kunde von außer uns Seienden zu geben scheinen. Fehlte dem Menschen vollständig das Bedürfnis, sich der Wahrheit der Natur im Ausdruck zu versichern, so wäre gar keine Veranlassung vorhanden, jenen Vorstellungsbesitz auf seine Beschaffenheit und Zusammensetzung zu prüfen; dieses Bedürfnis aber führt zunächst zu der Einsicht, daß jene Vorstellungen, die wir von der Natur um uns herum haben, viel zu unbestimmt sind, um in die Bestimmtheit eines Ausdrucks einzugehen, und viel zu zusammengesetzt, um sich so, wie sie sind, zu der Einheitlichkeit eines Ausdrucks entwickeln zu lassen. Indem nun im bildenden Künstler jenes Ausdrucksbedürfnis der Natur gegenüber in besonderer Weise auftritt, ergibt sich die Notwendigkeit, zunächst aus den auf so verschiedenartigen Wahrnehmungen beruhenden Vorstellungen den Anteil auszusondern, der dem Sehorgan zukomme. D i e Aufgabe spezialisiert sich und muß sich spezialisieren, damit aus dem so ungleichartigen Vorstellungsstoff ein gleichartiger Stoff gewonnen werden kann, der sich zur Gestaltung eines Ausdrucks der Vorstellungen eigne. Nun mag es scheinen, als ob dazu keine weitere Mühe und Arbeit gehöre; wir verhalten uns tatsächlich oft rein sehend, lassen alle anderen sinnlichen Beschaffenheiten der Dinge unberücksichtigt und gewinnen so eine ausschließliche Gesichtsvorstellung eines Dings, die wir zu beliebiger Deutlichkeit und Bestimmtheit erheben können, und von der es uns verhältnismäßig leicht dünkt, einen abbildlichen Ausdruck zu gestalten. Dies ist bis zu einem gewissen Punkte wahr; aber abgesehen davon, daß es mit der Gestal-
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tung eines abbildlichen Ausdrucks auch für die einfachste Gesichtsvorstellung doch seine Schwierigkeit hat, so gibt man sich auch nicht ernstlich Rechenschaft darüber, was es heißt, sich den Dingen gegenüber rein sehend zu verhalten, reine Gesichtsbilder von den Dingen in sich aufzunehmen. Es ist ja nicht schwer, von Sinneseindrücken wie denen des Gehörs, des Geschmacks, des Getastes abzusehen, auch mag man den Eindrücken, die uns das Sehorgan zuführt, keinen Einfluß auf unser inneres, seelisches und geistiges Leben gestatten, immer haben wir doch noch nicht die Gewähr dafür, daß das, was wir besitzen, ein reiner Gesichtseindruck, eine reine Gesichtsvorstellung sei. Denn bei dem gewöhnlichen Sehen entstehen die Gesichtsbilder nicht nur durch die Tätigkeit der Sehwerkzeuge, sondern auch durch die Bewegungen, die wir, sei es vermöge der Beweglichkeit unseres ganzen Körpers, sei es auch bloß mit dem Auge ausführen. Nehmen wir auf die Beweglichkeit unseres ganzen Körpers oder auch nur auf die einzelnen Teile desselben, wie des Kopfes, keine Rücksichten, so bleibt doch immer noch die doppelte Beweglichkeit des Auges, die seitliche und die Einstellungsfähigkeit übrig, die bei dem Sehen im gewöhnlichen Sinn eine wichtige Rolle s p i e l e n . Wenn wir, wie das ja meist der Fall ist, mehrere Gegenstände auf einmal sehen, so erscheint jeder Gegenstand in einem besonderen Sehfeld, bildet ein losgelöstes Bild für sich. W i r brauchen verschiedene seitliche Augenbewegungen und verschiedene Augeneinstellungen, um die verschiedenen Gegenstände in ihren verschiedenen Entfernungen in den Sehfokus zu rücken. W i r erhalten kein einheitliches Bild von den Gegenständen, sondern bewegen unsere Augen von einem Gegenstandsbild zum anderen. Was für mehrere Gegenstände statthat, das gilt auch für den einzelnen Gegenstand, sobald wir uns in verhältnismäßiger Nähe von demselben befinden, während wir, wie wir später sehen werden, viele Gegenstände als e i n Bild sehen können, wenn wir uns in verhältnismäßiger Entfernung von denselben befinden. D e r Eindruck des Näheren oder Entfernteren bei dem Sehen mehrerer Gegenstände oder der verschiedenen Teile eines Gegenstandes beruht darauf, daß wir eine wirkliche Bewegung ausführen, daß wir unsere Augen auf die tatsächlich verschiedene Entfernung einstellen. Geben wir uns also Rechenschaft dessen, was wir durch diese übliche Art des Sehens erlangen, so erkennen wir, daß wir eine Reihe von Gesichtseindrücken erhalten, die untereinander durch Bewegungen, seien es seitliche, seien es in die Tiefe gehende, verbunden sind. Alle die Gesichtseindrücke, die wir von verschiedenen Gegenständen oder von den verschiedenen Teilen eines Gegenstandes erhalten, sind gleichsam von Bewegungsakten durchschlossen, durch Bewegungsakte untereinander verkettet. Von einem reinen Gesichtsbild kann nicht die Rede sein; wo ein Bewegungsakt notwendig wird, um die verschiedenen Gesichtsbilder räumlich zu verbinden, da entsteht in dem Gesichtsbild als solchem eine Lücke; die räumliche Beziehung der verschiedenen Gesichtsbilder zueinander findet nicht in einem Gesichtseindruck, sondern in einem Bewegungsakt ihren Ausdruck. E s kann also eine vollständige Gesichtsvorstellung von der Zusammengehörigkeit der verschiedenen Gegenstände zu einem Ganzen oder der verschiedenen Teile zu einem Gegenstand nicht entstehen. Diese Tatsache wird der großen Mehrzahl der Menschen immer verborgen bleiben; eine Veranlassung, sich von der Beschaffenheit der Gesichtsvorstellungen, die uns ein so sicherer Besitz dünken, Rechenschaft zu geben, tritt erst ein, wenn wir sie um ihrer selbst willen, nicht, wie das sonst geschieht,
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zu anderweitigen Zwecken, ins Auge fassen und weiter zu entwickeln suchen; erst da bemerken wir, daß es gemischte Erzeugnisse sind, daß sie dem Versuche, sie zum klaren augenfälligen Ausdruck zu bringen, widerstehen; erst da sehen wir ein, daß wir eben nicht wissen, wie die Dinge aussehen. Nun aber gibt es noch eine andere Art zu sehen, die dann stattfindet, wenn wir von dem, was sich unserem Auge darbietet, seien es nun verschiedene Gegenstände zusammen oder ein einzelner Gegenstand, so weit entfernt sind, daß beim Auffassen des Bildes durch das Auge keine Bewegungstätigkeit stattfindet. Die Erstreckung des Gesehenen in die Tiefe kommt uns hier nicht dadurch zum Bewußtsein, daß wir unseren Sehapparat nach und nach auf die verschiedenen Entfernungen einstellen, in denen die verschiedenen Teile des Gesehenen tatsächlich von ihm abliegen; auch nach den Seiten hin lassen wir unsere Augen nicht wandern, um bald das eine, bald das andere in den Mittelpunkt des Sehfeldes zu bringen. Unsere Augen befinden sich in vollständiger Ruhe, wir verhalten uns tatsächlich bloß sehend, wir fassen ein Flächenbild auf, und doch erzeugt sich uns die Illusion der Erstreckung des Gesehenen im dreidimensionalen Raum. Konnten wir vorhin die Wahrnehmung der Erstreckung in die Tiefe auf Bewegungen nach der Tiefe hin zurückführen, so ist das hier ausgeschlossen. Es bietet sich uns nur ein Flächenbild, und es sind Merkmale dieses Flächenbildes, durch welche die Vorstellung der dreidimensionalen Ausdehnung des Gesehenen hervorgerufen wird. Es ist dies ein sehr wichtiger Unterschied. Erst hier besteht das Gesichtsbild aus einem homogenen (gleichartigen) Stoffe und vermag zu einer einheitlichen Vorstellung zu werden; solange es noch mit Bewegungsakten durchsetzt war, die immer ein Nacheinander in der Zeit bedeuten, war die Entstehung einer Vorstellung, in der alle Faktoren gleichzeitig zu einer Vorstellung zusammenwirken, nicht möglich. Nun erst läßt sich von einer Gesichtsvorstellung als einem Etwas, was man fassen, bezeichnen, entwickeln, zum Ausdruck bringen kann, reden. In dem Fernbild - so nennen wir das Bild, welches lediglich auf Gesichtswahrnehmungen ohne Hinzutritt von Bewegungen, seien es Körper - oder b l o ß e n Augenbewegungen, beruht - entsteht, wie schon erwähnt, der Eindruck aller räumlichen Verschiedenheiten, aller Modellation, alles Nah oder Fern rein und nur aus Flächeneindrücken, aus dem Zusammenwirken von Merkmalen, welche in einer Fläche enthalten sind. Dahin gehören Überschneidungen, perspektivische Verkürzungen, Licht und Schatten usw. Es ist klar, daß es in unserer Macht liegt, uns den Dingen gegenüber, die sich unseren Augen darbieten, so zu verhalten, daß wir sie nur als Fernbilder auffassen; wir brauchen uns nur in die gehörige Entfernung von ihnen zu bringen und uns aller Bewegung zu enthalten. Wir erhalten dann in der Tat einen reinen Gesichtseindruck, und der unmittelbare Übergang von diesem Eindruck zu der Nachbildung, zum bildnerischen Ausdruck, erscheint uns nicht eben schwer. Die ganze Schwierigkeit der Kunst liefe dann doch auf eine unmittelbare Naturnachahmung hinaus. Wie außerordentlich beschränkt dann das Gebiet künstlerischer Darstellung der Natur sein würde, leuchtet ein. Der Mensch, dem eine so große Bewegungsfähigkeit gegeben ist, der sein Sehorgan in immer wechselnde E n t f e r n u n g e n und Lagen den Dingen gegenüber zu versetzen vermag, dessen Sehorgan selbst ein bewegliches ist, müßte sich zur Unbeweglichkeit verurteilen; er würde ganz auf das angewiesen blei-
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ben, was sich ihm als Fernbild darböte; statt zu einer Herrschaft über die Natur zu gelangen, würde er in sklavische Abhängigkeit von ihr geraten. Zudem würde von einer verstandenen Beziehung zwischen dem Gesichtseindruck, wie er sich im Fernbild darstellt, und der tatsächlichen plastischen Form, die wir doch auch mit Hilfe unseres Gesichtssinnes wahrnehmen, nicht die Rede sein; der n a c h b i l d l i c h Darstellende hätte nichts anderes zu tun, als so weit es mit den ihm zu Gebote stehenden Mitteln möglich ist, die Eindrücke wiederzugeben, die er empfängt, und dadurch im Betrachter einigermaßen das Bild hervorzurufen, das er selbst empfängt, ein Unternehmen, welches nicht gerade eine besondere Wichtigkeit für sich in Anspruch nehmen kann. Die Erkenntnis, daß im Fernbild überhaupt ein reines Gesichtsbild möglich wird, daß eine plastische Form als ein reines Flächengebilde, als ein einheitlich Gesehenes zum Ausdruck kommt, führt uns viel weiter. Wir werden das ganze Gebiet der Gesichtsvorstellungen zu einem Feld der Unternehmung machen, um uns klar zu werden über die Beziehung, in der die plastische Form der Dinge, die ja auch eine gesehene Form ist, zu der im reinen Gesichtsbild erscheinenden Form steht, und umgekehrt. Dann erst tut sich uns die ganze Natur in der Form reiner Gesichtsvorstellung auf. Die plastische Form der Dinge, die wir in unserer Vorstellung als die gesehene festhalten, entsteht dadurch, daß wir einen Gegenstand mit den Augen von allen Seiten prüfen. Die verschiedenen Gesichtseindrücke, die wir erhalten und die dadurch entstehen, daß wir die Augen um den Gegenstand herumführen, werden nicht als solche festgehalten, sondern zu Bewegungsvorstellungen entwickelt. Es werden alle Bewegungen in ihrem gegenseitigen Verhältnis zueinander aufgefaßt als fortlaufende Begrenzung eines Volumens. Diese Bewegungsvorstellungen werden uns als plastische Form des Gegenstandes bewußt, und diese Art der Auffassung bedeutet das reine plastische Formsehen, indem wir dabei jeden anderen Eindruck fallen lassen und zum Beispiel von Stoff und Farbe ganz absehen können. Die Gesichtseindrücke, die wir empfangen, helfen zur Entstehung der plastischen Vorstellung, aber sie selbst verschwinden wieder, nachdem sie ihren Dienst getan haben; sie bilden bei dieser ganzen Wahrnehmungsart nur einen Durchgangspunkt für die entstehende plastische Formvorstellung. Das, was entsteht, ist ein Gemisch von Gesichtseindrücken und plastischen Vorstellungen (Bewegungsvorstellungen?). Gewisse Bestandteile der Gesichtseindrücke treten mit dem Gegenstand nicht g l e i c h m ä ß i g auf; die sich verkürzenden Konturen hängen von einem gegebenen Standpunkt ab und decken sich nicht mit dem bleibenden Kontur als Begrenzung gedacht (sie!); Schatten und Licht wechseln nach zufälligen Umständen. Anderes, wie die Lokalfarbe, prägt sich als ein von der Beleuchtungsart und dem Standpunkt Unabhängiges leicht ein. Dasjenige im einzelnen Gesichtseindruck, was die Tiefenvorstellung hervorruft und was uns anregt, der Form durch die Bewegung mit den Augen zu folgen und den Eindruck als Bewegungsvorstellung zu entwickeln, übt zwar auf den Betrachtenden während der Wahrnehmung eine unmittelbare Wirkung aus, haftet aber am unklarsten in der Vorstellung; die Beziehung vom Gesichtseindruck zur plastischen Form bleibt unbegriffen. Weder kann aus der gewonnenen plastischen Vorstellung für irgendeinen Standpunkt der Gesichtseindruck zurückentwickelt werden, noch auch läßt sich aus den Gesichtseindrücken, die in der Vorstellung zurückbleiben, eine klare plastische Vorstellung gewinnen. So behilft sich der Mensch mit
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lauter Stückwerk, und seine Gesichtseindrücke und Bewegungsvorstellungen beziehen sich wohl auf denselben Gegenstand, stehen aber in keiner deutlichen inneren Beziehung zueinander. Aus alledem erhellt, daß von einer klaren Vorstellung eines Gegenstandes nur dann gesprochen werden kann, wenn wir uns aus reiner deutlicher plastischer Vorstellung ein deutliches Gesichtsbild entwickeln können, oder - gehen wir vom Gesichtsbild aus - wenn wir uns ein derartiges Gesichtsbild von einem Gegenstand bilden, daß es eine deutliche plastische Vorstellung von ihm erweckt. Wir stehen nun vor einer allgemeinen Forderung; die sich in betreff unserer Naturauffassung ergibt. Die Natur stellt sich uns in jener aus Gesichtseindrücken und Bewegungsvorstellungen gemischten Form dar, die wir n o c h ü b e r d i e s nicht eine Form nennen können, da es kein gleichzeitiges Gebilde ist, was wir besitzen, sondern ein Nacheinander von Eindrücken, die sich nicht zu einem Ganzen zusammenschließen. Wollen wir diese natürliche Vorstellungsart, die wir von Dingen haben, zu dem einheitlichen und klaren Ausdruck einer Form entwickeln, so müssen wir ein reines Gesichtsbild schaffen, welches so geartet ist, daß es eine deutliche, deckende Vorstellung von der plastischen Form enthält, ohne doch jener Bewegungen zu bedürfen, auf denen sonst das plastische Formbewußtsein beruht. Die Natur als solche bietet s o l c h e Gesichtsbilder nicht, außer in jenen oben erwähnten zufälligen und vereinzelten Fällen, in denen n o c h ü b e r d i e s das Zustandekommen reiner Gesichtsbilder auf der Abwesenheit jeglicher Anregung zu plastischer Formvorstellung beruht. Nur durch eine Tätigkeit können wir der Vorstellung von der Natur diejenige Gestalt geben, in der ihre plastische Beschaffenheit sich unserem Gesichtssinn als eine reine Form darstellt. Diese Tätigkeit ist die künstlerische. Der Künstler arbeitet das Naturbild insofern um, als er für die plastische Beschaffenheit, die bei der unmittelbaren Naturbetrachtung auf einer tatsächlichen Bewegungstätigkeit beruht, den Ausdruck sucht, den die Merkmale des Flächenbildes liefern; e r macht die Bewegungstätigkeit unnötig und entwickelt die Tätigkeit des Auges s o w e i t , daß e s ohne w e i t e r e Hilfsmittel und ganz aus eigener Kraft eine deutliche Vorstellung von der Natur gewinnt und dem Bewußtsein vermittelt; e r kann dies nur, indem er die Natur in ein künstlerisches Fernbild verwandelt, in dem alle die zerstreuten und nur nach und nach zur Wirkung kommenden Anregungen, auf denen die unmittelbare Naturvorstellung beruht, zu einem zusammenwirkenden Ausdruck vereinigt sind; er schafft den einheitlichen Standpunkt, von dem aus er uns die ganze überzeugende Wahrheit der Natur zeigt, und er schafft das Naturbild, wie es sich von dem einheitlichen Standpunkt aus darstellt. Das ist die Sprache, in der er die Natur zum Ausdruck bringt, und in dieser Sprache drückt sich ein ganz besonderes Bewußtsein von der Gestalt der Natur aus. Die Natur künstlerisch zum Ausdruck zu bringen, ist also nicht etwas so einfaches, schlechthin zu Unternehmendes; es erfordert eine von dem klarsten Zweckbewußtsein geleitete Umgestaltung des unmittelbaren Naturbildes, die höchste Einsicht sowohl in die Beschaffenheit der allgemeinen menschlichen Naturvorstellungen als auch in die Erfordernisse desjenigen Naturbildes, welches einen zur Einheitlichkeit und Klarheit entwickelten Ausdruck jener Naturvorstellungen enthalten soll. Um mit seinen Mitteln die Natur überhaupt zum Ausdruck bringen zu können, muß der Künstler die wirklichen Bewegungsakte, auf denen die Wahrnehmung der plasti-
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sehen Form beruht, durch Flächeneindrücke ersetzen, welche die Anregung zu der beabsichtigten plastischen Vorstellung enthalten. E s kommt nun eine Einheit der Vorstellungsweise zustande, eine Einigung zu einem einzigen Seh- und Vorstellungsakt. Eine einheitliche bildliche Vorstellung muß notwendig auf Flächeneindrücken eines Standpunktes beruhen; sie bildet erst dann eine Summe, ganz in derselben Weise, wie ich zwei verschiedene Brüche erst dann addieren kann, wenn ich sie auf denselben Nenner gebracht habe. Indem nun der Künstler seine volle Aufmerksamkeit darauf richtet, wie bestimmte Flächeneindrücke bestimmte plastische Vorstellungen notwendig erzeugen, wird er gewahr werden, daß es ein gesetzmäßiges Verhältnis ist, in dem plastische Vorstellung und Flächeneindruck zueinander stehen. Hat er diese gesetzmäßige Beziehung erkannt, so wird er jeden Einzelfall der Natur, der ihm entgegentritt, unter dem Gesichtspunkt dieser Gesetzmäßigkeit betrachten und darstellen. Alle Naturerscheinung als Einzelfall muß er in einen allgemeinen Fall umsetzen, muß er zu einem Gesichtsbild machen, an welchem jene allgemeine Gesetzmäßigkeit zur Anschauung kommt und welches somit als Ausdrucks f o r m der plastischen F o r m eine allgemeine Bedeutung hat. D e r Künstler stellt so der jeweiligen Naturerscheinung eine Bilderscheinung gegenüber, welche für das menschliche Vorstellungsbedürfnis auferbaut ist, und bei dem diese Zweckauffassung die Naturerscheinung verarbeitet und umgestaltet hat. So groß dabei auch der individuelle Spielraum sein mag, so muß das Kunstwerk doch stets ein gesetzmäßiges Bild unserer plastischen Vorstellung darstellen und kann nur darin reine, allgemeine, künstlerisch-sachliche Bedeutung besitzen. Dies gilt von der bildenden Kunst im allgemeinen, von der Bildhauerei so gut wie von der Malerei; so verschieden das Verfahren bei beiden ist, der Zweck ist derselbe. D e r Bildhauer läßt sich bei der Beobachtung, bei dem Studium der Form ganz von den Bewegungsvorstellungen leiten; die Gesichtseindrücke haben an sich keinen Wert für ihn, er setzt sie in Bewegungsvorstellungen um und bringt diese (unmittelbar?) an einem Material zum Ausdruck. D e r Maler hält sich rein an die Gesichtseindrücke und ahmt diese auf der Fläche nach. Für den Bildhauer ergibt sich nun die Aufgabe, die Bewegungsvorstellungen, die er empfängt (und die in der Natur eine einheitliche Wirkung nicht ermöglichen?), an seinem plastischen Material derart zur Darstellung zu bringen, daß das Dargestellte als ein Fernbild erscheint, d. h. als ein (einheitlicher?) Gesichtseindruck, der die Anregung zur plastischen Vorstellung deutlich enthält. Indem der Bildhauer bei seiner plastischen Darstellungsweise auf ein Fernbild abzielt, kann er die gewonnenen Bewegungsvorstellungen nicht mehr unmittelbar nachahmen, sondern muß sie in Rücksicht auf die zu erzielende Gesichtsvorstellung fassen und modifizieren. Der Maler hat dagegen die Aufgabe, ein Flächenbild herzustellen, aus dem wir eine volle plastische Vorstellung empfangen; auch er kann die empfangenen Gesichtseindrücke nicht unmittelbar nachahmen, er muß sie auf ihre Anregungskraft für die plastische Vorstellung prüfen und in Rücksicht darauf gestalten. Und noch mehr: w i r haben gesehen, daß die plastische Vorstellung ihre entwickelte Fassung im Fernbild erlangt, in der reinen Gesichtsvorstellung von einem Standpunkt aus genommen. E s handelt sich also dabei um einen einheitlichen Wirkungseindruck. Dieser kann aber nur aus einem Zusammenwirken aller Erscheinungs-
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faktoren hervorgehen. Wir müssen bedenken, daß jeder Einzelfaktor der Erscheinung nur in bezug und im Gegensatz zu einem anderen etwas bedeutet, einen Eindruck hervorruft; daß alle Größen, alles Hell und Dunkel, alle Farben usw. nur relativ einen Wert ausmachen. Alles beruht auf Gegenseitigkeit. Jedes wirkt auf das andere, bestimmt dessen Wert. Daraus folgt aber, daß sich die Art oder die Fassung der einzelnen Erscheinungsfaktoren nach der Gesamtwirkung, die sie hervorbringen sollen, richten müssen. Wir erfassen nicht die einzelnen Erscheinungsfaktoren als Mehrheit, sondern das entwickelte Wirkungsbild. Daraus ergibt sich ein maßgebendes Prinzip für die Tätigkeit des bildenden Künstlers. Es hilft ihm nichts, an sich noch so klare und naturgetreue Einzelfaktoren aneinanderzureihen; er muß immer die Rolle bedenken, die sie in der Gesamtwirkung und für dieselbe spielen, und muß sich in seiner Gestaltung danach richten. Will er sein Ziel erreichen, so muß er vom Ganzen ausgehen und eine Gesamtwirkung schaffen, in bezug auf die alle Einzelfaktoren wie Gliederungen eines Ganzen sich darstellen. Und da diese Gesamtwirkung die volle plastische Anregung für das Dargestellte besitzen soll, so bedeutet sie nicht bloß eine Wirkungseinheit von Flächeneindrücken, analog einem persischen Teppich, sondern sie muß sowohl fürs Ganze wie fürs Einzelne die plastischen Werte abgeben, die plastische Vorstellung von allem und jedem erwecken. Der Künstler kann also nicht in dem Sinne verfahren, daß er die einzelnen Bewegungsvorstellungen Stück für Stück unmittelbar in Gesichtsvorstellungen überträgt; er kann auf diese Weise addierend eine Gesamterscheinung nicht erlangen; denn bei der Einzelbetrachtung fassen wir das einzelne nicht in seiner Bedingtheit durchs Ganze auf; er muß vielmehr die einzelnen Bewegungsvorstellungen in Erscheinungsfaktoren umsetzen, welche erst innerhalb der gemeinschaftlichen Wirkung durch ihr Zusammenwirken zu einem einheitlichen Ausdruck der plastischen Form werden.
2. Form und Wirkung Was am Ende des vorigen Abschnitts angedeutet wurde, verlangt eine nähere Erörterung. Bei dem Sehen im gewöhnlichen Sinne erleben wir die Form eines Gegenstandes als ein Daseinsgebilde; es ist uns darum zu tun, den Gegenstand in seinem tatsächlichen, greifbaren Vorhandensein zu erfassen; das Sehen des Gegenstandes ist uns ein Mittel, einesteils um uns über die Form zu orientieren, deren unmittelbare Feststellung dem Tastsinn zufällt, andererseits, um den Gegenstand von anderen zu unterscheiden und an seiner Stelle als Glied im organischen Zusammenhang der Dinge wahrzunehmen. Diese Rücksichten treten bei der künstlerischen Betrachtung vollständig zurück; ihr ist es um die Form in einem ganz anderen Sinne zu tun, um die Form, die sich als ein einheitliches Gebilde dem Gesichtssinn darstellt. Die Naturbetrachtung an sich bietet eine solche Form der Dinge nicht dar; diese Form ist in der Natur nicht vorhanden; ihr Mangel wird in der Regel nicht empfunden, und es ist ein Zeichen künstlerischen Sinnes, wenn dem einzelnen die Gewinnung dieser Form zum Bedürfnis, ihre Entwicklung eine Aufgabe wird. Während nun das Interesse an jener, der Daseinsform, die Wahrnehmung von dem Ganzen auf das Einzelne lenkt, das Gesamt-
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bild, welches nur dadurch entstehen kann, daß das Auge das eine im Verhältnis zum anderen sieht, notwendig zerstören muß, weil es sich gerade um die Feststellung des Einzelnen handelt: führt hingegen das Interesse an der Augenform von dem Einzelnen zum Ganzen, indem das Einzelne nur insofern eine Bedeutung hat, als es ein Bestandteil des Gesamtbildes ist; es zerstört die Einzelwahrnehmung um des Gesamteindrucks willen. Fragen wir nun aber, woraus dieser Gesamteindruck, dieses Gesamtbild besteht, welcher Art der Stoff ist, aus dem es sich aufbaut, so finden wir, daß es Wirkungen auf unsere Vorstellungen sind. D i e Form der Dinge, die uns als ein einheitliches Augenbild zum Bewußtsein kommen, ist nicht anders nachweisbar, als in einem Vorstellungsgebilde, dessen Zustandekommen auf Wirkungen beruht, die sich aus bestimmten Zusammenordnungen der Gesichtseindrücke ergeben. D e r Realität der Dinge, insofern wir sie als Daseinsgebilde betrachten, steht hier eine Form gegenüber, deren Realität in nichts anderem besteht, als in einem Resultat von Wirkungen. Solange wir die Einzelform nur als Daseinsgebilde zu einem gesamten Formgebilde einigen, bedeutet dasselbe noch keine Gesamtheit als Erscheinung, als Gesichtsbild, als Wirkung, enthält als solche noch keine Formwahrheit für uns als schauende Menschen. Freilich liegt die Daseinsform zugrunde, dieselbe existiert für unsere Anschauung aber nicht als Daseinsform, sondern nur insofern sie in Wirkung aufgegangen ist. Nun ist es keineswegs eine besondere Fähigkeit künstlerisch angelegter Naturen, die Wirkungen bestimmter Daseinsformen auf das Anschauungsvermögen als anschauliche Form aufzufassen; wir alle tun dies beständig, seit wir zum ersten Male die Augen geöffnet haben. W i r leben in einem beständigen Wechselverkehr von Tast- und Augenerfahrungen, von nahen und fernen Bildern, und unser gesamtes Sehen vollzieht sich nicht anders als so, daß wir von bestimmten Daseinsgebilden Wirkungen empfangen, die uns als Gesichtsvorstellungen zum Bewußtsein kommen. Alles Sehen folgt, dem Menschen unbewußt, der gesetzmäßigen Gleichmäßigkeit dieser Wirkungen; von Jugend auf bilden sich in uns durch die in der unendlichsten Verschiedenheit der Einzelfälle sich beständig wiederholenden Wirkungsverhältnisse bestimmte Vorstellungsnormen, die uns bei der Auffassung der Natureindrücke leiten. Bei der unmittelbaren Wahrnehmung tritt es uns weniger nahe, daß unsere Vorstellung gleichsam mit vora u s bestimmten Forderungen an die Natureindrücke herantritt; versuchen wir es aber, uns die Natur innerlich vorzustellen, so nehmen wir leicht wahr, daß sich das Naturmaterial einem bestimmten Bedürfnis der Vorstellung unterordnet, einem Bedürfnis, welches eben dadurch entstanden ist, daß sich erfahrungsmäßig bei allem Sehen dieselben Wirkungen der Wahrnehmung auf unsere Vorstellung wiederholt haben. W i r lassen nur bei der inneren Vorstellung in Ermangelung der unmittelbaren Wahrnehmung, die uns immer neuen Stoff zuführt, das Naturmaterial zum großen Teil fallen und behalten nur das, was sich dem Vorstellungsbedürfnis unterordnet. Unsere Vorstellung ist vage und unreal, aber sie hält doch die großen, maßgebenden Züge, gleichsam das Gerüst der Erscheinung fest. Schon oben ist erwähnt, daß es Kontrastwirkungen sind, auf denen die Gestaltung unserer Gesichtsvorstellungen beruht. Es liegt in der Natur des Erscheinenden, daß jedes einzelne nicht an sich wirkt, sondern im Verhältnis zum anderen sich darstellt. Ein Grün wirkt anders neben einem Rot als neben einem Gelb. Alles beeinflußt sich gegen-
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seitig. Alles bekommt sein Gesicht erst durch die kontrastierende Umgebung. Und was bei der Farbe so einleuchtend ist, gilt ebenso von der Form. E s wirkt etwas nur insofern lang, als es gegen Kürzeres kontrastiert; so das Flache, Runde, Spitze, das Enge, Weite, Nahe, Ferne usw. Was es auch sein mag, was sich dem Auge darbietet, diese Kontrastwirkungen von Form und Farbe werden immer wiederkehren, und sie bilden die Bedingungen, unter denen sich Wahrnehmungen überhaupt zu Gesichtsvorstellungen gestalten können. Eine nähere Erwähnung wollen wir hier nur des allgemeinen Kontrastverhältnisses tun, desjenigen zwischen Senkrechten und Waagerechten. E s liegt in unserer senkrechten Stellung zur Erde, andererseits in der horizontalen Lage unserer beiden Augen, daß die senkrechte und waagerechte Richtung als Grundrichtungen aller anderen uns eingeboren sind; wir verstehen alle anderen Richtungen, beurteilen und messen sie erst im Verhältnis zur Waag- und Senkrechten. W i r könnten uns das so vorstellen, als hätten wir ein Netz von waag- und senkrechten Flächen in unserer Auffassungsart, in die sich nun alles Gesehene als Bild hineinwebt. W i r erleben beim Wahrnehmen einer großen Landstrecke ein Überwiegen der horizontalen Richtung allen anderen Terrainbewegungen gegenüber, und andererseits vertritt im großen ganzen alles, was auf der Erde steht und wächst ein Aufstreben nach oben, eine Senkrechte. W i r empfinden vor allem jene Hauptrichtungen, denen sich alles andere unterordnet. Wir lernen diese Grundrichtungen in der Natur als ein unserer Organisation entsprechendes empfinden, als ein Bedürfnis erkennen, um ein klares Behagen der Natur gegenüber zu haben. Unwillkürlich treten wir mit der Forderung an das Naturbild heran, diesen elementaren Gegensatz in ihm ausgesprochen zu finden. Enthält das Bild der Natur diese zwei Hauptrichtungen, also z. B . einen senkrechten Baum, einen horizontalen Wasserspiegel, so ist damit die Lage des Bildes unzweideutig gegeben, und wir haben sofort das beruhigende Gefühl eines klaren räumlichen Verhältnisses zur Erscheinung. Im gegenteiligen Falle überkommt uns leicht ein schwankendes Gefühl, wir sind in keiner klaren Lage zu dem Gesehenen. Bei der inneren Vorstellung der Dinge ist es auch dieser Gegensatz, den wir am meisten festhalten; es mag uns alles, was die Erscheinung ausmacht, verblaßt sein, das Verhältnis der einzelnen Teile zur senk- und waagerechten Richtung wird uns schwerlich verlorengehen. W i r würden uns als schauende Geschöpfe innerhalb der auf uns eindringenden Wahrnehmungen nicht zurechtfinden können, wenn wir nicht mit diesen Forderungen der Vorstellung ausgerüstet wären, die der Wahrnehmung von vornherein eine Gestalt geben. Auf jenen Kontrastverhältnissen, in die alle Gesichtswahrnehmungen zueinander treten und sich dadurch zu Gesichtsvorstellungen von bestimmten Dingen entwickeln, beruhen die Gesetze, durch die das Verhältnis von Wahrnehmung zu Vorstellung geregelt wird. W i r brauchen dabei nicht zu dem zweifelhaften Hilfsmittel angeborener Gesetze zu greifen. Mit unserer Geburt fällt dieses gesetzmäßige Verhältnis an, sich in uns zu gestalten; es macht uns zu schauenden Geschöpfen und erscheint uns so selbstverständlich, weil die Natur es heimlich in uns formt und wir es mühelos besitzen. Der Gebrauch aber, den wir von diesen vorstellenden Kräften machen, kommt der reinen Gesichtsvorstellung nicht zugute; sie sind während der Wahrnehmung die willig folgenden Diener der jeweiligen Natureinwirkung; sie verbinden sich mit den ander-
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weitigen Wahrnehmungsarten, dienen der Bewegungstätigkeit, durch die wir uns der plastischen Natur der Dinge zu vergewissern suchen, zum Führer und helfen uns so, jenes gemischte, unklare, vereinzelte Gebilde hervorbringen, welches uns im gewöhnlichen Leben die Dinge der Außenwelt vertritt. Was uns nun selbstverständlich erscheint und was wir gewohnheitsmäßig gebrauchen, das wird dem Künstler zum Problem; der Zusammenhang zwischen Wahrnehmung und Vorstellung wird ihm zum Objekt der Erkenntnis. Indem es ihm von vornherein nicht um die Daseinsform der Dinge zu tun ist, sondern um ihre anschauliche Form, die er nur durch die Entwicklung einer Vorstellung gewinnen kann, erkennt er, daß die Wahrnehmungen für seine Vorstellungsfähigkeit nur als Wirkungsfaktoren vorhanden sind; die ganze gegenständliche Gewißheit verwandelt sich in eine Vorstellung von Wirkungsfaktoren. Er wird seine ganze Aufmerksamkeit und Beobachtung der Natur gegenüber auf diese Wirkungsfaktoren richten, auf denen die ganze Möglichkeit anschaulicher Formvorstellungen beruht. Mehr und mehr wird er in das gesetzmäßige Verhältnis von Kontrasten, aus welchen bestimmende Wirkungen resultieren, hineinsehen, und es wird ihm allmählich ein Kapitel allgemeiner Kontrasterfahrungen erwachsen, welche ihm bestimmte Wirkungen garantieren. Anbei wird ihm zunächst klar werden, daß die Vorstellung, die wir mit einer bestimmten Daseinsform verbinden, keineswegs so mit der Daseinsform verbunden ist, daß diese den mit ihr verbundenen Vorstellungscharakter immer mit sich führen und ihn uns beständig zeigen müsse. Unsere Vorstellung kommt unter den tausend Eindrücken, die ihr zugeführt werden, ganz unbewußt dazu, eine Daseinsform in einer bestimmten Weise aufzufassen, z. B. als lang, kurz, schlank oder dick. Dieses unbewußt entstandene Resultat fassen wir in der Vorstellung als eine Eigenschaft der Natur auf und vergessen, daß es das Produkt einer lang verarbeiteten Masse von Eindrücken ist; das Vorstellungsresultat erscheint uns als (selbstverst.?) notwendig zu der Daseinsform gehörig. Es ist dies eine naive Naturauffassung, welche den Formcharakter, den die Vorstellung festhält, von der Daseinsform nicht zu trennen vermag und alsdann zu der irrigen Annahme gelangt, daß, wenn sie die Daseinsform als direkte Wahrnehmung festhält und wiedergibt, dieser Formcharakter der Vorstellung notwendig auch damit festgehalten oder ausgedrückt sei. Es ist dies der große Irrtum, dessen sich die positivistische Auffassung der Natur schuldig macht. Diese sucht die direkte Wahrnehmung zu einer möglichst exakt imitierenden Arbeit eines Aufnahmeapparates zu machen; der Wahrnehmende soll von den Vorstellungen, die seine Wahrnehmung bestimmen, absehen und sich rein mechanisch verhalten. Es wird dabei übersehen, daß dies unmöglich ist; das Sehen ist kein mechanischer Akt allein, die Erfahrung der Vorstellung ist immer dabei tätig. Die Forderung der positivistischen Auffassung kann also nur dahin führen, den Vorstellungseinfluß auf die unmittelbare Wahrnehmung möglichst abzuschwächen; der Höhepunkt dieses Strebens wäre erreicht, wenn wir mit der Unerfahrenheit eines neugeborenen Kindes wahrnehmen könnten, bei welchem die Vorstellungen erst anfangen, sich zu bilden. Und allerdings wenden sich die Vorstellungen, die aus dem Streben nach positivistischer Naturauffassung hervorgehen, an ein Anfangsstadium der Wahrnehmung und geben ein ebenso unklares Bild, wie es das neugeborene Kind wahrscheinlich erhält. Es ist gerade die unbefangene und natürliche
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Wahrnehmung, die man bekämpft (vernichtet?), um an ihre Stelle eine maschinenhafte, unnatürliche zu setzen. Und gerade dies geschieht unter dem Vorgeben größerer Naturwahrheit. Es ist nicht zu leugnen, daß die Erfindung der Photographie diesem Streben großen Vorschub geleistet hat. Gerade im Gegensatz zu dieser positivistischen Auffassung der Natur ist die künstlerische Auffassung diejenige, die davon ausgeht, daß die Vorstellung, die wir von einem Gebilde haben, nicht so dessen Eigentum ist, daß die bloße Wahrnehmung des Gebildes auch die Vorstellung erwecken müsse. Der Künstler muß begreifen, daß die Vorstellung nur entstehen kann, wenn das Gebilde in einem Wirkungsverhältnis, als Wirkungsprodukt erfaßt wird. In einem künstlerischen Verhältnis zur Natur wird sich der Künstler befinden, nicht wenn er unendliche vereinzelte Form- und Farbenbeobachtungen anstellt, sondern wenn er an den tausend und abertausend Fällen, die sich seiner Beobachtung darbieten, immer und immer wieder die allgemeinen Bedingungen studiert, unter denen in jedem einzelnen Falle die Vorstellung als Wirkungsresultat aus verschiedenen Faktoren hervorgeht. Noch ganz abgesehen von der Darstellung der Natur, die nur auf Grund solcher Einsicht möglich ist, kann auch für die bloße Anschauung der Einzelfall nur deutlich und verständlich werden, wenn er mit der auf jener Einsicht beruhenden Erfahrung der Vorstellung geschaut ist. Der Einzelfall an sich genommen kann für unsere anschauliche Vorstellung nichts aussagen, er erhält erst dadurch eine Bedeutung für dieselbe, wird zu einer anschaulichen Vorstellung eines Daseinsgebildes, daß er dieselben Wirkungsfaktoren enthält, unter denselben Wirkungsverhältnissen steht, die auf Grund tausendfältiger Erfahrung bestimmte anschauliche Formvorstellungen erzeugen. Bei der Beobachtung der Natur darf also der Künstler das Vorstellungsbedürfnis nicht verleugnen, er muß dasselbe vielmehr in erster Linie beachten und dem Einzelfall gerade das abzugewinnen suchen, was für die Vorstellung wertvoll ist. Die künstlerische Beobachtung der Natur wird sich bald dahin entwickeln, daß sie zu einer allgemeinen Erkenntnis derjenigen Bedingungen führt, unter denen gegenständliche Natur sich in der Gestalt anschaulicher Vorstellungswerte darstellt. Diese allgemeinen Erkenntnisse verhalten sich alsdann zur gegenständlichen Natur, wie mathematische Verhältnisse zu wirklichen Größen; sie beziehen sich auf die Grundverhältnisse, auf denen die Wirkungen in letzter Instanz beruhen und welche sozusagen durch die gegenständliche Natur nur repräsentiert werden, in gegenständliche Natur eingekleidet sind. Und da diese Wirkungen sich stets auf die plastische Vorstellung der Natur beziehen, so bedeutet diese Naturbetrachtung eine Wirkungsanalyse der Gesamteindrücke, bei welcher der Künstler innerlich stets die Erscheinung an seiner plastischen Vorstellung mißt. Eine derartige Analyse setzt also die plastische Vorstellung der Natur voraus, als die bestimmte Größe, auf die sich die Wirkung bezieht. Bs ist nicht unwichtig, dies zu betonen, da es in der Natur mancherlei Kontrastwirkungen gibt, in denen eine plastische Vorstellung realer Natur nicht zum Ausdruck kommt; es sind dies die Kontraste, aus denen Reize entspringen, mit denen es der Künstler, dem es auf die anschauliche Gestalt der Dinge ankommt, nicht zu tun hat. Von maßgebender Wichtigkeit ist dieses künstlerische Beobachtungsverhältnis zur Natur notwendigerweise für die Darstellung; denn es enthält die Erkenntnis der Mit-
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tel, durch die der Künstler selbst die Vorstellungen von gegenständlicher Natur dem Auge darstellen kann. Von dem Vorurteil wird sich der Künstler von vornherein freimachen, daß die Positivität der Darstellung in einem mechanischen Wahrnehmungs-.onterfei zu suchen sei; es wird ihm klar sein, daß es sich nur um die positive Darstellung dessen handeln könne, was in der Wahrnehmung die Vorstellung erzeugt. Will der Künstler einen Gegenstand darstellen, so muß er in dem einen Falle die Vorstellung zur Darstellung bringen (allmählich?), die sich in tausend Fällen gebildet hat. D a nun aber der Vorstellungscharakter von der gesamten Wirkungskonstellation abhängt, so muß er, um der Daseinsform zu ihrer Wirkungsrolle zu verhelfen, die Gesamtsituation nach Maßgabe seiner Erfahrungen von den Wirkungsbedingungen gestalten. Er muß die Daseinsform unter solche Umstände bringen, daß sie neu die Vorstellung erzeugen muß, die er allmählich von ihr gewonnen hat. Wenn der Künstler an die Darstellung der Natur geht, so hat er es schon mit einer von der Vorstellung verarbeiteten, geprägten Formenwelt zu tun; durch seine Darstellung soll dieses Gepräge fühlbar werden, es soll sprechen, zum Ausdruck kommen. (Die Ausdrucksstärke beruht aber auf den Kontrastverhältnissen, die in der Gesamterscheinung der Kunstwerke zusammenwirken). Alle Wirkungen können aber nur auf Kontrasten und auf ihrem Maßverhältnis beruhen, sie können nur dadurch zustande kommen, daß das Ganze ein Komplex von bestimmten und in bestimmtem Maß angewandten Konstrasten darstellt, welche so verteilt sind, daß sie als Gesamterscheinung die bestimmten Einzelwirkungen hervorbringen. Manches Kunstwerk entbehrt trotz der eingehendsten Beobachtung, trotz der talentvollsten Hand der eigentlichen Wirkung, weil es nicht auf der Basis jener allgemeinen Erkenntnis aufgebaut und deshalb von vornherein der Wirkung unfähig koncipiert ist. Ordnet der Künstler jedoch sein Kunstwerk nach der allgemeinen Erkenntnis der Wirkungsgesetze und ist seine Naturdarstellung die Vergegenständlichung der von ihm erkannten Wirkungsfaktoren, so wird alles im Kunstwerk sprechen, laut werden. Und da es sich, wie wir früher gesehen haben, um die Herstellung einer für den einheitlichen Blick aufzufassenden Gesamterscheinung handelt, so muß eine Wechselwirkung zwischen dem Ganzen und seinen einzelnen Teilen stattfinden; diese müssen zu dem einheitlichen Ganzen zusammenwirken; d a s Ganze wiederum muß jedes Einzelne in seinem Formenwert erscheinen lassen; erst dann kann von einer künstlerischen Einheit des Ganzen und künstlerischer Gestaltung des Einzelnen die Rede sein. Ist es nun wesentlich für die Art der künstlerischen Gestaltung, daß sie nur das gibt, was eine anschauliche Vorstellung von der dargestellten gegenständlichen Natur erweckt, so ist damit doch der künstlerische Wert der Gestaltung nicht schlechthin verbürgt. Ein Kind, welches das Menschengesicht als Kreis mit zwei Punkten als Augen und einem senkrechten und waagrechten Strich als N a s e und Mund zeichnet, verfährt durchaus künstlerisch; denn was es darstellt, sind die einfachsten Grundwirkungen der Daseinsform auf die Vorstellung; auch in dem vollendetsten Bildnis würden diese wesentlichen Grundwirkungen deutlich vorhanden sein müssen. Immerhin besteht bei jenem kindlichen Versuche nur ein sehr oberflächliches Verhältnis zwischen der realen Wahrnehmung und der Vorstellung; je weiter die Vorstellung die reale Wahrnehmung
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gesetzmäßig verarbeitet und sich zu eigen gemacht hat, desto gehaltvoller erscheint das künstlerische Produkt. Um es anschaulich zu machen, in welcher Weise im einzelnen Fall in der Darstellung eines Gegenstandes die Vorstellung zum Ausdruck kommen kann, die wir von dem Gegenstand besitzen, denke man sich, es handle sich um die Darstellung einer Figur, die als eine schlanke in unserer Vorstellung lebt. Die positivistische Auffassung wird meinen, wenn sie nur die Figur nach ihren Maßverhältnissen getreu kopiere, so müsse die Darstellung die Wirkung hervorbringen, welche die Figur selbst hervorgebracht und dadurch die Vorstellung des Schlanken in uns erzeugt habe. Sie glaubt ganz besonders wahr zu sein, wenn sie sich an weiter nichts hält, als an das, was ihr die isolierte Wahrnehmung der fraglichen Figur bietet. Es liegt dieser Auffassung eine Täuschung zugrunde. Die Vorstellung einer schlanken Figur hat nie aus einer isolierten Wahrnehmung der Figur hervorgehen können; die Figur ist immer im Kontrast zu ihrer Umgebung wahrgenommen worden, und der Gegensatz hat die Vorstellung des Schlanken erzeugt. Wer nun glaubt, wahr zu sein, indem er die Figur aus dem Zusammenhang herausreißt und sie allein darstellt, der entfernt sich gerade von der Wahrheit, indem er etwas darstellt, was er niemals wahrgenommen hat, auch niemals wahrnehmen kann; er verwechselt sozusagen die Identität der Sache selbst mit der Identität der anschaulichen Vorstellung, die er von der Sache hat; er hat der Natur gegenüber das Bewußtsein, daß er einen Menschen in verschiedenen Stellungen sehen kann und dieser für ihn doch immer derselbe Mensch bleibt; damit aber ist noch nicht gesagt, daß auch der anschauliche Eindruck dieses Menschen immer derselbe sein müsse. Die künstlerische Auffassung löst dagegen von vornherein die schlanke Wirkung als eine an sich zu erreichende Wirkung der Form von dem Tatbestand des Körpers ab; sie ist sich bewußt, daß die Vorstellung, die wir von der Figur als einer schlanken haben, das Resultat von Wirkungsverhältnissen ist, innerhalb deren wir die Figur wahrgenommen haben; daher kann auch die Darstellung der Figur als einer schlanken nur das notwendige Produkt einer Gesamtanlage sein. Es handelt sich dann nicht mehr um das Maßverhältnis der Figur an sich, sondern um eine Konstellation der allgemeinen Gegensätze, welche eine schlanke Wirkung zur Folge haben; denn wir empfangen ja das Bild der Figur als Gesamteindruck. Das kann nun z. B. dadurch entstehen, daß der Horizont sehr tief angenommen wird und die Figur gegen die Luft, als ein Hohes darüber hinausragt. Alles was ich in die Umgebung neben die Figur setze, kann für oder dagegen arbeiten. Oder aber die Wirkung wird rein durch die Stellung selber erreicht, durch die Kontrastverhältnisse, welche durch die Anordnung der Glieder entstehen. Ob die Arme in der Höhe angebracht sind und dadurch der Rumpf länger wirkt, als wenn er von ihnen durchkreuzt wird, usw. Das nimmt alles Einfluß und bedingt die letzte Wirkung, während andererseits das absolute Maßverhältnis gänzlich ohne Einfluß bleiben kann. Wenn es sich also für die letzte Wirkung des Kunstwerks wohl um Verhältnisse handelt, so darf man darunter nicht die Verhältnisse der organischen, gegenständlichen Natur verstehen, sondern die Verhältnisse, die sich aus der Anordnung und Gestaltung des Ganzen ergeben. Wir nehmen z. B. eine plastische Figur nur als eine bestimmt angeordnete, also in ganz bestimmter Fassung dar, nicht an sich. Ihr Eindruck resultiert
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aus dieser Fassung. Denken wir diese weg und bilden wir uns ein, alsdann noch die Figur zu besitzen, so ist das eine Täuschung. D i e Figur, die hier schlank aussieht, würde in einer anderen Stellung ganz untersetzt aussehen können, also eben nicht mehr dieselbe Figur sein. Die Situation bestimmt die Wirkung der Figur, läßt sie so oder so erscheinen und deshalb ist Situation und ihre Gestalten in aller Kunst untrennbar, und sich die Gestalten ohne sie denken, ist künstlerisch ein Unding. Um ein ferneres Beispiel einfachster Kontrastwirkung in bezug auf Raumentwicklung bei einer Landschaft anzuführen: stellen wir eine Senkrechte vorn in die Mitte und bringen wir dagegen rechts und links am Horizont, der die Senkrechte schneidet, zwei wirksame Punkte an, so wird sich die Tiefenbewegung, von der nahen Senkrechten in der Mitte ausgehend, nach hinten auf die Punkte zu, welche den Blick anziehen, ausbreiten und die Empfindung des weiten Raumes erzeugen. Stellen wir dagegen rechts und links vorn am Rande des Bildes zwei Senkrechte und bringen in der Mitte hinten am Horizont einen Punkt an, so wird umgekehrt unsere Tiefenempfindung, breit empfangend, sich nach hinten zu verengen, wodurch das Raumgefühl anstatt erweitert, verengt wird, im Gegensatz zu der Naturempfindung, wo die Ferne stets weiter als die Nähe erscheint. Schon oben ist des Kontrastverhältnisses gedacht worden, welches als ein Grundverhältnis unsere anschauliche Beziehung zur Natur von allem Anfang an regelt, des Verhältnisses der senkrechten zur waagerechten Richtung; auch dieses erlangt bei der künstlerischen Darstellung eine große Bedeutung. Befinden wir uns einer Einzelsituation gegenüber, so tritt die Möglichkeit ein, daß in ihr nichts ist, was die Senkrechte und Waagerechte darstellt, es kann alles da- und dorthin geneigt sein, und nun tritt der Fall ein, wo eine Darstellung einer solchen Situation der Natur ganz getreu sein kann und dennoch einer Grundwahrheit entbehrt, indem unser allgemeines Richtungsverhältnis zur Natur sich darin nicht ausspricht. In solchem Falle ist der Künstler genötigt, die Senkrechte iund Horizontale auf irgendeine Weise fühlbar zu machen und dadurch die Einzelsituation unter den Grundbedingungen einer allgemeinen Natur zu zeigen. Alles, was in derselben horizontalen oder senkrechten Lage zu einander steht, wird mit einem Blick zusammen gesehen, da es in den uns natürlichen Richtungen liegt; daraus folgt, daß alles, was im Kunstwerk so erscheint, wie ein Gerüst wirkt, wodurch der Gesamtbau der Erscheinung einen festen Halt gewinnt und leichter aufzufassen ist. Diese Art der Anordnung der Gegenstände im Bilde, die der Mannigfaltigkeit der Erscheinung ein festes Gerüst einfügt, ist wie das Skelett im Organismus, welches überall wirkt, welches aber nicht an sich zur Erscheinung kommt. So wächst das Festhalten eines allgemeinen Naturverhältnisses zu einer großen künstlerischen Bedeutung heran und bedingt die Wirkung von Ruhe, Sicherheit und Harmonie des Kunstwerks. Alle Einzelsituation bedeutet ja doch nur einen willkürlichen Ausschnitt aus dem Zusammenhang und alle Kunst beruht auf dem Auffassen und Darstellen des Einzelnen nach den Gesetzen des Allgemeinen. Es kann sich in der Kunst natürlich nicht um das bloße Wissen solcher Gesetze handeln. Instinktiv verfährt die künstlerische Empfindung nach solchen elementaren Grundverhältnissen der Natur. So in Fleisch und Blut muß die Erkenntnis jener allgemeinen Gesetze übergehen, so zum Organ werden, daß sie bei jeder Wahrnehmung und Darstellung die Vorstellung bedingt und begleitet. 13
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Auf solchen zum Bedürfnis gewordenen Erkenntnissen beruht die künstlerische Disziplin und die Kultur der bildlichen Vorstellung. Die angeführten Beispiele mögen genügen, um die Art von künstlerischer Psychologie zu kennzeichnen und begreiflich zu machen, daß auf solchen Erkenntnissen die eigentliche Gestaltung basiert. In solchen Kontrasterfahrungen besteht das Kapital, welches in künstlerischen Zeiten zur Tradition wird und sich gleichsam als Kontrastlehre forterbt und fortentwickelt. Es leuchtet ein, daß diese Kontrasterfahrungen nicht das Gebiet der technischen Mittel berühren, da sie erst feststellen, was technisch dargestellt werden soll. Sie beziehen sich auf das geistige Verhältnis zwischen Wahrnehmung und Vorstellung, die Technik hingegen auf die dabei verwandten materiellen Mittel. Daß die Gesetze, welche den Künstler bei seiner Darstellung leiten müssen, auch schon bei der bloßen Entwicklung der Wahrnehmungen zu Vorstellungen mächtig sind, ist oben bereits erwähnt worden. Aber der bloße "Wahrnehmende wird es der Natur gegenüber zu einer Gesichtsvorstellung im Sinne eines einheitlichen Wirkungseindrucks von einem Standpunkt aus nicht oder wenigstens nur in sehr unvollkommenen Maße bringen; er wird wohl einzelne Natureindrücke gewinnen können, bei denen sich die ganze Daseinsform des Geschauten als eine reine Gesichtsform darstellt; aber er kann dies nur besonderen Umständen verdanken und auch nur vorübergehend als flüchtigen, nicht festzuhaltenden Eindruck erlangen. In der Regel wird bei ihm immer das wahrgenommene Naturmaterial nur fragmentarisch sich zu Gesichtsvorstellungen gestalten; es wird in den Wahrnehmungen zwar immer eine Tendenz nach der Vorstellungsgestaltung walten, ohne daß dort eine tatsächliche Vorstellungsgestaltung möglich wäre. Hier nun tritt der Künstler mit seiner darstellenden Tätigkeit ein. Nach den Gesetzen, welche dem Verhältnis zwischen Wahrnehmung und Vorstellung zugrunde liegen, kann er die Natur nun wirklich zur Darstellung bringen. In dem Fernbild, welches er herstellt, vermag er die Daseinsform zu einer geschauten Form, d. h. zu einer Gesichtsvorstellung umzuarbeiten; er läßt die Daseinsform vollständig in Wirkung für die Anschauung aufgehen; indem er die Form als ein Wirkungsresultat von Gegensätzen verstehen lernt, ordnet und gliedert er die Erscheinung nach ihren allgemeinen schlagenden Gesamtkontrasten; er bindet Formen zu Formbündeln zusammen, indem er sie im Gesichtsbild als Wirkungseinheiten faßt. So wird die Daseinsform, indem sie uns als Wirkung entgegentritt, zur Ausdrucksform. Der Beschauer erhält nun im Kunstwerk die Natur in einer Fassung, in die er sie selbst zu bringen außer Stande ist; im Kunstwerk wird seiner Wahrnehmung das Naturmaterial in einer Gestalt entgegengebracht, in die die unmittelbare Naturwahrnehmung zu bringen ihm nicht gelingen konnte; was in ihm mehr oder minder deutlich aufflackerte, dessen er aber selbst nicht habhaft werden konnte, das steht im Kunstwerk leibhaftig vor ihm, eine real wahrnehmbare Vorstellung. Man wird nun begreifen, daß der Künstler, in welchem das Bedürfnis lebendig ist, die Gestalt der Natur in der Form reiner Gesichtsvorstellung aufzufassen, sich der unmittelbaren Naturwahrnehmung gegenüber in einem beständigen Kampfe befinden muß. Die Natur wird zunächst immer die Tendenz haben, die Vorstellungsfähigkeit der Wahrnehmung, der Daseinsform dienstbar zu machen; der Künstler wird dem immer entgegenarbeiten und sein Bestreben darauf richten müssen, die Natur ledig-
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lieh nach Maßgabe der Gesetze aufzufassen, auf denen die Entstehung von Vorstellungen aus der Wahrnehmung beruht. In diesem Kampfe mit der direkten Naturwahrnehmung liegt die Freude und Qual der künstlerischen Tätigkeit; in der siegreichen Kraft der gesetzmäßigen Vorstellung über die Wahrnehmung der Wert und die Größe eines wahren Kunstwerks und einer wahrhaft künstlerischen Begabung. Damit hängt es dann auch zusammen, daß der Künstler sich freier fühlen wird, wenn er sich von der unmittelbaren Naturwahrnehmung unabhängig machen kann; er wird dann den Zwang nicht empfinden, dem sein Vorstellungsbedürfnis unwillkürlich unterliegt, indem ja die Natur noch viele andere Anforderungen an die unendliche Auffassungsfähigkeit stellt. Wenn der Künstler im Stande ist, rein aus seiner Phantasie heraus ein Kunstwerk zu gestalten, wird er erst seine volle Freiheit genießen; nur freilich wird er dabei leicht auf Abwege geraten, wenn er sich nicht im vollen Besitze der Naturerkenntnis als des Materials befindet, über das er frei verfügen kann. Man kann sich aber noch ein drittes Verhältnis denken, welches, wenn auch das seltenste, so doch das kunstgemäßeste sein dürfte. Wenn gleichsam noch kein Bruch zwischen Wahrnehmung und Vorstellung vorhanden ist, wenn die unmittelbare Anschauung noch vollständig unter der Macht des Vorstellungsbedürfnisses steht, wenn der Künstler als ein Wahrnehmender von vornherein immer ein Vorstellender bleibt, so werden seine Darstellungen, in denen er eine aus der unmittelbaren Anschauung entstandene Vorstellung zum Ausdruck bringt, die Spuren eines Kampfes nicht an sich tragen, sondern gleichsam mühelos und selbstverständlich hervorgebracht erscheinen. Ein solches glückliches Verhältnis scheint freilich nur zu der Zeit der Griechen bestanden zu haben. Ihre Figuren sind einerseits reine Erscheinungen, materiallose Gesichtsbilder der Vorstellung, andererseits das greifbarste, runde, räumliche Daseinsgebilde jeder Betrachtungs- und Wahrnehmungsart zugänglichste, realste. Nirgends löst sich das Dreidimensionale, Plastische so gänzlich in eine reine Gesichtsvorstellung auf und niemals hat der natürliche Fluß der Gesichtsvorstellung seine Herrschaft so selbstverständlich der dreidimensionalen Gestaltung eingeprägt. Keine Kunst beruht so wie die der Griechen auf der Vorstellungsbildung, also einer inneren geistigen Arbeit, die der eigentlichen Darstellung vorausgegangen ist. Diese innere Arbeit, die sich auf die Erkenntnis der allgemeinen Grundwahrheiten der Wirkungsverhältnisse gründet, reduziert die Darstellungsarbeit im Einzelnen auf ein Minimum. Je weiter diese innere Arbeit vorausgegriffen hat, desto bescheidener, unschuldiger sieht die eigentliche Darstellung aus; so sehr übt sie im Kunstwerk ihre Macht und ihren Zauber aus, daß selbst bei unbeholfenster Ausführung die Phantasie sofort erbebt, sehr zum Unterschied von Werken anderer Perioden, wo selbst die mühevollste und im Einzelnen getreueste Ausführung keinen Eindruck von Leben und Wahrheit hervorzurufen vermag. -
3. Naturanschauung und Raumvorstellung. Das reine
Spiegelbild
Was in den vorhergehenden Abschnitten im allgemeinen ausgesprochen ist, muß nunmehr im einzelnen verfolgt werden. Die Vorstellung, die wir von irgendeinem Ding oder Vorgang der uns umgebenden Natur haben, setzt sich aus verschiedenen Elemen13«
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ten zusammen. E s vereinigen sich dabei Vorstellungen von einem Vorhandensein im Raum und von einer Abgrenzung gegen den umfassenden Raum, d. h. von einer plastischen Form, mit Vorstellungen von stofflicher Beschaffenheit, von Vorgängen, von einem Geschehen, sei es, das demselben willkürliche Bewegungen oder andere Ursachen der Veränderung zugrunde liegen. Setzt sich aus solchen verschiedenartigen Elementen die Vorstellung der realen Natur zusammen, so enthält nun die Erscheinung der N a t u r im Sinne von Wahrnehmungen durchs Auge bestimmte Merkmale, welche wir als Ausdruck jener Vorstellungen verstehen. W i r können so diese Erscheinungen für das Auge als Zwischenträger und Dolmetsch auffassen für das, was die reale Beschaffenheit der Natur für uns ausmacht. D e r Künstler, indem er die Vorstellung der realen Natur erwecken, die Erscheinung der Natur aber auf ihren Ausdrude für den Gesichtssinn bringen, d. h. zur reinen, einheitlichen Gesichtsvorstellung entwickeln und gestalten will, hat es ausschließlich mit diesen Merkmalen, diesen Erscheinungsfaktoren, zu tun; ihre Beobachtung, ihr Studium in der Natur, ihre Verwendung und Auswertung im Kunstwerk ist seine eigentlich sachliche Aufgabe. Fragen wir nun, welche unter den verschiedenen Arten der Vorstellungen, die sich zu der Gesamtvorstellung von realer Natur vereinigen, der oberste Rang gebührt, so ist dies offenbar die Vorstellung des räumlichen Vorhandenseins. O h n e die räumliche Vorstellung stehen alle anderen Vorstellungen sozusagen in der L u f t ; erst durch sie wird die Erscheinung auf die reale W e l t bezogen, erst durch sie gewinnt das Chaos der unmittelbaren Wahrnehmung eine Gestalt für das Bewußtsein. D i e Fähigkeit, dem Augeneindruck die räumliche Beschaffenheit der Natur abzulesen, nennen wir schlechthin „das Sehen", in derselben Weise, wie wir sagen, daß das K i n d erst dann lesen kann, wenn sich beim Ansehen der Buchstaben die Vorstellung des lebendigen Wortes einstellt. In derselben W e i s e wird auch das Ablesen des Raums zu einem einheitlichen A k t mit dem Sehen, und wir werden uns nur unklar bewußt, auf welche Daten in d e r Erscheinung gestützt wir dazu komnien. A l l e anderen Vorstellungen, die beim Sehen mit erweckt werden, gehen sozusagen in den verschiedenen Stockwerken unserer V o r stellungswelt vor sich, während das Gesamtgebäude auf dem Grund der räumlichen Vorstellung ruht. Für den Künstler ergibt sich, d a ß er zu allererst die räumliche V o r stellung erwecken muß, wenn sein Gebilde die Illusion des Lebens enthalten soll; sie ist die Grundbedingung für alle weiteren die Illusion des Lebens erweckenden Vorstellungen; sie nimmt daher die erste Stelle ein, alle anderen sind Vorstellungen zweiter Ordnung für die bildende Kunst. D a wir der Natur nicht nur als Augengeschöpfe und festgebannt an einen Standpunkt gegenüberstehen, sondern mit allen unseren Sinnen zugleich in ewigem Wechsel und in Bewegung, so leben und weben wir in dem Bewußtsein einer uns umgebenden räumlich ausgedehnten Natur, ohne weiter danach zu fragen, wie dieses Bewußtsein zustande kommt, auf welcherlei Eindrücken, Wahrnehmungen es beruht. D i e Natur ist uns ein lückenloses Raumganzes, ein unendlicher Hohlraum, ein Gesamtvolumen, von dem die Einzelgegenstände gleichsam Teilvolumina sind. Dieses Raumbewußtsein beruht, wie gesagt, auf sehr verschiedenartigen sinnlichen Wahrnehmungen; wollen wir den Raum zu einer reinen Augenvorstellung machen, so muß er uns als etwas gegenübertreten, was lediglich O b j e k t der Auffassung durch den Gesichtssinn ist; wir müssen
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den Raum, der uns als etwas bewußt ist, was uns umgibt, zu dem wir selbst gehören, zu etwa machen, was uns als sehenden Geschöpfen gegenübertritt. Wir entziehen uns so gleichsam dem Raum, dem wir nicht entrinnen konnten, so lange wir noch in den Banden des gewöhnlichen Bewußtseins waren; wir gebaren uns so, als ob wir selbst nicht zu der räumlich ausgedehnten Natur gehörten, als ob diese etwas wäre, was unserem Gesichtssinn als etwas Wahrzunehmendes entgegenträte. Wir vermögen dies aber nur, indem wir etwas hervorbringen, was durch die Wahrnehmungen, die es dem Auge bietet, die Vorstellung eines lückenlosen Raumes hervorruft; nur dadurch kann der Raum, die dreidimensionale Ausdehnung zu einem reinen Objekt des Sehens, zu einer Gesichtsvorstellung werden. Da nun von einer reinen einheitlichen Gesichtsvorstellung nur dann die Rede sein kann, wenn, mit Ausschluß auch der auf der Beweglichkeit des Sehorgans beruhenden Bewegungsvorstellungen, lediglich Wirkungen auf den Gesichtssinn sich zu einem einheitlichen Gesamteindruck, Gesamtbild zusammenschließen, so ergibt sich daraus die Aufgabe für den raumgestaltenden Künstler. Er muß lauter Flächeneindrücke, die die Vorstellung dreidimensionaler Ausdehnung hervorrufen, so zusammenordnen, daß sie für den Blick das unmittelbare Bild eines dreidimensionalen Raumes darstellen. Er hat also sein Augenmerk einesteils auf diejenigen Flächenmerkmale zu richten, die die Vorstellung einer Erstreckung nach der dritten Dimension hervorrufen, andernteils auf die Vereinigung dieser Merkmale zu einer Gesamtwirkung. Diejenigen Augeneindrücke, welche die Illusion räumlicher Ausdehnung erwecken, kann der Künstler nur der Natur entnehmen. Bei dem unbewußten Zustandekommen der allgemeinen Raumvorstellung wirken, neben vielen anderen Eindrücken, Augeneindrücke sehr wesentlich mit; soll nun eine Raumvorstellung als bloße Gesichtsvorstellung geschaffen werden, ohne Zuhilfenahme jener andersartigen Eindrücke, so kann dies nur mittels derjenigen Gesichtseindrücke geschehen, die schon bei dem natürlichen Raumbewußtsein raumbildend mitgewirkt haben. So erkennen wir denn, daß dem Künstler vor allem die Aufgabe erwächst, aus all den Augeneindrücken, aus diesem wechselvollen Angesicht der Natur die Züge zu erkennen und festzuhalten, die bei naiven Menschen unwillkürlich und selbstverständlich zur plastischen Vorstellung der Natur treiben. Die Fähigkeit zu dieser Erkenntnis bedingt rein sachliches Verhältnis zur Natur, den Kern reiner Überlegungen. Zu diesen Augeneindrücken, welche ein räumliches Verhältnis der gesehenen Gegenstände aussagen, gehören die perspektivischen Verkürzungen, die Überschneidungen, die Gegensätze von Schatten und Licht, von Hell und Dunkel, die Abstufungen der Farben. Sie werden alle erst dadurch wirksam, d. h. bewirken erst dadurch einen Raumwert, daß sie sich mit gegenständlichen Vorstellungen verbinden, wir sie auf uns als plastisch bekannte Natur beziehen. Die perspektivisch verkürzte Linie würde uns kein Zurückgehen verdeutlichen, wenn wir sie nicht als Begrenzungslinie eines bekannten Körpers erkennen würden, eine Überschneidung uns nicht die Gegenstände hintereinanderrücken, wenn wir nicht wüßten, daß dem überschnittenen Gegenstand etwas fehlt. Schatten und Licht, Hell und Dunkel, die Farbengegensätze bekommen nur dadurch eine räumliche Wirkung, daß uns eine gegenständliche Vorstellung dabei vorschwebt. Das heißt also, ohne daß uns ein gegenständliches Bild erweckt wird, drücken
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diese Merkmale kein Näheres oder Ferneres aus. Erst indem wir sie in Beziehung zu der uns bekannten Gegenstandsvorstellung setzen, werden sie für das Auge zu einem unmittelbaren Ausdruck räumlicher Verhältnisse. Dies sind nun die Mittel, die dem Künstler zu Gebote stehen, um durch reine Flächeneindrücke ein räumligch ausgedehntes zur Darstellung zu bringen, das nach drei Dimensionen sich Erstreckende als reine Gesichtsvorstellung zu gestalten. Wenn diese Mittel auch der Betrachtung der Natur entnommen sind, so zeigt doch die Naturerscheinung keineswegs immer diese Anregungen zu räumlicher Vorstellung in sehr klarer und eindringlicher Weise. Wir bemerken, daß je nach den Umständen die Natur uns eine Erscheinung liefern kann, die schwach oder stark, reich oder arm unsere räumliche oder plastische Vorstellung anregt; es kommt uns das weniger zum Bewußtsein, solange wir dem Natureindruck selbst gegenüberstehen; in ihm vereinigen sich ja anderweitige Merkmale genug, um uns die dreidimensionale Gegenständlichkeit nahe zu bringen. Wo aber durch ein mechanisches Verfahren, wie das der Photographie, der unmittelbare Natureindruck auf die Flächenmerkmale, die bloßen Gesichtseindrücke reduziert erscheint, da zeigt es sich, wie unglücklich und verfehlt oft die räumliche Erscheinung der Natur sich dem Auge darstellt. Bedenken wir, welch ungeheurer Abstand zwischen der Natur und ihrer Darstellung im Kunstwerk besteht, wie letzteres auf den größten Teil der Mittel verzichten muß, wodurch in der Natur die Raumvorstellung erweckt wird, so bliebe die Kraft des Kunstwerks, im Menschen die Raumillusion in gleicher Weise wie die Natur selbst zu erwecken, ein Rätsel, wenn es nicht möglich wäre, im Bilde durch die hier zu Gebote stehenden Mittel eine ebenso starke Raumanregung hervorzubringen, wie es die Natur selbst ihrerseits durch andere Mittel tut. Natur und Bild müssen auf verschiedenen Wegen zu einem gemeinschaftlichen Resultat für die Vorstellung gelangen. Die Parallele zwischen Natur und Kunstwerk liegt also nicht in der Gleichheit ihrer faktischen Erscheinung, sondern in der Gemeinschaft ihrer Fähigkeit, dieselbe Vorstellung im Menschen hervorzurufen, zu erwecken. Nicht um die Täuschung, daß man das Bild für ein Stück Wirklichkeit halte, daß man glaube, sich der Natur selbst gegenüber zu befinden, wie beim Panorama, handelt es sich, sondern um die Stärke des Anregungsgehaltes, welcher im Bilde vereinigt ist. Gerade durch diese Konzentration und Zusammenfassung im Bilde vermag die Kunst die zerstreute Anregung der Natur zu übertreffen. Der Künstler betrachtet auf diesen Zweck hin die Naturerscheinung in ihrem ewigen Wechsel, er scheidet alle schwächlichen, nichtssagenden Konstellationen aus und bringt sich auf diese Weise in eine vorteilhafte Lage der Natur gegenüber. Durch dieses Reinigungssystem vermag er dem Bilde die Kraft einzuverleiben, die es der Natur gegenüber wertvoll macht. Für den darstellenden Künstler bilden diese die räumliche Vorstellung anregenden Erscheinungsmerkmale den eigentlichen Stoff, aus dem er sein Bild der Natur als ein reines Gesichtsbild formt; es sind lauter Mittel, die er als Flächengebilde anwenden kann und durch welche doch räumliche Anordnung zum Ausdruck kommt. Eine perspektivische Verkürzung bedeutet immer eine Bewegung nach der Tiefe; sie kann sozusagen von vorn nach hinten oder umgekehrt abgelesen werden, je nachdem die reale Bewegung des dargestellten Körpers dem Beschauer zustrebt oder von ihm wegstrebt.
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Von besonderer Wichtigkeit sind die Überschneidungen; es liegt in der Natur derselben, daß, wo sie angewendet sind, der vordere Gegenstand den zurückliegenden teilweise verdeckt; es wird sich dann fragen, ob das zurückliegende noch genügend verständlich bleibt und wie es durchschnitten wird. Andererseits knüpft durch die Überschneidung die Erscheinung des Vorderen an die des Dahinterliegenden an und bezeichnet gleichsam die Stelle, wo die Vorstellung einen Schritt nach der Tiefe zu macht, einen Übergang von einer Distanzschicht zur anderen. Eine weitere Kraft der Überschneidung ist, d a ß Figuren verschiedener Distanzschichten zu einer einheitlichen Flächenwirkung verbunden werden können, indem sie durch die Überschneidung sich seitlich fortsetzen, als Flächenmaße fortschreiten. Sie reichen sich sozusagen durch die Überschneidung die Hände, ohne in realer Berührung gedacht zu sein. Dadurch steigert sich die Flächenwirkung ohne die Distanzunterschiede aufzuheben. Die Überschneidung läßt sich dabei auf ein Minimum beschränken und sich so das Verdecken des Dahinterliegenden durch das Vordere vermeiden. So kann sie Gegenstandsbilder als Distanz auseinanderhalten und doch als Flächeneinheit wirken lassen. Neben Licht und Schatten liegen in den farbigen Kontrasten selbst vor- und zurücktreibende Kräfte für die räumliche Vorstellung; nicht nur, daß gewisse Farben die Vorstellung der Ferne, andere die der Nähe erwecken, auch durch die Abstufungen der Farben kann das Flächenbild eine räumliche Erstreckung nach der Tiefe hin zum Ausdruck bringen. Es verlangt dies eine ausgedehnte speziell malerische Kenntnis und Erfahrung, auf die hier nicht näher eingegangen werden soll. Nur ist es wesentlich, daß die Farbe immer in einem dienenden Verhältnis zur räumlichen Vorstellung steht. Nicht um den Reiz der Farben an sich, wie beim Teppich, sondern um ihr Erscheinungsverhältnis als Distanzträger handelt es sich in erster Linie. Es ist klar, daß im Glanz und in der Pracht der Farbenwirkung ein lebendiges Zeugnis von der Existenz der Natur liegt, eine starke Anregung für unsere räumliche Vorstellung und daß dies wiederum mit der Tiefe der Farben zusammenhängt. Andererseits aber auch, daß die Leuchtkraft eines Bildes nur dann die eigentliche Bedeutung hat, wenn sie mit Beobachtung aller raumentwickelnden Erscheinungsfaktoren zu Stande kommt und als Mittel zu dem allgemeinen Zwecke verwendet wird; sie darf nur das Resultat der allgemeinen künstlerischen Gestaltung eines Bildes sein, nicht direkt, um ihrer selbst willen durch das Aufgebot technischer Mittel angestrebt werden; als solche bleibt sie immer nur dekorativ, wird aber nicht zum Ausdruck unserer Gesamtvorstellung von der Natur, wirkt nicht im höheren Sinne. Haben wir im Vorstehenden die Mittel angedeutet, welche dem Künstler zu Gebote stehen, um durch ein Flächengebilde die Vorstellung einer räumlich ausgedehnten Natur zum Ausdruck zu bringen, so ist damit für die Lösung der eigentlichen künstlerischen Aufgabe noch nicht viel gewonnen. Die Herstellung einer reinen Gesichtsvorstellung verlangt mehr als die Übersetzung der dreidimensionalen Ausdehnung in Flächeneindrücke; es muß vielmehr ein solches Zusammenwirken dieser Flächenmittel stattfinden, daß die in dem Kunstwerk zur Darstellung kommende Natur als ein einheitliches, von einem Standpunkt aus und mit einem Blick aufzufassendes Ganzes dem Gesichtssinn sich darbietet. Die Verwendung der Mittel darf nur darauf abzielen; die
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Gestaltung des Kunstwerks ist im Einzelnen und im Ganzen nur dann eine notwendige, wenn dieses Ziel erreicht ist. Keine andere Rücksicht, sei es auf Forderungen der gewöhnlichen Naturwahrheit, sei es auf ästhetische oder moralische Forderungen kann im Kunstwerk eine Notwendigkeit begründen, die nicht hinter jener höheren allein maßgebenden künstlerischen Notwendigkeit zurückstehen müßte. Nur in dieser Fassung kann uns Natur im Allgemeinen zu einem reinen Objekt der Anschauung werden; nur wenn wir so der Natur im Kunstwerk gegenüberstehen, erheben wir uns selbst auf den Standpunkt des reinen Schauens, vermögen uns selbst, unsere sonstige Körperlichkeit, unsere anderweitige sinnliche Natur, und alle geistigen und gemütlichen Beziehungen zu vergessen, in denen wir sonst zu den Dingen stehen, wir werden, wie dies der unmittelbarer Naturwahrnehmung gegenüber der Fall ist, nicht mehr, weder mit unseren Augen, noch mit unseren sonstigen Sinnen, noch auch mit unserem inneren Anteil unruhig hin- und hergezogen; vielmehr überkommt uns eine erhabene Ruhe, jener Zustand, in dem unser ganzes Selbst in dem Anschauen der uns unmittelbar entgegentretenden Gestalt der Natur aufzugehen scheint. Es kann nur das Resultat einer sehr überlegten Tätigkeit sein, welches uns die Natur in diesem künstlerischen Ausdruck nahe bringt. Indem wir uns klar zu machen suchen, wie jene Mittel des künstlerischen Ausdrucks zu verwenden sind, um das Ziel zu erreichen, beziehen wir uns zunächst auf die Tätigkeit des Malers und behalten uns vor, daran anschließend, nachzuweisen, daß auch für Bildhauerei und Baukunst eine analoge Aufgabe in analoger Weise zu lösen ist. Wenn für den Maler zu allererst die Aufgabe erwächst, die allgemeine Raumvorstellung, in der wir leben und weben, als ein zu Sehendes uns gegenüberzustellen, zu einer reinen Gesichtsvorstellung zu erheben, so kann er das nicht anders, als indem er eine begrenzte, für den Gesichtssinn mit einem Blick zu übersehende, zu erfassende Fläche herstellt, welche durch die Merkmale, die sie enthält, die Vorstellung der Erstreckung nach der Tiefe erweckt. Eine Fläche ohne jegliche Merkmale würde nur zum Ausdruck einer zweidimensionalen Raumvorstellung werden; sie würde dies auch bleiben, wenn sie nur der Verzierung wegen belebt wäre. Zum Ausdruck der dreidimensionalen Raumvorstellung kann die Fläche nur dadurch werden, daß sie Merkmale enthält, welche ohne von dem Auge eine wirkliche Bewegung zu verlangen, den Blick in die Tiefe ziehen. Und zwar darf, wenn dies vollständig erreicht werden soll, kein Punkt der Fläche dieses Tiefenausdrucks ermangeln; nicht so darf es sein, daß nur ab und zu die Fläche durchbrochen zu sein und einen Ausblick in die Tiefe zu gestatten scheint, oder gar, daß einzelne Stellen sich erheben und auf uns zuzukommen scheinen. Dann ensteht nur eine Beunruhigung des Auges, ein verworrenes, willkürliches Bild, keine einheitliche, durchsichtige, klare und notwendige Vorstellung. Leider findet man unter den Werken der Malerei nur allzuhäufig die Beispiele für jene ungenügende und mangelhafte bildnerische Entwicklung der Raumvorstellung. Die Fläche muß so gestaltet sein, daß sie in ihrer ganzen Ausdehnung sich nach der Tiefe hin zu erstrecken scheint; dann erst tut sich unserem Blick ein wirklicher Raum auf, und das, was wir sonst nur als allgemeines Raumbewußtsein besitzen, die Gewißheit, daß alles in einem unbeschränkten Raum vor sich geht, wird hier zum Gegenstand einer tatsächlich vorhandenen Gesichtsvorstellung.
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Wir wollen eine so zu gestaltende Fläche mit dem Namen Fernbild bezeichnen; schon an einer früheren Stelle ist erwähnt worden, daß uns die unmittelbare Naturwahrnehmung Fernbilder liefert, in denen das Wahrgenommene als eine einheitliche Gesichtsvorstellung wirkt. Wir wenden daher diese Bezeichnung an, wo es sich um die künstlerische Gestaltung der Natur handelt; denn die Kunst muß in der Tat eine Art Fernbilder schaffen, in denen uns das gesamte Naturmaterial zu reinen Gesichtsvorstellungen umgearbeitet entgegentritt. Das Fernbild beginnt nun in der Natur mit der Distanzschicht, wo unsere Augen parallel sehend ein Gesamtbild aufnehmen. Diese Distanzschicht wird in der malerischen Darstellung durch die vordere Fläche des Bildes angezeigt; was vor dieser Distanzschicht liegt, ist von dem Gesamtbilde ausgeschlossen, es handelt sich nur um den Raum, der hinter ihr liegt. Unsere Vorstellung erfaßt diesen, indem sie eine Bewegung nach der Tiefe ausführt, indem sie in voller Ausdehnung unseres Sehfeldes nach der Tiefe strebt. In dieser allgemeinen Tiefenbewegung faßt sie den Raum als Einheit. Es ist notwendig, zu betonen, daß die künstlerische Raumgestaltung von der Vorstellung des Gesamtraumes ausgehen muß, nicht von der räumlichen Form der einzelnen darzustellenden Gegenstände. Wie wir in der Natur den Raum, ohne uns dessen weiter bewußt zu werden, voraussetzen als dasjenige, worin die Dinge ihr Dasein haben, so muß der Künstler mit Bewußtsein vor allem die allgemeine Raumvorstellung zu erwecken suchen, damit seine Darstellungen existenzfähig erscheinen; er kann dies nur vermittels der zur Darstellung kommenden Einzelgegenstände. Durch die Art und Weise, in der er auf der Bildfläche die für unseren Gesichtssinn eine Raumvorstellung erzeugenden Erscheinungsmerkmale verteilt, vermag er jene allgemeine Tiefenbewegung hervorzurufen. Von der vorderen Bildfläche scheint sich uns der Raum in der ganzen Ausdehnung dieser Bildfläche nach der Tiefe hin zu erstrecken, wie wenn wir mit der flachen Hand eine Bewegung von uns weg ausführen. Die Einzelkörper, die sich in diesem Raum befinden, treten als Flächenerscheinungen auf, die gleichsam Widerstände gegen die allgemeine Tiefenbewegung bilden, die nicht weichen. Durch die allgemeine Tiefenbewegung, die auf sie und durch sie hinströmt, erhalten sie jedoch Volumen und je nachdem diese Flächenerscheinungen bestimmt präzisierte Merkmale besitzen, an denen die Tiefenbewegung hingleitet, erhalten sie ein präzisiertes Volumen, d. h. plastische Form. Auf diese Weise werden alle räumlichen Beziehungen und alle Formunterschiede sozusagen von vorn nach hinten abgelesen, von einem Standpunkt aus und nur in einer Richtung; die Gesamterscheinung leistet dieser einheitlichen Tiefenbewegung, je nach ihren Bestandteilen nur einen verschiedenen Widerstand. Auf diese Weise sind wir in der Lage, die ganze räumliche Vielheit in einer einheitlichen Vorstellung zusammenzufassen. Die allgemeine Raumvorstellung wird als ein Flächengebilde von einheitlichem Tiefenmaß gefaßt; die gegenständlichen Vorstellungen sind die Mittel, durch ihre Anordnung in der Fläche die einheitliche Tiefenvorstellung zur Erscheinung zu bringen. Wir können auch sagen: um die plastische Vorstellung als reines Fernbild zu fassen, müssen wir sie zum Ausdruck der allgemeinen Raum- oder Volumenvorstellung machen, d. h. zu einer einheitlichen Flächenwirkung von gemeinsamen Tiefenmaß einigen.
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Fragen wir uns auf welche Weise dies möglich ist, wie die oben erwähnten raumanregenden Erscheinungsmittel verwendet werden müssen, um dieses Resultat zu erzeugen, so wissen wir, daß alle jene Erscheinungsmittel, sobald sie zusammengeordnet werden, in ein gegensätzliches, sich gegenseitig bedingendes Verhältnis zu einander treten, aus dem ein bestimmtes Resultat für unsere Gesichtsvorstellung hervorgeht. Wir können das jeweilige Produkt von Erscheinungsgegensätzen, welches in einer räumlichen oder plastischen Vorstellung besteht, als Raumwert der Erscheinung bezeichnen zum Unterschied von anderen Vorstellungswerten, die sich auf stoffliche Beschaffenheit, Vorgangsdarstellungen u. dgl. beziehen und die im Kunstwerk gleichfalls von Bedeutung sind. Dieser Begriff bedeutet das Resultat, welches bei Anwendung von Erscheinungsmitteln, d. h. Gegensätzen zu dem bestimmten Zweck der Erzeugung plastischer oder räumlicher Vorstellung entsteht - also die Verwertung von Gegensätzen in der Erscheinung zum Zwecke der Raumerzeugung. Wenn also z. B. eine Form durch Licht und Schatten für das Auge modelliert wird, so ist das Erscheinungsmittel der Gegensatz von Hell und Dunkel. Insofern aber Hell und Dunkel in diesem bestimmten Verhältnis und an dieser bestimmten Stelle zu reiner modellierender Wirkung gelangt und für das kombinierende, geistige Auge seinen Wert abgibt, stellt es einen Raumwert der Erscheinung dar. Der Künstler muß also die ihm zu Gebote stehenden Erscheinungsmittel so verwenden, daß sich aus ihnen Raumwerte ergeben. In der Natur ist die Raumerscheinung das Produkt sehr verschiedener zusammenwirkender Elemente, wie z. B. der plastische Gegenstand, seine Lokalfarbe, die Beleuchtungsquelle, der Standpunkt, den der Beschauer zum Gegenstand einnimmt; dieses Zusammenwirken verschiedener Elemente vermag der Künstler im Raumwert zum Ausdruck zu bringen. Die Raumwerte bedeuten mehr oder minder reiche Kreuzungs- oder Knotenpunkte solcher verschiedenartigen Raumanregungen; in ihnen kommt ein Zusammenwirken zu Stande von an sich auseinander liegenden Naturmomenten; in ihnen offenbart sich eine Einheit, die nur der Gesichtssinn erfaßt und die ihm von getrennten Verhältnissen eine gleichzeitige Aussage macht, wodurch eine räumliche Orientierung der Vorstellung entsteht, ein Erfassen der räumlichen Sachlage. In ihnen liegt die Möglichkeit, Einzelgegenstände, die an und für sich aus realen Gründen in keinem notwendigen Zusammenhang stehen und keine notwendige räumliche Stellung zu einander einnehmen, in einem notwendigen, sich bedingenden Zusammenhang als Erscheinung zu bringen. Es ist leicht begreiflich, daß in der Entdeckung der Raumwerte der Erscheinung eine spezielle künstlerische Kraft und Begabung liegt. Beim Kunstwerk mit seinen der Natur gegenüber spärlichen, stabilen Mitteln, die nur durch das Auge und nur in beschränkter Weise wirken können, muß der Künstler sich klar sein, was es für Konstellationen in der Erscheinung sind, die am unfehlbarsten, am zwingendsten im Beschauer das Raumgefühl, diese elementarste Wirkung der Natur erzeugen. Je stärker er den Raumgehalt, die Raumfülle durch sein Bild erregen kann, je lückenloser, dichter überall für die Raumvorstellung gesorgt ist, zu desto stärkerem Erlebnis wird das im Bild Dargestellte, desto wesenhafter stellt sich das Bild der Natur gegenüber. Aber noch mehr. Die Raumwerte sollen nicht die Vorstellungen eines gedrungenen, lückenlosen Raumes herstellen, sie sollen auch zu der Vorstellung eines einheitlichen
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Raumganzen zusammenwirken. Das Flächenbild besteht dann aus einem Komplex von Gegensätzen, die alle eine gemeinsame Raumanregung bedeuten. Nur dann kann von der Einigung des Raumganzen als Erscheinung, die Rede sein, wenn jede Einzelerscheinung von vorn herein als notwendiger Teil des Ganzen und im Verhältnis dazu konzipiert ist. Das, was beim Einzelkörper als Modellierung fürs Auge geschieht, muß auch wieder durch die Einzelkörper für das Ganze in Kraft treten; dadurch wird das Ganze ein ebenso zusammenhängender modellierter Raumkörper, wie der Einzelkörper an sich. Soll der Künstler im Stande sein, ein Raumganzes zu gestalten, so muß er von der Einsicht geleitet sein, daß er dem Einzelding in seiner ganzen Bedeutung für die Anschauung nur dann gerecht wird, wenn er es in seiner raumgestalteten Fähigkeit erfaßt, wenn er es zur Bildung eines Raumwertes ausnutzt. Man nehme, um sich das deutlicher vorstellen zu können z. B. als einfachstes Raumganzes eine Ebene mit der aufsteigenden Himmelsfläche an, so ist es einleuchtend, daß diese Ebene deutlicher zur Anschauung kommt, wenn ich irgend etwas darauf stelle - ein Haus, einen Baum usw. Dadurch, daß etwas auf ihr steht, spricht sich sofort die horizontale Lage der Fläche, man könnte fast sagen, als räumlich sich betätigend aus. Sie erhält dadurch einen deutlichen Ausdruck ihrer Existenz. Kommt nun noch die Wirkung von Schatten und Licht dazu, so daß das Haus oder der Baum einen Schatten auf die Erdfläche wirft, so wird durch den auffallenden Schlagschatten dieselbe sozusagen noch einmal erwähnt, nochmals ihr Vorhandensein meiner Vorstellung aufgezwungen. Es ist das sehr einleuchtend und soll nur zeigen, wie die Einzelgegenstände durch ihre Stellung und Anwendung an der Darstellung des Gesamtraumes arbeiten und je nach ihrer Verwertung die Raumanregung des Ganzen verstärken. So hat der Einzelgegenstand außer der Bedeutung, die er als solcher für uns hat, eine weitere Bedeutung durch seine Fähigkeit, ein Raumganzes zu modellieren. Der Einzelgegenstand erhält in dieser Verwertung eine Bedeutung, die über seine Sonderexistenz hinausgeht, er spielt eine Rolle für die allgemeine Raumentwicklung. Die Erkenntnis dieser Verwertungsmöglichkeit führt zu der Einsicht, daß Einzelgegenstände, wenn sie nur an sich aufgefaßt und dargestellt werden, wenn ihre allgemeine raumgestaltende Möglichkeit nicht ausgenützt ist, daß solche Einzelgegenstände noch nicht in ihrer vollen Tragweite für die Anschauung gefaßt worden sind. Sie existieren dann nur als abgelöste Sonderdinge, nicht aber in ihrem Zusammenhang zum Ganzen. Sie sagen nach der Seite hin nichts aus, bleiben tot für die Anregung der allgemeinen Raumvorstellung. - Aber noch mehr! Der Einzelgegenstand charakterisiert sich durch eine ihm speziell zukommende Raumbegrenzung oder Form: der Baumstamm z. B. durch seine nach oben strebende schlanke Form. Diese Formtendenz, wenn sie im Gegensatz zu anderen Formtendenzen verwendet wird, wie z. B. zu der waagerechten Bodenfläche, macht nicht nur die letztere ausdrucksvoller, sondern die Wirkung ist gegenseitig und durch die Gegenüberstellung der waagerechten Bodenfläche wird auch die räumliche Wirkung des Baumstammes verstärkt und gesteigert. Die Rolle, die der Einzelgegenstand im Ganzen spielt, wirkt nicht nur auf die Ausdrucksstärke des Ganzen, sondern auch auf die des Einzelgegenstandes selbst. Die volle Ausdrucksstärke und Kraft der Wirkung liegt niemals im Einzelnen selbst, sondern in seiner Rolle zum Ganzen, in sei-
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ner räumlichen Verwertung. Sie beruht auf richtiger Gegenüberstellung, auf weiser Verwertung und Anwendung der räumlichen Anregungen, welche in den Gegensätzen enthalten sind. Hieraus entwickelt sich nun auch die Möglichkeit, ein Ganzes für die Vorstellung zu gestalten; es geschieht dadurch, daß den Gegensätzen, die durch ihre Verwendung und Verwertung eine räumliche Vorstellung erwecken, neue Gegensätze zur Seite gestellt werden, die diese Vorstellung verstärken, erweitern; die Einheit des Baues liegt darin, daß diese räumlichen Einzelanregungen immer wieder eine Gesamtanregung hervorrufen, immer wieder an einem weiteren räumlichen Gesamteindruck arbeiten. Indem a in b seinen Widerpart findet, erhalten diese beiden in c einen weiteren und a b c wiederum in d eine Verstärkung ihrer Gesamtwirkung usw. bis ein Ganzes, sich überall gegenseitig bedingend und stärkend dasteht. Man darf dabei nicht vergessen, daß es nicht die materiellen Gegensätze für die Augenempfindung als solche sind, auf denen jenes Sichbedingen und die daraus sich ergebende Einigung zum Ganzen beruht, sondern daß diesem geheimnisvollen Vorgang eine Gesetzmäßigkeit zu Grunde liegt, welcher die Vorstellungskraft folgt. J e nachdem das Einzelne im Bilde so oder so angeordnet und als Gegensatz verwendet wird, muß die räumliche Vorstellung diesen Anregungen gehorchen und sich so oder so gestalten. Diese Anordnung und Verwendung ist es, durch welche der Künstler über die Vorstellung Macht erhält; erst durch ihre richtige Handhabung fängt das Einzelne an zu sprechen, das Ganze an als Ganzes zu wirken. E s ist ein Maßstab für die künstlerische Begabung, wie weit es dem Künstler gelingt, Gegenstände von schlagender dreidimensionaler Bedeutung zu finden, sie für die Gestaltung seines Bildes durchzuarbeiten und die Einzelraumanregungen zu einer allgemeinen Raumvorstellung wahrhaft zu verbinden. Wir erkennen auf diese Weise die Möglichkeit eines Zusammenhanges und einer Einheit, die mit dem Zusammenhang der Natur als organische Einheit oder als Einheit des Vorganges nichts zu tun hat. Diesen anschaulichen Zusammenhang, diese anschauliche Einheit zu gestalten und zum Ausdruck zu bringen ist das besondere Eigentum der bildenden Kunst; das Verständnis dafür liegt daher dem Laien zunächst fern. Denke man sich z. B. eine Landschaft, so ist der organische Zusammenhang in ihr, gegenüber dem in einem menschlichen Körper schon in hohem Grade gelockert. Die Bäume können da oder dort stehen, der Fluß diese oder jene Windung machen, die Berge so oder so sich hinziehen; es hängt dies alles von der Willkür des Künstlers ab. Der organische Zusammenhang bietet also sehr wenig als Notwendigkeit und dennoch empfinden wir bei einem guten Landschaftsbild eine notwendige Zusammengehörigkeit, als könne es eben nicht anders sein. Diese Zusammengehörigkeit ist keine andere, als die eben dargestellte. Alles auf ihrer Bildfläche Erscheinende bedingt sich gegenseitig als Anregung zu einer geschlossenen Raumeinheit in der Vorstellung. Obschon der Nichtkünstler mit gegenständlichem Interesse das Einzelne aufsucht, erliegt er unwillkürlich dieser Wirkung, wodurch ihm alles räumliche klar und lebendig und zu einer Einheit wird. Dieses Lebendigwerden, diese innere Konsequenz der Bilderscheinung wird er empfinden, ohne sie sich erklären zu können. Seine Anschauung und
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Phantasie ist sowohl erregt, wie festgebannt von der Gegenwärtigkeit des Eindrucks. Beim Landschaftsbild, wo das gegenständliche Interesse beschränkt ist, wird der Laie sich der reinen künstlerischen Wirkung leichter überlassen. Beim Figurenbild jedoch stürmen alle Interessen für die Figuren als solche, als Einzelgeschöpfe auf ihn ein und er verliert sich leicht in diesen Einzelinteressen. Man denke sich nun aber, daß analog dem Landschaftsbilde alles nach Maßgabe der Raumentwicklung angeordnet ist, man denke sich die Figuren im Bilde immer mit der Aufgabe, an dieser Raumentwicklung für die Augen mit zu arbeiten, so wird man sich den Zusammenhang erklären können, der dem Bilde eine künstlerische Notwendigkeit der Erscheinung verleiht. Man wird erkennen, daß die Figuren eine viel allgemeinere Aufgabe im Bilde lösen, als die, einen Vorgang zu erzählen, und daß dadurch erst eine Einheit der Erscheinung und der Vorstellung entstehen kann. Fassen wir nun alles dieses kurz zusammen, so hat sich gezeigt, daß die Erscheinung einen Komplex von Gegensätzen bedeuten muß, welche alle gegenseitig und wiederum im Ganzen Anregung für die plastische oder räumliche Vorstellung in uns bewirken, wenn sie ein wahrhaft lebendiges Bild der realen räumlichen Natur sein soll und daß in diesem gegenseitigen Sichbedingen der Erscheinungsgegensätze und in ihrem gemeinschaftlichen Hervorrufen eines Raumganzen eine Einheit der Erscheinung besteht, welche nichts gemein hat mit der organischen oder der Vorgangseinheit in der Natur. Für die gestaltende Tätigkeit des Malers ergeben sich aus dieser Auffassung seiner Aufgabe begreiflicherweise mancherlei Folgerungen. So wird der Maler einen Einzelgegenstand, z. B. eine Figur, sehr anders darstellen, wenn er sie von vornherein als einen Teil des Ganzen faßt, als wenn er sie isoliert betrachtet. Eine Figur als Einzelding zeigt in ihrer Erscheinung modellierende Unterschiede, die aufhören, wirksam zu sein, wenn die Figur in ein Verhältnis zur Umgebung, zum Hintergrund gesetzt wird. Die Gegensätze zwischen der Figur und dem Hintergrund sprechen stärker und in erster Linie; das Bild der Figur vereinfacht sich in dem Maße, in dem die Gegensätze zur Umgebung bedeutsam werden. Anstatt einer Menge Einzelmodellierung, welche im ersten Fall die Figur plastisch erscheinen läßt, tritt jetzt eine Modellierung durch ihr Verhältnis zur Umgebung ein. Durch diese Erscheinungsweise aber bekommt nicht nur die Figur an sich ihre Plastizität, sondern sie bildet mit dem Hintergrund einen Raumwert, der zur Modellierung des Raumganzen beiträgt. Man braucht nicht nach Beispielen dafür zu suchen, daß Künstler trotz vortrefflicher Ausführung im Einzelnen durch ihre Figuren die Vorstellung des Lebens nicht zu erwecken vermögen, weil das Verhältnis dieser Figuren zur Umgebung, zu dem Raum, in dem sie sich befinden, nicht von vornherein einen schlagenden Ausdruck gefunden hat; richtet der Künstler zunächst sein Augenmerk auf den Ausdruck dieser ersten Daseinsbedingung, so wird er die Vorstellung des Lebens erwecken, auch wenn an der modellierenden Durchbildung seiner Figuren noch wenig getan ist. Mit der Aufgabe, ein einheitliches Ganzes für die Vorstellung herzustellen, hängt es auch zusammen, daß für das Bild diejenigen Erscheinungsmittel am tauglichsten sind, die am unmittelbarsten wirken und am leichtesten für einen Blick faßbar sind. Alle Mittel, welche im Verhältnis zu anderen im Bilde ebenfalls angewendeten, eine
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besondere Aufmerksamkeit, ein besonderes Hinsehen erfordern, sind untauglich, weil sie die Gesamtwirkung beeinträchtigen. Es wird immer ein Beweis künstlerischer Weisheit sein, wenn in einem Kunstwerk für die Wirkungsstärke der verwendeten Erscheinungsmittel ein einheitlicher Maßstab festgehalten ist; nur so wird eine einheitliche Auffassung möglich sein. Andererseits ist es von großer Wichtigkeit, daß die Einzelgegenstände, welche auf der Bildfläche selbst nur als Flächengebilde auftreten können, leicht kenntlich sind; nur dann können sie durch die allgemeine Raumvorstellung plastisches Dasein gewinnen. Wir müssen bedenken, daß sich dem Auge immer nur das Nebeneinander in der Fläche absolut klar darstellt; die Verhältnisse des Hintereinander werden nur im allgemeinen durch die Verhältnisse der dritten Dimension gegeben. Wollen wir uns in der Natur eine weitgehende genaue Distanzvorstellung verschaffen, so sind wir gezwungen, unseren Standpunkt so zu ändern, daß wir die Tiefenmaße als Flächeneindrücke auffassen können, also im Profil. Unser anschauliches Verhältnis zur dritten Dimension beruht überhaupt nur auf der allgemeinen Vorstellung einer Bewegung nach der Tiefe, ihre präzisen Maße können wir nicht sehen, sondern entnehmen sie aus der Erfahrung eines anderen Standpunktes. Die Deutlichkeit der Gegenstandsvorstellung muß also im Bilde, wo es sich um die einheitliche Auffassung von einem Standpunkte aus handelt, auf dem beruhen, was sich in der Fläche ohne Tiefenmessung ausdrückt. Es ist deshalb eine Aufgabe künstlerischer Überlegung, von welcher Seite ein Gegenstand dargestellt wird, in welcher Stellung, wenn es sich um lebende Wesen handelt. Es kommt dabei in Betracht, daß nur die künstlerische Darstellung die Dinge, die mit anderen zu einer Gesamtvorstellung zusammenwirken sollen, immer in eine gewisse Entfernung gerückt, vorführen muß. In der Natur sind uns, aus der Nähe gesehen, noch viele Stellungen verständlich, die vom ferneren Standpunkt aus unklar werden; es sind dies die Stellungen, die mehr Verkürzungen bieten als Flächenansicht, bei denen die Tiefenvorstellung die Hauptarbeit für die Gegenstandsvorstellung hat. Erscheinen solche Stellungen im Bild, so verlangen, wenn sie als aus der Nähe gesehen dargestellt sind, die Anhaltspunkte für die Tiefenvorstellungen zu viel spezielle Aufmerksamkeit, in die Ferne gerückt fallen aber diese Anhaltspunkte weg, und es fehlt die plastische Verständlichkeit. Wenn ich - um ein Beispiel zu gebrauchen - einen Menschen in der Nähe so verkürzt sehe, wie aus der Vogelperspektive, so schrumpft seine Flächenerscheinung auf ein Minimum zusammen. Ich kann jedoch innerhalb dieser Flächenerscheinung eine Masse Nuancen und Wegweiser erkennen, welche die plastische Vorstellung ermöglichen. Aus größerer Entfernung jedoch, wo die Nuancen wegfallen oder speziell genaues Hinsehen verlangen und nur dieser minimale zusammengeschrumpfte Flächenrest sichtbar bleibt, wird das Gebilde ganz unkenntlich, die plastische Vorstellung wird lahm und zieht den dargestellten Menschen nicht mehr gleichsam in seiner ganzen Länge auseinander. Es tritt ein Hemmnis im leichten Vorstellungsverlauf ein. Es folgt daraus, daß solche Stellungen zu bevorzugen sind, die dadurch sofort kenntlich und leicht zu erfassen sind, daß sie möglichst viel in die Flächenansicht rücken. In der Natur erscheinen die Gegenstände, wenn wir sie aus der Ferne fixieren, flach im Verhältnis zu der starken und brutalen Modellation, mit der sie uns in der Nähe entgegentreten; sie glätten sich mit der Entfernung immer mehr, wirken aber im Ge-
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samteindruck immer rund, weil die allgemeine Raumvorstellung nur alles plastisch erscheinen läßt. Im Bilde muß die Anregung zur Tiefenvorstellung die Modellierung der Flächenerscheinungen übernehmen. Stellen wir uns einen Gegenstand von Ferne gesehen vor, so werden eine Menge Differenzen, die ihm im Tiefenmaß zukommen, sich zu einem Flächeneindruck vereinigen, andere werden sich auch da behaupten und im Gegensatz zu den als einheitliche Flächeneindrücke geeigneten Differenzen noch wirksamer, stärker werden. In diesem Sinne muß der Künstler die Einzelgegenstände, die er zu einem Bilde vereinigen will, durcharbeiten. Es wird eine Gruppierung und Sonderung der Formen eintreten, und für die materiellen dreidimensionalen Formverhältnisse werden in dem gegebenen Flächenbilde allgemeine schlagende Erscheinungsgegensätze entstehen. Die tatsächlichen dreidimensionalen Formverhältnisse transformieren sich in sprechende Gegensatzverhältnisse, und diese machen sich frei vom meßbaren Tatbestand der materiellen Form; die reale Form wird zur bildlichen Vorstellung, indem sie sich in dieser Fassung als ein Zusammenwirken von Erscheinungsgegensätzen darstellt. Die hier dargelegte Klärung der Erscheinungsweise der Einzelgegenstände erhält ihre Bedeutung aber erst durch ihr Verhältnis zur Gesamterscheinung des Bildes. Die Erscheinung der räumlichen Natur entsteht, wie wir gesehen haben, durch das Gegeneinanderwirken von Flächen zu Tiefenvorstellungen. Es handelt sich also um eine Gestaltung der einzelnen Flächenwirkungen in Rücksicht auf ein solches Gegeneinanderwirken, um eine Anordnung von Flächenwirkungen, welche auf eine Modellierung durch eine gemeinsame Tiefenbewegung berechnet ist. Diese Tiefenbewegung kommt, wie wir wissen, wiederum durch Kontraste zustande, die den Einzelgegenstand in ein Verhältnis zu seiner Umgebung, zu dem Gesamtraum setzen. Denken wir uns nun, daß wir, durch Anwendung der verschiedenen Mittel für Raumwerte, dies Verhältnis des Gegenstandes zum Raum steigern und damit eine immer stärkere allgemeine Tiefenbewegung hervorrufen können, so läßt sich leicht begreifen, daß in dieser Steigerung die eigentliche modellierende Gestaltung der gesamten Flächenwirkung liegt. Das Problem bezieht sich dann auf das Verhältnis, in dem die Figur zum Hintergrund steht und auf die Ausnützung der Mittel, welche dabei in Frage kommen. Wir vergegenwärtigen uns nun nochmals die Frage, in welcher Art das reine Fernbild als Totalwirkung die Raumvorstellung erzeugen kann. Wir haben uns überzeugt, daß für einen einheitlichen Standpunkt das reale bestimmte Volumen der darzustellenden Dinge keine Bedeutung hat und daß wir eines klaren Flächenbildes und einer allgemeinen Tiefenempfindung bedürfen. Für die Einheit der allgemeinen Tiefenbewegung ist es zunächst nötig, daß die Ausgangsschicht unseres Sehens klar zusammengehalten ist und sich ausspricht - sonst ist es möglich, daß ein Teil des Dargestellten uns entgegenstrebt und sich von der übrigen Tiefenbewegung trennt. Es darf nichts aus dem Bilde auf uns zukommen, sondern wir müssen in das Bild hineinschreiten, um eine einheitliche Raumempfindung zu erhalten. Von dieser Ausgangsschicht aus erstreckt sich das ganz mit Form- und Raumvorstellung auszufüllende Volumen. Dieses Volumen hat sich, wie wir gesehen haben, im Bilde durch Gegensätze auf der Fläche auszudrücken. Alle gegenständliche Er-
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scheinung wird als sich zur Flächenempfindung glättend aufgefaßt. Es entsteht nun eine Gliederung des darzustellenden Gesamtvolumens in Flächenschichten, die sich durch die auf der Bildfläche angebrachten Erscheinungsgegensätze für die Vorstellung aussprechen und, indem sie sich parallel hintereinander reihen, das Gesamtvolumen ausmachen. Damit in dem Gesamtbild für die Vorstellung keine Verwirrung entstehe, müßten die in den einzelnen Flächenschichten sich darstellenden Gegenstände durch ein gemeinsames Tiefenmaß klar zusammengehalten werden, während die verschiedenen Flächenschichten wiederum das gemeinsame Tiefenmaß des Gesamtvolumens darzustellen haben. Es handelt sich also darum, den Wechsel von Flächenerscheinungen und deren Abstufungen in der Tiefenordnung so zu ordnen, daß im Ganzen das Flächenbild einheitlich dasteht und zugleich ein allgemeines Tiefenmaß sich ausdrückt. So werden die Formen, ihre plastische Vielheit zu einer allgemeinen Form geeinigt, zusammengebunden, als Einheit gefaßt. Es ist einleuchtend, daß diese so entwickelte Vorstellungsweise sich auf alles bezieht, was überhaupt dreidimensional vorgestellt wird, gleichviel ob es sich um die Darstellung einer Einzelfigur oder einer weiteren Gesamtheit handelt. Sie ist gleichsam das Gefäß, in welches der Künstler das Leben schöpft, in welchem er dasselbe festhält. Die allgemeinen Gesetze unseres Verhältnisses zum Raum werden durch sie in der Kunst festgehalten; durch sie erst wird die Natur für unsere Vorstellung geformt und dadurch eigentlich erst geschaffen. Zu allen Zeiten ist sie das Kennzeichen künstlerischer Empfindung: Ein Mangel dieser Vorstellungsweise bedeutet einen Mangel an künstlerischem Verhältnis zur Natur; sie erst setzt uns in ein sicheres Verhältnis als Schauende zur Natur; durch sie erst entsteht der Schwerpunkt für die tausendfaltig bewegte Anschauung, ihre Stabilität und Klarheit.