Populare Kultur: Gehen - Protestieren - Erzählen - Imaginieren
 9783412212377, 9783412205089

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Bernd Jürgen Warneken Populare Kultur

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Bernd Jürgen Warneken

Populare Kultur Gehen – Protestieren – Erzählen – Imaginieren Herausgegeben von Thomas Fliege, Silke Göttsch-Elten, Kaspar Maase, Ralph Winkle Mit einer Nachbemerkung von Stefan Beck

2010 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

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Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Hans Böckler-Stiftung, des Fördervereins Schwäbischer Dialekt e.V., des Tübinger Forschungsinstituts für Arbeit, Technik und Kultur (F.A.T.K.), der Stiftung für Kunst und Wissenschaft der Hypo Real Estate Bank International AG und der Stiftung Landesbank Baden-Württemberg

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Titelzeichnung aus Süddeutscher Postillon, 28. Jg. 1901, Nr. 1. © 2010 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Satz: Redaktionsbüro Patrick Tilke, Tübingen Druck und Bindung: Strauss GmbH, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-20508-9

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Inhalt

     5 Zu diesem Band

Thomas Fliege, Silke Göttsch-Elten, Kaspar Maase und Ralph Winkle

Grundlegungen    9 Zum Kulturbegriff der Empirischen Kulturwissenschaft   17 Ver-Dichtungen

Zur kulturwissenschaftlichen Konstruktion von »Schlüsselsymbolen«   33 Volkskundliche Kulturwissenschaft als postprimitivistisches Fach

Gehen   57 Biegsame Hofkunst und aufrechter Gang

Körpersprache und bürgerliche Emanzipation um 1800   71 Fußschellen der Unmündigkeit

Weibliche Gehkultur in der späten Aufklärung   83 Kleine Schritte der sozialen Emanzipation

Ein Versuch über den unterschichtlichen Spaziergang um 1900

Protestieren 107 »Massentritt«

Zur Körpersprache von Demonstranten im Kaiserreich

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129 »Aufrechter Gang«

Metamorphosen einer Parole des DDR-Umbruchs 141 »Vorwärts, doch nichts vergessen!«

Zum Gebrauchs- und Bedeutungswandel sozialistischer Symbolik in Ostdeutschland seit 1989 155 Über das Pfeifen

Erzählen 167 Zur Schichtspezifik autobiographischer Darstellungsmuster 185 Schreibkulturen

Von den unterschiedlichen Schreiberfahrungen in der älteren Generation 211 Die Gôgenwitze oder Tübinger Volkskultur in der Moderne

Imaginieren 227 Die Stunde der Laien

Eine Studie über populare Apokalyptik der Gegenwart 249 Zeppelinkult und Arbeiterbewegung

Eine mentalitätsgeschichtliche Studie 269 Der schöne Augenblick

Eine Exploration

281 Nachbemerkung

Stefan Beck 287 Drucknachweise 288 Abbildungsnachweise

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Zu diesem Band Thomas Fliege, Silke Göttsch-Elten, Kaspar Maase und Ralph Winkle

Ein Buch wie das vorliegende herauszugeben, macht eine ganze Menge Arbeit. Warum haben wir uns der Mühe unterzogen? Es gibt einen äußeren Anlass; auf den kommen wir noch zu sprechen. Doch motiviert hat uns die ebenso schlichte wie zwingende Tatsache, dass da jemand etwas zu sagen hat. Und zwar zu einem Thema, das akademische Sozialund Kulturwissenschaften anhaltend vernachlässigen, wenn sie es nicht gar mit dem Repetieren von »Unterschicht«-Stereotypen verwechseln: Es geht um Handlungsmuster und Ausdrucksformen, die in besonderer Weise Menschen mit einfacher und mittlerer Bildung und sozialer Position kennzeichnen – kurzum: Gegenstand ist populare Kultur. Dahinter steht ein Erkenntnisinteresse, das mit Empathie treffend bezeichnet ist: das Bemühen, sich in Weltsicht und Lebenserfahrung anderer hineinzudenken und (wenn angemessen) auch einzufühlen – ohne sich blind zu machen für Defizite und bedrohlich regressives Poten­zial. Von »intersozialem Dolmetschen« aus aufklärerischer Verpflichtung heraus spricht Stefan Beck in seiner Nachbemerkung, und an solchen Übersetzungsarbeiten herrscht in diesem Land und seiner Wissenschaftsszene gewiss kein Überfluss. Die Aufsätze dieses Bandes sind verstreut und zum Teil an entlegenen Orten erschienen, daher nur schwer greifbar. Unserer Meinung nach lesen sie sich frisch und anregend wie zum Datum des Erscheinens, in ihren empirischen Befunden keineswegs überholt durch neuere Forschung. Und in der fokussierenden Zusammenstellung entfalten sie weiterhin eine durchaus programmatische Kraft. Insgesamt nehmen sie eine ganze Epoche deutscher Kulturgeschichte in den Blick, von der bürgerlichen Entdeckung und Formierung des Gehens im späteren 18. Jahrhundert über die Massenbewegungen im Umbruch und Ende der DDR bis zur popularen Apokalyptik der Gegenwart. Es handelt sich um prägnante mikrologische Miniaturen, nah am Material argumentierend und geschrieben in präziser, differenzierter Sprache, die mit rhetorischer Kompetenz das kognitive Vergnügen von Autor und Lesern steigert. Die Texte bewegen sich bewusst unterhalb der großen kulturwissenschaftlichen Konzepte von Eigensinn und Praxis, Distinktion und Widerständigkeit. Mit genauem Blick auf Körper-Bewe­gun­gen, Symbole, Stimmungen und Diskurse leuchten sie das Feld der popularen, »subalternen« Kulturen aus und stellen es souverän in sozialhistorische Kontexte. Daraus ergibt sich eine im besten Sinne engagierte Kulturgeschichtsschreibung – ohne Romantisierung der »einfachen Leute«, mit Gespür und Aufmerksamkeit für Vielschichtiges, Ambivalenzen und Übergänge, und stets bestimmt vom Wissen um Macht und Ohnmacht, Gewalt und Erleiden, soziale Hierarchien und die Sehnsucht nach einem besseren Leben.

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Zu diesem Band

Das zu den inhaltlichen Gründen für die vorliegende Auswahl. Den Anlass für diese Sammlung gab uns der 65. Geburtstag von Bernd Jürgen Warneken. Der Dialektiker weiß, dass Ursachen alleine nichts zuwege bringen – sie brauchen historische, kontingente Anlässe, um praktisch wirksam zu werden, und sie verändern sich auch mit den Anlässen. In diesem Fall haben wir ein persönliches, vermutlich nicht nur von den Herausgebern geteiltes Motiv, nämlich Dank abzustatten an einen Kollegen, von dessen intellektuellen Kompetenzen wie menschlichen Qualitäten wir bei vielen Gelegenheiten profitiert haben. Der Band ist in Absprache mit dem Autor und mit seiner Unterstützung entstanden; Auswahl und Schwerpunktsetzung verantworten die Herausgeber. Die Aufsätze sind behutsam an die neue Rechtschreibung angepasst, im Text aber gegenüber der Erstpublikation nicht nennenswert verändert worden. In einigen Fällen hat Bernd Jürgen Warneken kleine sprachliche Korrekturen vorgenommen; an einer Stelle wurden Überschneidungen beseitigt. Danken möchten wir auch denen, die auf ganz unterschiedliche Weise die Realisierung des Bandes unterstützt haben: Reinhard Bahnmüller, Hermann Bausinger, Agnes Obenhuber, Patrick Tilke, Katharina Winkler, Ina Wulff. Stefan Beck sind wir verbunden für die Bereitschaft, recht kurzfristig einen begleitenden Text beizusteuern. Schließlich sind die finanziellen Förderer zu nennen, die den Druck ermöglicht haben: die Hans BöcklerStiftung, der Förderverein Schwäbischer Dialekt e. V., das Tübinger Forschungsinstitut für Arbeit, Technik und Kultur (F. A. T. K.), die Stiftung für Kunst und Wissenschaft der Hypo Real Estate Bank International AG und die Stiftung Landesbank Baden-Württemberg. Danke, herzlichen Glückwunsch und alles Gute, Bernd Jürgen!

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Zum Kulturbegriff der Empirischen Kulturwissenschaft

Die Empirische Kulturwissenschaft (EKW) ging, wie die Europäische Ethnologie in Berlin, Frankfurt/Main oder Marburg, aus der Volkskunde hervor und gehört nach wie vor dem volkskund­lichen Fachverbund an. Untersuchungsfelder, Frage­stellungen und Methoden des kleinen Fachs EKW überschneiden sich stark mit denen von Kultursoziologie, Ethnologie, Sozial- und Kulturgeschichte, und die Forschungsarbeiten dieser meist größeren Nachbarfächer nehmen in unserer Tübinger Institutsbibliothek min­destens ebenso großen Raum ein wie volkskundliche Studien. Analog dazu stammt auch die kulturtheoretische Ausstattung der ­EKW nur teilweise aus eigener Werkstatt. Gleichwohl sind die Theorieimporte in die EKW fach­spezifischen Auswahl- und Bearbeitungsverfahren unterworfen, wobei sich einige der traditionell-volkskundlichen Leitlinien und Leitdifferenzen als über alle Fachreformen hinweg persistent erweisen. Was eine EKW-Studentin – Frauen stellen bei uns schon lange die Mehrheit der Studierenden – quasi schon mit dem Immatrikulationsschein unterschreibt, ist der sogenannte »weite Kulturbegriff«. Insofern dieser für die Überzeugung steht, dass sich Persönlichkeitsentfaltung nicht nur im Bereich der Hochkultur abspielt, ist er nach wie vor nützlich, wenn auch nach der kulturellen Entmachtung des Bildungsbürgertums kaum mehr brisant. Insofern er den Gegen­standsbereich der EKW abstecken will, taugt er zur Abgrenzung von einigen heute ebenfalls als Kulturwissenschaft firmierenden Fächern wie Kunst-, Literatur-, Kommunikations- oder Medienwissenschaft, fasst jedoch zwei verschiedene Themenbereiche der heutigen EKW zusammen, die auch zwei sehr unterschiedliche Geltungsansprüche des Faches mit sich bringen. In seiner einen Bedeutung knüpft der »weite Kulturbegriff« an die traditionelle Befassung der Volkskunde mit Volkskultur an: Er meint sowohl populare als auch populäre Kunst-, Glaubens-, Wissens- und Kommunikationsformen. Das reicht von Unterhaltungskünsten, Spielen und Festritualen über Wandschmuck, Kleidungs- und Frisiermoden bis zu den sogenannten »einfachen Formen« der Alltagskommunikation vom Witz bis zur autobiographischen Erzäh­lung. Anders als viele Vertreter eines engen, bildungsbürgerlichen Kulturbegriffs verstand das vor etwa hundert Jahren institutionalisierte Fach Volkskunde voroder unterbürgerliche Sitten, Riten, Aberglaubensvorstellungen nicht als kulturlose, d. h. der Ordnung und Moralität entbeh­rende Erscheinungen, sondern als primordiale Denkund Verhaltensweisen – hier wirkte das primitivistische Paradigma der frühen Ethnologie (verbunden mit Namen wie Edward B. Tylor und Adolf Bastian) –, welche die Basis für alle »hochkulturelle« Entwicklung darstellten. So suchte z. B. Albrecht Dieterich 1902 in seinem einflussreichen Vortrag »Über Wesen und Ziele der Volkskunde« die Beschäftigung

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mit den »untern Schich­ten des Gesamtvolkes« dadurch aufzuwerten, dass er Volksüber­ lieferung, volkstümliche Gemeinschaftsformen usw. zu Repräsen­tanten einer »orga­nisch zusammen­gehörige(n) Unter­schicht alles geschichtlichen Volkslebens« macht, »aus deren Mutterbo­den alle individuelle Gestaltung und persönliche Schöpfung herausgewach­sen« (Dieterich 1902, 175) sei. In der späteren Fachentwicklung wurde diese Auffassung von der gesamtkulturellen Relevanz von Unterschichtkulturen unter neuen gesellschafts- und kultur­theoretischen Vorzeichen auch auf andere Gruppen angewandt: z. B. auf die Arbeiterkultur, die nicht als bloße Elendskultur, sondern als zumindest partielle und potentielle Avantgardekultur bewertet wurde – ob ihrer Solidarstrukturen, aber auch wegen ihres Technikinter­esses oder ihrer Offenheit für neue Medien wie z. B. das Kino. In der Gegenwart überlebt das Interesse an einer nicht als eigenständig, wohl aber als eigendynamisch gedachten Volkskultur zum einen in der Zuwendung zu kulturellen Praxen unterer und marginalisierter Sozialgruppen, zum anderen zu populären Formen der Alltagsästhetik und der massenmedialen Unterhaltung, wobei die primitivistische Traditionslinie latent weiterexistiert – in der Zuwendung zum real oder scheinbar Unzivilisierten (z. B. dem Verhalten von Fußballfans) oder dem Interesse an körperbezogenen Symbolen und Ritualen (vom Vergraben der Placenta bis zum Tätowieren und Piercing). Bei der Theoretisierung dieser nichthegemonialen, im Bourdieuschen Sinn illegitimen Kultur­praktiken kämpft die EKW mit zwei zumindest auf den ersten Blick widersprüchlichen Optio­nen. Als ethnographisches Fach, das stets der Intelligenz die ihr fremde oder fremdgewordene Volkskultur näherbringen wollte, steht es dem ethnologischen Kulturrelativismus nahe; die Charta der American Anthropological Association, welche die Unvergleichbarkeit und Gleich­wertigkeit von Kulturen erklärt, gilt grosso modo auch für die EKW-Sicht auf unterbürgerliche Kulturen und Lebensweisen. Auf der anderen Seite wirkten und wirken auf das Fach, das sich ja nicht mit außereuropäischen Gesellschaften, sondern mit binnennationalen Beziehungen von Eliten- und Volkskultur, von bürgerlicher und Arbeiterkultur usw. beschäftigt hat, soziologische Ungleich­heitstheorien ein, die auf innere und äußere constraints popularer Kulturäußerungen hin­weisen, welche deren Gleichwertigkeit mit der hegemonialen Kultur – auch in den Augen der Akteure selbst – verhinderten; solche Auffassungen verbinden sich traditionell mit interventio­nistischen Konzepten, deren Praxisspektrum von der in der Tradition der Bauernaufklärung stehenden Landfrauenarbeit bis zur Gewerkschaftskulturarbeit reicht. Eine Balance zwischen kulturrelativistischen Gleichwertigkeits- und Eigenwerttheorien und sozialkritischen Abhängigkeits- und Restriktionstheorien sucht man in der EKW durch die Formel vom »Eigensinn« der Popularkultur zu finden. Der Griff nach dieser zuerst durch Oskar Negt und Alexander Kluge bekannt gewordenen Prägung hat ebenfalls seinen fachhistorischen Vorlauf. Die Antithetik von »schöpferischem Volksgeist« und »nurrezeptiver Unterschichts­kultur« ausgleichend, einigten sich viele Volkskundler schon früh auf das Axiom von der »kreativen Umwandlung« hegemonialer Vorgaben durch die unteren Bildungsschichten (vgl. z. B. Spamer 1924). Diese Fachtradition macht die EKW heute einerseits für solche konsum- und medientheoretischen Auffassungen empfänglich, wel-

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che den Akzent nicht auf die Analyse der Angebotsseite, sondern der als eigenständig bis kreativ interpretierten Auswahl- und Deutungsakte der Kunden bzw. Rezipienten legen. Dabei kann es durchaus zur konstruktivistischen Fortsetzung romantischer Volkskreativitäts-Vorstellungen kommen. Doch da die EKW als ethnographisches Fach den sozialen Kontext kultureller Praxen einzubeziehen sucht und dabei oft nicht darum herumkommt festzustellen, dass populare Kulturtätigkeit selten den Rahmen der aktiven Enkulturierung in eine subalterne gesellschaftliche Position sprengt, bleibt die Auffassung von Kultur als Ausdrucks­mittel sozialer Ungleichheits- und auch Herrschaftsverhältnisse im Fach ebenfalls virulent. Man kann dies ein unentschiedenes Schwanken zwischen widersprüchlichen Positionen nennen, aber auch von einer produktiven Spannung sprechen, welche realen Ambivalenzen der Popularkultur gerecht wird. Neben der Beschäftigung mit den bisher skizzierten Kulturformen, die zwar oft eng mit Alltagspraxen verbunden, aber doch relativ verselbständigt sind, fühlt sich die EKW jedoch, wie gesagt, auch einem anderen, noch weiteren Begriff von Kultur verpflichtet. Im seit 1973 gültigen Studienplan des Fachs wird er mit dem knappen Satz angesprochen, EKW befasse sich mit der »kulturalen Seite von Gesellschaft«; heute greift man eher zu der ebenfalls aus dem Jahr 1973 stammenden Formulierung von Clifford Geertz, Kulturanalyse begreife »mensch­liches Verhalten als symbolisches Handeln« – wobei er ebenso vorsichtig wie lax den Zusatz »als zumeist symbolisches Handeln« hinterher schiebt (Geertz 1987, 16). Wie die Kulturanthropologie auch, definiert die EKW als Kultur in diesem weiten Sinn die Annahmen, Vorstellungen, Werte, Normen, welche gesellschaftliche Praxis und deren Objektivationen durchwirken. Bei dieser Kulturalisie­rung des Sozialen bedient sich das Fach in eklektischer Weise bei verschiedenen Ansätzen, z. B. beim Symbolischen Interaktionismus oder der Schützschen, von Berger und Luckmann weiter­entwickelten Phänomenologie. Eine besondere Rolle spielt jedoch seit den achtziger Jahren die Bourdieusche Habitus­theorie. Das gilt insbesondere, aber nicht nur für die Tübinger EKW; wie der Herausgeber der volkskundlichen Bibliographie, Rainer Alsheimer, ausgezählt hat, war Bourdieu über lange Zeit der nach Hermann Bausinger in der deutschsprachigen Volks­ kunde meistzitierte Autor. In den Augen etlicher soziologieferner, der Literatur-, Kunst- und Religions­ge­schi­chte näherstehender FachvertreterInnen handelt es sich bei diesem Bourdieu-Boom eher um ein modisches Fremdgehen; dabei wird jedoch übersehen, dass die Bourdieusche Habitus- und Distinktionstheorie zahlreiche Korrespondenzen zum volkskundlichen style of reasoning aufweist. Das gilt einmal für die Betonung der Klassen- oder Schichtspezifik symbolischer Praxen oder Praxissymboliken mit ihrer starken Differenzierung von popularer und legitimer Kultur, welche an die volkskundliche Dichotomie und Dialektik von Elite- und Volkskultur erinnert. Es trifft aber auch für Bourdieus Habitusauffassung zu, die von der Existenz a) kollekti­ver, b) relativ stabiler und c) großenteils spontanisierter Denk- und Verhaltensmustern ausgeht. Es ist weniger verwegen, als es zunächst scheinen mag, in diesem Habitusbegriff einige Par­allelen zu Volksgeist- und Volksseele-Auffassungen der frühen Volkskunde zu sehen. Erinnert sei zum Beispiel an Moritz Lazarus’ und Heymann Steinthals Konzept

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der Völkerpsychologie, das die Einbindung individuellen Wissens und Gewissen, Fühlens und Wollens, Tuns und Genießens in einen »Volks-, Familien- und Standes-Geist« postulierte (Lazarus/Steinthal 1860, 4), was ja durchaus Bourdieus Gedanken nahekommt, dass »die Gesamtheit der Praxisformen eines Akteurs (…) als Anwendung identischer Schemata« (Bourdieu 1982, 278) anzusehen sei, die er mit einer bestimmten Sozialgruppe teile. Auch der Begründer der Schweizerischen Volkskunde, Eduard Hoffmann-Krayer, kommt in manchem dem Habitusbegriff nahe, wenn er als Aufgabe der Volks­kunde »die Erforschung des Gewohnheitsmässigen, Stagnierenden im Volksgeiste« bestimmt, »Volk« dabei einen »socialen Begriff« nennt und die Gemeinsamkeit bestimmter Vorstellungen weder idealistisch noch biologistisch, sondern als »durch äussere Lebensumstände bedingt« bezeichnet. Bourdieu-kompatibel ist überdies die Auffassung von Hoffmann-Krayer, dass das Gewohnheitsmässige zwar »mechanischen« Charakter habe, jedoch auch von »intentionellen Geistesbewegungen« aufgegrif­fen und weiter ausgebildet werden könne. Als Beispiel dafür nennt er die Revitalisierung des Kölner Karnevals (der Basler Hoffmann-Krayer nennt ihn »Fastnacht«), der als volkstümli­che Tradition verschwunden gewesen sei, bis 1823 ein Komitee »die Umzüge anzuordnen begann« (Hoffmann-Krayer 1897, 10). Von hier führt ein ziemlich ebener Weg zur aktuellen volkskundlichen Forschung, welche neben Nachweisen der longue durée eines kollektivem Unbewussten immer wieder Beweise für die invention of tradition geliefert hat. Prominente Beispiele für beides finden sich z. B. bei Utz Jeggle, der in seiner Dorfstudie »Kiebingen« schrieb, wömöglich litten die Menschen noch heute am Hunger ihrer Vorfahren ( Jeggle 1977, 280). Und zusammen mit Gottfried Korff in einem Aufsatz über den »Homo Zillertaliensis« lange vor der konstruktivistischen Wende in der Ethnizitätsdebatte den klassischen Tirolerbuam als Produkt einer Selbstvermarktungsstrategie decouvrierte ( Jeggle/Korff 1974). Auch Lazarus und Steinthal zeichneten im Übrigen schon das Doppelgesicht kollektiver Identitäten als teils objektiv vorhanden, aber subjektiv unerkannt, teils subjektiv behauptet, aber objektiv keineswegs gegeben. Zum ersteren rechnen sie Gemeinsamkeiten wie Abstammung, Sprache, Sitten, zum letzteren etwa das Volks- oder Nationalbewusstsein, das sie als Ergebnis eines permanenten, wie man heute sagen würde, »doing nation« bezeichnen: »Volk ist ein geistiges Erzeugnis der Einzelnen, welche zu ihm gehören; sie schaffen es nur unaufhörlich. Genauer ausgedrückt ist Volk das erste Erzeugnis des Volksgeistes. (…) Der Begriff Volk beruht auf der subjektiven Ansicht der Glieder des Volkes von sich selbst, von ihrer Gleichheit und Zusammengehörigkeit« (Lazarus/Steinthal 1860, 36). Allerdings sind die inneren Bezüge zwischen der gegenwärtigen, nach-völkischen Auffassung kultureller Identität und der vor-völkischen Volkspsychologie eines Lazarus/Steinthal selbst eher objektiv als subjektiv; die Wiederentdeckung dieser in der Grün­derzeit der Volkskunde einflussreichen Kulturtheoretiker hat erst vor kurzem begonnen. Das längere Verweilen bei den Begriffen kulturelle Identität bzw. Habitus sollte nicht bedeu­ten, dass die EKW, insofern sie mit diesen Begriffen arbeitet, symbolische Praxis lediglich als Manifestation eines vorgängigen Regelsystems betrachtet. Bour­dieu selbst kritisiert Theorien, welche »die Praxis zu einer mechanischen, durch die vorhergehenden Bedingun-

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gen unmittelbar determinierten Reaktionsform stempeln« (Bourdieu 1979, 169). Das gilt natürlich auch für habituelle Dispositio­nen. Innerhalb des Fachs hat vor allem Stefan Beck in seiner Dissertation »Umgang mit Tech­nik« diese Tatsache herausgearbeitet (Beck 1997). Er stützt sich dabei unter anderem auf Ansätze von Hans Joas, Michel de Certeau und Sally Falk Moore. Moore fasst ihre Kritik an Tendenzen, soziale Praxis strukturalistisch still zu stellen, in den Sätzen zusammen: »Order never fully takes over, nor could it. The cultural, contractual, and technical imperatives leave gaps, require adjustements, and are themselves full of ambiguities, inconsistencies, and often contradictions« (Moore 1975, 220). In diesem Sinn entwirft Beck ein Forschungskonzept, das dem konstitutiven Situationsbezug von Praxis und ihrem deshalb unabdingbaren Moment von Kreativität und das heißt: der transitorischen lokalen Präsenz nicht nur äußerer Abläufe, sondern auch von Praxisbedeutungen gerecht wird. Mit ähnlicher Stoßrichtung hat Klaus Amann kürzlich Geertz dafür kritisiert, dass er symbolische Praxis mit der Interpretation einer musikalischen Partitur, mit anderen Worten einem Nachvoll­zug von Normen oder Regeln gleichsetze und damit »konstruktive Aktivitäten«, die eher dem Akt des Komponierens gleichkämen, außer Acht lasse (Amann 1997, 302). Die EKW, die der Vergangenheit bevorzugt mit den Mitteln der Microhistoire und der Gegenwart durch autoptisches Fallstudium beizukommen sucht, hält die Materialien für eine Analyse der dialektischen Beziehungen zwischen einer solchen »Situativkultur« und kulturellen Regelsystemen schon lange in Händen; sie muss diesen Diaman­ten freilich noch besser schleifen lernen. Die in dieser Skizze zuerst genannte Erweiterung der Kulturforschung, die Zuwendung zur nach herrschender Meinung inferioren Volks- und Alltagskultur, hat dem Fach das Image der Bescheidenheit, aber auch ein bescheidenes Image gegeben. Sulpice Boisserès auf die Brüder Grimm gemünztes Spottwort von der »Andacht zum Unbedeutenden« hat die EKW bis heute begleitet. Die in der letzten Zeit immer deutlichere Zuwendung zu einem kulturanthropologi­schen Zuschnitt der eigenen Theorie und Praxis erweitert den Geltungsanspruch des Fachs. Das Postulat der Kulturdurchwirktheit aller gesellschaftlichen Handlungsebenen und Handlungssysteme macht auch die EKW zumindest theoretisch zu einer Hyperwissenschaft, die sich in die Bereiche und Diskurse anderer Fächer einzumischen gewillt ist. Dass dies Selbstverständnis freilich in einen Kultur-Imperialismus ausarten kann, ist in letzter Zeit im Fach selbst des öfteren kritisch vermerkt worden. Wolfgang Kaschuba, aus der Tübinger EKW stammender Europäischer Ethnologe an der Humboldt-Universität, wies insbesondere auf die Gefahr hin, dass der »culturalist approach« eine Ausblendung sozialer und ökonomischer Handlungs- und Deutungsbedingungen mit sich bringe, und warnte davor, unterschiedliche soziale Lagen und divergierende ökonomische Interessen primär in Begriffen kulturaler Identität und kulturaler Differenz zu fassen (Kaschuba 1994). In diesem Punkt scheint mir das Fach freilich, aufgrund seiner schon angesprochenen, zum Teil ja institutionalisierten Nähe zur Soziologie und Sozialhistorik eine eingebaute Bremse zu haben. Auch als ethnographisches und nicht nur symbolwissenschaftliches Fach hat es ein Sensorium dafür behalten, dass soziale Ereignisse nicht in ihrer symbolischen Dimension aufgehen und diese symbolische Dimension selbst kein

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geschlossenes, sich autonom fortentwickelndes Handlungssystem darstellt. Die intensive Rezeption Bourdieus, welcher kulturale Systeme Interaktionsformen, Habitusprägungen usw. immer strikt auf sozialen Rahmendingungen bezogen, wenn auch nicht an sie gekettet hat, spricht für diese Sichtweise. Etwas anders steht es um die Beachtung biologischer Faktoren sozialen und kulturellen Handelns, mit der sich viele FachvertreterInnen äußerst schwer tun. Dabei handelt es sich teilweise sicherlich um eine Gegenreaktion auf die Verstrickungen der Volkskunde in rassistische und eugenische Programmatiken der NS-Zeit, vor allem aber auch um Rückschlüsse aus der kulturanthropologischen Forschung überhaupt, welche eine hohe interkulturelle und historische Variabilität von Körpererfahrungen, von Krankheits­definitionen und vor allem der sozialen Kompetenzen und Bedürfnisse, die mit körperlichen, z. B. Geschlechtsmerkmalen verbunden werden, nachgewiesen hat, wobei diese Variabilität offen­sichtlich nicht nur mit dem Stand der natur­wissenschaftlichen Erkenntnisinstrumente, sondern auch mit sozialen Kontexten, mit Produktionsverhältnissen, Gruppenmentalitäten und Deu­tungs­traditionen korreliert. Bis vor kurzem konzentrierte sich diese kulturologische De­konstruk­tion biologistischer Kultur- und Gesellschaftsauffassungen, dem traditionellen Gegenstandsbereich der Volkskunde entsprechend, auf populärwissenschaftliche und populäre Auffassungen, wobei seit den 1980er Jahren Konstruktionen von Weiblichkeit und Männlichkeit sei’s in der bäuerlichen, sei’s der bürgerlichen oder der Arbeiterkultur im Mittel­punkt standen. Inzwischen wagen sich einzelne Fachvertreter, angeregt u. a. durch die US-amerikanische Anthropology of Science and Technology, auch an die Analyse naturwissenschaftlicher Wissensproduktion selbst. Dies ist zweifellos Ausdruck des gewachsenen Kompetenzbewusst­seins unseres Fachs, zugleich aber auch, soviel ich übersehen kann, eines wachsenden Interesses an einer empirischen Überprüfung dieser Kompetenz und einer Bereitschaft, sich von den Nicht­kulturologen auch deren Grenzen vor Augen führen zu lassen. Insgesamt lässt sich in unseren Fachdiskussionen eine wieder zunehmende, post-, nicht antikonstruktivistische Offenheit z. B. für die Erkenntnis, dass physische Anlagen nicht bloße Hohlgefäße für beliebige kulturale Füllungen, sondern Wirkkräfte darstellen – allerdings mit dem kulturologischen ceterum censeo verbunden, dass diese nicht nur durch Gesellschaftsgeschichte höchst unterschiedlich geformt, sondern auch unterschiedlich gedeutet werden, wobei diese Deutungen materielle Praxen und damit rückwirkend Natur verändern können. Es mag Soziobiologen geben, die selbst diese vorsichtige Formulierung noch als zu kulturalistisch und bloßen Ausfluss des »egoistischen Gens« von Kulturwissenschaftlern bewerten, die ihre Pfründe verteidigen. Der Versuch, uns von dieser These zu überzeugen, brächte die Soziobiologie freilich in ein Dilemma. Denn wenn wir uns von unserem Fachegoismus durch Argumente abbringen ließen, spräche ja eben dieses für die Nichtexistenz eines genetisch angelegten Egoismus oder aber seine Überschreitbarkeit, zu­mindest Umprägbarkeit durch Kultur.

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Literatur Amann, Klaus (1997): Ethnographie jenseits von Kulturdeutung. Über Geigespielen und Molekular­bio­ logie. In: Stefan Hirschauer/Klaus Amann (Hg.): Die Befremdung der eigenen Kultur. Zur ethnographi­ schen Herausforderung soziologischer Empirie. Frank­furt am Main, 298‑330. Beck, Stefan (1997): Umgang mit Technik. Kulturelle Praxen und kulturwissenschaftliche For­schungs­ konzepte. Berlin. Bourdieu, Pierre (1979): Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kaby­ lischen Gesellschaft. Frankfurt am Main. Ders. (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frank­furt am Main. Dieterich, Albrecht (1902): Über Wesen und Ziele der Volkskunde. In: Hessische Blätter für Volks­kunde, Bd. 1, 169‑194. Geertz, Clifford (1987): Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur. In: Ders.: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt am Main, 7‑43. Hoffmann-Krayer, Eduard (1897): Zur Einführung. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde, 1. Jg., 1‑12. Jeggle, Utz (1977): Kiebingen – eine Heimatgeschichte. Zum Prozess der Zivilisation in einem schwä­ bischen Dorf. Tübingen. Jeggle, Utz/Gottfried Korff (1974): Zur Entwicklung des Zillertaler Regionalcharakters. Ein Beitrag zur Kulturökonomie. In: Zeitschrift für Volkskunde, 70. Jg., 39‑57. Kaschuba, Wolfgang (1994): Kulturalismus: Vom Verschwinden des Sozialen im gesellschaftlichen Diskurs. In: Berliner Journal für Soziologie, 4. Jg., H. 2, 179‑192. Lazarus, Moritz/Heymann Steinthal (1860): Einleitende Gedanken über Völkerpsychologie, als Einladung zu einer Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft. In: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft, Bd. 1, 1‑73. Moore, Sally Falk (1975): Epilogue. Uncertainties in situations, indeterminacies in culture. In: Dies./Barba­ ra Meyerhoff (Hg.): Symbol and Politics in Communal Ritual. Ithaca, 210‑245. Spamer, Adolf (1924): Um die Prinzipien der Volkskunde. In: Hessische Blätter für Volkskunde, Bd. 23, 67‑108.

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Ver-Dichtungen Zur kulturwissenschaftlichen Konstruktion von »Schlüsselsymbolen«

Es wäre nicht erstaunlich, wenn morgen in der Zeitung stünde, der Symbolkongress der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde sei selbst ein Symbol gewesen: Mit seinen über fünfzig Vorträgen, in denen einem mehrere hundert Symbole verschiedenster Herkunft und Ausprägung an den Kopf geworfen worden seien, habe die Tagung die Überfülle und Unübersichtlichkeit der postmodernen Symbol­kultur in nuce abgebildet. Eine solche Denkfigur läge jedenfalls im Trend der medialen Öffentlichkeit, die nicht nur ständig nach Symbolen, nach sinnlichen Kürzeln für bestimmte Abläufe und Zustände, sondern nach »Schlüsselsymbolen« und »Schlüsselszenen« sucht, welche als Repräsentanten komplexer Vorgänge oder Verhältnisse ins Bild gerückt werden können. Das beginnt damit, dass Schnapp­schüsse zum Symbol des Gesamt­ereig­nisses erklärt werden, bei dem sie aufgenommen wurden. Zitat aus dem Bericht über eine Niederlage der Tübinger Vol­ley­baller­innen: »Die Geste von Spielführerin Marita Hüninghake hat Symbol-Charakter« (Schwäbisches Tagblatt, 29. 12. 1994). Und als Bonner SPD-Abgeordne­te durch einen Hintereingang entwichen, während Rudolf Scharping kamera­begleitet durch den Haupteingang kam, las man: »Ein bes­seres Symbol für den neuen Wind in der SPD-Bundestagsfrakti­on hätte sich kaum finden lassen« (Süddeutsche Zeitung, 5. 11. 1994). Frei­lich auch kaum ein besseres Beispiel für die courte durée, für die manche historischen Schlüsselpersonen die Schlüssel inneha­ben. Bei etwas bedeutenderen Events vermehren sich die darge­botenen Schlüsselsymbole wie Ordensver­leihungen im Krieg. So wurden zum Beispiel beim Umbruch in der DDR ständig neue »symbol­trächtige Schlüs­selszenen« herausge­stellt: der Ansturm auf die deut­schen Bot­schaften in Prag und Budapest, der Ruf »Wir sind das Volk«, die Mauerbe­steigung am 9. November 1989. Als Schlüsselsymbole wurden unter anderem die Demon­strations­kerze, die Banane oder die D-Mark nach- und miteinander als der sinnfäl­ligste Ausdruck des Gesamtvor­gangs angebo­ten. Als architektoni­sches Sinnbild der jüngeren deutschen Ge­schich­te lag damals das Branden­burger Tor im Wettbe­ werb der Symbole ganz vorne; in diesem Sommer, man kann viel­leicht sagen: für einen Sommer, durfte sich dank Christos und Jeanne-Claudes bravourö­ser Inszenierung das Reichstagsgebäude mit diesem Titel schmücken. Ein Zitat unter vielen: Wie an keinem anderen Ort Deutschlands spiegeln sich im Berliner Reichstagsge­­ bäude die Höhepunkte und Katastro­phen der deutschen Ge­schich­te seit der durch

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Bismarck vollzoge­nen Reichseinigung. So ist der Reichstag das politische Sym­bol Deutsch­ lands, auch und gerade bezüglich der darin zum Ausdruck kommenden Wider­sprüche und Ambivalen­zen (Münkler 1995, 256). 1998, zum 150. Jahrestag der 1848er-Revolution, wird man wahrscheinlich ähnliche Sätze lesen können, in denen freilich statt vom Reichs­tag von der Pauls­kirche die Rede sein wird. Die Schlüsselsymbole, die für die oder durch die Medienöf­fentlichkeit hergestellt, vulgo: konstruiert werden, erfüllen ganz verschiedene und verschieden zu bewertende Bedürfnisse und Interessen. Zum Teil stellen sie eine Überkompensation von Mangel dar: Wenn der Zugang zu den wesentlichen Informationen versperrt ist, nimmt man – wie einst die »Kreml-Astrologie« – jeden Zipfel, der vom Mantel der Geschichte sichtbar wird, als Er­­ scheinung des Wesens, und liest die noch geheimen Konferenz­ergebnisse aus dem Kaffeesatz, den die Konferenzteilnehmer zurückgelassen haben. Häufiger jedoch ist die Konstruktion von Schlüsselsymbolen eine Kompromissbildung zwischen dem Zwang zur Selektion, den die zunehmende Zahl und die abnehmende Verfalls­zeit von Infor­matio­nen hervorrufen, und dem Versuch der konkur­rieren­den Informan­ten, ihr Stückwerk nicht als bloße »disiecta membra«, sondern als »pars pro toto« zu verkaufen – freilich um den Preis, dass die alte nun durch eine neue Unübersichtlich­keit, nämlich die sich überschreiender »Schlüsselsymbole« abgelöst wird. Die beste Chance, zu einem solchen Symbol zu avancieren, haben dabei bekanntlich visuell eingängige und emotional anrührende Objekte oder Vorgänge, selbst wenn ihre Validität zu wünschen übrig lässt. Im Streit zwischen Sinnlich­keitsprinzip und Sinn­prinzip siegt gemeinhin das erstere. So entschied sich Green­peace vor einigen Monaten dafür, nicht Autoabgase, auch nicht den FCKW-Ausstoß, sondern das vergleichsweise marginale Problem der Brent Spar-Versenkung als Schlüsselsymbol für Umweltver­schmutzung zu wählen. Thilo Bode, Greenpeace-Geschäftsführer in Deutschland, kommentierte dies mit den Wor­ ten: »Die Versenkung eines verschmutz­ten Öltanks im Meer ist ein­facher zu erklären und zu begreifen als das Ozon­loch und die Klimaerwärmung« (Süddeutsche Zeitung, 20. 6. 1995). Der Publikums­erfolg dieser Symbolbildung hatte dabei sicherlich auch damit zu tun, dass diese ihren Adressaten keine einschnei­dende Verhaltens­ände­rung abverlang­te. Zusammen­gefasst: Die Akzeptanz von Schlüs­selsymbo­len hängt davon ab, inwieweit sie kognitiv, affektiv und pragmatisch in die Kultur ihrer Rezi­pienten passen. Das heißt: Auch wenn wir die Möglich­keit einer bewussten Täuschungs­absicht, die bei symbolischer Politik oft genug mitspielt, einmal ausklam­mern, können wir mit guten Gründen behaupten, dass solche Symbolbil­dungen oft eher einen Schlüssel zu den Bedürfnissen und Inter­essen ihrer Produzenten und Adressaten als für die Zusammen­hänge sind, die sie an­geblich repräsentieren. Insofern sind sie ein dankbares Objekt der Kulturwissenschaft, aber eben nur sehr begrenzt ein Er­kenntnisinstrument, das uns als Han­delnde optimal über unsere Handlungsbedingungen informiert.

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Mit den bisherigen Überlegungen habe ich mich in einer klassi­schen und sehr gefälligen kulturwissenschaftlichen Rolle betätigt: als Kritiker der Massenmedien, als Dekonstrukteur kulturindustrieller Simulakren. Doch dabei kann es nicht bleiben. Denn das Problem einer fragwürdigen bis arbiträren Schlüsselsymbolik ist ein Problem der kulturwissenschaft­lichen Forschung selbst. Überall dort, wo sich diese qualitativer und hermeneutischer Methoden bedient, gehört es zu den eingespiel­ten Gewohnheiten, sinnlich greifba­re Einzel­er­ scheinungen einer Kultur – Objekte, Gesten, Denk- und Handlungsweisen – als Repräsentanten eines kulturellen Ganzen, einer Gruppenkultur, einer Nationalkultur, einer Gesellschaftsformation, einer Geschlechterkultur zu nehmen.1 Und es wäre fahrlässig zu glau­ben, dass unsere eigenen Symbolkon­struktionen a priori vernünf­tigeren Prinzipien gehor­chen als die der Massenmedien. Zumin­dest gilt es zu prüfen, inwieweit auch hier unkontrollier­te Vorannahmen und Mechanismen – individuelle Obsessio­nen, eigen­kultu­ relle Bor­niertheiten und zeitgeistiges Mitläufertum, akademi­sches Selbstbehauptungs- und Distinktionsverhalten – eine Rolle spie­len, die es bewusst zu machen gilt. Es dürfte sinnvoll sein, sich am Beginn einer solchen Selbst­prüfung zunächst des Gegenstandsbereichs zu versichern, mit dem es das ethnographisch-kulturwissenschaft­liche Inter­esse an Schlüsselsymbolen zu tun hat. Dieses Interesse beschränkt sich nicht auf »Kollektiv­symbole«, verstanden als »Darstellungen der für das Kollektiv wichtigen Selbstwahrnehmungen, Selbstdeutun­gen und der für die Identität des Kollektivs bedeutsamen Bildarsenale« (Speth 1995, 272). Es geht überhaupt über die von ihren Trägern oder Nutzern selbst als symbolisch gehandelten Objekte und Akte hinaus und wendet sich auch in Alltagsdingen und -handlungen zu, deren Funktion als Bedeutungsträger (als »Realsymbole«, vgl. Korff 1995, 294 f.) im Alltag selbst meist gar nicht bewußt registriert wird. Nehmen wir dafür ein Beispiel, das in der Kulturwissen­schaft und Kultursoziologie schon eine lange Tradition hat: die Interaktion von Fußgängern, die sich in der Großstadt auf dem Bürgersteig begegnen. Für den Arbeite­rethno­graphen Fried­rich Engels war diese Interaktion ein Symbol der kapitalisti­schen Ellbogengesellschaft. Auf den ersten Seiten von »Die Lage der arbei­tenden Klasse in England« zeichnet Engels das Bild des Londoner Straßen­ gewühls: Er nennt »die einzige Über­einkunft« zwischen den Passanten »die stillschwei­gende, dass jeder sich auf der Seite des Trottoirs hält, die ihm rechts liegt«; er notiert, dass es keinem von ihnen einfalle, »die andern auch nur eines Blickes zu würdi­gen«, und resümiert: (W)enn wir auch wissen, dass diese Isolie­rung des einzelnen, diese bornierte Selbst­sucht überall das Grundprinzip unserer heutigen Gesell­schaft ist, so tritt sie doch nirgends so schamlos unverhüllt, so selbstbewusst auf als gerade hier in dem Gewühl der großen Stadt. Die Auflösung der Menschheit in Monaden, deren jede ein apartes Lebensprinzip und einen aparten Zweck hat, die Welt der Atome ist hier auf ihre höchste Spitze getrieben (Engels 1969, 257). Ganz anders sieht gut hundert Jahre später, im Jahre 1958, Theodor Loehrke das Fußgängerverhalten in der Großstadt: Es wird ihm zum Modell eines geglückten Ausgleichs zwi-

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schen legitimen Eigeninteressen, man könnte sagen: zum Symbol für die Notwendigkeit und die Machbarkeit eines Kapitalismus der Sozialpartner. »Es ist das Recht des Fußgängers«, schreibt Loehrke, sein Ziel erreichen zu wollen, sich durchzusetzen, sich zu behaupten. Das aber ist auch das Recht des Beziehungspartners, des Mit-Fußgängers. (…) Die Spielregel der Fußgänger ist gegeben in der Ver­schränkung des Sichdurch­setzens mit der Anerkennung des Part­ ners, der Betonung eigener Freiheit mit der Schonung frem­der Freiheit, kurz: rücksichts­ volle Selbstbehaup­tung (Loehrke 1958, 144 f.). Auch der Kultur­soziologe Anthony Giddens sieht im Verhalten sich begegnender Passanten einen hochsignifikanten Akt: Zwei Menschen nähern sich auf dem Bürgersteig einer Großstadt und gehen aneinander vorbei. Was könnte trivialer und weniger interessant sein? (…) Dennoch geht hier etwas vor sich, was anscheinend unbedeutende Aspekte der Steuerung des Körpers mit einigen der besonders weit verbreiteten Merkmale der Moderne verbindet (Giddens 1995, 104). Die modernen Prinzipien, die sich für Giddens in der von Goffman »höfli­che Nichtbeach­ tung« genannten Interaktionsweise von Großstadtgängern manifestieren, sind wiederum andere als die von Engels und Loehrke heraus- oder hineingearbeiteten: Bei ihm zeigt sich hier die Notwendig­keit und die Üblichkeit von Vertrauen in anonyme Abläufe und in Fremdhandlungen, die der Kon­trolle der Mitbetroffenen entzogen sind. An den zitier­ten Beispielen soll hier weniger der – zwei­fellos bemer­kens­werte – Wandel der Interpreta­mente inter­essie­ren; es geht mir vielmehr um die Persi­stenz der Unterstellung, das Gehverhalten auf einem Großstadt-Trottoir offenbare nicht nur spezielle Regeln des Straßenver­kehrs, sondern die Regeln einer bestimmten Gesell­schaft überhaupt. Nun sind die zitierten Passagen zur Passanten-Kultur schon deshalb nicht unbedingt typisch für die kulturwissenschaftli­che Dar­stellung, weil die Extrapolation, die Verlängerung ins Allgemei­ne, keines­wegs immer so dezidiert wie hier zu gesche­hen pflegt. Oft wird vorsichtiger argumen­tiert, wird die Lust aufs große Ganze durch methodologische Skrupel gebremst. Man trifft also eher selten auf Formulierungen wie »Das Flipper­spiel verkörpert die Gesetze der kapitalistischen Unterhal­tungsindu­strie in Reinkultur« oder »Der Zeppelin symbolisiert die deutsche Sonderform des Fort­schrittsmythos«. Andererseits sind offensi­ve Bekundungen von Beschei­denheit – etwa: man habe am Zeppelin­kult nun einmal einen Narren gefressen, obwohl ganz unklar sei, ob die Sache wirklich relevant sei – ebenfalls nicht sonderlich beliebt. Eher finden sich in Vor- oder Nachworten Kompromissformeln wie »nicht repräsentativ, aber doch beispiel­haft«, »nicht typisch, aber doch kein Einzelfall«. Oft wird auch auf alle greifba­ren und das heißt angreifbaren Präambeln verzichtet und der Anspruch auf die übergreifende Bedeutung eines Kulturfrag­ments nur implizit, in der Überzeugungs- und Überredungs­kraft der Darstellung ausgedrückt. Zu denken ist

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dabei z. B. an die von Clifford Geertz so benannte Methode des »generali­zing within«. Katrin Gratz-Meskini nennt sie ein quasi-literarisches Verfahren, bei dem »eine kreative und imaginative Darstellung von spezifischen Situatio­nen im Leser einen Ein­druck von der allgemeinen Dimen­sion des Dargestellten erstehen« lasse (Gratz-Meskini 1992, 42 f.). Diese Suggestion braucht dabei gar nicht kalkuliert zu sein; oft kommt es erst im Nach­ hinein, in der Rezeption einer Studie zum Generalisie­rungsakt, wobei der Zirkelschluss mitspielen mag, wenn sich ein bedeutender Kopf einem Detailproblem so ausführ­lich widme, werde es sich sicher­lich um mehr als ein Detail­pro­blem handeln. Und auch diese Leseweise dürfte nicht immer reflek­tiert werden, sondern einfach stillschweigend gesche­hen. Die Diskus­sion des schlüs­selsymbolistischen Para­dig­mas in der Kulturwis­senschaft muss also damit beginnen, solche spontanen Bedeutungsunterstel­lungen auf der Autor- wie der Leserseite erst einmal bewusst zu machen. Der zweite Schritt, noch vor der Prüfung einzelner Symbol­studien, ist eine generelle Reflexion auf die Möglich­kei­ten und Grenzen der ethnographischen Methode, »to draw large conclu­sions from small, but very densely textured facts« (Geertz 1973, 28). Nun ist Verallgemeinerung ohne Zweifel keine nur geistige und sub­jektive Veranstaltung, sondern auch eine Eigenschaft der kulturellen Praxis selbst: Verhaltensre­geln vermitteln zwischen Einzelnem und Allgemei­nem, handwerkli­che und kulturelle DIN-Normen machen Einzelstücke unserer Kultur kompatibel. Das recht­fertigt freilich nicht Totalisierun­gen, die man als säkulari­sierte Form des einfluss­reichen neuplatonischen Symbol­verständnisses bezeichnen könnte. Dieses beruhte auf dem Glauben an eine universelle göttliche Ordnung, in der alles aufeinander ver­weise, eine unendliche Spiegelung von allem in allem statt­finde (vgl. Kany 1987, 142‑144). Noch in Aby Warburgs Credo »Der liebe Gott steckt im détail« und in Siegfried Giedions Satz »Auch in einem Kaffee­löffel spiegelt sich die Sonne« lässt sich der Nachhall einer solchen Symbolauffassung heraushören. Anders als ihre religiösen Vor­gänger muss sich eine empirische Schlüs­selsym­bolforschung aber auch der Brüchigkeit von Zusam­menhän­gen, der Grenzen von kulturel­ler Kohärenz und Konsistenz versichern. Sie muss sich der Einsicht stellen, dass die gesellschaftliche Mikroebene, auf der sie ihre Symbole zumeist findet, Kontin­genzen ent­hält, die sich auf der Makroebene der Gesellschaft nicht wiederfinden lassen, und dass sich auf der letzteren wiederum Prozesse abspielen, die nicht oder nur ganz partiell in die Mikroebene reichen.2 Über­dies hat sie mit einer zuneh­men­den Diffe­renzierung und Verselb­ständigung von Gruppenkultu­ren sowie einem Kultur­plura­lismus innerhalb der Individuen selbst zu rechnen, der die zweifellos ebenso vor­handenen, von Staat und Weltmarkt getragenen Homoge­nisierungs­tendenzen konterka­riert. In den 50er und 60er Jahren, sagt Gerhard Schulze, habe man von einzelnen alltags­kulturel­len Symbolen – einer Automarke, einer Jeanshose – noch ganz gut auf die Gesamtkultur ihrer Besitzer schließen können; inzwischen hätten solche Zeichen ihre Signifikanz mehr und mehr verloren (vgl. Schulze 1993, 181). Die Möglich­keit, der Totalität im Partikularen habhaft zu werden, im kulturellen Detail die Miniatur des Ganzen zu finden, ist diesem – recht plausiblen – Befund nach also schon bei der Suche nach individu­ ellen Stilen gemindert.

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Das schlüs­selsymboli­stische Paradigma taugt also wenig dazu, das For­schungsre­zept »99 Prozent Transpiration, 1 Prozent Inspiration« umzukehren und, wie Goethe es als Vorteil der künstlerischen Symbolverwen­dung lobte, der »millionhaften Hydra der Empi­rie«3 zu entge­hen. Es bleibt gewiss die Aufgabe der Kulturwis­sen­schaft, nach kultu­rellen Artefakten zu suchen, in denen sich auch anderswo vorhandene bzw. breiter wirksame, aber weniger deutlich zutage tretende Intentionen oder Regeln verdichten und offenbaren. Zur Bestimmung dieser exemplari­schen Versinnli­chungen bedarf es jedoch der hermeneu­ti­schen Zirkelfüh­rung, in welcher die Intensi­tät der Symbolin­ter­pretati­on mit extensiver empirischer For­schung zusammengeht. Und es gehört zur wissenschaftlichen Redlichkeit, dass dies Zusammenspiel auch in der letztlichen Darstellung nicht den Augen entzogen, in der Sprache der Zauberkunst: eskamo­tiert wird, sondern sich bei voller Be­leuchtung präsentiert. Freilich, selbst wenn wir ein solches methodisch umsichtiges Vorgehen unterstellen und Kunstfehler ausschließen, bleibt mit vorwissenschaftlichen Anteilen der Wissen­schafts­kultur zu rechnen, welche die Wahl eines Schlüsselsymbols beein­flussen – mit Faktoren, die nicht ausgeschaltet werden können und vor allem nicht ausgeschaltet werden sollen, die es aber zu kon­trollieren gilt. Einige der Probleme, mit denen wir es hierbei zu tun haben, sollen hier an drei Beispielen darge­stellt werden: an Hans-Georg Soeffners Punk-Interpretation, an Clif­ford Geertz’ Studie über den balinesi­schen Hahnenkampf sowie am kulturwissenschaftlichen Diskurs über die Banane als Symbol für den ost­deut­schen Umbruch von 1989. Im ersten Fallbeispiel, Hans-Georg Soeffners Aufsatz Stil und Stili­sierung. Punk oder die Überhöhung des Alltags, geht es um die Analyse einer Gruppenkultur (Soeffner 1992). Ihr nähert sich Soeffner von der Seite des Gruppenstils her, den er als »Teil eines umfassen­ den Systems von Zeichen, Symbolen und Verweisungen für soziale Orientierung« (ebd., 78) defi­niert. Eingangs kündigt Soeffner an, er werde »einige, wenn nicht nachweisbar zentra­le, so doch auffäl­lige Stilmittel und Stili­sierungspraktiken deutscher Punks« (ebd., 77) beschreiben. Einige Seiten weiter ist dann schon weniger vorsichtig von der »Charakterisierung einiger zentraler Elemen­te des Punk-Stils« (ebd., 83) die Rede. Bald darauf konzentriert sich die Interpretation auf eines dieser Stilmit­tel: auf die Farbe Schwarz in der Punk­kleidung und der Punkkos­me­tik. Soeff­ner erklärt hierzu: »Schwarze, emblembesetzte Kleidung war eines der tragenden Elemente des Punk-Stils am Anfang der Bewegung. – Als die Mode dazu überging, dies zu zitieren, wurde Punk bunt, und als auch dies modisch konsumiert zu werden begann, kehrte Punk zurück zu Schwarz« (ebd., 86). Dem Schwarz als dominanter Kleiderfarbe schreibt Soeffner eine zumindest für Mitteleuropa seit langem gültige Bedeutung zu: »(Das Schwarz) ist und war die Farbe der Meditation und Konzentration – sichtbares Zeichen der Ablehnung von sinnlicher Weltzugewandt­ heit und sinnlichem Genuss« (ebd.). Diese Zuschreibung wird nun die Brücke zu der These, dass die Punks in ihrem Outfit sowie in bestimmten Verhaltens­weisen der Tradi­tion von sei’s kämpfe­rischen, sei’s weltabge­ wandten »Entsagung­seliten« zuzu­rechnen seien. Dabei sieht Soeffner »un­übersehbare Par­ allelen zu laizistischen Bettelorden des Mittelalters (…), insbesondere zum Lebensstil der Fran­ziskaner vor deren kirchlicher Legalisie­rung (…)« (ebd., 89). Er fasst zusammen:

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Punk ist eine der gegenwärtigen konkreten Erschei­nungs­formen der von Plessner analysierten ›Weltfrömmigkeit‹ und des in ihr sich artikulierenden inner­weltlichen Erlö­sungs­ wun­sches. Im Stil und Symbolsystem der Punks (…) ver­schafft sich eine, nun wahrhaft postlutheri­sche und post-liberal-katholische innerweltliche Religiosität ihren weltan­ schaulichen Aus­druck (ebd., 93). Es spricht nicht gegen diese Interpretation, dass sie überra­schend ist, und es spricht für sie, dass sie sich nicht scheut, eine oft als aggressiv, geschmacklos und versoffen abqualifi­zierte Subkultur mit den angesehensten abendländischen Kultur­traditionen zusammenzubringen. Doch bei aller Sympathie für Soeffners Sympathien sollte man nicht die interpretatori­schen Unkosten übersehen, welche die Ernennung der Farbe Schwarz und des damit harmonierenden Merkmals »Entsagung« zu Schlüsselsym­bolen der Punkkultur in Kauf nimmt. Schwarz ist wohl kaum die Punkfarbe schlechthin, sondern zumeist Ingrediens einer Farben­mixtur, bei der z. B. grüne Strümpfe und gelbe, rote oder lilafarbene Haare eine wichtige Rolle spielen. Dass die Punk­kleidung der Mönchskutte ähnele, belegt Soeffner unter anderem damit, dass »einige Punks« eine Kordel trügen (vgl. ebd., 84); ver­breiteter ist jedoch wohl die meist mit spitzen Nieten be­stück­te Gürtel­schnalle, zu der oft noch andere Acces­soirs aus der Sadomaso-Szene kommen. Diese haben ebenso wenig mit Entsa­gung zu tun wie der bei Punks beliebte Pogo, den man zu Recht als »Protest gegen Entsinnlichung und Spiritualisierung von Mu­sik« (May 1986, 126) be­zeichnet hat. Auch einen anderen exzessiven Ge­nuss, den von Alko­hol, interpre­tiert Soeffner mehr oder weniger aus der Punkszene hinaus, indem er von öffentlichen »Saufinszenie­rungen« spricht, bei denen man einer Gesellschaft der heimli­chen Säufer den Spiegel vorhalte, ohne sich dabei selbst wirklich zu betrinken (Soeffner 1992, 94). Das mag für bestimmte Situationen­zutreffen, geht aber an der bei internen Anlässen wie Punkkon­zerten und Parties oft geübten Trinkpraxis vorbei (vgl. Lau 1992, 106). Mit diesen Hinweisen ist nun freilich nicht gemeint, dass die Punkkultur eine negativere Sichtweise verdient habe, sondern lediglich, dass bei der sympathisierenden Interpretation von Soeffner möglicherweise Projektionen eigener Werte und Verhal­ten­sideale eine Rolle spielen. Man könnte von einem »Heran- und Hinaufinterpretieren« sprechen, einem Vorgehen, das sich ähn­lich auch bei anderen kulturwissenschaftlichen Punk-Analysen beobachten lässt. Auffällig und problematisch ist dabei insbe­sondere, dass diese Umbewertung einer im herrschen­den Diskurs abgewer­teten Kultur bei einigen anderen Subkultu­ren weit weniger praktiziert wird. Man denke zum Beispiel an die Skinhe­ads. Dabei könnten doch z. B. deren Aufmachung, ihre Rekruten- oder Gefange­nenglatze, die Schäbig­keit, aber Sauber­ keit ihrer Kleidung fast noch eher als der schril­le Punkstil als Symbol­sprache einer »Entsagungselite« verstanden werden; doch kaum jemand käme auf einen solchen Einfall, ja es ist nicht einmal üblich, überhaupt die Kleidung der Skins als Schlüssel zu ihrer Kultur zu nehmen. Das Schlüsselsymbol, das ihnen gewiss nicht ohne Grund, aber doch in falscher Pauschali­sierung gerne zugemessen wird, ist das »Klatschen« von Andersfar­bigen und Andersdenkenden; und kein Beobachter würde wohl auf die Idee kommen, den dabei oft

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benutzten Baseball­schläger zum Nachfahren von Thors Hammer hinaufzuinterpretie­ren. Skins gelten ja weithin überhaupt nicht als Kulturträger, sondern als Menschen im Rohzustand, als schlicht animalisch. Aber auch in dieser Symbolisierung der Skins als wilde Tiere stecken womög­lich Projektionen: Die Art und Weise, wie rechts­radikale Übergriffe oft allein auf die Skinheads abge­wälzt werden, und die häufig zu hörende Forderung nicht nur nach Bestrafung und Prävention, sondern nach Rache lassen sich mit Hans-Jürgen Wirth tatsäch­lich so deuten, dass die hemmungs­los-brutalen Übergriffe mancher Skin­heads bei vielen Beobach­tern verdrängte Triebregungen ansprä­chen und sadistische Phantasien weck­ ten, die sich dann als Ruf nach gerechter Vergeltung an die Öffentlichkeit wagen können (vgl. Wirth 1989, 200). Auch in diesem Fall also lägen der schein­bar wissen­schaftlich-kriti­ schen Wahl eines Schlüssel­sym­bols für eine andere Kultur undurchschaute eigene Bedürf­ nisse und Prägungen zugrun­de. In meinem zweiten Beispiel geht es nicht um ein Schlüsselsymbol für eine Gruppen-, sondern für eine ethnische Kultur. In seiner Studie Deep Play von 1972 beschreibt Geertz den Hahnenkampf auf Bali bekanntlich als einen Wettbe­werb, bei dem mehr als die Wetteinsätze, nämlich das soziale Ansehen der Hähneführer und der Wettbeteiligten auf dem Spiel stehe. Die Hähne, so Geertz, seien die Stellvertreter der Männer, die sie anfeu­ern, und in ihrem Kampf würden Rivalitäten und Strei­tigkeiten zwischen diesen Männern bzw. ihren Sippen oder Dörfern drama­ti­siert; die Brutalität und die Tödlichkeit des Kampfes und die hochgradige Erregtheit seines Publikums stünden dabei im Widerspruch zum leisen, betont unaggressiven balinesi­schen Umgangsstil au­ßerhalb der Arena. Nur hier, sozusagen in der Tiermaske, kämen die essentielle Bedeutung von Prestige und Hierarchie in der balinesischen Gesellschaft und die Gefühle des Neids und des Hasses, die mit ihnen verbun­den seien, un­verhüllt zum Aus­druck (vgl. Geertz 1987). In der ethnologischen Diskussion wird Geertz’ Untersuchung immer wieder als Beispiel für eine Schlüsselsym­bol-Analyse genannt. So schreibt Irmtraud Stellrecht, Geertz sehe den Hahnenkampf »als öffentliches und repräsentatives Symbol für die Kultur Balis, eine Art Dramatisierung des Lebens auf der Mikroebene. Das Kulturelement (der Hahnenkampf ) und die Gesamtkultur (Bali) werden bei der Deutung aufeinander bezo­gen (…)« (Stellrecht 1993, 49). Geertz selbst bestimmt den Stellenwert seiner Studie zurückhaltender, benutzt dabei aber wechselnde und, wie ich meine, widersprüch­liche Formulierungen. Einmal dementiert er: »Der Hahnenkampf stellt nicht den Universal­schlüssel zum baline­ sischen Leben dar, genauso wenig wie der Stierkampf für Spanien. Was er über jenes Leben aus­sagt, wird durch andere, ebenso beredte kultu­relle Aussagen durchaus modifiziert oder sogar in Frage ge­stellt« (Geertz 1987, 258). An anderer Stelle wird dem untersuchten Ritual jedoch zumindest für die Frage des Gewaltpotentials in der balinesi­schen Gesellschaft ein Schlüsselstatus zugeschrie­ben: »Der Hahnenkampf«, sagt Geertz hier, gibt die balinesische Form der Gewalttä­tigkeit wieder: ihre Erscheinungsform, ihre An­­ wen­dung, ihre Macht und ihre Faszination. In ihm werden fast alle Erfahrungs­ebenen der Balinesen angesprochen, werden Themen wie tierische Wildheit, männlicher Narziss­

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mus, Wettspiele, Status­ri­valitäten, Massener­regung und Blutop­fer zusammenge­bracht, die hauptsächlich durch ihre Bezie­hung zur Raserei und der Furcht davor miteinander zusam­menhängen (ebd., 255). Die Trag­weite und die Problematik dieser These werden in einer Folgerung deutlich, die Geertz in der Anmerkung 42 seines Aufsatzes mehr versteckt als präsentiert. Sie lautet: Dass das, was der Hahnenkampf über Bali zu sagen hat, auch direkt wahr­zunehmen ist, und dass das, was er über Unruhe im Leben auf Bali ausdrückt, nicht völlig aus der Luft gegriffen ist, zeigt sich daran, dass im Dezember 1965 im Verlaufe zweier Wochen während der Aufstände nach dem erfolglosen Coup in Djakarta zwischen 40 000 und 80 000 Balinesen (von einer Bevölkerung von ca. zwei Millionen) ums Leben kamen, weitgehend indem sie sich gegen­seitig umbrachten (…). Damit, so Geertz weiter, wolle er nicht behaupten, dass man das Massen­morden mithilfe der Hahnen­kämpfe hätte vorhersagen können, sondern lediglich sagen, dass die Tatsache, dass solche Massaker vor­kamen, zwar kaum weniger abstoßend, doch immerhin weniger mit den Naturgesetzen im Widerspruch zu stehen scheint, wenn man Bali nicht nur durch das Medium seiner Tänze, Schat­ten­spiele, Bildhauer­kunst und Mädchen betrachtet, sondern auch durch das Medium seiner Hahnenkämpfe (ebd., 258 f.). Deep Play erweist sich also, unter anderem, als kulturwissenschaft­licher Kommentar zu einem der großen Massen­morde des 20. Jahrhunderts, bei dem in ganz Indonesien zwi­ schen 250 000 und 500 000 als Kommunisten bekannte oder ver­dächtigte Menschen umgebracht wurden. Und der Autor bringt, zumin­dest für den balinesi­schen Anteil an diesen Massenmorden, die These ins Spiel, dass hier ein traditionelles Gewaltpotential der baline­ sischen Gesellschaft explodiert sei, das der Hahnen­kampf zugleich offenbare und, mehr oder weniger, absorbiere. Mit dieser Interpreation aber, so meint Vincent Pecora in einer Geertz-Kritik, werde an den Rand geschoben, dass die indonesi­schen Gewaltakte von der dortigen Armee ausgelöst und angelei­tet worden seien und politische Gruppie­rungen – unter anderem auch katholi­ sche – sie mitorganisierten (vgl. Pecora 1989, v. a. 257‑264). Demnach hätte Geertz einen moder­nen poli­ti­schen Konflikt, einen antikommunistischen Feldzug, der im Kontext der damaligen weltweiten Systemausein­anderset­zung zu sehen ist, allzu nahe an eine spezifisch balinesische Tradition heraninterpretiert. Was zugleich bedeu­tet, dass die Massenmorde auf Bali, die ja nicht nur ihre Parallele im übrigen Indonesien hatten, sondern eine durchaus transkulturelle Realität des 20. Jahrhunderts dar­stellen, mit einer besonderen Präsenz des Gewaltproblems in der balinesischen Tradition zusammengebracht würden. Wer dazu tendiert, den Hah­nen­kampf als eines der Schlüssel­symbole der balinesischen Kultur zu sehen, muss sich also fragen lassen, ob er implizi­t und vielleicht wider Willen nicht eine Ethni-

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sierung sozialer und politischer Gegensätze und Auseinandersetzungen betreibt, die zudem mit einer sehr proble­ma­tischen Qualifizierung dieser ethnischen Kultur ope­riert. Kommen wir zum Abschluss der Beispielreihe und damit zur Bana­ne, benutzt als Symbol für den – angeblichen – ostdeutschen Appetit auf die westliche Konsumgesellschaft oder generell für die ostdeutschen Ereignis­se im Herbst 1989. Diese Zuschreibung ist primär ein Produkt westdeutscher Medien, wurde jedoch auch in der Kultur­wissenschaft halb affirmativ, halb kritisch rezipiert: z. B. von Gottfried Korff in den Aufsätzen Rote Fahnen und Bananen (Korff 1990) und Spione, Hütchenspiele und Bana­nen (Korff 1995) oder in einer kleineren Studie vom Autor dieses Vor­trags (Warneken 1992). Um ein wenig über die Akzeptanz dieser Symbolwahl zu erfahren, habe ich im ersten Halbjahr 1995 unter Studierenden der Kultur- und Sozialwissen­schaft eine kleine Umfrage unter­nom­men. Sie lautete: Welches Symbol eignet sich Ihrer Meinung nach besser als Schlüsselsymbol für die ostdeutschen ›Wende‹ -Er­eignisse vom Herbst 1989: Die Kerze (wegen der Bedeutung der ›Kerzendemonstrationen‹ im Herbst 1989); die Banane (wegen des vielberedeten ›ostdeutschen Heißhungers‹ auf diese Südfrucht im Herbst 1989)? Das Gesamtergebnis ist eindeutig: Von 181 Befragten wählten 115 = 64 % die Banane, wobei Männer und Frauen mit 65 % bzw. 63 % fast gleichauf lagen. Nun verbergen sich hinter diesen 181 Befragten aber Studierende zweier westdeut­scher und zweier ostdeutscher Universitäten, die sehr unter­schiedlich votier­ten. In Tübingen und in Freiburg lag die Banane bei 79 %, an der Berliner Hum­boldt-Universität und der Universität Leipzig bekam sie nur 49 % der Stimmen. Dabei gaben in Tübingen, einem Zentrum der Bana­nenforschung, sogar 86 % der Banane den Vorzug – ein Beispiel für den bandwagon-Effekt, den die Ausrufung eines Schlüsselsym­bols auslösen kann. An der Humboldt-Univer­sität, wo ja schon viele Westdeutsche studieren, lag die Banane mit 60 % nur 4 % hinter dem Freiburger Ergebnis; in Leipzig jedoch, der Stadt der Montagsdemonstrationen, war es die Kerze, die mit 62 % um 24 % vor der Banane lag. Diese Umkeh­rung des West-Ergebnisses ist vor allem auf die Leipziger Studentinnen zurückzuführen: Sie wählten zu 69 %, die Leipziger Männer dagegen nur zu 52 % die Kerze zum besseren Umbruchs-Symbol. Die Interpretation dieses Ergebnisses wird erleichtert durch einige Zusatzinformationen: An den Ostuniver­sitäten lag die Zahl der Verweigerungen weit höher als im Westen, und auf Fragebögen fanden sich an der Humboldt-Universität und in Leipzig Komment­are wie »bodenlose Dummheit«, »Frechheit« oder »diskriminierend«. Im Westen war die Umfrage eher von Heiter­keit begleitet, die sich auch in dem wiederholten Vorschlag äußerte, das beste Schlüssel­symbol wäre eine Kerze in Bananen­form. Man kann also durchaus mutmaßen, dass die von der Sym­bolisierung direkter Betroffenen bzw. die Personen in deren Umfeld der Kerze als einem nobilitieren­den, den Mut zu demo­kratisch­em Engagement betonenden Symbol den Vorzug gaben und das Bananen­symbol als arrogante Fremdeti­ kettierung ablehnten, während bei den Westdeutschen die Bana­nen-Option äußerst lust-

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besetzt war, eben weil sie eigene Distinktionsin­teressen bediente. Schon diese begrenzte Umfrage weist darauf hin, wie stark auch bei Studierenden, die mit dem ethnogra­phi­schen Gebot der Selbst­analyse vertraut sein dürften, die Symbolfindung mit der Gruppenzugehörigkeit vari­iert, und dass bei ihnen ebenfalls die Tendenz zu einer selbsterhö­henden Symbolwahl deutlich wird. Nicht alle Probleme, welche die Option für ein bestimmtes Schlüsselsymbol in den dargestellten Beispielen aufwirft, lassen sich an dieser Stelle genauer betrachten. Drei Aspekte immerhin sollen zum Abschluss dieses Vor­trags noch weiter verfolgt werden, wobei jeder dieser Aspekte an eine der dargestellten Beispielstudien anknüpft. Die Diskus­sion geht dabei zumindest implizit über Fragen der Schlüssel­symbolik hinaus und betrifft Probleme der ethnographi­schen Themenwahl überhaupt. Die erste Überlegung schließt an das letzte Fallbei­spiel und die dabei sichtbar gewordene Bedeu­tung der sozialen Nähe oder Ferne zum Gegenstand an. Die Bana­nen-Kerzen-Frage kann als Hinweis darauf dienen, dass möglichst nicht nur über die Deu­tung, sondern auch über die Auswahl der für besonders signifi­kant erachteten Kulturzei­chen mit den Akteuren im Feld kom­muniziert werden sollte – was voraussetzt, dass ethno­gra­phische Symbolforschung, die sich in der Gegenwart bewegt, als dialogi­sche Feldfor­schung angelegt wird. Das bedeutet die Absage an ein Forschungsmuster, das man als Adler-Syndrom bezeichnen könnte: Der Forscher kreist dabei zunächst weit oben über dem Forschungs­feld, stößt dann auf ein Objekt nieder­, das ihm in die Augen sticht und dem eigenen Symbolge­schmack entspricht, entreißt die Beute den Akteuren im Feld und weidet es im Adlerhorst in Einsam­keit und Freiheit aus. Diese Freiheit ist zwar auch die einer kriti­schen Distanz, sie ermöglicht aber zugleich die unge­hemmte Ausübung einer Deutungsmacht über eine andere Kultur, zu der die Kultur der sogenannten Deutung­selite in spontaner Kon­kurrenz steht – oder die ihr als Projektionsfläche in der Eigenkultur unerfüll­ter Bedürfnisse dient. Die gute Absicht, möglichst unvoreingenommen zu sein, ja sogar die kollektive Selbstkon­ trolle in Form eines Adlerrats dürfte die hier ange­legten Verzerrungen nur unzurei­chend begradigen; dies bleiben so lange illusionäre Ver­suche, sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen, so lange den Gastdeu­tern nicht die Deu­tungs­kompetenz der Akteure selbst zu Hilfe kommt. Dieser Vor­schlag kann natürlich nur dann einleuchten, wenn die Mög­lich­keit dieser Eigenkompetenz nicht unter Negativannah­men einer unaus­weich­lichen Befangenheit in Alltags­routinen, Grup­pen­zwängen usw. begraben wird. Damit ist keineswegs gemeint, dass man Deu­tungsrichtung und Deutungs­horizont der Akteure selbst zum Interpretationsmaßstab machen solle: Die Rede ist nicht von einem Duett, sondern von einem Dialog von Forschenden und Beforschten, welcher die Vorteile der Innen- und der Außenperspektive zu bündeln vermag. Das impliziert freilich eine Wiederentdeckung der ethnographischen Langsamkeit, fordert zeitgemäße Umsetzungen des Riehlschen Prinzips »zu Fuß«. Gewiss: Diese Postulate sind auf der verbalen Ebene, im methodologi­ schen Diskurs, längst akzeptiert; gleichwohl sind sie beileibe nicht die herrschende Praxis. Nicht zuletzt sind es widrige Umstände wie die Regelstudienzeit bei den einen und die Lehr­überlastung bei den anderen, aber auch die – nicht gar so unfreiwillige – Abhän-

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gigkeit vom Agenda Setting der Medien und des Wissenschaftsbetriebs, die einer Ethnographie des Dialogs und der Langsamkeit im Weg stehen. Zudem hat manche Ent-Täuschung, der Abschied von kultur- und sozialkritischen Projektionen in die Rand- und Unterschichten der Gesellschaft die Lust der ForscherInnen auf das Feld, auf die soziale Nähe von VolkskundlerInnen und Volk nicht gerade vermehrt. Eine selbst­reflexive Wissenschaft sollte solche Probleme jedoch ohne die Regression auf Adler- und andere Syndrome bewältigen können. Die zweite programmatische Bemerkung betrifft das Problem des Kulturalismus, das bei der Diskussion von Geertz’ Hahnenkampf-Analyse auftauchte. Als »kulturalistisch« ist dabei nicht nur ein Ausblenden der materiellen und sozialen Realität zu ver­stehen, auf die symbolisches Handeln verweist und in der sie stattfindet. Vielmehr ist damit auch der Versuch gemeint, von einem begrenzten Kanon kultureller Genres auf das Kultursystem in einem weiteren Sinn, d. h. verstanden als die Normen und die Formen sozialer Beziehungen, schließen zu wollen. Diese Kritik zielt nicht nur auf den vormodernen Kanon der Volkskunde, sondern ebenso auf bestimmte postmoderne Präfe­renzen, die auf Themen mit Kuriositäts- und Unterhaltungswert, mitunter auch mit Schockwert hinauslaufen. Hierzu schrieb Konrad Köstlin in seiner »Der Tod der Neugier« überschriebenen Abrechnung mit einigen Fachtendenzen und -kollegen: »Wir reiben uns immer weniger an der ersten Wirklichkeit, an Arbeitslosigkeit, Ungerechtigkeit, Wohnungsnot etc. Statt dessen traktieren wir lustvoll kleine, hochsymbolisch verpuppte Partien« (Köstlin 1995, 60). Diese Formulierung ist freilich missverständlich. Man könnte sie so lesen, als müsse sich das Fach statt der kulturellen software der sozialen hardware zuwenden. Die Aufgabe einer gesellschaftspolitisch wachen Kulturwissenschaft, die gleichwohl ihre Spezifik wahren will, hieße wohl eher, sich den symboli­schen Implikaten dieser hardware, d. h. der prägenden ökonomi­ schen, technischen, politi­schen und sozialen Entwick­lungen zuzu­wenden. Das heißt, dass zum Beispiel die ethnogra­phische Zuwendung zur heutigen Arbeitskultur nur halbherzig ist, wenn sie sich auf traditio­nelle Symbol- und Ritualberei­che wie Betriebs­feiern oder auf die intentionalen Symbole der Unter­nehmenskul­tur, z. B. auf Firmenlogos und Firmenmythen, kapri­ziert und die Arbeitsvollzüge und deren Organisationsform ausklammert. Diesen Letzteren wiederum wird man nur par­tiell in verdich­teten und explizi­ten Ritualen und Symbolen wie Ein­standsbräu­chen, Witzen und Spitz­namen habhaft, sondern erst dadurch, dass man die Arbeitsorga­ni­sation und Arbeits­weise selbst auf ihre ni­chtinstru­mentellen Aspekte hin untersucht. Sicherlich: Mats Alvesson, der in einem programmatischen Aufsatz über die kulturale Perspektive auf Organisationen ebendies fordert, weist zugleich darauf hin, dass substantielle und periphere Symbole sich nicht so einfach trennen lassen (vgl. Alvesson 1993, 64); zumal wenn man in Rechnung stellt, dass sie in verschiede­ne prakti­sche und diskursive Bezugsrahmen setzbar sind, in denen ihr Stellenwert wechselt. Das ändert jedoch nichts an dem Postulat, sich bei der Symbolsu­che nicht in traditionelle claims und etablierte Genre­grenzen einsperren zu lassen. Es hat keinen Sinn, den verlore­nen Groschen dort zu suchen, wo unsere Lese­lampe hin­leuchtet, statt dort, wohin er gefallen ist.

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Diese Überlegungen zum Kultura­lismus betreffen wie schon die zur dialogi­schen Feldforschung jede empiri­sche Kulturwissen­schaft gleichermaßen. Anders die dritte und letzte Erörterung dieses Vortrags, die das bei Soeffners Punkanaly­se ange­spro­che­ne Phänomen des »Hinau­fin­terpretierens« auf­greift: Sie gilt volkskundlichen Bemühungen um gesellschaftliche Anerkennung, die sich auf die Art und Weise ihrer Sym­bolforschung aus­wirken. Die Reputation eines Fachs hängt von mehrerlei ab: Neben dem sozia­len Gebrauchswert seiner For­schungs­ergebnisse geht es dabei z. B. um deren Eingepasstheit in den Kanon der jeweils legitimen Kultur und das heißt auch um die kulturel­le Wertig­keit seines Gegen­ stands. Die Volks­kunde, die sich mit All­tags­kultur und häufig mit unterschicht­licher All­ tags­kultur beschäf­tigt, hat in dieser Dignitätsfrage zunächst einmal schlechte Karten. An ihrer Wiege steht das Spottwort von der »Andacht zum Unbedeu­tenden«, das Sulpiz Boisserée zur Charak­terisie­rung der »Alt­deut­schen Wälder« von Jakob und Wilhelm Grimm benutzte, in denen er im Anschluss an August Wilhelm Schlegel »nichti­ge(s), klein­liche(s) sinnbildeln und wortdeu­teln« ausmachte (Boisserée 1862, 72) – es ging also auch hier um Symbolfor­schung. Die Sottise wurde bekanntlich fünfzig Jahre später von Wilhelm Scherer im Geist des Positi­vismus zum lobenden Epitheton für die Grimmsche For­schungs­weise umgewer­tet (Scherer 1865, 79 f.). Dieser Liebes­dienst hat jedoch die Paradoxie im Begriff »Andacht zum Unbedeuten­den« nicht in Wohlgefal­len auflösen können; er ist trotz Scherer nicht bloß ein »Eh­ren­kleid«, wie Martin Scharfe kürzlich meinte (Scharfe 1995, 20), son­dern nach wie vor auch ein Nessushemd der Volkskunde, das selbst dann noch Schmerzen bereitet, wenn Soziologen und Historiker es nicht mehr als dégoutant ablehnen, sondern als »sehr originell« loben, dass sich verita­ble Wissen­schaftler Phänomenen wie der Kaffeetasse oder der Glatze hingeben. Die Volkskunde wehrt sich gegen diese Her­ablas­ sung, so gut sie kann: Sie spricht statt vom Unbedeu­ten­den vielsagend vom Unscheinbaren, sie verteidigt ihre Liebe zum Kleinen mit der chaos­theoretischen Erkenntnis »Kleine Ursache – große Wirkun­g« (ebd., 2), oder sie winkt stolz mit Aby War­burgs schon zitiertem Motto vom Gott, der im Detail stecke, wobei es sich bei den von Warburg gemeinten Details freilich großenteils um Kleinodien der Hoch­kultur und deren seien es legitime, seien es illegitime Abkömmlinge handelt. In der For­schung selbst drücken sich diese Renommee-Anstrengun­gen oft in einer Grat­ wanderung aus, bei welcher der Versuch, zu Unrecht Unter­schätztes endlich ins rechte Licht zu rücken, in halsbrecherische Liftungs-Aktionen hinübergleiten kann, in eine volkskundliche Alchemie, die aus dem, was die Elitekultur als Dreck betrachtet, partout Gold zu machen sucht. Das kann sich zum einen in der Überanstrengung ausdrücken, in banalen Details der All­tagskultur unbedingt einen Schlüssel zu den angesehen­sten Traditionssträngen der legitimen Kultur sehen zu wollen. Diese Kritik gilt nicht nur für die alten Versuche, Partikel der Volks­kultur als Trümmerstücke der germanischen Mythologie zu präsentieren; analoge Ver­fahrensweisen finden sich in der Gegenwart, zum Beispiel beim Autor dieses Vortrags selbst: Mit welcher Befriedi­gung hat er es registriert, als er bei seinen Recherchen zur ostwest­deutschen Bananensymbolik darauf stieß, dass die triviale Chiquita früher den Namen »Adamsfeige« trug und als die Paradies­f rucht galt, als »fructus, in qua Adam pec-

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cavit«; das war eine trouvaille, die sofort den Versuch nach sich zog, auch die ostwestdeutsche Bananensym­bolik als Symbol einer Verführung zur Sünde und einer anschließenden Bestrafung zu inter­pretieren (vgl. Warneken 1992, 25 f.). Eine andere Form volkskundlicher Aufwertungs­arbeit sind schlüs­selsymbolistische Sprünge vom Alltäglichen und Inferio­ren in die großen Themen der Epochen-, wenn nicht gar Gat­tungs­ge­schichte. Zu denken ist hier etwa an die frühen Bemü­hungen um eine Adelung des Begriffs »Unterschichten«. So definiert der Volks­kundler Albrecht Dieterich in einem zu­mindest fachhisto­risch wichtigen Aufsatz von 1902 »Unterschicht« als »Mutter­boden«. Überliefer­te Sitten und Bräuche, alte Gemeinschaftsfor­men usw. sind nach Dieterich »eine orga­nisch zusammen­gehörige Unterschicht alles geschichtlichen Volkslebens, aus deren Mutterboden alle individuelle Gestal­tung und persönliche Schöpfung herausgewachsen ist« (Dieterich 1902, 175). Aber auch ein ganz anders orientierter Zweig der Volkskunde, die Arbei­terkul­turforschung der jüngsten Vergangenheit, hat sich nicht nur be­scheiden und mitleids­voll zum Arbeiteralltag herabgebeugt: Sie hat ihren Gegenstand, zumindest teil­ weise, dadurch aufgewertet, dass sie die Arbeiter­klasse nicht nur als ausgebeutet und entrechtet, sondern auch als das potentiel­le Subjekt einer geglück­ten Mensch­heitsgeschichte verstand, das hässliche Entlein als zukünftigen Schwan verehrte. Mit dem Erlahmen der Arbeiter­bewegung in Westeuropa und dem Zusammen­bruch des Sozialismus in Osteuropa ist das Portal, zu dem die Arbeiterkultur den Schlüs­sel zu haben schien, erheblich ge­schrumpft; und es ist wahr­schein­lich, dass die verbreitete Abkehr von der Arbei­terkul­ turfor­schung, ja eine gewisse Unlust zu Unterschich­tenfor­schung überhaupt mit diesem Presti­geverlust ihres Gegenstands und damit auch seiner Erforscher zusammenhängen. Die Prüfung dieser These sollte sich mit der Absicht verbin­den, das ethno­graphische Interesse am tatsächlich oder schein­bar Kleinen, Infe­rioren, Unter­schicht­lichen ohne den Versuch seiner mytholo­gisierenden Erhöhung weiterzuführen. Wir sollten uns selbstbewusst damit abfinden, dass eine solche Forschung nicht vom Abglanz ihrer Themen illumi­niert wird, sondern ganz auf das eigene Licht angewiesen ist. Hoffen wir, dass dieser Kongress dazu beigetragen hat, unser aller Wattzahl zu erhöhen.4 Anmerkungen 1 Vgl. dazu und zur kulturanthropologischen Schlüsselsymbol-Suche allgemein den informativen Über­ blick von Ortner 1973. 2 Vgl. wiederum Kany 1987, 243 f., wo dieser Sachverhalt im Anschluss an Siegfried Kracauer diskutiert wird. 3 Brief an Schiller vom 16. /17. 8. 1797, in: Goethes Briefe, Bd.2, hg. von Karl Robert Mandelkow, Ham­ burg 1964, 299. 4 Für Hinweise und Kritik danke ich Götz Bachmann, Hermann Bausinger, Stefan Beck, Thomas Hau­ schild, Utz Jeggle, Gisela Welz und Andreas Wittel.

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Als sich die wissenschaftliche Volkskunde vor gut hundert Jahren zu etablieren begann, verstand sie sich wie die damalige Völkerkunde als primitivistisches Fach. Ihr vorrangiges Interesse galt zeitgenössischen Relikten »primitiver Kulturstufen«, die sie insbesondere in den sozialen Unterschichten zu finden meinte. Die volkskundliche Kulturwissenschaft der letzten Jahrzehnte hat mit guten Gründen und nach besten Kräften versucht, diesem Ursprung zu entspringen und sich der Alltagskultur der Moderne zuzuwenden. Die folgenden Überlegungen wollen keineswegs diesen Abschied vom Volksleben (Geiger u. a. 1970), wohl aber einige der damaligen Abschiedsworte revidieren: Die volkskundliche Kulturwissenschaft, so mein Plädoyer, sollte sich nicht als nichtprimitivistische, sondern als postprimitivistische Disziplin verstehen, d. h. es als eine ihrer Aufgaben ansehen, bestimmte Arbeitsfelder, aber auch bestimmte Fragestellungen des volks- und völkerkundlichen Primitivismus unter aktuellen Vorzeichen und mit erneuerten Methoden und Theorien weiter zu behandeln. In diesem Sinne versucht der folgende Aufsatz eine Sichtung der primitivistischen Erbschaft des Faches in pragmatischer Absicht.1 Dabei schienen mir zwei Durchgänge sinnvoll, die sich aus der Unterscheidung zweier Primitivismen ergeben. Der erste widmet sich dem »evolutionären Primitivismus«, der das Primitive als Vorstufe, als Keimform oder als noch präsenten Elementarbestandteil moderner Kulturen betrachtet. Der zweite behandelt den »re-volutionären Primitivismus«, der in modernekritischer – was nicht heißt: die Moderne verwerfender – Absicht auf kulturelle Potentiale als vorzivilisiert beurteilter Gesellschaftsformen aufmerksam machen, ja womöglich zurückgreifen will. Diese Trennung in evolutionären und re-volutionären Primitivismus ist keine nur analytische: Der erstere ist durchaus ohne den letzteren zu haben; oft jedoch, vor allem auch in der volkskundlichen Tradition, gehen beide ineinander über. Den beiden fachgeschichtlichen Durchgängen folgen dann drei kurze Kapitel, die sich mit aktuellen Folgerungen beschäftigen. Die evolutionäre Dimension

So wie die Völkerkunde des ausgehenden 19. Jahrhunderts außereuropäische Kulturen noch rechtzeitig vor ihrer Zerstörung oder Verwandlung durch Weltmarkt und Kolonialismus »festzuhalten« suchte, richtete die Volkskunde ihre Aufmerksamkeit auf inländische Volkskulturtraditionen, die vermeintlich und oft tatsächlich von Modernisierungsprozessen marginalisiert wurden. Der volkskundliche Sammlungs- und Rettungsimpuls war angesichts der historisch beispiellosen technischen, sozialen und kul­tur­ellen Innovationen des 19. Jahr-

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hunderts und eines mit der Reichsgründung einsetzenden Industrialisierungstempos, das nurmehr mit dem der USA zu vergleichen war, völlig verständlich, und er war per se keineswegs anti-, sondern innermodern, insofern es schlicht um die Übersiedlung des Vormoderne ins Gedächtnis der Moderne ging. Manche Volkskundevertreter der Gründungszeit betonen ausdrücklich, dass sie nicht konservativ, sondern lediglich konservatorisch dächten. Der Völker- und Volkskundler Richard Andree (1901, VIII) meint zu den »tief greifende(n) Umwälzungen«, die die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht zuletzt bei den »Sitten und Volksüberlieferungen« hervorgebracht habe, gut evolutionistisch: »Dieser Vorgang ist aber ein so natürlicher, dass wir ihn nicht beklagen dürfen, mag auch unser Gemüt, das der Väter Art und Weise hochschätzt, davon nicht immer zustimmend berührt werden.« Und Rudolf Virchow (1890, 591), der Initiator des Berliner Volkskundemuseums, nennt es den Zweck des soeben gegründeten Berliner Volkskundevereins, »das Volksthümliche, soweit es noch vorhanden ist, aufzusuchen und wenigstens in der Erinnerung zu bewahren (…).« Besonders sammelns- und untersuchenswert erschienen Zeugnisse der traditionalen Volkskultur dabei deshalb, weil man in ihr nicht nur die Vorgeschichte der Moderne, z. B. die Lebensweise der Großelterngeneration, sondern die Frühgeschichte der Menschheit repräsentiert sah. Die Überzeugung, dass sich in der Volkskultur der Gegenwart noch Spuren primitiver Kulturstufen finden ließen, ist dabei keine spezifisch deutsche Urtümelei, sondern lange Zeit ein international verbreitetes anthropologisches, soziologisches und volkskundliches Axiom. So erklärt z. B. George Laurence Gomme (1892, 2), einer der Begründer der britischen Folkloreforschung: The essential characteristic of folklore is that it consists of beliefs, customs, and traditions which are far behind civilisation in their intrinsic value to man, though they exist under the cover of a civilised nationality. (…) (I)ts constituent elements are survivals of a condition of human thought more backward, and therefore more ancient, than that in which they are discovered. Wie weit dieses »backward« zurückreichte, wurde ganz unterschiedlich und vage bestimmt. Wo, wie weithin üblich, das von Morgan stammende Entwicklungsschema »savagery – barbarism – civilization« zugrunde gelegt wurde, galt jedenfalls als ausgemacht, dass sich viele Grundzüge der traditionalen Volkskultur auf der Stufe »wilder Gesellschaften« herausgebildet hätten. Mängel und Fehler dieses Ansatzes sind in der ethnologischen wie der volkskundlichen Diskussion inzwischen hinreichend offen gelegt worden.2 Die Suche nach Urformen als Erstformen muss scheitern, da sie keinen historischen Referenzpunkt finden wird; wo sie sich zur Suche nach »uralten« Formen oder nach epochenüberdauernden »Grundmustern« ermäßigt, gerät sie leicht in einen methodischen Reduktionismus, der sich auf die longue durée einzelner Elemente komplexer Kulturtatsachen (auf einzelne Märchenmotive, Webmuster, Tanzschritte usw.) kapriziert, aber die Frage nach dem historischen Wandel in deren Zusammenspiel, Semantik und sozialer Funktion vernachlässigt. Noch problematischer als

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dieser tendenzielle Reduktionismus der primitivistischen Methodik ist der Unilinearismus der primitivistischen Theorie: die Platzierung von Kulturdifferenzen auf einer einzigen Zeitschiene, die als Entwicklungs-, ja Fortschrittsschiene gedacht war, wobei europäische und hier wiederum bürgerliche Kultur implizit oder explizit als bisheriger Gipfelpunkt fungierten. Mit dieser Denkvoraussetzung war die falsche Gleichung »primitiv« = »primär« programmiert: Je ferner und fremder ein Kulturphänomen der eigenen Kultur oder richtiger gesagt: deren Selbstbild war, desto höher wurde sein Alter eingeschätzt, desto näher gerückt wurde es einem fiktiven NatUrzustand. Vereinfacht kann man von vier großen »Antipodien« sprechen, mit denen der Kulturevolutionismus sich seinen »primitiven« Gegenfüßler konstruierte: 1. Unterschiede der sozialen Differenzierung. Ausgehend von der entfalteten Arbeits­ teilung in der Moderne und den ihr entsprechenden Trennungen von Hand­lungs­ be­­reichen und -formen (z. B. Alltagsdenken versus wissenschaftsförmiges Den­ken) werden sozial homogene Gesellschaftsformen und ein hoher Integrationsgrad von Hand­lungssystemen (z. B. Arbeit – Kunst – Religion) als Signum »primitiver« Entwick­ lungs­stufen angesehen. 2. Unterschiede der Rationalisierung. Zweckrationales, diskursiv begründetes, auf Ord­ nungs­systeme gestütztes Handeln gilt als Signum der Moderne, irrationales, nichtreflektiertes, spontanes Denken und Handel als Signum älterer Kulturstufen bzw. noch nicht über deren Standard hinausgekommener Kulturen. 3. Unterschiede der Domestizierung. Ein hoher Grad der Beherrschung und For­mung von äußerer und innerer Natur firmiert als späte soziale Errungenschaft; geringere Kon­ trolle und Sublimierung z. B. von sexuellen und aggressiven Im­pulsen stehen angeblich dem Naturzustand näher. 4. Unterschiede der Individualisierung: Individuelle Autonomie und individuelle Per­ sönlichkeitsmerkmale werden der Moderne, spontane Gruppenloyalität oder das Vor­ herrschen kollektiver Denk- und Handlungsmuster früherer Kulturen bzw. »stehen gebliebener« Völker und Gruppen zugerechnet. Es ist bis heute umstritten, wie viel Realitätsgehalt in diesen Gegensatzpaaren steckt, vor allem, inwieweit sie einzelgesellschaftliche Entwicklungen in bestimmten Denk- und Handlungsbereichen durchaus abzubilden vermögen. Sicherlich untauglich sind sie jedoch als kulturhistorische Generalschemata, gehen sie doch sowohl über innere Widersprüche der Moderne selbst wie über diesen Schemata nach als »modern« zu bewertende Charakteristika früherer Gesellschaftsformen hinweg: Individuelle Familienbindungen sind, wie z. B. Malinowski zeigte, keineswegs in allen Gesellschaften die jüngere, Großgruppenbindungen die ältere Assoziationsform; und Triebsublimierung und Affektkontrolle sind, wie Hans Peter Duerr ausführlich dargestellt hat, keineswegs nur Ergebnis einer bürgerlich-europäischen Entwicklung der letzten Jahrhunderte.

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Interkulturelle Brückenschläge Es wäre jedoch nur die halbe Wahrheit, wollte man den Kulturevolutionismus als eine Theorie der falschen Trennungen betrachten. Seine Betrachtung des Verhältnisses von »primitiv« und »zivilisiert« und als eher primitiv und als eher zivilisiert eingestuften ethnischen und sozialen Gruppen war vielmehr janusköpfig. Die Idee einer unilinearen Evolution war trennend, insofern sie einzelnen Kulturformen und ganzen Gruppenkulturen vordere oder hintere Plätze auf einer Entwicklungslinie zuwies. Sie war verbindend, insofern sie alle auf ein und derselben Linie platzierte, was immerhin bedeutete, dass das »Unzivilisierte« nicht mehr als das z. B. rassisch Andere oder als pathologische Verirrung angesehen wurde, sondern als Vor- oder Elementarform der eigenen Kultur. In der frühen volkskundlichen Forschung ist diese Ambivalenz sehr deutlich ausgeprägt. Verbreitet ist in ihr die Auffassung, dass sich »in der vorgeschichtlichen Epoche jedes Volkslebens« eine »ganze Schicht unmittelbaren religiösen Denkens, religiöser Vorstellungen und Bräuche« ausgebildet habe, eine »Unterschicht alles geschichtlichen Volkslebens (…), aus deren Mutterboden alle individuelle Gestaltung und persönliche Schöpfung herausgewachsen ist (…)« (Dietrich 1902, 175). Und wenn das Primitive nicht als bloßer Vorläufer, sondern als Vorfahre der modernen Zivilisation gilt, lag die Möglichkeit nah, auch in den späteren Entwicklungsstufen survivals der früheren Stufen anzunehmen, im Mann das Kind und im Kind den Primitiven zu entdecken. Wenngleich es also weithin volkskundlicher Konsens war, dass das Primitive außer in den »Naturvölkern« draußen vor allem in den Unterschichten des eigenen Volks überlebt habe, wurde doch – zumindest en passant – immer wieder eingeräumt, dass auch die Oberschicht von solchen »survivals« nicht frei sei. So schreibt z. B. Eugen Mogk (1907, 4), dass

der Gebildete ebenso gut Stoff zur Volkskunde liefern kann wie der Ungebildete, der Mann aus dem Volke. In jedem Menschen lebt gleichsam ein Doppelmensch: ein Natur­ mensch und ein Kulturmensch: dieser zeigt sich durch seine reflektierende und logische Denkweise, jener durch seine assoziative. Unter den Gebildeten überwiegt im gewöhnlichen Leben der Kulturmensch, allein auch er kann in Lagen kommen, wo er in den Bann der assoziativen Denkform gerät. Nicht wenige Vertreter des volkskundlichen Primitivismus nutzen diesen dabei nicht nur für einen binnennationalen Brückenschlag zwischen Gebildeten- und Volkskultur (der natürlich per se politisch mehrdeutig bleibt, d. h. ebenso demokratisch-antielitaristisch wie volksgemeinschaftlich-repressiv gewendet werden kann); es geht ihnen auch um die Durchlöcherung ethnizistischer Grenzziehungen. Die Zeitschrift des Vereins für Volkskunde ist in den ersten Jahrzehnten voll von Versuchen, Parallelen zwischen einheimischen und fremden Kulturmustern – Bräuchen, Erzählmotiven, Dinggestaltungen usw. – zu finden und damit eine entweder primär auf gemeinsame Anlagen oder primär auf Diffusion zurückgeführte »geistige Gemeinschaft der Völker« (Negelein 1901, 23) zu belegen. Dabei geht es nicht nur um nationen-, sondern auch um »rasse«-übergreifende Gemeinsamkei-

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ten, also z. B. nicht nur um »indogermanische«, sondern auch um universelle Bezüge. Dass diese Suche nach Kulturparallelen dabei streckenweise zur Manie wurde, dass sie oft mit gewagten Ab­straktionen und der Atomisierung kohärenter Kulturtatsachen arbeitete, ist unübersehbar,3 doch hat sie der Fiktion hereditärer völkischer Eigenarten zweifellos auch manch stichhaltiges Beweismaterial entgegengesetzt. Der Grad, in dem dabei ethnizistische Grenzziehungen dekonstruiert wurden, ist freilich unterschiedlich: Teilweise beschränkte sich der interkulturelle Brückenschlag auf wenige Einzelzüge oder wurden nur Parallelen z. B. zwischen den Germanen und heutigen »Naturvölkern«, aber nicht zwischen heutigen Deutschen und Außereuropäern hervorgehoben;4 teilweise werden – u. a. im Anschluss an Adolf Bastians Annahme universeller »Elementargedanken« – wesentliche Strukturgleichheiten »entwickelter« und »unentwickelter« Kulturformen betont; teilweise wird der Unterschied zwischen so genannten primitiven und so genannten zivilisierten Völkern auf unterschiedliche Stufen der Technik und Naturwissenschaft reduziert.5 Und auch der Grad, in dem der Befund interkultureller Bezüge sich mit antinationalistischen und antirassistischen Positionen verbindet, ist höchst verschieden. Nur selten werden solche Positionen so explizit und entschieden vertreten wie von Friedrich S. Krauss (1904, 318 f.), der schreibt: Der Volksforschung winkt als Preis die Erreichung des endlichen Zieles, dass es ihr einmal gelingen wird, die noch erhaltenen Einrichtungen und Schranken einer urzeitlichen Gesellschaft niederzureißen, durch welche die Menschheit in ständig kriegsbereite, rauflustige Horden eingeteilt erscheint. Erkennt man, dass wir Menschen alle »eine« Art bilden, dass auch alle uns voneinander sondernden transzendentalen Spekulationen unnütz und abgebraucht sind, so werden die Gruppen aufhören, einander die knappe Zeit ihres Lebens zu vergällen und zu verkürzen. Wie gesagt: Viele führende Fachvertreter der Zeit denken in eine ähnliche Richtung. Raimund Friedrich Kaindl (1903, 46) z. B. meint in seinem Grundlagenbuch Die Volkskunde: Was der geistreiche F. Max Müller in seinen Vorlesungen Indien in seiner weltgeschichtlichen Bedeutung über die heilsame Wirkung des vergleichenden Sprach­studiums bemerkt, dass es die Verbreitung eines Gefühles der engsten Brüderlichkeit bewirkt, so dass wir uns zuhause fühlen, wo wir zuvor Fremdlinge gewesen waren, und Millio­nen so genannter Barbaren in unser eigenes Fleisch und Blut verwandelt; das gilt in vollem Maße von der vergleichenden Volkskunde. Die spätere faschistische Volkskunde hat solche Auffassungen als liberalistische oder jüdische Ideologie gebrandmarkt, welche an der »völkischen Eigenart der Deutschen« und an der Rassenverschiedenheit des »Ewig-Unterschichtliche(n) des Kulturlebens« (Mackensen 1937, 6 und 37) vorbeigehe. Matthes Ziegler (1934, 712) schimpft 1934 in seiner Volkskunde auf rassischer Grundlage: »Die utopistische Lehre von der Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt, hat sich in unserer Frühgeschichtsforschung und Volkskunde in

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gleicher Weise verhängnisvoll ausgewirkt.« Die Nazis, so scheint es, haben das im primitivistischen Ansatz enthaltene kritische Potential besser erkannt als manche Fachhistoriker der letzten Jahrzehnte. Der archaisierende Blick Die evolutionistische Parallelensuche macht die sich etablierende Volkskunde zum Vorläufer einer Europäischen Ethnologie. Fast die Hälfte der Abhandlungen, die zwischen 1890 und 1914 in der Zeitschrift des Vereins für Volkskunde erscheinen, behandelt interkul­turelle und außerdeutsche Themen (vgl. Warneken 1999, 176 f.). Freilich war es kein wirklicher Kulturvergleich, der damals betrieben wurde, sondern eben bloß ein Vergleich von survivals untereinander oder mit vor- oder außerzivilisatorischen Kulturtatsachen, in denen deren ursprüngliche, »volle« Form vermutet wurde. Wäre man sich dabei durchweg bewusst gewesen, dass man nur vor- oder außermoderne Segmente oder Bauteile der untersuchten Gegenwartskulturen, z. B. der deutschen Bauernkultur, erfasste, so wäre gegen ein solches selektives Suchprogramm – abgesehen von seinem evolutionistischen Ordnungssche­ma – nichts einzuwenden gewesen. Doch das ja unter »Volkskunde« und nicht unter »volkskundlicher Primitivismus« firmierende Fach neigte von Anfang an dazu, die nichtmodernen Momente in der »Volkskultur« zu überzeichnen: althergebrachtes Gewohnheitshandeln zu unterstellen, wo längst bürgerliche Rechtsformen adaptiert worden waren; nur dort hinzusehen, wo unreflektiert-kollektive Kulturmuster leicht unterstellt werden konnten, wie z. B. bei Festbräuchen, aber individualisierte Denkformen, wie sie z. B. in popularer Autobiographik greifbar waren, zu übersehen oder wegzuinterpretieren; oder auch dort irrationale Gewohnheit zu unterstellen, wo durchaus rationales Kalkül Pate gestanden hatte (also, um ein Miniaturbeispiel zu nehmen, das schnelle Schnapskippen der Landarbeiter sofort nach Arbeitsschluss nicht als Ausdruck wilder oder verwilderter Sitten, sondern als sinnvolle Regenerationsstrategie anzusehen, die baldiges Einschlafen zeitigte und damit morgendliches Fitsein eher gewährleistete als der lange, bürgerlich-gemütliche Bierabend). Dieselbe Tendenz zur Archaisierung mit der Moderne zumindest vermittelter Phänomene lässt sich für die volkskundliche Auffassung vom kollektiven Unbewussten feststellen. Zwar gibt es durchaus Ansätze dazu, gruppengemeinsame Denk- und Hand­­lungs­­muster als spontanisierte, aber der bewussten Formung nicht entzogene Produkte aktueller oder jüngst vergangener, mithin auch moderner sozialer Entwicklungen zu sehen. So kommt der Schweizerische Volkskundler Eduard Hoffmann-Krayer (1897, 10) in manchem dem Habitusbegriff nahe, wenn er »Volk« einen »sozialen Begriff« nennt, die Gemeinsamkeit bestimmter Vorstellungen als »durch äußere Lebensumstände bedingt« bezeichnet und postuliert, dass das Gewohnheitsmäßige zwar »mechanischen« Charakter habe, jedoch auch von »intentionellen Geistesbewegungen« aufgegriffen und weiter ausgebildet werden könne.6 Oft jedoch werden kollektive Habitusformen weniger als Sozialprodukt denn als psychophysisches Erbgut behandelt, was dadurch erleichtert wurde, dass vor allem von den leichter biologisierbaren ethnischen Gemeinsamkeiten, von »Volksgeist« oder »Volksseele«, und nicht von Schicht- oder Klassengeistigkeiten die Rede war.

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Freilich darf die »List der Vernunft« nicht übersehen werden, die in der einseitig auf survivals der Vormoderne gerichteten und dabei vieles als survival fehldeutenden Kulturforschung waltete: Die Meinung, in bäuerlichen Hochzeitsbräuchen, in popularen Rätseln oder Flüchen die Überreste weit in die Menschheitsgeschichte zurückreichender Weltbilder und Handlungssysteme vor sich zu haben, war eine wesentliche Bedingung dafür, außerhalb der Hochkultur liegende Kulturgüter und damit auch vieles an der Kultur unterbürgerlicher Schichten als wissenschaftswürdig anzuerkennen. Die Neigung, »für jeden Trödel im Namen der ›uralten Sage‹ Ehrerbietung (zu begehren)« – so einmal August Wilhelm Schlegel (1847, 391) über die Grimms –, führte nicht nur zu Mystifikationen, sondern auch zu Sammlungen, mit deren Hilfe sich diese Mystifikationen heute korrigieren lassen, und zur Institutionalisierung kulturwissenschaftlicher Aufmerksamkeitsrichtungen, die ihren ideologischen Ursprung überlebt haben. Eines der Beispiele hierfür ist die volkskundliche Frauenforschung. Der primitivistische Glaubenssatz, dass Frauen eine tiefere Stufe der Zivilisation repräsentierten, war auch noch in seiner freundlichen Fassung, dass Frauen noch nicht »verbildet« und »verzogen« (Kopp 1903, 463) seien, eine patriarchalische Zumutung. Immerhin setzte er der Rede von dummen Ammenmärchen und banalem Weibergeschwätz den Satz entgegen, dass es »die Weiber« seien, »die die alte Überlieferung treulich festgehalten haben« (Otto 1898, 362). Alltagsleben und Alltagskultur von unterbürgerlichen Frauen werden dabei zwar nur ausschnittsweise und diese vorzugsweise in tradierten Rollen, aber immerhin mehr als in Nachbarwissenschaften wie Historik und Germanistik wahr und ernst genommen. Das schließt ein, dass Frauen häufig als »Gewährsmänninnen« aufgesucht und, wenngleich viel seltener, auch als kompetente Sammlerinnen geschätzt wurden – bescheidene Anfänge einer Feminisierung von Wissenschaft. Das Interesse am Körper Ein anderes, die Volkskunde bis heute begleitendes Erkenntnisinteresse, wurde ebenfalls durch den primitivistischen Ansatz gefördert: das Interesse an leibnahen Praktiken, an Körperkultur. Die Bräuche um Schwangerschaft und Geburt, Essen und Trinken, Krankheit und Ster­ben, d. h. der kulturelle Umgang mit (zumindest bislang) universalen, da mit der (bisherigen) Natur des Menschen verbundenen Phänomenen boten sich der Suche nach epochenund länderübergreifenden »Elementargedanken« und deren evolutionärer Entwicklung ja tatsächlich an erster Stelle an. Die Suche nach vorzivilisatorischen Anteilen der Gegenwartskultur führte auch zu Untersuchungen über die so genannten »niederen Sinne«: Max Höfler (1893, 439) z. B. arbeitete über den Geruchssinn, den er mit dem Nahrungs- und Geschlechtstrieb verbunden sah, »diese(n) mächtig drängenden Faktoren in der menschlichen Kulturgeschichte«. Friedrich S. Krauss erklärte es zu einer zentralen volkskundlichen Aufgabe, sich mit »Erscheinungen des so genannten rohesten, abscheulichsten, verächtlichsten Triebes, des Geschlechtstriebes« zu beschäftigen und »endlich genau zu ermitteln, wie

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die Zähmung des ursprünglichsten und allerkräftigsten Triebes, der von der Menschwerdung der Primaten an bis auf die Gegenwart hinein auf die Geschicke der einzelnen und der Völker entscheidend einwirkt, vor sich geht« (Anthropophyteia, 1904, VII f.). Wenngleich das Aufstöbern und Veröffentlichen oftmals drastischer erotischer Folklore, das Krauss praktizierte, viele Fachgenossen irritierte bis abstieß, wurde sein sexualvolkskundliches Programm als solches doch von vielen prominenten Vertretern der internationalen Volks- und Völkerkunde begrüßt. Zu den Redaktionsmitgliedern der von Krauss herausgegebenen sexualkulturellen Zeitschrift Anthropophyteia gehören neben Volkskundlern wie Guiseppe Pitré und Völkerkundlern wie Franz Boas und Karl von den Steinen auch der Mitbegründer der modernen Sexualforschung, Iwan Bloch, und seit 1910 Sigmund Freud. Einen Augenblick lang öffnet sich eine im Wissen um die spätere Fachentwicklung nicht anders als sensationell zu nennende Perspektive: ein Zusammenwirken der Volkskunde mit den neu entstehenden Disziplinen Sexualwissenschaft und Psychoanalyse. Dass diese, nicht zuletzt aufgrund der primitivistischen Implikate des Freudschen Ansatzes durchaus gegebene Möglichkeit schließlich doch nicht realisiert wurde, hat seinen Grund nicht nur in auch innerwissenschaftlich wirksamen Sexualtabus, sondern in allgemeineren kultur- und gesellschaftspolitischen Implikaten des volkskundlichen Projekts, von denen nun zu reden sein wird. Die re-volutionäre Dimension

Eines der ersten Periodika der neuen Disziplin Volkskunde war die Zeitschrift Am Ur-Quell. In ihrer Präambel heißt es: »Das Volkstum ist die Urquelle aller Kenntnisse über ein Volk, das Volkstum ist aber auch der Völker Jungbrunnen, der sie jung erhält, der sie, wenn ihnen Unter­gang droht, verjüngen kann« (Krauss 1890, 2). Volkskultur nicht nur als Geschichts-, sondern auch als Heilquelle, der Primitivismus nicht als bloße Rekonstruktion eines kulturellen Evolutionsprozesses, sondern als Instrument einer Re-volution, einer Erneuerung der Moderne – diese Intention wird mit dem Ende des 19. Jahrhunderts in der Volkskunde immer einflussreicher. Noch 1878 hatte Wilhelm Mannhardt (1878, 3) in Die praktischen Folgen des Aberglaubens schreiben können, auch dem deutschen Volk sei es nicht erspart worden, in seiner Mitte zahlreiche Individuen, ja ganze Bevölkerungs­grup­ pen mitzuführen, welche mit einem großen Teile ihrer geistigen Habe tief unter dem Kulturstandpunkte ihres Volkes stehen geblieben und dadurch ein schwer­wiegendes Hem­ m­nis des weiteren sittlichen und intellektuellen Fortschrittes geworden sind. Zwei Jahrzehnte später herrscht im Fach ein anderer Ton. So sagt z. B. Albrecht Dieterich (1902, 173) in seinem schon zitierten Vortrag Über Wesen und Ziele der Volkskunde:

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Über die Zeit sind wir ja theoretisch wohl hinaus, da der Gebildete sich bewusst verach­ tend trennte von allem Treiben des ungebildeten Volkes und mitleidsvoll herabsah auf Altweibergeschichten, sinnlose Bauernsitten oder den unglaublichen, der aufgeklärten Zeiten unwürdigen Aberglauben: wenigstens gibt es doch heute meist noch etwas andere Gesichtspunkte demgegenüber als den verächtlichen oder fanatischen Wunsch der Ausrottung. Diese Wertschätzung des Volkskulturell-Primitiven, das Motive der romantischen Volkskulturauffassung auf evolutionstheoretischer Basis fortsetzt, das also Jacob Grimm darwinistisch renoviert, reiht sich ein in das wachsende »Unbehagen in der Kultur«, sprich: in der kapitalistisch-bürgerlichen Zivilisation, das sich Ende des 19. Jahrhunderts ausbreitet (und allein schon wegen des unerhörten Tempos der Urbanisierung, Technisierung, Verschulung, Verwissenschaftlichung usw. alles andere als erstaunlich ist). Von einigen Volkskundlern werden die Gründe für dieses Unbehagen auch durchaus reflektiert und – zumindest ansatzweise – kultursoziologisch verortet. Dabei wird zum einen von einer durch wachsende Ausdifferenzierung und Autonomisierung geistiger Arbeit entstandenen Kluft zwischen »Gebildeten« und »Volk« gesprochen, die im gesamtgesellschaftlichen, im nationalen Interesse überwunden werden müsse; zum andern von einer sozialen und seelischen Verarmung der neuen Bildungsschichten durch die wachsende Individualisierung und Rationalisierung ihrer Tätigkeiten. Prägnant fasst Adolf Strack beide Aspekte zusammen, wenn er von den »künstlichen Schranken« spricht, welche den Gebildeten »von seinem Volke und einem guten Teil seines eigenen Selbst trennen« (Verband deutscher Vereine für Volkskunde 1906, 13). Nun stellen weder das Konstatieren einer solchen doppelten Entfremdung noch der Versuch, ihr durch den Rückgriff auf »primitive« Kulturmuster begegnen zu können, als solche schon eine spezifisch volkskundliche Programmatik dar. In dieser allgemeinen Form sind sie Teil einer breit gestreuten Modernekritik, die – je nach sozialer Position und Positionierung – ganz unterschiedliche Unkosten des Zivilisationsprozesses ansprach und kultur- und gesellschaftspolitisch unterschiedliche Ziele verfolgte. Freunde der Volkskunst und Fans der Avantgardekunst, religiöse Erneuerungsbewegungen und libertäre Sexualreformer, marxistische und anarchistische ebenso wie völkische und rassistische Theoretiker riefen zur Besinnung auf frühere Kulturqualitäten, welche die bürgerliche Gesellschaft zerstört oder unterdrückt habe. Auch der volkskundliche Primitivismus ist keine einheitliche Bewegung, sondern zeigt bei den Fragen, welche »primitiven« Kulturgüter vor allem rettungswürdig seien und für welche gesamtgesellschaftliche Ordnung sie gerettet werden sollten, wenn nicht deutliche Unterschiede, so doch unterschiedliche Deutlichkeiten. Der volkskundliche Mainstream tendiert allerdings von Anfang an zu ideologischen Verengungen, er entwickelt die kulturell und politisch produktiven Seiten des zeitgenössischen Primitivismus nur sehr partiell.

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Die Sympathie fürs Kollektive Eine wesentliche Rolle spielten im re-volutionären Primitivismus z. B. die Konstruktion oder Rekonstruktion vormoderner Kollektivstrukturen: »staatslose« Selbstregierung, Gemeinbesitz, genossenschaftliche Produktions- und Distributionsformen, familienübergreifende Netzwerke. Die Entdeckung bzw. Behauptung, dass solche Vergesellschaftungsweisen – zumal auf einheimischen Boden – funktioniert hatten oder teilweise noch funktionierten, kratzte am Normalitätsanspruch der herrschenden Wirtschafts- und Politikmuster und beflügelte die soziale Phantasie. Ein früher Beleg hierfür: Lewis Henry Morgans (1908, 475) einflussreiche Untersuchung Ancient Society mündet in die Sätze:

Demokratie in der Verwaltung, Brüderlichkeit in der Gesellschaft, Gleichheit der Rechte, allgemeine Erziehung werden die nächste höhere Stufe der Gesellschaft einweihen, zu der Erfahrung, Vernunft und Wissenschaft stetig hinarbeiten. Sie wird eine Wiederbele­ bung sein – aber in höherer Form – der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit der alten Gentes. Ein später Beleg: Marcel Mauss’ Studie Die Gabe von 1925, welche »Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften« behandelt, endet mit moralischen, soziologischen und ökonomischen Schlussfolgerungen, welche dem kapitalistischen und imperialistischen Gegenwartseuropa ein Modell von Schenk-, Bündnis- und Handelsbeziehungen entgegensetzt, die ein gruppenegoistisches und nur am kurzfristigen Erfolg orientiertes Gewinn- und Machtstreben ausschließen. Mauss’ Untersuchung vormoderner Schenk- und Erwiderungspflichten stützt sich nicht zuletzt auf Forschungsarbeiten deutscher Volkskundler (vgl. Mauss 1999, 150); die Tendenz seiner Folgerungen jedoch war deren Sache nicht. Die Sympathien, welche aus damaligen volkskundlichen Darstellungen »primitiver« Kollektivstrukturen herausklingen, gelten kaum je sozialistischen oder auch nur genossenschaftlichen Programmatiken; sie nehmen im Gegenteil, wo sie konkreter werden, schnell politisch reaktionäre Züge an. Das nicht schon deshalb, weil das Kollektivleben vor allem als ländliches auftaucht; auch sozialistische Programme und Bewegungen dieser Epoche – von den russischen Narodniki bis zu dem Anarchismus eines Gustav Landauer – wollen an dörfliche Traditionen anknüpfen. Das Problem ist vielmehr, dass viele Volkskundler der Zeit in ihrer Darstellung kollektiver Volkskultur rigide Formen der Inklusion und Exklusion – autoritäre soziale Kontrolle, Abschottung gegen Fremde – übergehen oder gutheißen und dass sie nicht so sehr den Bourgeois zu sozialer Verantwortung aufrufen als den Citoyen von »zersetzendem« Individualismus zurückpfeifen. Erschwerend kommt hinzu, dass meist gar nicht auf unterschichtliche – kleinbäuerliche, unterbäuerliche, plebejische usw. – Kollektivstrukturen rekurriert wird, sondern hierarchisch geordnete Sozialgebilde zur »Gemeinschaft« erklärt werden. Allerdings ordnet sich die volkskundliche Forschung dabei nicht immer so deutlich politischen Interessen zu, wie das Eugen Mogk mit seiner Polemik gegen die Sozialdemokratie und seiner Verherrlichung deutscher Gefolgschaftstreue tut (Mogk 1904, 5). Meist bleibt

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es bei Manifestationen eines Leidens an sozialer Konkurrenz und sozialer Isolation und einer unbestimmten Sehnsucht nach Integriertheit und Gemeinschaftssinn, die politisch noch durchaus mehrdeutig ist. Ein anderes Problemfeld ist der volkskundliche Umgang mit dem »primitiven Geistesund Seelenleben«, mit kognitiven, ästhetischen, moralischen und emotionalen Potentialen tradierter Volkskultur. Eugen Mogk (1900, 274) spricht eine damals weit verbreitete, wenn nicht herrschende Lehrmeinung aus, wenn er das »Volk« der Volkskunde folgendermaßen charakterisiert: Unter »volkstümlich« fassen wir alles das zusammen, was dem Volke eigentümlich ist. Dabei verstehen wir unter Volk nicht die Gesamtheit der unter gemeinsamen Gesetzen vereinten Menge, sondern nur die Schichten der Bevölkerung, die im Gegensatz zu den Gebildeten einer wissenschaftlichen Erziehung und Ausbildung entbehren und deren ganzes Denken, Fühlen und Wollen nicht in die Zwangsjacke logischer Folgerichtigkeit und reifer Überlegung eingeengt ist. Hier herrscht nicht geschulter Verstand, sondern angeborner Mutterwitz, natürliches Gefühl und eine heilige Scheu vor dem Überlieferten. Mit diesen angeerbten Eigenschaften trifft der gemeine Mann in seinen Handlungen nicht selten das Richtige, und wenn ihn auch hier und da der Gebildete mit seinem geschulten Verstande nicht zu begreifen vermag, so spricht doch auch aus der unverstandenen Handlungsweise Herz und Gemüt (…). Eine janusköpfige Argumentationsfigur: Einerseits betreibt sie die bekannte bürgerliche Selbstüberhebung weiter, die den unteren Sozialschichten das logische Denken abspricht, andererseits attribuiert sie diesem primitiven Denken einige den »höheren« Verstandestätigkeiten ebenbürtige oder gar überlegene Qualitäten. Strukturell ist dies genau die Sichtweise, die Lucien Lévy-Bruhl (1959) zwanzig Jahre später in La mentalité primitive in elaborierter Form vorlegt: die Konstruktion eines von Logik, Selbstreflexivität und Individualität unbeleckten, gleichwohl semantisch reichen und pragmatisch effektiven Denkens nichtzivilisierter Völker. Immerhin wird in diesem sei’s auch vergifteten Lob die Volkskultur nicht nur, wie im rein-evolutionistischen Zugriff, ein in die Menschheitsgeschichte zurückverweisender Quellenwert, sondern überdies ein aktueller Gebrauchswert zugesprochen. Es wird anerkannt, dass »primitive« Kultur Sinn machen kann – für ihre Träger, ja möglicherweise auch für ihre bürgerlichen Entdecker, d. h. Volkskultur wird zu einer prinzipiell legitimen Kultur­option. Es sind dabei nicht nur – wie man argwöhnen könnte und wie es bei Mogk auch der Fall ist – primitive Gefühls- und Glaubenskraft, die anerkennens- und aneignenswert erscheinen, sondern auch populare Wissensbestände und Verfahrensweisen. Volksmedizin wird potentiell zur Alternativmedizin, Formen und Farben der Volkskunst werden zum Ferment moderner Kunstproduktion (vgl. Korff 1994). Und wenngleich oft die Sehnsucht nach dem »Einfachen«, dem »Reinen«, dem »Naiven« ins Forschungsfeld führt, wird man bei der näheren Betrachtung der Fundstücke dann unter Umständen eben doch komplexer Strick- und Denkmuster gewahr, entdeckt man in scheinbar trivia-

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len Brauchhandlungen mehrbödige Semantiken, ausgefeilte Regelsysteme und Geschichtsphilosophien, kurzum statt der primitiven Alternative zum Intellekt die Manifestationen eines alternativen Intellekts. Zugespitzt gesagt: Dass die Primitiven nicht primitiv sind, ist eine Entdeckung von Primitivisten. Primitivismus light Allerdings ist die »Primitivität«, welche die Volkskunde interessiert, relativ eng umgrenzt, der volkskundliche Geschmack am tatsächlich oder scheinbar Vorrationalen, am Unzivilisierten ist relativ wählerisch. Zum einen wird, den oben zitierten gegenteiligen Absichtserklärungen zum Trotz, im Forschungsalltag vor allem die bäuerliche Kultur zum Gegenstand genommen – das schreckende und lockende »innere Afrika« ( Jean Paul) in den Bürgern, welches die damalige Psychoanalyse zu erkunden sucht, wird letztlich ebenso selten inspiziert wie die Wildheit und Verwilderung der Großstädte, welche die primitivistische Avantgardekunst in ihren Fokus einbezieht. Zum andern ist die Aufmerksamkeit auf das »primitive Erbe« in der Bauernkultur recht selektiv. Gefiltert wird es z. B. durch quasi-touristische Bedürfnisse – mit Alois Riegl (1895, 5) ausgedrückt: ein »Bedürfnis nach Weltflucht«, das »den modernen Städter so häufig aus dem nervenaufregenden Allerlei seiner Berufsthätigkeit in die besänftigende Muße ländlicher Abgeschiedenheit treibt« – , aber auch durch volks- und nicht zuletzt schulpädagogische Interessen (die mit Abstand stärkste Berufsgruppe unter den Vereinsmitgliedern und Sammlern der damaligen Volkskunde sind die Lehrer), die dazu beitragen, dass sich die Suche nach alternativen volkskulturellen Werten doch in Rufweite des herrschenden Geschmacks und der herrschenden Moral abspielt. So begnügt man sich z. B. bei den Medien und Genres der Kommunikation weitgehend mit »Primitivismus light«. Die Suche nach dem »Elementaren, Einfachen, Natürlichen« führt meist nicht wirklich hinaus ins rough, sondern endet auf dem hausnahen pleasure ground. »Rohe« Ausdrucksformen wie z. B. das Schreien oder das Pfeifen erhalten, obwohl sie (nicht nur) im popularen Alltag und darüber hinaus zweifellos eine nicht unerhebliche bedeutende Rolle spielen, nur geringe Aufmerksamkeit. Man hält sich weitgehend an bereits sprachlich und literarisch Elaboriertes wie das Lied, das Märchen, das Rätsel, kurz an das »poetische Element im Leben des Landvolkes« (Hauffen 1910, 296). Geschmacksrücksichten stehen auch der Beschäftigung mit anderen »elemen­taren« Lebens­tatsachen im Wege. So wird z. B. der Umgang mit den körperlichen Ausscheidungen einschließlich der dafür vorhandenen Sachkultur und der darauf bezogenen Kommunikation nirgends eingehender untersucht. Auch Max Höflers Aufsatz über das Riechen und dessen volkskulturelle Ausprägungen ist eine Ausnahme. Sehr begrenzt ist zudem die volkskundliche Tätigkeit auf dem – oben schon angesprochenen – Sektor Sexualkultur, der im außervolkskundlichen, sei’s wissenschaftlichen, sei’s künstlerischen Primitivismus bekanntlich eine zentrale Rolle spielt. Gewiss finden sich immer wieder Bekundungen, dass die Volkskunde ländliche Sitten und ländliche Sittlichkeit nicht gleichsetzen dürfe, dass, »W­er objektiv, d. h. wahrhaft forschen will, (…) nicht vor dem so genannten Unsittlichen Halt machen« (Anthropophyteia 1906, 18) dürfe und dass nach bürgerlichen Begriffen Unsittli-

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ches in popularen Bräuchen, Mythen, Rätseln, Witzen usw. eine nicht unbedeutende Rolle spiele. Und als Friedrich S. Krauss dem volkskulturellen Umgang mit Sexualität eine eigene Zeitschrift widmet, registrieren viele Fachkollegen dies als durchaus verdienstvoll (z. B. Anonym 1899; Poliivka 1906, 212 f.). Allerdings bleibt dieses Interesse an Sexualforschung bei den allermeisten Volkskundlern platonisch. Unter den fast 150 Autorinnen und Autoren, die in der Anthropophyteia veröffentlichen, ist außer Krauss selbst kein einziger bekannter Volkskundler. Zu Recht bemerkt Krauss (1897, 256), »dass der größte Teil aller Folklore-Sammlungen gerade betreffs der nach jeder Rich­tung hin belangreichen, auf das Geschlechtsleben bezüglichen Überlieferungen ängstliches Stillschweigen beobachtet.« Dabei handelt es sich freilich nur zum Teil um eine freiwillige Selbstkontrolle, welche unter anderem mit der engen Verzahnung von volkskundlicher und volkspädagogischer Arbeit erklärbar ist. Vielmehr ist hier auch eine spezielle Ausprägung von deutscher Ideologie beteiligt, welche den beliebten Phantasien von den sexualitätsbesessenen »Naturvölkern« der Gegenwart die Phantasie eines keuschen Germanentums hinzufügt. Als erste und erstrangige Quelle für diese Theorie dient dabei Tacitus, der die Germanen bekanntlich zum Gegenbild des verderbten Rom stilisiert. Auf ihn bezieht sich z. B. Eugen Mogk (1903, 279), wenn er die althergebrachte Keuschheit der deutschen Jugend und der deutschen Frauen preist und den Germanen wenn überhaupt eine, so nur eine »gesunde Geschlechtsliebe« zuspricht.7 Dass in deutschen Dörfern der Gegenwart zum Teil andere, lockerere Sitten herrschten, will Mogk (1903, 280) zwar nicht leugnen, doch erklärt er dies zum Einfluss »fremden Geistes«. Es kann mithin als legitim gelten, diese Erscheinungen aus dem Fokus zumindest einer nur an »deutscher Eigenart« interessierten Forschung herauszulassen. Die Phantasien Mogks geben einen Vorgeschmack der nationalsozialistischen Version und Perversion des Primitivismus. Diese zieht einerseits, wie erwähnt, einen tiefen interkulturellen Graben zwischen »fremdrassiger« und »eigener«, germanischer oder arischer Vormoderne (wobei man das Wort »primitiv« am liebsten für die erstere reservieren möchte), andererseits schüttet sie den historischen Graben zwischen der germanischen Kultur zu Tacitus’ Zeiten und der deutschen Volkskultur der Gegenwart mit jeder Menge Mutterboden zu. Wo immer man auf nationalsozialistisch erwünschte Kulturmuster trifft, entdeckt man in ihnen »germanische Kontinuität«, insbesondere in »Mannhaftigkeit, Tapferkeit, Heldentum« (Fehrle 1935, 10 f.) – Eigenschaften, die nicht zuletzt für den nationalsozialistischen Krieg gebraucht werden. Es wird noch lange dauern, bis sich die Germanen von dieser posthumen Indienstnahme erholt haben. Postprimitivismus

Der Rückblick auf die volkskundliche Forschung Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts hat zum einen theoretische und methodische Fehler, vorsichtiger gesagt: Fragwürdigkeiten des primitivistischen Paradigmas herausgearbeitet, zum anderen jedoch auch auf dessen produktive Potentiale hingewiesen, die sich z. B. in der Beachtung und der Bewertung nach

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herkömmlichem Maßstab »niederer«, »unzivilisierter« Kulturmuster zeigten, und zuletzt zu belegen versucht, dass die damalige volkskundliche Forschung diese Potentiale nur partiell genutzt hat. Als Konsequenz aus dieser Sichtung der primitivistischen Erbschaft des Fachs ergibt sich für mich das Programm eines kritischen Postprimitivismus. Dieses beinhaltet zum einen, an den Fragestellungen des evolutionären Primitivismus – unter Kritik seiner theoretischen Prämissen – weiterzuarbeiten: d. h. nach dem Stellenwert vormoderner und nichtmoderner (einschließlich biologischer) Faktoren im gegenwärtigen Alltagsdenken und -handeln zu fragen und sich mit darauf bezogenen wissenschaftlichen und Laientheorien auseinanderzusetzen. Zum andern impliziert es eine Beschäftigung mit re-volutionär-primitivistischen Theorien, Alltagstheorien und Bewegungen, mit ihrer Geschichte ebenso wie mit ihren aktuellen Transformationen und Varianten. Einige Themen- und Problemfelder dieser postprimitivistischen Kulturwissenschaft seien abschließend skizziert. Das »Elementare« Der primitivistische Versuch, aus Zeugnissen der Volkskultur ur- bis ungeschichtliche »Elementarteilchen« menschlichen Denkens und Handelns rekonstruieren zu können, gilt heute zu Recht als eine Ur-Illusion der Volkskunde. Immerhin, so haben wir erinnert, förderte er das Forschungsinteresse am Umgang mit »Grundbedürfnissen« – Essen, Trinken, teilweise auch der Sexualität – sowie mit »Naturtatsachen« wie Geburt, Krankheit und Tod. Vieles, nicht zuletzt das, trotz mancher Öffnungen, weiter bestehende »anthropologische Defizit« ( Joas 1996, 251) in Soziologie und Historik spricht dafür, diese Aufmerksamkeitsrichtung beizubehalten und Geschichte wie Gegenwart des Verhältnisses zum eigenen Körper als einen volkskundlich-kulturwissenschaftlichen Arbeitsschwerpunkt beizubehalten und auszubauen. Dies freilich unter bestimmten Prämissen. Zu diesen gehört zunächst, menschliche »Natur« als »menschliche« Natur zu verstehen, die zwar Tierverwandtes enthält, deren besondere Qualität jedoch im Bruch mit dem »Naturinstinkt« und der Fähigkeit zur »konstruktiven Selbststeuerung« ( Jean Piaget) besteht – weshalb der Satz gilt: »Das Unwandelbare am Menschen ist seine Wandelbarkeit« (Böhme/ Matussek/Müller 2000, 131 f.). Da diese Wandelbarkeit aber nicht beliebig ist, sondern an – generelle oder nur historische – Grenzen der Beherrschbarkeit von Naturvorgängen stößt, lässt sich doch zumindest »bisher Elementares« (wie z. B. das Geborenwerden von einer Mutter, Essbedürfnis, Schlafbedürfnis, sexuelles Begehren, Sterblichkeit) fokussieren – allerdings nicht mit dem Ziel, Bäume in Bretter zu verwandeln, sondern einerseits, um historisch und interkulturell unterschiedliche Formen des Umgangs mit diesem Elementaren d. h. Gemeinsamen herauszuarbeiten und damit die menschlichen Wahlmöglichkeiten innerhalb von Natur- bzw. Naturbeherrschungsgrenzen zu demonstrieren, andererseits aber auch, um interepochale und -kulturelle Bezüge auszuloten, d. h. neben der Gefahr von Unabänderlichkeits-Auffassungen die Gefahr von falschen Grenzmarkierungen zu vermeiden. Aktuelle Untersuchungsfelder des Fachs sind dabei insbesondere alltagstheoretische und -praktische Umgangsweisen mit der kulturwissenschaftlichen oder kulturavant-

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gardistischen Infragestellung von common-sense-Elementarismen – etwa der Existenz von Geschlechtscharakteren – sowie mit der medizinisch-praktischen Aufhebung bisheriger anthropologischer Elementartatsachen.8 Eine zweite Prämisse ist der Abschied vom kulturevolutionistischen Paradigma des Primitivismus, der eine Entwicklung von einem tiernahen, von »elementaren« Triebbedürfnissen getriebenen zu einem zivilisierten und rationalen Menschen unterstellte und diese Wildheit auch noch in »zurückgebliebenen« Unterschichtkulturen der Gegenwart repräsentiert sah (wobei freilich, wie dargestellt, nicht eine klare Dichotomie, sondern graduelle Unterschiede, d. h. statt Brüchen Brücken postuliert wurden). Sicherlich gibt es innerhalb bestimmter Kulturen und über bestimmte Zeiträume hinweg »Prozesse der Zivilisation«. Fragwürdig ist jedoch z. B. die in Alltags- wie Wissenschaftsdiskursen verbreitete Assoziation von rücksichtsloser Gewaltausübung – des kollektiven Totschlags auf der Straße bis hin zum Völkermord in Konzentrationslagern – mit einem »Rückfall in die Barbarei«. Sie enthält die Tendenz, den Status des Barbaren zu historisieren oder zu exterritorialisieren (vgl. dazu Bonß 1996). Wo Gewalt als »entfesselt«, als »roh« bezeichnet wird, welche die »dünne Patina der Zivilisation« durchbrochen habe, wird die Möglichkeit von Gewalt als Binnenproblem, als Resultat der Moderne – z. B. als Ausfluss eines totalitären Macht- und Gestaltungsanspruchs – beiseite geschoben. Das prinzipiell gleiche othering findet statt, wenn rassistische und faschistische Gewalt primär mit Dumpfheit und Dummheit und im nächsten Zuge mit unteren Bildungsschichten zusammengebracht wird – und man immer wieder von neuem darüber staunt, dass die Gestapo- und Sicherheitsdienst-Führung der Vernichtungsjahre »nicht aus ungebildeten Schlägertypen und stumpfsinnigen Barbaren bestand, sondern zumeist aus jungen Akademikern, vorwiegend Juristen, Verwaltungsfachleuten, Elite- und Rasseideologen« (Mantzke 1997). Die ethnographische Aufklärung über die selbstgerechte Illusion, die in einer solchen Primitiven-Schelte steckt, ist eine genuine Aufgabe der postprimitivistischen Volkskunde, in der die internalisierten Vorannahmen vom »primitiven Primitiven« nicht erst unter dem Druck von political correctness, sondern oft schon am ersten Abend im Forschungsfeld in Frage gestellt wurden. Tradition und Dauer

Eng verknüpft mit der Frage anthropologischer Konstanten ist die nach kulturellen Kontinuitäten, welche auf solchen Konstanten möglicherweise aufruhen. Eine der wichtigsten methodologischen und theoretischen Leistungen der Reformvolkskunde der 1960er und 1970er Jahre war es zweifellos, fehler- oder mangelhaft belegten Archaikzuschreibungen für bestimmte Bräuche, Mythen, Märchen usw. sowie der Vorherrschaft der diachronistischen über die synchronistische Fragestellung entgegenzutreten, d. h. von Traditionslinien bestimmter Formen und Formeln zu deren gruppen- und situationsspezifischen Bedeutungen und Funktionen weiterzugehen. Doch mit dieser kritischen Revision des volkskundlichen Antiquarismus hat sich nicht dessen Ausgangsbeobachtung erledigt: dass in Kultur und Lebensweise oft mehrere nacheinander entstandene Schichten nebeneinander lie-

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gen und zueinander in Beziehung treten. Die volkskundliche Kulturwissenschaft, mit den Quellensammlungen aus der Fachvergangenheit und dem quellenkritischen Instrumentarium der Gegenwart ausgestattet, bringt die nötigen Voraussetzungen mit, um sich dieser Ungleichzeitigkeit, genauer gesagt: der Gleichzeitigkeit von ungleichzeitig Entstandenem, auch weiterhin zu widmen. Was dabei das Problemfeld der langer Kulturdauer anbelangt, so wird die volkskundliche Kulturwissenschaft angesichts der fortbestehenden Neigung zur invention of archaic traditions auch weiterhin vor allem ideologiekritische Aufgaben zu erfüllen haben. Doch muss einen das abschreckende Beispiel der »Deutobolde«9, die leichtfüßig und leichtfertig Zeiten und Räume überspringen, nicht zum Dogmatiker des kulturellen Kurzzeitgedächtnisses werden lassen: Neben die Dekonstruktion behaupteter Traditionslinien sollte die ergebnisoffene Auslotung der Möglichkeit tatsächlicher und zum Teil nicht mehr bewusster Langzeittraditionen treten. Carlo Ginzburg (1990, 31) hat in seinem Buch Hexensabbat gezeigt, wie eine methodisch und theoretisch verantwortungsvolle Spurenverfolgung aussehen könnte. Seine Suche nach dem »Primären« als dem »ältesten Erreichbaren« innerhalb einer Brauch- und Glaubenstradition verfügt durchaus über die »Algebra der Kontinuität«, in der Hermann Bausinger (1987, 13) einst dilettierende Urkulturalisten unterrichtete. Ginzburgs Folgerungen, dass »ein bedeutender Teil unseres kulturellen Erbes – vermittelt über Zwischenglieder, die uns zum Großteil nicht fassbar sind – von den sibirischen Jägern, den Schamanen Nord- und Zentralasiens, von den Steppennomaden stammt« (Ginzburg 1990, 289), lassen sich gewiss dennoch anzweifeln, aber weder als wissenschaftlich illegitim noch als kulturhistorisch irrelevant oder kulturpolitisch gefährlich erklären. Die Zwecksetzungen solcher zeit- und raumgreifender Explorationen sind nun einmal nicht auf die nostalgische Suche nach Echtem statt Reproduziertem, nach Reinem statt Amalgamiertem, nach Dauer statt Wegwurf und Innovation zu reduzieren; sie können auch als notwendige Kritik an der Selbstfeier der europäischen Moderne als self-made und home-made verstanden werden, als Herausarbeitung von historischen Abhängigkeiten und logischen Zusammengehörigkeiten, welche der imaginären und der realen interkulturellen Kommunikation zugute kommt. Gewiss ist dabei immer zu beachten, dass Langzeittradierung selten zeitliche Kontinuität und nie semantische Konstanz und dass Wiederauffindung immer auch Neuerfindung von Tradition, Metamorphose und Metasemiose bedeutet. Doch diese Tatsache braucht nicht zu dem Paradoxon zugespitzt zu werden, dass kulturelles Erbe nur lebendig bleiben kann, indem es getötet wird. Die in mancher volkskundlicher Folklorismuskritik spürbare, rechthaberisch-triumphale Tendenz, mit der missverstehende oder mutwillige Kontinuitätsbehauptungen falsifiziert und auf den aktuellen Interessen- und Bedürfniskontext von historischen Rückgriffen verwiesen wird, tendiert mitunter zur funktionalistischen Verkürzung, klammert vorschnell die Frage aus, inwiefern die aktuelle Indienstnahme nicht doch auch Vermittlung von Vergangenheit und Gegenwart einschließt. Eben weil das Pantheon in Rom zur Allerheiligenkirche wurde, überlebte es; eben weil das japanische Sumo-Ringen,

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so Marshall Sahlins, auch moderne – unter anderem kommerzielle – Interessen zu bedienen vermag, blieb der Ringkampf des Gottes mit dem Erdgeist »a living tradition, precisely one that has been able to traverse history« (Sahlins 1999, 409). Doch gewiss ist es nicht nur die lange Kulturdauer, welche bei der Suche nach Un­gleich­ zeitigkeiten in der gegenwärtigen Alltags- und Popularkultur interessiert, es sind viel eher die zahlreichen Denk- und Handlungsmuster der jüngeren Vergangenheit, die in modernen Strukturen spontan weiterexistieren oder von ihnen bewusst revitalisiert und instrumentalisiert werden. Dazu gehören zum Beispiel die Nachwehen von teilweise Generationen zurückliegenden Armuts- und Krisenerfahrungen in habituellen Dispositionen wie Sicherheitsbedürfnissen oder Abstiegsängsten. Oder es geht um Institutionen wie die Kleinfamilie und das ihr entsprechende Muster familialer Solidarität – nichtkapitalistische Beziehungsformen, auf deren zumindest partielle Weiterexistenz der Kapitalismus zu seiner eigenen Reproduktion rekurrierte und auf deren Hilfe vor allem die von neoliberalen Arbeitsmarktverhältnissen Ausgegrenzten auch künftig angewiesen sind. Eine solche Ungleichzeitigkeitsforschung ist also keineswegs ein Rückfall in die Fachtradition, »Relikte« aus aktuellen Kontexten herauszulösen; es geht vielmehr darum, dem sei’s funktionalen, sei’s dysfunktionalen Zusammenwirken von vormodernen und modernen Denk- und Handlungsmustern in der Popular- und Alltagskultur nachzuspüren – mithin einer der vielfältigen Folgen der Tatsache, dass die Menschen ihre Geschichte zwar selbst machen, aber auf Grundlage vorgefundener Verhältnisse (Marx/Engels 1968, 206).10 Das postmoderne Unbehagen in der Moderne Fragt man nach einem angemessenen Umgang mit dem primitivistischen Erbe, muss über die Problemebene von Arbeitsfeldern und Themenstellungen hinaus das Verhältnis zu den re-volutionären, den modernekritischen Implikaten dieses Erbes geklärt werden – auch wenn hier befriedigende und d. h. konsensfähige Antworten besonders schwierig sind. Relativ unstrittig dürfte immerhin sein, dass die volkskundliche Kulturwissenschaft ihre Facherfahrung mit kulturromantischen bis -primitivistischen Sehnsüchten weiterhin zur Beschäftigung mit alltags- und popularkulturellen Ausdrucksformen des »Unbehagens in der Moderne« nutzen sollte. Dabei geht es nicht nur um traditionelle Formen von Moderneflucht, etwa um das deutsche Volk-Wald-Heimat-Syndrom, sondern gerade auch um deren modernisierte Varianten: um Primitivitäts-Anleihen auf dem esoterischen Lebensreform-Markt ebenso wie um unternehmenskulturelle Rekurse auf Stammesmythen und -rituale. Allerdings sollten die Wachsamkeit gegenüber Fiktionen einstmals gelungener Lebensweise und Illusionen ihrer Wieder-Holbarkeit nicht ins kulturevolutionistische Schema zurückfallen und den »Sieg der Gegenwart über die übrige Zeit« verkünden helfen. Es für denkbar, ja wahrscheinlich zu halten, dass sich von vormodernen Kulturen über Lebensauffassungen, Umweltumgang, Geschlechterverhältnis, Solidarstrukturen, Genussformen usw. einiges lernen lässt, muss überhaupt nichts mit Rückkehr-Ideen zu tun haben, sondern nur mit der Absicht partieller, Altes und Anderes in die eigene Fortentwicklung integrierender Rückgriffe; auch wird hier keineswegs antimodernistisch für komplexitäts-

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flüchtige Einfalt votiert, sondern für eine Vermehrung der kultureller Vielfalt der Moderne. »Die Fortschrittsgläubigen«, schreibt Claude Lévi-Strauss (1970, 363), »laufen Gefahr, die ungeheuren Reichtümer zu übersehen, welche die Menschheit links und rechts jener engen Rille angehäuft hat, auf die allein sie ihre Blicke heften.« Um Missverständnissen vorzubeugen: Es geht nicht darum, die hier skizzierten Themenfelder zum Zentrum volkskundlicher Kulturwissenschaft machen zu wollen, sondern lediglich um den Vorschlag, sie in einer gar nicht anders als polyzentrisch denkbaren Fachzukunft in die Forschungsschwerpunkte einzureihen. Dabei sollte deutlich geworden sein, dass diese Option für postprimitivistische Fragestellungen nicht auf Treuegefühlen gegenüber der Fachtradition, sondern auf der Überzeugung beruht, dass bei einer solchen Forschung gesellschaftliche Relevanz und fachspezifische Kompetenzen zueinander finden können. Diese postprimivitistischen Kompetenzen des Faches sind doppelten, ja widersprüchlichen Ursprungs: Sie bestehen zum einen aus konkret-empirischen Erfahrungen in Themengebieten, in denen sich das Fach einst unter primitivistischen Vorzeichen etabliert hat, und zum (gänzlich) anderen in dem methodologischen und kulturtheoretischen Instrumentarium, das sich die volkskundliche Kulturwissenschaft in der kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen primitivistischen Tradition angeeignet hat. Beide Faktoren zusammengenommen machen es möglich, dass das Fach sich mit eigener Stimme in die inner- wie außerwissenschaftlichen Auseinandersetzungen um die Beziehungen von Vormoderne, Nichtmoderne und Moderne einschaltet. Anmerkungen 1 Die Darstellung konzentriert sich auf das im engeren Sinn primitivistische Paradig­ma, das sich vor allem in der Darwin-Nachfolge seit der zweiten Hälfte des 19. Jahr­hunderts herausbildete, und geht nicht näher auf dessen – unter anderem romantische – Vorgänger oder Vorläufer ein. 2 Eine die wichtigsten Kritikpunkte zusammenfassende Darstellung bietet Kuper (1988). 3 Es wurde übrigens auch schon früh kritisiert. Friedrich S. Krauss und Th. Dragicevic z. B. warnten vor einer »schädlichen Verflachung« bei der Herstellung interkultureller Bezüge und forderten avant la lettre – Kontextualisierung ein: »Man muss trachten, jede Überlieferung innerhalb der Grenzen eines bestimmten Volkes in allen ihren Fassungen zu ergründen und sie innerhalb des engeren Bezirkes zu erklären« (Krauss/Dragicevic 1890, 41). 4 »Wie falsch es ist, auf die so genannten Wilden als auf Völker, die von uns durch eine tiefe Kluft ge­trennt seien, herabzublicken, erkennen wir, je genauer wir die Kultur­entwicklung des eigenen Volkes geschichtlich durchforschen. Wir stoßen da noch auf Spuren einer uns erschreckenden Rohheit und Wildheit, die uns beweisen können, wie die Germanen in einer nicht bloß prähistorischen Zeit auf derselben Stufe gestanden haben, als die heutigen Naturvölker« (Weinhold 1895, 109). 5 Besonders deutlich geschieht dies bei Friedrich S. Krauss: »Beliebt ist die Einteilung der Völker in kulturarme und kulturreiche, aber auch sie trifft nicht das Wesen der Erscheinung; denn trotz des schönen Wortes ›Kultur‹ ist hier das entscheidende der bloße Besitz an ›Fahrnissen‹, die man nach der Höhe der Technik und deren Hilfsmitteln beurteilt. Der einzige wahre Unterschied, den man gelten lassen

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muss, weil er geistiger Art ist, besteht in der größeren oder geringeren Masse von naturwissenschaftlichen Erfahrungen und Kenntnissen, die ein Volk als ganzes zum Erbgut hat« (Krauss 1904, 177). 6 Als Beispiel für Letzteres nennt er die Revitalisierung des Kölner Karnevals, der als volkstümliche Tradition verschwunden gewesen sei, bis 1823 ein Komitee »die Umzüge anzuordnen begann« (Hoff­ mann-Krayer 1897, 10). 7 Widerspruch gegen diese Sichtweise meldet der Germanist und Volkskundler Richard M. Meyer (1899, 21) an. Zu Meyer vergleiche Warneken (1999, 188). 8 Im kulturwissenschaftlichen Alltag werden kommunikative und interaktive Konstruk­tion von Natur­tat­ sachen und die technische Veränderung von Natur oft unter dem Begriff der »kulturellen« oder »sozialen Konstruktion« zusammengefasst und nicht selten fälschlicherweise zusammengedacht. Das Insistieren auf der Unterscheidung zwischen diesen verschiedenen Formen gesellschaftlicher Naturbearbeitung bedeutet selbstverständlich nicht, die engen Zusammenhänge zwischen ihnen zu leugnen. 9 »Deutobold Symbolizetti Allegorowitsch Mystifizynski« ist ein von Otto Lauffer erfundener, auf einen nationalsozialistischen Sinnbildforscher gemünzter Spottname (vgl. Brednich 1997, 87). 10 Hier Friedrich Engels an W. Borgius (Marx/Engels 1968, 205‑207).

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Gehen

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Biegsame Hofkunst und aufrechter Gang Körpersprache und bürgerliche Emanzipation um 1800

»Seht, wie der Mensch mitten unter allen niedrigen Ge­schöpfen, die ihn umringen, voll Selbstgefühls da steht (…); mit welchen weitreichenden Blicken er alles, was um ihn her ist, überschauet, sondert, ordnet, verbindet, umfasset«, schreibt Georg Joachim Zolligkofer in seinen Predigten über die Würde des Menschen von 1784. Aufrechter Gang, aufrechte Haltung sind im ausgehenden 18. Jahr­hundert wichtige Synonyme für das bürgerliche Selbst­bewußtsein. Die Frage eines dem aufsteigenden Bürger­tum angemessenen Habitus wird zum Gegenstand einer Diskussion, die medizinische, pädagogische, philosophi­sche und politische Ebenen in ausdrückliche Beziehung zueinander setzt; und es lassen sich auch entsprechende Veränderungen der Körpersprache konstatieren, in denen teilweise Prinzipien einer erst viel später, ja bis heute nicht eingelösten de­mokratischen Kultur des Körperverhaltens erprobt wer­den. Gleichzeitig zeigt sich dies Bürgerlich-Aufrechte von Anfang an als Vereinigung mehrerer und mehrdeutiger Körperprinzipien, die in der weiteren Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft entfaltet, auseinandergetrieben und doch immer wieder als scheinbar einsinnig artiku­liert werden. Die neue Gehkultur

»Aufrechter Gang« hat nicht nur mit aufrechter Körperhaltung, sondern tatsächlich auch mit Gehen zu tun: Die Propagation der selbständigen Fortbewegung, des zu Fuß Gehens, wird gegen Ende des 18. Jahrhun­derts zu einem wesentlichen Bestandteil des aufkläreri­ schen Diskurses. Das beginnt bei der frühkindlichen Erziehung: Zunehmend kritisieren Mediziner und Pädagogen das viele Drinnensitzen und Getragenwerden von Kindern sowie die Gehschulung mit Gängelwagen und Gängelband. Der Er­ziehung zum Gehen bedürfen aber nach aufklärerischer Meinung auch die Erwachsenen. Dass »Fahren Ohnmacht, Gehen Kraft« zeige und der Gang »das Ehrenvollste und Selbständigste in dem Manne« sei (Seume 1965, 7 f.), das sind nicht einsa­me Gedanken des einsamen Fußreisenden Johann Gott­f ried Seume, sondern schon zwanzig Jahre vorher Leit­sätze der bürgerlichen Avantgarde. »O! zu Fuße! zu Fuße! da ist man sein eigner Herr!«, heißt es im Bericht über einen Ausflug des Schnepfenthaler Philanthropins (Salzmann/André 1786, 93), und wie Seume über den König spottet, der »ohne allen Gebrauch seiner Füße sich ins Feld bewegen lässt« (Seume 1965, 8), so häuft sich schon seit den 1780er Jah­ren der Spott über Adlige, die zu jeder Bewegung der Unterstützung bedürf­ten, über Personen, die »vor einem Spaziergange von einer Stunde zurückbeben« und »ihren Kräften kaum zu­trau­ten, von einem Hau-

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Gegen die »Fußschellen der Unmündigkeit«

Wie eng Gehdiskurs und Aufklärungsdiskurs inein­ander verschränkt sind, zeigt ein Vergleich von Christian August Struves Über die Erziehung und Behandlung der Kinder in den ersten Lebensjah­ren von 1803 mit Kants Beantwortung der Fra­ge: Was ist Aufklärung von 1784. Struve : »Immer gewohnt, geleitet, geführt, oder getragen zu werden, lernt das Kind kaum, seine Füße brauchen, weiß sich beim Ausgleiten nicht im Gleichgewicht zu erhalten, hält sich an alles an, und so gewöhnt sich der Mensch an fremde, sehr mißli­che, oft fehlende Unterstützung, da er doch in sich immer gegenwärtige, sichere Kräfte hat. Man merkt es bald, ob Kinder natürlich, oder erkünstelt Gehen gelernt haben; die erstem haben einen sichrern fe­sten Tritt, klettern ohne leicht zu fallen, die leztern wanken auf eine erbarmungswürdige Art hin und her, zittern vor jedem Abhang, stolpern und fallen über jeden Stein, halten sich ängstlich an die Klei­der der Wärterin.« Kant : »Dass der bei weitem größte Teil der Men­schen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem dass er beschwer­­lich ist, auch für sehr gefährlich halte: dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben. (…) Es ist also für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur ge­wor­denen Unmündig­keit herauszuarbeiten. (…) Satzungen und Formeln, die Werkzeuge eines vernünftigen Gebrauchs oder vielmehr Missbrauchs seiner Naturgaben, sind die Fußschellen einer immerwährenden Unmündigkeit. Wer sie auch abwürfe, würde dennoch auch über den schmalesten Graben einen nur unsicheren Sprung tun, weil er zu dergleichen freier Bewegung nicht gewöhnt ist. Daher gibt es nur wenige, denen es gelungen ist, durch eigene Bearbeitung ihres Geistes sich aus der Unmündigkeit heraus zu wickeln, und dennoch einen sicheren Gang zu tun.« Struve : »Diese guten Mütter sind gewöhnlich zu ängstlich, wenn ihre Kinder die Treppe steigen, oder einen Hügel hinunter laufen, da greift man dem Kinde schnell unter die Arme, ruft ihm unaufhör­lich zu, es solle sich in Acht nehmen, es werde fal­len. Dadurch wird das Kind ängstlich (…). Aber durch Fallen, wofern das Kind nicht auf dem Stein­pflaster gehen lernt, wird es sich nicht leicht be­schädigen, ein kleiner Fall macht es vorsichtig.« Kant : »Nachdem (die Vormünder) ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben, und sorgfältig verhü­teten, dass diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie sie einsperre­ten, wagen durften, so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen drohet, wenn sie es versuchen, allein zu gehen. Nun ist diese Gefahr zwar eben so groß nicht, denn sie würden durch einigemal Fal­len

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wohl endlich gehen lernen«. Struve : »(Die Kinder) dürfen sich nicht bei der Bewegung auf fremde Hilfe verlassen, sondern müssen so viel möglich, ihre eigenen Kräfte versu­chen.« Kant : »Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!« (Struve 1803, 204‑208. – Kant 1964a, 53 f.) se zum andern in der Stadt, zu Fuße zu gehen« (Vieth 1970, 151 f.). Der aufgeklärte Bürger soll Fußgänger sein: Das mindeste sind tägliche Spaziergänge bei jedem Wetter; besser noch, meinen die Philanthro­pen, sind Wanderun­gen, wobei es »zur Vollkom­menheit eines guten Fuß­­gängers gehört, dass er auch Berge nicht ach­te« (GutsMuths 1970, 88); und wie das Volk zu Fuß statt mit der Kutsche zu reisen, gilt den Protagonisten der bür­gerlichen Gehkul­tur nun nicht mehr als Armutszeugnis, sondern als Be­­weis von Unabhängigkeit und Unternehmungsgeist. Der spazierengehende oder fußreisende Bürger hat näheren Kontakt zur arbeitenden Bevölkerung als die Reitenden oder Fahrenden. Zugleich aber hebt er sich auf den ersten Blick von dieser ab: Er ist frei von den La­sten, die die Handwerker, die Bauern und die Händler aller Art durch die Straßen tragen, und er unterscheidet sich auch von den beflissen oder geschäftig Eilenden, die mit vornübergeneigtem Kopf ihren Dienst erfüllen. »Auf der Straße sehr schnell zu gehen, ist ein Merkmal von Pöbelhaftigkeit«, heißt es in einem Anstandsbuch von 1799, »da es eine Überladung der Geschäfte zu erkennen gibt. Es kann einem Handwerksmann und Krämer sehr wohl anstehen, aber stimmt nicht mit dem Charak­ter eines Mannes von Stande oder von feiner Lebensart überein« (Trusler 1799, 121). Die aufrechte Körperhaltung des bürgerlichen Spaziergängers ist aber nicht nur das Zeichen für mo­mentane Arbeitsfreiheit, sondern für bürgerliche Freiheit insgesamt. In ihr manifestiert sich ein neues Selbstbewusstsein. »Eine gewisse Würde«

In seinem 1818 erschienenen Buch Über Selbstkunde, Menschenkenntniß und den Umgang mit Menschen schreibt Carl Nicolai: »Von dem Gehorsam ist wohl zu unterscheiden die Liebedienerei und der knechtische Sinn. Davon bleibe fern.« Seine Begründung ist naturrechtlich: »Bei Eingehung der bürgerlichen Gesellschaft sollte und wollte der Mensch von seinen ursprünglichen, angebor­nen Rechten nur so wenig als möglich opfern; jene Spei­chellecker mit knechtischem Sinn machen also die Natur zu Schanden, welche nach Freiheit strebt. (…) In jedem Verhältnis verleugne daher das Selbstgefühl nicht; es kann mitunter als

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Biegsame Hofkunst und aufrechter Gang »Jetzt stand der Mensch, und wies den Sternen/ Das königliche Angesicht« (aus: Friedrich Schiller, Die Künstler). Kupferstich von Daniel Cho­dowiecki. Aus: Matthias Claudius: Sämmtliche Werke des Wandsbecker Bothen. Wandsbeck 1774.

eine Unbeugsamkeit, als eine Halsstar­ rigkeit dem Tross erscheinen, aber es ist eine hohe, die wahre Menschheit verkündende Würde« (Nicolai 1818, 19 f.). Das körper­sprachliche Vokabular in dieser Proklamation ist buch­s täblich zu neh­men: Die »Intention auf aufrechten Gang«, die Ernst Bloch als die Quintessenz der Naturrechtstheo­rien bezeichnet hat (Bloch 1961, 212), ist in der Tat auch ein Haltungspro­gramm. Carl Friedrich Bahrdt z. B. kommt in seinem Handbuch der Moral für den Bürgerstand von 1789 auch auf den körperlichen Habitus zu sprechen und empfiehlt dem Bürger »im Tone, in Gebärden, im Gan­ge, in seinen Ausdrücken eine gewisse Würde« (Bahrdt 1789, 196 f.) zu zei­gen. Eine Haltung, die »das erlaubte Selbstgefühl« aus­drücke, schlägt auch Johann Christian Siede 1797 in seiner Anstands­lehre für den bürgerlichen Mann als angemessen vor: »Tragen Sie sich gerade, ohne Hochmut und ohne Schüchternheit, ohne Prätension und Egoismus; nur nie eine kopfhängende Stellung, aber auch kein Zurückwer­fen des Kopfs« (Siede 1797, 35, 41). Wie Schiller in der Figur des sich ständig verbeugen­den Sekretärs Wurm die »biegsame Hofkunst«, den »langsamen, krummen Gang der Kabale« karikiert, so reagieren aufgeklärte Bürger mit Abscheu auf ihnen zugemutete, aber auch auf ihnen dargebrachte Haltun­gen der Unterwürfigkeit. Gesellschaftsnachrichten, Rei­seberichte, Autobiographien bieten dafür reichhaltiges Belegmaterial. Das Journal des Luxus und der Moden bezeichnet es 1787 als eine »asiatisch erniedrigende Mode, vor seinen Despoten Kniebeugungen und Knie­fälle zu machen«, und begrüßt lebhaft die Abschaffung solcher Sitten durch Kaiser Joseph II (vgl. Journal des Luxus und der Moden, 2. Bd. 1787, 89 f.). Johanna Scho­penhauer erzählt in ihren Lebenserinnerungen, wie sie in Bad Pyrmont auf die Bekanntschaft einer Herzogin ver­zichtet habe, da sie sich dabei kussbereit zu deren Rock oder wenigstens Hand herabbeugen sollte, was sie als »Zeichen leibeigener Knechtschaft« empört von sich wies (Schopenhauer 1958, 189 f.). Wilhelm Tischbein berichtet in seinen Erinnerungen, er habe sich

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»Der Wilde fällt nach seiner Erlösung dem Robinson zu Füßen«. Kupferstich in der ersten deutschen Robinson-Ausgabe von 1720

als neuernannter Akademiedirektor in Rom gleich zu Anfang »alle die vielen Zeremonien von asiatischer Höflichkeit« verbeten (Tischbein 1922, 271). Wie sehr der Ausdruck der Selbsterniedrigung dem aufgeklärten Geschmack zuwider ist, belegt eine Bemerkung des Philanthropen und Leibeserziehers Gerhard Ulrich Anton Vieth von 1786: »Selbst das demüthige Kriechen eines Hundes presst mir das Herz zusammen.«1 Das Unbehagen gilt aber nicht nur dem deutlichen kör perlichen Ausdruck asymmetrischer Beziehungen, sondern auch dem ebenfalls als unwürdig empfundenen »Komplimentieren« unter prinzipiell Gleichen. Enttäuscht berichtet Georg Forster von seiner Begegnung mit dem bekannten Amsterdamer Naturwissenschaftler Peter Camper: »(Er) machte Bücklinge die entsetzlich tief waren, schien sie aber wohl so tief wieder zu erwarten«. Ebenfalls aufklärerischer Kritik ausgesetzt sind bestimmte religiöse Unterwerfungshaltungen, so die »affektierte Selbsterniedrigung«, das »Kopfhängen« bei Pietisten (vgl. Duttenhofer 1787, 573, 580-582) oder bestimmte Formen des Kniens im katholischen Ritus, die unter Feudalismusverdacht gestellt werden. Ganz offenbar verstärkt sich die Frontstellung gegen Herrschafts- und Unterwerfungsgesten in den 1780er Jahren – die eben aufgeführten Belege beziehen sich alle auf diese Zeit. Unter dem Einfluss der Französischen Revolution kommen die herkömmlichen Interaktionsrituale dann noch mehr in Misskredit. Es wird auch diesseits des Rheins registriert, dass sich auf den Pariser Straßen und Promenaden statt ständischer Zeremonielle das knappe Grüßen, das Händeschütteln oder aber die brüderliche »accolade«, die Umhalsung, durchsetzen, und bald lassen sich auch hier analoge, wenn auch abgeschwächte Innovationen beobachten. 1799 schreibt ein Modeberichterstatter rückblickend: »So wie in dem letzten Jahrzent manche steife Bewegung verschwunden ist, um der leichtern Grazie den Platz zu lassen, so haben auch unsere Damen angefangen, die Verneigungen weniger langsam und tief zu machen« ( Journal des Luxus und der Moden, 14. Bd. 1799, 115).

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Wie sehr dem aufgeklärten Bewußtsein Unterwerfungs­rituale zum Problem geworden sind, dokumentiert Joa­chim Heinrich Campes Defoe-Bearbeitung Robinson der Jüngere (zuerst 1779). Beide Versionen ent­halten die Szene, in der Freitag sich nach seiner Rettung durch Robinson vor diesem zu Boden wirft und dessen Fuß auf seinen Kopf stellt. Defoes Robinson akzeptiert die ihm angebotene Herrenrolle als selbstverständlich: »Ich begriff das meiste, was er sagen wollte, und gab ihm zu verstehen, dass ich mit ihm sehr zufrieden wäre.« Campes Robinson jedoch wird die sklavische Geste Freitags – auch wenn er sie letztlich annimmt – zum Problem und damit zum Gegenstand einer auch sprachlich verschachtelten Re­flexion: »Robinsons’ Herz, welches die Freude über einen so lange gewünschten Gesellschafter und Freund kaum fassen konnte, hätte sich lieber durch Liebkosun­gen und zärtliche Umarmungen ergossen; aber der Ge­danke, dass es zu seiner eigenen Sicherheit gut sey, den neuen Gastfreund, dessen Gemütsart er noch nicht kannte, eine Zeitlang in den Schranken einer ehrerbieti­gen Unterwerfung zu halten, bewog ihn, die Huldigung desselben, als etwas, welches ihm gebührte, anzuneh­men, und eine Zeitlang den König mit ihm zu spielen.« (Defoe o. J., 223; Campe 1781, 59.). Veränderungen zeigen sich auch bei der symbolischen Körperverkleinerung des Hutziehens. 1792 meldet der Pariser Korrespondent des Journals des Luxus und der Moden: »Sonst grüßten wir uns, indem wir knechtisch vor einander den Huth abzogen; jetzt lassen wir freien Franken den Hut sitzen, und grüßen uns indem wir bloß die rechte Hand aufs Herz legen!« ( Journal des Luxus und der Moden, 7. Bd. 1792, 631). Dasselbe unbotmä­ßige Grüßen ist kurz darauf auch diesseits des Rheins zu fin­den. 1796 heißt es in einem Bericht aus Bad Nenndorf bei Hannover: »Man sucht Freiheit und Gleichheit mög­lichst aufrecht zu halten und diejenigen nieder zu halten, die mit Anmaßungen nach Nenndorf kommen (…) Man zieht bei Strafe vor Niemanden den Hut, sondern greift bloß an denselben« ( Journal des Luxus und der Moden, 11. Bd. 1796, 523).2 Nicht zufällig handelt es sich hier um den Bericht aus einem Badeort: Die damals in Mode kommenden Badeaufenthalte gehören zu den Probebüh­nen, auf denen Adel und gehobenes Bürgertum eine neue, Ständeschranken überwindende Geselligkeit ein­üben. Doch wie in Frankreich die nach 1789 auftauchenden strikt-symmetrischen Begrüßungsformen nach wenigen Jahren wieder aus der Mode kommen, so werden auch die bescheidenen deutschen Reformansätze auf diesem Gebiet bald wieder zurückgedrängt.3 Dennoch: Die lang­f ristige Entwicklung geht in Richtung Verkürzung und Vereinfachung des Grußzeremoniells, wobei diese Tendenz freilich neben demokratischer Gesinnung noch einen an­deren, wohl mächtigeren Verbündeten hat: die Ökonomie der zunehmend knapper werdenden Zeit.

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»Tragen Sie sich gerade, ohne Hochmut und ohne Schüchternheit, ohne Prätension und Egoismus; nur nie eine kopfhängende Stellung, aber auch kein Zurückwerfen des Kopfs« (Siede 1797, 41). »Nachlässig« und »Windbeutel« nennt Chodowiecki diese Figuren aus seinen zwölf Blättern »Sechs männliche und sechs weibliche Eigenschaften« von 1784.

Selbstdisziplin

Nun ist der aufrechte Habitus nicht nur Ausdruck individueller Autonomie in der Interaktion, sondern auch einer bürgerlichen Ordnung im Innern, nämlich der Autonomie des Willens gegenüber dem eigenen Körper; er steht nicht nur gegen den Despotismus der Feudalgesellschaft, sondern auch gegen den »Despotismus der Begierden«.4 Die gerade Stellung des Körpers, so sagt es die spätaufklärerische Anstandslehre, indiziert die Herrschaft der Vernunft nicht nur über das Faule, sondern auch über die Wollust. Aufrechter Gang heißt in diesem Zusammenhang auch: gleichmäßig und gerade seinen Weg zu gehen – im Unterschied zum sich neugierig Hin- und Herwenden, auch zum Liegen oder Sitzen, das nach verbreiteter Zeitmeinung die Sinnlichkeit, bei der Jugend gar die Onanie fördert, und im Gegensatz zum Körper und Seele erhitzenden Rennen oder zum stutzerhaften, den Körper anbietenden Tänzeln. Es ist weithin üblich geworden, in dieser neuen bürgerlichen Körperkultur primär eine verhängnisvoll-repressive Tendenz am Werk zu sehen, die an der Adelskultur vor allem humane Qualitäten wie Lebhaftigkeit, Lebensfreude, freizügige Erotik kritisiere.5 Diese Auffassung hat Viktoria Schmidt-Linsenhoff (1989) differenziert: Was aus männlicher Sicht als bloßer Zwang zum Selbstzwang erscheint, kann aus weiblicher Sicht auch die Einschränkung männlicher Bedrängungsgesten und das weibliche Recht auf Sichverweigern bedeuten. In der Tat steckt in dem Verbot »hitzigen« Betragens, »dreisten« Blickens und »tändelnder« (vgl. Siede 1797, 17-22) Bewegung auch eine Zurücknahme dessen, was heute »Anmache« heißt – wobei das Problem dann nicht nur in der Steigerung von

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Biegsame Hofkunst und aufrechter Gang Wilhelm Tischbein: Goethe in der Campagna, 1786/87. Tischbeins entspannt gelagerter Goethe steht, wie Wilhelm Kemp dargelegt hat, in Antithese zur tradierten Porträtmalerei, in der zumeist nur Stehen oder aufrechtes Sitzen als legitime Haltungen galten. Dennoch ist Kemps Identifizierung des Goetheschen Habitus mit dem der »untätiger Ruhe«, wie ihn Engels »Mimik« von 1785 beschreibt, nicht ganz zutreffend: Die Engelsche Figur des Ruhenden zeigt »die müßigste, von der Tätigkeit entfernteste Lage, den Körper zurückzulehnen« (Engel 1785, 77). Goethes Oberkörper aber ist nicht angelehnt und damit spannungslos, sondern aufgerichtet, und auch der Kopf bleibt erhoben. Der halb sitzende, halb liegende Körper zeigt Ruhe und Wachheit zugleich – und partizipiert damit durchaus am aufklärerischen Haltungsideal (vgl. Kemp 1975, 114).

Takt zu Prüderie, sondern auch darin liegt, dass Männern das Überschreiten dieser Anstandsgrenzen weit eher nachgesehen wurde als Frauen. Eine weitere Differenzierung kommt hinzu: Die Steifheit und Verhaltenheit, die z. B. die beispielgebenden Figuren auf den Kupferstichen Daniel Chodowieckis fast durchweg zeigen, kann wohl nicht – wozu z. B. Ilsebill Barta (1987) tendiert – für das damalige bürgerliche Haltungsideal schlechthin genommen werden. Es dürfte sinnvoll sein, beim prinzipiell zutreffenden Befund einer »Disziplinierung des Körpers« in Anlehnung an Foucaults Begriff der »produktiven Disziplin« (vgl. Foucault 1976, 176) neben einer hemmenden eine dynamische Norm wirk»Langer Stuhl zum Lesen eingerichtet«, 1799. In ähnlicher Haltung wie auf Tischbeins Porträt, bequem ausgestreckt und doch zugleich mit aufmerksam aufgerichtetem Kopf, könnte Goethe auch auf dieser Lesecouch sitzen. »Sonst waren die sogenannten Chaises longues, die weiland der Luxus und Sybaritismus von Paris erfand, bloß zum Schlafen und Faulenzen bestimmt; hier ist eine Chaise longue von anderer Art zum Lesen und Studieren eingerichtet« (Journal des Luxus und der Moden 1799, 107).

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J. J. Engel nennt die hier abgebildete Ruhelage »die müssigste, von der Tätigkeit entfernteste Lage«; zu ihr gehöre es, »den Körper zurückzulehnen, die in einandergeschränkten Arme in den Busen zu verbergen, die Kniee über einander zu werfen oder die zurückgezogenen Füße über dem Schienbein kreuzweis zu legen« (Engel 1785, 77).

sam zu sehen. Für die Körpersprache des bürgerlichen Mannes fordert die aufklärerische Anstandslehre Bescheidenheit und Solidität, aber auch den Ausdruck von »Kraft, Mut und Unverzagtheit«, ja »Geisteskühnheit, Raschheit, Feuer, Unternehmungsgeist« (Siede 1797, 22). Die Haltungsdisziplin soll die Triebe nicht nur zähmen, sondern auch sammeln, auf die Bewältigung von Aufgaben richten.6 Bei den Frauen wird Anstand und Schönheit ebenfalls nicht nur mit Zurückhaltung, sondern nicht selten mit »Raschheit« und »Lebhaftigkeit« verbunden. Aber zweifellos sind hier die Grenzen enger als beim Mann gezogen: »Den Mann kleidet das unternehmende Wesen, das frei sich Ankündigende in seinem Anstande. Bei dem Frauenzimmer gefällt dies nicht« (ebd., 21). Die Frage nach der disziplinierenden Seite des Aufrechten stellt sich aber noch in anderer Weise, nämlich als Frage nach dem Verhältnis von aufrechter und strammer Haltung, von Erziehung zum aufrechten Gang und militärischem oder quasi-militärischem Drill. Was die aufklärerische Anstandslehre für das Benehmen in Gesellschaft betrifft, so ist sie gegenüber einem möglichen Umschlag des freiheitlichen Prinzips Aufrecht in eine Gehorsamshaltung prinzipiell kritisch: Sie lehnt den »steifen und gezwungenen Anstand« (ebd., 31) als eines freien Bürgers unwürdig ab. Ein widersprüchlicheres Bild bietet die aufgeklärte Pädagogik, die es nicht mit dem geselligen Umgang Erwachsener, sondern mit der Heranbildung von »Zöglingen« für bürgerliche Lebensanforderungen insgesamt zu tun hat. Auf der einen Seite ist sie – zumindest die philanthropische Erziehung – bekanntermaßen ein rousseauistischer Anwalt von Bewegungslust und Spieltrieb; sie kritisiert das Sitzen in der Schule als Dressurübung und fordert schulische Freiräume für freie, auch spielerische körperliche Tätigkeit (vgl. Pestalozzi 1973, 24 und 26). Auf der anderen Seite empfehlen und praktizieren Basedow, GutsMuths, Pestalozzi, Salzmann, Villaume und Vieth das Exerzieren – was sich als deutsche Bestätigung der Feststellung von Philippe Ariès nehmen lässt, seit den 1750er Jahren habe in den Schulen die militärische gleichzeitig mit der liberalen Idee Fuß gefasst (Ariès 1975, 381). Doch ergänzt das Exerzieren in den Philanthropinen offenbar nur die insgesamt vorherrschenden freieren Körperübungen und -spiele: Das Einüben militärischer Haltungen und Bewegungen wird als Beitrag zur Herausbildung möglichst vielseitiger körperlicher Fähigkeiten verstanden (vgl. dazu Bernett 1960, 55-59). Und zumindest in der Programmatik bleibt die Grenze zwischen autonomem Sichaufrichten und befehls-

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Figuren aus J. J. Engels Ideen zu einer Mimik, 1785. Engel identifiziert den gebogenen als den Begierde offenbarenden Körper, zeigt den über sein Glas gebeugten Trinker, neugierig Horchende, die sich dem Schall entgegenbiegen, und erklärt alle diese »lebhaften Ausdrücke eigennütziger Neigungen und Triebe« als gegen den Anstand gerichtet.

mäßigem Aufgerichtetwerden deutlich gezogen. So postuliert Pestalozzi zwar für Leibesübungen eine Ausgangsstellung, die »gerade, fest und aufrecht« sein soll, fügt aber hinzu: »Der Lehrer muß sich, sowohl was Stellung, als was Bewegung betrift, vor ordonnanzmäßiger Steifheit hüten, er muß die Kinder frei behandeln, und ihnen einen gehörigen Spielraum lassen. (…) Die pädagogische Gymnastik unterscheidet sich vorzüglich auch dadurch vor der militärischen, dass sie liberal ist« (vgl. Pestalozzi 1973, 38). Doch vollzieht sich, zur Zeit und im Kontext der Napoleonischen Kriege, bekanntlich eine für die Geschichte der Leibesübungen in Deutschland entscheidende Veränderung. Derselbe GutsMuths, der 1793 in seiner Gymnastik für die Jugend noch »Ungezwungenheit« und »Geschmeidigkeit« als Leitbegriffe für die Körperhaltung propagiert hatte, nimmt 1804 in die zweite Auflage seines Buchs ein Kapitel mit Drillübungen auf, das von einem preußischen Oberstwachtmeister verfasst ist. In seinem 1817 erscheinenden Turnbuch für die Söhne des Vaterlands – der Titel macht die nationalstaatliche Wende der Pädagogik deutlich – ist der Umbruch von der Aufrichtung zur Ausrichtung dann vollends vollzogen: »Die Grundbedingung des Kriegs (…), Verein, Ordnung, Zeitmaß, Wink, Befehl« wird den Turnübungen, wenn auch »im Gewande der heitersten Lust und Freude«, anempfohlen; zum Ideal wird die »regelmäßige, nach Zeit und Wink scharf abgemessene rasche Bewegung« (GutsMuths 1817, XXXVIII und XXIII). Die Gehorsamsform des Aufrechten erobert im 19. Jahrhundert immer mehr Terrain, durchdringt immer mehr Praxisbereiche und soziale Schichten: Die Allgemeine Wehrpflicht, 1813 in Preußen eingeführt, bildet das Rückgrat dieser Entwicklung, die Ausbreitung des

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»Die schlaffe, untätige Seele«. »Ungemein bedeutend ist endlich ein vom Nacken gar nicht aufrecht getragenes, gegen die Brust hin fallendes Haupt; ungeschlossene Lippen, die das Kinn hängen lassen, wie es hängt; Augen deren halber Apfel hinter dem Liede steckt; einsinkende Kniee; ein vorwärts gestreckter Bauch; einwärts gekehrte Füße; geradeweg in die Taschen des Rocks fahrende Hände oder wohl gar frei herabbaumelnde Arme. Wer erkennt hier nicht auf den ersten Blick die schlaffe, untätige Seele, die keiner Aufmerksamkeit, keines Interesses fähig ist; eine Seele, die nie recht wacht, die nicht einmal die geringe Energie hat, so viel Spannung in die Muskeln zu bringen, daß der Körper gehörig getragen, seine Glieder gehörig gehalten werden? Nur der äußerst Dumme und Faule kann eine so nichtssagende, seelenlose Stellung nehmen« (Engel 1785).

Schulbesuchs mit der häufig rigiden Stillsitz- und Aufstehordnung in den Klassenzimmern und einer entsprechenden Form des Turnunterrichts, Tendenzen zur Übernahme quasi-militärischer Haltungsrituale in der Arbeitswelt, die freiwillige Fortsetzung des Drills im sich ausbreitenden Vereinssport kommen hinzu. Dies alles pervertiert den aufrechten Gang nicht nur praktisch, sondern beschädigt auch nachhaltig seine Idee. Denn der Diskurs, der diese Haltungserziehung begleitet, bekennt sich keineswegs zu einer nachemanzipativen neuen Untertänigkeit, sondern inseriert sich weithin als Verwirklichung einer bürgerlich-humanistischen Körperkonzeption. Exemplarisch dafür der Anatom Wilhelm Henke, der 1876 in seiner Tübinger Antrittsrede Die aufrechte Haltung des Menschen »Der sich bückende, ins Knie zunächst vom erstmals aufrechtgehenden Kind spricht, sinkende, ehrerbietig freundliche das dabei »triumphierend seiner Menschenwürde sich Schmeichler« (Abbildung und Text bewußt zu werden« scheine, und dann das militärische aus Engel 1786). Exerzieren von Stehen und Gehen als »einen Wiederholungscursus in dieser edeln menschlichen Leibesübung« bezeichnet (Henke 1892, 1 f.). Subalterne Selbstbeherrschung soll – und kann, insofern sie wieder zur Herrschaft über andere berechtigt – als Ausdruck von Männerfreiheit empfunden werden: »Halt dich aufrecht!« wird zum vielleicht verbreitetsten double bind der wilhelminischen Epoche.

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Anmerkungen 1 G. U. A. Vieth in einem Brief vom 21. 10. 1786, zit. nach Pe­ters (1962, 222). 2 Die Vorstöße zur Abschaffung des Hutziehens setzten sich im 19. Jahrhundert fort (vgl. dazu Bausinger 1987). 3 Mit dem bürgerlichen Selbstbewusstsein wird das Fortbestehen hierarchischer Umgangsformen durch einen Rückgriff auf die klassische »protestantische« Trennung in eine innere und eine äußere Würde vereinbar gemacht: Konventionelle Achtungsbe­zeugungen gefährden demnach als »bloß äußerliche« nicht die individuelle Moralität. Sehr tiefe und lange Verbeugungen, steif­-zeremonielles Wesen bleiben jedoch auch nach 1800 als »skla­visch« verpönt. 4 »Despotismus der Begierden« ist u. a. ein Kantscher Begriff. – Interessant ist in diesem Zusammenhang der im späten 18. Jahr­hundert geführte Streit darüber, inwieweit das ja mit einer ge­wissen Anstrengung verbundene Aufrechtsein dem Menschen »natürlich« sei. In einer 1770 gehaltenen Rede Von dem kör­ perlichen wesentlichen Unterscheide zwischen der Structur der Thiere und der Menschen (deutsch 1771) vertrat der italienische Anatom Pietro Moscati die außenseiterische Ansicht, die aufrechte Stellung des Menschen entspreche keineswegs seiner Physis, sondern sei lediglich ein Lernergebnis, das nicht nur unbequem, sondern auch in hohem Maße ungesund sei: Der Fötus bekomme so eine schädliche Kopflage, die zu Krankhei­ten wie Hirnschlag, Kopfweh usw. disponiere; des Herz gerate in eine Hängelage, die die Blutgefäße verlängere, das Herz auf das Zwerchfell drücke und Herzklopfen, Engbrüstigkeit, Brust­wassersucht, Lungenentzündung begünstige; die durch die senk­rechte Haltung herabgezogenen Eingeweide neigten zu Hämorr­hoiden, Fisteln, Geschwülsten usw. – »und alles dieses bloß zur metaphysischen Zierde, uns aufrecht zu halten; und wegen des eingebildeten Verdienstes, uns, um einige Handbreit mehr, über die Erde erhoben zu haben« (ebd., 49). Moscatis Theorie, die der »Krone der Schöpfung« eine erhebliche narzisstische Krän­kung zumutete, stieß bei zeitgenössischen Ärzten und Körperer­ziehern auf heftigen Widerspruch. Kant bezeichnet in einer Rezension Moscatis dessen Analyse als paradox scheinend, aber scharfsinnig, und fügt der ansonsten kommentarlosen Wiederga­be der Beweisführung Moscatis lediglich die Bemerkung hinzu, dass der Mensch eben für die Gesellschaft bestimmt sei und daher zweifüßig sein müsse – »wodurch er auf einer Seite unendlich viel über die Tiere gewinnt, aber auch mit den Ungemächlich­keiten vorlieb nehmen muss, die ihm daraus entspringen, dass er sein Haupt über seine alte Kameraden so stolz erhoben hat« (Kant 1964b, 769.) 5 So auch die meines Erachtens vorherrschende Tendenz bei Barta 1987. 6 An zeitgenössischen Reisebeschreibungen lässt sich ablesen, dass solche Maximen tatsächlich auch die aufgeklärte Personenbeo­bachtung und -beurteilung beeinflussen. So bemerkt z. B. Johann Kaspar Riesbeck tadelnd über die Münchner, dass sie »ohne alle Schnellkraft« seien; Ernst Moritz Arndt vermisst bei den Nürn­berger Männern »Kraft und Leben in den Gliedern und in dem Antlitz« – was er nicht zuletzt auf die obsolete Nürnberger Zunft­verfassung zurückführt – und lobt dafür das »Kühne und Rasche der Bewegung« bei den Brüsselern oder auch den Steyrern (Riesbeck 1784, 284; Arndt 1804, T.1, 72 f.; ebd., T.3, 313; T.1, 373.)

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Literatur Ariès, Philippe (1975): Geschichte der Kindheit. München und Wien. Arndt, Ernst Moritz (1804): Reisen durch einen Theil Teutschlands, Ungarns, Italiens und Frankreichs in den Jahren 1798 und 1799. Leipzig. Bahrdt, Carl Friedrich (1789): Handbuch der Moral für den Bürgerstand. Halle. Barta, Ilsebill (1987): Der disziplinierte Körper. Bürgerliche Körpersprache und ihre ge­schlechtsspezifische Differenzierung am Ende des 18. Jahrhunderts. In: Dies. u. a. (Hg.): Frauen – Bilder – Männer – My­then. Kunsthistorische Beiträge. Berlin, 84‑106. Bausinger, Her­mann (1987): Bürgerlichkeit und Kultur. In: Jürgen Kocka (Hg.): Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert. Göttingen, 121‑143. Bernett, Hajo (1960): Die pädagogische Neugestaltung der bürgerlichen Leibesübungen durch die Philan­ thropen. Schorn­dorf. Bloch, Ernst (1961): Naturrecht und menschliche Würde. Frankfurt am Main. Campe, Johann Heinrich (1781): Robinson der Jüngere, zur angenehmen und nützlichen Unterhaltung für Kinder, Teil 2. Frankfurt am Main und Leipzig. Defoe, Daniel (o. J.): Robinson Crusoe. Aus dem Englischen von Franz Riederer. München. Duttenhofer, Christian Friedrich (1787): Freymüthige Untersuchungen über Pietismus und Orthodoxie. Halle. Engel, Johann Jakob (1785 und 1786): Ideen zu einer Mimik. Bd. 1 und Bd. 2. Berlin. Foucault, Michel (1976): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main. GutsMuths, Johann Christoph Friedrich (1817): Turnbuch für die Söhne des Vaterlandes. Frankfurt am Main. Ders. (1970): Gymnastik für die Jugend. Frankfurt am Main. Henke, Wilhelm (1892): Die aufrechte Haltung des Menschen im Ste­hen und Gehen. In: Ders.: Vorträge über Plastik, Mimik und Drama. Rostock. Kant, Immanuel (1964a): Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Ders.: Werke XI, Frankfurt am Main. Ders. (1964b): Rezension zu Peter Moscati: Von dem körperlichen wesentlichen Unterschiede zwischen der Struktur der Tiere und Menschen: In: Ders.: Werke XII, Frankfurt am Main, 767‑769. Kemp, Wilhelm (1975): Die Beredsamkeit des Leibes. In: Städel-Jahrbuch, NF 5, 111-134. Moscati, Pietro (1771): Von dem körperlichen wesentlichen Unterscheide zwischen der Structur der Thiere und der Menschen. Göttingen. Leitzmann, Albert (Hg.) (1898): Briefe und Tagebücher Georg Forsters von seiner Reise am Nie­derrhein, in England und Frankreich im Frühjahr 1790. Halle. Nicolai, Carl (1818): Ueber Selbstkunde, Menschenkenntniß und den Umgang mit Menschen. Quedlin­ burg und Leipzig, T. 2. Pestalozzi, Johann Heinrich (1973): Ueber Körperbildung als Ein­leitung auf den Versuch einer Elemen­ targymnastik, in einer Reihenfolge körperlicher Übungen. Neu hg. von Heinz Meu­sel. Frankfurt am Main. Pe­ters, Karl (1962): G. U. A. Vieth. Der Werdegang eines Jeverländers zum be­deutenden Schulmann und Turnpädagogen. Jever. Riesbeck, Johann Caspar (1784): Briefe eines reisenden Franzosen über Deutschland an seinen Bruder zu Paris. Bd. 1. O. O. Salzmann, Christian Gotthilf/Christian C. André (1786): Reisen der Salzmannischen Zöglinge. Bd. 2. Leipzig.

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Schmidt-Linsenhoff, Viktoria (1989): Wollust und »Seelenliebe«. In: Dies. (Hg.): Sklavin oder Bürgerin? Französische Revolution und Neue Weiblichkeit 1760–1830. Frankfurt am Main, 750‑755. Schopenhauer, Johanna (1958): Jugendleben und Wanderbilder. Barmstedt. Seume, Johann Gottfried (1965): Mein Sommer 1805. In: Seumes Werke in zwei Bänden. Berlin/Wei­ mar. Siede, Johann Christian (1797): Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität und männliche Schönheit. Dessau. Struve, Christian August (1803): Ueber die Erziehung und Behandlung der Kinder in den ersten Lebens­ jahren. Ein Handbuch für alle Mütter, denen die Gesund­heit ihrer Kinder am Herzen liegt. Hannover. Tischbein, Wilhelm (1922): Aus meinem Leben. Hg. von Lothar Brie­ger. Berlin. Trusler, John (1799): Anfangsgründe der feinen Lebensart und Welt­kenntniss, zum Unterricht für die Jugend beiderlei Geschlechts, auch zur Beherzigung für Erwachsene. Aus dem Englischen von Karl Philipp Moritz, bearbeitet von August Rode. Berlin. Vieth, Gerhard Ulrich Anton (1970): Versuch einer Encyclopädie der Leibesübungen. Frankfurt am Main.

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Fußschellen der Unmündigkeit Weibliche Gehkultur in der späten Aufklärung

Odoardo: Wo ist Emilia? Unstreitig beschäftigt mit dem Putze? Claudia: Ihrer Seele! – Sie ist in der Messe. – »Ich habe heute, mehr als jeden andern Tag, Gnade von oben zu erflehen«, sagte sie, und ließ alles liegen, und nahm ihren Schleier, und eilte –  Odoardo: Ganz allein? Claudia: Die wenigen Schritte – – Odoardo: Einer ist genug zu einem Fehltritt! (Lessing, Emilia Galotti) Die Geschichte der Eufrosine

In Sophie von La Roches Roman Rosaliens Briefe an ihre Freundin Marianne von St**, in dem sich die Protagonistin zum Muster einer bürgerlichen Ehefrau und Mutter heranbildet, wird unter vielen lehrhaften Episoden aus dem Leben anderer Frauen auch die Geschichte der Eufrosine erzählt:1 Heinrich verliebt sich in die sechzehnjährige Eufrosine und bittet, als er zu einer längeren Reise aufbricht, seine mit Eufrosine gut bekannte Schwester, »wenn es möglich wäre, das reizende Mädchen für ihn aufzuheben«. Diese lenkt tatsächlich »Eufrosinens Herz und den Willen ihrer Eltern, nach den Wünschen ihres Bruders«, und als Heinrich nach vier Jahren zurückkehrt, erhöht sich die »in der Stille genährte Liebe« Eufrosines zu ihm ebenso wie die seinige »zu der feurigsten Zärtlichkeit«: Die Hochzeit, in einem Badeort, wird beschlossen. An deren Vorabend – der Bräutigam hat noch in der nahen Stadt zu tun –, bricht Eufrosine mit einer Gesellschaft zu einem Waldspaziergang auf: »Das edle, sanftliebende Geschöpf fühlte sich von den lärmenden Unterredungen des Haufens belästigt; sie wünschte, allein ihrem Herzen und Nachdenken überlassen zu sein; verlor sich daher, sobald sie konnte, ins Gebüsch (…)«. Als die anderen Ausflügler nach Hause zurückkehren, ist Eufrosine weder dort zu finden noch, wie man dann glaubt, ihrem Bräutigam entgegen gegangen; eine nächtliche Suchaktion im Wald beginnt, an der auch die Tante des Erzählers dieser Episode teilnimmt: Sie hatte auch das traurige Glück, morgens um drei Uhr das liebe englische Mädchen zuerst zu erblicken, die mit allen Kräften durch verwachsene Bäume durchzudringen such-

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te, und einen hohlen wilden Schrei dabei ausstieß. Zwei Männer, die bei meiner Tante waren, eilten zu ihr, und diese mit der Fackel nach. Die arme Eufrosine drückte die Augen zu, schrie und sträubte sich erbärmlich. Nun eilt auch der Bräutigam herzu, der den Ruf »Wir haben sie!« gehört hat. Aber wie fand er seine Eufrosine? Ihrer Sinne beraubt, Gesicht, Brust und Hände zerrissen und blutend! Nichts auf dem Kopfe; ihre schönen Haare verwirrt und eine Menge ausgerauft; einen heiseren Schrei, der furchtsam aus ihrem Munde kam, den vorher die sanfteste Stimme beseelte! (…) Sie ward ins Haus gebracht, ihre Wunden besorgt, und alles Mögliche zur Wiederherstellung ihrer Vernunft gebraucht. Aber sie war unwiederbringlich verloren! Nach einigen Monaten stirbt sie an einer »nicht zu dämpfenden brennenden Hitze«. Dem Bräutigam bleibt nur ein Gemälde von ihr, das er vor der geplanten Hochzeit hat in Auftrag geben lassen. Es zeigt Eufrosine mit einem kleinen Heft in der Hand, in dem der Satz zu lesen ist: »Tugend sei immer die Schönheit meiner Seele, und Heinrichs Liebe mein Glück!« (La Roche 1781a, 255 f.). Die Geschichte der Braut, die sich am Tag vor der Hochzeit im Wald verliert und dadurch ihrer Vernunft verlustig geht, hat Teil an der intensiven spätaufklärerischen Diskussion über die Geschlechterrollen in der bürgerlichen Gesellschaft. Zugleich ist sie ein Beispiel dafür, dass diese Debatte über Fähigkeiten, Rechte und Pflichten der Geschlechter nicht zuletzt als Diskurs über ihre Gehfreiheiten und Gehfähigkeiten geführt wurde. Im Folgenden sollen einige der in La Roches Episode eingewobenen Diskussionsfäden aufgenommen und über den kunstliterarischen Bereich hinaus verfolgt werden, womit sich dann auch der Stellenwert der Eufrosinen-Geschichte im Gehdiskurs der Epoche genauer bestimmen lässt. Zwei Gehkulturen

Waldspaziergänge, wie sie die Badegesellschaft in der Eufrosinen-Geschichte unternimmt, sind im ausgehenden 18. Jahrhundert nicht nur ein beliebtes literarisches Motiv, sondern in der Tat auch eine alltagskulturelle Mode. Das neue Bürgertum – Kaufleute, Beamte, Lehrer, Pfarrer, Ärzte, Wissenschaftler, Künstler – propagiert auch eine neue Gehkultur. Der aufgeklärte Bürger beweist Tüchtigkeit und Unternehmungsgeist nicht zuletzt darin, dass er sich über die Promenaden der Städte und die Alleen der Badeorte hinaus ins Gelände begibt; und die Fußreise statt der Kutschfahrt gilt ihm nicht mehr als Armutszeugnis, sondern als Beweis bürgerlicher Autonomie: »O zu Fuße! zu Fuße! da ist man sein eigner Herr!«, heißt es 1786 im Bericht über einen Ausflug des Schnepfenthaler Philanthropins. Wenn Kant 1783 in seiner Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? von Mündigkeit ständig in Gehbegriffen redet, wenn er von der Tradition geistiger Bevormundung als den

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»Frech« und »Arbeitsam«: Radierungen von Daniel Chodowiecki (»Sechs männliche und sechs weibliche Eigenschaften«, 1784)

»Fußschellen einer immerwährenden Unmündigkeit« und von Aufklärung als »freier Bewegung« spricht, als der Fähigkeit, »allein zu gehen«, sich ohne »Gängelwagen« bewegen und sicher über Gräben springen zu können, so ist dies kein bloßer Rückgriff auf eine traditionelle Metaphorik, sondern hängt auch damit zusammen, dass das Bürgertum in jenen Jahren eine Gehdebatte als Aufklärungsdebatte führt, die Kinder tatsächlich von Gängelwagen und Gängelband befreien und die Erwachsenen zu tüchtigen Fußgängern machen will (vgl. Warneken 1989). So wie Eufrosine den Waldspaziergang der Badegesellschaft mitmacht, so sind die bürgerlichen Frauen der Epoche von der neuen Beweglichkeit durchaus nicht prinzipiell ausgeschlossen. Sie sind nicht nur auf den städtischen Promenaden zu finden, sondern nehmen auch am Kult des abendlichen Naturspaziergangs und an der sonntäglichen Fußwanderung in die Nahumgebung teil; und an pädagogischen Schriften wie etwa Christian Carl Andrés Kleine Wandrungen, auch Größre Reisen der weiblichen Zöglinge zu Schnepfenthal von 1786 lässt sich ablesen, dass die neue Gehkultur auch in die Mädchenerziehung Einzug hält. Diese Tendenzen verstärken sich in den 1790er Jahren: Zwar rufen die französischen Republikanerinnen, die den Anspruch, »keine dienenden Frauen, keine Haustiere«2 (Petersen 1987, 175) zu sein, nicht zuletzt durch das Tragen von Hosen und »vollkommenen Männer-Schuhen« ( Journal des Luxus und der Moden 1792, 589 f.) sowie das Mitmarschieren bei Revolutionsfesten unterstreichen, bei deutschen Bürgern und Bürgerinnen vor allem Befremden hervor; doch auch in Deutschland verstärkt sich in diesen Jahren die Kritik am bewegungshinderlichen Korsett sowie an hochhackigen, zu engen und nicht wetterfesten Frauenschuhen und wird den Bürgerinnen vermehrt körperliche Betätigung z. B. in Gestalt von »täglicher Bewegung im Freien« und »kleineren Fußreisen« empfohlen (Guts Muths 1970, 273). Zugleich jedoch bemüht sich die spätaufklärerische Gehdiskussion – vor wie nach 1789 – um die Vermessung des Abstandes, den auch und insbesondere die aufgeklärte Bürgerin zur Gehfreiheit des bürgerlichen Mannes einhalten sollte. Hierbei strömen mehrere Verbotslinien zusammen. Die bekannteste ist der Pflichtdiskurs, der im Zug der sich ver-

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Schülerinnen des Schnepfenthaler Philanthropinums auf einer Wanderung. Titelkupfer zu André 1788.

schärfenden Trennung von außerhäuslich-männlicher und häuslich-weiblicher Sphäre den Frauen längere Spaziergänge und ausgedehntere Wanderungen als Müßiggang untersagt. Auch die aufgeklärten Ärzte und Pädagogen, die das ständige Stillsitzen und Handarbeiten der Mädchen und Frauen als ungesund und als schlechte Vorbereitung für die Anstrengungen der Mutterschaft brandmarken, gehen kaum über bescheidene Vorschläge wie den eines »täglichen Stundenmarschs im Freien« hinaus;3 und die Bürgerinnen tun gut daran, bei geselligen Ausflügen ein Nähkörbchen mitzunehmen, auf dass – wie der Philanthrop Basedow (1880, 180) das formulierte – »die Gesellschaftlichkeit des weiblichen Geschlechts so viel wie möglich mit der Arbeitsamkeit verbunden« werde. Hinzu kommt der im späten 18. Jahrhundert forcierte Anstandsdiskurs, welcher der Bürgerin das Betreten öffentlicher Orte nur in – am besten männlicher – Begleitung erlaubte: »Ohne von einem Bedienten, oder in dessen Ermangelung von ihrem Jungfernmädchen sich folgen zu lassen«, schreibt Johanna Schopenhauer über ihre Jugendzeit, »hätte keine

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Frau aus den höheren Ständen auch nur den kleinsten Weg über die Straße zurückgelegt« (Schopenhauer 1958, 141). Den Rückschluss, den Verstöße gegen dieses Gebot nahe legen, demonstriert Ernst Moritz Arndt in einer Reisenotiz über die Wiener Prostituierten: Man kennt die eigentlichen Töchter des Vergnügens – im weiteren Sinne sind es in so einer Stadt wohl die meisten – gewöhnlich daran, dass sie allein, oder zu zweien und dreien ohne eine Mannsperson gehn, sie suchen eine. Ein kühnerer Schritt und freierer Schwung des Körpers, und ein flüchtigeres Auge mag sie auch zuweilen bezeichnen, obgleich das hier nichts Auszeichnendes ist (Arndt 1804, 129 f.). Zum Anstands- gehört dabei das Gefahrenargument: Die alleingehende Frau sei von Verführung, ja Entführung bedroht; zu den zahlreichen Beispielgeschichten dazu gehört Lessings Emilia Galotti. Auch in der Eufrosinen-Geschichte scheinen solche Warnungen latent enthalten zu sein: Das Bild einer verwirrten und verängstigten Frau, die an Gesicht, Brust und Händen blutet und sich verzweifelt gegen zwei Männer wehrt, die sie festzuhalten suchen, gibt jedenfalls der Phantasie Raum, das dem Leser verborgen bleibende Schreckenserlebnis der Eufrosine könnte eine Vergewaltigung gewesen sein. Über diese Lesart schiebt sich freilich eine andere, unverfänglichere Interpretation – die man, falls man die erstere ernst nimmt, in Anlehnung an Freuds Begriff der Deckerinnerung eine »Deckinterpretation« nennen könnte: Nämlich dass das zarte Geschöpf, als welches Eufrosine beschrieben wird, im nächtlichen Wald, durch dessen »verwachsene Bäume« sie selbst »mit allen Kräften« kaum durchzudringen vermochte, einem derartigen Schauder vor den unendlichen Naturgewalten ausgesetzt war, dass sie darüber den Verstand verlor. Diese Version kann freilich nur für plausibel halten, wer in eine Denktradition eingestimmt ist, die in der Spätaufklärung zu besonderer Blüte kommt und auch bei der Diskussion über das Frauengehen eine wesentliche Rolle spielt: in die Theorie, dass die Frau als das körperlich weichere, feinere, kleinere Geschlecht im Vergleich zum Mann zwar eine größere Sensibilität, damit zugleich aber auch eine geringere Nervenstärke besäße. Heftige Körperbewegungen, längere Fußreisen widersprechen demnach zugleich mit ihrer physischen Anlage ihrer damit verbundenen sozialen Bestimmung, der leidende, nachgiebige, anmutige Teil der Menschheit zu sein. Bei Mädchen, schreibt Basedow,4 sei es »eine allgemeine Regel, dass man bei ihnen die Gewohnheit verhüte, sich stärker zu bewegen, als es jedes Mal der Zweck erfordert. Denn sie sind das schwächere Geschlecht und sollen es auch äußerlich zeigen«.5 Auch das öffentliche Leben, so wird von zeitgenössischen Medizinern argumentiert, ist von Frauen schon deshalb zu meiden, weil ihre Nerven den dabei geweckten Leidenschaften nicht gewachsen sein könnten (vgl. Greiner 1985, 195); und für Naturspaziergänge wird ihnen eher die gebändigte Natur des Gartens oder des englischen Parks als das freie, wilde Gelände empfohlen. Die 1802 erschienene Kunst spatzieren zu gehen von Karl Gottlob Schelle formuliert diesen Topos so:

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Die Natur nähert sich der Einsamkeit; und die Einsamkeit ist dem zweiten Ge­sch­lecht viel zu düster und furchtbar, als dass es sie lange zu ertragen vermöchte. Höchs­tens in Momenten der Liebe, die ihrer Natur nach die Einsamkeit sucht, findet man Frauen­ zimmer – am Arm des Geliebten oder eines geliebten Freundes in der Natur (vgl. Schelle 1802, 96 f.). Gratwanderungen

Allein schon die Penetranz, mit der die Maximen zur weiblichen Gehkultur – wie die ge­ sam­te Ideologie der Geschlechterpolarität und Geschlechterhierarchie – damals gepredigt wurden, deutet darauf hin, dass diese Verhaltensregeln nicht unbestritten herrschten, sondern etwas nicht mehr oder noch nicht Selbstverständliches gegen Widerstände und Gegenargumente durchzusetzen suchten. Durchforscht man die zeitgenössische, sei’s kunstliterarische, sei’s autobiographische Frauenliteratur nach der Art und Weise, wie dort mit dem Thema weiblicher Gehfreiheit umgegangen wird, so bestätigt sich diese Vermutung. So selten sich auch eine offensive Einforderung gleicher Gehrechte finden lässt, so häufig dokumentiert sich doch das Bedürfnis nach Grenzüberschreitungen in einer vorsichtigen, inneren und äußeren Zensurinstanzen mehr oder minder angepassten Form, wobei die darstellerischen Formen und argumentativen Mittel zur Bewältigung dieser Gratwanderung variieren. Nicht einmal die Eufrosinen-Episode lässt sich nur als Geschichte unverschuldeten Unglücks und Parabel für die Notwendigkeit männlicher Führung lesen. Auf den ersten Blick scheint zwar die Geschlechterkonvention weder von der Protagonistin noch gar der Autorin infrage gestellt zu werden; doch kann man sich aus ihr auch Elemente einer ganz anderen Botschaft zusammensuchen. Dass die Braut, deren Liebe zu Heinrich auf dessen Wunsch hin von anderen genährt wurde, vor der Hochzeit noch einmal allein sein will, dass sie sich schließlich gegen die Männer sträubt, die sie einfangen, das lässt ihre Verirrung auch als Ausbruchsgeschichte und die gemalte Treuebekundung, die Heinrich ihr gewissermaßen in den Mund legen lässt, weniger als Offenbarung denn als Dissimulation geheimer Wünsche interpretieren. Und indem die Autorin die Verirrte nicht als erschöpft, sondern als außer sich, das sonst so sanfte Mädchen als verwildert, schreiend und tobend schildert, erhält man im Bild eines Angstausbruchs zugleich das eines Durchbruchs heftiger, in dem »edlen und sanftliebenden Geschöpf« bisher nicht vermuteter Regungen.6 Es gibt noch andere Episoden des Rosalien-Romans, in denen Frauen ebenfalls allein unterwegs sind. Bei ihnen geht es nicht um dramatische Verirrungen, sondern um vergleichsweise harmlose einsame Spaziergänge, die nicht als Angst-, sondern als Autonomieerlebnisse geschildert werden. Doch auch sie werden keineswegs als selbstverständlich, sondern als Ausnahmen oder als Taten einer Ausnahmefrau behandelt. Ein Spaziergang, den die Titelheldin Rosalie allein zum Grab einer Freundin unternimmt – wobei ihr begegnen-

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de Männer sie anstaunen und umherschauen, ob noch jemand bei ihr sei – legitimiert sich durch sein besonderes Ziel und die besonderen Gefühle, die die Spaziergängerin begleiten: Ich ging durch einen Umweg, zwischen den Feldern und Hecken, ganz allein. Ich, die sonst unmöglich allein durch die Straße einer Stadt gehen konnte. Aber das Gefühl von Tod, Ewigkeit, Tugend und Freundschaft, erhob mich über alle andre Empfindungen. Meine Seele dünkte mich größer, erhabener, als jemals. In dem weiten Luftraum war Ruhe um mich her, da der Landmann auf der welkenden Wiese, und dem kaum ausgesäten Felde, für seine arbeitsame Hand nichts zu tun hat. Nichts störte meine Bewegungen, nichts hinderte sie (La Roche 1781a, 157). Eine längere einsame Fußwanderung unternimmt im selben Roman eine Frau von Guden, eine unkonventionelle und leidenschaftliche Frau, die von Rosalie als »außerordentliches Weib« (La Roche 1781b, 24) verehrt wird und im Roman eine zwar für Rosalie nicht vorbildhafte, aber doch keineswegs denunzierte selbstständige Lebensführung repräsentiert (vgl. Nenon 1988, 112‑121). Sie selbst spricht den Symbolgehalt ihrer Wanderung aus: »Jede meiner Gesinnungen und Handlungen sind willkürlich und frei, wie mein Gang auf den Berg (…)« (La Roche 1781b, 24). Diese Freiheit hat freilich ihre Grenzen: La Roche lässt ihren »weiblichen Werther«, wie Jakob Michael Reinhold Lenz die von Guden einmal nannte, einen Weg nehmen, den der von ihr geliebte Mann zu gehen pflegt; aus dem Gang ins Freie wird ein Gang zu ihm: Mit was für Eile ging ich hinaus! und was wurden all diese Gegenstände für mich, als ich mir sagte: Diese Bäume, diese entfernten Gebirge, den Hügel da, die Bauern­hütten, diese Steine voll Moos an dem kleinen Bach, alles dies hat er mit seiner so tiefempfindenden Seele mit süßem, einsamen Nachdenken betrachtet! Sein schönes Auge sah hier um sich, ruhte auch auf der Wiese von dem starken Umherschauen aus. – O, wie lange habe ich keine Gegenstände gesehen, die Er sah! – Ich dachte mich näher bei ihm, vereinter mit ihm (ebd., 22 f.). Das Muster des Spaziergangs, der aus dem Kreis der Gesellschaft heraus, aber in Ge­dan­ken näher zu der oder dem Geliebten in der Ferne führt, ist nicht nur in der Belletristik, sondern auch in der Tagebuch- und Briefliteratur der Zeit sehr verbreitet, und es findet sich keineswegs nur bei Frauen. Aber das Motiv scheint bei diesen zum einen häufiger und zudem in spezifischer Weise gebraucht zu werden. Ein Beispiel dafür ist der Briefwechsel von Luise Mejer mit Heinrich Christian Boie (vgl. Schreiber 1963): Wo er – was selten ist – berichtet, dass er auf einem Spaziergang ihrer gedacht habe, äußert er Bedauern über ihre Abwesenheit; sie jedoch schreibt, wenn sie von einem einsamen Gang erzählt, in treuer Regelmäßigkeit von ihren Gedanken an ihn und versichert ihm dabei oft, sie sei eigentlich gar nicht allein unterwegs gewesen, sondern habe sich von ihm begleitet gefühlt:

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Er an sie : »Wenn ich hier mit Luisen gehen könnte! dachte ich bei jeder schönen Stelle, bei jeder herrlichen Aussicht.« (1. 6. 1779) Er an sie : »Mein Geist wird Dich an schönen Abenden auf Deinen einsamen Spa­zier­­ gängen begleiten.« (28. 9. 1782) Sie an ihn : »Gestern Morgen ging ich an einem Arm des Flusses Söse herauf. (…) Ich durchkreuzte Kornfelder und felsichte Hügel und kam endlich zu einem hiesigen be­­ rühmten Spaziergang, der Allee (…). Mein Bruder wunderte sich des Umher­wanderns. Du, teurer Boie, bist mir dabei so gegenwärtig.« (10. 7. 1783) Er : »Also noch immer begleitet Dich das Bild Deines Freundes auf Deinen einsamen Gängen?« (19. 7. 1783) Sie : »Diesen Morgen ging ich früh aus, den Harz hinauf. (…) In einem Eichhölz­chen ruhte ich, und es war mir, als den 2. Juni 1777, da Du bei mir am Fuße des Deisters saßest. Dein Genius flüsterte mir Wiedersehen ins Herz«. (27. 7. 1783) Sie : »Denk doch des Abends von sechs bis sieben an mich. Das ist meine Spazier­stunde.« (24. 5. 1784) Weit schwerer, als die Lizenz für kleine Spaziergänge zu erwirken, ist es für die Bürgerinnen, das männliche Monopol für Kraft und Mut erfordernde Touren infrage zu stellen. Frauen, die ihren Männern von solchen Abenteuern berichten, tun dies nicht selten in Form einer Beichte. So beschreibt z. B. Caroline von Dachroeder, spätere von Humboldt, in einem Brief an Wilhelm von Humboldt vom 18. 8. 1790 eine Bergwanderung, die sie auf eigene Faust gewagt hat. Am Anfang überwiegt das Bild einer gelungenen Unternehmung: Zwar distanziert sich die Schreiberin von ihrem Entschluss zum Aufbruch als einer ihr selbst unerklärlichen Aufwallung, doch die Gipfelbesteigung wird als durchaus lustvoll geschildert: Heut war ich auf der Mohnenburg. (…) Es trieb mich, ich weiß nicht was, dass ich hinauf musste. Ich kannte keinen Weg, aber was tat das. Die Sonne ging eben unter, wie ich auf den Gipfel kam, und aus dem Tale stieg in wunderbaren Gestalten der Rauch der Hütten auf. Dann jedoch überfällt die Bergsteigerin, richtiger gesagt die Briefschreiberin, die Angst, womöglich zu weit gegangen zu sein. Einen eigenen, noch nie am Arm des Verlobten beschrittenen Pfad gewählt zu haben, wird ihr zu einem Vergehen der Untreue, das sich denn auch alsbald rächt: (…) es kam mir so auf einmal in den Sinn, wie ich oben stand, dass ich da nie mit Dir gewesen, und mir wurde unheimlich und weh bei dem Gedanken. Ich musste fort – ach, Bill, schmäle nicht, der Weg, den ich herauf gegangen war, war abhängig, mir aber viel zu lang, um ihn zurück zu machen – ich war ihn ja nie mit Dir gegangen – also musst ich gerade herunter, wo der Berg steil und steinigt ist. Ich wagte es nicht ohne einen Stock in Schuhen mit hohen Absätzen – zog sie also aus und lief so herunter. Aber die armen

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Füße sind wund geworden. Lieber Bill, zürne nicht mit Li – Li will’s nicht wieder tun, hat die Füßchen auch schon gewaschen, und Li verspricht auch, dass sie nie wieder hingehen will, wo sie nicht mit Dir war. Sei nur nicht böse (Nette 1956, 14). Kein Wort des Ärgers über ungeeignetes Schuhwerk, nur blanke Selbstkritik: Das Abwerfen der kulturellen Fußschellen, so lässt sich lesen, hat nicht natürliche Fähigkeiten, sondern natürliche Schwächen aufgedeckt; und wenn die Natur den weiblichen Körper zart, weich, empfindlich geschaffen hat, dann ist nicht die bewegungshindernde Kleidung unvernünftig, sondern der Versuch, die für Frauen gültigen Motorik- und Mobilitätsgrenzen zu durchbrechen. Um das Vergehen zu verkleinern, rettet sich die Täterin in die Kinderrolle – und opfert also, zumindest an dieser Stelle, dem damit verbundenen Anspruch auf Straffreiheit den auf Mündigkeit. Überschreitungen

Wie dieser Brief, so belegen gar nicht wenige Äußerungen zeitgenössischer Frauen, dass sie sich Gehfreiheiten herausnehmen oder zumindest gern herausnehmen würden, die nicht den dualistischen Geschlechternormen entsprechen; doch auch wo diese Ansprüche nicht, wie hier, aus Angst vor der eigenen Courage gleich wieder zurückgenommen werden, wird die Kritik an den umfassenden Restriktionen für die weibliche Bewegungsfreiheit – wie die am Patriarchalismus überhaupt – im späten 18. Jahrhundert meist nur sehr punktuell, sehr moderat oder in kaschierter Form ausgetragen.7 Etwas häufiger und vor allem radikaler wird die Frauenkritik an der herrschenden Gehetikette erst einige Zeit später im Umkreis der Romantik. Besonders ausgeprägt ist sie bei Bettina von Arnim: Ihr Briefzyklus Die Günderode8 lässt die Gehverbote, die sich in den Jahrzehnten davor etabliert haben, als übertretene oder übertretenswerte Revue passieren. Einige der Episoden von ihren Wanderungen und Klettertouren, von denen sie mitunter zerschunden und blutend zurückkommt, lesen sich dabei wie Antipoden zur Geschichte der Eufrosine. Jene etwa, in der Bettina von Arnim schildert, wie sie nach einem verwegenen Lauf den Hang hinab erhitzt, erschöpft und glücklich zugleich am Boden liegt und die Umstehenden meinen, sie habe die Besinnung oder zumindest den Verstand verloren: (…) ich legt mich ins Gras und schnaufte aus. – Potztausend wie viel Hämmerchen pochten in meinem Kopf, lauter Goldschmied, und der große Hammer in meiner Brust das war ein Grobschmied; die andern kamen herbei, wie ich im hohen Gras verschwand glaubten sie, ich sei ohnmächtig oder sonst was, der Voigt schrie, Gott bewahr, solche Einbildungen hat sie nicht; ich guckte aus dem Gras hervor und lachte sie aus, aber da schrie alles: ich hätt können den Hals abstürzen, ich hätt können Arm und Bein brechen, mich hätt können der Schlag rühren, unvorsichtig, tollkühn, sinnlos schrieen sie. – Was Guckuck, ich wollts nicht mehr hören, ich setzte mich wieder in Galopp (…) (Arnim 1986, 365 f.).

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Ein anderer Brief der Sammlung enthält wie die Eufrosinen-Episode das Motiv der nächtlichen Verirrung – nun aber nicht mehr als Teil einer Unheils-, sondern einer Durchsetzungsgeschichte, in welcher der Weg durchs Gestrüpp, das Eufrosine so grässlich zurichtete, zum rechten Weg wird. Die Erzählerin und ihre Schwägerin Antonia sind zu einem »weiten Spaziergang« aufgebrochen; gegen Abend verlieren sie im Wald die Orientierung: (…) ach, sagte die Tonie leise, was wird das werden, wo kommen wir hin? – statt zu klagen, musste ich laut lachen. (…) auf einmal entdeckte ich, dass der Wald links lichter ward, und dass der Himmel ganz frei war; ich sagte, dort müssen wir hin, da sind wir gleich aus dem Wald. ›Um Gotteswillen verlass den Pfad nicht, denn so im Dickicht herum zu stolpern in der Nacht, da können wir in Gruben fallen, lass uns ruhig auf dem Weg fortgehen‹, ich war aber schon vorwärts geschritten und stolperte wirklich und raffte mich auf und fiel wieder, und kletterte über Stock und Stein, und die Tonie rief von Zeit zu Zeit, ich antwortete, und da war ich plötzlich im Freien auf der Höhe, die sich abflachte in eine weite Ebne, die ich nicht ermessen konnt, aber ganz in der Ferne sah ichs glänzen, ich rief: hier steh ich und seh den Rhein. (…) Es ist ein dumm klein Abenteuerchen, aber es machte mich doch so froh, so aus dem finstern Wald herausgefunden zu haben (Arnim 1986, 388 f.). An späterer Stelle fasst von Arnim die Bedeutung ihrer Wander-, Lauf- und Kletterabenteuer emphatischer – als Teil eines umfassenden körperlich-geistigen Befreiungsprogramms, als prinzipielle Absage an die Tradition der geistigen und körperlichen Anlehnung, welche die Aufklärung einerseits als Unmündigkeit denunziert und andererseits – z. B. mit dem bekannten Bild von der männlichen Ulme und dem weiblichen Weinstock – als Frauenpflicht festgeschrieben hatte: (…) solche Übungen die einem die Natur lehrt sind Vorbereitungen für die Seele, alles wird Instinkt auch im Geist, er besinnt sich nicht, ob er soll oder nicht, es lehrt ihn das Gleichgewicht halten wie im Klettern und Springen, es entwickelt eine Kraft die degagiert und detachiert; das heißt: das Sehnen nach einem Pfeiler sich in der Welt anzulehnen, oder nach einem Stock um weiter zu kommen, wird einem lächerlich; bald merkt man dass man auf ziemlichen Wegen recht gut allein gehen kann, und auf steilem Pfad lässt sich durch Übung große Freiheit erwerben (Arnim 1986, 614 f.). Bettina von Arnim ist eine Enkelin der Sophie von La Roche. Das könnte die Ansicht befördern, mit dem Fortgang der bürgerlichen Gesellschaft sei allmählich auch die Gehfreiheit der Frauen vorangekommen. Doch die verstärkten Anläufe zu einer Überwindung des Geschlechterdualismus, die in den Jahren um 1800 zu bemerken sind, bleiben – wie Viktoria Schmidt-Linsenhoff (1989) es formuliert hat – ein »Nebenstrom« der historischen Entwicklung. Die folgenden Jahrzehnte befestigen die Grenzen wieder, an denen

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zuvor ein wenig und von wenigen gerüttelt wurde. Auch Bettina von Arnim selbst konnte sie teilweise nur tagträumend überwinden – wie in dieser Passage eines Briefs an Karoline von Günderrode: (…) und im Frühjahr nähmen wir unsre Stecken und wanderten, denn wir wären als Ein­siedler, und sagten nicht dass wir Mädchen wären. Du musst Dir einen falschen Bart machen, weil Du groß bist, denn sonst glaubts niemand, aber nur einen kleinen, der Dir gut steht, und weil ich klein bin, so bin ich als Dein kleiner Bruder, da muss ich mir aber meine Haare abschneiden. – So eine Reise machen wir im Frühjahr in der Maiblumenzeit (…) (Arnim 1986, 569). Anmerkungen 1 Die Orthographie wurde sowohl hier als auch bei späteren Zitaten dem heutigen Stand­ard angeglichen. 2 Die Bürgerin Lecointre in einer Erklärung vom Mai 1793. 3 So 1789 der Pädagoge Christian Carl André, zitiert nach van Dülmen (1992, 200). 4 Zur generellen Nähe La Roches zu philanthropischen Erziehungskonzeptionen vgl. Nenon (1988, 107 und passim). 5 Zitat nach Basedow (1880, 181). 6 Zur Affekt- und Konfliktverleugnung bei Autorinnen des späten 18. Jahrhunderts vgl. Prokop (1988, 323‑365, vor allem 364 f.). 7 Näher zu untersuchen wären dabei die sicherlich vorhandenen Unterschiede so­wohl zwischen im engeren Sinn fiktionalen Genres und Tagebüchern oder Brie­fen sowie zwischen Texten mit verschiedenem Öffentlichkeitsgrad bzw. privaten Tex­ten mit verschiedenen, z. B. männlichen oder weiblichen Adressaten. 8 Das 1840 erschienene Werk enthält – bearbeitete – Briefe der Jahre 1804 bis 1806.

Literatur André, Christian Carl (1788): Kleine Wanderungen auch Größere Reisen der weiblichen Zöglinge zu Schnepfenthal. Leipzig. Arnim, Bettine von (1986): Werke und Briefe. Teil 1: Clemens Brentano’s Frühlingskranz. Die Günderode. Hg. v. Walter Schmitz. Frankfurt am Main. Arndt, Ernst Moritz (1804): Ernst Moritz Arndts Reisen durch einen Theil Teutschlands, Ungarns, Italiens und Frankreichs in den Jahren 1798 und 1799. Bd. 1. Leipzig. Basedow, Johann Bernhard (1880): Das Methodenbuch für Väter und Mütter der Familien und Völker. In: Hugo Göring (Hg.): J. B. Basedows Ausgewählte Schriften. Langensalza [zuerst 1770]. Dülmen, Andrea van (Hg.) (1992): Frauenleben im 18. Jahrhundert. München u. a. Greiner, Ursula (1985): »Die eigentlichen Enragés ihres Geschlechts«. Aufklärung, Französische Revolution und Weiblichkeit. In: Helga Grubitzsch u. a. (Hg.): Grenzgängerinnen. Revolutionäre Frauen im 18. und 19. Jahrhundert. Düsseldorf, 185-217.

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GutsMuths, Johann Christoph Friedrich (1970): Gymnastik für die Jugend: enthaltend eine praktische Anweisung zu Leibesübungen; ein Beytrag zur nöthigsten Verbesserung der körperlichen Erziehung. Studientexte zur Leibeserziehung. Bd. 7. Frankfurt am Main [zuerst 1793]. La Roche, Sophie von (1781a): Rosaliens Briefe an ihre Freundin Marianna von St**. Bd. I. Leipzig. Dies. (1781b): Rosaliens Briefe an ihre Freundin Marianna von St**. Bd. II. Leipzig. Dies. (1782): Rosaliens Briefe an ihre Freundin Marianna von St**. Bd. III. Leipzig. Nenon, Monika (1988): Autorschaft und Frauenbildung. Das Beispiel Sophie von La Roche. Würzburg. Nette, Herbert (Hg.) (1956): Wilhelm und Caroline von Humboldt: Ein Leben in Briefen. Düsseldorf u. a. Petersen, Susanne (1987): Marktweiber und Amazonen. Frauen in der Französischen Revolution. Köln. Prokop, Ulrike (1988): Die Einsamkeit der Imagination. Geschlechterkonflikt und literarische Produktion um 1770. In: Gisela Brinker-Gabler (Hg.): Deutsche Literatur von Frauen. Bd. 1. München, 323‑365. Schelle, Karl Gottlob (1802): Die Spatziergänge oder die Kunst spatzieren zu gehen. Leipzig. Schmidt-Linsenhoff, Viktoria (1989): Zukunftsentwürfe um 1800. In: Dies. (Hg.): Sklavin oder Bürgerin? Französische Revolution und Neue Weiblichkeit 1760–1830. Frankfurt am Main, 504‑517. Schopenhauer, Johanna (1958): Jugendleben und Wanderbilder. Barmstedt [Zuerst 1839]. Schreiber, Ilse (Hg.) (1963): Ich war wohl klug, dass ich dich fand. Heinrich Christian Boies Briefwechsel mit Luise Mejer 1777–1785. München. Siede, J. C. (1797): Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität und männliche Schönheit. Dessau. Warneken, Bernd Jürgen (1989): Bürgerliche Gehkultur in der Epoche der Französischen Revolution. In: Zeitschrift für Volkskunde, 85. Jg., 177‑187.

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Kleine Schritte der sozialen Emanzipation Ein Versuch über den unterschichtlichen Spaziergang um 1900

Die Autobiographie Ein Prolet erzählt zeigt den Erzähler Ludwig Turek viel zu Fuß unterwegs, und in der Beschreibung seiner verschiedenen Fortbewegungsarten blättert der Autor ein kleines Lexikon der proletarischen Lauf- und Gehkultur auf: Da »stiebt« der junge Turek nach der Schule ins Freie, »flitzt« über die Zollgrenze, »stürzt« einem Polizisten entgegen, »jagt« an ihm vorbei, »rast« mit einem gestohle­nen Brot davon (Turek o. J., 12, 15 f., 20). Aus einem Betrieb, in dem er es nicht mehr aushält, »torkelt er ab«; er »trabt zum Bahnhof«, er »fegt los«, er »wetzt los«, um sich ein paar Brotschnitten zu erfechten, »stiebelt« und »tippelt« mit Kollegen die Landstraßen ent­lang. In Magdeburg »strolcht« er an der Elbe umher, und als er, arbeitslos, Berlin be­sichtigt, »stiefelt« er mit seinen Kollegen Freitreppen hinauf, »rutscht« in eine Bil­dergalerie, »lungert« im Museum herum. In den Tiergarten »geraten«, kommt er ins Gespräch mit einem »Spaziergänger« – der Spaziergang, so wird uns bedeutet, ist die Gehkultur der anderen (ebd., 67, 69, 73, 75-77, 85.). Eine spätere Szene unterstreicht diese Grenzziehung. Es ist Sonntag, Turek, abgerissen und hungrig, läuft in Küstrin herum: Ganz in Weiß gekleidete junge Mädchen gehen spazieren. Eine mir von der Lazarettzeit her sehr gut bekannte Schwester geht mit einem deutlichen Blick voller Abscheu und Ekel an mir vorüber. Spießerfamilien amüsieren sich. Ich setze mich zwischen KüstrinAltstadt und Küstrin-Neustadt auf das Geländer der Warthebrücke. Der Hunger nagt in mir. Bald sammelt sich eine Menge Sonntagsspaziergänger im Halbkreis um mich. Sonntagsnachmittagsvergnügen. ›Hallo! Du Dreckschwein, da unten is Wasser, wasch dich mal!‹ – ›Wasser kennt die Art nich, ja wenn’s Schnaps wäre.‹ – ›Na, dem krabbeln die Läuse ooch schon aus sämtliche Knopflöcher.‹ – ›Mensch, setz dein Helm ab, du kriegst Maden drunter.‹ – ›Jeh uff die Kranken­kasse und lass dir mal rasieren.‹ – Ich springe vom Geländer, und alles macht flucht­artig Platz, als ich durch den Menschenhaufen gehe (ebd., 136 f.). Spazierengehen als bürgerliche Gehweise, der Sonntagsspaziergang als Kleinbür­ger­ver­ gnügen, aus dem der »Prolet« ausgeschlossen, das ihm aber auch herzlich zuwider ist: Eine solche Sichtweise, wie sie die zitierten Turek-Passagen nahelegen, entspricht einem verbreiteten Bild von genuin proletarischer Kultur. Sie kann sicherlich insoweit als realistisch gelten, als sie auf die generelle Tatsache sozial ungleicher Arbeitsbelastungen und Freizeitmöglichkeiten bezogen wird; zu überse­hen droht sie jedoch, dass speziell der Spaziergang – der meist etwa halb- bis zwei­stündige, erholungs- und erlebnisorientierte Gang in die stadtna-

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he Natur, in städti­sche Parkanlagen oder durch Stadtstraßen1 – zu Tureks Lebzeiten (er ist 1898 gebo­ren) seinen Status als ober- und mittelschichtliches Privileg bereits verloren und in der unterschichtlichen Freizeitkultur einen hohen Stellenwert hatte. Zudem wäre es verfehlt, die – ja nicht nur Tureksche – Assoziation von Sonntagsspaziergang und Spießertum so zu verstehen, dass die Spaziergangspraxis auf Verbürgerlichung und Privatismus orientierte Gruppen von den politisch oder kulturell heterodoxen Mas­sen getrennt habe. Dafür ist die Klientel unterschichtlicher Spaziergänger sozial und politisch zu verschieden und, wie noch zu zeigen sein wird, der Gebrauchswert des Spazierengehens zu vielfältig. Im Folgenden soll versucht werden, diesem Gebrauchswert, dem »sozialen Sinn« des popularen Spaziergangs in den Jahrzehnten um die Jahrhundertwende genauer nach­zugehen: die ihm zugrundeliegenden Bedürfnisse und von ihm bereitgehaltenen Erfahrungen zu eruieren und sie mit zeitgenössischen Konzeptualisierungen sei­ner kulturellen und politischen Funktionen zu konfrontieren. Dies alles in der Hoff­nung, mit der analytischen Skizze des Spaziergangs als einer ebenso unscheinbaren wie alltagsrelevanten Form selbstbestimmten Handelns nicht nur zur Illustration, son­dern auch ein wenig zur Erhellung des Prozesses unterschichtlicher Selbstzivilisie­rung und Selbstemanzipation beizutragen.2 »Das hauptsächlichste Sonntagsvergnügen«

»Werktags auf dem Sofa liegen, Sonntags im Freien gehen«, antwortet 1910 ein Berliner Metallarbeiter auf die Frage nach seinen Haupterholungen und findet damit eine für viele Unterschichtangehörige dieser Zeit gültige Freizeitformel (vgl. Heiß 1910, 213). Bleibt an den Feierabenden unter der Woche die bloße »Entmüdung«, das Liegen und Sitzen zu Hause oder auch in der Kneipe vorherrschend, so erlaubt der – in der ausnahme­reichen Regel – arbeitsfreie Sonntag3 den Übergang zu aktiverer Freizeitverbringung. Hierbei er­weist sich der weder zeitlich noch körperlich aufwändige Spaziergang als äußerst geeignete Schwellenaktivität, die zum einen Regenerations- und Erlebnis­möglichkeiten verbindet und zum andern für die Anlagerung zusätzlicher Freizeit­aktivitäten offen ist: für Verwandten-, Wirtshaus- oder Kinobesuch; für Picknickpausen, Spiele, Lesen, Lieben. Darüber hinaus lässt sich hierbei, wie ein Berliner Metallarbeiter es ausdrückte, »das Angenehme mit dem Nützlichen« (Heiß 1910, 221) verbinden: Oft bringt man vom Spaziergang Pilze, Beeren, Kräuter, Reisig, Zapfen mit, was vor allem bei Arbeiter­f rauen die – äußere wie innere – Legitimation des »Müßiggehens« gefördert haben dürfte. Die Verbreitetheit des sonntäglichen Arbeiterspaziergangs wird dabei sowohl aus Großstädten wie aus Mittel- und Kleinstädten, von einigen Beobachtern auch aus Dorfgemeinden gemeldet. So berichtet Richard Sorer über die Arbeiter einer Wiener Maschinenfabrik, für die Mehrzahl sei wochentags »Schlaf« und »Ruhe« die einzige Rekreation; im Sommer allerdings »erholten sich recht viele am besten durch einen kleinen Spaziergang nach Feierabend im Freien, im Prater, längs der Donau, in den Auen«. Auch am Sonntag ruh-

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ten sich manche lediglich aus; »die meisten jedoch erfrischte ein Spaziergang in die Wiener Umgebung, ein Ausflug in den Wiener Wald (mit einer kleinen Einkehr) am besten« (Sorer 1911, 255). Marie Bernays schreibt über Gladbacher Textilarbeiter, dass »das Spazierengehen für den größten Teil der jünge­ren Arbeiter und Arbeiterinnen das hauptsächlichste Sonntagsvergnügen war, dass es für alle von ihnen einen bedeutenden Teil der Sonntagsfreude ausmachte« (Bernays 1912, 238). Bei Fritz Schumanns Befragung von Automobilarbeitern des Daimlerwerks Stuttgart-Unter­türkheim wird für Werktage das Spazierengehen – nach dem Zeitunglesen – als zweit­häufigste, für Sonntage als mit Abstand häufigste Erholungstätigkeit angegeben.4 Auch Karl Keck, der Arbeiter einer badischen Steinzeugwarenfabrik befragt hat, gibt an, dass der verheiratete Arbeiter, sofern er nicht kirchlich sei, am Sonntagvormittag mit den Kindern in den Wald oder aufs Feld gehe, und fügt hinzu: »Auf diesen Weg freut er sich, genau wie der unverheiratete Arbeiter meist schon die ganze Woche vorher als auf seine liebste Erholung« (Keck 1912, 167). Die zitierten Enquêten von 1910/1912 halten alle­samt fest, dass die Befragten den Spaziergang als höchst attraktiv und keineswegs als freizeitliche Residualtätigkeit schildern, mit der man sich mangels Geld, Zeit oder kul­tureller Ressourcen zu begnügen habe. Am pointiertesten hebt Marie Bernays die her­ ausragende Stellung des proletarischen Spaziergangswunsches hervor: »Für die Arbeiter«, schreibt sie, »war der reiche Mann nicht der, der gut aß und trank; sondern der, der spazierengeht: ›Ich möchte auch den ganzen Tag spazierengehen, wie die rei­chen Leute‹, war ein oft gehörter Wunsch« (Bernays 1912, 237).5 Zur Spaziergangshäufigkeit verschiedener Unterschichtsgruppen gestatten die die­ser Darstellung zugrundeliegenden Quellen nur relativ grobe und zudem ungesicherte Aussagen. Was die Unterscheidung nach ökonomischer Lage angeht, so korreliert Marie Bernays in ihrer Gladbach-Untersuchung Lohnhöhen und Freizeittätigkeiten; dabei erhalten unter dem Freizeittyp »Spazierengehen und Vergnügen« rubrizierte Arbeiter zwischen 25 und 60 Jahren weniger Stundenlohn als die mit »Lesen und Musik« beschäftigten; bei den Arbeiterinnen stehen sich bis zum Alter von 24 Jah­ren die »häuslichen« und die »lesenden« ein klein wenig besser als die »spazieren­gehenden« und »vergnügungslustigen«, bei den 25–40jährigen dagegen liegen die letz­teren vorne (vgl. Bernays 1912, 352 f.). Doch die Differenzen sind wenig signifikant und erlauben es zudem nicht, den Spaziergang von anderen außerhäuslichen Vergnügungen getrennt zu betrachten. Häufiger und auch eindeutiger sind die Aussagen über die verschiedenen Altersgruppen. Demnach sind jüngere Arbeiterinnen besonders spaziergangsorientiert. Sie haben, eher als ältere und dann meist verheiratete Arbeiter, oft auch wochentags Zeit für einen kleinen Ausgang, und die unverheiratete, aber schon selbstverdienende Jugend hat in vielen Fällen ein wenig Geld für Kino, Rummelbesuch oder Tanz übrig, für Unterhaltungen also, die mit Spaziergängen gerne verbunden werden. Am Sonntag neh­men Jugendliche freilich häufig die Chance zu ausgedehnteren und aufwändigeren Freizeittätigkeiten wie etwa größeren Ausflügen und vor allem

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sportlichen Tätigkeiten wahr (vgl. ebd., 238; Keck 1912, 168), was jedoch nicht bedeuten muss, dass Spaziergänge nun entfallen, sondern nur, dass die ihnen zugemessene Bedeutung und das heißt auch ihre Nennung unter den Haupt­erholungen zurückgeht. Zumindest auf den ersten Blick widersprüchlich sind die Auskünfte über die ver­heirateten Arbeiter und Arbeiterinnen. Auf der einen Seite sind sich die Untersuchungen darin einig, dass verheiratete Arbeiterinnen oder Arbeiterfrauen, zumal wenn sie Kin­der haben, auch am Sonntag mit Hausarbeit beschäftigt sind und sich nur selten außer­halb des Hauses erholen und unterhalten können.6 Auf der anderen Seite ist immer wieder vom sonntäglichen »Familienspaziergang« der Arbeiter die Rede. In einer Untersuchung z. B., die der Verband evangelischer Arbeiter-Vereine 1892 bei seinen durchführte (Weber 1892), wird neben seufzend gemeldetem Wirtshausbesuch und Tanzvergnügungen die Häufigkeit des, wie man hofft, Ehe und Familie zusammenhaltenden Arbeiterspazier­gangs erwähnt. Ein Bericht aus Karlsruhe: »Die Familie geht mit dem Hausvater zusammen ins Freie hinaus und kehrt kurz zur Erfrischung irgendwo ein« (Bernays 1912, 237). Aus Striegau: »Wenn es das Wetter irgendwie erlaubt, benützen wohl die meisten Arbei­terfamilien den Sonntag zu einem Spaziergang. Damit ist allerdings Wirtshausbesuch und Tanz verbunden« (ebd., 239). Andere Berichte fördern freilich zutage, dass Väter – nicht selten auch die Großväter – teilweise alleine mit den Kindern aus dem Haus gehen, was insbesondere für den Sonntagvormittag gilt (vgl. Keck 1912, 176),7 Ehefrauen hingegen oft nur am Sonntagnachmittag, und selbst dies nicht häufig, Zeit zu einem kurzen Spaziergang finden (vgl. Herrmann 1912, 45 f.).8 Des öfteren scheint der Kirchgang ihr einziger Erholungsgang zu sein (vgl. ebd., 62). Zudem gibt es Hinweise darauf. dass das gemeinsame Ausgehen von Ehemann und Ehefrau eher ein urbanes Muster ist, das erst später auch in die Dörfer einzieht, wo verheiratete Frauen traditionellerweise nur zu zweckbestimmten Gängen auf der Straße erschienen (vgl. Weber-Kellermann 1987, 198). Rudolf Fuchs berichtet 1904 in einer Studie über die Industriearbeiter­schaft badischer Dörfer: Im Gegensatz zu der Gewohnheit der städtischen Arbeiterbevölkerung, am Sonntag Nach­mittag mit der ganzen Familie einen Spaziergang zu machen und im Anschluss daran ebenfalls gemeinsam eine Erfrischung zu nehmen, gilt auf den Landorten bei der bäuerlichen Bevölkerung und Arbeiterbevölkerung der Grundsatz: Die Frau gehört ins Haus. Allerdings haben die Frauen ihn an einzelnen Orten schon längst durchbrochen: sie gehen allein und setzen sich, um ungestört zu sein, in das Nebenzimmer. Die Kinder nehmen sie mit (…). Ein Arbeiter berichtete laut Fuchs, es sei in seiner Gemeinde üblich, dass der Mann am Sonntag nachmittag allein ausgehe und die Frau zu Hause lasse. Dass er selbst – er war lange Jahre in einer Großstadt

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beschäftigt – mit seiner Familie am Sonntag einen gemeinsamen Spa­ziergang mache und darnach mit den Seinigen eine Erfrischung genieße, falle auf und werde ihm als Schwäche ausgelegt. In Gemeinden mit zahlreicher Arbeiterschaft bah­ne sich aber doch »langsam die Sitte an, dass Mann und Frau gemeinsam ihren Sonn­tagnachmittag verbringen; Arbeiter, welche von auswärts zugezogen sind, oder lange in Städten gelebt haben, bringen diese, gewiss eine höhere Kulturstufe anzei­gende Gewohnheit mit« (Fuchs 1904, 202 u. 206). Mit der allmählichen Verkürzung von Arbeitszeiten, erhöhtem Lebensstandard, einer vergrößerten und diversifizierteren Freizeitbranche sowie der Ausbreitung des Arbeitervereinswesens in den 1920er Jahren wird der Stellenwert des Spaziergangs in der Unterschichtenerholung zwar etwas geringer, aber auf keinen Fall marginal. Arbeitergruppen mit vergleichsweise hohem Freizeitstandard wie z. B. unverheira­tete junge Arbeiterinnen wechseln sonntags zu weiteren Ausflügen oder zu sportli­cher Betätigung über; dafür sind nun mehr freizeitarme Gruppen wie z. B. Hausfrauen und Mütter beim Spaziergang zu treffen. Am Sonntag wird dieser nun zwar öfters vom ganztägigen Ausflug abgelöst, dafür kann er zunehmend am Feierabend unter der Wo­che Fuß fassen, und mit der weiteren Verstädterung und städtebaulichen Veränderungen – breiteren Bürgersteigen, schaufensterreichen Geschäftsstraßen, der vermehrten Ein­richtung von Volksparks – kommt zum Naturspaziergang auch immer mehr der Bum­mel durch die City, im Stadtteilpark und einfach »um’s Carré«. Der unterschichtliche Spaziergang verliert also teilweise seine Position als heiß ersehntes Sonntags- und Son­dervergnügen, etabliert sich aber als wesentlicher Bestandteil der unterschichtlichen Alltagskultur, der sich als Erholung und Erlebnis verbindendes Intermezzo zwischen extensivere und intensivere Freizeittätigkeiten schiebt. Anschaulich dokumentiert ist dies vor allem für den Jugendbereich.9 Dinses Befunden zufolge zeichnet sich dabei 1930 – man wird sagen können: noch – eine geringere Spaziergangsfrequenz als bei den Mittelschichten ab.10 Spätere Untersuchungen zeigen dann eine weitgehende Schichtenangleichung: 1955 machten am Wochenende 50 % der westdeutschen Bevölkerung und 51 % der Arbeiterbevölkerung einen Spaziergang (vgl. Neumann/Neumann 1957, 31); 1980 gingen 17 % der Volksschüler ohne Lehre, 20 % der Volksschüler mit Lehre und 22 % der Mittel- und Oberschulabsolventen »fast täglich« spazieren (vgl. Berg/Kiefer 1982, 161).11 Das bedeutet zugleich, dass die in den letzten Jahrzehnten verbreitete Klage über das Dahinschwinden des Spaziergangs eindeutig überzogen ist. Mithin ist die hier beschriebene Veralltäglichung des unterschichtlichen Spaziergangs die Einübung in eine Tätigkeitsform, die bei der Nutzung von Eigenzeit, der Nutzung öffentlichen Raums als Erlebnisraum und der autonomen Interaktion mit Bekannten und Fremden bis heute einen hohen Stellenwert hat.

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Aufrichtung

1884 bringt das sozialdemokratische Satireblatt Der Wahre Jacob eine Karikatur »Philisters Spaziergang«, die einen Herrn mit Zigarre, Schirm und Pelerine zeigt und deren Begleitgedicht mit den Ver­sen beginnt: »Ich spaziere heut’ Abend/Nach altem Brauch,/Gedanken habend,/Ver­dauung auch« (Der Wahre Jacob, Jg. 1884, Nr. 3, 19). Der »alte Brauch«, der hier mild bespöttelt wird, ist die »gemäßigte Motion«, die diätetische Ratgeber dem in sitzender Lebensweise verkümmernden Gelehrten-, Schriftsteller-, Beamten- und Kaufmannskörper traditionell zu ver­schreiben pflegen. Wenigstens einmal am Tage, so lautet das Rezept, soll sich der Bür­ger zu einem die Verdauung und den Kreislauf fördernden, die steifgewordenen Glie­der lockernden und die schlaffen Muskeln stärkenden Gang ins Freie aufraffen. Der bürgerliche Spaziergang über die Promenade hinaus, der seit der Spätaufklärung zur bürgerlichen Alltagspraxis geworden ist (vgl. König 1996; Warneken 1989), stand nicht zuletzt für Beweglichmachen und Inbewegungsetzen – auch wenn er in dieser Funktion von der Turnbewegung und der Wanderbewegung allmählich überholt wurde. Ganz anders der Spaziergang der unterschichtlichen und vor allem der Arbeiterbevölkerung: Für sie bedeutet er weni­ger Mobilisierung als Retardierung. Er steht im Zeichen einer »Entdeckung der Langsamkeit«, die für breite bürgerliche Schichten erst mit der Motorisierung der letzten Jahrzehnte und der Beschleunigung von Alltagstätigkeiten insgesamt zu einem bestimmenden Moment des Spaziererlebnisses geworden ist. Um die unterschichtliche Spaziergangserfahrung ganz verstehen zu können, muss man sich vergegenwärtigen, dass ja nicht nur die Industriearbeit selbst unter einem zunehmenden Tempodiktat stand, sondern auch das rasche Gehen, über oft lange Strecken, zum Arbeiteralltag gehörte. Bis in die 1880er Jahre ging die Mehr­heit der Erwerbstätigen zu Fuß zur Arbeit, wobei ein bis zwei Gehstunden am Tag keine Seltenheit waren. Das rapide Städtewachstum um die Jahrhundertwende ver­längerte oftmals noch die Wegstrecken; die allmählich aufkommenden Verkehrsmittel waren vielen Arbeitern zu teuer (vgl. Kuczynski 1982, 217 f.). So gehörte zum Bild der Unterschichten neben dem müden und schweren auch der eilige Arbeiterschritt, bei bürgerlichen Beobachtern wie Paul Göhre (vgl. Göhre 1891, 31) ebenso wie in der zeitgenössischen Arbeiterlyrik: »Hastend eilt die berußte Schaar/Heim mit hallenden Schritten«, heißt es z. B. in dem Gedicht Nach Sonnenuntergang von Ernst Klaar (Beißwanger 1901, 391). Besonders im Alltag von Arbeiterinnen und Arbeiterfrauen kumulierte sich ein gehetzter Arbeits- mit einem schnellen Geh­rhythmus; die Niederschriften, die gewerkschaftlich organisierte Textilarbeiterinnen 1928 zum Thema »Mein Arbeitstag, mein Wochenende« verfassten, machen das über­aus anschaulich:12 »Um 7 Uhr beginnt die Fron fürs Kapital. Sechstage-Rennen im Volksmunde genannt. Ziemlich krass, aber doch wahr« (59). »½ 5 Uhr früh heißt es: ›Raus aus den Federn!‹ Missmutig, dass die Nacht schon weg ist, erhebt man sich, wäscht sich und kleidet sich an. Der praktische Bubikopf erfordert nicht viel Zeit. Nun geht es an Brot-, Kaffee- und Esseneinpacken. Schnell muss alles gehen und jeder Handgriff gilt, denn der Zug wartet

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nicht. Zum Glück habe ich es nicht weit zum Bahnhof. ½ 6 Uhr jage ich dann los« (100). »Nun schnell die Morgentoilette beendet – beim Bubikopf geht es ziemlich schnell. Dann wird Proviant für den Tag eingepackt. (…) Schnell nachsehen, ob das Rad in Ordnung ist (denn ich wohne 1 Stunde von der Arbeitsstelle weg). Nach einem Blick auf die Uhr ist es ¼ 7 Uhr. Höchste Zeit zur Abfahrt und los geht es in ½-stündiger Fahrt zur Arbeit« (115). »Endlich ist es Mittag, schnell wird heimgejagt, gegessen und schnell wieder fort, und wieder heult die Sirene (…)« (18). »Um 7 Uhr bin ich im Geschäft, gehe meiner gewohnten Arbeit nach bis 12 Uhr, dann aber auf dem schnellsten Wege heim. 5 Minu­ten vergehen allein an der Stempeluhr. (Es ist nur eine Uhr im Saal und 130 bis 150 Arbeiterinnen!) Ich habe 20 Minuten stramm zu laufen, bis ich im Elternhause bin. (Das Fahren rentiert sich nicht.) Das Essen darf nicht heiß sein und muss schon auf dem Tisch stehen, damit ich, bis es um 1 Uhr pfeift, wieder zur Stelle bin!« (40 f.). »Sonnabend. (…) Wieder die Hetzjagd, aber heut habe ich doch den Nachmittag frei. Wenn die Arbeit beendet ist, schnell die Kinder holen. Mittags gibt es Kartoffelsup­pe, das dauert nicht so lange. Dann die Betten machen, scheuern, die Kinder baden, einkaufen. Immer muss ich schnell laufen, damit ich beizeiten fertig werde« (140). »Feierabend! Und schnell ist man draußen. ½ 18 Uhr fährt der Zug, kurz vor ½ 19 Uhr bin ich am Wohnort angelangt, gleich geht es in den Konsum, die Einkäufe zu erledigen« (101). »Nun komme ich, von Staub und Schweiß erhitzt, um 5 Uhr und noch später heim, dann kann ich nicht etwa spazierengehen, nein, nun heißt es nochmal daheim loslegen« (63). Von diesem »Sechstagerennen« hebt sich der Arbeitersonntag ab als der Tag der Langsamkeit. »Was mir bei diesen Leuten, wenn sie von ihrem sonntäglichen Tun erzählten, am meisten auffiel und am deutlichsten im Gedächtnis geblieben ist«, schreibt Marie Bernays über verheiratete Gladbacher Textilarbeiter, war eine behagliche Brei­te, aus der man die Zufriedenheit zu spüren glaubte, die der Mann empfand, an einem Tag der Woche sich nicht eilen zu müssen. Vielen schien, schon allein durch diese Tatsache, alles, was sie am Sonntag taten, erfreulich zu sein. So wurden oft die gleichgültigsten Dinge sorgsam und nachdenklich aufgezählt: Da schlafe ich lang – dann wasche ich mich – und ziehe mich an – und frühstücke langsam – und rauche langsam meine Pfeife – und so entrollt sich dann ein Tag aus lauter kleinen Einzelheiten zusammengesetzt, der nach dem Gang in die Messe, als Hauptsache wohl ›einen Spaziergang mit der Frau‹ oder ›ein Sitzen im Garten‹ oder ›ein Spielen mit den Kindern‹ bringt (Ber­ nays 1912, 235 f.).13 Die öffentliche Langsamkeit des Spaziergangs ist dabei neben der körperlichen auch soziale Regeneration: Außer dem Recht auf Erholung bedeutet sie die Aufrichtung aus der Subalternität des Laufschritts, die Befreiung von den werktäglichen Kommandos, die einen losschicken oder, wie die »Proletenpfeife«,14 zur Arbeit rufen.

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Bei vielen Unterschichtsangehörigen unterscheidet nicht nur das Gehtempo den Sonn­tagsvom Werktagsgang. Körperliche Arbeit bedeutet noch um die Jahrhundertwende häufig Tragarbeit. Schwer bepackte Straßenhändlerlnnen, Material und Werkzeug befördernde Handwerker und Arbeiter, Gepäckträger, mit Körben behängte Dienst­mädchen, Essen in die Fabrik tragende Frauen. Leiterwägen ziehende und Waren zustellende Dienstboten – oft Jugendliche (vgl. z. B. Wulff 1911, 236-238) – gehören noch um die Jahrhundert­ wende zum werktäglichen Straßenbild. Am Sonntag dagegen, so fällt dem Berliner Flaneur Julius Rodenberg auf, »da sieht man keine Frauen mit Taschen oder Körben, keine Männer mit Kasten oder Handwerksgeräth« (Rodenberg 1891, Bd. 1, 25): Nun ist aufrechter Gang mög­lich, können Kopf und Blick erhoben werden und die Hände sich darauf beschrän­ ken, eine Zigarette oder einen Spazierstock zu halten, die indizieren, dass ihre Träger heute ihrer eigenen Wege gehen, dass sie endlich einmal »Schritte machen, die nicht von anderen befohlen sind« (Ostwald o. J., 192). Individuierung

In einer Studie über die Arbeiterfreizeit in den 1920er Jahren schreibt Manfred Hübner: »In allen proletarischen Milieus scheint der ›Einzelgänger‹ eine Seltenheit und die Ausnahme zu sein. Die Regel ist der Hang zu Gruppenaktionen« (Hübner 1992, 157). Zu den Freizeittätigkeiten, die Hübner hierbei im Blick hat, zählen unter anderem Kino‑, Kneipenund Sportplatzbesuch, Schwimmen oder Wandern, nicht jedoch der Spaziergang. Bezieht man diesen in die Betrachtung ein, wird das Bild von der kollektiven Freizeitverbringung und damit auch der generellen Kollektivorientierung der Unterschichten zwar nicht desavouiert, zeigt sich jedoch als zumindest differenzierungsbedürftig. Auf der einen Seite gibt es zahlreiche Belege dafür, dass Unterschichtangehörige beim Spaziergang häufig in größeren Gruppen – sei es die Jugendclique, sei es die Familie – unterwegs sind, und es ist durchaus möglich, dass diese Gesellungsform bei ihnen öfter zu finden ist als bei bürgerlichen Spaziergängern; andererseits ist unübersehbar, dass der Spaziergang auch im unterschichtlichen Milieu als Medium der Individuierung genutzt wird, dass er den Wunsch erfüllt, sich zeitweise von seiner sozialen Umge­bung zu lösen, einmal andere Leute zu sehen und zu sich selbst zu kommen. Aus der Kindheitszeit werden Spaziergänge von Arbeitern des öfteren als eine rare Gelegenheit erinnert, den Vater einmal für sich allein zu haben, von ihm etwas erklärt oder aus seinem Leben erzählt zu bekommen. »Mein Vater«, erinnert sich z. B. ein pensionierter Bergmann 1909, »ist im Harz in Clausthal wie ich 6 Jahre alt war mit mir in den Wald Spazieren gegangen hat mir die Vögel so wie alle andern Tiere kennen gelernt, wor­auf ich mich die ganze Woche freute, wenn Sonntag kam« (Levenstein o. J., 64). Und keineswegs nur bei bürgerlichen Jugendlichen ist der Spaziergang ein beliebter Ort ungestörten Austauschs mit dem besten Freund oder der besten Freundin: »Ich lernte einen Freund kennen, der sehr zu mir hielt«, berichtet in Dinses Befragung ein 17jähriger Bootsbauerlehr­

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ling. »Jetzt gehen wir Sonntags im Wald oder am See spazieren und unterhalten uns. Wir genügen uns damit, denn wir bekommen uns die ganze Woche nicht zu sehen und meine Eltern leiden es auch nicht« (Dinse 1932, 64). Der Spaziergang von Ehepaaren bedeutet ebenfalls nicht nur gemeinsam genossene Erholung, sondern bietet auch eine im All­ tag selten gebotene Chance zur intensiveren Zuwendung, zum Pläneschmieden und zum Besprechen von Problemen. Besondere Bedeutung hat der Spaziergang natür­lich für Liebesbeziehungen im Jugendalter: Vergegenwärtigt man sich, dass noch 1927 die meisten Arbeiterfamilien in einem bis drei Räumen und fast vier Fünftel der erwerbstätigen Jugendlichen bei ihren Eltern wohnten (vgl. Peukert 1987, 24 f.), so wird evident, wie wich­tig das abendliche »Runtergehen« und der zweisame Sonntagsausflug in den Park oder den Wald waren, von dem in Robert Dinses Jugenduntersuchung so oft die Rede ist. Wie Eltern und Pädagogen vermuten und ein Teil der Jugendlichen freimütig berichtet, dienen die Zwischenhalte solcher Spaziergänge – auf der Parkbank, auf der Wiese, im Hausflur – oft dem ungestörten Austausch von Zärtlichkeiten, der Weg selbst aber auch dem von Erfahrungen und Problemen: »An drei bestimmten Tagen in der Woche treffe ich mich mit meinem Freund«, berichtet bei Dinse eine 17jährige Schnei­derin. »Wir gehen spazieren, erzählen von den andern Tagen, an denen wir uns nicht gesehen haben, reden auch über unsern Beruf, kurz alles, was einen angeht« (Dinse 1932, 68). Das beste Pflaster und der klassische Ort für solches »Herumflanieren ohne gehörige Aufsicht« (Hellpach 1902, 100) ist die Großstadt, deren Anonymität zudem die nicht nur von bürger­lichen Flaneuren geschätzte Möglichkeit zum öffentlichen Genuss heimlicher Gefühle bietet.«15 Doch auch in ländlichen Gemeinden ist der Spaziergang, wenn auch in dorfkulturellen Grenzen, eine legitime Form der Separation von der Gruppe und der Zusammenführung der Geschlechter. So berichtet Andreas Gestrich über ein württem­bergisches Arbeiterdorf, dass Arbeiterjugendliche – ebenso wie andere Dorfjugendliche – sonntags nach Mädchen und Jungen getrennt aus dem Ort zogen; aus größeren bil­deten sich dann kleinere Gruppen und schließlich gemischtgeschlechtliche Paare, die miteinander am Waldrand entlanggingen. Angesichts der Tatsache, dass in den Fabriken Geschlechtertrennung herrschte und die Jugendlichen auch auf dem Weg zur Arbeit immer mit Erwachsenen gingen, die, so Gestrich, »gestrenge Aufsicht über sie führten«, gehörten solche Spaziergänge zu den wenigen Gelegenheiten unbeauf­sichtigter Zweisamkeit – wobei die Wahlfreiheit beim Anbändeln freilich ungleich geringer war als bei städtischen Trefforten, da sie sich auf Angehörige des eigenen Dorfs beschränkte (vgl. Gestrich 1986, 105 f.). Wo Unterschichtsangehörige als Einzelgänger spazierengehen, ist sicherlich zuerst an Alleinstehende – ältere noch mehr als jüngere16 – zu denken, die ihre Einsamkeit nicht unbedingt als Freiheit genießen, sondern auf diesem Spazierwege wenigstens ein bisschen unter Leute kommen wollen. Aber es lassen sich auch etliche Hin­weise auf die Existenz eines proletarischen promeneur solitaire finden, der sein Kol­lektiv vorübergehend verlässt, weil es keine individuelle Muße erlaubt. So wünscht sich ein 21jähriger Schlosser, den Adolf Levenstein in seiner Arbeiterfrage von 1912 zitiert, genügend Zeit dafür, »in den Wald oder in ein sonst hierzu passendes Institut gehen und in voller Einsamkeit meine in der Öffent-

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lichkeit gewonnenen Eindrücke geistig verarbeiten« (Levenstein 1912, 199)17 zu können. Einsichten über die Gesellschaft, die nur abseits von Gesellschaft gewonnen werden können: Das erinnert an den Spaziergangsdiskurs des aufsteigenden Bürgertums, und da die Äußerung von einem sozialdemokratischen Ar­beiter stammt, ist eine solche Parallelisierung nicht einmal ganz schief. Ein 33jähri­ger Kohlenhauer schreibt: »Die Zeit nach meiner Arbeit möchte ich gerne zur Erholung im Freien oder im Walde verbringen, und möglichst allein, mit einer Lektüre« (ebd., 181). Einsame Lektüre in freier Landschaft: Auch dies ein Motiv der bürgerlichen Eman­zipa­ tionszeit, ›nachgeholt‹ aber nicht aus anakreontischer Naturschwärmerei, sondern eher, weil die Wohnung des Ehemanns und Vaters von zwei Kindern, der sich hier äußert, als ruhigen Leseort nur einen nicht allzu amoenen Locus zu bieten hatte. Ver­einzelt ist auch bezeugt, dass sich die Ehefrauen den Luxus einer solchen Familien­distanz erlauben: »Auf meinen Sonntagmorgenspaziergang freue ich mich die ganze Woche«, schreibt eine 28jährige Mutter in der Sammlung Mein Arbeitstag, mein Wochenende: »Ringsum ist es still! Frieden atmet die Natur. Ich schaue die früch­tebeladenen Felder, die weiten grünen Wiesen, die hohen Fichtenstämme. Ich sauge die harzige Luft ein. Ich laufe eine ganze Stunde, denn heute bin ich frei, heute ist mein Tag« (Deutscher Textilarbeiterverband o. J., 183). Näher zu prüfen wären allerdings die Grenzen einer solchen weiblichen Gehfreiheit. Man darf annehmen, dass der zeitgenössische Verhaltenskodex nicht nur der Bürgerin, sondern auch der »ordentlichen« Arbeiterin und Arbeiterfrau eher die Einsamkeit in der Natur als die in der Menge zubilligte. In den Stadtstraßen dahin­schlendernde Flaneurinnen aller Schichten dürften dem Verdacht der »Leichtlebigkeit«, zumindest des pflichtvergessenen Selbstgenusses, ausgesetzt gewesen sein; die Präferenz für Ausgänge am Arm des Mannes oder mit Kindern an der Hand indiziert also nicht unbedingt nur den primären Wunsch nach Familienund Kollektivorien­tierung, sondern hat wohl auch damit zu tun, dass diese einen Schutz vor Zudringlichkeiten und moralischen Sanktionen bot. Partizipation

»Die Bestrebungen des hiesigen Verschönerungsvereins«, berichtet 1892 der Evan­gelische Arbeiterverein aus Iserlohn, welcher zahlreiche Spaziergänge in der schönen Umgebung der Stadt angelegt hat und unterhält, üben einen äußerst vorteil­haften Einfluss auf die Benutzung der Sonntagszeit seitens des Arbeiters. Wann sah man früher Mann und Frau und Kinder zusammen spazieren gehen? Jetzt begegnet man zahlreichen Familien an Sonntag Nachmittagen auf allen Wegen, und weil alle Gesellschaftsklassen auf denselben zu finden sind, geht Alles ordentlich und anständig zu (Weber 1892, 238 f.).

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Das klingt, als habe sich die sozialreformerische Hoffnung erfüllt, die schon die Einrichtung der ersten Volksparks im 19. Jahrhundert begleitete: dass neben dem beruhigenden und versittlichenden Anblick geordneter Natur18 auch das Beispiel der promenierenden Bourgeoisie den proletarischen Charakter erudieren werde (vgl. Hennebo o. J., 117 f.). Andere bürgerliche Beobachter urteilen ablehnender: Sie sehen im freizeitlichen Nebeneinander der Spaziergänger aller Klassen weniger eine Verbürgerlichung des Proletariats als eine Proletarisierung genuin bürgerlicher Areale. Verärgert wird konsta­tiert, dass man nicht nur in den neuen »kommunistischen Transportmitteln« (Hellpach 1902, 212) mit Unterschichtlern zusammengepfercht ist, sondern dass diese zunehmend auch City­parks und Promenaden, in denen sie sonst vor allem als eilige Durchgänger oder in Arbeitsfunktionen präsent waren, müßiggängerisch in Mitbesitz nehmen, sich vespernd auf Ruhebänken »breitmachen« und damit das »gute Publikum« vertreiben. Man hört Klagen über proletarische Parkbenutzer, die sich im öffentlichen wie in ihrem privaten Raum benähmen, die den spaziergängerischen Komment verletzten, indem sie laut redeten, lachten, sängen oder gar das Gebot verletzten, sich der Naturschön­heit nur mit den Augen zu nähern: nämlich auf dem Rasen tollten, Obst abrissen, Blu­men pflückten oder Vögel fängen.19 Zum Ärger gesellt sich Angst. Julius Rodenberg schildert ein Erlebnis aus dem Humboldthain: Rein und gut und erfüllt von dem Aroma des Mai’s ist die Luft: vor mir jauchzen Hun­ derte von Kindern auf dem in der Abendsonne leuchtenden Rasen, indessen auf der breiten Promenade ringsum ehrbare Männer und Frauen sich ergehen oder, auf den zahlreichen und bequemen Bänken sitzend, dem frohen Treiben zuschauen. Welch ein Paradies harmloser Munterkeit und Frühlingslust scheint dies zu sein: … Da kom­men zwei junge Arbeiter des Weges, einer davon unsichern Schrittes, die Mütze nach hinten ins Genick gezogen, das Gesicht erhitzt, und ihnen folgt ein Frauenzimmer, in deren nicht unschönen Zügen sich Angst oder Beschämung ausdrückt. Der mit der Mütze im Nacken zieht eine Branntweinflasche aus der Brusttasche hervor und reicht sie schwankend dem Mädchen mit den Worten, die er mehr lallt als spricht: ›Spiri­dus fine, anners dhun wir es nich!‹ Er meint gewiss, einen guten Witz gemacht zu haben; aber das Mädchen wehrt ihn mit der Hand ab und wendet sich zur Seite, wo­rauf Jener, zum Schlag ausholend, die Faust erhebt. Jetzt tritt sein Kamerad dazwi­schen und sucht ihn zu beruhigen: er taumelt zurück und, wie ein Spuk, plötzlich auf­getaucht, verschwindet das hässliche Bild hinter den Bäumen (Rodenberg 1891, Bd. 2, 133 f.). Rodenberg gibt freilich nicht nur den bürgerlichen Schock über eine solche Kul­tur­kon­ frontation, sondern auch den Eindruck wieder, dass die Begleiter des Betrun­kenen die Szene selbst als peinlich empfinden. Und er plädiert nicht gegen die freizeitliche Ständevermischung, sondern lobt die »städtischen Gärten, welche Jedem, auch dem ärmsten unserer Mitbürger, zu gleichem Rechte gehören«, als humane Errungenschaft (vgl. ebd., 139). Andere Vertreter seiner Klasse geben den Unterschichten jedoch deutlich zu verstehen, dass sie diese Rechte als sehr begrenzt betrachten. Schäbig gekleidete Fußgänger, die vor einem

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»Es ist unglaublich, wie frech und unverschämt am Sonntag das Publikum ist; kaum sitzt man auf einer Bank – gleich macht sich auch eine Arbeiterfamilie neben einem breit.« (Zeichnung von A. Münzer im Simplizissimus, Jg. 1899/1900, 125)

Schaufenster verweilen, müssen z. B. des Polizistenrufs »Vorwärts!« gewärtig sein,20 und die sozialdemokratische Presse dokumentiert öfters Beleidigungen, ja Tätlichkeiten, die sich »studentische Rowdies« in Berliner Parks und auf Berliner Gehwegen gegenüber Arbeitern zuschulden kommen ließen.21 Die recht genaue Darstellung eines solchen Konflikts enthält die 1905 erschienene Autobiographie des Industriearbeiters Moritz Th. W. Bromme. Während eines Kuraufenthalts bei Berka geht Bromme mit zwei Freunden im Wald spazieren: In »tollster Stimmung« veranstalten sie »ein richtiges Pilzbombardement, natürlich nur mit ungenießbaren«; später setzen sie sich auf eine Bank und pfeifen den Gassenhauer »Lebt denn meine Male noch«, als ein junger Forstadjunkt sie mit den Worten anfährt: »Ich werde Sie pfeifen lernen.« »Maiwald entgegnete: ›Wer hat denn gepfiffen, das war’n doch die da oben.‹ ›Was, die da oben?‹ entgegnete der Adjunkt, ›Sie wollen mich wohl noch hier zum Narren halten, die da oben, stehen Sie auf, aber sofort bitte.‹ Hierauf sagte Maiwald: ›Ach gehen Sie weg und belästigen Sie mich nicht mehr. Ich könnte mich sonst auf regen.‹ Darauf der andere: ›Was, ich soll weggehen, Sie wollen mich wegweisen, mich

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hier in meinem Revier, in meiner Behausung? Wer sind Sie denn mir gegenüber? Sie sind ja nur aus Gnade und Barmherzigkeit hier. Ihr müsst doch froh sein, dass man Euch das Leben lässt, denn ohne uns würdet ihr verhungern.‹ Darauf natürlich großer und energischer Protest, indem von uns das Umgekehrte für richtig erklärt wurde. Der Streit eskaliert. Bromme bittet seine Kollegen vergeblich, doch abzulassen, und drückt sich schließlich »seitwärts in die Büsche« (Bromme 1971, 316 f.). Versuche der Selbstbehauptung, aber doch auch Fluchttendenzen: Die Brommesche Szene hat durchaus Schlüssel­ charakter für den unterschichtlichen Umgang mit bürgerlichen Exklusionsbestrebungen und Missachtungssignalen. Oft hindern Gefühle kultureller Unterlegenheit, z. B. die Scham wegen schlechter Kleidung, das gleiche »Recht auf die Straße« wahrzuneh­men. Man geht dann lieber hinaus in die »freie Natur«, die einen nicht zuletzt von bürgerlichen Kontrollblicken befreit, oder bleibt von vorherein im eigenen Quartier oder in der Laubenkolonie, über die es in der Zeitschrift Kleingartenwacht 1929 heißt: »Kein öffentlicher Park, keine Promenade kann dieses Gefühl des Geborgen­seins vermitteln« (zit. nach Adams 1929, 88). Insgesamt wächst jedoch, zumal bei jüngeren ArbeiterInnen, das Bedürfnis und der Mut, sich unter die flanierenden Bürger zu mischen. sich – gewiss unter Einhaltung gewisser Abstände und Differenzierungen22 – auch in den reprä­sentativen Parks und auf den Prachtstraßen zu zeigen und wenigstens für kurze Zeit, wie Minna Wettstein-Adelt (1893, 88) es verständnisvoll ausdrückt, unter den »vollzählenden Leuten« zu rangieren. Selbstzivilisierung

Wie die sozialhistorische Literatur immer wieder hevorgehoben hat, gehört zu die­ser öffentlichen Präsentation bei vielen, wenn nicht den meisten ArbeiterInnen das »gute Kleid« oder der »gute Anzug«. In der konservativen Sozialkritik wird die­se Tatsache traditionell unter »Putzsucht«, bei etlichen (kultur-)revolutionär gesonne­nen Beobachtern – man denke an Turek – als Zeichen von »Kleinbürgerlichkeit« abgehandelt. Bekannt ist Otto Rühles bissige Schilderung des Proletariers als »miss­ratenem Kleinbürger«, der am Sonntag »mit steifem Hut, Gummistehkragen, gestärkten Manschetten, schlechtsitzendem Cutaway« spazierengeht, daneben die Ehefrau »in der verkitsch­ten Mode der vorjährigen Saison« und die Kinder in frisch gewasche­nen und geplätteten Kleidern, die keinen Grasfleck, keine Beerenfarbe, keine Schmutzspritzer bekommen dürfen, mit denen man nicht, weil sie geschont werden müssen und ihre Reinigung Zeit und Geld kostet, auf Wiesen liegen, auf Bäume klet­tern, durchs Wasser waten oder durchs Dickicht kriechen darf (Rühle 1925, 512). Es ist aufschlussreich, das von Rühle vermittelte Bild eines in der Tat zwanghaften, wenig genussreichen Anpassungsversuchs mit der Innensicht zu vergleichen, die Paul Barsch in

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einem Der neue Anzug benannten Kapitel seiner Lebenserinnerungen liefert. Der Anzug, den die Mutter dem jungen Tischlergesellen zukommen lässt, passt ihm nicht besonders gut und ist ihm viel zu schwer; doch eben das körperlich eigentlich unangenehme Gefühl des schweren Stoffs wird durch die Assoziation mit dem »schweren Geld«, das dieser Stoff gekostet haben muss, in’s Positive gewendet: Obzwar mir der Anzug ein wenig zu groß und zu weit geraten schien, fühlte ich mich darin stark beengt, und es war mir, als stäke ich in einem schweren Eisenpan­zer. Das lag meines Erachtens an der Stärke und Schwere des Stoffes, die ich bewunderte und die mich zu dem Glauben zwang, dass der Anzug schweres Geld koste. Auf der Straße dann verhilft der körperlich beengende Anzug zu einem Erlebnis sozialer Befreiung: Mit gehobener stolzer Stimmung marschierte ich ab; und das einzige Unbehagen bestand darin, dass ich bei jedem Schritt auf die Hosenenden trat und mir sagen muss­te, dass die Hosen darunter leiden würden … Diesmal wich ich den Menschen nicht scheu aus, wie ich es an den beiden letzten Sonntagen getan hatte; ich wählte sogar einen Bürgersteig, auf dem die vornehmsten Leute der Stadt zu promenieren pfleg­ten, und umkreiste wiederholt langsam den Ring, um mich den Mitbürgern in mei­ner neuen Verfassung zu zeigen. Hatte mich etwa einer oder der andere in dem alten Anzug gesehen, so sollte der neue ihn belehren, dass es falsch sei, ein voreiliges Urteil über einen Mitmenschen zu fällen (Barsch 1905, 266 f.). Barschs Schilderung deckt sich ziemlich genau mit einer von Orvar Löfgren vorgetragenen Interpretation der guten Ausgehkleidung von Arbeiterfamilien: Löfgren sieht in ihr weniger »Verbürgerlichung« als »einen Abwehrkampf und eine Selbstdisziplinierung«: Die Vorstellungen von Respektabilität, davon, was es bedeutete, eine ordentliche, ehrenhafte und anständige Arbeiterfamilie zu sein, dienten sowohl einer Verteidigung gegen die Überwachung von seiten der bürgerlichen Kultur wie einer Grenzziehung nach unten, gegenüber denjenigen, die völlig die Kontrolle über ihr Dasein verloren hatten und von der Gnade der Gesellschaft oder der Wohltätigkeit lebten (Löfgren 1985, 94). Statt primär von Selbstdisziplinierung wäre allerdings wohl besser von Selbst­zivilisierung zu reden: der genussvollen Demonstration von Würde und kulturellen Fähigkeiten, eines Persönlichkeitspotentials über die Mittelbeschaffung zu einer not­dürftigen materiellen Reproduktion hinaus. Es wäre aber wohl zu kurz gegriffen, das Flanieren im Sonntagsstaat nur als eine gegen gängige Abwertungen gerichtete Repräsentation von Arbeiteridentität zu verste­hen; es kann vielmehr auch dem Versuch dienen, diese Identität zu lockern und andere zu erproben. Es

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sind vor allem junge Frauen aus der Unterschicht, von denen solche spielerischen Grenzüberschreitungen berichtet werden. »Wenn ich am Sonntag in die Kirche ging«, schreibt Adelheid Popp (1909, 33), »sollte niemand in mir die Fabrikarbeiterin erkennen«, und Behnken u. a. beschreiben die Sitte von Wiesba­dener »Ladenmädchen« und Lehrmädchen aus Schneiderinnen- und Modewerkstät­ten, sich am Sonntagmorgen zum feinen Publikum der dortigen Wilhelmstraße zu ge­sellen: »Der städtische Straßenraum«, so resümieren sie, öffnete die ständische Ge­sellschaft. Wer über die entsprechende Mode und ein gewisses Auftreten verfügte, konnte und durfte sich unter die große Gesellschaft – auf Zeit – mischen. (…) Träu­me eines glanzvollen und besseren Lebens, Sehnsüchte nach der Liebe zu einem Of­fi zier wurden vor dieser Promenaden-Kulisse ausgelebt. Ein gelebter Film, an dem man einmal die Woche teilnahm (Behnken/du Bois-Reymond/Zin­ necker 1989, 86). Schneiderinnen und Verkäu­ferinnen brachten für solche Rollenspiele besonders günstige Voraussetzungen mit. In den mei­sten Fällen waren der Sonntagsverwandlung enge Grenzen gesetzt: Mit zu großen, zu harten, zu schweren oder kaputten Schuhen, über die in Unterschichten-­Erinnerungen immer wieder Klage geführt wird, lässt sich die »ruhige Leichtigkeit«, »die freie, leichte, sichere Haltung«, die bürgerlichen Fußgänger­Innen in zeitgenössischen Anstandsbüchern anempfohlen wird, kaum herstellen; und wo das Geld für die neue­ste Mode aufgetrieben werden kann, mangelt es meist am legitimen Geschmack und am elabo­rierten Verhaltensrepertoire. Dennoch kann man vermuten, dass der Spaziergang mehr als andere Freizeittätigkeiten die Chance gab, einen unterschichtlichen Status ein we­nig zu verwischen, da die Begegnung auf der Straße den nahen und lan­gen Blick erschwerte und die Sprache, untrüglichster Indikator von Kulturdifferenz, hier eine geringe Rolle spielte. Die Überlegung, dass das Nebeneinander von Spaziergängern aller Klassen bei den unterschichtlichen Spaziergängern nicht nur das Bewusstsein der eigenen Unterlegen­heit, sondern auch die Lust an deren – gewiss nur partiellen und transitorischen – Auf­­he­bung vermittelte, könnte als Zustimmung zur zitierten volks- und volks­park­pä­dagogischen Theorie erscheinen, dass eine in angenehmem Ambiente arrangierte Ständevermischung die arbeitenden Klassen versittliche und auch ihren Hang zum Klassenkampf mildere. Doch zum einen hat die Selbstzivilisierung, von der wir hier gesprochen haben, wenig mit der fern von Konsumtionsakten angesiedelten Versitt­lichumg zu tun, welche jene Pädagogik meinte. Zum andern ist die vorübergehende Vereinigung der Spaziergänger sozial und politisch mehrdeutig: Sie kann Hoffnun­gen auf individuellen Aufstieg ins Bürgertum bedienen, aber auch Ansprüche auf kollektive Partizipation verstärken. Es ist eine durchaus plausible Vermutung, dass beschränkte Bereiche der Integration wie das Vereinswesen oder die Möglichkeit, im Sonntagsstaat und bei Sonntagsvergnügungen den eigenen sozialen Status in den Hinter­

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grund treten zu lassen, (…) kaum Bindungen an die bestehende Ordnung [bewirkten] – vielleicht wurden sie aus dem Selbstverständnis von Angehörigen einer aufsteigenden sozialen Klasse heraus sogar als Moment erkämpfter Erweiterung des eigenen Handlungsfeldes, als Durchbrechen ehemals unüberwindlicher sozialer Barrieren erfahren und stärkten so Selbstbewusstsein und Klassenidentität (Maase 1985, 69). *

Demonstration sozialer Respektabilität, öffentliche Ausübung des Rechts auf Eigenzeit und Eigenarbeit, tendenziell gleichberechtigte Teilhabe an öffentlicher Geselligkeit und dem zumindest ästhetischen Genuss des gesellschafflichen und natür­lichen Reichtums – das sind Eigenschaften, die dem unterschichtlichen Spaziergang eigentlich auch die Sympathie der Arbeiterbewegung hätten einbringen können. Die­se ist jedoch einigermaßen begrenzt. Spaziergänge als kleine Schritte der sozialen Emanzipation, proletarische Spaziergänger, genussvoll schlendernd ins Gespräch ver­tieft, proletarische Flaneure als selbstbewusste Betrachter der Güter, die sie geschaffen haben und die ihnen dereinst zufallen werden – das sind keine Themen, die im sozialistischen Arbeiterbild eine Rolle spielen. Der Spaziergang wird zwar als Mög­lichkeit zu physischer Erholung gewürdigt, gilt jedoch insgesamt eher als Beschäf­ tigung minderen Ranges: Die vorherrschende sozialistische Freizeitprogrammatik denkt hier nicht grundsätzlich anders als Marie Bernays, die – bei aller Empathie in die Bedürfnisse, die den Spaziergang bei Arbeitern so beliebt machen – unter der Rubrik »Spazierengehen und Vergnügen« diejenigen Leute zusammenfasst, denen »anschei­nend jedes höhere Interesse fehlte«, und ihnen unter der Rubrik »Lesen und Musik« die aufgeweckteren und bildungsfähigeren Arbeiter« gegenüberstellt (vgl. Bernays 1912, 351). Die schlechtesten Noten erhält dabei gemeinhin der Spaziergang durch die Stadtstraßen. So wie bürgerliche Sozialreformer statt der »geist­verödenden und versuchungsreichen Gassentummelei« die »stillen Freuden der Natur«23 empfehlen, sehen auch viele Vertreter der Arbeiterbewegung den Stadt­bummel als Verführer zum überflüssigen Einkaufen und Einkehren, zu Modefimmel und Blasiertheit an, dem als legitime Erholungsform das Wandern in der »freien Natur« entgegengesetzt wird (vgl. etwa Grottewitz 1903, Graf 1913). Wandern steht in solchen Antithesen nicht nur für Kon­sumverzicht, für »Schlichtheit und Natürlichkeit«, für »ein bescheidenes und ruhiges Herz«24, sondern auch für andere Arten von Askese, die bei Spaziergängern teilweise schmerzlich vermisst werden. So warnt die Arbeiter-Turn-Zeitung vor nächtlichem Poussieren unter der Haustür und empfiehlt, statt sich »in Ausschweifungen frühzeitig aufzureiben«, früh ins Bett zu gehen und am nächsten Tag zu einer Wanderung auf­zubrechen (19. Jg. 1911, Nr. 14, 238). Die Zeitschrift Arbeiter-Jugend wiederum will die »bekannten Sonn­tagsnachmittagsbummel« durch »die echten und rechten Wanderungen der Arbeiter­jugend« ersetzt sehen (3. Jg. 1911, 78). Das steht zwar nicht staats-, wohl aber körperpolitisch dem zeitgenössischen Lob der Turnmarschpflicht für preußische Knabenschulen nahe, die »nicht nur als vergnügliche Spaziergän-

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ge, sondern als wohldisziplinierte, wirkliche ›Märsche‹ im eigentlichen Sinne des Wortes« (Lorenz 1903, 4) gedacht sind: Dem individuellen, schlen­dernden, verweilenden, gehend sich gehenlassenden Spazierschritt wird der ertüch­tigende, kollektive, zielorientierte, von Wanderkarte oder Wanderführer gelenkte Wan­derschritt vorgezogen.25 Natürlich ist nicht zu bestreiten, dass auch dieser Schritt Genuss bereiten kann. Aber der Versuch, ihn nicht neben, sondern über dem »Bum­mel« zu platzieren, indiziert eben jene schichtbornierte Auffassung, die Kaspar Maase »die im Habitus der Intellektuellen verkörperte Beziehung zum Volk als Objekt der Zivilisierung« genannt hat: eine Auffassung, welcher »die empirisch vor­findlichen Alltagslösungen, Befriedigungsweisen und Glücksvorstellungen« der Unterschichten fremd geblieben sind (Maase 1991, 182, 189). Maase formulierte diese Kritik unter dem Eindruck des Umbruchs in Ostdeutsch­land, als »der erkämpfte aufrechte Gang (…) die Massen vor die Schaufenster des Westens« (Hartung 1990, 176) führte und west- wie ostdeutsche Linke und Alternative sich von dieser »konsumistischen« Haltung entsetzt zeigten. Eine für die Historik des unter­schichtlichen Spaziergangs denkwürdige Szene spielte sich am Tag nach der Maueröffnung ab. Bei einer Trotz- und Reformkundgebung der SED im Lustgarten trat, nach dem Bericht des Neuen Deutschland, eine 17jährige Schülerin ans Mikrophon: »Jetzt habe sie das Gefühl, dass die Partei echt aufgewacht und auch für die Jugend die Zukunft sei. Deshalb wolle sie für ihren Staat dasein und nicht zu die­ser Stunde auf dem Kudamm spazieren gehen, sagte sie unter großem Beifall« (Neues Deutschland, 11. /12. 11. 1989). Die gemeinsame Kundgebung als Gegenmodell zum eigenständigen Ausflug, der aufrechte Gang des Kämpfers als Alternative zum legeren Spaziergang und neugierigen Schaufensterbummel, der lange Marsch in die Zukunft nicht als Verbündeter, son­dern als Opponent des Herumschlenderns im schönen Augenblick: ein altes Arbei­terlied, das nie ein Volkslied geworden ist. Mit Grund. Anmerkungen 1 Der Spaziergang wird hier also – im Einklang mit der Begrifflichkeit der meisten zeitgenössischen Quellen – von extensiveren Unternehmungen wie »Wanderung« oder »Ausflug« abgegrenzt. 2 Die folgende Darstellung versucht einen ersten Überblick über ein weites Feld zu gewinnen. Die­ser panoramatische Blick fasst verschiedene Unterschichtengruppen (mit dem Hauptaugenmerk auf der städtischen Arbeiterschaft) und einen längeren Zeitraum von ca. 1880 bis ca. 1930 (mit Schwerpunkt um 1910) zusammen. Die Zäsuren dieses Feldes werden nicht übersehen, aber weniger deutlich nachgezeichnet als seine Kohärenzen. 3 Das »Arbeiterschutzgesetz« von 1891 verbietet zwar generell die Sonntagsarbeit, erlaubt aber vie­le Ausnahmen. Eine Enquête stellt um die Jahrhundertwende fest, dass in Preußen 42 Prozent aller in Gewerbe-, Handels- und Verkehrsbetrieben beschäftigten Arbeiter keine Sonntagsruhe genießen (vgl. Ritter/Kocka 1974, 140; siehe auch Deutschmann 1985). 4 »Das Spazierengehen wurde in 110 Fällen als Haupterholung genannt (…), in 9 Fällen noch Thea­ter und Konzerte. Dann kam die gesellige Unterhaltung mit 5 Angaben und das Zeitungslesen mit nur 1 Angabe« (Schumann 1911, 107).

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5 Ein früher Beleg für den sehnsüchtigen Arbeiterblick auf den auch werktags spazierengehenden Bür­ger ist der Versuch des württembergischen Theologen S. C. Kapff in seinem Buch Der glückliche Fabrikarbeiter von 1856, die in diesem Blick liegenden Vor­würfe auszuräumen: »Auch die Gelehrten und Geistlichen und andere Bücherleute haben meist längere Arbeitszeit als ihr, und wenn ihr sie etwa auch spazieren gehen sehet, so dürfet ihr ja nicht meinen, sie ha­ben nichts zu tun. Wenn sie nicht auch eine Stunde des Tags Bewegung und frische Luft hätten, so könn­ten sie gar nicht gesund bleiben und nicht fortarbeiten (…). – Es kann einer spazieren sehen, und man kann meinen, er tue nichts. aber unter dem Laufen oder unter dem Sitzen schafft sein Kopf mehr, als bei Andern Hände und Füße. Das Denken des Kopfes ist eine viel größere und wichtigere Arbeit als alles Hand-Geschäft« (Kapff 1856, 25 f., 32). 6 Als bezeichnend zitiert Bernays die Antwort einer Arbeiterfrau auf die Frage, was sie am liebsten zur Erholung täte: »Ach du lieber Gott, hinsetzen und ausruhen!« (Bernays 1912, 237). 7 Hierbei ist Heidi Rosenbaums Befund hinzuzufügen, daß es eher sozialdemokratische als »traditionelle« (hier: katholische) Väter sind, die sich in der Freizeit mit ihren Kindern beschäftigen und u. a. mit ihnen spazierengehen (vgl. Rosenbaum 1992, 249 ff.). 8 Siehe auch Mühlberg 1986, 190. 9 So ergibt z. B. Robert Dinses Befragung junger BerlinerInnen aus dem Jahre 1930, dass Spazier­gänge an der Spitze ihrer Ausgehtätigkeiten stehen (vgl. Dinse 1932, 75 f.). Hildegard Jüngst schreibt in ihrer Studie Die jugendliche Fabrikarbeiterin. Ein Beitrag zur Industriepädagogik ( Jüngst 1924, 51): »Nach Arbeitsschluß bummelt das Mädchen durch die Straßen, betrachtet die Schaufensterauslagen, die vollbe­setzten Cafés und die strahlende Lichtreklame der Kinos; es sucht eine grüne Anlage auf oder steht plau­dernd mit Gefährtinnen unter der Haustür.« Der Moabiter Pfarrer Günther Dehn schildert den »normalen Verlauf eines Abends im Arbeitermilieu« bei den Jugendlichen so: »Man macht sich ein ›bisschen fein‹ und geht noch etwas herunter. Man steht auf der Straße vor der Haustür, raucht, wenn man ein Junge ist, eine Zigarette, geht mit seinen Freunden oder seinen Freundinnen (erst später ist es ›der Freund‹ oder ›die Freundin‹) durch ein paar Straßen oder in die nächstgelegenen Anlagen. Hat man Geld, so besucht man auch einmal ein Kino oder eine Eiskonditorei. Im Sommer fährt dieser oder jener auch mit seinem Rad noch ins Freibad hinaus« (zit. nach Peukert 1987, 203). 10 Danach nennen Schneiderinnen (47 %), ungelernte Arbeiterinnen (53 %) und Verkäuferinnen (59 %) unter ihren Erholungen Spaziergänge etwas seltener als Haustöchter (62 %) und Höhere Schüle­rinnen (60 %); die männliche Arbeiter- und Handwerkerjugend bleibt mit 26-38 % Nennungen noch um rund 15 % hinter den Höheren Schülern (49 %) zurück (vgl. Dinse 1932, 75). 11 Diese Zeiten vermehren sich noch beträchtlich, bezieht man die Urlaubszeit mit ein, in der Spazier­ gänge einen besonders hohen Stel­lenwert haben: 44 Prozent der Bundesdeutschen gaben 1981 an, auf Ferien­reisen täglich einmal oder mehrmals spazieren zu gehen (vgl. Opaschowki 1982, 93). 12 Die folgenden Zitate stammen alle aus: Deutscher Textilarbeiterverband o. J. 13 Auch bei Jüngeren, wo sich die Lust am Tempo – z. B. im Sport – natürlich häufiger findet, ist diese ruhige Sonntagsgangart verbreitet. »Und jetzt wird aufgestanden«, berichtet z. B. eine 23jährige Textilarbeiterin über ihren Sonntag, »etwas umständlicher als sonst Toilet­te gemacht und dann besorge ich meiner Mutter die ›Aufräumungsarbeiten‹. Den Nachmittag verbumm­le ich auf einem langen schönen Spaziergang, oder ich sitze ganz allein auf meinem Zimmer und vertie­fe mich in ein Buch, das mir gefällt. Wenn ich dessen müde bin, gehe ich ins Gärtchen nahe beim Haus und sehe immerfort ins Grüne (…)« (Deutscher Textilarbeiterverband o. J., 21.). 14 Pfeifsignal von Fabriken, vgl. Deutscher Textilarbeiterverband o. J., 13. 15 In seiner Autobiographie beschreibt der Arbeiter Franz Bergg Sonntagsspaziergänge, die er mit einer Bekannten »Arm in Arm durch entlegene Straßen« gemacht habe: »(Wir) freuten uns der erleuchte-

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ten Schaufenster, lachten, dass wir so unbekannt durch die vielen Leute schlupfen konnten, von denen nicht einer wusste, wie uns heimlich zumute war« (Bergg 1913, 154). 16 Eine gewisse empirische Unterstützung dieser – ja naheliegenden – Vermutung läßt sich Dieter Han­ harts Studie über die Zürcher Arbeiterfreizeit im Jahre 1960 entnehmen. Danach gingen von den Ledigen unter 35 Jahren 23 Prozent, von den älteren Ledigen 52 Prozent unter anderem allein spazieren oder auf einen Ausflug (vgl. Hanhart 1964, 111). 17 Levensteins 1907 bis 1911 durchgeführte Befragung, in der übrigens die große Beliebtheit des Spazier­ gangs bei Arbeitern ebenfalls deutlich hervortritt, erstreckte sich »lediglich auf politisch (soz.) und gewerkschaftlich (freie Gewerkschaften) organisierte Arbeiter« (ebd., 13). 18 Vgl. z. B. einen Bericht des Berliner Magistrats für die Jahre 1861–1876, in dem es über die be­absich­ tig­te Wirkung von Parkanlagen auf die »unteren, in schwerer körperlicher Arbeit (…) sich abmühenden Bevölkerungmassen« heißt: »(…) unbestreitbar ist es, daß solche im wohlgepflegten Zustande erhaltenen Anlagen eines der geeigneten Mittel sind, den Sinn über die Sorge um die materielle Existenz zu erheben und rohe Gesinnungen, wo sie vorhanden, zu mildern« (zit. nach Hennebo 1971, 384). 19 Vgl. die Auflistung von »working-class excesses« wie Trunkenheit, Lärmen und Sach­beschädigung im Düsseldorfer Volksgarten bei Abrams (1992, 158 f.). Abrams kom­mentiert: »Although it would be wrong to suggest that incidents like those quoted above were by any means typical of workingclass behaviour in public parks, it would also be misleading to create the impression that members of the working class immediately abandoned their popular culture or everday patterns of behaviour upon entering a park« (ebd., l58). 20 Vgl. die Schilderung eines Berliner Bürgers, der sich mittels geflickter Hosen, eines zerfransten Rocks und eines alten Musikantenhuts als »Proletarier« verkleidete und so durch Berlin ging: »Die Ausla­ ge eines Buchladens hält mich unterwegs auf. Ich vertiefe mich in die Lektüre der Titel. Da plötzlich schreckt eine Unteroffiziersstimme größten Kalibers mich auf. ›Vorwärts – vorwärts!‹ Aufs höchste verblüfft wen­de ich mich um. Ein Schutzmann. Schon will ich ihn anfahren. Doch noch rechtzeitig fällt mir ein, daß ich in diesem Aufzug ja kein Mensch bin. ›Na, wird’s bald?!‹ – Ich trolle weiter« (Pastor 1894, 173). 21 Vgl. z. B. den Vorwärts vom 8. 12. 1891 und 2. 6. 1892. 22 Bekannt ist z. B. die informelle Unterteilung der Straße Unter den Linden in Berlin: Die Nord­seite galt als »die falsche Seite«, auf der sich z. B. Offiziere selten blicken ließen. 23 Diese Begriffe fielen bei den Verhandlungen des VI. Internationalen Kongresses für Sonntagsfeier. Stuttgart und Genf 1892, 36. 24 So die sozialdemokratische Neckarpost, Heilbronn, in einem Artikel Hinaus ins Freie vom 13. 6. 1919. 25 Nur ein Beispiel: In einem Artikel »Turnen und Wandern« schreibt Curt Biging (191l, 239 f.) in der Arbei­ter-Jugend, es leuchte nicht ein, daß »ein kraftstrotzender jugendlicher Organismus der verder­bli­ chen, heimtückischen Arbeit der unzähligen Krankheitskeime und Ansteckungsstoffe, die in unserer ver­pesteten Großstadtluft den Menschen belauern, nachdrücklicher und erfolgreicher Wider­stand zu leisten vermag als ein kläglicher Schwächling, der es vorzog, sich in Watte wickeln zu lassen und allen freiwil­ligen Strapazen aus Faulheit und Feigheit in weitem Bogen aus dem Wege zu gehen? Zeigt sich nicht über­all in der Weltgeschichte der Sieg der starken und naturwüchsigen Völker über die entnervten und durch Ueppigkeit verweichlichten Machthaber (…)?«

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»Massentritt« Zur Körpersprache von Demonstranten im Kaiserreich

Am Tübinger Ludwig-Uhland-Institut lief ein Projektseminar mit dem Titel »Als die Deutschen demonstrie­ren lernten«, das im Wintersemester 1985/86 mit einer Ausstellung abgeschlossen wurde. Sein Gegen­stand waren die Straßenkundgebungen gegen das preußische Dreiklassenwahlrecht, die 1908 einsetzen und zwischen Februar und April 1910 ihren Kulminationspunkt haben. Unser Untersuchungsinteresse war ein, um es traditionell-volkskundlich auszudrücken, brauchgeschichtliches: Wir wollten etwas über die Entwicklungsgeschichte des Kulturmusters »friedliche Straßendemonstration« erfahren. Uns interes­sierten die Bedeutungsgehalte dieser Ausdruckshandlung, ihre emotionalen und intellektuellen Wirkun­gen auf Protestpartei, Protestgegner und zunächst Indifferente, und wir untersuchten die Straßendemon­strationen als Schnittpunkt, als Begegnungs- und Konfliktfeld von Volkskultur und politischer Kultur. Die preußischen Wahlrechtsdemonstrationen waren dabei, wie der Projekt­ti­tel an­zeigt, kein willkür­lich herausgegriffenes Stück Demonstrationsge­schich­te. Dieser Gegen­standswahl lag vielmehr die Ent­deckung zugrunde, dass diese Wahl­rechts­ kund­gebungen – denen ähnliche, wenngleich begrenztere Demonstrations­wellen gegen das ungleiche Wahlrecht in anderen Reichsländern vorausgehen – in der deutschen De­monstrationsgeschichte eine Schlüsselrolle spielen: Sie tragen wesentlich zur Durch­ set­zung und Habitualisierung der »friedlichen Straßendemonstration« in ihrer prinzipiell noch heute gebräuchlichen Form bei.1 Es ist die Arbeiterbewegung, die diesen Umbruch in der politischen Kultur Deutschlands einleitet; aber auch das liberale Bürgertum beginnt damals die Straßendemonstration zu akzeptieren und sogar zu praktizieren. Theodor Heuss schreibt in seinen Erinnerungen über den preußi­schen Wahlrechtskampf: Die ›Demonstration‹ wurde für Deutschland erfunden. Vielleicht hatten die Ereig­ nisse in Russland mit ihren Massenaufzügen aufmunternd gewirkt, vielleicht auch Öster­reichs massi­ver und zugleich geordneter Durchstoß zum gleichen Wahl­ recht – wir gingen auf die Straße, nachdem wir in Versammlungen, die von der So­zial­demokratie einberufen waren, verabredungsgemäß unser Sprüch­lein gesagt hat­ten (Heuss 1963, 74 f.). Und Friedrich Naumann schreibt 1910:

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Als diese Demonstrationen anfingen, waren innerhalb wie außerhalb der Sozial­de­mo­kratie die Stimmen über Wert und Nutzen solcher Aufzüge sehr geteilt. Bei den Freisinnigen überwog die Meinung dagegen und ist auch heute noch nicht ganz überwun­den. Aber die ganze Debatte darüber, ob man Demonstrationen machen soll oder nicht, ist inzwischen gegenstandslos geworden. (…) Das Volk hat sich eine neue Art geschaffen, in der es sich mit den Herr­schenden unterhält (Naumann 1910, 149). Eine grobe Einteilung ergibt drei wesentliche Formen der damaligen Demonstrationen: Viele Straßenkundgebungen entstehen als Beiprodukt von Massenversammlungen im Saal. Ein häufi­ges Modell ist dies: Tausende von Interessierten finden im Saal selbst keinen Platz und warten draußen; die nach der Veranstaltung aus dem Saal Strömenden vereinigen sich mit den Wartenden, und man geht in geschlossenem Zug nach Hause, allerdings auf gewissen Umwegen z. B. über den Marktplatz, wo man dann öfters die Wahlrechts-Marseillaise singt und Hochrufe auf das allgemeine Wahlrecht ausbringt. Zum andern gibt es die verselbständigte Straßendemonstration. Da wird dann etwa eine Wahlrechts­versammlung im Saal angekündigt, aber die dort Versammelten beschließen alsbald, dass man doch bes­ser gleich auf die Straße gehe. Oder man veranstaltet von Anfang an eine Demonstration, z. B. indem sich sonntags unter die promenierenden Bürger in der städtischen Hauptstraße mehr und mehr Demonstran­ten mischen, die sich immer wieder zu Gruppen und Zügen vereinigen und zum Teil im Wortsinn Flagge zei­gen. Die Polizei steht hier vor der unangenehmen Aufgabe, beim Wegdrängen oder gar Dreinhauen die meist im guten Anzug erschienenen Demonstranten von den Unbeteiligten unterscheiden zu müssen. Und da dies oft misslingt, steigert sich in diesen Wochen auch die Empörung der Unpolitischen, der ›unbe­scholtenen Bürger‹, über den preußischen Polizeistaat. Die dritte wesentliche Form ist die der Kundgebung unter freiem Himmel. Diese Versammlungen finden meist außerhalb der Stadtzentren, z. B. in Erholungsparks oder auf Wiesengrundstücken statt. Hier­bei kommt es jedoch ebenfalls oft zu demonstrationsähnlichen Umzügen durch die Innenstädte, insofern sich die Kundgebungsteilnehmer oft an den über die Stadt verteilten Zahlstellen der SPD treffen und gemeinsam zum Kundgebungsplatz und zurück ziehen. Die bedeutendste Wahlrechtskundgebung dieser Art wird am 10. April 1910 im Treptower Park abgehalten und hat laut Polizei 70 000, nach SPDSchätzungen 150 000 Teilnehmer. Sie ist die erste offizielle Volksversammlung dieser Art im Berliner Raum nach 1848, die behördlich genehmigt wird. Und während die beiden erstgenannten Demonstrationsformen auch nach 1910 vom preußischen Staat nur selten zugelassen werden, etabliert sich die Kundgebung unter freiem Himmel schon in den Folgejahren als legale Ausdrucksform von Massenprotest. Ein sozialdemokratischer Augenzeuge schreibt über diese Treptower Kundgebung: »Der Riesenkörper des Proletariats liegt sichtbar vor mir ausgebreitet. Sein mächtiger Wille, seine feste Kampfentschlossen­heit steht körperlich vor mir« (Vorwärts, 11. 4. 1910). Er spricht damit einen zentralen Aspekt allen Demonstrierens an: Demon­strieren ist körperliche Politik in einem ganz spezifischen Sinne. Der Demonstrant ›steht‹ zu seiner Über­zeugung. Er

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Wahlrechts­kundgebung im Treptower Park, 10. 4. 1910

hilft durch körperliche Aktion mit, das – im Gelingensfall beeindruckende – Personenpo­ tential, die Vielzahl und Entschlossenheit der Protestpartei vor Augen der Gegenpartei und der Öffentlich­keit zu führen; das impliziert, dass er mit seiner Meinung auch seine Haut zu Markte trägt, sich den Blicken und vielleicht Gewalthandlungen dieser Gegenpartei aussetzt. Das Muster Straßendemonstration selbst enthält dabei keine gewaltförmigen Momente: Demonstrieren ist eine körperliche Ausdruckshand­lung, die zwischen nur verbaler Artikulation und physischem Körpereinsatz steht. Sie bedeutet den Gebrauch des Körpers als politisches Ausdrucksinstrument, sie benutzt Körpersprache gewissermaßen als Mundart der politischen Sprache. Um diesen Aspekt geht es in diesem Beitrag. Der körpersprachlichen Ebene kommt in den damaligen Wahlrechtsdemonstrationen sogar besondere Bedeutung zu. Diese sind nämlich relativ arm an objektivierter Emblematik. Es werden oft keine, oft nur wenige Fahnen mitgeführt; auch gibt es nicht viele Plakate und meist keine auffälligen Abzeichen. Die Kundgebungsplätze sind ebenfalls äußerst schlicht hergerichtet. Der Grund hierfür ist doppelt: Die Wahlrechts­demonstrationen sind entweder improvisiert und illegal; wer dennoch Embleme mit sich trägt, setzt sich und sein Feldzeichen dem polizeilichen Zugriff aus. Oder die Demonstrationen sind erlaubt, dies aber meist mit der Auflage, dass auf rote Fahnen, größere Abzeichen und Dekorieren des Treffplatzes verzichtet werden müsse.2 Es bleibt also wenig mehr als – wie Heinrich Heine es nannte – »das Räsonieren durch Gebärden«, das Ausdrucksmittel Körpersprache. Zitat aus dem Wahren Jacob zu den Hamburger Wahlrechtsdemonstrationen von 1906: Kein bunt Gepräg, kein Fahnenschmuck, Still ziehn in dichten Reihn sie her, Und dumpf dröhnt nur der Massentritt, Wie Brandung dröhnt fernher vom Meer (…) (Der Wahre Jacob, 23. 1. 1906).

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Ich möchte nun einzelne Aspekte dieser Körpersprache vorstellen und dazu Interpretationsvorschläge machen. Zunächst zum proxemischen, zum Raumverhaltensaspekt. Die Demonstration handelt wie die Glocke in Goethes schrecklich erzieherischem Gedicht: Sie ist es satt, die Säumigen, die, die nicht hören wollen, zu sich zu rufen; sie läuft ihnen hinterher. Die damaligen Demonstrationen sind umgekehrte Prozessionen: Diese begeben sich von einem heiligen Ort in die profane Welt hinaus. Die Wahlrechtsdemonstrationen aber ziehen von den Arbeitervierteln in die vornehmen Quartiere, an die Regierungssitze, an die Kultstätten der Nation. Zitat aus dem Vorwärts vom 14.1.1908: »Durch die sonst stillen Straßen, in denen die Bourgeoisie ihre luxuriösen Heimstätten hat, dröhnten anklagend und fordernd die lauten Schritte begeisterter Arbeiterbataillone.« Und hier eine Szene vor dem preußischen Abgeordnetenhaus im selben Monat: Am Berliner Abgeordnetenhaus, 1909

Im eingeschlossenen Wagen hinten rechts sitzt Ministerpräsident von Bülow, der die Hoffnungen auf eine entscheidende Wahlrechtsreform soeben enttäuscht hat. Das Nürnberger Parteitagsprotokoll der SPD vermerkt über diesen im Kaiserreich bisher ›unerhörten‹ Akt: »Als Bülow in seiner Karosse anfuhr, mussten seine gefürsteten Ohren den Wutschrei des Volkes vernehmen« (Protokoll 1908, 28). Der Kampf wird aber nicht nur akustisch ausgetragen, sondern auch optisch. Von Angehörigen der Unterklassen ist man gewohnt, dass sie in den Prachtstraßen der Cities eher bescheiden auftreten, das heißt unter anderem: dass sie den Blick gegebenenfalls niederschlagen. Von Demonstranten aber heißt es immer wieder, sie hätten bei ihrem Zug durch das Stadtinnere frei, ja frech umhergeblickt. Umgekehrt liest man: »Mancher satte Bürger schlug die Augen nieder« (Volkswacht Bielefeld, 28.11.1907). Und Ottilie Baader interpretiert das Blickverhalten Bülows in der eben erwähnten Szene so: »Er ging mit gesenktem Kopf wie ein Schuldbeladener durch unsere Reihen« (Baader 1921, 99).

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Polizeilicher Drohstarrblick

Am Abgeord­ netenhaus in Berlin, 1909

Einen Kampf mit Blicken führen Demonstranten auch mit der Polizei. Hier am Abgeordnetenhaus. Wir treffen auf Szenen wechselseitigen Drohstarrens, wie der Fachausdruck hierfür heißt. Normalerweise geht dieser meist in physische Gewalt über, in diesen Szenen aber ersetzt das Drohstarren die Aggression. Es substituiert zudem die verbale Attacke, die vor Gericht zitiert werden könnte. Manche Demonstranten halten sich natürlich nicht an diese Zurück-

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haltungsregel. Ein Rixdorfer Arbeiter versprachlicht diesen Blick einmal so: »Komm nur ran, Du Strolch, du Verbrecher, mit Dir werde ich schon fertig werden« – und wird verurteilt (Vorwärts, 20.3.1910). Die Bildende Kunst hat sich solcher Szenen auch angenommen: Théophile Steinlen: »Streik«, 1898

Man könnte bei dieser Blickweise von einer Verwandlung einer brachialen in eine moralische Drohung sprechen. Es wird signalisiert: Hier stehe und bleibe ich; ich tue dir nichts, aber ich sehe dich. Wenn du losschlägst, weiß ich, wer es war. Rudi Dutschke beherrschte diesen Blick übrigens auch:

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Bei einer Demonstration in Berlin, 1967

Die Zeitschrift Tribüne bringt 1910 eine Art Schnellkurs in Selbstverteidigung mit Blicken: Man solle, schreibt sie, einem zu Pferd vorpreschenden Polizisten nie den Rücken kehren, da ihm das die Benutzung des Säbels erleichtere, sondern ruhig stehenbleiben und den Verfolger freundlich anblicken (vgl. Volksfreund Braunschweig, 15.3.1910). Ob das wirklich hilft, wie die Tribüne meinte, hängt natürlich auch von anderen Signalen ab. Gehen wir zu diesen anderen Ebenen der Körpersprache über und diskutieren zunächst den Aspekt Kleidung. 1908 veröffentlicht der Kladderadatsch anlässlich der ersten Berliner Wahlrechtsdemonstrationen folgende Karikatur:

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Körpersprache von Demonstranten

Der Kladderadatsch zeichnet die Wahlrechtsdemonstranten als Lumpenproletarier. (Man beachte auch die »Judennasen«, die Rosa Luxemburg, Eduard Bernstein und Paul Singer angehängt werden.) In Wirklichkeit sehen demonstrierende Sozialdemokraten so aus: Wahlrechts­ demons­ tranten in Frankfurt am Main, 13.3.1910

Wie bei einem Sonntagsspaziergang, wie bei der Maifeier trägt man bei der Protestdemonstration möglichst das beste Kleid, den besten Anzug. Man ehrt die Ideale des Sozialismus durch das Festtagsge­wand. Doch natürlich hat die Kleidung nicht nur einen Selbst-, sondern auch einen Außenbezug. Dieser ist zum einen ganz praktisch. Man weiß schon aus dem Straßenalltag, dass die Polizei gut angezogene Personen anders zu behandeln neigt als abgerissene Gestalten (vgl. z. B. Vorwärts, 31. 10. 1910). Der Sonntagsanzug und das Sonntags­kleid mildern, so lässt sich hoffen, im Ernstfall die Form des polizeilichen Zugriffs. Freilich bleiben signifi­kante Stildifferenzen bestehen, und das Auge des Gesetzes kann demonstrierende Arbeiter in ihren oft bleiglänzenden Anzügen und mit ihren oft schlecht aufgebügelten Hüten sehr wohl noch vom gutbürgerli­chen Straßenpublikum unterscheiden. Der Vorwärts schildert eine Szene aus Breslau: »Dann beginnt Polizeikommissar Simniok, die Bessergekleideten von den Proletariern zu trennen. Barsch jagt er Arbeiter vom Trottoir herunter und lässt zylinderbehaftete und pelzverbrämte Spaziergänger ruhig weitergehen« (Vorwärts, 8. 2. 1910). Hier zwei – unter Umständen natürlich auch durch unterschiedliche »Vergehen« mitbegründete – Zugreifarten bei der Verhaftung unterschiedlich gekleideter Demonstranten in Berlin:

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Am 6.3.1910 in Berlin

Besser als vor der Polizei schützt die Sonntagskleidung vor den Vorurteilen kritischer Beobachter der Demonstrationen. Die sozialdemokratische Presse zitiert immer wieder geschmeichelt bürgerliche Stim­men, die ihr Erstaunen über die solide aussehenden, so gar nicht zu den Ängsten vor dem Straßenmob passenden Arbeiterdemonstranten ausdrücken. Die Öffentlichkeit beginnt zunehmend zu akzeptieren, was die Generalkommission der deutschen Gewerkschaften am 18. März 1910 auf eine Kranzschleife für den MärzgefallenenFriedhof setzen lässt: »Ihr habt es nicht zu tun mit Vagabunden,/ Mit meuterisch gedankenlosen Horden« (Vorwärts, 19. 3. 1910). Nachdem in Frankfurt am Main Polizei rabiat gegen Demonstranten vorgegangen ist, macht die sozialdemokratische Volksstimme in ihrem Schaufenster eine kleine Ausstellung: Sie legt auf der Straße liegengebliebene Hüte und Spazierstöcke sowie eine blutige Unterhose ins Fen­ster. Die Ausstellung hat keinen Leittext, doch ihr Sinn ist klar: Heute sind die Arbeiter die Kulturmenschen, und die Polizisten haben den Part der unzivilisierten Horden übernommen. Wahlrechts­kund­ ge­bung in Brandenburg, 6. 3. 1910

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Dennoch ist die Botschaft der Demonstrantenkleidung nicht ganz eindeutig. Für den Beobachter aus der Ferne nämlich ergeben die Tausende in dunklen Anzügen mit dunklem Hut den Eindruck einer kohä­renten schwarzen Masse. Und dies Bild wird von bürgerlichen Augenzeugen immer wieder als ernst und düster beschrieben (z. B. Tägliche Rundschau, 11. 4. 1910). Vor allem, wenn sich dieses dunkle Etwas in Bewegung setzt, wird es unter Umstän­den als unheimlich empfunden, als scheinbar einheitlicher Körper, der sich kraftvoll und unaufhaltsam vorwärtsbewegt – Versinnlichung dessen, was in Max Kegels damals im Vorwärts abgedruckten Gedicht Macht der Revolution so heißt: »Man kann ermorden ihre Streiter, sie aber schreitet ruhig weiter« (Vorwärts, 19. 3. 1910). Demonstrations­ zug in Berlin, 13.2.1910

Das heißt also, die Sonntagskleidung der Demonstranten ist nicht nur ein Friedensinserat, sie kann auch den ambivalenten Charakter der Demonstration als ›noch friedliche Mahnung‹ ausdrücken helfen. Mit dem letzten Bild lässt sich überleiten zu einem anderen Aspekt der Körpersprache: zur Geh­weise. Was damals von Beobachtern immer wieder hervorgehoben wird, ist die »musterhafte Ordnung« der Wahlrechtsdemonstrationen. Zumindest liberale und so­zialdemokratische Presse sind sich in diesem Punkt einig. Dabei fällt auf, wie oft diese Ordnung als quasi-militärische beschrieben wird. Die SPD­­-Presse selbst spricht immer wieder von marschierenden »Arbeiterbataillonen«, von sozialdemokratischen »Kompagnien«, von »Heerschau« und »Manöver«. Dass militärische Marschformation und Gehweise auch im Habitus von Arbeitern zu finden ist und für den Ausdruck des Stolzes, der Kraft auch in der Arbeiterbewegung auf

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soldatische Ausdrucksformen zurückgegriffen wird, ist nicht zu leugnen. Hier spielt einmal der Einfluss der allgemeinen Wehrpflicht eine Rolle, zum andern der hohe Wert, der »strammer Haltung« von vielen Sozialisationsinstanzen im Kaiserreich beigemessen wurde. Man sehe sich diese Szene auf einem Berliner Schulhof um 1912 an: Pausenturnen im Schulhof Esmarchstraße, Berlin, um 1912

Oder die Haltung dieser Arbeiterjungen in einer Berliner Mietskaserne:

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Und auch im Asylantenheim heißt »Haltung haben« strammstehen: Im Obdachlosenasyl »Wiesenburg« in Berlin, 1899

Dennoch: Dass diese Art von Körperkultur oder -unkultur auch die Wahlrechtsdemonstrationen präge, dass diese – wie es George L. Mosse von den Maifestzügen behauptet – »ihr militärisches Vorbild hat­ten« ist bestenfalls halbwahr (Mosse 1976, 197). Wenn in damaligen Berichten von der »gutpreußischen Disziplin« der Demonstranten oder von einer »fast militärischen Ordnung« die Rede ist, so sind darunter zunächst einmal solche Verhaltensweisen zu verstehen wie die, dass die Menge ein gemeinsames Tempo zu halten ver­ steht, dass sie konsequent eine Fahrdammseite freilässt, darauf achtet, dass die Straßenbahnschienen nicht begangen werden, und ansonsten den Winken ihrer Ordner gehorcht, die z. B. an Kreuzungen den Arm heben, um Anhalten der Menge und Durchlassen des Verkehrs zu gebieten. Demonstrationszug am Stralauer Tor in Berlin, 10. 4. 1910

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Richtig ist, dass die Demonstranten teilweise in geschlossenem Zug gingen – wobei Viererund Fünfer­reihen oder breitere Formationen gewählt werden –, doch gibt es insgesamt eine große Bandbreite der Gehweisen: vom Marschieren in Reih und Glied über »zwanglose Reihen« und »lose Gruppen« bis hin zum ungegliederten und nach außen offenen Strom. Und auch dort, wo die Fotos Marschsäulen und Reihenordnung zeigen, findet sich nicht einfach »preußischer Drill« wieder. Man könnte sagen: Der einzelne Körper wird hier insoweit reglementiert, wie seine Bewegungen den Gesamtablauf stören könnten. Aber er wird als einzelner keinem Stilisationsprin­zip unterworfen. Die Masse ist hier nicht im Kracauerschen Sinne Ornament: Sie ist nicht atomisiert und dann von einem Gesamtwillen wieder zusammengefügt, sondern – und dies, so scheint es, durchaus nicht gegen den Willen der Ordner – in wesentlichen Momenten molekular. Es gibt Gruppenbildung, dezentrale und parergische Aktivitäten sind erlaubt: Blickwendung zum Nachbarn, Reden mit dem andern, Zigarrenrau­chen. Die britische Morning Post über die Berliner Wahlrechtsdemonstration am 13. Februar 1910: »Die meisten gingen ganz ruhig, mit einer Zigarre im Mund, manche hatten die Frau oder die Braut im Arme« (zit. nach Vorwärts, 16. 2. 1910).

Man vergleiche dieses Foto von einem preußischen Veteranenaufmarsch um 1910 mit dem

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Bild von einer Mai- und Wahlrechtsdemonstration, die 1910 in Hanau stattfand:

Der Fest- und Demonstrationszug marschiert zwar in einer quasimilitärischen Viererreihe, doch ein genauerer Blick zeigt, dass keineswegs Gleichschritt herrscht. Er wäre angesichts der mitlaufenden Frauen in langen Röcken und der miteinbezogenen Kinder auch schwerlich praktizierbar. Man beachte im Übrigen den Mann ganz rechts, der – wahrscheinlich für einen Moment aus dem Zug herausgetreten – zu einem Fen­ster hochblickt und sich offenbar mit Zuschauern des Zuges unterhält. So, wie individueller und alltägli­cher Habitus innerhalb des Zugs zugelassen bleibt, kapselt sich dieser auch nicht gegen den Alltagsraum ab. Will man idealtypisch beschreiben, wie damals auf den Demonstrationen gegangen wurde, so kann man vielleicht folgende Charakteristika nennen: –– Es handelt sich nicht um »Marschtritt«, sondern um »Massentritt«; nicht um das Uni­ sono des Gleich-Schritts, sondern um Vielfalt in der Einheit, um ein Geräusch, das den Rhythmus von Frauen- und Kinder­schritten einschließt.

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–– Dieser Massentritt ist nicht eilig, wie im Arbeitsalltag, und nicht schleppend wie nach diesem, sondern zügig, zielsicher, vorwärtsstrebend. Er ist nicht triebgehemmt, die Expression zurücknehmend, wie Elias Canetti es vom Prozessionsschritt sagt, aber auch nicht aggressiv losstürmend, sondern besonnen und selbstsicher zugleich, bestärkt von der »Musik des Massentritts« (Schwäbische Tagwacht, 21. 3. 1910), die die genagelten Schuhsohlen auf dem Pflaster hervorrufen. Auch die Gestik der Demonstranten ist nicht durchstilisiert. Abstimmung über die Wahlrechts­ resolution im Treptower Park, 10. 4. 1910

Einen einheitlichen Charakter hat noch am ehesten das Handheben bei den Abstimmungen über die Wahlrechtsresolutionen – eine beeindruckende Vorwegnahme des allgemeinen und gleichen Wahl­rechts, an der auch die nicht wahlberechtigten Frauen und die noch nicht wahlberechtigten Männer unter 25 Jahren teilnehmen. Aber bei näherem Hinsehen merkt man sogar hier: Es gibt keine strikte Gleichförmigkeit dieser Bewe­gung. Wir sehen offene Hände, Fäuste, Schwurhände, die Streck-Hand aus der Schule. Volk, könnte man fast sagen, ist hier körpersprachlich nicht in Partei aufgegangen. Dass bei den Wahlrechtskundgebungen Masse Macht ausstrahlt und nicht Macht die Masse struktu­riert, indiziert überdies die abstandslos umdrängte und niedrige Rednerbühne.3 Die »musterhafte Ordnung« der Kundgebung bedeutet nicht Unterordnung. Man vergleiche damit das Bild eines Feldgottesdienstes auf dem Tempelhofer Feld 1913: die viel höhere Tribüne, die Respektzone von mehreren Metern bis zu den angetretenen Militärs und die ›Welten‹, die diese wiederum von den Zivilisten im Hintergrund trennen.

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Körpersprache von Demonstranten Feldgottes­ dienst anläß­lich des Kaiser­jubi­ läums, 15. 6. 1913

Die feierlich-rituelle Szene des Handhebens geht über in die Geste des Hutschwenkens und Hochru­fens. Wahlrechts­ kundgebung im Friedrichs­hain, 10. 4. 1910

Dabei gibt es in den Rufen ebenfalls individuelle und Gruppenvarianten. Man ruft z. B. ein Hoch auf das all­gemeine Wahlrecht, ein Hoch auf die Sozialdemokratie oder ein Nieder auf die Junker, ein Pfui auf Reichskanzler Bethmann-Hollweg. Diese Ausrufe mit Hutschwen-

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ken werden auch während der Demonstrationszüge immer wieder benutzt. Der Anstoß hierzu kann vom Ordner oder von Teilnehmern ausge­hen. Ruf und Geste pflanzen sich dann eventuell durch den ganzen Zug oder die ganze Menge fort – sie müssen es aber nicht, es gibt hier keine durchgängige Liturgie. Wahlrechts­ demonstranten in der Gitschiner­straße, Berlin, 13. 2. 1910

Bilder wie dieses vom 13. Februar 1910 in Berlin sind selten – meist wirken die Demonstranten auf den Fotos wie ruhige Spaziergänger. Man muss jedoch bedenken, dass auch gestenarme Demonstrationszüge eine beträchtliche akustische Komponente haben können; was in sozialdemokratischen Zeitungen als gelegentliches Singen und Hochrufen erscheint, wird von gegnerischen Ohrenzeugen schon als »misstö­nender Gesang« und »Höllenlärm« bezeichnet (vgl. Volkswille Hannover, 12. 4. 1910; Volkszeitung Essen, 19. 3. 1910). Hinzu kommt, dass die Fotografen, insofern sie nahe an die Demonstranten herangehen, dies meist in Ruhemomenten und nicht in Erregungsmomenten tun, und dass die Fotografierten, sobald sie sich als solche wahrnehmen, um eine atelier-entspre­chende Haltung bemüht sind: Sie beschränken die Körpersprache möglichst auf das als würdevoll Verstan­ dene, das zur Verewigung geeignet Erscheinende. Aus den schriftlichen Quellen – und hier insbesondere aus konservativen Zeitungen und aus Polizeiakten – wissen wir aber, dass es

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immer wieder Züge mit expressiver Gestik und von durchgehend lärmendem Charakter gab, insbesondere, wenn sich kleinere Kolonnen nach offiziellem Kundgebungsschluss verselbständigen. Dennoch kann man sagen, dass auch dort – falls es zu keinen Zusammenstößen mit der Polizei kommt – nicht eine Gestik und Mimik der Angriffslust oder finsteren Entschlossenheit vorherrschen. Die Hand reckt sich nicht, wie in den 20er Jahren bei der KPD und später der Eisernen Front, als Drohzeichen empor, sondern sie hebt beim Hochruf den Hut; und auch vom Gesichtsausdruck der Demonstranten heißt es immer wieder, er sei viel eher heiter als grimmig gewesen: Die Times sieht am 6. März 1910 in Berlin »glücklich aussehende Menschen« durch die Straßen ziehen (zit. nach Vorwärts, 9. 3. 1910), das Echo de Paris konstatiert eine »stolze Haltung, die einen gewissen guten Humor nicht ausschloss« (zit. nach Vorwärts, 10. 3. 1910), und die sozialdemokratische Presse berichtet fast stereotyp, aber doch – wie uns Fotos zeigen – nicht irrealistisch von den »leuchtenden Augen« der Demonstranten. Theodor Heuss schreibt nach dem 10. April in Berlin: (…) es gehört zur Psy­chologie dieser großen Demonstrationen im Freien, dass die Men­ schen nicht zur dumpfen Wut und Lei­denschaft erregt werden, wie etwa im geschlossenen Raum der Abendversammlung, sondern eine festli­che, gehobene Stimmung lebendig wird (Heuss 1910, 232). Man könnte sagen: Die Gesichter verdoppeln nicht den Ein­druck der Stärke, den die Massenformation hervorruft, sondern sie reagieren entspannt darauf als auf einen Sieg. Wahlrechts­demonstran­ ten vor dem Berliner Abgeordneten­haus, 1909

Hier ist sie: Die Freude über einen Akt der Antizipation von Freiheit, Gleichheit und sozialer Geltung, über den aufrechten Gang.

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»Donner­wetter! Ein gut Stück Kultur haben diese Sozial­demo­kraten dem Pöbel doch beige­ bracht!« »Das ist ja gerade das Gefähr­liche an dieser ganzen infamen Hetze!« (Der Wahre Jacob, 24.5.1910)

Edward Thompson hat in seiner Darstellung englischer Volksunruhen im 18. Jahrhundert gezeigt, wie bei diesen der zeremoniellen Feierlichkeit des »Theaters der Großen« in geradezu spiegelbildlicher Umkeh­rung eine Straßenkultur der Unordnung, des Tumults, des Handstreichs entgegengesetzt wurde (Thompson 1980, 247‑289). Und diese Antithetik gilt gewiss auch für viele Straßentumulte in der deutschen Geschichte des 18. und 19. Jahrhunderts. Die Straßendemonstrationen jedoch, wie sie in den preußischen Wahlrechtskämpfen zu Anfang dieses Jahrhunderts praktiziert werden, führen den »Symbolkampf« – sofern er nicht durch das Eingreifen der Polizei in einen tatsächlichen Kampf übergeht – auf andere Weise. Diese zwischen Hierar­chie und Anarchie hindurch geführten Massenaufzüge sind Propaganda für die Möglichkeit des »Volks­staates«, der Republik: Sie wollen neben Zahl und Entschlossenheit der Massen vor allem deren politi­sche und kulturelle Hegemoniefähigkeit beweisen: »Mehr als ein taktisches Kunststück, etwas Neues und Wunderbares ist’s, was die Massen hier, ohne Zwang und Kadavergehorsam, in der Kunst der Massen­ beherrschung geleistet haben«, schreibt die Schwäbische Tagwacht am 11. April 1910.

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Damit haben sie den unwiderleglichen Beweis erbracht, dass sie längst aufgehört haben, ›Massen‹ im verächtlichen Sinn ihrer junkerlichen Gegner zu sein; so wie die preußischen Wahlrechtskämpfer am Sonntag es getan, so benehmen sich ›urteilslose‹, ›gedankenlose‹ Massen nicht, das ist kein ›Pöbel‹, sondern ein Volk inner­lich freier, gleichgesinnter Menschen. Und der Braunschweiger Volksfreund meint am 2. März 1910: Die Wahlrechtsdemonstrationen (bilden) ein bedeutendes Stück Selbsterziehung der Massen (…). Hier (…) wurde es den weitesten Bevölkerungskreisen handgreiflich vor Augen geführt, dass das arbeitende Volk das ordnende, organisierende, vernünftige Ele­ ment ist, während die Polizei, jene Vorsehung des bie­deren Spießbürgers, als ein Haufen brutaler Draufgänger erschien, zu nichts anderem fähig, als die Ord­nung des Volkes sinnlos zu stören. Diese Erfahrung wird zweifellos die Zuversicht der großen Volksmas­sen in ihre Fähigkeit, die Gesellschaft zu organisieren, stark erhöhen. Auch gegnerische Beobachter konstatieren durchaus die spezifische Verbindung, welche massenhafte Begeisterung und Entschlossenheit hier mit Organisationsfähigkeit und individueller Selbstdisziplin ein­gegangen sind. Diese Qualität der damaligen Massenaktionen steigert dort, wo die Sozialdemokratie als revolutionsentschlossene Kraft gefürchtet wird, die Angst: Man sieht dann die Straßendemonstrationen als pseudofriedliche »Revolutionsexerzitien« und meint angesichts der mobilisierten Hunderttausende: »Die tiefernste Kehrseite dieser Vorgänge ist der Einblick in die straffe Organisation der Sozialdemokratie (…). Die menschliche Gesellschaft (hat) dieser Organisation nichts Ähnliches entgegenzustellen« (Reichsbote, zit. nach Vorwärts, 8. 3. 1910). Bür­gerliche Kommentatoren, die die sozialdemokratische Partei positiver, zum Teil gar als potentiellen Koali­tionspartner einschätzen, werten dasselbe Phänomen ganz anders: Die Disziplin, die von den sozialde­mokratischen und demokratischen Massen an den Tag gelegt worden ist, ihre willenlose Nachgiebigkeit unter dem Zügel der Führer, ist auf der einen Seite eine ernst zu nehmende Sache. Denn Disziplin verbürgt Macht, wie das Musterbeispiel der deutschen Armee aller Welt oft gezeigt hat. Auf der anderen Seite ist aber diese Disziplin der Massen erfreulicher und für das Staatswesen weit weniger bedenklich als zucht­lose Leidenschaft. (…) Solange die Führer noch herrschen, hat man das Schlimmste nicht zu befürch­ten (Kölnische Zeitung, zit. nach Tägliche Rundschau, 13. 4. 1910). Nicht zuletzt steigern die Massenaufmärsche des preußischen Wahlrechtskampfs bei der anderen Seite die Begehrlichkeit nach dem ›Besitz‹ dieser begeisterungs- und disziplinfä-

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higen Massen: »Wer die Volksmassen beherrscht und sie organisiert wie die Sozialdemokratie«, schreibt der christlich-nationale Reichsbote, der »hat die Macht« (zit. nach Vorwärts, 12. 4. 1910), und die Leipziger Neuesten Nachrichten meditieren: Noch ein anderes Gefühl muss der Anblick dieser schweigsam dahinziehenden Massen erwecken: Das Gefühl des Bedauerns, dass der in einem großen Teil zweifellos vorhan­ dene Idealismus, der selbst die bei allen Mas­senveranstaltungen so oft vorhandene Freu­ de am Radau besiegt, keinem anderen Ziele zugelenkt wird. (…) Wie viel besser wäre es in Deutschland bestellt, wenn die Kräfte, die hier so falsch geleitet werden, dem na­tio­ na­len Gedanken zurückgewonnen werden könnten! (zit. nach Tägliche Rundschau, 13. 4. 1910). Das heißt für die Straßendemonstration und die Massenkundgebung unter freiem Himmel, dass sie vom nationalen Lager zwar als gesetzwidriger Exzess gebrandmarkt, aber gleichzeitig für die Übernahme in eigene Dienste vorgemerkt werden. So sind die Wahlrechtsdemonstrationen zu Anfang dieses Jahrhun­derts nicht nur ein Durchbruch auf dem Weg zu einer Demokratisierung der politischen Kultur, sie fördern auch die Idee der nationalpopulistischen Nutzung solcher Ausdruckshandlungen. Doch: Abusus non tollit usum. Die friedliche Straßendemonstration, wie die Sozialdemokratie sie damals praktizierte, ist eine unverzicht­bare Bewegungsform der Demokratie geworden, und ihre Habitualisierung in Deutschland bleibt ein Ver­dienst. Deshalb versteht sich dies Referat, gehalten 75 Jahre nach dem Höhepunkt der preußischen Wahlrechtsdemonstrationen, auch ein bisschen als Festvortrag zu einem leider wenig beachteten Jubiläum. Anmerkungen 1 Gewiss gibt es im Kaiserreich zahlreiche Formen von Aufzügen oppositioneller Gruppen – den Mai­ fest­zug, den demonstrativen Leichenzug, Massenspaziergänge ins Grüne usw. Aber durch die Stadt­ zentren ziehende, zugleich friedliche, geordnete und protestierende Massen sind ein vor den Wahl­ rechtskämpfen 1905 bis 1910 unüblicher Anblick. 2 So galt z. B. für den Hin- und Rückmarsch bei der Kundgebung im Treptower Park die Parole: »Kein Ruf. Kein Lied« (Vorwärts, 11. 4. 1910). Nur unter dieser Voraussetzung hatte die Polizei die Ver­an­ staltung genehmigt. George L. Mosse zitiert in seinem Buch Die Nationalisierung der Massen diese Parole in offenbarer Unkenntnis ihrer Entste­hungssituation im Zusammenhang seiner These, die Maiumzüge im Kaiserreich seien »Schweigemärsche« gewe­sen (vgl. Mosse 1976, 196). 3 Da es noch keine Lautsprecher gab, half man sich bei den großen Kundgebungen übrigens damit, dass man mehrere Redner gleichzeitig von verschiedenen Tribünen aus sprechen ließ. Schon aus diesem Grund stiften diese Ver­anstaltungen keine Identifikationsbeziehung zwischen »Masse« und »Führer«.

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Literatur Baader, Ottilie (1921): Ein steiniger Weg. Lebenserinnerungen. Stuttgart, Berlin. Heuss, Theodor (1963): Erinnerungen 1905–1933. Tübingen. Heuss, Theodor (1910): Jagows Bekehrung. In: Die Hilfe, Nr. 15, 232. Mosse, George L. (1976): Die Nationalisierung der Massen. Politische Symbolik und Massenbewegungen in Deutschland von den Napoleonischen Kriegen bis zum Dritten Reich. Frankfurt am Main, Berlin. Naumann, Friedrich (1910): Massenbewegungen. In: Die Hilfe, Jg. 1910, Nr. 10, S. 149. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages des Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Nürnberg vom 13. bis 19. September 1908 (1908). Berlin. Thompson, Edward P. (1980): Die englische Gesellschaft im 18. Jahrhundert: Klassenkampf ohne Klasse? In: Ders.: Plebeische Kultur und moralische Ökonomie. Frankfurt am Main u. a., 247‑289.

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»Aufrechter Gang« Metamorphosen einer Parole des DDR-Umbruchs

Zu den Leitbegriffen, mit denen die Oppositionsbewegung in der DDR 1989 ihre Intentionen zu fassen suchte, gehört der Topos vom »aufrechten Gang«. Im Unterschied zur bekanntesten Parole des DDR-Herbstes, die von »Wir sind das Volk« bald in »Wir sind ein Volk« und später elegisch bis parodistisch in »Wir waren das Volk« oder auch »Wir sind vielleicht ein Volk« verwandelt wurde, hielt sich die Anrufung des aufrechten Gangs bis in die Gegenwart1 scheinbar unverändert durch. Die Tatsache, dass diese Prägung über die Umbrüche des DDR-Umbruchs hinweg verwendet wurde, könnte auf den ersten Blick als Ausdruck einer inhaltlichen Kontinuität genommen werden; bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass sie nur deshalb permanent und bei ganz verschiedenen Trägergruppen auftreten konnte, weil sie traditionell mehrschichtig, ja mehrdeutig ist. In den verschiedenen Phasen der Wende und des deutschen Vereinigungsprozesses wird dieses widersprüchliche Bedeutungsspektrum aufgeblättert; im Funktions- und Bedeutungswandel der Parole vom aufrechten Gang verdichtet sich der Wandel des DDR-Umbruchs von 1989 bis heute. Aufrechter Gang als kollektive Aktion

Am 4. November 1989 sagte Stefan Heym auf der großen Berliner Protestdemonstration: »Einer schrieb mir – und der Mann hat recht: Wir haben in diesen letzten Wochen unsere Sprachlosigkeit überwunden und sind jetzt dabei, den aufrechten Gang zu erlernen« (Hahn 1990, 164). Die Metaphorik des Aufrechten taucht bei dieser Kundgebung mehrfach auf: Jens Reich wendet sich gegen die »feige Vorsicht, nur nicht den Kopf aus dem Salat zu stecken«, Friedrich Schorlemmer sagt: »Es ist wahr, dumpf, geduckt, bevormundet haben wir gelebt, so viele Jahre. Heute sind wir hierher gekommen, offener, aufrechter, selbstbewusster« (ebd., 146, 166); eines der mitgeführten Transparente zeigt einen aufrecht stehenden Körper mit dem Beitext »Angstfrei werden«, ein anderes den Satz »Kopf hoch, du bist dran!«, und ein Plakattext lautet einfach »Aufrechter Gang« (ebd., 100, 111, 98). Die Berliner Demonstration ist zweifellos nicht nur der äußere Anlass für die Verwendung dieser Parolen, sondern steht zu ihnen in einer inneren Verbindung. »Aufrechter Gang« ist hier keine bloße Metapher für eine innere Haltung oder eine politische Programmatik, sondern verknüpft geistigen Aufstand und körperliches Aufstehen und verweist nicht zuletzt auf den weder fliehenden noch angreifenden, sondern ruhigen und selbstsicheren Schritt friedlicher Straßendemonstranten. In späteren Rückblicken auf den DDR-Aufbruch verbindet sich mit der Wendung vom »Erlernen des aufrechten Gangs« oft das Bild der Berli-

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ner Kundgebung vom 4. November, in der die Oktobermühen des Sich-aufrichtens sich in eine stolze Manifestation von Aufgerichteten gewandelt hatten. Es lässt sich jedoch belegen, dass die Formel von den Herbstdemonstrationen als »aufrechtem Gang« schon vorher verwendet wurde: Am 25. Oktober 1989 sagte Rolf Henrich im Sender Leipzig über die dortigen Protestdemonstrationen: »Ich sag’ es einmal recht plakativ: Hier probt der DDRBürger den aufrechten Gang. In den Demonstrationen geht es gar nicht, bis auf ganz wenige Ausnahmen, um Randale, sondern darum, dass Menschen ihre Würde wiederfinden« (Neues Forum Leipzig 1989, 152). Ab November 1989 wird die Metapher vom aufrechten Gang des DDR-Volks dann zur gängigen, in Kundgebungsreden und Presseschlagzeilen immer wieder benutzten Prägung. Über ihren Verbreitungsgrad in verschiedenen sozialen Gruppen ist natürlich schwer etwas auszumachen, doch bleibt sie offenbar nicht auf den Kreis professioneller Vordenker und Vorredner beschränkt: »Als ich am 25. 9. mit Bekannten und den Demonstranten das amerikanische Bürgerrechtslied sang«, erzählt ein 56jähriger Frühinvalide aus Leipzig, »standen mir die Tränen in den Augen, ich fühlte mich nicht alleingelassen, wir lernten den aufrechten Gang« (ebd., 31). Ein Reporter zitiert einen ostdeutschen Sozialarbeiter: »Es war, als ob die Ketten fallen. Und dieses Gefühl ist für mich eigentlich das große Lebensgefühl gewesen, der aufrechte Gang. Ich werde es nie vergessen (…)« (Südwestmagazin, 10. 11. 1990). Und es ist sicherlich zutreffend, wenn Hans-Joachim Maaz diese Befreiungserfahrungen auch als konkret-körperliches Erlebnis, als »das Aufrichten, das Aus-Sich-Herausgehen und das Erheben der Stimme«, und umgekehrt die »körperliche Bewegung (…), das aktivierende Klatschen und dann auch laute Skandieren« als Geburtshelferinnen einer »wachsenden Würde, des aufrechten Gangs« bezeichnet (Maaz 1990, 145). »Die Menschen in unserem Land sind schöner geworden. Sie tragen den Kopf anders, mit einem neuen Selbstbewusstsein«, sagt am 23. November Helga Königsdorf vor dem Schriftstellerverband der DDR (Königsdorf 1990, 98). »Auch die Frauen gingen anders in diesen Tagen«, erzählte eine Mitdemonstrantin aus Ostberlin dem Verfasser, und von der Leipziger Demonstration am 18. Oktober 1989 wird sogar eine besonders tiefgreifende Wiederherstellung des homo erectus berichtet: »Auf dem Markt gesteht mir ein Bekannter: ›Ich habe meine volle Manneskraft wieder‹ « (Tetzner 1990, 28). Zur breiten Akzeptanz des Bilds vom Erlernen oder Erproben des aufrechten Gangs trägt zum einen sicherlich die Interpretation bei, die es für das bisherige Verhalten der Demonstrierenden nahe legt. Ordnet man sich damit doch der Gruppe der bis dato Gebeugten, nicht der Beugenden, also der Opfer- und nicht der Täterseite zu. Die potentielle Selbstkritik, die die Parole enthält, beschränkt sich auf das Eingeständnis mangelnden Mutes zum öffentlichen Eintreten für abweichende Meinungen – und wo sich Bürgerrechtler oder SED-Erneuerer über den »aufrechten Gang« äußern, wird dieser Selbstvorwurf »der Kleinmütigkeit, der Feigheit, der Anpassung, der Resignation« (Reich 1991, 204)2 auch oft ausdrücklich hinzugefügt. Doch ebenso gut kann ein bisher unaufrechter Gang statt als Herrschaft mittragen-

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des Sichbeugen auch als bloßes Gebeugtwerden durch äußere Mächte interpretiert werden, wie es z. B. dort anklingt, wo nicht vom Erlernen, sondern vom Einfordern des »Rechts des aufrechten Ganges« gesprochen wird (z. B. Förster/Roski 1990, 159).3 Zum anderen eignet sich der »aufrechte Gang« in der ersten Phase des DDR-Um­bruchs wohl auch deshalb zu einer Leitparole, weil er sowohl in der bürgerlichen wie in der sozialistischen Tradition verortet ist. »Aufrechter Gang« als Aversion gegen unterwürfige Geistes- wie Körperhaltungen ist Erbe der bürgerlichen Aufklärungszeit, meint »Männerstolz vor Königsthronen, Zivilcourage« (Bloch 1959, 524);4 und wie Kant in seiner »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« das Problem von Unmündigkeit und Mündigkeit mit Hilfe von Bildern des »Gängelwagens«, der »Fußschellen«, der »freien Bewegung« und des »gehen Lernens« diskutiert (Kant 1968, 53 f.), so steht der ostdeutschen Bürgerbewegung der aufrechte Gang ihrer Demonstrationen für das Ende des »vormundschaftlichen Staats«, der »selbst verschuldeten Unmündigkeit«, für das Naturrecht auf menschliche Würde. Zugleich weist der Begriff des aufrechten Gangs aber auch über die bürgerliche Tradition hinaus: »Der Gedanke, der immer wieder vertreten wurde, das Schlagwort, das die Massen gerufen haben, hieß ›Erlernung des aufrechten Gangs‹ «, sagt Hans Mayer am 18. 11. 1989 in der taz: »Das ist doch die Formel von Ernst Bloch, das, was er immer wieder gepredigt hat! Das heißt, das, was sich vollzieht, das Erwachen zur Identität des Volkes und der Menschen zur Kenntlichkeit, das sind doch alles Begriffe von Ernst Bloch, das ist doch Umsetzung seines Denkens«. Näher noch als der Bezug auf Bloch liegt für DDR-BürgerInnen wahrscheinlich jener auf Volker Braun, der eine 1979 erschiene Gedichtsammlung mit »Training des aufrechten Gangs« betitelte; diese Zusammensetzung mit »Training« oder »Trainieren« taucht auch in Formulierungen von 1989/1990 auf.5 Ernst Bloch wie Volker Braun aber stehen für das Projekt eines noch nicht real existierenden Sozialismus. Die Parole vom »aufrechten Gang« vermag also neben dem aufklärerisch-antifeudalen Programm individueller Freiheit und Würde auch die Vorstellung damals vieler Bürgerrechtler in sich aufzunehmen, dass es »um mehr gehen sollte als nur um das Programm der bürgerlichen Gesellschaft« (Schmid 1990, 42). Sie steht damit zeitweise in einer Reihe mit der gewendeten Internationale, deren »Steht auf, im Erdenrund, ihr Knechte« damals in Leipzig und Berlin den Volkspolizisten entgegengesungen wird, und mit dem SED-kritischen Wiederaufgreifen der Marxschen Formulierung vom Umwerfen aller Verhältnisse, in denen der Mensch »ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen« ist (Oktober 1990, 186). Da die Rede vom »aufrechten Gang« die sozialistische Option freilich nur als Konnotation enthält, da dieser – um auf eine andere Wendevokabel anzuspielen – nicht sichtbar auf »roten Socken« geht, kann eine relativ breitgestreute Verwendung der Metapher die noch weitgehend als Sozialismusreform firmierende Protestbewegung des Frühherbstes dann auch überleben.

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Haltet euch gerade!

Mit der Öffnung der Westgrenze am 9. November 1989 tritt der DDR-Umbruch in eine neue Phase. Zum gemessenen Schritt der Demonstrierenden kommen neue Gangarten hinzu: der Sturm auf die Grenzübergänge, der Run auf die Kaufhäuser Westberlins, der Massenspaziergang auf dem Kurfürstendamm. In dieser Situation erhält die Parole vom »aufrechten Gang« neue, zusätzliche Funktionen. Sie steht nicht mehr bloß gegen das Sichducken vor der SED-Herrschaft, sondern auch gegen das »Hasten nach dem Westen«, das »Stürmen von Coca-Cola und McDonalds«, das »Gän­gel­band« der Konsumgesellschaft (Neues Forum Leipzig 1989, 239; Sächsische Zeitung, 20. 11. 1989; Neues Deutschland, 8. 12. 1989). »Der erlebten Souveränität der Kundgebungen«, sagt Volker Braun, sei »die erlebte Demütigung des Begrüßungsgeldes« gefolgt (Neues Deutschland, 2. 3. 1990). »Wir wollen weiter den aufrechten Gang gehen. Ist das möglich in einem Land voller Bananenschalen?«, schreibt ein Leser in der DDR-taz (7. 3. 1990). Während die Westberliner taz ironisch von der »Massendemonstration von DDR-Bürgern in den Kaufhäusern des Westens« spricht (taz, 13. 11. 1989) und Klaus Hartung in derselben Zeitung noch einigermaßen zweideutig sagt: »Der erkämpfte aufrechte Gang führte die Massen vor die Schaufenster des Westens« (Blohm/Herzberg 1990, 176), schreibt Stefan Heym ingrimmig: »Aus dem Volk, das nach Jahrzehnten Unterwürfigkeit und Flucht sich aufgerafft und sein Schicksal in die eigenen Hände genommen hatte und das soeben noch, edlen Blicks, einer verheißungsvollen Zukunft zuzustreben schien, wurde eine Horde von Wütigen, die, Rücken an Bauch gedrängt, Hertie und Bilka zustrebten auf der Jagd nach glitzerndem Tinnef« (Spiegel 49/1989, 55). Der »aufrechte Gang«, eben noch Symbol für Auflehnung, wird nun zum Synonym für Selbstbeherrschung; aus dem befreienden »Richtet euch auf!« wird ein strenges »Haltet euch gerade!« Der den Wärmestrom des bürgerlichen Prinzips Aufrecht schon immer begleitende Kältestrom wird aktiviert. So wie Daniel Chodowiecki in seinen Natürlichen und affectirten Handlungen des Lebens von 1779 die steif-aufrechten, motorische und sexuelle Regungen zurückhaltenden Bürger den tänzelnden, hüpfenden, sich lasziv verbiegenden Adligen entgegenstellt, wie Johann Jakob Engel in seinen Ideen zu einer Mimik von 1785 den sich nach vorn biegenden als den gierigen und den neugierigen Körper identifiziert, so sprechen die um ihr Reformprojekt Besorgten nun vom neugierigen Ausflug und Einkaufsgang in den Westen als von einem »Rausch«, einem »Tanz ums Goldene Kalb« oder einem »bösen Karneval« (Reich 1991, 201; Der Freitag, 30. 11. 90; Dieckmann 1991, 59). Die Heymsche Beschreibung belegt dabei, dass die Kritik nicht zuletzt der Massenhaftigkeit, der angeblichen Herden- oder gar Hordenform dieses Tuns gilt (so kann sich der Kritiker, der als Einzelner ja doch wohl auch über die Grenze ging, einkaufte, einkehrte usw., auch leichter aus den Schreckbildern der Konsumgier ausklammern); und man kann sich fragen, wie dieser dégoût denn zur rückhaltlosen Sympathie mit den vorhergehenden Massendemonstrationen passt, bei denen ja öfters ebenfalls »Rücken an Bauch gedrängt« war und sich Gefühle zuweilen in kollektivem Grölen, Schreien und Pfeifen Luft machten. Bei genauerem Hinse-

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hen entdeckt man freilich, dass die Inkonsequenz begrenzt ist: Intellektuelle Protagonisten der Protestbewegung mahnten bei den Demonstrationen nicht nur – sinnvollerweise – zur Gewaltfreiheit, sondern wandten sich auch z. B. gegen »wüstes« Schreien und »würdeloses« Buhrufen und neigten dazu, den Ausdruck ungebremster Emotionen als »übersteigerte Emotionen« zu tadeln (z. B. Neues Forum Leipzig 1989, 208, 210). Inhaltlich-politische Kritik z. B. nationalistischer Tendenzen bei Demonstrationen oder eines Primats von Reise- und Kaufwünschen verbindet sich hier offenbar mit dem kulturkritischen, genauer gesagt volkskulturkritischen Impuls, mit dem das kulturpädagogische Personal des neuzeitlichen Staates dem »Materialismus« der Unterschichten schon immer entgegengetreten ist. Auch bei vielen linken, ihrem Selbstverständnis nach arbeiterbewegten Intellektuellen lebt eine traditionell-bildungsbürgerliche Version des aufrechten Gangs fort, der sich nicht mit »hordenartigem« Auftreten vereinbaren lässt und bei dem, vor allem, die Augen nicht in die Niederungen gegenwärtiger Genüsse, sondern – siehe das Heym-Zitat – in eine »verheißungsvolle Zukunft« zu richten sind. Der Körper darf nicht in »angenehmen Gefilden« zu Boden sinken,6 propagiert wird vielmehr »ein neues, härteres Training, des schmerzhaften und wunderbaren aufrechten Gangs« (Braun 1987, 61): eine Konzeption mithin, in der, zugespitzt gesagt, Kapitalismus als Genuss verboten und Sozialismus als Härtetest empfohlen und in der aus der Befreiung zum aufrechten Gang die Asketenpflicht zum »langen Marsch« wird. Dass eine solche Erziehungsidee es schwer haben wird, die Massen zu ergreifen, sofern sie nicht mit materieller Gewalt dazu gezwungen werden, hätte freilich das soeben zuende gegangene Kapitel der deutschen Arbeiterbewegung lehren können.7 »Aufrecht in die Einheit«

»Wiedervereinigung? Und wo bleibt der aufrechte Gang?«, fragt ein Demonstrationsplakat am 4. Dezember 1989 in Leipzig. Wenige Wochen später steht nicht mehr das Ob, sondern nurmehr das Wie der deutschen Vereinigung zur Debatte. Nun kommt in der NochDDR die Parole »Aufrecht in die Einheit« auf. Mit ihr wird eine andere Seite des Bedeutungsgehalts des Aufrechten aktualisiert: Es geht jetzt um die Abwehr von pauschalen Verdikten über die DDR-Bürger, welche diesen eine Kollektivschuld am politischen System der Vergangenheit, aber auch an den strukturellen Mängeln der DDR-Wirtschaft anlasten wollen. »Aufrechter Gang« steht hier nicht gegen das Gebeugtwerden und das Sichbeugen unter eine Herrschaft, sondern gegen das gesenkte Haupt des Schuldbewussten. Diese Akzentuierung lässt sich – wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung – bei Vertretern verschiedener politischer Richtungen finden. Der Sozialdemokrat Friedrich Schorlemmer sagt: »Wir haben uns aus eigener Kraft eines Krakensystems entledigt, allein das rechtfertigt einen aufrechten Gang« (Horizont-International 23/1990, 6); sein Parteifreund Wolfgang Thierse betont auf dem Vereinigungsparteitag der SPD: »Ich denke nicht, dass wir aus der DDR mit gesenktem Haupte, demütig in die deutsche Einheit gehen müssten! Auch

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wir Ost-Sozialdemokraten kommen aufrecht zu Euch, Ihr Westdemokraten!« – ein westdeutscher Journalist fügt hinzu: »Und es klingt schon wie eine Drohung« (Südwestpresse Ulm, 26. 9. 1990). Eine CDU-Kandidatin für die letzten Volkskammerwahlen äußert in einem Interview: »So viel Ehrgeiz haben wir schon, dass wir nicht untergehen wollen. Und bitte erhobenen Hauptes! Ich will keine Konkursmasse sein, die aufgegriffen wird, ich habe auch etwas mitzubringen in diesen deutschen Bund« (Fischer/Lux 1990, 196), und Lothar de Maizière spricht in seiner Regierungserklärung zwar nicht vom aufrechten Gang, wohl aber davon, dass die DDR-Bürger in die Einheit ihre »Identität« und ihre »Würde« einbrächten (FAZ, 20. 4. 1990); die FAZ schreibt am Tag danach: »De Maizière will die DDR schnell und ohne Demut in die Einheit führen« (ebd.). Bei der Bürgerbewegung hegt man eine zeitlang sogar die Hoffnung, den soeben gelernten aufrechten Gang nun auch in der Bundesrepublik lehren zu können – zu der auch westliche Stimmen zeitweise ermuntert hatten, so z. B. Walter Momper, der am 10. November 1989 ausrief: »Vielleicht werden wir von der demokratischen Kultur in der DDR noch einiges lernen können« (Südwestpresse Ulm, 11. 11. 1989). Zumindest aber steht die Metaphorik des Aufrechten im Kontext Vereinigung für die Überzeugung, von Regierung und Bevölkerung der Bundesrepublik sowohl Gleichberechtigung als auch Unterstützung erwarten zu dürfen und nicht erbetteln zu müssen. Diese Haltung eint auch die politischen Gegner in der Noch-DDR. Als deren neuer Regierungschef Hans Modrow, von seinem wenig erfolgreichen Bonnbesuch im Januar 1990 zurückkehrend, die Formulierung wählt: »Ich werde nicht auf Knien um einen solchen solidarischen Beitrag bitten«, erntet er damit am Runden Tisch allgemeinen Beifall (Thaysen 1990, 139). Was tatsächlich als aufrechter Gang in die Einheit firmieren kann, ist selbstverständlich umstritten. Während CDU-Vertreter und die CDU-nahe Presse der DDR im Frühjahr 1990 der Meinung sind, dass der zwischen den Regierungen Kohl und de Maizière ausgehandelte Staatsvertrag die »Würde« der DDR-Bürger respektiere, kommentiert eine Erklärung des Neuen Forums diesen Vertrag mit den Worten: »Die DDR-Regierung beugt sich dem Diktat der Sieger in Bonn. Das Volk wollte in die deutsche Einheit gehen – jetzt wird es zum Kriechen gezwungen« (Rein/Butzmann 1990, 406). Dabei deuten sich auch sprachliche Unterschiede zwischen Regierung und Opposition an: In Reden prominenter CDUVertreter ebenso wie in der CDU-nahen Tageszeitung Neue Zeit kommt der Begriff der Würde des Öfteren vor, das Bild des Aufrechten oder gar des aufrechten Gangs findet sich jedoch seltener als in Texten der Bürgerbewegung oder der PDS. Denkbar, dass die GangMetaphorik der DDR-CDU doch etwas nahe bei der politischen Kultur der Herbstbewegung liegt, während die Rede von der Würde mehr mit traditionell-bürgerlichen Vorstellungen von einer die gesellschaftliche Praxis transzendierenden Sphäre von Subjektivität vereinbar scheint.8 Eine wesentliche Rolle spielt das Prinzip Aufrecht beim Kampf der PDS gegen den bloßen Anschluss der DDR an die Bundesrepublik und gegen die Definition der politischen und sozialen »Errungenschaften« des realen Sozialismus als zu entsorgenden »Altlasten«. In der Volkskammer sagt der PDS-Abgeordnete Uwe-Jens Heuer, man müsse »allen Schichten

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des Volkes den aufrechten Gang in die deutsche Einheit ermöglichen« (Neues Deutschland, 21. /22. 4. 1990); das Neue Deutschland überschreibt seinen Bericht von der Berliner Maidemonstration 1990, bei der auch zahlreiche DDR-Fahnen mitgeführt worden waren, mit »Aufrecht durchs Brandenburger Tor« (ebd., 2. 5. 1990), und im August 1990 ruft der PDS-Vorstand unter der Überschrift »Wir gehen aufrecht in das vereinigte Deutschland« zu einer Aktionswoche auf, in der durch Unterschriften, Mahnwachen, Demonstrationen und eine schließliche Großkundgebung in Berlin unter anderem gegen die »Vereinnahmung der DDR«, die Zerstörung der DDR-Wirtschaft und die Eingliederung der NVA in die Bundeswehr gestritten werden soll. Der aufrechte Gang wird also wieder zum Synonym für Protestdemonstrationen; die PDS übernimmt die Parole, mit der eben noch zum Aufstand gegen ihre Vorgängerin geblasen wurde, und erklärt sich damit zur Miterbin der Bürgerbewegung vom Herbst 1989. Ihren Gegnern, die dies eine Usurpation nennen (z. B. FAZ, 21. 4. 1990), kann sie antworten, dass dieser Aneignung ja ein innerer Reformprozess vorangegangen sei, in dem ihre Mitglieder selbst den aufrechten Gang des Einzelnen in einer demokratischen Bewegung gelernt hätten. Dass dies keine Unwahrheit, aber doch nur eine Teilwahrheit ist, darauf deuten nicht zuletzt verschiedene Verwendungsweisen des Wortes aufrecht, die sich in der SED bzw. PDS seit dem Herbst 1989 beobachten lassen. In der innerparteilichen Diskussion dieser Zeit findet sich die Prägung vom »aufrechten Gang« u. a. in der selbstkritischen Funktion, mangelnde Meinungsfreiheit und mangelnde Meinungsäußerung in der SED und FDJ zu bemängeln.9 Im Neuen Deutschland beginnt eine Debatte darüber, dass die SED weniger Parteidisziplin und mehr »Zivilcourage« brauche (Neues Deutschland, 27. 10. 1989, 16. 11. 1989). Der FDJ-Vorsitzende Eberhard Aurich erklärt in der Jungen Welt: »Wir brauchen Garantien, dass es nicht mehr so ist wie noch immer, dass es vom persönlichen Charakter, von der Zivilcourage, vom ›Kreuz‹, vom ›aufrechten Gang‹, vom Mut abhängt, ob man seine Meinung sagt oder nicht« – wobei freilich die Halbheit auffällt, dass das Recht zum aufrechten Gang von oben gewährt werden soll. Und bei einer Kundgebung von SEDMitgliedern vor dem ZK-Gebäude sagt ein Feuerwehrmann namens Küna: »Meine Partei muss eine starke Partei werden, stark durch die Stärke jedes Genossen und seinen aufrechten Gang« (Spiegel 49/1989, 40). In anderer Bedeutung wird die Parole dann am 14. Januar 1990 verwendet, als die SED/ PDS unter dem Motto »Aufrecht zu Karl und Rosa« eine Kundgebung an den Gräbern von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg abhält und in den Parteiberichten von der Berliner Feier und entsprechenden Veranstaltungen in anderen DDR-Städten immer wieder vom »Sichaufrichten«, vom »aufrecht an den Gräbern«-Stehen, vom Gedenken an die »aufrechten Kämpfer« und die »Standhaftigkeit und menschliche Größe von Karl und Rosa« die Rede ist (Neues Deutschland, 15. 1. 1990; Berliner Zeitung, 15. 1. 1990). Die Forcierung dieser Metaphorik knüpft offensichtlich an die Sprache des DDR-Herbstes, aber auch an das Bild vom aufrechten proletarischen Kämpfer an, das neben Freiheitswillen und Auflehnung auch die unbeirrbare Treue zur »Sache«, und das impliziert hier meist auch: zur Par-

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teiführung, in sich aufgenommen hat. Gerhard Reins Schilderung von der Berliner SED/ PDS-Kundgebung des 14. Januar bestätigt diese Unentschiedenheit zwischen Erneuern und Beharren:

Die Plakate und Schilder sind nicht mehr fabrikmäßig in großer Stückzahl ausgeliefert, sondern von eigener Hand entworfen und gefertigt, aber seltsam, durch eine geheimnisvolle Intuition steht auf den meisten derselbe Satz: ›Für demokratischen Sozialismus – trotz alledem‹ (Rein 1990, 325). »Trotz alledem« – das ist in der Tradition der kommunistischen Bewegung eben untrennbar beides: das Sich-aufrichten der Entrechteten und das rotpreußische Strammstehen des durch nichts zu beirrenden Parteisoldaten. »Aufrecht auf Knien«

»Aufrechten Gangs kann ich nun in die Arbeitslosigkeit gehen«, schreibt eine Frau aus der Ex-DDR im Herbst 1990 an ihre Freundin (Der Freitag, 9. 11. 1990). Und ein sächsischer Kabarettist sagt zu Silvester 1990 im Fernsehen: »Gehen wir mit aufrechtem Gang optimistisch in die Zukunft. Guten Rutsch!« (3sat, 31. 12. 1990). Angesichts der Massenentlassungen ostdeutscher ArbeitnehmerInnen, der um sich greifenden Entwertung und Abwertung ihrer Fähigkeiten, ja ihrer DDR-Mentalität insgesamt und alltäglich erfahrener Bevormundung durch westdeutsche Entwicklungshelfer stößt man im Lauf des Jahres 1991 immer häufiger auf Äußerungen, die sich nurmehr sarkastisch auf das Leitbild vom aufrechten Gang beziehen. Dabei finden sich nicht nur Metaphern wie »Aufrecht auf Knien« (Der Morgen, 8. 2. 1991), »systematisch gebrochenes Rückgrat« (Kommune 1991, 21), »Einziehen des Kopfes« (Tagesspiegel, 24. 5. 1991), sondern Betroffene wie Beobachter sehen die verbreitete Verunsicherung und Depressivität auch im körperlichen Habitus ostdeutscher BürgerInnen gespiegelt: Der Spiegel z. B. meint, eine Formulierung von Heiner Müller aufgreifend, die Ostdeutschen hätten »immer noch diesen ›verdeckten Blick der Kolonisierten‹ « (Spiegel 18/1991, 74), und Fotos und Schilderungen von auf dem Arbeitsamt wartenden Arbeitslosen zeigen ein Panoptikum in sich zusammengesunkener, den Kopf gesenkt haltender Menschen.10 Unterschiedlich ist dabei die Ätiologie: Einmal wird eher von einem DDR-traditionellen Sich-beugen gesprochen, das sich nun nach einer kurzen Zeit des Aufbruchs wieder etabliere – »Das Sklavische steckt noch so in uns«, sagt in diesem Sinn Friedrich Schorlemmer (Die Zeit, 24. 5. 1991, 49); das andere Mal ist eher die Rede von einem Gebeugt-werden durch die neuen Herren (oder die gewendeten alten): »Bleib’ geduckt! Nicht aufgemuckt! Alles runtergeschluckt! (Sonst wirst Du entlassen!)«, lautet z. B. ein Plakat auf der Berliner Kundgebung vom 4. November 1990, zum Jahrestag der großen Demonstration des aufrechten Gangs; oder es wird auf das fatale Zusammenspiel beider Faktoren abgehoben – und damit auf wohl plausible Weise die von Mit-

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leid in Verachtung changierende Haltung kritisiert, mit der manche westdeutschen Linken auf die ihnen gering erscheinende Gegenwehr der Entlassenen und Abgewickelten in der Ex-DDR reagieren. Wo noch vom Versuch des aufrechten Gangs die Rede ist, hat die Parole häufig ihren Aufbruchscharakter eingebüßt und meint nicht mehr Aufrichtung als Auflehnung, sondern das bloße Bewahren von Haltung trotz der Sorgen, die einen niederdrücken; diese stoische Tradition des Aufrechten aufgreifend, kann dann auch die gerade von ihrer Dienstwagenaffäre bedrückte Rita Süßmuth eine Brücke von ihrem Schicksal zu dem ihrer Landsleute in der DDR schlagen: Wenn vom aufrechten Gang die Rede sei, meint sie im März 1990, dann wisse auch sie, dass es Situationen gebe, die es auszuhalten gelte (Südwest 3, 16. 3. 1991). Daneben wird freilich auch noch zum aufrechten Gang in einem offensiveren Sinn aufgerufen. So sagt z. B. Manfred Stolpe bei seiner Laudatio auf sechs VertreterInnen der Herbstopposition, die als »Beispiele für den aufrechten Gang in die Freiheit« (Hildegard Hamm-Brücher) mit dem Theodor-Heuss-Preis geehrt werden: »Wer sich vor Honecker nicht krümmte, braucht es auch bei neuen Herrn nicht zu tun. Die Energie des aufrechten Gangs, das unerschrockene, kompetente und tüchtige Handeln entfaltet die gesunden Möglichkeiten der Menschen allem Verbiegen zum Trotz« (Südwest 3, 16. 3. 1991). Aber auch diese Formulierungen können wohl kaum als Aufruf zum kollektiven Protest genommen werden; das »unerschrockene, kompetente und tüchtige Handeln«, mit dem aufrechter Gang in dieser Rede identifiziert wird, scheint sich eher auf die alltägliche, auch berufliche Selbstbehauptung der Einzelnen zu beziehen. Ganz abhanden gekommen, so zeigen es ja schon die oben angesprochenen PDS-Aufrufe, ist die Verbindung von aufrechtem Gang mit Massenprotesten aber auch 1990/1991 nicht. Eine – nicht flächendeckende, aber doch ausgiebige – Durchsicht von Demonstrationsberichten aus dieser Zeit ergab jedoch, dass die Parole des »aufrechten Gangs« in Kundgebungsaufrufen, -reden und -berichten offenbar selten vorkommt. Ihr Pathos passt ja wohl auch kaum zum Defensivcharakter von Aktionen, in denen es um die Verhinderung oder auch nur »soziale Abfederung« von Betriebsschließungen geht, und zu wenig selbstbewussten, zwischen Protest und Bitte stehenden Proklamationen wie »Wir fordern eine soziale Marktwirtschaft, wie sie uns versprochen wurde« (Neues Deutschland, 11. 5. 1990). Im übrigen gibt es Beobachter, welche die gegenüber den Herbstprotesten von 1989 veränderte Stimmung auch an der Körpersprache der Demonstrierenden festmachen zu können meinen: »Die Menschen marschieren nicht, sie trotten über den Ring um die Altstadt«, schreibt Christian Wernicke in der Zeit über die neuen Leipziger Montagsdemonstrationen von 1991: »(…) ohne Sprechchöre, mit gesenktem Kopf und leeren Gesichtern. Das sind keine rebellischen Helden mehr, das sind verzweifelte Bürger, die sich betrogen fühlen und die um ihre Existenz fürchten« (Die Zeit, 29. 3. 1991). Das mangelnde oder gebrochene Selbstwertgefühl, das viele DDR-Bürgerinnen und -Bürger nach dem Umbruch des Umbruchs äußern oder zeigen, ist oft zugleich ein Minderwertigkeitsgefühl gegenüber den Westdeutschen. Diese Haltung ist sicherlich nicht prinzipiell neu, aber durch die Veralltäglichung von westostdeutschen, häufig von vornherein asym-

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metrischen Begegnungen ungleich virulenter geworden. Überlegen erscheinen die Westdeutschen dabei gerade auch in der Frage des aufrechten Gangs. Teilweise wird dieser primär als Charakteristikum der politischen Kultur in Westdeutschland verstanden – so z. B., wenn die Hoffnung ausgesprochen wird, dass »das Training, das die Mehrzahl der Altbundesbürger im Umgang mit der parlamentarischen Demokratie erworben hat, (…) auch die ehemaligen DDR-Bürger aus ihrer Demutshaltung erlösen und zum aufrechten Gang befähigen« werde (Eichler/Gärtner/Seidel 1991, 190). Überdies, und das ist wohl noch bedeutsamer, existiert auch das Bild eines in seinem Verhalten insgesamt aufrechteren Westbürgers: »Ich finde«, sagt eine junge Finanzkauffrau Anfang 1990, »dass unsere deutschen Nachbarn sich um andere Dinge den Kopf zerbrechen müssen und dadurch einen ›aufrechten Gang‹ haben. Sie wurden nicht immer von oben herab gegängelt, oder mussten nicht Dinge tun, die gar nicht ihren Interessen entsprachen« (Gotschlich 1990, 40). Dieser angeblich aufrechte Gang der Westdeutschen wird dabei teilweise wiederum ganz wörtlich genommen. Auch dies Stereotyp gab es schon vor der Wende: »Unser (ostdeutscher) Reiseleiter«, sagte 1989 die Teilnehmerin an einer Gruppenreise in die DDR, »hat gemeint, irgendwie würden wir anders laufen. Irgendwie hat er gesagt, wir laufen aufrechter« (Projektinterview des Ludwig-Uhland-Instituts, 4. 10. 1989). Nun findet man diese Vorstellung in aktualisierter Fassung wieder: In einem Essay Die Herren auf den langen Fluren beschreibt Marco Schütz die neuen Herren aus dem Westen unter anderem so: »Und die Haare sind locker, überhaupt sind sie locker, die Haltung, der Gang – keine nach vorn fallenden Schultern, kein eingezogener Kopf, kein schleppender müder Schritt, den Blick nicht gesenkt, aber auch nicht nach oben, genau geradeaus (…)«. Und er spricht »vom Drang, ihnen gleich zu werden; sie nachzuahmen mit ihrem sicheren Gang, ihrem frischen Blick, ihrer lockeren Haltung« (Der Freitag, 28. 6. 1991). Diese Fremd- und Selbstschilderung verweist auf eine Widersprüchlichkeit, in welche die Parole vom »aufrechten Gang« in Ostdeutschland gegenwärtig verstrickt ist: Wo sich mit ihr das Erscheinungsbild westdeutscher Herren verbindet, wird sie zum double bind, zur Emanzipation als Anpassung. Und da sich in diesem Bild der aufrechten Herren die Vorstellung von individueller Freiheit mit der von Herrschaftsausübung verbunden hat, ist es für Vertreter des aufrechten Gangs vom Herbst 1989 anziehend und abstoßend zugleich. Es hat also Konsequenz, wenn Volker Braun angesichts einer Situation, in der der aufrechte Gang im Alltag von Wessis besetzt und die Einlösung eines ganz anderen Ideals von Aufrechtsein vorerst nicht realisierbar scheint, das Training einer zumindest äußerlich ganz anderen Haltung empfiehlt: »Gegen etwas, das groß daherkommt und tönt und sich selbstgerecht etabliert – dagegen hilft nur der Blick von unten, eine plebejische Haltung gegen die buntlackierten, angestrichenen Zeitläufe« (Der Freitag, 21. 6. 1991).

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Anmerkungen 1 1992. 2 Gewiss haben die Gruppen, die Reich vertritt, am wenigsten Grund zu solchen Selbst­vorwürfen; doch auch für die bisher vor allem im Schutz der Kirchen operierenden Oppositionsgruppen bedeutet der demonstrativ-aufrechte Gang vom Herbst 1989 einen Verhaltensbruch, nach dem Dresdener Super­ intendenten Christof Diemer eine »härtere Gangart«: »Aus den Bitten der Christen wurden die For­ derungen der Bürger« (Hildebrand/Thomas 1990, 103). 3 Die weite Verbreitung dieser Variante konstatiert und kommentiert der Leipziger Autor Horst Dre­ scher: »Alle, alle, alle haben gelitten, liefen mehr oder weniger geduckt in der Seele und oftmals bitter durch ihre Tage, haben geschwiegen, wo man nicht reden konnte, oder redeten etwas neben der Wahrheit, um Schlimmeres zu verhindern, sind gekrochen, wo nicht aufrecht gegangen werden durfte, und immer alles bei genauer Kenntnis des menschlichen, des aufrechten Ganges« (Heym/Heiduczek 1990, 405). 4 Vgl. Warneken 1990. 5 So zitiert z. B. die Berliner Zeitung vom 15. 1. 1990 die Berliner SPD-Politikerin Pauk mit dem Satz: »Auf der Straße habe das Volk sein Selbstvertrauen wiedergewonnen und den aufrechten Gang trainiert«. 6 Im Nachwort zu ihrem Band Die sanfte Revolution schreiben Stefan Heym und Werner Heiduczek von den »Zuständen (…), die eine Mehrheit der DDR-Bürger veranlasste, nach angenehmeren Gefil­ den aus­zubrechen, statt den mühseligen Weg über Reform und Erneuerung zur Erfüllung der großen Utopie zu suchen« (Heym/Heiduczek 1990, 423). 7 Vgl. Maase 1991. 8 Einer der – meinen Recherchen nach – seltenen Fälle, in denen »aufrechter Gang« als CDU-Parole benutzt wird, ist die Rede des stellvertretenden Vorsitzenden der DDR-CDU auf dem Gründungs­ parteitag der CDU Thüringen, der, auf den Löwen in der Parteitagsfahne weisend, sagt: »Der Thüringer Löwe übt wieder seinen aufrechten Gang« (Die Welt, 22. 1. 1990). Der Autor des Artikels fügt hinzu: »Da war es wieder, das alte, so lange verfemte Wappentier, rot auf weißem Grund, trotzig aufrechtstehend in einem Reigen von acht Sternen« (ebd.). Hier wird also die Amalgamierung zweier Traditionen versucht: Die Machtpose des Wappentiers soll das Aufbegehren der Bürger gegen die Macht des SEDStaats in sich aufnehmen. 9 Der früheste Beleg, den ich hierfür fand, ist eine Äußerung von Lutz Marz in der FDJ-Zeitung Junge Welt vom 23. 10. 1989: »Als Parteimitglied habe ich zwar stets meine Meinung gesagt und war immer bemüht, den unbequemen Weg des aufrechten Ganges einzuschlagen, doch entweder habe ich zu leise gesprochen oder meine Worte sind in den verwickelten Verhältnissen verhallt.« 10 Besonders eindrücklich die Skizze Am Dienstag auf dem Arbeitsamt von Jascha Dahl (vgl. Dahl 1990).

Literatur Bloch, Ernst (1959): Das Prinzip Hoffnung. Bd. 1. Frankfurt am Main. Blohm, Frank/Wolfgang Herzberg (Hg.) (1990): »Nichts wird mehr so sein, wie es war.« Zur Zukunft der beiden deutschen Republiken. Frankfurt am Main. Braun, Volker (1987): Training des aufrechten Gangs. 4. Aufl. Halle/Leipzig.

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»Vorwärts, doch nichts vergessen!« Zum Gebrauchs- und Bedeutungswandel sozialistischer Symbolik in Ostdeutschland seit 1989

Die Beschäftigung mit Symbolkultur und auch politischer Symbol­kultur liegt im postmodernen Trend, sich lieber mit den inter­essanten ästhetischen Brechungen der gegenwärtigen sozialen Entwicklung zu beschäftigen als mit deren oft unerfreulichen Basistatsachen selbst. Nicht nur im Wirtschaftssektor, sondern auch in den Sozialwissenschaften ist die software weit lukra­tiver als die hardware. Ein Vortrag in der volkskundlichen Kommission »Arbeiterkultur«, der sich nicht den zahlreichen alltagskultu­rellen Problemen des DDRUmbruchs, sondern dessen symbolischer Seite widmet, sollte deshalb vorab die symbolische Bedeutung der eigenen Themenwahl reflektieren und sich fragen, wieweit bei dieser Wahl das bei Volkskundlern ja nur selten befriedigte Verlangen nach Distinktionsgewinn mitspielt, den man sich von der Öffnung des Forschungsfelds Arbeiterkultur hin zum prominenter besetzten Diskursfeld Symbolkultur ver­spricht – ein durchaus naheliegender Wunsch in einer Situation, in der das Interesse für Arbei­terkultur weniger denn je durch die Hoffnung auf die histori­sche Mission der Arbeiterklasse geadelt wird. Der volkskundliche Symbolforscher wird solchen Einschätzungen entgegenhalten, dass sein Interesse an volks- und arbeiterkultu­reller Symbolik nicht erst von heute datiere und auch die Wiederaufnahme dieser Forschungstradition nicht der Entwicklung an der akademischen Börse, sondern der zu untersuchenden Realität selbst folge. Was speziell die Geschichte des DDR-Umbruchs angeht, so haben symbolische Objekte und symbolische Akte hier in der Tat einen hohen Stellenwert.1 Seinen Grund hatte dies zunächst in der Bedeutung, die diese in der DDR selbst hatten: Sie dienten, wie man heute vor allem betont, dem Staatssozialismus zur kollek­tiven Einbindung ins herrschende System; sie beteuerten aber zugleich die Anbindung dieses Systems an eine Zukunft, in der die roten Transparente nicht mehr der Kaschierung verschlissener Fassaden dienen sollten. Sie standen überdies für eine Gesellschaft, die ihre Mitglieder für materi­elle Mängel mit immateriellen Gratifi­kationen zu entschädigen suchte, was sich auch so ausdrücken läßt, dass sie die Vertei­lungskämpfe um ökonomisches Kapital zu einem guten Teil durch den Kampf um soziales und symbolisches Kapital ersetzte. Kein Wunder also, dass sich die Distanzierung von der SED und der DDR-Gesellschaft häufig auch als Auseinanderset­zung mit ihren Zeichen, Parolen und Ritualen abspielte.2 Hinzu kam der große Stellen­wert des Kulturmusters der friedli­chen Massendemon­stration beim DDR-Umbruch, d. h. von Kommunikati­ onssitua­tionen, in denen die Verdichtung, Versinnlichung und zugleich Emphatisierung von Aussagen sowie die Bündelung von Meinungskund­gaben in gemeinsam artikulierten oder als gemeinsam akzeptierten Zeichen und Parolen besonders naheliegt. Die sinnliche

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Greifbar­keit und Abbreviatorik der Symbole bediente dabei überdies das Interesse ihrer Träger, nicht nur gesehen, sondern auch ferngese­hen, also einem auf die Verwandlung komplexer Handlun­gen in visuelle Kürzel orientierten Medium gerecht zu werden;3 nicht weniger nützlich war jedoch die semantische Ungreifbarkeit oder zumindest Uneindeutigkeit, zu der Symbolsprache tendiert – nützlich bei der Einleitung des Bruchs mit den Staatsso­zialisten sowie, wie zu zeigen sein wird, bei der Opposition gegen ihre Nachfolger. Allerdings, so ist hinzuzufügen, sind die ostdeutschen Vorgänge auch ein Beispiel für die Gefahren, die symbolorientierte Beobach­tungen zu gewärtigen haben. Diese zeigten sich z. B. bei der gerade erwähnten massenme­dialen Präferenz für leicht übertragba­re Signale. Baudrillards Simulati­onsthese erhielt, gekürzt um ihr Übertreibungsmoment, im Herbst neue Aktualität: In der Tat kann man sich fragen, inwieweit das nach visuellen Signalen su­chende Fernsehen die Transparente- und Fahnenflut der späte­ren Leipziger Demon­ strationen mit hervorgebracht hat und wie sehr die mediale Vervielfältigung besonders relevant, gelungen oder wünschenswert erscheinender Signale – z. B. der Losung »Wir sind ein Volk« oder der BRD-Fah­ne in DDRler-Händen – daran beteiligt war, dass diese tatsächlich zu »Schlüs­selsymbo­len« der Wende wurden. Politische Symbolik kann, wie Ulrich Sarcinelli sagt, »eine Situation auf den Punkt bringen« (Sarcinelli 1992, 163); sie kann allerdings auch eine Rander­scheinung als Zentralhandlung und partiku­lare Inszenierungen als »histori­sche Stunden« erscheinen lassen. Zur voreiligen Zuschreibung von Repräsen­tati­vi­ tät kommt häufig die Überschätzung der Validität von Symbolhandlungen: Die Eile z. B., mit der manche DDR-Bürger im Frühjahr 1990 das DDR-Kennzeichen an ihrem Auto oder DDR-Dienststellen die Emblematik des SED-Staates von den Bürowänden entfernten, kann Ausdruck innerster Überzeugung, aber auch oberflächlicher Anpassung sein; und die BRD-Fahne auf der Datscha soll vielleicht, kann aber nicht darüber hinweg­täuschen, dass die Umhäutung ihres Besitzers zum Bundesbür­ger noch lange Zeit in Anspruch nehmen wird. Die folgende Darstellung des Symbolumbruchs in Ostdeutschland versucht, sich diese Probleme bewusst zu halten. Sie fasst den Wandel der soziali­stischen Symbol­kultur als Aus­schnitt, der keineswegs als pars pro toto für die politischen Haltungen der Symbolträger oder gar die ostdeut­schen Entwicklungen insge­samt stehen kann. Die empiri­schen Erhebungen, die der Darstellung zugrunde­liegen, bestehen zum einen in der kontinuierli­chen Auswertung mehrerer ost- und westdeut­scher Tageszeitungen, von Videoauf­zeichnungen ost- und west­deutscher Fernsehsendungen und gedruckt vorliegenden Augenzeu­genberichten, zum anderen in der mehr oder weniger teilneh­men­den Beobachtung einiger Demon­strationen und Kundge­bungen in Ostberlin und einer Maifeier in Potsdam sowie aus etlichen Interviews.4 Nicht alle dabei in den Blick genommenen Gegen­standsbe­reiche können im Folgenden auch diskutiert werden. Was dingli­che Symbole angeht, konzentriert sich die Darstel­lung auf den politi­schen – also nicht den alltags­ kultu­rellen – Gebrauch der roten Fahne und ihrer Deriva­te sowie der Embleme von SED und FDGB; was symboli­sche Akte betrifft, auf Protestdemon­strationen, die Maifeier der Gewerkschaften sowie Gedenkfeiern an Denkmälern bzw. Grabmälern von Lenin, Luxem-

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burg und Liebknecht. Einbezogen werden zudem Lieder und Parolen aus der sozialistischen Tradition, die bei diesen Aktionen bzw. Ritualen eine Rolle spielten. Zunächst zur ersten Phase des DDR-Umbruchs, die vom Beginn des Massenprotests im September bis zur Durch­setzung der Wiederver­einigungslosung im Dezember 1989 reicht. Entgegen manchen pauschalisierenden Rückblicken ist diese Phase noch nicht von einer massenhaf­ten Absage an die sozialistische Symbolkultur geprägt. Vielmehr finden sich bei den Herbstdemonstrationen neben christlicher, pazifistischer und aus der amerikanischen und deutschen Bürgerrechtsbewegung stammender Symbolik vielfäl­tige Formen der Neuaneignung des soziali­stischen Arsenals. Dabei wird in lehrreicher Weise vorgeführt, wie sich die Bedeutung einzelner Zeichen durch deren Herausbrechen aus ihrem bisherigen Zeichensystem, durch den Wechsel ihrer Träger­gruppen, durch neue Situationskon­texte oder auch nur eine neue Aneignungs­weise wandeln kann. So konterkarieren bei der größten Massenakti­on des Umbruchs, der Ostberliner Demon­stration vom 4. November 1989, die Teilnehmenden zwar die »Kampf­demonstra­tionen« der Vergangen­heit durch eine Fülle selbst mitgebrachter und inhaltlich wie formal sehr unterschiedlicher Transparente; und das wohl einzige Plakat, das noch das SED-Symbol mit den Bruderhänden zeigt – als das Politbüro-Mitglied Schabow­ski zu reden beginnt, wird es unter dem Gelächter der Umstehenden vor der Rednertribüne hochgehalten – verkehrt dessen angestamm­ten Sinn durch den Beitext »Tschüss!« ins Gegenteil. Nicht von der Bühne verschwunden, wenngleich nicht mehr dominant, ist jedoch das Rot der Arbeiterbewegung. Der Demonstra­tion wird ein straßenbrei­tes, knallrotes Transpa­rent »Protestde­monstrati­on« vorangetragen. Die Rednertribüne ist zwar frei von Fahnen und Emble­men, aber in unaufwendi­ger, improvisier­ ter Weise mit einigen roten Bändern geschmückt. Und in der Menge sind neben weißen, gelben, blauen und schwarzen etliche rote Transparente zu sehen. Hierbei spielte freilich offenbar nicht nur ideelles, sondern auch handfest materielles Erbe mit: Jedenfalls wurde mir berichtet, dass im Gegensatz z. B. zu den Theaterwerkstätten und der Kunst­hochschule, die über größere Bestände an Naturleinen oder schwarzem Vorhangstoff verfügten, viele Betriebe bei größeren Transpa­renten oft nur auf Vorräte an rotem Stoff hätten zurückgrei­ fen können. Das Arbeiterrot erlebt also quantitativ eine Zurücksetzung, qualitativ eine Freisetzung. Durch den Bezugs­rahmen »Oppositions­hand­lung« wird die steril gewordene Akklama­ tionsfarbe wieder zu einer Farbe des Protests. Diese Loslösung von der DDR-Tradition manife­stiert sich dabei nicht nur kontextu­ell, sondern auch ikonogra­phisch: zum einen dadurch, daß es sich bei den roten Plakaten um selbst­gemalte Unikate und nicht gedruckte – und das hieß bisher: von der Partei vorgegebene bzw. zensierte – Texte handelt; zum andern ist bei ihnen in aller Regel die DDR-übliche Kombination von rotem Grund und weißen Buchstaben aufgegeben. Das Wort »Protestdemonstration« auf dem Front­transparent des Umzugs ist nicht weiß, sondern schwarz gemalt, auch Gold auf Rot – vielleicht aus dem Stoff einer DDR-Fahne gebastelt – ist zu sehen, und ein Transparent der Sozialdemokra­ tischen Partei der DDR zeigt ein rotes »SDP« auf weißem Grund. In all diesen Fällen ver-

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wandelt sich das Rot gewissermaßen von einer Uniformfarbe zurück zur Farbe eines neu zugeschnittenen oder erst noch zuzuschneidenden Stoffes. Dass es sich bei der These von der Herauslösung des sozialisti­schen Rot aus seiner staatssozialistischen Einbindung wohl nicht um eine Überinterpretation handelt, läßt sich durch analoge Formen der Umwandlung oder Rekonstruktion traditionel­ler sozialisti­scher Parolen belegen. Neben ironischen und polemischen Verfor­mungen wie »Proletarier aller Länder, ver­zeiht mir (Karl Murx)« finden sich bei den Herbstdemonstratio­nen auch zahlreiche Plakate und Sprechchöre, die der Staatspar­tei die Arbeiterbewe­gungstradition nicht vorwerfen, sondern streitig machen: »Privi­legierte aller Länder, beseitigt euch«; »Alle Macht den Räten«; »Karl Marx-Orden – nicht für Ceausescu, sondern für Stefan Heym«; »Vorwärts zu Marx«. Mehrmals wird auch an Bertolt Brecht angeknüpft, so bei dem Plakattext »Um uns selber müssen wir uns selber kümmern« (aus Brechts und Dessaus FDJ-Lied von 1948) oder beim dann öfters zitierten »Vorwärts, doch nichts verges­sen!« mit seiner kleinen, aber feinen Umformung des Solidari­tätslieds von 1931.5 Diese Technik der Usurpation ist dabei kein Produkt des DDR-Herbstes, sondern gehörte schon seit Jahren zur Praxis der ostdeutschen Oppositionsbewegung. Am bekanntesten ist wohl der Versuch geworden, bei der staatsoffiziellen Luxemburg-Lieb­knecht-Feier ein Transparent mit dem Luxemburgzitat »Freiheit ist immer auch die Freiheit der Andersdenkenden« zu zeigen. Ebenfalls zu oppositio­nellen Zwecken gebraucht wurde in den letzten DDR-Jahren die »Internationale«: Sie wurde z. B. an Pfingsten 1987 von Ostberli­ ner Jugendlichen angestimmt, als die Polizei sie von der Mauer abdrängen wollte, wo sie einem Rockkonzert im Westen zuhörten (vgl. Rüddenklau 1992, 95). Nun, im DDR-Herbst, singen Leipziger und Berliner Demonstranten den anrückenden Sicher­heitskräften wieder »Völker, hört die Signale« entgegen. Offiziell wird dies als »Mißbrauch der Symbole der Arbeiterklasse« gebrand­markt; ein junger Volkspoli­zist aus Leipzig berichtet dagegen: »Wir waren tief bewegt, als wir gehört haben, daß tausende von Leuten die Internationale gesungen haben, aus einem Bedürfnis heraus. Diesmal war es ihnen nicht aufgezwun­ gen. Das hat man irgendwie richtig wahrgenommen« (vgl. Voigt 1989, 77). Die Irritati­on, die Deutungs­unsicherheit auf seiten der Vopo und der SED korrespondiert dabei sicherlich mit einer unentschiedenen Haltung bei den Singenden selbst. Es ist nicht klar, inwieweit das »Die Inter­nationale erkämpft das Menschenrecht« als genuiner Ausdruck der Protestziele oder aber »halb iro­nisch« (taz, 9. 10. 1989) oder, wie eine Demonstrantin aus Leipzig erzählt, einfach »aus Angst«6 und als bloßer Abwehrzauber gesungen wird. Dass alle diese Auslegun­gen möglich sind, garantiert dem Gesang jedenfalls eine verschie­dene Interessen verknüpfende Funktion nach innen und eine Lähmung oder Wut hervorrufende Wirkung nach außen, auf den mit seiner Eigenkultur konfrontierten politischen Gegner. Diese Mehrdeutig­keit, deren genaues Mi­schungsverhältnis wohl nur durch die Recherche vor Ort zu klären gewesen wäre, gilt in ähnlicher Weise auch für die Freisetzung auf den schon genannten anderen Zeichenebe­nen: Sie alle rekonstruieren zwar die politi­sche Symbolik der sozialistischen Bewegung als antihegemo­niale Protestsymbolik, und für viele von ihnen trifft wohl zu, was Beobachter wie z. B. Lutz Niethammer feststellten: dass die Bür-

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gerbewegung des Frühherbsts das verdrängte Erbe der linken Arbeiterbewegung aus dem

SED-Konkurs zu retten versuchte (vgl. Niethammer 1990, 269). Denkbar ist jedoch, dass

sich in manchen Weiterverwendungen von Elementen des sozialistischen Symbolsy­stems ein Hysteresis-Effekt verbirgt, ein Zurück­bleiben des Wortschatzes hinter der Verände­ rung der auszudrücken­den Wortbe­deutungen, und dass dieser Effekt den Ausstieg aus dem real existierenden Sozialismus auch erleichterte, indem er ihn nicht als völlig »unerhör­t« erscheinen ließ. Deutlicher als in der ersten Umbruchsphase zeigt sich das Phänomen der Erleichterung praktischen Wandels durch symbol­sprachliche Kontinuität beim Aufkommen der Ver­ eini­gungsforde­rung im November/Dezember 1989. Diese Forderung wird bekanntlich beson­ders häufig in der Formulierung »Deutschland, einig Vaterland« vorgetragen, also in Anknüpfung an die seit 1971 nicht mehr offiziell gesungene – und wahrscheinlich vielen Ostdeutschen gar nicht geläufige – erste Strophe der DDR-Hymne. Ein Redner ruft am 18. November in Leipzig in die Mikrophone: »Seht euch wieder mal den Text der National­ hymne an, vor allem die erste Stro­phe« (Tetzner 1990, 54) Hinzu kommt, daß die Anhänger einer Wiedervereinigungs die DDR-Fahne ja gar nicht gegen eine andere aus­tauschen, sondern nur von Hammer und Zirkel »befreien« mussten. Diese symbolsprachliche Kontinuität war also geeignet, den Vorwurf oder den Selbstvorwurf der »Fahnen­flucht« zu dementieren und die Vereinigungsforderung lediglich als eine Neudeu­tung der Werte darzustellen, auf welche die Gemein­schafts­rituale von gestern verpflich­tet hatten.7 Damit ist nun die zweite Phase des ostdeutschen Umbruchs eingeläutet:8 Die Zielstel­lung »deutsche Vereinigung« siegt über die Idee eines sozialistischen Reformpro­jekts, wobei die Parole »Wir sind ein Volk« sich als durchaus naheliegende Weiterent­wicklung der Lo­sung »Wir sind das Volk« präsentiert (die ihrerseits an den »volksdemokratischen« SED-Diskurs angeknüpft hatte) und damit die Wende der Wende abfedern hilft. Nun erst findet ein massen­hafter Abschied nicht nur von den Zeichen des DDR-Sozialismus, sondern auch von der Symbolkultur der Arbeiterbe­wegung insgesamt statt. Aber dieser Ab­schied ist keines­wegs total, und es lassen sich für die Splitter des geborstenen Symbol- und Ritual­ zusam­menhangs unterschiedliche Grade des Überlebens und der teilweisen Revitalisierung aus­machen. Das sei an zwei Beispielen verdeutlicht: am schon erwähnten Em­blem der Bruder­­hände und an der roten Fahne. Das Leitzeichen des »Sozialismus in den Farben der DDR«, die ineinander verschlungenen Hände, erweist sich als derart desavouiert, daß die SED-Nachfolgerin PDS es bereits im Januar 1990 aufgibt;9 Ho­necker äußert später auf die Intervie­wer­f rage nach für ihn »besonders schlimmen Momenten« während der Wende: »Ein ganz besonders schlimmer Moment war für mich die Entfer­nung des Partei­abzei­chens vom Haus des Zentralko­mi­tees und die Tatsache, dass der Vorsitzen­de der Partei, Gysi, dabei­stand und sich auch noch belustigte über die Abnahme dieses Abzei­chens« (Andert/Herzberg 1990, 39). Im April trennt sich auch der FDGB, der ebenfalls unter den Brüderhänden firmiert hatte, von seinem Emblem. Zwar gibt es hier interpretative Rettungsversuche, doch der Hinweis, dass das Zeichen, das ein Foto des Hände­drucks zwischen Pieck (KPD) und Grotewohl (SPD) anno 1946 stili­siert,

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beim FDGB »doch mehr die Idee der Einheitsge­werkschaft, die Solidari­tät der Arbeiter« (Kallabis 1990, 231) gemeint habe, wird nicht gehört. Der aus der Arbeiter­verbrüde­rung von 1848 stammende Hände­druck, eines der ältesten Embleme der deutschen Arbeiterbe­ wegung, vermag sich nicht mehr von der Assoziation »SED« zu befreien.10 Ganz anders vollzieht sich der Wandel bei der roten Fahne und der roten Farbe, deren Bedeutung ja aus zwei Gründen nicht so eindeutig ist wie die der Wahrzeichen von SED und FDGB sowie FDJ und DDR: Zum einen ist das Rot anders als die genannten Em­bleme kein für das Signifikat »Sozialismus« herge­stellter oder reservierter Signifikant, zum andern steht es in seinem politi­schen Gebrauch nicht nur für DDR-Sozialismus, sondern für alle Richtungen der Arbeiterbewegung bis hin zu Sozialdemokra­tie. Diese doppelte Unbestimmt­ heit ist die strukturelle Basis dafür, dass sich in Ostdeutschland seit 1990 recht verschiedene Umgangs­weisen mit dem politischen Rot herausbildeten. Vor allem in der Phase der empörten Abwendung vom SED-Sozialis­mus und des hoffnungsfrohen Wartens auf den westdeutschen Kapitalismus wirkt sich diese Unbestimmtheit häufig so aus, dass auch in das Rot von SPD-Flugblättern das Signet »SED« quasi als unsichtbare Inschrift hineingelesen wird. In den Augen mancher Be­trachter stellen diese Flugblätter offenbar ein ähnli­ches Amalgam von SPD und PDS dar, wie es die CDU-Wahlpropaganda mit ihrer Buchstaben­schleife »SPDSPDS« mit bemerkbarer Absicht und eben deshalb womöglich mit geringerem Effekt herzustellen suchte. Der Aufbau von Gewerkschaften nach westdeutschem Muster und die zunehmende Em­pörung über Massenentlassungen verschaffen dem politischen Rot dann wieder eine etwas größere Präsenz und wahrscheinlich auch Akzeptanz. Bei den neuen Montags­demon­ stra­tionen zwischen Februar und April 1991 und bei zahlreichen Protestkund­gebung­en gegen Betriebsschließungen sind rote Fahnen und Transparente jedenfalls massiv vertreten. Zu­meist handelt es sich dabei um Fahnen der IG Metall, der ÖTV und der IG Bergbau und Energie. Ihre Träger bauen offenbar darauf, dass ihre in westdeutscher Tradition stehenden Embleme nun nicht mehr von einem mit »SED« assoziierten Rot geschluckt werden, sondern umgekehrt das diskriminierte Rot zu reinigen vermö­gen. Die sicherlich differenzierten bis widersprüchlichen Gefühle, die das für Ostdeutsche ja zweifellos merkwürdige Phänomen einer aus dem Westen importierten Arbeitersymbolik hervorrufen dürfte, sind freilich bisher nicht näher untersucht worden. Aber nicht nur das durch Aufschriften definierte und durch Gewerkschaftszeichen gebändigte, auch das blanke, emblem- und textlose Rot spielt in der Ex-DDR eine Rolle; quantitativ ist sie sicher unbedeutend, qualitativ aber durchaus interessant. Dies sprachlos-sprechende Rot findet sich an besetzten Häusern ebenso wie in Blocks von Jugendlichen bei Demonstrationen; öfters werden Laternen, Bäume, Denkmäler von anonymer Hand rot deko­riert, zum 1. Mai 1990 beflaggten Kletterkünstler gar den Erfurter Dom mit roten Fahnen (vgl. Thüringer Tageblatt, 2. 5. 1990) – wobei übrigens zu fragen wäre, wie weit die Akteure und ihre Sympathisanten dabei die Tradition solcher »partisa­nenhaften« Fahnenhissung­en in der Zeit des Sozialistenge­set­zes und des Faschismus assoziieren und die Metasymbo­lik

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dieser Handlungen dann gar lautet, dereinst seien die heutigen Sozia­listengegner ebenso überwunden wie die früheren. Verärgerte Bürger schreiben solche Aktionen gerne der PDS zu, was sicher häufig – aber nachweislich nicht immer – zutrifft; die Pointe dieser Symbolhand­lungen ist aber ja gerade, dass sie sich auch da, wo sie von Parteiseite herrüh­ren, nicht als parteigebun­den offenbaren. Bei der Leipziger Maikundgebung 1992 störten Jugendliche den Redner Bieden­ kopf mit einem Sprechchor. Er lautete nicht: »Wir wollen PDS!« und ebenso wenig: »Wir wollen unsere DDR wiederhaben!«, sondern einfach: »Wir wollen Rot!« (Berliner Zeitung, 2./3. 5. 1992). Das nackte Rot setzt an die Stelle des Bekenntnisses zu einem desavouierten System und einem desavouier­ten Parteiprogramm das Bekenntnis zu einer nicht genau fassbaren Oppositionsbewegung.11 Man könnte sagen, dass das Rot hier auch im inhaltlichen Sinn postsoziali­stisch wird, indem es nicht mehr für bestimmte Negation steht, sondern für freie Differenz.12 Wobei es übrigens interessant ist, dass bei der politischen Gegenseite auf der Sprachebene eine ähnliche Bedeutungsausdehnung des Roten stattgefunden hat: Die seit 1990 populäre Beschimpfungsformel »Du rote Socke« nämlich wird im Alltag nicht nur auf EX-SEDler, sondern auf »Stören­f riede« aller Art angewandt, auf Grüne, auf Gegner der deutschen Vereinigung und Unzufriedene überhaupt. Vor noch weit schwierigere Dekodierungsfragen stellt eine andere öffentliche Rotverwendung, auf die ich zuerst bei der diesjähri­gen Maifeier in Potsdam aufmerksam wurde. Von den dortigen Kundgebungsteilnehmern, die unter der blauen Fahne des DGB versammelt waren, trugen viele und meinem Eindruck nach ungewöhn­lich viele Personen irgendein rotes Kleidungsstück: rote Schuhe, rote Hosen, Röcke, Blusen, Hemden, Mäntel, Mützen. Die Situation war von schönster Zweideutigkeit: Fand hier eine offene und doch verdeckte Gesinnungskundgabe statt? Oder projizierte hier nur ein durchgedrehter Symbolfor­scher seine Phantasien auf harmlose Frühjahrsmode? Meine schüchter­nen Befra­gungsversuche vor Ort führten nicht weiter, ein Brief an den Potsdamer DGB, der auf eine andere Anfrage bereitwillig geant­wortet hatte, blieb ohne Reaktion. Kultur­wissenschaftliche KollegInnen aus Berlin wiesen darauf hin, daß Rot in diesem Jahr tatsäch­lich eine Modefarbe gewesen sei. Doch als ich bereits resignie­ren wollte, stieß ich auf eine dem sozialistischen Spektrum zugehörige Ostberlinerin. Sie versi­cher­te sich zunächst, ob ich in redlicher Absicht recher­ chiere, und offenbar­te mir dann: Gewiss, sie habe sich einen roten Schal, einen roten Pullover, rote Handschuhe und rote Socken ange­schafft, und sie trage solche Kleidungs­stücke z. B. bei Treffen von Bürgerinitiativen, bei Kundgebun­gen und ähnlichen öffentli­chen Anlässen. Rote Socken seien zwar schwer zu bekommen bzw. meistens teuer, doch kenne sie eine Rentnerin, welche sich aufs Stricken solcher Socken verlegt habe und die recht rege Nachfrage danach zu befriedigen suche. Weitere Nachforschungen und Informationen bestätigten und ergänzten das hier Berichtete. PDS-Abgeordnete, so war zu erfahren, hätten bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagssitzung am 3. Oktober 1990 bewußt etwas Rotes angezogen; aus einem »Zug der Widerspensti­gen«, der am 1. Mai 1992 zur DGB-Kundgebung im Berliner Lustgar­ten marschierte, leuchteten neben roten Fahnen auch rote Socken hervor; und bei der Gegen-

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kundgebung gegen die offiziellen Einheitsfeier in Schwerin am 3. Oktober 1992 waren rote Kleidungsstücke ebenfalls Mode. Damit ist nun zwar geklärt, daß die rote Fahne tatsächlich im alltagskul­turellen Rot zu überleben sucht; zum Sinn dieser Symbolpraxis gehört es aber auch, dass nach wie vor unklar bleibt, wieviele von den Potsdamer Kundgebungsteil­ nehmern denn nun dieses Spiel mitspiel­ten und wieviele unpoli­tische Jacken und Hüte von den politi­schen Rotträgern unge­f ragt ins Zwielicht gezogen wurden. Die bisherigen Beobachtungen zum Gebrauchs- und Bedeutungswan­del haben sich auf solche Aspekte konzentriert, die mit der spezifi­schen Unbestimmtheit und d. h. Kontextbestimmtheit von Symbolspra­che zusammenhingen. Im Folgenden soll nach Verände­rungen auf einer anderen semantischen Ebene, nämlich bei der kultischen Qualität der sozialistischen Symbolik gefragt werden. Die Frage nach dem Kultwert eines Zeichens oder Rituals meint dabei einmal den Grad und die Qualität ihrer affektiven Besetzung, zum andern den Sakralitätsgrad von Handlungen, mit denen die Aneig­nung dieses Symbolgehalts vollzogen wird. In dieser Frage der Sakralität ist, so scheint mir, die Entwick­lung widersprüchlich, wobei sich diese Divergenz teilweise, aber keineswegs aus­schließ­lich auf verschiedene Trägergruppen zurückführen läßt; zum Teil geht sie durch die Individuen selbst. Zum einen gibt es unzweifelhaft Tendenzen der Entritualisie­rung. Diese zeigen sich z. B. bei den nach 1989 nicht nur auf zum Teil ganz geringe Teilnehmerzahlen geschrumpften, sondern natürlich auch in ihren Formen veränderten Maifeiern in Ostdeutschland. »Spa­ zier­gän­g­ergang statt Gleich­schritt«, überschreibt die Gothaer Allge­meine ihren Maifeierbe­ richt vom 2. 5. 1990, nachdem erstmals der Vorbeimarsch vor der Ehrentribüne entfallen ist. Das Maizeremo­niell informalisiert und pluralisiert sich. Diese Entwicklung – sie hat übrigens ebenfalls schon vor 1989 eingesetzt13 – betrifft sogar das im Westen noch übliche gemeinsa­me Singen der Gewerkschafts­hymne: Im Berliner Lustgarten muß die Kapelle 1992 gleich zweimal »Brüder, zur Sonne, zur Frei­heit« intonie­ren, bis wenigstens einige der Anwesenden ins alte Pathos mitein­stimmen (vgl. Tagesspiegel und Berliner Zeitung, 2. 5. 1990). Auf der kleinen Potsdamer Maifeier wird auf dies Ritual von vornherein verzich­ tet. Zu ihrer musikali­schen Umrahmung gehören neben einem westdeutschen SPD-Chor, der unter anderem Frühlings­lieder singt, Blasmusikmärsche und Schlager. Die Maifeier wird hier überdies dadurch zum »Volksfest« und zum informellen Treff­punkt, als neben den Ständen der Gewerkschaf­ten Imbißbuden und Brauereibänke das Bild prägen und die Feiertags- und Kampfreden nicht mehr stehend und horchend, sondern auch im Sitzen und nebenher entgegengenommen werden. Das diskursive Pendant dazu liefert die Mairede eines jungen Betriebsrats, der die Zuhörenden nicht als Kollektiv, sondern als »viele einzelne Leute« mit »unter­schiedli­cher Grundlage und unter­schiedlicher Herkunft« anspricht und analog dazu gewerkschaftliche Aktio­nen als das »Bündeln von unter­schiedlichsten Interessen« bezeich­net.14 Entritualisierung und Enthieratisierung sozialistischer Symbo­lik sind dabei nicht nur bei den Gewerkschaften und d. h. sozialde­mokratisch dominierten Organisationen zu konstatieren. Hinzuwei­sen ist z. B. auf den Wahlkampfstil der PDS, die sich mit Sprüchen wie »Don’t worry, take Gysi« inhaltlich und formal der Lockerheit der Werbesprache öffnete

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oder mit der Reposte »Lieber rote Socken als kalte Füße« das sozialistische Erbgut entpa­ the­ti­sieren half. Auch jugendkulturelle Prägungen sind hier zu nennen, wie sie etwa der in Berlin und Potsdam öfters vorzufindende Sprühschriftzug »Red Sox« dar­stellt, der die »roten Socken« und den Namen einer bekannten Baseballmannschaft (der »Boston Red Sox«), also popkultu­relle Amerika­nisie­rung und sozialisti­sche Symboltraditi­on miteinander ver­schleift. Gesprüht wird das Red-Sox-Zeichen zumindest unter anderem von antifa­ schistischen Jugendgruppen. Von einer anderen Form der Weiterexi­stenz sozialistischen Erbes berichtete ein Jenenser Leser­briefschreiber in der Wochenpost vom 20. August 1992: »Vor der Wende«, schreibt er über seinen Freun­deskreis, »wäre es uns nicht in den Sinn gekommen, die ›roten Lieder‹ anzustim­men. Doch jetzt ist es schon pas­siert, daß wir Arbeiterlieder, nicht inbrünstig, eher mit leichter Ironie vorgetragen haben.« Wie häufig solche Fälle sind, muss dahingestellt bleiben; jedenfalls belegen sie die Existenz einer Tendenz zur, mit Gottfried Korff zu reden, »lu­dischen« Weiterverwendung linker Symbo­lik, wobei es in diesen Fällen allerdings nicht zutrifft, dass diese damit »ihre politi­sche Bedeutsamkeit abgestreift« hätte (vgl. Korff 1990, 19); vielmehr werden hier neue, nichtautoritäre, individuell und alltagskul­turell verflüs­sigte Umgangsweisen mit politischen Identifika­tionen deutlich. Zu verzeichnen ist aber, wie gesagt, auch eine gegenläufige oder besser gesagt reaktive Tendenz: die Fortfüh­rung und teilweise auch die Steigerung sakraler Elemente in der soziali­ stischen Symboltradition. Das spektakulärste Ritual ist hierbei wohl der »Gang zu Karl und Rosa«, der Besuch des sozialisti­schen Ehren­f riedhofs in Friedrichsfelde an dem Januarsonntag, der dem Todestag von Liebknecht und Luxemburg am nächsten liegt. Die Zahl der Friedhofsgänger ist bis heute hoch. Am 12. Januar 1992 waren es zwischen 50 000 und 100 000.15 Der Kontext Friedhof und Totenehrung gibt dem Treuebekenntnis zur sozialisti­ schen Tradition Tendenzschutz: In keinem Raum-Zeit-Rahmen entfaltet sich sozialistische und auch explizit kommunistische Symbolik in der Ex-DDR so ungehindert wie hier, wo rote Fahnen, DDR-Fahnen, FDJ-Fahnen und Faustgruß durch ihre Nachbarschaft zu Gräbern, Grabblumen, Kerzen und Trauermusik konsekriert werden. Es lässt sich allerdings nicht einfach sagen, dass dabei in einer quasi exterritorialen Nische weiterhin DDR gespielt werde. Während man bei den Liebknecht- und Luxemburgfeiern vor 1990 vor der Parteiführung zu defilieren hatte, die zwar – anders als am 1. Mai – an der Spitze des Demonstrationszuges nach Fried­richsfelde mitgelaufen war, bei Ankunft der Massen aber ihre Plätze auf einem Podest vor dem Mahnmal eingenom­men hatte, hat sich das Ritual nun verän­dert. Der Grabbesuch geht ohne zentrale Organisation und auch ohne Ansprachen vor sich, die Besucher und Besucherinnen treten nun öfter selbst an die Gräber und legen dort – was früher ebenfalls möglich, aber offenbar weniger verbrei­tet war – rote Nelken oder rote Rosen ab.16 Die kultische Bedeutung der Zeremonie ist komplex: Sie enthält, häufig verbalisiert im Liebknecht-Zitat »Trotz alledem«, den Treue­schwur im Angesicht der Toten, und bei manchen wahrscheinlich die Bitte um Vergebung für die frühere Abweichung vom Luxemburgschen Vermächtnis; sie bekräftigt sicherlich den Glauben, daß der Sozia­lismus, so wie er die Ermordung seiner Vorkämpfer Liebknecht und Luxemburg überlebt hat, ebenso das schmachvolle Ende der SED und der DDR überleben werde;

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und sie besitzt die latent magische Kompo­nente des »Kraft Schöpfens« am Grab, wie die Berliner Zeitung – damals noch staatsparteilich – das im Januar 1990 formu­liert, also die Vorstellung einer Belebung durch den Geist der Toten (vgl. Berliner Zeitung, 15. 1. 1990). In dieses Bedeutungs­feld gehört möglicherweise auch der wiederholte Hinweis des Neuen Deutsch­land vom Januar 1992, dass diesmal so viele junge Familien mit ihren Kindern an den Gräbern gewesen seien. Die Beschreibung einer »Mutter mit der roten Fahne und ihrem Baby vor dem Bauch«, die ans Luxemburg­sche Grab getreten sei (Neues Deutschland, 13. 1. 1992), könnte dann als die Imagination einer Taufe interpretiert werden. Eine anderes Beispiel für kultische Überhöhung bieten die Vorgänge um den Abriss des Lenindenkmals in Berlin-Friedrichs­hain. Von Befürwortern wie Gegnern des Denkmalabrisses wird die rote Granitstatue oft bewusst oder unbewusst mit Lenin selbst gleich­gesetzt, sein Abriss entweder als Hinrichtung des »Despoten und Mörders Lenin« (Eberhard Diepgen) oder als feige Mordtat imaginiert. Den Denkmalsanhängern wird der Bauzaun um die zum Abriss bestimmte Statue zur Mur des Féderés: Trauerflor wird befestigt, Blumen werden niederge­legt, man entzündet Kerzen und läßt Trauermusik ertönen. Das Neue Deutschland nennt den Abriss »Leichenfledde­rei« (Neues Deutschland, 22. 11. 1991), die Zeitung Berliner Linke (Nr. 47, 11/1991) spricht vom »Abschiednehmen von einem Mann, den der Senat auf seine Weise zu köpfen versucht hat«. Am 12. Januar 1992 verbindet sich das Trauerritual um das inzwischen abgebaute Lenindenkmal mit dem Totengedenken für Luxemburg und Lieb­knecht: Ein mehrere tausend Teilnehmer zählender Zug folgt einem Karren, auf dem Teile des Denkmals liegen, quer durch Berlin zum Friedhof Friedrichsfelde, wo die Steine dann auf die Gräber von Luxemburg und Liebknecht gelegt werden. Mitunter kommt die Sakralisierung dabei sogar einer Christiani­sierung der sozialistischen Symbolik nahe. Eine Anlehnung an religiöse Rituale gab es zwar schon im DDR-Sozialismus: Man denke an die Ersatzkonfirmation Jugendwei­he17 oder an die Großpor­träts von Parteiführern, die bei Aufmär­schen mitgeführt wurden und den Spitznamen »Ikonen« ganz zu Recht trugen, weil es sich tatsächlich um stalinistische, in den 30er Jahren aufgekom­ mene Anleihen bei der russisch-orthodoxen Prozessions­kultur handel­te (vgl. Rytlewski/ Kraa 1987, 31). Was nun zu beobachten ist, geht aber einen entschei­denden Schritt weiter bzw. zurück: Christliche Glau­bens- und Ritualmo­mente werden nun nicht mehr einer atheisti­schen Gegenkul­tur einge­pflanzt, sondern positiv zitiert und als Vor- oder Eben­bilder des Sozialismus dargestellt. Das zeigt sich implizit z. B. im Gebrauch von Kerzen bei den Protestkund­gebungen, die offenbar an die wichtige Rolle dieses Symbols im Herbst 1989 anknüpfen wollen, und es wird explizit in Zuschrif­ten und Gedichten deut­lich, die an den Bauzaun am Lenindenkmal geheftet werden. Da heißt es etwa: »Wie war’s mit der Kirche Gethsemane? Aus Ohnmacht und Zorn wuchs der Widerstand!«; und die Abrissbefür­ worter werden in Sätzen wie »Die Barbaren nennen sich christ­lich« oder »So träumten vom Ende der Christenheit­/Die römischen Imperatoren« mit Unchristen oder Christenverfol­ gern gleichge­setzt.18 Seit das Denkmal entfernt ist, ist auf den leeren Sockel ein Bibelspruch gesprüht: »Und die Erde war wüst und leer.«

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Die Botschaft dieses Zitats aus dem Anfang der Schöpfungsge­schichte ist doppelt: Sie verbindet die Trauer über einen Verlust mit dem Glauben an einen Neubeginn. Im gleichen Sinn verkündet ein Pfarrer zu Beginn der Abrissarbeiten am Leninplatz die »Gewissheit«, dass die Vision einer gerechten und friedlichen Weltgesellschaft, die älter als Lenin, Engels und Marx sei, eines Tages realisiert werde.19 Es gibt auch Anzeichen, wenngleich keine eindeutigen Belege dafür, dass bei diesem Rückweg von der sozialistischen Wissenschaft zur Utopie auch unbewusste Anleihen beim Auferstehungsglauben mitspielen. So etwa, wenn am Fried­richsfelder Grab eine Tafel mit Luxemburg­s auf die sozialistische Revolution bezogenem Satz »Ich war, ich bin, ich werde sein« niedergelegt und zu Formulie­rungen wie »Karl und Rosa leben in unserem Wort« (Neues Deutschland, 14. 1. 1990) gegriffen wird; oder wenn die Stelle, wo das Lenindenkmal stand, zu Ostern 1992 mit einem Leninbild und einem Frühlings­strauß geschmückt wird. Nun sind sakrale Formen, wie gesagt, nur die eine und sicher die schwächere Linie der post­­­sozialistischen Symbolik. Deshalb sei zum Schluß noch auf eine andere, säkulare Form von Auferstehungs­metaphorik hingewiesen. Als im Sommer 1992 die Komitees für Gerechtig­keit gegründet wurden, sagte eines der Gründungs­mitglieder: »Es geht wieder ein Gespenst um in Deutschland« (Neue Zeit, 20. 7. 1992). Nach dem Untergang der »realso­zialistischen« Gesellschaften in Europa muß der Rückgriff auf den Einleitungssatz des »Kommuni­stischen Mani­fest« freilich mit einer von Marx und Engels nicht gemeinten Bedeutung von »Gespenst« rechnen, die Gegnern der ostdeutschen Komiteebewegung denn auch nicht entgangen war: Reinhard Mohr nannte die Komitees einen »Verein der Wiedergän­ger« (taz, 14. 7. 1992). Welche Bedeutung der Metapher vom Gespenst des Kommunismus oder Sozialismus tatsächlich zukommt, ob die eines Untoten oder Lebendigen, wird ein sehr weit zu fassender Symbolkontext, nämlich die Geschichte entscheiden. Und dies wohl nicht mehr in dem Zeitraum, in dem diese Geschichte von der Kommission »Arbeiterkultur« der DGV wissenschaftlich begleitet wird. Anmerkungen 1 Vgl. dazu insbesondere Korff (1990, 130‑158). 2 Das begann natürlich nicht erst in der Wendezeit: Formen des Veralberns, Verfrem­dens, Konterns usw. der offiziellen Staats­symbolik begleiten die DDR-Geschich­te seit ihren Anfängen; seit Mitte der 80er Jahre werden diese – bisher kaum untersuchten – Symbolkämpfe aber massierter, öffentlicher und in ihrer Tendenz eindeutiger oppositionell. 3 Diese Akzentuierung der spezifischen Kommuni­kations­lei­stungen von Symbolsprache impliziert die Kritik solcher »substan­tiali­sti­scher« Auffassungen, die das vielfache Benutzen symbo­lischer Formen u. a. auch bei den DDR-Demonstrationen von 1989 weniger als die Wahl eines situations­adäquaten Mediums denn als Aus­druck restrin­gierter Sprach- bzw. Argumentationsfä­higkeit oder vor- bzw. irra­ tiona­ler Einstellun­gen interpretie­ren. V­g­l. hierzu K­o­r­f­f (1991, v. a. 18‑22), sowie Korff (1990, 131). 4 Für kritische und ergänz­ende Hinweise zur Vortragsfassung dieses Beitrags danke ich insbesondere Irene Döl­ling, Dietrich Mühl­berg, Eggo Müller, Heike Müns und Dieter Strützel.

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5 Die Transparenttexte der Berliner Demonstration vom 4. 11. 1989 sind dokumentiert in Hahn u. a. (1989). 6 So die Berlinerin Alexandra K. in Behr (1990, 60). 7 Man vgl. hierzu auch das u. a. durch einen BILD-Aufmacher bekannt gewordene Tran­sparent auf der Leipzi­ger Mon­tags­demon­stration von 27. 11. 1989, das Adler- und DDR-Emblem auf schwarz­rotgol­ denem Grund verei­nigt und die Auf­schrift trägt: »dass die Sonne schön wie nie über Deutschland scheint« (BILD, 29. 11. 1989). – Nur ge­streift werden kann hier die Frage, inwie­weit soziali­stische Sym­ bol­tradi­tio­nen in der nationa­len Wende des DDR-Umbruchs auch subkutan enthal­ten sind. So erinnert bei den späten Leipzi­ger Montagsde­mon­strationen das Fahnenmeer aus Bundesflag­gen – ein in West­deutschland ungewohn­tes Bild – an die Auf­marsch- und Einheits­ri­tuale der SED-Zeit. Und es ist vielleicht nicht abwegig, Transparenttexten wie dem am 14. 3. 1990 in Leipzig gezeigten »Helmut, nimm uns an die Hand­, zeig uns den Weg ins Wir­tschaftswunderland« eine Affini­tät zu den emphati­ schen Zu­kunftserwartungen und dem überstei­gerten Ver­trauen in die Parteiführung zuzuspre­chen, wie sie aus der sozialistischen Tradition bekannt sind. Das »Helmut«-Transpa­rent ist u. a. zitiert in Kuhn (1991, 127). 8 Es ist nicht möglich und auch nicht sinnvoll, hier einen Überblick über die Gesamtentwicklung zwischen 1990 und heute zu geben; es können lediglich einige mir wesentlich erscheinende Muster des Symbolwandels in diesem Zeitraum dargestellt werden. 9 Auch dieser Sturz erfolgte nur äußerlich abrupt: Schon lange vor der Wende war im DDR-Volksmund für das Händedrucksymbol die Lesart »Eine Hand wäscht die andere« verbreitet. 10 Auch beim DDR-Emblem findet sich 1990 der Versuch einer aller­dings eher kuriosen Reinter­pre­ tation: Als der DSU-Abgeord­nete Koch im Mai 1990 in der Volkskammer die Entfernung des DDRStaatswap­pens von öffentlichen Gebäuden beantragt, identi­fiziert er zwar Hammer, Sichel und Ähren­ kranz als Symbol des sozialistischen Bündnisses von Arbeitern und Bauern, fügt aber – offenbar in der Absicht, die eigene DDR-Vergangenheit zu entlasten – hinzu, dass die Ähren »auch, Gott sei Dank, als Symbol für die Wiedergeburt gelten, vornehm­lich Marias«, und der Hammer schon »bei Kelten und Slawen (…) als Rechts­symbol« verwendet worden sei (vgl. Keller/Scholz 1990, 140). 11 Auch diese Entwicklung setzte nicht erst 1989 ein. So erzähl­te mir eine Ostberlinerin, in ihrem Bekann­ten­kreis habe man schon seit Jahren am 1. Mai bewußt nicht die DDR-Fahne, sondern die als weniger obrigkeit­streu empfunde­ne rote Fahne zum Fenster herausgehängt. Und Hutzler­/Schönbe­ rger erfuhren bei ihren Recherchen zur Geschichte des 1. Mai in Jena, dass bis Mitte der 80er Jahre bei der Fahnenverga­be an die Lehrlinge eines Zeisswerks zuerst die Republikfahnen, dann die der FDJ und zuletzt die roten Fahnen »weggingen«; in den Jahren darauf habe sich die Reihenfolge umgekehrt (vgl. Hutzl­er­/Schönber­ger 1992, 155). Wobei hinzuzufügen ist, dass das Zeigen der DDR-Fahne seit der deutschen Vereini­gung ebenfalls eine offenere Bedeutung gewonnen hat: Es steht z. T. nicht mehr für die Treue zu einem Staatswesen, sondern zur eigenen Vergangenheit in der DDR. 12 Wie irritierend ein solcher Rotgebrauch wirken kann, hat Miguel Rodríguez für Frankreich gezeigt, wo die Polizei das blanke Rot zeitweise als bedrohlicher einstufte und stärker sanktionierte als das beschriftete, dem Absender und/oder Absichten zu entnehmen waren und das daher weniger menetekel­haft wirkte (vgl. Rodríguez 1991, 174). 13 Bereits Man­f red Hofmann (1986) und Birgit Sauer (1989) stellten einen gewissen Wandel von der Festsymbolik der Arbeiterbewegung hin zu volks­kulturellen Festformen fest. Der Ritualkern, der Vor­ bei­marsch an der Parteifüh­rung, bestand dabei zwar weiter, doch wurde er, wie mir Zeitzeugen berichteten, in den Jahren vor der Wende zuneh­mend gemieden oder dadurch ein wenig ins »Zivilge­sell­ schaftliche« transfor­miert, dass viele sich auf Höhe der Tribüne bewußt locker gaben, sich mit ihren

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Beglei­tern unter­hielten oder zu ihren Kindern hinunterbeug­ten, anstatt Haltung einzu­nehmen und der Prominenz zuzuwinken. Vgl. auch Hutzler/Schö­nberger (1992, 157). 14 Der Redner führte u. a. aus: »Ich freue mich darüber, dass es im Gegensatz zu vielen damaligen politi­ schen Sachen in der DDR, die von oben ver­ordnet wurden, in der Gewerkschaft so ist, dass hier wirklich eine breite Basis ist und daß ich mich da als Kollege einbrin­gen kann, dass ich mich als Christ ein­bringen kann, dass ich mich mit Leuten, die andere Weltanschau­ungen haben, trotzdem zusam­ mensetzen kann und über unsere Möglichkei­ten, über unsere neuen Wege, über Ideen und Möglich­ keiten streiten kann, wie wir die Sache voranbringen und dass wir wirklich zusammen suchen können trotz unterschied­licher Grund­lage und unterschiedlicher Her­kunft. Mir ist die gegensei­tige Toleranz und das gegensei­tige Ergänzen, das Bündeln von unter­schiedlichsten Inter­essen unheimlich wichtig. Wir sind keine Schablonen und wir haben die verordnete Zusam­menarbeit lange genug kennengelernt« (Erdmann 1992). 15 Die Polizei sprach von mindestens 50 000, das Neue Deutsch­land von »an die 100 000« Teilnehmern. (Vgl. Tages­spie­gel und Neues Deutschland, 13. 1. 1992.) 16 Sowohl über den Ablauf wie v. a. die Bedeu­tung dieser Feier zu DDR-Zeiten äußer­ten sich die von mir Befrag­ten unter­schiedlich. Einige erinnerten die DDR-Form der Feier als Akklama­tionsri­tual, andere schätzten sie als eher »volks­tüm­lich« und latent SED-kritisch ein – unter anderem, da die DDRFührung mit Rosa Luxemburg nie ganz ins Reine gekommen sei. 17 Die nach wie vor große Beliebtheit der Jugendweihe wäre eine eigene Untersuchung wert. Laut Berliner Zeitung vom 31. 10. 1992 hatten sich bis dahin schon 4 580, d. h. fast ein Drittel der 13-bis 14jährigen aus dem Ostteil Berlins zur Jugendweihe 1993 angemel­det; das waren 1 500 Bewerbungen mehr als zum selben Zeitpunkt des Vorjahres. 18 Vgl. die Broschüre Bürgerinitiative Lenindenkmal = Demokra­tie in Aktion, Berlin 1992, S. 7. 19 Ebd., S. 21.

Literatur Andert, Reinhold/Wolfgang Herzberg (1990): Der Sturz. Erich Honecker im Kreuzverhör. Berlin, Wei­ mar. Behr, Vera-Maria (Hg.) (1990): Wir denken erst seit Gorbatschow. Protokolle von Jugendlichen aus der DDR. Recklinghausen. Erdmann, Thomas (1992): Rede zum 1. Mai 1992. Unveröff. Ms. Hahn, Annegret u. a. ( Hg.) (1989): 4–11–89. Pro­testdemonstration Berlin DDR. Berlin. Hofmann, Manfred (1986): Vom Schwung der Massenfeste. Teil I in: Kultur und Freizeit, 11/1986, 22‑25; Teil II ebd. 12/1986, 27 f.) Hutzler, Margot­/Schönber­ger, Klaus (1992): Demon­strati­ons­kultur im Rückblick: Der 1. Mai in Jena. In: Gerd Meyer/Gerhard Rieger/Dieter Strützel (Hg.): Lebensweise und gesell­schaftlicher Umbruch in Ostdeutsch­land. Erlangen, J­ena, 145‑168. Kallabis, Heinz (1990): Ade, DDR! Tagebuchblätter. Berlin. Keller, Dietmar/Joachim Scholz (Hg.) (1990): Volkskammerspiele. Eine Dokumenta­tion aus der Arbeit des letzten Parlaments der DDR. Berlin. Korff, Gottfried (1990): Rote Fahnen und Bananen. Notizen zur politischen Symbo­lik im Prozeß der Verei­nigung von DDR und BRD. In: Schwei­zeri­sches Archiv für Volks­kunde, 86. Jg., 130‑158.

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Korff, G­o­t­t­f ­r­i­ed (1991): Symbolgeschichte als Sozial­geschich­te? Zehn vorläufige Notizen zu den Bildund Zeichensy­stemen sozialer Bewegungen in Deutschland. In: Bernd Jürgen Warneken (Hg.): Mas­ senmedium Straße. Zur Kulturgeschichte der Demonstrati­on. Frankfurt am Main/New York, 17‑37. Kuhn, Ekkehard (1991): Einigkeit und Recht und Freiheit. Die nationa­len Symbole der Deutschen. Ber­ lin. Niethammer, Lutz (1990): Das Volk der DDR und die Revolution. In: Charles Schüddekopf (Hg.): »Wir sind das Volk!« Flugschriften, Aufrufe und Texte einer deutschen Revolution. Reinbek, 251‑279. Rodríguez, Miguel (1991): »Ein Zeichen ge­nügt.« Symbole des Ersten Mai in Frankreich 1890 bis 1940. In: Bernd Jürgen Warneken (Hg.): Massenmedium Straße. Frankfurt am Main/New York, S. 168‑181. Rüddenklau, Wolfgang (1992): Störenfriede. DDR-Opposition 1986–1989. Berlin. Rytlewski, Ralf/Kraa, Detlev (1987): Politische Rituale in der UdSSR und der DDR. In: Aus Politik und Zeitgeschehen. Beilage zu Das Parlament, B 3/87, 17. 1. 1987, 33‑48. Sarcinelli, Ulrich (1992): »Staatsrepräsentationen« als Problem politischer Alltagskommunikation: Poli­ tische Symbolik und symbolische Politik. In: Jörg-Dieter Gauger/Justin Stagl (Hg.): Staatsrepräsentation. Ber­lin, 159‑174. Sauer, Birgit (1989): Volksfeste in der DDR. Zum Verhältnis von Volkskul­tur und Arbeiterkultur. In: Der Bürger im Staat, 39. Jg., H. 3, 213‑217. Tetzner, Rainer (1990): Leipziger Ring. Aufzeichnungen eines Mon­tagsdemonstranten. Frankfurt am Main. Voigt, Andreas (1989): Gespräch mit Wehrpflichtigen der 5. VP-Bereitschaft Leipzig. In: Oktober 1989. Wider den Schlaf der Vernunft. Leipzig, 74‑82.

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Am 21. Januar 1946 ereignet sich am Tübinger Uhland-Gymnasium ein Zwischenfall. Als Vertreter der französischen Besatzungsmacht die Schule besuchen, schallt ihnen ein Pfeifkonzert entgegen. Die französischen Behörden verlangen eine Untersuchung des Vorfalls, welche die Schulleitung auch alsbald durchführt. Doch deren Ergebnisse, in einem vierseitigen Rapport vom 26. Januar 1946 zusammengefasst, sind nicht sehr habhaft. Schüler der Klassen eins bis fünf, so wird berichtet, hätten nach längeren Ferien in den Gängen auf ihre Stundenpläne gewartet. Dabei sei es zu »Balgereien und Ringkämpfen« gekommen, begleitet von »anfeuernden Rufen und Pfiffen (…), und zwar wurde, wie einwandfrei festgestellt ist und von den Schülern auch zugegeben wurde, vereinzelt durch die Finger gepfiffen«. Mit dem Erscheinen der französischen Besucher habe das aber noch nichts zu tun gehabt. Allerdings sei, als diese später die Schule verließen, wiederum gepfiffen worden. Die Schüler bestritten jedoch eine »demonstrative Absicht, ohne indes einen plausiblen Grund angeben zu können«. So bleibe zwar »der dringende Verdacht, dass hier tatsächlich eine kleine Gruppe zuchtlos genug war, eine jungenhaft ungezogene Demonstration zu versuchen«, doch letztlich stehe keineswegs fest, ob diese »Äußerungen von Jugendlichen (…) wirklich Ausdruck einer ›Gesinnung‹ « oder »nur Ausflüsse von Zuchtlosigkeit« gewesen seien. Und da es auch »kein Mittel [gäbe], die Feststellung der eigentlichen Hauptschuldigen zu erzwingen«, bleiben der Schulleitung als Sanktionsmaßnahmen nur kollektives Nachsitzen und kollektive Strafarbeiten. Das Tübinger Bubenstück von 1946 lässt sich als Lehrstück nehmen, das über Bedeutungen – und das heißt immer: zugeschriebene Bedeutungen – des Pfeifens als nonverbale und nonvokale, gleichwohl orale Sprache Auskunft gibt. Seine Verortung im Handlungsumfeld einer »Balgerei«, mithin in der Nachbarschaft von körperlicher Gewalt, und seine Bewertung als »zuchtlos« und »ungezogen« – wobei das Pfeifen durch die Finger als besonders erwähnens- und d. h. wohl tadelnswert gilt – stellen es zum einen in einen bestimmten kulturellen Bezugsrahmen. Das Pfeifen als unartikulierte und häufig laut ausgeübte Mund-Art gilt in der bürgerlichen Kultur als Unart, als Mangel an Zivilisiertheit. Dabei trägt die Beispielgeschichte, da an einem Gymnasium vorgefallen, auch der Tatsache Rechnung trägt, dass der Kampf gegen Unzivilisiertheit und d. h. auch gegen »unartiges« Pfeifen nicht nur als Kampf von »Elitekultur« gegen »Volkskultur«, sondern auch als innerbürgerlicher Kampf geführt wird. Zum anderen dokumentiert der Untersuchungsbericht die Irritationen, die das Pfeifen als wort- und stimmlose Sprache hervorzurufen vermag: Es kann ohne Gestaltveränderung von der »Anfeuerung« zweier Ringkämpfer zur »Demonstration« hinüberwechseln; der Inhalt einer solchen Demonstration ist dabei ebenso schwer greifbar wie die Pfeifenden selbst, die ihre Stimme nicht preisgeben, sondern sich zu einem anonymen Klangkörper vereinen. Damit ist auf spezifische Qualitäten verwiesen, die das Pfeifen

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in einem zweiten Kontext, dem von sozialer und politischer Macht, entwickeln und zugeschrieben erhalten kann, als Ohnmacht und Gegenmacht zugleich ausdrückender, als lauter, aber nicht unbedingt deutlicher Protest. In diesem Zusammenhang hilft die Gymnasiumsgeschichte auch dabei mit, einige beliebte Konnotationen von »Sozialprotest« und »politischem Protest« zu vermeiden. Sie zeigt, dass die Massen, die sich zu ihm zusammenfinden, nicht unbedingt plebejische Massen sind, und dass die durch Pfeifen symbolisierte Widerständigkeit keineswegs mit demokratischer Gesinnung und moralischer Legitimiertheit einherzugehen braucht. Damit ist das Bezugssystem benannt, in dem sich der folgende Abriss über Pfeifkultur bewegen soll: Es geht um deren Position sowohl im Spannungsfeld zwischen kultureller Legitimität und Illegitimät als auch in der Auseinandersetzung um akustische Raumbeherrschung und Kommunikationskontrolle – und nicht zuletzt um Verschränkungen dieser beiden Problemkreise. *

Pfiffe mit dem Mund können sehr verschieden erzeugt werden, und mit der Pfeiftechnik verändert sich nicht nur ihre Tonstärke und Tonqualität, sondern potentiell auch ihre Semantik. Das labiale (genauer: linguo-labiale) Pfeifen lässt sich z. B. mit gerundeten Lippen oder als Pfiff durch die Zähne, in der Mundmitte und aus einem Mundwinkel ausführen; bei der digitalen Methode kann man mit verschiedenen Fingern und Fingerstellungen, mit einem einzigen Finger, zwei Fingern derselben Hand, je einem Finger beider Hände sowie der flachen oder der gerundeten Hand operieren; zudem sind das – seltenere – ingressive, d. h. Luft einziehende, und das egressive, Luft ausstoßende, Pfeifen zu unterscheiden. Gemeinsam ist jedoch allen diesen Techniken, dass die Stimmbänder unbeteiligt und damit die individuellen und emotionalen Qualitäten der Sprech- oder der Singstimme ungenutzt bleiben. Diese Eigenart hat zur Abwertung des Pfeifens wesentlich beigetragen. Während das Singen in der bürgerlichen Tradition als »Ausdruck intensiven menschlichen Gefühls« (Klausmeier 1978, 55) gilt, als ein Offenbarungsakt, bei dem »die ganze Gemütsart des Sängers zu Tage tritt« (Netsch 1894, 56), fällt auf das stimmlose Pfeifen der Schatten der »Seelenlosigkeit«. Und es wird dabei nicht nur mit Oberflächlichkeit, d. h. fehlender Innerlichkeit, sondern sogar mit täuschender Oberfläche, mit dem bewussten Verbergen innerer Regungen assoziiert. Dass böse Menschen, die nach Seume keine Lieder haben, sehr wohl ein fröhliches Pfeifen zur Schau tragen können, ist sowohl ein kriminalliterarischer – ein Roman von Heinz G. Konsalik z. B. heißt Der pfeifende Mörder – als auch ein kriminologischer Topos. Man denke nur an die, in Hans von Hentigs Studie Der Mord wieder aufgegriffene, Geschichte des Doppelmörders Kündig, der nach gefasstem Mordentschluss trotz des Tadels, er mache ja das Vieh verrückt, beim Eggen »ein Liedchen nach dem andern« pfiff: »Das Böse hatte gesiegt« (von Hentig 1956, 214 f.).

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Über das Pfeifen

Die Stimmlosigkeit trennt das Pfeifen nicht nur von – im Bürgertum – höher bewerteten Ausdrucksformen, sie nähert es einer vor und außerhalb der menschlichen Kultur angesiedelten Lautwelt an. »Die Anleitung zu Erfindung der Pfeifen«, führt Zedlers Universal-Lexikon 1741 an, »soll Minerva von dem Gezisch der Schlangen an dem Haupte der Medusa; oder aber, wie andere wollen, Pan von dem Winde, so in ein hohles Rohr gewehet, genommen haben« (Zedler 1741, 1334). In der Tat: Im Pfeifen steckt Mimesis des elementarsten Naturgeräusches, des Windes, und der Sprache zahlreicher Tiere, vor allem natürlich des »Piepens« der Vögel. Damit hängt dann auch die Aura des Unheimlichen zusammen, mit der das Pfeifen oft umgeben wird. Zum einen resultiert sie aus der Mimikry, zu der sich das Pfeifen benutzen lässt. Das nächtlich pfeifende Murmeltier ist vielleicht ein Schmuggler, das Pfeifen im Walde kann auch vom Jäger stammen, der damit das Wild zu locken versucht. Zum andern geht es um die magische Dimension von Mimesis. Der Pfeifende, der sich an die Sprache der außermenschlichen Welt angleicht, kann damit Macht über sie gewinnen, sich aber auch an sie ausliefern. Vieles vom Reiz des Pfeifens und viele Pfeifverbote haben mit dieser Zuschreibung zu tun. Man kann, so heißt es, Schmerzen fort-, aber auch das Elend herbeipfeifen. Seeleute vermögen mit Pfeifen den fehlenden Wind herbeizuholen; weht er aber bereits, so verstärkt ihn das Pfeifen womöglich zum gefährlichen Sturm. Mit dreimaligem Pfiff kann, wer das Risiko eingehen will, Geister, ja den Teufel herbeirufen und sich dienstbar machen; doch auch der gar nicht so gemeinte Pfiff kann umherschweifende Dämonen anlocken und sie zudem, da sie sich womöglich nachgeäfft fühlen, verärgern – weshalb vom Pfeifen in der Nacht oder an bestimmten Orten, z. B. in Bergwerksschächten, immer wieder abgeraten wurde (Lewy 1931; Bächtold-Stäubli 1934/35, 1577‑1597; Ostwald 1958). Doch der Schauer, den der Pfeifton hervorzurufen vermag, ist nicht nur der vor der unzivilisierten Natur und vor archaischen Praktiken; seit der Erfindung der Dampfpfeife symbolisiert er auch die Schrecken der Zivilisation selbst. Im 19. Jahrhundert kommt zum vollen Klang der Glocken, die zur Kirche rufen, der schneidende Klang der Fabrikpfeifen, die den Arbeitsbeginn ankündigen, zum warmen Ton des Posthorns der kalte Pfiff der Lokomotiven. In seinem Standardwerk Das Telegraphen- und Signalwesen der Eisenbahnen bezeichnet Max Maria von Weber (1867, 21) die Dampfpfeife als »das recht eigentliche Stimmorgan des Eisenbahnwesens«: »Scharf, hart, von einem leblosen Apparate geschrieen, hat (der Ton der Dampfpfeife) nichts mit den Tönen gemein, die der Athem der Menschenbrust aus Instrumenten locken kann« (ebd., 115). Die Dampfpfeife als Symbol der »Seelenlosigkeit« des Maschinenzeitalters – das wirkt wohl auch auf die Interpretation des Pfeifens mit dem Munde zurück. Auch dieses, das laute wenigstens, kann nun nicht mehr nur als Unkultur, sondern auch als der rüde Genosse des mechanischen Pfiffs, dieser »Stimme des Zivilisations-Hunnentums«, etikettiert werden. *

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Trotz der Nähe des Mundpfiffs zu natürlichen und technischen Geräuschen ist es zumeist erkennbar, dass er von einer Person stammt. Von welcher jedoch, ist – siehe Tübingen 1946 – schon weniger klar. Hätte die Stuttgarter Näherin Beate Calwer bei dem Brotkrawall von 1847, über den Sabine Kienitz (1986, 83) berichtet, nur mitgepfiffen und nicht auch etwas geschrieen, so hätte die Zeugin sie später nicht mit einem »Ich kenne ihre Stimme wohl« identifizieren können. Die Nonvokalität des Pfiffs – bei einigen Pfeifarten übrigens auch seine visuelle Unauffälligkeit – anonymisiert den Macho, der aus einer Männergruppe heraus hinter einer Frau herpfeift, erlaubte aber auch jungen Frauen in Universitätsstädten den Sport, Studenten aus sicherer Entfernung mit deren Verbindungspfiff zu foppen; der Pfeifton, das kommt hier hinzu, kennt keinen Geschlechterunterschied, was sicher dazu beigetragen hat, dass Frauen das Pfeifen immer wieder untersagt wurde. Bei aggressiven, beleidigend oder anzüglich gemeinten Pfiffen kommt dem Ab­­sender aber vor allem die Nonverbalität des Pfiffs zu Hilfe. Sie lässt es in vielen Situationen offen, an wen die Botschaft nun eigentlich adressiert war; insbesondere jedoch bleibt diese selbst in vielen Fällen undeutlich oder unentschlüsselbar. Schwer festzumachen ist zum einen bereits die Art der Emotion, die ein Pfeifen ausdrückt oder, genauer gesagt, die in Pfeifen übersetzt worden ist: »The meaning of the whistle«, schreibt Ostwald (1958, 144), »cannot be definitely pinned down, so that the whistler is safe from criticism, discovery, and punishment. He can get away with expressing a whole range of feelings – hate, disdain, coolness, nonchalance, pity, and tenderness – by whistling, and who will be the wiser?« Insbesondere bleibt die gepfiffene Botschaft selbst in vielen Fällen undeutlich oder unentschlüsselbar. Das Sprichwort dazu heißt: »Manches wird besser gepfiffen als gesagt« (Wander 1873, 1260). Das gilt für geheim zu haltende Botschaften ebenso wie für aggressive Äußerungen, die in verbaler Form verpönt wären, Verspottungen zum Beispiel, von denen nur die Silbenzahl und Satzmelodie ins Pfeifen übernommen werden (bekannt ist z. B. die Sequenz c-c-a-dc-a, die für »Erwin ist ein Trottel« und Ähnliches eingesetzt werden kann). Auch wo Pfiffe allgemein gebräuchliche Konnotationen tragen, kann der Pfeifende abstreiten, diese gemeint zu haben – und damit auch durchaus die Wahrheit sagen. In gewisser Weise gilt dies auch für das Pfeifen von Liedern. Als 1976 ein Bibliotheksdirektor im Bonner Verteidigungsministerium beim Kopieren neben der Marseillaise auch die Internationale pfiff, interpretierte ein Oberstleutnant empört: »Das ist Kommunismus«. Der Bibliothekar, der als Pfeifkontext das Faktum beitragen konnte, dass er langjähriges CDU-Mitglied war, setzte demgegenüber auf die zwar unhörbare, aber einsehbare Differenz von Melodie- und Liedpfeifen: Er pfeife die Internationale nur, weil sie so »schmissig« sei (Der Stern, 14. 4. 1976). Fragt man nach sozialen und politischen Nutzungsweisen, die diese Mehr- oder Hintersinnigkeit des Pfeifens erlaubt, stellen sich bei vielen – auch beim Verfasser – Bilder von Verschwörern ein: Man denkt an den Pfiff von Schmierestehern oder Schmug­glern, die ja auch in Krimi-Titeln wie Pfiffe im Hafen (Rapp 1967) oder Der Pfiff um die Ecke (Serner o. J.) zu Schlüsselsymbolen erhoben sind, an den Verständigungspfiff von Wilderern oder auch von Partisanen: »Verschwiegene Bäume./Verschworener Wald./Und drei rote Pfiffe, drei rote Pfiffe,/Im Wald« heißt es in dem Lied über slowenische Widerstandskämpfer, das

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die österreichische Songgruppe Schmetterlinge in den 70er Jahren herausbrachte. Im Pfeifalltag diente und dient die verdeckte Semantik des Signalpfiffs natürlich weniger dramatischen Zwecken, sie braucht auch, wie oben zitierte Beispiele ja schon zeigten, gar nichts mit underdog- oder Sklavensprache zu tun zu haben: Der Familienpfiff und der Verbindungspfiff von Studenten z. B. fungieren als horizontale Abschottung einer ingroup gegenüber Außenstehenden, nicht als Abschirmung nach oben; in beiden Fällen handelt es sich um eine nichtöffentliche Verständigung in der Öffentlichkeit. Einen besonders hohen Stellenwert hat das Pfeifen jedoch unzweifelhaft als Unterschichten- und Untergebenensprache – wenn man (noch) will, als »volkskulturelle« Sprache. Der vom Meister oder Lehrer gerügte Jugendliche, der leise vor sich hin pfeifend wieder an seinen Platz geht, die »Gassenjungen«, die hinter Respektspersonen her pfeifen oder durch Pfeifsignale vor deren Ankunft warnen – das sind literarische Topoi, aber doch auch historische Realitäten. Das Pfeifen gehört zu den vielerlei Volksmund-Arten, die sich nicht in der für Kontrollinstanzen wünschenswerten Weise dingfest machen lassen: Es zählt zur unheiligen Familie des zugleich frechen und feigen »Volksgemurmels«, des Zischens, des Brummens, des Fistelns bei geschlossenem Mund, mit dem schon viele Schulklassen ihre Lehrer zur Verzweiflung brachten, und zur popularen Tradition des bewusst undeutlichen Artikulierens, das sich der – mitunter vom handgreiflichen Versuch des Herausschüttelns der Wahrheit begleiteten – Aufforderung »Nun sag’ es schon!« widersetzt. Dabei bringt es die Vieldeutigkeit des Pfeifens mit sich, dass in gesellschaftlichen Strukturen und historischen Situationen, in denen die subalternen Klassen als potentiell gefährlich gelten, auch deren harmloseste Freuden- und Signalpfiffe in den Verdacht kommen können, unbotmäßige Konterbande zu schmuggeln. Carl Spitzweg hat diesen Argwohn in einer Zeichnung von 1848 festgehalten, die Freikorpssoldaten in einer Wachstube darstellt und in deren Untertext es heißt: »Drüben in der Jesuitenstraße soll man schon wieder einen Pfiff gehört haben. Herr Gefreiter Sattelbauer! Nehmens noch einen Mann mit und machens eine Patrouille hinüber, damit man weiß, was es denn eigentlich ist« (UhdeBernays 1917, 167). Eine ganz ähnliche Deutungsunsicherheit stellt sich übrigens bei den Pfeifsprachen ein, wie sie unter anderem auf Gomera, in der Nordtürkei und den französischen Pyrenäen entwickelt wurden. Alle diese Regionen weisen tief zerklüftete Gebirge auf und sind vor allem von einer Hirtenbevölkerung bewohnt. Der primäre Zweck der Pfeifsprache war, so lässt sich vermuten, die alltägliche Verständigung über große Entfernungen. In der einheimischen Überlieferung ist jedoch häufig von subversiven Funktionen die Rede. Auf Gomera ist zu hören, die dortige Pfeifsprache El Silbo sei beim Widerstand der Inselbewohner gegen die Spanier von Bedeutung gewesen (Almeida 1984, 75), und Einwohner von Kusköy in der Nordtürkei, die sich ebenfalls pfeifend verständigen können, erzählen, dass man die Ankunft von staatlichen Kontrolleuren, die den Holzeinschlag und die Zahl der zu versteuernden Schafe ermitteln wollten, durch Pfiffe von Dorf zu Dorf ankündige, ja dass ihre Pfeifsprache überhaupt als Geheimsprache erfunden worden sei, die Eindringlinge von außen ausschließen solle (Leroy 1976, 1038). Das Beispiel ist, so scheint mir, für die

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aktuelle sozialhistorische und volkskundliche Debatte über den Sozialcharakter nichthegemonialer Kulturen aufschlussreich: Es legt den Gedanken nahe, dass die Lust an der Vorstellung »volkskultureller Widerständigkeit« und die teilweise Neigung zu deren Übertreibung nicht nur bei bestimmten Wissenschaftlern, sondern zumindest zuweilen auch bei den Betroffenen selbst am Werke sind. *

Seinen Urheber und seine Botschaft maskierend, hat der Pfeifton selbst ein sehr markantes Profil. Die hohen Frequenzen, verbunden mit sich überlagernden Schwingungen, ge­ben schon dem leisen Pfeifen etwas Schneidendes und machen das laute Pfeifen zu einem schril­­len Geräusch, das auf kurze Entfernung durch Mark und Bein geht und noch auf weite Distanz alarmierend wirkt. Es kann also nur soweit als sozial legitim gelten, wie dem Pfeif­enden ein – prinzipielles oder situatives – Recht auf eine solche Verletzung des akustischen Raums von andern zugebilligt wird, und es kann nur dort auch ästhetisch goutiert werden, wo »unreine« und gellende Geräusche nicht als unkultiviert, sondern als lustvoll empfunden werden. Das noch heute geläufige Sprichwort, dass man Mädchen, die pfeifen, und Hühnern, die krähen, beizeiten den Hals umdrehen müsse, lässt sich demnach – unter anderem – mit der Nähe des Pfeifens zu Machtausübung und Aggression erklären. In der polaren und hierarchischen Geschlechterkonstruktion, wie sie (nicht nur) für die bürgerliche Gesellschaft kennzeichnend ist, widerspräche zumindest der scharfe und kraftvolle Pfiff dem Ideal der sanften, schwachen, friedfertigen und bescheidenen Frau. Weshalb denn auch einer englischen Redensart zufolge Mädchen, die pfeifen, ein Schnurrbart wächst – wenn sie nicht schon einen haben: Laut einem Mediziner namens Billwiller, der 1930 »Über den Sexualwert des Pfeifens beim Menschen« berichtet, pfeifen bei den Frauen »die mehrbehaarten offenbar am besten« (Bächtold-Stäubli 1934/35, 1584; Billwiller 1930, 63). Aber auch dem bürgerlichen Mann wurde das Pfeifen in der Öffentlichkeit immer wieder als unzivilisiertes, plebejisches Benehmen verwehrt. Dem halbwüchsigen Bürgersohn, der seine Kraft auch durch kraftvolle Pfiffe beweisen will, und Jungmänner­bünden wie den Korporierten wird es noch nachgesehen, »bei ehrsamen Bürgern untereinander« jedoch gelten »Anruf- und Signalpfiffe«, wie Edwin Janetschek 1914, aber auch Jahrzehnte später noch gültig schrieb, als »unschöne und zu verabscheuende Unart« ( Janetschek 1914, 162). Zu den halbwegs legitimen Ausnahmen gehört der auch in gutbürgerlichen Kreisen übliche Familienpfiff, eine informelle, eben »familiäre« Anrede, die sich aber meist durch melodische Aufbereitung von bloßer akustischer Anrempelei distanziert. Nicht als unzivilisiert galt es dem Bürgertum jedoch lange Zeit, neben Hunden, Pferden und Rindvieh auch Domestiken und andere Untergebene scharf und namenlos »anzupfeifen«, wobei der feinere Vorgesetzte allerdings eine Pfeife benutzte, die ihm nasse Finger und eine angestrengte Mimik

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ersparte. So erinnert sich z. B. Franz Rehbein (1973, 34) in seinem Leben eines Landarbeiters daran, dass der Vogt des Hofes mit einer kleinen Trillerpfeife zum Frühstück rief, die er an einer Schnur um den Hals trug. Im Zuge der Demokratisierung auch des Alltagslebens ist der »Gehherda«-Pfiff inzwischen zunehmend verpönt. Auch in Bereichen, wo Gruppenkommandos per Mundpfiff und vor allem mit der Trillerpfeife lange Zeit als normal und funktional galten, hat sich in den letzten Jahrzehnten etwas verändert. So wurde während der antiautoritären Bewegung der Gebrauch des Pfiffs im Sportunterricht – ebenso wie das Antreten in Linie oder Reihe – als »zu militärisch« kritisiert und offenbar auch tatsächlich zurückgedrängt. Und auch beim Militär selbst ist der Kommandopfiff anscheinend seltener geworden. Einer Auskunft aus dem Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr zufolge hat das vor allem mit organisatorischen und technischen Entwicklungen, sekundär aber auch damit zu tun, »dass die Bundeswehr bemüht ist, ihr autoritäres Image abzulegen«. Eine andere Funktion und auch Geschichte als der Befehlspfiff, der Effizienz über Sensibilität stellt, hat der Protestpfiff, dessen Lautstärke und Schrillheit ganz bewusst der symbolischen Verletzung seines Adressaten dienen. Als »zeichen der verhöhnung, verspottung, des misfallens« (Grimm/Grimm 1889, 1648) ist der Pfiff oder das Pfeifkonzert zum einen im Theater oder bei Sportveranstaltungen als legitimes Ritual etabliert – hier hat sich das Publikum mit der Eintrittskarte das Recht zur deutlichen Unmutsäußerung erkauft, die umso legitimer ist, je mehr sie als bloße Bestrafung eines vorangegangenen Frevels an der Kunst, eines brutalen Fouls, einer schiedsrichterlichen Fehlentscheidung auftritt. Zum andern ist das Pfeifkonzert auch in der politischen Kultur zu einer keineswegs nur von der »rohen Masse«, sondern von DemonstrantInnen aus allen Bildungsschichten gepflogenen Äußerungsform geworden, wobei zunehmende, aber unzureichend erfüllte Mitspracheforderungen des Volkssouveräns ebenso eine Rolle spielen wie eine wachsende Informalisierung öffentlichen Verhaltens. Diese letztere ist gleichwohl nicht mit Brutalisierung gleichzusetzen: Ähnlich, wie das im Paris des späten 17. Jahrhunderts (wieder) aufgekommene Pfeifen des Theaterpublikums nicht einen Prozess der Verwilderung, sondern der Zivilisierung markierte, da es das bisher übliche Werfen mit faulen Äpfeln ersetzte (Kindermann 1961, 86), verkünden die auffälligen gelben Trillerpfeifen, die in der jüngsten Zeit bei Demonstranten immer häufiger zu sehen sind, nicht nur die Entschlossenheit zum größtmöglichen Krach, sondern auch den Verzicht auf gefährlichere Waffen. Mittlerweile ist es sogar in vielen Situationen unklar, ob ein pfeifendes Publikum die auf der Bühne oder Tribüne auch nur symbolisch verletzen will. In Rockkonzerten ist schon seit längerer Zeit das »applaudierende Pfeifen« üblich geworden – wohl, weil Händeklatschen kaum durchdränge, aber auch, weil das Expressions- und Lärmbedürfnis überhaupt gestiegen ist; und zunehmend erobert sich diese Umwertung des Pfeifkonzerts vom Aggressions- zum Begeisterungsausdruck auch andere Arenen und zeitigt dort die entsprechenden Irritationen. Vor kurzem mutmaßte ein Sportreporter bei einer Tennisübertragung: »Die einzelnen Pfiffe muss man wohl als Kompliment für Steffi Graf werten« (ZDF, 3. 10. 1993). Die Sphinx schwieg und pfiff weiter.

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Nun ist die Pfeifkultur des Alltags weder von grellen Alarmpfiffen noch von ohrenbetäubenden Pfeifkonzerten, sondern vorwiegend von sublimeren Tönen geprägt. Was überwiegt, ist das Pfeifen von Melodien – von Schlagern, Opernarien, Symphoniethemen; und selbst der Anruf- und Signalpfiff begnügt sich ja nicht mit simplen Gebilden – einem lang gezogenen Ton oder z. B. Quart- oder Quintschritten –, sondern macht gern Anleihen bei der Musiksprache. Von Seiten der legitimen Kultur findet dies musikalische Pfeifen ein zwiespältiges Echo. Es erscheint insoweit als sympathisch, als sich darin ein Bemühen um die Ästhetisierung des profanen Alltags und die Anerkennung approbierter Kulturwerte durch den pfeifenden Volksmund sehen lässt. Das berühmteste Beispiel hierfür ist der »Sportpalastpfiff«, den Reinhold Habisch, genannt »Krücke«, in den 1920er Jahren kreierte: die Transformation der wilden Anfeuerungs- und Protestpfiffe beim Sechstagerennen in vier wohlgesetzte Pfeiftöne, die in die Taktpausen des »Sportpalastwalzers« eingefügt wurden – eine Versöhnung von Galerie und Loge, von Stimme des Volks und »Stimme seines Herrn«. Auf der anderen Seite bedeutet jedoch das Sichhochpfeifen in die Musiksphäre auch deren Herunterziehen. Sie droht nicht nur, achtlos nebenher gepfiffen, in trivialste Verrichtungen integriert, sondern eben auch von den mehr oder weniger unreinen, dazu oft auch noch falschen Pfeiftönen malträtiert zu werden – so wie es in Erwin Strittmatters Der Laden über den Nachbarssohn Jurko heißt: Jurko pfeift sich Dorflieder und Tanzschlager mit falschen Tönen von der Seele. (…) Er intoniert hinter unserem Hofzaun auf seine amusikalische Weise mit seiner Lippen­flöte das Liedchen: Ein Mädchen wollte Wasser holn/an einem tiefen Brunnen … Wie stets verhunzt Jurko beim Flöten die Töne, und in Worten wiedergegeben, musste der Anfang des Liedchens etwa lauten: Ein Mödchen willte Wasser heulen/an einem teufen Brün­ nen … (Strittmatter 1983, 389‑91). Es geht natürlich auch anders. Es gibt Könner, die nicht nur zum eigenen Vergnügen und zum Ärger ihrer unfreiwilligen Zuhörer Melodien pfeifen, und es gibt sogar Kunstpfeifer, die ein zahlendes Publikum anzuziehen vermögen. Der berühmteste von ihnen ist eine Kunstpfeiferin: die Filmschauspielerin und Schlagersängerin Ilse Werner, die als »Frau mit Pfiff« Karriere machte. In ihrem Fall wenigstens scheint es gelungen zu sein, das Pfeifen sowohl vom Etikett des kulturell Illegitimen als auch von dem der Unweiblichkeit zu befreien. Beim genaueren Hinsehen zeigen sich freilich die ganz besonderen Umstände und die Grenzen dieses Durchbruchs. Der erste öffentliche Auftritt, bei dem sie nicht nur sang, sondern auch pfiff, fand 1941 statt – vor zunächst offenbar verblüfften, dann aber hingerissenen Fronturlaubern (Werner 1981, 108); es lässt sich vermuten, dass dieser Erfolg auch mit dem durch den Krieg veränderten Frauenbild zu tun hat, von dem nicht zuletzt NS-Slogans wie »Die Frau als Kameradin« oder »Nun steht die Frau ihren Mann« zeugen. Und es gab offenbar auch zahlreiche kritische Stimmen, »viele Leute, denen es nicht recht in den Kopf

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will, dass Ilse Werner – pfeift« (Werner 1943, 43). Weshalb sie selbst in der Broschüre Ich über mich von 1943 erklärend bis entschuldigend berichtet, dass sie eine durchaus undamenhafte, ja uneuropäische Sozialisation hinter sich habe: 1921 im damaligen Batavia geboren, sei sie »eine kleine Halbwilde gewesen«, die auf Palmen geklettert sei, »mit den Affen im Urwald (der bei uns gleich über’m Damm war) um die Wette brüllte« und »von klein auf (…) schon gepfiffen« habe (ebd., 15 f., 43). Während Ilse Werner den Nachklang des Vorzivilisatorischen, der »Wildheit« in ihrem Pfeifen gesteht, verlegt sich einer ihrer Bewunderer, Günther Schwenn, in demselben Band aufs Leugnen: Weil die Werner für ihn eine große Künstlerin und eine Dame ist, will er das, was sie tut, gar nicht mehr als Pfeifen bezeichnet wissen. Üblicherweise sei Pfeifen »etwas Burschikoses (…), etwas Jungenhaftes, Saloppes«; Ilse Werner hingegen pfeife »sehr melodisch, absolut musikalisch. Und sogar – ganz zart … Dieses Pfeifen ist eher ein Zwitschern. (…) Ein Vögelchen ist da am Werk. Ein gut gelauntes Vögelchen. Eine menschliche Nachtigall« (ebd., 53 f.). Auch die Ausnahme Ilse Werner bestätigt also die Regel: In der bürgerlichen Gesellschaft ist das Pfeifen, wie laut Bourdieu die Fotografie, bestenfalls »un art moyen«, zugespitzt übersetzt: eine illegitime Kunst – und damit ein würdiger Gegenstand der volkskundlichen Forschung. Literatur Almeida, Antonio (1984): Vom Pfeifen und Trommeln. In: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik, 51. Jg., 53‑78. Bächtold-Stäubli, Hanns (Hg.) (1934/35): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Bd. VI. Berlin u. a. Billwiller, Waldemar Coutts (1930): Über den Sexualwert des Pfeifens beim Menschen. In: Zeitschrift für Sexualwissenschaft und Sexualpolitik, 17. Jg., 62 f. Braun, Alfred (1965): Der Spreekieker. Berlin. Grimm, Jacob/Wilhelm Grimm (1889): Deutsches Wörterbuch. Bd. 7. Bearbeitet von Matthias von Lexer. Leipzig. Habisch, Reinhold (o. J.): Deutschlands Original Krücke auf Rennbahnen unter Rennfahrern. BerlinSpandau [1950]. Hentig, Hans von (1956): Zur Psychologie der Einzeldelikte. Bd. II: Der Mord. Tübingen. Janetschek, Edwin (1914): Etwas vom Pfiff und seiner musikalischen Bedeutung. In: Neue Zeitschrift für Musik, 81 Jg., H. 11, 162 f. Kienitz, Sabine (1986): »Da war die Weibsperson nun eine der Ärgsten mit Schreien und Lärmen.« Der Stuttgarter Brotkrawall 1847. In: Carola Lipp (Hg.): Schimpfende Weiber und patriotische Jungfrauen. Frauen im Vormärz und in der Revolution 1848. Bühl-Moos, 76‑87. Kindermann, Heinz (1961): Theatergeschichte Europas. Bd. 4. Salzburg. Klausmeier, Friedrich (1978): Die Lust, sich musikalisch auszudrücken. Eine Einführung in sozio-musi­ kalisches Verhalten. Reinbek. Leroy, C. (1976): An Ecological Study. In: Seebeok/Umiker-Seebeok, Bd. 2, 1031‑1039. Lewy, Heinrich (1931): Zum Verbot des Pfeifens. In: Zeitschrift für Volkskunde, 41. Jg., 58 f.

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Netsch, Adolf (1894): Belebung der Spiele durch Gesang, Trommler- und Pfeifer-Corps. In: Jahrbuch für Volks- und Jugendspiele, 3. Jg., 54‑57. Ostwald, Peter F. (1958): When People Whistle. In: Language and Speech, 1. Jg., 137‑145. Quedenfeldt, H. M. (1976): Pfeifsprache auf der Insel Gomera. In: Seebeok/Umiker-Seebeok, Bd. 2, 939‑953. Rapp, Wolfgang (1967): Pfiffe im Hafen. Ein Kriminalstück in 4 Stückchen. Weinheim. Rehbein, Franz (1973): Das Leben eines Landarbeiters. Darmstadt u. a. Seebeok, Thomas A./Donna Jean Umiker-Seebeok (Hg.) (1976): Speech Surrogates: Drum and Whistle Systems. 2 Bde. Paris. Serner, Walter (o. J.): Der Pfiff um die Ecke. Zweiundzwanzig Kriminalgeschichten. Berlin [1927]. Strittmatter, Erwin (1983): Der Laden. T. 1. Berlin/DDR. Uhde-Bernays, Hermann (1917): Carl Spitzweg. Des Meisters Leben und Werk. München. Wander, Karl Friedrich Wilhelm (1873): Deutsches Sprichwörter-Lexikon. Bd. 3. Leipzig. »Vom Lärm« (1908). In: Der Kunstwart, 21. Jg., 1. Juniheft, 314‑316. Weber, Max Maria von (1867): Das Telegraphen- und Signalwesen der Eisenbahnen. Geschichte und Technik desselben. Weimar. Werner, Ilse (1943): Ich über mich. Berlin. Werner, Ilse (1981): So wird’s nie wieder sein … Ein Leben mit Pfiff. Bayreuth. Zedlers Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste (1741). Bde. 27/28. Leipzig u. a.

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Zur Schichtspezifik autobiographischer Darstellungsmuster

Im Zuge des zunehmenden Interesses an Biographik sind in den letz­ten Jahren verschiedentlich auch Bürgerliche Autobiographie und proletarische Selbstdarstellung1 miteinander verglichen worden, doch ging es dabei meist um die frühen deutschen Arbeitererinnerungen, die dann mit der klassisch-bürgerlichen Autobiographik konfrontiert wurden,2 oder um Autobiographien der 1920er Jahre, die von prominen­ten Vertretern der bürgerlichen Intelligenz und der Arbeiterbewegung stammten (vgl. Sloterdijk 1978). Es fehlt jedoch an ähnlichen Studien für die Gegenwart und es mangelt insbesondere an Vergleichen der Autobiographik nichtprominenter Gelegenheitsautoren aus verschiedenen sozialen Gruppen – was nicht zuletzt mit der verbreiteten, aber irrigen Mei­nung zusammenhängen dürfte, dass untere Bildungsschichten nur ganz selten zur Niederschrift von Erinnerungen bereit seien (vgl. Warneken 1985, 10‑26). Un­gleich besser erforscht sind, im Zuge von historischer oder volkskund­licher Oral History, aber auch pädagogischer, soziologischer und lin­guistischer Erzählforschung, mündliche Lebenserinnerungen aus ver­schiedenen Sozialschichten; doch hierbei wird wenig Aufmerksam­keit auf die Frage der Schichtspezifik verwandt,3 was nicht selten die Tendenz zur voreiligen Verallgemeinerung in bestimmten Erzählun­gen oder Erzählergruppen vorgefundener Form- oder Inhaltsstruktu­ren in sich birgt. Die folgende Untersuchung will Schichtunterschieden bei autobiographischen Darstellungsmustern durch eine Analyse von Kurzauto­biographien näherkommen. Die hierfür herangezogenen Texte haben denselben Entstehungskontext: einen Schreibaufruf, den der Landes­seniorenrat und die Landesregierung von Baden-Württemberg 1976/1977 unter dem Motto Ältere Menschen schreiben Geschich­te veranstalteten; teilnehmen konnten BadenWürttembergerInnen über 60 Jahre. Aus den Einsendungen zu diesem Aufruf,4 die nur zum geringeren Teil aus »ganzen« Lebensgeschichten bestanden, wurden in einer »aposterioren Quotenauswahl« Kurzautobiographien von AutorInnen unterschiedlicher Bildungsund Sozialgruppen herausge­sucht, und zwar zum einen 47 Texte von ArbeitnehmerInnen mit Volksschulabschluss (»Volksschulgruppe«), davon 26 Autorinnen und 21 Autoren, zum andern 27 Texte von Akademikern, Beamten, Selb­ständigen und mittleren Angestellten mit Abitursabschluss (»Abiturgruppe«), davon elf Frauen und 16 Männer.5 Durchweg handelt es sich um weder haupt- noch nebenberufliche SchriftstellerInnen, son­dern um Laienoder besser GelegenheitsautorInnen. Der Textum­fang beträgt bei der Volksschulgruppe im Durchschnitt ca. sechs, bei der Abiturgruppe ca. zehn Manuskriptseiten.6 Die Auswertung konzentriert sich auf drei Aspekte der literarischen »Organisation von Lebenserfahrung«: auf Indikatoren für den Grad und die Art der »Schreiblegitimation«, die die AutorInnen für sich in Anspruch nehmen; auf Stellenwert und Darstellungsweise von

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Indivi­dualität und Individuation; und abschließend auf Formen der »Rele­vanzproduktion«, der Verknüpfung des Individuellen mit kulturell Approbiertem und historisch Allgemeinem. Die Textmerkmale, auf die sich die Analyse bezieht, sind bei den einzelnen Auswertungs­ schritten jeweils angegeben; der Gruppenvergleich operiert zumeist mit Relationsangaben wie »mehr/weniger« oder »meistens/kaum«, in manchen Fällen, wo relativ unkomplexe und also leichter quantifizier­bare Textmerkmale vorlagen, auch mit Zahlen- oder Prozentangaben. Schreiblegitimation

»Nicht gebildet sein«, schreibt Pierre Bourdieu (1982, 605) in »Die feinen Unter­schiede«, »wird (…) als Verstümmelung der Person empfunden, die sie (…) bei allen offiziellen Anlässen, bei denen man ›öffentlich in Er­scheinung zu treten hat‹, sich vor den anderen mit seinem Körper, sei­nen Umgangsformen, seiner Sprache zu zeigen hat, mit Stummheit schlägt«. Ein solches Defizitbewusstsein, und nicht bloß mangelndes Schreibvermögen oder mangelndes Erreichtwerden von Schreibauf­forderungen, ist gewiss eine wesentliche Ursache dafür, dass AutorIn­nen mit Volksschulbildung bei öffentlichen Schreibaufrufen unterre­ präsentiert sind.7 Die hier untersuchten Einsendungen von Verfas­serInnen mit Volksschulbildung haben diese Stummheit zwar prinzi­piell überwunden, doch durchwirkt sie noch das für die Öffentlichkeit Geschriebene – als häufige Unsicherheit darüber, ob die Qualität der eingesandten Texte denn überhaupt akzeptabel sei. Das beginnt mit einleitenden Entschuldigungen für formale Män­gel, die bei der Volksschulgruppe mehr als doppelt so häufig geäußert werden wie bei der Abiturgruppe – gipfelnd in der sei’s auch ironisch eingefärbten Bitte eines Arbeiters: »Und sollte man Tippfehler ent­decken oder andere, so erwarte ich keine ›Tatzen oder Hosenspanner‹, sondern bitte ›treuherzig‹ um ›Verständnis‹.« Es setzt sich fort in Zwei­feln über den inhaltlichen Wert des Geschriebenen: Während die – seltenen – Bescheidenheitsbekundungen bei der Abiturgruppe tat­sächlich unbescheidene Ansprüche abwehren – betont wird z. B., dass man kein professioneller Schriftsteller sei oder keine geschichtsmächtige Rolle gespielt habe –, häufen sich bei der Volksschulgruppe die Selbstverkleinerun­gen und Selbstzweifel. Eröffnet wird z. B. mit: »Ich erlaube mir einen kleinen Beitrag zum Vorhaben zu leisten«, abgeschlossen mit: »Neh­men Sie bitte meinen einfachen Bericht gnädig auf«. Ein Arbeiter hofft, »es recht gemacht zu haben«, ein anderer, »dass ich Sie mit mei­nem Schreiben nicht zu sehr gelangweilt habe«, und ein Fabrikportier bekennt: »Dreimal habe ich angefangen und jedesmal das Geschriebene wieder vernichtet, weil ich dachte, Sie werden es vielleicht lächerlich finden, was ich gesudelt habe. (…) Dieses Mal kommt es zur Post, auch wenn es gleich in den Papierkorb kommt.« Auch die Kürze vieler Lebensberichte der Volksschulgruppe – sie bleiben meist deutlich unter dem Wettbewerbslimit von zehn Seiten, das bei der Abiturgruppe mehrmals souverän überzogen wird – dürfte nicht nur mit dem Ungewohntsein längeren Schreibens, son-

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dern eben­falls mit Kompetenzunsicherheiten zu tun haben.8 In einigen Fällen wird dies auch manifest: so wenn ein Forstarbeiter die Kürze sei­nes Berichts mit der mangelnden Nachfrage nach solchen Erinnerun­gen bei der heutigen Generation begründet, oder wenn AutorInnen »Nachschub« versprechen, falls dafür Interesse bestehe (gegenüber einigen AutorInnen der Volksschulgruppe hat der Verfasser übrigens einige Jahre nach dem Wettbewerb ein solches Interesse bekundet und tatsächlich etliche ausführlichere Lebenserinnerungen erhalten). Bedeutsam sind in diesem Zusammenhang die Gruppenunter­schiede bei den Be­grün­ dungen für die Teilnahme am Schreibaufruf. Zum einen fällt auf, dass diese bei der Volks­ schul­gruppe öfter als bei der Abiturgruppe anzutreffen sind. Bei der letz­te­ren wird dabei mehr­mals auf eine besondere Qualität des zu Berich­tenden hingewiesen: Die eigene Le­bens­geschichte könne Ansporn für die Jugend sein; man sei von der Geschichte nicht nur getrieben wor­den, sondern habe sie auch mitgestaltet; die eigene Generation habe »auf allen Lebensgebieten soviel Interessantes, Epochemachendes, fast an Wunder Grenzendes erlebt wie kein Mensch zuvor«; mitunter wird Al­tersweisheit reklamiert oder darauf hingewiesen, dass man sich in Geschichtsfragen »auf Bücher nicht immer verlassen« könne. Bei der Volksschulgruppe ist die Annoncierung solcher Textqualitäten nicht zu finden. Häufiger sind hier Hinweise auf die Quantität des Erlebten: Betont wird, man habe »ungeheuer viel erlebt«, habe in seinem Leben »viel gesehen, erlebt und durchgemacht«; jeder Fünfte der Volks­schulgruppe, aber niemand aus der Abiturgruppe äußert, schriebe man die gesamten Erinnerungen auf, würde das »ein dickes Buch« ge­ben, »mindestens 1000 Seiten füllen« und Ähnliches. Mit dieser Form des autobiographischen Selbstbewusstseins stimmt es zusammen, dass in dieser Gruppe auch häufiger als bei der Abiturgruppe bekräftigt wird, das Gedächtnis reiche weit zurück, man könne sich noch an vie­les genau erinnern, also auf die Erinnerungskapazität als solche rekurriert wird. Zum anderen meinen mehrere AutorInnen der Volksschulgruppe, die Wahrheit des Ge­­ schil­derten bekräftigen zu müssen. Entspre­chende Formulierungen lauten: »Meine Le­­bens­­ geschichte (reine Wahrheit)«; »Was ich nun hier zu Papier gebracht habe, entspricht der Wahrheit«; »Was ich schrieb, habe ich alles erlebt«. Dass in den Tex­ten der Volksschulgruppe öfter als bei der Vergleichsgruppe Zeugen benannt, auf Beweisdokumente für das Behauptete verwiesen, ja Do­kumente ausführlich zitiert oder gar beigelegt werden, zeigt in dieselbe Richtung. Bernd Neumann hat in seinem autobiographie-theoreti­schen Buch über »Identität und Rollenzwang« den »Autobiographen«, die der Erinnerung und zugleich der Phantasie Raum gäben, um sich selbst wieder in die Vergangenheit zu versetzen, die an exakter Re­konstruktion orientierten »Memoirenschreiber« gegenübergestellt, die aus Misstrauen gegenüber ihrer Erinnerung nach historischen Belegen griffen (vgl. Neumann 1970). Die hier behandelten Autoren jedoch arbeiten mit ihren Wahr­heitsbekräftigungen und -beweisen weniger einem eigenen als frem­dem Misstrauen entgegen: dem Verdacht, von ihnen als erlebt, erlitten oder geleistet Berichtetes sei gar nicht ihr biographisches Eigentum, sondern usurpiert. Dabei geht es in den hier untersuchten Texten nur einem Autor, einem früheren KPD-Mitglied, eindeutig darum, seine Wahrheit gegenüber als herrschend angesehenen

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Auffassungen zu behaupten; die meisten AutorInnen der Volksschulgruppe haben eher das bescheidene Ziel, sich mit den Besonderheiten ihres Le­bens neben dem anderer Personen, bei denen man einen höheren Glaubwürdigkeitsstatus vermutet, zu etablieren. Eine unterschiedliche Selbstzumessung von Äußerungsrechten zei­gen auch die Resümees der Lebensgeschichten. Hier sind es etwa 40 Prozent der Abiturgruppe und nur etwa 20 Prozent der Volksschulgruppe, die zu­sammenfassende Urteile über die »großen Zeitfragen«, z. B. Probleme des technischen, sozialen und politischen Fortschritts abgeben; die große Mehrheit der Volksschulgruppe beschränkt sich in ihrer Le­bensbilanz auf die eigene Situation oder die der eigenen Sozialgruppe. Signifikant gruppenverschieden ist zudem die Häufigkeit, mit der inner­halb der Resümees entweder Dank ausgesprochen oder Bitten, Wün­sche und Appelle formuliert werden. Gute Wünsche für andere wer­den von zwölf Frauen und zwei Männern der Volksschulgruppe, aber von keinem aus der Abiturgruppe ausgesprochen. Formeln des Dan­kes oder Lobes zählt man in der Volksschulgruppe sechzehnmal, also bei 34 Prozent der Texte; die Adressaten sind insbesondere Gott (5) und die Regierung (7); in der Abiturgruppe sind solche Bekundungen sie­benmal, also bei 26 Prozent zu finden. Wünsche oder Forderungen, die auf Allgemeinverhältnisse zielen, sind bei der Volksschulgruppe elfmal (= 23 Prozent), bei der Abiturgruppe zehnmal (= 37 Prozent) vertreten, wobei auffällt, dass in beiden Gruppen die Frauen weit weniger fordern oder raten (8 Prozent vs. 27 Prozent bei den Männern) und mehr als die Männer die Form des Wunsches, der Frage oder der Klage wählen (Frauen insge­samt 16 Prozent, Männer 5 Prozent). Doch »wagen« es die Frauen der Abiturgruppe noch öfter als die Männer der Volksschulgruppe, die Schil­derung des eigenen Lebens in irgendeine Form von Ratschlägen für andere münden zu lassen. Und der einzige Autor, der ausdrücklich ei­nen Verzicht auf politisches Meinen und Wollen formuliert, ist ein Ar­beiter: »Ich bitte nun diese Zeilen nicht politisch und auch nicht gegen mich zu verwenden, denn das wäre nach meiner Ansicht nicht der Zweck der Geschichte.« Hinzuweisen ist schließlich auf Genreunterschiede der Ein­sendungen: Über zwei Drittel der Abiturgruppe, aber nur knapp die Hälfte der Volksschulgruppe geben ihren Texten einen Titel, der sie als ein Stück »autonome Literatur« präsentiert; und über ein Drittel der Volksschulgruppe, dagegen nur ein Sechstel der Abiturgruppe greift zu Briefelementen wie persönliche Anrede, Ein­gangs- oder Schlussgruß, richtet sich also gar nicht direkt an eine Öf­fentlichkeit, sondern verbleibt, wie man das wohl interpretieren darf, noch halb in der schützenden Privatsphäre. Bei einigen Autorinnen der Volksschulgruppe trifft man darüber hinaus auf Elemente des Bittbriefs, während bei einigen Männern dieser Gruppe deutlich die Textsorte des für Arbeitgeber oder Arbeitsämter zu erstellenden »Le­benslaufs« durchscheint: als wären sie nicht als Geschichtszeugen um ihre Erfahrungen gebeten, sondern als Bewerber zum Rapport aufge­fordert worden.

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Darstellung des Individuellen

In ihrer Untersuchung »Ländliche Kindheit in Lebenserinnerungen« schreibt Susanne Mutschler, keiner der von ihr Interviewten habe seine eigene Kindheit und Jugend als eine besondere, individuelle ge­schildert: Das kollektive »Wir« oder »Man« habe in den Erzählungen die »Ich«-Sätze überwogen (vgl. Mutschler 1985, 108‑125). In den Kindheitspassagen derjenigen Autorlnnen der hier untersuchten Lebensgeschichten, die wie die von Mutschler Befragten auf dem Dorf geboren sind und dort heute noch leben, ist – wenngleich abgeschwächt – dieselbe Tendenz zu beobach­ten. Und auch bei den anderen Mitgliedern der Volksschulgruppe fin­den sich (insbesondere, aber nicht nur in der Kindheitsschilderung) häu­figer als bei der Abiturgruppe Sätze, in denen ein Kollektiv wie die Familie, die Geschwister, Altersgenosslnnen Erzählsubjekt ist. Inhalt solcher Passagen sind dabei – das ist wichtig hervorzuheben – nicht nur gemeinsame Aspekte der Lebenslage, sondern auch gemeinsame Er­fahrungs- und Denkweisen. Exemplarisch hierfür sind die Unterschiede bei den zahlreich vor­zufindenden Darstellungen des Kriegsbeginns 1914: Die Texte der Volksschulgruppe schildern meist eine gemeinsame Aktion und Reak­tion von »uns Kindern« (Beispiele 1 und 2), bei der Abiturgruppe wird selbst in der Darstellung kollektiver Aktionen meist eine indivi­duelle Reaktion herausgehoben (3) oder von Anfang an ein individu­elles Erlebnis thematisiert (4): Die Begeisterung unter der Bevölkerung war groß, bis Weihnachten sei alles vorbei. Wir Kinder waren den ganzen Tag am Bahnhof und winkten den Feld­grauen zu, die an die Front fuhren (Arbeiter, geb. 1904). Bei der Mobilmachung zog ein Mann mit einer Trompete durch den Ort (…). Ich war gerade zehn Jahre alt. Frauen kamen weinend von den Feldern heim. Die Männer waren aufgeregt und teils ratlos. Wir Kinder wussten mit der allge­meinen Aufregung nichts anzufangen (Hausangestellte, geb. 1904). Es war ein wunderschöner Sommervormittag, als laute Marschmusik er­klang. Da konnte uns nichts mehr halten, wir rannten zum Zaun an der Straße, um zu sehen, was da wäre. Es war die berittene Militärmusik des Artillerie-Re­giments von Rastatt, welche mit lautem Klang vorauszog. Die gerade Haltung aller Soldaten, ob Offizier oder Mann, beeindruckte mich sehr (Förster, geb. 1909). Ja und dann kam im Jahr 1914 der Krieg. Ich (…) sollte nach Cannstatt zu Onkel C. in die Ferien fahren. Schon war ich fix und fertig zur Abfahrt gerüstet und wollte mich von den Eltern und Geschwistern verabschieden, da sehen wir, dass am Postgebäude (…) auffallend viele Leute um einen Anschlag sich ver­sammelten. Neu­gierig springe ich geschwind hinüber und lese: ›… Mobilma­chung …‹. (…) Aus war es mit den Ferien, auf die ich mich so gefreut hatte (Pfarrer, geb. 1899).

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Aber nicht nur, dass bei der Volksschulgruppe häufiger gemeinsame Erlebnisse und Erfahrungen beschrieben werden: Es wird auch etwas mehr über das Leben und sogar Erleben von Bezugspersonen berich­tet, deren Geschichte also in bestimmten Aspekten mitgelebt. Dabei geht es um Geschwister, insbesondere aber die erwachsen gewordenen Kinder. Deren weiterer Lebenslauf wird von einem Drittel der Eltern aus der Volksschulgruppe, aber nur einem Sechstel der Abiturgruppe angesprochen; zudem sind die entsprechenden Passagen bei der Volksschulgruppe länger: Ein Arbeiter berichtet gar in zwei Dritteln seiner Lebensgeschichte nicht über sich selbst, sondern über seine Söhne – und zwar insbesondere über deren Begabtheit und berufliche Erfolge. Die Identitätsgewinnung über die Kinder, die es einmal bes­ser haben sollten und es nun tatsächlich auch besser haben, ist hier si­cher eines der wesentlichen Berichtsmotive.9 Die Geschlechtsspezifik ist in der Frage des Themas Nachkommen freilich noch stärker als die Schichtspezifik: Immerhin drei Mütter, aber kein Vater der Abiturgruppe berichten über die erwachsenen Kinder, aus der Volks­schulgruppe sieben Mütter und vier Väter – insgesamt sind es 42 Prozent der Mütter und nur 14 Prozent der Väter gegenüber 32 Prozent der Volksschul- und 17 Prozent der Abiturgruppe. Signifikant ist der Geschlechtsunterschied auch bei der Häufigkeit des Berichtens über Ehepartner (ein deutlicher Schichtun­ terschied war hier nicht zu erkennen). Längere Passagen über die Lebens­geschichte der Partnerlnnen finden sich bei 8 Prozent der Ehefrauen und 0 Prozent der Ehemänner des Samples, vom gegenseitigen Kennenlernen berichteten 17 Prozent der Frauen und 4 Prozent der Männer; kurze Erwähnungen von Tätigkei­ten oder Erlebnissen der PartnerInnen fanden sich bei 38 Prozent der Ehefrauen gegenüber 14 Prozent der Ehemänner – wobei die Männer meist auf sich bezo­gene Handlungen und Haltungen der Ehefrauen wie treue Hilfe oder Angst um den Ehemann oder aber das Krankwerden der Frau erwähnen, das ih­nen nun Mithilfe im Haushalt abverlange. Nicht nur der Grad, in dem sich die Lebensgeschichten auf die eigene Biographie konzentrieren, unterscheidet die Gruppen, sondern noch mehr die Art und Weise, in der dies geschieht. Gezeigt sei dies im Folgenden an einem Vergleich der »Erzählungen in der Er­­zählung«, den mit Formeln wie »Eines Tages« oder »Einmal« eröffneten Episo­den, in de­nen offenbar als besonders bedeutsam empfundene Lebensereignisse dargestellt werden (ihre Zahl beträgt bei der Volksschul­gruppe etwa drei, bei der Abiturgruppe etwa sechs pro Text).10 Auffallende Unterschiede in der Thematik dieser »Szenen« sind zum einen, dass es bei der Volksschulgruppe häufiger um lebens- oder gesundheitsbedrohende Gefahren – Unfälle, Krankheiten, gefährli­che Situationen im Krieg – geht als bei der Abiturgruppe. Deutlich häufiger wird bei ihr auch erlittenes Unrecht thematisiert, häufiger sind Probleme der Selbstbehauptung gegenüber Eltern, Lehrern und Vorgesetzten, von anderen eingeheimstes Lob oder beruflicher Erfolg dargestellt.11 Zum andern finden sich bei der Volksschulgruppe aber auch weit mehr heitere Begebenheiten, Ausflugs-, Ferien- und Festtagsschilderungen. Dass man zumindest in manchen Perioden und Augenblicken »gut gelebt« habe, ist hier – neben dem Erreichen eines relativen Wohlstands – ein wesentlicher Gegenstand

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autobiographi­schen Selbstbewusstseins. Die Texte der Volksschulgruppe zeigen da­mit offenbar andere Charakteristika als die von Mutschler erhobenen Kindheitserinnerungen von Dorfbewohnern, bei denen sie zu dem Er­gebnis kommt, dass Positives außer in der Erwähnung kleiner Alltags­überraschungen (besonderes Essen und Ähnliches) unerzählbar sei, da man die Freuden der eigenen Kindheit im Vergleich zum heutigen Wohlstand wohl als vergleichsweise unbedeutend empfinde – wogegen die von Kindheit an geltenden Arbeitsanforderungen selbst als Glück, näm­lich als Bedingung eines gesünderen, harmonischeren Lebens, als es in der heutigen »Wohlstandsgesellschaft« möglich sei, gedeutet wür­den (vgl. Mutschler 1985, 108‑125). In den Texten der Volksschulgruppe – die ja auch nur zum Teil von Dorfbewohnerlnnen stammen – wird Selbstbewusstsein zu einem guten Teil gerade aus Situationen geschöpft, in denen es gelang, den Alltag zu durchbrechen. Solche Situationen sind z. B. Liedersingen am Abend, Ausflüge, eine Reise, die Kirmes, Festtage, Feiertage wie Kommunion und Konfirmation.12 Auch in mehreren Lebensbilanzen dieser Gruppe spielen solche Glücksmomente übrigens eine Rolle – womit diese Bilanzen teilweise eine andere Struktur als die zeigen, die Martin Osterland bei Lebensbilanzen und Lebensperspektiven von Industriearbeitern herausgearbeitet hat: Bei Osterland (1978, 273) entsteht der Eindruck, deren »resümierende Einschätzungen ihres vergangenen Lebens« bestünden lediglich in einer Bilanz des Erreichten im Sinne eines Vergleichs der früheren und der heutigen sozialen Situation. Dieses entwicklungsbezogene Resümieren – bei den von Osterland untersuchten Arbeitern mag es auch durch die Fragestellung der In­terviewer zustande gekommen sein – wird in den hier untersuchten Texten öfters überlagert oder wenigstens ergänzt durch eine »zirkulä­re« Bilanzierungsform, in der »Freud und Leid«, »Höhen und Tie­fen«, »schöne und schwere Zeiten« nebeneinander gestellt werden. Eine Episodengruppe, die bei den Volksschul-Autorlnnen fast völ­lig fehlt, bei der Abiturgruppe aber etwa ein Fünftel aller derartiger »Szenen« ausmacht, hat die psychische oder intellektuelle Verfassung der Biographieträger zum zentralen Problemgegenstand. Und auch in Episoden, wo es um das Miterleben wichtiger historischer Ereignisse geht, stellen die AutorInnen der Abiturgruppe die Wirkungen auf ihre Gefühls- und Gedankenwelt in den Vordergrund, während die der Volksschulgruppe mehr auf Folgen für ihre physische oder soziale Existenz abheben.13 Ein Arbeiter beschreibt den Einmarsch der Amerikaner 1945: (…) am Tag darauf standen sie dann vor den verschlossenen Gartentoren und be­gehrten Einlass. (…) Wir mussten versichern, dass im Wohnhaus keine deut­schen Soldaten oder SS waren, nur Frauen und Kinder. Der Offizier sah ab von einer Durchsuchung. Die Stun­ de Null war gekommen, und wir lebten noch. Dagegen eine Chefsekretärin:

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Und als der Krieg zuende war, fühlte ich eine große Erleichterung, ihn über­standen zu haben. Ich sah zum Fenster hinaus. ›Vous êtes gardé jour et nuit‹, rief ein junger Franzose zu mir hoch, und ich schlief auch ganz ruhig in dieser ersten Nacht nach dem großen Krieg. »In der Regel«, schreibt Fritz Schütze (1984, 91) über das autobiographische Stegreif­erzäh­ len, »wird zumindest andeutend gekennzeichnet, wie ein Ereignis sich auf die innere Erfahrungswelt des Biographieträgers auswirkt.« In den hier untersuchten, freilich schriftlichen Episoden­erzählungen, wird diese »Regel« von der Abiturgruppe weit häufiger und extensiver befolgt als von der Volksschulgruppe, die zwar teil­weise auch die eigene innere Verfassung, Gefühle und Gefühlsäuße­rungen thematisiert, dies aber meistens nur en passant, als Ingrediens, jedoch kaum einmal als Hauptthema von Abläufen und Handlungen. Aber nicht nur, dass die Erlebnisschilderungen in der Abiturgruppe öfter und intensiver als bei der Volksschulgruppe innere Reaktionen auf äußere Ereignisse darstellen: sie präsentieren auch ungleich häufi­ger Ausschnitte aus einem Prozess der Ichentwicklung, Szenen einer Individuation. Die Texte der Abiturgruppe knüpfen damit passagen­weise14 an die Problemstellung der traditionellen bürgerlichen Autobiographie an, deren Muster sich damit zumindest bei nicht-professionel­len Schriftstellern persistenter zeigen, als Bernd Neumann es in Iden­tität und Rollenzwang unterstellt.15 So gehorchen z. B. Kindheitsszenen und ihre Kommentierung bei der Abiturgruppe öfters dem von Sloterdijk (1978, 127) als klassisch-bürgerlich apostrophierten »Schon-Damals«Schema: Einen ausgeprägten Sinn für Ungerechtigkeiten hatte ich schon als Schüle­rin. In einer Zeit [als der Autor fünf Jahre alt ist] meldete sich auch mein künfti­ger Beruf erstmals an. Ich legte einen Stuhl so auf zwei seiner Beine, dass seine Lehne wie ein Kanzel­ brett wirkte. In dieser Kanzel hielt ich meine ersten Pre­digten. Häufig schildern die AutorInnen der Abiturgruppe Ereignisse, die als Ausgangspunkte einer neuen, prägend gebliebenen Erfahrung darge­stellt werden – wobei die meisten dieser Episoden explizit datiert und zwar im dritten bis fünften Lebensjahr angesiedelt sind. Es geht dabei z. B. um die erste Begegnung mit dem Tod, ein erstmals eingetretenes »unbeschreibliches Gefühl von Angst« oder – wiederum bei einem Pfarrer – ein Erlebnis im Gottesdienst, »das schon früh – ich war noch nicht vier Jahre alt – für meine weitere Lebensbahn ›die Weichen gestellt hat‹ «. Die wenigen Episoden in den Texten der Volksschul­gruppe, die ebenfalls Aspekte der Psychogenese zum Thema haben, spielen erst im Schulalter oder später, und sie berichten weniger von veränderten Einstellungen als solchen als von veränderten Verhaltensweisen: »Nach diesem Vorfall [der Vater schlägt dem Autor in dessen Jugend ein erbe­tenes Taschengeld ab] habe ich nie wieder etwas von meinem Vater verlangt.«

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In den Texten der Abiturgruppe setzt sich das Denken in Kategorien der individuellen Entwicklung auch in Szenen aus dem Jugend- und Erwachsenenalter fort, wobei es nun zunehmend auch um intellektu­elle Erfahrungen geht, um neue Erkenntnisse (»Da wurde mir klar, wie schrecklich alle Menschen von der Inflation betroffen waren«) oder auch neue Denkweisen (»Wir lernten uns sehen als das (…) von allen Schätzen der Welt abgetrennte Volk ohne Raum«). Ein Lehrer schreibt: Ich schloss mich einer Gruppe der Jugendbewegung an (›Wandervogel‹). Was ich dort an Sinn für Einfachheit, Klarheit, Echtheit und Form gewann, wuchs in mir und wirkte mein Lebtag in mir nach. Eine Hausfrau der Volksschulgruppe berichtet dagegen so über ihre Zeit in der Jugendbewegung: Da war es doch schön in der Jugendbewegung. Hier konnte man singen; Volkstänze und Laienspiele vorführen und das Schönste, wandern. (…) Das war eine Gemein­schaft und Zusammenhalt. Lachen und fröhlich sein, war das schön. Der Unterschied der beiden Passagen ist gruppentypisch: Dort die Schilderung einer Etappe auf dem Weg zur heutigen Individualität, hier die einer in sich abge­schlossenen Lebensperiode; hier eine dynamische, dort eine lediglich additive Verknüpfung von Lebenserfahrungen. Sicher: Die Texte der Volksschulgruppe berichten durchaus auch von Entwicklungen; aber das sind in aller Regel Veränderungen der äußeren Lebensbe­dingungen und der eigenen sozialen Lage, nicht solche der Subjektivi­tät.16 Dass »jedes Erzählen selbsterlebter Erfahrungen (…) sich zu­mindest partiell auf die Veränderungen des Selbst des Erzählers als Biographieträgers« beziehe,17 gilt weit mehr für die AutorInnen der Abitur- als für die der Volksschulgruppe. Relevanzproduktion

»Lebensgeschichtliches Erzählen«, schreibt Peter Sloterdijk (1978, 6), »ist eine Form sozialen Handelns – eine Praxis, in der individuelle Geschichten mit kollektiven Interessen, Werten, Phantasien und Leidenschaften zusammengewoben werden.« Zu den dabei angewandten Verfah­rensweisen gehören unter anderem der Anschluss eigener Reflexionen an gesell­schaftlich approbiertes »Kulturgut« – z. B. mithilfe von Zitaten –, das Herausstellen von Verbindungslinien zwischen der eigenen Biographie und Ereignissen oder Personen der »großen Geschichte« sowie der Versuch, die eigene Lebensgeschichte oder einzelne Aspekte da­von als Repräsentanten allgemeiner Zustände und Entwicklungen zu zeigen.

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Alle diese Methoden der »Relevanzproduktion« (ebd.) sind in den hier untersuchten Texten vorzufinden, doch in ihrer konkreten Aus­formung zeigen sich wiederum gravierende Gruppenunterschiede. Was dabei zunächst den Komplex der kulturellen Anleihen in Form von geflügelten Worten und Literaturzitaten angeht, so bezieht sich – wie erwartbar – die Abiturgruppe weit häufiger (19 Prozent) als die Volksschulgruppe (6 Prozent) auf »Klassiker« der Hochliteratur, und zwar insbesondere Goethe, Schiller und Fontane; diese Ebene ist bei der Volksschulgruppe lediglich durch zwei Uhland-Verse und eine Goe­the-Referenz vertreten – wobei letzterer aber als »Göthe« und mit einem ihm fälschlich zugeschriebenen Zitat auftaucht, so dass der An­näherungsversuch an die »legitime Kultur« zugleich die Entferntheit davon offenbart. In der Häufigkeit des Zitierens steht die Volks­schulgruppe der Abiturgruppe aber interessanterweise nicht nach: Der kulturelle Fundus, mit dem sie ihre Ereigniskommentare und Lebensbilanzen überhöht, besteht dabei neben Bibelzitaten insbeson­dere aus Liedversen, wobei die Frauen eher Verse aus Volksliedern, die Männer eher solche aus Vaterlandsliedern heranziehen. Mehr als die Abiturgruppe greift die Volksschulgruppe auch auf Selbstge­machtes, auf eigene Gedichte zurück, und mehrere Frauen die­ser Gruppe schließen ihren Text mit einer mundartlichen Anrede an die »Zuhörerrunde« ab (»Aber schö isch gwe, ihr glaubet’s doch«) – ein Stilmittel, das man vielleicht als Kompromissbildung zwischen kul­tureller Bescheidung und kulturellem Anspruch interpretieren kann. Wo es nicht nur um die literarische Überhöhung des eigenen Texts, sondern um die Aufwertung der eigenen Biographie durch das Auf­fi nden symbolischer Bezüge zur großen Geschichte und zur Ge­schichte der Großen geht, finden sich Beispiele vor allem in der Abiturgruppe. Ein mehrfach verwandtes Mittel ist hierbei das Anknüpfen an Handlungsorte der eigenen Lebensgeschichte: Ein leitender Angestellter erwähnt, dass er »in der Hölderlinstraße 14 unserer Landeshauptstadt« geboren sei; eine Professorenfrau, die in einem Gewann namens »Hühnerbühne« wohnt, erklärt, dies leite sich womöglich von »Heeresbühne« ab, da hier einmal Landsknechte ge­lagert hätten: Wie dem auch sei, wenn ich Jahrhunderte später hier oben umherschaue, dann er­f reut mich die Vorstellung einer Heeresbühne, meine Fantasie sieht ein buntes Lands­knecht­ lager à la Wallenstein auf der Hühnerbühne, vielleicht so­gar in meinem Garten. Dieselbe Autorin entdeckt auch Bezüge zwischen ihren Erfahrungs­landschaften und Topografien der Kunstliteratur: Wenn ich später (…) die romantische Novelle »Holunderblüte« von Wilhelm Raabe las, die meisterhaft den unheimlich faszinierenden Verfall des Prager Judenfriedhofs schildert, dann tauchte aus der Vergangenheit der Judenfried­hof an der Turmstraße auf, und das kleine Mädchen, das scheu über die alte Mauer auf die verwahrlosten Steintafeln sah.

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Auch zeitliche Parallelen zwischen bedeutsamen historischen und biographischen Ereignissen werden – und sei’s nur spielerisch – zur Aufwertung der letzteren herangezogen. Eine Frau der Abiturgruppe kommentiert die Tatsache, dass sie im Ersten Weltkrieg am Tage einer Siegesfeier von den Eltern bestraft wurde: »… und so geschah’s, dass am selben Tage die Franzosen und ich geschlagen wurden …«, und ein Ingenieur wählt für die Schilderung des 1. August 1914 die Erzähler­öffnung: »Dann kam das Unheil in zwiefacher Gestalt.« Die eine, so erfährt man dann, hatte die der Kriegsnachricht, die andere die eines Stiers, der ihn an jenem Tag verfolgte; das individuelle Erlebnis re­präsentiert die Gefahren, die zur selben Zeit am allgemeinen Horizont auftauchen. Das Spiel mit bedeutsamen zeitlichen Koinzidenzen findet sich frei­lich auch in Texten der Volksschulgruppe, hier aber nur im Zusam­menhang mit dem Geburtsdatum der AutorInnen. Interessanterweise werden jedoch alle hierbei genannten Bezüge zugleich als eher problema­tisch angesprochen: Am Erscheinungsfest des Jahres 1897 wurden in der, meinem Elternhaus na­he­lie­genden Stadtkirche, zum Gottesdienst die Kirchenglocken geläutet. Lei­der traf meine Erscheinung den Tag darauf in dieser Welt ein und aus einem so nichtigen Anlass wurden die Glocken nicht geläutet. Hätte ich diese Verspätung nicht gehabt, wären mein Leben lang an meinem Geburtstag die Glocken ge­läutet worden (Arbeiter). Mein Geburtstag ist am 27. 1. 1911 – also mit dem Kaiser Wilhelm. Da aber der Behörde an meiner Geburtsanmeldung ein Fehler unterlief, sollte ich im­mer 17. 11. 1911 sagen. (…) Als ich älter wurde, ließ ich mir das nicht gefallen und sagte, ich bin auf Kaisers Geburtstag geboren. Da bekam ich manchmal Schwierigkeiten mit dem falschen Datum (Hausfrau). Dass ich mit dem Napoleon I. den gleichen Tag und Monat als Geburtsdatum habe, war mir immer sonderlich vorgekommen, wenn ich astrologische Überlegungen anstellte. Viel Gleichartiges konnte ich jedoch nicht entdecken, nun, dazwi­schen liegen auch 131 Jahre. Hatte mein Vater Ärger, oder er war bestürzt, so rief er aus: Himmel-Napoleon! (Arbeiter). Noch deutlicher selbstironische Töne beim Umgang mit der Tatsache der »niederen Geburt« finden sich in anderen Schilderungen der Volksschulgruppe: In der Umdeutung des Worts »Hochwohlgebo­ren«,18 in der Desavouierung des zuvor gebrauchten Begriffs »in die Wiege gelegt« mittels des Hinweises, dass man statt in eine Wiege in eine »Eierkiste« gelegt wurde,19 oder durch eine Erzählung von »Salut­schüssen« bei der Geburt, die sich dann als bloße Klopfgeräusche ent­puppten.20 Das Spielen mit »höheren Bedeutungen« der eigenen Ge­burt und mit etablierten Topoi der Geburtsschilderung, das Wolfgang Emmerich bei dem selbst- und politisch bewussten Proletarier Ludwig Turek entdeckt hat (vgl. Emmerich 1987, 34 f.), ist also beileibe kein arbeiterautobiographischer Sonderfall.

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Die weitreichendste Bedeutung unter den hier diskutierten Formen von Relevanzsetzung aber hat sicherlich die Art der Vermittlung zwi­schen dem Biographisch-Einzelnen und dem Historisch-Allgemeinen. Peter Sloterdijk hat an Autobiographien der 1920er Jahre beobachtet, dass die bürgerliche Selbstdarstellung oft mit einem »Sym­ptom-Sy­stemSchema« arbeite, wobei das Individuum nicht nur als Teil, son­dern auch als Zeichen eines Ganzen – einer Epoche, eines Zeitgeists z. B. – auftrete, wohingegen die proletarische Autobiographie ein »Fall-Typus-Schema« bevorzuge, in dem das Individuum nicht sym­bolischer Spiegel einer Totalität, sondern Einzelfall einer Menge von Fällen sei (vgl. Sloterdijk 1978, 305). Eben die von Sloterdijk bei prominenten Vertretern der wissenschaftlichen und literarischen Intelligenz einerseits, der Arbei­terbewegung andererseits konstatierten »zwei Logiken der Repräsen­tation«21 trennen nun interessanterweise auch die hier untersuchten Texte der Volksschul- und der Abiturgruppe. Wo die AutorInnen der Volksschulgruppe ihre Lebensgeschichte oder Aspekte davon als re­präsentativ für geschichtlich-gesellschaftlich Allgemeines darstellen,22 geht es zu­meist um gemeinsame materielle, soziale und zuweilen auch politische Lebensbedingungen sowie die Art und Weise, mit ihnen umzugehen; als Bezugskollektiv – das oft nur als nicht näher erläutertes »Man« oder »Wir« erscheint – werden dabei insbesondere die eigene soziale Schicht oder die Unterschichten, die eigene Generation oder die Deutschen insgesamt ge­nannt oder als gemeint erkennbar. Unsere Gold- und Silberfüchse sowie unsere Ersparnisse wanderten auf Nimmer­wie­der­ sehen in die Kriegskassen. Die Kriegsgewinnler wurden reich und das Volk arm (Ar­bei­ ter). Nach meiner Schulentlassung erlernte ich das Schreinerhandwerk, eine harte Zeit begann, nicht nur für mich, sondern für das ganze Deutsche Volk (Arbeiter). Wo waren die braunen Herren mit ihren lackglänzenden Paradestiefeln, die den Karren in den Dreck schoben? Wir und viele tausende von braven Män­nern, die in den Städten ihre Arbeitsstätten wieder aufgebaut haben, mussten mit zerrissenen Schuhen, gute hatten sie keine mehr, (…) ihn wieder aus dem Dreck ziehen (Arbeiter). Bei den AutorInnen der Abiturgruppe nun finden sich solche »Fall­-Typus«-Bezieh­ungen, bezogen z. B. auf die Teilhabe am heutigen Wohlstand, ebenfalls; doch sie werden in vielen Fällen ergänzt durch jenes andere Repräsentationsmuster, bei dem die individuelle Le­bens­ geschichte als »Zeitgeschichte im Kleinen« auftritt und eigene Erlebnisse und Erfahrungen vom gleichen Fleisch und Blut sind wie die Leitfragen einer Epoche. Einige der AutorInnen sehen in ihrer Lebensgeschichte insgesamt eine solche Be­ziehung gegeben: Ausgedrückt findet sich das in explizi­ten Einleitungs- oder Schluß­pas­sa­gen, aber auch in Titelgebungen wie »Vom Feuer erfasst. Ein Leben durch zwei Weltkriege« oder »Ir­gendwo in der Welt brennt es immer«. Bedeutsamer ist jedoch, dass diese »Geschichts-

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mächtigkeit« des eigenen Erlebens auch in zahlrei­chen konkreten Beispielen dargestellt wird – wobei es hier, um es nochmals klarzumachen, nicht um Augenblicke geht, in denen histori­sche Ereignisse oder Berühmtheiten persönlich erlebt wurden,23 son­dern darum, dass die »kleine Geschichte« des Autobiographen selbst als Repräsentant der »großen Geschichte« gefasst wird. Demonstrieren lässt sich das z. B. an zwei unterschiedlichen Schilde­rungen vom Beginn der Nazi-Herrschaft. Eine Autorin der Volks­schulgruppe, damals Hausangestellte bei einer »Halbjüdin«, berich­tet: Unvergesslich ist mir, als Fräulein Dr. erzählte, als wir im Garten arbeiteten, den­ken Sie, meine Kollegin hat angerufen, ob ich Jude sei. So hat es angefangen. Dann kamen allerlei Gesetze heraus, unter anderem auch, wer im ersten Welt­krieg Laza­rett­dienst gemacht hat, ist von diesen Gesetzen befreit. Fräulein Dr. hat­[te] in einem Typhuslazarett in Russ­ land Dienst gemacht, und so hoffte sie, ihre Praxis weiterführen zu können, aber dem war nicht so. Das »So hat es angefangen« bezieht sich hier nicht auf die Judenver­folgung allgemein, sondern auf die dann weitererzählte Geschichte des »Fräulein Dr.«, die schließlich in einem Lager umgebracht wird. An­ders die Perspektive bei einer Autorin der Abiturgruppe, einer selb­ständigen Kauffrau: Hier steht die Formulierung »Das war der An­fang« für eine Identifikation des selbsterlebten Geschichtsausschnitts mit der Totalität des Geschehens: Eines Tages wurde [mein Junge] gefragt auf der Straße von Spielgefährten: »Männli, bist Du Jude?« (weil er braune Haare und Augen hat gegen die meist blonden Kin­der). Er darauf: »Nein, bin ein Jung!« Das war der Anfang der Hit­lerzeit. Ganz ähnlich eine Gymnasiallehrerin bei der Schilde­rung des Kriegsendes: Das Geknatter und Fahrzeuge kommen immer näher. Man hört Schritte durch den Keller­ gang kommen: Es erscheinen mit vorgehaltenen, schussberei­ten Gewehren die fremden, feindlichen Soldaten: »Deutsche Soldat da? Deut­sche Soldat da?« fragen sie. (…) Das Unfassbare war Wirklichkeit geworden: Die fremden Mächte hatten deutschen Boden besetzt. Neben solchem Ineinssetzen des miterlebten Einzelnen mit dem Gan­zen eines historischen Ablaufs stößt man auf das Aufsuchen symbol­trächtiger Einzelheiten der eigenen Lebensgeschichte, von Biographieaspekten, die für die großen Themen der Epoche transparent sind. So hebt ein Arzt die Tatsache hervor, dass das Sanatorium, in dem er nach 1945 arbeitete, davor eine Kaserne war und nachher wieder zur Kaserne wurde – in der Geschichte seines Arbeitsplatzes stellt er deut­sche Geschichte dar. Ein anderer Autor der Abiturgruppe, ein

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Bade­ner, nimmt Bezug auf den Anlass des Schreibaufrufs, das 25jährige Be­stehen BadenWürttembergs, und präsentiert in der Schlusspassage seiner Lebensgeschichte seine Ehe als »Südweststaat im Kleinen«: Zur Abrundung des Gesamtbildes ist festzustellen, dass ich (…) wieder gehei­ratet habe und zwar eine echte Schwäbin aus Reutlingen. Wir verstehen uns ausgezeichnet und das Zusammenleben ist ein Genuss. Zu Symboltatsachen dieser Art kommen in den Texten der Abiturgruppe Symbolszenen, in denen das Einzelne mit literarischen Mitteln als Erscheinung eines tieferliegenden Sinns gestaltet wird. So etwa, wenn das Erlebnis des Kriegsbeginns 1914 in eine Szene gefasst wird, in der unter anderem »schwül drückende Wolken« eine »unheilschwangere At­mosphäre« verbreiten, oder wenn die Situation des Kriegsendes 1918 in einer »Wir warten« überschriebenen Episode folgendermaßen dar­gestellt wird: Der Wartesaal riecht nach kaltem Raum und Karbolineum. Unter einem Emaille­schirm, der so mit Staub bedeckt ist, dass man sein einstiges Weiß nicht mehr er­kennen kann, verbreitet eine elektrische Birne ein schwaches Licht. Es ist kalt und nass. Novemberwetter. Dann kommt der Vater mit dem Zug aus dem Krieg zurück, die Wartenden freuen sich. »Über allem aber liegt doch ein grauer Schleier der Enttäuschung über den verlorenen Krieg.« Hier wird das sinnliche Einzelne in seiner Unmittelbarkeit zum Träger einer übergeordneten Bedeutung: Individuelles und Allgemeines sind zumindest tendenziell in einer dritten Dimension aufgehoben, die Ge­org Lukács im Anschluß an Hegels Ästhetik als die der »Besonder­heit« bezeichnet hat (vgl. Lukács 1969). Damit berühren diese Szenen die Grenze zur fiktionalen Literatur. Aber dies eben nicht einfach deshalb, weil die AutobiographInnen der Abiturgruppe eine größere »Lust zum Fabu­lieren« hätten oder geübter im Gestalten wären als die AutorInnen der Volksschulgruppe, sondern weil sie, obwohl selbst auch nur schlecht­platzierte Zeugen und Objekte der großen Geschichte, den Anspruch haben, diese Geschichte in ihrer Lebensgeschichte verkörpert zu se­hen. Lebensweise, Schreibweise

Vierundsiebzig Kurzautobiographien, einem einzelnen Schreibaufruf entnommen, können kein repräsentatives Bild der autobiographischen Kultur der sozialen Gruppen liefern, denen sie entstammen. Doch ist es zweifel­los auffallend, wie deutlich sich bei diesem relativ kleinen Textsample, in dem Besonderheiten der Einzeltexte noch stark zu Buche schlagen, die Darstellungsmuster der Untersuchungsgruppen unterscheiden. Diese gravierenden Differenzen, die den Gegensatz von klassisch-­bürgerlicher Autobiographie und »klassischer« Arbeiterautobiographie überlebt haben, haben ihren Konstitutionsgrund offensichtlich nicht

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in der Polarisierung zweier politischer Kulturen, eines bürgerli­chen und eines proletarischsozialistischen Lagers, sondern in Unter­schieden des soziokulturellen »Habitus«, die wiederum mit solchen der Lebensweise zusammenhängen. Dabei, diese methodische Anmerkung sollte abschließend doch noch gemacht werden, sind Lebens- und Schreibweise sicherlich nicht als homolog, sondern als miteinander vermittelt zu denken. Die Darstellung der eigenen Individualität etwa, die im Vordergrund die­ser Untersuchung stand, ist nicht als planes Abbild der wirklichen Rolle von Ichsein und Ichentwicklung im Leben des Biographieträ­gers, ja noch nicht einmal als pars pro toto seines Individualitätsbe­wusstseins anzusehen. Lebens- und Denkweise allgemein werden vielmehr gebrochen durch die spezifischen Strukturen und das heißt auch Traditionen des Handlungsfelds »autobiographisches Schreiben« – ein Faktum, das den meisten Interpreten theoretisch wohl klar ist, praktisch aber doch gerne vernachlässigt wird. Wenn Georg Bollen­beck (1976, 135) die Tatsache, dass in der Autobiographie des Arbeiters Carl Fi­scher dessen individuelle Bedürfnisse und dessen Innenleben kaum zur Sprache kommen, aus der »proletarischen Lebensweise« erklärt, »die mit ihrer Arbeitshetze und Daseinsnot gepflegte Seelenschau nicht zuließ«, so steht das im Widerspruch zu der gleich darauf zitier­ten Aussage Fischers: »Als Arbeiter habe ich mit Fleiß von meinen in­neren Zuständen nicht gesprochen, weil ich nur ganz allein meine Ar­beit beschreiben wollte; denn zwei Arbeiten auf einmal auszuführen, das gerät mir nicht (…)« (Bollenbeck 1976, 135). Und gewiss trifft es etwas ganz Wesentliches, wenn Mutschler (1985, 124) in ihrer Arbeit über Kindheitserinnerungen von Dör­flerInnen schreibt, »Nachdenken über die eigene Persönlichkeitsent­ wicklung« sei »ein Bildungsprivileg«. Doch es ist nicht ausgeschlos­sen, dass z. B. die Arbeit an einem autobiographischen Text – mehr vielleicht als ein relativ kurzes Interview – bisher eher latente Selbstre­flexion nach außen holt (vgl. Warneken 1985, 41‑43); wo dies nicht geschieht, kann – wie bei Carl Fischer – auch eine Prioritäten setzende Schreibstrategie beteiligt sein. Und wenn z. B. ein Autor der Volksschulgruppe am Schluss seines Le­bens­ berichts die Befürchtung ausspricht, dass »dem ganzen Schrieb zuviel Persönliches anhaftet«, deutet das darauf hin, dass bei der Ent­scheidung von Unterschichtangehörigen, nicht so viel von innerem Er­leben, sondern mehr von Miterlebtem zu berichten, wieder die ein­ gangs konstatierte Selbstbeschränkung des eigenen Äußerungsrechts im Spiel ist. Man muss ja nicht Adorno (1958, 63) gelesen haben, um zu wissen, dass »Erzählen heißt (…): etwas Besonderes zu sagen haben«, und dass auch die Konstitutionsgeschichte des eigenen Ich ein erzählens­wertes Besonderes sei, ist in der »Abiturgruppe« der Gesellschaft eben selbstverständlicher als in der »Volksschulgruppe«. Wenn sie das gesellschaftliche Interesse an den lebensgeschichtlichen Erfahrungen der unteren Sozialschichten nachdrücklich genug vertreten, können sicher auch sozialhistorische und kulturwissenschaftliche Feldfor­ schung dazu beitragen, dass sich an dieser ungleichen Verteilung auto­biographischen SelbstBewusstseins etwas ändert.

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Anmerkungen 1 So der Titel einer Dissertation von Petra Frerichs (o. J.). 2 Vgl. neben Frerichs (o. J.) unter anderem Münchow (1973) und Bollenbeck (1976). 3 Die 1955 entstandene Studie von Schatzman und Strauss zur Verschieden­heit von Unter- und Mittel­ klassen­erzählungen über eine Tornadokatastro­phe ist zwar auch in der hiesigen Erzählforschung zur Kenntnis genommen worden, vergleichbare Unter­suchungen für das Gebiet der mündlichen Au­to­ biographik entstanden aber meines Wissens nicht. Vgl. Schatzman/Strauss (1955). 4 Eingesandt wurden insgesamt etwa 2000 Texte von – nach eigener Zählung – 1469 AutorInnen, davon ca. 55 Prozent Frauen und 45 Prozent Männer. Weitere Angaben zu diesem Schreibaufruf bei War­ neken (1985, 84‑87). 5 Die Auswahl der beiden Textgruppen erfolgte so, dass zunächst aus den im Haupt­staats­archiv Stutt­ gart lagernden Einsendungen solche Manuskripte aussortiert wurden, die sich durch Titelgebung, Einleitungs- oder Schlusspassagen als lebensgeschicht­liche Darstellungen zu erkennen gaben. Deren AutorInnen wurde, sofern ihre Adresse angegeben war, ein Fragebogen zur Person geschickt. In das auszuwertende Sample wurden zunächst die Texte derjenigen Antwortenden aufgenommen, die bei dieser Befragung Volksschul- oder Abitursabschluss angegeben hatten. Um relativ homo­gene Gruppen zu erhalten, wurden davon alle diejenigen ausgeschieden, deren Verfasser­Innen Flüchtlinge waren; bei den Autoren der Volksschul­gruppe wurden dann nur Industriearbeiter, bei den Autorinnen dieser Gruppe nur Arbeiterinnen, Arbeiterfrauen und Angestellte (vor allem Verkäu­ferinnen, Büro- und Hausangestellte) berücksichtigt, bäuerliche und selb­ständige Berufe also ausgeklammert. Das durchschnittliche Geburtsjahr bei Volksschul- und Abiturgruppe ist 1904, vertreten sind Angehörige der Jahrgänge 1890 bis 1915. 6 Die Seite ist mit 2400 Zeichen gerechnet. Im Schreibaufruf war um Texte von bis zu zehn Seiten Umfang gebeten worden. 7 Eigene Recherchen bei TeilnehmerInnen verschiedener Schreibwettbe­werbe für ältere MitbürgerInnen, die Mitte der 70er bis Anfang der 80er Jahre durchgeführt wurden, ergaben für die Personen mit Volksschulab­schluss einen Anteil von 29 Prozent bis 54 Prozent. Nach dem Statistischen Jahrbuch von 1979 hatten 1978 85 Prozent der Bundesdeutschen über 60 Jahre einen Volks­schulabschluss. 15 Prozent bis 32 Prozent der Einsendungen stammten von AutorIn­nen mit Abiturabschluss, den damals nur 4,5 Prozent dieser Altersgruppe hatten (Warneken 1985, 23‑26). Die Beteiligungsquoten unterer Bildungsschichten waren also deutlich geringer, wenn auch keineswegs verschwindend klein. 8 Yves Lequin und Jean Metral (1980, 253), denen bei mündlichen Lebenserzählungen französischer Arbeiter die Knappheit und Bruchstückhaftigkeit des Berich­teten auffiel, sehen in dieser Äußerungs­ weise ebenfalls eine Folge des »sehr unterentwickelten Selbst-Bewusstseins (…) der Volkskultur«. 9 Vgl. zu diesem Problem ausführlicher Osterland (1978). 10 Zur besonderen Bedeutung solcher Episodenerzählungen vgl. Schulze (1979, 60 ff.). 11 Das passt zu den bilanzierenden Schlusspassagen der Texte, wo die Auto­rInnen der Volksschulgruppe eher auf Fragen des materiellen Standards und des Behauptens oder Erreichens eines zufriedenstellenden sozialen Status, auf Not und Mühe abheben als die der Abiturgruppe. Von arbeits- ­und mühevollem Leben sprechen 17 Prozent vs. 4 Prozent bei der Abiturgruppe, da­von, dass man durch diese Arbeit etwas erreicht habe, 15 Prozent vs. 4 Prozent, und die heutige Zufriedenheit mit dem materiell und sozial Erreichten betonen 26 Prozent vs. 7 Prozent. 12 In der – nicht zum Sample gehörigen – Lebensgeschichte eines 1893 ge­borenen Stutt­garter Arbeiters wird das hier wirksame autobiographische Prinzip mit dem Satz expliziert: »Einmal gut gelebt, gedenkt man immer« (Hagenbuch o. J., 5).

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13 Zu diesem Befund stimmen auch Unterschiede in der Titelgebung der Tex­te: Bei den AutorInnen der Volks­schulgruppe überwiegen Titel wie »Mein Leben«, »Aus meinem Leben«, »Das war mein Leben«, «So war es«, wogegen von der Abiturgruppe häufiger Titel wie »Impressionen 1914–1965« oder »Mein Erleben« gewählt werden. 14 Schon eine grobe Analyse der Gesamttexte ergibt, dass sie nicht durchgän­gig der Individuationsper­ s­pektive gehorchen. Andererseits findet eine sol­che sich nicht nur in den hier vorgestellten »Szenen«, sondern auch in den Berichtsteilen der Texte; in einigen Fällen verweisen auch Titel bzw. Kapi­tel­ über­schriften (wie »Wende­punkte« oder »Erste Begegnung mit der Po­litik«) auf die Perspektive Ich­ entwicklung. 15 Neumann meint, die »Konzeption der Autobiographie als Bildungsge­schichte einer Individualität« sei »unlösbar verknüpft mit der vorindustriel­len bürgerlichen Gesell­schaft« (Neumann 1970, 188). Danach ent­stehe mit dem »außen-geleiteten« Charakter ein bloßer Rollenspieler, was »die Autobiographie als Geschichte der Entwicklung einer Individualität unmöglich« mache (ebd., 189). 16 Die Ausnahmen bilden die Lebensgeschichte einer Verkäuferin, die mehrmals ihre frühere Schüch­ ternheit und heutige Selbständigkeit hervor­hebt, und in gewisser Weise auch die eines Handwerkers, der sein Selbst­bewusstsein als durch mehrmalige ungerechte Beurteilung seiner berufli­chen Leistungen gebrochen bezeichnet. 17 So Schütze (1984, 82). Schütze amplifiziert den Begriff »Veränderungen des Selbst« kurz danach zu »Auswir­kung [des] Erlebens auf die lnnenwelt des eigenen Selbst«. 18 »Mein Vater war wohl hochgeboren, aber nicht Hochwohlgeboren. Als Sohn eines Turmwächters wurde er auf dem Hochwachturm in Kirchheim u. Teck geboren« (Arbeiter). 19 »Irdische Güter wurden mir nicht in die Wiege gelegt. Doch was heißt Wie­ge, es war eine Eierkiste, hübsch innen und außen mit Stoff bezogen. Woher sollte meine Mutter, die schon ein Kind hatte, einen Bullen, eine richtige Wiege herzaubern, hatte sie doch gerade das Allernötigste, was ein Mensch zum Leben braucht« (Büroangestellte). 20 »Ich muss eine verwunschene Prinzessin sein, denn in der Nacht, in der ich geboren wurde, wurde überall in Europa Salut geschossen.« So habe es je­denfalls die Mutter geträumt. »Das vermeintliche Schießen war (…) nichts anderes als das Klopfen meines Vaters an der Tür und an den Fenstern. (…) Er war aus dem Krieg nach Hause in Urlaub gekommen« (Büroangestell­te, dieselbe Autorin wie in Anmerkung 19). 21 Ebd. 22 Wie oft dies in den Texten geschieht und ob es, wie vermutbar, seltener praktiziert wird als in älteren oder neueren Autobiographien politisch täti­ger Arbeiter, wäre eine wichtige Frage, der nachzugehen aber den Rahmen dieser Untersuchung überschritt. 23 Solche Erlebnisse – ein Gottesdienst, bei dem auch Kaiser Wilhelm II. an­wesend war, eine Be­geg­ nung mit Einstein, usw. – finden sich bei der Abiturgruppe ebenfalls häufiger als bei der Volks­schul­ gruppe, doch hat dies sicher mehr mit Unterschieden der Lebensgeschichte als solchen der Le­bens­ geschichtsschreibung zu tun.

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Literatur Adorno, Theodor W. (1958): Standort des Erzählers im zeitgenössischen Ro­man. In: Ders.: Noten zur Literatur 1. Frankfurt am Main, 61‑72. Bollenbeck, Georg (1976): Zur Theorie und Ge­schichte der frühen Arbeiterlebenserinnerungen. Kron­ berg/Ts. Bourdieu, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main. Emmerich, Wolfgang (1987): Rekonstruktion oder Konstrukt? Kindheiten um 1900, dargestellt in bürger­ lichen und proletarischen Autobiographien. In: Konrad Köstlin (Hg.): Kinderkultur. 25. Deutscher Volkskundekon­gress in Bremen vom 7. bis 12. Oktober 1985. Bremen, 29‑40. Frerichs, Petra (o. J. [1981]): Bürgerliche Autobiographie und proletarische Selbstdarstellung. Frankfurt am Main. Hagenbuch, Ernst (o. J. [1981]): Ein Arbeiter-Leben. Masch. vervielf. Ms. O. O. [Stuttgart]. Le­quin, Yves/Jean Metral (1980): Auf der Suche nach dem kollektiven Gedächtnis. Die Rentner der Metallindustrie von Givors. In: Lutz Niethammer (Hg.): Le­benserfahrung und kollektives Gedächtnis. Die Praxis der »Oral History«. Frankfurt am Main, 249‑271. Lukács, Georg (1969): Über die Besonderheit als Kategorie der Ästhetik. In: Ders.: Probleme der Ästhetik. Neuwied/Berlin, 539‑786. Münchow, Ursula (1973): Frühe deutsche Arbeiterautob­iographien. Berlin (DDR). Mutschler, Susanne (1985): Ländliche Kindheit in Lebenserinnerungen. Familien- und Kinderleben in einem württembergischen Arbeiterbauern­dorf an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Tübingen. Neumann, Bernd (1970): Identität und Rollenzwang. Zur Theorie der Auto­biographie. Frankfurt am Main. Osterland, Martin (1978): Lebensbilanzen und Lebensperspektiven von Industriearbeitern. In: Martin Kohli (Hg.): Soziologie des Lebenslaufs. Darmstadt/Neuwied, 272‑290. Schatzman, Leonard/An­selm Strauss (1955): Social Class and Modes of Communication. In: The Ameri­ can Journal of Sociology LX, 329‑338. Schütze, Fritz (1984): Kognitive Figuren des autobiographischen Stegreiferzäh­lens. In: Martin Kohli/ Günther Robert (Hg.): Biographie und soziale Wirklichkeit. Neue Beiträge und Forschungsperspektiven. Stuttgart, 78‑117. Schulze, Theodor (1979): Autobiographie und Lebensgeschichte. In: Dieter Baacke/Theo­dor Schulze (Hg.): Aus Geschichten lernen. Zur Einübung pädagogischen Verstehens. München, 51‑98. Sloterdijk, Peter (1978): Literatur und Organisation von Lebenserfahrung. Autobiographien der Zwanziger Jahre. München. Warneken, Bernd Jürgen (1985): Populare Autobiographik. Empirische Studien zu einer Quellengattung der Alltagsgeschichtsforschung. Tübingen.

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Schreibkulturen Von den unterschiedlichen Schreiberfahrungen in der älteren Generation

Das Ausmaß, in dem untere Bildungs- und Sozialschichten schreiben konnten und geschrieben haben, ist lange Zeit unterschätzt worden: Nicht nur Desinteresse, sondern auch die Erwartung, dass die Suche nach Zeugnissen der »popularen Schreibkultur«1 allzu mühsam und unergiebig sein dürfte, führten zu nur punktuellen Bestandsprüfungen und Sammelanstrengungen. Etwa seit Anfang der achtziger Jahre ist das Bild von der weitgehenden »Schriftlosigkeit des Volkes«, das ab und zu zwar unterschrieben, aber kaum etwas niedergeschrieben habe, mehr und mehr revidiert worden. Sozialhistorische und volkskundliche Projekte zur Arbeits- und Lebensweise der Landbevölkerung konnten unerwartet große Bestände von bäuerlichen und handwerklichen Arbeits-, Kunden-, Rechnungs- und Tagebüchern aus der Frühen Neuzeit und vor allem dem 19. Jahrhundert sichern – Zeugnisse einer Veralltäglichung der Schreibpraxis, die durch die allmähliche Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht ermöglicht und die Modernisierung sowie die zunehmende Marktvermitteltheit der handwerklichen und der agrarischen Produktion notwendig wurde (vgl. u.a Hopf-Droste 1981; Ottenjann/Wiegelmann 1982; Peters/Harnisch/Enders 1989). Ebenso fand die Briefpraxis unterer Sozialschichten in den letzten Jahren größere Beachtung. Dabei wurde deutlich, dass nicht nur die Ausnahmesituation der Auswanderung (vgl. u. a. Mesenhöller 1985), sondern auch die im 19. Jahrhundert sich verstärkende Binnenmobilität – in Verbindung mit einem verbesserten Postwesen – nicht selten von Familie und Freundeskreis weggezogene oder momentan getrennte Lehrlinge, Handwerksgesellen, Arbeiter, Dienstboten zur Feder greifen ließ – ganz zu schweigen von der Brief- und Postkartenflut in den Kriegsjahren 1870/71 und vor allem 1914–18 (vgl. dazu u. a. Schober 1987). Das verstärkte Interesse an Alltagskultur und Mentalität unterer Sozialschichten lenkte den Blick zudem auf die Tatsache, dass die fortschreitende »Verstaatlichung« der Gesellschaft v. a. im 19. Jahrhundert einen wachsenden Briefverkehr auch zwischen Unterschichtlern und Behörden mit sich brachte: Heirats- und Anstellungsgesuche, Bittschriften, Beschwerde- und Dankbriefe, Eingaben in Steuer- und Strafsachen (vgl. Grosse u. a. 1989). Die Hinwendung zu einer »Geschichtsschreibung von unten« führte außerdem zu der Entdeckung, dass für das 19. und insbesondere 20. Jahrhundert über die bekannten Beispiele von Unterschichts-, insbesondere Arbeitermemoiren hinaus noch erhebliche Bestände an »popularer Autobiographik« (vgl. Warneken 1985; Bergmann 1991) existieren, die von der Forschung bisher nicht erschlossen wurden. An Schreibaufrufen, die Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre zur Niederschrift bzw. Einsendung von Lebenserinnerungen aufforderten, beteiligten sich auch zahlreiche MitbürgerInnen unterer Bildungsgruppen

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mit Volksschulbildung. Von den TeilnehmerInnen mehrmaliger Schreibwettbewerbe einer Volkshochschule hatten etwa 29 Prozent, von denen eines Fernsehaufrufs etwa 36 Prozent einen Volksschulabschluss (vgl. Warneken 1985, 23‑26). Bei einer Umfrage des Tübinger Ludwig-Uhland-Instituts unter EinsenderInnen zu solchen Schreibaufrufen ergab sich zudem ein erheblicher Prozentsatz von Gelegenheitsautoren der unteren Sozialschichten, die sich auch schon in literarischen Genres wie z. B. Gedicht, Kurzgeschichte, Theaterstück und Roman versucht hatten (vgl. ebd., 137‑140). Selbst wenn die bisher gewonnenen Einblicke in das populare Schreiben noch äuß­erst lückenhaft sind, lässt sich also doch behaupten, dass die Barriere zwischen Volkskultur und Schreibkultur in der Stadt sowie auf dem Land schon im 18. Jahrhundert niedriger war als lange Zeit angenommen (vgl. Ziessow 1988) und dass die seitherige Entwicklung zu einer Vermehrung der Schreibanlässe und Schreibgenres auch in den unteren Bildungs- und Sozialschichten geführt hat. Doch so nötig es angesichts einer noch immer ganz ungenügenden Sammel- und vor allem Auswertungsarbeit bleibt, auf diese Tatsache hinzuweisen, so voreilig wäre es anzunehmen, die Schreibpraxis der verschiedenen Sozialgruppen habe sich im Laufe der Zeit quantitativ oder gar ihren qualitativen Merkmalen nach nivelliert. Erhebungen zur Brief- und Tagebuchpraxis z. B. zeigen auch für die jüngere Vergangenheit noch erhebliche soziale Unterschiede (vgl. Warneken 1985, v. a. 15 und 19). Auch die auf den ersten Blick beachtliche Zahl von 30‑35 Prozent AutorInnen mit Volksschulabschluss, die sich an den genannten Schreibaufrufen beteiligt haben, relativiert sich angesichts der Tatsache, dass der Anteil dieser Bildungsgruppe unter den über 60jährigen damals 85 Prozent betrug; sie ist bei den Einsendungen also fast dreifach unterrepräsentiert. Auszugehen ist zudem von erheblichen Schicht- und Geschlechtsunterschieden bei den Schreibgenres, -inhalten und -stilen sowie den Schreibadressaten und -funktionen. Die Kluft zwischen legitimer und popularer Kultur ist durch die Ausbreitung der Schreibkultur nicht geschlossen worden, sondern teilt diese in verschiedene Schreibkulturen, die zudem nicht nebeneinanderstehen, sondern – auch der Selbsteinschätzung der Schreibenden nach – in vielen Aspekten hierarchisch geordnet sind. Hier ist also wieder einmal der »Fahrstuhl-Effekt« zu konstatieren, bei dem soziale und kulturelle Unterschiede einige Etagen höher gefahren, aber keineswegs aufgehoben wurden (vgl. Beck 1986, 122). Im Folgenden wird nun versucht, etwas von den Eigenheiten dieser »Schreibkulturen in der Schreibkultur« zutage zu fördern, wobei neben der Frage der Schichtspezifika gleichrangig die der Geschlechterunterschiede berücksichtigt werden soll. Den Untersuchungsgegenstand bilden Schreiberfahrungen älterer Hobby- oder GelegenheitsautorInnen, die zum größten Teil noch in der Kaiserzeit eingeschult wurden; das untersuchte Material besteht aus Einsendungen zu einem 1981/82 ergangenen Schreibaufruf des Ludwig-Uhland-In­ stituts der Universität Tübingen. Dieser richtete sich an damals über 60jährige Frauen und Männer, die sich zuvor schon an Aufrufen zur Einsendung von Erinnerungstexten beteiligt hatten,2 und erbat von ihnen Niederschriften zum Thema »Meine Erlebnisse mit dem Schreiben« (vgl. Warneken 1987).3 Von den 329 Angeschriebenen schickten 166 (86 Frau-

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en und 80 Männer) einen solchen schreibbiographischen Bericht; die Textumfänge reichten von einer halben Seite bis zu 70 Seiten, im Durchschnitt waren die Berichte dreieinhalb Seiten lang.4 Geboren sind die EinsenderInnen zwischen 1893 und 1921, ihr »durchschnitt­lich­es Ge­­ burts­jahr« ist 1909. 64 der EinsenderInnen hatten Volksschulabschluss (im »Autorensteckbrief« unter den Textauszügen als »V« vermerkt), 77 hatten die Mittlere Reife (M) oder vergleichbare Abschlüsse, 25 das Abitur (A).5 Die Einsendungen der beiden erstgenannten Gruppen repräsentieren dabei, insofern sie weder von professionellen AutorInnen noch von Angehörigen der Intelligenzschicht stammen, das mit »populare Schreibkultur« bezeichnete Spektrum; die Texte der Abiturgruppe dienen vor allem als Vergleichsgröße, vor der sich Merkmale dieses popularen Schreibens deutlicher konturieren.6 Es braucht wohl kaum darauf hingewiesen werden, dass die hier praktizierte Einordnung der AutorInnen in drei soziale, genauer gesagt Bildungsgruppen natürlich stark vereinfachenden Charakter hat, da sie sich nur auf das eine – wenn auch wesentliche – Merkmal Schulabschluss bezieht. Eine stärker differenzierende und z. B. die Berufsausbildung, die ausgeübten Berufe sowie Daten über die Eltern der AutorInnen einbeziehende Darstellung hätte jedoch das Sample in zu viele kleine Untergruppen, ja in Einzelfälle zersplittert. Ohnehin ist die Anzahl der Aussagen zu bestimmten Einzelthemen oftmals gering;7 es bedürfte noch breiter angelegter Erhebungen, um zu klären, ob die hier beobachteten Gruppen- und Geschlechterunterschiede für GelegenheitsautorInnen dieses Alters und dieser Bildungsgrade tatsächlich typisch sind. Die Untersuchung hat somit den Charakter einer vorsichtigen Annäherung an ein noch weitgehend unbekanntes Terrain. Schreibenlernen

Einen wesentlichen Teil der »Schreiberlebnisse« nehmen Berichte vom Schreibenlernen in der Schule ein. Manifest im Wortsinne von handgreiflich wird diese Initiation in eine bis dahin fremde Kultursphäre durch die Inbesitznahme von Schreibutensilien wie Schiefertafel oder Griffelkasten, die in den Erinnerungen denn auch immer wieder geschildert wird. Wirklich nahe kam man der Schreibkultur der Erwachsenen freilich erst mit der Benutzung von Tinte und Papier. Ein Autor beschreibt die Austeilung dieser Kulturgeräte ganz ausdrücklich als kultischen Akt – er vergleicht den Vorgang mit dem Abendmahl: Nach langer, langer Zeit und gewichtiger Ankündigung mussten wir einen Federhalter und eine ›Bremer Börsenfeder EF‹ mitbringen. Wie bei der Austeilung des Abendmahles am Konfirmationstag, so feierlich ging der Lehrer mit einem Tablett, das nach drei Seiten mit einem Rand aus Latten umgrenzt war, durch die Bankreihen und teilte die Tintentöpfe aus, die sogleich aus dem Loch, das in der Bank auf jedem Platz wartete, in Sicherheit gebracht werden mussten. (Pfarrer, geb. 1912, A)8

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Sehr deutlich wird aus den Berichten, dass beim Schreibenlernen nicht nur eine einzelne »Kulturtechnik« eingeübt wurde, sondern ein ganzer Komplex von Verhaltensweisen mitzulernen war: Ausdauer zum Beispiel und »Frustrationstoleranz« beim wiederholten Versuch korrekter Buchstabenformung, die »richtige« Sitzhaltung und die »richtige« Fingerhaltung, aber auch Sauberkeit sowie sparsamer und pfleglicher Umgang mit Gebrauchsdingen. Als Gefahren lauerten der Klecks, die zerbrochene Schiefertafel, das Eselsohr im Schreibheft. Die Schreibdisziplin ist ein Modell für Sozialdisziplinierung insgesamt.9 Zahlreiche Erinnerungstexte berichten von dabei geschlagenen Wunden, die teilweise bis heute nicht verheilt sind: Während einer Schönschreibstunde mit unserem alten Lehrer, bei dem ich mich bis dahin meines Wissens nie unbeliebt gemacht hatte, geschah folgendes. Als er bei einem Kon­ troll­gang bemerkte, dass ich, einer sicher nicht guten Angewohnheit folgend, ab- und wieder ansetzte, blieb er neben mir stehen, gab mir bei jedem Absetzen einen Schlag mit dem Rohrstock auf den rechten Oberarm und forderte mich zum ›Weiterschreiben‹ auf. Die bei mir erzielte Wirkung war allerdings für ihn negativer Art insofern, dass ich das Schreiben ganz einstellte. Erst als er seinen Marsch fortsetzte, schrieb ich so weiter, wie ich es auch heute noch tue, nämlich mit gelegentlichen Unterbrechungen in längeren Wörtern. Vielleicht bin ich durch diese Behandlung sogar zu einer Art Schreibmuffel geworden. Ich schreibe sehr ungern lange Briefe und bewundere Leute, die dieses oft und gerne tun. (Dreher und Kontrolleur, geb. 1911, V) In etwa 35 Prozent der Schulerzählungen wird über Mühe und Angst beim Schreibenlernen berichtet, und fast jede/r Dritte berichtet von strengen, teilweise prügelnden Lehrern, wobei Männer dies mit 47 Prozent weit häufiger tun als Frauen mit nur etwa 13 Prozent. Positiv bewertet wird diese »Schreibzucht« vor allem von AutorInnen mit Volksschulabschluss: Ich habe wie damals in der Schule üblich schönschreiben lernen müssen. Für Schul­arbeiten hatte ich wegen Schlag- und Fußballspielen nie viel Zeit. Da gab es morgens meist erst Prügel mit dem Reetstock. Aber dieser strengen Schulerziehung habe ich es zu verdanken, dass ich wenigstens das notwendigste lernte. (Arbeiter, Straßenbahner, Postfacharbeiter, geb. 1899, V) Mit deutlich kritischem Akzent schildern von der Volksschulgruppe nur einer, von der Mittlere-Reife-Gruppe drei und der Abiturgruppe vier AutorInnen autoritäre Formen des Schreibunterrichts: Eine wahre Freude war das Schreibenlernen mit 5 ½ Jahren nicht gerade, vielmehr war es durch die gestrenge Frau Mama, die die Schularbeiten genau kontrollierte und auf das Schönschreiben besonderen Wert legte, mehr oder weniger eine Qual. (…) Zuerst schrieben wir auf der üblichen Schiefertafel mit dem ständig abbrechenden oder stump-

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fen Griffel, wobei man durch die ›Hilfe‹ des seitlichen Aufpassers mehr schwitzte als malte. Schwupp, hatte ich eins hinter den Ohren oder es gab ›Maulschellen aus der kalten La-main‹, wie man zu Hause zu sagen pflegte und womit die unvorhergesehene, ruckartige Bewegung mit kurzem Arm und langer Hand gemeint ist, wenn ich mal wieder das vierteilige Linienband überkritzelt oder die Worte nicht exakt genug, vielleicht sogar falsch geschrieben hatte. (Tierarzt, geb. 1913, A) Ein ehemaliger Volksschulrektor sieht den Schreibunterricht seiner Kindheitsepoche ausdrücklich als pars pro toto einer gegen »krumme Touren« aller Art gerichteten Ordnungserziehung: Schönschreiben war einst ein eigenes Unterrichtsfach mit Zeugnisbenotung. Diese Stun­ den waren in besonderer Weise einbezogen in die erzieherischen Gepflogenheiten jener Zeit. Es handelte sich eben um festgelegte Normen, die der Schüler (an-)erkennend nachgestalten musste, und zwar peinlich genau, ohne ›krumme Touren‹. Alle Ab­wärts­striche mussten durch Druck verstärkt werden; die Rechtsneigung war ebenfalls genau vorgeschrieben. Wohl herrschte eine gewisse – leistungsfördernde – Ruhe bei diesen Übung­ en, aber ›Zucht und Ordnung‹ war als Erziehungsgrundsatz auch hier allgegenwärtig. (Volksschulrektor, geb. 1899, A) Von Widerständen gegen die schulischen Schreibvorschriften ist ebenfalls eher bei Autor­ Innen mit höherem Schulabschluss die Rede, und sie werden hier nicht reuevoll, sondern mit Stolz auf das eigene Individualitätsstreben berichtet: Zwang lag mir von vornherein nicht, er beengte meine ›künstlerische‹ Entfaltung und so entstanden, sehr frei gestaltete, abstrakte Buchstabengebilde, die keineswegs immer der schulischen Norm entsprachen. (Drogist, geb. 1908, M) Bei den AutorInnen mit Volksschulabschluss findet sich eine ähnliche Abweich-Ge­sch­ich­ te nur einmal, und sie endet mit einer Rückkehr zur Norm: Etwas Langweiligeres (als die Schönschreibstunde, B. J. W.) konnte ich mir kaum denken. Jeder einzelne Buchstabe musste wie gestochen schön in das Heft eingezeichnet werden. Es durfte nicht die geringste Spur von den auf jeder neuen Seite vorgedruckten Beispielen abgewichen werden. Mustergültig ordentlich und sauber mussten ›alle‹ darin enthaltenen Aufgaben eingetragen sein. Diktat und Schönschreibhefte wurden dann zur Schulprüfung, die einmal im Jahr stattfand, von den Eltern, die dazu eingeladen wurden, kontrolliert. Natürlich war mit meinen Schreibheften kein Lob zu ernten. Und als die Lehrerin mich eines Tages dabei ertappte, dass ich sogar in dem ›künstlerisch‹ so bedeutungsvollen Schönschreibheft respektlos selbsterfundene Sätze niederschrieb, setzte es eine so kräftige Ohrfeige, dass ich hinterher eine knallrote, leicht geschwollene Backe

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hatte. (…) Von meiner eigenwilligen ›Schreiberei‹ war ich vorläufig kuriert. Ich bemühte mich sehr, genau die Anweisungen der Lehrerin zu befolgen, aber eine lobenswerte ›Schönschrift‹ schaffte ich nie. (Hausfrau, geb. 1914, V) Das Schönschreiben, das im Schulunterricht der hier zur Debatte stehenden Zeitraums (ca. 1900–1925) noch eine wesentliche – wenngleich abnehmende – Rolle spielte, erforderte Tugenden, die denen des Handarbeitsunterrichts verwandt waren: Es ging um das Erfüllen einer vorgegebenen Norm, individuelle Nuancen galten meist nicht als erstrebenswert, sondern als Fehler. In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass AutorInnen mit Volksschul- und Mittelschulabschluss eher auf ihre Leistungen im Schönschreiben zu sprechen kommen als solche mit Abiturabschluss, wobei Männer dreimal häufiger als Frauen, und zwar meist nicht sehr geknickt, erwähnen, dass sie keine schöne Schrift gehabt hätten. Distanzierte bis kritische Äußerungen über die Schönschreib-Pflicht finden sich eher bei den AutorInnen mit höherem Schulabschluss: Ich nahm auch brav den Griffel in die rechte Hand, übte auf der Schiefertafel die feinen Auf- und die dicken Abstriche. Abstriche brauchte mir der Lehrer nur in Bezug auf die Schönheit meiner Schreibung zu machen, ›recht‹ war sie meistens. Recht waren den Lehrern auch meine Aufsätze und Übersetzungen. (Hausfrau, geb. 1914, A) Das Selbstbewusstsein der höheren Bildungsgruppen macht sich weit weniger als das der Volksschulgruppe an der Fähigkeit zur Schönschrift fest. Von den AutorInnen der Abiturgruppe, die sich zum Thema Schönschreiben äußern, betonen etwa 50 Prozent, von der Mittlere-Reife-Gruppe etwa 19 Prozent und der Volksschulgruppe etwa 9 Prozent, dass sie zwar nicht besonders schön geschrieben, dafür aber die Orthografie bzw. das Aufsatzschreiben beherrscht hätten: Ich habe nie einen Aufsatz geschrieben, der schlechter als mit ›2‹ (gut) bewertet worden wäre, oft sogar bekam ich eine 1, obgleich gerade unser Deutschlehrer sehr streng zensierte. Meine von Kind an leider schlechte Handschrift wurde zwar immer wieder gerügt, schadete mir aber in ›Deutsch‹ nicht. (Musiker, Kaufmann, geb. 1911, M) Ich kann nur sagen, dass das Schönschreiben nie meine Stärke war. Diktate machten mir keine Schwierigkeiten und so fürchtete ich mich auch nie, wie andere Schüler, davor. Und Aufsätze begeisterten mich immer (…). (Druckermeister, Betriebsleiter, geb. 1912, M) Eine Autorin, die die Oberschule besuchte, erzählt sogar, dass eine Lehrerin die intellektuelle Schreibleistung ostentativ der »kunstgewerblichen« Leistung vorgezogen habe: Ich besinne mich noch gut auf eine Deutschstunde, die wir bei der Frau Direktorin hatten. Plötzlich nahm sie mein Aufsatzheft, in dem wir einen Aufsatz zu Hause vorbereitet

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hatten, von der Bank auf, hielt es hoch und zeigte es der ganzen Klasse. Die aufgeschlagene Seite zeigte nach meiner Ansicht ein ziemliches Geschmiere auf. Ich hatte ganze Sätze durchgestrichen, wieder ›rübergeschrieben‹ oder etwas an den Rand gesetzt. Die Lehrerin aber sagte: ›So muss ein Aufsatz durchgearbeitet werden.‹ (Organistin, Bücherei­ assistentin, geb. 1913, M) Der Schulaufsatz

Die Erinnerung an das Schreiben als »Handwerk« ist also öfters ambivalent bis negativ. Ganz anders beschaffen sind die Erinnerungen an den Schulaufsatz, bei dem die Pflicht zur graphischen und orthographischen Selbstdisziplin durch die Möglichkeit zum Selbstausdruck, zum Formulieren eigener Gefühle und Gedanken ergänzt, wenn nicht sogar in den Hintergrund gedrängt werden konnte. Nur wenige der AutorInnen, die ihre Schulaufsätze thematisieren, beschreiben diese als primär anstrengend oder gar qualvoll; öfters wird dagegen – auch bei der Volksschulgruppe – hervorgehoben, wie gern man Aufsätze geschrieben habe, und nicht selten werden Themen, ja sogar Aufsatzpassagen erinnert und zitiert: Für mich war (Aufsatz) ein Lieblingsfach. Da konnte man seiner Fantasie freien Lauf lassen. Das war herrlich! Themen wurden gestellt, aus dem Leben der Natur, Bildbeschrei­ bung oder nach einem Filmbesuch. (…) Wir durften einmal, natürlich geschlossen, mit der Klasse, einen Bergfilm sehen: Berg des Schicksals – darüber mussten wir einen Aufsatz in Brief-Form schreiben. So lernten wir zugleich auch einen Brief mit Adresse schreiben. Der Titel eines anderen Aufsatzes fällt mir noch ein: ›Vom Körnlein bis zum Brote‹. Mir ist aber davon nur noch etwas im Gedächtnis. – Der Acker, der umgepflügt wird, das Samenkorn, das in die vorbereitete Erde gelegt wird, der Schnee, der im Winter die Saat zudeckt und vorm Erfrieren schützt – die Ernte, bis zum Müller, der das Korn zu Mehl mahlt, und der Bäcker, der das Brot draus macht, das dann die Mutter auf den Tisch bringt, ›Ja, es ist ein weiter Weg, vom Körnchen bis zum Brote‹, so war mein Schlusssatz. (Hausfrau und Mutter, geb. 1912, V) Die beiden Aufsatzbeispiele, die hier genannt werden, passen freilich nur bedingt zur Apostrophierung des »freien Laufs der Fantasie«, mit der die Autorin ihre Aufsatzerinnerung einleitet: Es geht hier offenbar um Nacherzählungen. Ein Teil der »Schreiberlebnisse« unterscheidet solche Aufsätze mit genauen Vorgaben sehr deutlich von »freien Aufsätzen« mit eigener Themenwahl, wobei diese regelmäßig als beliebter bezeichnet werden: Geschrieben habe ich eigentlich nur Aufsätze gern, wo ich eigene Gedanken verwenden durfte, sonst hielt ich nicht viel von der Schreiberei. (Hausfrau, geb. 1915, V)

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Bald wurden auch Aufsätze, nach den üblichen langweiligen Themen verlangt, die Resul­ tate entsprachen gewöhnlich dem tristen Thema. Lichtblicke waren für mich le­diglich Aufsätze und später Vorträge mit freier Themenwahl. Das lag mir und die besseren Zen­­ suren waren ein Erfolgs-Barometer. Hier liegt sicher der Keim, der mich später zum Schrei­ben brachte. (Drogist, geb. 1908, M) Die Betonung der Freude an »eigenen Gedanken« nimmt mit höherer Schulbildung zu (16 Prozent bei der Abitur- gegenüber 6 Prozent bei der Volksschulgruppe). Dies könnte damit erklärt werden, dass in der Oberschule und zumal deren Oberstufe mehr Gelegenheit zu thematisch freierem Schreiben bestand und diese Schreiberfahrung deshalb präsenter ist. Doch darüber hinaus ist zu fragen, ob Angehörige unterer Bildungsschichten nicht überhaupt weniger Möglichkeiten hatten, Fähigkeiten und Bedürfnisse zu einem Schreiben als Medium des Selbstausdrucks, als Mittel der Äußerung eigener Ansichten und Gestaltungsideen auszubilden; bei den Befunden über das außer- und nachschulische Schreiben werden wir auf dieses Problem zurückkommen. AutorInnen aller Bildungsgruppen berichten häufig davon, dass von ihnen verfasste Aufsätze gelobt, vorgelesen, herumgereicht oder gar in der Schülerzeitung abgedruckt wurden. Bei der – weit selteneren – Schilderung von Debakeln, wo Aufsätze schlecht benotet und hart kritisiert wurden, zeigt sich dann allerdings ein deutlicher Gruppenunterschied: Autor­ Innen der Mittleren Reife- und der Abiturgruppe schreiben diese Misserfolge dem Unverständnis des jeweiligen Lehrers zu, AutorInnen der Volksschulgruppe dagegen sehen hier eigenes Unvermögen am Werk – und schildern Situationen der Ausgrenzung: Einmal sollten wir einen Aufsatz über die ›Zahnpflege‹ schreiben. Mir war nicht viel dazu eingefallen. Ich musste wohl einen sehr schlechten Satz geschrieben haben, denn er wurde vorgelesen und man lachte mich aus. Seit dieser Zeit bemühte ich mich, bessere Sätze zu schreiben, aber es gelang mir nicht immer, denn was ich abends zu Papier gebracht hatte, gefiel mir morgens manchmal nicht mehr. (Küchenhilfe, Näherin, Betreu­ erin, geb. 1915, V) Ich erinnere mich noch, wie wir in der zweiten Klasse ein Diktat, nein, ein Erlebnis in den Ferien schreiben mussten und ich ein Erlebnis mit meinem Freund Erich beschrieben habe. An der Stelle, wo ich von einem Feldhasen geschrieben habe, und dieser im Zickzack vor uns davon gelaufen ist, schrieb ich statt zickzack hik hak. Aber das hätte ich längst vergessen, wenn nicht mein Schulfreund Arnold mich damit gehänselt hätte. Arnold war der Sohn meines Lehrers und dieser hatte die Angewohnheit, solche Aufsätze und Diktate zuhause, vor seiner Familie mit seinen neun oder zehn Kin­dern (…) vorzulesen und natürlich über solche Fehler sich lustig zu machen. (Uhr­macher­meister, geb. 1912, V) Bei einigen AutorInnen der Volksschulgruppe – vor allem sind es Frauen – steht die Angst vor orthographischen Fehlern offensichtlich bis heute der Schreiblust im Wege:

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Ich habe so oft einen Drang, etwas Erlebtes niederzuschreiben, aber weil die Gedanken so schnell kommen und ich dann zu schnell schreibe und ich an die Rechtschreibung denke – dann es ist vorbei. Die Geschichte oder das Erlebte ist noch im Kopf. Oft denke ich an meinen guten Lehrer, Herr Menksch, so hieß er. Wenn er sagte: ›Es ist so schade um dich, Walburga, aus dir könnte etwas werden‹. Diese Worte höre ich bei jedem Brief, den ich schreibe, es verfolgt mich heute noch. ›Die Rechtschreibung‹. (Lageristin, Kinovorführerin, Hausfrau, geb. 1909, V) Schreiben außerhalb der Schule

Es erstaunt sicherlich nicht, dass AutorInnen mit höherem Schulabschluss häufiger davon berichten, dass sie in ihrer Jugend auch Briefe, Gedichte, Erzählungen, Zeitungsartikel oder Tagebuchnotizen verfasst hätten. Bemerkenswerter sind die unterschiedlichen Haltungen, die zu diesem Schreiben außerhalb der Schule eingenommen werden. So sind die – insgesamt seltenen – Bekundungen, dass Schreiben eher Pflicht als Neigung gewesen sei,10 vor allem in der Volksschulgruppe zu finden: Nun möchte ich auch etwas von meiner Schulzeit erzählen. Wie schon erwähnt habe ich nur geschrieben was ich musste. Ich ging lieber spazieren mit meinen Kameraden. (Bauer, geb. 1899, VS) Bei einer Autorin aus dieser Gruppe, einer in einem Altersheim lebenden früheren Magd, steht Schreiben einschließlich ihrer Antwort auf die Schreibumfrage unter dem Vorzeichen der Folgsamkeit: Ihrem Wunsche gemäß will ich Ihnen schreiben, wieso ich bei dem Wettbewerb ›Alte Menschen schreiben Geschichte‹ mitgemacht habe. Unser Heimleiter, Herr Konstanzer, hat es im Speisesaal bekannt gemacht. Es hat sich aber niemand gemeldet. Darauf sagte er zu mir: ›Also Julie, Du schreibst‹. Und an einem Sonntag Nachmittag bin ich hin­ ge­sessen und habe sieben Seiten geschrieben in einem Zug. Sonst, wenn ich einen Brief schreibe, bringe ich nichts aufs Papier. Aber es war, wie wenn es mir jemand diktieren würde. Das Schreiben ist gar nicht meine Liebhaberei, die Arbeit ist mir lieber. (Land­ wirtschaftsgehilfin, geb. 1894, V) Aber auch bei den EinsenderInnen, die sich als schreibfreudig bezeichnen, gibt es deutliche Unterschiede. In der Volksschulgruppe findet sich in diesen Fällen meist eine unprätentiöse Formulierung der Art, dass man in der Jugend auch außerhalb der Schule oft und gern geschrieben habe:

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Ich selber begann wieder, in ein Schulheft, das ich extra für diesen Zweck kaufte, besondere Eindrücke und Erlebnisse niederzuschreiben. Eine Art Tagebuch, in das aber manch­ mal wochenlang keine Zeile eingetragen wurde, weil mir nichts einfiel. Wenn eines dieser dünnen Tagebuchhefte vollgeschrieben war, vernichtete ich es und kaufte ein neues. Aber die Freude daran, eigene Gedanken und Meinungen schriftlich zu formulieren, wurde eine Freizeitbeschäftigung, die ich seitdem nie ganz aufgegeben habe. (Hausfrau, geb. 1914, V) In den höheren Bildungsgruppen sind die Bekundungen von Schreiblust als Formulierlust weit häufiger und viel emphatischer. Des Öfteren wird diese hier weniger als anerzogene oder allmählich ausgebildete denn als in die Wiege gelegte Fähigkeit beschrieben. Es bedurfte demnach nur eines kleinen äußeren Anstoßes, dann »überkam« einen der eingeborene Schreibdrang, »flossen« die Worte wie von selbst aus der Feder: Schon als Kind sowohl in der Volksschule wie auf dem Lyzeum in Münster machte ich Gedichte, die ich in allen Klassen aufsagen musste. (…) Es war solch ein starker Drang in mir, dass ich jedes kleinste Erlebnis in Familie, Schule, Natur und Kirche in Windeseile in Verse umsetzen musste, leider hatte ich in den seltensten Fällen Papier bei mir, so dass ich ein unbeschreibliches Durcheinander von Zeitungsrändern, heraus­gerissenen Voka­ belheften oder Reste von Drucksachen beschrieb. (Stenotypistin, Fremd­sprachen­korres­ pondentin, geb. 1913, A) Es war in meiner Jugendzeit, als es geschah. Ich besuchte das Gymnasium und hatte den Auftrag: in Hausaufgabe einen Aufsatz über ein Erlebnis mit Tieren zu schreiben. Dies beschäftigte mich stark. Nachts trieb es mich aus dem Bett. War es der Aufsatz? Diese Frage war noch ohne Antwort, als meine rechte Hand schon nach dem Federhalter griff und meine Linke den Schreibbogen zurechtrückte. Dann überkam es mich, und aus meiner federführenden Hand flossen die Worte: Sonnenwende, weiße Nacht, Du unsern Ahnen das Licht hast gebracht, Da musste die Tanne, der immergrüne Baum verlassen den Waldesraum (…) Mit dem letzten Wort legte sich der Drang des Schreibens in meinem Innern und die Nachtmüdigkeit kehrte zurück. (Kaufmännischer Angestellter, geb. 1918, M) Auch AutorInnen der Volksschulgruppe sprechen zuweilen von ihrer besonderen Eignung für das Schreiben; doch finden sich hier keine Vorstellungen von einem eingeborenen kulturellen Reichtum oder Schilderungen dichterischer Erweckungserlebnisse. Typisch für den

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»Begabungsdiskurs« dieser Gruppe ist eher die Erzählung eines Fabrikarbeiters, wonach er seine »poetische Ader« nicht selbst entdeckte, sondern vom Lehrer auf sie aufmerksam gemacht wurde und sie erst danach selbst zu »nutzen« begann: 1914–1922 drückte ich die Schulbank der Volksschule. Mein Lieblingsfach war Deutsch, wofür ich immer eine gute Note bekam. Als Schuljunge schrieb ich öfters kleine volkstümliche Gedichte. War in der Schule ein Gedicht vorzutragen, so meldete ich mich sofort. Der Lehrer ward zufrieden und sagte zu mir: ›Mein lieber Junge, in Dir steckt eine poetische Ader‹. Diese Äußerungen von meinem Lehrer nahm ich zu Herzen und führte von diesem Zeitpunkt an Tagesnotizen. (Fabrikarbeiter, geb. 1907, V) Im Übrigen sind Berichte der Ermunterung zu selbständigem Schreiben in der Volksschulgruppe ganz selten. Häufiger sind Hinweise auf mangelnde Anerkennung der ersten außerschulischen Schreibversuche durch Familie oder Freundeskreis. Hier deutet sich das Phänomen des »kulturellen Selbstausschlusses« sozialer Unterschichten an, hergestellt über die Ablehnung literarischer Betätigung als ›blutarm‹ und ›unnütz‹ sowie den Konformitätsdruck, den die soziale Umgebung auf potentielle »Abweichler« ausübt: Meine ersten Verse machte ich mit 17 Jahren. Weil man mich aber auslachte, hörte ich damit auf. (Bergmann, Bahnarbeiter, geb. 1901, V) Zur Begabung gehört aber Mut zu beginnen und ihr dann auch treu zu bleiben. Ich glaube, dass grade mein Vater mit seinen Worten ›Zeichnen und Schreiben sind brotlose Künste!‹ in mir Widerstände frei legte. Als gehorsames Kind widersetzte ich mich nicht, ging aber in die Einsamkeit und arbeitete heimlich. (Bäcker, Bergmann, geb. 1915, V) 11 Briefe

Über die Häufigkeit, mit der die Befragten seit ihrer Schulzeit eigene Texte verfasst haben, geben ihre Erinnerungen natürlich keine genaue Auskunft. Festzustellen ist immerhin, dass Angehörige der Mittleren-Reife- und der Abiturgruppe im Durchschnitt von einer intensiveren Schreibpraxis berichten als die der Volksschulgruppe. Vor allem jedoch zeigen sich in den »Schreiberlebnissen« Schicht- und Geschlechtsunterschiede bei den Aussagen über Schreibanlässe, Textsorten, Textadressaten und die mit dem Schreiben verfolgten Intentionen. Generell lässt sich sagen, dass die unteren Bildungsgruppen häufiger von einer weitgehend anlassgebundenen, »saisonistischen« Schreibpraxis berichten, AutorInnen mit höheren Schulabschluss dagegen öfter von einem autonomeren, »selbstveranlassten« Schreiben:

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Lange Zeit habe ich außer Festzeitungen für den Familienkreis – Silberhochzeit meiner Eltern (1933), ja, zwei Jahre vorher für meine Schwester zur Hochzeit nichts geschrieben. Dann in den Jahren 39–42 zu Anlässen im Kolleginnen-Kreis in der Firma, in der ich beschäftigt war. Lange Zeit war dann nichts mehr, außer Feldpostbriefe an meinen Mann. (…) Nach dem Krieg, im Jahre 1955, wurde mein Schwiegervater 80 Jahre, das Gedicht habe ich noch. Lange gab es dann keinen Anlass mehr, sich in der Weise zu beschäftigen. (Hausfrau und Mutter, geb. 1912, V) Schreiben ist mir ein Bedürfnis wie das Atmen. Es ist mir lebenswichtig. Der Kopf denkt ununterbrochen, – man kann ihn nicht daran hindern und wenn ich diese Gedanken nicht durch Schreiben loswerden kann, dann bedrücken sie mich, belasten sie mich, machen mich unruhig und unzufrieden. Ich muss mich jemand erschließen, muss das Gedachte aussprechen, klären, sondieren, bis alles gesichtet und geordnet seinen Frieden findet. Bis es seinen ihm zugeordneten Platz hat und volle Harmonie herrscht. (Fotografin, Sekretärin, geb. 1917, M) Das meistgenannte – und in der Tat ja verbreitetste – Genre des anlassgebundenen Schreibens ist der Privatbrief. Vor allem sind es Frauen, die von ihrer Briefpraxis berichten: Briefeschreiben in der Jugend erwähnen etwa 16 Prozent der Einsenderinnen und 6 Prozent der Ein­sender, für die Erwachsenenjahre sind es etwa 19 Prozent gegenüber 9 Prozent. Repräsentative Umfragen belegen zumindest für die Gegenwart, dass es sich hier keineswegs um eine Besonderheit der untersuchten Gruppe handelt: In der Tat verfassen Frauen signifikant mehr Privatbriefe als Männer (vgl. Warneken 1985, 19). Die etablierte Rollenverteilung, nach der primär den Frauen die »Beziehungsarbeit« zufällt, prägt demnach auch die Schreibkultur: Das briefliche Kontakthalten mit anderswo lebenden Verwandten, Freunden und Bekannten ist vor allem Frauensache – ein Faktum, das u. a. der Forschung über Frauen außerhalb der Intelligenzschicht eine noch wenig genutzte Quelle verschafft. Mein Schreiben bezieht sich auf das Korrespondieren mit guten Freunden, Verwandten und ganz besonders mit meinem Sohn und Familie, die seit neun Jahren von Berlin nach Westdeutschland verzogen sind und fast regelmäßig jede Woche eine Abhandlung von dem zu lesen bekommen, was sich inzwischen bei mir ereignet hat. ( Justitiarsekretärin, Hausfrau und Mutter, geb. 1905, M) Meine Verwandtschaft und Kinder freuen sich immer über meine langen herzlichen Brie­ fe. Ich schreibe so, als wenn ich erzähle, erst nachher lese ich alles durch, was ich so geschrie­ben habe. Gratulationen oder Einladungen werden von mir geschrieben und zur Konfir­mation schreibe ich immer einen geeigneten Spruch dazu. (Hausfrau und Mutter, geb. 1917, M)

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Schreiben hält Erinnerungen wach, es knüpft Freundschaftsbande, es kann Menschen beglücken. Mir brachte es zu später Zeit meines Lebens Kontakt mit meinem leiblichen Vater. (…) Hochbetagt wartet er auf meine Briefe, und ich weiß, sie bedeuten dem alten Herrn die Unterbrechung seiner Einsamkeit. – Verstehen Sie, dass ich das Schreiben liebe? (Krankenschwester, geb. 1917, M) Kulminationszeiten des Schreibens als Mittel der Alltagskommunikation, das geht auch aus den »Schreiberlebnissen« hervor, sind die beiden Weltkriege; in der Gegenwart, so wird mehrmals vermerkt, ist es – zum Nachteil der historischen Forschung – das Telefon, das sich zunehmend an die Stelle des privaten »Nachrichtenbriefs« oder »Kontaktbriefs« setzt: Als 9–11jähriges Schulmädchen fand ich beispielsweise Gefallen daran, meinem Vater regelmäßig Briefe ins Feld (Krieg 1914–1918) zu schicken, um ihn u. a. über unser häusliches und heimatliches Geschehen zu unterrichten. ( Justitiarsekretärin, Hausfrau und Mutter, geb. 1905, M) Schreiben, Diktat und besonders Aufsätze haben mir eigentlich immer Freude gemacht. Poesie-Alben wanderten in der Schulzeit immer von einem zum andern. Zu Gedichten habe ich es nur zu einem einzigen gebracht. – Als ich erwachsen war, habe ich mit lieben Menschen im Briefwechsel gestanden. Im 2. Weltkrieg habe ich täglich meinem Mann ins Feld geschrieben und ihm viel von seinen Buben erzählt. Ja, und als das Telef­on ins Haus kam, da ließ das Schreiben nach. Denn zum Hörer greifen und anzurufen ist doch recht bequem. Mit meinen Kindern in Duisburg bin ich durch mehrere Anrufe in der Woche immer auf dem Laufenden. (Hauswirtschaftsberaterin, Hausfrau und Mutter, geb. 1911, V) Wie schon in den Berichten vom Schulschreiben, so findet sich bei AutorInnen der Volksschulgruppe in den Passagen über das Briefeschreiben öfters die Formulierung des »Schreibenmüssens«, während v. a. Frauen der Mittlere-Reife-Gruppe ihre eigene Neigung zum häufigen und ausführlichen Schreiben betonen. Der Brief wird hier nicht nur als Möglichkeit zur Kommunikation, sondern auch als Medium der Selbstfindung und Selbsttherapie gesehen: Ihr (der Lehrerin, B. J. W.) gefielen meine Aufsätze sehr u. bald bekam ich dafür sgt.-Zettel. (…) Von da ab musste ich auch unseren Verwandten schreiben. Anfangs diktierte Vater mir, später musste ich selbständig schreiben. (Hausfrau, Hausangestellte, geb. 1913, V) Mit dem Briefeschreiben hatte ich früher nichts zu tun, denn die ganze Verwandtschaft war in einem Dorf. Als ich dann mit 19 Jahr geheiratet habe und schon vier Kinder hatte, da ging eine ins Kloster und das war sehr weit von uns weg (200 km). Da fing ich an mit Briefe schreiben. (…) Da (im 2. Weltkrieg, B. J. W.) wurde auch mein Mann eingezogen

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zum Militär (im Jahre 1944 am 10. Sept.) Hier ging es dann weiter mit Briefschreiben. Er kam nach Kroatien (…). So musste ich schon oft Briefe schreiben. (Maschinenstrickerin, Gärtnerin, Hausfrau, geb. 1911, V) Ich habe immer sehr viele Briefe geschrieben. Eine Kiste voller Feldpostbriefe allein schon aus den Jahren 1939–45 hat sich angesammelt. (…) In Briefen finde ich zu mir selbst. Briefe bedeuten in meinen Augen Hilfe für den Schreibenden und den Empfäng­er. Briefe schreiben und empfangen tröstet den Einsamen und Kranken. (Hausfrau, Mutter, Buch­ binderin, Klinikangestellte, geb. 1917, M) Einige AutorInnen der Mittlere-Reife- und der Abiturgruppe berichten überdies von einer Tendenz zur stilistischen Überhöhung, ja Poetisierung ihrer Briefe. Die Briefform, die in den Berichten der Volksschulgruppe primär als Ersatz für die momentan mündliche Kommunikation erscheint, emanzipiert sich bei ihnen von unmittelbar-pragmatischen Zwecken und wird zur Betätigungsform mündlich gar nicht kommunizierbarer Fähigkeiten: Schon als Schulmädchen habe ich gerne Aufsätze geschrieben, und später, als ich in der Ausbildung war, schrieb ich lange, ausführliche Briefe nach Hause. Meinem Mann schickte ich oft Briefe in Versform an die Front, und verfasste auch sonst zu allerlei Gelegenheiten kleine Verse. (Krankenschwester, Hausfrau, Mutter, geb. 1917, M) Dass solche Formulierungskunst keineswegs nur interesseloses Wohlgefallen hervorrufen will, sondern als »kulturelles Kapital« auch sehr gezielt eingesetzt werden kann, dokumentiert besonders drastisch der Bericht eines Mannes: Meine Briefe versuchte ich in ihrem Inhalt immer sehr schöngeistig zu halten und fügte viele Gedichte den Briefen mit bei, denn man wollte ja auch Eindruck schinden, wie man so sagt. Damit erreichte ich eigentlich spielend jeden gewünschten Erfolg. Allerdings war ich nicht beständig genug und, damit es nicht langweilig wurde, liebte ich die Abwechs­ lung. So hatte ich immer wieder neue Eindrücke und Erfahrungen in der Psyche der weiblichen Hingabe. Es ließ sich damit eigentlich sehr angenehm leben, so dass ich keine Stunde bereute, die ich so gelebt hatte. Bei meinen vielen Bekanntschaften hat mir mein Schreiben dazu verholfen, denn das geschriebene Wort war es, dass meine Person in den Vordergrund des Begehrens gestellt wurde. (Kaufmann, geb. 1913, M) Das Tagebuch

Eine Frauendomäne ist, den »Schreiberlebnissen« zufolge, neben dem Schreiben als Form der »Beziehungsarbeit« auch das Schreiben als Selbsttherapie, und zwar als privater, vor der Öffentlichkeit und teilweise dem eigenen sozialen Umfeld verborgener Versuch, Prob-

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leme durch Niederschreiben zu objektivieren und damit besser bewältigen zu können. Die weiblichen Autorinnen nennen dies Schreibmuster weit häufiger als die männlichen Einsender (ca. 23 Prozent zu ca. 8 Prozent). Kaum weniger deutlich ausgeprägt ist hierbei die Schichtspezifik: Etwa 20 Prozent der Abiturgruppe, aber nur etwa 10 Prozent der Volksschulgruppe nennen »Problembewältigung« und Ähnliches als einen ihrer wesentlichen Schreibzwecke. Ausschlaggebend ist bei mir wohl, dass ich bisher nie an die Öffentlichkeit (…) getreten bin, da es meist Ergüsse nach Erlebnissen (und somit gefühlvoll, wenn auch realistisch) waren, die ich nur fabrizierte, um meinem Herzen Luft zu machen. (Hausfrau, geb. 1909, M) Diese Erfahrung, im Niederschreiben mich auseinanderzusetzen, versuchen mit mir selbst ins Reine zu kommen, machte ich zuerst in meinen ›Lehrjahren‹, den Jahren des Allein­ seins unter fremden Menschen. Aber bis heute blieb meine zuverlässigste Hilfe in problematischen Situationen, im Kummer oder anderen Schwierigkeiten das Schreiben – schreibend mein seelisches Gleichmaß wiederzufinden. (Hausfrau und Mutter, geb. 1907, M) Das idealtypische Genre für diesen Schreibzweck ist das Tagebuch. Etwa 22 Prozent der Frauen, aber nur etwa 6 Prozent der Männer berichten, dass sie in ihrer Jugend mehr oder weniger intensiv Tagebuch geführt hätten; für die Erwachsenenjahre sind es ca. 22 Prozent gegenüber ca. 11 Prozent. Die der Bitte um »Schreiberlebnisse« vorangegangene Umfrage bestätigte diese Geschlechterdifferenz, wobei sich – neben einer signifikant geringeren Tagebuchpraxis der Volksschulgruppe – bei allen drei Bildungsgruppen ein klarer Frauenvorsprung ergab.12 »Führen oder führten Sie Tagebuch?« (in %)

Ja

Nein

ohne Angabe

Volksschule, Männer

25,0

61,1

13,9

Volksschule, Frauen

Mittlere Reife, Frauen

Mittlere Reife, Männer

Abitur, Frauen

Abitur, Männer (n = 281)

31,7 58,4 51,4

57,1 41,0

36,6 31,2 45,9

32,2 48,7

31,7 10,4

  2,7

10,7 10,3

Das Jugendtagebuch war, den »Schreiberlebnissen« zufolge, vor allem bei Frauen ein Reservat für Bekenntnisse und Erlebnisse, von denen Eltern und Geschwister nichts wissen sollten:

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Ich führte natürlich ein Tagebuch, meine Eltern hingegen ahnten nichts von meinen Ambitionen. Sie waren höchstens froh, wenn ich zu größeren Familienfeierlichkeiten und dergl. meine gereimten Vorträge vortrug. (…) Mein Mann, den ich schon mit 17 Jahren kennenlernte und mit 22 Jahren heiratete, ahnte auch nichts davon, interessierte sich auch nicht dafür. Jedoch habe ich mir manche trübe oder frohe Stimmung durch irgendwelches Niederschreiben von der Seele gewälzt. (Hausfrau, geb. 1909, M) Als ich 15 oder 16 Jahre alt war, saß ich neben meinem Vater im Auto, sah durch die Scheibe auf die Schneeflocken und dann fing ich – oder besser gesagt fing es in mir an, einen Weihnachtsgedanken, der mir so zugeflogen war, in Verse zu fassen. An dies Erleb­ nis besinne ich mich genau, denn es war ein ganz neues Gefühl, was mich überkam und das erste Gedicht. Zu Hause schrieb ich es auf und schloss es in die Geheim­schublade, in der auch das Tagebuch lag. Die nun folgenden Gedichte wanderten ebenso in diese Schublade. Irgendetwas hielt mich noch davon ab, mein Geheimnis mit jemandem zu teilen. (Angestellte, Hausfrau, geb. 1918, A) Wenn das Tagebuchgeheimnis gebrochen wird – und von solchen Eingriffen der Eltern oder Geschwister wird mehrmals berichtet –, führt das öfters zum Ende der dadurch von einem Freiheits- zu einem Kontrollmedium gewordenen Aufzeichnungen: Eines Tages, als ich früher von der Schule heimkam, überraschte ich meine Mutter, die an meinem Schreibtisch saß und mein Tagebuch sowie meine Mappe mit Gedich­ten vor sich hatte und las … Mutter erschrak sehr, fand keine Entschuldigung, ich sagte auch nichts … ergo: als Mutter aus dem Zimmer gestürzt war, stopfte ich Tagebuch und Gedichte in den Kachelofen (…). Erst viele Jahre danach begann ich wieder, nun aber völlig anders, zu dichten und auch Erzählungen zu schreiben. (Lehrerin, geb. 1908, M) Auch hatte ich mal ein Tagebuch, da schrieb ich meine geheimen Gedanken rein und versteckte es vor meinen drei Geschwistern, von denen ich die jüngste war. Es war auch von einer Schwärmerei für einen jungen Mann etwas drin. Als aber in einer gemütlichen Runde mit Freunden mein ältester Bruder in Gegenwart aller verschmitzt durchblicken ließ, dass er etwas aus meinem Tagebuch wisse, fühlte ich mich verletzt und habe das Tagebuch vernichtet, ohne wieder ein neues zu beginnen. (Stenosekretärin, Chefsekretärin, Hausfrau, geb. 1911, V) Noch während der Schulzeit, mit sechzehn Jahren, hatte ich mein erstes Glückserlebnis mit einem gleichaltrigen Gymnasiasten. (…) An einem strahlenden Frühlingstag machte ich gegen den Willen meiner Eltern mit diesem Jungen eine Radtour (…). Aus dem Grün des Frühlingswaldes strömte ein atemberaubender Duft zu uns herüber. Es war so märchenhaft schön, dass wir ganz spontan unsere Räder an einen Baum lehnten und uns, einen Jubelschrei ausstoßend, auf die buntschimmernde Wiese unter einen weißblühenden

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Baum legten. Nichts weiter geschah. Wir lagen dort und träumten (…). Noch in derselben Nacht, als alle schliefen, setzte ich mich bei kleiner Tischlampe hin und schrieb, un­auf­ hörlich, die ganze Nacht hindurch. Ich schilderte meinen Gemütszustand dieser einen Stunde unter dem weißblühenden Obstbaum und dem unwirklich blauen Him­mel. Den Aufsatz versteckte ich tief unten in der hintersten Ecke meiner Wäscheschublade. Später fand meine Mutter dieses sogenannte ›Geschreibsel‹, und es folgte eine weitere Strafe. (Kauffrau, Übersetzerin, geb. 1915, M) In den Erwachsenenjahren, so schildern es auch die »Schreiberlebnisse«, diversifizieren sich die Tagebuchformen: Arbeitsjournale, Kriegstagebücher, Tagebücher aus der Gefangenschaft, Reise- und Urlaubstagebücher werden geführt, und es heißt nun öfters, man habe dabei Erlebnisse nicht nur für sich selbst, sondern auch für die spätere Lektüre von Familienmitgliedern und Kindern festhalten wollen. Hier deuten sich allerdings wiederum Geschlechterunterschiede an. Männer, so scheint es, führen zumeist ein individualbiographisches Tagebuch, während Frauen sich teilweise als Familienchronistinnen betätigen und dabei weniger die eigene Person als die heranwachsenden Kinder zum Thema machen. Einige Frauen hinwieder, die ein primär individuelles Tagebuch führen, bezeichnen dies ausdrücklich als eine Form versteckter Meinungs- oder gar Protestäußerung – eine Aussage, die bei Männern nicht zu registrieren war: Habe ich ein Problem, kann ich mich nicht gut aussprechen, aber schreiben kann ich darüber. Oftmals habe ich auch tüchtig meine Meinung gesagt, alles nachher aber doch vernichtet, aber es war ein Ventil, ich war erleichtert nachher! (Hausfrau und Mutter, geb. 1917, M) Ein ambivalentes Schreibmuster also: Der individuelle, auch der Familie und dem Ehemann nicht zugemutete oder gegen diese gerichtete Impuls wird hier nicht als unwichtig oder unangemessen unterdrückt, sondern festgehalten; auf der anderen Seite blüht diese nonkonforme Haltung nur im Verborgenen. Das Lied aus der Emanzipationszeit des Bürgertums, das mit »Die Gedanken sind frei« beginnt und mit »Doch alles fein still, und wie es sich schicket« fortfährt, ist gesellschaftspolitisch relativ obsolet geworden, geschlechterpolitisch aber sicher nach wie vor aktuell. Schreiben für ein Publikum

Die meisten »Schreiberlebnisse« berichten nicht nur vom Brief- und Tagebuchschreiben, sondern auch von einer im engeren Sinn literarischen Praxis. Deren Umfang lässt sich anhand der Berichte wiederum nicht quantifizieren; doch kann man hilfsweise die Ergebnisse der erwähnten Umfrage heranziehen. Dort bekundeten 45,6 Prozent der Befragten, sie hätten schon einmal ein Gedicht, 40,5 Prozent, sie hätten schon einmal eine Kurzge-

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schichte, und 7,9 Prozent, sie hätten einen Roman geschrieben.13 61,7 Prozent der Befragten bejahten die Frage, ob sie solche Texte schon veröffentlicht hätten; 3,5 Prozent gaben an, auch schon einen Roman, 31,6 Prozent, eine oder mehrere Erzählungen oder Kurzgeschichten und 21 Prozent, einmal oder mehrmals Gedichte publiziert zu haben. Die Veröffentlichungs­praxis variiert dabei wiederum deutlich nach Geschlecht wie nach Bildungsabschluss: Veröffentlichungen (in %)

Roman

Volksschule, Frauen

 0

Volksschule, Männer

Mittlere Reife, Frauen

Mittlere Reife, Männer

Abitur, Frauen

Abitur, Männer

(n = 250)

  5,4

  1,4

  3,3

  7,4

10,3

Erzählung/ Kurzgeschichte

30,2

21,6

25,7

46,7

48,1

31,0

Gedicht 19,0

24,3

10,0

30,0

25,9

34,5

ohne Angabe

12,7

  8,1

  4,3

  3,3

 0

  3,4

Die Frauen und Männer der Abiturgruppe liegen hier in fünf von sechs, die Männer in sieben von neun Rubriken vorn – wobei zu unterstellen ist, dass die Unterschiede bei einer Frage nach der Anzahl der Publikationen noch größer ausgefallen wären.14 Die Frauen, die beim Brief- und Tagebuchschreiben eindeutig dominieren, fallen also beim öffentlichen Schreiben deutlich hinter die Männer zurück. Sie begnügen sich häufiger als die Männer mit der Weitergabe von Erzählungen oder Gedichten an Freunde, Bekannte und vor allem Familienangehörige. Die Anlässe, zu denen sie Texte weitergeben oder vorlesen, sind häufig Feste wie Geburtstage oder Weihnachten (vgl. Warneken 1987, 137 f.). Bei den Männern wird das »gedichtete Geschenk« viel seltener erwähnt. Daraus lässt sich schließen, dass auch das Gelegenheitsdichten von Frauen oft der »Beziehungspflege« zugeordnet ist und weniger zu individuell gesetzten Anlässen erfolgt. In den Jungmädchenjahren kam das ›Dichten‹ nur noch zu besonderen Anlässen in Be­­ tracht. Wenn z. B. eine Freundin zu ihrem Geburtstag weit entfernt war und das Ge­­ schenk infolge unserer anhaltenden Finanzmisere ein wenig kümmerlich ausfiel, evtl. nur ein gepresstes Glückskleeblatt und irgend eine Kleinigkeit, dann musste ein lan­ges Ge­­ dicht das fehlende Präsent wettmachen. Später im eigenen Familienkreis beschränkte sich dann das Versemachen auf Weihnachten. Jedem, auch noch so kleinen Geschenk, wur­den ein paar Zeilen beigefügt. (Gutssekretärin, Verwaltungsangestellte, Hausfrau und Mut­ ter, geb. 1913, M)15

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Bei poetischen und erzählerischen Genres liegt es nahe, die eigenen Texte mit denen approbierter Autoren zu vergleichen – wobei eine solche Selbsteinordnung auch dann stattfindet, wenn man betont, dass man »sich keineswegs mit bekannten Autoren vergleichen« wolle. Zu dieser Bestimmung des kulturellen Stellenwerts der eigenen literarischen Versuche sind überdies Reflexionen über die Stärken und Schwächen der eigenen Texte zu rechnen sowie Überlegungen über Grad und Art des überindividuellen, womöglich öffentlichen Interesses, welches diese Texte beanspruchen können. Vergleicht man die »Schreiberlebnisse« unter diesem Gesichtspunkt, so fallen wiederum sehr starke Gruppenunterschiede ins Auge. Verschieden ist dabei zum einen der Grad schriftstellerischen Selbstbewusstseins. So äußert etwa jeder vierte Autor der Abiturgruppe, bei den anderen Bildungsgruppen hingegen nur etwa jeder zwanzigste, dass er bekannten Schriftstellern nachzustreben suche. Zum andern – und das ist sicherlich noch interessanter – differieren auch die Textqualitäten, auf welche sich Selbstbewusstsein oder Selbstzweifel der Schreibenden beziehen. Von der Mittlere-Reife- und der Abiturgruppe wird Schreibenkönnen weit häufiger als von der Volksschulgruppe mit Sprachvermögen und literarischer Gestaltungsfähigkeit verbunden. Insbesondere AutorInnen der Abiturgruppe fühlen sich hier auch tatsächlich in ihrem Element: Schreiben erweist sich nicht nur als ein sichtbar gemachtes Sprechen und Denken. Eine Äußerung, eine Meinung, wird durch das Aufzeichnen (Einritzen) in jedem Fall bedeutungsvoller, erhält mehr und auch länger anhaltende Gültigkeit, wird ›vor Augen geführt‹. Erreicht wird schließlich, falls angemessen, eine Art Dokumentation. Es gesellt sich hinzu die Freude am Gestalten und dann die Befriedigung, wenn alles gut gelungen ist. Im Bewegungsablauf, als Ganzes gesehen, ist zudem in anregender Weise der Reiz einer spiel­ enden Betätigung enthalten, – ein spielendes Suchen nach Wörtern, Sätzen und Formu­ lierungsmöglichkeiten. (Volksschulrektor, geb. 1899, A) (Ich behielt) die Bereitschaft und die Übung bei, die Sprache als Mittel der Hervor­he­ bung und Ausschmückung besonderer Gelegenheiten und Feiern zu verwenden. In der Knappheit der Kriegsjahre 1914–1918 sowie der folgenden Inflationszeit zeigte sich bald, dass die anfangs als ›Textbeilage‹ gedachten Widmungs- und Wunschverse mehr und mehr beachtet wurden, so dass das sprachliche Beiwerk sich schließlich als das eigentlich Festliche darstellte. Das sollte sich später nach dem zweiten Weltkrieg überdeutlich wiederholen, als Liebesgaben und -dienste so oft nur mit Geschriebenem bedankt und Aufmerksamkeiten nur in Worten erwiesen werden konnten, – umso mehr kam es auf die Form an. (…) Auch ›die schöne Zeit der jungen Liebe‹ kam nicht ohne Verse aus. Sie brachte nach meiner Erinnerung eine erhebliche Bereicherung der Metrik, der Formen und Stoffe. (…) Schreiben ist oft so selbstverständlich geworden, dass es Überlegungen vielfach weder voraussetzt noch auslöst. Es läuft, hat man sich erst eine gewisse Fertigkeit angeeignet,

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wie von selber ab. Doch heben sich aus alledem – (…) Äußerungen nicht alltäglicher Art ab. In ihnen vollzieht sich, was vorläufig und groß ausgedrückt der ›Sonntagsumgang‹ mit der Schrift heißen mag. Dabei geht es nicht so sehr um verständliche Formulierun­ gen mehr oder minder zweckhafter Gedanken zur Übermittlung an andere als vielmehr um die Ausformung von Gedanken, Gefühlen und Vorstellungen, die selbst dann einen Sinn behielte, wenn sie gar nicht weitergegeben würde; denn es handelt sich hierbei auch um ein Stück Selbstdarstellung oder Selbstklärung des Schreibenden oder um die Übung seiner sprachlichen Möglichkeiten. Das so Geschriebene als höchstpersön­liches Aus­drucksmittel unterscheidet sich damit von dem Schreiben als letztlich nutzhaftem Äußerungsmittel. (…) Es geht darum, die Möglichkeiten der Sprache als Kunst­mittel zu erproben, zu erweitern und zu vertiefen. (…) Erlebnisse mit solcher Art des Schreibens haben mich ein Leben lang von Kindheit auf begleitet. (Bankkaufmann, Wirtschaftsprüfer, geb. 1902, A) In der Mittlere-Reife-Gruppe findet sich – wie auch in der Volksschulgruppe – keine derartige Akzentuierung einer autonomisierten Ästhetik. Insofern AutorInnen dieser Gruppe von einem Formbedürfnis beim Schreiben sprechen, erwähnen sie zugleich andere, kommunikative oder therapeutische Schreibintentionen: Schreiben ist für mich wie ein Gespräch mit einem guten Freund – es ist die Steigerung meiner glücklichen Empfindungen, und es ist die Möglichkeit, Ängste, Nöte und Sorgen abzubauen. Nicht zuletzt ist Schreiben für mich die Freude an der Sprache, die es uns Menschen ermöglicht, in Worten Bilder zu gestalten, die es wert sind, beachtet zu werden. (Krankenschwester, geb. 1917, M) Wo sich Vertreter der Mittlere-Reife- und der Volksschulgruppe literarische Gestaltungsfähigkeit zusprechen, wird diese weit weniger als in der Abiturgruppe als besondere künstlerisch-literarische Begabung aufgefasst und eher mit handwerklichen oder alltagspraktischen Qualifikationen zusammengesehen: Ich habe Freude am Gestalten. Der Umgang mit Materialien, mit Werkstoffen regt mich an. Ich habe mich im Schneidern, als Buchbinderin, im Malen (das sehr dilettantisch) versucht. Ich habe viel Interesse an technischen Dingen. Ich habe ein Haus gebaut. Ich habe als Hausfrau einige Nebenberufe ausgeübt und aus all diesen Tätigkeiten immer Anregungen geschöpft. So scheint mir auch das Schreiben eine Gestaltungsform zu sein, in der ich durch Fleiß etwas erreichen könnte. (Hausfrau, Buchbinderin, Klinik­angestellte, Interviewerin, Mutter, geb. 1917, M) Älter geworden, kam bei mir zur Phantasie die Erkenntnis. Mir war klar, dass ›Spin­nen‹ zum Handwerk des Schreibens gehört. Auch merkte ich, dass es eine sehr schwere Ar­­

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beit ist. Sie ist so feingliederig, wie kompliziert. Doch so ruhig, wie die Spinne Faden an Faden knüpft, wird es zu dem, was es auch der Spinne bedeutet, Leben und Erfolg. (Bäcker, Bergmann, geb. 1915, V) Der Selbstanspruch ist bei solchen AutorInnen allerdings kaum einmal der, »künstlerisch wertvolle« Texte zu schaffen; die ästhetische Intention tritt hier anspruchsloser, z. B. als Interesse an gutem oder präzisem Formulieren auf: Wenn ich beim Durchlesen eines eigenen Manuskriptes ein paar Sätze finde, die mir gut formuliert erscheinen, so ist mir das eine Freude und Genugtuung. Durch das Schreiben von Artikeln habe ich gelernt, mich präziser auszudrücken, meinen Stoff zu straffen, komprimiert zu formulieren, was ich erzählen möchte. (Friseuse, Pflegerin, Hausfrau und Mutter, geb. 1918, V) Auch außerhalb der Abiturgruppe finden sich vereinzelte Bekundungen einer Kunstorientierung, die sich jedoch teilweise durch eine gewisse Bemühtheit und Überladenheit der Formulierung als strapaziöses Unterfangen darstellt: Schreiben im positiven Sinn ist kein Zeitvertreib, kein unterhaltsames Spiel, sondern Persönlichkeitsbewältigung im Dienste einer Kultur, deren Ziel erhöhende Mensch­lichkeit ist. Ich meine: Schreiben kann jeder, der logisch und klar zu denken vermag, der erfüllt ist von einer drängenden Aussage seines von Bildern erfüllten Ich im Wider­spiel von schriftlicher Fixierung starken Erlebens von abgelebten Tagen und großen Ereignissen. (Kaufmännischer Angestellter, Presseberichterstatter, geb. 1909, V) Selbstkritische Äußerungen, dass man gern, aber leider nicht gut oder zumindest nicht gut genug schreibe, um »erfolgreich« publizieren zu können, finden sich in allen Gruppen, zeigen aber doch spezifische Abstufungen. So schreibt z. B. eine Frau der Mittlere-ReifeGruppe: Zu meinem Kummer muss ich zugeben, dass ich nicht genug Phantasie habe, um besonders gute Artikel zu erfinden. Über einen gewissen Aufsatzstil komme ich nicht hinaus. In meinem langen Leben habe ich viel Aufregendes erlebt, aber es will mir nicht ge­lingen, auch dieses spannend zu erzählen. Wenn ich jetzt Ansichten über Probleme oder Erleb­ nisse aufschreibe, so ist dies nur für mich als Beschäftigungstherapie oder Gedanken­ training gedacht. (Krankenschwester, Hausfrau und Mutter, geb. 1917, M) Während hier immerhin eine relativ deutliche Vorstellung davon besteht, was dem eigenen Schreiben fehlt (»Phantasie«, »Spannung«), rätselt eine Autorin der Volksschulgruppe, worin denn nun eigentlich die spezifische Differenz zwischen ihrem Schreibstil und dem erfolgreicher Autoren bestehe:

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Ich habe viele Geschichten gelesen. Große und bekannte Künstler schrieben ›Mein Leben‹. Fand das immer unheimlich interessant. Obwohl ich doch bei vielen die besonderen Er­eig­ nisse vermisste. Es gab garnichts ›Besonderes‹. Oder ist es doch der Name, und vielleicht die Wortstellung, die einen großen Platz einnehmen, und alles so schön machen. (Hotel­ angestellte, Akkordnäherin, geb. 1916, V) Wo AutorInnen der Volksschulgruppe ein gewisses schriftstellerisches Selbstbewusstsein äußern, stützt sich dieses in aller Regel nicht auf formale, sondern auf bestimmte inhaltliche Qualitäten ihrer Texte; dabei ist vor allem von autobiographischen, zuweilen auch historisch-dokumentarischen, kaum von fiktionalen Genres die Rede. Diese Qualitäten sind zudem im Durchschnitt andere als die, welche den AutobiographInnen aus den höheren Bildungsgruppen bei ihren lebensgeschichtlichen Texten relevant erscheinen. Die »Schreib­ erlebnisse« bestätigen hierbei Ergebnisse einer vergleichenden Analyse von Kurzautobiographien älterer GelegenheitsautorInnen (vgl. Warneken 1988, 144 f.): AutorInnen mit höherem Schulabschluss hoben demnach eher darauf ab, dass sie historisch Bedeut­sames erlebt hätten, dass sich im eigenen Lebenslauf eine Epoche widerspiegle oder sich aus ih­rem Leben und aus ihren Lebenserfahrungen Lehren für die jüngere Generation ergäben; AutorInnen der Volksschulgruppe sehen in ihrer Biographie nicht die »großen Fragen der Epoche« verkörpert, sondern verstehen sie höchstens als typisch für die eigene soziale Schicht; und sie heben weniger auf die Besonderheit ihrer Erlebnisse ab als auf deren Vielzahl sowie auf die Genauigkeit, in der ihr Gedächtnis noch über diese Ereignisfülle verfüge. Hier zeigt sich die u. a. von Bourdieu hervorgehobene Orientierung der Unterschichten an der »Substanz«, der Stofflichkeit, im Unterschied zum Qualitäts- und Stilinteresse höherer Sozialschichten, verbunden in diesem Fall mit einer Betonung des »Nachzeich­nen­ könnens«, während AutobiographInnen der Abiturgruppe eher auf ihr kreatives Vermö­gen zur literarischen Gestaltung setzen. Hinzu kommt bei der Volksschulgruppe zuweilen die Berufung auf die Wahrhaftigkeit und Moralität des Geschriebenen: Dem kulturellen und sozialen Kapital prominenter Autobiographen wird das »ethische Kapital« der »einfachen Menschen« entgegengesetzt: Tagebuch habe ich nie geführt. Bei Diktat und Aufsätzen konnte ich aber gut mitmachen. Nur hatte ich immer viel Angst etwas falsch zu machen. Aber oft wusste ich das Richtige. Das nahmen mir Lehrer und Vorgesetzte natürlich übel. Meine Bekannten wundern sich, dass ich wichtige Ereignisse von früher nach langer Zeit so genau schildern konnte. Zum Beispiel: Den Brand des ›Hamburger Michels‹ (der Michaeliskirche). Oder die ›Flamme von Neuengamme‹, im Jahre 1910. Darum möchte ich nun meinen Lebenslauf zu Papier bringen. Nicht so wie Verbrecher und Politiker, die ihre Übeltaten als Heldentaten gewertet haben wollen. Auch ganz einfache Menschen können den Menschen ihre Erlebnisse so schildern, dass diese davon lernen können. Für mich genügt ein Stichwort, um wahre Geschichten zu schreiben. (Straßenbahner, Postfacharbeiter, geb. 1899, V)

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Häufiger jedoch als solche Selbstbehauptungsversuche, die ansatzweise das Programm einer »Geschichtsschreibung von unten« enthalten, sind in der Volksschulgruppe Äußerungen der Unsicherheit, ob das eigene Erleben überhaupt überindividuelles Interesse beanspruchen könne: Nun habe ich selber mal versucht, ein Erlebnis zu schreiben. Vielleicht ist dieses Leben oder dieses Erlebnis nur für mich so stark und unauslöschbar, weil es ›Mein Leben‹ ist. Es interessiert sonst niemand. (Hotelangestellte, Akkordnäherin, geb. 1916, V) Was bei mir im Kopf herumkreist, wäre ein Buch zu schreiben. Nur ich habe die Er­kennt­ nis, dass ich dafür zu dumm bin. Ich möchte keinen Roman schreiben, auch nicht die sogenannten Memoiren, sondern mein eigenes Leben von der Geburt mit den dazwischen liegenden Erlebnissen schildern, die man als Einzelschicksale gar nicht schil­dern kann. (…) Aber wenn ich darüber nachdenke, wer bin ich denn schon? Ich bin kein Beckenbauer oder ein anderer namhafter Fußballer, keine Persönlichkeit wie ein Box­weltmeister, der nicht lesen und schreiben kann, aber dennoch ein Buch geschrieben hat. Ich bin keine Knef und keine Uschi Glas. Ich bezweifle nur, ob die alle selbst geschrieben haben oder ihre Gedanken jemanden nur erzählt haben, der sie dann zu Papier brachte. Ich möchte kein Günter Grass sein, auch kein Konsalik werden oder sein. Ich möchte nur ganz einfach mein Leben schildern. Aber wer liest so etwas schon oder für wen wäre es interessant? Na ja, den Gedanken werde ich wohl nie verwirklichen können. (Polizeibeamter, Verwaltungsangestellter, geb. 1913, V)16 Die gruppenspezifischen Unterschiede im Selbstbewusstsein der AutorInnen betreffen, das zeigen die Äußerungen zur Autobiographiefrage ganz deutlich, nicht nur der­en Selbstwertgefühl als Schreibende, sondern als Person überhaupt. Dies wiederum unterstreicht die Tatsache, dass die unterschiedlichen Schreibkulturen, die sich in den »Schreiberlebnissen« abzeichnen, nicht nur als Produkt differierender Schreibsoziali­sationen genommen werden dürfen. Dass die populare sich von der eher »bildungsbürgerlich« geprägten Schreibkultur, wie gesehen, durch mehr Gehorsams- und weniger Frei­heits­merkmale der Schreibpraxis unterscheidet; dass das Schreiben hier häufiger der familiären Beziehungspflege und seltener der öffentlichen Meinungs­äußerung und Selbstdarstellung dient – dies alles sind Ausdrucksformen schichtspezifischer Lebens- und Verhaltensweisen, die darüber entscheiden, wie die selbst schon unter­schiedlichen Fähigkeiten genutzt werden, die in der schulischen Schreiberziehung erworben wurden. Um diese soziokulturellen Muster genauer und mit größerer Sicherheit nachzuweisen, als es hier geschehen konnte, bedürfte es nicht nur umfangreicherer Umfragen, als sie diesem Beitrag zugrundeliegen, sondern vor allem der Analyse der verschiedenen Schreibpraxen selbst. Denn natürlich geben die hier ausgewerteten Erinnerungen diese Praxen nur ganz bruchstückhaft und durch aktuelle Einstellungen gefiltert wieder. Eine solche komparatistische Texteanalyse setzt freilich eine systematische Sammeltätigkeit voraus, die für die zu

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untersuchenden Gruppen jeweils eine ausreichende Anzahl von Textbeispielen zumindest aus einigen wesentlichen Genres des Alltagsschreibens und Gelegenheitsdichtens zusammenführen müsste. Doch das FIPS, das »Forschungsinstitut für populare Schreibkultur«, das eine solche Arbeit leisten könnte, ist bisher noch nicht gegründet. Anmerkungen 1 Geprägt wurde der Begriff »Populare Schreibkultur« 1981 im Zusammenhang mit einem Projekt am Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kultur­wissen­schaft der Universität Tübingen (vgl. Warneken 1981; vgl. auch ders. 1983, v. a. 1 f.). – »Popular« soll dabei – unter Umgehung des allzu vieldeutigen Begriffs »Volk« – das Unter­suchungs­spektrum auf die Schreibpraxis nichtprofessioneller sowie nicht der Intelli­genz oder Oberschicht zugehöriger Autoren eingrenzen; unter »Schreiben« sollen alle schrift­ lichen Äußerungsformen vom ersten Buchstabenmalen und Nachschreiben über das Verfassen eigener Alltagstexte (Merkzettel, Brief, Sitzungsprotokoll usw.) bis hin zur »Gelegenheitsdichtung« zusammengefasst werden, unter anderem, um die biographische und auch – insbesondere in der Popular­ kultur – enge strukturelle Verflech­tung dieser Schreibfelder nicht aus dem Blick zu verlieren; der Begriff der popularen »Schreibkultur« (statt populare »Literatur« o. ä.) drückt die Absicht aus, sowohl die Schreib­tätigkeit einschließlich ihrer materiell-praktischen Seiten als auch die Schreibprodukte und deren Distributionsformen zu analysieren und diese Ebenen miteinander in Beziehung zu setzen. 2 Es handelte dabei um eine Auswahl von EinsenderInnen eines Fernsehwettbewerbs »Erzähl doch mal« des Süddeutschen Rundfunks von 1977, eines Aufrufs des Landes­senioren­rats Baden-Württemberg »Ältere Menschen schreiben Geschichte« von 1976/77 sowie von Senioren-Schreibwettbewerben der Volkshochschule Lemgo zwi­schen 1978 bis 1981. Der »Schreiberlebnisse«-Aktion vorhergegangen war eine Um­f rage zur Schreibpraxis von EinsenderInnen zu den genannten Wettbewerben. Der größte Teil der »Schreiberlebnisse«-AutorInnen hatte auch schon an dieser Umfrage teilgenommen (vgl. Warneken 1985, 127 f.). 3 Der Schreibaufruf ist abgedruckt in Warneken (1987, 15 f.); 59 der eingesandten »Schreiberleb­nisse« wurden publiziert (vgl. ebd., 24‑199). 4 Gerechnet in anderthalbzeilig beschriebenen Schreibmaschinenseiten. (Ein Teil der Ein­sendungen war handgeschrieben: Bei den Autorinnen bzw. Autoren mit Volks­schulabschluss 62 Prozent bzw. 40 Prozent, bei denen mit Mittlerer Reife 24 Prozent bzw. 18 Prozent und bei der Abiturgruppe 15 Prozent bzw. 17 Prozent.) 5 Die Volksschulgruppe besteht aus 31 Frauen und 33 Männern, bei der Mittlere-Reife-Gruppe ist das Verhältnis 48 zu 29, bei der Abiturgruppe 7 zu 18. 6 Da die hier vorgestellten AutorInnen unter EinsenderInnen zu einem Schreibaufruf ausgewählt wurden, repräsentieren sie keinesfalls den Durchschnitt, sondern einen beson­ders schreibaktiven Teil ihrer jeweiligen Herkunftsgruppe. Die Bitte um Schreib­er­leb­nisse konzentrierte sich deshalb auf diesen Personenkreis, weil von ihm eine – trotz des aus Zeit- und Geldgründen begrenzten Samples – relativ große Zahl von inhaltsreichen Berichten erwartet werden konnte. 7 Nur bei einem Teil der Textmerkmale bzw. Textaussagen wird der Gruppenvergleich mit Prozent­ angaben operieren; öfter werden weiche Quantifizierungen wie »seltener«, »häufiger« usw. gewählt, da Zahlenangaben angesichts verschiedener Genauigkeits- und Nuancierungsgrade der Äußerungen zu den einzelnen Themen meist pseudoexakt gewesen wären.

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8 Alle hier wiedergegebenen Auszüge aus Schreiberlebnissen sind in Wortlaut und Interpunktion unverändert übernommen, nur Tippfehler und orthographische Fehler wurden korrigiert. Die den Texten beigefügten Berufsangaben sind Eigenangaben der AutorInnen. 9 Nur am Rand sei auf eine inhaltlich-ideologische Komponente dieser Disziplinierung hingewiesen: Die Sätze, die es beim Schreibenlernen nachzuschreiben galt, bestanden häufig aus erzieherischen – moralischen, religiösen, auch nationalen – Sentenzen. 10 Dass Schreibunlust – auch für einzelne Lebensphasen – selten geäußert wird, hängt u. U. auch damit zusammen, dass die EinsenderInnen bei ihrem Adressaten eine Hoch­schätzung des Schreibens vermuten durften und dieser nicht opponieren wollten. 11 Einige Berichte über die Abwehrhaltung von Eltern gegenüber Schreibversuchen ihrer Kinder finden sich auch bei der Mittlere-Reife-Gruppe; jedoch geht es hierbei nicht um gelegentliche dichterische Versuche, sondern um die weitergehende Frage einer schriftstellerischen Laufbahn. Hier das markanteste Beispiel: »Als ich die Realschule besuchte, verspürte ich das Bedürfnis, Gedichte und Romane zu schreiben. Bei meinen Eltern jedoch stieß ich für diese Betätigung auf wenig Verständnis. Seinerzeit schrieb ich an einem Roman und bot diesen dem Verlag Raimer Hopping in Berlin an, wo man den Roman ganz nett fand, jedoch nicht in den Druck gehen ließ. Allerdings wurde mir eine Kurzgeschichte abgekauft, die für eine Zeitung bestimmt war, worüber ich natürlich sehr glücklich war. Meine Eltern fanden das gar nicht in Ordnung und sagten, dass ich lieber einen anständigen Beruf erlernen solle, als mit dieser Kritzelei die Zeit zu vertun. Ich stellte das Schreiben ein und schrieb nur noch Briefe an meine Freundinnen, die man ja als junger Mann eben hatte.« (Kaufmann, geb. 1913, M) 12 Eindeutige Geschlechtsdifferenzen sind auch beim Tagebuchschreiben späterer Generationen ermittelt worden. So führten nach einer Studie von Waltraud Küp­pers 1955–1964 38 Prozent der von ihr befragten weiblichen, aber nur 31 Prozent der männlichen Ju­gend­lichen Tagebuch (Küppers 1964, 9); die Shell-Studie Jugend ’81 ergab gar ein Verhältnis von 45 Prozent zu 13 Prozent ( Jugend 1982, 440). 13 21 Prozent beantworteten diese Frage nicht, was sicher nicht durchweg als Negativmeldung zu bewerten ist, so dass die Prozentzahl der »GelegenheitsdichterInnen« unter den Befragten höher liegen könnte als hier angegeben. 14 Diese Zusatzfrage wurde seinerzeit – in der Meinung, sie überfordere das Gedächtnis der Befrag­ ten – unterlassen. 15 Eine der AutorInnen zeigt freilich, dass die Bindung an offizielle Schenktermine bei stärkerem »furor poeticus« durchaus durchbrochen werden kann: »(…) Ich (hatte) zu dieser Zeit Feldsträußchen gekauft, und das passende Verschen dazu gemacht, und so war für mich jeden Tag Weihnachten, wenn ich jemand begegnet bin, und diese Freude weiterverschenken konnte, und durch diese Gelegenheit hatte man sehr viele Menschen kennengelernt, noch mehr, als ich schon kenne!« (Hausfrau, geb. 1912, M) 16 Autorinnen und vor allem Autoren der Mittlere-Reife- und Abiturgruppe erweisen sich überdies nicht nur darin als selbstbewusster, dass sie für ihre Lebenserinnerungen oder auch für Erzählungen oder Romane häufiger einen Verlag zu finden suchen; sie reagieren auch auf Misserfolge bei diesen Versuchen nicht primär mit Selbstzweifeln, sondern mit Kritik an den Präferenzen der Verlage oder des Lesepublikums: »Erst schrieb ich noch manches. Wenige Versuche, zu veröffentlichen, schlugen fehl. Das ärgerte mich. Ich habe aufgehört, zu schreiben und habe mich mit Erfolg der Malerei und Bildhauerei zugewandt.« (Diplomlandwirt, Verwaltungsfachmann, geb. 1903, A) »Für Zeitschriften schrieb ich hin und wieder auch einen Artikel, mal sozialkritisch, mal pädagogisch, aber immer aus dem Leben heraus. Dieser und jener wurde verkauft, andere Artikel ruhen in meiner Schublade, so wie mein Roman, denn wer interessiert sich heute noch dafür, was damals war?« (Kaufmann, geb. 1918, M)

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Literatur Beck, Ulrich (1986) Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt am Main. Bergmann, Klaus (1991): Lebensgeschichte als Appell. Autobiographische Schriften der ›kleinen Leute‹ und Außenseiter. Opladen. Grosse, Siegfried u. a. (1989): »Denn das Schreiben gehört nicht zu meiner täglichen Beschäftigung.« Der Alltag kleiner Leute in Bittschriften, Briefen und Berichten aus dem 19. Jahrhundert. Ein Lesebuch. Bonn. Hopf-Droste, Marie-Luise (1981): Das bäuerliche Tagebuch. Fest und Alltag auf einem Artländer Bauernhof 1873–1919 (Materialien zur Volkskultur nordwestliches Niedersachsen, Heft 3). Cloppenburg. Jugend ’81 (1982): Lebensentwürfe, Alltagskulturen, Zukunftsbilder. Studie im Auftrag des Jugendwerks der Deutschen Shell, Bd. 1. Leverkusen. Küppers, Waltraud (1964): Mädchentagebücher der Nachkriegszeit. Stuttgart. Mesenhöller, Peter (1985): Der Auswandererbrief. Bedingungen und Typik schriftlicher Kommunikation im Auswanderungsprozeß. In: Hessische Blätter für Volkskunde, 17. Jg., 111‑124. Ottenjann, Helmut/Wiegelmann, Günter (Hg.) (1982): Alte Tagebücher und Anschreibebücher. Quellen zum Alltag der ländlichen Bevölkerung in Nordwesteuropa. Münster. Peters, Jan/Hartmut Harnisch/Lieselott Enders (1989): Märkische Bauerntagebücher des 18. und 19. Jahrhunderts. Selbstzeugnisse von Milchviehbauern aus Neuholland. Weimar. Schober, Manfred (1987): Briefe von Handwerkern, Gesellen und Arbeitern aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert. Eine Bestandsaufnahme nach Sebnitzer Quellen. In: Jahrbuch für Volkskunde und Kulturgeschichte, 143‑177. Warneken, Bernd Jürgen (1981): ›Jetzt kauf i mir Tint’n und Feder und Papier.‹ Zum Themenkreis des Projektseminars ›Schreibkultur‹. In: Tübinger Korrespondenzblatt 22, 12‑18. Ders. (1983): Populare Schreibkultur. Eine explorative Studie über die Schreibpraxis älterer Gelegen­ heitsautoren. In: SPIEL (Siegener Periodicum zur Internationalen Empirischen Literaturwissenschaft), 2, H.1, 1‑23. Ders. (1985) Populare Autobiographik. Empirische Studien zu einer Quellengattung der Alltags­geschichts­ forschung. Tübingen. Ders. (1987) (Hg.): Populare Schreibkultur. Texte und Analysen. Tübingen. Ders. (1988): Zur Schichtspezifik autobiographischer Darstellungsmuster. In diesem Band, 167-184. Ziessow, Karl-Heinz (1988): Ländliche Lesekultur im 18. und 19. Jahrhundert. Das Kirchspiel Menslage und seine Lesegesellschaften 1790–1840 (= Materialien zur Volkskultur nordwestliches Niedersachsen, Hefte 12 und 13), 2 Bde. Cloppenburg.

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In einer horazischen Satire finden sich die folgenden Verse: tum Praenestinus salso multoque fluenti expressa arbusto regerit convicia, durus vindemiator et invictus, cui saepe viator cessisset magna compellans voce cuculum (Helm 1962, 78). Zu deutsch: Darauf lässt auf die Flut von Witz der Mann aus Praeneste Selbst sein Geschimpfe erschallen, wie aus der Pflanzung der Winzer Grob ohne Ende es tut, vor dem auch der Wandrer verstummte, Der mit dem Ruf ›Kuckuck! Kuckuck!‹ doch als erster ihn neckte (ebd., 79). Angespielt wird von Horaz also auf Wortgefechte zwischen Winzern und Wan­derern. Dass es sich bei diesen Zurufen um einen Brauch handelt, belegt eine Passage im 18. Buch der Naturgeschichte des Gaius Plinius Secundus: In hoc temporis intervallo (zwischen der Frühlingsnachtgleiche und dem Früh­auf­gang der Ple­jaden, d. i. zwischen 21. März und 19. Mai, B. J. W.) XV diebus primis agricolae ra­pienda sunt, quibus peragendis ante aequinoctium non suffecerit, dum sciat inde natam exprobrationem foedam putantium vites per imitationem cantus alitis temporariae, quam cuculum vocant. dedecus enim habetur obprobriumque meritum, falcem ab illa volucre in vite deprehendi, et ob id petulantiae sales, etiam cum primo vere, laudantur, auspicio tamen detestabiles videntur (Mayhoff 1967, 212). Während diesem Zeitraum, in den ersten 15 Tagen, muss sich der Bauer mit denjenigen Arbeiten, die er vor dem Aequinoctium nicht vollenden konnte, beeilen; denn bekannt­ lich datiert sich daher der schimpfliche Vorwurf gegen diejenigen, welche den Wein­stock dann beschneiden, wenn ein gewisser Zugvogel schreit, den man Kuckuck nennt. Man

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hält es nämlich für schimpflich, wenn nach dem Erscheinen dieses Vogels eine Sichel am Weinstock bemerkt wird, und deshalb ergötzt man sich beim Beginn des Frühlings mit mutwilligen Scherzen.1 Im lateinisch-deutschen Handwörterbuch von Georges heißt es denn auch unter »cuculus« unter anderem: »höhnender Zuruf an träge Landleute, die mit dem Schneiteln bis zum Kuckucksrufe (d. i. bis nach der Frühlingsgleiche) war­teten« (Georges 1951, 1784). Über das Hin und Her bei diesen Neckereien schreibt der Horazkommen­tator Pom­pon­ ius Porphyrio: Nam solent levia rustici circa viam arbusta vindemiantes a viatoribus cuculli appellari, cum illi provocati tantam verborum amaritudinem in eos effundunt, ut viatores illis ce­dant contenti tantum eos cuculos iterum atque iterum appellare (Hauthal 1966, 143). Also etwa so: Die Bauern, die in den Weingärten nahe der Straße arbeiten, pflegen nämlich von den Vorbeigehenden ›Kuckucke‹ genannt zu werden, während jene, provoziert, diese mit Aus­ drücken von einer derartigen Grobheit überhäufen, dass die Wanderer schließlich weichen, zufrieden damit, nur eben wieder und wieder ›Kuckucke‹ zu rufen.2 Diese Gepflogenheit war nicht auf Italien begrenzt. In der »Mosella« des Deci­mus Magnus Ausonius, geschrieben etwa im Jahr 374 unserer Zeitrechnung, trifft man auf diese Schilderung: Laeta operum plebes festinantesque coloni Vertice nunc summo properant, nunc deiuge dorso, Certantes stolidis clamoribus, inde viator Riparum subiecta terens, hinc navita labens Probra canunt seris cultoribus ( John o. J., 56). Das Volk, das froh hier bei der Arbeit ist, und die geschäftigen Winzer sind flink bald oben am Gipfel, bald dort, wo sich der Abhang neigt, wetteifernd mit albernen Juchzern. Von dort ruft der Wandrer, der unten am Ufer des Weges zieht, von hier der Schiffer im gleitenden Kahn den säumigen Winzern manch schmähendes Wort (ebd., 57).

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In einer Miszelle der »Philologischen Wochenschrift« vom 24. Januar 1924 weist Franz Harder darauf hin, dass solche »Winzerneckereien« auch für das neuzeit­liche Italien belegt sind: In der Schrift »Vie des dames galantes« von Pierre de Bourdeille, Seigneur de Brantôme (1540–1614), findet sich ein Bericht aus der Gegend um Neapel, wonach »die Winzer zu einer be­stimmten Zeit des Jahres und nur in dieser (hier ist es aber die Zeit der Weinlese) die Vorübergehenden mit den unflätigsten Redensarten belegten (…)« (Harder 1924, 88). Für die jüngere deutsche Geschichte hat Harder keine Belege dieser Art entdeckt: »Meine Anfragen bei Anwohnern des Rheines und der Mosel ha­ben nichts ergeben; vielleicht sind andere erfolgreicher« (ebd.). Er hätte eben in Tü­bingen nachforschen müssen; das hätte ihn um die Kenntnis der Gôgenwitze und deren Herausgeber und Kommentatoren um die Möglichkeit be­reichert, diese zumindest damals noch als sehr anrüchig geltenden Witze mit ei­nem fast zweitausendjährigen Stammbaum oder, vorsichtiger gesagt, mit fast zweitausendjährigen Parallelen zu adeln. Bereichert worden wäre durch ein Heranziehen der zitierten antiken Quellen auch die Diskussion um die Herkunft des Namens »Gôg«: Er könnte ja einfach der römische »cuculus« sein, der im Mittelhochdeutschen »gouch« oder »goch« hieß, was damals auch »Tor« oder »Narr« bedeutete (vgl. Fischer 1911, 94 f.). Dass »Gogh« von »Kuckuck« komme, ist freilich schon öfters behauptet worden: Josef Forderer bringt »Gogh« mit dem schwäbischen »Gauch« in der Bedeutung von »Possen­reißer, Schlauberger« zusammen (vgl. Forderer 1964, 62), und Heinz-Eugen Schramm stützt die »Gauch«-Hypothese mit der Überlegung, dass manche den Gôgen ja eine Ab­stammung von den Hunnen unterstellten und diese vielleicht deshalb den Na­men des Eier in fremde Nester legenden Vogels bekommen hätten (vgl. Schramm 1975, 6). Angesichts solch schwach abgestützter Herleitungen konnte Arno Ruoffs Bewertung, die »These einer Herkunft (des Namens »Gogh«, B. J. W.) von ›Georg‹ oder ›Gauch‹ « habe »wenig Wahr­scheinlichkeit, da diese Wörter unkontrahiert in dieser Form in der Mundart bestehen« (Ruoff 1957, 113), als ausreichende Zurückweisung der Kuckuck-Be­deutung von »Gogh« gelten. Doch wenn man nun den weingärtnerischen Bezug des cuculus-Zurufs in der Antike in Anschlag bringt, und wenn man zudem – eingedenk auch dessen, dass »Gog (…) nur in gebildetem, spec. student. Munde« (Fischer 1911, 16) vorkam – nicht den Umweg über das mundartliche »Gauch« nimmt, sondern nur an das mittelhochdeutsche »goch« denkt, dann wird die Verwandt­schaft der Tübinger »Gôgen« mit den römischen cuculi doch ein wenig wahr­scheinlicher. *

Die einleitende Rückbesinnung auf klassische Vorläufer der Gôgenwitze war zugleich eine Reminiszenz an klassische volkskundliche Frageweisen, die von der Empirischen Kulturwissenschaft zu Recht in ihre Schranken verwiesen wor­den sind: »Es ist (…) an der Zeit«, schrieb Hermann Bausinger 1969, »dass (…) die Frage nach geschichtlichen Detailzusammenhängen von einer umfassenderen Fragestellung abgelöst wird, die ganz und gar nicht

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unhistorisch zu sein braucht. Paradoxerweise verschüttet das hektische Ausbuddeln isolierter geschichtlicher Verbindungsgräben ja gerade die Perspektive auf die weitere historische Land­schaft, auf den Lebensstil der Epochen und damit auch auf die relevanten Zu­sammenhänge einzelner Kulturdaten« (Bausinger 1969, 17). Eben: Dass die Gôgenwitze, sofern sie Spott von Winzern über Stadtbürger und umgekehrt enthalten, antike Vorgän­ger haben, ist zwar für Kultursoziologen nicht unnütz zu wissen – es könnte z. B. die Erkenntnis unterstreichen helfen, dass es auch beim Gôgen­witz nicht um »Stammeseigenheiten«, sondern um die Auseinandersetzung von Hand- und Kopfarbeitern geht. Aber die Frage nach der ›Lebensweise‹ dieser Witze, nach ihrer Funktion, kann eben nicht aus deren Traditions-, sondern nur aus ihrem Epochenzusammenhang heraus angemessen beantwortet werden. Und wenn man nach diesem, also nach dem Entstehungs­- und Gebrauchskontext der Gôgenwitze fragt, so führt die Entdeckung alter Verwandter sogar eher in die Irre. Diese Witze selbst sind nämlich in ihrer ganz überwiegenden Mehrheit ausgesprochen jung: Sie sind ein Produkt der In­dustrialisierungsperiode, sind Tübinger Volkskultur in der Moderne. Die erste Edition der Witze ist gerade zehn Jahre älter als Hermann Bausinger, dem dieser Aufsatz gewidmet ist. Sie erschien 1916 in Stuttgart. Sechs Anekdoten mit Gôgen-Aus­ sprüchen waren schon vier Jahre vorher in Versform zum Druck gelangt: in Martin Langs Gedichtbändchen Schbatzaweisheit, das 1912 in Stuttgart her­auskam. Frühere Publikationen von Gôgenwitzen sind mir nicht bekannt. Auch in den zahlreichen Vorkriegsjahrgängen der Tübinger Chronik, die ich bei verschiedenen Tübingen-Projekten der letzten Jahre durchgesehen habe, fand sich keine Anekdote dieser Provenienz; eine einschlägige Durchsicht von Korporations-Ar­chiven, von studentischen Kneipzeitungen und Gazetten steht freilich noch aus. Eine andere Frage ist, seit wann Gôgenwitze – zumal unter diesem Genrena­men – mündlich kursierten. Der habhafteste Hinweis hierzu, den ich kenne, findet sich in Isolde Kurz’ Erinnerungen Aus meinem Jugendland, wo es heißt: »Unzählige Gôgenworte und -witze waren und sind in Tübingen im Schwang« (Kurz 1919, 57). Dabei zitiert Isolde Kurz auch zwei Witze – und zwar die mit den Pointen »em Ra«, und »airscht wenn i jo sag!«. Das Buch erschien zuerst 1918. Es könnte also sein, dass die Lektüre der Sammlung von 1916 oder einer Nachauflage davon die Autorin zu einer Rückprojektion veranlasst hat; vermu­ ten lässt sich jedenfalls, dass sie eine der Broschüren kannte, denn ihre Wieder­gabe des »em Ra«-Witzes übernimmt Formulierungen der Stuttgarter Edition.3 Billigt man ihrer Erinnerung jedoch Authentizität zu, so hieße das, dass Gôgen­witze auf jeden Fall etwa 50 Jahre vorher im Umlauf und vielleicht auch schon ein Begriff waren: Denn Isolde Kurz, 1853 geboren, lebte 1864 bis 1873 in Tü­bingen, bevor sie nach Florenz zog. Aber wie steht es mit der Entstehungszeit der Anekdoten selbst – oder, bei den Wanderwitzen unter ihnen, der Zeit ihrer ›Eingemeindung‹? In einem Fall habe ich den Beleg für einen Ursprung vor 1800 gefunden – und zwar für einen wahrscheinlich tübingerischen Ursprung: Die Anekdote »Wisst Ihr denn nicht, dass heute der Heiland geboren ist?«/»Mir do unte erfahret au gar net, was in der obere Stadt passiert« enthalten in ähnlicher Form die

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Briefe über die Ver­besserung der Landschulen überhaupt und der Wirtembergischen insbesondere, die 1792 geschrieben und 1797 gedruckt wurden.4 Relativ alt könnte auch der Witz sein, in dem eine skeptische Bemerkung über das Para­dies (»Se lobet’s afange au nemme so«) als Reaktion auf Strauß’ Leben Jesu er­klärt wird: Das Buch erschien zuerst 1835. Ansonsten habe ich in keinem der Witze aus den mir vorliegenden fünf Ausgaben und über keinen von ihnen Hinweise auf eine Entstehungs- bzw. Adaptionszeit vor 1863 entdecken können. Hier eine Aufstellung derjenigen Anekdoten, für die ich bisher aufgrund von Angaben in den Witzen selbst eine genaue oder ungefähre Zeitbestimmung5 vornehmen konnte (wobei die in späteren Ausgaben recht zahlreichen Witze, deren Text auf eine Entstehung nach 1918 schließen läßt, nicht aufgeführt sind):6 1. Anekdoten, die selbst eine Datierung enthalten 1975/251: »Am 50. Jahrestag der Schlacht von Leipzig«. Also 1863. 8/52: »Im Jahre 1872«, 1975/252: Es geht um die Einweihung des Uhlanddenkmals, »14.Juli 1873«. 8/128: »im Jahre 1878 zur Reichstagswahlzeit«. 1/18: »anlässlich des 90. Geburtstagsfestes Kaiser Wilhelms I.«: 1887. 1975/343: »Es war um die Jahrhundertwende«. 1975/84: »Es war zu Beginn unseres Jahrhunderts«. 2. Aufgrund des Anekdotengeschehens datierbare Witze 1/45: »vor dem renovierten Tübinger Rathaus«: Die Renovierung fand 1877 statt. 1/61: »Beim Bau der Turnhalle«: Diese wurde 1877 fertig. 1975/191: »auf den Rohbau der neuen Medizinischen Klinik deutend« : Diese Klinik wurde 1879 fertiggestellt. 1975/97: »Der Gemeinderat hat beschlossen, die untere Stadt zu kanalisieren«: Diese Kanalisation begann 1893. 3. Vom Personal her ungefähr datierbare Witze 1975/247: Ottilie Wildermuth. Sie lebte 1817 bis 1877. 1975/255: »Ein Gog, der am Krieg 1870/71 teilgenommen hatte.« 1975/141: »Der Bataillonskommandeur«: Garnisonsstadt war Tübingen seit 1875. 1975/169: Angst um das Leben der erkrankten Mathilde Weber: Diese lebte von 1829 bis 1901. 1975/196 und 203: Weitere Anekdoten um Mathilde Weber. 1/89: Ein Oberbürgermeister, der mit Vornamen »Julius« heißt: Julius Gös, wurde 1874 Stadtschultheiß und war 1887 bis 1897 Oberbürgermeister. 1975/390: Professor Bruns: Paul von Bruns wurde 1877 ao. Professor in Tübin­gen. 1/82: »ein Professor (Heimatschützler)« : Der Bund für Heimatschutz in Württemberg und Hohenzollern wurde 1909 gegründet. 1/19: Königin Olga. Sie war württembergische Königin von 1864 bis 1892.

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1/2: Der erwähnte »Gog« ist laut Michael Greiner (1939, 101) der »Buren­ge­neral« Rudolf Brodbeck, gestorben 1939. (Ihm werden mehrere Gôgenwitze zuge­schrie­ ben.) 1975/49: Zacharias Krauß. Erstmals enthalten im Adressbuch von 1925. 4. Anekdoten, für die sich vom Inventar her ein »non ante« festlegen lässt7 1975/158: »Leben Jesu« von David Friedrich Strauß: Erschien zuerst 1835. 1/98: Verein »Janitscharia«; Er wurde 1844 gegründet. 1/53: »auf der akademischen Rennbahn« (d. i. die Wilhelmstraße): Die Neue Aula in der Wilhelmstraße wurde 1845 eingeweiht. 1/68: Telegraphenleitung: Eine solche gibt es in Tübingen seit 1857. 8/229, 231, 232: Eisenbahnfahrten in der Tübinger Gegend: Die erste Linie der Region wurde 1861 eröffnet (Reutlingen-Tübingen-Rottenburg). 1974/159: Norddeutsche Zeitung: Gemeint sein dürfte hier das in Flensburg herausgegebene Blatt, das seit 1864 existierte. 1/92: Nills Tiergarten in Stuttgart: Dieser wurde 1871 eröffnet. 1/17: »sein Einjähriges abdient«: Eingeführt wurde dieses im Jahre 1871. 1975/231: Augenklinik: Das alte Gebäude stammt von 1875, das neue von 1907. 1975/232: Ohrenklinik: Erbaut 1888. 1975/63: »d’Elefante vom Hagebeck« ; Hagenbecks Dressurzirkus gibt es seit 1890, Hagenbecks Tierpark seit 1907. 1/71: Lokal »Mayerhöfle«: Nach mündlicher Auskunft der Wirtin Ruth Mayer an den Verf. eröffnete es in den 1890er Jahren. 1/20: Das »Denkmal von Herzog Eberhard« auf der Neckarbrücke wird vor­ übergehend zu Reparaturzwecken entfernt: Erstellt wurde es 1903. 8/97: »das neue Justizgebäude«; Es wurde 1905 bezogen. 1974/120: Das Stuttgarter Krematorium: Dieses existiert seit 1907. Das Gros der datierbaren älteren Gôgenwitze verweist auf die letzten Jahrzehnte des 19. und das erste des 20. Jahrhunderts. Die Frage von Max Picard, »ob die Entstehung der Gogenwitze mit der Gründung der Universität einhergeht« (Picard 1980, 6) – er selbst will sie offen lassen –, lässt sich also zumindest vom erhaltenen Witz­bestand her eindeutig verneinen. Und auch Heinz-Eugen Schramms Einschät­zung der Witze als Hervorbringung »einer äußerst selbstbewussten, bodenver­wurzelten Urbevölkerung« (Schramm 1974, 5) führt einigermaßen in die Irre. Denn jene Jahr­zehnte, aus denen die klassischen Gôgenwitze zumeist stammen, sind die Zeit der bis dahin rapidesten sozialen Veränderungen der Stadt. Ihre Ausdehnung, ihre Einwohner- und Studentenzahlen nehmen sprunghaft zu, und aus den »Gôgen« werden mehr und mehr Lohnarbeiter in Industriebetrieben, bei der Bahn, der Post und der Universität. Die traditionelle Weingärtner- und Handwerker­kultur

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Tübingens löst sich auf oder transformiert sich, wird innerhalb der Unterstadt selbst zum Relikt (vgl. Braun u. a. 1978). Die Gôgenworte, die zunehmend kursieren und gesammelt werden, sind allesamt letzte Worte. *

In dem ideologiekritischen Heimatbuch Das andere Tübingen von 1978 werden die Gô­­gen­ witze unter der Überschrift »Wie man aus Geschichte Geschichtchen macht« behandelt (vgl. ebd., 375‑382), und in einem Vorwort zu einem Neudruck der Erstausgabe habe ich 1979 von den »oberstädtischen ›Lustprinzipien‹ « (Tübinger Gogenwitze 1979, 14) gesprochen, die bei der Auswahl der Anekdoten am Werk gewesen seien. Die einstigen Gôgenwitz-Sammler8 erscheinen in solchen Be­urteilungen leicht als bloß am Lachen und Verlachen interessiert, und ihre Sam­melmotive werden lediglich allgemein-sozialpsychologisch gedeutet. Doch wenn man sich vor Augen hält, dass diese Witze ja in der Tat keine typischen Unbildungswitze sind (Röhrich 1977, 257 f.) und die Unterstädter in ihnen oft nicht nur mittels Derbheit, sondern auch mittels Schlagfertigkeit das Feld gegenüber Akademikern behaupten (vgl. Döffinger 1978); wenn man zudem davon ausgeht, dass die Witze gerade in der Zeit gesammelt wurden, in der sich die Modernisierung der Stadt beschleunigte, so liegt eigentlich die Frage nahe, ob bei der Entstehung der Sammlung und bei ihrer Verbreitung nicht im engeren Sinn volkskundli­ches Interesse Pate gestanden haben könnte: Ob es nicht auch Gôgenwitz­-Freunden der ersten Stunde – wie später, mit gewiss neuen Implikaten, den Au­torInnen des Anderen Tübingen – darum gegangen sein könnte, volkskul­turellen »Eigensinn« zu würdigen und »Kulturleistungen« der Unterstädter vor dem Vergessen zu bewahren. Immerhin sind ja die Jahre vor dem Erscheinen der ersten Gôgenwitz-Samm­lung Jahre eines unerhörten Aufschwungs volkskundlicher und heimatpflegeri­scher Bemühungen. Angesichts der »ungeheuerlichen Ausdehnung des Indu­strialismus« und der »ungeheuren Ausdehnung des städtischen Lebens« wurde gefragt: »Ist es nicht die letzte Stunde, in der wir hoffen können, aus unserem Volksleben wertvollste Materialien zu retten, die in ganz kurzer Zeit unwieder­bringlich verloren sein werden (…)?« (Hahn 1911, 227) Was dabei speziell Württemberg angeht, so schließen sich kurz vor 1900 einige Wissenschaftler zur Württembergischen Vereinigung für Volkskunde zusammen (vgl. Dölker 1980, VI), die 1899 zusammen mit dem Stati­stischen Landesamt unter Federführung von Karl Bohnenberger den »Aufruf zur Sammlung volkskundlicher Überlieferungen« herausgibt, wobei unter anderem Redensarten, Schwänke, Nachbar- und Ortsneckereien gefragt sind. Beteiligen sollen sich neben Geistlichen und Lehrern, Forstbeamten und Ärzten alle, bei denen »Kenntnis volkstümlicher Überlieferung zu erwarten ist« (ebd., IX). Zur selben Zeit entsteht in den Heimatschutz- und Heimatpflegeverbänden eine Fachleute und Laien umfassende Bewegung, die sich unter anderem um das ›Sammeln und Retten‹ von Volkssprache und Volkserzählung kümmert (vgl. Frei 1984). 1904 wird der Deutsche Heimatbund gegründet, 1909 der

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Bund für Heimatschutz in Würt­temberg und Hohenzollern, der auch in Tübingen aktive Mitglieder hat.9 Zudem haben Wandervereine wie der 1889 entstehende Schwäbische Albverein die »Förderung der Kunde von Land und Leuten« auf ihr Programm gesetzt (vgl. Bohnenberger 1900, 39) – eine Aufforderung Bohnenbergers zur Beteiligung an der »Sammlung volkstüm­licher Redensarten« erscheint in den Blättern des Schwäbischen Albver­eins, begleitet von dem Hinweis: »Ein Unternehmen wie das unserige kann nicht auf den Schultern einzelner Männer liegen, die weitesten Kreise des Volkes müssen es als das ihrige ansehen« (ebd.). In Tübingen selbst werden seit 1898 die Tübinger Blätter als »Organ der Heimatpflege des alten und des neuen Tübin­gens« (Gößler 1947, 93) herausgegeben, und 1911 folgt die Gründung des Tübinger Kunst- und Altertumsvereins, der u. a. »das Interesse für die Geschichte unserer Stadt und Umgebung zu heben« vorhat.10 Auch diese Unternehmungen sind Ausdruck ei­nes neuen Heimat- und Traditionsbewusstseins, das – wie es z. B. ein Aufsatz Martin Elsäßers von 1920 dokumentiert – nicht zuletzt auf die rasche Verände­rung der von vielen noch erinnerten »alten fast noch unberührten Stadt Tübin­gen« durch eine als problematisch empfundene »zivilisatorische Entwicklung« reagiert (vgl. Elsäßer o. J.). Als Symbol dieses Zusammenhangs kann man es nehmen, dass 1911, das Gründungsjahr des Kunst- und Altertumsvereins, in der Stadtchronik des Adressbuchs von 1912 als »größtes Baujahr Tübingens« firmiert. Nun habe ich freilich – zumindest einstweilen – in volkskundlichen und hei­mat­pfle­ge­ rischen Publikationen jener Jahre keinen Hinweis darauf gefunden, dass ihre Mitarbeiter sich mit dem Sammeln von Gôgenwitzen beschäftigt hätten; und es war nicht in Erfahrung zu bringen, ob die Beiträger zur ersten Ausgabe mit der Heimatbewegung zu tun hatten und die Witze auch in deren Sinn interessant fanden.11 Die Tatsache, dass die Broschüre von 1916 quasi-wissenschaftlich in zwei Abschnitte unterteilt ist, die mit »Kraftaus­drücke und Redensarten« bzw. »Anekdoten« überschrieben sind, kann gewiss nicht als ausreichender Beweis für ernsthaft-volkskundliche (Neben-)Absichten der Sammler und Herausgeber gelten. Sicher ist jedoch, dass zeitgenössische Heimat- und Volkskulturpfleger die Gôgenwitze gleich nach dem Erscheinen der Erstausgabe für sich entdeckt und für ihre weitere Verbreitung gesorgt ha­ben. Der Beleg hierfür findet sich an nichtwürttembergischem und kaum ver­mutbarem Ort: In den Kaufbeurener Deutschen Gauen, dem von Christian Frank herausgegebenen Organ des Vereins Heimat.12 Frank, der zu den Gründungsmitgliedern des Vereins für Volkskunst und Volkskunde (seit 1902) und des Deutschen Heimatbundes (seit 1904) gehört (vgl. Frei 1984, 327), publiziert in seiner Zeitschrift Deutsche Gaue seit 1913 Anekdoten und Re­densarten aus dem »Volk«, die Mitglieder des Vereins Heimat auf seine Auffor­derung hin gesammelt und eingesandt haben (vgl. Deutsche Gaue 1913, 327). Diese werden dabei vor ihren Verächtern und ihren falschen Freunden in Schutz genommen: »Ganz übel be­raten ist, wer glaubt, der Volksforscher wolle mit diesen oft so köstlichen Klein­bildern nur Spaß machen. Sie dienen der Volks- und oft auch Ortsgeschichte« (ebd. 1917, 53). Frank wendet sich zudem gegen gängige volkskundliche Selektionskriterien, die das ›nur Aktuelle‹ ebenso wie das ›Anstößige‹ liegenlassen: »Gerade die umlaufenden geflügelten Worte und Witze, auch die blutigsten,

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sollen einzeln notiert und im Heimatarchiv hinterlegt werden« (ebd. 1913, 126). Die Veröffentlichung der »beliebten Schnitz« (ebd. 1914, 189) wird den ganzen Krieg über fortgesetzt, und in Heft 337/338 des 17. Jahrgangs 1916 präsentieren die Deutschen Gaue 30 Gôgenwitze aus der soeben erschienenen Stuttgarter Broschüre – nach Frank solche, »die volkskundlichen Wert haben dadurch, dass sie die Art des Gogen ir­gendwie kennzeichnen« (ebd. 1916, 234). In einer Vorbemerkung spricht der Stuttgarter Archi­var F. Bauser bedauernd vom »Schwinden« der »Gogerei« und vom bevorste­henden »Aussterben« der Gôgen; er lobt ihren »Mutterwitz, der nach keiner Konvention frägt, derb und natürlich ist bis zur vollendeten Naturtreue«. Frank selbst nennt die Gôgen »eine der Heimatscholle anhängende und den alten Sit­ten, Gebräuchen und Lebensgewohnheiten treugebliebene Urbevölkerung« (ebd., 232 f.). Ironische, herablassende Töne fehlen völlig: Der Tübinger Unterstädter, vom Tübingen-Historiker Eifert 1849 als teilweise »von Rohheit und Brutalität be­herrscht« (Eifert 1849, 233) verunglimpft, in der Oberamtsbeschreibung 1867 distanziert als »nicht wohl definirbar(es)« Wesen bezeichnet, das »nahezu eine mittlere Pferde­ kraft (repräsentirt), (…) aber dafür aller jener Gefühle (ermangelt), welche man unter dem Begriff Pietät zusammenfaßt« (Beschreibung des Oberamts Tübingen 1867, 116) – dieser Unterstädter ist zum Vor­bild an Heimat- und Naturgefühl avanciert. *

Eine solche Umwertung der »Gôgen« und das öffentliche Reüssieren der Gôgenwitze sind nun freilich mit Industrialisierungs- und Modernisierungsvor­gängen im Kaiserreich noch nicht ausreichend erklärt. Sie haben noch eine ganz besondere Ursache: den Weltkrieg. Die erste Gôgenwitzbroschüre war eine Feldpostausgabe für die Front;13 und auch die Deutschen Gaue schickten ihren »Feldheimatlern« offensichtlich ein Gôgenheft, von dem die in der Zeitschrift selbst abgedruckten Witze nur einen Auszug darstellten (vgl. Deutsche Gaue 1917, 15). Diese Publikationen reihen sich also ein in den Witzhefte-Boom, den der Erste Weltkrieg mit sich brachte. Zunächst gab es al­lerdings Bedenken, ob die teilweise ja recht derben Witze die Zensur passieren dürften. Der Sohn eines der Herausgeber berichtet über die Erstauflage: »Die Ausgabe wurde privatim König Wilhelm II. zur Begutachtung vorgelegt, weil sich einige empfindsame Herrn störrisch zeigten. Der König habe gesagt, für seine Soldaten sei das Büchlein ganz geeignet, nur dürfe man es nicht seiner Frau zeigen.«14 Der König behält Recht: Die Broschüre, anonym herausgegeben und von einem voller Entschuldigungen für die folgenden Unfeinheiten steckenden Gedicht eingeleitet, erlebt innerhalb der Kriegszeit mehrere Auflagen,15 und auch die »Deutschen Gaue« vermerken über ihre Witzeauswahl: »Der Auf­marsch dieser ›Gogen‹ wurde im Feld mit Hurra empfangen« (Deutsche Gaue 1917, 15). Die Tübinger Unterstadtwitze, von denen Herbert Schöffler noch 1955 meint: »­( W)ir müssen geradezu suchen, ehe wir im dunklen Unterholzgestrüpp der Scherze der Tübinger Gogen (Weingärtner) einige finden, die überhaupt wiedergebbar sind« (Schöffler 1955, 23),

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profitieren ganz offensichtlich von den Enttabuisierungs- ­und Regressionstendenzen, die die Kriegskultur mit sich brachte. Was die »Kraftausdrücke«, die Schimpfreden der Tübinger Unterstädter angeht, so fallen sie angesichts des Umgangstons in Schützengraben und Etappe nicht mehr aus dem Rahmen: »Derb und kräftig, laut und mitunter schreiend sind oft die Ausdrücke« (Meier 1917, 4), heißt es selbst in John Meiers verharmlosender Darstellung Deut­sche Soldatensprache von 1917. Ebenso ist der Mangel an Pietät, den die Oberamtsbeschreibung den Tübinger Weingärtnern ankreidete, nach zwei Jahren des Völkerschlachtens kein Skandalon mehr; Sterben und Tod möglichst ungerührt hinzunehmen, ist auch für das Bürgertum zur Tugend geworden. Und was das berühmteste Element der Gôgenwitze betrifft, ihre Affinität zum Skatologischen, so trifft dies an der Front auf konkordiale Verhaltensweisen: »(…) das beliebteste Wort lautete Scheiße«, schreibt Erich W. Unger in einem Roman über den Ersten Welt­krieg (vgl. Hirschfeld/Gaspar o. J., 464), und W. Michael läßt seinen »Infanteristen Perhobstler« über den ge­samtnationalen Gebrauch des »schwäbischen Grußes« berichten: »Wir regten uns nicht mehr über Wasserlöcher, Schnee oder Regen auf, ließen, wo es anging, Befehl Befehl sein und sagten, wenn uns etwas nicht passte, ›Leck mich im Arsch‹, wie man sonst ›Danke‹ oder ›Bitte‹ sagt« (vgl. ebd., 468). Vor allem aber sollte man sich vergegenwärtigen, dass auch der intime praktische Umgang mit aller Art von Dreck, für das bürgerliche Tübingen spezielles Signum der Unterstadtkultur, an der Front Allgemeingut wird: Der »unermessliche Schmutz« (ebd., 481) des Schützengra­bens ist damals sprichwörtlich – im Soldatenjargon heißt er »Saugasse« oder »Scheißgasse« (Meier 1916, 5). Für »Waschen« gehen die Bezeichnungen »Dreck schaben« oder »Lehm kratzen« um (vgl. Meier 1917, 5). Hinzu kommt der Alltag auf der Ge­­ mein­schaftsla­trine, wie sie unter anderen Remarque in seinem »Im Westen nichts Neues« be­schrieben hat: Auch hier senkt der Krieg die Schamschwelle auf solch breiter Front, dass der dungtragende und abortleerende »Gôg« für Mannschaften und Of­fi ziere mühelos zum Kameraden werden kann. Und nicht nur kulturell, auch ideologisch vermindert der Weltkrieg die Di­stanz zwischen Ober- und Unterschichten, Ober- und Unterstadt. Das Bestre­ben, eine nationale Kriegsgemeinschaft aller Parteien und Klassen herzustellen, steigert den Kurswert von Volkskultur bei ihren vormaligen Verächtern. Christian Frank vermerkt nach Kriegsausbruch mit Genug­tuung: Es giebt wohl keine Zeitschrift, welche in so scharfer Weise wie die Deutschen Gaue gegen die unächte Bildung, die nichts als Einbildung ist, auf­trat, die gespreizte Vornehmheit geißelte und auf den klaffenden Riss zwischen dem Volk und den Höher­gestellten hinwies, den keine Sophistik hinterher weg­läugnen kann. Erst das Erdbeben der Gemüter Anfangs August 1914 hat diesen Abgrund teilweise geschlossen und jetzt helft mit, jene zu verscheuchen, welche die Kluft wieder aufgraben möchten. Das Blut des Volkes soll nicht umsonst vergossen werden (Deutsche Gaue 1914, 178).

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Unter solche Leitmotive wird in der Folgezeit auch die Se­rie der »Schnitz«-Veröffentlichungen der Deutschen Gaue gestellt: Die den Anekdoten beigegebenen Kommentare mahnen: »Derbheiten dürfen uns beim Volk niemals in Harnisch bringen« (ebd. 1917, 53), und sie belehren: »Auch der gelehrteste wie vornehmste Mann kann sehr ungebildet sein. Umgekehrt hat er kein Recht, das Volk als die ›Masse der Ungebildeten‹ zu betrachten. Denn in diesem ›Volk‹ herrscht gewiss so viel Urteilskraft und natürliches, also richtiges Empfinden wie in andern Kreisen. Die fortgesetzte Betonung von Gebildet und Ungebildet würde nicht zur sozialen Versöhnung führen« (ebd. 1916, 32). Ganz in diesem Sinne lobt F. Bauser dann auch die Gôgen für das Selbstbewusstsein, mit dem sie den obe­ren Bildungsschichten entgegenträten: »Der Gog lässt sich (…) in seinem Auf­treten der übrigen, sich erhabener dünkenden Menschheit gegenüber nicht im­ponieren; denn er ist Demokrat bis in das Mark seiner Weinknochen und weiß, dass er bei Wahlen den Ausschlag gibt« (ebd., 233). *

Der Durchbruch der Gôgenwitze im Ersten Weltkrieg, so läßt sich resümieren, verdankt sich einer bildungsbürgerlichen Öffnung gegenüber Volkskultur, die mehrdeutigen Charakter hat. Politisch gesehen enthält die neue Sympathie für die »Gôgen« gewiss eine antiständische, ja demokratische und soziale Kompo­nente; doch wird diese zumindest in den vorliegenden Zeugnissen von einer Kriegsgemeinschaftsidee dominiert, hinter der schon die spätere »Volksgemein­schaft« (mitsamt Theodor Haerings Rede auf Alt-Tübingen von 1937) lauert – eine Gesellschaft, in der sich in Wahrheit die Intelligenz gar nicht Volksbe­ dürfnissen öffnet, sondern zusammen mit dem Volk nur sogenannten nationalen oder völkischen Interessen unterworfen wird. Sozialpsychologisch betrachtet, markiert die öffentliche Kenntnisnahme von den Gôgenwitzen ein gewisses Zurück­drängen wilhelminisch-viktorianischer Doppelmoral, eine partielle Ermäßigung von Körpertabus und Körperlichkeitsverleugnung; aber in der Freude über die »Derbheit« und »Natürlichkeit« der Tübinger Weingärtner steckt ein Gutteil Sado­masochismus: Das Bekenntnis dazu, dass der Mensch auch Fleisch sei, scheint in manchem Lachen über die Gôgenwitze von dem Zynismus überschrien zu wer­den, dass der Mensch ja gar kein Mensch, sondern bloß ein Stück Fleisch sei – oder, wie Paul Englisch es in seinem Buch über Skatologica meinte, »ein Häuf­lein Dreck« (Englisch 1928, 101).

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Anmerkungen 1 2 3 4

Übersetzt unter Benutzung von Wittstein (1881, 391). Übersetzung von B. J. W. Nämlich »Nachbargrundstück« und »herrenloser Schubkarren«. Der laut dem Herausgeber früh gestorbene, anonyme Autor der Briefe war laut Ein­leitung S. XIII der in Stuttgart erschienenen Edition Universitätsabsolvent. Dieser Hinweis (Tü­bingen war ja die einzige württembergische Universität), die Erwähnung einer unteren und oberen Stadt (die es freilich nicht nur in Tübingen gab) und das Wiederauftau­chen der Anekdote in den Gogenwitzen legen den Schluss nahe, dass die Version von 1792/1797 sich ebenfalls auf Tübingen bezieht. Sie lautet so: »Am CharFreitag erzälte ein Prediger einem Kranken aus der Leidensgeschichte Jesu, dass er für die Menschen ge­storben sey, worauf sich dieser vernehmen lies: ists wahr, haben sie ihn umgebracht? Wir Leute in der unteren Stadt erfahren doch auch gar nichts von dem, was oben in der Stadt vorgeht« (Briefe über die Verbesserung 1797, 7). Die Anekdote in der Gogenwitz-Ausgabe von 1916 lautet: »Zwei Weiber schimpfen einander auf das Gasse am Christfest. Der vorübergehende Geistliche mahnt zum Frieden: ›Wisst Ihr denn nicht, dass heute der Heiland geboren ist?‹ – Antwort: ›Ha sell wär?! Mir do unte erfahret doch au gar et, was in der obere Stadt passiert‹ (G.-W. 1916, 29). 5 Vorausgesetzt natürlich, dass Datierungen und Datierungshilfen in den Witzen nicht nachträglich und fälschlich hinzugefügt worden sind. 6 Die Ziffern bei den Anekdoten bedeuten: Auflage bzw. Erscheinungsjahr/Anekdoten­nummer (Durch­ nummerierung der Ausgaben von B. J. W.). 7 Ein Anspruch auf Vollständigkeit wird (auch) in dieser Rubrik nicht erhoben! 8 Wie inzwischen bekannt ist, waren es drei in Tübingen aufgewachsene Akademiker: ein Gymnasial­ lehrer, Viktor Kommerell, ein Privatdozent für Mathematik, Karl Kom­merell, und ein Staatsanwalt, Hermann Cuhorst. 9 Von Konflikten zwischen Heimatschützern und Unterstädtern zeugt nicht nur der Go­­gen­witz 82 in der Ausgabe von 1916 (»Gang’ hoim, du Heimat­schutz­lueder, du ver­rekts«), sondern auch ein dem Ludwig-Uhland-Institut von Leon­hard Gu­gel, Tü­bingen, überlassenes handschriftliches Gedicht von 20 Seiten Um­fang, das »Heimat­schutz« über­schrieben ist und ›stadtver­schönernde‹ Eingriffe des Heimat­schutzes in die Unterstadt kritisiert. 10 Vgl. § 2 der Satzung des Vereins, veröffentlicht in: Tübinger Blätter, 15. Jg. 1913/14, 12. 11 Ich konnte nur herausfinden, dass der Mitherausgeber Cuhorst die Tübinger Blätter bezog (vgl. die Abonnentenliste in deren 1. Jg. 1898, Beilage zu Heft 3). 12 Den Hinweis, dass in den Deutschen Gauen etwas über die Gogen(witze) erschienen sein müsse, erhielt ich von Martin Scharfe. 13 Die einleitende »Widmung« von Romeo (d. i. der Verleger Otto Sautter) beginnt so: »Heut sind es ganz besondere Liebesgaben, Die nicht den Leib, die bloß die Seele laben Mit derber, starker, würz’ger Kost, Erheit’rung bringend, Kurzweil, Trost.« 14 Briefliche Mitteilung von Hermann Cuhorst jun. an B. J. W. vom 30. 5. 1978. 15 Die 6. Auflage (Stuttgart o. J.) enthält auf S. 32 folgendes »Geleitwort«, wiederum von »Romeo« (vgl. Anm. 13):

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»G.-W. – wohin Ihr auch gekommen Da hieß man freundlich Euch willkommen So Mannschaft, als Generalität Zeugt laut für Eure Qualität. Im ›Nu‹, da waret Ihr vergriffen So zieht nun wieder – ungeschliffen Doch doppelt stark – ins Feld hinaus: ›Wo Traurige sind macht Frohe d’raus.‹ «

Literatur Gogenwitz-Ausgaben G.-W. Stuttgart 1916 (1. Auflage). G.-W. Kraftausdrücke und Redensarten der Tübinger Weingärtner. 6., verbesserte und ver­mehrte Auflage Stuttgart o. J. Desgl., 8. vergrößerte Auflage Stuttgart o. J. (1935). G.-W. Kraftausdrücke, Redensarten, Anek­doten und Witze der Tübinger Weingärtner. 12. vermehrte Auflage Stuttgart o. J. (1938). Schramm, Heinz-Eugen (Hg.): Tübinger Gogen-Witze. Tübingen 1974. Desgl., 1975. Tübinger Gogen-Witze Urausgabe. Tübingen 1979. Picard, Max (Hg.): Die schönsten Gogenwitze. München 1980. Sekundärliteratur Bausinger, Hermann (1969): Zur Algebra der Kontinuität. In: Ders./Wolfgang Brückner (Hg.): Kontinui­ tät? Geschichtlichkeit und Dauer als volkskundliches Problem. Berlin, 9‑30. Beschreibung des Oberamts Tübingen (1867). Hg. von dem K. Statistisch-Topographischen Bureau. Stutt­ gart. Bohnenberger, Karl (1900): Aufruf zur Sammlung volkskundlicher Überlieferungen. In: Blätter des Schwä­ bischen Albvereins, 12. Jg., Beilage zu Heft 1, Sp. 39. Braun, Karl, u. a. (1978): Das andere Tübingen. Kultur und Lebensweise der Unteren Stadt im 19. Jahr­ hundert. Tübingen. Briefe über die Ver­besserung der Landschulen überhaupt und der wirtembergischen insbesondere (1797). Stuttgart. Döffinger, Gertrud (1978): Der Gogenwitz: Dichtung und Wahrheit. In: Tübinger Korrespondenzblatt Nr. 18, 4‑9. Dölker, Helmut (1980): Vorwort zum Neudruck von Karl Bohnenberger (Bearb.): Volks­tümliche Über­ lieferungen in Württemberg. Glaube-Brauch-Heilkunde. Hg. von der Landesstelle für Volkskunde Stutt­ gart und dem Württembergischen Landesmuseum Stuttgart. (= Forschungen und Berichte zur Volks­ kunde in Baden-Württemberg, Bd. 5.) Stuttgart. Eifert, Max (1849): Geschichte und Beschreibung der Stadt Tübingen. Tübingen. Elsäßer, Martin (o. J.): Tübingen in alter und neuer Zeit. In: Bund für Heimatschutz in Württemberg und Hohenzollern (Hg.): Schwäbisches Heimatbuch 1920. Stuttgart, 5‑18. Englisch, Paul (1928): Das skatologische Element in Literatur, Kunst und Volksleben. Stuttgart.

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Fischer, Hermann (1911): Schwäbisches Wörterbuch. Bd. 3, Tübingen. Forderer, Josef (1964): Alttübinger Brauchtum. In: Tübinger Blätter, 51. Jg., 58‑69. Frei, Hans (1984): Heimatpflege im Ostallgäu. In: Schönere Heimat, 73. Jg., 327‑332. Georges, Karl Ernst (1951): Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch. 9. Aufl. Han­nover und Leipzig. Gößler, Peter (1947): Professor Eugen Nägele, sein Leben und Wirken. Stuttgart. Greiner, Michael (1939): Schwäbische Originale. Stuttgart. Hahn, Eduard (1911): Die Erkenntnis des heutigen Volkslebens als Aufgabe der Volkskunde. In: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde, 27. Jg., 225‑233. Harder, Franz (1924): Zu den Winzerneckereien bei Horaz Sat. I 7,28 ff. In: Philologische Wo­chenschrift, 44. Jg., Sp. 87‑90. Hauthal, Ferdinandus (Hg.) (1966): Acronis et Porphyrionis Commentarii in Q. Ho­ratium Flaccum. Bd. II. Amsterdam. Helm, Rudolf (Hg.) (1962): Q. Horatius Flaccus: Satiren und Briefe. Zürich und Stuttgart. Hirschfeld, Magnus/Andreas Gaspar (Hg.) (o. J.): Sittengeschichte des Ersten Weltkrieges. Nachdruck der 2. Auflage. Hanau [1. Auflage 1929]. John, Walther (Hg.) (o. J.): Decimi Magni Ausonii Mosella. Trier [1932]. Kurz, Isolde (1919): Aus meinem Jugendland. Stuttgart und Berlin. Mayhoff, Carolus (Hg.) (1967): C. Plini Secundi Naturalis Historiae Libri XXXVII, Bd. III. Stuttgart. Meier, John (1916): Das deutsche Soldatenlied im Felde. Straßburg. Meier, John (1917): Deutsche Soldatensprache. Karlsruhe. Röhrich, Lutz (1977): Der Witz. Figuren, Formen, Funktionen. Stuttgart. Ruoff, Arno (1957): Über die Tübinger Stadtsprache. In: Schwäbische Heimat, 8. Jg., 112‑115. Schöffler, Herbert (1955): Kleine Geographie des deutschen Witzes. Göttingen. Wittstein, G. C. (1881): Die Naturgeschichte des Gaius Pli­nius Secundus. Bd. 3. Leipzig.

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Die Stunde der Laien Eine Studie über populare Apokalyptik der Gegenwart

Am 2. Februar 1995 publizierte die Illustrierte STERN unter der Überschrift »Weltuntergang« einen Schreibaufruf, in dem es u. a. hieß: »Kulturwissenschafts-Professor Bernd Jürgen Warne­ken möchte (…) wissen, wie man außerhalb von ›Expertenkrei­sen‹ über einen möglichen Untergang der Menschheit oder zumin­dest unserer Gesell­schaft denkt. Welche Gefahren werden für die größten gehalten, welches Bild von künftigen Katastrophen macht man sich, welche Lösungsvorschläge gibt es?‹ Unter dem Motto ›Weltuntergang? Mei­nungen, Warnungen, Phantasien‹ for­dert Warneken deshalb alle auf, die zu dem Thema etwas mittei­len wollen, ihre Vorstellungen, Äng­ste und Visionen aufzu­schreiben.«1 Den EinsenderInnen wurde die Einbringung ih­rer Texte in eine volkskundliche »Visiothek« zuge­ sagt und ein Bei­trag des STERN über die »interessantesten Texte« in Aus­sicht gestellt.2 Diesem Schreibaufruf liegt ein mehrfaches Erkenntnisinteresse zugrunde. Es gilt zunächst dem durch die Jahrtausend­wende verstärkten Diskurs über Zukunft und Gefährdetheit der Welt, der Menschheit, der Zivilisation als solchem. Dabei geht es vor allem um Differenz und Differenzierung: Die Einsendungen aus verschie­denen Bevölkerungsgruppen machen es zum einen möglich, gängige – vor allem von der Medienintelligenz verbreitete – Auffassungen von aktueller Endzeitangst und Endzeitlust zumindest ein Stück weit zu prüfen und dabei auch Unterschiede zwischen diesen Gruppen aufzuzeigen und zu interpretieren. Zum andern ist ein Schreibauf­ruf, der den Befragten mehr Platz und mehr Selbstentfaltung ein­räumt als die Meinungsumfrage und ihnen eine längere Bedenkzeit und eine intensivere Denkarbeit (mit breiterer Ressourcennutzung) gestattet als das Interview, gut dazu geeignet, je individu­ellen Vielschichtigkeiten – Ambivalenzen, multiplen Erkenntnis­quellen und Erkenntnisformen, Selbstreflexivität usw. – auf die Spur zu kommen. Doch das Interesse gilt nicht nur den konkreten Äußerungen zum Weltuntergang, sondern den Einsendungen als Exempeln und Ausschnit­ten einer kulturellen Praxis, die ich »populare Philosophie« nen­nen möchte.3 Gemeint ist damit die nichtprofessionelle, »laienhaf­te« Denkarbeit von Personen aus unteren und mittleren Bildungs- und Sozialschichten, die sich mit der ›Stellung des Menschen in der Welt‹ beschäftigt; eine geistige Betätigung, die sich dem Inhalt wie der Form nach zumindest graduell vom Alltagsdenken unterscheidet, indem sie zum einen über die zur Alltagsbewälti­gung unmittelbar notwendigen Wissensbestände und Erkenntnisebenen hinausgeht, zum andern die Alltagspraxis temporär suspendiert, »Bedenkzeit« aus ihr herausschneidet und dabei mehr oder weniger intensiv spezielle Hilfsmittel (wie z. B. Fachliteratur) und spezielle Tätigkeitsweisen (wie z. B. schriftliche Ausarbeitung) einsetzt. Von der volkskundlich-kulturwissenschaftlichen For­schung – und nicht nur von dieser – ist die »populare Philoso­phie«, die ja sicherlich keine Ausnahme-,

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sondern eine Massener­scheinung darstellt, bisher nur partiell zur Kenntnis genommen worden. Die klassische Aberglaubens- bzw. Volksglaubensforschung ebenso wie die kulturwissenschaftlichen Studien zur modernen Eso­terik (vgl. u. a. Greverus/Welz 1990; Otten 1995) erfassen nur, aber immerhin einzelne Sektoren des hier Gemeinten. Die Beschäf­tigung mit »Volkswissen« wiederum beschränkt sich zwar nicht auf die unter diesem Begriff aufgeführten Rubriken der Volkskundlichen Biblio­graphie;4 doch wurden populare Kenntnisse und Reflexionen zu ge­sellschafts-­und geschichtsphilosophischen Problemen – soweit ich es überblicke – fast nur en passant, nicht je­doch als eigen­ständiges Thema behandelt. Und wenn Texte popularer Au­torInnen gesammelt und untersucht werden, stehen autobiographi­ sche Gattun­gen wie Brief und Lebenserinnerung im Vordergrund – kunstlite­rarische Genres vom Gelegenheitsgedicht bis hin zum Ro­man werden ebenso selten einbezogen wie Aufsätze, die sich in fachwissen­schaftliche Diskussionen einklinken, oder Festreden (z. B. in Ver­ein und Familie), in denen ja oft auch Weltanschau­ungen formu­liert werden. Wenn die oft verkündete Maxime, man müs­se die aus hegemonialer Sicht illegitime Kultur »ernst nehmen«, jedoch wirk­lich ernst gemeint ist, sollte man sich für populare DenkerInnen nicht nur dort interessieren, wo sie als Darsteller und, in Gren­zen, als Analytiker ihres Lebenslaufs sowie des Alltags und der Kultur ihrer Eigengruppe auftreten, sondern auch dort, wo sie zu allgemeineren Fragen Stellung nehmen, wo sie mit­zureden, sich in den Diskurs der »Deutungseliten« über den Gesellschafts- und Weltzustand einzuklinken versuchen. Die folgende Darstellung wird sich auf einige Aspekte der spannungsreichen Be­ziehung zwischen diesem Eliten- oder Gebilde­tendiskurs und dem Populardiskurs konzentrieren. Dabei werden zum einen verbreitete Elitenmeinungen über populare Endzeitvorstel­lungen mit Aussagen in den Einsendungen und vor allem Aussagen von EinsenderInnen aus verschiedenen Bildungsgruppen miteinander ver­glichen. Zum andern und vor allem geht es um die Frage, auf wel­che Ressourcen AutorInnen unterer und mittlerer Bildungsschichten zurückgreifen, um ihrer Meinung im öffentlichen Diskurs Geltung zu verschaffen, und es wird zu zeigen sein, dass die Diskussion über Menschheitsgefährdungen einer solchen Etablierung besondere Chancen bietet. Weltuntergang als Männersache

Der Auf­ruf erbrachte 363 Einsendungen. Ihr Umfang betrug im Durchschnitt etwa fünf Seiten;5 die Textsorten reichten von der Meinungsäußerung (Typ Leserbrief ) über Thesenpapier und Abhand­lung bis hin zu Gedicht, Kurzgeschichte, Dialogszene. Zahlreiche EinsenderInnen legten Tagebuchauszüge, Aufsätze, Broschüren oder Bücher aus eigener oder Zeitungs- und Zeitschriftenbeiträge aus fremder Feder bei. Fast alle, nämlich 344 AutorInnen füllten ein ih­nen anschließend zugeschick­tes Daten­blatt aus, in dem unter anderem nach Alter, Bildungsabschluss, Be­ruf, elter­lichen Berufen, Konfes­sion,6 Fa­milienstand, Kinder­zahl gefragt wurde.7 Aus diesen Daten war ablesbar, dass Personen mit Abitur­ abschluss zu 52 Prozent, solche mit Realschulabschluss oder Ähnlichem (abgek.: RS) zu

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34 Prozent und mit Volksschulabschluss (abgek.: VS) immerhin zu 15 Prozent vertreten waren. Die STERN-Leserschaft dagegen hat zu 38 Prozent Volksschulabschluss, zu 35 Prozent eine weiterführende Schule besucht und zu 28 Prozent Abitur (vgl. Der STERN 1995). STERN-LeserInnen mit Abitur sind bei den Einsen­dungen also fast um das Zweifache über-, solche mit Volksschul­abschluss um mehr als das Zweifache unterrepräsentiert. Wenn man – stark vereinfachend – die EinsenderInnen ohne Hochschulstudium oder Hochschulreife als die im engeren Sinn »popularen AutorIn­nen« bezeichnet, stellt diese Gruppe die knappe Hälfte der Ein­sendungen. Neben den höheren Bildungsgruppen waren ältere STERN-LeserInnen deut­lich häufiger vertreten. 22 Prozent der Einsendungen stammen von Au­torInnen über 70 Jahre, 32 Prozent von 50- bis 69-Jährigen, ebenfalls 32 Prozent von 30- bis 49-Jährigen und 13 Prozent von bis zu 20-Jährigen. (Im Vergleich dazu die STERN-Leserschaft: Hier sind 8 Prozent über 70 Jahre, 28 Prozent 50 bis 69, 39 Prozent 30 bis 49, 26 Prozent 14 bis 29 Jahre alt; vgl. Der STERN 1995.) Her­vorzuheben ist auch der starke Männerüber­schuss bei den AutorInnen: Frauen, die 45 Prozent der STERN-Leserschaft ausma­chen, lie­ferten nur 28 Prozent der Einsendungen; in der Abiturgruppe stammen etwas über 28 Prozent, in der Volksschulgruppe 23 Prozent und in der Real­schulgruppe etwa 35 Prozent der Texte von Frauen.8 Diese deutliche Minder­beteiligung von Frauen unterscheidet den STERN-Aufruf von Schreibaufrufen zu lebens- und all­tagsge­schichtlichen Themen, an denen sich Frauen erfahrungsgemäß in ähnlicher Quote wie die Män­ner beteiligen.9 Für Weltzustand, Weltuntergang und Weltrettung, so scheint es, fühlt sich vor allem dasje­nige Geschlecht kompe­ tent, das auch die überwältigende Mehr­heit der Politiker, der Priester und der Patentanmelder stellt. Die Geschlechterdifferenz bei der Zuständigkeits-Frage setzt sich übrigens in den Texten fort: Wo Vorschläge zur Rettung von Welt und Gesellschaft gemacht werden, reden die Frauen eher von »bei sich selbst anfan­gen«, von weniger Haushaltsmüll und der eigenen Übung in Beschei­denheit, wogegen die Männer sich eher auf den Feldherrnhügel stellen und politische, soziale oder technologische Globalkonzep­te liefern. Endzeithysterie 2000?

In den Massenmedien war vor der Jahrtausendwende immer wieder von einem ver­breiteten »eschatologischen Muffensausen« (vgl. Frankfurter Rundschau, 2. 8. 1997) die Rede. Nun gab es in der Tat zahlreiche Gruppen, die mit der Jahrtausendwende Endzeiterwartungen verbanden. Die Mas­senhysterie jedoch, die teils besorgt, teils lüstern an die Wand gemalt wurde, war ein Phantasma.10 Bei einer Umfrage der Schweizerischen Illustrierten annabelle im März 1995 glaubten weniger als ein Prozent der be­f ragten SchweizerInnen an ei­nen Weltunter­gang bis zum Jahr 2000;11 und bei einer ebenfalls 1995 durchgeführten deutschen Erhebung zu dem Thema, was einem im Blick auf die nächsten zehn Jahre am meisten Angst mache, nannten 59 Prozent Kriminalität, 52 Prozent Arbeitslosigkeit, aber nur sieben Prozent einen zeit­lich nicht genauer bestimm­ten »Weltuntergang«.12 Einen ähnlich

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geringen Stellenwert hat die Jahrtausendwende in den Texten der STERN-EinsenderInnen: Nur bei vier Autoren läßt sich eine expli­zit auf die »Zeitenwende« des Jahrs 2000 bezogene Untergangser­war­tung feststellen. Groß ist allerdings der Anteil derer, welche der Menschheit auf längere Sicht eine ungünstige Prognose stel­len: Etwa die Hälfte der Autoren wie der Autorinnen hält sie für gefähr­det, ein starkes Drittel der Autoren und ein schwaches Drittel der Autorinnen rechnet mehr oder weniger fest mit ihrem nicht zu fer­nen Untergang. Als Ursachen für die Ge­fährdung der menschlichen Gattung werden, wie auch von Medien- und Expertenseite, Faktoren wie Ozonloch, Wasser­knappheit, En­ergieerschöp­ fung, Überbevölkerung, Atomkriege, Seuchen usw. genannt. Eine Apokalypse im bibli­schen Sinn wird – explizit – nur in etwa fünf Prozent der Texte erwartet. Das bedeutet jedoch nicht, dass in den übrigen Untergangsvorhersagen die »kupierte Apokalypse«, ein Untergang ohne Übergang angesagt sei. Die verbreitete Auffassung, »heutigen Endzeiten« sei »die Zukunft endgültig abhanden gekommen« (Sofsky 1982, 62), die moderne Apokalyptik reduziere sich »auf ein bloßes Selbstvernichtungsszenario« (Margolina 1995, 8), lässt eine Denkfigur aus, die in etlichen Einsendungen zu finden ist: Die Identifikation mit einer von der Menschheit »befreiten« Natur. »Was könnte der Erde wohl Besseres widerfahren, als dass der Mensch ganz verschwände und einer gelun­generen Schöpfung Platz machte?« (Architekt, geb. 1934). »Alle anderen Le­bensformen können nur dann in Frieden und im Gleichgewicht existieren, wenn die Natur den Menschen – oder er sich selbst – ausge­löscht haben wird« (Angestellte, geb. 1961). »Kann es sein, dass der wahre Weltanfang erst be­ginnt, wenn wir Menschen ausgestorben sind?« (Einsenderin, ohne Angaben). Die referierten Häufigkeiten der verschiedenen Untergangsprognosen sind natürlich nicht von übergroßem Inter­esse, da sich vor allem zukunfts­besorgte Personen an einem Schreibaufruf unter der Überschrift »Weltuntergang« beteiligt haben dürften.13 Aussagekräftiger sind die Relationen zwischen verschiedenen AutorInnengruppen, auf die ich mich im Folgenden konzentrieren werde14 (wohl wissend, dass solche Relationen, z. B. die zwischen EinsenderInnen mit Volksschul- und solchen mit Ab­iturabschluss, nicht Verhältnisse zwischen den Denkweisen dieser Bildungsgruppen in der deutschen Bevölkerung abbilden, son­dern lediglich Hinweise auf Unterschiede der Welt- und Gesellschafts­bilder bei den an der »Untergangs­f rage« interessierten sowie relativ schreibfreudigen VertreterInnen dieser Gruppen geben). Dabei zeigt sich, dass EinsenderInnen mit Volks- oder Realschulabschluss weit häufiger die Gefahr eines durch Umweltzerstörung oder Krieg selbstverschuldeten Menschheits­endes sehen als AutorInnen mit Abitur. Es ist naheliegend und wird in etlichen Texten auch explizit, dass solche Prognosen mit Erfahrungen sozialer Un­si­ cherheit und dem Bewusstsein so­zialer und politischer Machtlo­sig­keit zusammenhängen, die in den unteren Bildungs- und Be­rufs­rän­gen stärker ver­treten sind. Dass dominierte (darunter oft: de­pos­sedierte) Sozialgruppen eher zu Geschichtspessimismus neigen, ist ja keine neue Er­kenntnis; sie gilt auch für die be­herrschten Fraktionen in­nerhalb der herr­ schenden Gruppen selbst, wie es Bourdieu an der eher rosa gefärb­ten Brille der bourgeoisen »Rive droite« und den eher schwarzma­lenden Vertretern der »Rive gau­che« gezeigt hat (vgl. Bourdieu 1982, 457).

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–– Ein relativ baldiges Menschheitsende halten für wahrscheinlich oder sicher: Abiturgruppe: Männer 49 %, Frauen 40 % Realschulgruppe: Männer 68 %, Frauen 72 % Volksschulgruppe: Männer 63 %, Frauen 58 % –– Als sicher oder fast sicher bezeichnen ein relativ baldiges Ende: Abiturgruppe: Männer 35 %, Frauen 31 % Realschulgruppe: Männer 43 %, Frauen 40 % Volksschulgruppe: Männer 52 %, Frauen 46 % –– Einen Nie­dergang bis Untergang unserer Ge­sellschaft – teils Deutschlands, teils Euro­pas, teils der »Zivilisation« – befürchten: Abiturgruppe: Männer 34 %, Frauen 31 % Realschulgruppe: Männer 25 %, Frauen 5 % Volksschulgruppe: Männer 25 %, Frauen 8 %. In der gegenwärtigen Diskussion um Zukunftsängste wird oft die These vertreten, dass solche Ängste mit Apathie einhergingen. So schreibt z. B. der SPIEGEL in seiner Titelgeschichte »Endzeit-Angst« vom Januar 1996: »Das apokalyptische Tremolo der Öko-Pro­ pheten wirkt eher kontraproduktiv, ja gefährlich. Wenn denn wirk­lich schon alles zu spät ist – und genau so lautet die geheime Botschaft –, dann sind alle Anstrengungen, alle Reformen überflüssig.« Der Artikel mündet in der Warnung: »Wer (…) heute die Katastrophe in Wort und Bild heraufbeschwört, versetzt seine Mit­welt in bisher unbekannte, ja bisweilen lähmende Existenzäng­ste.«15 Für die STERN-Einsendungen gilt diese Einschätzung nicht. Die AutorInnen mit Volksschulbildung, welche einen Mensch­heits­untergang wie gesagt für wahrscheinlicher halten als die der Ab­itur­gruppe, äußern sich nicht hoffnungsloser als diese. Insge­samt trifft man in knapp einem Fünftel der Texte auf Formulierun­gen wie »Es ist zu spät!«; »Ich habe mich fast damit abgefunden, dass es zu spät ist für die Menschheit«; »Der Mensch wird wohl erst den Ernst der Situation (…) begrei­fen, wenn es fünf nach zwölf ist« (Frauen und Männer liegen hier in etwa gleichauf ). Die gro­ße Mehrheit der eher pessimistischen AutorInnen gibt sich jedoch nicht resigniert, sondern mahnt zu Rettungsanstrengungen. Was das Spektrum der Vorschläge angeht, so fällt auf, dass eine ethische Umkehr am häufigsten in der Abiturgruppe angemahnt wird, während die Volksschulgruppe öfter politische und soziale Maßnahmen for­dert. Auf technologische Neuerungen setzen vor allem vor 1944 geborene Männer (ca. 16 Prozent); bei Frauen und Jüngeren sind es nur wenige (ca. 2 Prozent). Auffällig ist, dass ein Stopp der Bevölkerungs­ver­mehrung bei Männern fast doppelt so häufig wie von Frau­en (15 Prozent zu 8 Prozent) und bei VS- und RS-Gruppe mehr als doppelt so oft wie bei der Abiturgruppe gefordert wird (21 Prozent zu 8 Prozent). Dabei ist hinzuzufü­gen, dass die vorgeschlagenen Maßnahmen des ›Katastrophenschutzes‹ nur bei wenigen EinsenderInnen fun­damentalistische und autoritäre Züge tragen. Von der häufig behaupteten Affinität popularer Rei­nigungs- und Rachewünsche zu

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konservativ-revolutionären bis fa­schistischen Politiken ist wenig zu spüren; das kann mit der speziel­len Klientel des als eher liberal geltenden STERN zu tun haben.16 Vergleicht man die Bil­dungsgruppen unter diesem Aspekt, so ergibt sich ein widersprüchliches Bild: Unter den wenigen Au­torInnen, die nach harten Maßnah­men gegen »Überbevölkerung«, ge­gen eine Zuwan­derung nach Europa usw. rufen, sind Angehörige der VS-Gruppe überrepräsentiert; an den weit zahlreiche­ren Einsende­rInnen jedoch, die zur Abwen­dung künftiger Katastrophen politi­sche Re­formen wie eine Äch­tung des Kriegs oder eine gerech­tere Weltwirtschaftsordnung fordern, haben die VolksschulabsolventIn­nen einen deu­tlich höheren Anteil als die Abiturgruppe. Elitendämmerung

In der Tradition des apokalyptischen Denkens spielt seit jeher das Moment der Aufhebung oder der Umkehrung von Hierarchien eine wesentliche Rolle: die Vorstellung, dass »diejenigen, die jetzt in Angst und Unterdrückung leben, nach dem apokalyptischen Umschla­ gen der Geschichte zu den Geretteten – zur ›Elite‹ – gehören mö­gen«, der »Befreiung der materiell, sozial, religiös oder psychisch Unterdrückten: seien es um 100 n. Chr. die Christen, seien es im Mittelalter die plebeji­schen Häretiker, seien es in der Renaissance die Ketzer, radikalen Protestanten und Bauern, seien es im 19. Jahrhundert die verelendeten Proleten« (Böhme 1989, 17). Eine herrschaftskritische Komponente von Endzeitdenken ist auch in den STERN-Zusendungen häufig. Dies frei­lich nur selten in der Form, dass ein die irdische Ungerechtigkeit beendendes Jüngstes Gericht oder eine aus Katastrophen hervorge­hende gerechtere Gesellschaftsordnung erhofft wird – was übrigens häufiger in der VS- und RSGruppe als in der Abiturgruppe der Fall ist –, sondern zumeist in der Weise, dass der prophezeite oder befürchtete Menschheitsuntergang als Desavouie­rung des Füh­rungsanspruchs der »Eliten« bewertet wird: Die Imminenz einer selbstgemachten Katastrophe beweist demnach, dass die hegemonialen Gruppen nicht ihren eigenen Normen ent­sprechend handeln, falschen Normen gehorchen oder einfach unqualifiziert sind. Vergleicht man die Textpassagen,17 in denen Ursachen für eine Menschheitsgefährdung angeführt werden, so findet man die Über­zeugung, dass die Allgemeinheit die drohende Katastrophe zu ver­antworten habe, am häufigsten in der Abiturgruppe; öfter als bei den anderen Einsendern liest man hier zudem, dass die »Dummheit der Masse« das Problem sei, dass »nicht die Unfähigkeit der politi­schen Führung in aller Welt, sondern die Uneinsichtig­keit der sie tragenden Bevölkerung« (Kauf­mann, Abitur, geb. 1936) die notwen­ digen Entscheidungen verhindere. EinsenderInnen der VS- und der RS-Gruppe dagegen klagen signifikant häufiger die »Mächti­gen«, die »Politiker«, übrigens oft auch den »Kapitalismus« an: Die Spitze dieser Zivilisation, jene, die nicht glauben besser zu sein, als andere, sondern wissen, dass sie es sind, sonnen sich in ihrer absoluten Unfehlbarkeit die frei ist, frei von

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jedem Zweifel alles tuen zu dürfen, das sie wollen. Sie bauen Atomkraftwerke, die so genial sind, dass sie auch gleichzeitig in der Lage sind, das umliegende Areal auf tau­sende von Quadratmeilen zu desinfizieren. (…) Sie stellen Waffen her, an deren Wirkung sie sich so ergötzen können, dass sie sie immer wieder ausprobieren müssen. Natürlich wird das Produkt ihres allumfassenden Wissens nicht an ihres Gleichen verschwendet, sondern mit Vorliebe unter das ein­fache Volk gestreut. Und wozu Gewissensbisse? Sie erlösen doch nur Menschen, die bald eines Hungertodes sterben wer­den … (…) Selbst die neuen Seuchen sind nicht so tödlich wie der Wahnsinn der technokratischen und elitären Intelli­genz. Die Macht des gefühllosen Wissens ist eine glänzende Edelstahlplatte, die sich über eine blü­ hende Sommerwiese legt. (Gelegenheitsarbeiter, abgebr. Realschule, geb. 1954) So muss man fragen, ob die wenigen Mächtigen, die im Hinter­grund ihre Fäden ziehen, dumm und dämlich sind, gelinde aus­gedrückt, ideenlos sind, weil sie erstens und letztens und zwischendurch immer und immer wieder nur darauf aus sind, ihre Macht zu erhalten und diese noch zu vergrößern und da­mit auch ihren Reichtum. (…) Für eine wirkliche, wirksame Verbesserung haben die Mächtigen in der Regel keinen Sinn, keinen Draht, keine Antenne. Sie sehen keine Notwendigkeiten – im Gegenteil, sie haben womöglich teuflischen Spaß an bö­sen, bösen Spielchen wie Krieg, Waffenproduktion und -ver­trieb und deren Anwendung, Hungersnot, Armut, Flüchtlings­elend und anderen abscheulichen Machenschaften. (Handwer­ker, später Techniker, geb. 1929, VS) In einigen Fällen wird der Moment, in dem sich das Versagen der Eliten beweisen wird, geradezu herbeigesehnt. Ein ehemaliger kaufmännischer Ange­stellter, Volksschulabsolvent, geb. 1930, der sich als lebenslang ver­kannten Warner betrachtet, als vielseitig belesen, aber doch »wahrer Nobo­dy, dessen Erkenntnisse der STERN wohl kaum brin­gen wird«, wird hier besonders deutlich: Mit absoluter Gewissheit wird die Natur ihre Rechnung späte­stens im zweiten, dritten oder vierten Jahrzehnt des näch­sten Jahrhun­derts in steigender Weise vorlegen. (…) Um in 40 bis 50 Jah­ren für eine Woche die Vorkommnisse auf der Erde beobachten zu können, würde ich gern fünf Jahre meines Lebens hergeben, damit ich die kommende ›Rech­ nungs­legung‹ erleben könnte. Ähnliche Rachegedanken äußert auch ein – wie er schreibt – mit seinen Umweltprojek­ten auf Unverständnis gestoßener und deshalb fallierter Kaufmann: Aufgrund dieses vergeblichen Bemühens um eine bessere Welt in der Blüte meiner Jahre bin ich heute vollkommen verarmt und verschuldet, fru­striert und verbittert. Aber die Vorfreude auf den katastrophendurchsetzten Untergang stimmt mich wieder heiter, denn auch ich bin nicht frei von Scha­denfreude.

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Es folgt eine Revue zu erwartender Schreckensereignisse: Die Stürme (Hurrikans, Tornados, Taifune usw. ) werden immer stärker. (…) Die fla­chen Küstenländer werden sich also auf allerhand lustige Zwischen­spiele einrichten müs­sen. In Holland ist die dünnste Stelle des Seedeiches gerade zehn Meter breit. (…) Zwischen­ durch wird Tokyo im Erdbeben versinken und die Welt wird einen Wimpernschlag lang die Luft anhalten, dann geht es weiter (…). Es wird Kampf, Krampf und Krieg geben, denn so sind die Menschen eben. In den Pausen fliegt dann hin und wieder ein Kraftwerk der atomaren Sorte in die Luft und sorgt für Turbulenzen. (…) Traurig ist, dass auch Menschen durch unser Fehlverhalten betroffen werden, die wirklich friedlich sind. Die Südsee­inseln werden bald absaufen, obwohl die es am allerwenigsten verdient haben. (…) Wer global sieht und denkt, der kann das Ende der Menschheit ausrech­nen und sein eigenes dazu: 2026. (Handelsvertreter, Abitur/FHS, geb. 1942) Neben den bildungsspezifischen gilt es auch geschlechtsspe­zifische Unterschiede zu beach­ ten: Es sind in allen Gruppen eher die Männer, welche den Eliten und anderen Fremdgruppen die ent­scheidenden Fehler ankreiden, während Frauen eher einen allgemei­nen »Egoismus«, eine all­gemeine Konsumorientierung u. ä. als Pro­blemursachen ausmachen. (Zweimal – nur zweimal – werden »die Män­ner« als Täter genannt.) Und wo Männer doch von einer Kollektiv­schuld ausge­hen, gebrauchen sie weit häufiger als Frauen die For­ mulierung, »der Mensch« oder »die Men­schen«; Frauen benützen in diesem Fall deutlich öfter das selbstanklägerische »Wir«. Teil­weise werden dabei die eigenen Gewissensbisse drastisch dar­gestellt: Mich macht z. B. der Gedanke krank, dass ich 30mal klimasch­ädlicher lebe als ein Mensch in einem Entwicklungsland und dass ich, selbst wenn ich mich enorm anstrenge, höchstens schaffen könnte nur noch 25mal so klimaschädlich zu leben, dass ein einziges Kind von mir das Klima so belasten würde, wie 30 Kinder einer Frau in einem Entwicklungsland. (Sach­bearbeiterin, RS, geb. 1958) Doch die genannten Geschlechtsunterschiede hebeln die Bildungs­unterschiede nicht aus. Auto­rinnen der VS- und der RS-Gruppe kla­gen etwa doppelt so häufig wie solche aus der Abiturgrup­pe »die Mächtigen« (u. ä.) an und rechnen sich nur etwa halb so oft mit »Wir«Sätzen der Schuldi­genseite zu. Die Hetzjagd nach Reichtum und Luxus bringt die Menschen bald um den Verstand. (…) Bald zeichnet sich aber auch hier ein Ende ab, nämlich dann, wenn die Natur so kaputt und vergiftet ist, dass kein Tropfen sauberes Wasser mehr da ist und kein Getreidekorn mehr wächst. Dann werden auch die ›Oberen Zehntausend‹ erkennen, was wichtig und was unwichtig ist, nämlich:

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sauberes Wasser, statt ein 50-Millionen-Picasso, gesundes Brot, statt Brillanten Menschlichkeit, statt Aktien. Dann aber ist es zu spät. Dann werden die Lebenden die Toten beneiden und die Sache hat sich. (Sachbearbeiterin, RS, geb. 1924) Der Befund der Elitendämmerung, der Eindruck, dass die Führungs­schichten an der prekären Situation der Menschheit schuldig oder mitschuldig seien oder zumindest kein effektives Ret­tungsprogramm zu bieten haben, legt die Konsequenz nahe, dass das notwendige Veränderungs­potential eher in den anderen, den nichthegemonialen Gruppen liege. Von zahlreichen Einsendern wird diese Position deutlich artikuliert: Sie erheben nicht gerade für sich, aber für von ihnen ver­tretene Potentiale und Qualifikationen einen Führungsoder doch Mitwirkungsanspruch. Ein Handwerker und Tech­niker (VS, geb. 1929) präsentiert halb bescheiden, halb selbst­sicher »Lö­sungsvorschläge, die absolutes Stammtischniveau haben. Aber wo gibt’s andere, wo gibt es über­haupt welche?« Ein Drucker (VS, geb. 1946) fügt seinen Forderungen nach internationaler Äch­tung von Gewalt und nach Geburtenkontrolle den Kommentar hinzu: »Dass solche Binsenweishei­ten als Forderung für eine menschliche Zukunft aufgestellt werden müssen, beweist, wie weit sich die heutige Gesellschaft von jeder logischen Ver­nunft entfernt hat.« Und ein Schlosser (VS, geb. 1939) beginnt seinen 39seitigen, durch zahlreiche Beilagen ergänzten Beitrag mit der captatio benevo­lentiae »Bitte lache niemand, dass hier jemand sich so umfangreich einträgt, wie ich es tue«, fährt dann aber selbstbewusst fort, dass es Pflicht sein muss, will diese Gesellschaft lebensfähig blei­ben, ihr als Indikator zu dienen und einen Spiegel vorzuhalten! Dies möchte ich deutlich und unmissverständlich tuen. Gerade die Stimme des unteren Fußvolkes, die nur eine schwache Ver­tretung im Parlament hat, sollte man sich auch mal zu Gemüte führen. Welche Eigenschaften, welche Kompetenzen, welche Wissensformen sind es nun im Einzelnen, welche die EinsenderInnen der unteren Bildungsgruppen in ihren oft ausführlichen Problemdia­gnosen und Handlungsvorschlägen ins Spiel bringen, und wie, wenn überhaupt, unterscheiden sich die »Kapitalien«, mit denen sie den Kampf um die Anerkennung ihrer Meinung führen, von denen der Abiturgrup­pe? Offenbarungswissen

Absolut gesehen selten, doch deutlich häufiger als in der Abitur­gruppe finden sich in der Volks- und der Realschulgruppe AutorIn­nen, die sich nicht nur unter anderem, sondern vor allem auf Of­fenbarungswissen beziehen. Dabei wird dieses Wissen teilweise ausdrücklich gegen ›rationalisti­sche‹ Kritik verteidigt bzw. der Verstandeserkenntnis überlegen erklärt.

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Eine Modistin (RS, geb. 1917), vom Herannahen des Gottesreichs überzeugt: »Glauben ist nicht ›nichts wissen‹, sondern Erkenntnis.« Unter den 159 Einsen­derInnen mit Volks- oder Realschulabschluss hält sich etwa ein Dutzend strikt an die Apokalypse-Vorhersagen der Bibel; etwa ebensoviele Einsendungen bezie­hen sich vor allem auf volkskirch­liche Propheten oder populäre Hellseher. Mehrmals wird auf die bayerischen »Waldpropheten« Matthäus Lang und Alois Irlmaier Be­zug genommen. Der Rekurs auf solche Wissensquellen klinkt sich nicht nur aus der herrschenden Bildungskonkurrenz aus, sondern kontert diese geradewegs mit einer Konkurrenz um die »höhere Un­bildung«. An einer Mühlhiasl-Figur am Großen Arbersee, aus der bei Geldeinwurf Weissagungen ertönen, liest man den Satz: »Ich war ein einfacher, naturverbundener Waldhirte, der weder schrei­ben noch lesen konnte« (Haller 1993, 62). Der Sinn dieses Unkul­tiviertheitsbeweises ist offen­sichtlich: Unbe­ lecktheit von jedwe­der Kultur bedeutet unbe­fleckte Empfängnis höherer Wahrheiten. Wie heißt es doch bei Norbert Backmund, einem Irlmaier-Verehrer, über den Freilassinger Brunnenmacher und Volkspropheten: »Seine Freunde meinten, er sei so unbe­gabt gewesen, dass er seine Gesich­te nie hätte erfinden kön­nen« (zit. nach Bekh 1985, 27). Auf »höheres Wissen« zurückzugreifen, muss aber nicht heißen, sich einer fremden Autorität – sei es die Bibel, seien es Volksprophe­ten – zu unterwerfen. Auch in den Glauben ist längst Individuali­sierung eingezogen. Selten wird das herangezogene Offenbarungs­wissen in den Ein­sendungen einfach zitiert; öfter wird der Akzent auf die eigene Auslegefähigkeit gelegt: »Als bibelgläubiger Christ weiß ich die Zeichen der Zeit mit den Weissagungen der Heiligen Schrift zu deuten«, schreibt ein Industriekaufmann (VS, geb. 1947) und versucht sich dann daran, in Vorher­sagen der Bibel die aktuelle Situation im Nahen Osten wiederzuerkennen. Ein Hand­werker (VS, geb. 1929) entwickelt biblische Verheißungen zu eige­nen Visionen weiter: Er »träumt«, wie er sagt, von einem Auszug der 20 Millio­nen Arbeitslosen Westeuropas nach Afrika, wo auch für die von Krieg be­drohten Israelis Platz sei: »Ich sehe einen neuen, hoff­nungsvollen (…) Exodus der geplagten, gejagten Juden in ein neues heiliges Land und ich sehe ein neues Jerusalem (…) in einer neuen blühenden Landschaft (…)«. Neben der Schilderung bestimmter Visionen findet man den generellen Hinweis auf intuitive Fähigkeiten, welche fehlende formale Bildung oder feh­lendes wissenschaftliches Wissen ausglichen, ja überträfen. Be­sonders eindrücklich sind die einschlägigen Darlegungen des schon zi­tierten Gelegenheitsarbeiters (geb. 1954): Als dreijähriger erlitt ich bei einem Verkehrsunfall eine Hirnschädigung. (…) Seit dem geht mir jedes logische Den­ken »ab«. (…) Zum logischen Denken gehört auch die Recht­­ schreibung und sie werden sicher die Diskrepanz von Schreib­stil und Orthographie be­­ merkt haben. (…) Mein Ego ließ sich also in den unergründlichen Welten der rech­ten Hirnhe­misphäre nieder, dem Sitz der Intuition … sprich auch des Instinktes. (Übrigens auch der Sitz der Muse). Einen Be­reich, zu dem die »Macher« der heutigen Welt längst alle Brücken abgebrochen haben. (…) Damit bleiben den Intelligensbestien Erkennt­ nisse ver­schlossen, die sie zu den Ursprüngen unseres Seins führen könnten. (…) Sie

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wissen nicht um die Ewigkeit des Egos, sondern leben nach dem Mot­to: »nach mir die Sintflut« … und werden sie somit auch produzieren. In der rechten Hirnhälfte aber ist alles denk­bare schon vorgegeben und sie zeigt mir Visionen, die ich dem »sachlich denkenden« ohne den »Über­setzer« Logik nicht vermitteln kann.18 Hier wird, so interpretiere ich, nicht nur die Geschichte einer physischen, sondern auch einer sozialen Verletzung erzählt, die der Autor mit anderen EinsenderInnen aus den unteren Bildungs­gruppen teilt. » ›Bildung‹ «, schreibt Bourdieu, die ein hoher Aus­bildungsabschluss angeblich ge­währ­leistet, ist ein Grundelement dessen, was nach herrschender Meinung persönliche Vollendung ausmacht. Nicht gebildet sein wird deswegen als Verstümme­lung der Person empfunden, die sie in ihrer Identität und Würde beschädigt und bei allen offiziel­len Anläs­sen, bei denen man ›öffentlich in Erscheinung zu treten hat‹, sich vor den anderen mit seinem Körper, seinen Umgangsformen, seiner Sprache zu zeigen hat, mit Stummheit schlägt (Bour­dieu 1982, 605). Auch der zitierte Autor hat das Bewusstsein einer »Ver­stümmelung«, aber er wendet es offensiv und sucht den Verlust als Gewinn zu verbuchen. Wie bei der Berufung auf die totale Unbil­dung der »Waldpropheten« wird hier nicht versucht, mit schlechten Karten am Spiel­tisch der Experten mitzuspielen, sondern nach an­deren Spielregeln gerufen. Moralisches und energetisches Kapital

Mehr noch als der Besitz von Offenbarungswissen sind es charak­terliche Qualitäten sowie lebens­praktische Erfahrungen und Fähig­keiten, welche AutorInnen der unteren Bildungsschicht für sich reklamieren und – weit mehr als Angehörige der Abiturgruppe – zu den entscheidenden Ressour­cen der Krisenbewältigung oder Weltret­tung erklären. »Wissen hat kein Gewissen«, schreibt ein Maurer und Bademeister (VS, geb. 1941) unter Hinweis auf »Gentechnologie, Klonen usw.«, und setzt den Grundsatz dagegen: »Du musst richtig lieben und glauben!« Ein Schlosser und Werkmeister (VS, geb. 1939) führt einen Satz von Albert Schweitzer für sich ins Feld: »Wer an der Ehrfurcht vor dem Leben arbeitet, treibt die höhere Politik und die höhere Nationalökonomie.« Dass mehr Bescheidenheit die Welt retten könnte, meinen bezeichnenderweise ca. 26 Prozent der Volksschul-, ca. 14 Prozent der Realschul- und nur 9 Prozent der Abiturgruppe. Vor allem ältere Einsenderinnen ver­weisen gern auf die günstige Ökobilanz, den geringen Energiever­brauch und wenigen Abfall, welche sich mit der ihnen anerzogenen Sparsamkeit verbinden. (Gemeindeschwester, VS, geb. 1920: »Ener­giesparen ist der beste Umweltschutz«; ehemal. Postangestellte, VS, geb. 1920: »Als der Wohlstand ausbrach, war für mich klar, es geht abwärts.«)

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Ein Hufschmied (VS, geb. 1955) stellt angesichts der Diskussion um schwindende Energiereserven die Überlegung an, ob wirklich er und nicht vielmehr die Autobauer zu den ausster­benden Berufen gehören: Als ich mal wieder mit unseren Pferden Holz vom Wald holte und wir dann zufrieden nach Hause fuhren, habe ich mir mal wieder meinen Kopf darüber zerbrochen, wie man manches – nicht alles – verbessern könnte: Es wird zuviel Erdöl ver­braucht. Sei es in Verkehr, Heizung oder Industrie oder Streitkräfte. (…) Viele Beispiele veranschaulichen uns, dass auch in unserem hochtechnisierten Zeitalter die Natur Grenzen setzt und dass man manchmal einen Schritt zurückgehen muss, sich auf traditionelle Methoden besinnen, um am Ende die Nase vorn zu haben. (…) Man sollte auch den Tierein­satz wieder neu betrachten. Wir brauchen das Rad nicht noch einmal erfinden, bloß sinnvoll einsetzen. (…) Zum Schluss noch ein Sprichwort, das ich einmal im Radio hörte, mir aber immer in Erinnerung bleibt. Ich möchte es hiermit auch Ihnen mitteilen: Lebten wir nur nach der Tradition lebten wir noch in Höhlen Leben wir nur nach dem Fortschritt leben wir bald wieder in Höhlen. Vor allem in den unteren Bildungsgruppen trifft man auf Ein­senderInnen, welche die Klage über eine rücksichtslose Ausbeutung von Mensch und Natur mit der selbstbewussten Prognose verbinden, dass sich die Überlegenheit ihres moralischen Kapitals über das ökonomische bald herausstellen werde. Die schon zitierte Gemein­deschwester (VS, geb. 1920), die bekundet, für wenig Geld und noch weniger Rente viel gearbeitet zu haben, klagt zu­nächst: »Dass man mit Güte und Ehrlichkeit so wenig erreicht und für dumm ver­kauft wird«, kommt aber dann zu dem selbstbewussten Schluss, dass am Ende die anderen die noch Dümmeren sein könnten: »Der Mensch ist zu habgierig und gedankenlos. (…) Ich den­ke, wenn es unserer Erde zu viel wird, schüttelt sie die Menschen ab.« Auch für eine kaufmännische Angestellte (RS, geb. 1950), eine gläubige Christin, liegt die Zukunft in der Erkenntnis, dass Moral nicht nur etwas für die »Einfältigen« sei: Die negativen menschlichen Eigenschaften wie Hass, Neid, Missgunst, Profitgier/Raff­ sucht sor­gen überall, nicht nur in Deutschland, für Unzufriedenheit und Natur­katastro­ ph­en. (…) Es gibt aber auch die Möglichkeit, mit Hilfe der menschlichen Ver­nunft, des Wage­mutes und etwas Bescheiden­heit, einfach mit diesen Schweinereien aufzuhören und unse­ren blau­en Planeten nicht schwarz werden zu lassen. Bei diesem Appell lässt es die Einsenderin nicht bewenden. Ihr Beitrag endet mit An­klängen an eine klassisch-apokalyptische Vi­sion, den Untergang des großen Babylon:

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Auf dem Weg der Rechtschaffenheit zu gehen ist nicht immer leicht. Wer der Ansicht ist, dass Rechtschaffenheit nur etwas für die Einfältigen ist, der sollte sich vielleicht gelegentlich mit den Wirkungen eines eventuellen ›Rundumschlages der Befreiung‹ auseinandersetzen. Lebenserfahrung

Eine andere Qualifikation, auf die sich AutorInnen der unteren Bildungsgruppen gerne berufen, ist Erfahrung. Bei älteren Auto­rInnen handelt es sich dabei meist um eine besondere Form von Lebenserfahrung – um das, was Bourdieu den Verweis auf »durch die Erfahrung von Mangel, Leiden und Erniedri­gung erworbene Weisheit« (Bourdieu 1982, 616) nennt: Sind (…) nicht gerade die alten, die viel erlebt und er­litten haben, besonders sensibel für das, was sich auf der Weltenbühne abspielt an Schönem und Beglückendem, aber auch an sinnloser Zerstörung, sinnlosem Wüten des Menschen gegen­einander. (Verkäuferin, Buchhalterin, VS, geb. 1921) Wir waren im März 1945 Totalausgebombte in Chemnitz gewor­den, meine Eltern standen vor dem Nichts (…). Mein Mann und ich gingen 1945 – schwarz – in den Westen und holten, als wir eine Wohnung hatten, meine Eltern zu uns. (…) Sie waren alt, verbraucht, wir noch jung für den neuen Anfang. Gesehen, erlebt, erfahren habe ich in mei­ nem langen Leben unendlich viel – das Leben war mein Lehrmeister, ohne Schul­ab­ schlüsse. (Akkordeonspielerin, kaufmänn. Angestellte, RS, geb. 1920) Bei Jüngeren sind es öfters Reiseerfahrungen, vor allem in Län­dern der Dritten Welt, mit denen die Kompetenz zur Wortmeldung in Untergangsfragen begründet wird: Die Menschenmassen in Asien wirken erdrückend. Die Natur wirkt ausgelaugt. In In­dien waren große Gebiete versteppt und ausgetrocknet. (…) Militärische Konflikte erlebte ich persönlich in Kashmir (Indien) und den Golanhöhen (Syrien). In den USA fuhr ich lange Strecken an einem Atomtestgelände entlang, was uns zu dem Thema Kernwaffen und Kernenergie bringt. Während eines Hilfstransportes, den ich vor einem Jahr mit nach Lettland begleitete, lernte ich die brisante politische Lage im Ostblock kennen. Kern­ technisch ist der Osten ein Pulverfass. (Hausmeister, VS, geb. 1959) Auch die Bezugnahme auf die körperliche Erfahrung von Umweltver­änderungen spielt vor allem in den unteren Bildungsgruppen eine nicht unbeträchtliche Rolle. In manchen Fällen wird solche sinn­liche Evidenz explizit dem bornierten Verstand angeblicher Exper­ten entgegengestellt. Eine Krankenschwester (VS, geb. 1944) erlebt, so sagt sie, seit einiger Zeit

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eine »brennende, aggressive Sonne«, wel­che »die ganze Landschaft in ein gläsernes, gleißendes Licht« tauche und die Pflanzen mit ungewohnter Schnelligkeit aus dem Boden schießen lasse (»Knospen entfalten sich nicht behutsam, sie platzen auf wie unter Gewalteinwirkung«), und schildert das »Ge­fühl der Bedrohung, Weltuntergangsstimmung«, das sie neuerdings bei Gewittern empfinde, die anders als in ihrer Kindheit seien: Unwetter hat es schon immer gegeben, sagen die Leute, be­sonders die Männer reden so daher. Ihr zivilen Feiglinge! Warum könnt ihr nicht sehen, was ist? Gebraucht doch endlich wieder eure Sinne, befreit sie von der Abgestumpftheit, hört auf, eure Gutachten und Gegengutachten zu erstellen, hebt die Augen hoch von euren Zahlen, Zellkulturen, Teles­ kopen und denkt euch fühlend in die ganze Welt hinein, beseelt endlich euren Intellekt und fügt euch in das Leben. In einem Begleitbrief erwähnt die Einsenderin, dass sie sich in einer Umweltinitiative engagiert habe. Auch in anderen Texten ihrer Bildungsgruppe verbindet sich die Betonung sinnespraktischer mit der von praktischen Kompetenzen: Man berichtet von öko­logiebewusster Lebensweise, von sozialem Engagement, von Aktivitä­ten in der Umwelt- oder Friedensbewegung. In »schönen Reden« (Kaufmann, RS, geb. 1928), so bedeuten einem diese EinsenderInnen, mögen andere überlegen sein, wir aber können ›energetisches Kapital‹ vorweisen: Wir haben bewiesen, dass wir anpacken wollen und anpacken können. Populare Wissenschaftlichkeit

Nun sind traditionelle populare Selbstbehauptungsstra­te­gien – das Rekurrieren auf Glaubenskraft, auf Tatkraft, auf Lebenserfahrung – in den Einsendungen aus unteren Bildungsgruppen zwar, wie dar­gelegt, überdurchschnittlich vertreten, sie sind aber dort kei­neswegs dominant. Was in allen drei Bildungsgruppen vorherrscht, ist der argumentative Bezug auf wissenschaftliches oder populär­wissenschaftliches Wissen. Die Einsendungen bestätigen auf ein­drucksvolle Weise die Thesen eines Ulrich Beck oder Anthony Gid­dens über die soziale Diffundierung wissenschaftlichen Denkens und die damit verbundene »Verwissenschaftlichung des Protests gegen Wissenschaft« oder die Expertokratie.19 Es sind zum einen technologische Kenntnisse (zum Biosphärenbau, zur Photovoltaik, zur Solarenergie usw.), die hierbei mobili­siert werden, aber auch volkswirtschaftliches, philosophi­sches, psychologisches, astrono­misches Wissen. Die Einsendungen stützen mithin keineswegs die – auch in der Apokalyptik-Diskussion vor 2000 wieder laut gewordene20 – Meinung, dü­ste­re Zukunftsprognosen und Weltuntergangsängste bedienten sich be­vor­zugt bei vormodernen Wissens- oder Glaubensbeständen. Mit dieser Feststel­lung ist nicht gemeint, dass die AutorInnen vorwiegend in einer Weise argumentierten, die von der Mehrheit der scientific commu­nity als rational bewertet würde; zu beobachten ist jedoch, dass das Para­digma »Wissenschaftlichkeit« zumeist – wie

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dargelegt: nicht immer – anerkannt wird, dass auch esoterische Theorien gern auf »wissenschaftliche Ergebnisse« gestützt werden oder die Kritik an bestimmten Experten oder Meinungen in wissenschaftli­cher oder zumindest wissenschaftskompatibler Form dargeboten wird. Aller­dings zeigen sich in der Art und Weise, wie solches Wissen und Können in den Texten repräsentiert wird, bei den drei Bildungs­gruppen recht verschiedene Ausprägungen, die hier – in einigen Aspekten – vorgestellt werden sollen. Wo AutorInnen der Abiturgrup­pe sich in Expertendiskussionen über Natur- und Gesellschaftsentwicklung einmischen, tun sie das häu­fig auf Gebieten, wo sie auf berufliche Kenntnisse zurückgreifen und deshalb den Status des Fachmanns/der Fachfrau reklamieren können. Man findet hier z. B. den Maschinenbauingenieur, der ein Arche-Konzept zur Erschließung des Kosmos für die menschliche Besiedlung entwickelt; den Planungsingenieur der Lufthansa, der Pläne zu einer neuen Ökonomie, zu neuen Energietechnologien und einer ebenso effizienten wie umweltverträglichen Verkehrsgestal­tung vorlegt; die Ärztin, die Grundlagen einer Natur- und Lebens­philosophie skizziert und Bedingungen der Koexistenz von Mensch und Natur, von Mikrokosmos und Makrokosmos formuliert; oder den Forstingenieur, der eine naturwissenschaftliche Abhandlung über »Umweltkrise und Populationsökologie« liefert. Oft wird ein sol­cher Expertenstatus dabei durch eine Berufsnennung im Briefkopf oder durch Hinweise im Text selbst beglaubigt. Ein im Sozialbereich tätiger Akademiker und Beamter (geb. 1952), der sei­nen in ein Frage- und Antwortschema gekleideten Text mit »Forschungen zu dem Thema ›Weltuntergang – Kulturzerfall‹ « betitelt, tritt im Ornat gleich mehrerer Qualifikationen auf: Kernenergie: (Hier bin ich Experte, denn im Rahmen meiner Tätigkeit im Katastrophen­ schutz leite ich in meinem Heimat­kreis die Atomare Melde- und Auswertestelle.) (…) Thema Kriminalität: (…) Wenn man, so wie ich, seit fast 20 Jahren mit jugendlichen Straftätern zu tun hatte, wird einem sehr deutlich, dass bei vielen dieser Jugendlichen ein Unrechtsbewusstsein (…) nicht mehr oder nur in mangelhafter Ausprägung vorhanden ist. (…) Thema Familie: In der ersten Stunde des Soziologieunter­richts lernt man, dass die Familie die Keimzelle der Gesell­schaft ist. (…) Wie ich in Tausenden von Beratungs­gesprä­chen im Rahmen der Trennungs- und Scheidungsberatung immer wieder bestätigt bekommen habe, lässt zunehmend die Bereit­schaft nach, für den anderen da zu sein (…). Wer auf solch kumulierte Kompetenz verweisen kann, kann es sich dann auch mit der Hoffnung auf Akzeptanz erlauben, seinen Text mit einem »Ich sage Euch«, einer quasi ex cathedra gesprochenen Prognose zu schließen: Komme ich zurück auf Platos Politeia und betrachte im Ver­gleich dazu die Entwicklung der letzten Jahrzehnte, so muss ich feststellen, dass unser System kaum noch die Kraft besitzt, jene in ihm selbst vorhandenen, destruktiven Elemente auch nur annähernd eingrenzen zu können. Ich prognostiziere daher seinen Untergang (…).

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Bringen EinsenderInnen aus den beiden unteren Bildungsgruppen in ihre Texte Fachwissen ein, so geschieht dies recht selten in ei­nem erkennbaren, gar expliziten Bezug auf Berufswissen. Weit eher lassen sich im weiten Sinn autodidaktische Formen des Wissenser­werbs ausmachen, und in den Begleitbriefen oder auf den Fragebö­gen wird öfters auf solche Wissensquellen hingewiesen: auf Vorträge (z. B. an der Volkshochschule), auf Fernsehmagazine, Fachzeitschriften, populärwissenschaftliche Bücher, manchmal auch auf Gespräche oder Briefwechsel mit Experten; wo spezielle Kon­texte solchen Wissenserwerbs erwähnt werden, ist es vor allem ehrenamtliche Arbeit in Bürgerinitiativen. Viele AutorInnen sind offenbar davon überzeugt bzw. wissen aus Erfahrung, dass es nicht leicht ist, mit solchem autodidaktischen Hintergrund als Diskus­sionsteilnehmer oder gar als »Gegenexperte« anerkannt zu werden. Öfters trifft man deshalb auf die Versicherung, man habe sich schon seit Jahren für die diskutierten Zusammenhänge interessiert, man beschäftige sich »hobbymäßig« schon lange mit dem Thema, man habe diese und jene Fachzeitschriften abonniert. Es finden sich Entschuldigungen wie die, dass man »mit der deut­schen Orthographie etwas auf Kriegsfuß stehe« oder dass man keine Zeit gefunden habe, einen den eigenen Ansprüchen wirklich entsprechenden Text zu verfassen, sowie die offene Befürchtung, man werde gar nicht ernst genommen: »Aber wer wird glauben, was ein Amateur zufällig gefunden hat?«, schreibt ein Zeichner, Pfle­ger, Buchhalter (VS, geb. 1919); ein Angestellter (RS, geb. 1959), der mehrere Abhandlungen einsendet (»Überlegungen zum Sinn des Lebens«, »Wirtschaft in der Krise?«, »Die Zukunft der Mensch­heit«), schreibt im Begleitbrief: »Ich hoffe, Sie können damit etwas an­fangen« und kritzelt später auf den Fragebogen: »größte Hoffnung: dass Sie sich über meine Beiträge nicht tot­lachen (Ach­tung: Scherz!)«. Nicht zuletzt mit unterschiedlicher Selbstsicherheit haben auch deutliche Gruppenunterschiede in der Form der Wissensdarbietung selbst zu tun. EinsenderInnen mit Abitur schreiben öfter einen freien Essay als eine penible Abhandlung. Und viele AutorInnen dieser Gruppe sagen einfach »Ich meine«, »Ich denke«, stellen Reflexionen an oder Behauptungen auf, ohne sich die Mühe zu ma­chen, ihre Auffassungen mit langen Argumentationen, gar mit Fak­ten und Zahlen zu belegen. Ein Offiziersanwärter (Abitur, geb. 1962) tut einleitend kund: »Ich (möchte) meine Vorstellungen, unabhängig von Beweisführungen, zum Thema ›Weltuntergang‹ darle­gen.« Eine Pädagogin (Studi­um, geb. 1923) fügt ihrer stichwort­artigen Darlegung (u. a. über »Vorboten für den Niedergang unserer Welt«) hinzu: »Ich (möchte) noch andeuten, dass innerhalb meines (meist weiblichen) Freundeskreises die gleiche Meinung vor­herrscht. Für Objektivierung werden Ihnen andere Stati­stiken zur Verfügung stehen.« Solche Lässigkeit findet sich in den Texten der VS- und der RS-Gruppe selten. Hier wird zumeist nicht nur konstatiert, meditiert, assoziiert, sondern detailliert, zitiert, belegt. In die Texte werden Zahlen über Zahlen eingeflochten (»Täglich werden in Deutschland ca. 70 Hektar Wald, Moor, Wiese und Feld durch wirtschaftliche und bauliche Maßnahmen vernichtet (…) Und jährlich gehen in Deutschland weit über zwei Millionen Tonnen Staub und Ruß nieder«; Galvanotechniker, VS, geb. 1923), oft werden die eigenen Ausführungen durch beigelegte Buch-, Zeit­schriften- und Zeitungskopien ergänzt. Diese Bemühung um Belege läßt sich sicherlich mit einem gewissen Recht als eine teilwei-

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se Annäherung an wissenschaftliche Schreibstandards bezeichnen; dass dieser Stil jedoch bei einer Gelegenheit angewandt wird, wo »Mei­nungen, Warnungen, Phantasien« gefragt waren und nicht Wissenschaftlichkeit verlangt wurde, verweist zweifellos weniger auf eine größere Affinität dieser Einsender zur Wissenschaft als die dafür eher disqualifizierende Tatsache, dass die Autodidakten (oh­ne »Titel und Stelle«) von ihnen dargebotenen ›bloßen‹ Reflexio­nen oder Meinungen keine große Autorität zumessen. Die Beobach­tung eines unterschiedlichen Grads der Thesenuntermauerung bei den verschiedenen Einsendergruppen entspricht übrigens dem Befund, zu dem Richard Whitley beim Vergleich popularisierender Darstellun­gen aus verschiedenen Wissenschaften kam: »The greater the social and scientific prestige of a scientific field«, schreibt Whitley, »the more popularisation is likely to be apodictic and incontro­vertible. The degree to which arguments need to be justified and presented in detail is lower than for fields which are less cen­ tral to dominant scientific values. Parapsychologists and other deviant scientists, for instance, have to present much more de­tail and substantiate their claims to a greater degree than if they were simply communicating the results of the ortho­doxy« (Whitley 1985, 18). Deutlich wird das ungleiche Vertrauen in die Macht des eigenen Arguments auch in dem höchst unterschiedlichen Grad, in dem die AutorInnen zur Stützung ihrer Ansicht fremde Autoritäten herbei­zitieren. In den Texten der Abiturgruppe geschieht das ver­gleichsweise selten. Zur Bekräftigung der eigenen Meinung dient hier weniger das Zeugnis von Koryphäen als das Heben der eigenen Stimme: Häufiger als in der VS- und RS-Gruppe greift man zu sar­kastischen bis aggressiven Tönen. Man behandelt das inkorporierte Wissen weniger als gesellschaftliches Lehr- und Lernprodukt und eher als eingebo­renes Vermögen, das man niemandem schuldig ist. Anders, im Durchschnitt, die EinsenderInnen der unteren Bildungs­gruppen: Ihnen geht es gerade nicht um die Demonstration intel­lektueller Autonomie, sondern umgekehrt um den Nachweis, dass ihre Thesen keineswegs auf dem eigenen Mist gewachsen, sondern besse­rer Herkunft seien. Erlaube mir auch, einige kompetente Autoren zu zitieren, allen voran Riane Eisler aus ihrem Werk ›Kelch u. Schwert‹, erschienen in Deutsch bei Goldmann. (Reprotechniker, VS, geb. 1928) Als weiteren ›Beleg‹ zu Wandells Hypothesen lege ich ein Referat von Prof. Dr. Dagobert Müller (…) bei. (Ange­stellter, RS, geb. 1959) Bei solchen genauen Angaben verbindet sich die Imagepflege des Autors mit einem Dienst am Leser; doch das Referenz-Prinzip, der Rückgriff auf eine renommierte Ge­währs­person, kommt mitunter auch ganz ohne Informationswert aus: »Ein kluger Mann sagte, dass unser Planet ein lebendes Organ ist« (Gemeindeschwester, VS, geb. 1920). Nicht selten freilich zeigen sich bei der Bemühung um Beglaubi­gung Allodoxie-Effekte: z. B. der falsche Glaube, dass als Referenz herangezogene Artikel aus Bild am Sonntag oder der Neuen Revue im öffentlichen oder gar im Expertendiskurs als hochwertige Güter eingeschätzt würden.21

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Und wenn beim name drop­ping bekannte Namen falsch buchstabiert werden, schlägt der Ver­such, Insidertum zu demonstrieren, in einen Beleg für Wissenschaftsferne um: »Wissen ist Macht« verkündete vor 400 Jahren Bacon. Sein Zeitgenosse, der Italiener Gali­ lei, zog die Folgerungen aus der Erkenntnis: »Alles berechnen, was berechenbar ist, und berechenbar machen, was es noch nicht ist.« Damit wurden die exakten Wissenschaften gegründet. Die Generationen der Wis­senschaftler um Max Plank (sic!), Hahn, Nils (sic!) Boor (sic!) stellten dann anfangs dieses Jahrhunderts das bis dahin gültige physikalische Weltbild auf den Kopf. (Galva­notechniker, VS, geb. 1923) An anderer Stelle schreibt derselbe Einsender: Was ist aus dem kategorischen Imperativ, was Kant vor etwa 200 Jahren formulierte, ge­­ wor­den? Was aus Kant und Hegels Gedanken, die Marx und Engels übernahmen, um daraus das Kom­munistische Manifest 1848 zu formen? Je mehr einer nach­denkt, umso aufmüpfiger muß er werden. Und so möchte ich es Leo Tolstoy (sic!) gleichtun, der sein Wort und Denken noch in hohem Alter in die Tat umsetzte: Verzicht auf weltliche Ehre und Ruhm, Verhöhnung von Macht, Staat und Kirche und ein Leben in natürlicher Ein­ fachheit. Die Devise, zu der sich der Autor hier bekennt, ist stolz: Sie heißt »Verhöhnung von Macht«. Doch er spricht sie nicht selbst aus, sondern borgt sich dafür Tolstois Autorität. Das unabweisbare Gefühl, einer globalen Krise entgegen­zugehen, hat auch Angehörige unterer Bildungsgruppen zur öffentli­chen Rede ermutigt, doch vie­le von ihnen reden in gewisser Weise noch immer nicht selbst. Da­mit offenbart sich selbst dort, wo die populare Apoka­lyptik sich dem gesellschaftspolitischen Inhalt nach oppositionell gibt, in der Aussageform ein unübersehbares Moment von kultureller Subal­ternität. In Brechts »Flüchtlingsgesprächen« – nicht nur des Brechtjahrs wegen seien sie hier zi­­ tiert – räso­niert Ziffel: Während die Ansichten der bedeutenden Menschen auf alle Arten ausposaunt, er­muntert und hoch bezahlt werden, sind diejenigen der unbedeu­tenden unterdrückt und verachtet. Die Unbedeutenden müssen infolge davon, wenn sie schreiben und gedruckt werden wollen, im­mer nur die Ansichten der Bedeutenden vertreten, anstatt ihre eigenen. Das scheint mir ein unhalt­barer Zustand (Brecht 1967, 1397). Ein recht haltbarer ist es offenbar auch.

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Es ist also festzuhalten: Die verschiedenen Bildungsgruppen wei­sen in der inhaltlichen Tendenz sowie in ihren Etablie­rungs­strategien deutliche Unterschiede auf. Doch gleichzeitig ist zu unterstreichen, dass diese Differenzen sich im wesentlichen inner­halb desselben »Diskursuniver­sums« bewegen: Die gemeinsame Schnittmenge von Themenaspekten, Informationen, Argumen­ten und Wissensquellen ist außerordentlich hoch, wissenschaftlich erar­beitetes Wissen ist in allen Gruppen verbreitet, und auch die – im weiten Sinn – wissenschaftsförmige Themenbehandlung ist in den unteren Bildungsgruppen keine terra incognita. Die Einsendungen der Volks- und Real­schulgruppe sind Zeugnisse einer Popularkultur der verwissenschaftlichten Welt, die von dieser jedoch in teil­weise spezifischer, von sozialen und kulturellen Hierarchien mit­geprägter Weise Gebrauch macht. Nun muss man sicherlich bedenken, dass der hier dargestellte Schreibaufruf nur eine bestimmte Klientel mobilisiert hat. Ich glaube zwar nicht an die Existenz einer »authentischen« Volkskul­tur, die jenseits der Welt der Massenmedien angesiedelt ist; doch zweifellos dürfen für die Öffentlich­keit geschriebene Texte des schreibbereiten Teils der Leserschaft einer bestimmten Illu­strierten nicht als pars pro toto der hierzulande vorfindbaren Popularkultur allgemein und der popularen Apokalyptik im besonde­ren genommen werden. Es wäre deshalb sinnvoll, wenn die volkskundli­ch-kulturwissenschaftliche Forschung die Mobilisierung von Zeit- und Zukunftsdia­gnosen, welche Ereignisse wie die Jahrtausendwende mit sich zu bringen pflegen, zu einschlägi­gen Recherchen nutzen würde. Dabei käme es nicht nur darauf an, weitere – schriftliche und mündli­che – Zeugnisse popularer Philo­sophie zusammenzutragen, sondern sich mit feldforscherischen Me­thoden auch deren Entstehungskontext, den Arbeitsweisen der auto­didaktischen Experten sowie ihren Adressaten und Kommunikations­kreisen zuzuwenden – nicht zuletzt zu dem Zweck, diese Kommunika­tionskreise noch besser nach außen und für außen zu öffnen: »Die Intellektuel­ len können eine sehr wichtige Rolle für die Kommuni­kation zwischen den Gruppen spielen. Jeder Mensch besitzt Wissen, der Intellektuelle muss nur dabei helfen, es auf die Welt zu brin­gen – als Geburtshelfer« (Bourdieu 1991, 21). Anmerkungen 1 Den Schreibaufruf formulierte, in Anlehnung an einen von mir gemachten Text­vorschlag, die STERNRedaktion – ein Verfahren, das ich an­gesichts der Möglich­keit, den STERN kostenlos für ein wissenschaftliches Pro­jekt zu nutzen, in Kauf nahm, zumal mir die redaktionelle Fassung zur Prü­fung vorgelegt wurde. – Für die Kooper­ation mit dem STERN sprach vor allem dessen große Leserschaft (wöchentlich 8,8 Millionen = 13,7 Prozent der deutschen Bevölkerung; vgl. Der STERN 1995). 2 Die Texte sind inventarisierter Bestandteil des »Erzählarchivs« des Ludwig-Uh­land-Instituts für Empirische Kulturwissenschaft der Universität Tübingen und können dort eingesehen werden. Ein ge­planter Beitrag des STERN über die Einsendeergebnisse kam über einen Artikelentwurf nicht hin­ aus, was u. a. mit einem Lei­tungswechsel in der dortigen Wissenschaftsredak­tion zu tun haben dürfte.

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3 Nicht zu verwechseln mit der als »Popularphilosophie« bezeichneten populären, d. h. auf All­ge­mein­ verständlichkeit zielenden Philosophierichtung im späten 18. Jahrhundert. 4 Diese lauten: »Volksbotanik«, »Volkszoologie«, »Wetter- und Sternkunde«, »Astrolo­gie, Wahrsagerei, Mantik, Traumdeutung«, »Alchemie« und »Mechanik«. 5 Bei Autorinnen betrug der Durchschnittsumfang 3,8, bei Autoren 5,5 Seiten. Einsen­de­rInnen mit Volks- und Realschulabschluss schrieben deutlich länger als solche mit Abitur (4,5 vs. 3,1 Seiten); bei den Männern zeigte sich hier kein signifikanter Unterschied. 6 In der Rubrik »Religionsbekenntnis« häuften sich unklare Angaben (v. a. Querstriche, die sowohl »keines« als auch Angabenverweigerung bedeuten können). Von den 247 AutorInnen mit klarer Angabe bezeichneten sich 43 Prozent als evangelisch, 18 Prozent als katholisch, 28 Prozent schrieben »keines« (o. ä.) und elf Prozent nannten andere Religionszugehörigkeiten. 7 Herzlich danke ich Stefan Müller und Esther Hoffmann für ihre Mithilfe bei der Frage­bogenaktion und der Textregistratur sowie den damaligen Freiburger KollegInnen Silke Göttsch, Hannjost Lix­ feld und Andreas Schmidt für das Einverständnis damit, den Schreibaufruf während meiner Vertre­ tungszeit am Freiburger Volkskundeinstitut im Win­tersemester 1994/95 durchzuführen und dabei auf Institutsressourcen zurückzugreifen. 8 VS- und RS-Gruppe zusammengenommen haben einen Frauenanteil von knapp 30 Prozent. Das bedeutet, dass die im Folgenden zumeist miteinander vergli­chenen »Großgruppen«, die mit und die ohne Abitur, mit 27 Prozent bzw. 30 Prozent eine in etwa gleiche Frauenquote haben. 9 So stammten von den 210 Texten, die 1980/81 bei der Pro-Senectute-Ak­tion Lebens­geschichte und Geschichten aus dem Leben von älteren Winter­thurer BürgerIn­nen einge­sandt wurden, 110 von Frauen (Schenda 1982, 11). Unter den EinsenderInnen zu einem baden-württembergischen Schreib­aufruf Ältere Menschen schreiben Ge­schich­te. Erlebtes, Erforschtes, Gewesenes, der über 60-jährige MitbürgerInnen ansprach, waren 55 Prozent Frau­en; der Frauenanteil in dieser Altersgruppe betrug damals in BadenWürttemberg 62 Prozent (vgl. Warne­ken 1985, 87). 10 Manches spricht dafür, dass durch das Hochzie­hen einer millenaristischen Endzeiter­wartung ungleich verbrei­tetere und ungleich realistischere Ängste mitentsorgt, quasi abge­lacht werden sollen. 11 Das hinderte die annabelle-Redaktion nicht, mit der Schlagzeile »Die halbe Schweiz glaubt/Unser Planet stirbt!« aufzumachen. Bei genauerem Hinsehen hatten 33 Prozent der 809 telefonisch befragten SchweizerInnen gemeint, dass ein Weltuntergang (von der Redaktion auch mit »Aussterben der Menschheit« um­schrieben) »vielleicht« stattfinden werde, 23 Prozent waren sich dessen sicher. Von den zusammen 80 Prozent wiederum, die einen Weltuntergang nicht ausschlossen (darunter 24 Prozent, die mein­ten, er werde »eher nicht« stattfinden), glaub­ten nur ein Prozent, also sechs bis sieben Befragte, das geschehe schon vor dem Jahr 2000; zehn Prozent rechneten mit einem Ende vor 2050, 22 Prozent mit einem Zeitpunkt zwischen 2051 und 3000, 51 Prozent meinten »später als im Jahr 3000« (vgl. annabelle 10/95, 5. 5. 1995). 12 Vgl. Süddeutsche Zeitung, 16. 1. 1996. 13 Freilich: Bei einer Repräsentativumfrage des Bundesumweltministeriums meinten 1996 64 Prozent der Befragten aus den alten und 67 Prozent derer aus den neuen Bundesländern der BRD, dass eine – nicht näher bezeichnete – »Ka­tastrophe« nicht mehr ab­wendbar sei, »wenn wir so weiterma­chen wie bisher« (vgl. Süd­deutsche Zeitung, 10. 7. 1996). 14 Mir ist bewusst, wie grob und einseitig die dabei vor allem benutzte Drei­teilung nach Schulabschlüssen ist; auch die Angaben zu erlernten bzw. ausge­übten Berufen systema­tisch einzubeziehen, hätte freilich für die beabsichtig­ten quantitativen Vergleiche zu kleine Gruppengrößen ergeben. Unterstrichen sei zudem das methodische Problem, dass die An­gaben über die Gruppenverteilt­heit von Meinungen usw. auf meiner gewiss subjektiven Zuordnung unstandard­isierter, oft komplexer und widersprüchlicher

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Populare Apokalyptik

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Aussagen beruhen. Ich habe dieses Verfahren allerdings nur dort angewandt, wo die jeweils genannten Auto­rInnengruppen meiner Auswertung nach sehr deutlich auseinanderlagen. Wenn ich teilwei­ se zu – gewiss pseudo­exakten – Prozentangaben greife, so deshalb, weil sich so das unge­fähre Ausmaß dieses Auseinanderliegens in knapper Form vermitteln lässt. 15 DER SPIEGEL 1/1996 vom 1. 1. 1996, 136 f. 16 Ein genauerer Blick auf die Geschichte der europäischen Apokalyptik zeigt allerdings, dass apokalyptisches Denken nur partiell mit totalitärer Politik bzw. ge­walttätigen Bewe­gungen verschwistert war. Ganz offenbar konnten »verschie­dene Versionen einer apoka­lyptischen Vision gleichzeitig dazu ver­ wendet wer­den (…), eine politische Elite zu stür­zen, maßvolle Reformen durchzuführen und eine blutige Revolution zu rechtfertigen« (Thompson 1997, 95). 17 Beim Zitieren aus den Einsendungen habe ich offensichtliche orthographi­sche und grammatikalische Fehler in der Regel verbessert. Über dies Verfahren läßt sich streiten; mir schien jedoch der informatorische Wert der Wiedergabe solcher Fehler meist geringer als deren denunziatorischer Beigeschmack. 18 Die Orthographie ist hier unverändert wiedergegeben. 19 »Die Auf­bruchsphase primärer Verwissenschaftlichung, in der die Laien wie die Indi­aner aus ihren ›Jagdgründen‹ vertrie­ben und auf klar eingegrenzte ›Reser­vate‹ zurück­­gedrängt wurden, ist längst abge­ schlos­sen und mit ihr der ganze Über­legen­heitsmythos und das Machtge­fälle, das das Verhält­nis von Wissenschaft, Praxis und Öffent­lich­keit in dieser Phase gekennzeichnet hat« (Beck 1986, 259). – »Weit­ verbreitetes Laien­wissen über moderne Risikoumwelten führt zu einem Bewusstsein der Grenzen des Sachverstands und bildet eines der ›Public-Relations‹-Probleme, denen sich diejenigen stellen müssen, die das Vertrauen der Laien in Expertensysteme zu wahren bestrebt sind« (Giddens 1995, 163). 20 So meint Max Schoch in einem »Weltangst – Weltuntergang« betitelten Zeitungskom­mentar, der eine Konjunktur düsterer Zukunftsprognosen konsta­tiert: »Der rasche Wandel der Wissenschaft wird von der Menge nicht mitvoll­zogen. Was droht, ist die Zuwendung zu einem Altwissen, dessen Zeit eigent­ lich vorüber ist. (…) Der sich rasch vergrößernde Abstand zwischen dem Wis­sen an den Universitäten und in den Forschungslaboratorien der Industrie einerseits und dem bescheidenen, oft nur aus groben Ahnungen bestehenden Wissensstand, über den der Durchschnitt der Bevölkerung und ihre Lehrer, ihre Journali­sten, ihre Dichter und Künstler verfügen, ist mitschuldig an der Flucht aus der Welt« (Neue Zürcher Zeitung, 1. 1. /2. 1. 1995). 21 Wo EinsenderInnen der Abiturgruppe Zeitschriftenartikel beilegen oder über ihre Lektürevorlieben informieren, geschieht dies meist in distinktions­bewusster Auswahl – bis hin zu dem Hinweis, dass der von mir als Medium gewählte STERN eigentlich unter dem eigenen Niveau liege: »U. a. bin ich ZEITLeser; Abonnent des GEO-Magazins, von ›bild der wissenschaft‹ und der ›Scheidewege‹. Zufällig stieß ich (als Patientin-Begleiter) jetzt erst auf einen ›Stern‹ als Wartezimmer-Lektüre und las darin Ihren Aufruf (…)« (Arzt, geb. 1924).

Literatur Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Mo­derne. Frankfurt am Main. Bekh, Wolfgang Johannes (1985): Bayerische Hellseher. Mühlhiasl, Irlmai­er und andere. München. Böhme, Hartmut (1989): Vergangenheit und Gegenwart der Apokalypse. In: Johannes Cremerius u. a. (Hg.): Freiburger literaturpsychologische Gespräche Bd. 8: Untergangsphantasien. Würzburg, 9‑26. Bourdieu, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesell­schaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main. Bourdieu, Pierre (1991): Die Intellektuellen und die Macht. Hg. von Irene Dölling. Hamburg.

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Populare Apokalyptik

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Zeppelinkult und Arbeiterbewegung Eine mentalitätsgeschichtliche Studie

»Doch nichts war mit der Zeppelinbegeisterung zu vergleichen, die im Lande des Grafen Zeppelin, in Württemberg also, besonders turbulent war.« Carlo Schmid: Erinnerungen.1 In der Universitätsstadt Tübingen gab es vor der Eingemeindung des Vororts Lustnau nur drei Straßen, die nach Gestalten der Technikgeschichte ohne gleichzeitigen wissenschaftlichen oder literarischen Rang benannt waren: die Zeppelinstraße, die Eckener- und die Dürrstraße. Eckener und Dürr waren Mitarbeiter Zeppelins.2 Die Ausnahmestellung dieser Straßen­namen ist ein Indiz für die außerordentliche Intensität, die die »Zeppelin­ begeisterung« der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts besaß. Der Grad, in dem unsere Eltern- und unsere Großelterngeneration dieser Zeppelinbegei­sterung oblagen, und die Bedeutung, die Zeppelin und die Zeppeline zeitweise als Bestandteile des nationalen Identitätsbewusstseins hatten, stehen im krassen Missverhältnis zur weitgehenden Neglektion dieses Phänomens durch die Wissenschaft; der Anfang einer eingehenderen kulturhistorischen Beschäftigung mit dem Zeppelinkult ist erst 1979 durch Karl Clausbergs – zwischen Dokumentation und Essay stehenden – Aufriss »Zeppelin« ge­macht worden (Clausberg 1979). Dass sich nun ein volkskundlicher Kulturwissenschaftler dieses Themas annimmt, schickt sich in die mentalitätsgeschichtliche Richtung des Fachs, die es unternimmt, so­­wohl persistente als auch ephemerere kollektive Denk- und Verhaltens­weisen zu untersuchen, die weder in einem konsistenten ideologischen Dis­kurs aufgehen noch auf der Ebene unkonturierter Stimmungslagen ver­bleiben, sondern diskursive Momente aufnehmen. Dabei geht das Forschungsinteresse wie in der französischen Histoire des mentalités dahin, Mentalitäten und ihre Derivate im Kontext bestimmter sozialer und ökono­mischer Lagen ihrer Träger zu sehen. Die Konzentration auf den Aspekt »Zeppelinkult und Arbeiterbewe­gung« wiederum steht in der Fachtradition der Beschäftigung mit Fragen der Arbeiter- und Arbeiterbewegungskultur und der Wechsel­wirkung zwischen ihnen; der bei aller gesamtdeutschen Verbreitung doch regional-schwäbische Bias des Zeppelinismus stimmt mit der besonderen Aufmerksamkeit des Ludwig-Uhland-Instituts auf die württembergische Ar­beitergeschichte zusammen.

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Die folgende Darstellung beschränkt sich auf die Jahre 1908/09, in denen die Konstituierung des Zeppelinkults sich im we­sentlichen vollzieht. Zunächst seien die äußeren Fakten dieser Konstitu­ierungsphase – früher jedem Schulkind bekannt – kurz rekapituliert und systematisiert. Unterscheiden lassen sich drei Teilphasen: 1. Die Introduktionsphase. Nachdem erfolgreiche Flugversuche insbe­sondere 1906 und 1907 dem Luftschiff des Grafen Zeppelin und ihm selbst bereits eine beträchtliche Popularität verschafft haben, glückt ihm am 1. Juli 1908 mit der sogenannten »Schwei­ zerfahrt« der erste Fernflug (vgl. dazu die Fahrtschil­derung von Sandt 1907/08, 5 f.). Dieser löst in Deutschland, insbesondere in Württemberg und Baden, eine Begeiste­ rungswelle aus, in der Technik- und Fortschrittsbegeisterung, patrioti­scher Stolz auf den »Lands­mann« Zeppelin sowie offen chauvinistische Ge­fühle und Pläne zusammenfinden.3 Es wird zu einem häufig geübten Ritual, dass Men­schenmengen bei Huldigungen für Zep­pelin oder bei Zeppelinlandungen das (damals noch nicht als Nationalhymne fung­ierende) Lied: »Deutsch­land, Deutschland über alles« anstimmen.4 2. Die Probationsphase. Graf Zeppelin, der der Meinung ist, dass Luft­schiffe nicht nur für Forschungs- und Verkehrszwecke taugen, sondern »zur siegreichen Führ­ung des Kriegs wesentlich beitragen« können (von Zeppelin 1908, 26), setzt auf eine größere Förderung seiner Tätigkeit durch die Reichsregierung. Der preußische Kriegsminister von Einem verlangt als Bedingung dafür eine die militärische Verwendbarkeit des Luftschiffs erweisende 24-stündige Dauer­fahrt (vgl. von Einem 1933, 163; s. auch Eckener 1938, 155). Zeppelin startet am 4. August, erreicht wie geplant Mainz, muss auf dem Rückflug jedoch in Echterdingen zwischenlanden. Dort wird das wenig verankerte Luftschiff von einem Sturm losgerissen; es geht sofort in Flammen auf. Noch am selben Tag wird zu einer Volksspende für Zeppelin aufgerufen. Ein Enthusiasmus für ihn und seine Luft­schiffpläne entwickelt sich, der von der zeitgenössischen Publizistik immer wieder als nur noch mit dem nationalen Einheitserlebnis im 1870er Krieg vergleichbar be­zeichnet wird.5 Diese Volksspende, die über sechs Millionen Reichsmark er­bringt, begründet ein Quasi-Besitzverhältnis der Bevölkerung an den künf­tigen Zep­ pelinen, das sich unter anderem im fordernden Charakter von »Besuchs­bitten« äußert.6 Der »Tag von Echterdingen« hat wesentlichen Anteil an der Entwicklung im engeren Sinn kultischer Elemente der Zeppelinbegeisterung (das Kursieren von Reliquien, z. B. aus dem Aluminiumgerippe des verunglückten Luftschiffs her­gestellter Löffel und Gedenkmünzen; ›Wallfahrten‹ zum alsbald errichteten »Zeppelinstein« an der Unglücksstelle, usw.).7 3. Die Affirmationsphase des Zeppelinkults durch verschiedene Deutsch­land­flüge des neuen Luftschiffs im Frühjahr und Sommer 1909. Ihr Höhe­punkt ist der Berlin­besuch Zeppelins am 30. August 1909; Hunderttau­sende8 versammeln sich auf dem Lande­ platz, dem Tempelhofer Feld. Der Zeppelinkult, bis dahin in Süd­deutsch­land zentriert, wird end­gültig zu einem allgemeindeutschen Phänomen, das in modifizierter Form und Funk­tion Jahrzehnte überdauert – mit weiteren Kulminationspunkten im

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1. Weltkrieg (»Zeppeline über London« als Symbol deutscher Siegessicher­heit) und 1924, als der sogenannte Reparationszeppelin den Atlantik über­quert und im In- und Ausland als Sym­bol der deutschen ›Wiedergeburt‹ nach der Kriegsniederlage rezipiert wird (vgl. Clausberg 1979, 13‑20). In einer Reichstagsrede vom Februar 1907 wirft Reichskanzler von Bülow der Sozialdemokratie – wieder einmal – vor, sie verletze Gefühle, die »der großen Mehrheit des deutschen Volkes heilig« seien.9 Der Zeppelin und sein Erfinder sind 1908 offenbar in diese Gefühle eingeschlossen worden. Wie verhält sich nun die sozialdemokratische Arbeiterbewegung zum Zep­pelin und zur Zeppelinbewegung? Was ihre einfachen Mitglieder betrifft, so lässt sich über sie natürlich wenig aussagen. Man darf annehmen, dass auch sozialdemokratische Ar­beiter aus den Fabriken rannten, wenn der Zeppelin zu sehen war; aber z. B. welcher Anteil von ihnen für Zeppelin spendete, lässt sich nicht annähernd rekonstruieren. Am ehesten greifbar sind zum einen Entscheidungen sozial­demokratischer und sozialdemokratisch beschickter Gremien, zum anderen die Haltung der Publizistik der Arbeiterbewegung. Die diesem Aufsatz zugrundeliegenden Recherchen10 ergeben, dass die Sozialdemokraten zwar immer wieder die Indienstnahme der Luftschifffahrt für militärische Zwecke, für den damals so genannten »Luftmilitarismus«, sowie nationalistische bis imperialistische Ingredienzien des Zeppelinkults kritisieren, dass ein Teil der Partei aber ein beträchtliches Stück mit der Begeisterung für Zeppelin und die Zeppeline mitgeht, insbesondere – aber nicht nur – in Südwestdeutschland, der Heimat Zeppelins (und einem Zentrum des sozialdemokratischen Refor­mismus).11 Diese Haltung manifestiert sich auch praktisch: Im April 1908 stimmt die Reichstagsfraktion der SPD einer Subventionszahlung des Reichs an das Zeppelinsche Unter­nehmen zu; nach der Schweizerfahrt Zeppelins im Juli 1908 schließen sich die badischen und württembergischen Landtags­f raktionen der SPD den Glückwunschadressen der jeweiligen Abgeordne­tenkammern an Zeppelin an (vgl. Karlsruher Volksfreund, 9. 7. 1908; Schwäbische Tagwacht, 8. 7. 1908). Der Verleihung der Stuttgarter Ehrenbürger­würde an den Grafen Zeppelin stimmen die sozialdemokratischen Kommunalvertreter zu (vgl. Schwäbische Tagwacht, ebd.); auch aus München, wo die SPD ebenfalls im Gemeindeparlament sitzt, wird im September 1909 die »einmütige« Ernennung des Grafen zum Ehrenbürger gemeldet (vgl. Schwäbischer Merkur, 4. 9. 1909, Mittagsblatt). Nach der »Katastrophe von Echterdingen« unterstützen mancherorts die SPD­­-Stadträte die Gewährung städtischer Spenden für den Bau eines neuen Luft­schiffes12 – in Ludwigshafen ist es sogar die SPD-Gemeinderatsfraktion, die die Initiative zu einer solchen Hilfe ergreift.13 Die vier untersuchten badi­ schen und württembergischen Tageszeitungen der SPD richten allesamt – wie bürgerliche Zeitungen – Sammelstellen für Zeppelinspenden ein. Zu den Unterzeichnern eines Karlsruher Spendenaufrufs, der die Unterstüt­zung des als »nationale Errungenschaft« bezeichneten Zeppelin-Luftschiffs eine »Ehrenpflicht des deutschen Volkes« nennt, gehört auch der bekannte badische SPD-Landtagsabgeordnete Kolb (ab 1909 Fraktionsvorsit­zender) (vgl. Karlsruher Volksfreund, 7. 8. 1908); der Vorsitzende der württembergischen Landtags-

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fraktion der SPD, Tauscher, ist Mitglied im Stuttgarter Komitee für die Zeppelin­spende (vgl. Der Beobachter, Stuttgart, 13. 8. 1908). Das Zentralorgan Vorwärts, das eine Beteiligung an den Zeppe­linsammlungen als »Übereifer« ablehnt – Zeppelins Unternehmungen seien auch ohne Volksspende gesichert, diese laufe auf die billige Schaffung einer Kriegsluftflotte hinaus (Vorwärts, 9. 8. 1908, vgl. ebd., 7. 8. 1909. Ähnlich Leipziger Volkszeitung, 10. 8. 1908, und Münchner Post, 13. 8. 1908) –, sieht sich in diesen Augusttagen zur mehr­ mals variierten Mahnung genötigt, »denkende Menschen sollten sich überhaupt nicht so sehr durch Stimmungen beherrschen lassen«, »die nicht­besitzende Klasse« solle »kaltes Blut bewahren und sich fragen: cui bono? Wem nützt die Zeppelinsche Erfindung?« (Vorwärts, 7. 8. 1908). Kurzum: Die hier beigebrachten Indizien reichen zwar nicht aus, den Ausbreitungsgrad der Zeppelinbegei­sterung bei Mitgliedern der deutschen Arbeiterbewegung auch nur halbwegs genau zu bestimmen, sie machen aber doch deutlich, dass der Zeppeli­nismus in der Sozialdemokratie keine marginale (und also von der Arbei­terkulturforschung vernachlässigbare) Rolle spielte und die in der bürgerli­chen Presse jener Zeit häufig artikulierte Freude über eine ungewöhnlich große Klassen- und Parteieneinigkeit14 im Zeichen Zeppelins durchaus ihr fundamentum in re hat. Kommen wir nun, in einem nächsten Schritt, zu den zentralen Topoi dieser sozialdemokratischen Zeppelinbegeisterung, soweit sie sich in den untersuchten Berichten, Kommentaren, Glossen, Witzen, Gedichten und nicht zuletzt der sozialdemokratischen ZeppelinImagerie finden. Der erste, allgemeine Befund ist, dass diese Topoi in aller Regel als aus dem sozialde­mokratischen Diskurs ableitbar bzw. mit ihm vereinbar annonciert werden, also an keinem Punkt z. B. Anleihen bei einem nationalistischen Diskurs machen. Dies, so die zweite Beobachtung, hat mehrere Anknüpfungs­punkte in der Zeppelin- und Zeppelinismusrealität, impliziert jedoch auch Verleugnungen und Projektionen. Im Folgenden soll dies nun detaillierter vorgestellt werden. Unterschieden seien dabei drei Teilthematiken: Das zeppelinsche Luftschiff selbst, die Person des Grafen Zeppelin und die Zep­pelinbewegung. Was die erste Thematik betrifft, das Luftschiff, so wird dieses selbst scharfen Kritikern nationalistischer und chauvinistischer Inhalte des Zeppelinismus sofort zum Inbegriff technischer und überhaupt mensch­licher Entwicklungsmöglichkeiten. »Was ist es im Grunde, das auch die breiten Massen für Zeppelin so enthusiasmiert?«, fragt der Vorwärts, und antwortet: »Es ist das ästhetische Wohlbehagen über den neuen Sieg des Menschengeistes über die Materie« (Vorwärts, 7. 8. 1908). Dasselbe Blatt am 29. August 1909 vor dem Zeppelinbesuch in Berlin: (…) sinnenfälliger hat sich noch nie ein Erfolg der Technik offenbart, mit höherem Stol­ ze ist noch nie ein Triumph des Menschengeistes empfunden worden! Die Eroberung der Luft ist das Wahrzeichen des Siegs über widerstrebende Naturgewalten, die Ver­ heißung des endlichen Sieges der Vernunft und des festen Menschenwillens über alle Hem­mnisse.15

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Von der Luftschifffahrt verspricht man sich bei der Sozialdemokratie nicht nur Erleichterungen des Personen- und Gütertransports, sondern auch eine sprunghafte Steigerung des »Lebensgenusses der Menschheit«: Selbst wenn sich einstweilen, meint der Vorwärts, nur An­gehörige der Bourgeoisie den Luxus des Reisens durch die Luft leisten können, so ist das für das Proletariat nur ein Ansporn mehr, dem Kapita­lismus und den privilegierten Klassen die Herrschaft über die Technik aus der Hand zu winden, damit nicht nur die Arbeitsmaschinen zum Wohle der Menschheit rationell verwendet werden können, sondern auch alle techni­schen Errungenschaften, die den Lebensgenuss, die Lebensfreudigkeit der Menschheit steigern können! Und welch höherer Genuss lässt sich denken, als der Flug durchs unendliche Äthermeer, als die Beherrschung des Ozeans der Luft! 16 Überdies wird der Zeppelin als ein Verkehrsmittel, das Länder, ja künftig Kontinente zusammenrücken kann, als Medium des sozialdemokratischen Internationalismus interpretiert. 17 Der Süddeutsche Postillon schreibt: »Der ›Lenkbare‹ ist ein gewaltiger Schritt zum Sozialismus, mögens auch die Hurraschreier bis jetzt noch nicht begreifen. Er lehrt die Überflüssig­ keit und zugleich die Unhaltbarkeit der Grenzen, mehr als Dampf und Elektrizität – und die kommende Zeit wird ihre Konsequenzen daraus ziehen« (Süddeutscher Postillon, Jg. 1908, Nr. 18, 145). Die Mannheimer Volksstimme nennt den Zeppelin »eine wei­tere Etappe auf dem Wege der allgemeinen Verbrüderung der Völker und Nationen«, die »das große humanitäre Ideal der internationalen Sozialdemo­kratie« sei (zitiert nach Schwäbische Tagwacht, 9. 7. 1908). Der Arbeiterbewegung konkordial erscheint die Luftschifferei dabei auch deshalb, weil sie ihre Ziele ohne Behinderung durch obrigkeit­liche Absperrmaßnahmen verfolgen zu können scheint. Der Vorwärts, fasziniert: »(…) das freie Vagieren durch die Lüfte, wo man keine Schutz­leute zu Fuß und zu Pferde postieren kann, müsste ja unserem Polizei- und Militärstaat geradezu als die Lösung aller Bande frommer Untertanenscheu erscheinen.«18 In einem Zeppelin-Artikel des badischen Sozialdemokraten und Schriftstellers Anton Fendrich, der in der Unterhaltungsbeilage des Vor­wärts und anderer Parteizeitungen erscheint, wird ebenfalls auf die Souveränität des Luftschiffers verwiesen, der sich um die Grenzziehungen der Souveräne nicht zu kümmern braucht: »Ledig aller Erdenschwere lachte (das Luft­schiff ) der Zollwächter und Grenzpfähle (…)«.19 Dergestalt als Überwinder sowohl natürlicher als gesellschaftlicher Schranken bewundert, kann der Zeppelin sogar zum Symbol der sozialde­mokratischen Bestrebungen überhaupt werden, will er doch ebenso wie sie »zur Sonne, zur Freiheit«. Solche Tendenzen enthält z. B. das Gedicht von Robert Seidel, einem damals bekannten sozialdemokratischen Publizisten und Lyriker, das der Wahre Jacob (Auflage 1908: 235 000) am 4. Au­gust 1908 veröffentlicht:

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Das Luftschiff Was der Dichter einst gesungen, Der Prophet im Geist erschaut, Groß und herrlich ist’s gelungen; Staunend hat’s die Welt geschaut. Durch die Lüfte kam ein Brausen Mitten in den Sonnenschein –  Ist’s des Heiligen Geistes Sausen? Bricht der jüngste Tag herein? Tausend blickten auf voll Schrecken Nach des Himmels lichtem Raum –  Will die Phantasie uns necken? Ist es Wahrheit? Ist’s ein Traum? Droben in den blauen Wogen Zieht ein golden Schiff die Bahn, Neigt sich grüßend und im Bogen Steigt’s zur Sonne kühn hinan. Und es bricht aus jedem Munde, Donnernd auf ein Jubelschrei: Großer Tag und große Stunde, Nun sind wir in Lüften frei! Nun sind wir nicht bloß auf Erden Herrscher über Raum und Zeit, Nun muss auch der Himmel werden Uns mit seiner Herrlichkeit. Dieselbe Zeitschrift bringt zum SPD-Parteitag von 1908 in Nürnberg – der übrigens mit dem Chorstück »Empor zum Licht« von Emanuel Wurms eröffnet wird20 – nichts anderes als einen die Sozialdemokratie tragenden Zeppelin als Titelbild (Abb. 1). Das Rad, an dem der Metallarbeiter im Alltag steht und an dem er in der sozialdemokratischen Imagerie zu er­kennen ist, ist zum Steuerrad des Zeppelin geworden; Blumen streuende Mädchen, in der Allegorik der Arbeiterbewegung die Ankunft des Völker­f rühlings, der neuen Zeit symbolisierend, rücken auch den Zeppelin in dieses Assoziationsfeld, während das betont mittelalterlich gezeichnete Nürnberg offensichtlich die nun überwindbare alte Zeit darstellt.

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Eine ähnliche Symbolkoalition findet sich auf dem Titelblatt der Neujahrsnummer des Süddeutschen Postillon von 1909: Es zeigt den kleinen Postboten mit der Jakobinermütze, das Wahrzeichen der Zeitschrift, wie in früheren Zeichnungen schon auf einem Maß­ krug durch die Luft reitend, diesmal aber von Zeppelinen begleitet. Aus einem hochgele­genen Fenster schaut ein Mann mit Zipfelmütze (erbost?) auf diese fliegende Gesellschaft (Abb. 2). Freilich finden in der sozialdemokratischen Bildpresse nicht nur solche positiven Zeppelindarstellungen Platz, vielmehr ist das Luftschiff für sie ein, wie man sagen könnte, »gespal­tenes Symbol«: In satirischen Zeichnungen des Wahren Jacob z. B. ist es auch Ingrediens der deutschen Aufrüstung (Abb. 3). Doch nicht überall und nicht stets Abb. 1: Der Wahre Jacob, Nr. 578 vom 15. 9. 1908 hat die Warnung vor einem durch (Titelseite) Zeppelins Unternehmungen möglich werdenden Luftkrieg einen ebenso großen Stellenwert in der sozialdemokratischen Presse. Öfters, vor allem unter dem Eindruck eines »Zeppelinbesuchs«, wird die Enthusiasmus trübende Zukunftsaussicht bombenwerfender »Luft­kreuzer« mehr in den Hintergrund gedrängt. So schreiben sozialdemokrati­sche Zeitungen zur Zeit der Zeppelinfahrt nach München: »Die Hoffnung braucht nicht aufgegeben zu werden, dass, noch ehe ein zuverlässiges Kriegsluftschiff in Aktion tritt, eine Vereinbarung unter den zivilisierten Völkern erfolgt, die es ihnen möglich macht, lieber den großen Aufgaben aufbauender Kultur nachzugehen, statt auf immer neue Werke der Zerstö­rung zu sinnen« (Schwäbische Tagwacht, 3. 4. 1909; Münchner Post 4. /5. 4. 1909). Auch ein in mehreren der untersuchten SPD-Organe ent­haltener Bericht über den Berlinbesuch des Zeppelin meint optimistisch, die Luftmilitaristen müssten sich noch gedulden, hätten die Flugprobleme bei der Berlinfahrt doch gezeigt, dass »die Luftschifffahrt zwar eine herrliche, zukunftsreiche, aber immer noch recht unsichere Sache ist. Wir haben also immer noch Zeit für die Fortschritte der Zivilisation, wie sie uns die Technik bietet, durch politischen Kulturfortschritt reif zu werden« (Schwäbische Tagwacht, 30. 8. 1909;

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vgl. auch Münchner Post und Karlsruher Volksfreund, 31. 8. 1909). Be­­ sonders begeisterte Zeppelinisten in der Sozialdemokratie erklären es gar für legitim, den gegenwärtigen Zeppelinbau primär von einer postimperialisti­schen Zukunft her zu beurteilen: »(…) schließlich wird und muss die Ver­nunft der großen Volksmassen die Ursachen der Kriege aus der Welt schaffen. Von diesem Gesichtspunkte aus bewer­ten wir die große Tat Zep­pelins« (Schwäbische Tagwacht, 8. 7. 1908). Entsprechend versteht die Schwäbische Tagwacht, aus der dies Zitat stammt, ihre Ei­ nreih­ung in die Financiers des Luftschiffbaus nach dem 5. August 1908 keineswegs als Unterstützung eines Rüstungs­unternehmens, sondern als Zukunfts­investition, zu der Sozialisten geradezu verpflichtet seien; der Kritik des Vorwärts am Mitsammeln für Zeppelin entgegnet sie: Abb. 2: Süddeutscher Postillon (München), 28. Jg. 1909, Nr. 1

(…) unbestreitbar bleibt, dass eine Erfindung, die es möglich macht, die Luft zu durchsegeln, unter allen Umständen einen Kulturfort­schritt darstellt, und wenn diese Errungenschaft im bürgerlichen Klassen­staat auch zunächst für den Militarismus reklamiert wird, so ändert das nichts daran, dass in einer künftigen Gesellschaft das Luftschiff eben nur kulturellen Zwecken dienen wird. Wann hätte sich die Sozialdemokratie je­mals einem Kulturfortschritt widersetzt?21

Ein Beispiel für die Eskamotage der Dialektik des Zeppelinfortschritts ist zudem eine Episode unmittelbar nach der Schweizerfahrt Zeppelins: Die potentiell völkerverbindende Funk­tion der Luftschifffahrt dem deutschen, von der Militärverwaltung geför­derten Zeppelinunternehmen als den wesentlichen Realgehalt anrechnend, empört sich das sozialdemokratische Neckar-Echo über eine Kritik der Schweizer Sozialdemokratie am ungefragten Überfliegen der Schweiz am 1. Juli 1908: »Das ist gut, das ist sehr gut. Die Sozialdemokraten, die Vorkämpfer der in­ternationalen Menschenverbrüderung, als nationale

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Wächter an der Ein­g angs­p for­t e ihres Ländchens« (6. 7. 1908). Der Redakteur der Mannheimer Volks­ stimme, Hauth, schreibt in derselben Sache einen Offenen Brief an Graf Zeppelin, der »zur Ehrenrettung« der schwei­zerischen Parteigenossen fest­­stellt, die Meldung über ihre Schwei­zerfahrt-Kritik sei eine bürgerliche Zei­tungsente: »Die schweizerische Sozialdemokratie steht, wie die deutsche, der genialen Erfindung Ew. Exzellenz mit dem Gefühl auf­­richtig­ster Bewunderung gegenüber« (zitiert nach Schwä­bische Tag­wacht, 9. 7. 1907). Die Schwäbische Tagwacht fügt einem Abdruck dieses Briefs den Ko­m­mentar hinzu: »Wir meinen, des Briefes hätte es nicht bedurft, soweit Graf Zeppelin in Betracht kommt. Der hat den Schwin­del der bürgerlichen Presse sicher­lich nach Gebühr ein­geschätzt. Aber zur Kennzeichnung der Praxis der bür­ Abb. 3: Der Wahre Jacob, Nr. 586 vom 5. 1. 1909 gerlichen Presse ist der Brief gut« (Titelseite) (zitiert nach Schwäbische Tag­wacht, 9. 7. 1907). Damit sind wir bei der Haltung der hier untersuchten SPD-Quellen zum Luftschiff-Erfinder und -Lenker, dem zum Nationalhelden aufgestiegenen Grafen Zeppelin. Hierbei ist zunächst auffallend, wie konsequent sozialde­mokratische Angriffe auf »Luftkreuzer«- und »Luftgroßmacht«-Pläne, die sich mit der Erfindung des lenkbaren Luftschiffs verbinden, die einschlä­gigen Überlegungen des Grafen selbst (z. B. von Zeppelin 1908, 26) übergehen. Zum andern sticht hervor, dass die SPD-Publizistik immer wieder versucht, Parallelen zwi­ schen der Geschichte, den Intentionen und den Persönlichkeitsidealen der Arbeiterbewegung und der Biographie, den Bestrebungen und dem Cha­rakter Zeppelins her­zustellen. Die Schwäbische Tagwacht grüßt ihn als Bruder im Utopismus, der »den Unverstand der Philister wie kaum ein zweiter gekostet« habe, der, als Phantast verlacht, »unter all den Reichen und Mächtigen kaum einen offenen, ehrlichen Freund« gefunden habe, der ihm geholfen hätte. Der Vorwärts setzt nach dem Unglück von Echter­dingen das »Trotz-alledem«-Motiv als Adapter zwischen Zeppelin und der Arbeiterbewegung ein: »Auch (Zeppelins) Leben

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ist ein Leben der Arbeit und des Kampfes gewesen, und in dieser Stunde, die dem Unermüdlichen noch­mals den Preis seines Mutes entriss, drängt es uns, die wir uns mit Stolz Arbeiter und Kämpfer nennen, auszusprechen, wie sehr wir sein Unglück bedauern« (Vorwärts, 6. 8. 1908). Der Süddeutsche Postillon ruft unter der Überschrift »Zep­pelin-Gedanken« aus: »Glück oder Unglück – vorwärts! ist die Lo­sung«, und umwirbt den Mann der Stun­ de mit der Behauptung: »Wir Pro­letare sind dem Gra­fen Zep­­pelin näher verwandt als alle die Hurra­schrei­er und Schranzen, die sich jetzt um ihn drängen, denn er ist Arbeiter, wie wir – und das mag sein schönster Ehren­titel sein!«22 Zur Identifikation mit dem ›Ar­­bei­ter Zeppelin‹ kommen Sym­pa­thie­­erklä­rungen für Graf Zeppelin als Unternehmer. Dem Grafen, der seinen Betrieb »in durchaus lie­­benswürdigpatriarchalischer Ma­­nier« (Clausberg 1979, 2) führte und im übrigen ein entschiedener Gegner der Sozialdemokratie war,23 wird von der Schwäbischen Tagwacht lobender Worte für seine Helfer wegen bescheinigt, dass er anscheinend »seinen Mitarbeitern die gebüh­ rende Anerkennung zuteil werden lasse« (Schwäbische Tagwacht, 8. 7. 1908), und ein unter der Überschrift »Zeppelin als Arbeitgeber« von der Tagwacht nachgedruckter Artikel der Frankfurter Volksstimme schildert, wie Graf Zeppelin am 5. Au­gust 1908 bei seiner Zwischenlandung nahe Nierstein einen ihm ge­reichten Wein mit seinen »Gefährten« geteilt und ihnen dabei selbst ein­geschenkt habe: Dieses ungekünstelte Zeichen seiner Anerkennung für die ›Gefährten‹ – ein besserer Ausdruck dafür ist gar nicht zu finden – und sein sonstiges Benehmen ihnen gegenüber lässt wohl die Verehrung verstehen, die alle für ihn hegen. Manchem aber kann dieser Graf auch darin zum Vorbild dienen, wie man ›seine Leute‹ behandelt, mit denen man etwas Besonderes erreichen will (Schwäbische Tagwacht, 12. 8. 1908). Resümiert: Es gibt auf sozialde­mokratischer Seite eine unübersehbare Tendenz, eine Zeppelin-Imago zu schaffen, der mit der eigenen Programmatik disharmonierende Züge Zep­ pelins fehlen, die sogar das Gefühl eines »Er ist unser« erlauben. Und es wird deutlich, dass dem Grafen Zeppelin, den der Bürgermeister von Berlin in Gegenwart des – von Zeppelin quasi zum Bodenpersonal degra­dierten – Kaisers zum »Helden und Führer«, zum »Liebling des Volkes« erklärt«24, auch von Sozialdemokraten als einer Helden- und Vaterfigur zugleich gehuldigt wird.25 Ganz im Gegensatz zur sozialdemokratischen Beurteilung Zeppelins ist die der Zeppelinbewegung in vielem distanziert und kritisch. Doch auch hier wird man von einer Neigung zeppelinbegeisterter Sozialdemokraten spre­chen dürfen, zumindest zeit- und teilweise der Projektion eigener Überzeugungen aufzusitzen. Dies gilt sicherlich nicht für die Einschätzung, diese der Form nach herrschende Ordnungsregeln ja vielfach übertretende26 »Volksbewegung«27 weise auch dem innenpolitischen Inhalt nach ge­wisse antipreußisch-antiwilhelminische Züge auf. Wenn Anton Fendrich süddeutschen Zeppelinfreunden den »Hass des verträumten Alemannen­schlags gegen preußische Überhebung« zuspricht (Vorwärts, 14. 7. 1908, Unterhaltungsblatt), so ist das nicht unrea­listisch, gehört zur Zeppelinbegeis-

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terung im deutschen Süden doch neben der Freude am preußische Leistungen übertreffenden »Schwabenstreich« Zeppelins auch eine teilweise heftige Kritik an der lange beibehaltenen In­transigenz Berliner Regierungsstellen und des Kaisers selbst gegenüber dem Zeppelinschen Projekt (vgl. dazu Eckener 1949, 154 f.) Zu fragen ist jedoch, ob in manchen sozialdemo­kratischen Äußerungen das Gewicht der – mit Obrigkeitskritik ja durchaus vereinbaren – nationalistischen und militaristischen Gehalte in der Mas­senbegeisterung für den Zeppelin nicht unterschätzt wird. Gewiss, selbst in entschieden »zeppelinistischen« Organen der SPD sind Warnungen vor »hurrapatriotischen«, auslandsfeindlichen und aufrüstungsorientierten Zep­pelinfreunden, vor einem von Zeppelins Erfolgen entfachten »chauvinisti­schen Wind« (Schwäbische Tagwacht, 30. 8. 1909) häufig zu finden; doch gleichzeitig wird – vor allem in den Kulminationsaugenblicken des Zeppelinskults jener Tage – immer wieder dem unerschütterten Glauben Ausdruck gegeben, die herrschende Tendenz der Massenbegeisterung sei die reine Fortschrittsbegeisterung. So beruhigt sich die Schwäbische Tagwacht am 7. August 1908 über den vom Zep­pelin entzündeten »furor teutonicus« in »ein(em) Teil unserer bürgerlichen Presse«: Wir sind überzeugt, dass die große Mehrzahl des deutschen Volkes sich zur Höhe eines solchen ›nationalen‹ Empfindens nicht aufzuschwingen vermag, das in der Katastrophe von Echterdingen weiter nichts sieht, als eine verpasste Gelegenheit, demnächst zur höheren Ehre Deutschlands fremden Völkern von oben her Dynamitpatronen an den Kopf zu werfen. Dieselbe Zeitung registriert bei der »Pfingstfahrt« Zeppelins 1909, das Luft­schiff sei diesmal ohne militärische Besatzung gefahren: »Dafür haben die Massen des Volkes (…) den kühnen Männern umso rückhaltloser zugeju­belt« (Schwäbische Tagwacht, 1. 6. 1909). Über den Empfang Zeppelins in Berlin schreibt der Vorwärts am 31. August 1909: »Was die Hunderttausende am Tempelhofer Felde bekun­deten, war frohlockender Jubel über den so glänzend verkörperten Triumph der Technik, war freudige Dankbarkeit für den greisen Erfinder und Lenker des prächtigen Luftschiffs.« Als Beleg für diese Interpretation ist dem Vor­wärts die – in Wirklichkeit ja mehrdeutige – Tatsache genug, dass die Massen das von einer Musikkapelle angestimmte Deutschlandlied nicht mit­sangen: »Zu Ausbrüchen des Hurrapatriotismus aber ließ sich die Menge nicht fortreißen. Als etliche ›Patrioten‹ das ›Deutschland, Deutschland über alles‹ anzustimmen versuchten, fanden sie so wenig Echo, dass sie alsbald wieder beschämt verstummten« (Vorwärts, 31. 8. 1909). Und in dem schon zitierten, unter an­derem in der Schwäbischen Tagwacht und der Münchner Post abge­druckten Korrespondentenbericht, der Eindrücke von der Berlin-Ankunft Zeppelins zusammenfasst, steht zwar: »Auch in Berlin fehlt es nicht an ge­dankenlosen Mengen, die ein wirklich menschliches Kulturfest gemäß ihrer eigenen geistigen Beschaffenheit auf das Niveau einer Militärparade oder einer höfischen Einweihungsfeier herabziehen möchten«, aber am Ende des Berichts heißt es dann doch:

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Während das unvermeidliche ›Heil dir im Sie­gerkranze‹ steigt, klingt es doch ganz anders in hunderttausend Herzen: Der Erde Glück, der Sonne Pracht, Des Geistes Licht, des Wissens Macht Dem ganzen Volke sei’s gegeben!28­ Was hier mit im pejorativen Sinn traumwandlerischer Sicherheit als cantus firmus unter einer nicht sonderlich beachteten Oberstimme angenommen wird, sind bekanntlich Zeilen aus der Hymne der Sozialdemokratie, dem 1891 entstandenen Sozialistenmarsch. Fassen wir das bisher Dargelegte zusammen: –– Die Begeisterungswelle der Jahre 1908/1909 für Zeppelin und für den Zeppelin erfasst auch Teile der Sozialdemokratie. –– Diese interpretieren ihre Involvierung in den Zeppelinkult als Verfol­gung genuin sozial­demokratischer Ideologie und Politik. –– Diese Interpretation kann an Realtendenzen ihres Gegenstands an­knüpfen, sie enthält andererseits jedoch Momente selektiver und projektiver Perzeption. Wie aber lässt sich diese Haltung nun erklären? Einige Überlegungen hierzu seien ab­schließ­end skizziert. Die Arbeiterkulturhistorik – grundlegend Brigitte Emig (1980, 197‑202) – hat immer wieder darauf hingewiesen, dass vor allem auf dem reformistischen Flügel der Ar­beiter­bewegung jener Epoche eine »vulgärmaterialistische« Verkürzung des Konnexes von Produktivkräftefortschritt und Gesellschaftsfortschritt ver­breitet war.29 Solche Hoffnungen auf eine soziale Emanzipation als automa­tische Folge, als Beiprodukt der Produktivkräfteentwicklung sind gewiss durch Erfahrungen politischer Stagnation und gar politischer Niederlagen der Arbeiterbewegung befördert worden. Diese müssen in der fraglichen Zeit nicht lange gesucht werden: Erinnert sei hier insbesondere an die Reichstagswahl von 1907, die sogenannten »Hottentottenwahlen«, in denen die Sozialdemokratie einen für viele ihrer Anhänger und Repräsentanten schockhaften Rückschlag erlitt.30 Dass in dieser Situation, in der die doch häufig als unmittelbar bevorstehend gedachte »neue Zeit« auf sich warten ließ, der auch optisch spektakuläre Durchbruch in der technischen Entwicklung, den der Zeppelin damals bedeutete, als neuer Verbündeter imaginiert wird, ist durchaus naheliegend. Zur Erklärung heranzuziehen ist aber auch das Theorem der »doppelten Loyalität« von Teilen der deutschen Arbeiterschaft. Es meint bekanntlich, dass, beeinflusst z. B. von Sozialisationsinstanzen wie Volksschule und Mi­litär und der glanzvollen Seite der monarchischen Ordnung überhaupt, viele Mitglieder der Arbeiterbewegung zwischen sozialdemokratischer und na­tionaler Loyalität hin- und hergerissen waren. Man kann diesen Überle­gungen, wie sie z. B. von Günther Roth vorgetragen wurden,31 den Aspekt hinzufügen, dass die Integration ins »Lager« der Arbeiterbewegung, in so­zialdemokratische Partei, freie Gewerkschaften und Arbeitervereine, ja gleichzeitig einen Ausschluss von kommunikativen Beziehungen bedeutete, in denen nichtsozialistische Familienmitglieder, Kindheits- und Schul­f reunde,

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Arbeitskollegen und Nachbarn lebten, einen Ausschluss, der nicht nur als positiv erfahren wurde, was dann ebenfalls wieder Loyalitätskonflikte mit sich brachte. Die Integration in die Zeppelinbewegung als in eine so­zial vielschichtige Bewegung, die weder der Form noch dem Inhalt nach ein­fach als Bewegung der ›alten Mächte‹ definierbar war, erlaubte eine Aufhe­bung dieses Konflikts, ein Durchbrechen der Lagergrenze, ohne dass dies als Verlassen des Lagers eingestanden werden musste. Die exuberante sozialde­mokratische Zuneigung zum Grafen Zeppelin wiederum dürfte auch damit zu erklären sein, dass Zeppelin, Adliger und Neuerer, Unternehmer und Mitarbeiter seines Betriebs, ausgestattet mit Autorität ebenso wie mit Jovia­lität, dem Wunsch nach Überwindung des im Loyalitätskonflikt enthaltenen Leitfigurenkonflikts als ideales Erfüllungsobjekt erschien.32 Fasst man diese Befunde und Überlegungen in einem Resumee zu­sammen, so lässt sich – nur wenig zugespitzt – sagen, dass Teilen der Sozial­demokratie die ›Zeppelin­tage‹ der Jahre 1908 und 1909 wie das Vorspiel eines revolutionären Umbruchs erschienen. In realis­tischerer Betrachtung entpuppen sie sich wohl eher als etwas anderes: als Vorspiel des »August­er­lebnisses« von 1914, des Augenblicks nach der Kriegserklärung, als ein großer Teil der sozialdemokratischen Arbeiter und Funktionäre in einen Be­geisterungstaumel nationaler Integration geriet. Wer die Zeppelinbewe­gung fünf, sechs Jahre vorher als Mentalitätsindikator zu lesen versteht, wird dieses »Augusterlebnis« kaum mehr als überraschend bezeichnen können.33 Anmerkungen 1 Bern usw. 1979, 41. 2 Zum Thema »Zeppelin und Tübingen« vgl. auch Jaisle 1908. 3 Rückblickend schreibt Eckener zur deutschen Begeisterung über die ersten Zeppelin­erfolge: »So konnte ich schon damals erleben, was ich zwanzig Jahre später beim Auf­leben einer neuen Zeppelin-Begeis­ terung feststellen musste, dass, etwa im Gegensatz zu der anfangs durchaus technischen und sportlichen Stellungnahme der Amerikaner zum Erfolg des Zep­pelin-Schiffes, das deutsche Volk in starkem Maße mit politischen und nationalen Gefühlen auf die Leistungen dieses Schiffes reagierte.« Und er interpretiert: »Die sehr ernste Marok­kokrise wurde zwar durch die Konferenz von Algeciras beigelegt, aber die politische Span­nung blieb bestehen, und das deutsche Volk fühlte sich sehr unbehaglich und in seinen ge­rechten Ansprüchen, ja in seiner Existenz bedroht. Da wurde ihm das Zeppelin-Schiff, das ja eine spezifisch deutsche, von den Fachtechnikern auch des Auslandes bespöttelte Erfin­dung war, zu einer Art Symbol der nationalen Einheit und der deutschen Leistungsfähigkeit, die ein moralisches Recht auf einen ›Platz an der Sonne‹ zu begründen schien« (Ec­kener 1949, 27, 26). 4 Der Schwäbische Merkur berichtet über die Zeppelinlandung bei Nierstein am 4. August 1908: »In der Menge, die die vordere Gondel umdrängte, stimmte einer plötzlich ›Deutsch­land, Deutschland über alles‹ an. Wie auf Kommando nahm die Menschenmenge die Me­lodie auf und sang begeistert mit« (Schwäbischer Merkur, 5. 8. 1908, Mittagsblatt). Über die Landung bei Bitterfeld am 28. August 1909 schreibt dieselbe Zeitung: »(…) als das Fahr­zeug zur Ankerschleife gezogen wurde, marschierte die Menge, ›Deutschland, Deutschland über alles‹ singend, im Takte mit, direkt unter dem Luftschiff, zwi-

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schen den Gondeln und um diese herum. Es war, als würde das Luftschiff von der Menge getragen« (Schwä­bischer Merkur, Sonderausgabe, 29. 8. 1909). 5 Solche Einschätzungen haben den Augenblick überlebt. Theodor Heuss z. B. schreibt in seinen Erinner­ ungen: »Die Erschütterung, die durch die Nation ging, hat im geschichtlichen Sinn einen politischen Rang: ›das Volk‹ fühlte sich in jener ›Spende‹ als Einheit. Das hatte es, vergleichbar, in Deutschland noch nie gegeben« (Heuss 1963, 140). 6 Ähnliches geschieht Ende der 20er Jahre nach einer 1925 begonnenen erneuten Sammelak­tion für die deutsche Luftschifffahrt, die »Zeppelin-Eckener-Spende«. Eckener berichtet, dass man damals »überall in deutschen Landen den allmählich weltberühmt gewordenen ›Graf Zeppelin‹ zu haben oder wenigstens zu sehen wünschte. Hatte man doch zum Bau des Schiffes sein Scherflein beigetragen! Es regnete Einladungen von allen großen und selbst von kleinen Städten, dorthin zu kommen« (Eckener 1949, 401 f.). 7 Nachdem ein Zeppelinluftschiff am 31. Mai 1909 bei Göppingen einen Birnbaum gerammt hat, werden aus dessen Holz ebenfalls Andenken (Tisch, Stopfei usw.) hergestellt (Mittei­lung von Karl-Heinz Rueß, Göppingen). Auch sogenannter »Zeppelinsand« – aus Ballastsäcken der Luftschiffe abgeworfen – wurde von Bewohnern überflogener Ortschaften ge­sammelt, auf Schächtelchen oder Nadelkissen geklebt und in den Handel gebracht (vgl. Schwäbischer Merkur, 31. 8. 1909, Mittagsblatt). 8 Der Vorwärts schätzt die Menge auf gut eine Viertelmillion, der Schwäbische Merkur auf anderthalb Millionen Menschen (vgl. Vorwärts, 31. 8. 1909; Schwäbischer Merkur, 31. 8. 1909, Mittagsblatt). 9 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, XII. Legis­latur­periode, 1. Session 1907, Bd. 227, Berlin 1907, 66 B. 10 An sozialdemokratischen Organen wurde für den fraglichen Zeitraum durchgesehen: Die Tages­ zei­tungen Vorwärts (Berlin), Leipziger Volkszeitung, Münchner Post, Schwäbische Tagwacht (Stuttgart), Neckar-Echo (Heilbronn), Volksfreund (Karlsruhe), Pforzheimer Freie Presse; die Zeit­schriften Die Gleichheit, Die Neue Zeit, Sozialistische Monatshefte sowie die satirischen Zeitschriften Der Wahre Jacob (Stuttgart) und Süddeutscher Postillon (München). 11 Das Jahr 1908 bringt auch einen Höhepunkt der Auseinandersetzung zwischen der SPD-­Linken und den süddeutschen Reformisten, nachdem die badische und die bayerische Land­tagsfraktion der Par­ tei – wie ein Jahr zuvor schon die württembergische – jeweils das Re­gierungsbudget gebilligt haben. Der badische Landesvorstand beschließt diese Zustimmung am 6. August, einen Tag nach »Echterdingen«; die bayerischen Landtagsabgeordneten stimmen am 13. August für das Budget. Ein Einfluss der nationalen Einigkeitseuphorie dieser Tage wenn nicht auf diese Entscheidungen selbst, so doch auf das Mitgliederecho darauf könnte vermutet werden, ist jedoch aus den vom Verfasser eingesehenen Quellen nicht belegbar. – Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, dass ein in der Partei heftig diskutierter Fall von »Hofgängerei« im Jahr 1909, mit dem sich auch der Parteitag in Leipzig beschäftigt, ein Beiprodukt der Zeppelinbegeisterung ist: Sozialdemokratische Landtags­abgeordnete, die im Juli 1909 einen Ausflug des württembergischen Landtags zu den Zep­pelinwerken nach Friedrichshafen mitmachen, schließen sich nach der Werksbesichtigung einer Visite beim württembergischen König im nahegelegenen Schlossgarten an. Die Stand­ard­werke über die württembergische SPD-Geschichte jener Zeit übersehen bzw. über­gehen den Anlass des Ausflugs und damit den »zeppelinistischen« Aspekt dieses folge­nrei­chen Königsbesuchs (vgl. Christ-Gmelin 1976, 178 f.; Schlemmer 1953, 144). 12 So in Stuttgart (vgl. Schwäbische Tagwacht, 7. 8. 1908), Ulm (vgl. Schwäbischer Merkur, 6. 8. 1908, Abendblatt), Ludwigshafen (Münchner Post, 13. 8. 1908). 13 Vgl. Anm. 9. 14 Die ›Klassenverbrüderung‹ im Zeichen Zeppelins wird in den Jahren 1908/09 nicht nur kon­statiert, sondern auch zelebriert. Der Schwäbische Merkur schildert eine Szene, die sich beim Kölnbesuch Zeppelins

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abspielte: Graf Zeppelin und mehrere Generale stehen auf dem Balkon des Militärkasinos, darunter eine Menschenmenge. »Einige Generale sehen lächelnd auf das Gewühl hernieder, schließlich winken sie zwei Arbeitern, die in der Menge unten stehen und begeistert immer wieder die Wacht am Rhein oder Deutschland, Deutschland über alles anstimmen. Sie sind einigermaßen verdutzt, können nicht recht glauben, dass sie wirklich gemeint sind. (…) Nach kurzer Zeit erscheinen sie oben auf dem Balkon, Zeppelin in der Mitte (…). Der eine winkt und bittet um Ruhe – es wird still.« Der Arbeiter bringt dann ein Hoch auf »Baron Zeppelin« aus, das unten bejubelt wird. »Es war ein erhe­bendes, ergreifendes Bild, der jugendfrische Graf, umgeben von ordensgeschmückten Gene­ralen, inmitten zweier einfacher Arbeiter im Werktagskleid; ein Symbol, dass arm und reich, hoch und gering eins sind in der Liebe zu dem großen und doch so bescheidenen Erfinder« (Schwäbischer Merkur, 7. 8. 1909, Mittagsblatt). 15 Das Fliegenlernen der Menschheit als Sieg in einem Mensch-Natur-Krieg zu bejubeln, war eine seinerzeit in der bürgerlichen wie der sozialdemokratischen Publizistik übliche Denk- ­und Ausdrucksweise. Karl Kraus kommentierte sie – und das Echterdinger Unglück – mit dem Satz: »Die Luft wollte sich verpesten, aber nicht ›erobern‹ lassen« (Kraus 1908, 2). Eine spezifisch sozialdemokratische Metaphorik für das Mensch-Natur-Verhältnis präsentiert ein Echter­dingen-Kommentar des Süddeutschen Postil­ lon: »Die Naturgewalten sind tückisch wie eine Bestie, und hinterlistig, wie ein Reaktionär. Sie rächen sich für jeden Sieg, den man über sie erfochten hat. Aber – gebändigt werden sie doch!« (Süddeutscher Postillon, Jg. 1908, Nr. 18, 145.) 16 Vorwärts, 29. 8. 1909. – Verschiedene Witze und Karikaturen des Wahren Jacob und des Süddeutschen Postillon drücken die Überzeugung aus, dass der Zeppelin eigentlich kein adäquates Gefährt für die alte Klassengesellschaft sei. Ein dicker Herr, Typus Kapita­list, zu einem Luftschiff aufblickend: »Ick wirde ja ooch jerne den Luftflottenverein beitreten, aber ick jloobe, mit meine drei’nhalb Zentner Lebendjewicht lassen se mir in keen Ballon ’rin!« (Wahrer Jacob Nr. 581, 27. 10. 1908, 5995.) In einem »Der Knallprotz« überschriebenen Dialog zwischen einem Grafen und einem Kommerzienrat erklärt letzterer, er fahre prinzipiell nicht mit dem Luftschiff: »Hat ja nicht ma’ erste Klasse!« (Süddeutscher Postillon, Jg. 1909, Nr. 1, 7.) 17 Zur seinerzeit verbreiteten Assoziation von Luftfahrt und Kosmopolitismus, ja Welt­f rieden vgl. Ingold (1980, 14, 105 und passim); Rosenkranz (1931, 174). 18 Vorwärts, 11. 7. 1908. – Dem Spott über das Vorgehen der »königlich preußischen Po­lizei« gegen das Ballonfahren wird ausführlich Raum gegeben im Vorwärts vom 29. 8. 1909, Artikel »Ist die Landung eines Luftballons strafbar?« 19 Vorwärts, 14. 7. 1908, Unterhaltungsblatt. – Zur literarischen Tradition der Verbindung LuftfahrtGrenz­­verletzung siehe Jean Pauls Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch; zur Real­tradition dieser Be­zieh­ ung vgl. die von dem Fotografen Nadar organisierten Ballonflüge aus dem belagerten Paris im Krieg 1870/1871 (hierüber Ullrich 1978, 252‑267). 20 Vgl. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutsch­lands, abgehalten zu Nürnberg, Berlin 1908, 297. 21 Schwäbische Tagwacht, 8. 8. 1908. – Noch lapidarer das Neckar-Echo, 12. 8. 1908: »Die Arbeiterschaft hat ihre Sympathien für den Grafen Zeppelin ausgesprochen, weil sie jeden technischen Fortschritt fördert und jede opferwillige Hingabe an eine Sache ehrt.« 22 Süddeutscher Postillon, Jg. 1908, Nr. 18, 145. – Im selben Sinn auch ein Witz in der fol­genden Nummer auf S. 155: In ihm deklariert ein »von Y«, Graf Zeppelin sei kein Aristo­krat, da er »arbeetet«. 23 Nach Clausberg war Graf Zeppelin sogar Mitglied des »Reichsverbands gegen die Sozialdemokratie« (vgl. Clausberg 1979, 71). Aus seiner Angabe geht jedoch nicht hervor, wann Zeppelin diesem 1904 gegrün­deten Verband beigetreten ist.

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24 Vgl. Vömel (1913, 134). 1908/09 wurde immer wieder der Wunsch laut, den »Beherrscher der Lüfte« auch als Herrscher auf Erden eingesetzt zu sehen. So war vor dem Berlinbesuch Zeppelins die Hoff­ nung ver­breitet, der Kaiser werde den Grafen aus diesem Anlass zum Fürsten machen (vgl. Neue Preußische Zeitung vom 27. 8. 1909, wonach es bereits Ansichtskarten von der Ernennungsszene gab; vgl. auch Schwäbischer Merkur, 30. 8. 1909, Mittagsblatt). Auch tauchte in der Presse der Vorschlag auf, Zeppelin zum König von Hannover zu krönen (vgl. Leipziger Volks­zeitung, 6. 8. 1908) – was freilich fast so irrealistisch war wie die damals gewiss oft geträumten Tagträume von einem »Volkskaiser Zeppelin« anstatt des – gerade 1908 in einer besonders tiefen Ansehenskrise befindlichen – Kaisers Wilhelm II. (vgl. Eckener 1949, 26 f.). Ein Vierteljahrhundert später rückte übrigens eine Personalunion zwischen Zeppelin- und Staatsführer tatsächlich in den Bereich des Mög­lichen: Der im In- und Aus­ land populäre Eckener – bei einer weltweiten Umfrage des Corriere della Sera 1929 zum berühmtesten Zeitgenossen kreiert – wurde 1932 von so­zialdemokratischer und Zentrumsseite gefragt, ob er nicht bei der Reichspräsidentenwahl als überparteilicher Kandidat auftreten wolle. Eckener neigte dem Vorschlag zu – unter anderem unter der Bedingung, dass Hindenburg nicht wieder kandidiere. Dieser stellte sich dann aber doch wieder zur Wahl. 1949 schreibt Eckener, er habe seine Entscheidung bald bedauert, als er die große Nachgiebigkeit Hindenburgs gegenüber der Hitlerpartei erkannt habe (vgl. Eckener 1949, 449‑451. Vgl. auch Severing 1950, Band 2, 314‑316. Zur Corriere-Umfrage vgl. Italiaander 1981, 278). 25 In einer »Der Held« überschriebenen Betrachtung der Schwäbischen Tagwacht vom 7. 8. 1908 sind die beiden genannten Aspekte exemplarisch vereint: Sie erkennt dem Grafen Zeppelin zum einen »trotzige Titanenkraft« zu, zum andern nennt sie ihn »groß, vereh­rungswürdig und liebenswert«. 26 Zum Beispiel nehmen sich die Massen in Erwartung und bei der Ankunft eines Zeppelin das ihnen bei politischen Demonstrationen meist abgesprochene »Recht auf die Straße« oder geraten beim Durch­ brechen einer das ›gemeine Volk‹ benachteiligenden Absperrung mit Po­lizei und Militär aneinander. So in Mün­chen, wo sich danach die Münchner Post energisch auf die Seite der Menge schlägt, sie gegen den polizeilichen Vorwurf der »Mas­senpsychose« und »Disziplinlosigkeit« in Schutz nimmt und es für nicht verwunderlich er­klärt, wenn »die große Masse den Kordon bricht, nachdem sie mit Erbitterung und Empö­rung die Verletzungen der Verordnung (d. h. einer Absperrung, B. J. W.) durch unsere Edlen und Besten eine Zeitlang in Schafsgeduld und allzu großer Gutmütigkeit ertragen« habe (Münchner Post, 7. 4. und 8. 4. 1909). – Interessant ist in diesem Zusammenhang auch ein Augenzeugenbericht der Schwäbischen Tag­wacht vom Echterdinger Geschehen am 5. August 1908, der fast so etwas wie eine Revolutionsszene zeich­net: Danach hielt, als der Sturm aufkam, nur ein Teil der anwesenden Soldaten die Stricke des Zeppelinluftschiffs fest, während andere »nach schneidigem Kommando« den Absperrungsdienst versahen und einige Offiziere »keine Zeit (hatten), sich der heiligen Mission zu erinnern, die ihnen übertragen war, denn sie mussten, zum Teil mit Damen, in abstoßender Gespreiztheit auf dem abgesperrten Platze einherstolzieren, sich mit dem Ballon als Hintergrund photographieren lassen und immer aufs neue die Soldaten zum Zurückdrängen der Menschenmassen anfeuern.« Männer aus der Menge, die halten helfen wollten, seien ebenfalls zurückgedrängt worden, und so sei dann das Unglück eingetreten. »Und dann schrien die Zehntausende eine Anklage zum Himmel; eine fürchterliche Anklage gegen den Geist, der uns regiert und lenkt, der unser ganzes öf­fentliches Leben vergiftet (…). Und fürchterlich verzerrten sich die Gesichter; Blitze schossen aus den Augen und die Fäuste ballten sich drohend und die Arme reckten sich gen Himmel. Stoßen, drängen und drücken. (…) Ein Soldat fasst sein Gewehr beim Lauf. ›Schlagt mit dem Kolben drein!‹ schrie er. ›Ja, das könnt ihr; und absperren, das könnt ihr auch‹, schreit es hundertstimmig zurück. Ein junger Leutnant kommt hinzu: ›Der ist’s, der hat die Griffe üben lassen‹, brüllen alle. Und ein Toben bricht los gegen die unschuldigen Opfer des Uniformgeistes. Ein Toben und Schreien. Eine Sekunde noch, dann wäre die Schlacht los-

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gegangen. Entsetzliches Schauspiel. Doch da kam Zeppelin im Automobil; starren Auges sah er den Trümmerhaufen und da löste sich die entsetzensvolle Spannung. Was kümmerte die Zehntausende die Uniform, wenn er, der Held und Meister, da ist« (Schwäbische Tagwacht, 7. 8. 1908). Was an dieser Schilderung Realität, was angst- und lustvolle Revolutionsphantasie ist, ist schwer zu entscheiden; in den herangezogenen nichtsozialdemokratischen Zeitungs-, Zeitschriften- und Buchdarstellungen über das Un­glück von Echterdingen fand sich jedenfalls keine Bestäti­gung für diese Version einer Massenempörung. 27 Diesen Begriff verwendet Linde (1908, 431). – Was speziell die Volksspendenbewegung für Zeppelin angeht, so nennt sie der Schwäbische Merkur einen »guten und schönen Gedanken (…) von unten herauf« und konstatiert: »Alles ist in den ersten Tagen zustande gekommen ohne Nachhilfe von oben, ohne Eingreifen der Regierungen und ohne Protektoren« (Schwäbi­scher Merkur, 11. 8. 1908, Mittagsblatt). 28 Schwäbische Tagwacht, 30. 8 . 1 909; vgl. auch Münchner Post und Karlsruher Volks­­freund, 31. 8. 1909. – Man lese zum Vergleich die Bewertung des Berliner »Zep­pelin­­tags« im nationalliberalen Schwäbischen Merkur, die gewiss (ebenfalls) partei­lich-verein­nahmende Tendenz hat, aber doch – wie ähnliche Berichte es belegen – keineswegs ganz aus der Luft gegriffen ist: »In diesen ungeheuren, nur nach Hunderttausenden zu zählenden Massen war kein Unterschied des Glaubens und der politischen Meinung. Ein kleines Häuf­lein nur stand missmutig bei Seite, jene ›führenden‹ Geister der Sozialdemokratie, die zwar der Erfindungstat Zeppelins ihre Hochachtung nicht versagen, aber nichts wissen wollen von den Gefühlen nationaler Begeisterung, die sie im deutschen Volk ausgelöst hat. Wo waren sie in der weihevollen Stunde? Niemand beachtete sie, die große Menge, selbst die, die ihren Lockrufen sonst nur allzu sehr zugänglich ist, wusste nichts von ihnen. Alles, alles stimmte ein in ›Deutschland, Deutschland über alles‹, in die Wacht am Rhein. (Hier ist wohl nicht von der An­kunftsszene, sondern von späteren Begeisterungskundgebungen die Rede, B. J. W.) Wie kam es, dass immer wieder gerade diese patriotischen Lieder sich ganz von selbst der Brust dieser Massen entrangen? Weil ihnen Zeppelin III samt dem Werdegang seines Erfinders ein Symbol war der Schicksale dessen, was uns allen das Höchste auf Erden ist, des Vaterlandes. Per aspera ad astra! In diesem alten Worte hat der Berliner Bürgermei­ster Zeppelins Lebenswerk treffend zusammengefasst. Im Sinne dieses Wortes hat die Menge die Bedeutung der Zeppelinschen Großtat für uns alle begriffen. Sollte man darum nicht ver­trauen dürfen, dass etwas von diesem Geiste fortan auch unser politisches Alltagstun be­seelen werde? Nein, so klein, so entartet sind wir wirklich nicht, wie es in den letzten Zeiten manchmal hat scheinen mögen. Das soll man sich nicht nur im Ausland sagen lassen, son­dern es mögen auch diejenigen daheim beherzigen, denen in den Scheuklappen des Partei­fanatismus die Kenntnis der wahren Volksseele mehr und mehr verloren geht« (Schwäbi­scher Merkur, 31. 8. 1909, Mittagsblatt). 29 Erinnert sei an Walter Benjamins scharfe Formulierungen hierzu in These XI der Ge­schichts­phi­loso­ phischen Thesen (Benjamin 1961, 273 f.). 30 In dieser Wahl verringerte sich der Stimmenanteil der SPD, der seit 1890 ständig gestiegen war, um 2,7 Prozent auf 29 Prozent; weit einschneidender war aber noch, dass infolge einer erfolgrei­chen antisozialistischen Sammelpolitik die Zahl der sozialdemokratischen Reichstagsman­date beinahe halbiert wurde (statt 81 noch 43 Sitze). »Wir haben sie niedergeritten«, rief der Kaiser nach der Wahl einer jubelnden Menge zu (vgl. Stampfer 1957, 114‑117). 31 Roth (1966). Hermann Bausinger schlug statt des eine »leicht herstellbare Balance« suggerierenden Begriffs der »doppelten Loyalität« den bei Robin M. Williams vorgefundenen Begriff der »Zickzack-­ Loyalität« vor (vgl. Bausinger 1973). 32 Eine Haltung, die der Wiener Sozialist Friedrich Adler 1915 in seiner Studie »Die Sozialde­mokratie in Deutschland und der Krieg« als einen Geisteszustand bezeichnete, »der in der Sprache der neuen

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Wiener psychiatrischen Schule zu charakterisieren wäre: Kriegsbegeiste­rung als Überkompensation der Insurrektionsgelüste« (Adler 1918, 12). 33 Korrigierende Anmerkung anno 2009: Die seitherige Forschung hat das Bild einer großen, Klassen und Parteien übergreifenden Kriegsbegeisterung bei Kriegsbeginn Zug um Zug als Mythos entlarvt. Erst nach den deutschen Siegen in der zweiten Augusthälfte zog die nationale Euphorie auch in manche Arbeiterviertel ein – und schon einige Wochen danach wieder aus. Richtiger sollte es also heißen: Die »doppelte Loyalität« vieler Sozialdemokraten, die sich in der Zeppelinfrage zeigt, ist ein Vorbote der »Burgfriedenspolitik« nach 1914.

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Der schöne Augenblick Eine Exploration

Die kulturhistorische Forschung, so heißt es immer wieder, interessiere sich besonders für die »Innenseite« von Geschichte, für die Wahrnehmungs- und Sinngebungsmuster der handelnden Subjekte. Nun spricht die Frage, welche Augenblicke, welche – privaten oder öffentlichen – Ereignisse von ihren ZeugInnen und AkteurInnen als schön erlebt werden (wobei »schön« als Sammelbegriff für als positiv bewertete Erlebnisse dient), zweifellos eine der wichtigsten Dimensionen dieser Innenseite an. Dennoch ist der »schöne Augenblick« kulturwissenschaftlich kaum untersucht worden. Ansätze gibt es – z. B. bei der Frage nach dem »Augusterlebnis« 1914 oder nach der Verklärung der Kindheit in Erinnerungserzählungen –, aber es wurde nicht allgemeiner gefragt, was welche Personengruppen in einer bestimmten Epoche als schönes Erlebnis schildern und was daraus über eine bestimmte Kultur zu lernen ist. Die Gründe für diese relative Abstinenz sind sicherlich vielfältig. Vielleicht wirkt hier die generelle Furcht, eine Beschäftigung mit Gefühlen, zumindest die ethnographische Empathie in anderer Leute Gefühlserlebnisse, könnte den Forscher (hier passt die männliche Form) selbst als gefühlsselig erscheinen lassen;1 vielleicht auch eine spezielle Abneigung gegen die Thematisierung »schöner Erlebnisse«, die an betuliche Schulaufsätze oder Andenkenkitsch Marke Sonnenuntergang erinnert, wo doch im intellektuellen Mi­lieu bekanntlich nicht das Foto eines schönen Augenblicks, sondern höchstens das schöne Foto eines wie immer gearteten Augenblicks als legitime Kultur gilt. Und sofern nicht von Anfang an feststeht, dass die Untersuchung dazu dienen wird, diese – gar von Kollektiven, und auch noch von deutschen – positiv empfundenen Erlebnisse als Illusionen oder Schlimmeres zu entlarven, überwiegt womöglich die Angst, von der klebrigen Materie affiziert zu werden und der wissenschaftlichen Distanz- und Kritikpflicht nicht mehr Genüge zu tun. Diese Bedenken sind auch meine eigenen; die LeserInnen mögen am Ende beurteilen, ob es gelungen ist, über eine Berührung mit spitzen Fingern hinauszukommen, ohne gleich in einer stürmische Umarmung zu landen. Beim Folgenden handelt es sich um eine Exploration: um die Durchsicht einiger Materialien und um erste Überlegungen zu ihrer Hermeneutik. Untersucht werden einige deutsche Darstellungen von Episoden, welche die Beteiligten als besonders schön erlebt haben. Das Interesse gilt sowohl Inhalten wie Formen: Es wird gefragt, welche Ereignisse als schön empfunden werden und wie diese Empfindung durch Handlungen ausgedrückt bzw. von welchen Handlungen sie begleitet wird. Hierzu werden Selbstzeugnisse von AkteurInnen und Zeugnisse von BeobachterInnen herangezogen. Dabei geht es bei dieser ersten Annäherung nicht um den Vergleich zwischen Innen- und Außenperspektive, sondern um die Sichtung von Gefühls- und Handlungsmustern, deren Vorkommen in zumindest einer der

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beiden Quellenarten konstatiert wird. Auch die Frage nach der historischen Varianz, nach schicht- und geschlechtsspezifischen Differenzen sowie unterschiedlichen Kontexten und das heißt Bedeutungen derselben Muster wird hier nicht gestellt; die Darstellung beschränkt sich auf den analytischen Zwischenschritt der Herausarbeitung homologer Musterelemente. Dass diese nicht allzu abstrakt ausfallen, scheint mir dadurch gewährleistet, dass die untersuchten Fälle nicht allen möglichen Epochen und Kulturen entnommen sind, sondern aus dem Deutschland des 20. Jahrhunderts stammen und mittleren und unteren Sozialschichten bei ihnen ein wesentlicher Part zukommt. Eingeleitet wird die Musteranalyse durch einen kurzen Überblick über die Darstellung schöner Erlebnisse in Lebenserinnerungen von GelegenheitsautorInnen, die um 1900 geboren sind. Danach werden zwei kollektive Erlebnisse der jüngeren deutschen Geschichte herausgegriffen, denen viele Zeitgenossen das Prädikat »schön« verliehen haben: das Zeppelinerlebnis gegen Anfang und das Erlebnis des Mauerfalls gegen Ende dieses Jahrhunderts; hierbei wurden vor allem Tageszeitungen und im letzteren Fall überdies Fernsehberichte ausgewertet.2 Das »schöne Erlebnis« in der popularen Autobiographik

Die autobiographischen Erlebniserzählungen, die nach Darstellungen »schöner Augen­ blicke« – relativ weit gefasst als: schöne Momente bis hin zu schönen Tagen – durchforstet wurden, stammen aus 164 kurzen Lebensgeschichten, die zu einem Erinner­ungs­wettbewerb des baden-württembergischen Landesseniorenrats 1976/77 eingeschickt wurden.3 Aus diesen Texten wurden alle »Erzählungen in der Erzählung« herausgesucht, erkennbar an Einleitungsformeln wie »Einmal«, »An einem Sonntag« usw., was 705 Passagen ergab, in denen Erlebnisse mehr oder weniger szenisch dargestellt wurden. Etwa 18 Prozent dieser Szenen werden als besonders schön – im Sinne von beglückend, euphorisierend, ergreifend – geschildert. AutorInnen mit Volksschulabschluss erzählen solche Erlebnisse etwas häufiger als solche mit Gymnasialbildung und sie stellen sie häufiger als biographische Umbrüche denn als bloße Alltagsunterbrechungen dar. Frauen und Männer sind etwa gleich oft vertreten, jedoch thematisieren Frauen erstens öfter und zweitens ausführlicher die Gefühle, welche die schönen Erlebnisse begleitet haben. Über den Charakter der geschilderten schönen Erlebnisse ergab sich unter anderem Folgendes: 1. Fast die Hälfte der Episoden spielt im Krieg; es handelt sich hier um Glücks­momente, die entweder Kriegsnot unterbrechen oder sich mit dem Kriegsende verbinden. Auch beim »schönen Erlebnis« gilt offenbar, was Adorno für das Ästhetisch-Schöne gesagt hat: Schönes wird anhand von Hässlichem bemerkt (vgl. Hartmann 1976, 13). 2. Der schöne Augenblick wird zumeist als unerwartet geschildert. Das Unerwartete ist dabei nicht nur etwas, auf das man momentan nicht gefasst war, sondern oft auch etwas

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inhaltlich Überraschendes, das man kaum oder kaum mehr zu hoffen gewagt hat, ja das man sich gar nicht vorstellen konnte. Diese »schönen Augenblicke« unterscheiden sich also grundlegend von der Erlebnisart, die Gerhard Schulze als typisch für die Erlebnisgesellschaft bezeichnet. Schulze charakterisiert diese Gesellschaft damit, dass sich in ihr »erlebnisorientiertes Handeln zu routinisierten Ziel-Mittel-Komplexen« (Schulze 1992, 40) verfestigt habe, wofür er den Begriff »Erlebnisrationalität« prägt. Erlebnisse, die man nicht geplant oder überhaupt nicht einkalkuliert hat, fallen aus dieser Bestimmung heraus. 3. Die Erzählungen drehen sich häufig um überraschende Wiederbegegnungen mit vertrauten Menschen – z. B. mit dem Ehemann auf Heimaturlaub, mit der Familie am Kriegsende – sowie um das Zusammenfinden von sich fremden Personen: etwa darum, dass man von Bauern freundlich aufgenommen wird, oder um eine Kriegsweihnacht, die man zusammen mit Zwangsarbeitern feiert. Oft wird die errungene oder wiedererrungene Gemeinsamkeit dabei durch miteinander Singen und miteinander Essen zelebriert. Hier einige Belege für die genannten Erfahrungsmuster: Schon manchen Abend standen wir an der Sperre und warteten [bei Kriegsende 1918, B. J. W].Viele Soldaten in Uniform sind schon heimgekommen. Frauen, Männer, Mütter, Söhne, Brüder und Schwestern lagen sich in den Armen. Der Krieg war zu Ende. An einem der Abende entsteigt auch unser Vater dem Zug. Wir freuen uns sehr. Stolz marschieren wir mit ihm heim. Die Mutter hatte uns schon kommen sehen. Alle Angst hat nun ein Ende (Otto Bangerter, geb. 1911, HStA Stuttgart, I 175, Nr. 778, 3). Schon in der ersten Nacht [nach dem Einrücken 1918, B. J. W] sagt mein Fallen[= Bett-, B. J. W]-Nachbar zu mir vor dem Einschlafen: »Wir wollen gute Kameraden zu einander sein!« Ich gebe ihm mein Einverständnis und wir sind, so lange wir beieinander waren, es auch geblieben. Und als wir uns nach dem Krieg zufällig auf dem Bahnhof in Eutingen wieder sahen, war er es – ein Bürstenbinder aus Lützenhardt –, der mich zuerst erkannte und zu mir sagte: »Kennst Du Deinen Kollegen nimmer?« An der Sprache habe ich ihn dann schnell wieder erkannt und es gab ein fröhliches Wiedersehen (Adolf Pfleiderer, geb. 1899, HStA Stuttgart, 1 175, Nr. 1607, 3). Einmal kam mein Mann mit seinem Kapitän und Familie, sowie noch zwei Kameraden die hier in der Nähe wohnten, aus der Krim in Urlaub zu uns. Das war eine Überraschung und die Freude war riesengroß und wir haben so manches Festle zusammen gefeiert. (…) Weil mein Mann ein guter Organisator war, hat er immer für Speis und Trank gesorgt. Aber nach den schönen Tagen kam der traurige Abschied wieder für lange (Else Beyl, geb. 1908, HStA Stuttgart, I 175, Nr. 1208, 4).

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Ich erinnere mich noch gut an das Christfest 1942 wo wir mit den Gefangenen Weih­ nachten erlebt haben [mit Kriegsgefangenen, die in derselben Fabrik wie die Verfasserin arbeiteten, B. J. W]. Wir haben zusammen Weihnachtslieder gesungen, jeder in seiner Sprache, die Melodie ist ja dieselbe, ich machte für uns Glühwein und reichte unsern selbstgebackenen Hefekranz herum. Für die Kinder brachten sie Schokolade und Kekse die sie von zu Haus bekommen hatten. Das war ein ergreifendes Christfest das ich nie vergessen werde (Else Beyl, ebd., 5). Die zitierten Erlebnisse beziehen sich allesamt auf einen relativ kleinen Personenkreis und haben zumeist (bis auf das letzte) privaten Charakter. Das ist nun aber keineswegs bei allen der untersuchten lebensgeschichtlichen Episoden der Fall. Der häufigste Typus eines schönen Augenblicks, von dem in den genannten Lebenserinnerungen berichtet wird, ist ein öffentliches und kollektiv erlebtes Ereignis: der Moment, in dem zum ersten Mal ein Zeppelin am Himmel erschien. Der folgende detaillierte Blick auf das »Zeppelin­er­ lebnis« – ermöglicht durch eine über das Lebensgeschichten-Korpus hinaus erweiterte Quellen­basis, die vor allem deutsche Tageszeitungen aus den Jahren 1908 und 1909 einbezieht – wird zeigen, was sich bei diesem Erlebnis an bereits genannten Mustern wiederholt und was an neuen hinzukommt. Das Zeppelinerlebnis

Wie wohl kein anderes Ereignis eint die Zeppelinbegeisterung vor allem in den ersten Jahren der Luftschifffahrt, zwischen 1908 und 1909, die deutsche Gesellschaft der Kaiserzeit. Nicht nur die Arbeiterschaft, auch große Teile der Sozialdemokratie (insbesondere in Süddeutschland) sind in diese Begeisterung eingeschlossen (vgl. den Aufsatz Zeppelinkult und Arbeiterbewegung in diesem Band). Die Eindrücklichkeit des »Zeppelinerlebnisses« hatte nicht nur mit der Sensation des Fliegens und der Größe der Luftschiffe zu tun; es handelt sich überdies um die Erfahrung eines gemeinsamen Enthusiasmus, der sich neben der technischen Grenzüberschreitung, die der Zeppelin bedeutete, auch auf andere Grenzüberschreitungen bezieht. »Es war ein erhebendes, ergreifendes Bild«, schreibt der Schwäbische Merkur (7. 8. 1909, Mittagsblatt) über die Begrüßung des Zeppelin und seines Erfinders in Köln im August 1909: »der jugend­f rische Graf, umgeben von ordensgeschmückten Generalen, inmitten zweier einfacher Arbeiter im Werktagskleid; ein Symbol, dass arm und reich, hoch und gering eins sind in der Liebe zu dem großen und doch so bescheidenen Erfinder«. Die Gemeinsamkeit beschränkt sich dabei nicht auf die gemeinsam geteilte Begeisterung, sondern drückt sich auch in kollektiven Handlungen, in Massenaufläufen und Massenkundgebungen aus, von denen niemand ausgeschlossen werden kann und soll und in denen hierarchische Abstufungen zumindest nicht dominieren: Die Arbeiter, welche die Dächer ihrer Fabriken besteigen, und die Bauern, welche den landenden Zeppelin an die Leine nehmen,

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haben bei diesen Großereignissen sogar bessere Plätze als die Honoratioren der wilhelminischen Gesellschaft. Die Gemeinsamkeit im Zeichen des Zeppelins wird von vielen Beobachtern als Verbrüderung der Deutschen, als Beitrag zur inneren Nationbildung erlebt. Öfters wird bei Zeppelinankünften mehr oder weniger spontan das Deutschlandlied angestimmt; viele begeistern sich an dem aeronautischen Vorsprung, den Deutschland nun gegenüber Frankreich und anderen Konkurrenten errungen habe. Doch außer diesem, bei vielen Zeppelinfans auch statt diesem nationalen Gehalt enthält die Begeisterung ein kosmopolitisches Element: Man ist sich bewusst, einen großen Schritt bei der Verwirklichung eines »Menschheitstraums« zu erleben und glaubt daran, dass die Überwindung der Erdenschwere zugleich die von Ländergrenzen bedeute. Der Zeppelin, so schreibt der Süddeutsche Postillon (27. Jg. 1908, H. 18, 145), lehre »die Unhaltbarkeit der Grenzen, mehr als Dampf und Elektrizität«, und die Mannheimer Volksstimme nennt das Luftschiff »eine weitere Etappe auf dem Wege der allgemeinen Verbrüderung der Völker und Nationen« (vgl. Schwäbische Tagwacht, 9. 7. 1908). Beides sind sozialdemokratische Blätter, aber sie artikulieren hier nicht nur sozialdemokratische Hoffnungen. Auch für viele andere Zeppelinfreunde sind die Zeppelinbegrüßungen lokale Kundgebungen für die globale Kommunikation und Kooperation der Zukunft – für eine Idee, die von den Kriegszeppelinen des Ersten Weltkriegs desavouiert wird, aber in den 20er Jahren, als der Zeppelin auf seinen Interkontinentalflügen unter anderem in New York begeistert empfangen wird, wieder aufersteht. Doch es sind nicht nur Gruppen- und Nationalgrenzen, es sind auch herkömmliche Re­geln von Ordnung und Unterordnung, an welchen das Zeppelinerlebnis rüttelt. Bekanntlich standen das Berliner Kriegsministerium und der Kaiser selbst den Zeppelinschen Luftschiffplänen lange Zeit skeptisch gegenüber; die Fortführung des Zeppelinbaus nach dem Unglück von Echterdingen wird nicht durch staatliche Subventionen, sondern durch eine als »Volksspende« firmierende Sammelaktion in der Bevölkerung ermöglicht, von der immer wieder betont wird, dass sie »ohne Nachhilfe von oben« vor sich gegangen sei (Schwäbischer Merkur, 11. 8. 1908, Mittagsblatt). Sie macht das Zeppelinprojekt in den Augen zeitgenössischer Beobachter zur »Volksbewegung« (Linde 1908, 431) und die Luftschiffe selbst zu einer Art von Volkseigentum. Die Teilnehmer dieser Volksbewegung nehmen sich bei den Zeppelinbesuchen Dinge heraus, die ihnen üblicherweise versagt sind. Der Entfesselung der Gefühle, die sich in Hüte- und Tücherschwenken, in Schreien und Singen, in »tausendstimmigen Jubelrufen« (Tübinger Chronik, 2. 7. 1908), in atemlosen Verfolgungsjagden ausdrückt, entsprechen massenhafte Regelübertretungen. Herrschafts- und Ordnungsinstanzen wie Schule, Arbeitgeber, Polizei werden von den Untertanen und Untergebenen durch die »höhere Gewalt« der Zeppelinerscheinung am Himmel partiell außer Funktion gesetzt. So versammeln sich die begeisterten Massen unangemeldet auf Straßen und Plätzen; polizeiliche Absperrungen werden wieder und wieder durchbrochen, ohne dass es dabei zu größeren Konfrontationen kommt. »In manchen Betrieben liefen die Leute von der Arbeit weg«, liest man in einem Bericht über den Kölnbesuch des Zeppelin 1909 (Schwäbischer Merkur, 3. 8. 1909,

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Abendblatt). »Der Werktag hatte sich zum Festtag verwandelt«, heißt es über die Zeppelinlandung bei Göppingen im Juni 1909; »aber statt der Sabbatstille herrschte das bunteste Jahrmarkttreiben. (…) In den Fabriken, die nicht von selbst schlossen, wurde gestreikt, nicht durch ›bewusstes und gewolltes Zusammenwirken‹ der Arbeiter, sondern mehr ungewollt, es kam eben so. Ein Arbeiter sah den andern im Festgewand und dann ging er nach Haus und wechselte eben auch den Habitus« (Der Hohenstaufer, 2. 6. 1909). Viele Schüler hält es ebenfalls nicht mehr im Unterricht, wenn der Zeppelin am Himmel erscheint. Sie bekommen oder nehmen sich ungefragt »zeppelfrei« – ein damals geläufiger Ausdruck (Wehrhan 1910, 352). Majestätisch schob sich das Wunderwerk der Technik über dem Schulgebäude hervor und flog langsam über uns dahin. Die Begeisterung über den Anblick war so groß, dass viele der Schülerinnen dem Luftschiff nachliefen bis hinaus vor die Stadt, wo es langsam den Blicken entschwand, dabei das Klingeln, das das Ende der Pause ankündigte, nicht hörten oder nicht hören wollten (Leonore Stilcke, geb. 1898, HStA Stuttgart, 1175, Nr. 999, 1). Nirgends jedoch, so wird immer wieder erstaunt konstatiert, artet der kollektive Taumel in Chaos aus: »Mit einer wundervollen Disziplin der Massen ging die Begeisterung der Millionenstadt einher«, berichtet der Schwäbische Merkur über den ersten Berliner Zeppelintag, den 30. August 1909, bei dem seiner Schätzung nach anderthalb Millionen zum Landeplatz, dem Tegeler Feld, geeilt waren. Keine Verhaftung, kein Unglücksfall war bis in die späten Abendstunden hinein bekannt geworden, trotzdem ganz Berlin auf dem Kopf stand (…). Und diese Ordnung der Massen erzwang kein Schutzmannsaufgebot, kein Militärkordon; sie kam aus dem Bewusstsein der Massen heraus, Zeuge einer großen Sache werden zu sollen (Schwäbischer Merkur, 30. 8. 1909). Die liberale Presse nimmt diese Erfahrung zum Anlass, das Recht auf Versammlungen unter freiem Himmel auch für andere Anlässe, wie z. B. für Demonstrationen gegen das preußische Dreiklassenwahlrecht, zu reklamieren, und versteht sie als Beweis dafür, dass die Berliner Massen zur disziplinierten und friedlichen Durchführung solcher Massenaufmärsche durchaus fähig seien (Tägliche Rundschau, 8. 3. 1910; vgl. Die Hilfe, Jg. 1910, H. 11, 165). In der zeitgenössischen Presse ist im Zusammenhang mit den massenhaften Zeppelinbegrüßungen gern von »Volksfesten« oder, wie schon zitiert, von »Feiertagen« die Rede. Doch diese Epitheta gehen meines Erachtens an etwas Wesentlichem vorbei: Der schöne Augenblick, in dem der Zeppelin erscheint, ist keine lizensierte Ventilsitte, kein periodisch wiederkehrendes Fest, welches die Ordnung, die es in geregelten Formen aufhebt, zugleich bestätigt; er bricht vielmehr ungefragt und überraschend in den Alltag ein, erscheint als einmalig und kann eben deshalb den Uhlandschen Frühlingsglauben wecken, dass nichts mehr sein werde wie zuvor, dass sich jetzt »alles, alles ändern« müsse.

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Der Mauerfall

Es folgt der Sprung vom Zeppelinerlebnis zum Mauerfall, der über 80 Jahre und viele differierende Variablen hinwegführt, aber doch, wie zu zeigen sein wird, zumindest in einigen Grundmustern keinen qualitativen Sprung darstellt. Rekapitulieren wir kurz das Geschehen: Am frühen Abend des 9. November 1989 gibt der Informationssekretär des Zentralkomitees der SED, Günter Schabowski, bekannt, dass DDR-Bürger ab sofort in den Westen reisen könnten; die Grenzbehörden seien angewiesen, Visa unverzüglich zu erteilen. An den Berliner Grenzübergängen finden sich allmählich immer mehr OstberlinerInnen ein, die Durchlass begehren; die Grenzposten bestehen zunächst auf der Besorgung eines Visums, doch schließlich wird den wachsenden Massen, die auf Durchlass drängen, der Übergang in den Westen auf das bloße Vorzeigen eines Personalausweises hin gestattet. Zu Fuß oder im Auto passieren nun Zehntausende die Berliner Mauer und andere ost-westdeutsche Grenzübergänge. Auf der anderen Seite werden sie von zahlreichen an die Grenze geeilten Schaulustigen empfangen. Vor allem in Westberlin füllen sich die Straßen mit feiernden Ost- und Westdeutschen.4 Zu konstatieren ist hierbei zunächst eine Vervielfachung der Partner direkter freundschaft­ licher Kommunikation. Die übliche Distanz gegenüber Fremden wird in mehrfacher Weise kassiert: Man spricht andere Personen ungeniert an, man duzt sie und wird wiedergeduzt, man fällt sich um den Hals. (Eine historische Erinnerung: Die accolade war nach 1789 die übliche Begrüßungsform der citoyens.) Die Fernsehaufnahmen zeigen, dass der Topos »Wildfremde Menschen fallen einander in die Arme« (Frankfurter Rundschau, 11./12. 11. 1989) tatsächlich von der Realität gedeckt wird. Auch Helmut Kohl und Willy Brandt werden, als sie an der Grenze auftauchen, von Passanten in den Arm genommen; ein Mann in der Menge, so berichtet die Frankfurter Rundschau (ebd.), ruft aus: »Ich könnt’ Euch alle knuddeln«. Kommen die Ostdeutschen nicht zu Fuß, sondern im Auto über die Grenze, wird der körperliche Kontakt durch ein Willkommensklopfen auf Trabi- und Wartburgdächer substituiert. Und auch die soziale Distanz, die in der Ware-GeldBeziehung liegt, wird teilweise eingezogen: Fremde Menschen beschenken sich, die Berliner Verkehrsbetriebe dürfen ohne Fahrschein benutzt werden, in einigen Berliner Kaufhäusern und vielen Kneipen gibt es Getränke und Essen gratis. Das Gesetz des Marktes, das »kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen (hat), als das nackte Interesse, als die gefühllose ›bare Zahlung‹ « (Marx/Engels 1969, 464), wird einen schönen Augenblick lang entmachtet. Die »Tausende von Verbrüderungsszenen« (Der Spiegel 1989, 19), die sich in jener Nacht abspielen, vollziehen sich interessanterweise nicht nur zwischen Ost- und Westdeutschen, sondern ebenso zwischen Ostdeutschen und zum Teil zwischen Westdeutschen untereinander. Der Augenblick ist also nicht bloß schön, weil eine Verschwisterung stattfindet: die Verschwisterung findet auch deshalb statt, weil der Augenblick so schön ist. Es ist ein Augenblick der Befreiung, den nicht nur die Befreiten feiern, sondern auch die Westdeutschen – man könnte interpretieren: als Enthusiasten des Prinzips Freizügigkeit, die

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zumindest momentan nicht nachrechnen, was die Freizügigkeit der anderen für ihre eigenen Eigentums- und Bequemlichkeits-Interessen bedeutet. Man darf hier, mit aller Vorsicht, an Immanuel Kants Notiz über die Begeisterung der Zuschauer für die Französische Revolution erinnern (Kant 1968, 359). Kant nennt diese einen von Eigennutz freien »wahren Enthusiasm«, der eine moralische Tendenz der Menschheit beweise: Diese Revolution eines geistreichen Volkes, die wir in unseren Tagen haben vor sich gehen sehen, mag gelingen oder scheitern; sie mag mit Elend oder Greueltaten dermaßen angefüllt sein, dass ein wohldenkender Mensch sie, wenn er sie, zum zweitenmale unternehmend, glücklich auszuführen hoffen könnte, doch das Experiment auf solche Kosten zu machen nie beschließen würde – diese Revolution, sage ich, findet doch in den Gemütern aller Zuschauer (die nicht selbst in diesem Spiele mit verwickelt sind) eine Teilnehmung dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasm grenzt, und deren Äußerung selbst mit Gefahr verbunden war, die also keine andere, als eine moralische Anlage im Menschengeschlecht zur Ursache haben kann (ebd., 358). Dass dieser »wahre Enthusiasmus« auf westdeutscher Seite am 9. November 1989 mit von der Partie war, kann unter anderem daraus geschlossen werden, dass die Euphorie dort bei vielen nur kurz anhielt: Schon nach zwei Tagen schlug ja die Stimmung im Westen teilweise wieder um, die Gäste wurden immer mehr als Belästiger, das weiterhin gezahlte Begrüßungsgeld als unberechtigte Bevorzugung empfunden. Die Zauber, die zusammenbanden, was die Mode streng geteilt hatte, waren nur als Interludium willkommen. Die wenn nicht allgemeine, so doch verbreitete Freude an dieser Distanzaufhebung besitzt freilich nicht für alle denselben Gehalt. Bei den einen hat sie unter anderem mit Aufwands­ ersparnis für Distinktionsarbeit zu tun, bei den andern mit dem ersparten Kampf um Anerkennung durch Statushöhere; für alle ist es Vorsichtsersparnis, da man sich dort, wo man lacht, weint und singt, ruhig niederlassen kann. Eine reale und nicht nur ideologische Familialisierung sozialer Beziehungen findet statt, in der sich Regression und Expansion verbinden: Die Vereinfachung der Rollenanforderungen geht mit der Ausweitung der Beziehungspartner zusammen. Geborgenheitsgefühl und ozeanisches Gefühl kommen zusammen, oder präziser: Die Erleichterung über das Überflüssigwerden des Selbstbehauptungskampfs verbindet sich mit dem Triumph, der Herausforderung der Vergesellschaftung doch Genüge getan, ein neues Stück Welt angeeignet zu haben. Wenn in den Reportagen von der Mauer- und Grenzöffnung immer wieder gesagt wird, es herrsche »Volksfeststimmung«, ist dies mithin nur halbrichtig, zumindest dann, wenn mit Volksfest die schönen Erlebnisse verbunden werden, die Gerhard Schulze dem »Trivialschema« der Popularkultur zuordnet (Schulze 1992, 151). Schulze stellt das in diesem Milieu gesuchte schöne Erlebnis unter den Leitbegriff »Gemütlichkeit«. Ein großer Teil der Merkmale, die Schulze diesen Gemütlichkeitserlebnissen zuordnet, findet sich auch in der Nacht vom 9. auf den 10. November: Man ist laut, singt, schunkelt, darf sich ein wenig gehenlassen, »man ist einander nahe; die Gesichter sind freundlich; für das leibliche Wohl

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ist gesorgt« (ebd.). Aber Schulze fügt weitere Merkmale hinzu: »Es gibt keine Gemütlichkeit unter freiem Himmel, allein oder mit völlig Fremden, aufgewühlt durch etwas Unerwartetes«. Die Gemütlichkeitssehnsucht, so Schulze, enthalte »ein Urmisstrauen gegenüber den anderen (Egoismus-Skala), gegenüber sich selbst und der Fähigkeit, etwas zu bewirken (Fatalismus-Skala), gegenüber unbekannten, noch nicht durch Routinen strukturierten Situationen (Rigiditäts-Skala)« (ebd.). Beim Mauerfall aber werden diese Rückzugs- und Resignationstendenzen auch von Angehörigen des von Schulze so genannten »Harmoniemilieus« überwunden. Ein Teil des Vergnügens liegt hier gerade darin, dass sich »wildfremde Menschen« ohne große Vorsichtsmaßnahmen zueinander gesellen, das heißt, dass die traditionelle Koalition von Harmonie- und Abgrenzungsbedürfnis aufgebrochen wird. Aber die Euphorie resultiert nicht nur aus der direkten Interaktion mit neuen und doch gleichgesinnten Handlungspartnern, sondern auch aus einer eigenmächtigen Erweiterung des Handlungsspielraums. Das Neue Deutschland spricht in den Tagen nach dem Mauerfall immer wieder von der »Regelung«, die der Staat getroffen habe, und zitiert öfters DDR-Bürger mit Formulierungen wie »Diese Regelung ist ja eine Wucht« oder »Sehr gut sei diese Regelung, die der Staat getroffen habe« (ebd., 11. 11, 12. 11. und 13. 11. 1989). Viele Beteiligte handeln jedoch in dem Bewusstsein, dass sie diese Regelungen erzwungen haben, ja sie erleben sich am 9. und 10. November als Regelsetzer in einer staatlich ungeregelten Situation. Dieses anarchische Moment kennzeichnet im übrigen nicht nur die Situation an den Grenzen, sondern – in abgeschwächter Weise – auch die im Westen, wo zumindest die Verkehrsregeln zeitweise außer Kraft gesetzt, einem »friedliche(n) Chaos« (so eine Fernsehreporterin) gewichen sind. Damit wird dieser schöne Augenblick nicht zuletzt zum Augenblick der Erkenntnis, dass Ordnung ohne Ordnungsmacht möglich ist. Es ist dieselbe faszinierende Erfahrung, die schon in den Zeppelintagen immer wieder gemacht wurde: Es geht auch ohne Polizei. Der Topos ist freilich älter; so begeistert sich Joachim Heinrich Campe 1789 im revolutionären Paris daran, wie zu einer Zeit, da alle Gemüter in aufbrausender Gärung sind, da beinahe eine völlige Anarchie durchs ganze Reich herrscht und da die große, aus mehreren tausend Rädern zusammengesetzte Maschine der ehemaligen Pariser Polizei gänzlich zertrümmert ist, gleichwohl überall, sogar beim größten Volksgedränge, alles so ruhig, so friedlich, so an­ständig und sittlich zugeht, dass man stundenlang dastehen und die wimmelnde Menge von lebhaften Empfindungen beseelter Menschen unverrückt im Auge behalten kann, ohne auch nur ein einziges Mal eine einzige unanständige oder gesetzwidrige Handlung zu bemerken, ohne auch nur ein einziges Mal ein beleidigendes, scheltendes oder zankendes Wort zu hören (Campe 1961, 136). Partiell entmachtet ist am 9. November 1989 aber nicht nur die beiderseitige Polizei, sondern auch die politische Klasse. Die östliche lässt sich erst gar nicht sehen, die westliche ist nur Gast, bestenfalls Ehrengast des Massenfestes. Wenn man am Ziel angekommen ist,

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braucht es keine Führer mehr. »Bei aller Hochachtung vor unserem Bundeskanzler: Dies sind die Tage des Volkes«, sagt Fritz Pleitgen dazu treffend in einer ARD-Sendung. Die Politiker, die von der Entwicklung »überrascht und überrannt« wurden (Pleitgen), spielen in diesem Moment keine besondere Rolle. Ihr Wort wird da akzeptiert, wo sie sich zum Sprachrohr der Gefühle aller machen; Walter Momper gelingt das bei der Schöneberger Kundgebung vom 10. November, Kohl dagegen wird von vielen der Versammelten als Vertreter von Partikularinteressen verstanden und ausgepfiffen (vgl. dazu den Bericht »Glückliches Volk, mürrischer Kanzler« in der Frankfurter Rundschau vom 13. 11. 1989). Ebenso geht es der dritten Strophe des Deutschlandlieds: Die Nationalhymne wird offenbar als – zudem nur-westliche – Staatshymne verstanden und abgelehnt. Die Massenhymne dieser Tage geht anders, sie lautet: »So ein Tag, so wunderschön wie heute«. Coda

Das Lied »So ein Tag, so wunderschön wie heute«5 erfüllt sämtliche Voraussetzungen, die für eine nachhaltige Verachtung durch alle Bildungs- und Geschmacksträger der Nation erforderlich sind. Doch dieses Musterbeispiel von Trivialkultur ist keineswegs die reine Flachware. Schon seine Melodie enthält – wenngleich kaum absichtlich – verborgene Konterbande: Die ersten Takte des Refrains haben zwar nicht unüberhörbare, aber doch hörbare Anklänge an die »Internationale«6. Man sollte das nicht überbewerten, und ich würde Walter Moßmanns und Peter Schleunings Kommentar zu dieser Kollusion (»Das Unbewusste des Volks wird schon wissen, warum das Lied so beliebt ist für Triumphgesänge! Die BRD-Nationale!« [Moßmann/Schleuning 1978, 270]) nicht unterschreiben wollen. Doch spätestens seit auf diesen Zusammenhang aufmerksam gemacht wurde, ist er in den Ko-Text dieses Liedes aufgenommen. Aber auch sein Text hat einige bemerkenswerte Ingredienzien: So ein Tag, so wunderschön wie heute, So ein Tag, der dürfte nie vergeh’n. So ein Tag, auf den ich mich so freute, Und wer weiß, wann wir uns wiederseh’n. Ach, wie schnell entschwinden schöne Stunden, Die wie Wolken verweh’n. So ein Tag, so wunderschön wie heute, So ein Tag, der dürfte nie vergeh’n. Mit größter Selbstverständlichkeit finden die Verse in dem unvermittelt eingeschossenen »Und wer weiß, wann wir uns wiederseh’n« zu der – aus unseren Beispielen schon geläufigen – Vorstellung, dass zum schönen Augenblick das Zusammentreffen von üblicherweise Getrenntem gehört; und sie dekretieren nicht, dass man dabei an die Reunion mit lange vermissten Verwandten und Wahlverwandten zu denken habe, sondern lässt der Möglich-

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keit Raum, dass es sich dabei auch um das Glück eines erstmaligen Zusammenkommens handelt, bei dem Fremde sich wie alte Freunde begegnen oder als hätte man immer schon auf einander gewartet. Für die Auffassung vom schönen Augenblick als dem Moment einer prinzipiell niemand ausschließenden Verschwisterung ist das Lied also durchaus anschlussfähig. Der andere Gehalt dieser Momente, dass sie oft solche der Entfesselung, der Entfaltung sind, findet sich bei »So ein Tag« nur, aber immerhin in der Lautstärke wieder, mit der die gemessen daherkommenden Tonschritte sich singen lassen. Im Text selbst fällt das Lied hinter den Freiheitsgehalt, den das Massenhandeln bei Anlässen wie dem Zeppelinbesuch oder dem Mauerfall kennzeichnet, zurück. Es betont, so könnte man sagen, eher das Verschmelzende und damit eher Regressive, nicht die in diesen Erlebnissen ebenfalls repräsentierten Wünsche und Fähigkeiten zum Aktivwerden, zur Auto­nomie. Dass er dies beides verbinden kann, das erst, so scheint mir, hebt den schönen Augenblick aus der Menge netter, lustiger, angenehmer Erlebnisse heraus und macht ihn unvergesslich. Zugleich freilich macht es ihn, immutatis mutandis, ebenso kurz wie selten. Auch davon weiß die deutsche Volksfesthymne: Ihre Schlusszeile »So ein Tag, der dürfte nie vergeh’n« bleibt in der Schwebe zwischen Irrealis und Optativ. Anmerkungen 1 Für seine Generation hat Hans-Ulrich Wehler hierzu folgende Hypothese geäußert: »Zur veränderten Bedeutung der Gefühle, Emotionen, Affekte [in der Geschichts­forschung, B. J. W] möchte ich die Vermutung äußern, dass hier generationsspezifische Erfahrungen eine wesentliche Rolle spielen. Für diejenigen Generationen, die den Zweiten Weltkrieg, die Flucht und die Nachkriegszeit bewusst miterlebt haben, war meines Erachtens Affektkontrolle eine unabdingbare Voraussetzung des psychischen und physischen Überlebens. Gefühlen wurde nur im Kreis der Familie, unter engen Freunden und Freundinnen offen nachgegeben (…). Für jüngere besitzt die Äußerung und Verteidigung von Emotionen offenbar einen anderen Stellenwert, sie gelten nicht mehr als strikt privatisiert; Kontroll­ mechanismen rasten nicht sofort quasi-automatisch ein. Von daher eröffnet sich auch ein anderer Zugang zur Bedeutung von Gefühlen in der Alltagsgeschichte« (Wehler 1988, 309). 2 Es ist mir bewusst, dass das Heranziehen anderer Beispiele auch andere Verhaltens- und Erfahrungs­ aspekte erbringen würde. Ich bin allerdings der Überzeugung, dass die im Folgenden herausgearbeiteten Grundmuster weder ephemer noch marginal sind. 3 Die Einsendungen lagern im Hauptstaatsarchiv Stuttgart (Bestand 1175) und sind durch einen sogenannten Systematischen Katalog nach Themenbereichen sowie durch einen Personen- und Ortskatalog erschlossen. 4 Als Quellen für die folgende Darstellung dienten Sendungen der ARD und des ZDF vom 9. bis 11. 11. 1989, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Frankfurter Rundschau, Neues Deutschland, Süddeutsche Zeitung und die Tageszeitung (taz) jeweils vom 11. bis 13. 11. 1989 sowie der Spiegel 1989, 18‑30. 5 Der Text des Lieds stammt von dem Hamburger Walter Rothenburg, geboren 1889, gestorben 1975, der auch Hits schrieb wie »Du, du, du, lass’ mein kleines Herz in Ruh« (als »You, you, you« nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA erfolgreich), »Junge, komm bald wieder« oder das in Fußballstadien noch oft zu hörende »Oh, wie bist Du schön« (vgl. Neue Osnabrücker Zeitung, 28. 12. 1989). Vertont

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wurde »So ein Tag« von Lotar Olias, geboren 1913 in Königsberg, gestorben 1990 in Berlin, einem Kabarettisten, Schlager- und Musicalkomponisten, der unter anderem die Musik zu zahlreichen FreddyQuinn-Songs komponierte und viel mit Rothenburg zusammenarbeitete – so auch bei »Junge, komm bald wieder« und »Du, du, du« (vgl. Honegger 1976, 101). Rothenburg schrieb das Lied 1951, es wurde 1952 zum ersten Mal von den Mainzer Hofsängern auf dem Mainzer Karneval gesungen (vgl. Moßmann/Schleuning 1978, 269). 6 Obgleich nicht naheliegend, ist die Vorstellung doch auch nicht absurd, dass dem Komponisten Lotar Olias die »Internationale« im Ohr geklungen haben könnte: Zu ihrer Hoch-Zeit in Deutschland, Anfang der 1930er Jahre, lebte er in Berlin, und im Zweiten Weltkrieg kam er in sowjetische Kriegs­ gefangenschaft (vgl. die Kopie eines Zeitungsnachrufs auf Olias vom 21. 10. 1990 im Deutschen Volks­ liedarchiv Frei­burg).

Literatur Campe, Joachim Heinrich (1961): Briefe aus Paris. Während der französischen Revolution geschrieben. [Zuerst 1790.] Berlin. Der Spiegel (1989): 43. Jg., H. 46, 18‑30. Hartmann, Peter (1976): Beitrag zum Thema des 4. Karlsruher Kolloquiums: »Gibt es heute noch eine sinnvolle Verwendung des Begriffs ›schön‹?« In: Siegfried Schmidt (Hg.): »schön«. Zur Diskussion eines umstrittenen Begriffs. München, 1‑28. Honegger, Marc (1976): Das große Lexikon der Musik, Bd. 6. Freiburg im Breisgau. Kant, Immanuel (1968): Der Streit der Fakultäten. In: Ders.: Werke in zwölf Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel. Bd. XI. [Zuerst 1784.] Frankfurt am Main, 261‑393. Linde, Ernst (1908): Die Begeisterung für Zeppelin. Eine volkspsychologische Studie. In: Allgemeine deutsche Lehrerzeitung, 60. Jg., 429‑431. Marx, Karl/Friedrich Engels (1969): Manifest der Kommunistischen Partei. In: Dies.: Werke, Bd. 4. Berlin/ DDR, 459‑493. Moßmann, Walter/Peter Schleuning (1978): Alte und neue politische Lieder. Reinbek. Schulze, Gerhard (1992): Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt am Main, New York. Wehler, Hans-Ulrich (1988): Aus der Geschichte lernen? Essays. München. Wehrhan, Karl (1910): Kinderlieder und Kinderreime über Zeppelin und seinen Luftballon. In: Zeitschrift für den deutschen Unterricht, 24. Jg., 345‑364.

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Nachbemerkung Stefan Beck

In seinem Beitrag im Band Tübinger Beiträge zur Volkskultur über Entstehung, sozialkulturellen Kontext und Rezeptionsgeschichte der Gôgenwitze, der auch in die vorliegende Auswahl aufgenommen wurde, führt Bernd Jürgen Warneken folgende Anekdote an: Zwei Frauen aus der Tübinger Unterstadt beschimpfen einander am Heiligen Abend. Ein vorübergehender Pfarrer ermahnt sie zum Frieden mit den Worten »›Wisst ihr denn nicht, dass heute der Heiland geboren ist?‹ – Antwort: ›Ha sell wär?! Mir do unte erfahret doch au gar net, was in der obere Stadt passiert‹« (Warneken 1986, 116). Die Frage, wer sich beim Erzählen der Anekdote über wen lustig macht, wird natürlich erst durch die soziale Position des Erzählers bestimmt – witziger ist sie aber als bissiger Kommentar der HandarbeiterInnen ›unten‹ auf die Vorurteile von KopfarbeiterInnen ›oben‹, deren Nicht-Wissen um die Lebensumstände derjenigen ›da unten‹, ihre Handlungsrelevanzen und Werturteile. Ein klasse Witz ist oft ein Klassen-Witz, in dem die orthodoxen Repräsentationen des Sozialen herausgefordert werden. »Ha sell wär?« – dies könnte auch der ironische Kommentar der Tübinger Empirischen Kulturwissenschaft auf die wohlmeinende Aufforderung von Vertretern der internationalen Sozial- und Kulturwissenschaften sein, den im Hause vertretenen Ansatz doch bitte einmal »anschlussfähig« an die Theoriedebatten etwa um Handlungs- oder Praxistheorie, die Auseinandersetzungen um die Verbindung von Mikro- und Makroebenen, Macht- vs. Strukturtheorie etc. darzulegen. Dem »Stil des Hauses« – wie vor längerer Zeit eine Ausgabe der EKW-Fachschaftszeitung betitelt wurde – liegt das eher nicht: Denn der wurde als einer kultiviert, der den Zusammenhang zwischen Denk- und Handlungsstil, zwischen Denkgegenständen und Denkgestus, zwischen Erkenntnisobjekten und -subjekten eng zu halten suchte. Er beförderte eine »Bereitschaft für gerichtetes Wahrnehmen und entsprechendes Verarbeiten des Wahrgenommenen« (Fleck 1980, 187), für ein Theoretisieren mit »mittlerer Reichweite« (Merton 1968), das sich für die forschungshandelnden Kopfarbeiter im Tübinger Haspelturm im Blick auf die »kulturale Seite der Gesellschaft« als außergewöhnlich produktiv erwies. Qualitative oder »weiche« methodische Zugänge zu den Forschungsgegenständen versprachen ja gerade, die sozialen und diachronen Kontexte der untersuchten Phänomene genauer in den Blick bekommen zu können, als dies in anderen Sozial- und Kulturwissenschaften üblich war: Die EKW als Kontextwissenschaft (Bausinger 1980) förderte bewusst eine Bereitschaft, sich auf empirische Komplexitäten, Widersprüchlichkeiten, Machtasymmetrien, fremdartig scheinende Wahrnehmungsdispositive,

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Handlungslogiken und deren sozialhistorische Genese in den untersuchten »popularen Kulturen« einzulassen (Warneken 2006). Der epistemische »Stil des Hauses« ist eher »genealogisch« denn abstrahierend-verallgemeinernd. Die Betonung der Kontextualität der untersuchten Phänomene beförderte aber eben auch eine – absichtsvoll skeptische oder zumindest duldend hingenommene – Ferne zu den vermeintlich ›oben‹ angesiedelten Kopfgeburten der etablierteren Sozial- und Kulturwissenschaften und eine Nähe zur Sozialgeschichte, die jedoch keine Vollmitgliedschaft in der historischen Zunft sicherte. Die EKW – der Gôg der deutschen Sozial- und Kulturwissenschaftslandschaft? Wie in der zitierten Gôgen-Anekdote verfolgte auch die Tübinger Empirische Kulturwissenschaft – in Selbst- und Fremdwahrnehmung eher ›unten‹ oder am Rand des »sozialen Feldes« der Wissenschaften (Bourdieu 1975) angesiedelt – natürlich intensiv, was ›oben‹ passierte, doch setzte sie stets ihre eigenen Relevanzen und fand ihren eigenen Ton. Während die ›oben‹ nicht wissen, dass sie intensiv beobachtet werden, sich vor allem aber nicht vorstellen können, dass sie ob ihres theoretischen Kapitals nicht nur bewundert werden. Joas, Geertz, Giddens, Schulze, Turner – ›Ha, sell wär?‹ Aber womöglich ist eine solche Interpretation noch zu sehr einem »humanistischen Interpretament« verpflichtet, das die sozialen und psychologischen Spiele wissenschaftlicher Distinktionsarbeit über- und die Wechselwirkungen zwischen Wahrgenommenem und Wahrnehmern unterschätzt. Was, wenn die Praxis, populare Praktiken zu beobachten und sich auf die materialen Bedingungen »praktizierter Lebenspraxis« einzulassen sowie ihre Situativität und historische Kontextualität in Rechnung zu stellen, schnellen Generalisierungen Widerstand leistete und stattdessen einen Denkstil und eine Forschersubjektivität hervorbringt, die theoretische Halbhöhenlagen bevorzugen muss? Hierfür sprächen zwei Argumente: Ludwik Fleck stellte am Beispiel der Etablierung der Wassermann-Reaktion für die Diagnose der Syphilis (Wassermann et al. 1906) die These auf, dass nicht nur wissenschaftliches Erkennen in hohem Maße durch die Materialitäten der Erkenntnisgegenstände und Erkenntnismittel gelenkt würde, sondern dass das Erkennen den Erkennenden verändere, »ihn an das Erkannte harmonisch« anpasse. Für Fleck sind es die sozialen Interaktionen der Forscher in einem gemeinsam bearbeiteten Feld, die durch gegenseitige Bestätigung und Kritik einen Denkstil erzeugen. Zuspitzend übernimmt Fleck Ludwig Gumplowicz’ Diktum aus dessen Grundriss der Soziologie (1905, 269): »Was im Menschen denkt, das ist gar nicht er, sondern seine soziale Gemeinschaft«.1 Aber Fleck bescheidet sich nicht mit einer idealistischen Perspektive; für ihn ist es auch die materielle Umwelt des Menschen, die das Denken prägt. Danach sind es die von Wissenschaftlern in einem Feld gleichermaßen zu überwindenden materiellen Widerstände der Experimentalapparaturen und der Forschungsobjekte, die zu einem geteilten, an die bearbeiteten Probleme angepassten Denk- und Handlungsstil beitragen (Fleck 1980, 111 ff.). Übertragen auf eine kontextualistische Interpretation ethnographisch oder sozialhistorisch generierten empirischen Materials bedeutet dies, dass dieses Material mit spezifischen »interpretativen Widerständen« aufwartet. Es legt nach kanonisierter Auffassung einen Typ der Verallgemeinerung nahe, der sich – mit Clifford Geertz – als »klinisch« bezeich-

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nen lässt: »Es werden keine allgemeinen Aussagen angestrebt, die sich auf verschiedene Fälle beziehen, sondern nur Generalisierungen im Rahmen eines Einzelfalles« (Geertz 1983, 37). Würden ethnographische Interpretationen von ihrer Bindung an den Einzelfall losgelöst, dann wirkten sie trivial und leer. Doch ist diese Anleitung zur ethnographischen Interpretation – »not to generalize across cases but to generalize within them«, wie sie klarer im englischen Original lautet – nicht alternativlos. Tatsächlich scheint sie nur sinnvoll, wenn das Kernproblem, wie bei Geertz, darin gesehen wird, das – überwiegend implizite – Wissen herauszuarbeiten, das die Akteure über die kulturelle Logik symbolischen Handelns besitzen. In diesem Zusammenhang ist eine Unterscheidung von Thomas Nagel hilfreich, der vorschlägt, zwischen drei unterschiedlichen »types of generality« zu differenzieren, die auf unterschiedliche Phänomene anzuwenden wären. Angesiedelt auf einer Skala zwischen ›subjektiv‹ und ›objektiv‹ seien dies »agent-relative«, »agent-neutral« und »agent-independent« Handlungsgründe (Nagel 1986, 152 f.). Die in der »dichten Beschreibung« ins Zentrum gerückten Phänomene sind demnach allesamt »agent-relative«; sie fokussieren auf die »selbstgesponnenen Bedeutungsgewebe« der Akteure, während neutrale oder von den Akteuren unabhängige Aspekte wenig relevant für eine kulturtheoretische Interpretation scheinen. Hiermit werden aber gerade jene Formungen kollektiver Denk- und Handlungsstile interpretativ verpasst, auf die Fleck mit der Betonung der Materialität der Handlungsgegenstände und -situationen verweist. Einen Ausweg aus dieser kulturalistischen Einseitigkeit versprechen praxistheoretische Ansätze. Beispielhaft kann die Argumentation des Wissenschaftshistorikers Andrew Pickering herangezogen werden: Für ihn gilt es aus einer praxistheoretischen Perspektive über die Marxsche Einsicht hinauszugelangen, dass die Produktion nicht nur einen Gegenstand für das Subjekt, sondern auch ein Subjekt für den Gegenstand erzeuge (Marx 1953): »Marx’s language of ›subjects‹ and ›objects‹ is too weak. Scientists and [bio-chemical, SB] reagents are more active then these words suggest. We need to think about agency – performance, doing things« (Pickering 2001, 163). Dabei sei diese »agency« gleichmäßig auf Menschen und Nicht-Menschen verteilt, das Verhältnis von Menschen und Dingen sei aus praxistheoretischer Perspektive als ko-konstitutiv zu konzipieren. Im Gegensatz dazu sei die Mehrzahl sozialwissenschaftlicher Konzepte einer humanistischen Orientierung verpflichtet, da sie die untersuchten Phänomene vor allem durch Konzepte wie Interessen, Regeln, Normen, Wissen oder soziale Strukturen zu erklären suchten – allesamt »Beweger« menschlicher Handlungen, die ausschließlich in der Sphäre des Sozialen oder Psychischen verortet seien. Ein solcher humanistischer »Rest« klingt auch noch in der oben zitierten, auf menschliche Akteure zentrierten Unterscheidung von Thomas Nagel nach. Pickering vertritt die These, dass damit die Bedeutung der Auseinandersetzung mit der materialen Welt, die für Praktiken – auch wissenschaftliche! – gerade die zentrale Herausforderung darstelle, systematisch ausgeblendet oder unterschätzt würde. Gefordert ist nach Pickering daher eine posthumanistische Sozialtheorie, die Prozesse der Ko-Konstitution zwischen materialer und humaner »agency« analysiere.

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»Ha, sell wär?« Womöglich eine Theorie des Sozialen, die symmetrisch den menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren (Latour 1995) durch Handlungssituationen folgen würde, die Sachkultur nicht nur in ihren symbolischen (also: diskursiven) Sublimationen ernst nähme, sondern als materiale Be-Dingung alltäglichen Handelns (Flusser 1993) und als entscheidend für die Erzeugung sozial spezifischer, weil in einer sozial distinkten materialen Umwelt erzeugter Denkstile anerkennen würde. Zugleich – und dies wäre durchaus als ein wissensanthropologischer Gewinn anzusehen – ließe sich eine solche Theorie reflexiv auf wissenschaftliche Praxis anwenden: als Mittel der praxistheoretischen Analyse ethnographischen oder empirisch-kulturwissenschaftlichen Forschens, die weit über die üblichen Ansätze einer disziplinären Selbstvergewisserung im Modus der Wissenschaftsgeschichtsschreibung als Ideengeschichte des Faches hinausginge. Was mit dem »practice turn in contemporary theory« (Schatzki et al. 2001) oder auch der Akteur-Netzwerk-Theorie (Oppenheim 2007) in der internationalen Sozialwissenschaft angekündigt wird, weist Parallelen auf mit der bei Bernd Jürgen Warneken zu findenden, oft auf Pierre Bourdieu rekurrierenden Analyse. Dies allerdings mit einigen Besonderheiten: Die Warnekensche Perspektive auf alltägliche Praktiken ist nicht posthumanistisch, sondern dem empathiegeleiteten »intersozialen Dolmetschen« verpflichtet. Ähnlich wie die britische Sozialanthropologie das Übersetzen von »modes of thought« ›zwischen‹ Kulturen als Ziel definierte (Asad 1993; Lienhardt 1954), wird hier – einem aufklärerischen Programm folgend – der Nutzen der Ethnographie nicht zuletzt in der Herstellung von Verständnisund Verständigungspotenzialen zwischen sozialen Gruppen in der modernen Gesellschaft gesehen (Warneken 2006, 341). Dieses praxistheoretisch ausgerichtete Interpretationsverfahren produziert keine Abstraktionen, sondern ist stets rückgebunden an die sorgfältige historische Rekonstruktion der untersuchten Phänomene: Die Schlussfolgerungen sind ›klinisch‹ in dem Sinne, als dass sie vermeintlich unzusammenhängende empirische Befunde in einen verständlichen Zusammenhang zu bringen suchen (Geertz 1983, 37 f.). Was die in diesem Band zusammengestellten Studien von der Mehrheit der sozialwissenschaftlichen, praxistheoretisch inspirierten Ansätze unterscheidet, ist zudem, dass sie – ganz in der anthropologisch-ethnologischen Tradition – nicht nur die Dimensionen von Macht und Moral, sondern auch die Körperlichkeit von alltäglichen Praktiken systematisch in Betracht ziehen. Der vorliegende Band pointiert diese praxistheoretische Ausrichtung schon in der Gliederungssystematik: Die Verbformen gehen, protestieren, erzählen, imaginieren betonen den Prozess des körperlichen und geistigen Tätigseins in der Welt und arbeiten die Widersprüchlichkeiten und Ambivalenzen alltäglicher, körpergebundener Praktiken heraus: Etwa den disziplinierenden ebenso wie den freiheitlichen und befreienden Aspekt des »aufrechten Gangs«, des »Schönschreibens« (das ebenso eine »Haltung« erfordert, die mühsam eingeübt werden muss), den Zusammenhang von Lebensweise und biographischem Erzählen; der proletarische »Massentritt« wird als körpersprachlicher Ausdruck eines kollektiven Politischen analysiert; das Pfeifen als – illegitime – Kommunikationskunst. Die konsequent kontextualistische Interpretation der Logiken dieser Praktiken ähnelt dem, was Laurent Thévenot, einer der innovativsten französischen Praxistheoretiker, als »pragmatic

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regimes of engagement« mit der sozialen, materialen und kulturellen (Um-)Welt bezeichnet (Thévenot 2001); sie geht jedoch insofern darüber hinaus, als stets die sozialhistorische Genese dieser Praktiken herausgearbeitet wird. Resonanzen bestehen damit auch zu der mit der »Manchester School« der britischen Sozialanthropologie assoziierten »situational analysis« und der von Max Gluckman propagierten »extended case method«, die darauf zielte, soziale Ordnungen als emergente – und stets vergängliche – Ereignisse zu interpretieren, die aus der sozialen und politischen Dynamik von Konfliktsituationen erklärt werden sollten: »(…) the extended case depended on the study of practice through time« (Evens/Handelman 2006, 6). Was die beiden Sozialanthropologen Evens und Handelman in dieser neueren programmatischen Einordnung der »Manchester School« zu Recht betonen, ist dass die Arbeiten der damit assoziierten Ethnologen ebenso wie der Ansatz Pierre Bourdieus aus dem Versuch hervorgingen, strukturalistische und normative Theorien des Sozialen zu überwinden, wobei Praxis in einem umfassenden, nicht auf die Diskurs- oder Bedeutungsebene verkürzten Sinne verstanden wurde. Evens und Handelman plädieren dafür, an diese verschüttete Tradition ethnographisch disziplinierten Theoretisierens von Praktiken anzuknüpfen, um der – wie sie es sehen – Orthodoxie US-amerikanischen, Geertzschen Denkens in der internationalen Anthropologie, die eine Privilegierung des Diskursiven impliziere, eine heterodoxe Position entgegenzuhalten (vgl. hierzu mit ähnlicher Kritikrichtung Rabinow et al. 2008). Der vorliegende Band erweitert den Raum der ethnologischen Doxa ebenso. Wenn es etwas zu wünschen gäbe, dann eine englische Übersetzung der vorangehenden Aufsätze dieses Bandes mit einer Einleitung von Bernd Jürgen Warneken, die seinen Ansatz der internationalen anthropologischen »Denkgemeinschaft« nahe bringt. Das Interesse ist garantiert, denn diese ist gerade dabei, ihre interne »diversity« wieder zu entdecken – die große Variationsbreite der anthropologisch-ethnologischen Disziplinentwicklung in Europa, Nord- und Südamerika, die unterschiedlichen disziplinären Konstellationen und Koalitionen, in denen die ethnographisch arbeitenden Fächer jeweils stehen, die Reichhaltigkeit ihrer theoretischen Orientierungen und die Spannbreite der Erfahrungen, populare Praktiken sichtbar zu machen. Eine solche »Translationsarbeit« könnte den lange fälligen Ausgang aus der selbstgewählten Unterstadt bereiten. Ha! Anmerkungen 1 Interessanterweise entwickelt Gumplowicz seine These in Auseinandersetzung mit den Überlegungen des Tübinger Rechtswissenschaftlers Gustav Rümelin, insbesondere dessen Aufsatz Über sociale Gesetze (in: Tübinger Zeitschrift für die gesammten Staatswissenschaften, 1868). Fleck wiederum entnimmt diese Sicht »second hand« einem Aufsatz von Wilhelm Jerusalem: Die soziologische Bedingtheit des Denkens und der Denkformen. In: Max Ferdinand Scheler: Versuche zu einer Soziologie des Wissens. München 1924, S. 182‑207. Diese wissenssoziologische Stafette, die ihren Ausgangspunkt in einer primitivistischen Argumentation Rümelins nahm, kann hier nicht weiter verfolgt werden.

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Drucknachweise

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Abbildungsnachweise

S. 60: Matthias Claudius: Sämmtliche Werke des Wandsbecker Bothen. Wandsbeck 1774. S. 61: Des Weltberühmten Engelländers Robinson Crusoe Leben und ganz ungemeine Begebenheiten. Frank­furt a.M./Leipzig 1720. S. 63, 73: Graphische Sammlung am Kunsthistorischen Institut der Universität Tübingen. S. 109: ADN Zentralbild, Berlin/DDR. S. 110: Aus: Eduard Bernstein: Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung. Teil III. Berlin 1910, 192. S. 111 o.: ADN Zentralbild, Berlin/DDR. S. 111 u.: ADN Zentralbild, Berlin/DDR. S. 112: Aus: Beilage zur Zeitschrift »Arbeiterjugend«, 24. 9. 1910. S. 113 o.: Werkbund-Archiv, Berlin/West. S. 113 u.: Kladderadatsch, 26. 1. 1908. S. 114: Stadtarchiv Frankfurt am Main. S. 115 o.: Berliner Illustrierte Zeitung, 13. 3. 1910. S. 115 u.: Archiv der sozialen Demokratie, Bonn. S. 116: Ebd. S. 117 o.: Aus: Jochen Boberg u. a.: Exerzierfeld der Moderne. Industriekultur in Berlin im 19. Jahr­hundert. München 1984, Bild Nr. 301. S. 117 u.: Aus: Dietrich Mühlberg (Hg.): Arbeiterleben um 1900. Berlin (DDR) 1983. S. 118 o.: Aus: (wie Anm. 11), Bild Nr. 333. S. 118 u.: Die Woche, 16. 4. 1910. S. 119: Landesbildstelle Berlin. S. 120: Stadtarchiv Hanau. S. 121: Archiv der sozialen Demokratie, Bonn. S. 122 o.: Landesbildstelle Berlin. S. 122 u.: ADN Zentralbild, Berlin/DDR. S. 123: Berliner Illustrierte Zeitung, 20. 2. 1910. S. 124: ADN Zentralbild, Berlin/DDR. S. 125: Der Wahre Jacob, 24. 5. 1910.

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Als sich die wissenschaftliche Volkskunde vor gut hundert Jahren zu etablieren begann, verstand sie sich wie die damalige Völkerkunde als primitivistisches Fach. Ihr vorrangiges Interesse galt zeitgenössischen Relikten »primitiver Kulturstufen«, die sie insbesondere in den sozialen Unterschichten zu finden meinte. Die volkskundliche Kulturwissenschaft der letzten Jahrzehnte hat mit guten Gründen und nach besten Kräften versucht, diesem Ursprung zu entspringen und sich der Alltagskultur der Moderne zuzuwenden. Die folgenden Überlegungen wollen keineswegs diesen Abschied vom Volksleben (Geiger u. a. 1970), wohl aber einige der damaligen Abschiedsworte revidieren: Die volkskundliche Kulturwissenschaft, so mein Plädoyer, sollte sich nicht als nichtprimitivistische, sondern als postprimitivistische Disziplin verstehen, d. h. es als eine ihrer Aufgaben ansehen, bestimmte Arbeitsfelder, aber auch bestimmte Fragestellungen des volks- und völkerkundlichen Primitivismus unter aktuellen Vorzeichen und mit erneuerten Methoden und Theorien weiter zu behandeln. In diesem Sinne versucht der folgende Aufsatz eine Sichtung der primitivistischen Erbschaft des Faches in pragmatischer Absicht.1 Dabei schienen mir zwei Durchgänge sinnvoll, die sich aus der Unterscheidung zweier Primitivismen ergeben. Der erste widmet sich dem »evolutionären Primitivismus«, der das Primitive als Vorstufe, als Keimform oder als noch präsenten Elementarbestandteil moderner Kulturen betrachtet. Der zweite behandelt den »re-volutionären Primitivismus«, der in modernekritischer – was nicht heißt: die Moderne verwerfender – Absicht auf kulturelle Potentiale als vorzivilisiert beurteilter Gesellschaftsformen aufmerksam machen, ja womöglich zurückgreifen will. Diese Trennung in evolutionären und re-volutionären Primitivismus ist keine nur analytische: Der erstere ist durchaus ohne den letzteren zu haben; oft jedoch, vor allem auch in der volkskundlichen Tradition, gehen beide ineinander über. Den beiden fachgeschichtlichen Durchgängen folgen dann drei kurze Kapitel, die sich mit aktuellen Folgerungen beschäftigen. Die evolutionäre Dimension

So wie die Völkerkunde des ausgehenden 19. Jahrhunderts außereuropäische Kulturen noch rechtzeitig vor ihrer Zerstörung oder Verwandlung durch Weltmarkt und Kolonialismus »festzuhalten« suchte, richtete die Volkskunde ihre Aufmerksamkeit auf inländische Volkskulturtraditionen, die vermeintlich und oft tatsächlich von Modernisierungsprozessen marginalisiert wurden. Der volkskundliche Sammlungs- und Rettungsimpuls war angesichts der historisch beispiellosen technischen, sozialen und kul­tur­ellen Innovationen des 19. Jahr-

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hunderts und eines mit der Reichsgründung einsetzenden Industrialisierungstempos, das nurmehr mit dem der USA zu vergleichen war, völlig verständlich, und er war per se keineswegs anti-, sondern innermodern, insofern es schlicht um die Übersiedlung des Vormoderne ins Gedächtnis der Moderne ging. Manche Volkskundevertreter der Gründungszeit betonen ausdrücklich, dass sie nicht konservativ, sondern lediglich konservatorisch dächten. Der Völker- und Volkskundler Richard Andree (1901, VIII) meint zu den »tief greifende(n) Umwälzungen«, die die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht zuletzt bei den »Sitten und Volksüberlieferungen« hervorgebracht habe, gut evolutionistisch: »Dieser Vorgang ist aber ein so natürlicher, dass wir ihn nicht beklagen dürfen, mag auch unser Gemüt, das der Väter Art und Weise hochschätzt, davon nicht immer zustimmend berührt werden.« Und Rudolf Virchow (1890, 591), der Initiator des Berliner Volkskundemuseums, nennt es den Zweck des soeben gegründeten Berliner Volkskundevereins, »das Volksthümliche, soweit es noch vorhanden ist, aufzusuchen und wenigstens in der Erinnerung zu bewahren (…).« Besonders sammelns- und untersuchenswert erschienen Zeugnisse der traditionalen Volkskultur dabei deshalb, weil man in ihr nicht nur die Vorgeschichte der Moderne, z. B. die Lebensweise der Großelterngeneration, sondern die Frühgeschichte der Menschheit repräsentiert sah. Die Überzeugung, dass sich in der Volkskultur der Gegenwart noch Spuren primitiver Kulturstufen finden ließen, ist dabei keine spezifisch deutsche Urtümelei, sondern lange Zeit ein international verbreitetes anthropologisches, soziologisches und volkskundliches Axiom. So erklärt z. B. George Laurence Gomme (1892, 2), einer der Begründer der britischen Folkloreforschung: The essential characteristic of folklore is that it consists of beliefs, customs, and traditions which are far behind civilisation in their intrinsic value to man, though they exist under the cover of a civilised nationality. (…) (I)ts constituent elements are survivals of a condition of human thought more backward, and therefore more ancient, than that in which they are discovered. Wie weit dieses »backward« zurückreichte, wurde ganz unterschiedlich und vage bestimmt. Wo, wie weithin üblich, das von Morgan stammende Entwicklungsschema »savagery – barbarism – civilization« zugrunde gelegt wurde, galt jedenfalls als ausgemacht, dass sich viele Grundzüge der traditionalen Volkskultur auf der Stufe »wilder Gesellschaften« herausgebildet hätten. Mängel und Fehler dieses Ansatzes sind in der ethnologischen wie der volkskundlichen Diskussion inzwischen hinreichend offen gelegt worden.2 Die Suche nach Urformen als Erstformen muss scheitern, da sie keinen historischen Referenzpunkt finden wird; wo sie sich zur Suche nach »uralten« Formen oder nach epochenüberdauernden »Grundmustern« ermäßigt, gerät sie leicht in einen methodischen Reduktionismus, der sich auf die longue durée einzelner Elemente komplexer Kulturtatsachen (auf einzelne Märchenmotive, Webmuster, Tanzschritte usw.) kapriziert, aber die Frage nach dem historischen Wandel in deren Zusammenspiel, Semantik und sozialer Funktion vernachlässigt. Noch problematischer als

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dieser tendenzielle Reduktionismus der primitivistischen Methodik ist der Unilinearismus der primitivistischen Theorie: die Platzierung von Kulturdifferenzen auf einer einzigen Zeitschiene, die als Entwicklungs-, ja Fortschrittsschiene gedacht war, wobei europäische und hier wiederum bürgerliche Kultur implizit oder explizit als bisheriger Gipfelpunkt fungierten. Mit dieser Denkvoraussetzung war die falsche Gleichung »primitiv« = »primär« programmiert: Je ferner und fremder ein Kulturphänomen der eigenen Kultur oder richtiger gesagt: deren Selbstbild war, desto höher wurde sein Alter eingeschätzt, desto näher gerückt wurde es einem fiktiven NatUrzustand. Vereinfacht kann man von vier großen »Antipodien« sprechen, mit denen der Kulturevolutionismus sich seinen »primitiven« Gegenfüßler konstruierte: 1. Unterschiede der sozialen Differenzierung. Ausgehend von der entfalteten Arbeits­ teilung in der Moderne und den ihr entsprechenden Trennungen von Hand­lungs­ be­­reichen und -formen (z. B. Alltagsdenken versus wissenschaftsförmiges Den­ken) werden sozial homogene Gesellschaftsformen und ein hoher Integrationsgrad von Hand­lungssystemen (z. B. Arbeit – Kunst – Religion) als Signum »primitiver« Entwick­ lungs­stufen angesehen. 2. Unterschiede der Rationalisierung. Zweckrationales, diskursiv begründetes, auf Ord­ nungs­systeme gestütztes Handeln gilt als Signum der Moderne, irrationales, nichtreflektiertes, spontanes Denken und Handel als Signum älterer Kulturstufen bzw. noch nicht über deren Standard hinausgekommener Kulturen. 3. Unterschiede der Domestizierung. Ein hoher Grad der Beherrschung und For­mung von äußerer und innerer Natur firmiert als späte soziale Errungenschaft; geringere Kon­ trolle und Sublimierung z. B. von sexuellen und aggressiven Im­pulsen stehen angeblich dem Naturzustand näher. 4. Unterschiede der Individualisierung: Individuelle Autonomie und individuelle Per­ sönlichkeitsmerkmale werden der Moderne, spontane Gruppenloyalität oder das Vor­ herrschen kollektiver Denk- und Handlungsmuster früherer Kulturen bzw. »stehen gebliebener« Völker und Gruppen zugerechnet. Es ist bis heute umstritten, wie viel Realitätsgehalt in diesen Gegensatzpaaren steckt, vor allem, inwieweit sie einzelgesellschaftliche Entwicklungen in bestimmten Denk- und Handlungsbereichen durchaus abzubilden vermögen. Sicherlich untauglich sind sie jedoch als kulturhistorische Generalschemata, gehen sie doch sowohl über innere Widersprüche der Moderne selbst wie über diesen Schemata nach als »modern« zu bewertende Charakteristika früherer Gesellschaftsformen hinweg: Individuelle Familienbindungen sind, wie z. B. Malinowski zeigte, keineswegs in allen Gesellschaften die jüngere, Großgruppenbindungen die ältere Assoziationsform; und Triebsublimierung und Affektkontrolle sind, wie Hans Peter Duerr ausführlich dargestellt hat, keineswegs nur Ergebnis einer bürgerlich-europäischen Entwicklung der letzten Jahrhunderte.

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Interkulturelle Brückenschläge Es wäre jedoch nur die halbe Wahrheit, wollte man den Kulturevolutionismus als eine Theorie der falschen Trennungen betrachten. Seine Betrachtung des Verhältnisses von »primitiv« und »zivilisiert« und als eher primitiv und als eher zivilisiert eingestuften ethnischen und sozialen Gruppen war vielmehr janusköpfig. Die Idee einer unilinearen Evolution war trennend, insofern sie einzelnen Kulturformen und ganzen Gruppenkulturen vordere oder hintere Plätze auf einer Entwicklungslinie zuwies. Sie war verbindend, insofern sie alle auf ein und derselben Linie platzierte, was immerhin bedeutete, dass das »Unzivilisierte« nicht mehr als das z. B. rassisch Andere oder als pathologische Verirrung angesehen wurde, sondern als Vor- oder Elementarform der eigenen Kultur. In der frühen volkskundlichen Forschung ist diese Ambivalenz sehr deutlich ausgeprägt. Verbreitet ist in ihr die Auffassung, dass sich »in der vorgeschichtlichen Epoche jedes Volkslebens« eine »ganze Schicht unmittelbaren religiösen Denkens, religiöser Vorstellungen und Bräuche« ausgebildet habe, eine »Unterschicht alles geschichtlichen Volkslebens (…), aus deren Mutterboden alle individuelle Gestaltung und persönliche Schöpfung herausgewachsen ist (…)« (Dietrich 1902, 175). Und wenn das Primitive nicht als bloßer Vorläufer, sondern als Vorfahre der modernen Zivilisation gilt, lag die Möglichkeit nah, auch in den späteren Entwicklungsstufen survivals der früheren Stufen anzunehmen, im Mann das Kind und im Kind den Primitiven zu entdecken. Wenngleich es also weithin volkskundlicher Konsens war, dass das Primitive außer in den »Naturvölkern« draußen vor allem in den Unterschichten des eigenen Volks überlebt habe, wurde doch – zumindest en passant – immer wieder eingeräumt, dass auch die Oberschicht von solchen »survivals« nicht frei sei. So schreibt z. B. Eugen Mogk (1907, 4), dass

der Gebildete ebenso gut Stoff zur Volkskunde liefern kann wie der Ungebildete, der Mann aus dem Volke. In jedem Menschen lebt gleichsam ein Doppelmensch: ein Natur­ mensch und ein Kulturmensch: dieser zeigt sich durch seine reflektierende und logische Denkweise, jener durch seine assoziative. Unter den Gebildeten überwiegt im gewöhnlichen Leben der Kulturmensch, allein auch er kann in Lagen kommen, wo er in den Bann der assoziativen Denkform gerät. Nicht wenige Vertreter des volkskundlichen Primitivismus nutzen diesen dabei nicht nur für einen binnennationalen Brückenschlag zwischen Gebildeten- und Volkskultur (der natürlich per se politisch mehrdeutig bleibt, d. h. ebenso demokratisch-antielitaristisch wie volksgemeinschaftlich-repressiv gewendet werden kann); es geht ihnen auch um die Durchlöcherung ethnizistischer Grenzziehungen. Die Zeitschrift des Vereins für Volkskunde ist in den ersten Jahrzehnten voll von Versuchen, Parallelen zwischen einheimischen und fremden Kulturmustern – Bräuchen, Erzählmotiven, Dinggestaltungen usw. – zu finden und damit eine entweder primär auf gemeinsame Anlagen oder primär auf Diffusion zurückgeführte »geistige Gemeinschaft der Völker« (Negelein 1901, 23) zu belegen. Dabei geht es nicht nur um nationen-, sondern auch um »rasse«-übergreifende Gemeinsamkei-

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ten, also z. B. nicht nur um »indogermanische«, sondern auch um universelle Bezüge. Dass diese Suche nach Kulturparallelen dabei streckenweise zur Manie wurde, dass sie oft mit gewagten Ab­straktionen und der Atomisierung kohärenter Kulturtatsachen arbeitete, ist unübersehbar,3 doch hat sie der Fiktion hereditärer völkischer Eigenarten zweifellos auch manch stichhaltiges Beweismaterial entgegengesetzt. Der Grad, in dem dabei ethnizistische Grenzziehungen dekonstruiert wurden, ist freilich unterschiedlich: Teilweise beschränkte sich der interkulturelle Brückenschlag auf wenige Einzelzüge oder wurden nur Parallelen z. B. zwischen den Germanen und heutigen »Naturvölkern«, aber nicht zwischen heutigen Deutschen und Außereuropäern hervorgehoben;4 teilweise werden – u. a. im Anschluss an Adolf Bastians Annahme universeller »Elementargedanken« – wesentliche Strukturgleichheiten »entwickelter« und »unentwickelter« Kulturformen betont; teilweise wird der Unterschied zwischen so genannten primitiven und so genannten zivilisierten Völkern auf unterschiedliche Stufen der Technik und Naturwissenschaft reduziert.5 Und auch der Grad, in dem der Befund interkultureller Bezüge sich mit antinationalistischen und antirassistischen Positionen verbindet, ist höchst verschieden. Nur selten werden solche Positionen so explizit und entschieden vertreten wie von Friedrich S. Krauss (1904, 318 f.), der schreibt: Der Volksforschung winkt als Preis die Erreichung des endlichen Zieles, dass es ihr einmal gelingen wird, die noch erhaltenen Einrichtungen und Schranken einer urzeitlichen Gesellschaft niederzureißen, durch welche die Menschheit in ständig kriegsbereite, rauflustige Horden eingeteilt erscheint. Erkennt man, dass wir Menschen alle »eine« Art bilden, dass auch alle uns voneinander sondernden transzendentalen Spekulationen unnütz und abgebraucht sind, so werden die Gruppen aufhören, einander die knappe Zeit ihres Lebens zu vergällen und zu verkürzen. Wie gesagt: Viele führende Fachvertreter der Zeit denken in eine ähnliche Richtung. Raimund Friedrich Kaindl (1903, 46) z. B. meint in seinem Grundlagenbuch Die Volkskunde: Was der geistreiche F. Max Müller in seinen Vorlesungen Indien in seiner weltgeschichtlichen Bedeutung über die heilsame Wirkung des vergleichenden Sprach­studiums bemerkt, dass es die Verbreitung eines Gefühles der engsten Brüderlichkeit bewirkt, so dass wir uns zuhause fühlen, wo wir zuvor Fremdlinge gewesen waren, und Millio­nen so genannter Barbaren in unser eigenes Fleisch und Blut verwandelt; das gilt in vollem Maße von der vergleichenden Volkskunde. Die spätere faschistische Volkskunde hat solche Auffassungen als liberalistische oder jüdische Ideologie gebrandmarkt, welche an der »völkischen Eigenart der Deutschen« und an der Rassenverschiedenheit des »Ewig-Unterschichtliche(n) des Kulturlebens« (Mackensen 1937, 6 und 37) vorbeigehe. Matthes Ziegler (1934, 712) schimpft 1934 in seiner Volkskunde auf rassischer Grundlage: »Die utopistische Lehre von der Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt, hat sich in unserer Frühgeschichtsforschung und Volkskunde in

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gleicher Weise verhängnisvoll ausgewirkt.« Die Nazis, so scheint es, haben das im primitivistischen Ansatz enthaltene kritische Potential besser erkannt als manche Fachhistoriker der letzten Jahrzehnte. Der archaisierende Blick Die evolutionistische Parallelensuche macht die sich etablierende Volkskunde zum Vorläufer einer Europäischen Ethnologie. Fast die Hälfte der Abhandlungen, die zwischen 1890 und 1914 in der Zeitschrift des Vereins für Volkskunde erscheinen, behandelt interkul­turelle und außerdeutsche Themen (vgl. Warneken 1999, 176 f.). Freilich war es kein wirklicher Kulturvergleich, der damals betrieben wurde, sondern eben bloß ein Vergleich von survivals untereinander oder mit vor- oder außerzivilisatorischen Kulturtatsachen, in denen deren ursprüngliche, »volle« Form vermutet wurde. Wäre man sich dabei durchweg bewusst gewesen, dass man nur vor- oder außermoderne Segmente oder Bauteile der untersuchten Gegenwartskulturen, z. B. der deutschen Bauernkultur, erfasste, so wäre gegen ein solches selektives Suchprogramm – abgesehen von seinem evolutionistischen Ordnungssche­ma – nichts einzuwenden gewesen. Doch das ja unter »Volkskunde« und nicht unter »volkskundlicher Primitivismus« firmierende Fach neigte von Anfang an dazu, die nichtmodernen Momente in der »Volkskultur« zu überzeichnen: althergebrachtes Gewohnheitshandeln zu unterstellen, wo längst bürgerliche Rechtsformen adaptiert worden waren; nur dort hinzusehen, wo unreflektiert-kollektive Kulturmuster leicht unterstellt werden konnten, wie z. B. bei Festbräuchen, aber individualisierte Denkformen, wie sie z. B. in popularer Autobiographik greifbar waren, zu übersehen oder wegzuinterpretieren; oder auch dort irrationale Gewohnheit zu unterstellen, wo durchaus rationales Kalkül Pate gestanden hatte (also, um ein Miniaturbeispiel zu nehmen, das schnelle Schnapskippen der Landarbeiter sofort nach Arbeitsschluss nicht als Ausdruck wilder oder verwilderter Sitten, sondern als sinnvolle Regenerationsstrategie anzusehen, die baldiges Einschlafen zeitigte und damit morgendliches Fitsein eher gewährleistete als der lange, bürgerlich-gemütliche Bierabend). Dieselbe Tendenz zur Archaisierung mit der Moderne zumindest vermittelter Phänomene lässt sich für die volkskundliche Auffassung vom kollektiven Unbewussten feststellen. Zwar gibt es durchaus Ansätze dazu, gruppengemeinsame Denk- und Hand­­lungs­­muster als spontanisierte, aber der bewussten Formung nicht entzogene Produkte aktueller oder jüngst vergangener, mithin auch moderner sozialer Entwicklungen zu sehen. So kommt der Schweizerische Volkskundler Eduard Hoffmann-Krayer (1897, 10) in manchem dem Habitusbegriff nahe, wenn er »Volk« einen »sozialen Begriff« nennt, die Gemeinsamkeit bestimmter Vorstellungen als »durch äußere Lebensumstände bedingt« bezeichnet und postuliert, dass das Gewohnheitsmäßige zwar »mechanischen« Charakter habe, jedoch auch von »intentionellen Geistesbewegungen« aufgegriffen und weiter ausgebildet werden könne.6 Oft jedoch werden kollektive Habitusformen weniger als Sozialprodukt denn als psychophysisches Erbgut behandelt, was dadurch erleichtert wurde, dass vor allem von den leichter biologisierbaren ethnischen Gemeinsamkeiten, von »Volksgeist« oder »Volksseele«, und nicht von Schicht- oder Klassengeistigkeiten die Rede war.

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Freilich darf die »List der Vernunft« nicht übersehen werden, die in der einseitig auf survivals der Vormoderne gerichteten und dabei vieles als survival fehldeutenden Kulturforschung waltete: Die Meinung, in bäuerlichen Hochzeitsbräuchen, in popularen Rätseln oder Flüchen die Überreste weit in die Menschheitsgeschichte zurückreichender Weltbilder und Handlungssysteme vor sich zu haben, war eine wesentliche Bedingung dafür, außerhalb der Hochkultur liegende Kulturgüter und damit auch vieles an der Kultur unterbürgerlicher Schichten als wissenschaftswürdig anzuerkennen. Die Neigung, »für jeden Trödel im Namen der ›uralten Sage‹ Ehrerbietung (zu begehren)« – so einmal August Wilhelm Schlegel (1847, 391) über die Grimms –, führte nicht nur zu Mystifikationen, sondern auch zu Sammlungen, mit deren Hilfe sich diese Mystifikationen heute korrigieren lassen, und zur Institutionalisierung kulturwissenschaftlicher Aufmerksamkeitsrichtungen, die ihren ideologischen Ursprung überlebt haben. Eines der Beispiele hierfür ist die volkskundliche Frauenforschung. Der primitivistische Glaubenssatz, dass Frauen eine tiefere Stufe der Zivilisation repräsentierten, war auch noch in seiner freundlichen Fassung, dass Frauen noch nicht »verbildet« und »verzogen« (Kopp 1903, 463) seien, eine patriarchalische Zumutung. Immerhin setzte er der Rede von dummen Ammenmärchen und banalem Weibergeschwätz den Satz entgegen, dass es »die Weiber« seien, »die die alte Überlieferung treulich festgehalten haben« (Otto 1898, 362). Alltagsleben und Alltagskultur von unterbürgerlichen Frauen werden dabei zwar nur ausschnittsweise und diese vorzugsweise in tradierten Rollen, aber immerhin mehr als in Nachbarwissenschaften wie Historik und Germanistik wahr und ernst genommen. Das schließt ein, dass Frauen häufig als »Gewährsmänninnen« aufgesucht und, wenngleich viel seltener, auch als kompetente Sammlerinnen geschätzt wurden – bescheidene Anfänge einer Feminisierung von Wissenschaft. Das Interesse am Körper Ein anderes, die Volkskunde bis heute begleitendes Erkenntnisinteresse, wurde ebenfalls durch den primitivistischen Ansatz gefördert: das Interesse an leibnahen Praktiken, an Körperkultur. Die Bräuche um Schwangerschaft und Geburt, Essen und Trinken, Krankheit und Ster­ben, d. h. der kulturelle Umgang mit (zumindest bislang) universalen, da mit der (bisherigen) Natur des Menschen verbundenen Phänomenen boten sich der Suche nach epochenund länderübergreifenden »Elementargedanken« und deren evolutionärer Entwicklung ja tatsächlich an erster Stelle an. Die Suche nach vorzivilisatorischen Anteilen der Gegenwartskultur führte auch zu Untersuchungen über die so genannten »niederen Sinne«: Max Höfler (1893, 439) z. B. arbeitete über den Geruchssinn, den er mit dem Nahrungs- und Geschlechtstrieb verbunden sah, »diese(n) mächtig drängenden Faktoren in der menschlichen Kulturgeschichte«. Friedrich S. Krauss erklärte es zu einer zentralen volkskundlichen Aufgabe, sich mit »Erscheinungen des so genannten rohesten, abscheulichsten, verächtlichsten Triebes, des Geschlechtstriebes« zu beschäftigen und »endlich genau zu ermitteln, wie

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die Zähmung des ursprünglichsten und allerkräftigsten Triebes, der von der Menschwerdung der Primaten an bis auf die Gegenwart hinein auf die Geschicke der einzelnen und der Völker entscheidend einwirkt, vor sich geht« (Anthropophyteia, 1904, VII f.). Wenngleich das Aufstöbern und Veröffentlichen oftmals drastischer erotischer Folklore, das Krauss praktizierte, viele Fachgenossen irritierte bis abstieß, wurde sein sexualvolkskundliches Programm als solches doch von vielen prominenten Vertretern der internationalen Volks- und Völkerkunde begrüßt. Zu den Redaktionsmitgliedern der von Krauss herausgegebenen sexualkulturellen Zeitschrift Anthropophyteia gehören neben Volkskundlern wie Guiseppe Pitré und Völkerkundlern wie Franz Boas und Karl von den Steinen auch der Mitbegründer der modernen Sexualforschung, Iwan Bloch, und seit 1910 Sigmund Freud. Einen Augenblick lang öffnet sich eine im Wissen um die spätere Fachentwicklung nicht anders als sensationell zu nennende Perspektive: ein Zusammenwirken der Volkskunde mit den neu entstehenden Disziplinen Sexualwissenschaft und Psychoanalyse. Dass diese, nicht zuletzt aufgrund der primitivistischen Implikate des Freudschen Ansatzes durchaus gegebene Möglichkeit schließlich doch nicht realisiert wurde, hat seinen Grund nicht nur in auch innerwissenschaftlich wirksamen Sexualtabus, sondern in allgemeineren kultur- und gesellschaftspolitischen Implikaten des volkskundlichen Projekts, von denen nun zu reden sein wird. Die re-volutionäre Dimension

Eines der ersten Periodika der neuen Disziplin Volkskunde war die Zeitschrift Am Ur-Quell. In ihrer Präambel heißt es: »Das Volkstum ist die Urquelle aller Kenntnisse über ein Volk, das Volkstum ist aber auch der Völker Jungbrunnen, der sie jung erhält, der sie, wenn ihnen Unter­gang droht, verjüngen kann« (Krauss 1890, 2). Volkskultur nicht nur als Geschichts-, sondern auch als Heilquelle, der Primitivismus nicht als bloße Rekonstruktion eines kulturellen Evolutionsprozesses, sondern als Instrument einer Re-volution, einer Erneuerung der Moderne – diese Intention wird mit dem Ende des 19. Jahrhunderts in der Volkskunde immer einflussreicher. Noch 1878 hatte Wilhelm Mannhardt (1878, 3) in Die praktischen Folgen des Aberglaubens schreiben können, auch dem deutschen Volk sei es nicht erspart worden, in seiner Mitte zahlreiche Individuen, ja ganze Bevölkerungs­grup­ pen mitzuführen, welche mit einem großen Teile ihrer geistigen Habe tief unter dem Kulturstandpunkte ihres Volkes stehen geblieben und dadurch ein schwer­wiegendes Hem­ m­nis des weiteren sittlichen und intellektuellen Fortschrittes geworden sind. Zwei Jahrzehnte später herrscht im Fach ein anderer Ton. So sagt z. B. Albrecht Dieterich (1902, 173) in seinem schon zitierten Vortrag Über Wesen und Ziele der Volkskunde:

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Über die Zeit sind wir ja theoretisch wohl hinaus, da der Gebildete sich bewusst verach­ tend trennte von allem Treiben des ungebildeten Volkes und mitleidsvoll herabsah auf Altweibergeschichten, sinnlose Bauernsitten oder den unglaublichen, der aufgeklärten Zeiten unwürdigen Aberglauben: wenigstens gibt es doch heute meist noch etwas andere Gesichtspunkte demgegenüber als den verächtlichen oder fanatischen Wunsch der Ausrottung. Diese Wertschätzung des Volkskulturell-Primitiven, das Motive der romantischen Volkskulturauffassung auf evolutionstheoretischer Basis fortsetzt, das also Jacob Grimm darwinistisch renoviert, reiht sich ein in das wachsende »Unbehagen in der Kultur«, sprich: in der kapitalistisch-bürgerlichen Zivilisation, das sich Ende des 19. Jahrhunderts ausbreitet (und allein schon wegen des unerhörten Tempos der Urbanisierung, Technisierung, Verschulung, Verwissenschaftlichung usw. alles andere als erstaunlich ist). Von einigen Volkskundlern werden die Gründe für dieses Unbehagen auch durchaus reflektiert und – zumindest ansatzweise – kultursoziologisch verortet. Dabei wird zum einen von einer durch wachsende Ausdifferenzierung und Autonomisierung geistiger Arbeit entstandenen Kluft zwischen »Gebildeten« und »Volk« gesprochen, die im gesamtgesellschaftlichen, im nationalen Interesse überwunden werden müsse; zum andern von einer sozialen und seelischen Verarmung der neuen Bildungsschichten durch die wachsende Individualisierung und Rationalisierung ihrer Tätigkeiten. Prägnant fasst Adolf Strack beide Aspekte zusammen, wenn er von den »künstlichen Schranken« spricht, welche den Gebildeten »von seinem Volke und einem guten Teil seines eigenen Selbst trennen« (Verband deutscher Vereine für Volkskunde 1906, 13). Nun stellen weder das Konstatieren einer solchen doppelten Entfremdung noch der Versuch, ihr durch den Rückgriff auf »primitive« Kulturmuster begegnen zu können, als solche schon eine spezifisch volkskundliche Programmatik dar. In dieser allgemeinen Form sind sie Teil einer breit gestreuten Modernekritik, die – je nach sozialer Position und Positionierung – ganz unterschiedliche Unkosten des Zivilisationsprozesses ansprach und kultur- und gesellschaftspolitisch unterschiedliche Ziele verfolgte. Freunde der Volkskunst und Fans der Avantgardekunst, religiöse Erneuerungsbewegungen und libertäre Sexualreformer, marxistische und anarchistische ebenso wie völkische und rassistische Theoretiker riefen zur Besinnung auf frühere Kulturqualitäten, welche die bürgerliche Gesellschaft zerstört oder unterdrückt habe. Auch der volkskundliche Primitivismus ist keine einheitliche Bewegung, sondern zeigt bei den Fragen, welche »primitiven« Kulturgüter vor allem rettungswürdig seien und für welche gesamtgesellschaftliche Ordnung sie gerettet werden sollten, wenn nicht deutliche Unterschiede, so doch unterschiedliche Deutlichkeiten. Der volkskundliche Mainstream tendiert allerdings von Anfang an zu ideologischen Verengungen, er entwickelt die kulturell und politisch produktiven Seiten des zeitgenössischen Primitivismus nur sehr partiell.

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Die Sympathie fürs Kollektive Eine wesentliche Rolle spielten im re-volutionären Primitivismus z. B. die Konstruktion oder Rekonstruktion vormoderner Kollektivstrukturen: »staatslose« Selbstregierung, Gemeinbesitz, genossenschaftliche Produktions- und Distributionsformen, familienübergreifende Netzwerke. Die Entdeckung bzw. Behauptung, dass solche Vergesellschaftungsweisen – zumal auf einheimischen Boden – funktioniert hatten oder teilweise noch funktionierten, kratzte am Normalitätsanspruch der herrschenden Wirtschafts- und Politikmuster und beflügelte die soziale Phantasie. Ein früher Beleg hierfür: Lewis Henry Morgans (1908, 475) einflussreiche Untersuchung Ancient Society mündet in die Sätze:

Demokratie in der Verwaltung, Brüderlichkeit in der Gesellschaft, Gleichheit der Rechte, allgemeine Erziehung werden die nächste höhere Stufe der Gesellschaft einweihen, zu der Erfahrung, Vernunft und Wissenschaft stetig hinarbeiten. Sie wird eine Wiederbele­ bung sein – aber in höherer Form – der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit der alten Gentes. Ein später Beleg: Marcel Mauss’ Studie Die Gabe von 1925, welche »Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften« behandelt, endet mit moralischen, soziologischen und ökonomischen Schlussfolgerungen, welche dem kapitalistischen und imperialistischen Gegenwartseuropa ein Modell von Schenk-, Bündnis- und Handelsbeziehungen entgegensetzt, die ein gruppenegoistisches und nur am kurzfristigen Erfolg orientiertes Gewinn- und Machtstreben ausschließen. Mauss’ Untersuchung vormoderner Schenk- und Erwiderungspflichten stützt sich nicht zuletzt auf Forschungsarbeiten deutscher Volkskundler (vgl. Mauss 1999, 150); die Tendenz seiner Folgerungen jedoch war deren Sache nicht. Die Sympathien, welche aus damaligen volkskundlichen Darstellungen »primitiver« Kollektivstrukturen herausklingen, gelten kaum je sozialistischen oder auch nur genossenschaftlichen Programmatiken; sie nehmen im Gegenteil, wo sie konkreter werden, schnell politisch reaktionäre Züge an. Das nicht schon deshalb, weil das Kollektivleben vor allem als ländliches auftaucht; auch sozialistische Programme und Bewegungen dieser Epoche – von den russischen Narodniki bis zu dem Anarchismus eines Gustav Landauer – wollen an dörfliche Traditionen anknüpfen. Das Problem ist vielmehr, dass viele Volkskundler der Zeit in ihrer Darstellung kollektiver Volkskultur rigide Formen der Inklusion und Exklusion – autoritäre soziale Kontrolle, Abschottung gegen Fremde – übergehen oder gutheißen und dass sie nicht so sehr den Bourgeois zu sozialer Verantwortung aufrufen als den Citoyen von »zersetzendem« Individualismus zurückpfeifen. Erschwerend kommt hinzu, dass meist gar nicht auf unterschichtliche – kleinbäuerliche, unterbäuerliche, plebejische usw. – Kollektivstrukturen rekurriert wird, sondern hierarchisch geordnete Sozialgebilde zur »Gemeinschaft« erklärt werden. Allerdings ordnet sich die volkskundliche Forschung dabei nicht immer so deutlich politischen Interessen zu, wie das Eugen Mogk mit seiner Polemik gegen die Sozialdemokratie und seiner Verherrlichung deutscher Gefolgschaftstreue tut (Mogk 1904, 5). Meist bleibt

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es bei Manifestationen eines Leidens an sozialer Konkurrenz und sozialer Isolation und einer unbestimmten Sehnsucht nach Integriertheit und Gemeinschaftssinn, die politisch noch durchaus mehrdeutig ist. Ein anderes Problemfeld ist der volkskundliche Umgang mit dem »primitiven Geistesund Seelenleben«, mit kognitiven, ästhetischen, moralischen und emotionalen Potentialen tradierter Volkskultur. Eugen Mogk (1900, 274) spricht eine damals weit verbreitete, wenn nicht herrschende Lehrmeinung aus, wenn er das »Volk« der Volkskunde folgendermaßen charakterisiert: Unter »volkstümlich« fassen wir alles das zusammen, was dem Volke eigentümlich ist. Dabei verstehen wir unter Volk nicht die Gesamtheit der unter gemeinsamen Gesetzen vereinten Menge, sondern nur die Schichten der Bevölkerung, die im Gegensatz zu den Gebildeten einer wissenschaftlichen Erziehung und Ausbildung entbehren und deren ganzes Denken, Fühlen und Wollen nicht in die Zwangsjacke logischer Folgerichtigkeit und reifer Überlegung eingeengt ist. Hier herrscht nicht geschulter Verstand, sondern angeborner Mutterwitz, natürliches Gefühl und eine heilige Scheu vor dem Überlieferten. Mit diesen angeerbten Eigenschaften trifft der gemeine Mann in seinen Handlungen nicht selten das Richtige, und wenn ihn auch hier und da der Gebildete mit seinem geschulten Verstande nicht zu begreifen vermag, so spricht doch auch aus der unverstandenen Handlungsweise Herz und Gemüt (…). Eine janusköpfige Argumentationsfigur: Einerseits betreibt sie die bekannte bürgerliche Selbstüberhebung weiter, die den unteren Sozialschichten das logische Denken abspricht, andererseits attribuiert sie diesem primitiven Denken einige den »höheren« Verstandestätigkeiten ebenbürtige oder gar überlegene Qualitäten. Strukturell ist dies genau die Sichtweise, die Lucien Lévy-Bruhl (1959) zwanzig Jahre später in La mentalité primitive in elaborierter Form vorlegt: die Konstruktion eines von Logik, Selbstreflexivität und Individualität unbeleckten, gleichwohl semantisch reichen und pragmatisch effektiven Denkens nichtzivilisierter Völker. Immerhin wird in diesem sei’s auch vergifteten Lob die Volkskultur nicht nur, wie im rein-evolutionistischen Zugriff, ein in die Menschheitsgeschichte zurückverweisender Quellenwert, sondern überdies ein aktueller Gebrauchswert zugesprochen. Es wird anerkannt, dass »primitive« Kultur Sinn machen kann – für ihre Träger, ja möglicherweise auch für ihre bürgerlichen Entdecker, d. h. Volkskultur wird zu einer prinzipiell legitimen Kultur­option. Es sind dabei nicht nur – wie man argwöhnen könnte und wie es bei Mogk auch der Fall ist – primitive Gefühls- und Glaubenskraft, die anerkennens- und aneignenswert erscheinen, sondern auch populare Wissensbestände und Verfahrensweisen. Volksmedizin wird potentiell zur Alternativmedizin, Formen und Farben der Volkskunst werden zum Ferment moderner Kunstproduktion (vgl. Korff 1994). Und wenngleich oft die Sehnsucht nach dem »Einfachen«, dem »Reinen«, dem »Naiven« ins Forschungsfeld führt, wird man bei der näheren Betrachtung der Fundstücke dann unter Umständen eben doch komplexer Strick- und Denkmuster gewahr, entdeckt man in scheinbar trivia-

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len Brauchhandlungen mehrbödige Semantiken, ausgefeilte Regelsysteme und Geschichtsphilosophien, kurzum statt der primitiven Alternative zum Intellekt die Manifestationen eines alternativen Intellekts. Zugespitzt gesagt: Dass die Primitiven nicht primitiv sind, ist eine Entdeckung von Primitivisten. Primitivismus light Allerdings ist die »Primitivität«, welche die Volkskunde interessiert, relativ eng umgrenzt, der volkskundliche Geschmack am tatsächlich oder scheinbar Vorrationalen, am Unzivilisierten ist relativ wählerisch. Zum einen wird, den oben zitierten gegenteiligen Absichtserklärungen zum Trotz, im Forschungsalltag vor allem die bäuerliche Kultur zum Gegenstand genommen – das schreckende und lockende »innere Afrika« ( Jean Paul) in den Bürgern, welches die damalige Psychoanalyse zu erkunden sucht, wird letztlich ebenso selten inspiziert wie die Wildheit und Verwilderung der Großstädte, welche die primitivistische Avantgardekunst in ihren Fokus einbezieht. Zum andern ist die Aufmerksamkeit auf das »primitive Erbe« in der Bauernkultur recht selektiv. Gefiltert wird es z. B. durch quasi-touristische Bedürfnisse – mit Alois Riegl (1895, 5) ausgedrückt: ein »Bedürfnis nach Weltflucht«, das »den modernen Städter so häufig aus dem nervenaufregenden Allerlei seiner Berufsthätigkeit in die besänftigende Muße ländlicher Abgeschiedenheit treibt« – , aber auch durch volks- und nicht zuletzt schulpädagogische Interessen (die mit Abstand stärkste Berufsgruppe unter den Vereinsmitgliedern und Sammlern der damaligen Volkskunde sind die Lehrer), die dazu beitragen, dass sich die Suche nach alternativen volkskulturellen Werten doch in Rufweite des herrschenden Geschmacks und der herrschenden Moral abspielt. So begnügt man sich z. B. bei den Medien und Genres der Kommunikation weitgehend mit »Primitivismus light«. Die Suche nach dem »Elementaren, Einfachen, Natürlichen« führt meist nicht wirklich hinaus ins rough, sondern endet auf dem hausnahen pleasure ground. »Rohe« Ausdrucksformen wie z. B. das Schreien oder das Pfeifen erhalten, obwohl sie (nicht nur) im popularen Alltag und darüber hinaus zweifellos eine nicht unerhebliche bedeutende Rolle spielen, nur geringe Aufmerksamkeit. Man hält sich weitgehend an bereits sprachlich und literarisch Elaboriertes wie das Lied, das Märchen, das Rätsel, kurz an das »poetische Element im Leben des Landvolkes« (Hauffen 1910, 296). Geschmacksrücksichten stehen auch der Beschäftigung mit anderen »elemen­taren« Lebens­tatsachen im Wege. So wird z. B. der Umgang mit den körperlichen Ausscheidungen einschließlich der dafür vorhandenen Sachkultur und der darauf bezogenen Kommunikation nirgends eingehender untersucht. Auch Max Höflers Aufsatz über das Riechen und dessen volkskulturelle Ausprägungen ist eine Ausnahme. Sehr begrenzt ist zudem die volkskundliche Tätigkeit auf dem – oben schon angesprochenen – Sektor Sexualkultur, der im außervolkskundlichen, sei’s wissenschaftlichen, sei’s künstlerischen Primitivismus bekanntlich eine zentrale Rolle spielt. Gewiss finden sich immer wieder Bekundungen, dass die Volkskunde ländliche Sitten und ländliche Sittlichkeit nicht gleichsetzen dürfe, dass, »W­er objektiv, d. h. wahrhaft forschen will, (…) nicht vor dem so genannten Unsittlichen Halt machen« (Anthropophyteia 1906, 18) dürfe und dass nach bürgerlichen Begriffen Unsittli-

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ches in popularen Bräuchen, Mythen, Rätseln, Witzen usw. eine nicht unbedeutende Rolle spiele. Und als Friedrich S. Krauss dem volkskulturellen Umgang mit Sexualität eine eigene Zeitschrift widmet, registrieren viele Fachkollegen dies als durchaus verdienstvoll (z. B. Anonym 1899; Poliivka 1906, 212 f.). Allerdings bleibt dieses Interesse an Sexualforschung bei den allermeisten Volkskundlern platonisch. Unter den fast 150 Autorinnen und Autoren, die in der Anthropophyteia veröffentlichen, ist außer Krauss selbst kein einziger bekannter Volkskundler. Zu Recht bemerkt Krauss (1897, 256), »dass der größte Teil aller Folklore-Sammlungen gerade betreffs der nach jeder Rich­tung hin belangreichen, auf das Geschlechtsleben bezüglichen Überlieferungen ängstliches Stillschweigen beobachtet.« Dabei handelt es sich freilich nur zum Teil um eine freiwillige Selbstkontrolle, welche unter anderem mit der engen Verzahnung von volkskundlicher und volkspädagogischer Arbeit erklärbar ist. Vielmehr ist hier auch eine spezielle Ausprägung von deutscher Ideologie beteiligt, welche den beliebten Phantasien von den sexualitätsbesessenen »Naturvölkern« der Gegenwart die Phantasie eines keuschen Germanentums hinzufügt. Als erste und erstrangige Quelle für diese Theorie dient dabei Tacitus, der die Germanen bekanntlich zum Gegenbild des verderbten Rom stilisiert. Auf ihn bezieht sich z. B. Eugen Mogk (1903, 279), wenn er die althergebrachte Keuschheit der deutschen Jugend und der deutschen Frauen preist und den Germanen wenn überhaupt eine, so nur eine »gesunde Geschlechtsliebe« zuspricht.7 Dass in deutschen Dörfern der Gegenwart zum Teil andere, lockerere Sitten herrschten, will Mogk (1903, 280) zwar nicht leugnen, doch erklärt er dies zum Einfluss »fremden Geistes«. Es kann mithin als legitim gelten, diese Erscheinungen aus dem Fokus zumindest einer nur an »deutscher Eigenart« interessierten Forschung herauszulassen. Die Phantasien Mogks geben einen Vorgeschmack der nationalsozialistischen Version und Perversion des Primitivismus. Diese zieht einerseits, wie erwähnt, einen tiefen interkulturellen Graben zwischen »fremdrassiger« und »eigener«, germanischer oder arischer Vormoderne (wobei man das Wort »primitiv« am liebsten für die erstere reservieren möchte), andererseits schüttet sie den historischen Graben zwischen der germanischen Kultur zu Tacitus’ Zeiten und der deutschen Volkskultur der Gegenwart mit jeder Menge Mutterboden zu. Wo immer man auf nationalsozialistisch erwünschte Kulturmuster trifft, entdeckt man in ihnen »germanische Kontinuität«, insbesondere in »Mannhaftigkeit, Tapferkeit, Heldentum« (Fehrle 1935, 10 f.) – Eigenschaften, die nicht zuletzt für den nationalsozialistischen Krieg gebraucht werden. Es wird noch lange dauern, bis sich die Germanen von dieser posthumen Indienstnahme erholt haben. Postprimitivismus

Der Rückblick auf die volkskundliche Forschung Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts hat zum einen theoretische und methodische Fehler, vorsichtiger gesagt: Fragwürdigkeiten des primitivistischen Paradigmas herausgearbeitet, zum anderen jedoch auch auf dessen produktive Potentiale hingewiesen, die sich z. B. in der Beachtung und der Bewertung nach

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herkömmlichem Maßstab »niederer«, »unzivilisierter« Kulturmuster zeigten, und zuletzt zu belegen versucht, dass die damalige volkskundliche Forschung diese Potentiale nur partiell genutzt hat. Als Konsequenz aus dieser Sichtung der primitivistischen Erbschaft des Fachs ergibt sich für mich das Programm eines kritischen Postprimitivismus. Dieses beinhaltet zum einen, an den Fragestellungen des evolutionären Primitivismus – unter Kritik seiner theoretischen Prämissen – weiterzuarbeiten: d. h. nach dem Stellenwert vormoderner und nichtmoderner (einschließlich biologischer) Faktoren im gegenwärtigen Alltagsdenken und -handeln zu fragen und sich mit darauf bezogenen wissenschaftlichen und Laientheorien auseinanderzusetzen. Zum andern impliziert es eine Beschäftigung mit re-volutionär-primitivistischen Theorien, Alltagstheorien und Bewegungen, mit ihrer Geschichte ebenso wie mit ihren aktuellen Transformationen und Varianten. Einige Themen- und Problemfelder dieser postprimitivistischen Kulturwissenschaft seien abschließend skizziert. Das »Elementare« Der primitivistische Versuch, aus Zeugnissen der Volkskultur ur- bis ungeschichtliche »Elementarteilchen« menschlichen Denkens und Handelns rekonstruieren zu können, gilt heute zu Recht als eine Ur-Illusion der Volkskunde. Immerhin, so haben wir erinnert, förderte er das Forschungsinteresse am Umgang mit »Grundbedürfnissen« – Essen, Trinken, teilweise auch der Sexualität – sowie mit »Naturtatsachen« wie Geburt, Krankheit und Tod. Vieles, nicht zuletzt das, trotz mancher Öffnungen, weiter bestehende »anthropologische Defizit« ( Joas 1996, 251) in Soziologie und Historik spricht dafür, diese Aufmerksamkeitsrichtung beizubehalten und Geschichte wie Gegenwart des Verhältnisses zum eigenen Körper als einen volkskundlich-kulturwissenschaftlichen Arbeitsschwerpunkt beizubehalten und auszubauen. Dies freilich unter bestimmten Prämissen. Zu diesen gehört zunächst, menschliche »Natur« als »menschliche« Natur zu verstehen, die zwar Tierverwandtes enthält, deren besondere Qualität jedoch im Bruch mit dem »Naturinstinkt« und der Fähigkeit zur »konstruktiven Selbststeuerung« ( Jean Piaget) besteht – weshalb der Satz gilt: »Das Unwandelbare am Menschen ist seine Wandelbarkeit« (Böhme/ Matussek/Müller 2000, 131 f.). Da diese Wandelbarkeit aber nicht beliebig ist, sondern an – generelle oder nur historische – Grenzen der Beherrschbarkeit von Naturvorgängen stößt, lässt sich doch zumindest »bisher Elementares« (wie z. B. das Geborenwerden von einer Mutter, Essbedürfnis, Schlafbedürfnis, sexuelles Begehren, Sterblichkeit) fokussieren – allerdings nicht mit dem Ziel, Bäume in Bretter zu verwandeln, sondern einerseits, um historisch und interkulturell unterschiedliche Formen des Umgangs mit diesem Elementaren d. h. Gemeinsamen herauszuarbeiten und damit die menschlichen Wahlmöglichkeiten innerhalb von Natur- bzw. Naturbeherrschungsgrenzen zu demonstrieren, andererseits aber auch, um interepochale und -kulturelle Bezüge auszuloten, d. h. neben der Gefahr von Unabänderlichkeits-Auffassungen die Gefahr von falschen Grenzmarkierungen zu vermeiden. Aktuelle Untersuchungsfelder des Fachs sind dabei insbesondere alltagstheoretische und -praktische Umgangsweisen mit der kulturwissenschaftlichen oder kulturavant-

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gardistischen Infragestellung von common-sense-Elementarismen – etwa der Existenz von Geschlechtscharakteren – sowie mit der medizinisch-praktischen Aufhebung bisheriger anthropologischer Elementartatsachen.8 Eine zweite Prämisse ist der Abschied vom kulturevolutionistischen Paradigma des Primitivismus, der eine Entwicklung von einem tiernahen, von »elementaren« Triebbedürfnissen getriebenen zu einem zivilisierten und rationalen Menschen unterstellte und diese Wildheit auch noch in »zurückgebliebenen« Unterschichtkulturen der Gegenwart repräsentiert sah (wobei freilich, wie dargestellt, nicht eine klare Dichotomie, sondern graduelle Unterschiede, d. h. statt Brüchen Brücken postuliert wurden). Sicherlich gibt es innerhalb bestimmter Kulturen und über bestimmte Zeiträume hinweg »Prozesse der Zivilisation«. Fragwürdig ist jedoch z. B. die in Alltags- wie Wissenschaftsdiskursen verbreitete Assoziation von rücksichtsloser Gewaltausübung – des kollektiven Totschlags auf der Straße bis hin zum Völkermord in Konzentrationslagern – mit einem »Rückfall in die Barbarei«. Sie enthält die Tendenz, den Status des Barbaren zu historisieren oder zu exterritorialisieren (vgl. dazu Bonß 1996). Wo Gewalt als »entfesselt«, als »roh« bezeichnet wird, welche die »dünne Patina der Zivilisation« durchbrochen habe, wird die Möglichkeit von Gewalt als Binnenproblem, als Resultat der Moderne – z. B. als Ausfluss eines totalitären Macht- und Gestaltungsanspruchs – beiseite geschoben. Das prinzipiell gleiche othering findet statt, wenn rassistische und faschistische Gewalt primär mit Dumpfheit und Dummheit und im nächsten Zuge mit unteren Bildungsschichten zusammengebracht wird – und man immer wieder von neuem darüber staunt, dass die Gestapo- und Sicherheitsdienst-Führung der Vernichtungsjahre »nicht aus ungebildeten Schlägertypen und stumpfsinnigen Barbaren bestand, sondern zumeist aus jungen Akademikern, vorwiegend Juristen, Verwaltungsfachleuten, Elite- und Rasseideologen« (Mantzke 1997). Die ethnographische Aufklärung über die selbstgerechte Illusion, die in einer solchen Primitiven-Schelte steckt, ist eine genuine Aufgabe der postprimitivistischen Volkskunde, in der die internalisierten Vorannahmen vom »primitiven Primitiven« nicht erst unter dem Druck von political correctness, sondern oft schon am ersten Abend im Forschungsfeld in Frage gestellt wurden. Tradition und Dauer

Eng verknüpft mit der Frage anthropologischer Konstanten ist die nach kulturellen Kontinuitäten, welche auf solchen Konstanten möglicherweise aufruhen. Eine der wichtigsten methodologischen und theoretischen Leistungen der Reformvolkskunde der 1960er und 1970er Jahre war es zweifellos, fehler- oder mangelhaft belegten Archaikzuschreibungen für bestimmte Bräuche, Mythen, Märchen usw. sowie der Vorherrschaft der diachronistischen über die synchronistische Fragestellung entgegenzutreten, d. h. von Traditionslinien bestimmter Formen und Formeln zu deren gruppen- und situationsspezifischen Bedeutungen und Funktionen weiterzugehen. Doch mit dieser kritischen Revision des volkskundlichen Antiquarismus hat sich nicht dessen Ausgangsbeobachtung erledigt: dass in Kultur und Lebensweise oft mehrere nacheinander entstandene Schichten nebeneinander lie-

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gen und zueinander in Beziehung treten. Die volkskundliche Kulturwissenschaft, mit den Quellensammlungen aus der Fachvergangenheit und dem quellenkritischen Instrumentarium der Gegenwart ausgestattet, bringt die nötigen Voraussetzungen mit, um sich dieser Ungleichzeitigkeit, genauer gesagt: der Gleichzeitigkeit von ungleichzeitig Entstandenem, auch weiterhin zu widmen. Was dabei das Problemfeld der langer Kulturdauer anbelangt, so wird die volkskundliche Kulturwissenschaft angesichts der fortbestehenden Neigung zur invention of archaic traditions auch weiterhin vor allem ideologiekritische Aufgaben zu erfüllen haben. Doch muss einen das abschreckende Beispiel der »Deutobolde«9, die leichtfüßig und leichtfertig Zeiten und Räume überspringen, nicht zum Dogmatiker des kulturellen Kurzzeitgedächtnisses werden lassen: Neben die Dekonstruktion behaupteter Traditionslinien sollte die ergebnisoffene Auslotung der Möglichkeit tatsächlicher und zum Teil nicht mehr bewusster Langzeittraditionen treten. Carlo Ginzburg (1990, 31) hat in seinem Buch Hexensabbat gezeigt, wie eine methodisch und theoretisch verantwortungsvolle Spurenverfolgung aussehen könnte. Seine Suche nach dem »Primären« als dem »ältesten Erreichbaren« innerhalb einer Brauch- und Glaubenstradition verfügt durchaus über die »Algebra der Kontinuität«, in der Hermann Bausinger (1987, 13) einst dilettierende Urkulturalisten unterrichtete. Ginzburgs Folgerungen, dass »ein bedeutender Teil unseres kulturellen Erbes – vermittelt über Zwischenglieder, die uns zum Großteil nicht fassbar sind – von den sibirischen Jägern, den Schamanen Nord- und Zentralasiens, von den Steppennomaden stammt« (Ginzburg 1990, 289), lassen sich gewiss dennoch anzweifeln, aber weder als wissenschaftlich illegitim noch als kulturhistorisch irrelevant oder kulturpolitisch gefährlich erklären. Die Zwecksetzungen solcher zeit- und raumgreifender Explorationen sind nun einmal nicht auf die nostalgische Suche nach Echtem statt Reproduziertem, nach Reinem statt Amalgamiertem, nach Dauer statt Wegwurf und Innovation zu reduzieren; sie können auch als notwendige Kritik an der Selbstfeier der europäischen Moderne als self-made und home-made verstanden werden, als Herausarbeitung von historischen Abhängigkeiten und logischen Zusammengehörigkeiten, welche der imaginären und der realen interkulturellen Kommunikation zugute kommt. Gewiss ist dabei immer zu beachten, dass Langzeittradierung selten zeitliche Kontinuität und nie semantische Konstanz und dass Wiederauffindung immer auch Neuerfindung von Tradition, Metamorphose und Metasemiose bedeutet. Doch diese Tatsache braucht nicht zu dem Paradoxon zugespitzt zu werden, dass kulturelles Erbe nur lebendig bleiben kann, indem es getötet wird. Die in mancher volkskundlicher Folklorismuskritik spürbare, rechthaberisch-triumphale Tendenz, mit der missverstehende oder mutwillige Kontinuitätsbehauptungen falsifiziert und auf den aktuellen Interessen- und Bedürfniskontext von historischen Rückgriffen verwiesen wird, tendiert mitunter zur funktionalistischen Verkürzung, klammert vorschnell die Frage aus, inwiefern die aktuelle Indienstnahme nicht doch auch Vermittlung von Vergangenheit und Gegenwart einschließt. Eben weil das Pantheon in Rom zur Allerheiligenkirche wurde, überlebte es; eben weil das japanische Sumo-Ringen,

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so Marshall Sahlins, auch moderne – unter anderem kommerzielle – Interessen zu bedienen vermag, blieb der Ringkampf des Gottes mit dem Erdgeist »a living tradition, precisely one that has been able to traverse history« (Sahlins 1999, 409). Doch gewiss ist es nicht nur die lange Kulturdauer, welche bei der Suche nach Un­gleich­ zeitigkeiten in der gegenwärtigen Alltags- und Popularkultur interessiert, es sind viel eher die zahlreichen Denk- und Handlungsmuster der jüngeren Vergangenheit, die in modernen Strukturen spontan weiterexistieren oder von ihnen bewusst revitalisiert und instrumentalisiert werden. Dazu gehören zum Beispiel die Nachwehen von teilweise Generationen zurückliegenden Armuts- und Krisenerfahrungen in habituellen Dispositionen wie Sicherheitsbedürfnissen oder Abstiegsängsten. Oder es geht um Institutionen wie die Kleinfamilie und das ihr entsprechende Muster familialer Solidarität – nichtkapitalistische Beziehungsformen, auf deren zumindest partielle Weiterexistenz der Kapitalismus zu seiner eigenen Reproduktion rekurrierte und auf deren Hilfe vor allem die von neoliberalen Arbeitsmarktverhältnissen Ausgegrenzten auch künftig angewiesen sind. Eine solche Ungleichzeitigkeitsforschung ist also keineswegs ein Rückfall in die Fachtradition, »Relikte« aus aktuellen Kontexten herauszulösen; es geht vielmehr darum, dem sei’s funktionalen, sei’s dysfunktionalen Zusammenwirken von vormodernen und modernen Denk- und Handlungsmustern in der Popular- und Alltagskultur nachzuspüren – mithin einer der vielfältigen Folgen der Tatsache, dass die Menschen ihre Geschichte zwar selbst machen, aber auf Grundlage vorgefundener Verhältnisse (Marx/Engels 1968, 206).10 Das postmoderne Unbehagen in der Moderne Fragt man nach einem angemessenen Umgang mit dem primitivistischen Erbe, muss über die Problemebene von Arbeitsfeldern und Themenstellungen hinaus das Verhältnis zu den re-volutionären, den modernekritischen Implikaten dieses Erbes geklärt werden – auch wenn hier befriedigende und d. h. konsensfähige Antworten besonders schwierig sind. Relativ unstrittig dürfte immerhin sein, dass die volkskundliche Kulturwissenschaft ihre Facherfahrung mit kulturromantischen bis -primitivistischen Sehnsüchten weiterhin zur Beschäftigung mit alltags- und popularkulturellen Ausdrucksformen des »Unbehagens in der Moderne« nutzen sollte. Dabei geht es nicht nur um traditionelle Formen von Moderneflucht, etwa um das deutsche Volk-Wald-Heimat-Syndrom, sondern gerade auch um deren modernisierte Varianten: um Primitivitäts-Anleihen auf dem esoterischen Lebensreform-Markt ebenso wie um unternehmenskulturelle Rekurse auf Stammesmythen und -rituale. Allerdings sollten die Wachsamkeit gegenüber Fiktionen einstmals gelungener Lebensweise und Illusionen ihrer Wieder-Holbarkeit nicht ins kulturevolutionistische Schema zurückfallen und den »Sieg der Gegenwart über die übrige Zeit« verkünden helfen. Es für denkbar, ja wahrscheinlich zu halten, dass sich von vormodernen Kulturen über Lebensauffassungen, Umweltumgang, Geschlechterverhältnis, Solidarstrukturen, Genussformen usw. einiges lernen lässt, muss überhaupt nichts mit Rückkehr-Ideen zu tun haben, sondern nur mit der Absicht partieller, Altes und Anderes in die eigene Fortentwicklung integrierender Rückgriffe; auch wird hier keineswegs antimodernistisch für komplexitäts-

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flüchtige Einfalt votiert, sondern für eine Vermehrung der kultureller Vielfalt der Moderne. »Die Fortschrittsgläubigen«, schreibt Claude Lévi-Strauss (1970, 363), »laufen Gefahr, die ungeheuren Reichtümer zu übersehen, welche die Menschheit links und rechts jener engen Rille angehäuft hat, auf die allein sie ihre Blicke heften.« Um Missverständnissen vorzubeugen: Es geht nicht darum, die hier skizzierten Themenfelder zum Zentrum volkskundlicher Kulturwissenschaft machen zu wollen, sondern lediglich um den Vorschlag, sie in einer gar nicht anders als polyzentrisch denkbaren Fachzukunft in die Forschungsschwerpunkte einzureihen. Dabei sollte deutlich geworden sein, dass diese Option für postprimitivistische Fragestellungen nicht auf Treuegefühlen gegenüber der Fachtradition, sondern auf der Überzeugung beruht, dass bei einer solchen Forschung gesellschaftliche Relevanz und fachspezifische Kompetenzen zueinander finden können. Diese postprimivitistischen Kompetenzen des Faches sind doppelten, ja widersprüchlichen Ursprungs: Sie bestehen zum einen aus konkret-empirischen Erfahrungen in Themengebieten, in denen sich das Fach einst unter primitivistischen Vorzeichen etabliert hat, und zum (gänzlich) anderen in dem methodologischen und kulturtheoretischen Instrumentarium, das sich die volkskundliche Kulturwissenschaft in der kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen primitivistischen Tradition angeeignet hat. Beide Faktoren zusammengenommen machen es möglich, dass das Fach sich mit eigener Stimme in die inner- wie außerwissenschaftlichen Auseinandersetzungen um die Beziehungen von Vormoderne, Nichtmoderne und Moderne einschaltet. Anmerkungen 1 Die Darstellung konzentriert sich auf das im engeren Sinn primitivistische Paradig­ma, das sich vor allem in der Darwin-Nachfolge seit der zweiten Hälfte des 19. Jahr­hunderts herausbildete, und geht nicht näher auf dessen – unter anderem romantische – Vorgänger oder Vorläufer ein. 2 Eine die wichtigsten Kritikpunkte zusammenfassende Darstellung bietet Kuper (1988). 3 Es wurde übrigens auch schon früh kritisiert. Friedrich S. Krauss und Th. Dragicevic z. B. warnten vor einer »schädlichen Verflachung« bei der Herstellung interkultureller Bezüge und forderten avant la lettre – Kontextualisierung ein: »Man muss trachten, jede Überlieferung innerhalb der Grenzen eines bestimmten Volkes in allen ihren Fassungen zu ergründen und sie innerhalb des engeren Bezirkes zu erklären« (Krauss/Dragicevic 1890, 41). 4 »Wie falsch es ist, auf die so genannten Wilden als auf Völker, die von uns durch eine tiefe Kluft ge­trennt seien, herabzublicken, erkennen wir, je genauer wir die Kultur­entwicklung des eigenen Volkes geschichtlich durchforschen. Wir stoßen da noch auf Spuren einer uns erschreckenden Rohheit und Wildheit, die uns beweisen können, wie die Germanen in einer nicht bloß prähistorischen Zeit auf derselben Stufe gestanden haben, als die heutigen Naturvölker« (Weinhold 1895, 109). 5 Besonders deutlich geschieht dies bei Friedrich S. Krauss: »Beliebt ist die Einteilung der Völker in kulturarme und kulturreiche, aber auch sie trifft nicht das Wesen der Erscheinung; denn trotz des schönen Wortes ›Kultur‹ ist hier das entscheidende der bloße Besitz an ›Fahrnissen‹, die man nach der Höhe der Technik und deren Hilfsmitteln beurteilt. Der einzige wahre Unterschied, den man gelten lassen

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muss, weil er geistiger Art ist, besteht in der größeren oder geringeren Masse von naturwissenschaftlichen Erfahrungen und Kenntnissen, die ein Volk als ganzes zum Erbgut hat« (Krauss 1904, 177). 6 Als Beispiel für Letzteres nennt er die Revitalisierung des Kölner Karnevals, der als volkstümliche Tradition verschwunden gewesen sei, bis 1823 ein Komitee »die Umzüge anzuordnen begann« (Hoff­ mann-Krayer 1897, 10). 7 Widerspruch gegen diese Sichtweise meldet der Germanist und Volkskundler Richard M. Meyer (1899, 21) an. Zu Meyer vergleiche Warneken (1999, 188). 8 Im kulturwissenschaftlichen Alltag werden kommunikative und interaktive Konstruk­tion von Natur­tat­ sachen und die technische Veränderung von Natur oft unter dem Begriff der »kulturellen« oder »sozialen Konstruktion« zusammengefasst und nicht selten fälschlicherweise zusammengedacht. Das Insistieren auf der Unterscheidung zwischen diesen verschiedenen Formen gesellschaftlicher Naturbearbeitung bedeutet selbstverständlich nicht, die engen Zusammenhänge zwischen ihnen zu leugnen. 9 »Deutobold Symbolizetti Allegorowitsch Mystifizynski« ist ein von Otto Lauffer erfundener, auf einen nationalsozialistischen Sinnbildforscher gemünzter Spottname (vgl. Brednich 1997, 87). 10 Hier Friedrich Engels an W. Borgius (Marx/Engels 1968, 205‑207).

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Biegsame Hofkunst und aufrechter Gang Körpersprache und bürgerliche Emanzipation um 1800

»Seht, wie der Mensch mitten unter allen niedrigen Ge­schöpfen, die ihn umringen, voll Selbstgefühls da steht (…); mit welchen weitreichenden Blicken er alles, was um ihn her ist, überschauet, sondert, ordnet, verbindet, umfasset«, schreibt Georg Joachim Zolligkofer in seinen Predigten über die Würde des Menschen von 1784. Aufrechter Gang, aufrechte Haltung sind im ausgehenden 18. Jahr­hundert wichtige Synonyme für das bürgerliche Selbst­bewußtsein. Die Frage eines dem aufsteigenden Bürger­tum angemessenen Habitus wird zum Gegenstand einer Diskussion, die medizinische, pädagogische, philosophi­sche und politische Ebenen in ausdrückliche Beziehung zueinander setzt; und es lassen sich auch entsprechende Veränderungen der Körpersprache konstatieren, in denen teilweise Prinzipien einer erst viel später, ja bis heute nicht eingelösten de­mokratischen Kultur des Körperverhaltens erprobt wer­den. Gleichzeitig zeigt sich dies Bürgerlich-Aufrechte von Anfang an als Vereinigung mehrerer und mehrdeutiger Körperprinzipien, die in der weiteren Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft entfaltet, auseinandergetrieben und doch immer wieder als scheinbar einsinnig artiku­liert werden. Die neue Gehkultur

»Aufrechter Gang« hat nicht nur mit aufrechter Körperhaltung, sondern tatsächlich auch mit Gehen zu tun: Die Propagation der selbständigen Fortbewegung, des zu Fuß Gehens, wird gegen Ende des 18. Jahrhun­derts zu einem wesentlichen Bestandteil des aufkläreri­ schen Diskurses. Das beginnt bei der frühkindlichen Erziehung: Zunehmend kritisieren Mediziner und Pädagogen das viele Drinnensitzen und Getragenwerden von Kindern sowie die Gehschulung mit Gängelwagen und Gängelband. Der Er­ziehung zum Gehen bedürfen aber nach aufklärerischer Meinung auch die Erwachsenen. Dass »Fahren Ohnmacht, Gehen Kraft« zeige und der Gang »das Ehrenvollste und Selbständigste in dem Manne« sei (Seume 1965, 7 f.), das sind nicht einsa­me Gedanken des einsamen Fußreisenden Johann Gott­f ried Seume, sondern schon zwanzig Jahre vorher Leit­sätze der bürgerlichen Avantgarde. »O! zu Fuße! zu Fuße! da ist man sein eigner Herr!«, heißt es im Bericht über einen Ausflug des Schnepfenthaler Philanthropins (Salzmann/André 1786, 93), und wie Seume über den König spottet, der »ohne allen Gebrauch seiner Füße sich ins Feld bewegen lässt« (Seume 1965, 8), so häuft sich schon seit den 1780er Jah­ren der Spott über Adlige, die zu jeder Bewegung der Unterstützung bedürf­ten, über Personen, die »vor einem Spaziergange von einer Stunde zurückbeben« und »ihren Kräften kaum zu­trau­ten, von einem Hau-

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Gegen die »Fußschellen der Unmündigkeit«

Wie eng Gehdiskurs und Aufklärungsdiskurs inein­ander verschränkt sind, zeigt ein Vergleich von Christian August Struves Über die Erziehung und Behandlung der Kinder in den ersten Lebensjah­ren von 1803 mit Kants Beantwortung der Fra­ge: Was ist Aufklärung von 1784. Struve : »Immer gewohnt, geleitet, geführt, oder getragen zu werden, lernt das Kind kaum, seine Füße brauchen, weiß sich beim Ausgleiten nicht im Gleichgewicht zu erhalten, hält sich an alles an, und so gewöhnt sich der Mensch an fremde, sehr mißli­che, oft fehlende Unterstützung, da er doch in sich immer gegenwärtige, sichere Kräfte hat. Man merkt es bald, ob Kinder natürlich, oder erkünstelt Gehen gelernt haben; die erstem haben einen sichrern fe­sten Tritt, klettern ohne leicht zu fallen, die leztern wanken auf eine erbarmungswürdige Art hin und her, zittern vor jedem Abhang, stolpern und fallen über jeden Stein, halten sich ängstlich an die Klei­der der Wärterin.« Kant : »Dass der bei weitem größte Teil der Men­schen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem dass er beschwer­­lich ist, auch für sehr gefährlich halte: dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben. (…) Es ist also für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur ge­wor­denen Unmündig­keit herauszuarbeiten. (…) Satzungen und Formeln, die Werkzeuge eines vernünftigen Gebrauchs oder vielmehr Missbrauchs seiner Naturgaben, sind die Fußschellen einer immerwährenden Unmündigkeit. Wer sie auch abwürfe, würde dennoch auch über den schmalesten Graben einen nur unsicheren Sprung tun, weil er zu dergleichen freier Bewegung nicht gewöhnt ist. Daher gibt es nur wenige, denen es gelungen ist, durch eigene Bearbeitung ihres Geistes sich aus der Unmündigkeit heraus zu wickeln, und dennoch einen sicheren Gang zu tun.« Struve : »Diese guten Mütter sind gewöhnlich zu ängstlich, wenn ihre Kinder die Treppe steigen, oder einen Hügel hinunter laufen, da greift man dem Kinde schnell unter die Arme, ruft ihm unaufhör­lich zu, es solle sich in Acht nehmen, es werde fal­len. Dadurch wird das Kind ängstlich (…). Aber durch Fallen, wofern das Kind nicht auf dem Stein­pflaster gehen lernt, wird es sich nicht leicht be­schädigen, ein kleiner Fall macht es vorsichtig.« Kant : »Nachdem (die Vormünder) ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben, und sorgfältig verhü­teten, dass diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie sie einsperre­ten, wagen durften, so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen drohet, wenn sie es versuchen, allein zu gehen. Nun ist diese Gefahr zwar eben so groß nicht, denn sie würden durch einigemal Fal­len

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wohl endlich gehen lernen«. Struve : »(Die Kinder) dürfen sich nicht bei der Bewegung auf fremde Hilfe verlassen, sondern müssen so viel möglich, ihre eigenen Kräfte versu­chen.« Kant : »Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!« (Struve 1803, 204‑208. – Kant 1964a, 53 f.) se zum andern in der Stadt, zu Fuße zu gehen« (Vieth 1970, 151 f.). Der aufgeklärte Bürger soll Fußgänger sein: Das mindeste sind tägliche Spaziergänge bei jedem Wetter; besser noch, meinen die Philanthro­pen, sind Wanderun­gen, wobei es »zur Vollkom­menheit eines guten Fuß­­gängers gehört, dass er auch Berge nicht ach­te« (GutsMuths 1970, 88); und wie das Volk zu Fuß statt mit der Kutsche zu reisen, gilt den Protagonisten der bür­gerlichen Gehkul­tur nun nicht mehr als Armutszeugnis, sondern als Be­­weis von Unabhängigkeit und Unternehmungsgeist. Der spazierengehende oder fußreisende Bürger hat näheren Kontakt zur arbeitenden Bevölkerung als die Reitenden oder Fahrenden. Zugleich aber hebt er sich auf den ersten Blick von dieser ab: Er ist frei von den La­sten, die die Handwerker, die Bauern und die Händler aller Art durch die Straßen tragen, und er unterscheidet sich auch von den beflissen oder geschäftig Eilenden, die mit vornübergeneigtem Kopf ihren Dienst erfüllen. »Auf der Straße sehr schnell zu gehen, ist ein Merkmal von Pöbelhaftigkeit«, heißt es in einem Anstandsbuch von 1799, »da es eine Überladung der Geschäfte zu erkennen gibt. Es kann einem Handwerksmann und Krämer sehr wohl anstehen, aber stimmt nicht mit dem Charak­ter eines Mannes von Stande oder von feiner Lebensart überein« (Trusler 1799, 121). Die aufrechte Körperhaltung des bürgerlichen Spaziergängers ist aber nicht nur das Zeichen für mo­mentane Arbeitsfreiheit, sondern für bürgerliche Freiheit insgesamt. In ihr manifestiert sich ein neues Selbstbewusstsein. »Eine gewisse Würde«

In seinem 1818 erschienenen Buch Über Selbstkunde, Menschenkenntniß und den Umgang mit Menschen schreibt Carl Nicolai: »Von dem Gehorsam ist wohl zu unterscheiden die Liebedienerei und der knechtische Sinn. Davon bleibe fern.« Seine Begründung ist naturrechtlich: »Bei Eingehung der bürgerlichen Gesellschaft sollte und wollte der Mensch von seinen ursprünglichen, angebor­nen Rechten nur so wenig als möglich opfern; jene Spei­chellecker mit knechtischem Sinn machen also die Natur zu Schanden, welche nach Freiheit strebt. (…) In jedem Verhältnis verleugne daher das Selbstgefühl nicht; es kann mitunter als

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Biegsame Hofkunst und aufrechter Gang »Jetzt stand der Mensch, und wies den Sternen/ Das königliche Angesicht« (aus: Friedrich Schiller, Die Künstler). Kupferstich von Daniel Cho­dowiecki. Aus: Matthias Claudius: Sämmtliche Werke des Wandsbecker Bothen. Wandsbeck 1774.

eine Unbeugsamkeit, als eine Halsstar­ rigkeit dem Tross erscheinen, aber es ist eine hohe, die wahre Menschheit verkündende Würde« (Nicolai 1818, 19 f.). Das körper­sprachliche Vokabular in dieser Proklamation ist buch­s täblich zu neh­men: Die »Intention auf aufrechten Gang«, die Ernst Bloch als die Quintessenz der Naturrechtstheo­rien bezeichnet hat (Bloch 1961, 212), ist in der Tat auch ein Haltungspro­gramm. Carl Friedrich Bahrdt z. B. kommt in seinem Handbuch der Moral für den Bürgerstand von 1789 auch auf den körperlichen Habitus zu sprechen und empfiehlt dem Bürger »im Tone, in Gebärden, im Gan­ge, in seinen Ausdrücken eine gewisse Würde« (Bahrdt 1789, 196 f.) zu zei­gen. Eine Haltung, die »das erlaubte Selbstgefühl« aus­drücke, schlägt auch Johann Christian Siede 1797 in seiner Anstands­lehre für den bürgerlichen Mann als angemessen vor: »Tragen Sie sich gerade, ohne Hochmut und ohne Schüchternheit, ohne Prätension und Egoismus; nur nie eine kopfhängende Stellung, aber auch kein Zurückwer­fen des Kopfs« (Siede 1797, 35, 41). Wie Schiller in der Figur des sich ständig verbeugen­den Sekretärs Wurm die »biegsame Hofkunst«, den »langsamen, krummen Gang der Kabale« karikiert, so reagieren aufgeklärte Bürger mit Abscheu auf ihnen zugemutete, aber auch auf ihnen dargebrachte Haltun­gen der Unterwürfigkeit. Gesellschaftsnachrichten, Rei­seberichte, Autobiographien bieten dafür reichhaltiges Belegmaterial. Das Journal des Luxus und der Moden bezeichnet es 1787 als eine »asiatisch erniedrigende Mode, vor seinen Despoten Kniebeugungen und Knie­fälle zu machen«, und begrüßt lebhaft die Abschaffung solcher Sitten durch Kaiser Joseph II (vgl. Journal des Luxus und der Moden, 2. Bd. 1787, 89 f.). Johanna Scho­penhauer erzählt in ihren Lebenserinnerungen, wie sie in Bad Pyrmont auf die Bekanntschaft einer Herzogin ver­zichtet habe, da sie sich dabei kussbereit zu deren Rock oder wenigstens Hand herabbeugen sollte, was sie als »Zeichen leibeigener Knechtschaft« empört von sich wies (Schopenhauer 1958, 189 f.). Wilhelm Tischbein berichtet in seinen Erinnerungen, er habe sich

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»Der Wilde fällt nach seiner Erlösung dem Robinson zu Füßen«. Kupferstich in der ersten deutschen Robinson-Ausgabe von 1720

als neuernannter Akademiedirektor in Rom gleich zu Anfang »alle die vielen Zeremonien von asiatischer Höflichkeit« verbeten (Tischbein 1922, 271). Wie sehr der Ausdruck der Selbsterniedrigung dem aufgeklärten Geschmack zuwider ist, belegt eine Bemerkung des Philanthropen und Leibeserziehers Gerhard Ulrich Anton Vieth von 1786: »Selbst das demüthige Kriechen eines Hundes presst mir das Herz zusammen.«1 Das Unbehagen gilt aber nicht nur dem deutlichen kör perlichen Ausdruck asymmetrischer Beziehungen, sondern auch dem ebenfalls als unwürdig empfundenen »Komplimentieren« unter prinzipiell Gleichen. Enttäuscht berichtet Georg Forster von seiner Begegnung mit dem bekannten Amsterdamer Naturwissenschaftler Peter Camper: »(Er) machte Bücklinge die entsetzlich tief waren, schien sie aber wohl so tief wieder zu erwarten«. Ebenfalls aufklärerischer Kritik ausgesetzt sind bestimmte religiöse Unterwerfungshaltungen, so die »affektierte Selbsterniedrigung«, das »Kopfhängen« bei Pietisten (vgl. Duttenhofer 1787, 573, 580-582) oder bestimmte Formen des Kniens im katholischen Ritus, die unter Feudalismusverdacht gestellt werden. Ganz offenbar verstärkt sich die Frontstellung gegen Herrschafts- und Unterwerfungsgesten in den 1780er Jahren – die eben aufgeführten Belege beziehen sich alle auf diese Zeit. Unter dem Einfluss der Französischen Revolution kommen die herkömmlichen Interaktionsrituale dann noch mehr in Misskredit. Es wird auch diesseits des Rheins registriert, dass sich auf den Pariser Straßen und Promenaden statt ständischer Zeremonielle das knappe Grüßen, das Händeschütteln oder aber die brüderliche »accolade«, die Umhalsung, durchsetzen, und bald lassen sich auch hier analoge, wenn auch abgeschwächte Innovationen beobachten. 1799 schreibt ein Modeberichterstatter rückblickend: »So wie in dem letzten Jahrzent manche steife Bewegung verschwunden ist, um der leichtern Grazie den Platz zu lassen, so haben auch unsere Damen angefangen, die Verneigungen weniger langsam und tief zu machen« ( Journal des Luxus und der Moden, 14. Bd. 1799, 115).

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Wie sehr dem aufgeklärten Bewußtsein Unterwerfungs­rituale zum Problem geworden sind, dokumentiert Joa­chim Heinrich Campes Defoe-Bearbeitung Robinson der Jüngere (zuerst 1779). Beide Versionen ent­halten die Szene, in der Freitag sich nach seiner Rettung durch Robinson vor diesem zu Boden wirft und dessen Fuß auf seinen Kopf stellt. Defoes Robinson akzeptiert die ihm angebotene Herrenrolle als selbstverständlich: »Ich begriff das meiste, was er sagen wollte, und gab ihm zu verstehen, dass ich mit ihm sehr zufrieden wäre.« Campes Robinson jedoch wird die sklavische Geste Freitags – auch wenn er sie letztlich annimmt – zum Problem und damit zum Gegenstand einer auch sprachlich verschachtelten Re­flexion: »Robinsons’ Herz, welches die Freude über einen so lange gewünschten Gesellschafter und Freund kaum fassen konnte, hätte sich lieber durch Liebkosun­gen und zärtliche Umarmungen ergossen; aber der Ge­danke, dass es zu seiner eigenen Sicherheit gut sey, den neuen Gastfreund, dessen Gemütsart er noch nicht kannte, eine Zeitlang in den Schranken einer ehrerbieti­gen Unterwerfung zu halten, bewog ihn, die Huldigung desselben, als etwas, welches ihm gebührte, anzuneh­men, und eine Zeitlang den König mit ihm zu spielen.« (Defoe o. J., 223; Campe 1781, 59.). Veränderungen zeigen sich auch bei der symbolischen Körperverkleinerung des Hutziehens. 1792 meldet der Pariser Korrespondent des Journals des Luxus und der Moden: »Sonst grüßten wir uns, indem wir knechtisch vor einander den Huth abzogen; jetzt lassen wir freien Franken den Hut sitzen, und grüßen uns indem wir bloß die rechte Hand aufs Herz legen!« ( Journal des Luxus und der Moden, 7. Bd. 1792, 631). Dasselbe unbotmä­ßige Grüßen ist kurz darauf auch diesseits des Rheins zu fin­den. 1796 heißt es in einem Bericht aus Bad Nenndorf bei Hannover: »Man sucht Freiheit und Gleichheit mög­lichst aufrecht zu halten und diejenigen nieder zu halten, die mit Anmaßungen nach Nenndorf kommen (…) Man zieht bei Strafe vor Niemanden den Hut, sondern greift bloß an denselben« ( Journal des Luxus und der Moden, 11. Bd. 1796, 523).2 Nicht zufällig handelt es sich hier um den Bericht aus einem Badeort: Die damals in Mode kommenden Badeaufenthalte gehören zu den Probebüh­nen, auf denen Adel und gehobenes Bürgertum eine neue, Ständeschranken überwindende Geselligkeit ein­üben. Doch wie in Frankreich die nach 1789 auftauchenden strikt-symmetrischen Begrüßungsformen nach wenigen Jahren wieder aus der Mode kommen, so werden auch die bescheidenen deutschen Reformansätze auf diesem Gebiet bald wieder zurückgedrängt.3 Dennoch: Die lang­f ristige Entwicklung geht in Richtung Verkürzung und Vereinfachung des Grußzeremoniells, wobei diese Tendenz freilich neben demokratischer Gesinnung noch einen an­deren, wohl mächtigeren Verbündeten hat: die Ökonomie der zunehmend knapper werdenden Zeit.

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»Tragen Sie sich gerade, ohne Hochmut und ohne Schüchternheit, ohne Prätension und Egoismus; nur nie eine kopfhängende Stellung, aber auch kein Zurückwerfen des Kopfs« (Siede 1797, 41). »Nachlässig« und »Windbeutel« nennt Chodowiecki diese Figuren aus seinen zwölf Blättern »Sechs männliche und sechs weibliche Eigenschaften« von 1784.

Selbstdisziplin

Nun ist der aufrechte Habitus nicht nur Ausdruck individueller Autonomie in der Interaktion, sondern auch einer bürgerlichen Ordnung im Innern, nämlich der Autonomie des Willens gegenüber dem eigenen Körper; er steht nicht nur gegen den Despotismus der Feudalgesellschaft, sondern auch gegen den »Despotismus der Begierden«.4 Die gerade Stellung des Körpers, so sagt es die spätaufklärerische Anstandslehre, indiziert die Herrschaft der Vernunft nicht nur über das Faule, sondern auch über die Wollust. Aufrechter Gang heißt in diesem Zusammenhang auch: gleichmäßig und gerade seinen Weg zu gehen – im Unterschied zum sich neugierig Hin- und Herwenden, auch zum Liegen oder Sitzen, das nach verbreiteter Zeitmeinung die Sinnlichkeit, bei der Jugend gar die Onanie fördert, und im Gegensatz zum Körper und Seele erhitzenden Rennen oder zum stutzerhaften, den Körper anbietenden Tänzeln. Es ist weithin üblich geworden, in dieser neuen bürgerlichen Körperkultur primär eine verhängnisvoll-repressive Tendenz am Werk zu sehen, die an der Adelskultur vor allem humane Qualitäten wie Lebhaftigkeit, Lebensfreude, freizügige Erotik kritisiere.5 Diese Auffassung hat Viktoria Schmidt-Linsenhoff (1989) differenziert: Was aus männlicher Sicht als bloßer Zwang zum Selbstzwang erscheint, kann aus weiblicher Sicht auch die Einschränkung männlicher Bedrängungsgesten und das weibliche Recht auf Sichverweigern bedeuten. In der Tat steckt in dem Verbot »hitzigen« Betragens, »dreisten« Blickens und »tändelnder« (vgl. Siede 1797, 17-22) Bewegung auch eine Zurücknahme dessen, was heute »Anmache« heißt – wobei das Problem dann nicht nur in der Steigerung von

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Biegsame Hofkunst und aufrechter Gang Wilhelm Tischbein: Goethe in der Campagna, 1786/87. Tischbeins entspannt gelagerter Goethe steht, wie Wilhelm Kemp dargelegt hat, in Antithese zur tradierten Porträtmalerei, in der zumeist nur Stehen oder aufrechtes Sitzen als legitime Haltungen galten. Dennoch ist Kemps Identifizierung des Goetheschen Habitus mit dem der »untätiger Ruhe«, wie ihn Engels »Mimik« von 1785 beschreibt, nicht ganz zutreffend: Die Engelsche Figur des Ruhenden zeigt »die müßigste, von der Tätigkeit entfernteste Lage, den Körper zurückzulehnen« (Engel 1785, 77). Goethes Oberkörper aber ist nicht angelehnt und damit spannungslos, sondern aufgerichtet, und auch der Kopf bleibt erhoben. Der halb sitzende, halb liegende Körper zeigt Ruhe und Wachheit zugleich – und partizipiert damit durchaus am aufklärerischen Haltungsideal (vgl. Kemp 1975, 114).

Takt zu Prüderie, sondern auch darin liegt, dass Männern das Überschreiten dieser Anstandsgrenzen weit eher nachgesehen wurde als Frauen. Eine weitere Differenzierung kommt hinzu: Die Steifheit und Verhaltenheit, die z. B. die beispielgebenden Figuren auf den Kupferstichen Daniel Chodowieckis fast durchweg zeigen, kann wohl nicht – wozu z. B. Ilsebill Barta (1987) tendiert – für das damalige bürgerliche Haltungsideal schlechthin genommen werden. Es dürfte sinnvoll sein, beim prinzipiell zutreffenden Befund einer »Disziplinierung des Körpers« in Anlehnung an Foucaults Begriff der »produktiven Disziplin« (vgl. Foucault 1976, 176) neben einer hemmenden eine dynamische Norm wirk»Langer Stuhl zum Lesen eingerichtet«, 1799. In ähnlicher Haltung wie auf Tischbeins Porträt, bequem ausgestreckt und doch zugleich mit aufmerksam aufgerichtetem Kopf, könnte Goethe auch auf dieser Lesecouch sitzen. »Sonst waren die sogenannten Chaises longues, die weiland der Luxus und Sybaritismus von Paris erfand, bloß zum Schlafen und Faulenzen bestimmt; hier ist eine Chaise longue von anderer Art zum Lesen und Studieren eingerichtet« (Journal des Luxus und der Moden 1799, 107).

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J. J. Engel nennt die hier abgebildete Ruhelage »die müssigste, von der Tätigkeit entfernteste Lage«; zu ihr gehöre es, »den Körper zurückzulehnen, die in einandergeschränkten Arme in den Busen zu verbergen, die Kniee über einander zu werfen oder die zurückgezogenen Füße über dem Schienbein kreuzweis zu legen« (Engel 1785, 77).

sam zu sehen. Für die Körpersprache des bürgerlichen Mannes fordert die aufklärerische Anstandslehre Bescheidenheit und Solidität, aber auch den Ausdruck von »Kraft, Mut und Unverzagtheit«, ja »Geisteskühnheit, Raschheit, Feuer, Unternehmungsgeist« (Siede 1797, 22). Die Haltungsdisziplin soll die Triebe nicht nur zähmen, sondern auch sammeln, auf die Bewältigung von Aufgaben richten.6 Bei den Frauen wird Anstand und Schönheit ebenfalls nicht nur mit Zurückhaltung, sondern nicht selten mit »Raschheit« und »Lebhaftigkeit« verbunden. Aber zweifellos sind hier die Grenzen enger als beim Mann gezogen: »Den Mann kleidet das unternehmende Wesen, das frei sich Ankündigende in seinem Anstande. Bei dem Frauenzimmer gefällt dies nicht« (ebd., 21). Die Frage nach der disziplinierenden Seite des Aufrechten stellt sich aber noch in anderer Weise, nämlich als Frage nach dem Verhältnis von aufrechter und strammer Haltung, von Erziehung zum aufrechten Gang und militärischem oder quasi-militärischem Drill. Was die aufklärerische Anstandslehre für das Benehmen in Gesellschaft betrifft, so ist sie gegenüber einem möglichen Umschlag des freiheitlichen Prinzips Aufrecht in eine Gehorsamshaltung prinzipiell kritisch: Sie lehnt den »steifen und gezwungenen Anstand« (ebd., 31) als eines freien Bürgers unwürdig ab. Ein widersprüchlicheres Bild bietet die aufgeklärte Pädagogik, die es nicht mit dem geselligen Umgang Erwachsener, sondern mit der Heranbildung von »Zöglingen« für bürgerliche Lebensanforderungen insgesamt zu tun hat. Auf der einen Seite ist sie – zumindest die philanthropische Erziehung – bekanntermaßen ein rousseauistischer Anwalt von Bewegungslust und Spieltrieb; sie kritisiert das Sitzen in der Schule als Dressurübung und fordert schulische Freiräume für freie, auch spielerische körperliche Tätigkeit (vgl. Pestalozzi 1973, 24 und 26). Auf der anderen Seite empfehlen und praktizieren Basedow, GutsMuths, Pestalozzi, Salzmann, Villaume und Vieth das Exerzieren – was sich als deutsche Bestätigung der Feststellung von Philippe Ariès nehmen lässt, seit den 1750er Jahren habe in den Schulen die militärische gleichzeitig mit der liberalen Idee Fuß gefasst (Ariès 1975, 381). Doch ergänzt das Exerzieren in den Philanthropinen offenbar nur die insgesamt vorherrschenden freieren Körperübungen und -spiele: Das Einüben militärischer Haltungen und Bewegungen wird als Beitrag zur Herausbildung möglichst vielseitiger körperlicher Fähigkeiten verstanden (vgl. dazu Bernett 1960, 55-59). Und zumindest in der Programmatik bleibt die Grenze zwischen autonomem Sichaufrichten und befehls-

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Figuren aus J. J. Engels Ideen zu einer Mimik, 1785. Engel identifiziert den gebogenen als den Begierde offenbarenden Körper, zeigt den über sein Glas gebeugten Trinker, neugierig Horchende, die sich dem Schall entgegenbiegen, und erklärt alle diese »lebhaften Ausdrücke eigennütziger Neigungen und Triebe« als gegen den Anstand gerichtet.

mäßigem Aufgerichtetwerden deutlich gezogen. So postuliert Pestalozzi zwar für Leibesübungen eine Ausgangsstellung, die »gerade, fest und aufrecht« sein soll, fügt aber hinzu: »Der Lehrer muß sich, sowohl was Stellung, als was Bewegung betrift, vor ordonnanzmäßiger Steifheit hüten, er muß die Kinder frei behandeln, und ihnen einen gehörigen Spielraum lassen. (…) Die pädagogische Gymnastik unterscheidet sich vorzüglich auch dadurch vor der militärischen, dass sie liberal ist« (vgl. Pestalozzi 1973, 38). Doch vollzieht sich, zur Zeit und im Kontext der Napoleonischen Kriege, bekanntlich eine für die Geschichte der Leibesübungen in Deutschland entscheidende Veränderung. Derselbe GutsMuths, der 1793 in seiner Gymnastik für die Jugend noch »Ungezwungenheit« und »Geschmeidigkeit« als Leitbegriffe für die Körperhaltung propagiert hatte, nimmt 1804 in die zweite Auflage seines Buchs ein Kapitel mit Drillübungen auf, das von einem preußischen Oberstwachtmeister verfasst ist. In seinem 1817 erscheinenden Turnbuch für die Söhne des Vaterlands – der Titel macht die nationalstaatliche Wende der Pädagogik deutlich – ist der Umbruch von der Aufrichtung zur Ausrichtung dann vollends vollzogen: »Die Grundbedingung des Kriegs (…), Verein, Ordnung, Zeitmaß, Wink, Befehl« wird den Turnübungen, wenn auch »im Gewande der heitersten Lust und Freude«, anempfohlen; zum Ideal wird die »regelmäßige, nach Zeit und Wink scharf abgemessene rasche Bewegung« (GutsMuths 1817, XXXVIII und XXIII). Die Gehorsamsform des Aufrechten erobert im 19. Jahrhundert immer mehr Terrain, durchdringt immer mehr Praxisbereiche und soziale Schichten: Die Allgemeine Wehrpflicht, 1813 in Preußen eingeführt, bildet das Rückgrat dieser Entwicklung, die Ausbreitung des

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»Die schlaffe, untätige Seele«. »Ungemein bedeutend ist endlich ein vom Nacken gar nicht aufrecht getragenes, gegen die Brust hin fallendes Haupt; ungeschlossene Lippen, die das Kinn hängen lassen, wie es hängt; Augen deren halber Apfel hinter dem Liede steckt; einsinkende Kniee; ein vorwärts gestreckter Bauch; einwärts gekehrte Füße; geradeweg in die Taschen des Rocks fahrende Hände oder wohl gar frei herabbaumelnde Arme. Wer erkennt hier nicht auf den ersten Blick die schlaffe, untätige Seele, die keiner Aufmerksamkeit, keines Interesses fähig ist; eine Seele, die nie recht wacht, die nicht einmal die geringe Energie hat, so viel Spannung in die Muskeln zu bringen, daß der Körper gehörig getragen, seine Glieder gehörig gehalten werden? Nur der äußerst Dumme und Faule kann eine so nichtssagende, seelenlose Stellung nehmen« (Engel 1785).

Schulbesuchs mit der häufig rigiden Stillsitz- und Aufstehordnung in den Klassenzimmern und einer entsprechenden Form des Turnunterrichts, Tendenzen zur Übernahme quasi-militärischer Haltungsrituale in der Arbeitswelt, die freiwillige Fortsetzung des Drills im sich ausbreitenden Vereinssport kommen hinzu. Dies alles pervertiert den aufrechten Gang nicht nur praktisch, sondern beschädigt auch nachhaltig seine Idee. Denn der Diskurs, der diese Haltungserziehung begleitet, bekennt sich keineswegs zu einer nachemanzipativen neuen Untertänigkeit, sondern inseriert sich weithin als Verwirklichung einer bürgerlich-humanistischen Körperkonzeption. Exemplarisch dafür der Anatom Wilhelm Henke, der 1876 in seiner Tübinger Antrittsrede Die aufrechte Haltung des Menschen »Der sich bückende, ins Knie zunächst vom erstmals aufrechtgehenden Kind spricht, sinkende, ehrerbietig freundliche das dabei »triumphierend seiner Menschenwürde sich Schmeichler« (Abbildung und Text bewußt zu werden« scheine, und dann das militärische aus Engel 1786). Exerzieren von Stehen und Gehen als »einen Wiederholungscursus in dieser edeln menschlichen Leibesübung« bezeichnet (Henke 1892, 1 f.). Subalterne Selbstbeherrschung soll – und kann, insofern sie wieder zur Herrschaft über andere berechtigt – als Ausdruck von Männerfreiheit empfunden werden: »Halt dich aufrecht!« wird zum vielleicht verbreitetsten double bind der wilhelminischen Epoche.

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Anmerkungen 1 G. U. A. Vieth in einem Brief vom 21. 10. 1786, zit. nach Pe­ters (1962, 222). 2 Die Vorstöße zur Abschaffung des Hutziehens setzten sich im 19. Jahrhundert fort (vgl. dazu Bausinger 1987). 3 Mit dem bürgerlichen Selbstbewusstsein wird das Fortbestehen hierarchischer Umgangsformen durch einen Rückgriff auf die klassische »protestantische« Trennung in eine innere und eine äußere Würde vereinbar gemacht: Konventionelle Achtungsbe­zeugungen gefährden demnach als »bloß äußerliche« nicht die individuelle Moralität. Sehr tiefe und lange Verbeugungen, steif­-zeremonielles Wesen bleiben jedoch auch nach 1800 als »skla­visch« verpönt. 4 »Despotismus der Begierden« ist u. a. ein Kantscher Begriff. – Interessant ist in diesem Zusammenhang der im späten 18. Jahr­hundert geführte Streit darüber, inwieweit das ja mit einer ge­wissen Anstrengung verbundene Aufrechtsein dem Menschen »natürlich« sei. In einer 1770 gehaltenen Rede Von dem kör­ perlichen wesentlichen Unterscheide zwischen der Structur der Thiere und der Menschen (deutsch 1771) vertrat der italienische Anatom Pietro Moscati die außenseiterische Ansicht, die aufrechte Stellung des Menschen entspreche keineswegs seiner Physis, sondern sei lediglich ein Lernergebnis, das nicht nur unbequem, sondern auch in hohem Maße ungesund sei: Der Fötus bekomme so eine schädliche Kopflage, die zu Krankhei­ten wie Hirnschlag, Kopfweh usw. disponiere; des Herz gerate in eine Hängelage, die die Blutgefäße verlängere, das Herz auf das Zwerchfell drücke und Herzklopfen, Engbrüstigkeit, Brust­wassersucht, Lungenentzündung begünstige; die durch die senk­rechte Haltung herabgezogenen Eingeweide neigten zu Hämorr­hoiden, Fisteln, Geschwülsten usw. – »und alles dieses bloß zur metaphysischen Zierde, uns aufrecht zu halten; und wegen des eingebildeten Verdienstes, uns, um einige Handbreit mehr, über die Erde erhoben zu haben« (ebd., 49). Moscatis Theorie, die der »Krone der Schöpfung« eine erhebliche narzisstische Krän­kung zumutete, stieß bei zeitgenössischen Ärzten und Körperer­ziehern auf heftigen Widerspruch. Kant bezeichnet in einer Rezension Moscatis dessen Analyse als paradox scheinend, aber scharfsinnig, und fügt der ansonsten kommentarlosen Wiederga­be der Beweisführung Moscatis lediglich die Bemerkung hinzu, dass der Mensch eben für die Gesellschaft bestimmt sei und daher zweifüßig sein müsse – »wodurch er auf einer Seite unendlich viel über die Tiere gewinnt, aber auch mit den Ungemächlich­keiten vorlieb nehmen muss, die ihm daraus entspringen, dass er sein Haupt über seine alte Kameraden so stolz erhoben hat« (Kant 1964b, 769.) 5 So auch die meines Erachtens vorherrschende Tendenz bei Barta 1987. 6 An zeitgenössischen Reisebeschreibungen lässt sich ablesen, dass solche Maximen tatsächlich auch die aufgeklärte Personenbeo­bachtung und -beurteilung beeinflussen. So bemerkt z. B. Johann Kaspar Riesbeck tadelnd über die Münchner, dass sie »ohne alle Schnellkraft« seien; Ernst Moritz Arndt vermisst bei den Nürn­berger Männern »Kraft und Leben in den Gliedern und in dem Antlitz« – was er nicht zuletzt auf die obsolete Nürnberger Zunft­verfassung zurückführt – und lobt dafür das »Kühne und Rasche der Bewegung« bei den Brüsselern oder auch den Steyrern (Riesbeck 1784, 284; Arndt 1804, T.1, 72 f.; ebd., T.3, 313; T.1, 373.)

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Literatur Ariès, Philippe (1975): Geschichte der Kindheit. München und Wien. Arndt, Ernst Moritz (1804): Reisen durch einen Theil Teutschlands, Ungarns, Italiens und Frankreichs in den Jahren 1798 und 1799. Leipzig. Bahrdt, Carl Friedrich (1789): Handbuch der Moral für den Bürgerstand. Halle. Barta, Ilsebill (1987): Der disziplinierte Körper. Bürgerliche Körpersprache und ihre ge­schlechtsspezifische Differenzierung am Ende des 18. Jahrhunderts. In: Dies. u. a. (Hg.): Frauen – Bilder – Männer – My­then. Kunsthistorische Beiträge. Berlin, 84‑106. Bausinger, Her­mann (1987): Bürgerlichkeit und Kultur. In: Jürgen Kocka (Hg.): Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert. Göttingen, 121‑143. Bernett, Hajo (1960): Die pädagogische Neugestaltung der bürgerlichen Leibesübungen durch die Philan­ thropen. Schorn­dorf. Bloch, Ernst (1961): Naturrecht und menschliche Würde. Frankfurt am Main. Campe, Johann Heinrich (1781): Robinson der Jüngere, zur angenehmen und nützlichen Unterhaltung für Kinder, Teil 2. Frankfurt am Main und Leipzig. Defoe, Daniel (o. J.): Robinson Crusoe. Aus dem Englischen von Franz Riederer. München. Duttenhofer, Christian Friedrich (1787): Freymüthige Untersuchungen über Pietismus und Orthodoxie. Halle. Engel, Johann Jakob (1785 und 1786): Ideen zu einer Mimik. Bd. 1 und Bd. 2. Berlin. Foucault, Michel (1976): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main. GutsMuths, Johann Christoph Friedrich (1817): Turnbuch für die Söhne des Vaterlandes. Frankfurt am Main. Ders. (1970): Gymnastik für die Jugend. Frankfurt am Main. Henke, Wilhelm (1892): Die aufrechte Haltung des Menschen im Ste­hen und Gehen. In: Ders.: Vorträge über Plastik, Mimik und Drama. Rostock. Kant, Immanuel (1964a): Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Ders.: Werke XI, Frankfurt am Main. Ders. (1964b): Rezension zu Peter Moscati: Von dem körperlichen wesentlichen Unterschiede zwischen der Struktur der Tiere und Menschen: In: Ders.: Werke XII, Frankfurt am Main, 767‑769. Kemp, Wilhelm (1975): Die Beredsamkeit des Leibes. In: Städel-Jahrbuch, NF 5, 111-134. Moscati, Pietro (1771): Von dem körperlichen wesentlichen Unterscheide zwischen der Structur der Thiere und der Menschen. Göttingen. Leitzmann, Albert (Hg.) (1898): Briefe und Tagebücher Georg Forsters von seiner Reise am Nie­derrhein, in England und Frankreich im Frühjahr 1790. Halle. Nicolai, Carl (1818): Ueber Selbstkunde, Menschenkenntniß und den Umgang mit Menschen. Quedlin­ burg und Leipzig, T. 2. Pestalozzi, Johann Heinrich (1973): Ueber Körperbildung als Ein­leitung auf den Versuch einer Elemen­ targymnastik, in einer Reihenfolge körperlicher Übungen. Neu hg. von Heinz Meu­sel. Frankfurt am Main. Pe­ters, Karl (1962): G. U. A. Vieth. Der Werdegang eines Jeverländers zum be­deutenden Schulmann und Turnpädagogen. Jever. Riesbeck, Johann Caspar (1784): Briefe eines reisenden Franzosen über Deutschland an seinen Bruder zu Paris. Bd. 1. O. O. Salzmann, Christian Gotthilf/Christian C. André (1786): Reisen der Salzmannischen Zöglinge. Bd. 2. Leipzig.

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Schmidt-Linsenhoff, Viktoria (1989): Wollust und »Seelenliebe«. In: Dies. (Hg.): Sklavin oder Bürgerin? Französische Revolution und Neue Weiblichkeit 1760–1830. Frankfurt am Main, 750‑755. Schopenhauer, Johanna (1958): Jugendleben und Wanderbilder. Barmstedt. Seume, Johann Gottfried (1965): Mein Sommer 1805. In: Seumes Werke in zwei Bänden. Berlin/Wei­ mar. Siede, Johann Christian (1797): Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität und männliche Schönheit. Dessau. Struve, Christian August (1803): Ueber die Erziehung und Behandlung der Kinder in den ersten Lebens­ jahren. Ein Handbuch für alle Mütter, denen die Gesund­heit ihrer Kinder am Herzen liegt. Hannover. Tischbein, Wilhelm (1922): Aus meinem Leben. Hg. von Lothar Brie­ger. Berlin. Trusler, John (1799): Anfangsgründe der feinen Lebensart und Welt­kenntniss, zum Unterricht für die Jugend beiderlei Geschlechts, auch zur Beherzigung für Erwachsene. Aus dem Englischen von Karl Philipp Moritz, bearbeitet von August Rode. Berlin. Vieth, Gerhard Ulrich Anton (1970): Versuch einer Encyclopädie der Leibesübungen. Frankfurt am Main.

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Fußschellen der Unmündigkeit Weibliche Gehkultur in der späten Aufklärung

Odoardo: Wo ist Emilia? Unstreitig beschäftigt mit dem Putze? Claudia: Ihrer Seele! – Sie ist in der Messe. – »Ich habe heute, mehr als jeden andern Tag, Gnade von oben zu erflehen«, sagte sie, und ließ alles liegen, und nahm ihren Schleier, und eilte –  Odoardo: Ganz allein? Claudia: Die wenigen Schritte – – Odoardo: Einer ist genug zu einem Fehltritt! (Lessing, Emilia Galotti) Die Geschichte der Eufrosine

In Sophie von La Roches Roman Rosaliens Briefe an ihre Freundin Marianne von St**, in dem sich die Protagonistin zum Muster einer bürgerlichen Ehefrau und Mutter heranbildet, wird unter vielen lehrhaften Episoden aus dem Leben anderer Frauen auch die Geschichte der Eufrosine erzählt:1 Heinrich verliebt sich in die sechzehnjährige Eufrosine und bittet, als er zu einer längeren Reise aufbricht, seine mit Eufrosine gut bekannte Schwester, »wenn es möglich wäre, das reizende Mädchen für ihn aufzuheben«. Diese lenkt tatsächlich »Eufrosinens Herz und den Willen ihrer Eltern, nach den Wünschen ihres Bruders«, und als Heinrich nach vier Jahren zurückkehrt, erhöht sich die »in der Stille genährte Liebe« Eufrosines zu ihm ebenso wie die seinige »zu der feurigsten Zärtlichkeit«: Die Hochzeit, in einem Badeort, wird beschlossen. An deren Vorabend – der Bräutigam hat noch in der nahen Stadt zu tun –, bricht Eufrosine mit einer Gesellschaft zu einem Waldspaziergang auf: »Das edle, sanftliebende Geschöpf fühlte sich von den lärmenden Unterredungen des Haufens belästigt; sie wünschte, allein ihrem Herzen und Nachdenken überlassen zu sein; verlor sich daher, sobald sie konnte, ins Gebüsch (…)«. Als die anderen Ausflügler nach Hause zurückkehren, ist Eufrosine weder dort zu finden noch, wie man dann glaubt, ihrem Bräutigam entgegen gegangen; eine nächtliche Suchaktion im Wald beginnt, an der auch die Tante des Erzählers dieser Episode teilnimmt: Sie hatte auch das traurige Glück, morgens um drei Uhr das liebe englische Mädchen zuerst zu erblicken, die mit allen Kräften durch verwachsene Bäume durchzudringen such-

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te, und einen hohlen wilden Schrei dabei ausstieß. Zwei Männer, die bei meiner Tante waren, eilten zu ihr, und diese mit der Fackel nach. Die arme Eufrosine drückte die Augen zu, schrie und sträubte sich erbärmlich. Nun eilt auch der Bräutigam herzu, der den Ruf »Wir haben sie!« gehört hat. Aber wie fand er seine Eufrosine? Ihrer Sinne beraubt, Gesicht, Brust und Hände zerrissen und blutend! Nichts auf dem Kopfe; ihre schönen Haare verwirrt und eine Menge ausgerauft; einen heiseren Schrei, der furchtsam aus ihrem Munde kam, den vorher die sanfteste Stimme beseelte! (…) Sie ward ins Haus gebracht, ihre Wunden besorgt, und alles Mögliche zur Wiederherstellung ihrer Vernunft gebraucht. Aber sie war unwiederbringlich verloren! Nach einigen Monaten stirbt sie an einer »nicht zu dämpfenden brennenden Hitze«. Dem Bräutigam bleibt nur ein Gemälde von ihr, das er vor der geplanten Hochzeit hat in Auftrag geben lassen. Es zeigt Eufrosine mit einem kleinen Heft in der Hand, in dem der Satz zu lesen ist: »Tugend sei immer die Schönheit meiner Seele, und Heinrichs Liebe mein Glück!« (La Roche 1781a, 255 f.). Die Geschichte der Braut, die sich am Tag vor der Hochzeit im Wald verliert und dadurch ihrer Vernunft verlustig geht, hat Teil an der intensiven spätaufklärerischen Diskussion über die Geschlechterrollen in der bürgerlichen Gesellschaft. Zugleich ist sie ein Beispiel dafür, dass diese Debatte über Fähigkeiten, Rechte und Pflichten der Geschlechter nicht zuletzt als Diskurs über ihre Gehfreiheiten und Gehfähigkeiten geführt wurde. Im Folgenden sollen einige der in La Roches Episode eingewobenen Diskussionsfäden aufgenommen und über den kunstliterarischen Bereich hinaus verfolgt werden, womit sich dann auch der Stellenwert der Eufrosinen-Geschichte im Gehdiskurs der Epoche genauer bestimmen lässt. Zwei Gehkulturen

Waldspaziergänge, wie sie die Badegesellschaft in der Eufrosinen-Geschichte unternimmt, sind im ausgehenden 18. Jahrhundert nicht nur ein beliebtes literarisches Motiv, sondern in der Tat auch eine alltagskulturelle Mode. Das neue Bürgertum – Kaufleute, Beamte, Lehrer, Pfarrer, Ärzte, Wissenschaftler, Künstler – propagiert auch eine neue Gehkultur. Der aufgeklärte Bürger beweist Tüchtigkeit und Unternehmungsgeist nicht zuletzt darin, dass er sich über die Promenaden der Städte und die Alleen der Badeorte hinaus ins Gelände begibt; und die Fußreise statt der Kutschfahrt gilt ihm nicht mehr als Armutszeugnis, sondern als Beweis bürgerlicher Autonomie: »O zu Fuße! zu Fuße! da ist man sein eigner Herr!«, heißt es 1786 im Bericht über einen Ausflug des Schnepfenthaler Philanthropins. Wenn Kant 1783 in seiner Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? von Mündigkeit ständig in Gehbegriffen redet, wenn er von der Tradition geistiger Bevormundung als den

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»Frech« und »Arbeitsam«: Radierungen von Daniel Chodowiecki (»Sechs männliche und sechs weibliche Eigenschaften«, 1784)

»Fußschellen einer immerwährenden Unmündigkeit« und von Aufklärung als »freier Bewegung« spricht, als der Fähigkeit, »allein zu gehen«, sich ohne »Gängelwagen« bewegen und sicher über Gräben springen zu können, so ist dies kein bloßer Rückgriff auf eine traditionelle Metaphorik, sondern hängt auch damit zusammen, dass das Bürgertum in jenen Jahren eine Gehdebatte als Aufklärungsdebatte führt, die Kinder tatsächlich von Gängelwagen und Gängelband befreien und die Erwachsenen zu tüchtigen Fußgängern machen will (vgl. Warneken 1989). So wie Eufrosine den Waldspaziergang der Badegesellschaft mitmacht, so sind die bürgerlichen Frauen der Epoche von der neuen Beweglichkeit durchaus nicht prinzipiell ausgeschlossen. Sie sind nicht nur auf den städtischen Promenaden zu finden, sondern nehmen auch am Kult des abendlichen Naturspaziergangs und an der sonntäglichen Fußwanderung in die Nahumgebung teil; und an pädagogischen Schriften wie etwa Christian Carl Andrés Kleine Wandrungen, auch Größre Reisen der weiblichen Zöglinge zu Schnepfenthal von 1786 lässt sich ablesen, dass die neue Gehkultur auch in die Mädchenerziehung Einzug hält. Diese Tendenzen verstärken sich in den 1790er Jahren: Zwar rufen die französischen Republikanerinnen, die den Anspruch, »keine dienenden Frauen, keine Haustiere«2 (Petersen 1987, 175) zu sein, nicht zuletzt durch das Tragen von Hosen und »vollkommenen Männer-Schuhen« ( Journal des Luxus und der Moden 1792, 589 f.) sowie das Mitmarschieren bei Revolutionsfesten unterstreichen, bei deutschen Bürgern und Bürgerinnen vor allem Befremden hervor; doch auch in Deutschland verstärkt sich in diesen Jahren die Kritik am bewegungshinderlichen Korsett sowie an hochhackigen, zu engen und nicht wetterfesten Frauenschuhen und wird den Bürgerinnen vermehrt körperliche Betätigung z. B. in Gestalt von »täglicher Bewegung im Freien« und »kleineren Fußreisen« empfohlen (Guts Muths 1970, 273). Zugleich jedoch bemüht sich die spätaufklärerische Gehdiskussion – vor wie nach 1789 – um die Vermessung des Abstandes, den auch und insbesondere die aufgeklärte Bürgerin zur Gehfreiheit des bürgerlichen Mannes einhalten sollte. Hierbei strömen mehrere Verbotslinien zusammen. Die bekannteste ist der Pflichtdiskurs, der im Zug der sich ver-

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Schülerinnen des Schnepfenthaler Philanthropinums auf einer Wanderung. Titelkupfer zu André 1788.

schärfenden Trennung von außerhäuslich-männlicher und häuslich-weiblicher Sphäre den Frauen längere Spaziergänge und ausgedehntere Wanderungen als Müßiggang untersagt. Auch die aufgeklärten Ärzte und Pädagogen, die das ständige Stillsitzen und Handarbeiten der Mädchen und Frauen als ungesund und als schlechte Vorbereitung für die Anstrengungen der Mutterschaft brandmarken, gehen kaum über bescheidene Vorschläge wie den eines »täglichen Stundenmarschs im Freien« hinaus;3 und die Bürgerinnen tun gut daran, bei geselligen Ausflügen ein Nähkörbchen mitzunehmen, auf dass – wie der Philanthrop Basedow (1880, 180) das formulierte – »die Gesellschaftlichkeit des weiblichen Geschlechts so viel wie möglich mit der Arbeitsamkeit verbunden« werde. Hinzu kommt der im späten 18. Jahrhundert forcierte Anstandsdiskurs, welcher der Bürgerin das Betreten öffentlicher Orte nur in – am besten männlicher – Begleitung erlaubte: »Ohne von einem Bedienten, oder in dessen Ermangelung von ihrem Jungfernmädchen sich folgen zu lassen«, schreibt Johanna Schopenhauer über ihre Jugendzeit, »hätte keine

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Frau aus den höheren Ständen auch nur den kleinsten Weg über die Straße zurückgelegt« (Schopenhauer 1958, 141). Den Rückschluss, den Verstöße gegen dieses Gebot nahe legen, demonstriert Ernst Moritz Arndt in einer Reisenotiz über die Wiener Prostituierten: Man kennt die eigentlichen Töchter des Vergnügens – im weiteren Sinne sind es in so einer Stadt wohl die meisten – gewöhnlich daran, dass sie allein, oder zu zweien und dreien ohne eine Mannsperson gehn, sie suchen eine. Ein kühnerer Schritt und freierer Schwung des Körpers, und ein flüchtigeres Auge mag sie auch zuweilen bezeichnen, obgleich das hier nichts Auszeichnendes ist (Arndt 1804, 129 f.). Zum Anstands- gehört dabei das Gefahrenargument: Die alleingehende Frau sei von Verführung, ja Entführung bedroht; zu den zahlreichen Beispielgeschichten dazu gehört Lessings Emilia Galotti. Auch in der Eufrosinen-Geschichte scheinen solche Warnungen latent enthalten zu sein: Das Bild einer verwirrten und verängstigten Frau, die an Gesicht, Brust und Händen blutet und sich verzweifelt gegen zwei Männer wehrt, die sie festzuhalten suchen, gibt jedenfalls der Phantasie Raum, das dem Leser verborgen bleibende Schreckenserlebnis der Eufrosine könnte eine Vergewaltigung gewesen sein. Über diese Lesart schiebt sich freilich eine andere, unverfänglichere Interpretation – die man, falls man die erstere ernst nimmt, in Anlehnung an Freuds Begriff der Deckerinnerung eine »Deckinterpretation« nennen könnte: Nämlich dass das zarte Geschöpf, als welches Eufrosine beschrieben wird, im nächtlichen Wald, durch dessen »verwachsene Bäume« sie selbst »mit allen Kräften« kaum durchzudringen vermochte, einem derartigen Schauder vor den unendlichen Naturgewalten ausgesetzt war, dass sie darüber den Verstand verlor. Diese Version kann freilich nur für plausibel halten, wer in eine Denktradition eingestimmt ist, die in der Spätaufklärung zu besonderer Blüte kommt und auch bei der Diskussion über das Frauengehen eine wesentliche Rolle spielt: in die Theorie, dass die Frau als das körperlich weichere, feinere, kleinere Geschlecht im Vergleich zum Mann zwar eine größere Sensibilität, damit zugleich aber auch eine geringere Nervenstärke besäße. Heftige Körperbewegungen, längere Fußreisen widersprechen demnach zugleich mit ihrer physischen Anlage ihrer damit verbundenen sozialen Bestimmung, der leidende, nachgiebige, anmutige Teil der Menschheit zu sein. Bei Mädchen, schreibt Basedow,4 sei es »eine allgemeine Regel, dass man bei ihnen die Gewohnheit verhüte, sich stärker zu bewegen, als es jedes Mal der Zweck erfordert. Denn sie sind das schwächere Geschlecht und sollen es auch äußerlich zeigen«.5 Auch das öffentliche Leben, so wird von zeitgenössischen Medizinern argumentiert, ist von Frauen schon deshalb zu meiden, weil ihre Nerven den dabei geweckten Leidenschaften nicht gewachsen sein könnten (vgl. Greiner 1985, 195); und für Naturspaziergänge wird ihnen eher die gebändigte Natur des Gartens oder des englischen Parks als das freie, wilde Gelände empfohlen. Die 1802 erschienene Kunst spatzieren zu gehen von Karl Gottlob Schelle formuliert diesen Topos so:

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Die Natur nähert sich der Einsamkeit; und die Einsamkeit ist dem zweiten Ge­sch­lecht viel zu düster und furchtbar, als dass es sie lange zu ertragen vermöchte. Höchs­tens in Momenten der Liebe, die ihrer Natur nach die Einsamkeit sucht, findet man Frauen­ zimmer – am Arm des Geliebten oder eines geliebten Freundes in der Natur (vgl. Schelle 1802, 96 f.). Gratwanderungen

Allein schon die Penetranz, mit der die Maximen zur weiblichen Gehkultur – wie die ge­ sam­te Ideologie der Geschlechterpolarität und Geschlechterhierarchie – damals gepredigt wurden, deutet darauf hin, dass diese Verhaltensregeln nicht unbestritten herrschten, sondern etwas nicht mehr oder noch nicht Selbstverständliches gegen Widerstände und Gegenargumente durchzusetzen suchten. Durchforscht man die zeitgenössische, sei’s kunstliterarische, sei’s autobiographische Frauenliteratur nach der Art und Weise, wie dort mit dem Thema weiblicher Gehfreiheit umgegangen wird, so bestätigt sich diese Vermutung. So selten sich auch eine offensive Einforderung gleicher Gehrechte finden lässt, so häufig dokumentiert sich doch das Bedürfnis nach Grenzüberschreitungen in einer vorsichtigen, inneren und äußeren Zensurinstanzen mehr oder minder angepassten Form, wobei die darstellerischen Formen und argumentativen Mittel zur Bewältigung dieser Gratwanderung variieren. Nicht einmal die Eufrosinen-Episode lässt sich nur als Geschichte unverschuldeten Unglücks und Parabel für die Notwendigkeit männlicher Führung lesen. Auf den ersten Blick scheint zwar die Geschlechterkonvention weder von der Protagonistin noch gar der Autorin infrage gestellt zu werden; doch kann man sich aus ihr auch Elemente einer ganz anderen Botschaft zusammensuchen. Dass die Braut, deren Liebe zu Heinrich auf dessen Wunsch hin von anderen genährt wurde, vor der Hochzeit noch einmal allein sein will, dass sie sich schließlich gegen die Männer sträubt, die sie einfangen, das lässt ihre Verirrung auch als Ausbruchsgeschichte und die gemalte Treuebekundung, die Heinrich ihr gewissermaßen in den Mund legen lässt, weniger als Offenbarung denn als Dissimulation geheimer Wünsche interpretieren. Und indem die Autorin die Verirrte nicht als erschöpft, sondern als außer sich, das sonst so sanfte Mädchen als verwildert, schreiend und tobend schildert, erhält man im Bild eines Angstausbruchs zugleich das eines Durchbruchs heftiger, in dem »edlen und sanftliebenden Geschöpf« bisher nicht vermuteter Regungen.6 Es gibt noch andere Episoden des Rosalien-Romans, in denen Frauen ebenfalls allein unterwegs sind. Bei ihnen geht es nicht um dramatische Verirrungen, sondern um vergleichsweise harmlose einsame Spaziergänge, die nicht als Angst-, sondern als Autonomieerlebnisse geschildert werden. Doch auch sie werden keineswegs als selbstverständlich, sondern als Ausnahmen oder als Taten einer Ausnahmefrau behandelt. Ein Spaziergang, den die Titelheldin Rosalie allein zum Grab einer Freundin unternimmt – wobei ihr begegnen-

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de Männer sie anstaunen und umherschauen, ob noch jemand bei ihr sei – legitimiert sich durch sein besonderes Ziel und die besonderen Gefühle, die die Spaziergängerin begleiten: Ich ging durch einen Umweg, zwischen den Feldern und Hecken, ganz allein. Ich, die sonst unmöglich allein durch die Straße einer Stadt gehen konnte. Aber das Gefühl von Tod, Ewigkeit, Tugend und Freundschaft, erhob mich über alle andre Empfindungen. Meine Seele dünkte mich größer, erhabener, als jemals. In dem weiten Luftraum war Ruhe um mich her, da der Landmann auf der welkenden Wiese, und dem kaum ausgesäten Felde, für seine arbeitsame Hand nichts zu tun hat. Nichts störte meine Bewegungen, nichts hinderte sie (La Roche 1781a, 157). Eine längere einsame Fußwanderung unternimmt im selben Roman eine Frau von Guden, eine unkonventionelle und leidenschaftliche Frau, die von Rosalie als »außerordentliches Weib« (La Roche 1781b, 24) verehrt wird und im Roman eine zwar für Rosalie nicht vorbildhafte, aber doch keineswegs denunzierte selbstständige Lebensführung repräsentiert (vgl. Nenon 1988, 112‑121). Sie selbst spricht den Symbolgehalt ihrer Wanderung aus: »Jede meiner Gesinnungen und Handlungen sind willkürlich und frei, wie mein Gang auf den Berg (…)« (La Roche 1781b, 24). Diese Freiheit hat freilich ihre Grenzen: La Roche lässt ihren »weiblichen Werther«, wie Jakob Michael Reinhold Lenz die von Guden einmal nannte, einen Weg nehmen, den der von ihr geliebte Mann zu gehen pflegt; aus dem Gang ins Freie wird ein Gang zu ihm: Mit was für Eile ging ich hinaus! und was wurden all diese Gegenstände für mich, als ich mir sagte: Diese Bäume, diese entfernten Gebirge, den Hügel da, die Bauern­hütten, diese Steine voll Moos an dem kleinen Bach, alles dies hat er mit seiner so tiefempfindenden Seele mit süßem, einsamen Nachdenken betrachtet! Sein schönes Auge sah hier um sich, ruhte auch auf der Wiese von dem starken Umherschauen aus. – O, wie lange habe ich keine Gegenstände gesehen, die Er sah! – Ich dachte mich näher bei ihm, vereinter mit ihm (ebd., 22 f.). Das Muster des Spaziergangs, der aus dem Kreis der Gesellschaft heraus, aber in Ge­dan­ken näher zu der oder dem Geliebten in der Ferne führt, ist nicht nur in der Belletristik, sondern auch in der Tagebuch- und Briefliteratur der Zeit sehr verbreitet, und es findet sich keineswegs nur bei Frauen. Aber das Motiv scheint bei diesen zum einen häufiger und zudem in spezifischer Weise gebraucht zu werden. Ein Beispiel dafür ist der Briefwechsel von Luise Mejer mit Heinrich Christian Boie (vgl. Schreiber 1963): Wo er – was selten ist – berichtet, dass er auf einem Spaziergang ihrer gedacht habe, äußert er Bedauern über ihre Abwesenheit; sie jedoch schreibt, wenn sie von einem einsamen Gang erzählt, in treuer Regelmäßigkeit von ihren Gedanken an ihn und versichert ihm dabei oft, sie sei eigentlich gar nicht allein unterwegs gewesen, sondern habe sich von ihm begleitet gefühlt:

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Er an sie : »Wenn ich hier mit Luisen gehen könnte! dachte ich bei jeder schönen Stelle, bei jeder herrlichen Aussicht.« (1. 6. 1779) Er an sie : »Mein Geist wird Dich an schönen Abenden auf Deinen einsamen Spa­zier­­ gängen begleiten.« (28. 9. 1782) Sie an ihn : »Gestern Morgen ging ich an einem Arm des Flusses Söse herauf. (…) Ich durchkreuzte Kornfelder und felsichte Hügel und kam endlich zu einem hiesigen be­­ rühmten Spaziergang, der Allee (…). Mein Bruder wunderte sich des Umher­wanderns. Du, teurer Boie, bist mir dabei so gegenwärtig.« (10. 7. 1783) Er : »Also noch immer begleitet Dich das Bild Deines Freundes auf Deinen einsamen Gängen?« (19. 7. 1783) Sie : »Diesen Morgen ging ich früh aus, den Harz hinauf. (…) In einem Eichhölz­chen ruhte ich, und es war mir, als den 2. Juni 1777, da Du bei mir am Fuße des Deisters saßest. Dein Genius flüsterte mir Wiedersehen ins Herz«. (27. 7. 1783) Sie : »Denk doch des Abends von sechs bis sieben an mich. Das ist meine Spazier­stunde.« (24. 5. 1784) Weit schwerer, als die Lizenz für kleine Spaziergänge zu erwirken, ist es für die Bürgerinnen, das männliche Monopol für Kraft und Mut erfordernde Touren infrage zu stellen. Frauen, die ihren Männern von solchen Abenteuern berichten, tun dies nicht selten in Form einer Beichte. So beschreibt z. B. Caroline von Dachroeder, spätere von Humboldt, in einem Brief an Wilhelm von Humboldt vom 18. 8. 1790 eine Bergwanderung, die sie auf eigene Faust gewagt hat. Am Anfang überwiegt das Bild einer gelungenen Unternehmung: Zwar distanziert sich die Schreiberin von ihrem Entschluss zum Aufbruch als einer ihr selbst unerklärlichen Aufwallung, doch die Gipfelbesteigung wird als durchaus lustvoll geschildert: Heut war ich auf der Mohnenburg. (…) Es trieb mich, ich weiß nicht was, dass ich hinauf musste. Ich kannte keinen Weg, aber was tat das. Die Sonne ging eben unter, wie ich auf den Gipfel kam, und aus dem Tale stieg in wunderbaren Gestalten der Rauch der Hütten auf. Dann jedoch überfällt die Bergsteigerin, richtiger gesagt die Briefschreiberin, die Angst, womöglich zu weit gegangen zu sein. Einen eigenen, noch nie am Arm des Verlobten beschrittenen Pfad gewählt zu haben, wird ihr zu einem Vergehen der Untreue, das sich denn auch alsbald rächt: (…) es kam mir so auf einmal in den Sinn, wie ich oben stand, dass ich da nie mit Dir gewesen, und mir wurde unheimlich und weh bei dem Gedanken. Ich musste fort – ach, Bill, schmäle nicht, der Weg, den ich herauf gegangen war, war abhängig, mir aber viel zu lang, um ihn zurück zu machen – ich war ihn ja nie mit Dir gegangen – also musst ich gerade herunter, wo der Berg steil und steinigt ist. Ich wagte es nicht ohne einen Stock in Schuhen mit hohen Absätzen – zog sie also aus und lief so herunter. Aber die armen

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Füße sind wund geworden. Lieber Bill, zürne nicht mit Li – Li will’s nicht wieder tun, hat die Füßchen auch schon gewaschen, und Li verspricht auch, dass sie nie wieder hingehen will, wo sie nicht mit Dir war. Sei nur nicht böse (Nette 1956, 14). Kein Wort des Ärgers über ungeeignetes Schuhwerk, nur blanke Selbstkritik: Das Abwerfen der kulturellen Fußschellen, so lässt sich lesen, hat nicht natürliche Fähigkeiten, sondern natürliche Schwächen aufgedeckt; und wenn die Natur den weiblichen Körper zart, weich, empfindlich geschaffen hat, dann ist nicht die bewegungshindernde Kleidung unvernünftig, sondern der Versuch, die für Frauen gültigen Motorik- und Mobilitätsgrenzen zu durchbrechen. Um das Vergehen zu verkleinern, rettet sich die Täterin in die Kinderrolle – und opfert also, zumindest an dieser Stelle, dem damit verbundenen Anspruch auf Straffreiheit den auf Mündigkeit. Überschreitungen

Wie dieser Brief, so belegen gar nicht wenige Äußerungen zeitgenössischer Frauen, dass sie sich Gehfreiheiten herausnehmen oder zumindest gern herausnehmen würden, die nicht den dualistischen Geschlechternormen entsprechen; doch auch wo diese Ansprüche nicht, wie hier, aus Angst vor der eigenen Courage gleich wieder zurückgenommen werden, wird die Kritik an den umfassenden Restriktionen für die weibliche Bewegungsfreiheit – wie die am Patriarchalismus überhaupt – im späten 18. Jahrhundert meist nur sehr punktuell, sehr moderat oder in kaschierter Form ausgetragen.7 Etwas häufiger und vor allem radikaler wird die Frauenkritik an der herrschenden Gehetikette erst einige Zeit später im Umkreis der Romantik. Besonders ausgeprägt ist sie bei Bettina von Arnim: Ihr Briefzyklus Die Günderode8 lässt die Gehverbote, die sich in den Jahrzehnten davor etabliert haben, als übertretene oder übertretenswerte Revue passieren. Einige der Episoden von ihren Wanderungen und Klettertouren, von denen sie mitunter zerschunden und blutend zurückkommt, lesen sich dabei wie Antipoden zur Geschichte der Eufrosine. Jene etwa, in der Bettina von Arnim schildert, wie sie nach einem verwegenen Lauf den Hang hinab erhitzt, erschöpft und glücklich zugleich am Boden liegt und die Umstehenden meinen, sie habe die Besinnung oder zumindest den Verstand verloren: (…) ich legt mich ins Gras und schnaufte aus. – Potztausend wie viel Hämmerchen pochten in meinem Kopf, lauter Goldschmied, und der große Hammer in meiner Brust das war ein Grobschmied; die andern kamen herbei, wie ich im hohen Gras verschwand glaubten sie, ich sei ohnmächtig oder sonst was, der Voigt schrie, Gott bewahr, solche Einbildungen hat sie nicht; ich guckte aus dem Gras hervor und lachte sie aus, aber da schrie alles: ich hätt können den Hals abstürzen, ich hätt können Arm und Bein brechen, mich hätt können der Schlag rühren, unvorsichtig, tollkühn, sinnlos schrieen sie. – Was Guckuck, ich wollts nicht mehr hören, ich setzte mich wieder in Galopp (…) (Arnim 1986, 365 f.).

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Ein anderer Brief der Sammlung enthält wie die Eufrosinen-Episode das Motiv der nächtlichen Verirrung – nun aber nicht mehr als Teil einer Unheils-, sondern einer Durchsetzungsgeschichte, in welcher der Weg durchs Gestrüpp, das Eufrosine so grässlich zurichtete, zum rechten Weg wird. Die Erzählerin und ihre Schwägerin Antonia sind zu einem »weiten Spaziergang« aufgebrochen; gegen Abend verlieren sie im Wald die Orientierung: (…) ach, sagte die Tonie leise, was wird das werden, wo kommen wir hin? – statt zu klagen, musste ich laut lachen. (…) auf einmal entdeckte ich, dass der Wald links lichter ward, und dass der Himmel ganz frei war; ich sagte, dort müssen wir hin, da sind wir gleich aus dem Wald. ›Um Gotteswillen verlass den Pfad nicht, denn so im Dickicht herum zu stolpern in der Nacht, da können wir in Gruben fallen, lass uns ruhig auf dem Weg fortgehen‹, ich war aber schon vorwärts geschritten und stolperte wirklich und raffte mich auf und fiel wieder, und kletterte über Stock und Stein, und die Tonie rief von Zeit zu Zeit, ich antwortete, und da war ich plötzlich im Freien auf der Höhe, die sich abflachte in eine weite Ebne, die ich nicht ermessen konnt, aber ganz in der Ferne sah ichs glänzen, ich rief: hier steh ich und seh den Rhein. (…) Es ist ein dumm klein Abenteuerchen, aber es machte mich doch so froh, so aus dem finstern Wald herausgefunden zu haben (Arnim 1986, 388 f.). An späterer Stelle fasst von Arnim die Bedeutung ihrer Wander-, Lauf- und Kletterabenteuer emphatischer – als Teil eines umfassenden körperlich-geistigen Befreiungsprogramms, als prinzipielle Absage an die Tradition der geistigen und körperlichen Anlehnung, welche die Aufklärung einerseits als Unmündigkeit denunziert und andererseits – z. B. mit dem bekannten Bild von der männlichen Ulme und dem weiblichen Weinstock – als Frauenpflicht festgeschrieben hatte: (…) solche Übungen die einem die Natur lehrt sind Vorbereitungen für die Seele, alles wird Instinkt auch im Geist, er besinnt sich nicht, ob er soll oder nicht, es lehrt ihn das Gleichgewicht halten wie im Klettern und Springen, es entwickelt eine Kraft die degagiert und detachiert; das heißt: das Sehnen nach einem Pfeiler sich in der Welt anzulehnen, oder nach einem Stock um weiter zu kommen, wird einem lächerlich; bald merkt man dass man auf ziemlichen Wegen recht gut allein gehen kann, und auf steilem Pfad lässt sich durch Übung große Freiheit erwerben (Arnim 1986, 614 f.). Bettina von Arnim ist eine Enkelin der Sophie von La Roche. Das könnte die Ansicht befördern, mit dem Fortgang der bürgerlichen Gesellschaft sei allmählich auch die Gehfreiheit der Frauen vorangekommen. Doch die verstärkten Anläufe zu einer Überwindung des Geschlechterdualismus, die in den Jahren um 1800 zu bemerken sind, bleiben – wie Viktoria Schmidt-Linsenhoff (1989) es formuliert hat – ein »Nebenstrom« der historischen Entwicklung. Die folgenden Jahrzehnte befestigen die Grenzen wieder, an denen

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zuvor ein wenig und von wenigen gerüttelt wurde. Auch Bettina von Arnim selbst konnte sie teilweise nur tagträumend überwinden – wie in dieser Passage eines Briefs an Karoline von Günderrode: (…) und im Frühjahr nähmen wir unsre Stecken und wanderten, denn wir wären als Ein­siedler, und sagten nicht dass wir Mädchen wären. Du musst Dir einen falschen Bart machen, weil Du groß bist, denn sonst glaubts niemand, aber nur einen kleinen, der Dir gut steht, und weil ich klein bin, so bin ich als Dein kleiner Bruder, da muss ich mir aber meine Haare abschneiden. – So eine Reise machen wir im Frühjahr in der Maiblumenzeit (…) (Arnim 1986, 569). Anmerkungen 1 Die Orthographie wurde sowohl hier als auch bei späteren Zitaten dem heutigen Stand­ard angeglichen. 2 Die Bürgerin Lecointre in einer Erklärung vom Mai 1793. 3 So 1789 der Pädagoge Christian Carl André, zitiert nach van Dülmen (1992, 200). 4 Zur generellen Nähe La Roches zu philanthropischen Erziehungskonzeptionen vgl. Nenon (1988, 107 und passim). 5 Zitat nach Basedow (1880, 181). 6 Zur Affekt- und Konfliktverleugnung bei Autorinnen des späten 18. Jahrhunderts vgl. Prokop (1988, 323‑365, vor allem 364 f.). 7 Näher zu untersuchen wären dabei die sicherlich vorhandenen Unterschiede so­wohl zwischen im engeren Sinn fiktionalen Genres und Tagebüchern oder Brie­fen sowie zwischen Texten mit verschiedenem Öffentlichkeitsgrad bzw. privaten Tex­ten mit verschiedenen, z. B. männlichen oder weiblichen Adressaten. 8 Das 1840 erschienene Werk enthält – bearbeitete – Briefe der Jahre 1804 bis 1806.

Literatur André, Christian Carl (1788): Kleine Wanderungen auch Größere Reisen der weiblichen Zöglinge zu Schnepfenthal. Leipzig. Arnim, Bettine von (1986): Werke und Briefe. Teil 1: Clemens Brentano’s Frühlingskranz. Die Günderode. Hg. v. Walter Schmitz. Frankfurt am Main. Arndt, Ernst Moritz (1804): Ernst Moritz Arndts Reisen durch einen Theil Teutschlands, Ungarns, Italiens und Frankreichs in den Jahren 1798 und 1799. Bd. 1. Leipzig. Basedow, Johann Bernhard (1880): Das Methodenbuch für Väter und Mütter der Familien und Völker. In: Hugo Göring (Hg.): J. B. Basedows Ausgewählte Schriften. Langensalza [zuerst 1770]. Dülmen, Andrea van (Hg.) (1992): Frauenleben im 18. Jahrhundert. München u. a. Greiner, Ursula (1985): »Die eigentlichen Enragés ihres Geschlechts«. Aufklärung, Französische Revolution und Weiblichkeit. In: Helga Grubitzsch u. a. (Hg.): Grenzgängerinnen. Revolutionäre Frauen im 18. und 19. Jahrhundert. Düsseldorf, 185-217.

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GutsMuths, Johann Christoph Friedrich (1970): Gymnastik für die Jugend: enthaltend eine praktische Anweisung zu Leibesübungen; ein Beytrag zur nöthigsten Verbesserung der körperlichen Erziehung. Studientexte zur Leibeserziehung. Bd. 7. Frankfurt am Main [zuerst 1793]. La Roche, Sophie von (1781a): Rosaliens Briefe an ihre Freundin Marianna von St**. Bd. I. Leipzig. Dies. (1781b): Rosaliens Briefe an ihre Freundin Marianna von St**. Bd. II. Leipzig. Dies. (1782): Rosaliens Briefe an ihre Freundin Marianna von St**. Bd. III. Leipzig. Nenon, Monika (1988): Autorschaft und Frauenbildung. Das Beispiel Sophie von La Roche. Würzburg. Nette, Herbert (Hg.) (1956): Wilhelm und Caroline von Humboldt: Ein Leben in Briefen. Düsseldorf u. a. Petersen, Susanne (1987): Marktweiber und Amazonen. Frauen in der Französischen Revolution. Köln. Prokop, Ulrike (1988): Die Einsamkeit der Imagination. Geschlechterkonflikt und literarische Produktion um 1770. In: Gisela Brinker-Gabler (Hg.): Deutsche Literatur von Frauen. Bd. 1. München, 323‑365. Schelle, Karl Gottlob (1802): Die Spatziergänge oder die Kunst spatzieren zu gehen. Leipzig. Schmidt-Linsenhoff, Viktoria (1989): Zukunftsentwürfe um 1800. In: Dies. (Hg.): Sklavin oder Bürgerin? Französische Revolution und Neue Weiblichkeit 1760–1830. Frankfurt am Main, 504‑517. Schopenhauer, Johanna (1958): Jugendleben und Wanderbilder. Barmstedt [Zuerst 1839]. Schreiber, Ilse (Hg.) (1963): Ich war wohl klug, dass ich dich fand. Heinrich Christian Boies Briefwechsel mit Luise Mejer 1777–1785. München. Siede, J. C. (1797): Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität und männliche Schönheit. Dessau. Warneken, Bernd Jürgen (1989): Bürgerliche Gehkultur in der Epoche der Französischen Revolution. In: Zeitschrift für Volkskunde, 85. Jg., 177‑187.

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Kleine Schritte der sozialen Emanzipation Ein Versuch über den unterschichtlichen Spaziergang um 1900

Die Autobiographie Ein Prolet erzählt zeigt den Erzähler Ludwig Turek viel zu Fuß unterwegs, und in der Beschreibung seiner verschiedenen Fortbewegungsarten blättert der Autor ein kleines Lexikon der proletarischen Lauf- und Gehkultur auf: Da »stiebt« der junge Turek nach der Schule ins Freie, »flitzt« über die Zollgrenze, »stürzt« einem Polizisten entgegen, »jagt« an ihm vorbei, »rast« mit einem gestohle­nen Brot davon (Turek o. J., 12, 15 f., 20). Aus einem Betrieb, in dem er es nicht mehr aushält, »torkelt er ab«; er »trabt zum Bahnhof«, er »fegt los«, er »wetzt los«, um sich ein paar Brotschnitten zu erfechten, »stiebelt« und »tippelt« mit Kollegen die Landstraßen ent­lang. In Magdeburg »strolcht« er an der Elbe umher, und als er, arbeitslos, Berlin be­sichtigt, »stiefelt« er mit seinen Kollegen Freitreppen hinauf, »rutscht« in eine Bil­dergalerie, »lungert« im Museum herum. In den Tiergarten »geraten«, kommt er ins Gespräch mit einem »Spaziergänger« – der Spaziergang, so wird uns bedeutet, ist die Gehkultur der anderen (ebd., 67, 69, 73, 75-77, 85.). Eine spätere Szene unterstreicht diese Grenzziehung. Es ist Sonntag, Turek, abgerissen und hungrig, läuft in Küstrin herum: Ganz in Weiß gekleidete junge Mädchen gehen spazieren. Eine mir von der Lazarettzeit her sehr gut bekannte Schwester geht mit einem deutlichen Blick voller Abscheu und Ekel an mir vorüber. Spießerfamilien amüsieren sich. Ich setze mich zwischen KüstrinAltstadt und Küstrin-Neustadt auf das Geländer der Warthebrücke. Der Hunger nagt in mir. Bald sammelt sich eine Menge Sonntagsspaziergänger im Halbkreis um mich. Sonntagsnachmittagsvergnügen. ›Hallo! Du Dreckschwein, da unten is Wasser, wasch dich mal!‹ – ›Wasser kennt die Art nich, ja wenn’s Schnaps wäre.‹ – ›Na, dem krabbeln die Läuse ooch schon aus sämtliche Knopflöcher.‹ – ›Mensch, setz dein Helm ab, du kriegst Maden drunter.‹ – ›Jeh uff die Kranken­kasse und lass dir mal rasieren.‹ – Ich springe vom Geländer, und alles macht flucht­artig Platz, als ich durch den Menschenhaufen gehe (ebd., 136 f.). Spazierengehen als bürgerliche Gehweise, der Sonntagsspaziergang als Kleinbür­ger­ver­ gnügen, aus dem der »Prolet« ausgeschlossen, das ihm aber auch herzlich zuwider ist: Eine solche Sichtweise, wie sie die zitierten Turek-Passagen nahelegen, entspricht einem verbreiteten Bild von genuin proletarischer Kultur. Sie kann sicherlich insoweit als realistisch gelten, als sie auf die generelle Tatsache sozial ungleicher Arbeitsbelastungen und Freizeitmöglichkeiten bezogen wird; zu überse­hen droht sie jedoch, dass speziell der Spaziergang – der meist etwa halb- bis zwei­stündige, erholungs- und erlebnisorientierte Gang in die stadtna-

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he Natur, in städti­sche Parkanlagen oder durch Stadtstraßen1 – zu Tureks Lebzeiten (er ist 1898 gebo­ren) seinen Status als ober- und mittelschichtliches Privileg bereits verloren und in der unterschichtlichen Freizeitkultur einen hohen Stellenwert hatte. Zudem wäre es verfehlt, die – ja nicht nur Tureksche – Assoziation von Sonntagsspaziergang und Spießertum so zu verstehen, dass die Spaziergangspraxis auf Verbürgerlichung und Privatismus orientierte Gruppen von den politisch oder kulturell heterodoxen Mas­sen getrennt habe. Dafür ist die Klientel unterschichtlicher Spaziergänger sozial und politisch zu verschieden und, wie noch zu zeigen sein wird, der Gebrauchswert des Spazierengehens zu vielfältig. Im Folgenden soll versucht werden, diesem Gebrauchswert, dem »sozialen Sinn« des popularen Spaziergangs in den Jahrzehnten um die Jahrhundertwende genauer nach­zugehen: die ihm zugrundeliegenden Bedürfnisse und von ihm bereitgehaltenen Erfahrungen zu eruieren und sie mit zeitgenössischen Konzeptualisierungen sei­ner kulturellen und politischen Funktionen zu konfrontieren. Dies alles in der Hoff­nung, mit der analytischen Skizze des Spaziergangs als einer ebenso unscheinbaren wie alltagsrelevanten Form selbstbestimmten Handelns nicht nur zur Illustration, son­dern auch ein wenig zur Erhellung des Prozesses unterschichtlicher Selbstzivilisie­rung und Selbstemanzipation beizutragen.2 »Das hauptsächlichste Sonntagsvergnügen«

»Werktags auf dem Sofa liegen, Sonntags im Freien gehen«, antwortet 1910 ein Berliner Metallarbeiter auf die Frage nach seinen Haupterholungen und findet damit eine für viele Unterschichtangehörige dieser Zeit gültige Freizeitformel (vgl. Heiß 1910, 213). Bleibt an den Feierabenden unter der Woche die bloße »Entmüdung«, das Liegen und Sitzen zu Hause oder auch in der Kneipe vorherrschend, so erlaubt der – in der ausnahme­reichen Regel – arbeitsfreie Sonntag3 den Übergang zu aktiverer Freizeitverbringung. Hierbei er­weist sich der weder zeitlich noch körperlich aufwändige Spaziergang als äußerst geeignete Schwellenaktivität, die zum einen Regenerations- und Erlebnis­möglichkeiten verbindet und zum andern für die Anlagerung zusätzlicher Freizeit­aktivitäten offen ist: für Verwandten-, Wirtshaus- oder Kinobesuch; für Picknickpausen, Spiele, Lesen, Lieben. Darüber hinaus lässt sich hierbei, wie ein Berliner Metallarbeiter es ausdrückte, »das Angenehme mit dem Nützlichen« (Heiß 1910, 221) verbinden: Oft bringt man vom Spaziergang Pilze, Beeren, Kräuter, Reisig, Zapfen mit, was vor allem bei Arbeiter­f rauen die – äußere wie innere – Legitimation des »Müßiggehens« gefördert haben dürfte. Die Verbreitetheit des sonntäglichen Arbeiterspaziergangs wird dabei sowohl aus Großstädten wie aus Mittel- und Kleinstädten, von einigen Beobachtern auch aus Dorfgemeinden gemeldet. So berichtet Richard Sorer über die Arbeiter einer Wiener Maschinenfabrik, für die Mehrzahl sei wochentags »Schlaf« und »Ruhe« die einzige Rekreation; im Sommer allerdings »erholten sich recht viele am besten durch einen kleinen Spaziergang nach Feierabend im Freien, im Prater, längs der Donau, in den Auen«. Auch am Sonntag ruh-

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ten sich manche lediglich aus; »die meisten jedoch erfrischte ein Spaziergang in die Wiener Umgebung, ein Ausflug in den Wiener Wald (mit einer kleinen Einkehr) am besten« (Sorer 1911, 255). Marie Bernays schreibt über Gladbacher Textilarbeiter, dass »das Spazierengehen für den größten Teil der jünge­ren Arbeiter und Arbeiterinnen das hauptsächlichste Sonntagsvergnügen war, dass es für alle von ihnen einen bedeutenden Teil der Sonntagsfreude ausmachte« (Bernays 1912, 238). Bei Fritz Schumanns Befragung von Automobilarbeitern des Daimlerwerks Stuttgart-Unter­türkheim wird für Werktage das Spazierengehen – nach dem Zeitunglesen – als zweit­häufigste, für Sonntage als mit Abstand häufigste Erholungstätigkeit angegeben.4 Auch Karl Keck, der Arbeiter einer badischen Steinzeugwarenfabrik befragt hat, gibt an, dass der verheiratete Arbeiter, sofern er nicht kirchlich sei, am Sonntagvormittag mit den Kindern in den Wald oder aufs Feld gehe, und fügt hinzu: »Auf diesen Weg freut er sich, genau wie der unverheiratete Arbeiter meist schon die ganze Woche vorher als auf seine liebste Erholung« (Keck 1912, 167). Die zitierten Enquêten von 1910/1912 halten alle­samt fest, dass die Befragten den Spaziergang als höchst attraktiv und keineswegs als freizeitliche Residualtätigkeit schildern, mit der man sich mangels Geld, Zeit oder kul­tureller Ressourcen zu begnügen habe. Am pointiertesten hebt Marie Bernays die her­ ausragende Stellung des proletarischen Spaziergangswunsches hervor: »Für die Arbeiter«, schreibt sie, »war der reiche Mann nicht der, der gut aß und trank; sondern der, der spazierengeht: ›Ich möchte auch den ganzen Tag spazierengehen, wie die rei­chen Leute‹, war ein oft gehörter Wunsch« (Bernays 1912, 237).5 Zur Spaziergangshäufigkeit verschiedener Unterschichtsgruppen gestatten die die­ser Darstellung zugrundeliegenden Quellen nur relativ grobe und zudem ungesicherte Aussagen. Was die Unterscheidung nach ökonomischer Lage angeht, so korreliert Marie Bernays in ihrer Gladbach-Untersuchung Lohnhöhen und Freizeittätigkeiten; dabei erhalten unter dem Freizeittyp »Spazierengehen und Vergnügen« rubrizierte Arbeiter zwischen 25 und 60 Jahren weniger Stundenlohn als die mit »Lesen und Musik« beschäftigten; bei den Arbeiterinnen stehen sich bis zum Alter von 24 Jah­ren die »häuslichen« und die »lesenden« ein klein wenig besser als die »spazieren­gehenden« und »vergnügungslustigen«, bei den 25–40jährigen dagegen liegen die letz­teren vorne (vgl. Bernays 1912, 352 f.). Doch die Differenzen sind wenig signifikant und erlauben es zudem nicht, den Spaziergang von anderen außerhäuslichen Vergnügungen getrennt zu betrachten. Häufiger und auch eindeutiger sind die Aussagen über die verschiedenen Altersgruppen. Demnach sind jüngere Arbeiterinnen besonders spaziergangsorientiert. Sie haben, eher als ältere und dann meist verheiratete Arbeiter, oft auch wochentags Zeit für einen kleinen Ausgang, und die unverheiratete, aber schon selbstverdienende Jugend hat in vielen Fällen ein wenig Geld für Kino, Rummelbesuch oder Tanz übrig, für Unterhaltungen also, die mit Spaziergängen gerne verbunden werden. Am Sonntag neh­men Jugendliche freilich häufig die Chance zu ausgedehnteren und aufwändigeren Freizeittätigkeiten wie etwa größeren Ausflügen und vor allem

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sportlichen Tätigkeiten wahr (vgl. ebd., 238; Keck 1912, 168), was jedoch nicht bedeuten muss, dass Spaziergänge nun entfallen, sondern nur, dass die ihnen zugemessene Bedeutung und das heißt auch ihre Nennung unter den Haupt­erholungen zurückgeht. Zumindest auf den ersten Blick widersprüchlich sind die Auskünfte über die ver­heirateten Arbeiter und Arbeiterinnen. Auf der einen Seite sind sich die Untersuchungen darin einig, dass verheiratete Arbeiterinnen oder Arbeiterfrauen, zumal wenn sie Kin­der haben, auch am Sonntag mit Hausarbeit beschäftigt sind und sich nur selten außer­halb des Hauses erholen und unterhalten können.6 Auf der anderen Seite ist immer wieder vom sonntäglichen »Familienspaziergang« der Arbeiter die Rede. In einer Untersuchung z. B., die der Verband evangelischer Arbeiter-Vereine 1892 bei seinen durchführte (Weber 1892), wird neben seufzend gemeldetem Wirtshausbesuch und Tanzvergnügungen die Häufigkeit des, wie man hofft, Ehe und Familie zusammenhaltenden Arbeiterspazier­gangs erwähnt. Ein Bericht aus Karlsruhe: »Die Familie geht mit dem Hausvater zusammen ins Freie hinaus und kehrt kurz zur Erfrischung irgendwo ein« (Bernays 1912, 237). Aus Striegau: »Wenn es das Wetter irgendwie erlaubt, benützen wohl die meisten Arbei­terfamilien den Sonntag zu einem Spaziergang. Damit ist allerdings Wirtshausbesuch und Tanz verbunden« (ebd., 239). Andere Berichte fördern freilich zutage, dass Väter – nicht selten auch die Großväter – teilweise alleine mit den Kindern aus dem Haus gehen, was insbesondere für den Sonntagvormittag gilt (vgl. Keck 1912, 176),7 Ehefrauen hingegen oft nur am Sonntagnachmittag, und selbst dies nicht häufig, Zeit zu einem kurzen Spaziergang finden (vgl. Herrmann 1912, 45 f.).8 Des öfteren scheint der Kirchgang ihr einziger Erholungsgang zu sein (vgl. ebd., 62). Zudem gibt es Hinweise darauf. dass das gemeinsame Ausgehen von Ehemann und Ehefrau eher ein urbanes Muster ist, das erst später auch in die Dörfer einzieht, wo verheiratete Frauen traditionellerweise nur zu zweckbestimmten Gängen auf der Straße erschienen (vgl. Weber-Kellermann 1987, 198). Rudolf Fuchs berichtet 1904 in einer Studie über die Industriearbeiter­schaft badischer Dörfer: Im Gegensatz zu der Gewohnheit der städtischen Arbeiterbevölkerung, am Sonntag Nach­mittag mit der ganzen Familie einen Spaziergang zu machen und im Anschluss daran ebenfalls gemeinsam eine Erfrischung zu nehmen, gilt auf den Landorten bei der bäuerlichen Bevölkerung und Arbeiterbevölkerung der Grundsatz: Die Frau gehört ins Haus. Allerdings haben die Frauen ihn an einzelnen Orten schon längst durchbrochen: sie gehen allein und setzen sich, um ungestört zu sein, in das Nebenzimmer. Die Kinder nehmen sie mit (…). Ein Arbeiter berichtete laut Fuchs, es sei in seiner Gemeinde üblich, dass der Mann am Sonntag nachmittag allein ausgehe und die Frau zu Hause lasse. Dass er selbst – er war lange Jahre in einer Großstadt

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beschäftigt – mit seiner Familie am Sonntag einen gemeinsamen Spa­ziergang mache und darnach mit den Seinigen eine Erfrischung genieße, falle auf und werde ihm als Schwäche ausgelegt. In Gemeinden mit zahlreicher Arbeiterschaft bah­ne sich aber doch »langsam die Sitte an, dass Mann und Frau gemeinsam ihren Sonn­tagnachmittag verbringen; Arbeiter, welche von auswärts zugezogen sind, oder lange in Städten gelebt haben, bringen diese, gewiss eine höhere Kulturstufe anzei­gende Gewohnheit mit« (Fuchs 1904, 202 u. 206). Mit der allmählichen Verkürzung von Arbeitszeiten, erhöhtem Lebensstandard, einer vergrößerten und diversifizierteren Freizeitbranche sowie der Ausbreitung des Arbeitervereinswesens in den 1920er Jahren wird der Stellenwert des Spaziergangs in der Unterschichtenerholung zwar etwas geringer, aber auf keinen Fall marginal. Arbeitergruppen mit vergleichsweise hohem Freizeitstandard wie z. B. unverheira­tete junge Arbeiterinnen wechseln sonntags zu weiteren Ausflügen oder zu sportli­cher Betätigung über; dafür sind nun mehr freizeitarme Gruppen wie z. B. Hausfrauen und Mütter beim Spaziergang zu treffen. Am Sonntag wird dieser nun zwar öfters vom ganztägigen Ausflug abgelöst, dafür kann er zunehmend am Feierabend unter der Wo­che Fuß fassen, und mit der weiteren Verstädterung und städtebaulichen Veränderungen – breiteren Bürgersteigen, schaufensterreichen Geschäftsstraßen, der vermehrten Ein­richtung von Volksparks – kommt zum Naturspaziergang auch immer mehr der Bum­mel durch die City, im Stadtteilpark und einfach »um’s Carré«. Der unterschichtliche Spaziergang verliert also teilweise seine Position als heiß ersehntes Sonntags- und Son­dervergnügen, etabliert sich aber als wesentlicher Bestandteil der unterschichtlichen Alltagskultur, der sich als Erholung und Erlebnis verbindendes Intermezzo zwischen extensivere und intensivere Freizeittätigkeiten schiebt. Anschaulich dokumentiert ist dies vor allem für den Jugendbereich.9 Dinses Befunden zufolge zeichnet sich dabei 1930 – man wird sagen können: noch – eine geringere Spaziergangsfrequenz als bei den Mittelschichten ab.10 Spätere Untersuchungen zeigen dann eine weitgehende Schichtenangleichung: 1955 machten am Wochenende 50 % der westdeutschen Bevölkerung und 51 % der Arbeiterbevölkerung einen Spaziergang (vgl. Neumann/Neumann 1957, 31); 1980 gingen 17 % der Volksschüler ohne Lehre, 20 % der Volksschüler mit Lehre und 22 % der Mittel- und Oberschulabsolventen »fast täglich« spazieren (vgl. Berg/Kiefer 1982, 161).11 Das bedeutet zugleich, dass die in den letzten Jahrzehnten verbreitete Klage über das Dahinschwinden des Spaziergangs eindeutig überzogen ist. Mithin ist die hier beschriebene Veralltäglichung des unterschichtlichen Spaziergangs die Einübung in eine Tätigkeitsform, die bei der Nutzung von Eigenzeit, der Nutzung öffentlichen Raums als Erlebnisraum und der autonomen Interaktion mit Bekannten und Fremden bis heute einen hohen Stellenwert hat.

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Aufrichtung

1884 bringt das sozialdemokratische Satireblatt Der Wahre Jacob eine Karikatur »Philisters Spaziergang«, die einen Herrn mit Zigarre, Schirm und Pelerine zeigt und deren Begleitgedicht mit den Ver­sen beginnt: »Ich spaziere heut’ Abend/Nach altem Brauch,/Gedanken habend,/Ver­dauung auch« (Der Wahre Jacob, Jg. 1884, Nr. 3, 19). Der »alte Brauch«, der hier mild bespöttelt wird, ist die »gemäßigte Motion«, die diätetische Ratgeber dem in sitzender Lebensweise verkümmernden Gelehrten-, Schriftsteller-, Beamten- und Kaufmannskörper traditionell zu ver­schreiben pflegen. Wenigstens einmal am Tage, so lautet das Rezept, soll sich der Bür­ger zu einem die Verdauung und den Kreislauf fördernden, die steifgewordenen Glie­der lockernden und die schlaffen Muskeln stärkenden Gang ins Freie aufraffen. Der bürgerliche Spaziergang über die Promenade hinaus, der seit der Spätaufklärung zur bürgerlichen Alltagspraxis geworden ist (vgl. König 1996; Warneken 1989), stand nicht zuletzt für Beweglichmachen und Inbewegungsetzen – auch wenn er in dieser Funktion von der Turnbewegung und der Wanderbewegung allmählich überholt wurde. Ganz anders der Spaziergang der unterschichtlichen und vor allem der Arbeiterbevölkerung: Für sie bedeutet er weni­ger Mobilisierung als Retardierung. Er steht im Zeichen einer »Entdeckung der Langsamkeit«, die für breite bürgerliche Schichten erst mit der Motorisierung der letzten Jahrzehnte und der Beschleunigung von Alltagstätigkeiten insgesamt zu einem bestimmenden Moment des Spaziererlebnisses geworden ist. Um die unterschichtliche Spaziergangserfahrung ganz verstehen zu können, muss man sich vergegenwärtigen, dass ja nicht nur die Industriearbeit selbst unter einem zunehmenden Tempodiktat stand, sondern auch das rasche Gehen, über oft lange Strecken, zum Arbeiteralltag gehörte. Bis in die 1880er Jahre ging die Mehr­heit der Erwerbstätigen zu Fuß zur Arbeit, wobei ein bis zwei Gehstunden am Tag keine Seltenheit waren. Das rapide Städtewachstum um die Jahrhundertwende ver­längerte oftmals noch die Wegstrecken; die allmählich aufkommenden Verkehrsmittel waren vielen Arbeitern zu teuer (vgl. Kuczynski 1982, 217 f.). So gehörte zum Bild der Unterschichten neben dem müden und schweren auch der eilige Arbeiterschritt, bei bürgerlichen Beobachtern wie Paul Göhre (vgl. Göhre 1891, 31) ebenso wie in der zeitgenössischen Arbeiterlyrik: »Hastend eilt die berußte Schaar/Heim mit hallenden Schritten«, heißt es z. B. in dem Gedicht Nach Sonnenuntergang von Ernst Klaar (Beißwanger 1901, 391). Besonders im Alltag von Arbeiterinnen und Arbeiterfrauen kumulierte sich ein gehetzter Arbeits- mit einem schnellen Geh­rhythmus; die Niederschriften, die gewerkschaftlich organisierte Textilarbeiterinnen 1928 zum Thema »Mein Arbeitstag, mein Wochenende« verfassten, machen das über­aus anschaulich:12 »Um 7 Uhr beginnt die Fron fürs Kapital. Sechstage-Rennen im Volksmunde genannt. Ziemlich krass, aber doch wahr« (59). »½ 5 Uhr früh heißt es: ›Raus aus den Federn!‹ Missmutig, dass die Nacht schon weg ist, erhebt man sich, wäscht sich und kleidet sich an. Der praktische Bubikopf erfordert nicht viel Zeit. Nun geht es an Brot-, Kaffee- und Esseneinpacken. Schnell muss alles gehen und jeder Handgriff gilt, denn der Zug wartet

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nicht. Zum Glück habe ich es nicht weit zum Bahnhof. ½ 6 Uhr jage ich dann los« (100). »Nun schnell die Morgentoilette beendet – beim Bubikopf geht es ziemlich schnell. Dann wird Proviant für den Tag eingepackt. (…) Schnell nachsehen, ob das Rad in Ordnung ist (denn ich wohne 1 Stunde von der Arbeitsstelle weg). Nach einem Blick auf die Uhr ist es ¼ 7 Uhr. Höchste Zeit zur Abfahrt und los geht es in ½-stündiger Fahrt zur Arbeit« (115). »Endlich ist es Mittag, schnell wird heimgejagt, gegessen und schnell wieder fort, und wieder heult die Sirene (…)« (18). »Um 7 Uhr bin ich im Geschäft, gehe meiner gewohnten Arbeit nach bis 12 Uhr, dann aber auf dem schnellsten Wege heim. 5 Minu­ten vergehen allein an der Stempeluhr. (Es ist nur eine Uhr im Saal und 130 bis 150 Arbeiterinnen!) Ich habe 20 Minuten stramm zu laufen, bis ich im Elternhause bin. (Das Fahren rentiert sich nicht.) Das Essen darf nicht heiß sein und muss schon auf dem Tisch stehen, damit ich, bis es um 1 Uhr pfeift, wieder zur Stelle bin!« (40 f.). »Sonnabend. (…) Wieder die Hetzjagd, aber heut habe ich doch den Nachmittag frei. Wenn die Arbeit beendet ist, schnell die Kinder holen. Mittags gibt es Kartoffelsup­pe, das dauert nicht so lange. Dann die Betten machen, scheuern, die Kinder baden, einkaufen. Immer muss ich schnell laufen, damit ich beizeiten fertig werde« (140). »Feierabend! Und schnell ist man draußen. ½ 18 Uhr fährt der Zug, kurz vor ½ 19 Uhr bin ich am Wohnort angelangt, gleich geht es in den Konsum, die Einkäufe zu erledigen« (101). »Nun komme ich, von Staub und Schweiß erhitzt, um 5 Uhr und noch später heim, dann kann ich nicht etwa spazierengehen, nein, nun heißt es nochmal daheim loslegen« (63). Von diesem »Sechstagerennen« hebt sich der Arbeitersonntag ab als der Tag der Langsamkeit. »Was mir bei diesen Leuten, wenn sie von ihrem sonntäglichen Tun erzählten, am meisten auffiel und am deutlichsten im Gedächtnis geblieben ist«, schreibt Marie Bernays über verheiratete Gladbacher Textilarbeiter, war eine behagliche Brei­te, aus der man die Zufriedenheit zu spüren glaubte, die der Mann empfand, an einem Tag der Woche sich nicht eilen zu müssen. Vielen schien, schon allein durch diese Tatsache, alles, was sie am Sonntag taten, erfreulich zu sein. So wurden oft die gleichgültigsten Dinge sorgsam und nachdenklich aufgezählt: Da schlafe ich lang – dann wasche ich mich – und ziehe mich an – und frühstücke langsam – und rauche langsam meine Pfeife – und so entrollt sich dann ein Tag aus lauter kleinen Einzelheiten zusammengesetzt, der nach dem Gang in die Messe, als Hauptsache wohl ›einen Spaziergang mit der Frau‹ oder ›ein Sitzen im Garten‹ oder ›ein Spielen mit den Kindern‹ bringt (Ber­ nays 1912, 235 f.).13 Die öffentliche Langsamkeit des Spaziergangs ist dabei neben der körperlichen auch soziale Regeneration: Außer dem Recht auf Erholung bedeutet sie die Aufrichtung aus der Subalternität des Laufschritts, die Befreiung von den werktäglichen Kommandos, die einen losschicken oder, wie die »Proletenpfeife«,14 zur Arbeit rufen.

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Bei vielen Unterschichtsangehörigen unterscheidet nicht nur das Gehtempo den Sonn­tagsvom Werktagsgang. Körperliche Arbeit bedeutet noch um die Jahrhundertwende häufig Tragarbeit. Schwer bepackte Straßenhändlerlnnen, Material und Werkzeug befördernde Handwerker und Arbeiter, Gepäckträger, mit Körben behängte Dienst­mädchen, Essen in die Fabrik tragende Frauen. Leiterwägen ziehende und Waren zustellende Dienstboten – oft Jugendliche (vgl. z. B. Wulff 1911, 236-238) – gehören noch um die Jahrhundert­ wende zum werktäglichen Straßenbild. Am Sonntag dagegen, so fällt dem Berliner Flaneur Julius Rodenberg auf, »da sieht man keine Frauen mit Taschen oder Körben, keine Männer mit Kasten oder Handwerksgeräth« (Rodenberg 1891, Bd. 1, 25): Nun ist aufrechter Gang mög­lich, können Kopf und Blick erhoben werden und die Hände sich darauf beschrän­ ken, eine Zigarette oder einen Spazierstock zu halten, die indizieren, dass ihre Träger heute ihrer eigenen Wege gehen, dass sie endlich einmal »Schritte machen, die nicht von anderen befohlen sind« (Ostwald o. J., 192). Individuierung

In einer Studie über die Arbeiterfreizeit in den 1920er Jahren schreibt Manfred Hübner: »In allen proletarischen Milieus scheint der ›Einzelgänger‹ eine Seltenheit und die Ausnahme zu sein. Die Regel ist der Hang zu Gruppenaktionen« (Hübner 1992, 157). Zu den Freizeittätigkeiten, die Hübner hierbei im Blick hat, zählen unter anderem Kino‑, Kneipenund Sportplatzbesuch, Schwimmen oder Wandern, nicht jedoch der Spaziergang. Bezieht man diesen in die Betrachtung ein, wird das Bild von der kollektiven Freizeitverbringung und damit auch der generellen Kollektivorientierung der Unterschichten zwar nicht desavouiert, zeigt sich jedoch als zumindest differenzierungsbedürftig. Auf der einen Seite gibt es zahlreiche Belege dafür, dass Unterschichtangehörige beim Spaziergang häufig in größeren Gruppen – sei es die Jugendclique, sei es die Familie – unterwegs sind, und es ist durchaus möglich, dass diese Gesellungsform bei ihnen öfter zu finden ist als bei bürgerlichen Spaziergängern; andererseits ist unübersehbar, dass der Spaziergang auch im unterschichtlichen Milieu als Medium der Individuierung genutzt wird, dass er den Wunsch erfüllt, sich zeitweise von seiner sozialen Umge­bung zu lösen, einmal andere Leute zu sehen und zu sich selbst zu kommen. Aus der Kindheitszeit werden Spaziergänge von Arbeitern des öfteren als eine rare Gelegenheit erinnert, den Vater einmal für sich allein zu haben, von ihm etwas erklärt oder aus seinem Leben erzählt zu bekommen. »Mein Vater«, erinnert sich z. B. ein pensionierter Bergmann 1909, »ist im Harz in Clausthal wie ich 6 Jahre alt war mit mir in den Wald Spazieren gegangen hat mir die Vögel so wie alle andern Tiere kennen gelernt, wor­auf ich mich die ganze Woche freute, wenn Sonntag kam« (Levenstein o. J., 64). Und keineswegs nur bei bürgerlichen Jugendlichen ist der Spaziergang ein beliebter Ort ungestörten Austauschs mit dem besten Freund oder der besten Freundin: »Ich lernte einen Freund kennen, der sehr zu mir hielt«, berichtet in Dinses Befragung ein 17jähriger Bootsbauerlehr­

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ling. »Jetzt gehen wir Sonntags im Wald oder am See spazieren und unterhalten uns. Wir genügen uns damit, denn wir bekommen uns die ganze Woche nicht zu sehen und meine Eltern leiden es auch nicht« (Dinse 1932, 64). Der Spaziergang von Ehepaaren bedeutet ebenfalls nicht nur gemeinsam genossene Erholung, sondern bietet auch eine im All­ tag selten gebotene Chance zur intensiveren Zuwendung, zum Pläneschmieden und zum Besprechen von Problemen. Besondere Bedeutung hat der Spaziergang natür­lich für Liebesbeziehungen im Jugendalter: Vergegenwärtigt man sich, dass noch 1927 die meisten Arbeiterfamilien in einem bis drei Räumen und fast vier Fünftel der erwerbstätigen Jugendlichen bei ihren Eltern wohnten (vgl. Peukert 1987, 24 f.), so wird evident, wie wich­tig das abendliche »Runtergehen« und der zweisame Sonntagsausflug in den Park oder den Wald waren, von dem in Robert Dinses Jugenduntersuchung so oft die Rede ist. Wie Eltern und Pädagogen vermuten und ein Teil der Jugendlichen freimütig berichtet, dienen die Zwischenhalte solcher Spaziergänge – auf der Parkbank, auf der Wiese, im Hausflur – oft dem ungestörten Austausch von Zärtlichkeiten, der Weg selbst aber auch dem von Erfahrungen und Problemen: »An drei bestimmten Tagen in der Woche treffe ich mich mit meinem Freund«, berichtet bei Dinse eine 17jährige Schnei­derin. »Wir gehen spazieren, erzählen von den andern Tagen, an denen wir uns nicht gesehen haben, reden auch über unsern Beruf, kurz alles, was einen angeht« (Dinse 1932, 68). Das beste Pflaster und der klassische Ort für solches »Herumflanieren ohne gehörige Aufsicht« (Hellpach 1902, 100) ist die Großstadt, deren Anonymität zudem die nicht nur von bürger­lichen Flaneuren geschätzte Möglichkeit zum öffentlichen Genuss heimlicher Gefühle bietet.«15 Doch auch in ländlichen Gemeinden ist der Spaziergang, wenn auch in dorfkulturellen Grenzen, eine legitime Form der Separation von der Gruppe und der Zusammenführung der Geschlechter. So berichtet Andreas Gestrich über ein württem­bergisches Arbeiterdorf, dass Arbeiterjugendliche – ebenso wie andere Dorfjugendliche – sonntags nach Mädchen und Jungen getrennt aus dem Ort zogen; aus größeren bil­deten sich dann kleinere Gruppen und schließlich gemischtgeschlechtliche Paare, die miteinander am Waldrand entlanggingen. Angesichts der Tatsache, dass in den Fabriken Geschlechtertrennung herrschte und die Jugendlichen auch auf dem Weg zur Arbeit immer mit Erwachsenen gingen, die, so Gestrich, »gestrenge Aufsicht über sie führten«, gehörten solche Spaziergänge zu den wenigen Gelegenheiten unbeauf­sichtigter Zweisamkeit – wobei die Wahlfreiheit beim Anbändeln freilich ungleich geringer war als bei städtischen Trefforten, da sie sich auf Angehörige des eigenen Dorfs beschränkte (vgl. Gestrich 1986, 105 f.). Wo Unterschichtsangehörige als Einzelgänger spazierengehen, ist sicherlich zuerst an Alleinstehende – ältere noch mehr als jüngere16 – zu denken, die ihre Einsamkeit nicht unbedingt als Freiheit genießen, sondern auf diesem Spazierwege wenigstens ein bisschen unter Leute kommen wollen. Aber es lassen sich auch etliche Hin­weise auf die Existenz eines proletarischen promeneur solitaire finden, der sein Kol­lektiv vorübergehend verlässt, weil es keine individuelle Muße erlaubt. So wünscht sich ein 21jähriger Schlosser, den Adolf Levenstein in seiner Arbeiterfrage von 1912 zitiert, genügend Zeit dafür, »in den Wald oder in ein sonst hierzu passendes Institut gehen und in voller Einsamkeit meine in der Öffent-

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lichkeit gewonnenen Eindrücke geistig verarbeiten« (Levenstein 1912, 199)17 zu können. Einsichten über die Gesellschaft, die nur abseits von Gesellschaft gewonnen werden können: Das erinnert an den Spaziergangsdiskurs des aufsteigenden Bürgertums, und da die Äußerung von einem sozialdemokratischen Ar­beiter stammt, ist eine solche Parallelisierung nicht einmal ganz schief. Ein 33jähri­ger Kohlenhauer schreibt: »Die Zeit nach meiner Arbeit möchte ich gerne zur Erholung im Freien oder im Walde verbringen, und möglichst allein, mit einer Lektüre« (ebd., 181). Einsame Lektüre in freier Landschaft: Auch dies ein Motiv der bürgerlichen Eman­zipa­ tionszeit, ›nachgeholt‹ aber nicht aus anakreontischer Naturschwärmerei, sondern eher, weil die Wohnung des Ehemanns und Vaters von zwei Kindern, der sich hier äußert, als ruhigen Leseort nur einen nicht allzu amoenen Locus zu bieten hatte. Ver­einzelt ist auch bezeugt, dass sich die Ehefrauen den Luxus einer solchen Familien­distanz erlauben: »Auf meinen Sonntagmorgenspaziergang freue ich mich die ganze Woche«, schreibt eine 28jährige Mutter in der Sammlung Mein Arbeitstag, mein Wochenende: »Ringsum ist es still! Frieden atmet die Natur. Ich schaue die früch­tebeladenen Felder, die weiten grünen Wiesen, die hohen Fichtenstämme. Ich sauge die harzige Luft ein. Ich laufe eine ganze Stunde, denn heute bin ich frei, heute ist mein Tag« (Deutscher Textilarbeiterverband o. J., 183). Näher zu prüfen wären allerdings die Grenzen einer solchen weiblichen Gehfreiheit. Man darf annehmen, dass der zeitgenössische Verhaltenskodex nicht nur der Bürgerin, sondern auch der »ordentlichen« Arbeiterin und Arbeiterfrau eher die Einsamkeit in der Natur als die in der Menge zubilligte. In den Stadtstraßen dahin­schlendernde Flaneurinnen aller Schichten dürften dem Verdacht der »Leichtlebigkeit«, zumindest des pflichtvergessenen Selbstgenusses, ausgesetzt gewesen sein; die Präferenz für Ausgänge am Arm des Mannes oder mit Kindern an der Hand indiziert also nicht unbedingt nur den primären Wunsch nach Familienund Kollektivorien­tierung, sondern hat wohl auch damit zu tun, dass diese einen Schutz vor Zudringlichkeiten und moralischen Sanktionen bot. Partizipation

»Die Bestrebungen des hiesigen Verschönerungsvereins«, berichtet 1892 der Evan­gelische Arbeiterverein aus Iserlohn, welcher zahlreiche Spaziergänge in der schönen Umgebung der Stadt angelegt hat und unterhält, üben einen äußerst vorteil­haften Einfluss auf die Benutzung der Sonntagszeit seitens des Arbeiters. Wann sah man früher Mann und Frau und Kinder zusammen spazieren gehen? Jetzt begegnet man zahlreichen Familien an Sonntag Nachmittagen auf allen Wegen, und weil alle Gesellschaftsklassen auf denselben zu finden sind, geht Alles ordentlich und anständig zu (Weber 1892, 238 f.).

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Das klingt, als habe sich die sozialreformerische Hoffnung erfüllt, die schon die Einrichtung der ersten Volksparks im 19. Jahrhundert begleitete: dass neben dem beruhigenden und versittlichenden Anblick geordneter Natur18 auch das Beispiel der promenierenden Bourgeoisie den proletarischen Charakter erudieren werde (vgl. Hennebo o. J., 117 f.). Andere bürgerliche Beobachter urteilen ablehnender: Sie sehen im freizeitlichen Nebeneinander der Spaziergänger aller Klassen weniger eine Verbürgerlichung des Proletariats als eine Proletarisierung genuin bürgerlicher Areale. Verärgert wird konsta­tiert, dass man nicht nur in den neuen »kommunistischen Transportmitteln« (Hellpach 1902, 212) mit Unterschichtlern zusammengepfercht ist, sondern dass diese zunehmend auch City­parks und Promenaden, in denen sie sonst vor allem als eilige Durchgänger oder in Arbeitsfunktionen präsent waren, müßiggängerisch in Mitbesitz nehmen, sich vespernd auf Ruhebänken »breitmachen« und damit das »gute Publikum« vertreiben. Man hört Klagen über proletarische Parkbenutzer, die sich im öffentlichen wie in ihrem privaten Raum benähmen, die den spaziergängerischen Komment verletzten, indem sie laut redeten, lachten, sängen oder gar das Gebot verletzten, sich der Naturschön­heit nur mit den Augen zu nähern: nämlich auf dem Rasen tollten, Obst abrissen, Blu­men pflückten oder Vögel fängen.19 Zum Ärger gesellt sich Angst. Julius Rodenberg schildert ein Erlebnis aus dem Humboldthain: Rein und gut und erfüllt von dem Aroma des Mai’s ist die Luft: vor mir jauchzen Hun­ derte von Kindern auf dem in der Abendsonne leuchtenden Rasen, indessen auf der breiten Promenade ringsum ehrbare Männer und Frauen sich ergehen oder, auf den zahlreichen und bequemen Bänken sitzend, dem frohen Treiben zuschauen. Welch ein Paradies harmloser Munterkeit und Frühlingslust scheint dies zu sein: … Da kom­men zwei junge Arbeiter des Weges, einer davon unsichern Schrittes, die Mütze nach hinten ins Genick gezogen, das Gesicht erhitzt, und ihnen folgt ein Frauenzimmer, in deren nicht unschönen Zügen sich Angst oder Beschämung ausdrückt. Der mit der Mütze im Nacken zieht eine Branntweinflasche aus der Brusttasche hervor und reicht sie schwankend dem Mädchen mit den Worten, die er mehr lallt als spricht: ›Spiri­dus fine, anners dhun wir es nich!‹ Er meint gewiss, einen guten Witz gemacht zu haben; aber das Mädchen wehrt ihn mit der Hand ab und wendet sich zur Seite, wo­rauf Jener, zum Schlag ausholend, die Faust erhebt. Jetzt tritt sein Kamerad dazwi­schen und sucht ihn zu beruhigen: er taumelt zurück und, wie ein Spuk, plötzlich auf­getaucht, verschwindet das hässliche Bild hinter den Bäumen (Rodenberg 1891, Bd. 2, 133 f.). Rodenberg gibt freilich nicht nur den bürgerlichen Schock über eine solche Kul­tur­kon­ frontation, sondern auch den Eindruck wieder, dass die Begleiter des Betrun­kenen die Szene selbst als peinlich empfinden. Und er plädiert nicht gegen die freizeitliche Ständevermischung, sondern lobt die »städtischen Gärten, welche Jedem, auch dem ärmsten unserer Mitbürger, zu gleichem Rechte gehören«, als humane Errungenschaft (vgl. ebd., 139). Andere Vertreter seiner Klasse geben den Unterschichten jedoch deutlich zu verstehen, dass sie diese Rechte als sehr begrenzt betrachten. Schäbig gekleidete Fußgänger, die vor einem

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»Es ist unglaublich, wie frech und unverschämt am Sonntag das Publikum ist; kaum sitzt man auf einer Bank – gleich macht sich auch eine Arbeiterfamilie neben einem breit.« (Zeichnung von A. Münzer im Simplizissimus, Jg. 1899/1900, 125)

Schaufenster verweilen, müssen z. B. des Polizistenrufs »Vorwärts!« gewärtig sein,20 und die sozialdemokratische Presse dokumentiert öfters Beleidigungen, ja Tätlichkeiten, die sich »studentische Rowdies« in Berliner Parks und auf Berliner Gehwegen gegenüber Arbeitern zuschulden kommen ließen.21 Die recht genaue Darstellung eines solchen Konflikts enthält die 1905 erschienene Autobiographie des Industriearbeiters Moritz Th. W. Bromme. Während eines Kuraufenthalts bei Berka geht Bromme mit zwei Freunden im Wald spazieren: In »tollster Stimmung« veranstalten sie »ein richtiges Pilzbombardement, natürlich nur mit ungenießbaren«; später setzen sie sich auf eine Bank und pfeifen den Gassenhauer »Lebt denn meine Male noch«, als ein junger Forstadjunkt sie mit den Worten anfährt: »Ich werde Sie pfeifen lernen.« »Maiwald entgegnete: ›Wer hat denn gepfiffen, das war’n doch die da oben.‹ ›Was, die da oben?‹ entgegnete der Adjunkt, ›Sie wollen mich wohl noch hier zum Narren halten, die da oben, stehen Sie auf, aber sofort bitte.‹ Hierauf sagte Maiwald: ›Ach gehen Sie weg und belästigen Sie mich nicht mehr. Ich könnte mich sonst auf regen.‹ Darauf der andere: ›Was, ich soll weggehen, Sie wollen mich wegweisen, mich

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hier in meinem Revier, in meiner Behausung? Wer sind Sie denn mir gegenüber? Sie sind ja nur aus Gnade und Barmherzigkeit hier. Ihr müsst doch froh sein, dass man Euch das Leben lässt, denn ohne uns würdet ihr verhungern.‹ Darauf natürlich großer und energischer Protest, indem von uns das Umgekehrte für richtig erklärt wurde. Der Streit eskaliert. Bromme bittet seine Kollegen vergeblich, doch abzulassen, und drückt sich schließlich »seitwärts in die Büsche« (Bromme 1971, 316 f.). Versuche der Selbstbehauptung, aber doch auch Fluchttendenzen: Die Brommesche Szene hat durchaus Schlüssel­ charakter für den unterschichtlichen Umgang mit bürgerlichen Exklusionsbestrebungen und Missachtungssignalen. Oft hindern Gefühle kultureller Unterlegenheit, z. B. die Scham wegen schlechter Kleidung, das gleiche »Recht auf die Straße« wahrzuneh­men. Man geht dann lieber hinaus in die »freie Natur«, die einen nicht zuletzt von bürgerlichen Kontrollblicken befreit, oder bleibt von vorherein im eigenen Quartier oder in der Laubenkolonie, über die es in der Zeitschrift Kleingartenwacht 1929 heißt: »Kein öffentlicher Park, keine Promenade kann dieses Gefühl des Geborgen­seins vermitteln« (zit. nach Adams 1929, 88). Insgesamt wächst jedoch, zumal bei jüngeren ArbeiterInnen, das Bedürfnis und der Mut, sich unter die flanierenden Bürger zu mischen. sich – gewiss unter Einhaltung gewisser Abstände und Differenzierungen22 – auch in den reprä­sentativen Parks und auf den Prachtstraßen zu zeigen und wenigstens für kurze Zeit, wie Minna Wettstein-Adelt (1893, 88) es verständnisvoll ausdrückt, unter den »vollzählenden Leuten« zu rangieren. Selbstzivilisierung

Wie die sozialhistorische Literatur immer wieder hevorgehoben hat, gehört zu die­ser öffentlichen Präsentation bei vielen, wenn nicht den meisten ArbeiterInnen das »gute Kleid« oder der »gute Anzug«. In der konservativen Sozialkritik wird die­se Tatsache traditionell unter »Putzsucht«, bei etlichen (kultur-)revolutionär gesonne­nen Beobachtern – man denke an Turek – als Zeichen von »Kleinbürgerlichkeit« abgehandelt. Bekannt ist Otto Rühles bissige Schilderung des Proletariers als »miss­ratenem Kleinbürger«, der am Sonntag »mit steifem Hut, Gummistehkragen, gestärkten Manschetten, schlechtsitzendem Cutaway« spazierengeht, daneben die Ehefrau »in der verkitsch­ten Mode der vorjährigen Saison« und die Kinder in frisch gewasche­nen und geplätteten Kleidern, die keinen Grasfleck, keine Beerenfarbe, keine Schmutzspritzer bekommen dürfen, mit denen man nicht, weil sie geschont werden müssen und ihre Reinigung Zeit und Geld kostet, auf Wiesen liegen, auf Bäume klet­tern, durchs Wasser waten oder durchs Dickicht kriechen darf (Rühle 1925, 512). Es ist aufschlussreich, das von Rühle vermittelte Bild eines in der Tat zwanghaften, wenig genussreichen Anpassungsversuchs mit der Innensicht zu vergleichen, die Paul Barsch in

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einem Der neue Anzug benannten Kapitel seiner Lebenserinnerungen liefert. Der Anzug, den die Mutter dem jungen Tischlergesellen zukommen lässt, passt ihm nicht besonders gut und ist ihm viel zu schwer; doch eben das körperlich eigentlich unangenehme Gefühl des schweren Stoffs wird durch die Assoziation mit dem »schweren Geld«, das dieser Stoff gekostet haben muss, in’s Positive gewendet: Obzwar mir der Anzug ein wenig zu groß und zu weit geraten schien, fühlte ich mich darin stark beengt, und es war mir, als stäke ich in einem schweren Eisenpan­zer. Das lag meines Erachtens an der Stärke und Schwere des Stoffes, die ich bewunderte und die mich zu dem Glauben zwang, dass der Anzug schweres Geld koste. Auf der Straße dann verhilft der körperlich beengende Anzug zu einem Erlebnis sozialer Befreiung: Mit gehobener stolzer Stimmung marschierte ich ab; und das einzige Unbehagen bestand darin, dass ich bei jedem Schritt auf die Hosenenden trat und mir sagen muss­te, dass die Hosen darunter leiden würden … Diesmal wich ich den Menschen nicht scheu aus, wie ich es an den beiden letzten Sonntagen getan hatte; ich wählte sogar einen Bürgersteig, auf dem die vornehmsten Leute der Stadt zu promenieren pfleg­ten, und umkreiste wiederholt langsam den Ring, um mich den Mitbürgern in mei­ner neuen Verfassung zu zeigen. Hatte mich etwa einer oder der andere in dem alten Anzug gesehen, so sollte der neue ihn belehren, dass es falsch sei, ein voreiliges Urteil über einen Mitmenschen zu fällen (Barsch 1905, 266 f.). Barschs Schilderung deckt sich ziemlich genau mit einer von Orvar Löfgren vorgetragenen Interpretation der guten Ausgehkleidung von Arbeiterfamilien: Löfgren sieht in ihr weniger »Verbürgerlichung« als »einen Abwehrkampf und eine Selbstdisziplinierung«: Die Vorstellungen von Respektabilität, davon, was es bedeutete, eine ordentliche, ehrenhafte und anständige Arbeiterfamilie zu sein, dienten sowohl einer Verteidigung gegen die Überwachung von seiten der bürgerlichen Kultur wie einer Grenzziehung nach unten, gegenüber denjenigen, die völlig die Kontrolle über ihr Dasein verloren hatten und von der Gnade der Gesellschaft oder der Wohltätigkeit lebten (Löfgren 1985, 94). Statt primär von Selbstdisziplinierung wäre allerdings wohl besser von Selbst­zivilisierung zu reden: der genussvollen Demonstration von Würde und kulturellen Fähigkeiten, eines Persönlichkeitspotentials über die Mittelbeschaffung zu einer not­dürftigen materiellen Reproduktion hinaus. Es wäre aber wohl zu kurz gegriffen, das Flanieren im Sonntagsstaat nur als eine gegen gängige Abwertungen gerichtete Repräsentation von Arbeiteridentität zu verste­hen; es kann vielmehr auch dem Versuch dienen, diese Identität zu lockern und andere zu erproben. Es

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sind vor allem junge Frauen aus der Unterschicht, von denen solche spielerischen Grenzüberschreitungen berichtet werden. »Wenn ich am Sonntag in die Kirche ging«, schreibt Adelheid Popp (1909, 33), »sollte niemand in mir die Fabrikarbeiterin erkennen«, und Behnken u. a. beschreiben die Sitte von Wiesba­dener »Ladenmädchen« und Lehrmädchen aus Schneiderinnen- und Modewerkstät­ten, sich am Sonntagmorgen zum feinen Publikum der dortigen Wilhelmstraße zu ge­sellen: »Der städtische Straßenraum«, so resümieren sie, öffnete die ständische Ge­sellschaft. Wer über die entsprechende Mode und ein gewisses Auftreten verfügte, konnte und durfte sich unter die große Gesellschaft – auf Zeit – mischen. (…) Träu­me eines glanzvollen und besseren Lebens, Sehnsüchte nach der Liebe zu einem Of­fi zier wurden vor dieser Promenaden-Kulisse ausgelebt. Ein gelebter Film, an dem man einmal die Woche teilnahm (Behnken/du Bois-Reymond/Zin­ necker 1989, 86). Schneiderinnen und Verkäu­ferinnen brachten für solche Rollenspiele besonders günstige Voraussetzungen mit. In den mei­sten Fällen waren der Sonntagsverwandlung enge Grenzen gesetzt: Mit zu großen, zu harten, zu schweren oder kaputten Schuhen, über die in Unterschichten-­Erinnerungen immer wieder Klage geführt wird, lässt sich die »ruhige Leichtigkeit«, »die freie, leichte, sichere Haltung«, die bürgerlichen Fußgänger­Innen in zeitgenössischen Anstandsbüchern anempfohlen wird, kaum herstellen; und wo das Geld für die neue­ste Mode aufgetrieben werden kann, mangelt es meist am legitimen Geschmack und am elabo­rierten Verhaltensrepertoire. Dennoch kann man vermuten, dass der Spaziergang mehr als andere Freizeittätigkeiten die Chance gab, einen unterschichtlichen Status ein we­nig zu verwischen, da die Begegnung auf der Straße den nahen und lan­gen Blick erschwerte und die Sprache, untrüglichster Indikator von Kulturdifferenz, hier eine geringe Rolle spielte. Die Überlegung, dass das Nebeneinander von Spaziergängern aller Klassen bei den unterschichtlichen Spaziergängern nicht nur das Bewusstsein der eigenen Unterlegen­heit, sondern auch die Lust an deren – gewiss nur partiellen und transitorischen – Auf­­he­bung vermittelte, könnte als Zustimmung zur zitierten volks- und volks­park­pä­dagogischen Theorie erscheinen, dass eine in angenehmem Ambiente arrangierte Ständevermischung die arbeitenden Klassen versittliche und auch ihren Hang zum Klassenkampf mildere. Doch zum einen hat die Selbstzivilisierung, von der wir hier gesprochen haben, wenig mit der fern von Konsumtionsakten angesiedelten Versitt­lichumg zu tun, welche jene Pädagogik meinte. Zum andern ist die vorübergehende Vereinigung der Spaziergänger sozial und politisch mehrdeutig: Sie kann Hoffnun­gen auf individuellen Aufstieg ins Bürgertum bedienen, aber auch Ansprüche auf kollektive Partizipation verstärken. Es ist eine durchaus plausible Vermutung, dass beschränkte Bereiche der Integration wie das Vereinswesen oder die Möglichkeit, im Sonntagsstaat und bei Sonntagsvergnügungen den eigenen sozialen Status in den Hinter­

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grund treten zu lassen, (…) kaum Bindungen an die bestehende Ordnung [bewirkten] – vielleicht wurden sie aus dem Selbstverständnis von Angehörigen einer aufsteigenden sozialen Klasse heraus sogar als Moment erkämpfter Erweiterung des eigenen Handlungsfeldes, als Durchbrechen ehemals unüberwindlicher sozialer Barrieren erfahren und stärkten so Selbstbewusstsein und Klassenidentität (Maase 1985, 69). *

Demonstration sozialer Respektabilität, öffentliche Ausübung des Rechts auf Eigenzeit und Eigenarbeit, tendenziell gleichberechtigte Teilhabe an öffentlicher Geselligkeit und dem zumindest ästhetischen Genuss des gesellschafflichen und natür­lichen Reichtums – das sind Eigenschaften, die dem unterschichtlichen Spaziergang eigentlich auch die Sympathie der Arbeiterbewegung hätten einbringen können. Die­se ist jedoch einigermaßen begrenzt. Spaziergänge als kleine Schritte der sozialen Emanzipation, proletarische Spaziergänger, genussvoll schlendernd ins Gespräch ver­tieft, proletarische Flaneure als selbstbewusste Betrachter der Güter, die sie geschaffen haben und die ihnen dereinst zufallen werden – das sind keine Themen, die im sozialistischen Arbeiterbild eine Rolle spielen. Der Spaziergang wird zwar als Mög­lichkeit zu physischer Erholung gewürdigt, gilt jedoch insgesamt eher als Beschäf­ tigung minderen Ranges: Die vorherrschende sozialistische Freizeitprogrammatik denkt hier nicht grundsätzlich anders als Marie Bernays, die – bei aller Empathie in die Bedürfnisse, die den Spaziergang bei Arbeitern so beliebt machen – unter der Rubrik »Spazierengehen und Vergnügen« diejenigen Leute zusammenfasst, denen »anschei­nend jedes höhere Interesse fehlte«, und ihnen unter der Rubrik »Lesen und Musik« die aufgeweckteren und bildungsfähigeren Arbeiter« gegenüberstellt (vgl. Bernays 1912, 351). Die schlechtesten Noten erhält dabei gemeinhin der Spaziergang durch die Stadtstraßen. So wie bürgerliche Sozialreformer statt der »geist­verödenden und versuchungsreichen Gassentummelei« die »stillen Freuden der Natur«23 empfehlen, sehen auch viele Vertreter der Arbeiterbewegung den Stadt­bummel als Verführer zum überflüssigen Einkaufen und Einkehren, zu Modefimmel und Blasiertheit an, dem als legitime Erholungsform das Wandern in der »freien Natur« entgegengesetzt wird (vgl. etwa Grottewitz 1903, Graf 1913). Wandern steht in solchen Antithesen nicht nur für Kon­sumverzicht, für »Schlichtheit und Natürlichkeit«, für »ein bescheidenes und ruhiges Herz«24, sondern auch für andere Arten von Askese, die bei Spaziergängern teilweise schmerzlich vermisst werden. So warnt die Arbeiter-Turn-Zeitung vor nächtlichem Poussieren unter der Haustür und empfiehlt, statt sich »in Ausschweifungen frühzeitig aufzureiben«, früh ins Bett zu gehen und am nächsten Tag zu einer Wanderung auf­zubrechen (19. Jg. 1911, Nr. 14, 238). Die Zeitschrift Arbeiter-Jugend wiederum will die »bekannten Sonn­tagsnachmittagsbummel« durch »die echten und rechten Wanderungen der Arbeiter­jugend« ersetzt sehen (3. Jg. 1911, 78). Das steht zwar nicht staats-, wohl aber körperpolitisch dem zeitgenössischen Lob der Turnmarschpflicht für preußische Knabenschulen nahe, die »nicht nur als vergnügliche Spaziergän-

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ge, sondern als wohldisziplinierte, wirkliche ›Märsche‹ im eigentlichen Sinne des Wortes« (Lorenz 1903, 4) gedacht sind: Dem individuellen, schlen­dernden, verweilenden, gehend sich gehenlassenden Spazierschritt wird der ertüch­tigende, kollektive, zielorientierte, von Wanderkarte oder Wanderführer gelenkte Wan­derschritt vorgezogen.25 Natürlich ist nicht zu bestreiten, dass auch dieser Schritt Genuss bereiten kann. Aber der Versuch, ihn nicht neben, sondern über dem »Bum­mel« zu platzieren, indiziert eben jene schichtbornierte Auffassung, die Kaspar Maase »die im Habitus der Intellektuellen verkörperte Beziehung zum Volk als Objekt der Zivilisierung« genannt hat: eine Auffassung, welcher »die empirisch vor­findlichen Alltagslösungen, Befriedigungsweisen und Glücksvorstellungen« der Unterschichten fremd geblieben sind (Maase 1991, 182, 189). Maase formulierte diese Kritik unter dem Eindruck des Umbruchs in Ostdeutsch­land, als »der erkämpfte aufrechte Gang (…) die Massen vor die Schaufenster des Westens« (Hartung 1990, 176) führte und west- wie ostdeutsche Linke und Alternative sich von dieser »konsumistischen« Haltung entsetzt zeigten. Eine für die Historik des unter­schichtlichen Spaziergangs denkwürdige Szene spielte sich am Tag nach der Maueröffnung ab. Bei einer Trotz- und Reformkundgebung der SED im Lustgarten trat, nach dem Bericht des Neuen Deutschland, eine 17jährige Schülerin ans Mikrophon: »Jetzt habe sie das Gefühl, dass die Partei echt aufgewacht und auch für die Jugend die Zukunft sei. Deshalb wolle sie für ihren Staat dasein und nicht zu die­ser Stunde auf dem Kudamm spazieren gehen, sagte sie unter großem Beifall« (Neues Deutschland, 11. /12. 11. 1989). Die gemeinsame Kundgebung als Gegenmodell zum eigenständigen Ausflug, der aufrechte Gang des Kämpfers als Alternative zum legeren Spaziergang und neugierigen Schaufensterbummel, der lange Marsch in die Zukunft nicht als Verbündeter, son­dern als Opponent des Herumschlenderns im schönen Augenblick: ein altes Arbei­terlied, das nie ein Volkslied geworden ist. Mit Grund. Anmerkungen 1 Der Spaziergang wird hier also – im Einklang mit der Begrifflichkeit der meisten zeitgenössischen Quellen – von extensiveren Unternehmungen wie »Wanderung« oder »Ausflug« abgegrenzt. 2 Die folgende Darstellung versucht einen ersten Überblick über ein weites Feld zu gewinnen. Die­ser panoramatische Blick fasst verschiedene Unterschichtengruppen (mit dem Hauptaugenmerk auf der städtischen Arbeiterschaft) und einen längeren Zeitraum von ca. 1880 bis ca. 1930 (mit Schwerpunkt um 1910) zusammen. Die Zäsuren dieses Feldes werden nicht übersehen, aber weniger deutlich nachgezeichnet als seine Kohärenzen. 3 Das »Arbeiterschutzgesetz« von 1891 verbietet zwar generell die Sonntagsarbeit, erlaubt aber vie­le Ausnahmen. Eine Enquête stellt um die Jahrhundertwende fest, dass in Preußen 42 Prozent aller in Gewerbe-, Handels- und Verkehrsbetrieben beschäftigten Arbeiter keine Sonntagsruhe genießen (vgl. Ritter/Kocka 1974, 140; siehe auch Deutschmann 1985). 4 »Das Spazierengehen wurde in 110 Fällen als Haupterholung genannt (…), in 9 Fällen noch Thea­ter und Konzerte. Dann kam die gesellige Unterhaltung mit 5 Angaben und das Zeitungslesen mit nur 1 Angabe« (Schumann 1911, 107).

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5 Ein früher Beleg für den sehnsüchtigen Arbeiterblick auf den auch werktags spazierengehenden Bür­ger ist der Versuch des württembergischen Theologen S. C. Kapff in seinem Buch Der glückliche Fabrikarbeiter von 1856, die in diesem Blick liegenden Vor­würfe auszuräumen: »Auch die Gelehrten und Geistlichen und andere Bücherleute haben meist längere Arbeitszeit als ihr, und wenn ihr sie etwa auch spazieren gehen sehet, so dürfet ihr ja nicht meinen, sie ha­ben nichts zu tun. Wenn sie nicht auch eine Stunde des Tags Bewegung und frische Luft hätten, so könn­ten sie gar nicht gesund bleiben und nicht fortarbeiten (…). – Es kann einer spazieren sehen, und man kann meinen, er tue nichts. aber unter dem Laufen oder unter dem Sitzen schafft sein Kopf mehr, als bei Andern Hände und Füße. Das Denken des Kopfes ist eine viel größere und wichtigere Arbeit als alles Hand-Geschäft« (Kapff 1856, 25 f., 32). 6 Als bezeichnend zitiert Bernays die Antwort einer Arbeiterfrau auf die Frage, was sie am liebsten zur Erholung täte: »Ach du lieber Gott, hinsetzen und ausruhen!« (Bernays 1912, 237). 7 Hierbei ist Heidi Rosenbaums Befund hinzuzufügen, daß es eher sozialdemokratische als »traditionelle« (hier: katholische) Väter sind, die sich in der Freizeit mit ihren Kindern beschäftigen und u. a. mit ihnen spazierengehen (vgl. Rosenbaum 1992, 249 ff.). 8 Siehe auch Mühlberg 1986, 190. 9 So ergibt z. B. Robert Dinses Befragung junger BerlinerInnen aus dem Jahre 1930, dass Spazier­gänge an der Spitze ihrer Ausgehtätigkeiten stehen (vgl. Dinse 1932, 75 f.). Hildegard Jüngst schreibt in ihrer Studie Die jugendliche Fabrikarbeiterin. Ein Beitrag zur Industriepädagogik ( Jüngst 1924, 51): »Nach Arbeitsschluß bummelt das Mädchen durch die Straßen, betrachtet die Schaufensterauslagen, die vollbe­setzten Cafés und die strahlende Lichtreklame der Kinos; es sucht eine grüne Anlage auf oder steht plau­dernd mit Gefährtinnen unter der Haustür.« Der Moabiter Pfarrer Günther Dehn schildert den »normalen Verlauf eines Abends im Arbeitermilieu« bei den Jugendlichen so: »Man macht sich ein ›bisschen fein‹ und geht noch etwas herunter. Man steht auf der Straße vor der Haustür, raucht, wenn man ein Junge ist, eine Zigarette, geht mit seinen Freunden oder seinen Freundinnen (erst später ist es ›der Freund‹ oder ›die Freundin‹) durch ein paar Straßen oder in die nächstgelegenen Anlagen. Hat man Geld, so besucht man auch einmal ein Kino oder eine Eiskonditorei. Im Sommer fährt dieser oder jener auch mit seinem Rad noch ins Freibad hinaus« (zit. nach Peukert 1987, 203). 10 Danach nennen Schneiderinnen (47 %), ungelernte Arbeiterinnen (53 %) und Verkäuferinnen (59 %) unter ihren Erholungen Spaziergänge etwas seltener als Haustöchter (62 %) und Höhere Schüle­rinnen (60 %); die männliche Arbeiter- und Handwerkerjugend bleibt mit 26-38 % Nennungen noch um rund 15 % hinter den Höheren Schülern (49 %) zurück (vgl. Dinse 1932, 75). 11 Diese Zeiten vermehren sich noch beträchtlich, bezieht man die Urlaubszeit mit ein, in der Spazier­ gänge einen besonders hohen Stel­lenwert haben: 44 Prozent der Bundesdeutschen gaben 1981 an, auf Ferien­reisen täglich einmal oder mehrmals spazieren zu gehen (vgl. Opaschowki 1982, 93). 12 Die folgenden Zitate stammen alle aus: Deutscher Textilarbeiterverband o. J. 13 Auch bei Jüngeren, wo sich die Lust am Tempo – z. B. im Sport – natürlich häufiger findet, ist diese ruhige Sonntagsgangart verbreitet. »Und jetzt wird aufgestanden«, berichtet z. B. eine 23jährige Textilarbeiterin über ihren Sonntag, »etwas umständlicher als sonst Toilet­te gemacht und dann besorge ich meiner Mutter die ›Aufräumungsarbeiten‹. Den Nachmittag verbumm­le ich auf einem langen schönen Spaziergang, oder ich sitze ganz allein auf meinem Zimmer und vertie­fe mich in ein Buch, das mir gefällt. Wenn ich dessen müde bin, gehe ich ins Gärtchen nahe beim Haus und sehe immerfort ins Grüne (…)« (Deutscher Textilarbeiterverband o. J., 21.). 14 Pfeifsignal von Fabriken, vgl. Deutscher Textilarbeiterverband o. J., 13. 15 In seiner Autobiographie beschreibt der Arbeiter Franz Bergg Sonntagsspaziergänge, die er mit einer Bekannten »Arm in Arm durch entlegene Straßen« gemacht habe: »(Wir) freuten uns der erleuchte-

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ten Schaufenster, lachten, dass wir so unbekannt durch die vielen Leute schlupfen konnten, von denen nicht einer wusste, wie uns heimlich zumute war« (Bergg 1913, 154). 16 Eine gewisse empirische Unterstützung dieser – ja naheliegenden – Vermutung läßt sich Dieter Han­ harts Studie über die Zürcher Arbeiterfreizeit im Jahre 1960 entnehmen. Danach gingen von den Ledigen unter 35 Jahren 23 Prozent, von den älteren Ledigen 52 Prozent unter anderem allein spazieren oder auf einen Ausflug (vgl. Hanhart 1964, 111). 17 Levensteins 1907 bis 1911 durchgeführte Befragung, in der übrigens die große Beliebtheit des Spazier­ gangs bei Arbeitern ebenfalls deutlich hervortritt, erstreckte sich »lediglich auf politisch (soz.) und gewerkschaftlich (freie Gewerkschaften) organisierte Arbeiter« (ebd., 13). 18 Vgl. z. B. einen Bericht des Berliner Magistrats für die Jahre 1861–1876, in dem es über die be­absich­ tig­te Wirkung von Parkanlagen auf die »unteren, in schwerer körperlicher Arbeit (…) sich abmühenden Bevölkerungmassen« heißt: »(…) unbestreitbar ist es, daß solche im wohlgepflegten Zustande erhaltenen Anlagen eines der geeigneten Mittel sind, den Sinn über die Sorge um die materielle Existenz zu erheben und rohe Gesinnungen, wo sie vorhanden, zu mildern« (zit. nach Hennebo 1971, 384). 19 Vgl. die Auflistung von »working-class excesses« wie Trunkenheit, Lärmen und Sach­beschädigung im Düsseldorfer Volksgarten bei Abrams (1992, 158 f.). Abrams kom­mentiert: »Although it would be wrong to suggest that incidents like those quoted above were by any means typical of workingclass behaviour in public parks, it would also be misleading to create the impression that members of the working class immediately abandoned their popular culture or everday patterns of behaviour upon entering a park« (ebd., l58). 20 Vgl. die Schilderung eines Berliner Bürgers, der sich mittels geflickter Hosen, eines zerfransten Rocks und eines alten Musikantenhuts als »Proletarier« verkleidete und so durch Berlin ging: »Die Ausla­ ge eines Buchladens hält mich unterwegs auf. Ich vertiefe mich in die Lektüre der Titel. Da plötzlich schreckt eine Unteroffiziersstimme größten Kalibers mich auf. ›Vorwärts – vorwärts!‹ Aufs höchste verblüfft wen­de ich mich um. Ein Schutzmann. Schon will ich ihn anfahren. Doch noch rechtzeitig fällt mir ein, daß ich in diesem Aufzug ja kein Mensch bin. ›Na, wird’s bald?!‹ – Ich trolle weiter« (Pastor 1894, 173). 21 Vgl. z. B. den Vorwärts vom 8. 12. 1891 und 2. 6. 1892. 22 Bekannt ist z. B. die informelle Unterteilung der Straße Unter den Linden in Berlin: Die Nord­seite galt als »die falsche Seite«, auf der sich z. B. Offiziere selten blicken ließen. 23 Diese Begriffe fielen bei den Verhandlungen des VI. Internationalen Kongresses für Sonntagsfeier. Stuttgart und Genf 1892, 36. 24 So die sozialdemokratische Neckarpost, Heilbronn, in einem Artikel Hinaus ins Freie vom 13. 6. 1919. 25 Nur ein Beispiel: In einem Artikel »Turnen und Wandern« schreibt Curt Biging (191l, 239 f.) in der Arbei­ter-Jugend, es leuchte nicht ein, daß »ein kraftstrotzender jugendlicher Organismus der verder­bli­ chen, heimtückischen Arbeit der unzähligen Krankheitskeime und Ansteckungsstoffe, die in unserer ver­pesteten Großstadtluft den Menschen belauern, nachdrücklicher und erfolgreicher Wider­stand zu leisten vermag als ein kläglicher Schwächling, der es vorzog, sich in Watte wickeln zu lassen und allen freiwil­ligen Strapazen aus Faulheit und Feigheit in weitem Bogen aus dem Wege zu gehen? Zeigt sich nicht über­all in der Weltgeschichte der Sieg der starken und naturwüchsigen Völker über die entnervten und durch Ueppigkeit verweichlichten Machthaber (…)?«

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»Massentritt« Zur Körpersprache von Demonstranten im Kaiserreich

Am Tübinger Ludwig-Uhland-Institut lief ein Projektseminar mit dem Titel »Als die Deutschen demonstrie­ren lernten«, das im Wintersemester 1985/86 mit einer Ausstellung abgeschlossen wurde. Sein Gegen­stand waren die Straßenkundgebungen gegen das preußische Dreiklassenwahlrecht, die 1908 einsetzen und zwischen Februar und April 1910 ihren Kulminationspunkt haben. Unser Untersuchungsinteresse war ein, um es traditionell-volkskundlich auszudrücken, brauchgeschichtliches: Wir wollten etwas über die Entwicklungsgeschichte des Kulturmusters »friedliche Straßendemonstration« erfahren. Uns interes­sierten die Bedeutungsgehalte dieser Ausdruckshandlung, ihre emotionalen und intellektuellen Wirkun­gen auf Protestpartei, Protestgegner und zunächst Indifferente, und wir untersuchten die Straßendemon­strationen als Schnittpunkt, als Begegnungs- und Konfliktfeld von Volkskultur und politischer Kultur. Die preußischen Wahlrechtsdemonstrationen waren dabei, wie der Projekt­ti­tel an­zeigt, kein willkür­lich herausgegriffenes Stück Demonstrationsge­schich­te. Dieser Gegen­standswahl lag vielmehr die Ent­deckung zugrunde, dass diese Wahl­rechts­ kund­gebungen – denen ähnliche, wenngleich begrenztere Demonstrations­wellen gegen das ungleiche Wahlrecht in anderen Reichsländern vorausgehen – in der deutschen De­monstrationsgeschichte eine Schlüsselrolle spielen: Sie tragen wesentlich zur Durch­ set­zung und Habitualisierung der »friedlichen Straßendemonstration« in ihrer prinzipiell noch heute gebräuchlichen Form bei.1 Es ist die Arbeiterbewegung, die diesen Umbruch in der politischen Kultur Deutschlands einleitet; aber auch das liberale Bürgertum beginnt damals die Straßendemonstration zu akzeptieren und sogar zu praktizieren. Theodor Heuss schreibt in seinen Erinnerungen über den preußi­schen Wahlrechtskampf: Die ›Demonstration‹ wurde für Deutschland erfunden. Vielleicht hatten die Ereig­ nisse in Russland mit ihren Massenaufzügen aufmunternd gewirkt, vielleicht auch Öster­reichs massi­ver und zugleich geordneter Durchstoß zum gleichen Wahl­ recht – wir gingen auf die Straße, nachdem wir in Versammlungen, die von der So­zial­demokratie einberufen waren, verabredungsgemäß unser Sprüch­lein gesagt hat­ten (Heuss 1963, 74 f.). Und Friedrich Naumann schreibt 1910:

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Körpersprache von Demonstranten

Als diese Demonstrationen anfingen, waren innerhalb wie außerhalb der Sozial­de­mo­kratie die Stimmen über Wert und Nutzen solcher Aufzüge sehr geteilt. Bei den Freisinnigen überwog die Meinung dagegen und ist auch heute noch nicht ganz überwun­den. Aber die ganze Debatte darüber, ob man Demonstrationen machen soll oder nicht, ist inzwischen gegenstandslos geworden. (…) Das Volk hat sich eine neue Art geschaffen, in der es sich mit den Herr­schenden unterhält (Naumann 1910, 149). Eine grobe Einteilung ergibt drei wesentliche Formen der damaligen Demonstrationen: Viele Straßenkundgebungen entstehen als Beiprodukt von Massenversammlungen im Saal. Ein häufi­ges Modell ist dies: Tausende von Interessierten finden im Saal selbst keinen Platz und warten draußen; die nach der Veranstaltung aus dem Saal Strömenden vereinigen sich mit den Wartenden, und man geht in geschlossenem Zug nach Hause, allerdings auf gewissen Umwegen z. B. über den Marktplatz, wo man dann öfters die Wahlrechts-Marseillaise singt und Hochrufe auf das allgemeine Wahlrecht ausbringt. Zum andern gibt es die verselbständigte Straßendemonstration. Da wird dann etwa eine Wahlrechts­versammlung im Saal angekündigt, aber die dort Versammelten beschließen alsbald, dass man doch bes­ser gleich auf die Straße gehe. Oder man veranstaltet von Anfang an eine Demonstration, z. B. indem sich sonntags unter die promenierenden Bürger in der städtischen Hauptstraße mehr und mehr Demonstran­ten mischen, die sich immer wieder zu Gruppen und Zügen vereinigen und zum Teil im Wortsinn Flagge zei­gen. Die Polizei steht hier vor der unangenehmen Aufgabe, beim Wegdrängen oder gar Dreinhauen die meist im guten Anzug erschienenen Demonstranten von den Unbeteiligten unterscheiden zu müssen. Und da dies oft misslingt, steigert sich in diesen Wochen auch die Empörung der Unpolitischen, der ›unbe­scholtenen Bürger‹, über den preußischen Polizeistaat. Die dritte wesentliche Form ist die der Kundgebung unter freiem Himmel. Diese Versammlungen finden meist außerhalb der Stadtzentren, z. B. in Erholungsparks oder auf Wiesengrundstücken statt. Hier­bei kommt es jedoch ebenfalls oft zu demonstrationsähnlichen Umzügen durch die Innenstädte, insofern sich die Kundgebungsteilnehmer oft an den über die Stadt verteilten Zahlstellen der SPD treffen und gemeinsam zum Kundgebungsplatz und zurück ziehen. Die bedeutendste Wahlrechtskundgebung dieser Art wird am 10. April 1910 im Treptower Park abgehalten und hat laut Polizei 70 000, nach SPDSchätzungen 150 000 Teilnehmer. Sie ist die erste offizielle Volksversammlung dieser Art im Berliner Raum nach 1848, die behördlich genehmigt wird. Und während die beiden erstgenannten Demonstrationsformen auch nach 1910 vom preußischen Staat nur selten zugelassen werden, etabliert sich die Kundgebung unter freiem Himmel schon in den Folgejahren als legale Ausdrucksform von Massenprotest. Ein sozialdemokratischer Augenzeuge schreibt über diese Treptower Kundgebung: »Der Riesenkörper des Proletariats liegt sichtbar vor mir ausgebreitet. Sein mächtiger Wille, seine feste Kampfentschlossen­heit steht körperlich vor mir« (Vorwärts, 11. 4. 1910). Er spricht damit einen zentralen Aspekt allen Demonstrierens an: Demon­strieren ist körperliche Politik in einem ganz spezifischen Sinne. Der Demonstrant ›steht‹ zu seiner Über­zeugung. Er

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Wahlrechts­kundgebung im Treptower Park, 10. 4. 1910

hilft durch körperliche Aktion mit, das – im Gelingensfall beeindruckende – Personenpo­ tential, die Vielzahl und Entschlossenheit der Protestpartei vor Augen der Gegenpartei und der Öffentlich­keit zu führen; das impliziert, dass er mit seiner Meinung auch seine Haut zu Markte trägt, sich den Blicken und vielleicht Gewalthandlungen dieser Gegenpartei aussetzt. Das Muster Straßendemonstration selbst enthält dabei keine gewaltförmigen Momente: Demonstrieren ist eine körperliche Ausdruckshand­lung, die zwischen nur verbaler Artikulation und physischem Körpereinsatz steht. Sie bedeutet den Gebrauch des Körpers als politisches Ausdrucksinstrument, sie benutzt Körpersprache gewissermaßen als Mundart der politischen Sprache. Um diesen Aspekt geht es in diesem Beitrag. Der körpersprachlichen Ebene kommt in den damaligen Wahlrechtsdemonstrationen sogar besondere Bedeutung zu. Diese sind nämlich relativ arm an objektivierter Emblematik. Es werden oft keine, oft nur wenige Fahnen mitgeführt; auch gibt es nicht viele Plakate und meist keine auffälligen Abzeichen. Die Kundgebungsplätze sind ebenfalls äußerst schlicht hergerichtet. Der Grund hierfür ist doppelt: Die Wahlrechts­demonstrationen sind entweder improvisiert und illegal; wer dennoch Embleme mit sich trägt, setzt sich und sein Feldzeichen dem polizeilichen Zugriff aus. Oder die Demonstrationen sind erlaubt, dies aber meist mit der Auflage, dass auf rote Fahnen, größere Abzeichen und Dekorieren des Treffplatzes verzichtet werden müsse.2 Es bleibt also wenig mehr als – wie Heinrich Heine es nannte – »das Räsonieren durch Gebärden«, das Ausdrucksmittel Körpersprache. Zitat aus dem Wahren Jacob zu den Hamburger Wahlrechtsdemonstrationen von 1906: Kein bunt Gepräg, kein Fahnenschmuck, Still ziehn in dichten Reihn sie her, Und dumpf dröhnt nur der Massentritt, Wie Brandung dröhnt fernher vom Meer (…) (Der Wahre Jacob, 23. 1. 1906).

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Körpersprache von Demonstranten

Ich möchte nun einzelne Aspekte dieser Körpersprache vorstellen und dazu Interpretationsvorschläge machen. Zunächst zum proxemischen, zum Raumverhaltensaspekt. Die Demonstration handelt wie die Glocke in Goethes schrecklich erzieherischem Gedicht: Sie ist es satt, die Säumigen, die, die nicht hören wollen, zu sich zu rufen; sie läuft ihnen hinterher. Die damaligen Demonstrationen sind umgekehrte Prozessionen: Diese begeben sich von einem heiligen Ort in die profane Welt hinaus. Die Wahlrechtsdemonstrationen aber ziehen von den Arbeitervierteln in die vornehmen Quartiere, an die Regierungssitze, an die Kultstätten der Nation. Zitat aus dem Vorwärts vom 14.1.1908: »Durch die sonst stillen Straßen, in denen die Bourgeoisie ihre luxuriösen Heimstätten hat, dröhnten anklagend und fordernd die lauten Schritte begeisterter Arbeiterbataillone.« Und hier eine Szene vor dem preußischen Abgeordnetenhaus im selben Monat: Am Berliner Abgeordnetenhaus, 1909

Im eingeschlossenen Wagen hinten rechts sitzt Ministerpräsident von Bülow, der die Hoffnungen auf eine entscheidende Wahlrechtsreform soeben enttäuscht hat. Das Nürnberger Parteitagsprotokoll der SPD vermerkt über diesen im Kaiserreich bisher ›unerhörten‹ Akt: »Als Bülow in seiner Karosse anfuhr, mussten seine gefürsteten Ohren den Wutschrei des Volkes vernehmen« (Protokoll 1908, 28). Der Kampf wird aber nicht nur akustisch ausgetragen, sondern auch optisch. Von Angehörigen der Unterklassen ist man gewohnt, dass sie in den Prachtstraßen der Cities eher bescheiden auftreten, das heißt unter anderem: dass sie den Blick gegebenenfalls niederschlagen. Von Demonstranten aber heißt es immer wieder, sie hätten bei ihrem Zug durch das Stadtinnere frei, ja frech umhergeblickt. Umgekehrt liest man: »Mancher satte Bürger schlug die Augen nieder« (Volkswacht Bielefeld, 28.11.1907). Und Ottilie Baader interpretiert das Blickverhalten Bülows in der eben erwähnten Szene so: »Er ging mit gesenktem Kopf wie ein Schuldbeladener durch unsere Reihen« (Baader 1921, 99).

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Polizeilicher Drohstarrblick

Am Abgeord­ netenhaus in Berlin, 1909

Einen Kampf mit Blicken führen Demonstranten auch mit der Polizei. Hier am Abgeordnetenhaus. Wir treffen auf Szenen wechselseitigen Drohstarrens, wie der Fachausdruck hierfür heißt. Normalerweise geht dieser meist in physische Gewalt über, in diesen Szenen aber ersetzt das Drohstarren die Aggression. Es substituiert zudem die verbale Attacke, die vor Gericht zitiert werden könnte. Manche Demonstranten halten sich natürlich nicht an diese Zurück-

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haltungsregel. Ein Rixdorfer Arbeiter versprachlicht diesen Blick einmal so: »Komm nur ran, Du Strolch, du Verbrecher, mit Dir werde ich schon fertig werden« – und wird verurteilt (Vorwärts, 20.3.1910). Die Bildende Kunst hat sich solcher Szenen auch angenommen: Théophile Steinlen: »Streik«, 1898

Man könnte bei dieser Blickweise von einer Verwandlung einer brachialen in eine moralische Drohung sprechen. Es wird signalisiert: Hier stehe und bleibe ich; ich tue dir nichts, aber ich sehe dich. Wenn du losschlägst, weiß ich, wer es war. Rudi Dutschke beherrschte diesen Blick übrigens auch:

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Körpersprache von Demonstranten

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Bei einer Demonstration in Berlin, 1967

Die Zeitschrift Tribüne bringt 1910 eine Art Schnellkurs in Selbstverteidigung mit Blicken: Man solle, schreibt sie, einem zu Pferd vorpreschenden Polizisten nie den Rücken kehren, da ihm das die Benutzung des Säbels erleichtere, sondern ruhig stehenbleiben und den Verfolger freundlich anblicken (vgl. Volksfreund Braunschweig, 15.3.1910). Ob das wirklich hilft, wie die Tribüne meinte, hängt natürlich auch von anderen Signalen ab. Gehen wir zu diesen anderen Ebenen der Körpersprache über und diskutieren zunächst den Aspekt Kleidung. 1908 veröffentlicht der Kladderadatsch anlässlich der ersten Berliner Wahlrechtsdemonstrationen folgende Karikatur:

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Körpersprache von Demonstranten

Der Kladderadatsch zeichnet die Wahlrechtsdemonstranten als Lumpenproletarier. (Man beachte auch die »Judennasen«, die Rosa Luxemburg, Eduard Bernstein und Paul Singer angehängt werden.) In Wirklichkeit sehen demonstrierende Sozialdemokraten so aus: Wahlrechts­ demons­ tranten in Frankfurt am Main, 13.3.1910

Wie bei einem Sonntagsspaziergang, wie bei der Maifeier trägt man bei der Protestdemonstration möglichst das beste Kleid, den besten Anzug. Man ehrt die Ideale des Sozialismus durch das Festtagsge­wand. Doch natürlich hat die Kleidung nicht nur einen Selbst-, sondern auch einen Außenbezug. Dieser ist zum einen ganz praktisch. Man weiß schon aus dem Straßenalltag, dass die Polizei gut angezogene Personen anders zu behandeln neigt als abgerissene Gestalten (vgl. z. B. Vorwärts, 31. 10. 1910). Der Sonntagsanzug und das Sonntags­kleid mildern, so lässt sich hoffen, im Ernstfall die Form des polizeilichen Zugriffs. Freilich bleiben signifi­kante Stildifferenzen bestehen, und das Auge des Gesetzes kann demonstrierende Arbeiter in ihren oft bleiglänzenden Anzügen und mit ihren oft schlecht aufgebügelten Hüten sehr wohl noch vom gutbürgerli­chen Straßenpublikum unterscheiden. Der Vorwärts schildert eine Szene aus Breslau: »Dann beginnt Polizeikommissar Simniok, die Bessergekleideten von den Proletariern zu trennen. Barsch jagt er Arbeiter vom Trottoir herunter und lässt zylinderbehaftete und pelzverbrämte Spaziergänger ruhig weitergehen« (Vorwärts, 8. 2. 1910). Hier zwei – unter Umständen natürlich auch durch unterschiedliche »Vergehen« mitbegründete – Zugreifarten bei der Verhaftung unterschiedlich gekleideter Demonstranten in Berlin:

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Am 6.3.1910 in Berlin

Besser als vor der Polizei schützt die Sonntagskleidung vor den Vorurteilen kritischer Beobachter der Demonstrationen. Die sozialdemokratische Presse zitiert immer wieder geschmeichelt bürgerliche Stim­men, die ihr Erstaunen über die solide aussehenden, so gar nicht zu den Ängsten vor dem Straßenmob passenden Arbeiterdemonstranten ausdrücken. Die Öffentlichkeit beginnt zunehmend zu akzeptieren, was die Generalkommission der deutschen Gewerkschaften am 18. März 1910 auf eine Kranzschleife für den MärzgefallenenFriedhof setzen lässt: »Ihr habt es nicht zu tun mit Vagabunden,/ Mit meuterisch gedankenlosen Horden« (Vorwärts, 19. 3. 1910). Nachdem in Frankfurt am Main Polizei rabiat gegen Demonstranten vorgegangen ist, macht die sozialdemokratische Volksstimme in ihrem Schaufenster eine kleine Ausstellung: Sie legt auf der Straße liegengebliebene Hüte und Spazierstöcke sowie eine blutige Unterhose ins Fen­ster. Die Ausstellung hat keinen Leittext, doch ihr Sinn ist klar: Heute sind die Arbeiter die Kulturmenschen, und die Polizisten haben den Part der unzivilisierten Horden übernommen. Wahlrechts­kund­ ge­bung in Brandenburg, 6. 3. 1910

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Körpersprache von Demonstranten

Dennoch ist die Botschaft der Demonstrantenkleidung nicht ganz eindeutig. Für den Beobachter aus der Ferne nämlich ergeben die Tausende in dunklen Anzügen mit dunklem Hut den Eindruck einer kohä­renten schwarzen Masse. Und dies Bild wird von bürgerlichen Augenzeugen immer wieder als ernst und düster beschrieben (z. B. Tägliche Rundschau, 11. 4. 1910). Vor allem, wenn sich dieses dunkle Etwas in Bewegung setzt, wird es unter Umstän­den als unheimlich empfunden, als scheinbar einheitlicher Körper, der sich kraftvoll und unaufhaltsam vorwärtsbewegt – Versinnlichung dessen, was in Max Kegels damals im Vorwärts abgedruckten Gedicht Macht der Revolution so heißt: »Man kann ermorden ihre Streiter, sie aber schreitet ruhig weiter« (Vorwärts, 19. 3. 1910). Demonstrations­ zug in Berlin, 13.2.1910

Das heißt also, die Sonntagskleidung der Demonstranten ist nicht nur ein Friedensinserat, sie kann auch den ambivalenten Charakter der Demonstration als ›noch friedliche Mahnung‹ ausdrücken helfen. Mit dem letzten Bild lässt sich überleiten zu einem anderen Aspekt der Körpersprache: zur Geh­weise. Was damals von Beobachtern immer wieder hervorgehoben wird, ist die »musterhafte Ordnung« der Wahlrechtsdemonstrationen. Zumindest liberale und so­zialdemokratische Presse sind sich in diesem Punkt einig. Dabei fällt auf, wie oft diese Ordnung als quasi-militärische beschrieben wird. Die SPD­­-Presse selbst spricht immer wieder von marschierenden »Arbeiterbataillonen«, von sozialdemokratischen »Kompagnien«, von »Heerschau« und »Manöver«. Dass militärische Marschformation und Gehweise auch im Habitus von Arbeitern zu finden ist und für den Ausdruck des Stolzes, der Kraft auch in der Arbeiterbewegung auf

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soldatische Ausdrucksformen zurückgegriffen wird, ist nicht zu leugnen. Hier spielt einmal der Einfluss der allgemeinen Wehrpflicht eine Rolle, zum andern der hohe Wert, der »strammer Haltung« von vielen Sozialisationsinstanzen im Kaiserreich beigemessen wurde. Man sehe sich diese Szene auf einem Berliner Schulhof um 1912 an: Pausenturnen im Schulhof Esmarchstraße, Berlin, um 1912

Oder die Haltung dieser Arbeiterjungen in einer Berliner Mietskaserne:

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Körpersprache von Demonstranten

Und auch im Asylantenheim heißt »Haltung haben« strammstehen: Im Obdachlosenasyl »Wiesenburg« in Berlin, 1899

Dennoch: Dass diese Art von Körperkultur oder -unkultur auch die Wahlrechtsdemonstrationen präge, dass diese – wie es George L. Mosse von den Maifestzügen behauptet – »ihr militärisches Vorbild hat­ten« ist bestenfalls halbwahr (Mosse 1976, 197). Wenn in damaligen Berichten von der »gutpreußischen Disziplin« der Demonstranten oder von einer »fast militärischen Ordnung« die Rede ist, so sind darunter zunächst einmal solche Verhaltensweisen zu verstehen wie die, dass die Menge ein gemeinsames Tempo zu halten ver­ steht, dass sie konsequent eine Fahrdammseite freilässt, darauf achtet, dass die Straßenbahnschienen nicht begangen werden, und ansonsten den Winken ihrer Ordner gehorcht, die z. B. an Kreuzungen den Arm heben, um Anhalten der Menge und Durchlassen des Verkehrs zu gebieten. Demonstrationszug am Stralauer Tor in Berlin, 10. 4. 1910

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Richtig ist, dass die Demonstranten teilweise in geschlossenem Zug gingen – wobei Viererund Fünfer­reihen oder breitere Formationen gewählt werden –, doch gibt es insgesamt eine große Bandbreite der Gehweisen: vom Marschieren in Reih und Glied über »zwanglose Reihen« und »lose Gruppen« bis hin zum ungegliederten und nach außen offenen Strom. Und auch dort, wo die Fotos Marschsäulen und Reihenordnung zeigen, findet sich nicht einfach »preußischer Drill« wieder. Man könnte sagen: Der einzelne Körper wird hier insoweit reglementiert, wie seine Bewegungen den Gesamtablauf stören könnten. Aber er wird als einzelner keinem Stilisationsprin­zip unterworfen. Die Masse ist hier nicht im Kracauerschen Sinne Ornament: Sie ist nicht atomisiert und dann von einem Gesamtwillen wieder zusammengefügt, sondern – und dies, so scheint es, durchaus nicht gegen den Willen der Ordner – in wesentlichen Momenten molekular. Es gibt Gruppenbildung, dezentrale und parergische Aktivitäten sind erlaubt: Blickwendung zum Nachbarn, Reden mit dem andern, Zigarrenrau­chen. Die britische Morning Post über die Berliner Wahlrechtsdemonstration am 13. Februar 1910: »Die meisten gingen ganz ruhig, mit einer Zigarre im Mund, manche hatten die Frau oder die Braut im Arme« (zit. nach Vorwärts, 16. 2. 1910).

Man vergleiche dieses Foto von einem preußischen Veteranenaufmarsch um 1910 mit dem

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Körpersprache von Demonstranten

Bild von einer Mai- und Wahlrechtsdemonstration, die 1910 in Hanau stattfand:

Der Fest- und Demonstrationszug marschiert zwar in einer quasimilitärischen Viererreihe, doch ein genauerer Blick zeigt, dass keineswegs Gleichschritt herrscht. Er wäre angesichts der mitlaufenden Frauen in langen Röcken und der miteinbezogenen Kinder auch schwerlich praktizierbar. Man beachte im Übrigen den Mann ganz rechts, der – wahrscheinlich für einen Moment aus dem Zug herausgetreten – zu einem Fen­ster hochblickt und sich offenbar mit Zuschauern des Zuges unterhält. So, wie individueller und alltägli­cher Habitus innerhalb des Zugs zugelassen bleibt, kapselt sich dieser auch nicht gegen den Alltagsraum ab. Will man idealtypisch beschreiben, wie damals auf den Demonstrationen gegangen wurde, so kann man vielleicht folgende Charakteristika nennen: –– Es handelt sich nicht um »Marschtritt«, sondern um »Massentritt«; nicht um das Uni­ sono des Gleich-Schritts, sondern um Vielfalt in der Einheit, um ein Geräusch, das den Rhythmus von Frauen- und Kinder­schritten einschließt.

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–– Dieser Massentritt ist nicht eilig, wie im Arbeitsalltag, und nicht schleppend wie nach diesem, sondern zügig, zielsicher, vorwärtsstrebend. Er ist nicht triebgehemmt, die Expression zurücknehmend, wie Elias Canetti es vom Prozessionsschritt sagt, aber auch nicht aggressiv losstürmend, sondern besonnen und selbstsicher zugleich, bestärkt von der »Musik des Massentritts« (Schwäbische Tagwacht, 21. 3. 1910), die die genagelten Schuhsohlen auf dem Pflaster hervorrufen. Auch die Gestik der Demonstranten ist nicht durchstilisiert. Abstimmung über die Wahlrechts­ resolution im Treptower Park, 10. 4. 1910

Einen einheitlichen Charakter hat noch am ehesten das Handheben bei den Abstimmungen über die Wahlrechtsresolutionen – eine beeindruckende Vorwegnahme des allgemeinen und gleichen Wahl­rechts, an der auch die nicht wahlberechtigten Frauen und die noch nicht wahlberechtigten Männer unter 25 Jahren teilnehmen. Aber bei näherem Hinsehen merkt man sogar hier: Es gibt keine strikte Gleichförmigkeit dieser Bewe­gung. Wir sehen offene Hände, Fäuste, Schwurhände, die Streck-Hand aus der Schule. Volk, könnte man fast sagen, ist hier körpersprachlich nicht in Partei aufgegangen. Dass bei den Wahlrechtskundgebungen Masse Macht ausstrahlt und nicht Macht die Masse struktu­riert, indiziert überdies die abstandslos umdrängte und niedrige Rednerbühne.3 Die »musterhafte Ordnung« der Kundgebung bedeutet nicht Unterordnung. Man vergleiche damit das Bild eines Feldgottesdienstes auf dem Tempelhofer Feld 1913: die viel höhere Tribüne, die Respektzone von mehreren Metern bis zu den angetretenen Militärs und die ›Welten‹, die diese wiederum von den Zivilisten im Hintergrund trennen.

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Körpersprache von Demonstranten Feldgottes­ dienst anläß­lich des Kaiser­jubi­ läums, 15. 6. 1913

Die feierlich-rituelle Szene des Handhebens geht über in die Geste des Hutschwenkens und Hochru­fens. Wahlrechts­ kundgebung im Friedrichs­hain, 10. 4. 1910

Dabei gibt es in den Rufen ebenfalls individuelle und Gruppenvarianten. Man ruft z. B. ein Hoch auf das all­gemeine Wahlrecht, ein Hoch auf die Sozialdemokratie oder ein Nieder auf die Junker, ein Pfui auf Reichskanzler Bethmann-Hollweg. Diese Ausrufe mit Hutschwen-

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Körpersprache von Demonstranten

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ken werden auch während der Demonstrationszüge immer wieder benutzt. Der Anstoß hierzu kann vom Ordner oder von Teilnehmern ausge­hen. Ruf und Geste pflanzen sich dann eventuell durch den ganzen Zug oder die ganze Menge fort – sie müssen es aber nicht, es gibt hier keine durchgängige Liturgie. Wahlrechts­ demonstranten in der Gitschiner­straße, Berlin, 13. 2. 1910

Bilder wie dieses vom 13. Februar 1910 in Berlin sind selten – meist wirken die Demonstranten auf den Fotos wie ruhige Spaziergänger. Man muss jedoch bedenken, dass auch gestenarme Demonstrationszüge eine beträchtliche akustische Komponente haben können; was in sozialdemokratischen Zeitungen als gelegentliches Singen und Hochrufen erscheint, wird von gegnerischen Ohrenzeugen schon als »misstö­nender Gesang« und »Höllenlärm« bezeichnet (vgl. Volkswille Hannover, 12. 4. 1910; Volkszeitung Essen, 19. 3. 1910). Hinzu kommt, dass die Fotografen, insofern sie nahe an die Demonstranten herangehen, dies meist in Ruhemomenten und nicht in Erregungsmomenten tun, und dass die Fotografierten, sobald sie sich als solche wahrnehmen, um eine atelier-entspre­chende Haltung bemüht sind: Sie beschränken die Körpersprache möglichst auf das als würdevoll Verstan­ dene, das zur Verewigung geeignet Erscheinende. Aus den schriftlichen Quellen – und hier insbesondere aus konservativen Zeitungen und aus Polizeiakten – wissen wir aber, dass es

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immer wieder Züge mit expressiver Gestik und von durchgehend lärmendem Charakter gab, insbesondere, wenn sich kleinere Kolonnen nach offiziellem Kundgebungsschluss verselbständigen. Dennoch kann man sagen, dass auch dort – falls es zu keinen Zusammenstößen mit der Polizei kommt – nicht eine Gestik und Mimik der Angriffslust oder finsteren Entschlossenheit vorherrschen. Die Hand reckt sich nicht, wie in den 20er Jahren bei der KPD und später der Eisernen Front, als Drohzeichen empor, sondern sie hebt beim Hochruf den Hut; und auch vom Gesichtsausdruck der Demonstranten heißt es immer wieder, er sei viel eher heiter als grimmig gewesen: Die Times sieht am 6. März 1910 in Berlin »glücklich aussehende Menschen« durch die Straßen ziehen (zit. nach Vorwärts, 9. 3. 1910), das Echo de Paris konstatiert eine »stolze Haltung, die einen gewissen guten Humor nicht ausschloss« (zit. nach Vorwärts, 10. 3. 1910), und die sozialdemokratische Presse berichtet fast stereotyp, aber doch – wie uns Fotos zeigen – nicht irrealistisch von den »leuchtenden Augen« der Demonstranten. Theodor Heuss schreibt nach dem 10. April in Berlin: (…) es gehört zur Psy­chologie dieser großen Demonstrationen im Freien, dass die Men­ schen nicht zur dumpfen Wut und Lei­denschaft erregt werden, wie etwa im geschlossenen Raum der Abendversammlung, sondern eine festli­che, gehobene Stimmung lebendig wird (Heuss 1910, 232). Man könnte sagen: Die Gesichter verdoppeln nicht den Ein­druck der Stärke, den die Massenformation hervorruft, sondern sie reagieren entspannt darauf als auf einen Sieg. Wahlrechts­demonstran­ ten vor dem Berliner Abgeordneten­haus, 1909

Hier ist sie: Die Freude über einen Akt der Antizipation von Freiheit, Gleichheit und sozialer Geltung, über den aufrechten Gang.

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»Donner­wetter! Ein gut Stück Kultur haben diese Sozial­demo­kraten dem Pöbel doch beige­ bracht!« »Das ist ja gerade das Gefähr­liche an dieser ganzen infamen Hetze!« (Der Wahre Jacob, 24.5.1910)

Edward Thompson hat in seiner Darstellung englischer Volksunruhen im 18. Jahrhundert gezeigt, wie bei diesen der zeremoniellen Feierlichkeit des »Theaters der Großen« in geradezu spiegelbildlicher Umkeh­rung eine Straßenkultur der Unordnung, des Tumults, des Handstreichs entgegengesetzt wurde (Thompson 1980, 247‑289). Und diese Antithetik gilt gewiss auch für viele Straßentumulte in der deutschen Geschichte des 18. und 19. Jahrhunderts. Die Straßendemonstrationen jedoch, wie sie in den preußischen Wahlrechtskämpfen zu Anfang dieses Jahrhunderts praktiziert werden, führen den »Symbolkampf« – sofern er nicht durch das Eingreifen der Polizei in einen tatsächlichen Kampf übergeht – auf andere Weise. Diese zwischen Hierar­chie und Anarchie hindurch geführten Massenaufzüge sind Propaganda für die Möglichkeit des »Volks­staates«, der Republik: Sie wollen neben Zahl und Entschlossenheit der Massen vor allem deren politi­sche und kulturelle Hegemoniefähigkeit beweisen: »Mehr als ein taktisches Kunststück, etwas Neues und Wunderbares ist’s, was die Massen hier, ohne Zwang und Kadavergehorsam, in der Kunst der Massen­ beherrschung geleistet haben«, schreibt die Schwäbische Tagwacht am 11. April 1910.

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Damit haben sie den unwiderleglichen Beweis erbracht, dass sie längst aufgehört haben, ›Massen‹ im verächtlichen Sinn ihrer junkerlichen Gegner zu sein; so wie die preußischen Wahlrechtskämpfer am Sonntag es getan, so benehmen sich ›urteilslose‹, ›gedankenlose‹ Massen nicht, das ist kein ›Pöbel‹, sondern ein Volk inner­lich freier, gleichgesinnter Menschen. Und der Braunschweiger Volksfreund meint am 2. März 1910: Die Wahlrechtsdemonstrationen (bilden) ein bedeutendes Stück Selbsterziehung der Massen (…). Hier (…) wurde es den weitesten Bevölkerungskreisen handgreiflich vor Augen geführt, dass das arbeitende Volk das ordnende, organisierende, vernünftige Ele­ ment ist, während die Polizei, jene Vorsehung des bie­deren Spießbürgers, als ein Haufen brutaler Draufgänger erschien, zu nichts anderem fähig, als die Ord­nung des Volkes sinnlos zu stören. Diese Erfahrung wird zweifellos die Zuversicht der großen Volksmas­sen in ihre Fähigkeit, die Gesellschaft zu organisieren, stark erhöhen. Auch gegnerische Beobachter konstatieren durchaus die spezifische Verbindung, welche massenhafte Begeisterung und Entschlossenheit hier mit Organisationsfähigkeit und individueller Selbstdisziplin ein­gegangen sind. Diese Qualität der damaligen Massenaktionen steigert dort, wo die Sozialdemokratie als revolutionsentschlossene Kraft gefürchtet wird, die Angst: Man sieht dann die Straßendemonstrationen als pseudofriedliche »Revolutionsexerzitien« und meint angesichts der mobilisierten Hunderttausende: »Die tiefernste Kehrseite dieser Vorgänge ist der Einblick in die straffe Organisation der Sozialdemokratie (…). Die menschliche Gesellschaft (hat) dieser Organisation nichts Ähnliches entgegenzustellen« (Reichsbote, zit. nach Vorwärts, 8. 3. 1910). Bür­gerliche Kommentatoren, die die sozialdemokratische Partei positiver, zum Teil gar als potentiellen Koali­tionspartner einschätzen, werten dasselbe Phänomen ganz anders: Die Disziplin, die von den sozialde­mokratischen und demokratischen Massen an den Tag gelegt worden ist, ihre willenlose Nachgiebigkeit unter dem Zügel der Führer, ist auf der einen Seite eine ernst zu nehmende Sache. Denn Disziplin verbürgt Macht, wie das Musterbeispiel der deutschen Armee aller Welt oft gezeigt hat. Auf der anderen Seite ist aber diese Disziplin der Massen erfreulicher und für das Staatswesen weit weniger bedenklich als zucht­lose Leidenschaft. (…) Solange die Führer noch herrschen, hat man das Schlimmste nicht zu befürch­ten (Kölnische Zeitung, zit. nach Tägliche Rundschau, 13. 4. 1910). Nicht zuletzt steigern die Massenaufmärsche des preußischen Wahlrechtskampfs bei der anderen Seite die Begehrlichkeit nach dem ›Besitz‹ dieser begeisterungs- und disziplinfä-

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higen Massen: »Wer die Volksmassen beherrscht und sie organisiert wie die Sozialdemokratie«, schreibt der christlich-nationale Reichsbote, der »hat die Macht« (zit. nach Vorwärts, 12. 4. 1910), und die Leipziger Neuesten Nachrichten meditieren: Noch ein anderes Gefühl muss der Anblick dieser schweigsam dahinziehenden Massen erwecken: Das Gefühl des Bedauerns, dass der in einem großen Teil zweifellos vorhan­ dene Idealismus, der selbst die bei allen Mas­senveranstaltungen so oft vorhandene Freu­ de am Radau besiegt, keinem anderen Ziele zugelenkt wird. (…) Wie viel besser wäre es in Deutschland bestellt, wenn die Kräfte, die hier so falsch geleitet werden, dem na­tio­ na­len Gedanken zurückgewonnen werden könnten! (zit. nach Tägliche Rundschau, 13. 4. 1910). Das heißt für die Straßendemonstration und die Massenkundgebung unter freiem Himmel, dass sie vom nationalen Lager zwar als gesetzwidriger Exzess gebrandmarkt, aber gleichzeitig für die Übernahme in eigene Dienste vorgemerkt werden. So sind die Wahlrechtsdemonstrationen zu Anfang dieses Jahrhun­derts nicht nur ein Durchbruch auf dem Weg zu einer Demokratisierung der politischen Kultur, sie fördern auch die Idee der nationalpopulistischen Nutzung solcher Ausdruckshandlungen. Doch: Abusus non tollit usum. Die friedliche Straßendemonstration, wie die Sozialdemokratie sie damals praktizierte, ist eine unverzicht­bare Bewegungsform der Demokratie geworden, und ihre Habitualisierung in Deutschland bleibt ein Ver­dienst. Deshalb versteht sich dies Referat, gehalten 75 Jahre nach dem Höhepunkt der preußischen Wahlrechtsdemonstrationen, auch ein bisschen als Festvortrag zu einem leider wenig beachteten Jubiläum. Anmerkungen 1 Gewiss gibt es im Kaiserreich zahlreiche Formen von Aufzügen oppositioneller Gruppen – den Mai­ fest­zug, den demonstrativen Leichenzug, Massenspaziergänge ins Grüne usw. Aber durch die Stadt­ zentren ziehende, zugleich friedliche, geordnete und protestierende Massen sind ein vor den Wahl­ rechtskämpfen 1905 bis 1910 unüblicher Anblick. 2 So galt z. B. für den Hin- und Rückmarsch bei der Kundgebung im Treptower Park die Parole: »Kein Ruf. Kein Lied« (Vorwärts, 11. 4. 1910). Nur unter dieser Voraussetzung hatte die Polizei die Ver­an­ staltung genehmigt. George L. Mosse zitiert in seinem Buch Die Nationalisierung der Massen diese Parole in offenbarer Unkenntnis ihrer Entste­hungssituation im Zusammenhang seiner These, die Maiumzüge im Kaiserreich seien »Schweigemärsche« gewe­sen (vgl. Mosse 1976, 196). 3 Da es noch keine Lautsprecher gab, half man sich bei den großen Kundgebungen übrigens damit, dass man mehrere Redner gleichzeitig von verschiedenen Tribünen aus sprechen ließ. Schon aus diesem Grund stiften diese Ver­anstaltungen keine Identifikationsbeziehung zwischen »Masse« und »Führer«.

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Literatur Baader, Ottilie (1921): Ein steiniger Weg. Lebenserinnerungen. Stuttgart, Berlin. Heuss, Theodor (1963): Erinnerungen 1905–1933. Tübingen. Heuss, Theodor (1910): Jagows Bekehrung. In: Die Hilfe, Nr. 15, 232. Mosse, George L. (1976): Die Nationalisierung der Massen. Politische Symbolik und Massenbewegungen in Deutschland von den Napoleonischen Kriegen bis zum Dritten Reich. Frankfurt am Main, Berlin. Naumann, Friedrich (1910): Massenbewegungen. In: Die Hilfe, Jg. 1910, Nr. 10, S. 149. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages des Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Nürnberg vom 13. bis 19. September 1908 (1908). Berlin. Thompson, Edward P. (1980): Die englische Gesellschaft im 18. Jahrhundert: Klassenkampf ohne Klasse? In: Ders.: Plebeische Kultur und moralische Ökonomie. Frankfurt am Main u. a., 247‑289.

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»Aufrechter Gang« Metamorphosen einer Parole des DDR-Umbruchs

Zu den Leitbegriffen, mit denen die Oppositionsbewegung in der DDR 1989 ihre Intentionen zu fassen suchte, gehört der Topos vom »aufrechten Gang«. Im Unterschied zur bekanntesten Parole des DDR-Herbstes, die von »Wir sind das Volk« bald in »Wir sind ein Volk« und später elegisch bis parodistisch in »Wir waren das Volk« oder auch »Wir sind vielleicht ein Volk« verwandelt wurde, hielt sich die Anrufung des aufrechten Gangs bis in die Gegenwart1 scheinbar unverändert durch. Die Tatsache, dass diese Prägung über die Umbrüche des DDR-Umbruchs hinweg verwendet wurde, könnte auf den ersten Blick als Ausdruck einer inhaltlichen Kontinuität genommen werden; bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass sie nur deshalb permanent und bei ganz verschiedenen Trägergruppen auftreten konnte, weil sie traditionell mehrschichtig, ja mehrdeutig ist. In den verschiedenen Phasen der Wende und des deutschen Vereinigungsprozesses wird dieses widersprüchliche Bedeutungsspektrum aufgeblättert; im Funktions- und Bedeutungswandel der Parole vom aufrechten Gang verdichtet sich der Wandel des DDR-Umbruchs von 1989 bis heute. Aufrechter Gang als kollektive Aktion

Am 4. November 1989 sagte Stefan Heym auf der großen Berliner Protestdemonstration: »Einer schrieb mir – und der Mann hat recht: Wir haben in diesen letzten Wochen unsere Sprachlosigkeit überwunden und sind jetzt dabei, den aufrechten Gang zu erlernen« (Hahn 1990, 164). Die Metaphorik des Aufrechten taucht bei dieser Kundgebung mehrfach auf: Jens Reich wendet sich gegen die »feige Vorsicht, nur nicht den Kopf aus dem Salat zu stecken«, Friedrich Schorlemmer sagt: »Es ist wahr, dumpf, geduckt, bevormundet haben wir gelebt, so viele Jahre. Heute sind wir hierher gekommen, offener, aufrechter, selbstbewusster« (ebd., 146, 166); eines der mitgeführten Transparente zeigt einen aufrecht stehenden Körper mit dem Beitext »Angstfrei werden«, ein anderes den Satz »Kopf hoch, du bist dran!«, und ein Plakattext lautet einfach »Aufrechter Gang« (ebd., 100, 111, 98). Die Berliner Demonstration ist zweifellos nicht nur der äußere Anlass für die Verwendung dieser Parolen, sondern steht zu ihnen in einer inneren Verbindung. »Aufrechter Gang« ist hier keine bloße Metapher für eine innere Haltung oder eine politische Programmatik, sondern verknüpft geistigen Aufstand und körperliches Aufstehen und verweist nicht zuletzt auf den weder fliehenden noch angreifenden, sondern ruhigen und selbstsicheren Schritt friedlicher Straßendemonstranten. In späteren Rückblicken auf den DDR-Aufbruch verbindet sich mit der Wendung vom »Erlernen des aufrechten Gangs« oft das Bild der Berli-

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ner Kundgebung vom 4. November, in der die Oktobermühen des Sich-aufrichtens sich in eine stolze Manifestation von Aufgerichteten gewandelt hatten. Es lässt sich jedoch belegen, dass die Formel von den Herbstdemonstrationen als »aufrechtem Gang« schon vorher verwendet wurde: Am 25. Oktober 1989 sagte Rolf Henrich im Sender Leipzig über die dortigen Protestdemonstrationen: »Ich sag’ es einmal recht plakativ: Hier probt der DDRBürger den aufrechten Gang. In den Demonstrationen geht es gar nicht, bis auf ganz wenige Ausnahmen, um Randale, sondern darum, dass Menschen ihre Würde wiederfinden« (Neues Forum Leipzig 1989, 152). Ab November 1989 wird die Metapher vom aufrechten Gang des DDR-Volks dann zur gängigen, in Kundgebungsreden und Presseschlagzeilen immer wieder benutzten Prägung. Über ihren Verbreitungsgrad in verschiedenen sozialen Gruppen ist natürlich schwer etwas auszumachen, doch bleibt sie offenbar nicht auf den Kreis professioneller Vordenker und Vorredner beschränkt: »Als ich am 25. 9. mit Bekannten und den Demonstranten das amerikanische Bürgerrechtslied sang«, erzählt ein 56jähriger Frühinvalide aus Leipzig, »standen mir die Tränen in den Augen, ich fühlte mich nicht alleingelassen, wir lernten den aufrechten Gang« (ebd., 31). Ein Reporter zitiert einen ostdeutschen Sozialarbeiter: »Es war, als ob die Ketten fallen. Und dieses Gefühl ist für mich eigentlich das große Lebensgefühl gewesen, der aufrechte Gang. Ich werde es nie vergessen (…)« (Südwestmagazin, 10. 11. 1990). Und es ist sicherlich zutreffend, wenn Hans-Joachim Maaz diese Befreiungserfahrungen auch als konkret-körperliches Erlebnis, als »das Aufrichten, das Aus-Sich-Herausgehen und das Erheben der Stimme«, und umgekehrt die »körperliche Bewegung (…), das aktivierende Klatschen und dann auch laute Skandieren« als Geburtshelferinnen einer »wachsenden Würde, des aufrechten Gangs« bezeichnet (Maaz 1990, 145). »Die Menschen in unserem Land sind schöner geworden. Sie tragen den Kopf anders, mit einem neuen Selbstbewusstsein«, sagt am 23. November Helga Königsdorf vor dem Schriftstellerverband der DDR (Königsdorf 1990, 98). »Auch die Frauen gingen anders in diesen Tagen«, erzählte eine Mitdemonstrantin aus Ostberlin dem Verfasser, und von der Leipziger Demonstration am 18. Oktober 1989 wird sogar eine besonders tiefgreifende Wiederherstellung des homo erectus berichtet: »Auf dem Markt gesteht mir ein Bekannter: ›Ich habe meine volle Manneskraft wieder‹ « (Tetzner 1990, 28). Zur breiten Akzeptanz des Bilds vom Erlernen oder Erproben des aufrechten Gangs trägt zum einen sicherlich die Interpretation bei, die es für das bisherige Verhalten der Demonstrierenden nahe legt. Ordnet man sich damit doch der Gruppe der bis dato Gebeugten, nicht der Beugenden, also der Opfer- und nicht der Täterseite zu. Die potentielle Selbstkritik, die die Parole enthält, beschränkt sich auf das Eingeständnis mangelnden Mutes zum öffentlichen Eintreten für abweichende Meinungen – und wo sich Bürgerrechtler oder SED-Erneuerer über den »aufrechten Gang« äußern, wird dieser Selbstvorwurf »der Kleinmütigkeit, der Feigheit, der Anpassung, der Resignation« (Reich 1991, 204)2 auch oft ausdrücklich hinzugefügt. Doch ebenso gut kann ein bisher unaufrechter Gang statt als Herrschaft mittragen-

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des Sichbeugen auch als bloßes Gebeugtwerden durch äußere Mächte interpretiert werden, wie es z. B. dort anklingt, wo nicht vom Erlernen, sondern vom Einfordern des »Rechts des aufrechten Ganges« gesprochen wird (z. B. Förster/Roski 1990, 159).3 Zum anderen eignet sich der »aufrechte Gang« in der ersten Phase des DDR-Um­bruchs wohl auch deshalb zu einer Leitparole, weil er sowohl in der bürgerlichen wie in der sozialistischen Tradition verortet ist. »Aufrechter Gang« als Aversion gegen unterwürfige Geistes- wie Körperhaltungen ist Erbe der bürgerlichen Aufklärungszeit, meint »Männerstolz vor Königsthronen, Zivilcourage« (Bloch 1959, 524);4 und wie Kant in seiner »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« das Problem von Unmündigkeit und Mündigkeit mit Hilfe von Bildern des »Gängelwagens«, der »Fußschellen«, der »freien Bewegung« und des »gehen Lernens« diskutiert (Kant 1968, 53 f.), so steht der ostdeutschen Bürgerbewegung der aufrechte Gang ihrer Demonstrationen für das Ende des »vormundschaftlichen Staats«, der »selbst verschuldeten Unmündigkeit«, für das Naturrecht auf menschliche Würde. Zugleich weist der Begriff des aufrechten Gangs aber auch über die bürgerliche Tradition hinaus: »Der Gedanke, der immer wieder vertreten wurde, das Schlagwort, das die Massen gerufen haben, hieß ›Erlernung des aufrechten Gangs‹ «, sagt Hans Mayer am 18. 11. 1989 in der taz: »Das ist doch die Formel von Ernst Bloch, das, was er immer wieder gepredigt hat! Das heißt, das, was sich vollzieht, das Erwachen zur Identität des Volkes und der Menschen zur Kenntlichkeit, das sind doch alles Begriffe von Ernst Bloch, das ist doch Umsetzung seines Denkens«. Näher noch als der Bezug auf Bloch liegt für DDR-BürgerInnen wahrscheinlich jener auf Volker Braun, der eine 1979 erschiene Gedichtsammlung mit »Training des aufrechten Gangs« betitelte; diese Zusammensetzung mit »Training« oder »Trainieren« taucht auch in Formulierungen von 1989/1990 auf.5 Ernst Bloch wie Volker Braun aber stehen für das Projekt eines noch nicht real existierenden Sozialismus. Die Parole vom »aufrechten Gang« vermag also neben dem aufklärerisch-antifeudalen Programm individueller Freiheit und Würde auch die Vorstellung damals vieler Bürgerrechtler in sich aufzunehmen, dass es »um mehr gehen sollte als nur um das Programm der bürgerlichen Gesellschaft« (Schmid 1990, 42). Sie steht damit zeitweise in einer Reihe mit der gewendeten Internationale, deren »Steht auf, im Erdenrund, ihr Knechte« damals in Leipzig und Berlin den Volkspolizisten entgegengesungen wird, und mit dem SED-kritischen Wiederaufgreifen der Marxschen Formulierung vom Umwerfen aller Verhältnisse, in denen der Mensch »ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen« ist (Oktober 1990, 186). Da die Rede vom »aufrechten Gang« die sozialistische Option freilich nur als Konnotation enthält, da dieser – um auf eine andere Wendevokabel anzuspielen – nicht sichtbar auf »roten Socken« geht, kann eine relativ breitgestreute Verwendung der Metapher die noch weitgehend als Sozialismusreform firmierende Protestbewegung des Frühherbstes dann auch überleben.

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Haltet euch gerade!

Mit der Öffnung der Westgrenze am 9. November 1989 tritt der DDR-Umbruch in eine neue Phase. Zum gemessenen Schritt der Demonstrierenden kommen neue Gangarten hinzu: der Sturm auf die Grenzübergänge, der Run auf die Kaufhäuser Westberlins, der Massenspaziergang auf dem Kurfürstendamm. In dieser Situation erhält die Parole vom »aufrechten Gang« neue, zusätzliche Funktionen. Sie steht nicht mehr bloß gegen das Sichducken vor der SED-Herrschaft, sondern auch gegen das »Hasten nach dem Westen«, das »Stürmen von Coca-Cola und McDonalds«, das »Gän­gel­band« der Konsumgesellschaft (Neues Forum Leipzig 1989, 239; Sächsische Zeitung, 20. 11. 1989; Neues Deutschland, 8. 12. 1989). »Der erlebten Souveränität der Kundgebungen«, sagt Volker Braun, sei »die erlebte Demütigung des Begrüßungsgeldes« gefolgt (Neues Deutschland, 2. 3. 1990). »Wir wollen weiter den aufrechten Gang gehen. Ist das möglich in einem Land voller Bananenschalen?«, schreibt ein Leser in der DDR-taz (7. 3. 1990). Während die Westberliner taz ironisch von der »Massendemonstration von DDR-Bürgern in den Kaufhäusern des Westens« spricht (taz, 13. 11. 1989) und Klaus Hartung in derselben Zeitung noch einigermaßen zweideutig sagt: »Der erkämpfte aufrechte Gang führte die Massen vor die Schaufenster des Westens« (Blohm/Herzberg 1990, 176), schreibt Stefan Heym ingrimmig: »Aus dem Volk, das nach Jahrzehnten Unterwürfigkeit und Flucht sich aufgerafft und sein Schicksal in die eigenen Hände genommen hatte und das soeben noch, edlen Blicks, einer verheißungsvollen Zukunft zuzustreben schien, wurde eine Horde von Wütigen, die, Rücken an Bauch gedrängt, Hertie und Bilka zustrebten auf der Jagd nach glitzerndem Tinnef« (Spiegel 49/1989, 55). Der »aufrechte Gang«, eben noch Symbol für Auflehnung, wird nun zum Synonym für Selbstbeherrschung; aus dem befreienden »Richtet euch auf!« wird ein strenges »Haltet euch gerade!« Der den Wärmestrom des bürgerlichen Prinzips Aufrecht schon immer begleitende Kältestrom wird aktiviert. So wie Daniel Chodowiecki in seinen Natürlichen und affectirten Handlungen des Lebens von 1779 die steif-aufrechten, motorische und sexuelle Regungen zurückhaltenden Bürger den tänzelnden, hüpfenden, sich lasziv verbiegenden Adligen entgegenstellt, wie Johann Jakob Engel in seinen Ideen zu einer Mimik von 1785 den sich nach vorn biegenden als den gierigen und den neugierigen Körper identifiziert, so sprechen die um ihr Reformprojekt Besorgten nun vom neugierigen Ausflug und Einkaufsgang in den Westen als von einem »Rausch«, einem »Tanz ums Goldene Kalb« oder einem »bösen Karneval« (Reich 1991, 201; Der Freitag, 30. 11. 90; Dieckmann 1991, 59). Die Heymsche Beschreibung belegt dabei, dass die Kritik nicht zuletzt der Massenhaftigkeit, der angeblichen Herden- oder gar Hordenform dieses Tuns gilt (so kann sich der Kritiker, der als Einzelner ja doch wohl auch über die Grenze ging, einkaufte, einkehrte usw., auch leichter aus den Schreckbildern der Konsumgier ausklammern); und man kann sich fragen, wie dieser dégoût denn zur rückhaltlosen Sympathie mit den vorhergehenden Massendemonstrationen passt, bei denen ja öfters ebenfalls »Rücken an Bauch gedrängt« war und sich Gefühle zuweilen in kollektivem Grölen, Schreien und Pfeifen Luft machten. Bei genauerem Hinse-

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hen entdeckt man freilich, dass die Inkonsequenz begrenzt ist: Intellektuelle Protagonisten der Protestbewegung mahnten bei den Demonstrationen nicht nur – sinnvollerweise – zur Gewaltfreiheit, sondern wandten sich auch z. B. gegen »wüstes« Schreien und »würdeloses« Buhrufen und neigten dazu, den Ausdruck ungebremster Emotionen als »übersteigerte Emotionen« zu tadeln (z. B. Neues Forum Leipzig 1989, 208, 210). Inhaltlich-politische Kritik z. B. nationalistischer Tendenzen bei Demonstrationen oder eines Primats von Reise- und Kaufwünschen verbindet sich hier offenbar mit dem kulturkritischen, genauer gesagt volkskulturkritischen Impuls, mit dem das kulturpädagogische Personal des neuzeitlichen Staates dem »Materialismus« der Unterschichten schon immer entgegengetreten ist. Auch bei vielen linken, ihrem Selbstverständnis nach arbeiterbewegten Intellektuellen lebt eine traditionell-bildungsbürgerliche Version des aufrechten Gangs fort, der sich nicht mit »hordenartigem« Auftreten vereinbaren lässt und bei dem, vor allem, die Augen nicht in die Niederungen gegenwärtiger Genüsse, sondern – siehe das Heym-Zitat – in eine »verheißungsvolle Zukunft« zu richten sind. Der Körper darf nicht in »angenehmen Gefilden« zu Boden sinken,6 propagiert wird vielmehr »ein neues, härteres Training, des schmerzhaften und wunderbaren aufrechten Gangs« (Braun 1987, 61): eine Konzeption mithin, in der, zugespitzt gesagt, Kapitalismus als Genuss verboten und Sozialismus als Härtetest empfohlen und in der aus der Befreiung zum aufrechten Gang die Asketenpflicht zum »langen Marsch« wird. Dass eine solche Erziehungsidee es schwer haben wird, die Massen zu ergreifen, sofern sie nicht mit materieller Gewalt dazu gezwungen werden, hätte freilich das soeben zuende gegangene Kapitel der deutschen Arbeiterbewegung lehren können.7 »Aufrecht in die Einheit«

»Wiedervereinigung? Und wo bleibt der aufrechte Gang?«, fragt ein Demonstrationsplakat am 4. Dezember 1989 in Leipzig. Wenige Wochen später steht nicht mehr das Ob, sondern nurmehr das Wie der deutschen Vereinigung zur Debatte. Nun kommt in der NochDDR die Parole »Aufrecht in die Einheit« auf. Mit ihr wird eine andere Seite des Bedeutungsgehalts des Aufrechten aktualisiert: Es geht jetzt um die Abwehr von pauschalen Verdikten über die DDR-Bürger, welche diesen eine Kollektivschuld am politischen System der Vergangenheit, aber auch an den strukturellen Mängeln der DDR-Wirtschaft anlasten wollen. »Aufrechter Gang« steht hier nicht gegen das Gebeugtwerden und das Sichbeugen unter eine Herrschaft, sondern gegen das gesenkte Haupt des Schuldbewussten. Diese Akzentuierung lässt sich – wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung – bei Vertretern verschiedener politischer Richtungen finden. Der Sozialdemokrat Friedrich Schorlemmer sagt: »Wir haben uns aus eigener Kraft eines Krakensystems entledigt, allein das rechtfertigt einen aufrechten Gang« (Horizont-International 23/1990, 6); sein Parteifreund Wolfgang Thierse betont auf dem Vereinigungsparteitag der SPD: »Ich denke nicht, dass wir aus der DDR mit gesenktem Haupte, demütig in die deutsche Einheit gehen müssten! Auch

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wir Ost-Sozialdemokraten kommen aufrecht zu Euch, Ihr Westdemokraten!« – ein westdeutscher Journalist fügt hinzu: »Und es klingt schon wie eine Drohung« (Südwestpresse Ulm, 26. 9. 1990). Eine CDU-Kandidatin für die letzten Volkskammerwahlen äußert in einem Interview: »So viel Ehrgeiz haben wir schon, dass wir nicht untergehen wollen. Und bitte erhobenen Hauptes! Ich will keine Konkursmasse sein, die aufgegriffen wird, ich habe auch etwas mitzubringen in diesen deutschen Bund« (Fischer/Lux 1990, 196), und Lothar de Maizière spricht in seiner Regierungserklärung zwar nicht vom aufrechten Gang, wohl aber davon, dass die DDR-Bürger in die Einheit ihre »Identität« und ihre »Würde« einbrächten (FAZ, 20. 4. 1990); die FAZ schreibt am Tag danach: »De Maizière will die DDR schnell und ohne Demut in die Einheit führen« (ebd.). Bei der Bürgerbewegung hegt man eine zeitlang sogar die Hoffnung, den soeben gelernten aufrechten Gang nun auch in der Bundesrepublik lehren zu können – zu der auch westliche Stimmen zeitweise ermuntert hatten, so z. B. Walter Momper, der am 10. November 1989 ausrief: »Vielleicht werden wir von der demokratischen Kultur in der DDR noch einiges lernen können« (Südwestpresse Ulm, 11. 11. 1989). Zumindest aber steht die Metaphorik des Aufrechten im Kontext Vereinigung für die Überzeugung, von Regierung und Bevölkerung der Bundesrepublik sowohl Gleichberechtigung als auch Unterstützung erwarten zu dürfen und nicht erbetteln zu müssen. Diese Haltung eint auch die politischen Gegner in der Noch-DDR. Als deren neuer Regierungschef Hans Modrow, von seinem wenig erfolgreichen Bonnbesuch im Januar 1990 zurückkehrend, die Formulierung wählt: »Ich werde nicht auf Knien um einen solchen solidarischen Beitrag bitten«, erntet er damit am Runden Tisch allgemeinen Beifall (Thaysen 1990, 139). Was tatsächlich als aufrechter Gang in die Einheit firmieren kann, ist selbstverständlich umstritten. Während CDU-Vertreter und die CDU-nahe Presse der DDR im Frühjahr 1990 der Meinung sind, dass der zwischen den Regierungen Kohl und de Maizière ausgehandelte Staatsvertrag die »Würde« der DDR-Bürger respektiere, kommentiert eine Erklärung des Neuen Forums diesen Vertrag mit den Worten: »Die DDR-Regierung beugt sich dem Diktat der Sieger in Bonn. Das Volk wollte in die deutsche Einheit gehen – jetzt wird es zum Kriechen gezwungen« (Rein/Butzmann 1990, 406). Dabei deuten sich auch sprachliche Unterschiede zwischen Regierung und Opposition an: In Reden prominenter CDUVertreter ebenso wie in der CDU-nahen Tageszeitung Neue Zeit kommt der Begriff der Würde des Öfteren vor, das Bild des Aufrechten oder gar des aufrechten Gangs findet sich jedoch seltener als in Texten der Bürgerbewegung oder der PDS. Denkbar, dass die GangMetaphorik der DDR-CDU doch etwas nahe bei der politischen Kultur der Herbstbewegung liegt, während die Rede von der Würde mehr mit traditionell-bürgerlichen Vorstellungen von einer die gesellschaftliche Praxis transzendierenden Sphäre von Subjektivität vereinbar scheint.8 Eine wesentliche Rolle spielt das Prinzip Aufrecht beim Kampf der PDS gegen den bloßen Anschluss der DDR an die Bundesrepublik und gegen die Definition der politischen und sozialen »Errungenschaften« des realen Sozialismus als zu entsorgenden »Altlasten«. In der Volkskammer sagt der PDS-Abgeordnete Uwe-Jens Heuer, man müsse »allen Schichten

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des Volkes den aufrechten Gang in die deutsche Einheit ermöglichen« (Neues Deutschland, 21. /22. 4. 1990); das Neue Deutschland überschreibt seinen Bericht von der Berliner Maidemonstration 1990, bei der auch zahlreiche DDR-Fahnen mitgeführt worden waren, mit »Aufrecht durchs Brandenburger Tor« (ebd., 2. 5. 1990), und im August 1990 ruft der PDS-Vorstand unter der Überschrift »Wir gehen aufrecht in das vereinigte Deutschland« zu einer Aktionswoche auf, in der durch Unterschriften, Mahnwachen, Demonstrationen und eine schließliche Großkundgebung in Berlin unter anderem gegen die »Vereinnahmung der DDR«, die Zerstörung der DDR-Wirtschaft und die Eingliederung der NVA in die Bundeswehr gestritten werden soll. Der aufrechte Gang wird also wieder zum Synonym für Protestdemonstrationen; die PDS übernimmt die Parole, mit der eben noch zum Aufstand gegen ihre Vorgängerin geblasen wurde, und erklärt sich damit zur Miterbin der Bürgerbewegung vom Herbst 1989. Ihren Gegnern, die dies eine Usurpation nennen (z. B. FAZ, 21. 4. 1990), kann sie antworten, dass dieser Aneignung ja ein innerer Reformprozess vorangegangen sei, in dem ihre Mitglieder selbst den aufrechten Gang des Einzelnen in einer demokratischen Bewegung gelernt hätten. Dass dies keine Unwahrheit, aber doch nur eine Teilwahrheit ist, darauf deuten nicht zuletzt verschiedene Verwendungsweisen des Wortes aufrecht, die sich in der SED bzw. PDS seit dem Herbst 1989 beobachten lassen. In der innerparteilichen Diskussion dieser Zeit findet sich die Prägung vom »aufrechten Gang« u. a. in der selbstkritischen Funktion, mangelnde Meinungsfreiheit und mangelnde Meinungsäußerung in der SED und FDJ zu bemängeln.9 Im Neuen Deutschland beginnt eine Debatte darüber, dass die SED weniger Parteidisziplin und mehr »Zivilcourage« brauche (Neues Deutschland, 27. 10. 1989, 16. 11. 1989). Der FDJ-Vorsitzende Eberhard Aurich erklärt in der Jungen Welt: »Wir brauchen Garantien, dass es nicht mehr so ist wie noch immer, dass es vom persönlichen Charakter, von der Zivilcourage, vom ›Kreuz‹, vom ›aufrechten Gang‹, vom Mut abhängt, ob man seine Meinung sagt oder nicht« – wobei freilich die Halbheit auffällt, dass das Recht zum aufrechten Gang von oben gewährt werden soll. Und bei einer Kundgebung von SEDMitgliedern vor dem ZK-Gebäude sagt ein Feuerwehrmann namens Küna: »Meine Partei muss eine starke Partei werden, stark durch die Stärke jedes Genossen und seinen aufrechten Gang« (Spiegel 49/1989, 40). In anderer Bedeutung wird die Parole dann am 14. Januar 1990 verwendet, als die SED/ PDS unter dem Motto »Aufrecht zu Karl und Rosa« eine Kundgebung an den Gräbern von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg abhält und in den Parteiberichten von der Berliner Feier und entsprechenden Veranstaltungen in anderen DDR-Städten immer wieder vom »Sichaufrichten«, vom »aufrecht an den Gräbern«-Stehen, vom Gedenken an die »aufrechten Kämpfer« und die »Standhaftigkeit und menschliche Größe von Karl und Rosa« die Rede ist (Neues Deutschland, 15. 1. 1990; Berliner Zeitung, 15. 1. 1990). Die Forcierung dieser Metaphorik knüpft offensichtlich an die Sprache des DDR-Herbstes, aber auch an das Bild vom aufrechten proletarischen Kämpfer an, das neben Freiheitswillen und Auflehnung auch die unbeirrbare Treue zur »Sache«, und das impliziert hier meist auch: zur Par-

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teiführung, in sich aufgenommen hat. Gerhard Reins Schilderung von der Berliner SED/ PDS-Kundgebung des 14. Januar bestätigt diese Unentschiedenheit zwischen Erneuern und Beharren:

Die Plakate und Schilder sind nicht mehr fabrikmäßig in großer Stückzahl ausgeliefert, sondern von eigener Hand entworfen und gefertigt, aber seltsam, durch eine geheimnisvolle Intuition steht auf den meisten derselbe Satz: ›Für demokratischen Sozialismus – trotz alledem‹ (Rein 1990, 325). »Trotz alledem« – das ist in der Tradition der kommunistischen Bewegung eben untrennbar beides: das Sich-aufrichten der Entrechteten und das rotpreußische Strammstehen des durch nichts zu beirrenden Parteisoldaten. »Aufrecht auf Knien«

»Aufrechten Gangs kann ich nun in die Arbeitslosigkeit gehen«, schreibt eine Frau aus der Ex-DDR im Herbst 1990 an ihre Freundin (Der Freitag, 9. 11. 1990). Und ein sächsischer Kabarettist sagt zu Silvester 1990 im Fernsehen: »Gehen wir mit aufrechtem Gang optimistisch in die Zukunft. Guten Rutsch!« (3sat, 31. 12. 1990). Angesichts der Massenentlassungen ostdeutscher ArbeitnehmerInnen, der um sich greifenden Entwertung und Abwertung ihrer Fähigkeiten, ja ihrer DDR-Mentalität insgesamt und alltäglich erfahrener Bevormundung durch westdeutsche Entwicklungshelfer stößt man im Lauf des Jahres 1991 immer häufiger auf Äußerungen, die sich nurmehr sarkastisch auf das Leitbild vom aufrechten Gang beziehen. Dabei finden sich nicht nur Metaphern wie »Aufrecht auf Knien« (Der Morgen, 8. 2. 1991), »systematisch gebrochenes Rückgrat« (Kommune 1991, 21), »Einziehen des Kopfes« (Tagesspiegel, 24. 5. 1991), sondern Betroffene wie Beobachter sehen die verbreitete Verunsicherung und Depressivität auch im körperlichen Habitus ostdeutscher BürgerInnen gespiegelt: Der Spiegel z. B. meint, eine Formulierung von Heiner Müller aufgreifend, die Ostdeutschen hätten »immer noch diesen ›verdeckten Blick der Kolonisierten‹ « (Spiegel 18/1991, 74), und Fotos und Schilderungen von auf dem Arbeitsamt wartenden Arbeitslosen zeigen ein Panoptikum in sich zusammengesunkener, den Kopf gesenkt haltender Menschen.10 Unterschiedlich ist dabei die Ätiologie: Einmal wird eher von einem DDR-traditionellen Sich-beugen gesprochen, das sich nun nach einer kurzen Zeit des Aufbruchs wieder etabliere – »Das Sklavische steckt noch so in uns«, sagt in diesem Sinn Friedrich Schorlemmer (Die Zeit, 24. 5. 1991, 49); das andere Mal ist eher die Rede von einem Gebeugt-werden durch die neuen Herren (oder die gewendeten alten): »Bleib’ geduckt! Nicht aufgemuckt! Alles runtergeschluckt! (Sonst wirst Du entlassen!)«, lautet z. B. ein Plakat auf der Berliner Kundgebung vom 4. November 1990, zum Jahrestag der großen Demonstration des aufrechten Gangs; oder es wird auf das fatale Zusammenspiel beider Faktoren abgehoben – und damit auf wohl plausible Weise die von Mit-

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leid in Verachtung changierende Haltung kritisiert, mit der manche westdeutschen Linken auf die ihnen gering erscheinende Gegenwehr der Entlassenen und Abgewickelten in der Ex-DDR reagieren. Wo noch vom Versuch des aufrechten Gangs die Rede ist, hat die Parole häufig ihren Aufbruchscharakter eingebüßt und meint nicht mehr Aufrichtung als Auflehnung, sondern das bloße Bewahren von Haltung trotz der Sorgen, die einen niederdrücken; diese stoische Tradition des Aufrechten aufgreifend, kann dann auch die gerade von ihrer Dienstwagenaffäre bedrückte Rita Süßmuth eine Brücke von ihrem Schicksal zu dem ihrer Landsleute in der DDR schlagen: Wenn vom aufrechten Gang die Rede sei, meint sie im März 1990, dann wisse auch sie, dass es Situationen gebe, die es auszuhalten gelte (Südwest 3, 16. 3. 1991). Daneben wird freilich auch noch zum aufrechten Gang in einem offensiveren Sinn aufgerufen. So sagt z. B. Manfred Stolpe bei seiner Laudatio auf sechs VertreterInnen der Herbstopposition, die als »Beispiele für den aufrechten Gang in die Freiheit« (Hildegard Hamm-Brücher) mit dem Theodor-Heuss-Preis geehrt werden: »Wer sich vor Honecker nicht krümmte, braucht es auch bei neuen Herrn nicht zu tun. Die Energie des aufrechten Gangs, das unerschrockene, kompetente und tüchtige Handeln entfaltet die gesunden Möglichkeiten der Menschen allem Verbiegen zum Trotz« (Südwest 3, 16. 3. 1991). Aber auch diese Formulierungen können wohl kaum als Aufruf zum kollektiven Protest genommen werden; das »unerschrockene, kompetente und tüchtige Handeln«, mit dem aufrechter Gang in dieser Rede identifiziert wird, scheint sich eher auf die alltägliche, auch berufliche Selbstbehauptung der Einzelnen zu beziehen. Ganz abhanden gekommen, so zeigen es ja schon die oben angesprochenen PDS-Aufrufe, ist die Verbindung von aufrechtem Gang mit Massenprotesten aber auch 1990/1991 nicht. Eine – nicht flächendeckende, aber doch ausgiebige – Durchsicht von Demonstrationsberichten aus dieser Zeit ergab jedoch, dass die Parole des »aufrechten Gangs« in Kundgebungsaufrufen, -reden und -berichten offenbar selten vorkommt. Ihr Pathos passt ja wohl auch kaum zum Defensivcharakter von Aktionen, in denen es um die Verhinderung oder auch nur »soziale Abfederung« von Betriebsschließungen geht, und zu wenig selbstbewussten, zwischen Protest und Bitte stehenden Proklamationen wie »Wir fordern eine soziale Marktwirtschaft, wie sie uns versprochen wurde« (Neues Deutschland, 11. 5. 1990). Im übrigen gibt es Beobachter, welche die gegenüber den Herbstprotesten von 1989 veränderte Stimmung auch an der Körpersprache der Demonstrierenden festmachen zu können meinen: »Die Menschen marschieren nicht, sie trotten über den Ring um die Altstadt«, schreibt Christian Wernicke in der Zeit über die neuen Leipziger Montagsdemonstrationen von 1991: »(…) ohne Sprechchöre, mit gesenktem Kopf und leeren Gesichtern. Das sind keine rebellischen Helden mehr, das sind verzweifelte Bürger, die sich betrogen fühlen und die um ihre Existenz fürchten« (Die Zeit, 29. 3. 1991). Das mangelnde oder gebrochene Selbstwertgefühl, das viele DDR-Bürgerinnen und -Bürger nach dem Umbruch des Umbruchs äußern oder zeigen, ist oft zugleich ein Minderwertigkeitsgefühl gegenüber den Westdeutschen. Diese Haltung ist sicherlich nicht prinzipiell neu, aber durch die Veralltäglichung von westostdeutschen, häufig von vornherein asym-

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metrischen Begegnungen ungleich virulenter geworden. Überlegen erscheinen die Westdeutschen dabei gerade auch in der Frage des aufrechten Gangs. Teilweise wird dieser primär als Charakteristikum der politischen Kultur in Westdeutschland verstanden – so z. B., wenn die Hoffnung ausgesprochen wird, dass »das Training, das die Mehrzahl der Altbundesbürger im Umgang mit der parlamentarischen Demokratie erworben hat, (…) auch die ehemaligen DDR-Bürger aus ihrer Demutshaltung erlösen und zum aufrechten Gang befähigen« werde (Eichler/Gärtner/Seidel 1991, 190). Überdies, und das ist wohl noch bedeutsamer, existiert auch das Bild eines in seinem Verhalten insgesamt aufrechteren Westbürgers: »Ich finde«, sagt eine junge Finanzkauffrau Anfang 1990, »dass unsere deutschen Nachbarn sich um andere Dinge den Kopf zerbrechen müssen und dadurch einen ›aufrechten Gang‹ haben. Sie wurden nicht immer von oben herab gegängelt, oder mussten nicht Dinge tun, die gar nicht ihren Interessen entsprachen« (Gotschlich 1990, 40). Dieser angeblich aufrechte Gang der Westdeutschen wird dabei teilweise wiederum ganz wörtlich genommen. Auch dies Stereotyp gab es schon vor der Wende: »Unser (ostdeutscher) Reiseleiter«, sagte 1989 die Teilnehmerin an einer Gruppenreise in die DDR, »hat gemeint, irgendwie würden wir anders laufen. Irgendwie hat er gesagt, wir laufen aufrechter« (Projektinterview des Ludwig-Uhland-Instituts, 4. 10. 1989). Nun findet man diese Vorstellung in aktualisierter Fassung wieder: In einem Essay Die Herren auf den langen Fluren beschreibt Marco Schütz die neuen Herren aus dem Westen unter anderem so: »Und die Haare sind locker, überhaupt sind sie locker, die Haltung, der Gang – keine nach vorn fallenden Schultern, kein eingezogener Kopf, kein schleppender müder Schritt, den Blick nicht gesenkt, aber auch nicht nach oben, genau geradeaus (…)«. Und er spricht »vom Drang, ihnen gleich zu werden; sie nachzuahmen mit ihrem sicheren Gang, ihrem frischen Blick, ihrer lockeren Haltung« (Der Freitag, 28. 6. 1991). Diese Fremd- und Selbstschilderung verweist auf eine Widersprüchlichkeit, in welche die Parole vom »aufrechten Gang« in Ostdeutschland gegenwärtig verstrickt ist: Wo sich mit ihr das Erscheinungsbild westdeutscher Herren verbindet, wird sie zum double bind, zur Emanzipation als Anpassung. Und da sich in diesem Bild der aufrechten Herren die Vorstellung von individueller Freiheit mit der von Herrschaftsausübung verbunden hat, ist es für Vertreter des aufrechten Gangs vom Herbst 1989 anziehend und abstoßend zugleich. Es hat also Konsequenz, wenn Volker Braun angesichts einer Situation, in der der aufrechte Gang im Alltag von Wessis besetzt und die Einlösung eines ganz anderen Ideals von Aufrechtsein vorerst nicht realisierbar scheint, das Training einer zumindest äußerlich ganz anderen Haltung empfiehlt: »Gegen etwas, das groß daherkommt und tönt und sich selbstgerecht etabliert – dagegen hilft nur der Blick von unten, eine plebejische Haltung gegen die buntlackierten, angestrichenen Zeitläufe« (Der Freitag, 21. 6. 1991).

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Anmerkungen 1 1992. 2 Gewiss haben die Gruppen, die Reich vertritt, am wenigsten Grund zu solchen Selbst­vorwürfen; doch auch für die bisher vor allem im Schutz der Kirchen operierenden Oppositionsgruppen bedeutet der demonstrativ-aufrechte Gang vom Herbst 1989 einen Verhaltensbruch, nach dem Dresdener Super­ intendenten Christof Diemer eine »härtere Gangart«: »Aus den Bitten der Christen wurden die For­ derungen der Bürger« (Hildebrand/Thomas 1990, 103). 3 Die weite Verbreitung dieser Variante konstatiert und kommentiert der Leipziger Autor Horst Dre­ scher: »Alle, alle, alle haben gelitten, liefen mehr oder weniger geduckt in der Seele und oftmals bitter durch ihre Tage, haben geschwiegen, wo man nicht reden konnte, oder redeten etwas neben der Wahrheit, um Schlimmeres zu verhindern, sind gekrochen, wo nicht aufrecht gegangen werden durfte, und immer alles bei genauer Kenntnis des menschlichen, des aufrechten Ganges« (Heym/Heiduczek 1990, 405). 4 Vgl. Warneken 1990. 5 So zitiert z. B. die Berliner Zeitung vom 15. 1. 1990 die Berliner SPD-Politikerin Pauk mit dem Satz: »Auf der Straße habe das Volk sein Selbstvertrauen wiedergewonnen und den aufrechten Gang trainiert«. 6 Im Nachwort zu ihrem Band Die sanfte Revolution schreiben Stefan Heym und Werner Heiduczek von den »Zuständen (…), die eine Mehrheit der DDR-Bürger veranlasste, nach angenehmeren Gefil­ den aus­zubrechen, statt den mühseligen Weg über Reform und Erneuerung zur Erfüllung der großen Utopie zu suchen« (Heym/Heiduczek 1990, 423). 7 Vgl. Maase 1991. 8 Einer der – meinen Recherchen nach – seltenen Fälle, in denen »aufrechter Gang« als CDU-Parole benutzt wird, ist die Rede des stellvertretenden Vorsitzenden der DDR-CDU auf dem Gründungs­ parteitag der CDU Thüringen, der, auf den Löwen in der Parteitagsfahne weisend, sagt: »Der Thüringer Löwe übt wieder seinen aufrechten Gang« (Die Welt, 22. 1. 1990). Der Autor des Artikels fügt hinzu: »Da war es wieder, das alte, so lange verfemte Wappentier, rot auf weißem Grund, trotzig aufrechtstehend in einem Reigen von acht Sternen« (ebd.). Hier wird also die Amalgamierung zweier Traditionen versucht: Die Machtpose des Wappentiers soll das Aufbegehren der Bürger gegen die Macht des SEDStaats in sich aufnehmen. 9 Der früheste Beleg, den ich hierfür fand, ist eine Äußerung von Lutz Marz in der FDJ-Zeitung Junge Welt vom 23. 10. 1989: »Als Parteimitglied habe ich zwar stets meine Meinung gesagt und war immer bemüht, den unbequemen Weg des aufrechten Ganges einzuschlagen, doch entweder habe ich zu leise gesprochen oder meine Worte sind in den verwickelten Verhältnissen verhallt.« 10 Besonders eindrücklich die Skizze Am Dienstag auf dem Arbeitsamt von Jascha Dahl (vgl. Dahl 1990).

Literatur Bloch, Ernst (1959): Das Prinzip Hoffnung. Bd. 1. Frankfurt am Main. Blohm, Frank/Wolfgang Herzberg (Hg.) (1990): »Nichts wird mehr so sein, wie es war.« Zur Zukunft der beiden deutschen Republiken. Frankfurt am Main. Braun, Volker (1987): Training des aufrechten Gangs. 4. Aufl. Halle/Leipzig.

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Dahl, Jascha (1990): Am Dienstag auf dem Arbeitsamt. In: Die letzten Tage der DDR: Bürger berichten vom Ende ihrer Republik. Berlin, 58‑63. Dieckmann, Friedrich (1991): Glockenläuten und offene Fragen. Frankfurt am Main. Eichler, Günter/Heike Gärtner/Hans Seidel (1991): Von Leipzig nach Deutschland: Oktober ’89–Oktober ’90. Leipzig. Fischer, Erica/Petra Lux (1990): Ohne uns ist kein Staat zu machen. DDR-Frauen nach der Wende. Köln. Förster, Peter/Günter Roski (1990): DDR zwischen Wende und Wahl. Meinungsforscher analysieren den Umbruch. Berlin. Gotschlich, Helga (1990): Ausstieg aus der DDR. Junge Leute im Konflikt. Berlin. Hahn, Annegret (Hg.) (1990): 4–11–89. Protestdemonstration Berlin DDR. Berlin. Heym, Stefan/Werner Heiduczek (Hg.) (1990): Die sanfte Revolution. Prosa, Lyrik, Protokolle, Erleb­ nis­berichte, Reden. Leipzig/Weimar. Hildebrandt, Jörg/Gerhard Thomas (Hg.) (1990): »Unser Glaube mischt sich ein …« Evangelische Kirche in der DDR 1989. Berichte, Fragen, Verdeutlichungen. Berlin. Königsdorf, Helga (1990): 1989 oder Ein Moment der Schönheit. Eine Collage aus Briefen, Gedichten, Texten. Berlin u. a. Maaz, Hans-Joachim (1990): Der Gefühlsstau. Ein Psychogramm der DDR. Frankfurt am Main u. a. Maase, Kaspar (1991): Des Volkes wahrer Himmel. Das gute Leben und die Intellektuellen. In: Der Frei­ tag, 31. 5. 1991. Neues Forum Leipzig (1989): Jetzt oder nie – Demokratie! Leipziger Herbst ’89. Leipzig. Oktober 1989. Wider den Schlaf der Vernunft (1990). Berlin. Reich, Jens (1991): Rückkehr nach Europa. Bericht zur neuen Lage der Nation. München u. a. Rein, Gerhard/Manfred Butzmann (1990): Die protestantische Revolution 1987–1990. Ein deutsches Lesebuch. Berlin. Schmid, Thomas (1990): Oppositionsschelte. Vom Vorrang der zivilen Gesellschaft vor Sozialismus, Kapi­ talismus, Nation und Ökonomie. In: Kommune, H. 3, 41‑43. Tetzner, Reiner (1990): Leipziger Ring. Aufzeichnungen eines Montagsdemonstranten Oktober 1989 bis 1. Mai 1990. Frankfurt am Main. Thaysen, Uwe (1990): Der Runde Tisch. Oder: Wo blieb das Volk? Der Weg der DDR in die Demokratie. Opladen. Warneken, Bernd Jürgen (1990): Bürgerliche Emanzipation und aufrechter Gang. Zur Geschichte eines Haltungsideals. In: Das Argument, H. 179, 32. Jg., 39‑52.

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»Vorwärts, doch nichts vergessen!« Zum Gebrauchs- und Bedeutungswandel sozialistischer Symbolik in Ostdeutschland seit 1989

Die Beschäftigung mit Symbolkultur und auch politischer Symbol­kultur liegt im postmodernen Trend, sich lieber mit den inter­essanten ästhetischen Brechungen der gegenwärtigen sozialen Entwicklung zu beschäftigen als mit deren oft unerfreulichen Basistatsachen selbst. Nicht nur im Wirtschaftssektor, sondern auch in den Sozialwissenschaften ist die software weit lukra­tiver als die hardware. Ein Vortrag in der volkskundlichen Kommission »Arbeiterkultur«, der sich nicht den zahlreichen alltagskultu­rellen Problemen des DDRUmbruchs, sondern dessen symbolischer Seite widmet, sollte deshalb vorab die symbolische Bedeutung der eigenen Themenwahl reflektieren und sich fragen, wieweit bei dieser Wahl das bei Volkskundlern ja nur selten befriedigte Verlangen nach Distinktionsgewinn mitspielt, den man sich von der Öffnung des Forschungsfelds Arbeiterkultur hin zum prominenter besetzten Diskursfeld Symbolkultur ver­spricht – ein durchaus naheliegender Wunsch in einer Situation, in der das Interesse für Arbei­terkultur weniger denn je durch die Hoffnung auf die histori­sche Mission der Arbeiterklasse geadelt wird. Der volkskundliche Symbolforscher wird solchen Einschätzungen entgegenhalten, dass sein Interesse an volks- und arbeiterkultu­reller Symbolik nicht erst von heute datiere und auch die Wiederaufnahme dieser Forschungstradition nicht der Entwicklung an der akademischen Börse, sondern der zu untersuchenden Realität selbst folge. Was speziell die Geschichte des DDR-Umbruchs angeht, so haben symbolische Objekte und symbolische Akte hier in der Tat einen hohen Stellenwert.1 Seinen Grund hatte dies zunächst in der Bedeutung, die diese in der DDR selbst hatten: Sie dienten, wie man heute vor allem betont, dem Staatssozialismus zur kollek­tiven Einbindung ins herrschende System; sie beteuerten aber zugleich die Anbindung dieses Systems an eine Zukunft, in der die roten Transparente nicht mehr der Kaschierung verschlissener Fassaden dienen sollten. Sie standen überdies für eine Gesellschaft, die ihre Mitglieder für materi­elle Mängel mit immateriellen Gratifi­kationen zu entschädigen suchte, was sich auch so ausdrücken läßt, dass sie die Vertei­lungskämpfe um ökonomisches Kapital zu einem guten Teil durch den Kampf um soziales und symbolisches Kapital ersetzte. Kein Wunder also, dass sich die Distanzierung von der SED und der DDR-Gesellschaft häufig auch als Auseinanderset­zung mit ihren Zeichen, Parolen und Ritualen abspielte.2 Hinzu kam der große Stellen­wert des Kulturmusters der friedli­chen Massendemon­stration beim DDR-Umbruch, d. h. von Kommunikati­ onssitua­tionen, in denen die Verdichtung, Versinnlichung und zugleich Emphatisierung von Aussagen sowie die Bündelung von Meinungskund­gaben in gemeinsam artikulierten oder als gemeinsam akzeptierten Zeichen und Parolen besonders naheliegt. Die sinnliche

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Greifbar­keit und Abbreviatorik der Symbole bediente dabei überdies das Interesse ihrer Träger, nicht nur gesehen, sondern auch ferngese­hen, also einem auf die Verwandlung komplexer Handlun­gen in visuelle Kürzel orientierten Medium gerecht zu werden;3 nicht weniger nützlich war jedoch die semantische Ungreifbarkeit oder zumindest Uneindeutigkeit, zu der Symbolsprache tendiert – nützlich bei der Einleitung des Bruchs mit den Staatsso­zialisten sowie, wie zu zeigen sein wird, bei der Opposition gegen ihre Nachfolger. Allerdings, so ist hinzuzufügen, sind die ostdeutschen Vorgänge auch ein Beispiel für die Gefahren, die symbolorientierte Beobach­tungen zu gewärtigen haben. Diese zeigten sich z. B. bei der gerade erwähnten massenme­dialen Präferenz für leicht übertragba­re Signale. Baudrillards Simulati­onsthese erhielt, gekürzt um ihr Übertreibungsmoment, im Herbst neue Aktualität: In der Tat kann man sich fragen, inwieweit das nach visuellen Signalen su­chende Fernsehen die Transparente- und Fahnenflut der späte­ren Leipziger Demon­ strationen mit hervorgebracht hat und wie sehr die mediale Vervielfältigung besonders relevant, gelungen oder wünschenswert erscheinender Signale – z. B. der Losung »Wir sind ein Volk« oder der BRD-Fah­ne in DDRler-Händen – daran beteiligt war, dass diese tatsächlich zu »Schlüs­selsymbo­len« der Wende wurden. Politische Symbolik kann, wie Ulrich Sarcinelli sagt, »eine Situation auf den Punkt bringen« (Sarcinelli 1992, 163); sie kann allerdings auch eine Rander­scheinung als Zentralhandlung und partiku­lare Inszenierungen als »histori­sche Stunden« erscheinen lassen. Zur voreiligen Zuschreibung von Repräsen­tati­vi­ tät kommt häufig die Überschätzung der Validität von Symbolhandlungen: Die Eile z. B., mit der manche DDR-Bürger im Frühjahr 1990 das DDR-Kennzeichen an ihrem Auto oder DDR-Dienststellen die Emblematik des SED-Staates von den Bürowänden entfernten, kann Ausdruck innerster Überzeugung, aber auch oberflächlicher Anpassung sein; und die BRD-Fahne auf der Datscha soll vielleicht, kann aber nicht darüber hinweg­täuschen, dass die Umhäutung ihres Besitzers zum Bundesbür­ger noch lange Zeit in Anspruch nehmen wird. Die folgende Darstellung des Symbolumbruchs in Ostdeutschland versucht, sich diese Probleme bewusst zu halten. Sie fasst den Wandel der soziali­stischen Symbol­kultur als Aus­schnitt, der keineswegs als pars pro toto für die politischen Haltungen der Symbolträger oder gar die ostdeut­schen Entwicklungen insge­samt stehen kann. Die empiri­schen Erhebungen, die der Darstellung zugrunde­liegen, bestehen zum einen in der kontinuierli­chen Auswertung mehrerer ost- und westdeut­scher Tageszeitungen, von Videoauf­zeichnungen ost- und west­deutscher Fernsehsendungen und gedruckt vorliegenden Augenzeu­genberichten, zum anderen in der mehr oder weniger teilneh­men­den Beobachtung einiger Demon­strationen und Kundge­bungen in Ostberlin und einer Maifeier in Potsdam sowie aus etlichen Interviews.4 Nicht alle dabei in den Blick genommenen Gegen­standsbe­reiche können im Folgenden auch diskutiert werden. Was dingli­che Symbole angeht, konzentriert sich die Darstel­lung auf den politi­schen – also nicht den alltags­ kultu­rellen – Gebrauch der roten Fahne und ihrer Deriva­te sowie der Embleme von SED und FDGB; was symboli­sche Akte betrifft, auf Protestdemon­strationen, die Maifeier der Gewerkschaften sowie Gedenkfeiern an Denkmälern bzw. Grabmälern von Lenin, Luxem-

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burg und Liebknecht. Einbezogen werden zudem Lieder und Parolen aus der sozialistischen Tradition, die bei diesen Aktionen bzw. Ritualen eine Rolle spielten. Zunächst zur ersten Phase des DDR-Umbruchs, die vom Beginn des Massenprotests im September bis zur Durch­setzung der Wiederver­einigungslosung im Dezember 1989 reicht. Entgegen manchen pauschalisierenden Rückblicken ist diese Phase noch nicht von einer massenhaf­ten Absage an die sozialistische Symbolkultur geprägt. Vielmehr finden sich bei den Herbstdemonstrationen neben christlicher, pazifistischer und aus der amerikanischen und deutschen Bürgerrechtsbewegung stammender Symbolik vielfäl­tige Formen der Neuaneignung des soziali­stischen Arsenals. Dabei wird in lehrreicher Weise vorgeführt, wie sich die Bedeutung einzelner Zeichen durch deren Herausbrechen aus ihrem bisherigen Zeichensystem, durch den Wechsel ihrer Träger­gruppen, durch neue Situationskon­texte oder auch nur eine neue Aneignungs­weise wandeln kann. So konterkarieren bei der größten Massenakti­on des Umbruchs, der Ostberliner Demon­stration vom 4. November 1989, die Teilnehmenden zwar die »Kampf­demonstra­tionen« der Vergangen­heit durch eine Fülle selbst mitgebrachter und inhaltlich wie formal sehr unterschiedlicher Transparente; und das wohl einzige Plakat, das noch das SED-Symbol mit den Bruderhänden zeigt – als das Politbüro-Mitglied Schabow­ski zu reden beginnt, wird es unter dem Gelächter der Umstehenden vor der Rednertribüne hochgehalten – verkehrt dessen angestamm­ten Sinn durch den Beitext »Tschüss!« ins Gegenteil. Nicht von der Bühne verschwunden, wenngleich nicht mehr dominant, ist jedoch das Rot der Arbeiterbewegung. Der Demonstra­tion wird ein straßenbrei­tes, knallrotes Transpa­rent »Protestde­monstrati­on« vorangetragen. Die Rednertribüne ist zwar frei von Fahnen und Emble­men, aber in unaufwendi­ger, improvisier­ ter Weise mit einigen roten Bändern geschmückt. Und in der Menge sind neben weißen, gelben, blauen und schwarzen etliche rote Transparente zu sehen. Hierbei spielte freilich offenbar nicht nur ideelles, sondern auch handfest materielles Erbe mit: Jedenfalls wurde mir berichtet, dass im Gegensatz z. B. zu den Theaterwerkstätten und der Kunst­hochschule, die über größere Bestände an Naturleinen oder schwarzem Vorhangstoff verfügten, viele Betriebe bei größeren Transpa­renten oft nur auf Vorräte an rotem Stoff hätten zurückgrei­ fen können. Das Arbeiterrot erlebt also quantitativ eine Zurücksetzung, qualitativ eine Freisetzung. Durch den Bezugs­rahmen »Oppositions­hand­lung« wird die steril gewordene Akklama­ tionsfarbe wieder zu einer Farbe des Protests. Diese Loslösung von der DDR-Tradition manife­stiert sich dabei nicht nur kontextu­ell, sondern auch ikonogra­phisch: zum einen dadurch, daß es sich bei den roten Plakaten um selbst­gemalte Unikate und nicht gedruckte – und das hieß bisher: von der Partei vorgegebene bzw. zensierte – Texte handelt; zum andern ist bei ihnen in aller Regel die DDR-übliche Kombination von rotem Grund und weißen Buchstaben aufgegeben. Das Wort »Protestdemonstration« auf dem Front­transparent des Umzugs ist nicht weiß, sondern schwarz gemalt, auch Gold auf Rot – vielleicht aus dem Stoff einer DDR-Fahne gebastelt – ist zu sehen, und ein Transparent der Sozialdemokra­ tischen Partei der DDR zeigt ein rotes »SDP« auf weißem Grund. In all diesen Fällen ver-

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wandelt sich das Rot gewissermaßen von einer Uniformfarbe zurück zur Farbe eines neu zugeschnittenen oder erst noch zuzuschneidenden Stoffes. Dass es sich bei der These von der Herauslösung des sozialisti­schen Rot aus seiner staatssozialistischen Einbindung wohl nicht um eine Überinterpretation handelt, läßt sich durch analoge Formen der Umwandlung oder Rekonstruktion traditionel­ler sozialisti­scher Parolen belegen. Neben ironischen und polemischen Verfor­mungen wie »Proletarier aller Länder, ver­zeiht mir (Karl Murx)« finden sich bei den Herbstdemonstratio­nen auch zahlreiche Plakate und Sprechchöre, die der Staatspar­tei die Arbeiterbewe­gungstradition nicht vorwerfen, sondern streitig machen: »Privi­legierte aller Länder, beseitigt euch«; »Alle Macht den Räten«; »Karl Marx-Orden – nicht für Ceausescu, sondern für Stefan Heym«; »Vorwärts zu Marx«. Mehrmals wird auch an Bertolt Brecht angeknüpft, so bei dem Plakattext »Um uns selber müssen wir uns selber kümmern« (aus Brechts und Dessaus FDJ-Lied von 1948) oder beim dann öfters zitierten »Vorwärts, doch nichts verges­sen!« mit seiner kleinen, aber feinen Umformung des Solidari­tätslieds von 1931.5 Diese Technik der Usurpation ist dabei kein Produkt des DDR-Herbstes, sondern gehörte schon seit Jahren zur Praxis der ostdeutschen Oppositionsbewegung. Am bekanntesten ist wohl der Versuch geworden, bei der staatsoffiziellen Luxemburg-Lieb­knecht-Feier ein Transparent mit dem Luxemburgzitat »Freiheit ist immer auch die Freiheit der Andersdenkenden« zu zeigen. Ebenfalls zu oppositio­nellen Zwecken gebraucht wurde in den letzten DDR-Jahren die »Internationale«: Sie wurde z. B. an Pfingsten 1987 von Ostberli­ ner Jugendlichen angestimmt, als die Polizei sie von der Mauer abdrängen wollte, wo sie einem Rockkonzert im Westen zuhörten (vgl. Rüddenklau 1992, 95). Nun, im DDR-Herbst, singen Leipziger und Berliner Demonstranten den anrückenden Sicher­heitskräften wieder »Völker, hört die Signale« entgegen. Offiziell wird dies als »Mißbrauch der Symbole der Arbeiterklasse« gebrand­markt; ein junger Volkspoli­zist aus Leipzig berichtet dagegen: »Wir waren tief bewegt, als wir gehört haben, daß tausende von Leuten die Internationale gesungen haben, aus einem Bedürfnis heraus. Diesmal war es ihnen nicht aufgezwun­ gen. Das hat man irgendwie richtig wahrgenommen« (vgl. Voigt 1989, 77). Die Irritati­on, die Deutungs­unsicherheit auf seiten der Vopo und der SED korrespondiert dabei sicherlich mit einer unentschiedenen Haltung bei den Singenden selbst. Es ist nicht klar, inwieweit das »Die Inter­nationale erkämpft das Menschenrecht« als genuiner Ausdruck der Protestziele oder aber »halb iro­nisch« (taz, 9. 10. 1989) oder, wie eine Demonstrantin aus Leipzig erzählt, einfach »aus Angst«6 und als bloßer Abwehrzauber gesungen wird. Dass alle diese Auslegun­gen möglich sind, garantiert dem Gesang jedenfalls eine verschie­dene Interessen verknüpfende Funktion nach innen und eine Lähmung oder Wut hervorrufende Wirkung nach außen, auf den mit seiner Eigenkultur konfrontierten politischen Gegner. Diese Mehrdeutig­keit, deren genaues Mi­schungsverhältnis wohl nur durch die Recherche vor Ort zu klären gewesen wäre, gilt in ähnlicher Weise auch für die Freisetzung auf den schon genannten anderen Zeichenebe­nen: Sie alle rekonstruieren zwar die politi­sche Symbolik der sozialistischen Bewegung als antihegemo­niale Protestsymbolik, und für viele von ihnen trifft wohl zu, was Beobachter wie z. B. Lutz Niethammer feststellten: dass die Bür-

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gerbewegung des Frühherbsts das verdrängte Erbe der linken Arbeiterbewegung aus dem

SED-Konkurs zu retten versuchte (vgl. Niethammer 1990, 269). Denkbar ist jedoch, dass

sich in manchen Weiterverwendungen von Elementen des sozialistischen Symbolsy­stems ein Hysteresis-Effekt verbirgt, ein Zurück­bleiben des Wortschatzes hinter der Verände­ rung der auszudrücken­den Wortbe­deutungen, und dass dieser Effekt den Ausstieg aus dem real existierenden Sozialismus auch erleichterte, indem er ihn nicht als völlig »unerhör­t« erscheinen ließ. Deutlicher als in der ersten Umbruchsphase zeigt sich das Phänomen der Erleichterung praktischen Wandels durch symbol­sprachliche Kontinuität beim Aufkommen der Ver­ eini­gungsforde­rung im November/Dezember 1989. Diese Forderung wird bekanntlich beson­ders häufig in der Formulierung »Deutschland, einig Vaterland« vorgetragen, also in Anknüpfung an die seit 1971 nicht mehr offiziell gesungene – und wahrscheinlich vielen Ostdeutschen gar nicht geläufige – erste Strophe der DDR-Hymne. Ein Redner ruft am 18. November in Leipzig in die Mikrophone: »Seht euch wieder mal den Text der National­ hymne an, vor allem die erste Stro­phe« (Tetzner 1990, 54) Hinzu kommt, daß die Anhänger einer Wiedervereinigungs die DDR-Fahne ja gar nicht gegen eine andere aus­tauschen, sondern nur von Hammer und Zirkel »befreien« mussten. Diese symbolsprachliche Kontinuität war also geeignet, den Vorwurf oder den Selbstvorwurf der »Fahnen­flucht« zu dementieren und die Vereinigungsforderung lediglich als eine Neudeu­tung der Werte darzustellen, auf welche die Gemein­schafts­rituale von gestern verpflich­tet hatten.7 Damit ist nun die zweite Phase des ostdeutschen Umbruchs eingeläutet:8 Die Zielstel­lung »deutsche Vereinigung« siegt über die Idee eines sozialistischen Reformpro­jekts, wobei die Parole »Wir sind ein Volk« sich als durchaus naheliegende Weiterent­wicklung der Lo­sung »Wir sind das Volk« präsentiert (die ihrerseits an den »volksdemokratischen« SED-Diskurs angeknüpft hatte) und damit die Wende der Wende abfedern hilft. Nun erst findet ein massen­hafter Abschied nicht nur von den Zeichen des DDR-Sozialismus, sondern auch von der Symbolkultur der Arbeiterbe­wegung insgesamt statt. Aber dieser Ab­schied ist keines­wegs total, und es lassen sich für die Splitter des geborstenen Symbol- und Ritual­ zusam­menhangs unterschiedliche Grade des Überlebens und der teilweisen Revitalisierung aus­machen. Das sei an zwei Beispielen verdeutlicht: am schon erwähnten Em­blem der Bruder­­hände und an der roten Fahne. Das Leitzeichen des »Sozialismus in den Farben der DDR«, die ineinander verschlungenen Hände, erweist sich als derart desavouiert, daß die SED-Nachfolgerin PDS es bereits im Januar 1990 aufgibt;9 Ho­necker äußert später auf die Intervie­wer­f rage nach für ihn »besonders schlimmen Momenten« während der Wende: »Ein ganz besonders schlimmer Moment war für mich die Entfer­nung des Partei­abzei­chens vom Haus des Zentralko­mi­tees und die Tatsache, dass der Vorsitzen­de der Partei, Gysi, dabei­stand und sich auch noch belustigte über die Abnahme dieses Abzei­chens« (Andert/Herzberg 1990, 39). Im April trennt sich auch der FDGB, der ebenfalls unter den Brüderhänden firmiert hatte, von seinem Emblem. Zwar gibt es hier interpretative Rettungsversuche, doch der Hinweis, dass das Zeichen, das ein Foto des Hände­drucks zwischen Pieck (KPD) und Grotewohl (SPD) anno 1946 stili­siert,

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beim FDGB »doch mehr die Idee der Einheitsge­werkschaft, die Solidari­tät der Arbeiter« (Kallabis 1990, 231) gemeint habe, wird nicht gehört. Der aus der Arbeiter­verbrüde­rung von 1848 stammende Hände­druck, eines der ältesten Embleme der deutschen Arbeiterbe­ wegung, vermag sich nicht mehr von der Assoziation »SED« zu befreien.10 Ganz anders vollzieht sich der Wandel bei der roten Fahne und der roten Farbe, deren Bedeutung ja aus zwei Gründen nicht so eindeutig ist wie die der Wahrzeichen von SED und FDGB sowie FDJ und DDR: Zum einen ist das Rot anders als die genannten Em­bleme kein für das Signifikat »Sozialismus« herge­stellter oder reservierter Signifikant, zum andern steht es in seinem politi­schen Gebrauch nicht nur für DDR-Sozialismus, sondern für alle Richtungen der Arbeiterbewegung bis hin zu Sozialdemokra­tie. Diese doppelte Unbestimmt­ heit ist die strukturelle Basis dafür, dass sich in Ostdeutschland seit 1990 recht verschiedene Umgangs­weisen mit dem politischen Rot herausbildeten. Vor allem in der Phase der empörten Abwendung vom SED-Sozialis­mus und des hoffnungsfrohen Wartens auf den westdeutschen Kapitalismus wirkt sich diese Unbestimmtheit häufig so aus, dass auch in das Rot von SPD-Flugblättern das Signet »SED« quasi als unsichtbare Inschrift hineingelesen wird. In den Augen mancher Be­trachter stellen diese Flugblätter offenbar ein ähnli­ches Amalgam von SPD und PDS dar, wie es die CDU-Wahlpropaganda mit ihrer Buchstaben­schleife »SPDSPDS« mit bemerkbarer Absicht und eben deshalb womöglich mit geringerem Effekt herzustellen suchte. Der Aufbau von Gewerkschaften nach westdeutschem Muster und die zunehmende Em­pörung über Massenentlassungen verschaffen dem politischen Rot dann wieder eine etwas größere Präsenz und wahrscheinlich auch Akzeptanz. Bei den neuen Montags­demon­ stra­tionen zwischen Februar und April 1991 und bei zahlreichen Protestkund­gebung­en gegen Betriebsschließungen sind rote Fahnen und Transparente jedenfalls massiv vertreten. Zu­meist handelt es sich dabei um Fahnen der IG Metall, der ÖTV und der IG Bergbau und Energie. Ihre Träger bauen offenbar darauf, dass ihre in westdeutscher Tradition stehenden Embleme nun nicht mehr von einem mit »SED« assoziierten Rot geschluckt werden, sondern umgekehrt das diskriminierte Rot zu reinigen vermö­gen. Die sicherlich differenzierten bis widersprüchlichen Gefühle, die das für Ostdeutsche ja zweifellos merkwürdige Phänomen einer aus dem Westen importierten Arbeitersymbolik hervorrufen dürfte, sind freilich bisher nicht näher untersucht worden. Aber nicht nur das durch Aufschriften definierte und durch Gewerkschaftszeichen gebändigte, auch das blanke, emblem- und textlose Rot spielt in der Ex-DDR eine Rolle; quantitativ ist sie sicher unbedeutend, qualitativ aber durchaus interessant. Dies sprachlos-sprechende Rot findet sich an besetzten Häusern ebenso wie in Blocks von Jugendlichen bei Demonstrationen; öfters werden Laternen, Bäume, Denkmäler von anonymer Hand rot deko­riert, zum 1. Mai 1990 beflaggten Kletterkünstler gar den Erfurter Dom mit roten Fahnen (vgl. Thüringer Tageblatt, 2. 5. 1990) – wobei übrigens zu fragen wäre, wie weit die Akteure und ihre Sympathisanten dabei die Tradition solcher »partisa­nenhaften« Fahnenhissung­en in der Zeit des Sozialistenge­set­zes und des Faschismus assoziieren und die Metasymbo­lik

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dieser Handlungen dann gar lautet, dereinst seien die heutigen Sozia­listengegner ebenso überwunden wie die früheren. Verärgerte Bürger schreiben solche Aktionen gerne der PDS zu, was sicher häufig – aber nachweislich nicht immer – zutrifft; die Pointe dieser Symbolhand­lungen ist aber ja gerade, dass sie sich auch da, wo sie von Parteiseite herrüh­ren, nicht als parteigebun­den offenbaren. Bei der Leipziger Maikundgebung 1992 störten Jugendliche den Redner Bieden­ kopf mit einem Sprechchor. Er lautete nicht: »Wir wollen PDS!« und ebenso wenig: »Wir wollen unsere DDR wiederhaben!«, sondern einfach: »Wir wollen Rot!« (Berliner Zeitung, 2./3. 5. 1992). Das nackte Rot setzt an die Stelle des Bekenntnisses zu einem desavouierten System und einem desavouier­ten Parteiprogramm das Bekenntnis zu einer nicht genau fassbaren Oppositionsbewegung.11 Man könnte sagen, dass das Rot hier auch im inhaltlichen Sinn postsoziali­stisch wird, indem es nicht mehr für bestimmte Negation steht, sondern für freie Differenz.12 Wobei es übrigens interessant ist, dass bei der politischen Gegenseite auf der Sprachebene eine ähnliche Bedeutungsausdehnung des Roten stattgefunden hat: Die seit 1990 populäre Beschimpfungsformel »Du rote Socke« nämlich wird im Alltag nicht nur auf EX-SEDler, sondern auf »Stören­f riede« aller Art angewandt, auf Grüne, auf Gegner der deutschen Vereinigung und Unzufriedene überhaupt. Vor noch weit schwierigere Dekodierungsfragen stellt eine andere öffentliche Rotverwendung, auf die ich zuerst bei der diesjähri­gen Maifeier in Potsdam aufmerksam wurde. Von den dortigen Kundgebungsteilnehmern, die unter der blauen Fahne des DGB versammelt waren, trugen viele und meinem Eindruck nach ungewöhn­lich viele Personen irgendein rotes Kleidungsstück: rote Schuhe, rote Hosen, Röcke, Blusen, Hemden, Mäntel, Mützen. Die Situation war von schönster Zweideutigkeit: Fand hier eine offene und doch verdeckte Gesinnungskundgabe statt? Oder projizierte hier nur ein durchgedrehter Symbolfor­scher seine Phantasien auf harmlose Frühjahrsmode? Meine schüchter­nen Befra­gungsversuche vor Ort führten nicht weiter, ein Brief an den Potsdamer DGB, der auf eine andere Anfrage bereitwillig geant­wortet hatte, blieb ohne Reaktion. Kultur­wissenschaftliche KollegInnen aus Berlin wiesen darauf hin, daß Rot in diesem Jahr tatsäch­lich eine Modefarbe gewesen sei. Doch als ich bereits resignie­ren wollte, stieß ich auf eine dem sozialistischen Spektrum zugehörige Ostberlinerin. Sie versi­cher­te sich zunächst, ob ich in redlicher Absicht recher­ chiere, und offenbar­te mir dann: Gewiss, sie habe sich einen roten Schal, einen roten Pullover, rote Handschuhe und rote Socken ange­schafft, und sie trage solche Kleidungs­stücke z. B. bei Treffen von Bürgerinitiativen, bei Kundgebun­gen und ähnlichen öffentli­chen Anlässen. Rote Socken seien zwar schwer zu bekommen bzw. meistens teuer, doch kenne sie eine Rentnerin, welche sich aufs Stricken solcher Socken verlegt habe und die recht rege Nachfrage danach zu befriedigen suche. Weitere Nachforschungen und Informationen bestätigten und ergänzten das hier Berichtete. PDS-Abgeordnete, so war zu erfahren, hätten bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagssitzung am 3. Oktober 1990 bewußt etwas Rotes angezogen; aus einem »Zug der Widerspensti­gen«, der am 1. Mai 1992 zur DGB-Kundgebung im Berliner Lustgar­ten marschierte, leuchteten neben roten Fahnen auch rote Socken hervor; und bei der Gegen-

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kundgebung gegen die offiziellen Einheitsfeier in Schwerin am 3. Oktober 1992 waren rote Kleidungsstücke ebenfalls Mode. Damit ist nun zwar geklärt, daß die rote Fahne tatsächlich im alltagskul­turellen Rot zu überleben sucht; zum Sinn dieser Symbolpraxis gehört es aber auch, dass nach wie vor unklar bleibt, wieviele von den Potsdamer Kundgebungsteil­ nehmern denn nun dieses Spiel mitspiel­ten und wieviele unpoli­tische Jacken und Hüte von den politi­schen Rotträgern unge­f ragt ins Zwielicht gezogen wurden. Die bisherigen Beobachtungen zum Gebrauchs- und Bedeutungswan­del haben sich auf solche Aspekte konzentriert, die mit der spezifi­schen Unbestimmtheit und d. h. Kontextbestimmtheit von Symbolspra­che zusammenhingen. Im Folgenden soll nach Verände­rungen auf einer anderen semantischen Ebene, nämlich bei der kultischen Qualität der sozialistischen Symbolik gefragt werden. Die Frage nach dem Kultwert eines Zeichens oder Rituals meint dabei einmal den Grad und die Qualität ihrer affektiven Besetzung, zum andern den Sakralitätsgrad von Handlungen, mit denen die Aneig­nung dieses Symbolgehalts vollzogen wird. In dieser Frage der Sakralität ist, so scheint mir, die Entwick­lung widersprüchlich, wobei sich diese Divergenz teilweise, aber keineswegs aus­schließ­lich auf verschiedene Trägergruppen zurückführen läßt; zum Teil geht sie durch die Individuen selbst. Zum einen gibt es unzweifelhaft Tendenzen der Entritualisie­rung. Diese zeigen sich z. B. bei den nach 1989 nicht nur auf zum Teil ganz geringe Teilnehmerzahlen geschrumpften, sondern natürlich auch in ihren Formen veränderten Maifeiern in Ostdeutschland. »Spa­ zier­gän­g­ergang statt Gleich­schritt«, überschreibt die Gothaer Allge­meine ihren Maifeierbe­ richt vom 2. 5. 1990, nachdem erstmals der Vorbeimarsch vor der Ehrentribüne entfallen ist. Das Maizeremo­niell informalisiert und pluralisiert sich. Diese Entwicklung – sie hat übrigens ebenfalls schon vor 1989 eingesetzt13 – betrifft sogar das im Westen noch übliche gemeinsa­me Singen der Gewerkschafts­hymne: Im Berliner Lustgarten muß die Kapelle 1992 gleich zweimal »Brüder, zur Sonne, zur Frei­heit« intonie­ren, bis wenigstens einige der Anwesenden ins alte Pathos mitein­stimmen (vgl. Tagesspiegel und Berliner Zeitung, 2. 5. 1990). Auf der kleinen Potsdamer Maifeier wird auf dies Ritual von vornherein verzich­ tet. Zu ihrer musikali­schen Umrahmung gehören neben einem westdeutschen SPD-Chor, der unter anderem Frühlings­lieder singt, Blasmusikmärsche und Schlager. Die Maifeier wird hier überdies dadurch zum »Volksfest« und zum informellen Treff­punkt, als neben den Ständen der Gewerkschaf­ten Imbißbuden und Brauereibänke das Bild prägen und die Feiertags- und Kampfreden nicht mehr stehend und horchend, sondern auch im Sitzen und nebenher entgegengenommen werden. Das diskursive Pendant dazu liefert die Mairede eines jungen Betriebsrats, der die Zuhörenden nicht als Kollektiv, sondern als »viele einzelne Leute« mit »unter­schiedli­cher Grundlage und unter­schiedlicher Herkunft« anspricht und analog dazu gewerkschaftliche Aktio­nen als das »Bündeln von unter­schiedlichsten Interessen« bezeich­net.14 Entritualisierung und Enthieratisierung sozialistischer Symbo­lik sind dabei nicht nur bei den Gewerkschaften und d. h. sozialde­mokratisch dominierten Organisationen zu konstatieren. Hinzuwei­sen ist z. B. auf den Wahlkampfstil der PDS, die sich mit Sprüchen wie »Don’t worry, take Gysi« inhaltlich und formal der Lockerheit der Werbesprache öffnete

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oder mit der Reposte »Lieber rote Socken als kalte Füße« das sozialistische Erbgut entpa­ the­ti­sieren half. Auch jugendkulturelle Prägungen sind hier zu nennen, wie sie etwa der in Berlin und Potsdam öfters vorzufindende Sprühschriftzug »Red Sox« dar­stellt, der die »roten Socken« und den Namen einer bekannten Baseballmannschaft (der »Boston Red Sox«), also popkultu­relle Amerika­nisie­rung und sozialisti­sche Symboltraditi­on miteinander ver­schleift. Gesprüht wird das Red-Sox-Zeichen zumindest unter anderem von antifa­ schistischen Jugendgruppen. Von einer anderen Form der Weiterexi­stenz sozialistischen Erbes berichtete ein Jenenser Leser­briefschreiber in der Wochenpost vom 20. August 1992: »Vor der Wende«, schreibt er über seinen Freun­deskreis, »wäre es uns nicht in den Sinn gekommen, die ›roten Lieder‹ anzustim­men. Doch jetzt ist es schon pas­siert, daß wir Arbeiterlieder, nicht inbrünstig, eher mit leichter Ironie vorgetragen haben.« Wie häufig solche Fälle sind, muss dahingestellt bleiben; jedenfalls belegen sie die Existenz einer Tendenz zur, mit Gottfried Korff zu reden, »lu­dischen« Weiterverwendung linker Symbo­lik, wobei es in diesen Fällen allerdings nicht zutrifft, dass diese damit »ihre politi­sche Bedeutsamkeit abgestreift« hätte (vgl. Korff 1990, 19); vielmehr werden hier neue, nichtautoritäre, individuell und alltagskul­turell verflüs­sigte Umgangsweisen mit politischen Identifika­tionen deutlich. Zu verzeichnen ist aber, wie gesagt, auch eine gegenläufige oder besser gesagt reaktive Tendenz: die Fortfüh­rung und teilweise auch die Steigerung sakraler Elemente in der soziali­ stischen Symboltradition. Das spektakulärste Ritual ist hierbei wohl der »Gang zu Karl und Rosa«, der Besuch des sozialisti­schen Ehren­f riedhofs in Friedrichsfelde an dem Januarsonntag, der dem Todestag von Liebknecht und Luxemburg am nächsten liegt. Die Zahl der Friedhofsgänger ist bis heute hoch. Am 12. Januar 1992 waren es zwischen 50 000 und 100 000.15 Der Kontext Friedhof und Totenehrung gibt dem Treuebekenntnis zur sozialisti­ schen Tradition Tendenzschutz: In keinem Raum-Zeit-Rahmen entfaltet sich sozialistische und auch explizit kommunistische Symbolik in der Ex-DDR so ungehindert wie hier, wo rote Fahnen, DDR-Fahnen, FDJ-Fahnen und Faustgruß durch ihre Nachbarschaft zu Gräbern, Grabblumen, Kerzen und Trauermusik konsekriert werden. Es lässt sich allerdings nicht einfach sagen, dass dabei in einer quasi exterritorialen Nische weiterhin DDR gespielt werde. Während man bei den Liebknecht- und Luxemburgfeiern vor 1990 vor der Parteiführung zu defilieren hatte, die zwar – anders als am 1. Mai – an der Spitze des Demonstrationszuges nach Fried­richsfelde mitgelaufen war, bei Ankunft der Massen aber ihre Plätze auf einem Podest vor dem Mahnmal eingenom­men hatte, hat sich das Ritual nun verän­dert. Der Grabbesuch geht ohne zentrale Organisation und auch ohne Ansprachen vor sich, die Besucher und Besucherinnen treten nun öfter selbst an die Gräber und legen dort – was früher ebenfalls möglich, aber offenbar weniger verbrei­tet war – rote Nelken oder rote Rosen ab.16 Die kultische Bedeutung der Zeremonie ist komplex: Sie enthält, häufig verbalisiert im Liebknecht-Zitat »Trotz alledem«, den Treue­schwur im Angesicht der Toten, und bei manchen wahrscheinlich die Bitte um Vergebung für die frühere Abweichung vom Luxemburgschen Vermächtnis; sie bekräftigt sicherlich den Glauben, daß der Sozia­lismus, so wie er die Ermordung seiner Vorkämpfer Liebknecht und Luxemburg überlebt hat, ebenso das schmachvolle Ende der SED und der DDR überleben werde;

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und sie besitzt die latent magische Kompo­nente des »Kraft Schöpfens« am Grab, wie die Berliner Zeitung – damals noch staatsparteilich – das im Januar 1990 formu­liert, also die Vorstellung einer Belebung durch den Geist der Toten (vgl. Berliner Zeitung, 15. 1. 1990). In dieses Bedeutungs­feld gehört möglicherweise auch der wiederholte Hinweis des Neuen Deutsch­land vom Januar 1992, dass diesmal so viele junge Familien mit ihren Kindern an den Gräbern gewesen seien. Die Beschreibung einer »Mutter mit der roten Fahne und ihrem Baby vor dem Bauch«, die ans Luxemburg­sche Grab getreten sei (Neues Deutschland, 13. 1. 1992), könnte dann als die Imagination einer Taufe interpretiert werden. Eine anderes Beispiel für kultische Überhöhung bieten die Vorgänge um den Abriss des Lenindenkmals in Berlin-Friedrichs­hain. Von Befürwortern wie Gegnern des Denkmalabrisses wird die rote Granitstatue oft bewusst oder unbewusst mit Lenin selbst gleich­gesetzt, sein Abriss entweder als Hinrichtung des »Despoten und Mörders Lenin« (Eberhard Diepgen) oder als feige Mordtat imaginiert. Den Denkmalsanhängern wird der Bauzaun um die zum Abriss bestimmte Statue zur Mur des Féderés: Trauerflor wird befestigt, Blumen werden niederge­legt, man entzündet Kerzen und läßt Trauermusik ertönen. Das Neue Deutschland nennt den Abriss »Leichenfledde­rei« (Neues Deutschland, 22. 11. 1991), die Zeitung Berliner Linke (Nr. 47, 11/1991) spricht vom »Abschiednehmen von einem Mann, den der Senat auf seine Weise zu köpfen versucht hat«. Am 12. Januar 1992 verbindet sich das Trauerritual um das inzwischen abgebaute Lenindenkmal mit dem Totengedenken für Luxemburg und Lieb­knecht: Ein mehrere tausend Teilnehmer zählender Zug folgt einem Karren, auf dem Teile des Denkmals liegen, quer durch Berlin zum Friedhof Friedrichsfelde, wo die Steine dann auf die Gräber von Luxemburg und Liebknecht gelegt werden. Mitunter kommt die Sakralisierung dabei sogar einer Christiani­sierung der sozialistischen Symbolik nahe. Eine Anlehnung an religiöse Rituale gab es zwar schon im DDR-Sozialismus: Man denke an die Ersatzkonfirmation Jugendwei­he17 oder an die Großpor­träts von Parteiführern, die bei Aufmär­schen mitgeführt wurden und den Spitznamen »Ikonen« ganz zu Recht trugen, weil es sich tatsächlich um stalinistische, in den 30er Jahren aufgekom­ mene Anleihen bei der russisch-orthodoxen Prozessions­kultur handel­te (vgl. Rytlewski/ Kraa 1987, 31). Was nun zu beobachten ist, geht aber einen entschei­denden Schritt weiter bzw. zurück: Christliche Glau­bens- und Ritualmo­mente werden nun nicht mehr einer atheisti­schen Gegenkul­tur einge­pflanzt, sondern positiv zitiert und als Vor- oder Eben­bilder des Sozialismus dargestellt. Das zeigt sich implizit z. B. im Gebrauch von Kerzen bei den Protestkund­gebungen, die offenbar an die wichtige Rolle dieses Symbols im Herbst 1989 anknüpfen wollen, und es wird explizit in Zuschrif­ten und Gedichten deut­lich, die an den Bauzaun am Lenindenkmal geheftet werden. Da heißt es etwa: »Wie war’s mit der Kirche Gethsemane? Aus Ohnmacht und Zorn wuchs der Widerstand!«; und die Abrissbefür­ worter werden in Sätzen wie »Die Barbaren nennen sich christ­lich« oder »So träumten vom Ende der Christenheit­/Die römischen Imperatoren« mit Unchristen oder Christenverfol­ gern gleichge­setzt.18 Seit das Denkmal entfernt ist, ist auf den leeren Sockel ein Bibelspruch gesprüht: »Und die Erde war wüst und leer.«

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Die Botschaft dieses Zitats aus dem Anfang der Schöpfungsge­schichte ist doppelt: Sie verbindet die Trauer über einen Verlust mit dem Glauben an einen Neubeginn. Im gleichen Sinn verkündet ein Pfarrer zu Beginn der Abrissarbeiten am Leninplatz die »Gewissheit«, dass die Vision einer gerechten und friedlichen Weltgesellschaft, die älter als Lenin, Engels und Marx sei, eines Tages realisiert werde.19 Es gibt auch Anzeichen, wenngleich keine eindeutigen Belege dafür, dass bei diesem Rückweg von der sozialistischen Wissenschaft zur Utopie auch unbewusste Anleihen beim Auferstehungsglauben mitspielen. So etwa, wenn am Fried­richsfelder Grab eine Tafel mit Luxemburg­s auf die sozialistische Revolution bezogenem Satz »Ich war, ich bin, ich werde sein« niedergelegt und zu Formulie­rungen wie »Karl und Rosa leben in unserem Wort« (Neues Deutschland, 14. 1. 1990) gegriffen wird; oder wenn die Stelle, wo das Lenindenkmal stand, zu Ostern 1992 mit einem Leninbild und einem Frühlings­strauß geschmückt wird. Nun sind sakrale Formen, wie gesagt, nur die eine und sicher die schwächere Linie der post­­­sozialistischen Symbolik. Deshalb sei zum Schluß noch auf eine andere, säkulare Form von Auferstehungs­metaphorik hingewiesen. Als im Sommer 1992 die Komitees für Gerechtig­keit gegründet wurden, sagte eines der Gründungs­mitglieder: »Es geht wieder ein Gespenst um in Deutschland« (Neue Zeit, 20. 7. 1992). Nach dem Untergang der »realso­zialistischen« Gesellschaften in Europa muß der Rückgriff auf den Einleitungssatz des »Kommuni­stischen Mani­fest« freilich mit einer von Marx und Engels nicht gemeinten Bedeutung von »Gespenst« rechnen, die Gegnern der ostdeutschen Komiteebewegung denn auch nicht entgangen war: Reinhard Mohr nannte die Komitees einen »Verein der Wiedergän­ger« (taz, 14. 7. 1992). Welche Bedeutung der Metapher vom Gespenst des Kommunismus oder Sozialismus tatsächlich zukommt, ob die eines Untoten oder Lebendigen, wird ein sehr weit zu fassender Symbolkontext, nämlich die Geschichte entscheiden. Und dies wohl nicht mehr in dem Zeitraum, in dem diese Geschichte von der Kommission »Arbeiterkultur« der DGV wissenschaftlich begleitet wird. Anmerkungen 1 Vgl. dazu insbesondere Korff (1990, 130‑158). 2 Das begann natürlich nicht erst in der Wendezeit: Formen des Veralberns, Verfrem­dens, Konterns usw. der offiziellen Staats­symbolik begleiten die DDR-Geschich­te seit ihren Anfängen; seit Mitte der 80er Jahre werden diese – bisher kaum untersuchten – Symbolkämpfe aber massierter, öffentlicher und in ihrer Tendenz eindeutiger oppositionell. 3 Diese Akzentuierung der spezifischen Kommuni­kations­lei­stungen von Symbolsprache impliziert die Kritik solcher »substan­tiali­sti­scher« Auffassungen, die das vielfache Benutzen symbo­lischer Formen u. a. auch bei den DDR-Demonstrationen von 1989 weniger als die Wahl eines situations­adäquaten Mediums denn als Aus­druck restrin­gierter Sprach- bzw. Argumentationsfä­higkeit oder vor- bzw. irra­ tiona­ler Einstellun­gen interpretie­ren. V­g­l. hierzu K­o­r­f­f (1991, v. a. 18‑22), sowie Korff (1990, 131). 4 Für kritische und ergänz­ende Hinweise zur Vortragsfassung dieses Beitrags danke ich insbesondere Irene Döl­ling, Dietrich Mühl­berg, Eggo Müller, Heike Müns und Dieter Strützel.

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5 Die Transparenttexte der Berliner Demonstration vom 4. 11. 1989 sind dokumentiert in Hahn u. a. (1989). 6 So die Berlinerin Alexandra K. in Behr (1990, 60). 7 Man vgl. hierzu auch das u. a. durch einen BILD-Aufmacher bekannt gewordene Tran­sparent auf der Leipzi­ger Mon­tags­demon­stration von 27. 11. 1989, das Adler- und DDR-Emblem auf schwarz­rotgol­ denem Grund verei­nigt und die Auf­schrift trägt: »dass die Sonne schön wie nie über Deutschland scheint« (BILD, 29. 11. 1989). – Nur ge­streift werden kann hier die Frage, inwie­weit soziali­stische Sym­ bol­tradi­tio­nen in der nationa­len Wende des DDR-Umbruchs auch subkutan enthal­ten sind. So erinnert bei den späten Leipzi­ger Montagsde­mon­strationen das Fahnenmeer aus Bundesflag­gen – ein in West­deutschland ungewohn­tes Bild – an die Auf­marsch- und Einheits­ri­tuale der SED-Zeit. Und es ist vielleicht nicht abwegig, Transparenttexten wie dem am 14. 3. 1990 in Leipzig gezeigten »Helmut, nimm uns an die Hand­, zeig uns den Weg ins Wir­tschaftswunderland« eine Affini­tät zu den emphati­ schen Zu­kunftserwartungen und dem überstei­gerten Ver­trauen in die Parteiführung zuzuspre­chen, wie sie aus der sozialistischen Tradition bekannt sind. Das »Helmut«-Transpa­rent ist u. a. zitiert in Kuhn (1991, 127). 8 Es ist nicht möglich und auch nicht sinnvoll, hier einen Überblick über die Gesamtentwicklung zwischen 1990 und heute zu geben; es können lediglich einige mir wesentlich erscheinende Muster des Symbolwandels in diesem Zeitraum dargestellt werden. 9 Auch dieser Sturz erfolgte nur äußerlich abrupt: Schon lange vor der Wende war im DDR-Volksmund für das Händedrucksymbol die Lesart »Eine Hand wäscht die andere« verbreitet. 10 Auch beim DDR-Emblem findet sich 1990 der Versuch einer aller­dings eher kuriosen Reinter­pre­ tation: Als der DSU-Abgeord­nete Koch im Mai 1990 in der Volkskammer die Entfernung des DDRStaatswap­pens von öffentlichen Gebäuden beantragt, identi­fiziert er zwar Hammer, Sichel und Ähren­ kranz als Symbol des sozialistischen Bündnisses von Arbeitern und Bauern, fügt aber – offenbar in der Absicht, die eigene DDR-Vergangenheit zu entlasten – hinzu, dass die Ähren »auch, Gott sei Dank, als Symbol für die Wiedergeburt gelten, vornehm­lich Marias«, und der Hammer schon »bei Kelten und Slawen (…) als Rechts­symbol« verwendet worden sei (vgl. Keller/Scholz 1990, 140). 11 Auch diese Entwicklung setzte nicht erst 1989 ein. So erzähl­te mir eine Ostberlinerin, in ihrem Bekann­ten­kreis habe man schon seit Jahren am 1. Mai bewußt nicht die DDR-Fahne, sondern die als weniger obrigkeit­streu empfunde­ne rote Fahne zum Fenster herausgehängt. Und Hutzler­/Schönbe­ rger erfuhren bei ihren Recherchen zur Geschichte des 1. Mai in Jena, dass bis Mitte der 80er Jahre bei der Fahnenverga­be an die Lehrlinge eines Zeisswerks zuerst die Republikfahnen, dann die der FDJ und zuletzt die roten Fahnen »weggingen«; in den Jahren darauf habe sich die Reihenfolge umgekehrt (vgl. Hutzl­er­/Schönber­ger 1992, 155). Wobei hinzuzufügen ist, dass das Zeigen der DDR-Fahne seit der deutschen Vereini­gung ebenfalls eine offenere Bedeutung gewonnen hat: Es steht z. T. nicht mehr für die Treue zu einem Staatswesen, sondern zur eigenen Vergangenheit in der DDR. 12 Wie irritierend ein solcher Rotgebrauch wirken kann, hat Miguel Rodríguez für Frankreich gezeigt, wo die Polizei das blanke Rot zeitweise als bedrohlicher einstufte und stärker sanktionierte als das beschriftete, dem Absender und/oder Absichten zu entnehmen waren und das daher weniger menetekel­haft wirkte (vgl. Rodríguez 1991, 174). 13 Bereits Man­f red Hofmann (1986) und Birgit Sauer (1989) stellten einen gewissen Wandel von der Festsymbolik der Arbeiterbewegung hin zu volks­kulturellen Festformen fest. Der Ritualkern, der Vor­ bei­marsch an der Parteifüh­rung, bestand dabei zwar weiter, doch wurde er, wie mir Zeitzeugen berichteten, in den Jahren vor der Wende zuneh­mend gemieden oder dadurch ein wenig ins »Zivilge­sell­ schaftliche« transfor­miert, dass viele sich auf Höhe der Tribüne bewußt locker gaben, sich mit ihren

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Beglei­tern unter­hielten oder zu ihren Kindern hinunterbeug­ten, anstatt Haltung einzu­nehmen und der Prominenz zuzuwinken. Vgl. auch Hutzler/Schö­nberger (1992, 157). 14 Der Redner führte u. a. aus: »Ich freue mich darüber, dass es im Gegensatz zu vielen damaligen politi­ schen Sachen in der DDR, die von oben ver­ordnet wurden, in der Gewerkschaft so ist, dass hier wirklich eine breite Basis ist und daß ich mich da als Kollege einbrin­gen kann, dass ich mich als Christ ein­bringen kann, dass ich mich mit Leuten, die andere Weltanschau­ungen haben, trotzdem zusam­ mensetzen kann und über unsere Möglichkei­ten, über unsere neuen Wege, über Ideen und Möglich­ keiten streiten kann, wie wir die Sache voranbringen und dass wir wirklich zusammen suchen können trotz unterschied­licher Grund­lage und unterschiedlicher Her­kunft. Mir ist die gegensei­tige Toleranz und das gegensei­tige Ergänzen, das Bündeln von unter­schiedlichsten Inter­essen unheimlich wichtig. Wir sind keine Schablonen und wir haben die verordnete Zusam­menarbeit lange genug kennengelernt« (Erdmann 1992). 15 Die Polizei sprach von mindestens 50 000, das Neue Deutsch­land von »an die 100 000« Teilnehmern. (Vgl. Tages­spie­gel und Neues Deutschland, 13. 1. 1992.) 16 Sowohl über den Ablauf wie v. a. die Bedeu­tung dieser Feier zu DDR-Zeiten äußer­ten sich die von mir Befrag­ten unter­schiedlich. Einige erinnerten die DDR-Form der Feier als Akklama­tionsri­tual, andere schätzten sie als eher »volks­tüm­lich« und latent SED-kritisch ein – unter anderem, da die DDRFührung mit Rosa Luxemburg nie ganz ins Reine gekommen sei. 17 Die nach wie vor große Beliebtheit der Jugendweihe wäre eine eigene Untersuchung wert. Laut Berliner Zeitung vom 31. 10. 1992 hatten sich bis dahin schon 4 580, d. h. fast ein Drittel der 13-bis 14jährigen aus dem Ostteil Berlins zur Jugendweihe 1993 angemel­det; das waren 1 500 Bewerbungen mehr als zum selben Zeitpunkt des Vorjahres. 18 Vgl. die Broschüre Bürgerinitiative Lenindenkmal = Demokra­tie in Aktion, Berlin 1992, S. 7. 19 Ebd., S. 21.

Literatur Andert, Reinhold/Wolfgang Herzberg (1990): Der Sturz. Erich Honecker im Kreuzverhör. Berlin, Wei­ mar. Behr, Vera-Maria (Hg.) (1990): Wir denken erst seit Gorbatschow. Protokolle von Jugendlichen aus der DDR. Recklinghausen. Erdmann, Thomas (1992): Rede zum 1. Mai 1992. Unveröff. Ms. Hahn, Annegret u. a. ( Hg.) (1989): 4–11–89. Pro­testdemonstration Berlin DDR. Berlin. Hofmann, Manfred (1986): Vom Schwung der Massenfeste. Teil I in: Kultur und Freizeit, 11/1986, 22‑25; Teil II ebd. 12/1986, 27 f.) Hutzler, Margot­/Schönber­ger, Klaus (1992): Demon­strati­ons­kultur im Rückblick: Der 1. Mai in Jena. In: Gerd Meyer/Gerhard Rieger/Dieter Strützel (Hg.): Lebensweise und gesell­schaftlicher Umbruch in Ostdeutsch­land. Erlangen, J­ena, 145‑168. Kallabis, Heinz (1990): Ade, DDR! Tagebuchblätter. Berlin. Keller, Dietmar/Joachim Scholz (Hg.) (1990): Volkskammerspiele. Eine Dokumenta­tion aus der Arbeit des letzten Parlaments der DDR. Berlin. Korff, Gottfried (1990): Rote Fahnen und Bananen. Notizen zur politischen Symbo­lik im Prozeß der Verei­nigung von DDR und BRD. In: Schwei­zeri­sches Archiv für Volks­kunde, 86. Jg., 130‑158.

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Korff, G­o­t­t­f ­r­i­ed (1991): Symbolgeschichte als Sozial­geschich­te? Zehn vorläufige Notizen zu den Bildund Zeichensy­stemen sozialer Bewegungen in Deutschland. In: Bernd Jürgen Warneken (Hg.): Mas­ senmedium Straße. Zur Kulturgeschichte der Demonstrati­on. Frankfurt am Main/New York, 17‑37. Kuhn, Ekkehard (1991): Einigkeit und Recht und Freiheit. Die nationa­len Symbole der Deutschen. Ber­ lin. Niethammer, Lutz (1990): Das Volk der DDR und die Revolution. In: Charles Schüddekopf (Hg.): »Wir sind das Volk!« Flugschriften, Aufrufe und Texte einer deutschen Revolution. Reinbek, 251‑279. Rodríguez, Miguel (1991): »Ein Zeichen ge­nügt.« Symbole des Ersten Mai in Frankreich 1890 bis 1940. In: Bernd Jürgen Warneken (Hg.): Massenmedium Straße. Frankfurt am Main/New York, S. 168‑181. Rüddenklau, Wolfgang (1992): Störenfriede. DDR-Opposition 1986–1989. Berlin. Rytlewski, Ralf/Kraa, Detlev (1987): Politische Rituale in der UdSSR und der DDR. In: Aus Politik und Zeitgeschehen. Beilage zu Das Parlament, B 3/87, 17. 1. 1987, 33‑48. Sarcinelli, Ulrich (1992): »Staatsrepräsentationen« als Problem politischer Alltagskommunikation: Poli­ tische Symbolik und symbolische Politik. In: Jörg-Dieter Gauger/Justin Stagl (Hg.): Staatsrepräsentation. Ber­lin, 159‑174. Sauer, Birgit (1989): Volksfeste in der DDR. Zum Verhältnis von Volkskul­tur und Arbeiterkultur. In: Der Bürger im Staat, 39. Jg., H. 3, 213‑217. Tetzner, Rainer (1990): Leipziger Ring. Aufzeichnungen eines Mon­tagsdemonstranten. Frankfurt am Main. Voigt, Andreas (1989): Gespräch mit Wehrpflichtigen der 5. VP-Bereitschaft Leipzig. In: Oktober 1989. Wider den Schlaf der Vernunft. Leipzig, 74‑82.

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Am 21. Januar 1946 ereignet sich am Tübinger Uhland-Gymnasium ein Zwischenfall. Als Vertreter der französischen Besatzungsmacht die Schule besuchen, schallt ihnen ein Pfeifkonzert entgegen. Die französischen Behörden verlangen eine Untersuchung des Vorfalls, welche die Schulleitung auch alsbald durchführt. Doch deren Ergebnisse, in einem vierseitigen Rapport vom 26. Januar 1946 zusammengefasst, sind nicht sehr habhaft. Schüler der Klassen eins bis fünf, so wird berichtet, hätten nach längeren Ferien in den Gängen auf ihre Stundenpläne gewartet. Dabei sei es zu »Balgereien und Ringkämpfen« gekommen, begleitet von »anfeuernden Rufen und Pfiffen (…), und zwar wurde, wie einwandfrei festgestellt ist und von den Schülern auch zugegeben wurde, vereinzelt durch die Finger gepfiffen«. Mit dem Erscheinen der französischen Besucher habe das aber noch nichts zu tun gehabt. Allerdings sei, als diese später die Schule verließen, wiederum gepfiffen worden. Die Schüler bestritten jedoch eine »demonstrative Absicht, ohne indes einen plausiblen Grund angeben zu können«. So bleibe zwar »der dringende Verdacht, dass hier tatsächlich eine kleine Gruppe zuchtlos genug war, eine jungenhaft ungezogene Demonstration zu versuchen«, doch letztlich stehe keineswegs fest, ob diese »Äußerungen von Jugendlichen (…) wirklich Ausdruck einer ›Gesinnung‹ « oder »nur Ausflüsse von Zuchtlosigkeit« gewesen seien. Und da es auch »kein Mittel [gäbe], die Feststellung der eigentlichen Hauptschuldigen zu erzwingen«, bleiben der Schulleitung als Sanktionsmaßnahmen nur kollektives Nachsitzen und kollektive Strafarbeiten. Das Tübinger Bubenstück von 1946 lässt sich als Lehrstück nehmen, das über Bedeutungen – und das heißt immer: zugeschriebene Bedeutungen – des Pfeifens als nonverbale und nonvokale, gleichwohl orale Sprache Auskunft gibt. Seine Verortung im Handlungsumfeld einer »Balgerei«, mithin in der Nachbarschaft von körperlicher Gewalt, und seine Bewertung als »zuchtlos« und »ungezogen« – wobei das Pfeifen durch die Finger als besonders erwähnens- und d. h. wohl tadelnswert gilt – stellen es zum einen in einen bestimmten kulturellen Bezugsrahmen. Das Pfeifen als unartikulierte und häufig laut ausgeübte Mund-Art gilt in der bürgerlichen Kultur als Unart, als Mangel an Zivilisiertheit. Dabei trägt die Beispielgeschichte, da an einem Gymnasium vorgefallen, auch der Tatsache Rechnung trägt, dass der Kampf gegen Unzivilisiertheit und d. h. auch gegen »unartiges« Pfeifen nicht nur als Kampf von »Elitekultur« gegen »Volkskultur«, sondern auch als innerbürgerlicher Kampf geführt wird. Zum anderen dokumentiert der Untersuchungsbericht die Irritationen, die das Pfeifen als wort- und stimmlose Sprache hervorzurufen vermag: Es kann ohne Gestaltveränderung von der »Anfeuerung« zweier Ringkämpfer zur »Demonstration« hinüberwechseln; der Inhalt einer solchen Demonstration ist dabei ebenso schwer greifbar wie die Pfeifenden selbst, die ihre Stimme nicht preisgeben, sondern sich zu einem anonymen Klangkörper vereinen. Damit ist auf spezifische Qualitäten verwiesen, die das Pfeifen

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in einem zweiten Kontext, dem von sozialer und politischer Macht, entwickeln und zugeschrieben erhalten kann, als Ohnmacht und Gegenmacht zugleich ausdrückender, als lauter, aber nicht unbedingt deutlicher Protest. In diesem Zusammenhang hilft die Gymnasiumsgeschichte auch dabei mit, einige beliebte Konnotationen von »Sozialprotest« und »politischem Protest« zu vermeiden. Sie zeigt, dass die Massen, die sich zu ihm zusammenfinden, nicht unbedingt plebejische Massen sind, und dass die durch Pfeifen symbolisierte Widerständigkeit keineswegs mit demokratischer Gesinnung und moralischer Legitimiertheit einherzugehen braucht. Damit ist das Bezugssystem benannt, in dem sich der folgende Abriss über Pfeifkultur bewegen soll: Es geht um deren Position sowohl im Spannungsfeld zwischen kultureller Legitimität und Illegitimät als auch in der Auseinandersetzung um akustische Raumbeherrschung und Kommunikationskontrolle – und nicht zuletzt um Verschränkungen dieser beiden Problemkreise. *

Pfiffe mit dem Mund können sehr verschieden erzeugt werden, und mit der Pfeiftechnik verändert sich nicht nur ihre Tonstärke und Tonqualität, sondern potentiell auch ihre Semantik. Das labiale (genauer: linguo-labiale) Pfeifen lässt sich z. B. mit gerundeten Lippen oder als Pfiff durch die Zähne, in der Mundmitte und aus einem Mundwinkel ausführen; bei der digitalen Methode kann man mit verschiedenen Fingern und Fingerstellungen, mit einem einzigen Finger, zwei Fingern derselben Hand, je einem Finger beider Hände sowie der flachen oder der gerundeten Hand operieren; zudem sind das – seltenere – ingressive, d. h. Luft einziehende, und das egressive, Luft ausstoßende, Pfeifen zu unterscheiden. Gemeinsam ist jedoch allen diesen Techniken, dass die Stimmbänder unbeteiligt und damit die individuellen und emotionalen Qualitäten der Sprech- oder der Singstimme ungenutzt bleiben. Diese Eigenart hat zur Abwertung des Pfeifens wesentlich beigetragen. Während das Singen in der bürgerlichen Tradition als »Ausdruck intensiven menschlichen Gefühls« (Klausmeier 1978, 55) gilt, als ein Offenbarungsakt, bei dem »die ganze Gemütsart des Sängers zu Tage tritt« (Netsch 1894, 56), fällt auf das stimmlose Pfeifen der Schatten der »Seelenlosigkeit«. Und es wird dabei nicht nur mit Oberflächlichkeit, d. h. fehlender Innerlichkeit, sondern sogar mit täuschender Oberfläche, mit dem bewussten Verbergen innerer Regungen assoziiert. Dass böse Menschen, die nach Seume keine Lieder haben, sehr wohl ein fröhliches Pfeifen zur Schau tragen können, ist sowohl ein kriminalliterarischer – ein Roman von Heinz G. Konsalik z. B. heißt Der pfeifende Mörder – als auch ein kriminologischer Topos. Man denke nur an die, in Hans von Hentigs Studie Der Mord wieder aufgegriffene, Geschichte des Doppelmörders Kündig, der nach gefasstem Mordentschluss trotz des Tadels, er mache ja das Vieh verrückt, beim Eggen »ein Liedchen nach dem andern« pfiff: »Das Böse hatte gesiegt« (von Hentig 1956, 214 f.).

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Die Stimmlosigkeit trennt das Pfeifen nicht nur von – im Bürgertum – höher bewerteten Ausdrucksformen, sie nähert es einer vor und außerhalb der menschlichen Kultur angesiedelten Lautwelt an. »Die Anleitung zu Erfindung der Pfeifen«, führt Zedlers Universal-Lexikon 1741 an, »soll Minerva von dem Gezisch der Schlangen an dem Haupte der Medusa; oder aber, wie andere wollen, Pan von dem Winde, so in ein hohles Rohr gewehet, genommen haben« (Zedler 1741, 1334). In der Tat: Im Pfeifen steckt Mimesis des elementarsten Naturgeräusches, des Windes, und der Sprache zahlreicher Tiere, vor allem natürlich des »Piepens« der Vögel. Damit hängt dann auch die Aura des Unheimlichen zusammen, mit der das Pfeifen oft umgeben wird. Zum einen resultiert sie aus der Mimikry, zu der sich das Pfeifen benutzen lässt. Das nächtlich pfeifende Murmeltier ist vielleicht ein Schmuggler, das Pfeifen im Walde kann auch vom Jäger stammen, der damit das Wild zu locken versucht. Zum andern geht es um die magische Dimension von Mimesis. Der Pfeifende, der sich an die Sprache der außermenschlichen Welt angleicht, kann damit Macht über sie gewinnen, sich aber auch an sie ausliefern. Vieles vom Reiz des Pfeifens und viele Pfeifverbote haben mit dieser Zuschreibung zu tun. Man kann, so heißt es, Schmerzen fort-, aber auch das Elend herbeipfeifen. Seeleute vermögen mit Pfeifen den fehlenden Wind herbeizuholen; weht er aber bereits, so verstärkt ihn das Pfeifen womöglich zum gefährlichen Sturm. Mit dreimaligem Pfiff kann, wer das Risiko eingehen will, Geister, ja den Teufel herbeirufen und sich dienstbar machen; doch auch der gar nicht so gemeinte Pfiff kann umherschweifende Dämonen anlocken und sie zudem, da sie sich womöglich nachgeäfft fühlen, verärgern – weshalb vom Pfeifen in der Nacht oder an bestimmten Orten, z. B. in Bergwerksschächten, immer wieder abgeraten wurde (Lewy 1931; Bächtold-Stäubli 1934/35, 1577‑1597; Ostwald 1958). Doch der Schauer, den der Pfeifton hervorzurufen vermag, ist nicht nur der vor der unzivilisierten Natur und vor archaischen Praktiken; seit der Erfindung der Dampfpfeife symbolisiert er auch die Schrecken der Zivilisation selbst. Im 19. Jahrhundert kommt zum vollen Klang der Glocken, die zur Kirche rufen, der schneidende Klang der Fabrikpfeifen, die den Arbeitsbeginn ankündigen, zum warmen Ton des Posthorns der kalte Pfiff der Lokomotiven. In seinem Standardwerk Das Telegraphen- und Signalwesen der Eisenbahnen bezeichnet Max Maria von Weber (1867, 21) die Dampfpfeife als »das recht eigentliche Stimmorgan des Eisenbahnwesens«: »Scharf, hart, von einem leblosen Apparate geschrieen, hat (der Ton der Dampfpfeife) nichts mit den Tönen gemein, die der Athem der Menschenbrust aus Instrumenten locken kann« (ebd., 115). Die Dampfpfeife als Symbol der »Seelenlosigkeit« des Maschinenzeitalters – das wirkt wohl auch auf die Interpretation des Pfeifens mit dem Munde zurück. Auch dieses, das laute wenigstens, kann nun nicht mehr nur als Unkultur, sondern auch als der rüde Genosse des mechanischen Pfiffs, dieser »Stimme des Zivilisations-Hunnentums«, etikettiert werden. *

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Trotz der Nähe des Mundpfiffs zu natürlichen und technischen Geräuschen ist es zumeist erkennbar, dass er von einer Person stammt. Von welcher jedoch, ist – siehe Tübingen 1946 – schon weniger klar. Hätte die Stuttgarter Näherin Beate Calwer bei dem Brotkrawall von 1847, über den Sabine Kienitz (1986, 83) berichtet, nur mitgepfiffen und nicht auch etwas geschrieen, so hätte die Zeugin sie später nicht mit einem »Ich kenne ihre Stimme wohl« identifizieren können. Die Nonvokalität des Pfiffs – bei einigen Pfeifarten übrigens auch seine visuelle Unauffälligkeit – anonymisiert den Macho, der aus einer Männergruppe heraus hinter einer Frau herpfeift, erlaubte aber auch jungen Frauen in Universitätsstädten den Sport, Studenten aus sicherer Entfernung mit deren Verbindungspfiff zu foppen; der Pfeifton, das kommt hier hinzu, kennt keinen Geschlechterunterschied, was sicher dazu beigetragen hat, dass Frauen das Pfeifen immer wieder untersagt wurde. Bei aggressiven, beleidigend oder anzüglich gemeinten Pfiffen kommt dem Ab­­sender aber vor allem die Nonverbalität des Pfiffs zu Hilfe. Sie lässt es in vielen Situationen offen, an wen die Botschaft nun eigentlich adressiert war; insbesondere jedoch bleibt diese selbst in vielen Fällen undeutlich oder unentschlüsselbar. Schwer festzumachen ist zum einen bereits die Art der Emotion, die ein Pfeifen ausdrückt oder, genauer gesagt, die in Pfeifen übersetzt worden ist: »The meaning of the whistle«, schreibt Ostwald (1958, 144), »cannot be definitely pinned down, so that the whistler is safe from criticism, discovery, and punishment. He can get away with expressing a whole range of feelings – hate, disdain, coolness, nonchalance, pity, and tenderness – by whistling, and who will be the wiser?« Insbesondere bleibt die gepfiffene Botschaft selbst in vielen Fällen undeutlich oder unentschlüsselbar. Das Sprichwort dazu heißt: »Manches wird besser gepfiffen als gesagt« (Wander 1873, 1260). Das gilt für geheim zu haltende Botschaften ebenso wie für aggressive Äußerungen, die in verbaler Form verpönt wären, Verspottungen zum Beispiel, von denen nur die Silbenzahl und Satzmelodie ins Pfeifen übernommen werden (bekannt ist z. B. die Sequenz c-c-a-dc-a, die für »Erwin ist ein Trottel« und Ähnliches eingesetzt werden kann). Auch wo Pfiffe allgemein gebräuchliche Konnotationen tragen, kann der Pfeifende abstreiten, diese gemeint zu haben – und damit auch durchaus die Wahrheit sagen. In gewisser Weise gilt dies auch für das Pfeifen von Liedern. Als 1976 ein Bibliotheksdirektor im Bonner Verteidigungsministerium beim Kopieren neben der Marseillaise auch die Internationale pfiff, interpretierte ein Oberstleutnant empört: »Das ist Kommunismus«. Der Bibliothekar, der als Pfeifkontext das Faktum beitragen konnte, dass er langjähriges CDU-Mitglied war, setzte demgegenüber auf die zwar unhörbare, aber einsehbare Differenz von Melodie- und Liedpfeifen: Er pfeife die Internationale nur, weil sie so »schmissig« sei (Der Stern, 14. 4. 1976). Fragt man nach sozialen und politischen Nutzungsweisen, die diese Mehr- oder Hintersinnigkeit des Pfeifens erlaubt, stellen sich bei vielen – auch beim Verfasser – Bilder von Verschwörern ein: Man denkt an den Pfiff von Schmierestehern oder Schmug­glern, die ja auch in Krimi-Titeln wie Pfiffe im Hafen (Rapp 1967) oder Der Pfiff um die Ecke (Serner o. J.) zu Schlüsselsymbolen erhoben sind, an den Verständigungspfiff von Wilderern oder auch von Partisanen: »Verschwiegene Bäume./Verschworener Wald./Und drei rote Pfiffe, drei rote Pfiffe,/Im Wald« heißt es in dem Lied über slowenische Widerstandskämpfer, das

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die österreichische Songgruppe Schmetterlinge in den 70er Jahren herausbrachte. Im Pfeifalltag diente und dient die verdeckte Semantik des Signalpfiffs natürlich weniger dramatischen Zwecken, sie braucht auch, wie oben zitierte Beispiele ja schon zeigten, gar nichts mit underdog- oder Sklavensprache zu tun zu haben: Der Familienpfiff und der Verbindungspfiff von Studenten z. B. fungieren als horizontale Abschottung einer ingroup gegenüber Außenstehenden, nicht als Abschirmung nach oben; in beiden Fällen handelt es sich um eine nichtöffentliche Verständigung in der Öffentlichkeit. Einen besonders hohen Stellenwert hat das Pfeifen jedoch unzweifelhaft als Unterschichten- und Untergebenensprache – wenn man (noch) will, als »volkskulturelle« Sprache. Der vom Meister oder Lehrer gerügte Jugendliche, der leise vor sich hin pfeifend wieder an seinen Platz geht, die »Gassenjungen«, die hinter Respektspersonen her pfeifen oder durch Pfeifsignale vor deren Ankunft warnen – das sind literarische Topoi, aber doch auch historische Realitäten. Das Pfeifen gehört zu den vielerlei Volksmund-Arten, die sich nicht in der für Kontrollinstanzen wünschenswerten Weise dingfest machen lassen: Es zählt zur unheiligen Familie des zugleich frechen und feigen »Volksgemurmels«, des Zischens, des Brummens, des Fistelns bei geschlossenem Mund, mit dem schon viele Schulklassen ihre Lehrer zur Verzweiflung brachten, und zur popularen Tradition des bewusst undeutlichen Artikulierens, das sich der – mitunter vom handgreiflichen Versuch des Herausschüttelns der Wahrheit begleiteten – Aufforderung »Nun sag’ es schon!« widersetzt. Dabei bringt es die Vieldeutigkeit des Pfeifens mit sich, dass in gesellschaftlichen Strukturen und historischen Situationen, in denen die subalternen Klassen als potentiell gefährlich gelten, auch deren harmloseste Freuden- und Signalpfiffe in den Verdacht kommen können, unbotmäßige Konterbande zu schmuggeln. Carl Spitzweg hat diesen Argwohn in einer Zeichnung von 1848 festgehalten, die Freikorpssoldaten in einer Wachstube darstellt und in deren Untertext es heißt: »Drüben in der Jesuitenstraße soll man schon wieder einen Pfiff gehört haben. Herr Gefreiter Sattelbauer! Nehmens noch einen Mann mit und machens eine Patrouille hinüber, damit man weiß, was es denn eigentlich ist« (UhdeBernays 1917, 167). Eine ganz ähnliche Deutungsunsicherheit stellt sich übrigens bei den Pfeifsprachen ein, wie sie unter anderem auf Gomera, in der Nordtürkei und den französischen Pyrenäen entwickelt wurden. Alle diese Regionen weisen tief zerklüftete Gebirge auf und sind vor allem von einer Hirtenbevölkerung bewohnt. Der primäre Zweck der Pfeifsprache war, so lässt sich vermuten, die alltägliche Verständigung über große Entfernungen. In der einheimischen Überlieferung ist jedoch häufig von subversiven Funktionen die Rede. Auf Gomera ist zu hören, die dortige Pfeifsprache El Silbo sei beim Widerstand der Inselbewohner gegen die Spanier von Bedeutung gewesen (Almeida 1984, 75), und Einwohner von Kusköy in der Nordtürkei, die sich ebenfalls pfeifend verständigen können, erzählen, dass man die Ankunft von staatlichen Kontrolleuren, die den Holzeinschlag und die Zahl der zu versteuernden Schafe ermitteln wollten, durch Pfiffe von Dorf zu Dorf ankündige, ja dass ihre Pfeifsprache überhaupt als Geheimsprache erfunden worden sei, die Eindringlinge von außen ausschließen solle (Leroy 1976, 1038). Das Beispiel ist, so scheint mir, für die

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aktuelle sozialhistorische und volkskundliche Debatte über den Sozialcharakter nichthegemonialer Kulturen aufschlussreich: Es legt den Gedanken nahe, dass die Lust an der Vorstellung »volkskultureller Widerständigkeit« und die teilweise Neigung zu deren Übertreibung nicht nur bei bestimmten Wissenschaftlern, sondern zumindest zuweilen auch bei den Betroffenen selbst am Werke sind. *

Seinen Urheber und seine Botschaft maskierend, hat der Pfeifton selbst ein sehr markantes Profil. Die hohen Frequenzen, verbunden mit sich überlagernden Schwingungen, ge­ben schon dem leisen Pfeifen etwas Schneidendes und machen das laute Pfeifen zu einem schril­­len Geräusch, das auf kurze Entfernung durch Mark und Bein geht und noch auf weite Distanz alarmierend wirkt. Es kann also nur soweit als sozial legitim gelten, wie dem Pfeif­enden ein – prinzipielles oder situatives – Recht auf eine solche Verletzung des akustischen Raums von andern zugebilligt wird, und es kann nur dort auch ästhetisch goutiert werden, wo »unreine« und gellende Geräusche nicht als unkultiviert, sondern als lustvoll empfunden werden. Das noch heute geläufige Sprichwort, dass man Mädchen, die pfeifen, und Hühnern, die krähen, beizeiten den Hals umdrehen müsse, lässt sich demnach – unter anderem – mit der Nähe des Pfeifens zu Machtausübung und Aggression erklären. In der polaren und hierarchischen Geschlechterkonstruktion, wie sie (nicht nur) für die bürgerliche Gesellschaft kennzeichnend ist, widerspräche zumindest der scharfe und kraftvolle Pfiff dem Ideal der sanften, schwachen, friedfertigen und bescheidenen Frau. Weshalb denn auch einer englischen Redensart zufolge Mädchen, die pfeifen, ein Schnurrbart wächst – wenn sie nicht schon einen haben: Laut einem Mediziner namens Billwiller, der 1930 »Über den Sexualwert des Pfeifens beim Menschen« berichtet, pfeifen bei den Frauen »die mehrbehaarten offenbar am besten« (Bächtold-Stäubli 1934/35, 1584; Billwiller 1930, 63). Aber auch dem bürgerlichen Mann wurde das Pfeifen in der Öffentlichkeit immer wieder als unzivilisiertes, plebejisches Benehmen verwehrt. Dem halbwüchsigen Bürgersohn, der seine Kraft auch durch kraftvolle Pfiffe beweisen will, und Jungmänner­bünden wie den Korporierten wird es noch nachgesehen, »bei ehrsamen Bürgern untereinander« jedoch gelten »Anruf- und Signalpfiffe«, wie Edwin Janetschek 1914, aber auch Jahrzehnte später noch gültig schrieb, als »unschöne und zu verabscheuende Unart« ( Janetschek 1914, 162). Zu den halbwegs legitimen Ausnahmen gehört der auch in gutbürgerlichen Kreisen übliche Familienpfiff, eine informelle, eben »familiäre« Anrede, die sich aber meist durch melodische Aufbereitung von bloßer akustischer Anrempelei distanziert. Nicht als unzivilisiert galt es dem Bürgertum jedoch lange Zeit, neben Hunden, Pferden und Rindvieh auch Domestiken und andere Untergebene scharf und namenlos »anzupfeifen«, wobei der feinere Vorgesetzte allerdings eine Pfeife benutzte, die ihm nasse Finger und eine angestrengte Mimik

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ersparte. So erinnert sich z. B. Franz Rehbein (1973, 34) in seinem Leben eines Landarbeiters daran, dass der Vogt des Hofes mit einer kleinen Trillerpfeife zum Frühstück rief, die er an einer Schnur um den Hals trug. Im Zuge der Demokratisierung auch des Alltagslebens ist der »Gehherda«-Pfiff inzwischen zunehmend verpönt. Auch in Bereichen, wo Gruppenkommandos per Mundpfiff und vor allem mit der Trillerpfeife lange Zeit als normal und funktional galten, hat sich in den letzten Jahrzehnten etwas verändert. So wurde während der antiautoritären Bewegung der Gebrauch des Pfiffs im Sportunterricht – ebenso wie das Antreten in Linie oder Reihe – als »zu militärisch« kritisiert und offenbar auch tatsächlich zurückgedrängt. Und auch beim Militär selbst ist der Kommandopfiff anscheinend seltener geworden. Einer Auskunft aus dem Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr zufolge hat das vor allem mit organisatorischen und technischen Entwicklungen, sekundär aber auch damit zu tun, »dass die Bundeswehr bemüht ist, ihr autoritäres Image abzulegen«. Eine andere Funktion und auch Geschichte als der Befehlspfiff, der Effizienz über Sensibilität stellt, hat der Protestpfiff, dessen Lautstärke und Schrillheit ganz bewusst der symbolischen Verletzung seines Adressaten dienen. Als »zeichen der verhöhnung, verspottung, des misfallens« (Grimm/Grimm 1889, 1648) ist der Pfiff oder das Pfeifkonzert zum einen im Theater oder bei Sportveranstaltungen als legitimes Ritual etabliert – hier hat sich das Publikum mit der Eintrittskarte das Recht zur deutlichen Unmutsäußerung erkauft, die umso legitimer ist, je mehr sie als bloße Bestrafung eines vorangegangenen Frevels an der Kunst, eines brutalen Fouls, einer schiedsrichterlichen Fehlentscheidung auftritt. Zum andern ist das Pfeifkonzert auch in der politischen Kultur zu einer keineswegs nur von der »rohen Masse«, sondern von DemonstrantInnen aus allen Bildungsschichten gepflogenen Äußerungsform geworden, wobei zunehmende, aber unzureichend erfüllte Mitspracheforderungen des Volkssouveräns ebenso eine Rolle spielen wie eine wachsende Informalisierung öffentlichen Verhaltens. Diese letztere ist gleichwohl nicht mit Brutalisierung gleichzusetzen: Ähnlich, wie das im Paris des späten 17. Jahrhunderts (wieder) aufgekommene Pfeifen des Theaterpublikums nicht einen Prozess der Verwilderung, sondern der Zivilisierung markierte, da es das bisher übliche Werfen mit faulen Äpfeln ersetzte (Kindermann 1961, 86), verkünden die auffälligen gelben Trillerpfeifen, die in der jüngsten Zeit bei Demonstranten immer häufiger zu sehen sind, nicht nur die Entschlossenheit zum größtmöglichen Krach, sondern auch den Verzicht auf gefährlichere Waffen. Mittlerweile ist es sogar in vielen Situationen unklar, ob ein pfeifendes Publikum die auf der Bühne oder Tribüne auch nur symbolisch verletzen will. In Rockkonzerten ist schon seit längerer Zeit das »applaudierende Pfeifen« üblich geworden – wohl, weil Händeklatschen kaum durchdränge, aber auch, weil das Expressions- und Lärmbedürfnis überhaupt gestiegen ist; und zunehmend erobert sich diese Umwertung des Pfeifkonzerts vom Aggressions- zum Begeisterungsausdruck auch andere Arenen und zeitigt dort die entsprechenden Irritationen. Vor kurzem mutmaßte ein Sportreporter bei einer Tennisübertragung: »Die einzelnen Pfiffe muss man wohl als Kompliment für Steffi Graf werten« (ZDF, 3. 10. 1993). Die Sphinx schwieg und pfiff weiter.

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Nun ist die Pfeifkultur des Alltags weder von grellen Alarmpfiffen noch von ohrenbetäubenden Pfeifkonzerten, sondern vorwiegend von sublimeren Tönen geprägt. Was überwiegt, ist das Pfeifen von Melodien – von Schlagern, Opernarien, Symphoniethemen; und selbst der Anruf- und Signalpfiff begnügt sich ja nicht mit simplen Gebilden – einem lang gezogenen Ton oder z. B. Quart- oder Quintschritten –, sondern macht gern Anleihen bei der Musiksprache. Von Seiten der legitimen Kultur findet dies musikalische Pfeifen ein zwiespältiges Echo. Es erscheint insoweit als sympathisch, als sich darin ein Bemühen um die Ästhetisierung des profanen Alltags und die Anerkennung approbierter Kulturwerte durch den pfeifenden Volksmund sehen lässt. Das berühmteste Beispiel hierfür ist der »Sportpalastpfiff«, den Reinhold Habisch, genannt »Krücke«, in den 1920er Jahren kreierte: die Transformation der wilden Anfeuerungs- und Protestpfiffe beim Sechstagerennen in vier wohlgesetzte Pfeiftöne, die in die Taktpausen des »Sportpalastwalzers« eingefügt wurden – eine Versöhnung von Galerie und Loge, von Stimme des Volks und »Stimme seines Herrn«. Auf der anderen Seite bedeutet jedoch das Sichhochpfeifen in die Musiksphäre auch deren Herunterziehen. Sie droht nicht nur, achtlos nebenher gepfiffen, in trivialste Verrichtungen integriert, sondern eben auch von den mehr oder weniger unreinen, dazu oft auch noch falschen Pfeiftönen malträtiert zu werden – so wie es in Erwin Strittmatters Der Laden über den Nachbarssohn Jurko heißt: Jurko pfeift sich Dorflieder und Tanzschlager mit falschen Tönen von der Seele. (…) Er intoniert hinter unserem Hofzaun auf seine amusikalische Weise mit seiner Lippen­flöte das Liedchen: Ein Mädchen wollte Wasser holn/an einem tiefen Brunnen … Wie stets verhunzt Jurko beim Flöten die Töne, und in Worten wiedergegeben, musste der Anfang des Liedchens etwa lauten: Ein Mödchen willte Wasser heulen/an einem teufen Brün­ nen … (Strittmatter 1983, 389‑91). Es geht natürlich auch anders. Es gibt Könner, die nicht nur zum eigenen Vergnügen und zum Ärger ihrer unfreiwilligen Zuhörer Melodien pfeifen, und es gibt sogar Kunstpfeifer, die ein zahlendes Publikum anzuziehen vermögen. Der berühmteste von ihnen ist eine Kunstpfeiferin: die Filmschauspielerin und Schlagersängerin Ilse Werner, die als »Frau mit Pfiff« Karriere machte. In ihrem Fall wenigstens scheint es gelungen zu sein, das Pfeifen sowohl vom Etikett des kulturell Illegitimen als auch von dem der Unweiblichkeit zu befreien. Beim genaueren Hinsehen zeigen sich freilich die ganz besonderen Umstände und die Grenzen dieses Durchbruchs. Der erste öffentliche Auftritt, bei dem sie nicht nur sang, sondern auch pfiff, fand 1941 statt – vor zunächst offenbar verblüfften, dann aber hingerissenen Fronturlaubern (Werner 1981, 108); es lässt sich vermuten, dass dieser Erfolg auch mit dem durch den Krieg veränderten Frauenbild zu tun hat, von dem nicht zuletzt NS-Slogans wie »Die Frau als Kameradin« oder »Nun steht die Frau ihren Mann« zeugen. Und es gab offenbar auch zahlreiche kritische Stimmen, »viele Leute, denen es nicht recht in den Kopf

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will, dass Ilse Werner – pfeift« (Werner 1943, 43). Weshalb sie selbst in der Broschüre Ich über mich von 1943 erklärend bis entschuldigend berichtet, dass sie eine durchaus undamenhafte, ja uneuropäische Sozialisation hinter sich habe: 1921 im damaligen Batavia geboren, sei sie »eine kleine Halbwilde gewesen«, die auf Palmen geklettert sei, »mit den Affen im Urwald (der bei uns gleich über’m Damm war) um die Wette brüllte« und »von klein auf (…) schon gepfiffen« habe (ebd., 15 f., 43). Während Ilse Werner den Nachklang des Vorzivilisatorischen, der »Wildheit« in ihrem Pfeifen gesteht, verlegt sich einer ihrer Bewunderer, Günther Schwenn, in demselben Band aufs Leugnen: Weil die Werner für ihn eine große Künstlerin und eine Dame ist, will er das, was sie tut, gar nicht mehr als Pfeifen bezeichnet wissen. Üblicherweise sei Pfeifen »etwas Burschikoses (…), etwas Jungenhaftes, Saloppes«; Ilse Werner hingegen pfeife »sehr melodisch, absolut musikalisch. Und sogar – ganz zart … Dieses Pfeifen ist eher ein Zwitschern. (…) Ein Vögelchen ist da am Werk. Ein gut gelauntes Vögelchen. Eine menschliche Nachtigall« (ebd., 53 f.). Auch die Ausnahme Ilse Werner bestätigt also die Regel: In der bürgerlichen Gesellschaft ist das Pfeifen, wie laut Bourdieu die Fotografie, bestenfalls »un art moyen«, zugespitzt übersetzt: eine illegitime Kunst – und damit ein würdiger Gegenstand der volkskundlichen Forschung. Literatur Almeida, Antonio (1984): Vom Pfeifen und Trommeln. In: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik, 51. Jg., 53‑78. Bächtold-Stäubli, Hanns (Hg.) (1934/35): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Bd. VI. Berlin u. a. Billwiller, Waldemar Coutts (1930): Über den Sexualwert des Pfeifens beim Menschen. In: Zeitschrift für Sexualwissenschaft und Sexualpolitik, 17. Jg., 62 f. Braun, Alfred (1965): Der Spreekieker. Berlin. Grimm, Jacob/Wilhelm Grimm (1889): Deutsches Wörterbuch. Bd. 7. Bearbeitet von Matthias von Lexer. Leipzig. Habisch, Reinhold (o. J.): Deutschlands Original Krücke auf Rennbahnen unter Rennfahrern. BerlinSpandau [1950]. Hentig, Hans von (1956): Zur Psychologie der Einzeldelikte. Bd. II: Der Mord. Tübingen. Janetschek, Edwin (1914): Etwas vom Pfiff und seiner musikalischen Bedeutung. In: Neue Zeitschrift für Musik, 81 Jg., H. 11, 162 f. Kienitz, Sabine (1986): »Da war die Weibsperson nun eine der Ärgsten mit Schreien und Lärmen.« Der Stuttgarter Brotkrawall 1847. In: Carola Lipp (Hg.): Schimpfende Weiber und patriotische Jungfrauen. Frauen im Vormärz und in der Revolution 1848. Bühl-Moos, 76‑87. Kindermann, Heinz (1961): Theatergeschichte Europas. Bd. 4. Salzburg. Klausmeier, Friedrich (1978): Die Lust, sich musikalisch auszudrücken. Eine Einführung in sozio-musi­ kalisches Verhalten. Reinbek. Leroy, C. (1976): An Ecological Study. In: Seebeok/Umiker-Seebeok, Bd. 2, 1031‑1039. Lewy, Heinrich (1931): Zum Verbot des Pfeifens. In: Zeitschrift für Volkskunde, 41. Jg., 58 f.

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Netsch, Adolf (1894): Belebung der Spiele durch Gesang, Trommler- und Pfeifer-Corps. In: Jahrbuch für Volks- und Jugendspiele, 3. Jg., 54‑57. Ostwald, Peter F. (1958): When People Whistle. In: Language and Speech, 1. Jg., 137‑145. Quedenfeldt, H. M. (1976): Pfeifsprache auf der Insel Gomera. In: Seebeok/Umiker-Seebeok, Bd. 2, 939‑953. Rapp, Wolfgang (1967): Pfiffe im Hafen. Ein Kriminalstück in 4 Stückchen. Weinheim. Rehbein, Franz (1973): Das Leben eines Landarbeiters. Darmstadt u. a. Seebeok, Thomas A./Donna Jean Umiker-Seebeok (Hg.) (1976): Speech Surrogates: Drum and Whistle Systems. 2 Bde. Paris. Serner, Walter (o. J.): Der Pfiff um die Ecke. Zweiundzwanzig Kriminalgeschichten. Berlin [1927]. Strittmatter, Erwin (1983): Der Laden. T. 1. Berlin/DDR. Uhde-Bernays, Hermann (1917): Carl Spitzweg. Des Meisters Leben und Werk. München. Wander, Karl Friedrich Wilhelm (1873): Deutsches Sprichwörter-Lexikon. Bd. 3. Leipzig. »Vom Lärm« (1908). In: Der Kunstwart, 21. Jg., 1. Juniheft, 314‑316. Weber, Max Maria von (1867): Das Telegraphen- und Signalwesen der Eisenbahnen. Geschichte und Technik desselben. Weimar. Werner, Ilse (1943): Ich über mich. Berlin. Werner, Ilse (1981): So wird’s nie wieder sein … Ein Leben mit Pfiff. Bayreuth. Zedlers Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste (1741). Bde. 27/28. Leipzig u. a.

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Zur Schichtspezifik autobiographischer Darstellungsmuster

Im Zuge des zunehmenden Interesses an Biographik sind in den letz­ten Jahren verschiedentlich auch Bürgerliche Autobiographie und proletarische Selbstdarstellung1 miteinander verglichen worden, doch ging es dabei meist um die frühen deutschen Arbeitererinnerungen, die dann mit der klassisch-bürgerlichen Autobiographik konfrontiert wurden,2 oder um Autobiographien der 1920er Jahre, die von prominen­ten Vertretern der bürgerlichen Intelligenz und der Arbeiterbewegung stammten (vgl. Sloterdijk 1978). Es fehlt jedoch an ähnlichen Studien für die Gegenwart und es mangelt insbesondere an Vergleichen der Autobiographik nichtprominenter Gelegenheitsautoren aus verschiedenen sozialen Gruppen – was nicht zuletzt mit der verbreiteten, aber irrigen Mei­nung zusammenhängen dürfte, dass untere Bildungsschichten nur ganz selten zur Niederschrift von Erinnerungen bereit seien (vgl. Warneken 1985, 10‑26). Un­gleich besser erforscht sind, im Zuge von historischer oder volkskund­licher Oral History, aber auch pädagogischer, soziologischer und lin­guistischer Erzählforschung, mündliche Lebenserinnerungen aus ver­schiedenen Sozialschichten; doch hierbei wird wenig Aufmerksam­keit auf die Frage der Schichtspezifik verwandt,3 was nicht selten die Tendenz zur voreiligen Verallgemeinerung in bestimmten Erzählun­gen oder Erzählergruppen vorgefundener Form- oder Inhaltsstruktu­ren in sich birgt. Die folgende Untersuchung will Schichtunterschieden bei autobiographischen Darstellungsmustern durch eine Analyse von Kurzauto­biographien näherkommen. Die hierfür herangezogenen Texte haben denselben Entstehungskontext: einen Schreibaufruf, den der Landes­seniorenrat und die Landesregierung von Baden-Württemberg 1976/1977 unter dem Motto Ältere Menschen schreiben Geschich­te veranstalteten; teilnehmen konnten BadenWürttembergerInnen über 60 Jahre. Aus den Einsendungen zu diesem Aufruf,4 die nur zum geringeren Teil aus »ganzen« Lebensgeschichten bestanden, wurden in einer »aposterioren Quotenauswahl« Kurzautobiographien von AutorInnen unterschiedlicher Bildungsund Sozialgruppen herausge­sucht, und zwar zum einen 47 Texte von ArbeitnehmerInnen mit Volksschulabschluss (»Volksschulgruppe«), davon 26 Autorinnen und 21 Autoren, zum andern 27 Texte von Akademikern, Beamten, Selb­ständigen und mittleren Angestellten mit Abitursabschluss (»Abiturgruppe«), davon elf Frauen und 16 Männer.5 Durchweg handelt es sich um weder haupt- noch nebenberufliche SchriftstellerInnen, son­dern um Laienoder besser GelegenheitsautorInnen. Der Textum­fang beträgt bei der Volksschulgruppe im Durchschnitt ca. sechs, bei der Abiturgruppe ca. zehn Manuskriptseiten.6 Die Auswertung konzentriert sich auf drei Aspekte der literarischen »Organisation von Lebenserfahrung«: auf Indikatoren für den Grad und die Art der »Schreiblegitimation«, die die AutorInnen für sich in Anspruch nehmen; auf Stellenwert und Darstellungsweise von

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Indivi­dualität und Individuation; und abschließend auf Formen der »Rele­vanzproduktion«, der Verknüpfung des Individuellen mit kulturell Approbiertem und historisch Allgemeinem. Die Textmerkmale, auf die sich die Analyse bezieht, sind bei den einzelnen Auswertungs­ schritten jeweils angegeben; der Gruppenvergleich operiert zumeist mit Relationsangaben wie »mehr/weniger« oder »meistens/kaum«, in manchen Fällen, wo relativ unkomplexe und also leichter quantifizier­bare Textmerkmale vorlagen, auch mit Zahlen- oder Prozentangaben. Schreiblegitimation

»Nicht gebildet sein«, schreibt Pierre Bourdieu (1982, 605) in »Die feinen Unter­schiede«, »wird (…) als Verstümmelung der Person empfunden, die sie (…) bei allen offiziellen Anlässen, bei denen man ›öffentlich in Er­scheinung zu treten hat‹, sich vor den anderen mit seinem Körper, sei­nen Umgangsformen, seiner Sprache zu zeigen hat, mit Stummheit schlägt«. Ein solches Defizitbewusstsein, und nicht bloß mangelndes Schreibvermögen oder mangelndes Erreichtwerden von Schreibauf­forderungen, ist gewiss eine wesentliche Ursache dafür, dass AutorIn­nen mit Volksschulbildung bei öffentlichen Schreibaufrufen unterre­ präsentiert sind.7 Die hier untersuchten Einsendungen von Verfas­serInnen mit Volksschulbildung haben diese Stummheit zwar prinzi­piell überwunden, doch durchwirkt sie noch das für die Öffentlichkeit Geschriebene – als häufige Unsicherheit darüber, ob die Qualität der eingesandten Texte denn überhaupt akzeptabel sei. Das beginnt mit einleitenden Entschuldigungen für formale Män­gel, die bei der Volksschulgruppe mehr als doppelt so häufig geäußert werden wie bei der Abiturgruppe – gipfelnd in der sei’s auch ironisch eingefärbten Bitte eines Arbeiters: »Und sollte man Tippfehler ent­decken oder andere, so erwarte ich keine ›Tatzen oder Hosenspanner‹, sondern bitte ›treuherzig‹ um ›Verständnis‹.« Es setzt sich fort in Zwei­feln über den inhaltlichen Wert des Geschriebenen: Während die – seltenen – Bescheidenheitsbekundungen bei der Abiturgruppe tat­sächlich unbescheidene Ansprüche abwehren – betont wird z. B., dass man kein professioneller Schriftsteller sei oder keine geschichtsmächtige Rolle gespielt habe –, häufen sich bei der Volksschulgruppe die Selbstverkleinerun­gen und Selbstzweifel. Eröffnet wird z. B. mit: »Ich erlaube mir einen kleinen Beitrag zum Vorhaben zu leisten«, abgeschlossen mit: »Neh­men Sie bitte meinen einfachen Bericht gnädig auf«. Ein Arbeiter hofft, »es recht gemacht zu haben«, ein anderer, »dass ich Sie mit mei­nem Schreiben nicht zu sehr gelangweilt habe«, und ein Fabrikportier bekennt: »Dreimal habe ich angefangen und jedesmal das Geschriebene wieder vernichtet, weil ich dachte, Sie werden es vielleicht lächerlich finden, was ich gesudelt habe. (…) Dieses Mal kommt es zur Post, auch wenn es gleich in den Papierkorb kommt.« Auch die Kürze vieler Lebensberichte der Volksschulgruppe – sie bleiben meist deutlich unter dem Wettbewerbslimit von zehn Seiten, das bei der Abiturgruppe mehrmals souverän überzogen wird – dürfte nicht nur mit dem Ungewohntsein längeren Schreibens, son-

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dern eben­falls mit Kompetenzunsicherheiten zu tun haben.8 In einigen Fällen wird dies auch manifest: so wenn ein Forstarbeiter die Kürze sei­nes Berichts mit der mangelnden Nachfrage nach solchen Erinnerun­gen bei der heutigen Generation begründet, oder wenn AutorInnen »Nachschub« versprechen, falls dafür Interesse bestehe (gegenüber einigen AutorInnen der Volksschulgruppe hat der Verfasser übrigens einige Jahre nach dem Wettbewerb ein solches Interesse bekundet und tatsächlich etliche ausführlichere Lebenserinnerungen erhalten). Bedeutsam sind in diesem Zusammenhang die Gruppenunter­schiede bei den Be­grün­ dungen für die Teilnahme am Schreibaufruf. Zum einen fällt auf, dass diese bei der Volks­ schul­gruppe öfter als bei der Abiturgruppe anzutreffen sind. Bei der letz­te­ren wird dabei mehr­mals auf eine besondere Qualität des zu Berich­tenden hingewiesen: Die eigene Le­bens­geschichte könne Ansporn für die Jugend sein; man sei von der Geschichte nicht nur getrieben wor­den, sondern habe sie auch mitgestaltet; die eigene Generation habe »auf allen Lebensgebieten soviel Interessantes, Epochemachendes, fast an Wunder Grenzendes erlebt wie kein Mensch zuvor«; mitunter wird Al­tersweisheit reklamiert oder darauf hingewiesen, dass man sich in Geschichtsfragen »auf Bücher nicht immer verlassen« könne. Bei der Volksschulgruppe ist die Annoncierung solcher Textqualitäten nicht zu finden. Häufiger sind hier Hinweise auf die Quantität des Erlebten: Betont wird, man habe »ungeheuer viel erlebt«, habe in seinem Leben »viel gesehen, erlebt und durchgemacht«; jeder Fünfte der Volks­schulgruppe, aber niemand aus der Abiturgruppe äußert, schriebe man die gesamten Erinnerungen auf, würde das »ein dickes Buch« ge­ben, »mindestens 1000 Seiten füllen« und Ähnliches. Mit dieser Form des autobiographischen Selbstbewusstseins stimmt es zusammen, dass in dieser Gruppe auch häufiger als bei der Abiturgruppe bekräftigt wird, das Gedächtnis reiche weit zurück, man könne sich noch an vie­les genau erinnern, also auf die Erinnerungskapazität als solche rekurriert wird. Zum anderen meinen mehrere AutorInnen der Volksschulgruppe, die Wahrheit des Ge­­ schil­derten bekräftigen zu müssen. Entspre­chende Formulierungen lauten: »Meine Le­­bens­­ geschichte (reine Wahrheit)«; »Was ich nun hier zu Papier gebracht habe, entspricht der Wahrheit«; »Was ich schrieb, habe ich alles erlebt«. Dass in den Tex­ten der Volksschulgruppe öfter als bei der Vergleichsgruppe Zeugen benannt, auf Beweisdokumente für das Behauptete verwiesen, ja Do­kumente ausführlich zitiert oder gar beigelegt werden, zeigt in dieselbe Richtung. Bernd Neumann hat in seinem autobiographie-theoreti­schen Buch über »Identität und Rollenzwang« den »Autobiographen«, die der Erinnerung und zugleich der Phantasie Raum gäben, um sich selbst wieder in die Vergangenheit zu versetzen, die an exakter Re­konstruktion orientierten »Memoirenschreiber« gegenübergestellt, die aus Misstrauen gegenüber ihrer Erinnerung nach historischen Belegen griffen (vgl. Neumann 1970). Die hier behandelten Autoren jedoch arbeiten mit ihren Wahr­heitsbekräftigungen und -beweisen weniger einem eigenen als frem­dem Misstrauen entgegen: dem Verdacht, von ihnen als erlebt, erlitten oder geleistet Berichtetes sei gar nicht ihr biographisches Eigentum, sondern usurpiert. Dabei geht es in den hier untersuchten Texten nur einem Autor, einem früheren KPD-Mitglied, eindeutig darum, seine Wahrheit gegenüber als herrschend angesehenen

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Auffassungen zu behaupten; die meisten AutorInnen der Volksschulgruppe haben eher das bescheidene Ziel, sich mit den Besonderheiten ihres Le­bens neben dem anderer Personen, bei denen man einen höheren Glaubwürdigkeitsstatus vermutet, zu etablieren. Eine unterschiedliche Selbstzumessung von Äußerungsrechten zei­gen auch die Resümees der Lebensgeschichten. Hier sind es etwa 40 Prozent der Abiturgruppe und nur etwa 20 Prozent der Volksschulgruppe, die zu­sammenfassende Urteile über die »großen Zeitfragen«, z. B. Probleme des technischen, sozialen und politischen Fortschritts abgeben; die große Mehrheit der Volksschulgruppe beschränkt sich in ihrer Le­bensbilanz auf die eigene Situation oder die der eigenen Sozialgruppe. Signifikant gruppenverschieden ist zudem die Häufigkeit, mit der inner­halb der Resümees entweder Dank ausgesprochen oder Bitten, Wün­sche und Appelle formuliert werden. Gute Wünsche für andere wer­den von zwölf Frauen und zwei Männern der Volksschulgruppe, aber von keinem aus der Abiturgruppe ausgesprochen. Formeln des Dan­kes oder Lobes zählt man in der Volksschulgruppe sechzehnmal, also bei 34 Prozent der Texte; die Adressaten sind insbesondere Gott (5) und die Regierung (7); in der Abiturgruppe sind solche Bekundungen sie­benmal, also bei 26 Prozent zu finden. Wünsche oder Forderungen, die auf Allgemeinverhältnisse zielen, sind bei der Volksschulgruppe elfmal (= 23 Prozent), bei der Abiturgruppe zehnmal (= 37 Prozent) vertreten, wobei auffällt, dass in beiden Gruppen die Frauen weit weniger fordern oder raten (8 Prozent vs. 27 Prozent bei den Männern) und mehr als die Männer die Form des Wunsches, der Frage oder der Klage wählen (Frauen insge­samt 16 Prozent, Männer 5 Prozent). Doch »wagen« es die Frauen der Abiturgruppe noch öfter als die Männer der Volksschulgruppe, die Schil­derung des eigenen Lebens in irgendeine Form von Ratschlägen für andere münden zu lassen. Und der einzige Autor, der ausdrücklich ei­nen Verzicht auf politisches Meinen und Wollen formuliert, ist ein Ar­beiter: »Ich bitte nun diese Zeilen nicht politisch und auch nicht gegen mich zu verwenden, denn das wäre nach meiner Ansicht nicht der Zweck der Geschichte.« Hinzuweisen ist schließlich auf Genreunterschiede der Ein­sendungen: Über zwei Drittel der Abiturgruppe, aber nur knapp die Hälfte der Volksschulgruppe geben ihren Texten einen Titel, der sie als ein Stück »autonome Literatur« präsentiert; und über ein Drittel der Volksschulgruppe, dagegen nur ein Sechstel der Abiturgruppe greift zu Briefelementen wie persönliche Anrede, Ein­gangs- oder Schlussgruß, richtet sich also gar nicht direkt an eine Öf­fentlichkeit, sondern verbleibt, wie man das wohl interpretieren darf, noch halb in der schützenden Privatsphäre. Bei einigen Autorinnen der Volksschulgruppe trifft man darüber hinaus auf Elemente des Bittbriefs, während bei einigen Männern dieser Gruppe deutlich die Textsorte des für Arbeitgeber oder Arbeitsämter zu erstellenden »Le­benslaufs« durchscheint: als wären sie nicht als Geschichtszeugen um ihre Erfahrungen gebeten, sondern als Bewerber zum Rapport aufge­fordert worden.

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Darstellung des Individuellen

In ihrer Untersuchung »Ländliche Kindheit in Lebenserinnerungen« schreibt Susanne Mutschler, keiner der von ihr Interviewten habe seine eigene Kindheit und Jugend als eine besondere, individuelle ge­schildert: Das kollektive »Wir« oder »Man« habe in den Erzählungen die »Ich«-Sätze überwogen (vgl. Mutschler 1985, 108‑125). In den Kindheitspassagen derjenigen Autorlnnen der hier untersuchten Lebensgeschichten, die wie die von Mutschler Befragten auf dem Dorf geboren sind und dort heute noch leben, ist – wenngleich abgeschwächt – dieselbe Tendenz zu beobach­ten. Und auch bei den anderen Mitgliedern der Volksschulgruppe fin­den sich (insbesondere, aber nicht nur in der Kindheitsschilderung) häu­figer als bei der Abiturgruppe Sätze, in denen ein Kollektiv wie die Familie, die Geschwister, Altersgenosslnnen Erzählsubjekt ist. Inhalt solcher Passagen sind dabei – das ist wichtig hervorzuheben – nicht nur gemeinsame Aspekte der Lebenslage, sondern auch gemeinsame Er­fahrungs- und Denkweisen. Exemplarisch hierfür sind die Unterschiede bei den zahlreich vor­zufindenden Darstellungen des Kriegsbeginns 1914: Die Texte der Volksschulgruppe schildern meist eine gemeinsame Aktion und Reak­tion von »uns Kindern« (Beispiele 1 und 2), bei der Abiturgruppe wird selbst in der Darstellung kollektiver Aktionen meist eine indivi­duelle Reaktion herausgehoben (3) oder von Anfang an ein individu­elles Erlebnis thematisiert (4): Die Begeisterung unter der Bevölkerung war groß, bis Weihnachten sei alles vorbei. Wir Kinder waren den ganzen Tag am Bahnhof und winkten den Feld­grauen zu, die an die Front fuhren (Arbeiter, geb. 1904). Bei der Mobilmachung zog ein Mann mit einer Trompete durch den Ort (…). Ich war gerade zehn Jahre alt. Frauen kamen weinend von den Feldern heim. Die Männer waren aufgeregt und teils ratlos. Wir Kinder wussten mit der allge­meinen Aufregung nichts anzufangen (Hausangestellte, geb. 1904). Es war ein wunderschöner Sommervormittag, als laute Marschmusik er­klang. Da konnte uns nichts mehr halten, wir rannten zum Zaun an der Straße, um zu sehen, was da wäre. Es war die berittene Militärmusik des Artillerie-Re­giments von Rastatt, welche mit lautem Klang vorauszog. Die gerade Haltung aller Soldaten, ob Offizier oder Mann, beeindruckte mich sehr (Förster, geb. 1909). Ja und dann kam im Jahr 1914 der Krieg. Ich (…) sollte nach Cannstatt zu Onkel C. in die Ferien fahren. Schon war ich fix und fertig zur Abfahrt gerüstet und wollte mich von den Eltern und Geschwistern verabschieden, da sehen wir, dass am Postgebäude (…) auffallend viele Leute um einen Anschlag sich ver­sammelten. Neu­gierig springe ich geschwind hinüber und lese: ›… Mobilma­chung …‹. (…) Aus war es mit den Ferien, auf die ich mich so gefreut hatte (Pfarrer, geb. 1899).

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Aber nicht nur, dass bei der Volksschulgruppe häufiger gemeinsame Erlebnisse und Erfahrungen beschrieben werden: Es wird auch etwas mehr über das Leben und sogar Erleben von Bezugspersonen berich­tet, deren Geschichte also in bestimmten Aspekten mitgelebt. Dabei geht es um Geschwister, insbesondere aber die erwachsen gewordenen Kinder. Deren weiterer Lebenslauf wird von einem Drittel der Eltern aus der Volksschulgruppe, aber nur einem Sechstel der Abiturgruppe angesprochen; zudem sind die entsprechenden Passagen bei der Volksschulgruppe länger: Ein Arbeiter berichtet gar in zwei Dritteln seiner Lebensgeschichte nicht über sich selbst, sondern über seine Söhne – und zwar insbesondere über deren Begabtheit und berufliche Erfolge. Die Identitätsgewinnung über die Kinder, die es einmal bes­ser haben sollten und es nun tatsächlich auch besser haben, ist hier si­cher eines der wesentlichen Berichtsmotive.9 Die Geschlechtsspezifik ist in der Frage des Themas Nachkommen freilich noch stärker als die Schichtspezifik: Immerhin drei Mütter, aber kein Vater der Abiturgruppe berichten über die erwachsenen Kinder, aus der Volks­schulgruppe sieben Mütter und vier Väter – insgesamt sind es 42 Prozent der Mütter und nur 14 Prozent der Väter gegenüber 32 Prozent der Volksschul- und 17 Prozent der Abiturgruppe. Signifikant ist der Geschlechtsunterschied auch bei der Häufigkeit des Berichtens über Ehepartner (ein deutlicher Schichtun­ terschied war hier nicht zu erkennen). Längere Passagen über die Lebens­geschichte der Partnerlnnen finden sich bei 8 Prozent der Ehefrauen und 0 Prozent der Ehemänner des Samples, vom gegenseitigen Kennenlernen berichteten 17 Prozent der Frauen und 4 Prozent der Männer; kurze Erwähnungen von Tätigkei­ten oder Erlebnissen der PartnerInnen fanden sich bei 38 Prozent der Ehefrauen gegenüber 14 Prozent der Ehemänner – wobei die Männer meist auf sich bezo­gene Handlungen und Haltungen der Ehefrauen wie treue Hilfe oder Angst um den Ehemann oder aber das Krankwerden der Frau erwähnen, das ih­nen nun Mithilfe im Haushalt abverlange. Nicht nur der Grad, in dem sich die Lebensgeschichten auf die eigene Biographie konzentrieren, unterscheidet die Gruppen, sondern noch mehr die Art und Weise, in der dies geschieht. Gezeigt sei dies im Folgenden an einem Vergleich der »Erzählungen in der Er­­zählung«, den mit Formeln wie »Eines Tages« oder »Einmal« eröffneten Episo­den, in de­nen offenbar als besonders bedeutsam empfundene Lebensereignisse dargestellt werden (ihre Zahl beträgt bei der Volksschul­gruppe etwa drei, bei der Abiturgruppe etwa sechs pro Text).10 Auffallende Unterschiede in der Thematik dieser »Szenen« sind zum einen, dass es bei der Volksschulgruppe häufiger um lebens- oder gesundheitsbedrohende Gefahren – Unfälle, Krankheiten, gefährli­che Situationen im Krieg – geht als bei der Abiturgruppe. Deutlich häufiger wird bei ihr auch erlittenes Unrecht thematisiert, häufiger sind Probleme der Selbstbehauptung gegenüber Eltern, Lehrern und Vorgesetzten, von anderen eingeheimstes Lob oder beruflicher Erfolg dargestellt.11 Zum andern finden sich bei der Volksschulgruppe aber auch weit mehr heitere Begebenheiten, Ausflugs-, Ferien- und Festtagsschilderungen. Dass man zumindest in manchen Perioden und Augenblicken »gut gelebt« habe, ist hier – neben dem Erreichen eines relativen Wohlstands – ein wesentlicher Gegenstand

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autobiographi­schen Selbstbewusstseins. Die Texte der Volksschulgruppe zeigen da­mit offenbar andere Charakteristika als die von Mutschler erhobenen Kindheitserinnerungen von Dorfbewohnern, bei denen sie zu dem Er­gebnis kommt, dass Positives außer in der Erwähnung kleiner Alltags­überraschungen (besonderes Essen und Ähnliches) unerzählbar sei, da man die Freuden der eigenen Kindheit im Vergleich zum heutigen Wohlstand wohl als vergleichsweise unbedeutend empfinde – wogegen die von Kindheit an geltenden Arbeitsanforderungen selbst als Glück, näm­lich als Bedingung eines gesünderen, harmonischeren Lebens, als es in der heutigen »Wohlstandsgesellschaft« möglich sei, gedeutet wür­den (vgl. Mutschler 1985, 108‑125). In den Texten der Volksschulgruppe – die ja auch nur zum Teil von Dorfbewohnerlnnen stammen – wird Selbstbewusstsein zu einem guten Teil gerade aus Situationen geschöpft, in denen es gelang, den Alltag zu durchbrechen. Solche Situationen sind z. B. Liedersingen am Abend, Ausflüge, eine Reise, die Kirmes, Festtage, Feiertage wie Kommunion und Konfirmation.12 Auch in mehreren Lebensbilanzen dieser Gruppe spielen solche Glücksmomente übrigens eine Rolle – womit diese Bilanzen teilweise eine andere Struktur als die zeigen, die Martin Osterland bei Lebensbilanzen und Lebensperspektiven von Industriearbeitern herausgearbeitet hat: Bei Osterland (1978, 273) entsteht der Eindruck, deren »resümierende Einschätzungen ihres vergangenen Lebens« bestünden lediglich in einer Bilanz des Erreichten im Sinne eines Vergleichs der früheren und der heutigen sozialen Situation. Dieses entwicklungsbezogene Resümieren – bei den von Osterland untersuchten Arbeitern mag es auch durch die Fragestellung der In­terviewer zustande gekommen sein – wird in den hier untersuchten Texten öfters überlagert oder wenigstens ergänzt durch eine »zirkulä­re« Bilanzierungsform, in der »Freud und Leid«, »Höhen und Tie­fen«, »schöne und schwere Zeiten« nebeneinander gestellt werden. Eine Episodengruppe, die bei den Volksschul-Autorlnnen fast völ­lig fehlt, bei der Abiturgruppe aber etwa ein Fünftel aller derartiger »Szenen« ausmacht, hat die psychische oder intellektuelle Verfassung der Biographieträger zum zentralen Problemgegenstand. Und auch in Episoden, wo es um das Miterleben wichtiger historischer Ereignisse geht, stellen die AutorInnen der Abiturgruppe die Wirkungen auf ihre Gefühls- und Gedankenwelt in den Vordergrund, während die der Volksschulgruppe mehr auf Folgen für ihre physische oder soziale Existenz abheben.13 Ein Arbeiter beschreibt den Einmarsch der Amerikaner 1945: (…) am Tag darauf standen sie dann vor den verschlossenen Gartentoren und be­gehrten Einlass. (…) Wir mussten versichern, dass im Wohnhaus keine deut­schen Soldaten oder SS waren, nur Frauen und Kinder. Der Offizier sah ab von einer Durchsuchung. Die Stun­ de Null war gekommen, und wir lebten noch. Dagegen eine Chefsekretärin:

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Und als der Krieg zuende war, fühlte ich eine große Erleichterung, ihn über­standen zu haben. Ich sah zum Fenster hinaus. ›Vous êtes gardé jour et nuit‹, rief ein junger Franzose zu mir hoch, und ich schlief auch ganz ruhig in dieser ersten Nacht nach dem großen Krieg. »In der Regel«, schreibt Fritz Schütze (1984, 91) über das autobiographische Stegreif­erzäh­ len, »wird zumindest andeutend gekennzeichnet, wie ein Ereignis sich auf die innere Erfahrungswelt des Biographieträgers auswirkt.« In den hier untersuchten, freilich schriftlichen Episoden­erzählungen, wird diese »Regel« von der Abiturgruppe weit häufiger und extensiver befolgt als von der Volksschulgruppe, die zwar teil­weise auch die eigene innere Verfassung, Gefühle und Gefühlsäuße­rungen thematisiert, dies aber meistens nur en passant, als Ingrediens, jedoch kaum einmal als Hauptthema von Abläufen und Handlungen. Aber nicht nur, dass die Erlebnisschilderungen in der Abiturgruppe öfter und intensiver als bei der Volksschulgruppe innere Reaktionen auf äußere Ereignisse darstellen: sie präsentieren auch ungleich häufi­ger Ausschnitte aus einem Prozess der Ichentwicklung, Szenen einer Individuation. Die Texte der Abiturgruppe knüpfen damit passagen­weise14 an die Problemstellung der traditionellen bürgerlichen Autobiographie an, deren Muster sich damit zumindest bei nicht-professionel­len Schriftstellern persistenter zeigen, als Bernd Neumann es in Iden­tität und Rollenzwang unterstellt.15 So gehorchen z. B. Kindheitsszenen und ihre Kommentierung bei der Abiturgruppe öfters dem von Sloterdijk (1978, 127) als klassisch-bürgerlich apostrophierten »Schon-Damals«Schema: Einen ausgeprägten Sinn für Ungerechtigkeiten hatte ich schon als Schüle­rin. In einer Zeit [als der Autor fünf Jahre alt ist] meldete sich auch mein künfti­ger Beruf erstmals an. Ich legte einen Stuhl so auf zwei seiner Beine, dass seine Lehne wie ein Kanzel­ brett wirkte. In dieser Kanzel hielt ich meine ersten Pre­digten. Häufig schildern die AutorInnen der Abiturgruppe Ereignisse, die als Ausgangspunkte einer neuen, prägend gebliebenen Erfahrung darge­stellt werden – wobei die meisten dieser Episoden explizit datiert und zwar im dritten bis fünften Lebensjahr angesiedelt sind. Es geht dabei z. B. um die erste Begegnung mit dem Tod, ein erstmals eingetretenes »unbeschreibliches Gefühl von Angst« oder – wiederum bei einem Pfarrer – ein Erlebnis im Gottesdienst, »das schon früh – ich war noch nicht vier Jahre alt – für meine weitere Lebensbahn ›die Weichen gestellt hat‹ «. Die wenigen Episoden in den Texten der Volksschul­gruppe, die ebenfalls Aspekte der Psychogenese zum Thema haben, spielen erst im Schulalter oder später, und sie berichten weniger von veränderten Einstellungen als solchen als von veränderten Verhaltensweisen: »Nach diesem Vorfall [der Vater schlägt dem Autor in dessen Jugend ein erbe­tenes Taschengeld ab] habe ich nie wieder etwas von meinem Vater verlangt.«

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In den Texten der Abiturgruppe setzt sich das Denken in Kategorien der individuellen Entwicklung auch in Szenen aus dem Jugend- und Erwachsenenalter fort, wobei es nun zunehmend auch um intellektu­elle Erfahrungen geht, um neue Erkenntnisse (»Da wurde mir klar, wie schrecklich alle Menschen von der Inflation betroffen waren«) oder auch neue Denkweisen (»Wir lernten uns sehen als das (…) von allen Schätzen der Welt abgetrennte Volk ohne Raum«). Ein Lehrer schreibt: Ich schloss mich einer Gruppe der Jugendbewegung an (›Wandervogel‹). Was ich dort an Sinn für Einfachheit, Klarheit, Echtheit und Form gewann, wuchs in mir und wirkte mein Lebtag in mir nach. Eine Hausfrau der Volksschulgruppe berichtet dagegen so über ihre Zeit in der Jugendbewegung: Da war es doch schön in der Jugendbewegung. Hier konnte man singen; Volkstänze und Laienspiele vorführen und das Schönste, wandern. (…) Das war eine Gemein­schaft und Zusammenhalt. Lachen und fröhlich sein, war das schön. Der Unterschied der beiden Passagen ist gruppentypisch: Dort die Schilderung einer Etappe auf dem Weg zur heutigen Individualität, hier die einer in sich abge­schlossenen Lebensperiode; hier eine dynamische, dort eine lediglich additive Verknüpfung von Lebenserfahrungen. Sicher: Die Texte der Volksschulgruppe berichten durchaus auch von Entwicklungen; aber das sind in aller Regel Veränderungen der äußeren Lebensbe­dingungen und der eigenen sozialen Lage, nicht solche der Subjektivi­tät.16 Dass »jedes Erzählen selbsterlebter Erfahrungen (…) sich zu­mindest partiell auf die Veränderungen des Selbst des Erzählers als Biographieträgers« beziehe,17 gilt weit mehr für die AutorInnen der Abitur- als für die der Volksschulgruppe. Relevanzproduktion

»Lebensgeschichtliches Erzählen«, schreibt Peter Sloterdijk (1978, 6), »ist eine Form sozialen Handelns – eine Praxis, in der individuelle Geschichten mit kollektiven Interessen, Werten, Phantasien und Leidenschaften zusammengewoben werden.« Zu den dabei angewandten Verfah­rensweisen gehören unter anderem der Anschluss eigener Reflexionen an gesell­schaftlich approbiertes »Kulturgut« – z. B. mithilfe von Zitaten –, das Herausstellen von Verbindungslinien zwischen der eigenen Biographie und Ereignissen oder Personen der »großen Geschichte« sowie der Versuch, die eigene Lebensgeschichte oder einzelne Aspekte da­von als Repräsentanten allgemeiner Zustände und Entwicklungen zu zeigen.

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Alle diese Methoden der »Relevanzproduktion« (ebd.) sind in den hier untersuchten Texten vorzufinden, doch in ihrer konkreten Aus­formung zeigen sich wiederum gravierende Gruppenunterschiede. Was dabei zunächst den Komplex der kulturellen Anleihen in Form von geflügelten Worten und Literaturzitaten angeht, so bezieht sich – wie erwartbar – die Abiturgruppe weit häufiger (19 Prozent) als die Volksschulgruppe (6 Prozent) auf »Klassiker« der Hochliteratur, und zwar insbesondere Goethe, Schiller und Fontane; diese Ebene ist bei der Volksschulgruppe lediglich durch zwei Uhland-Verse und eine Goe­the-Referenz vertreten – wobei letzterer aber als »Göthe« und mit einem ihm fälschlich zugeschriebenen Zitat auftaucht, so dass der An­näherungsversuch an die »legitime Kultur« zugleich die Entferntheit davon offenbart. In der Häufigkeit des Zitierens steht die Volks­schulgruppe der Abiturgruppe aber interessanterweise nicht nach: Der kulturelle Fundus, mit dem sie ihre Ereigniskommentare und Lebensbilanzen überhöht, besteht dabei neben Bibelzitaten insbeson­dere aus Liedversen, wobei die Frauen eher Verse aus Volksliedern, die Männer eher solche aus Vaterlandsliedern heranziehen. Mehr als die Abiturgruppe greift die Volksschulgruppe auch auf Selbstge­machtes, auf eigene Gedichte zurück, und mehrere Frauen die­ser Gruppe schließen ihren Text mit einer mundartlichen Anrede an die »Zuhörerrunde« ab (»Aber schö isch gwe, ihr glaubet’s doch«) – ein Stilmittel, das man vielleicht als Kompromissbildung zwischen kul­tureller Bescheidung und kulturellem Anspruch interpretieren kann. Wo es nicht nur um die literarische Überhöhung des eigenen Texts, sondern um die Aufwertung der eigenen Biographie durch das Auf­fi nden symbolischer Bezüge zur großen Geschichte und zur Ge­schichte der Großen geht, finden sich Beispiele vor allem in der Abiturgruppe. Ein mehrfach verwandtes Mittel ist hierbei das Anknüpfen an Handlungsorte der eigenen Lebensgeschichte: Ein leitender Angestellter erwähnt, dass er »in der Hölderlinstraße 14 unserer Landeshauptstadt« geboren sei; eine Professorenfrau, die in einem Gewann namens »Hühnerbühne« wohnt, erklärt, dies leite sich womöglich von »Heeresbühne« ab, da hier einmal Landsknechte ge­lagert hätten: Wie dem auch sei, wenn ich Jahrhunderte später hier oben umherschaue, dann er­f reut mich die Vorstellung einer Heeresbühne, meine Fantasie sieht ein buntes Lands­knecht­ lager à la Wallenstein auf der Hühnerbühne, vielleicht so­gar in meinem Garten. Dieselbe Autorin entdeckt auch Bezüge zwischen ihren Erfahrungs­landschaften und Topografien der Kunstliteratur: Wenn ich später (…) die romantische Novelle »Holunderblüte« von Wilhelm Raabe las, die meisterhaft den unheimlich faszinierenden Verfall des Prager Judenfriedhofs schildert, dann tauchte aus der Vergangenheit der Judenfried­hof an der Turmstraße auf, und das kleine Mädchen, das scheu über die alte Mauer auf die verwahrlosten Steintafeln sah.

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Auch zeitliche Parallelen zwischen bedeutsamen historischen und biographischen Ereignissen werden – und sei’s nur spielerisch – zur Aufwertung der letzteren herangezogen. Eine Frau der Abiturgruppe kommentiert die Tatsache, dass sie im Ersten Weltkrieg am Tage einer Siegesfeier von den Eltern bestraft wurde: »… und so geschah’s, dass am selben Tage die Franzosen und ich geschlagen wurden …«, und ein Ingenieur wählt für die Schilderung des 1. August 1914 die Erzähler­öffnung: »Dann kam das Unheil in zwiefacher Gestalt.« Die eine, so erfährt man dann, hatte die der Kriegsnachricht, die andere die eines Stiers, der ihn an jenem Tag verfolgte; das individuelle Erlebnis re­präsentiert die Gefahren, die zur selben Zeit am allgemeinen Horizont auftauchen. Das Spiel mit bedeutsamen zeitlichen Koinzidenzen findet sich frei­lich auch in Texten der Volksschulgruppe, hier aber nur im Zusam­menhang mit dem Geburtsdatum der AutorInnen. Interessanterweise werden jedoch alle hierbei genannten Bezüge zugleich als eher problema­tisch angesprochen: Am Erscheinungsfest des Jahres 1897 wurden in der, meinem Elternhaus na­he­lie­genden Stadtkirche, zum Gottesdienst die Kirchenglocken geläutet. Lei­der traf meine Erscheinung den Tag darauf in dieser Welt ein und aus einem so nichtigen Anlass wurden die Glocken nicht geläutet. Hätte ich diese Verspätung nicht gehabt, wären mein Leben lang an meinem Geburtstag die Glocken ge­läutet worden (Arbeiter). Mein Geburtstag ist am 27. 1. 1911 – also mit dem Kaiser Wilhelm. Da aber der Behörde an meiner Geburtsanmeldung ein Fehler unterlief, sollte ich im­mer 17. 11. 1911 sagen. (…) Als ich älter wurde, ließ ich mir das nicht gefallen und sagte, ich bin auf Kaisers Geburtstag geboren. Da bekam ich manchmal Schwierigkeiten mit dem falschen Datum (Hausfrau). Dass ich mit dem Napoleon I. den gleichen Tag und Monat als Geburtsdatum habe, war mir immer sonderlich vorgekommen, wenn ich astrologische Überlegungen anstellte. Viel Gleichartiges konnte ich jedoch nicht entdecken, nun, dazwi­schen liegen auch 131 Jahre. Hatte mein Vater Ärger, oder er war bestürzt, so rief er aus: Himmel-Napoleon! (Arbeiter). Noch deutlicher selbstironische Töne beim Umgang mit der Tatsache der »niederen Geburt« finden sich in anderen Schilderungen der Volksschulgruppe: In der Umdeutung des Worts »Hochwohlgebo­ren«,18 in der Desavouierung des zuvor gebrauchten Begriffs »in die Wiege gelegt« mittels des Hinweises, dass man statt in eine Wiege in eine »Eierkiste« gelegt wurde,19 oder durch eine Erzählung von »Salut­schüssen« bei der Geburt, die sich dann als bloße Klopfgeräusche ent­puppten.20 Das Spielen mit »höheren Bedeutungen« der eigenen Ge­burt und mit etablierten Topoi der Geburtsschilderung, das Wolfgang Emmerich bei dem selbst- und politisch bewussten Proletarier Ludwig Turek entdeckt hat (vgl. Emmerich 1987, 34 f.), ist also beileibe kein arbeiterautobiographischer Sonderfall.

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Die weitreichendste Bedeutung unter den hier diskutierten Formen von Relevanzsetzung aber hat sicherlich die Art der Vermittlung zwi­schen dem Biographisch-Einzelnen und dem Historisch-Allgemeinen. Peter Sloterdijk hat an Autobiographien der 1920er Jahre beobachtet, dass die bürgerliche Selbstdarstellung oft mit einem »Sym­ptom-Sy­stemSchema« arbeite, wobei das Individuum nicht nur als Teil, son­dern auch als Zeichen eines Ganzen – einer Epoche, eines Zeitgeists z. B. – auftrete, wohingegen die proletarische Autobiographie ein »Fall-Typus-Schema« bevorzuge, in dem das Individuum nicht sym­bolischer Spiegel einer Totalität, sondern Einzelfall einer Menge von Fällen sei (vgl. Sloterdijk 1978, 305). Eben die von Sloterdijk bei prominenten Vertretern der wissenschaftlichen und literarischen Intelligenz einerseits, der Arbei­terbewegung andererseits konstatierten »zwei Logiken der Repräsen­tation«21 trennen nun interessanterweise auch die hier untersuchten Texte der Volksschul- und der Abiturgruppe. Wo die AutorInnen der Volksschulgruppe ihre Lebensgeschichte oder Aspekte davon als re­präsentativ für geschichtlich-gesellschaftlich Allgemeines darstellen,22 geht es zu­meist um gemeinsame materielle, soziale und zuweilen auch politische Lebensbedingungen sowie die Art und Weise, mit ihnen umzugehen; als Bezugskollektiv – das oft nur als nicht näher erläutertes »Man« oder »Wir« erscheint – werden dabei insbesondere die eigene soziale Schicht oder die Unterschichten, die eigene Generation oder die Deutschen insgesamt ge­nannt oder als gemeint erkennbar. Unsere Gold- und Silberfüchse sowie unsere Ersparnisse wanderten auf Nimmer­wie­der­ sehen in die Kriegskassen. Die Kriegsgewinnler wurden reich und das Volk arm (Ar­bei­ ter). Nach meiner Schulentlassung erlernte ich das Schreinerhandwerk, eine harte Zeit begann, nicht nur für mich, sondern für das ganze Deutsche Volk (Arbeiter). Wo waren die braunen Herren mit ihren lackglänzenden Paradestiefeln, die den Karren in den Dreck schoben? Wir und viele tausende von braven Män­nern, die in den Städten ihre Arbeitsstätten wieder aufgebaut haben, mussten mit zerrissenen Schuhen, gute hatten sie keine mehr, (…) ihn wieder aus dem Dreck ziehen (Arbeiter). Bei den AutorInnen der Abiturgruppe nun finden sich solche »Fall­-Typus«-Bezieh­ungen, bezogen z. B. auf die Teilhabe am heutigen Wohlstand, ebenfalls; doch sie werden in vielen Fällen ergänzt durch jenes andere Repräsentationsmuster, bei dem die individuelle Le­bens­ geschichte als »Zeitgeschichte im Kleinen« auftritt und eigene Erlebnisse und Erfahrungen vom gleichen Fleisch und Blut sind wie die Leitfragen einer Epoche. Einige der AutorInnen sehen in ihrer Lebensgeschichte insgesamt eine solche Be­ziehung gegeben: Ausgedrückt findet sich das in explizi­ten Einleitungs- oder Schluß­pas­sa­gen, aber auch in Titelgebungen wie »Vom Feuer erfasst. Ein Leben durch zwei Weltkriege« oder »Ir­gendwo in der Welt brennt es immer«. Bedeutsamer ist jedoch, dass diese »Geschichts-

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mächtigkeit« des eigenen Erlebens auch in zahlrei­chen konkreten Beispielen dargestellt wird – wobei es hier, um es nochmals klarzumachen, nicht um Augenblicke geht, in denen histori­sche Ereignisse oder Berühmtheiten persönlich erlebt wurden,23 son­dern darum, dass die »kleine Geschichte« des Autobiographen selbst als Repräsentant der »großen Geschichte« gefasst wird. Demonstrieren lässt sich das z. B. an zwei unterschiedlichen Schilde­rungen vom Beginn der Nazi-Herrschaft. Eine Autorin der Volks­schulgruppe, damals Hausangestellte bei einer »Halbjüdin«, berich­tet: Unvergesslich ist mir, als Fräulein Dr. erzählte, als wir im Garten arbeiteten, den­ken Sie, meine Kollegin hat angerufen, ob ich Jude sei. So hat es angefangen. Dann kamen allerlei Gesetze heraus, unter anderem auch, wer im ersten Welt­krieg Laza­rett­dienst gemacht hat, ist von diesen Gesetzen befreit. Fräulein Dr. hat­[te] in einem Typhuslazarett in Russ­ land Dienst gemacht, und so hoffte sie, ihre Praxis weiterführen zu können, aber dem war nicht so. Das »So hat es angefangen« bezieht sich hier nicht auf die Judenver­folgung allgemein, sondern auf die dann weitererzählte Geschichte des »Fräulein Dr.«, die schließlich in einem Lager umgebracht wird. An­ders die Perspektive bei einer Autorin der Abiturgruppe, einer selb­ständigen Kauffrau: Hier steht die Formulierung »Das war der An­fang« für eine Identifikation des selbsterlebten Geschichtsausschnitts mit der Totalität des Geschehens: Eines Tages wurde [mein Junge] gefragt auf der Straße von Spielgefährten: »Männli, bist Du Jude?« (weil er braune Haare und Augen hat gegen die meist blonden Kin­der). Er darauf: »Nein, bin ein Jung!« Das war der Anfang der Hit­lerzeit. Ganz ähnlich eine Gymnasiallehrerin bei der Schilde­rung des Kriegsendes: Das Geknatter und Fahrzeuge kommen immer näher. Man hört Schritte durch den Keller­ gang kommen: Es erscheinen mit vorgehaltenen, schussberei­ten Gewehren die fremden, feindlichen Soldaten: »Deutsche Soldat da? Deut­sche Soldat da?« fragen sie. (…) Das Unfassbare war Wirklichkeit geworden: Die fremden Mächte hatten deutschen Boden besetzt. Neben solchem Ineinssetzen des miterlebten Einzelnen mit dem Gan­zen eines historischen Ablaufs stößt man auf das Aufsuchen symbol­trächtiger Einzelheiten der eigenen Lebensgeschichte, von Biographieaspekten, die für die großen Themen der Epoche transparent sind. So hebt ein Arzt die Tatsache hervor, dass das Sanatorium, in dem er nach 1945 arbeitete, davor eine Kaserne war und nachher wieder zur Kaserne wurde – in der Geschichte seines Arbeitsplatzes stellt er deut­sche Geschichte dar. Ein anderer Autor der Abiturgruppe, ein

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Bade­ner, nimmt Bezug auf den Anlass des Schreibaufrufs, das 25jährige Be­stehen BadenWürttembergs, und präsentiert in der Schlusspassage seiner Lebensgeschichte seine Ehe als »Südweststaat im Kleinen«: Zur Abrundung des Gesamtbildes ist festzustellen, dass ich (…) wieder gehei­ratet habe und zwar eine echte Schwäbin aus Reutlingen. Wir verstehen uns ausgezeichnet und das Zusammenleben ist ein Genuss. Zu Symboltatsachen dieser Art kommen in den Texten der Abiturgruppe Symbolszenen, in denen das Einzelne mit literarischen Mitteln als Erscheinung eines tieferliegenden Sinns gestaltet wird. So etwa, wenn das Erlebnis des Kriegsbeginns 1914 in eine Szene gefasst wird, in der unter anderem »schwül drückende Wolken« eine »unheilschwangere At­mosphäre« verbreiten, oder wenn die Situation des Kriegsendes 1918 in einer »Wir warten« überschriebenen Episode folgendermaßen dar­gestellt wird: Der Wartesaal riecht nach kaltem Raum und Karbolineum. Unter einem Emaille­schirm, der so mit Staub bedeckt ist, dass man sein einstiges Weiß nicht mehr er­kennen kann, verbreitet eine elektrische Birne ein schwaches Licht. Es ist kalt und nass. Novemberwetter. Dann kommt der Vater mit dem Zug aus dem Krieg zurück, die Wartenden freuen sich. »Über allem aber liegt doch ein grauer Schleier der Enttäuschung über den verlorenen Krieg.« Hier wird das sinnliche Einzelne in seiner Unmittelbarkeit zum Träger einer übergeordneten Bedeutung: Individuelles und Allgemeines sind zumindest tendenziell in einer dritten Dimension aufgehoben, die Ge­org Lukács im Anschluß an Hegels Ästhetik als die der »Besonder­heit« bezeichnet hat (vgl. Lukács 1969). Damit berühren diese Szenen die Grenze zur fiktionalen Literatur. Aber dies eben nicht einfach deshalb, weil die AutobiographInnen der Abiturgruppe eine größere »Lust zum Fabu­lieren« hätten oder geübter im Gestalten wären als die AutorInnen der Volksschulgruppe, sondern weil sie, obwohl selbst auch nur schlecht­platzierte Zeugen und Objekte der großen Geschichte, den Anspruch haben, diese Geschichte in ihrer Lebensgeschichte verkörpert zu se­hen. Lebensweise, Schreibweise

Vierundsiebzig Kurzautobiographien, einem einzelnen Schreibaufruf entnommen, können kein repräsentatives Bild der autobiographischen Kultur der sozialen Gruppen liefern, denen sie entstammen. Doch ist es zweifel­los auffallend, wie deutlich sich bei diesem relativ kleinen Textsample, in dem Besonderheiten der Einzeltexte noch stark zu Buche schlagen, die Darstellungsmuster der Untersuchungsgruppen unterscheiden. Diese gravierenden Differenzen, die den Gegensatz von klassisch-­bürgerlicher Autobiographie und »klassischer« Arbeiterautobiographie überlebt haben, haben ihren Konstitutionsgrund offensichtlich nicht

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in der Polarisierung zweier politischer Kulturen, eines bürgerli­chen und eines proletarischsozialistischen Lagers, sondern in Unter­schieden des soziokulturellen »Habitus«, die wiederum mit solchen der Lebensweise zusammenhängen. Dabei, diese methodische Anmerkung sollte abschließend doch noch gemacht werden, sind Lebens- und Schreibweise sicherlich nicht als homolog, sondern als miteinander vermittelt zu denken. Die Darstellung der eigenen Individualität etwa, die im Vordergrund die­ser Untersuchung stand, ist nicht als planes Abbild der wirklichen Rolle von Ichsein und Ichentwicklung im Leben des Biographieträ­gers, ja noch nicht einmal als pars pro toto seines Individualitätsbe­wusstseins anzusehen. Lebens- und Denkweise allgemein werden vielmehr gebrochen durch die spezifischen Strukturen und das heißt auch Traditionen des Handlungsfelds »autobiographisches Schreiben« – ein Faktum, das den meisten Interpreten theoretisch wohl klar ist, praktisch aber doch gerne vernachlässigt wird. Wenn Georg Bollen­beck (1976, 135) die Tatsache, dass in der Autobiographie des Arbeiters Carl Fi­scher dessen individuelle Bedürfnisse und dessen Innenleben kaum zur Sprache kommen, aus der »proletarischen Lebensweise« erklärt, »die mit ihrer Arbeitshetze und Daseinsnot gepflegte Seelenschau nicht zuließ«, so steht das im Widerspruch zu der gleich darauf zitier­ten Aussage Fischers: »Als Arbeiter habe ich mit Fleiß von meinen in­neren Zuständen nicht gesprochen, weil ich nur ganz allein meine Ar­beit beschreiben wollte; denn zwei Arbeiten auf einmal auszuführen, das gerät mir nicht (…)« (Bollenbeck 1976, 135). Und gewiss trifft es etwas ganz Wesentliches, wenn Mutschler (1985, 124) in ihrer Arbeit über Kindheitserinnerungen von Dör­flerInnen schreibt, »Nachdenken über die eigene Persönlichkeitsent­ wicklung« sei »ein Bildungsprivileg«. Doch es ist nicht ausgeschlos­sen, dass z. B. die Arbeit an einem autobiographischen Text – mehr vielleicht als ein relativ kurzes Interview – bisher eher latente Selbstre­flexion nach außen holt (vgl. Warneken 1985, 41‑43); wo dies nicht geschieht, kann – wie bei Carl Fischer – auch eine Prioritäten setzende Schreibstrategie beteiligt sein. Und wenn z. B. ein Autor der Volksschulgruppe am Schluss seines Le­bens­ berichts die Befürchtung ausspricht, dass »dem ganzen Schrieb zuviel Persönliches anhaftet«, deutet das darauf hin, dass bei der Ent­scheidung von Unterschichtangehörigen, nicht so viel von innerem Er­leben, sondern mehr von Miterlebtem zu berichten, wieder die ein­ gangs konstatierte Selbstbeschränkung des eigenen Äußerungsrechts im Spiel ist. Man muss ja nicht Adorno (1958, 63) gelesen haben, um zu wissen, dass »Erzählen heißt (…): etwas Besonderes zu sagen haben«, und dass auch die Konstitutionsgeschichte des eigenen Ich ein erzählens­wertes Besonderes sei, ist in der »Abiturgruppe« der Gesellschaft eben selbstverständlicher als in der »Volksschulgruppe«. Wenn sie das gesellschaftliche Interesse an den lebensgeschichtlichen Erfahrungen der unteren Sozialschichten nachdrücklich genug vertreten, können sicher auch sozialhistorische und kulturwissenschaftliche Feldfor­ schung dazu beitragen, dass sich an dieser ungleichen Verteilung auto­biographischen SelbstBewusstseins etwas ändert.

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Anmerkungen 1 So der Titel einer Dissertation von Petra Frerichs (o. J.). 2 Vgl. neben Frerichs (o. J.) unter anderem Münchow (1973) und Bollenbeck (1976). 3 Die 1955 entstandene Studie von Schatzman und Strauss zur Verschieden­heit von Unter- und Mittel­ klassen­erzählungen über eine Tornadokatastro­phe ist zwar auch in der hiesigen Erzählforschung zur Kenntnis genommen worden, vergleichbare Unter­suchungen für das Gebiet der mündlichen Au­to­ biographik entstanden aber meines Wissens nicht. Vgl. Schatzman/Strauss (1955). 4 Eingesandt wurden insgesamt etwa 2000 Texte von – nach eigener Zählung – 1469 AutorInnen, davon ca. 55 Prozent Frauen und 45 Prozent Männer. Weitere Angaben zu diesem Schreibaufruf bei War­ neken (1985, 84‑87). 5 Die Auswahl der beiden Textgruppen erfolgte so, dass zunächst aus den im Haupt­staats­archiv Stutt­ gart lagernden Einsendungen solche Manuskripte aussortiert wurden, die sich durch Titelgebung, Einleitungs- oder Schlusspassagen als lebensgeschicht­liche Darstellungen zu erkennen gaben. Deren AutorInnen wurde, sofern ihre Adresse angegeben war, ein Fragebogen zur Person geschickt. In das auszuwertende Sample wurden zunächst die Texte derjenigen Antwortenden aufgenommen, die bei dieser Befragung Volksschul- oder Abitursabschluss angegeben hatten. Um relativ homo­gene Gruppen zu erhalten, wurden davon alle diejenigen ausgeschieden, deren Verfasser­Innen Flüchtlinge waren; bei den Autoren der Volksschul­gruppe wurden dann nur Industriearbeiter, bei den Autorinnen dieser Gruppe nur Arbeiterinnen, Arbeiterfrauen und Angestellte (vor allem Verkäu­ferinnen, Büro- und Hausangestellte) berücksichtigt, bäuerliche und selb­ständige Berufe also ausgeklammert. Das durchschnittliche Geburtsjahr bei Volksschul- und Abiturgruppe ist 1904, vertreten sind Angehörige der Jahrgänge 1890 bis 1915. 6 Die Seite ist mit 2400 Zeichen gerechnet. Im Schreibaufruf war um Texte von bis zu zehn Seiten Umfang gebeten worden. 7 Eigene Recherchen bei TeilnehmerInnen verschiedener Schreibwettbe­werbe für ältere MitbürgerInnen, die Mitte der 70er bis Anfang der 80er Jahre durchgeführt wurden, ergaben für die Personen mit Volksschulab­schluss einen Anteil von 29 Prozent bis 54 Prozent. Nach dem Statistischen Jahrbuch von 1979 hatten 1978 85 Prozent der Bundesdeutschen über 60 Jahre einen Volks­schulabschluss. 15 Prozent bis 32 Prozent der Einsendungen stammten von AutorIn­nen mit Abiturabschluss, den damals nur 4,5 Prozent dieser Altersgruppe hatten (Warneken 1985, 23‑26). Die Beteiligungsquoten unterer Bildungsschichten waren also deutlich geringer, wenn auch keineswegs verschwindend klein. 8 Yves Lequin und Jean Metral (1980, 253), denen bei mündlichen Lebenserzählungen französischer Arbeiter die Knappheit und Bruchstückhaftigkeit des Berich­teten auffiel, sehen in dieser Äußerungs­ weise ebenfalls eine Folge des »sehr unterentwickelten Selbst-Bewusstseins (…) der Volkskultur«. 9 Vgl. zu diesem Problem ausführlicher Osterland (1978). 10 Zur besonderen Bedeutung solcher Episodenerzählungen vgl. Schulze (1979, 60 ff.). 11 Das passt zu den bilanzierenden Schlusspassagen der Texte, wo die Auto­rInnen der Volksschulgruppe eher auf Fragen des materiellen Standards und des Behauptens oder Erreichens eines zufriedenstellenden sozialen Status, auf Not und Mühe abheben als die der Abiturgruppe. Von arbeits- ­und mühevollem Leben sprechen 17 Prozent vs. 4 Prozent bei der Abiturgruppe, da­von, dass man durch diese Arbeit etwas erreicht habe, 15 Prozent vs. 4 Prozent, und die heutige Zufriedenheit mit dem materiell und sozial Erreichten betonen 26 Prozent vs. 7 Prozent. 12 In der – nicht zum Sample gehörigen – Lebensgeschichte eines 1893 ge­borenen Stutt­garter Arbeiters wird das hier wirksame autobiographische Prinzip mit dem Satz expliziert: »Einmal gut gelebt, gedenkt man immer« (Hagenbuch o. J., 5).

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13 Zu diesem Befund stimmen auch Unterschiede in der Titelgebung der Tex­te: Bei den AutorInnen der Volks­schulgruppe überwiegen Titel wie »Mein Leben«, »Aus meinem Leben«, »Das war mein Leben«, «So war es«, wogegen von der Abiturgruppe häufiger Titel wie »Impressionen 1914–1965« oder »Mein Erleben« gewählt werden. 14 Schon eine grobe Analyse der Gesamttexte ergibt, dass sie nicht durchgän­gig der Individuationsper­ s­pektive gehorchen. Andererseits findet eine sol­che sich nicht nur in den hier vorgestellten »Szenen«, sondern auch in den Berichtsteilen der Texte; in einigen Fällen verweisen auch Titel bzw. Kapi­tel­ über­schriften (wie »Wende­punkte« oder »Erste Begegnung mit der Po­litik«) auf die Perspektive Ich­ entwicklung. 15 Neumann meint, die »Konzeption der Autobiographie als Bildungsge­schichte einer Individualität« sei »unlösbar verknüpft mit der vorindustriel­len bürgerlichen Gesell­schaft« (Neumann 1970, 188). Danach ent­stehe mit dem »außen-geleiteten« Charakter ein bloßer Rollenspieler, was »die Autobiographie als Geschichte der Entwicklung einer Individualität unmöglich« mache (ebd., 189). 16 Die Ausnahmen bilden die Lebensgeschichte einer Verkäuferin, die mehrmals ihre frühere Schüch­ ternheit und heutige Selbständigkeit hervor­hebt, und in gewisser Weise auch die eines Handwerkers, der sein Selbst­bewusstsein als durch mehrmalige ungerechte Beurteilung seiner berufli­chen Leistungen gebrochen bezeichnet. 17 So Schütze (1984, 82). Schütze amplifiziert den Begriff »Veränderungen des Selbst« kurz danach zu »Auswir­kung [des] Erlebens auf die lnnenwelt des eigenen Selbst«. 18 »Mein Vater war wohl hochgeboren, aber nicht Hochwohlgeboren. Als Sohn eines Turmwächters wurde er auf dem Hochwachturm in Kirchheim u. Teck geboren« (Arbeiter). 19 »Irdische Güter wurden mir nicht in die Wiege gelegt. Doch was heißt Wie­ge, es war eine Eierkiste, hübsch innen und außen mit Stoff bezogen. Woher sollte meine Mutter, die schon ein Kind hatte, einen Bullen, eine richtige Wiege herzaubern, hatte sie doch gerade das Allernötigste, was ein Mensch zum Leben braucht« (Büroangestellte). 20 »Ich muss eine verwunschene Prinzessin sein, denn in der Nacht, in der ich geboren wurde, wurde überall in Europa Salut geschossen.« So habe es je­denfalls die Mutter geträumt. »Das vermeintliche Schießen war (…) nichts anderes als das Klopfen meines Vaters an der Tür und an den Fenstern. (…) Er war aus dem Krieg nach Hause in Urlaub gekommen« (Büroangestell­te, dieselbe Autorin wie in Anmerkung 19). 21 Ebd. 22 Wie oft dies in den Texten geschieht und ob es, wie vermutbar, seltener praktiziert wird als in älteren oder neueren Autobiographien politisch täti­ger Arbeiter, wäre eine wichtige Frage, der nachzugehen aber den Rahmen dieser Untersuchung überschritt. 23 Solche Erlebnisse – ein Gottesdienst, bei dem auch Kaiser Wilhelm II. an­wesend war, eine Be­geg­ nung mit Einstein, usw. – finden sich bei der Abiturgruppe ebenfalls häufiger als bei der Volks­schul­ gruppe, doch hat dies sicher mehr mit Unterschieden der Lebensgeschichte als solchen der Le­bens­ geschichtsschreibung zu tun.

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Literatur Adorno, Theodor W. (1958): Standort des Erzählers im zeitgenössischen Ro­man. In: Ders.: Noten zur Literatur 1. Frankfurt am Main, 61‑72. Bollenbeck, Georg (1976): Zur Theorie und Ge­schichte der frühen Arbeiterlebenserinnerungen. Kron­ berg/Ts. Bourdieu, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main. Emmerich, Wolfgang (1987): Rekonstruktion oder Konstrukt? Kindheiten um 1900, dargestellt in bürger­ lichen und proletarischen Autobiographien. In: Konrad Köstlin (Hg.): Kinderkultur. 25. Deutscher Volkskundekon­gress in Bremen vom 7. bis 12. Oktober 1985. Bremen, 29‑40. Frerichs, Petra (o. J. [1981]): Bürgerliche Autobiographie und proletarische Selbstdarstellung. Frankfurt am Main. Hagenbuch, Ernst (o. J. [1981]): Ein Arbeiter-Leben. Masch. vervielf. Ms. O. O. [Stuttgart]. Le­quin, Yves/Jean Metral (1980): Auf der Suche nach dem kollektiven Gedächtnis. Die Rentner der Metallindustrie von Givors. In: Lutz Niethammer (Hg.): Le­benserfahrung und kollektives Gedächtnis. Die Praxis der »Oral History«. Frankfurt am Main, 249‑271. Lukács, Georg (1969): Über die Besonderheit als Kategorie der Ästhetik. In: Ders.: Probleme der Ästhetik. Neuwied/Berlin, 539‑786. Münchow, Ursula (1973): Frühe deutsche Arbeiterautob­iographien. Berlin (DDR). Mutschler, Susanne (1985): Ländliche Kindheit in Lebenserinnerungen. Familien- und Kinderleben in einem württembergischen Arbeiterbauern­dorf an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Tübingen. Neumann, Bernd (1970): Identität und Rollenzwang. Zur Theorie der Auto­biographie. Frankfurt am Main. Osterland, Martin (1978): Lebensbilanzen und Lebensperspektiven von Industriearbeitern. In: Martin Kohli (Hg.): Soziologie des Lebenslaufs. Darmstadt/Neuwied, 272‑290. Schatzman, Leonard/An­selm Strauss (1955): Social Class and Modes of Communication. In: The Ameri­ can Journal of Sociology LX, 329‑338. Schütze, Fritz (1984): Kognitive Figuren des autobiographischen Stegreiferzäh­lens. In: Martin Kohli/ Günther Robert (Hg.): Biographie und soziale Wirklichkeit. Neue Beiträge und Forschungsperspektiven. Stuttgart, 78‑117. Schulze, Theodor (1979): Autobiographie und Lebensgeschichte. In: Dieter Baacke/Theo­dor Schulze (Hg.): Aus Geschichten lernen. Zur Einübung pädagogischen Verstehens. München, 51‑98. Sloterdijk, Peter (1978): Literatur und Organisation von Lebenserfahrung. Autobiographien der Zwanziger Jahre. München. Warneken, Bernd Jürgen (1985): Populare Autobiographik. Empirische Studien zu einer Quellengattung der Alltagsgeschichtsforschung. Tübingen.

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Schreibkulturen Von den unterschiedlichen Schreiberfahrungen in der älteren Generation

Das Ausmaß, in dem untere Bildungs- und Sozialschichten schreiben konnten und geschrieben haben, ist lange Zeit unterschätzt worden: Nicht nur Desinteresse, sondern auch die Erwartung, dass die Suche nach Zeugnissen der »popularen Schreibkultur«1 allzu mühsam und unergiebig sein dürfte, führten zu nur punktuellen Bestandsprüfungen und Sammelanstrengungen. Etwa seit Anfang der achtziger Jahre ist das Bild von der weitgehenden »Schriftlosigkeit des Volkes«, das ab und zu zwar unterschrieben, aber kaum etwas niedergeschrieben habe, mehr und mehr revidiert worden. Sozialhistorische und volkskundliche Projekte zur Arbeits- und Lebensweise der Landbevölkerung konnten unerwartet große Bestände von bäuerlichen und handwerklichen Arbeits-, Kunden-, Rechnungs- und Tagebüchern aus der Frühen Neuzeit und vor allem dem 19. Jahrhundert sichern – Zeugnisse einer Veralltäglichung der Schreibpraxis, die durch die allmähliche Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht ermöglicht und die Modernisierung sowie die zunehmende Marktvermitteltheit der handwerklichen und der agrarischen Produktion notwendig wurde (vgl. u.a Hopf-Droste 1981; Ottenjann/Wiegelmann 1982; Peters/Harnisch/Enders 1989). Ebenso fand die Briefpraxis unterer Sozialschichten in den letzten Jahren größere Beachtung. Dabei wurde deutlich, dass nicht nur die Ausnahmesituation der Auswanderung (vgl. u. a. Mesenhöller 1985), sondern auch die im 19. Jahrhundert sich verstärkende Binnenmobilität – in Verbindung mit einem verbesserten Postwesen – nicht selten von Familie und Freundeskreis weggezogene oder momentan getrennte Lehrlinge, Handwerksgesellen, Arbeiter, Dienstboten zur Feder greifen ließ – ganz zu schweigen von der Brief- und Postkartenflut in den Kriegsjahren 1870/71 und vor allem 1914–18 (vgl. dazu u. a. Schober 1987). Das verstärkte Interesse an Alltagskultur und Mentalität unterer Sozialschichten lenkte den Blick zudem auf die Tatsache, dass die fortschreitende »Verstaatlichung« der Gesellschaft v. a. im 19. Jahrhundert einen wachsenden Briefverkehr auch zwischen Unterschichtlern und Behörden mit sich brachte: Heirats- und Anstellungsgesuche, Bittschriften, Beschwerde- und Dankbriefe, Eingaben in Steuer- und Strafsachen (vgl. Grosse u. a. 1989). Die Hinwendung zu einer »Geschichtsschreibung von unten« führte außerdem zu der Entdeckung, dass für das 19. und insbesondere 20. Jahrhundert über die bekannten Beispiele von Unterschichts-, insbesondere Arbeitermemoiren hinaus noch erhebliche Bestände an »popularer Autobiographik« (vgl. Warneken 1985; Bergmann 1991) existieren, die von der Forschung bisher nicht erschlossen wurden. An Schreibaufrufen, die Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre zur Niederschrift bzw. Einsendung von Lebenserinnerungen aufforderten, beteiligten sich auch zahlreiche MitbürgerInnen unterer Bildungsgruppen

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mit Volksschulbildung. Von den TeilnehmerInnen mehrmaliger Schreibwettbewerbe einer Volkshochschule hatten etwa 29 Prozent, von denen eines Fernsehaufrufs etwa 36 Prozent einen Volksschulabschluss (vgl. Warneken 1985, 23‑26). Bei einer Umfrage des Tübinger Ludwig-Uhland-Instituts unter EinsenderInnen zu solchen Schreibaufrufen ergab sich zudem ein erheblicher Prozentsatz von Gelegenheitsautoren der unteren Sozialschichten, die sich auch schon in literarischen Genres wie z. B. Gedicht, Kurzgeschichte, Theaterstück und Roman versucht hatten (vgl. ebd., 137‑140). Selbst wenn die bisher gewonnenen Einblicke in das populare Schreiben noch äuß­erst lückenhaft sind, lässt sich also doch behaupten, dass die Barriere zwischen Volkskultur und Schreibkultur in der Stadt sowie auf dem Land schon im 18. Jahrhundert niedriger war als lange Zeit angenommen (vgl. Ziessow 1988) und dass die seitherige Entwicklung zu einer Vermehrung der Schreibanlässe und Schreibgenres auch in den unteren Bildungs- und Sozialschichten geführt hat. Doch so nötig es angesichts einer noch immer ganz ungenügenden Sammel- und vor allem Auswertungsarbeit bleibt, auf diese Tatsache hinzuweisen, so voreilig wäre es anzunehmen, die Schreibpraxis der verschiedenen Sozialgruppen habe sich im Laufe der Zeit quantitativ oder gar ihren qualitativen Merkmalen nach nivelliert. Erhebungen zur Brief- und Tagebuchpraxis z. B. zeigen auch für die jüngere Vergangenheit noch erhebliche soziale Unterschiede (vgl. Warneken 1985, v. a. 15 und 19). Auch die auf den ersten Blick beachtliche Zahl von 30‑35 Prozent AutorInnen mit Volksschulabschluss, die sich an den genannten Schreibaufrufen beteiligt haben, relativiert sich angesichts der Tatsache, dass der Anteil dieser Bildungsgruppe unter den über 60jährigen damals 85 Prozent betrug; sie ist bei den Einsendungen also fast dreifach unterrepräsentiert. Auszugehen ist zudem von erheblichen Schicht- und Geschlechtsunterschieden bei den Schreibgenres, -inhalten und -stilen sowie den Schreibadressaten und -funktionen. Die Kluft zwischen legitimer und popularer Kultur ist durch die Ausbreitung der Schreibkultur nicht geschlossen worden, sondern teilt diese in verschiedene Schreibkulturen, die zudem nicht nebeneinanderstehen, sondern – auch der Selbsteinschätzung der Schreibenden nach – in vielen Aspekten hierarchisch geordnet sind. Hier ist also wieder einmal der »Fahrstuhl-Effekt« zu konstatieren, bei dem soziale und kulturelle Unterschiede einige Etagen höher gefahren, aber keineswegs aufgehoben wurden (vgl. Beck 1986, 122). Im Folgenden wird nun versucht, etwas von den Eigenheiten dieser »Schreibkulturen in der Schreibkultur« zutage zu fördern, wobei neben der Frage der Schichtspezifika gleichrangig die der Geschlechterunterschiede berücksichtigt werden soll. Den Untersuchungsgegenstand bilden Schreiberfahrungen älterer Hobby- oder GelegenheitsautorInnen, die zum größten Teil noch in der Kaiserzeit eingeschult wurden; das untersuchte Material besteht aus Einsendungen zu einem 1981/82 ergangenen Schreibaufruf des Ludwig-Uhland-In­ stituts der Universität Tübingen. Dieser richtete sich an damals über 60jährige Frauen und Männer, die sich zuvor schon an Aufrufen zur Einsendung von Erinnerungstexten beteiligt hatten,2 und erbat von ihnen Niederschriften zum Thema »Meine Erlebnisse mit dem Schreiben« (vgl. Warneken 1987).3 Von den 329 Angeschriebenen schickten 166 (86 Frau-

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en und 80 Männer) einen solchen schreibbiographischen Bericht; die Textumfänge reichten von einer halben Seite bis zu 70 Seiten, im Durchschnitt waren die Berichte dreieinhalb Seiten lang.4 Geboren sind die EinsenderInnen zwischen 1893 und 1921, ihr »durchschnitt­lich­es Ge­­ burts­jahr« ist 1909. 64 der EinsenderInnen hatten Volksschulabschluss (im »Autorensteckbrief« unter den Textauszügen als »V« vermerkt), 77 hatten die Mittlere Reife (M) oder vergleichbare Abschlüsse, 25 das Abitur (A).5 Die Einsendungen der beiden erstgenannten Gruppen repräsentieren dabei, insofern sie weder von professionellen AutorInnen noch von Angehörigen der Intelligenzschicht stammen, das mit »populare Schreibkultur« bezeichnete Spektrum; die Texte der Abiturgruppe dienen vor allem als Vergleichsgröße, vor der sich Merkmale dieses popularen Schreibens deutlicher konturieren.6 Es braucht wohl kaum darauf hingewiesen werden, dass die hier praktizierte Einordnung der AutorInnen in drei soziale, genauer gesagt Bildungsgruppen natürlich stark vereinfachenden Charakter hat, da sie sich nur auf das eine – wenn auch wesentliche – Merkmal Schulabschluss bezieht. Eine stärker differenzierende und z. B. die Berufsausbildung, die ausgeübten Berufe sowie Daten über die Eltern der AutorInnen einbeziehende Darstellung hätte jedoch das Sample in zu viele kleine Untergruppen, ja in Einzelfälle zersplittert. Ohnehin ist die Anzahl der Aussagen zu bestimmten Einzelthemen oftmals gering;7 es bedürfte noch breiter angelegter Erhebungen, um zu klären, ob die hier beobachteten Gruppen- und Geschlechterunterschiede für GelegenheitsautorInnen dieses Alters und dieser Bildungsgrade tatsächlich typisch sind. Die Untersuchung hat somit den Charakter einer vorsichtigen Annäherung an ein noch weitgehend unbekanntes Terrain. Schreibenlernen

Einen wesentlichen Teil der »Schreiberlebnisse« nehmen Berichte vom Schreibenlernen in der Schule ein. Manifest im Wortsinne von handgreiflich wird diese Initiation in eine bis dahin fremde Kultursphäre durch die Inbesitznahme von Schreibutensilien wie Schiefertafel oder Griffelkasten, die in den Erinnerungen denn auch immer wieder geschildert wird. Wirklich nahe kam man der Schreibkultur der Erwachsenen freilich erst mit der Benutzung von Tinte und Papier. Ein Autor beschreibt die Austeilung dieser Kulturgeräte ganz ausdrücklich als kultischen Akt – er vergleicht den Vorgang mit dem Abendmahl: Nach langer, langer Zeit und gewichtiger Ankündigung mussten wir einen Federhalter und eine ›Bremer Börsenfeder EF‹ mitbringen. Wie bei der Austeilung des Abendmahles am Konfirmationstag, so feierlich ging der Lehrer mit einem Tablett, das nach drei Seiten mit einem Rand aus Latten umgrenzt war, durch die Bankreihen und teilte die Tintentöpfe aus, die sogleich aus dem Loch, das in der Bank auf jedem Platz wartete, in Sicherheit gebracht werden mussten. (Pfarrer, geb. 1912, A)8

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Sehr deutlich wird aus den Berichten, dass beim Schreibenlernen nicht nur eine einzelne »Kulturtechnik« eingeübt wurde, sondern ein ganzer Komplex von Verhaltensweisen mitzulernen war: Ausdauer zum Beispiel und »Frustrationstoleranz« beim wiederholten Versuch korrekter Buchstabenformung, die »richtige« Sitzhaltung und die »richtige« Fingerhaltung, aber auch Sauberkeit sowie sparsamer und pfleglicher Umgang mit Gebrauchsdingen. Als Gefahren lauerten der Klecks, die zerbrochene Schiefertafel, das Eselsohr im Schreibheft. Die Schreibdisziplin ist ein Modell für Sozialdisziplinierung insgesamt.9 Zahlreiche Erinnerungstexte berichten von dabei geschlagenen Wunden, die teilweise bis heute nicht verheilt sind: Während einer Schönschreibstunde mit unserem alten Lehrer, bei dem ich mich bis dahin meines Wissens nie unbeliebt gemacht hatte, geschah folgendes. Als er bei einem Kon­ troll­gang bemerkte, dass ich, einer sicher nicht guten Angewohnheit folgend, ab- und wieder ansetzte, blieb er neben mir stehen, gab mir bei jedem Absetzen einen Schlag mit dem Rohrstock auf den rechten Oberarm und forderte mich zum ›Weiterschreiben‹ auf. Die bei mir erzielte Wirkung war allerdings für ihn negativer Art insofern, dass ich das Schreiben ganz einstellte. Erst als er seinen Marsch fortsetzte, schrieb ich so weiter, wie ich es auch heute noch tue, nämlich mit gelegentlichen Unterbrechungen in längeren Wörtern. Vielleicht bin ich durch diese Behandlung sogar zu einer Art Schreibmuffel geworden. Ich schreibe sehr ungern lange Briefe und bewundere Leute, die dieses oft und gerne tun. (Dreher und Kontrolleur, geb. 1911, V) In etwa 35 Prozent der Schulerzählungen wird über Mühe und Angst beim Schreibenlernen berichtet, und fast jede/r Dritte berichtet von strengen, teilweise prügelnden Lehrern, wobei Männer dies mit 47 Prozent weit häufiger tun als Frauen mit nur etwa 13 Prozent. Positiv bewertet wird diese »Schreibzucht« vor allem von AutorInnen mit Volksschulabschluss: Ich habe wie damals in der Schule üblich schönschreiben lernen müssen. Für Schul­arbeiten hatte ich wegen Schlag- und Fußballspielen nie viel Zeit. Da gab es morgens meist erst Prügel mit dem Reetstock. Aber dieser strengen Schulerziehung habe ich es zu verdanken, dass ich wenigstens das notwendigste lernte. (Arbeiter, Straßenbahner, Postfacharbeiter, geb. 1899, V) Mit deutlich kritischem Akzent schildern von der Volksschulgruppe nur einer, von der Mittlere-Reife-Gruppe drei und der Abiturgruppe vier AutorInnen autoritäre Formen des Schreibunterrichts: Eine wahre Freude war das Schreibenlernen mit 5 ½ Jahren nicht gerade, vielmehr war es durch die gestrenge Frau Mama, die die Schularbeiten genau kontrollierte und auf das Schönschreiben besonderen Wert legte, mehr oder weniger eine Qual. (…) Zuerst schrieben wir auf der üblichen Schiefertafel mit dem ständig abbrechenden oder stump-

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fen Griffel, wobei man durch die ›Hilfe‹ des seitlichen Aufpassers mehr schwitzte als malte. Schwupp, hatte ich eins hinter den Ohren oder es gab ›Maulschellen aus der kalten La-main‹, wie man zu Hause zu sagen pflegte und womit die unvorhergesehene, ruckartige Bewegung mit kurzem Arm und langer Hand gemeint ist, wenn ich mal wieder das vierteilige Linienband überkritzelt oder die Worte nicht exakt genug, vielleicht sogar falsch geschrieben hatte. (Tierarzt, geb. 1913, A) Ein ehemaliger Volksschulrektor sieht den Schreibunterricht seiner Kindheitsepoche ausdrücklich als pars pro toto einer gegen »krumme Touren« aller Art gerichteten Ordnungserziehung: Schönschreiben war einst ein eigenes Unterrichtsfach mit Zeugnisbenotung. Diese Stun­ den waren in besonderer Weise einbezogen in die erzieherischen Gepflogenheiten jener Zeit. Es handelte sich eben um festgelegte Normen, die der Schüler (an-)erkennend nachgestalten musste, und zwar peinlich genau, ohne ›krumme Touren‹. Alle Ab­wärts­striche mussten durch Druck verstärkt werden; die Rechtsneigung war ebenfalls genau vorgeschrieben. Wohl herrschte eine gewisse – leistungsfördernde – Ruhe bei diesen Übung­ en, aber ›Zucht und Ordnung‹ war als Erziehungsgrundsatz auch hier allgegenwärtig. (Volksschulrektor, geb. 1899, A) Von Widerständen gegen die schulischen Schreibvorschriften ist ebenfalls eher bei Autor­ Innen mit höherem Schulabschluss die Rede, und sie werden hier nicht reuevoll, sondern mit Stolz auf das eigene Individualitätsstreben berichtet: Zwang lag mir von vornherein nicht, er beengte meine ›künstlerische‹ Entfaltung und so entstanden, sehr frei gestaltete, abstrakte Buchstabengebilde, die keineswegs immer der schulischen Norm entsprachen. (Drogist, geb. 1908, M) Bei den AutorInnen mit Volksschulabschluss findet sich eine ähnliche Abweich-Ge­sch­ich­ te nur einmal, und sie endet mit einer Rückkehr zur Norm: Etwas Langweiligeres (als die Schönschreibstunde, B. J. W.) konnte ich mir kaum denken. Jeder einzelne Buchstabe musste wie gestochen schön in das Heft eingezeichnet werden. Es durfte nicht die geringste Spur von den auf jeder neuen Seite vorgedruckten Beispielen abgewichen werden. Mustergültig ordentlich und sauber mussten ›alle‹ darin enthaltenen Aufgaben eingetragen sein. Diktat und Schönschreibhefte wurden dann zur Schulprüfung, die einmal im Jahr stattfand, von den Eltern, die dazu eingeladen wurden, kontrolliert. Natürlich war mit meinen Schreibheften kein Lob zu ernten. Und als die Lehrerin mich eines Tages dabei ertappte, dass ich sogar in dem ›künstlerisch‹ so bedeutungsvollen Schönschreibheft respektlos selbsterfundene Sätze niederschrieb, setzte es eine so kräftige Ohrfeige, dass ich hinterher eine knallrote, leicht geschwollene Backe

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hatte. (…) Von meiner eigenwilligen ›Schreiberei‹ war ich vorläufig kuriert. Ich bemühte mich sehr, genau die Anweisungen der Lehrerin zu befolgen, aber eine lobenswerte ›Schönschrift‹ schaffte ich nie. (Hausfrau, geb. 1914, V) Das Schönschreiben, das im Schulunterricht der hier zur Debatte stehenden Zeitraums (ca. 1900–1925) noch eine wesentliche – wenngleich abnehmende – Rolle spielte, erforderte Tugenden, die denen des Handarbeitsunterrichts verwandt waren: Es ging um das Erfüllen einer vorgegebenen Norm, individuelle Nuancen galten meist nicht als erstrebenswert, sondern als Fehler. In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass AutorInnen mit Volksschul- und Mittelschulabschluss eher auf ihre Leistungen im Schönschreiben zu sprechen kommen als solche mit Abiturabschluss, wobei Männer dreimal häufiger als Frauen, und zwar meist nicht sehr geknickt, erwähnen, dass sie keine schöne Schrift gehabt hätten. Distanzierte bis kritische Äußerungen über die Schönschreib-Pflicht finden sich eher bei den AutorInnen mit höherem Schulabschluss: Ich nahm auch brav den Griffel in die rechte Hand, übte auf der Schiefertafel die feinen Auf- und die dicken Abstriche. Abstriche brauchte mir der Lehrer nur in Bezug auf die Schönheit meiner Schreibung zu machen, ›recht‹ war sie meistens. Recht waren den Lehrern auch meine Aufsätze und Übersetzungen. (Hausfrau, geb. 1914, A) Das Selbstbewusstsein der höheren Bildungsgruppen macht sich weit weniger als das der Volksschulgruppe an der Fähigkeit zur Schönschrift fest. Von den AutorInnen der Abiturgruppe, die sich zum Thema Schönschreiben äußern, betonen etwa 50 Prozent, von der Mittlere-Reife-Gruppe etwa 19 Prozent und der Volksschulgruppe etwa 9 Prozent, dass sie zwar nicht besonders schön geschrieben, dafür aber die Orthografie bzw. das Aufsatzschreiben beherrscht hätten: Ich habe nie einen Aufsatz geschrieben, der schlechter als mit ›2‹ (gut) bewertet worden wäre, oft sogar bekam ich eine 1, obgleich gerade unser Deutschlehrer sehr streng zensierte. Meine von Kind an leider schlechte Handschrift wurde zwar immer wieder gerügt, schadete mir aber in ›Deutsch‹ nicht. (Musiker, Kaufmann, geb. 1911, M) Ich kann nur sagen, dass das Schönschreiben nie meine Stärke war. Diktate machten mir keine Schwierigkeiten und so fürchtete ich mich auch nie, wie andere Schüler, davor. Und Aufsätze begeisterten mich immer (…). (Druckermeister, Betriebsleiter, geb. 1912, M) Eine Autorin, die die Oberschule besuchte, erzählt sogar, dass eine Lehrerin die intellektuelle Schreibleistung ostentativ der »kunstgewerblichen« Leistung vorgezogen habe: Ich besinne mich noch gut auf eine Deutschstunde, die wir bei der Frau Direktorin hatten. Plötzlich nahm sie mein Aufsatzheft, in dem wir einen Aufsatz zu Hause vorbereitet

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hatten, von der Bank auf, hielt es hoch und zeigte es der ganzen Klasse. Die aufgeschlagene Seite zeigte nach meiner Ansicht ein ziemliches Geschmiere auf. Ich hatte ganze Sätze durchgestrichen, wieder ›rübergeschrieben‹ oder etwas an den Rand gesetzt. Die Lehrerin aber sagte: ›So muss ein Aufsatz durchgearbeitet werden.‹ (Organistin, Bücherei­ assistentin, geb. 1913, M) Der Schulaufsatz

Die Erinnerung an das Schreiben als »Handwerk« ist also öfters ambivalent bis negativ. Ganz anders beschaffen sind die Erinnerungen an den Schulaufsatz, bei dem die Pflicht zur graphischen und orthographischen Selbstdisziplin durch die Möglichkeit zum Selbstausdruck, zum Formulieren eigener Gefühle und Gedanken ergänzt, wenn nicht sogar in den Hintergrund gedrängt werden konnte. Nur wenige der AutorInnen, die ihre Schulaufsätze thematisieren, beschreiben diese als primär anstrengend oder gar qualvoll; öfters wird dagegen – auch bei der Volksschulgruppe – hervorgehoben, wie gern man Aufsätze geschrieben habe, und nicht selten werden Themen, ja sogar Aufsatzpassagen erinnert und zitiert: Für mich war (Aufsatz) ein Lieblingsfach. Da konnte man seiner Fantasie freien Lauf lassen. Das war herrlich! Themen wurden gestellt, aus dem Leben der Natur, Bildbeschrei­ bung oder nach einem Filmbesuch. (…) Wir durften einmal, natürlich geschlossen, mit der Klasse, einen Bergfilm sehen: Berg des Schicksals – darüber mussten wir einen Aufsatz in Brief-Form schreiben. So lernten wir zugleich auch einen Brief mit Adresse schreiben. Der Titel eines anderen Aufsatzes fällt mir noch ein: ›Vom Körnlein bis zum Brote‹. Mir ist aber davon nur noch etwas im Gedächtnis. – Der Acker, der umgepflügt wird, das Samenkorn, das in die vorbereitete Erde gelegt wird, der Schnee, der im Winter die Saat zudeckt und vorm Erfrieren schützt – die Ernte, bis zum Müller, der das Korn zu Mehl mahlt, und der Bäcker, der das Brot draus macht, das dann die Mutter auf den Tisch bringt, ›Ja, es ist ein weiter Weg, vom Körnchen bis zum Brote‹, so war mein Schlusssatz. (Hausfrau und Mutter, geb. 1912, V) Die beiden Aufsatzbeispiele, die hier genannt werden, passen freilich nur bedingt zur Apostrophierung des »freien Laufs der Fantasie«, mit der die Autorin ihre Aufsatzerinnerung einleitet: Es geht hier offenbar um Nacherzählungen. Ein Teil der »Schreiberlebnisse« unterscheidet solche Aufsätze mit genauen Vorgaben sehr deutlich von »freien Aufsätzen« mit eigener Themenwahl, wobei diese regelmäßig als beliebter bezeichnet werden: Geschrieben habe ich eigentlich nur Aufsätze gern, wo ich eigene Gedanken verwenden durfte, sonst hielt ich nicht viel von der Schreiberei. (Hausfrau, geb. 1915, V)

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Bald wurden auch Aufsätze, nach den üblichen langweiligen Themen verlangt, die Resul­ tate entsprachen gewöhnlich dem tristen Thema. Lichtblicke waren für mich le­diglich Aufsätze und später Vorträge mit freier Themenwahl. Das lag mir und die besseren Zen­­ suren waren ein Erfolgs-Barometer. Hier liegt sicher der Keim, der mich später zum Schrei­ben brachte. (Drogist, geb. 1908, M) Die Betonung der Freude an »eigenen Gedanken« nimmt mit höherer Schulbildung zu (16 Prozent bei der Abitur- gegenüber 6 Prozent bei der Volksschulgruppe). Dies könnte damit erklärt werden, dass in der Oberschule und zumal deren Oberstufe mehr Gelegenheit zu thematisch freierem Schreiben bestand und diese Schreiberfahrung deshalb präsenter ist. Doch darüber hinaus ist zu fragen, ob Angehörige unterer Bildungsschichten nicht überhaupt weniger Möglichkeiten hatten, Fähigkeiten und Bedürfnisse zu einem Schreiben als Medium des Selbstausdrucks, als Mittel der Äußerung eigener Ansichten und Gestaltungsideen auszubilden; bei den Befunden über das außer- und nachschulische Schreiben werden wir auf dieses Problem zurückkommen. AutorInnen aller Bildungsgruppen berichten häufig davon, dass von ihnen verfasste Aufsätze gelobt, vorgelesen, herumgereicht oder gar in der Schülerzeitung abgedruckt wurden. Bei der – weit selteneren – Schilderung von Debakeln, wo Aufsätze schlecht benotet und hart kritisiert wurden, zeigt sich dann allerdings ein deutlicher Gruppenunterschied: Autor­ Innen der Mittleren Reife- und der Abiturgruppe schreiben diese Misserfolge dem Unverständnis des jeweiligen Lehrers zu, AutorInnen der Volksschulgruppe dagegen sehen hier eigenes Unvermögen am Werk – und schildern Situationen der Ausgrenzung: Einmal sollten wir einen Aufsatz über die ›Zahnpflege‹ schreiben. Mir war nicht viel dazu eingefallen. Ich musste wohl einen sehr schlechten Satz geschrieben haben, denn er wurde vorgelesen und man lachte mich aus. Seit dieser Zeit bemühte ich mich, bessere Sätze zu schreiben, aber es gelang mir nicht immer, denn was ich abends zu Papier gebracht hatte, gefiel mir morgens manchmal nicht mehr. (Küchenhilfe, Näherin, Betreu­ erin, geb. 1915, V) Ich erinnere mich noch, wie wir in der zweiten Klasse ein Diktat, nein, ein Erlebnis in den Ferien schreiben mussten und ich ein Erlebnis mit meinem Freund Erich beschrieben habe. An der Stelle, wo ich von einem Feldhasen geschrieben habe, und dieser im Zickzack vor uns davon gelaufen ist, schrieb ich statt zickzack hik hak. Aber das hätte ich längst vergessen, wenn nicht mein Schulfreund Arnold mich damit gehänselt hätte. Arnold war der Sohn meines Lehrers und dieser hatte die Angewohnheit, solche Aufsätze und Diktate zuhause, vor seiner Familie mit seinen neun oder zehn Kin­dern (…) vorzulesen und natürlich über solche Fehler sich lustig zu machen. (Uhr­macher­meister, geb. 1912, V) Bei einigen AutorInnen der Volksschulgruppe – vor allem sind es Frauen – steht die Angst vor orthographischen Fehlern offensichtlich bis heute der Schreiblust im Wege:

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Ich habe so oft einen Drang, etwas Erlebtes niederzuschreiben, aber weil die Gedanken so schnell kommen und ich dann zu schnell schreibe und ich an die Rechtschreibung denke – dann es ist vorbei. Die Geschichte oder das Erlebte ist noch im Kopf. Oft denke ich an meinen guten Lehrer, Herr Menksch, so hieß er. Wenn er sagte: ›Es ist so schade um dich, Walburga, aus dir könnte etwas werden‹. Diese Worte höre ich bei jedem Brief, den ich schreibe, es verfolgt mich heute noch. ›Die Rechtschreibung‹. (Lageristin, Kinovorführerin, Hausfrau, geb. 1909, V) Schreiben außerhalb der Schule

Es erstaunt sicherlich nicht, dass AutorInnen mit höherem Schulabschluss häufiger davon berichten, dass sie in ihrer Jugend auch Briefe, Gedichte, Erzählungen, Zeitungsartikel oder Tagebuchnotizen verfasst hätten. Bemerkenswerter sind die unterschiedlichen Haltungen, die zu diesem Schreiben außerhalb der Schule eingenommen werden. So sind die – insgesamt seltenen – Bekundungen, dass Schreiben eher Pflicht als Neigung gewesen sei,10 vor allem in der Volksschulgruppe zu finden: Nun möchte ich auch etwas von meiner Schulzeit erzählen. Wie schon erwähnt habe ich nur geschrieben was ich musste. Ich ging lieber spazieren mit meinen Kameraden. (Bauer, geb. 1899, VS) Bei einer Autorin aus dieser Gruppe, einer in einem Altersheim lebenden früheren Magd, steht Schreiben einschließlich ihrer Antwort auf die Schreibumfrage unter dem Vorzeichen der Folgsamkeit: Ihrem Wunsche gemäß will ich Ihnen schreiben, wieso ich bei dem Wettbewerb ›Alte Menschen schreiben Geschichte‹ mitgemacht habe. Unser Heimleiter, Herr Konstanzer, hat es im Speisesaal bekannt gemacht. Es hat sich aber niemand gemeldet. Darauf sagte er zu mir: ›Also Julie, Du schreibst‹. Und an einem Sonntag Nachmittag bin ich hin­ ge­sessen und habe sieben Seiten geschrieben in einem Zug. Sonst, wenn ich einen Brief schreibe, bringe ich nichts aufs Papier. Aber es war, wie wenn es mir jemand diktieren würde. Das Schreiben ist gar nicht meine Liebhaberei, die Arbeit ist mir lieber. (Land­ wirtschaftsgehilfin, geb. 1894, V) Aber auch bei den EinsenderInnen, die sich als schreibfreudig bezeichnen, gibt es deutliche Unterschiede. In der Volksschulgruppe findet sich in diesen Fällen meist eine unprätentiöse Formulierung der Art, dass man in der Jugend auch außerhalb der Schule oft und gern geschrieben habe:

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Ich selber begann wieder, in ein Schulheft, das ich extra für diesen Zweck kaufte, besondere Eindrücke und Erlebnisse niederzuschreiben. Eine Art Tagebuch, in das aber manch­ mal wochenlang keine Zeile eingetragen wurde, weil mir nichts einfiel. Wenn eines dieser dünnen Tagebuchhefte vollgeschrieben war, vernichtete ich es und kaufte ein neues. Aber die Freude daran, eigene Gedanken und Meinungen schriftlich zu formulieren, wurde eine Freizeitbeschäftigung, die ich seitdem nie ganz aufgegeben habe. (Hausfrau, geb. 1914, V) In den höheren Bildungsgruppen sind die Bekundungen von Schreiblust als Formulierlust weit häufiger und viel emphatischer. Des Öfteren wird diese hier weniger als anerzogene oder allmählich ausgebildete denn als in die Wiege gelegte Fähigkeit beschrieben. Es bedurfte demnach nur eines kleinen äußeren Anstoßes, dann »überkam« einen der eingeborene Schreibdrang, »flossen« die Worte wie von selbst aus der Feder: Schon als Kind sowohl in der Volksschule wie auf dem Lyzeum in Münster machte ich Gedichte, die ich in allen Klassen aufsagen musste. (…) Es war solch ein starker Drang in mir, dass ich jedes kleinste Erlebnis in Familie, Schule, Natur und Kirche in Windeseile in Verse umsetzen musste, leider hatte ich in den seltensten Fällen Papier bei mir, so dass ich ein unbeschreibliches Durcheinander von Zeitungsrändern, heraus­gerissenen Voka­ belheften oder Reste von Drucksachen beschrieb. (Stenotypistin, Fremd­sprachen­korres­ pondentin, geb. 1913, A) Es war in meiner Jugendzeit, als es geschah. Ich besuchte das Gymnasium und hatte den Auftrag: in Hausaufgabe einen Aufsatz über ein Erlebnis mit Tieren zu schreiben. Dies beschäftigte mich stark. Nachts trieb es mich aus dem Bett. War es der Aufsatz? Diese Frage war noch ohne Antwort, als meine rechte Hand schon nach dem Federhalter griff und meine Linke den Schreibbogen zurechtrückte. Dann überkam es mich, und aus meiner federführenden Hand flossen die Worte: Sonnenwende, weiße Nacht, Du unsern Ahnen das Licht hast gebracht, Da musste die Tanne, der immergrüne Baum verlassen den Waldesraum (…) Mit dem letzten Wort legte sich der Drang des Schreibens in meinem Innern und die Nachtmüdigkeit kehrte zurück. (Kaufmännischer Angestellter, geb. 1918, M) Auch AutorInnen der Volksschulgruppe sprechen zuweilen von ihrer besonderen Eignung für das Schreiben; doch finden sich hier keine Vorstellungen von einem eingeborenen kulturellen Reichtum oder Schilderungen dichterischer Erweckungserlebnisse. Typisch für den

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»Begabungsdiskurs« dieser Gruppe ist eher die Erzählung eines Fabrikarbeiters, wonach er seine »poetische Ader« nicht selbst entdeckte, sondern vom Lehrer auf sie aufmerksam gemacht wurde und sie erst danach selbst zu »nutzen« begann: 1914–1922 drückte ich die Schulbank der Volksschule. Mein Lieblingsfach war Deutsch, wofür ich immer eine gute Note bekam. Als Schuljunge schrieb ich öfters kleine volkstümliche Gedichte. War in der Schule ein Gedicht vorzutragen, so meldete ich mich sofort. Der Lehrer ward zufrieden und sagte zu mir: ›Mein lieber Junge, in Dir steckt eine poetische Ader‹. Diese Äußerungen von meinem Lehrer nahm ich zu Herzen und führte von diesem Zeitpunkt an Tagesnotizen. (Fabrikarbeiter, geb. 1907, V) Im Übrigen sind Berichte der Ermunterung zu selbständigem Schreiben in der Volksschulgruppe ganz selten. Häufiger sind Hinweise auf mangelnde Anerkennung der ersten außerschulischen Schreibversuche durch Familie oder Freundeskreis. Hier deutet sich das Phänomen des »kulturellen Selbstausschlusses« sozialer Unterschichten an, hergestellt über die Ablehnung literarischer Betätigung als ›blutarm‹ und ›unnütz‹ sowie den Konformitätsdruck, den die soziale Umgebung auf potentielle »Abweichler« ausübt: Meine ersten Verse machte ich mit 17 Jahren. Weil man mich aber auslachte, hörte ich damit auf. (Bergmann, Bahnarbeiter, geb. 1901, V) Zur Begabung gehört aber Mut zu beginnen und ihr dann auch treu zu bleiben. Ich glaube, dass grade mein Vater mit seinen Worten ›Zeichnen und Schreiben sind brotlose Künste!‹ in mir Widerstände frei legte. Als gehorsames Kind widersetzte ich mich nicht, ging aber in die Einsamkeit und arbeitete heimlich. (Bäcker, Bergmann, geb. 1915, V) 11 Briefe

Über die Häufigkeit, mit der die Befragten seit ihrer Schulzeit eigene Texte verfasst haben, geben ihre Erinnerungen natürlich keine genaue Auskunft. Festzustellen ist immerhin, dass Angehörige der Mittleren-Reife- und der Abiturgruppe im Durchschnitt von einer intensiveren Schreibpraxis berichten als die der Volksschulgruppe. Vor allem jedoch zeigen sich in den »Schreiberlebnissen« Schicht- und Geschlechtsunterschiede bei den Aussagen über Schreibanlässe, Textsorten, Textadressaten und die mit dem Schreiben verfolgten Intentionen. Generell lässt sich sagen, dass die unteren Bildungsgruppen häufiger von einer weitgehend anlassgebundenen, »saisonistischen« Schreibpraxis berichten, AutorInnen mit höheren Schulabschluss dagegen öfter von einem autonomeren, »selbstveranlassten« Schreiben:

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Lange Zeit habe ich außer Festzeitungen für den Familienkreis – Silberhochzeit meiner Eltern (1933), ja, zwei Jahre vorher für meine Schwester zur Hochzeit nichts geschrieben. Dann in den Jahren 39–42 zu Anlässen im Kolleginnen-Kreis in der Firma, in der ich beschäftigt war. Lange Zeit war dann nichts mehr, außer Feldpostbriefe an meinen Mann. (…) Nach dem Krieg, im Jahre 1955, wurde mein Schwiegervater 80 Jahre, das Gedicht habe ich noch. Lange gab es dann keinen Anlass mehr, sich in der Weise zu beschäftigen. (Hausfrau und Mutter, geb. 1912, V) Schreiben ist mir ein Bedürfnis wie das Atmen. Es ist mir lebenswichtig. Der Kopf denkt ununterbrochen, – man kann ihn nicht daran hindern und wenn ich diese Gedanken nicht durch Schreiben loswerden kann, dann bedrücken sie mich, belasten sie mich, machen mich unruhig und unzufrieden. Ich muss mich jemand erschließen, muss das Gedachte aussprechen, klären, sondieren, bis alles gesichtet und geordnet seinen Frieden findet. Bis es seinen ihm zugeordneten Platz hat und volle Harmonie herrscht. (Fotografin, Sekretärin, geb. 1917, M) Das meistgenannte – und in der Tat ja verbreitetste – Genre des anlassgebundenen Schreibens ist der Privatbrief. Vor allem sind es Frauen, die von ihrer Briefpraxis berichten: Briefeschreiben in der Jugend erwähnen etwa 16 Prozent der Einsenderinnen und 6 Prozent der Ein­sender, für die Erwachsenenjahre sind es etwa 19 Prozent gegenüber 9 Prozent. Repräsentative Umfragen belegen zumindest für die Gegenwart, dass es sich hier keineswegs um eine Besonderheit der untersuchten Gruppe handelt: In der Tat verfassen Frauen signifikant mehr Privatbriefe als Männer (vgl. Warneken 1985, 19). Die etablierte Rollenverteilung, nach der primär den Frauen die »Beziehungsarbeit« zufällt, prägt demnach auch die Schreibkultur: Das briefliche Kontakthalten mit anderswo lebenden Verwandten, Freunden und Bekannten ist vor allem Frauensache – ein Faktum, das u. a. der Forschung über Frauen außerhalb der Intelligenzschicht eine noch wenig genutzte Quelle verschafft. Mein Schreiben bezieht sich auf das Korrespondieren mit guten Freunden, Verwandten und ganz besonders mit meinem Sohn und Familie, die seit neun Jahren von Berlin nach Westdeutschland verzogen sind und fast regelmäßig jede Woche eine Abhandlung von dem zu lesen bekommen, was sich inzwischen bei mir ereignet hat. ( Justitiarsekretärin, Hausfrau und Mutter, geb. 1905, M) Meine Verwandtschaft und Kinder freuen sich immer über meine langen herzlichen Brie­ fe. Ich schreibe so, als wenn ich erzähle, erst nachher lese ich alles durch, was ich so geschrie­ben habe. Gratulationen oder Einladungen werden von mir geschrieben und zur Konfir­mation schreibe ich immer einen geeigneten Spruch dazu. (Hausfrau und Mutter, geb. 1917, M)

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Schreiben hält Erinnerungen wach, es knüpft Freundschaftsbande, es kann Menschen beglücken. Mir brachte es zu später Zeit meines Lebens Kontakt mit meinem leiblichen Vater. (…) Hochbetagt wartet er auf meine Briefe, und ich weiß, sie bedeuten dem alten Herrn die Unterbrechung seiner Einsamkeit. – Verstehen Sie, dass ich das Schreiben liebe? (Krankenschwester, geb. 1917, M) Kulminationszeiten des Schreibens als Mittel der Alltagskommunikation, das geht auch aus den »Schreiberlebnissen« hervor, sind die beiden Weltkriege; in der Gegenwart, so wird mehrmals vermerkt, ist es – zum Nachteil der historischen Forschung – das Telefon, das sich zunehmend an die Stelle des privaten »Nachrichtenbriefs« oder »Kontaktbriefs« setzt: Als 9–11jähriges Schulmädchen fand ich beispielsweise Gefallen daran, meinem Vater regelmäßig Briefe ins Feld (Krieg 1914–1918) zu schicken, um ihn u. a. über unser häusliches und heimatliches Geschehen zu unterrichten. ( Justitiarsekretärin, Hausfrau und Mutter, geb. 1905, M) Schreiben, Diktat und besonders Aufsätze haben mir eigentlich immer Freude gemacht. Poesie-Alben wanderten in der Schulzeit immer von einem zum andern. Zu Gedichten habe ich es nur zu einem einzigen gebracht. – Als ich erwachsen war, habe ich mit lieben Menschen im Briefwechsel gestanden. Im 2. Weltkrieg habe ich täglich meinem Mann ins Feld geschrieben und ihm viel von seinen Buben erzählt. Ja, und als das Telef­on ins Haus kam, da ließ das Schreiben nach. Denn zum Hörer greifen und anzurufen ist doch recht bequem. Mit meinen Kindern in Duisburg bin ich durch mehrere Anrufe in der Woche immer auf dem Laufenden. (Hauswirtschaftsberaterin, Hausfrau und Mutter, geb. 1911, V) Wie schon in den Berichten vom Schulschreiben, so findet sich bei AutorInnen der Volksschulgruppe in den Passagen über das Briefeschreiben öfters die Formulierung des »Schreibenmüssens«, während v. a. Frauen der Mittlere-Reife-Gruppe ihre eigene Neigung zum häufigen und ausführlichen Schreiben betonen. Der Brief wird hier nicht nur als Möglichkeit zur Kommunikation, sondern auch als Medium der Selbstfindung und Selbsttherapie gesehen: Ihr (der Lehrerin, B. J. W.) gefielen meine Aufsätze sehr u. bald bekam ich dafür sgt.-Zettel. (…) Von da ab musste ich auch unseren Verwandten schreiben. Anfangs diktierte Vater mir, später musste ich selbständig schreiben. (Hausfrau, Hausangestellte, geb. 1913, V) Mit dem Briefeschreiben hatte ich früher nichts zu tun, denn die ganze Verwandtschaft war in einem Dorf. Als ich dann mit 19 Jahr geheiratet habe und schon vier Kinder hatte, da ging eine ins Kloster und das war sehr weit von uns weg (200 km). Da fing ich an mit Briefe schreiben. (…) Da (im 2. Weltkrieg, B. J. W.) wurde auch mein Mann eingezogen

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zum Militär (im Jahre 1944 am 10. Sept.) Hier ging es dann weiter mit Briefschreiben. Er kam nach Kroatien (…). So musste ich schon oft Briefe schreiben. (Maschinenstrickerin, Gärtnerin, Hausfrau, geb. 1911, V) Ich habe immer sehr viele Briefe geschrieben. Eine Kiste voller Feldpostbriefe allein schon aus den Jahren 1939–45 hat sich angesammelt. (…) In Briefen finde ich zu mir selbst. Briefe bedeuten in meinen Augen Hilfe für den Schreibenden und den Empfäng­er. Briefe schreiben und empfangen tröstet den Einsamen und Kranken. (Hausfrau, Mutter, Buch­ binderin, Klinikangestellte, geb. 1917, M) Einige AutorInnen der Mittlere-Reife- und der Abiturgruppe berichten überdies von einer Tendenz zur stilistischen Überhöhung, ja Poetisierung ihrer Briefe. Die Briefform, die in den Berichten der Volksschulgruppe primär als Ersatz für die momentan mündliche Kommunikation erscheint, emanzipiert sich bei ihnen von unmittelbar-pragmatischen Zwecken und wird zur Betätigungsform mündlich gar nicht kommunizierbarer Fähigkeiten: Schon als Schulmädchen habe ich gerne Aufsätze geschrieben, und später, als ich in der Ausbildung war, schrieb ich lange, ausführliche Briefe nach Hause. Meinem Mann schickte ich oft Briefe in Versform an die Front, und verfasste auch sonst zu allerlei Gelegenheiten kleine Verse. (Krankenschwester, Hausfrau, Mutter, geb. 1917, M) Dass solche Formulierungskunst keineswegs nur interesseloses Wohlgefallen hervorrufen will, sondern als »kulturelles Kapital« auch sehr gezielt eingesetzt werden kann, dokumentiert besonders drastisch der Bericht eines Mannes: Meine Briefe versuchte ich in ihrem Inhalt immer sehr schöngeistig zu halten und fügte viele Gedichte den Briefen mit bei, denn man wollte ja auch Eindruck schinden, wie man so sagt. Damit erreichte ich eigentlich spielend jeden gewünschten Erfolg. Allerdings war ich nicht beständig genug und, damit es nicht langweilig wurde, liebte ich die Abwechs­ lung. So hatte ich immer wieder neue Eindrücke und Erfahrungen in der Psyche der weiblichen Hingabe. Es ließ sich damit eigentlich sehr angenehm leben, so dass ich keine Stunde bereute, die ich so gelebt hatte. Bei meinen vielen Bekanntschaften hat mir mein Schreiben dazu verholfen, denn das geschriebene Wort war es, dass meine Person in den Vordergrund des Begehrens gestellt wurde. (Kaufmann, geb. 1913, M) Das Tagebuch

Eine Frauendomäne ist, den »Schreiberlebnissen« zufolge, neben dem Schreiben als Form der »Beziehungsarbeit« auch das Schreiben als Selbsttherapie, und zwar als privater, vor der Öffentlichkeit und teilweise dem eigenen sozialen Umfeld verborgener Versuch, Prob-

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leme durch Niederschreiben zu objektivieren und damit besser bewältigen zu können. Die weiblichen Autorinnen nennen dies Schreibmuster weit häufiger als die männlichen Einsender (ca. 23 Prozent zu ca. 8 Prozent). Kaum weniger deutlich ausgeprägt ist hierbei die Schichtspezifik: Etwa 20 Prozent der Abiturgruppe, aber nur etwa 10 Prozent der Volksschulgruppe nennen »Problembewältigung« und Ähnliches als einen ihrer wesentlichen Schreibzwecke. Ausschlaggebend ist bei mir wohl, dass ich bisher nie an die Öffentlichkeit (…) getreten bin, da es meist Ergüsse nach Erlebnissen (und somit gefühlvoll, wenn auch realistisch) waren, die ich nur fabrizierte, um meinem Herzen Luft zu machen. (Hausfrau, geb. 1909, M) Diese Erfahrung, im Niederschreiben mich auseinanderzusetzen, versuchen mit mir selbst ins Reine zu kommen, machte ich zuerst in meinen ›Lehrjahren‹, den Jahren des Allein­ seins unter fremden Menschen. Aber bis heute blieb meine zuverlässigste Hilfe in problematischen Situationen, im Kummer oder anderen Schwierigkeiten das Schreiben – schreibend mein seelisches Gleichmaß wiederzufinden. (Hausfrau und Mutter, geb. 1907, M) Das idealtypische Genre für diesen Schreibzweck ist das Tagebuch. Etwa 22 Prozent der Frauen, aber nur etwa 6 Prozent der Männer berichten, dass sie in ihrer Jugend mehr oder weniger intensiv Tagebuch geführt hätten; für die Erwachsenenjahre sind es ca. 22 Prozent gegenüber ca. 11 Prozent. Die der Bitte um »Schreiberlebnisse« vorangegangene Umfrage bestätigte diese Geschlechterdifferenz, wobei sich – neben einer signifikant geringeren Tagebuchpraxis der Volksschulgruppe – bei allen drei Bildungsgruppen ein klarer Frauenvorsprung ergab.12 »Führen oder führten Sie Tagebuch?« (in %)

Ja

Nein

ohne Angabe

Volksschule, Männer

25,0

61,1

13,9

Volksschule, Frauen

Mittlere Reife, Frauen

Mittlere Reife, Männer

Abitur, Frauen

Abitur, Männer (n = 281)

31,7 58,4 51,4

57,1 41,0

36,6 31,2 45,9

32,2 48,7

31,7 10,4

  2,7

10,7 10,3

Das Jugendtagebuch war, den »Schreiberlebnissen« zufolge, vor allem bei Frauen ein Reservat für Bekenntnisse und Erlebnisse, von denen Eltern und Geschwister nichts wissen sollten:

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Ich führte natürlich ein Tagebuch, meine Eltern hingegen ahnten nichts von meinen Ambitionen. Sie waren höchstens froh, wenn ich zu größeren Familienfeierlichkeiten und dergl. meine gereimten Vorträge vortrug. (…) Mein Mann, den ich schon mit 17 Jahren kennenlernte und mit 22 Jahren heiratete, ahnte auch nichts davon, interessierte sich auch nicht dafür. Jedoch habe ich mir manche trübe oder frohe Stimmung durch irgendwelches Niederschreiben von der Seele gewälzt. (Hausfrau, geb. 1909, M) Als ich 15 oder 16 Jahre alt war, saß ich neben meinem Vater im Auto, sah durch die Scheibe auf die Schneeflocken und dann fing ich – oder besser gesagt fing es in mir an, einen Weihnachtsgedanken, der mir so zugeflogen war, in Verse zu fassen. An dies Erleb­ nis besinne ich mich genau, denn es war ein ganz neues Gefühl, was mich überkam und das erste Gedicht. Zu Hause schrieb ich es auf und schloss es in die Geheim­schublade, in der auch das Tagebuch lag. Die nun folgenden Gedichte wanderten ebenso in diese Schublade. Irgendetwas hielt mich noch davon ab, mein Geheimnis mit jemandem zu teilen. (Angestellte, Hausfrau, geb. 1918, A) Wenn das Tagebuchgeheimnis gebrochen wird – und von solchen Eingriffen der Eltern oder Geschwister wird mehrmals berichtet –, führt das öfters zum Ende der dadurch von einem Freiheits- zu einem Kontrollmedium gewordenen Aufzeichnungen: Eines Tages, als ich früher von der Schule heimkam, überraschte ich meine Mutter, die an meinem Schreibtisch saß und mein Tagebuch sowie meine Mappe mit Gedich­ten vor sich hatte und las … Mutter erschrak sehr, fand keine Entschuldigung, ich sagte auch nichts … ergo: als Mutter aus dem Zimmer gestürzt war, stopfte ich Tagebuch und Gedichte in den Kachelofen (…). Erst viele Jahre danach begann ich wieder, nun aber völlig anders, zu dichten und auch Erzählungen zu schreiben. (Lehrerin, geb. 1908, M) Auch hatte ich mal ein Tagebuch, da schrieb ich meine geheimen Gedanken rein und versteckte es vor meinen drei Geschwistern, von denen ich die jüngste war. Es war auch von einer Schwärmerei für einen jungen Mann etwas drin. Als aber in einer gemütlichen Runde mit Freunden mein ältester Bruder in Gegenwart aller verschmitzt durchblicken ließ, dass er etwas aus meinem Tagebuch wisse, fühlte ich mich verletzt und habe das Tagebuch vernichtet, ohne wieder ein neues zu beginnen. (Stenosekretärin, Chefsekretärin, Hausfrau, geb. 1911, V) Noch während der Schulzeit, mit sechzehn Jahren, hatte ich mein erstes Glückserlebnis mit einem gleichaltrigen Gymnasiasten. (…) An einem strahlenden Frühlingstag machte ich gegen den Willen meiner Eltern mit diesem Jungen eine Radtour (…). Aus dem Grün des Frühlingswaldes strömte ein atemberaubender Duft zu uns herüber. Es war so märchenhaft schön, dass wir ganz spontan unsere Räder an einen Baum lehnten und uns, einen Jubelschrei ausstoßend, auf die buntschimmernde Wiese unter einen weißblühenden

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Baum legten. Nichts weiter geschah. Wir lagen dort und träumten (…). Noch in derselben Nacht, als alle schliefen, setzte ich mich bei kleiner Tischlampe hin und schrieb, un­auf­ hörlich, die ganze Nacht hindurch. Ich schilderte meinen Gemütszustand dieser einen Stunde unter dem weißblühenden Obstbaum und dem unwirklich blauen Him­mel. Den Aufsatz versteckte ich tief unten in der hintersten Ecke meiner Wäscheschublade. Später fand meine Mutter dieses sogenannte ›Geschreibsel‹, und es folgte eine weitere Strafe. (Kauffrau, Übersetzerin, geb. 1915, M) In den Erwachsenenjahren, so schildern es auch die »Schreiberlebnisse«, diversifizieren sich die Tagebuchformen: Arbeitsjournale, Kriegstagebücher, Tagebücher aus der Gefangenschaft, Reise- und Urlaubstagebücher werden geführt, und es heißt nun öfters, man habe dabei Erlebnisse nicht nur für sich selbst, sondern auch für die spätere Lektüre von Familienmitgliedern und Kindern festhalten wollen. Hier deuten sich allerdings wiederum Geschlechterunterschiede an. Männer, so scheint es, führen zumeist ein individualbiographisches Tagebuch, während Frauen sich teilweise als Familienchronistinnen betätigen und dabei weniger die eigene Person als die heranwachsenden Kinder zum Thema machen. Einige Frauen hinwieder, die ein primär individuelles Tagebuch führen, bezeichnen dies ausdrücklich als eine Form versteckter Meinungs- oder gar Protestäußerung – eine Aussage, die bei Männern nicht zu registrieren war: Habe ich ein Problem, kann ich mich nicht gut aussprechen, aber schreiben kann ich darüber. Oftmals habe ich auch tüchtig meine Meinung gesagt, alles nachher aber doch vernichtet, aber es war ein Ventil, ich war erleichtert nachher! (Hausfrau und Mutter, geb. 1917, M) Ein ambivalentes Schreibmuster also: Der individuelle, auch der Familie und dem Ehemann nicht zugemutete oder gegen diese gerichtete Impuls wird hier nicht als unwichtig oder unangemessen unterdrückt, sondern festgehalten; auf der anderen Seite blüht diese nonkonforme Haltung nur im Verborgenen. Das Lied aus der Emanzipationszeit des Bürgertums, das mit »Die Gedanken sind frei« beginnt und mit »Doch alles fein still, und wie es sich schicket« fortfährt, ist gesellschaftspolitisch relativ obsolet geworden, geschlechterpolitisch aber sicher nach wie vor aktuell. Schreiben für ein Publikum

Die meisten »Schreiberlebnisse« berichten nicht nur vom Brief- und Tagebuchschreiben, sondern auch von einer im engeren Sinn literarischen Praxis. Deren Umfang lässt sich anhand der Berichte wiederum nicht quantifizieren; doch kann man hilfsweise die Ergebnisse der erwähnten Umfrage heranziehen. Dort bekundeten 45,6 Prozent der Befragten, sie hätten schon einmal ein Gedicht, 40,5 Prozent, sie hätten schon einmal eine Kurzge-

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schichte, und 7,9 Prozent, sie hätten einen Roman geschrieben.13 61,7 Prozent der Befragten bejahten die Frage, ob sie solche Texte schon veröffentlicht hätten; 3,5 Prozent gaben an, auch schon einen Roman, 31,6 Prozent, eine oder mehrere Erzählungen oder Kurzgeschichten und 21 Prozent, einmal oder mehrmals Gedichte publiziert zu haben. Die Veröffentlichungs­praxis variiert dabei wiederum deutlich nach Geschlecht wie nach Bildungsabschluss: Veröffentlichungen (in %)

Roman

Volksschule, Frauen

 0

Volksschule, Männer

Mittlere Reife, Frauen

Mittlere Reife, Männer

Abitur, Frauen

Abitur, Männer

(n = 250)

  5,4

  1,4

  3,3

  7,4

10,3

Erzählung/ Kurzgeschichte

30,2

21,6

25,7

46,7

48,1

31,0

Gedicht 19,0

24,3

10,0

30,0

25,9

34,5

ohne Angabe

12,7

  8,1

  4,3

  3,3

 0

  3,4

Die Frauen und Männer der Abiturgruppe liegen hier in fünf von sechs, die Männer in sieben von neun Rubriken vorn – wobei zu unterstellen ist, dass die Unterschiede bei einer Frage nach der Anzahl der Publikationen noch größer ausgefallen wären.14 Die Frauen, die beim Brief- und Tagebuchschreiben eindeutig dominieren, fallen also beim öffentlichen Schreiben deutlich hinter die Männer zurück. Sie begnügen sich häufiger als die Männer mit der Weitergabe von Erzählungen oder Gedichten an Freunde, Bekannte und vor allem Familienangehörige. Die Anlässe, zu denen sie Texte weitergeben oder vorlesen, sind häufig Feste wie Geburtstage oder Weihnachten (vgl. Warneken 1987, 137 f.). Bei den Männern wird das »gedichtete Geschenk« viel seltener erwähnt. Daraus lässt sich schließen, dass auch das Gelegenheitsdichten von Frauen oft der »Beziehungspflege« zugeordnet ist und weniger zu individuell gesetzten Anlässen erfolgt. In den Jungmädchenjahren kam das ›Dichten‹ nur noch zu besonderen Anlässen in Be­­ tracht. Wenn z. B. eine Freundin zu ihrem Geburtstag weit entfernt war und das Ge­­ schenk infolge unserer anhaltenden Finanzmisere ein wenig kümmerlich ausfiel, evtl. nur ein gepresstes Glückskleeblatt und irgend eine Kleinigkeit, dann musste ein lan­ges Ge­­ dicht das fehlende Präsent wettmachen. Später im eigenen Familienkreis beschränkte sich dann das Versemachen auf Weihnachten. Jedem, auch noch so kleinen Geschenk, wur­den ein paar Zeilen beigefügt. (Gutssekretärin, Verwaltungsangestellte, Hausfrau und Mut­ ter, geb. 1913, M)15

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Bei poetischen und erzählerischen Genres liegt es nahe, die eigenen Texte mit denen approbierter Autoren zu vergleichen – wobei eine solche Selbsteinordnung auch dann stattfindet, wenn man betont, dass man »sich keineswegs mit bekannten Autoren vergleichen« wolle. Zu dieser Bestimmung des kulturellen Stellenwerts der eigenen literarischen Versuche sind überdies Reflexionen über die Stärken und Schwächen der eigenen Texte zu rechnen sowie Überlegungen über Grad und Art des überindividuellen, womöglich öffentlichen Interesses, welches diese Texte beanspruchen können. Vergleicht man die »Schreiberlebnisse« unter diesem Gesichtspunkt, so fallen wiederum sehr starke Gruppenunterschiede ins Auge. Verschieden ist dabei zum einen der Grad schriftstellerischen Selbstbewusstseins. So äußert etwa jeder vierte Autor der Abiturgruppe, bei den anderen Bildungsgruppen hingegen nur etwa jeder zwanzigste, dass er bekannten Schriftstellern nachzustreben suche. Zum andern – und das ist sicherlich noch interessanter – differieren auch die Textqualitäten, auf welche sich Selbstbewusstsein oder Selbstzweifel der Schreibenden beziehen. Von der Mittlere-Reife- und der Abiturgruppe wird Schreibenkönnen weit häufiger als von der Volksschulgruppe mit Sprachvermögen und literarischer Gestaltungsfähigkeit verbunden. Insbesondere AutorInnen der Abiturgruppe fühlen sich hier auch tatsächlich in ihrem Element: Schreiben erweist sich nicht nur als ein sichtbar gemachtes Sprechen und Denken. Eine Äußerung, eine Meinung, wird durch das Aufzeichnen (Einritzen) in jedem Fall bedeutungsvoller, erhält mehr und auch länger anhaltende Gültigkeit, wird ›vor Augen geführt‹. Erreicht wird schließlich, falls angemessen, eine Art Dokumentation. Es gesellt sich hinzu die Freude am Gestalten und dann die Befriedigung, wenn alles gut gelungen ist. Im Bewegungsablauf, als Ganzes gesehen, ist zudem in anregender Weise der Reiz einer spiel­ enden Betätigung enthalten, – ein spielendes Suchen nach Wörtern, Sätzen und Formu­ lierungsmöglichkeiten. (Volksschulrektor, geb. 1899, A) (Ich behielt) die Bereitschaft und die Übung bei, die Sprache als Mittel der Hervor­he­ bung und Ausschmückung besonderer Gelegenheiten und Feiern zu verwenden. In der Knappheit der Kriegsjahre 1914–1918 sowie der folgenden Inflationszeit zeigte sich bald, dass die anfangs als ›Textbeilage‹ gedachten Widmungs- und Wunschverse mehr und mehr beachtet wurden, so dass das sprachliche Beiwerk sich schließlich als das eigentlich Festliche darstellte. Das sollte sich später nach dem zweiten Weltkrieg überdeutlich wiederholen, als Liebesgaben und -dienste so oft nur mit Geschriebenem bedankt und Aufmerksamkeiten nur in Worten erwiesen werden konnten, – umso mehr kam es auf die Form an. (…) Auch ›die schöne Zeit der jungen Liebe‹ kam nicht ohne Verse aus. Sie brachte nach meiner Erinnerung eine erhebliche Bereicherung der Metrik, der Formen und Stoffe. (…) Schreiben ist oft so selbstverständlich geworden, dass es Überlegungen vielfach weder voraussetzt noch auslöst. Es läuft, hat man sich erst eine gewisse Fertigkeit angeeignet,

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wie von selber ab. Doch heben sich aus alledem – (…) Äußerungen nicht alltäglicher Art ab. In ihnen vollzieht sich, was vorläufig und groß ausgedrückt der ›Sonntagsumgang‹ mit der Schrift heißen mag. Dabei geht es nicht so sehr um verständliche Formulierun­ gen mehr oder minder zweckhafter Gedanken zur Übermittlung an andere als vielmehr um die Ausformung von Gedanken, Gefühlen und Vorstellungen, die selbst dann einen Sinn behielte, wenn sie gar nicht weitergegeben würde; denn es handelt sich hierbei auch um ein Stück Selbstdarstellung oder Selbstklärung des Schreibenden oder um die Übung seiner sprachlichen Möglichkeiten. Das so Geschriebene als höchstpersön­liches Aus­drucksmittel unterscheidet sich damit von dem Schreiben als letztlich nutzhaftem Äußerungsmittel. (…) Es geht darum, die Möglichkeiten der Sprache als Kunst­mittel zu erproben, zu erweitern und zu vertiefen. (…) Erlebnisse mit solcher Art des Schreibens haben mich ein Leben lang von Kindheit auf begleitet. (Bankkaufmann, Wirtschaftsprüfer, geb. 1902, A) In der Mittlere-Reife-Gruppe findet sich – wie auch in der Volksschulgruppe – keine derartige Akzentuierung einer autonomisierten Ästhetik. Insofern AutorInnen dieser Gruppe von einem Formbedürfnis beim Schreiben sprechen, erwähnen sie zugleich andere, kommunikative oder therapeutische Schreibintentionen: Schreiben ist für mich wie ein Gespräch mit einem guten Freund – es ist die Steigerung meiner glücklichen Empfindungen, und es ist die Möglichkeit, Ängste, Nöte und Sorgen abzubauen. Nicht zuletzt ist Schreiben für mich die Freude an der Sprache, die es uns Menschen ermöglicht, in Worten Bilder zu gestalten, die es wert sind, beachtet zu werden. (Krankenschwester, geb. 1917, M) Wo sich Vertreter der Mittlere-Reife- und der Volksschulgruppe literarische Gestaltungsfähigkeit zusprechen, wird diese weit weniger als in der Abiturgruppe als besondere künstlerisch-literarische Begabung aufgefasst und eher mit handwerklichen oder alltagspraktischen Qualifikationen zusammengesehen: Ich habe Freude am Gestalten. Der Umgang mit Materialien, mit Werkstoffen regt mich an. Ich habe mich im Schneidern, als Buchbinderin, im Malen (das sehr dilettantisch) versucht. Ich habe viel Interesse an technischen Dingen. Ich habe ein Haus gebaut. Ich habe als Hausfrau einige Nebenberufe ausgeübt und aus all diesen Tätigkeiten immer Anregungen geschöpft. So scheint mir auch das Schreiben eine Gestaltungsform zu sein, in der ich durch Fleiß etwas erreichen könnte. (Hausfrau, Buchbinderin, Klinik­angestellte, Interviewerin, Mutter, geb. 1917, M) Älter geworden, kam bei mir zur Phantasie die Erkenntnis. Mir war klar, dass ›Spin­nen‹ zum Handwerk des Schreibens gehört. Auch merkte ich, dass es eine sehr schwere Ar­­

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beit ist. Sie ist so feingliederig, wie kompliziert. Doch so ruhig, wie die Spinne Faden an Faden knüpft, wird es zu dem, was es auch der Spinne bedeutet, Leben und Erfolg. (Bäcker, Bergmann, geb. 1915, V) Der Selbstanspruch ist bei solchen AutorInnen allerdings kaum einmal der, »künstlerisch wertvolle« Texte zu schaffen; die ästhetische Intention tritt hier anspruchsloser, z. B. als Interesse an gutem oder präzisem Formulieren auf: Wenn ich beim Durchlesen eines eigenen Manuskriptes ein paar Sätze finde, die mir gut formuliert erscheinen, so ist mir das eine Freude und Genugtuung. Durch das Schreiben von Artikeln habe ich gelernt, mich präziser auszudrücken, meinen Stoff zu straffen, komprimiert zu formulieren, was ich erzählen möchte. (Friseuse, Pflegerin, Hausfrau und Mutter, geb. 1918, V) Auch außerhalb der Abiturgruppe finden sich vereinzelte Bekundungen einer Kunstorientierung, die sich jedoch teilweise durch eine gewisse Bemühtheit und Überladenheit der Formulierung als strapaziöses Unterfangen darstellt: Schreiben im positiven Sinn ist kein Zeitvertreib, kein unterhaltsames Spiel, sondern Persönlichkeitsbewältigung im Dienste einer Kultur, deren Ziel erhöhende Mensch­lichkeit ist. Ich meine: Schreiben kann jeder, der logisch und klar zu denken vermag, der erfüllt ist von einer drängenden Aussage seines von Bildern erfüllten Ich im Wider­spiel von schriftlicher Fixierung starken Erlebens von abgelebten Tagen und großen Ereignissen. (Kaufmännischer Angestellter, Presseberichterstatter, geb. 1909, V) Selbstkritische Äußerungen, dass man gern, aber leider nicht gut oder zumindest nicht gut genug schreibe, um »erfolgreich« publizieren zu können, finden sich in allen Gruppen, zeigen aber doch spezifische Abstufungen. So schreibt z. B. eine Frau der Mittlere-ReifeGruppe: Zu meinem Kummer muss ich zugeben, dass ich nicht genug Phantasie habe, um besonders gute Artikel zu erfinden. Über einen gewissen Aufsatzstil komme ich nicht hinaus. In meinem langen Leben habe ich viel Aufregendes erlebt, aber es will mir nicht ge­lingen, auch dieses spannend zu erzählen. Wenn ich jetzt Ansichten über Probleme oder Erleb­ nisse aufschreibe, so ist dies nur für mich als Beschäftigungstherapie oder Gedanken­ training gedacht. (Krankenschwester, Hausfrau und Mutter, geb. 1917, M) Während hier immerhin eine relativ deutliche Vorstellung davon besteht, was dem eigenen Schreiben fehlt (»Phantasie«, »Spannung«), rätselt eine Autorin der Volksschulgruppe, worin denn nun eigentlich die spezifische Differenz zwischen ihrem Schreibstil und dem erfolgreicher Autoren bestehe:

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Ich habe viele Geschichten gelesen. Große und bekannte Künstler schrieben ›Mein Leben‹. Fand das immer unheimlich interessant. Obwohl ich doch bei vielen die besonderen Er­eig­ nisse vermisste. Es gab garnichts ›Besonderes‹. Oder ist es doch der Name, und vielleicht die Wortstellung, die einen großen Platz einnehmen, und alles so schön machen. (Hotel­ angestellte, Akkordnäherin, geb. 1916, V) Wo AutorInnen der Volksschulgruppe ein gewisses schriftstellerisches Selbstbewusstsein äußern, stützt sich dieses in aller Regel nicht auf formale, sondern auf bestimmte inhaltliche Qualitäten ihrer Texte; dabei ist vor allem von autobiographischen, zuweilen auch historisch-dokumentarischen, kaum von fiktionalen Genres die Rede. Diese Qualitäten sind zudem im Durchschnitt andere als die, welche den AutobiographInnen aus den höheren Bildungsgruppen bei ihren lebensgeschichtlichen Texten relevant erscheinen. Die »Schreib­ erlebnisse« bestätigen hierbei Ergebnisse einer vergleichenden Analyse von Kurzautobiographien älterer GelegenheitsautorInnen (vgl. Warneken 1988, 144 f.): AutorInnen mit höherem Schulabschluss hoben demnach eher darauf ab, dass sie historisch Bedeut­sames erlebt hätten, dass sich im eigenen Lebenslauf eine Epoche widerspiegle oder sich aus ih­rem Leben und aus ihren Lebenserfahrungen Lehren für die jüngere Generation ergäben; AutorInnen der Volksschulgruppe sehen in ihrer Biographie nicht die »großen Fragen der Epoche« verkörpert, sondern verstehen sie höchstens als typisch für die eigene soziale Schicht; und sie heben weniger auf die Besonderheit ihrer Erlebnisse ab als auf deren Vielzahl sowie auf die Genauigkeit, in der ihr Gedächtnis noch über diese Ereignisfülle verfüge. Hier zeigt sich die u. a. von Bourdieu hervorgehobene Orientierung der Unterschichten an der »Substanz«, der Stofflichkeit, im Unterschied zum Qualitäts- und Stilinteresse höherer Sozialschichten, verbunden in diesem Fall mit einer Betonung des »Nachzeich­nen­ könnens«, während AutobiographInnen der Abiturgruppe eher auf ihr kreatives Vermö­gen zur literarischen Gestaltung setzen. Hinzu kommt bei der Volksschulgruppe zuweilen die Berufung auf die Wahrhaftigkeit und Moralität des Geschriebenen: Dem kulturellen und sozialen Kapital prominenter Autobiographen wird das »ethische Kapital« der »einfachen Menschen« entgegengesetzt: Tagebuch habe ich nie geführt. Bei Diktat und Aufsätzen konnte ich aber gut mitmachen. Nur hatte ich immer viel Angst etwas falsch zu machen. Aber oft wusste ich das Richtige. Das nahmen mir Lehrer und Vorgesetzte natürlich übel. Meine Bekannten wundern sich, dass ich wichtige Ereignisse von früher nach langer Zeit so genau schildern konnte. Zum Beispiel: Den Brand des ›Hamburger Michels‹ (der Michaeliskirche). Oder die ›Flamme von Neuengamme‹, im Jahre 1910. Darum möchte ich nun meinen Lebenslauf zu Papier bringen. Nicht so wie Verbrecher und Politiker, die ihre Übeltaten als Heldentaten gewertet haben wollen. Auch ganz einfache Menschen können den Menschen ihre Erlebnisse so schildern, dass diese davon lernen können. Für mich genügt ein Stichwort, um wahre Geschichten zu schreiben. (Straßenbahner, Postfacharbeiter, geb. 1899, V)

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Häufiger jedoch als solche Selbstbehauptungsversuche, die ansatzweise das Programm einer »Geschichtsschreibung von unten« enthalten, sind in der Volksschulgruppe Äußerungen der Unsicherheit, ob das eigene Erleben überhaupt überindividuelles Interesse beanspruchen könne: Nun habe ich selber mal versucht, ein Erlebnis zu schreiben. Vielleicht ist dieses Leben oder dieses Erlebnis nur für mich so stark und unauslöschbar, weil es ›Mein Leben‹ ist. Es interessiert sonst niemand. (Hotelangestellte, Akkordnäherin, geb. 1916, V) Was bei mir im Kopf herumkreist, wäre ein Buch zu schreiben. Nur ich habe die Er­kennt­ nis, dass ich dafür zu dumm bin. Ich möchte keinen Roman schreiben, auch nicht die sogenannten Memoiren, sondern mein eigenes Leben von der Geburt mit den dazwischen liegenden Erlebnissen schildern, die man als Einzelschicksale gar nicht schil­dern kann. (…) Aber wenn ich darüber nachdenke, wer bin ich denn schon? Ich bin kein Beckenbauer oder ein anderer namhafter Fußballer, keine Persönlichkeit wie ein Box­weltmeister, der nicht lesen und schreiben kann, aber dennoch ein Buch geschrieben hat. Ich bin keine Knef und keine Uschi Glas. Ich bezweifle nur, ob die alle selbst geschrieben haben oder ihre Gedanken jemanden nur erzählt haben, der sie dann zu Papier brachte. Ich möchte kein Günter Grass sein, auch kein Konsalik werden oder sein. Ich möchte nur ganz einfach mein Leben schildern. Aber wer liest so etwas schon oder für wen wäre es interessant? Na ja, den Gedanken werde ich wohl nie verwirklichen können. (Polizeibeamter, Verwaltungsangestellter, geb. 1913, V)16 Die gruppenspezifischen Unterschiede im Selbstbewusstsein der AutorInnen betreffen, das zeigen die Äußerungen zur Autobiographiefrage ganz deutlich, nicht nur der­en Selbstwertgefühl als Schreibende, sondern als Person überhaupt. Dies wiederum unterstreicht die Tatsache, dass die unterschiedlichen Schreibkulturen, die sich in den »Schreiberlebnissen« abzeichnen, nicht nur als Produkt differierender Schreibsoziali­sationen genommen werden dürfen. Dass die populare sich von der eher »bildungsbürgerlich« geprägten Schreibkultur, wie gesehen, durch mehr Gehorsams- und weniger Frei­heits­merkmale der Schreibpraxis unterscheidet; dass das Schreiben hier häufiger der familiären Beziehungspflege und seltener der öffentlichen Meinungs­äußerung und Selbstdarstellung dient – dies alles sind Ausdrucksformen schichtspezifischer Lebens- und Verhaltensweisen, die darüber entscheiden, wie die selbst schon unter­schiedlichen Fähigkeiten genutzt werden, die in der schulischen Schreiberziehung erworben wurden. Um diese soziokulturellen Muster genauer und mit größerer Sicherheit nachzuweisen, als es hier geschehen konnte, bedürfte es nicht nur umfangreicherer Umfragen, als sie diesem Beitrag zugrundeliegen, sondern vor allem der Analyse der verschiedenen Schreibpraxen selbst. Denn natürlich geben die hier ausgewerteten Erinnerungen diese Praxen nur ganz bruchstückhaft und durch aktuelle Einstellungen gefiltert wieder. Eine solche komparatistische Texteanalyse setzt freilich eine systematische Sammeltätigkeit voraus, die für die zu

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untersuchenden Gruppen jeweils eine ausreichende Anzahl von Textbeispielen zumindest aus einigen wesentlichen Genres des Alltagsschreibens und Gelegenheitsdichtens zusammenführen müsste. Doch das FIPS, das »Forschungsinstitut für populare Schreibkultur«, das eine solche Arbeit leisten könnte, ist bisher noch nicht gegründet. Anmerkungen 1 Geprägt wurde der Begriff »Populare Schreibkultur« 1981 im Zusammenhang mit einem Projekt am Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kultur­wissen­schaft der Universität Tübingen (vgl. Warneken 1981; vgl. auch ders. 1983, v. a. 1 f.). – »Popular« soll dabei – unter Umgehung des allzu vieldeutigen Begriffs »Volk« – das Unter­suchungs­spektrum auf die Schreibpraxis nichtprofessioneller sowie nicht der Intelli­genz oder Oberschicht zugehöriger Autoren eingrenzen; unter »Schreiben« sollen alle schrift­ lichen Äußerungsformen vom ersten Buchstabenmalen und Nachschreiben über das Verfassen eigener Alltagstexte (Merkzettel, Brief, Sitzungsprotokoll usw.) bis hin zur »Gelegenheitsdichtung« zusammengefasst werden, unter anderem, um die biographische und auch – insbesondere in der Popular­ kultur – enge strukturelle Verflech­tung dieser Schreibfelder nicht aus dem Blick zu verlieren; der Begriff der popularen »Schreibkultur« (statt populare »Literatur« o. ä.) drückt die Absicht aus, sowohl die Schreib­tätigkeit einschließlich ihrer materiell-praktischen Seiten als auch die Schreibprodukte und deren Distributionsformen zu analysieren und diese Ebenen miteinander in Beziehung zu setzen. 2 Es handelte dabei um eine Auswahl von EinsenderInnen eines Fernsehwettbewerbs »Erzähl doch mal« des Süddeutschen Rundfunks von 1977, eines Aufrufs des Landes­senioren­rats Baden-Württemberg »Ältere Menschen schreiben Geschichte« von 1976/77 sowie von Senioren-Schreibwettbewerben der Volkshochschule Lemgo zwi­schen 1978 bis 1981. Der »Schreiberlebnisse«-Aktion vorhergegangen war eine Um­f rage zur Schreibpraxis von EinsenderInnen zu den genannten Wettbewerben. Der größte Teil der »Schreiberlebnisse«-AutorInnen hatte auch schon an dieser Umfrage teilgenommen (vgl. Warneken 1985, 127 f.). 3 Der Schreibaufruf ist abgedruckt in Warneken (1987, 15 f.); 59 der eingesandten »Schreiberleb­nisse« wurden publiziert (vgl. ebd., 24‑199). 4 Gerechnet in anderthalbzeilig beschriebenen Schreibmaschinenseiten. (Ein Teil der Ein­sendungen war handgeschrieben: Bei den Autorinnen bzw. Autoren mit Volks­schulabschluss 62 Prozent bzw. 40 Prozent, bei denen mit Mittlerer Reife 24 Prozent bzw. 18 Prozent und bei der Abiturgruppe 15 Prozent bzw. 17 Prozent.) 5 Die Volksschulgruppe besteht aus 31 Frauen und 33 Männern, bei der Mittlere-Reife-Gruppe ist das Verhältnis 48 zu 29, bei der Abiturgruppe 7 zu 18. 6 Da die hier vorgestellten AutorInnen unter EinsenderInnen zu einem Schreibaufruf ausgewählt wurden, repräsentieren sie keinesfalls den Durchschnitt, sondern einen beson­ders schreibaktiven Teil ihrer jeweiligen Herkunftsgruppe. Die Bitte um Schreib­er­leb­nisse konzentrierte sich deshalb auf diesen Personenkreis, weil von ihm eine – trotz des aus Zeit- und Geldgründen begrenzten Samples – relativ große Zahl von inhaltsreichen Berichten erwartet werden konnte. 7 Nur bei einem Teil der Textmerkmale bzw. Textaussagen wird der Gruppenvergleich mit Prozent­ angaben operieren; öfter werden weiche Quantifizierungen wie »seltener«, »häufiger« usw. gewählt, da Zahlenangaben angesichts verschiedener Genauigkeits- und Nuancierungsgrade der Äußerungen zu den einzelnen Themen meist pseudoexakt gewesen wären.

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8 Alle hier wiedergegebenen Auszüge aus Schreiberlebnissen sind in Wortlaut und Interpunktion unverändert übernommen, nur Tippfehler und orthographische Fehler wurden korrigiert. Die den Texten beigefügten Berufsangaben sind Eigenangaben der AutorInnen. 9 Nur am Rand sei auf eine inhaltlich-ideologische Komponente dieser Disziplinierung hingewiesen: Die Sätze, die es beim Schreibenlernen nachzuschreiben galt, bestanden häufig aus erzieherischen – moralischen, religiösen, auch nationalen – Sentenzen. 10 Dass Schreibunlust – auch für einzelne Lebensphasen – selten geäußert wird, hängt u. U. auch damit zusammen, dass die EinsenderInnen bei ihrem Adressaten eine Hoch­schätzung des Schreibens vermuten durften und dieser nicht opponieren wollten. 11 Einige Berichte über die Abwehrhaltung von Eltern gegenüber Schreibversuchen ihrer Kinder finden sich auch bei der Mittlere-Reife-Gruppe; jedoch geht es hierbei nicht um gelegentliche dichterische Versuche, sondern um die weitergehende Frage einer schriftstellerischen Laufbahn. Hier das markanteste Beispiel: »Als ich die Realschule besuchte, verspürte ich das Bedürfnis, Gedichte und Romane zu schreiben. Bei meinen Eltern jedoch stieß ich für diese Betätigung auf wenig Verständnis. Seinerzeit schrieb ich an einem Roman und bot diesen dem Verlag Raimer Hopping in Berlin an, wo man den Roman ganz nett fand, jedoch nicht in den Druck gehen ließ. Allerdings wurde mir eine Kurzgeschichte abgekauft, die für eine Zeitung bestimmt war, worüber ich natürlich sehr glücklich war. Meine Eltern fanden das gar nicht in Ordnung und sagten, dass ich lieber einen anständigen Beruf erlernen solle, als mit dieser Kritzelei die Zeit zu vertun. Ich stellte das Schreiben ein und schrieb nur noch Briefe an meine Freundinnen, die man ja als junger Mann eben hatte.« (Kaufmann, geb. 1913, M) 12 Eindeutige Geschlechtsdifferenzen sind auch beim Tagebuchschreiben späterer Generationen ermittelt worden. So führten nach einer Studie von Waltraud Küp­pers 1955–1964 38 Prozent der von ihr befragten weiblichen, aber nur 31 Prozent der männlichen Ju­gend­lichen Tagebuch (Küppers 1964, 9); die Shell-Studie Jugend ’81 ergab gar ein Verhältnis von 45 Prozent zu 13 Prozent ( Jugend 1982, 440). 13 21 Prozent beantworteten diese Frage nicht, was sicher nicht durchweg als Negativmeldung zu bewerten ist, so dass die Prozentzahl der »GelegenheitsdichterInnen« unter den Befragten höher liegen könnte als hier angegeben. 14 Diese Zusatzfrage wurde seinerzeit – in der Meinung, sie überfordere das Gedächtnis der Befrag­ ten – unterlassen. 15 Eine der AutorInnen zeigt freilich, dass die Bindung an offizielle Schenktermine bei stärkerem »furor poeticus« durchaus durchbrochen werden kann: »(…) Ich (hatte) zu dieser Zeit Feldsträußchen gekauft, und das passende Verschen dazu gemacht, und so war für mich jeden Tag Weihnachten, wenn ich jemand begegnet bin, und diese Freude weiterverschenken konnte, und durch diese Gelegenheit hatte man sehr viele Menschen kennengelernt, noch mehr, als ich schon kenne!« (Hausfrau, geb. 1912, M) 16 Autorinnen und vor allem Autoren der Mittlere-Reife- und Abiturgruppe erweisen sich überdies nicht nur darin als selbstbewusster, dass sie für ihre Lebenserinnerungen oder auch für Erzählungen oder Romane häufiger einen Verlag zu finden suchen; sie reagieren auch auf Misserfolge bei diesen Versuchen nicht primär mit Selbstzweifeln, sondern mit Kritik an den Präferenzen der Verlage oder des Lesepublikums: »Erst schrieb ich noch manches. Wenige Versuche, zu veröffentlichen, schlugen fehl. Das ärgerte mich. Ich habe aufgehört, zu schreiben und habe mich mit Erfolg der Malerei und Bildhauerei zugewandt.« (Diplomlandwirt, Verwaltungsfachmann, geb. 1903, A) »Für Zeitschriften schrieb ich hin und wieder auch einen Artikel, mal sozialkritisch, mal pädagogisch, aber immer aus dem Leben heraus. Dieser und jener wurde verkauft, andere Artikel ruhen in meiner Schublade, so wie mein Roman, denn wer interessiert sich heute noch dafür, was damals war?« (Kaufmann, geb. 1918, M)

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Literatur Beck, Ulrich (1986) Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt am Main. Bergmann, Klaus (1991): Lebensgeschichte als Appell. Autobiographische Schriften der ›kleinen Leute‹ und Außenseiter. Opladen. Grosse, Siegfried u. a. (1989): »Denn das Schreiben gehört nicht zu meiner täglichen Beschäftigung.« Der Alltag kleiner Leute in Bittschriften, Briefen und Berichten aus dem 19. Jahrhundert. Ein Lesebuch. Bonn. Hopf-Droste, Marie-Luise (1981): Das bäuerliche Tagebuch. Fest und Alltag auf einem Artländer Bauernhof 1873–1919 (Materialien zur Volkskultur nordwestliches Niedersachsen, Heft 3). Cloppenburg. Jugend ’81 (1982): Lebensentwürfe, Alltagskulturen, Zukunftsbilder. Studie im Auftrag des Jugendwerks der Deutschen Shell, Bd. 1. Leverkusen. Küppers, Waltraud (1964): Mädchentagebücher der Nachkriegszeit. Stuttgart. Mesenhöller, Peter (1985): Der Auswandererbrief. Bedingungen und Typik schriftlicher Kommunikation im Auswanderungsprozeß. In: Hessische Blätter für Volkskunde, 17. Jg., 111‑124. Ottenjann, Helmut/Wiegelmann, Günter (Hg.) (1982): Alte Tagebücher und Anschreibebücher. Quellen zum Alltag der ländlichen Bevölkerung in Nordwesteuropa. Münster. Peters, Jan/Hartmut Harnisch/Lieselott Enders (1989): Märkische Bauerntagebücher des 18. und 19. Jahrhunderts. Selbstzeugnisse von Milchviehbauern aus Neuholland. Weimar. Schober, Manfred (1987): Briefe von Handwerkern, Gesellen und Arbeitern aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert. Eine Bestandsaufnahme nach Sebnitzer Quellen. In: Jahrbuch für Volkskunde und Kulturgeschichte, 143‑177. Warneken, Bernd Jürgen (1981): ›Jetzt kauf i mir Tint’n und Feder und Papier.‹ Zum Themenkreis des Projektseminars ›Schreibkultur‹. In: Tübinger Korrespondenzblatt 22, 12‑18. Ders. (1983): Populare Schreibkultur. Eine explorative Studie über die Schreibpraxis älterer Gelegen­ heitsautoren. In: SPIEL (Siegener Periodicum zur Internationalen Empirischen Literaturwissenschaft), 2, H.1, 1‑23. Ders. (1985) Populare Autobiographik. Empirische Studien zu einer Quellengattung der Alltags­geschichts­ forschung. Tübingen. Ders. (1987) (Hg.): Populare Schreibkultur. Texte und Analysen. Tübingen. Ders. (1988): Zur Schichtspezifik autobiographischer Darstellungsmuster. In diesem Band, 167-184. Ziessow, Karl-Heinz (1988): Ländliche Lesekultur im 18. und 19. Jahrhundert. Das Kirchspiel Menslage und seine Lesegesellschaften 1790–1840 (= Materialien zur Volkskultur nordwestliches Niedersachsen, Hefte 12 und 13), 2 Bde. Cloppenburg.

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In einer horazischen Satire finden sich die folgenden Verse: tum Praenestinus salso multoque fluenti expressa arbusto regerit convicia, durus vindemiator et invictus, cui saepe viator cessisset magna compellans voce cuculum (Helm 1962, 78). Zu deutsch: Darauf lässt auf die Flut von Witz der Mann aus Praeneste Selbst sein Geschimpfe erschallen, wie aus der Pflanzung der Winzer Grob ohne Ende es tut, vor dem auch der Wandrer verstummte, Der mit dem Ruf ›Kuckuck! Kuckuck!‹ doch als erster ihn neckte (ebd., 79). Angespielt wird von Horaz also auf Wortgefechte zwischen Winzern und Wan­derern. Dass es sich bei diesen Zurufen um einen Brauch handelt, belegt eine Passage im 18. Buch der Naturgeschichte des Gaius Plinius Secundus: In hoc temporis intervallo (zwischen der Frühlingsnachtgleiche und dem Früh­auf­gang der Ple­jaden, d. i. zwischen 21. März und 19. Mai, B. J. W.) XV diebus primis agricolae ra­pienda sunt, quibus peragendis ante aequinoctium non suffecerit, dum sciat inde natam exprobrationem foedam putantium vites per imitationem cantus alitis temporariae, quam cuculum vocant. dedecus enim habetur obprobriumque meritum, falcem ab illa volucre in vite deprehendi, et ob id petulantiae sales, etiam cum primo vere, laudantur, auspicio tamen detestabiles videntur (Mayhoff 1967, 212). Während diesem Zeitraum, in den ersten 15 Tagen, muss sich der Bauer mit denjenigen Arbeiten, die er vor dem Aequinoctium nicht vollenden konnte, beeilen; denn bekannt­ lich datiert sich daher der schimpfliche Vorwurf gegen diejenigen, welche den Wein­stock dann beschneiden, wenn ein gewisser Zugvogel schreit, den man Kuckuck nennt. Man

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hält es nämlich für schimpflich, wenn nach dem Erscheinen dieses Vogels eine Sichel am Weinstock bemerkt wird, und deshalb ergötzt man sich beim Beginn des Frühlings mit mutwilligen Scherzen.1 Im lateinisch-deutschen Handwörterbuch von Georges heißt es denn auch unter »cuculus« unter anderem: »höhnender Zuruf an träge Landleute, die mit dem Schneiteln bis zum Kuckucksrufe (d. i. bis nach der Frühlingsgleiche) war­teten« (Georges 1951, 1784). Über das Hin und Her bei diesen Neckereien schreibt der Horazkommen­tator Pom­pon­ ius Porphyrio: Nam solent levia rustici circa viam arbusta vindemiantes a viatoribus cuculli appellari, cum illi provocati tantam verborum amaritudinem in eos effundunt, ut viatores illis ce­dant contenti tantum eos cuculos iterum atque iterum appellare (Hauthal 1966, 143). Also etwa so: Die Bauern, die in den Weingärten nahe der Straße arbeiten, pflegen nämlich von den Vorbeigehenden ›Kuckucke‹ genannt zu werden, während jene, provoziert, diese mit Aus­ drücken von einer derartigen Grobheit überhäufen, dass die Wanderer schließlich weichen, zufrieden damit, nur eben wieder und wieder ›Kuckucke‹ zu rufen.2 Diese Gepflogenheit war nicht auf Italien begrenzt. In der »Mosella« des Deci­mus Magnus Ausonius, geschrieben etwa im Jahr 374 unserer Zeitrechnung, trifft man auf diese Schilderung: Laeta operum plebes festinantesque coloni Vertice nunc summo properant, nunc deiuge dorso, Certantes stolidis clamoribus, inde viator Riparum subiecta terens, hinc navita labens Probra canunt seris cultoribus ( John o. J., 56). Das Volk, das froh hier bei der Arbeit ist, und die geschäftigen Winzer sind flink bald oben am Gipfel, bald dort, wo sich der Abhang neigt, wetteifernd mit albernen Juchzern. Von dort ruft der Wandrer, der unten am Ufer des Weges zieht, von hier der Schiffer im gleitenden Kahn den säumigen Winzern manch schmähendes Wort (ebd., 57).

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In einer Miszelle der »Philologischen Wochenschrift« vom 24. Januar 1924 weist Franz Harder darauf hin, dass solche »Winzerneckereien« auch für das neuzeit­liche Italien belegt sind: In der Schrift »Vie des dames galantes« von Pierre de Bourdeille, Seigneur de Brantôme (1540–1614), findet sich ein Bericht aus der Gegend um Neapel, wonach »die Winzer zu einer be­stimmten Zeit des Jahres und nur in dieser (hier ist es aber die Zeit der Weinlese) die Vorübergehenden mit den unflätigsten Redensarten belegten (…)« (Harder 1924, 88). Für die jüngere deutsche Geschichte hat Harder keine Belege dieser Art entdeckt: »Meine Anfragen bei Anwohnern des Rheines und der Mosel ha­ben nichts ergeben; vielleicht sind andere erfolgreicher« (ebd.). Er hätte eben in Tü­bingen nachforschen müssen; das hätte ihn um die Kenntnis der Gôgenwitze und deren Herausgeber und Kommentatoren um die Möglichkeit be­reichert, diese zumindest damals noch als sehr anrüchig geltenden Witze mit ei­nem fast zweitausendjährigen Stammbaum oder, vorsichtiger gesagt, mit fast zweitausendjährigen Parallelen zu adeln. Bereichert worden wäre durch ein Heranziehen der zitierten antiken Quellen auch die Diskussion um die Herkunft des Namens »Gôg«: Er könnte ja einfach der römische »cuculus« sein, der im Mittelhochdeutschen »gouch« oder »goch« hieß, was damals auch »Tor« oder »Narr« bedeutete (vgl. Fischer 1911, 94 f.). Dass »Gogh« von »Kuckuck« komme, ist freilich schon öfters behauptet worden: Josef Forderer bringt »Gogh« mit dem schwäbischen »Gauch« in der Bedeutung von »Possen­reißer, Schlauberger« zusammen (vgl. Forderer 1964, 62), und Heinz-Eugen Schramm stützt die »Gauch«-Hypothese mit der Überlegung, dass manche den Gôgen ja eine Ab­stammung von den Hunnen unterstellten und diese vielleicht deshalb den Na­men des Eier in fremde Nester legenden Vogels bekommen hätten (vgl. Schramm 1975, 6). Angesichts solch schwach abgestützter Herleitungen konnte Arno Ruoffs Bewertung, die »These einer Herkunft (des Namens »Gogh«, B. J. W.) von ›Georg‹ oder ›Gauch‹ « habe »wenig Wahr­scheinlichkeit, da diese Wörter unkontrahiert in dieser Form in der Mundart bestehen« (Ruoff 1957, 113), als ausreichende Zurückweisung der Kuckuck-Be­deutung von »Gogh« gelten. Doch wenn man nun den weingärtnerischen Bezug des cuculus-Zurufs in der Antike in Anschlag bringt, und wenn man zudem – eingedenk auch dessen, dass »Gog (…) nur in gebildetem, spec. student. Munde« (Fischer 1911, 16) vorkam – nicht den Umweg über das mundartliche »Gauch« nimmt, sondern nur an das mittelhochdeutsche »goch« denkt, dann wird die Verwandt­schaft der Tübinger »Gôgen« mit den römischen cuculi doch ein wenig wahr­scheinlicher. *

Die einleitende Rückbesinnung auf klassische Vorläufer der Gôgenwitze war zugleich eine Reminiszenz an klassische volkskundliche Frageweisen, die von der Empirischen Kulturwissenschaft zu Recht in ihre Schranken verwiesen wor­den sind: »Es ist (…) an der Zeit«, schrieb Hermann Bausinger 1969, »dass (…) die Frage nach geschichtlichen Detailzusammenhängen von einer umfassenderen Fragestellung abgelöst wird, die ganz und gar nicht

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unhistorisch zu sein braucht. Paradoxerweise verschüttet das hektische Ausbuddeln isolierter geschichtlicher Verbindungsgräben ja gerade die Perspektive auf die weitere historische Land­schaft, auf den Lebensstil der Epochen und damit auch auf die relevanten Zu­sammenhänge einzelner Kulturdaten« (Bausinger 1969, 17). Eben: Dass die Gôgenwitze, sofern sie Spott von Winzern über Stadtbürger und umgekehrt enthalten, antike Vorgän­ger haben, ist zwar für Kultursoziologen nicht unnütz zu wissen – es könnte z. B. die Erkenntnis unterstreichen helfen, dass es auch beim Gôgen­witz nicht um »Stammeseigenheiten«, sondern um die Auseinandersetzung von Hand- und Kopfarbeitern geht. Aber die Frage nach der ›Lebensweise‹ dieser Witze, nach ihrer Funktion, kann eben nicht aus deren Traditions-, sondern nur aus ihrem Epochenzusammenhang heraus angemessen beantwortet werden. Und wenn man nach diesem, also nach dem Entstehungs­- und Gebrauchskontext der Gôgenwitze fragt, so führt die Entdeckung alter Verwandter sogar eher in die Irre. Diese Witze selbst sind nämlich in ihrer ganz überwiegenden Mehrheit ausgesprochen jung: Sie sind ein Produkt der In­dustrialisierungsperiode, sind Tübinger Volkskultur in der Moderne. Die erste Edition der Witze ist gerade zehn Jahre älter als Hermann Bausinger, dem dieser Aufsatz gewidmet ist. Sie erschien 1916 in Stuttgart. Sechs Anekdoten mit Gôgen-Aus­ sprüchen waren schon vier Jahre vorher in Versform zum Druck gelangt: in Martin Langs Gedichtbändchen Schbatzaweisheit, das 1912 in Stuttgart her­auskam. Frühere Publikationen von Gôgenwitzen sind mir nicht bekannt. Auch in den zahlreichen Vorkriegsjahrgängen der Tübinger Chronik, die ich bei verschiedenen Tübingen-Projekten der letzten Jahre durchgesehen habe, fand sich keine Anekdote dieser Provenienz; eine einschlägige Durchsicht von Korporations-Ar­chiven, von studentischen Kneipzeitungen und Gazetten steht freilich noch aus. Eine andere Frage ist, seit wann Gôgenwitze – zumal unter diesem Genrena­men – mündlich kursierten. Der habhafteste Hinweis hierzu, den ich kenne, findet sich in Isolde Kurz’ Erinnerungen Aus meinem Jugendland, wo es heißt: »Unzählige Gôgenworte und -witze waren und sind in Tübingen im Schwang« (Kurz 1919, 57). Dabei zitiert Isolde Kurz auch zwei Witze – und zwar die mit den Pointen »em Ra«, und »airscht wenn i jo sag!«. Das Buch erschien zuerst 1918. Es könnte also sein, dass die Lektüre der Sammlung von 1916 oder einer Nachauflage davon die Autorin zu einer Rückprojektion veranlasst hat; vermu­ ten lässt sich jedenfalls, dass sie eine der Broschüren kannte, denn ihre Wieder­gabe des »em Ra«-Witzes übernimmt Formulierungen der Stuttgarter Edition.3 Billigt man ihrer Erinnerung jedoch Authentizität zu, so hieße das, dass Gôgen­witze auf jeden Fall etwa 50 Jahre vorher im Umlauf und vielleicht auch schon ein Begriff waren: Denn Isolde Kurz, 1853 geboren, lebte 1864 bis 1873 in Tü­bingen, bevor sie nach Florenz zog. Aber wie steht es mit der Entstehungszeit der Anekdoten selbst – oder, bei den Wanderwitzen unter ihnen, der Zeit ihrer ›Eingemeindung‹? In einem Fall habe ich den Beleg für einen Ursprung vor 1800 gefunden – und zwar für einen wahrscheinlich tübingerischen Ursprung: Die Anekdote »Wisst Ihr denn nicht, dass heute der Heiland geboren ist?«/»Mir do unte erfahret au gar net, was in der obere Stadt passiert« enthalten in ähnlicher Form die

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Briefe über die Ver­besserung der Landschulen überhaupt und der Wirtembergischen insbesondere, die 1792 geschrieben und 1797 gedruckt wurden.4 Relativ alt könnte auch der Witz sein, in dem eine skeptische Bemerkung über das Para­dies (»Se lobet’s afange au nemme so«) als Reaktion auf Strauß’ Leben Jesu er­klärt wird: Das Buch erschien zuerst 1835. Ansonsten habe ich in keinem der Witze aus den mir vorliegenden fünf Ausgaben und über keinen von ihnen Hinweise auf eine Entstehungs- bzw. Adaptionszeit vor 1863 entdecken können. Hier eine Aufstellung derjenigen Anekdoten, für die ich bisher aufgrund von Angaben in den Witzen selbst eine genaue oder ungefähre Zeitbestimmung5 vornehmen konnte (wobei die in späteren Ausgaben recht zahlreichen Witze, deren Text auf eine Entstehung nach 1918 schließen läßt, nicht aufgeführt sind):6 1. Anekdoten, die selbst eine Datierung enthalten 1975/251: »Am 50. Jahrestag der Schlacht von Leipzig«. Also 1863. 8/52: »Im Jahre 1872«, 1975/252: Es geht um die Einweihung des Uhlanddenkmals, »14.Juli 1873«. 8/128: »im Jahre 1878 zur Reichstagswahlzeit«. 1/18: »anlässlich des 90. Geburtstagsfestes Kaiser Wilhelms I.«: 1887. 1975/343: »Es war um die Jahrhundertwende«. 1975/84: »Es war zu Beginn unseres Jahrhunderts«. 2. Aufgrund des Anekdotengeschehens datierbare Witze 1/45: »vor dem renovierten Tübinger Rathaus«: Die Renovierung fand 1877 statt. 1/61: »Beim Bau der Turnhalle«: Diese wurde 1877 fertig. 1975/191: »auf den Rohbau der neuen Medizinischen Klinik deutend« : Diese Klinik wurde 1879 fertiggestellt. 1975/97: »Der Gemeinderat hat beschlossen, die untere Stadt zu kanalisieren«: Diese Kanalisation begann 1893. 3. Vom Personal her ungefähr datierbare Witze 1975/247: Ottilie Wildermuth. Sie lebte 1817 bis 1877. 1975/255: »Ein Gog, der am Krieg 1870/71 teilgenommen hatte.« 1975/141: »Der Bataillonskommandeur«: Garnisonsstadt war Tübingen seit 1875. 1975/169: Angst um das Leben der erkrankten Mathilde Weber: Diese lebte von 1829 bis 1901. 1975/196 und 203: Weitere Anekdoten um Mathilde Weber. 1/89: Ein Oberbürgermeister, der mit Vornamen »Julius« heißt: Julius Gös, wurde 1874 Stadtschultheiß und war 1887 bis 1897 Oberbürgermeister. 1975/390: Professor Bruns: Paul von Bruns wurde 1877 ao. Professor in Tübin­gen. 1/82: »ein Professor (Heimatschützler)« : Der Bund für Heimatschutz in Württemberg und Hohenzollern wurde 1909 gegründet. 1/19: Königin Olga. Sie war württembergische Königin von 1864 bis 1892.

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1/2: Der erwähnte »Gog« ist laut Michael Greiner (1939, 101) der »Buren­ge­neral« Rudolf Brodbeck, gestorben 1939. (Ihm werden mehrere Gôgenwitze zuge­schrie­ ben.) 1975/49: Zacharias Krauß. Erstmals enthalten im Adressbuch von 1925. 4. Anekdoten, für die sich vom Inventar her ein »non ante« festlegen lässt7 1975/158: »Leben Jesu« von David Friedrich Strauß: Erschien zuerst 1835. 1/98: Verein »Janitscharia«; Er wurde 1844 gegründet. 1/53: »auf der akademischen Rennbahn« (d. i. die Wilhelmstraße): Die Neue Aula in der Wilhelmstraße wurde 1845 eingeweiht. 1/68: Telegraphenleitung: Eine solche gibt es in Tübingen seit 1857. 8/229, 231, 232: Eisenbahnfahrten in der Tübinger Gegend: Die erste Linie der Region wurde 1861 eröffnet (Reutlingen-Tübingen-Rottenburg). 1974/159: Norddeutsche Zeitung: Gemeint sein dürfte hier das in Flensburg herausgegebene Blatt, das seit 1864 existierte. 1/92: Nills Tiergarten in Stuttgart: Dieser wurde 1871 eröffnet. 1/17: »sein Einjähriges abdient«: Eingeführt wurde dieses im Jahre 1871. 1975/231: Augenklinik: Das alte Gebäude stammt von 1875, das neue von 1907. 1975/232: Ohrenklinik: Erbaut 1888. 1975/63: »d’Elefante vom Hagebeck« ; Hagenbecks Dressurzirkus gibt es seit 1890, Hagenbecks Tierpark seit 1907. 1/71: Lokal »Mayerhöfle«: Nach mündlicher Auskunft der Wirtin Ruth Mayer an den Verf. eröffnete es in den 1890er Jahren. 1/20: Das »Denkmal von Herzog Eberhard« auf der Neckarbrücke wird vor­ übergehend zu Reparaturzwecken entfernt: Erstellt wurde es 1903. 8/97: »das neue Justizgebäude«; Es wurde 1905 bezogen. 1974/120: Das Stuttgarter Krematorium: Dieses existiert seit 1907. Das Gros der datierbaren älteren Gôgenwitze verweist auf die letzten Jahrzehnte des 19. und das erste des 20. Jahrhunderts. Die Frage von Max Picard, »ob die Entstehung der Gogenwitze mit der Gründung der Universität einhergeht« (Picard 1980, 6) – er selbst will sie offen lassen –, lässt sich also zumindest vom erhaltenen Witz­bestand her eindeutig verneinen. Und auch Heinz-Eugen Schramms Einschät­zung der Witze als Hervorbringung »einer äußerst selbstbewussten, bodenver­wurzelten Urbevölkerung« (Schramm 1974, 5) führt einigermaßen in die Irre. Denn jene Jahr­zehnte, aus denen die klassischen Gôgenwitze zumeist stammen, sind die Zeit der bis dahin rapidesten sozialen Veränderungen der Stadt. Ihre Ausdehnung, ihre Einwohner- und Studentenzahlen nehmen sprunghaft zu, und aus den »Gôgen« werden mehr und mehr Lohnarbeiter in Industriebetrieben, bei der Bahn, der Post und der Universität. Die traditionelle Weingärtner- und Handwerker­kultur

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Tübingens löst sich auf oder transformiert sich, wird innerhalb der Unterstadt selbst zum Relikt (vgl. Braun u. a. 1978). Die Gôgenworte, die zunehmend kursieren und gesammelt werden, sind allesamt letzte Worte. *

In dem ideologiekritischen Heimatbuch Das andere Tübingen von 1978 werden die Gô­­gen­ witze unter der Überschrift »Wie man aus Geschichte Geschichtchen macht« behandelt (vgl. ebd., 375‑382), und in einem Vorwort zu einem Neudruck der Erstausgabe habe ich 1979 von den »oberstädtischen ›Lustprinzipien‹ « (Tübinger Gogenwitze 1979, 14) gesprochen, die bei der Auswahl der Anekdoten am Werk gewesen seien. Die einstigen Gôgenwitz-Sammler8 erscheinen in solchen Be­urteilungen leicht als bloß am Lachen und Verlachen interessiert, und ihre Sam­melmotive werden lediglich allgemein-sozialpsychologisch gedeutet. Doch wenn man sich vor Augen hält, dass diese Witze ja in der Tat keine typischen Unbildungswitze sind (Röhrich 1977, 257 f.) und die Unterstädter in ihnen oft nicht nur mittels Derbheit, sondern auch mittels Schlagfertigkeit das Feld gegenüber Akademikern behaupten (vgl. Döffinger 1978); wenn man zudem davon ausgeht, dass die Witze gerade in der Zeit gesammelt wurden, in der sich die Modernisierung der Stadt beschleunigte, so liegt eigentlich die Frage nahe, ob bei der Entstehung der Sammlung und bei ihrer Verbreitung nicht im engeren Sinn volkskundli­ches Interesse Pate gestanden haben könnte: Ob es nicht auch Gôgenwitz­-Freunden der ersten Stunde – wie später, mit gewiss neuen Implikaten, den Au­torInnen des Anderen Tübingen – darum gegangen sein könnte, volkskul­turellen »Eigensinn« zu würdigen und »Kulturleistungen« der Unterstädter vor dem Vergessen zu bewahren. Immerhin sind ja die Jahre vor dem Erscheinen der ersten Gôgenwitz-Samm­lung Jahre eines unerhörten Aufschwungs volkskundlicher und heimatpflegeri­scher Bemühungen. Angesichts der »ungeheuerlichen Ausdehnung des Indu­strialismus« und der »ungeheuren Ausdehnung des städtischen Lebens« wurde gefragt: »Ist es nicht die letzte Stunde, in der wir hoffen können, aus unserem Volksleben wertvollste Materialien zu retten, die in ganz kurzer Zeit unwieder­bringlich verloren sein werden (…)?« (Hahn 1911, 227) Was dabei speziell Württemberg angeht, so schließen sich kurz vor 1900 einige Wissenschaftler zur Württembergischen Vereinigung für Volkskunde zusammen (vgl. Dölker 1980, VI), die 1899 zusammen mit dem Stati­stischen Landesamt unter Federführung von Karl Bohnenberger den »Aufruf zur Sammlung volkskundlicher Überlieferungen« herausgibt, wobei unter anderem Redensarten, Schwänke, Nachbar- und Ortsneckereien gefragt sind. Beteiligen sollen sich neben Geistlichen und Lehrern, Forstbeamten und Ärzten alle, bei denen »Kenntnis volkstümlicher Überlieferung zu erwarten ist« (ebd., IX). Zur selben Zeit entsteht in den Heimatschutz- und Heimatpflegeverbänden eine Fachleute und Laien umfassende Bewegung, die sich unter anderem um das ›Sammeln und Retten‹ von Volkssprache und Volkserzählung kümmert (vgl. Frei 1984). 1904 wird der Deutsche Heimatbund gegründet, 1909 der

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Bund für Heimatschutz in Würt­temberg und Hohenzollern, der auch in Tübingen aktive Mitglieder hat.9 Zudem haben Wandervereine wie der 1889 entstehende Schwäbische Albverein die »Förderung der Kunde von Land und Leuten« auf ihr Programm gesetzt (vgl. Bohnenberger 1900, 39) – eine Aufforderung Bohnenbergers zur Beteiligung an der »Sammlung volkstüm­licher Redensarten« erscheint in den Blättern des Schwäbischen Albver­eins, begleitet von dem Hinweis: »Ein Unternehmen wie das unserige kann nicht auf den Schultern einzelner Männer liegen, die weitesten Kreise des Volkes müssen es als das ihrige ansehen« (ebd.). In Tübingen selbst werden seit 1898 die Tübinger Blätter als »Organ der Heimatpflege des alten und des neuen Tübin­gens« (Gößler 1947, 93) herausgegeben, und 1911 folgt die Gründung des Tübinger Kunst- und Altertumsvereins, der u. a. »das Interesse für die Geschichte unserer Stadt und Umgebung zu heben« vorhat.10 Auch diese Unternehmungen sind Ausdruck ei­nes neuen Heimat- und Traditionsbewusstseins, das – wie es z. B. ein Aufsatz Martin Elsäßers von 1920 dokumentiert – nicht zuletzt auf die rasche Verände­rung der von vielen noch erinnerten »alten fast noch unberührten Stadt Tübin­gen« durch eine als problematisch empfundene »zivilisatorische Entwicklung« reagiert (vgl. Elsäßer o. J.). Als Symbol dieses Zusammenhangs kann man es nehmen, dass 1911, das Gründungsjahr des Kunst- und Altertumsvereins, in der Stadtchronik des Adressbuchs von 1912 als »größtes Baujahr Tübingens« firmiert. Nun habe ich freilich – zumindest einstweilen – in volkskundlichen und hei­mat­pfle­ge­ rischen Publikationen jener Jahre keinen Hinweis darauf gefunden, dass ihre Mitarbeiter sich mit dem Sammeln von Gôgenwitzen beschäftigt hätten; und es war nicht in Erfahrung zu bringen, ob die Beiträger zur ersten Ausgabe mit der Heimatbewegung zu tun hatten und die Witze auch in deren Sinn interessant fanden.11 Die Tatsache, dass die Broschüre von 1916 quasi-wissenschaftlich in zwei Abschnitte unterteilt ist, die mit »Kraftaus­drücke und Redensarten« bzw. »Anekdoten« überschrieben sind, kann gewiss nicht als ausreichender Beweis für ernsthaft-volkskundliche (Neben-)Absichten der Sammler und Herausgeber gelten. Sicher ist jedoch, dass zeitgenössische Heimat- und Volkskulturpfleger die Gôgenwitze gleich nach dem Erscheinen der Erstausgabe für sich entdeckt und für ihre weitere Verbreitung gesorgt ha­ben. Der Beleg hierfür findet sich an nichtwürttembergischem und kaum ver­mutbarem Ort: In den Kaufbeurener Deutschen Gauen, dem von Christian Frank herausgegebenen Organ des Vereins Heimat.12 Frank, der zu den Gründungsmitgliedern des Vereins für Volkskunst und Volkskunde (seit 1902) und des Deutschen Heimatbundes (seit 1904) gehört (vgl. Frei 1984, 327), publiziert in seiner Zeitschrift Deutsche Gaue seit 1913 Anekdoten und Re­densarten aus dem »Volk«, die Mitglieder des Vereins Heimat auf seine Auffor­derung hin gesammelt und eingesandt haben (vgl. Deutsche Gaue 1913, 327). Diese werden dabei vor ihren Verächtern und ihren falschen Freunden in Schutz genommen: »Ganz übel be­raten ist, wer glaubt, der Volksforscher wolle mit diesen oft so köstlichen Klein­bildern nur Spaß machen. Sie dienen der Volks- und oft auch Ortsgeschichte« (ebd. 1917, 53). Frank wendet sich zudem gegen gängige volkskundliche Selektionskriterien, die das ›nur Aktuelle‹ ebenso wie das ›Anstößige‹ liegenlassen: »Gerade die umlaufenden geflügelten Worte und Witze, auch die blutigsten,

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sollen einzeln notiert und im Heimatarchiv hinterlegt werden« (ebd. 1913, 126). Die Veröffentlichung der »beliebten Schnitz« (ebd. 1914, 189) wird den ganzen Krieg über fortgesetzt, und in Heft 337/338 des 17. Jahrgangs 1916 präsentieren die Deutschen Gaue 30 Gôgenwitze aus der soeben erschienenen Stuttgarter Broschüre – nach Frank solche, »die volkskundlichen Wert haben dadurch, dass sie die Art des Gogen ir­gendwie kennzeichnen« (ebd. 1916, 234). In einer Vorbemerkung spricht der Stuttgarter Archi­var F. Bauser bedauernd vom »Schwinden« der »Gogerei« und vom bevorste­henden »Aussterben« der Gôgen; er lobt ihren »Mutterwitz, der nach keiner Konvention frägt, derb und natürlich ist bis zur vollendeten Naturtreue«. Frank selbst nennt die Gôgen »eine der Heimatscholle anhängende und den alten Sit­ten, Gebräuchen und Lebensgewohnheiten treugebliebene Urbevölkerung« (ebd., 232 f.). Ironische, herablassende Töne fehlen völlig: Der Tübinger Unterstädter, vom Tübingen-Historiker Eifert 1849 als teilweise »von Rohheit und Brutalität be­herrscht« (Eifert 1849, 233) verunglimpft, in der Oberamtsbeschreibung 1867 distanziert als »nicht wohl definirbar(es)« Wesen bezeichnet, das »nahezu eine mittlere Pferde­ kraft (repräsentirt), (…) aber dafür aller jener Gefühle (ermangelt), welche man unter dem Begriff Pietät zusammenfaßt« (Beschreibung des Oberamts Tübingen 1867, 116) – dieser Unterstädter ist zum Vor­bild an Heimat- und Naturgefühl avanciert. *

Eine solche Umwertung der »Gôgen« und das öffentliche Reüssieren der Gôgenwitze sind nun freilich mit Industrialisierungs- und Modernisierungsvor­gängen im Kaiserreich noch nicht ausreichend erklärt. Sie haben noch eine ganz besondere Ursache: den Weltkrieg. Die erste Gôgenwitzbroschüre war eine Feldpostausgabe für die Front;13 und auch die Deutschen Gaue schickten ihren »Feldheimatlern« offensichtlich ein Gôgenheft, von dem die in der Zeitschrift selbst abgedruckten Witze nur einen Auszug darstellten (vgl. Deutsche Gaue 1917, 15). Diese Publikationen reihen sich also ein in den Witzhefte-Boom, den der Erste Weltkrieg mit sich brachte. Zunächst gab es al­lerdings Bedenken, ob die teilweise ja recht derben Witze die Zensur passieren dürften. Der Sohn eines der Herausgeber berichtet über die Erstauflage: »Die Ausgabe wurde privatim König Wilhelm II. zur Begutachtung vorgelegt, weil sich einige empfindsame Herrn störrisch zeigten. Der König habe gesagt, für seine Soldaten sei das Büchlein ganz geeignet, nur dürfe man es nicht seiner Frau zeigen.«14 Der König behält Recht: Die Broschüre, anonym herausgegeben und von einem voller Entschuldigungen für die folgenden Unfeinheiten steckenden Gedicht eingeleitet, erlebt innerhalb der Kriegszeit mehrere Auflagen,15 und auch die »Deutschen Gaue« vermerken über ihre Witzeauswahl: »Der Auf­marsch dieser ›Gogen‹ wurde im Feld mit Hurra empfangen« (Deutsche Gaue 1917, 15). Die Tübinger Unterstadtwitze, von denen Herbert Schöffler noch 1955 meint: »­( W)ir müssen geradezu suchen, ehe wir im dunklen Unterholzgestrüpp der Scherze der Tübinger Gogen (Weingärtner) einige finden, die überhaupt wiedergebbar sind« (Schöffler 1955, 23),

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profitieren ganz offensichtlich von den Enttabuisierungs- ­und Regressionstendenzen, die die Kriegskultur mit sich brachte. Was die »Kraftausdrücke«, die Schimpfreden der Tübinger Unterstädter angeht, so fallen sie angesichts des Umgangstons in Schützengraben und Etappe nicht mehr aus dem Rahmen: »Derb und kräftig, laut und mitunter schreiend sind oft die Ausdrücke« (Meier 1917, 4), heißt es selbst in John Meiers verharmlosender Darstellung Deut­sche Soldatensprache von 1917. Ebenso ist der Mangel an Pietät, den die Oberamtsbeschreibung den Tübinger Weingärtnern ankreidete, nach zwei Jahren des Völkerschlachtens kein Skandalon mehr; Sterben und Tod möglichst ungerührt hinzunehmen, ist auch für das Bürgertum zur Tugend geworden. Und was das berühmteste Element der Gôgenwitze betrifft, ihre Affinität zum Skatologischen, so trifft dies an der Front auf konkordiale Verhaltensweisen: »(…) das beliebteste Wort lautete Scheiße«, schreibt Erich W. Unger in einem Roman über den Ersten Welt­krieg (vgl. Hirschfeld/Gaspar o. J., 464), und W. Michael läßt seinen »Infanteristen Perhobstler« über den ge­samtnationalen Gebrauch des »schwäbischen Grußes« berichten: »Wir regten uns nicht mehr über Wasserlöcher, Schnee oder Regen auf, ließen, wo es anging, Befehl Befehl sein und sagten, wenn uns etwas nicht passte, ›Leck mich im Arsch‹, wie man sonst ›Danke‹ oder ›Bitte‹ sagt« (vgl. ebd., 468). Vor allem aber sollte man sich vergegenwärtigen, dass auch der intime praktische Umgang mit aller Art von Dreck, für das bürgerliche Tübingen spezielles Signum der Unterstadtkultur, an der Front Allgemeingut wird: Der »unermessliche Schmutz« (ebd., 481) des Schützengra­bens ist damals sprichwörtlich – im Soldatenjargon heißt er »Saugasse« oder »Scheißgasse« (Meier 1916, 5). Für »Waschen« gehen die Bezeichnungen »Dreck schaben« oder »Lehm kratzen« um (vgl. Meier 1917, 5). Hinzu kommt der Alltag auf der Ge­­ mein­schaftsla­trine, wie sie unter anderen Remarque in seinem »Im Westen nichts Neues« be­schrieben hat: Auch hier senkt der Krieg die Schamschwelle auf solch breiter Front, dass der dungtragende und abortleerende »Gôg« für Mannschaften und Of­fi ziere mühelos zum Kameraden werden kann. Und nicht nur kulturell, auch ideologisch vermindert der Weltkrieg die Di­stanz zwischen Ober- und Unterschichten, Ober- und Unterstadt. Das Bestre­ben, eine nationale Kriegsgemeinschaft aller Parteien und Klassen herzustellen, steigert den Kurswert von Volkskultur bei ihren vormaligen Verächtern. Christian Frank vermerkt nach Kriegsausbruch mit Genug­tuung: Es giebt wohl keine Zeitschrift, welche in so scharfer Weise wie die Deutschen Gaue gegen die unächte Bildung, die nichts als Einbildung ist, auf­trat, die gespreizte Vornehmheit geißelte und auf den klaffenden Riss zwischen dem Volk und den Höher­gestellten hinwies, den keine Sophistik hinterher weg­läugnen kann. Erst das Erdbeben der Gemüter Anfangs August 1914 hat diesen Abgrund teilweise geschlossen und jetzt helft mit, jene zu verscheuchen, welche die Kluft wieder aufgraben möchten. Das Blut des Volkes soll nicht umsonst vergossen werden (Deutsche Gaue 1914, 178).

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Unter solche Leitmotive wird in der Folgezeit auch die Se­rie der »Schnitz«-Veröffentlichungen der Deutschen Gaue gestellt: Die den Anekdoten beigegebenen Kommentare mahnen: »Derbheiten dürfen uns beim Volk niemals in Harnisch bringen« (ebd. 1917, 53), und sie belehren: »Auch der gelehrteste wie vornehmste Mann kann sehr ungebildet sein. Umgekehrt hat er kein Recht, das Volk als die ›Masse der Ungebildeten‹ zu betrachten. Denn in diesem ›Volk‹ herrscht gewiss so viel Urteilskraft und natürliches, also richtiges Empfinden wie in andern Kreisen. Die fortgesetzte Betonung von Gebildet und Ungebildet würde nicht zur sozialen Versöhnung führen« (ebd. 1916, 32). Ganz in diesem Sinne lobt F. Bauser dann auch die Gôgen für das Selbstbewusstsein, mit dem sie den obe­ren Bildungsschichten entgegenträten: »Der Gog lässt sich (…) in seinem Auf­treten der übrigen, sich erhabener dünkenden Menschheit gegenüber nicht im­ponieren; denn er ist Demokrat bis in das Mark seiner Weinknochen und weiß, dass er bei Wahlen den Ausschlag gibt« (ebd., 233). *

Der Durchbruch der Gôgenwitze im Ersten Weltkrieg, so läßt sich resümieren, verdankt sich einer bildungsbürgerlichen Öffnung gegenüber Volkskultur, die mehrdeutigen Charakter hat. Politisch gesehen enthält die neue Sympathie für die »Gôgen« gewiss eine antiständische, ja demokratische und soziale Kompo­nente; doch wird diese zumindest in den vorliegenden Zeugnissen von einer Kriegsgemeinschaftsidee dominiert, hinter der schon die spätere »Volksgemein­schaft« (mitsamt Theodor Haerings Rede auf Alt-Tübingen von 1937) lauert – eine Gesellschaft, in der sich in Wahrheit die Intelligenz gar nicht Volksbe­ dürfnissen öffnet, sondern zusammen mit dem Volk nur sogenannten nationalen oder völkischen Interessen unterworfen wird. Sozialpsychologisch betrachtet, markiert die öffentliche Kenntnisnahme von den Gôgenwitzen ein gewisses Zurück­drängen wilhelminisch-viktorianischer Doppelmoral, eine partielle Ermäßigung von Körpertabus und Körperlichkeitsverleugnung; aber in der Freude über die »Derbheit« und »Natürlichkeit« der Tübinger Weingärtner steckt ein Gutteil Sado­masochismus: Das Bekenntnis dazu, dass der Mensch auch Fleisch sei, scheint in manchem Lachen über die Gôgenwitze von dem Zynismus überschrien zu wer­den, dass der Mensch ja gar kein Mensch, sondern bloß ein Stück Fleisch sei – oder, wie Paul Englisch es in seinem Buch über Skatologica meinte, »ein Häuf­lein Dreck« (Englisch 1928, 101).

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Anmerkungen 1 2 3 4

Übersetzt unter Benutzung von Wittstein (1881, 391). Übersetzung von B. J. W. Nämlich »Nachbargrundstück« und »herrenloser Schubkarren«. Der laut dem Herausgeber früh gestorbene, anonyme Autor der Briefe war laut Ein­leitung S. XIII der in Stuttgart erschienenen Edition Universitätsabsolvent. Dieser Hinweis (Tü­bingen war ja die einzige württembergische Universität), die Erwähnung einer unteren und oberen Stadt (die es freilich nicht nur in Tübingen gab) und das Wiederauftau­chen der Anekdote in den Gogenwitzen legen den Schluss nahe, dass die Version von 1792/1797 sich ebenfalls auf Tübingen bezieht. Sie lautet so: »Am CharFreitag erzälte ein Prediger einem Kranken aus der Leidensgeschichte Jesu, dass er für die Menschen ge­storben sey, worauf sich dieser vernehmen lies: ists wahr, haben sie ihn umgebracht? Wir Leute in der unteren Stadt erfahren doch auch gar nichts von dem, was oben in der Stadt vorgeht« (Briefe über die Verbesserung 1797, 7). Die Anekdote in der Gogenwitz-Ausgabe von 1916 lautet: »Zwei Weiber schimpfen einander auf das Gasse am Christfest. Der vorübergehende Geistliche mahnt zum Frieden: ›Wisst Ihr denn nicht, dass heute der Heiland geboren ist?‹ – Antwort: ›Ha sell wär?! Mir do unte erfahret doch au gar et, was in der obere Stadt passiert‹ (G.-W. 1916, 29). 5 Vorausgesetzt natürlich, dass Datierungen und Datierungshilfen in den Witzen nicht nachträglich und fälschlich hinzugefügt worden sind. 6 Die Ziffern bei den Anekdoten bedeuten: Auflage bzw. Erscheinungsjahr/Anekdoten­nummer (Durch­ nummerierung der Ausgaben von B. J. W.). 7 Ein Anspruch auf Vollständigkeit wird (auch) in dieser Rubrik nicht erhoben! 8 Wie inzwischen bekannt ist, waren es drei in Tübingen aufgewachsene Akademiker: ein Gymnasial­ lehrer, Viktor Kommerell, ein Privatdozent für Mathematik, Karl Kom­merell, und ein Staatsanwalt, Hermann Cuhorst. 9 Von Konflikten zwischen Heimatschützern und Unterstädtern zeugt nicht nur der Go­­gen­witz 82 in der Ausgabe von 1916 (»Gang’ hoim, du Heimat­schutz­lueder, du ver­rekts«), sondern auch ein dem Ludwig-Uhland-Institut von Leon­hard Gu­gel, Tü­bingen, überlassenes handschriftliches Gedicht von 20 Seiten Um­fang, das »Heimat­schutz« über­schrieben ist und ›stadtver­schönernde‹ Eingriffe des Heimat­schutzes in die Unterstadt kritisiert. 10 Vgl. § 2 der Satzung des Vereins, veröffentlicht in: Tübinger Blätter, 15. Jg. 1913/14, 12. 11 Ich konnte nur herausfinden, dass der Mitherausgeber Cuhorst die Tübinger Blätter bezog (vgl. die Abonnentenliste in deren 1. Jg. 1898, Beilage zu Heft 3). 12 Den Hinweis, dass in den Deutschen Gauen etwas über die Gogen(witze) erschienen sein müsse, erhielt ich von Martin Scharfe. 13 Die einleitende »Widmung« von Romeo (d. i. der Verleger Otto Sautter) beginnt so: »Heut sind es ganz besondere Liebesgaben, Die nicht den Leib, die bloß die Seele laben Mit derber, starker, würz’ger Kost, Erheit’rung bringend, Kurzweil, Trost.« 14 Briefliche Mitteilung von Hermann Cuhorst jun. an B. J. W. vom 30. 5. 1978. 15 Die 6. Auflage (Stuttgart o. J.) enthält auf S. 32 folgendes »Geleitwort«, wiederum von »Romeo« (vgl. Anm. 13):

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»G.-W. – wohin Ihr auch gekommen Da hieß man freundlich Euch willkommen So Mannschaft, als Generalität Zeugt laut für Eure Qualität. Im ›Nu‹, da waret Ihr vergriffen So zieht nun wieder – ungeschliffen Doch doppelt stark – ins Feld hinaus: ›Wo Traurige sind macht Frohe d’raus.‹ «

Literatur Gogenwitz-Ausgaben G.-W. Stuttgart 1916 (1. Auflage). G.-W. Kraftausdrücke und Redensarten der Tübinger Weingärtner. 6., verbesserte und ver­mehrte Auflage Stuttgart o. J. Desgl., 8. vergrößerte Auflage Stuttgart o. J. (1935). G.-W. Kraftausdrücke, Redensarten, Anek­doten und Witze der Tübinger Weingärtner. 12. vermehrte Auflage Stuttgart o. J. (1938). Schramm, Heinz-Eugen (Hg.): Tübinger Gogen-Witze. Tübingen 1974. Desgl., 1975. Tübinger Gogen-Witze Urausgabe. Tübingen 1979. Picard, Max (Hg.): Die schönsten Gogenwitze. München 1980. Sekundärliteratur Bausinger, Hermann (1969): Zur Algebra der Kontinuität. In: Ders./Wolfgang Brückner (Hg.): Kontinui­ tät? Geschichtlichkeit und Dauer als volkskundliches Problem. Berlin, 9‑30. Beschreibung des Oberamts Tübingen (1867). Hg. von dem K. Statistisch-Topographischen Bureau. Stutt­ gart. Bohnenberger, Karl (1900): Aufruf zur Sammlung volkskundlicher Überlieferungen. In: Blätter des Schwä­ bischen Albvereins, 12. Jg., Beilage zu Heft 1, Sp. 39. Braun, Karl, u. a. (1978): Das andere Tübingen. Kultur und Lebensweise der Unteren Stadt im 19. Jahr­ hundert. Tübingen. Briefe über die Ver­besserung der Landschulen überhaupt und der wirtembergischen insbesondere (1797). Stuttgart. Döffinger, Gertrud (1978): Der Gogenwitz: Dichtung und Wahrheit. In: Tübinger Korrespondenzblatt Nr. 18, 4‑9. Dölker, Helmut (1980): Vorwort zum Neudruck von Karl Bohnenberger (Bearb.): Volks­tümliche Über­ lieferungen in Württemberg. Glaube-Brauch-Heilkunde. Hg. von der Landesstelle für Volkskunde Stutt­ gart und dem Württembergischen Landesmuseum Stuttgart. (= Forschungen und Berichte zur Volks­ kunde in Baden-Württemberg, Bd. 5.) Stuttgart. Eifert, Max (1849): Geschichte und Beschreibung der Stadt Tübingen. Tübingen. Elsäßer, Martin (o. J.): Tübingen in alter und neuer Zeit. In: Bund für Heimatschutz in Württemberg und Hohenzollern (Hg.): Schwäbisches Heimatbuch 1920. Stuttgart, 5‑18. Englisch, Paul (1928): Das skatologische Element in Literatur, Kunst und Volksleben. Stuttgart.

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Die Stunde der Laien Eine Studie über populare Apokalyptik der Gegenwart

Am 2. Februar 1995 publizierte die Illustrierte STERN unter der Überschrift »Weltuntergang« einen Schreibaufruf, in dem es u. a. hieß: »Kulturwissenschafts-Professor Bernd Jürgen Warne­ken möchte (…) wissen, wie man außerhalb von ›Expertenkrei­sen‹ über einen möglichen Untergang der Menschheit oder zumin­dest unserer Gesell­schaft denkt. Welche Gefahren werden für die größten gehalten, welches Bild von künftigen Katastrophen macht man sich, welche Lösungsvorschläge gibt es?‹ Unter dem Motto ›Weltuntergang? Mei­nungen, Warnungen, Phantasien‹ for­dert Warneken deshalb alle auf, die zu dem Thema etwas mittei­len wollen, ihre Vorstellungen, Äng­ste und Visionen aufzu­schreiben.«1 Den EinsenderInnen wurde die Einbringung ih­rer Texte in eine volkskundliche »Visiothek« zuge­ sagt und ein Bei­trag des STERN über die »interessantesten Texte« in Aus­sicht gestellt.2 Diesem Schreibaufruf liegt ein mehrfaches Erkenntnisinteresse zugrunde. Es gilt zunächst dem durch die Jahrtausend­wende verstärkten Diskurs über Zukunft und Gefährdetheit der Welt, der Menschheit, der Zivilisation als solchem. Dabei geht es vor allem um Differenz und Differenzierung: Die Einsendungen aus verschie­denen Bevölkerungsgruppen machen es zum einen möglich, gängige – vor allem von der Medienintelligenz verbreitete – Auffassungen von aktueller Endzeitangst und Endzeitlust zumindest ein Stück weit zu prüfen und dabei auch Unterschiede zwischen diesen Gruppen aufzuzeigen und zu interpretieren. Zum andern ist ein Schreibauf­ruf, der den Befragten mehr Platz und mehr Selbstentfaltung ein­räumt als die Meinungsumfrage und ihnen eine längere Bedenkzeit und eine intensivere Denkarbeit (mit breiterer Ressourcennutzung) gestattet als das Interview, gut dazu geeignet, je individu­ellen Vielschichtigkeiten – Ambivalenzen, multiplen Erkenntnis­quellen und Erkenntnisformen, Selbstreflexivität usw. – auf die Spur zu kommen. Doch das Interesse gilt nicht nur den konkreten Äußerungen zum Weltuntergang, sondern den Einsendungen als Exempeln und Ausschnit­ten einer kulturellen Praxis, die ich »populare Philosophie« nen­nen möchte.3 Gemeint ist damit die nichtprofessionelle, »laienhaf­te« Denkarbeit von Personen aus unteren und mittleren Bildungs- und Sozialschichten, die sich mit der ›Stellung des Menschen in der Welt‹ beschäftigt; eine geistige Betätigung, die sich dem Inhalt wie der Form nach zumindest graduell vom Alltagsdenken unterscheidet, indem sie zum einen über die zur Alltagsbewälti­gung unmittelbar notwendigen Wissensbestände und Erkenntnisebenen hinausgeht, zum andern die Alltagspraxis temporär suspendiert, »Bedenkzeit« aus ihr herausschneidet und dabei mehr oder weniger intensiv spezielle Hilfsmittel (wie z. B. Fachliteratur) und spezielle Tätigkeitsweisen (wie z. B. schriftliche Ausarbeitung) einsetzt. Von der volkskundlich-kulturwissenschaftlichen For­schung – und nicht nur von dieser – ist die »populare Philoso­phie«, die ja sicherlich keine Ausnahme-,

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sondern eine Massener­scheinung darstellt, bisher nur partiell zur Kenntnis genommen worden. Die klassische Aberglaubens- bzw. Volksglaubensforschung ebenso wie die kulturwissenschaftlichen Studien zur modernen Eso­terik (vgl. u. a. Greverus/Welz 1990; Otten 1995) erfassen nur, aber immerhin einzelne Sektoren des hier Gemeinten. Die Beschäf­tigung mit »Volkswissen« wiederum beschränkt sich zwar nicht auf die unter diesem Begriff aufgeführten Rubriken der Volkskundlichen Biblio­graphie;4 doch wurden populare Kenntnisse und Reflexionen zu ge­sellschafts-­und geschichtsphilosophischen Problemen – soweit ich es überblicke – fast nur en passant, nicht je­doch als eigen­ständiges Thema behandelt. Und wenn Texte popularer Au­torInnen gesammelt und untersucht werden, stehen autobiographi­ sche Gattun­gen wie Brief und Lebenserinnerung im Vordergrund – kunstlite­rarische Genres vom Gelegenheitsgedicht bis hin zum Ro­man werden ebenso selten einbezogen wie Aufsätze, die sich in fachwissen­schaftliche Diskussionen einklinken, oder Festreden (z. B. in Ver­ein und Familie), in denen ja oft auch Weltanschau­ungen formu­liert werden. Wenn die oft verkündete Maxime, man müs­se die aus hegemonialer Sicht illegitime Kultur »ernst nehmen«, jedoch wirk­lich ernst gemeint ist, sollte man sich für populare DenkerInnen nicht nur dort interessieren, wo sie als Darsteller und, in Gren­zen, als Analytiker ihres Lebenslaufs sowie des Alltags und der Kultur ihrer Eigengruppe auftreten, sondern auch dort, wo sie zu allgemeineren Fragen Stellung nehmen, wo sie mit­zureden, sich in den Diskurs der »Deutungseliten« über den Gesellschafts- und Weltzustand einzuklinken versuchen. Die folgende Darstellung wird sich auf einige Aspekte der spannungsreichen Be­ziehung zwischen diesem Eliten- oder Gebilde­tendiskurs und dem Populardiskurs konzentrieren. Dabei werden zum einen verbreitete Elitenmeinungen über populare Endzeitvorstel­lungen mit Aussagen in den Einsendungen und vor allem Aussagen von EinsenderInnen aus verschiedenen Bildungsgruppen miteinander ver­glichen. Zum andern und vor allem geht es um die Frage, auf wel­che Ressourcen AutorInnen unterer und mittlerer Bildungsschichten zurückgreifen, um ihrer Meinung im öffentlichen Diskurs Geltung zu verschaffen, und es wird zu zeigen sein, dass die Diskussion über Menschheitsgefährdungen einer solchen Etablierung besondere Chancen bietet. Weltuntergang als Männersache

Der Auf­ruf erbrachte 363 Einsendungen. Ihr Umfang betrug im Durchschnitt etwa fünf Seiten;5 die Textsorten reichten von der Meinungsäußerung (Typ Leserbrief ) über Thesenpapier und Abhand­lung bis hin zu Gedicht, Kurzgeschichte, Dialogszene. Zahlreiche EinsenderInnen legten Tagebuchauszüge, Aufsätze, Broschüren oder Bücher aus eigener oder Zeitungs- und Zeitschriftenbeiträge aus fremder Feder bei. Fast alle, nämlich 344 AutorInnen füllten ein ih­nen anschließend zugeschick­tes Daten­blatt aus, in dem unter anderem nach Alter, Bildungsabschluss, Be­ruf, elter­lichen Berufen, Konfes­sion,6 Fa­milienstand, Kinder­zahl gefragt wurde.7 Aus diesen Daten war ablesbar, dass Personen mit Abitur­ abschluss zu 52 Prozent, solche mit Realschulabschluss oder Ähnlichem (abgek.: RS) zu

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34 Prozent und mit Volksschulabschluss (abgek.: VS) immerhin zu 15 Prozent vertreten waren. Die STERN-Leserschaft dagegen hat zu 38 Prozent Volksschulabschluss, zu 35 Prozent eine weiterführende Schule besucht und zu 28 Prozent Abitur (vgl. Der STERN 1995). STERN-LeserInnen mit Abitur sind bei den Einsen­dungen also fast um das Zweifache über-, solche mit Volksschul­abschluss um mehr als das Zweifache unterrepräsentiert. Wenn man – stark vereinfachend – die EinsenderInnen ohne Hochschulstudium oder Hochschulreife als die im engeren Sinn »popularen AutorIn­nen« bezeichnet, stellt diese Gruppe die knappe Hälfte der Ein­sendungen. Neben den höheren Bildungsgruppen waren ältere STERN-LeserInnen deut­lich häufiger vertreten. 22 Prozent der Einsendungen stammen von Au­torInnen über 70 Jahre, 32 Prozent von 50- bis 69-Jährigen, ebenfalls 32 Prozent von 30- bis 49-Jährigen und 13 Prozent von bis zu 20-Jährigen. (Im Vergleich dazu die STERN-Leserschaft: Hier sind 8 Prozent über 70 Jahre, 28 Prozent 50 bis 69, 39 Prozent 30 bis 49, 26 Prozent 14 bis 29 Jahre alt; vgl. Der STERN 1995.) Her­vorzuheben ist auch der starke Männerüber­schuss bei den AutorInnen: Frauen, die 45 Prozent der STERN-Leserschaft ausma­chen, lie­ferten nur 28 Prozent der Einsendungen; in der Abiturgruppe stammen etwas über 28 Prozent, in der Volksschulgruppe 23 Prozent und in der Real­schulgruppe etwa 35 Prozent der Texte von Frauen.8 Diese deutliche Minder­beteiligung von Frauen unterscheidet den STERN-Aufruf von Schreibaufrufen zu lebens- und all­tagsge­schichtlichen Themen, an denen sich Frauen erfahrungsgemäß in ähnlicher Quote wie die Män­ner beteiligen.9 Für Weltzustand, Weltuntergang und Weltrettung, so scheint es, fühlt sich vor allem dasje­nige Geschlecht kompe­ tent, das auch die überwältigende Mehr­heit der Politiker, der Priester und der Patentanmelder stellt. Die Geschlechterdifferenz bei der Zuständigkeits-Frage setzt sich übrigens in den Texten fort: Wo Vorschläge zur Rettung von Welt und Gesellschaft gemacht werden, reden die Frauen eher von »bei sich selbst anfan­gen«, von weniger Haushaltsmüll und der eigenen Übung in Beschei­denheit, wogegen die Männer sich eher auf den Feldherrnhügel stellen und politische, soziale oder technologische Globalkonzep­te liefern. Endzeithysterie 2000?

In den Massenmedien war vor der Jahrtausendwende immer wieder von einem ver­breiteten »eschatologischen Muffensausen« (vgl. Frankfurter Rundschau, 2. 8. 1997) die Rede. Nun gab es in der Tat zahlreiche Gruppen, die mit der Jahrtausendwende Endzeiterwartungen verbanden. Die Mas­senhysterie jedoch, die teils besorgt, teils lüstern an die Wand gemalt wurde, war ein Phantasma.10 Bei einer Umfrage der Schweizerischen Illustrierten annabelle im März 1995 glaubten weniger als ein Prozent der be­f ragten SchweizerInnen an ei­nen Weltunter­gang bis zum Jahr 2000;11 und bei einer ebenfalls 1995 durchgeführten deutschen Erhebung zu dem Thema, was einem im Blick auf die nächsten zehn Jahre am meisten Angst mache, nannten 59 Prozent Kriminalität, 52 Prozent Arbeitslosigkeit, aber nur sieben Prozent einen zeit­lich nicht genauer bestimm­ten »Weltuntergang«.12 Einen ähnlich

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geringen Stellenwert hat die Jahrtausendwende in den Texten der STERN-EinsenderInnen: Nur bei vier Autoren läßt sich eine expli­zit auf die »Zeitenwende« des Jahrs 2000 bezogene Untergangser­war­tung feststellen. Groß ist allerdings der Anteil derer, welche der Menschheit auf längere Sicht eine ungünstige Prognose stel­len: Etwa die Hälfte der Autoren wie der Autorinnen hält sie für gefähr­det, ein starkes Drittel der Autoren und ein schwaches Drittel der Autorinnen rechnet mehr oder weniger fest mit ihrem nicht zu fer­nen Untergang. Als Ursachen für die Ge­fährdung der menschlichen Gattung werden, wie auch von Medien- und Expertenseite, Faktoren wie Ozonloch, Wasser­knappheit, En­ergieerschöp­ fung, Überbevölkerung, Atomkriege, Seuchen usw. genannt. Eine Apokalypse im bibli­schen Sinn wird – explizit – nur in etwa fünf Prozent der Texte erwartet. Das bedeutet jedoch nicht, dass in den übrigen Untergangsvorhersagen die »kupierte Apokalypse«, ein Untergang ohne Übergang angesagt sei. Die verbreitete Auffassung, »heutigen Endzeiten« sei »die Zukunft endgültig abhanden gekommen« (Sofsky 1982, 62), die moderne Apokalyptik reduziere sich »auf ein bloßes Selbstvernichtungsszenario« (Margolina 1995, 8), lässt eine Denkfigur aus, die in etlichen Einsendungen zu finden ist: Die Identifikation mit einer von der Menschheit »befreiten« Natur. »Was könnte der Erde wohl Besseres widerfahren, als dass der Mensch ganz verschwände und einer gelun­generen Schöpfung Platz machte?« (Architekt, geb. 1934). »Alle anderen Le­bensformen können nur dann in Frieden und im Gleichgewicht existieren, wenn die Natur den Menschen – oder er sich selbst – ausge­löscht haben wird« (Angestellte, geb. 1961). »Kann es sein, dass der wahre Weltanfang erst be­ginnt, wenn wir Menschen ausgestorben sind?« (Einsenderin, ohne Angaben). Die referierten Häufigkeiten der verschiedenen Untergangsprognosen sind natürlich nicht von übergroßem Inter­esse, da sich vor allem zukunfts­besorgte Personen an einem Schreibaufruf unter der Überschrift »Weltuntergang« beteiligt haben dürften.13 Aussagekräftiger sind die Relationen zwischen verschiedenen AutorInnengruppen, auf die ich mich im Folgenden konzentrieren werde14 (wohl wissend, dass solche Relationen, z. B. die zwischen EinsenderInnen mit Volksschul- und solchen mit Ab­iturabschluss, nicht Verhältnisse zwischen den Denkweisen dieser Bildungsgruppen in der deutschen Bevölkerung abbilden, son­dern lediglich Hinweise auf Unterschiede der Welt- und Gesellschafts­bilder bei den an der »Untergangs­f rage« interessierten sowie relativ schreibfreudigen VertreterInnen dieser Gruppen geben). Dabei zeigt sich, dass EinsenderInnen mit Volks- oder Realschulabschluss weit häufiger die Gefahr eines durch Umweltzerstörung oder Krieg selbstverschuldeten Menschheits­endes sehen als AutorInnen mit Abitur. Es ist naheliegend und wird in etlichen Texten auch explizit, dass solche Prognosen mit Erfahrungen sozialer Un­si­ cherheit und dem Bewusstsein so­zialer und politischer Machtlo­sig­keit zusammenhängen, die in den unteren Bildungs- und Be­rufs­rän­gen stärker ver­treten sind. Dass dominierte (darunter oft: de­pos­sedierte) Sozialgruppen eher zu Geschichtspessimismus neigen, ist ja keine neue Er­kenntnis; sie gilt auch für die be­herrschten Fraktionen in­nerhalb der herr­ schenden Gruppen selbst, wie es Bourdieu an der eher rosa gefärb­ten Brille der bourgeoisen »Rive droite« und den eher schwarzma­lenden Vertretern der »Rive gau­che« gezeigt hat (vgl. Bourdieu 1982, 457).

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–– Ein relativ baldiges Menschheitsende halten für wahrscheinlich oder sicher: Abiturgruppe: Männer 49 %, Frauen 40 % Realschulgruppe: Männer 68 %, Frauen 72 % Volksschulgruppe: Männer 63 %, Frauen 58 % –– Als sicher oder fast sicher bezeichnen ein relativ baldiges Ende: Abiturgruppe: Männer 35 %, Frauen 31 % Realschulgruppe: Männer 43 %, Frauen 40 % Volksschulgruppe: Männer 52 %, Frauen 46 % –– Einen Nie­dergang bis Untergang unserer Ge­sellschaft – teils Deutschlands, teils Euro­pas, teils der »Zivilisation« – befürchten: Abiturgruppe: Männer 34 %, Frauen 31 % Realschulgruppe: Männer 25 %, Frauen 5 % Volksschulgruppe: Männer 25 %, Frauen 8 %. In der gegenwärtigen Diskussion um Zukunftsängste wird oft die These vertreten, dass solche Ängste mit Apathie einhergingen. So schreibt z. B. der SPIEGEL in seiner Titelgeschichte »Endzeit-Angst« vom Januar 1996: »Das apokalyptische Tremolo der Öko-Pro­ pheten wirkt eher kontraproduktiv, ja gefährlich. Wenn denn wirk­lich schon alles zu spät ist – und genau so lautet die geheime Botschaft –, dann sind alle Anstrengungen, alle Reformen überflüssig.« Der Artikel mündet in der Warnung: »Wer (…) heute die Katastrophe in Wort und Bild heraufbeschwört, versetzt seine Mit­welt in bisher unbekannte, ja bisweilen lähmende Existenzäng­ste.«15 Für die STERN-Einsendungen gilt diese Einschätzung nicht. Die AutorInnen mit Volksschulbildung, welche einen Mensch­heits­untergang wie gesagt für wahrscheinlicher halten als die der Ab­itur­gruppe, äußern sich nicht hoffnungsloser als diese. Insge­samt trifft man in knapp einem Fünftel der Texte auf Formulierun­gen wie »Es ist zu spät!«; »Ich habe mich fast damit abgefunden, dass es zu spät ist für die Menschheit«; »Der Mensch wird wohl erst den Ernst der Situation (…) begrei­fen, wenn es fünf nach zwölf ist« (Frauen und Männer liegen hier in etwa gleichauf ). Die gro­ße Mehrheit der eher pessimistischen AutorInnen gibt sich jedoch nicht resigniert, sondern mahnt zu Rettungsanstrengungen. Was das Spektrum der Vorschläge angeht, so fällt auf, dass eine ethische Umkehr am häufigsten in der Abiturgruppe angemahnt wird, während die Volksschulgruppe öfter politische und soziale Maßnahmen for­dert. Auf technologische Neuerungen setzen vor allem vor 1944 geborene Männer (ca. 16 Prozent); bei Frauen und Jüngeren sind es nur wenige (ca. 2 Prozent). Auffällig ist, dass ein Stopp der Bevölkerungs­ver­mehrung bei Männern fast doppelt so häufig wie von Frau­en (15 Prozent zu 8 Prozent) und bei VS- und RS-Gruppe mehr als doppelt so oft wie bei der Abiturgruppe gefordert wird (21 Prozent zu 8 Prozent). Dabei ist hinzuzufü­gen, dass die vorgeschlagenen Maßnahmen des ›Katastrophenschutzes‹ nur bei wenigen EinsenderInnen fun­damentalistische und autoritäre Züge tragen. Von der häufig behaupteten Affinität popularer Rei­nigungs- und Rachewünsche zu

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konservativ-revolutionären bis fa­schistischen Politiken ist wenig zu spüren; das kann mit der speziel­len Klientel des als eher liberal geltenden STERN zu tun haben.16 Vergleicht man die Bil­dungsgruppen unter diesem Aspekt, so ergibt sich ein widersprüchliches Bild: Unter den wenigen Au­torInnen, die nach harten Maßnah­men gegen »Überbevölkerung«, ge­gen eine Zuwan­derung nach Europa usw. rufen, sind Angehörige der VS-Gruppe überrepräsentiert; an den weit zahlreiche­ren Einsende­rInnen jedoch, die zur Abwen­dung künftiger Katastrophen politi­sche Re­formen wie eine Äch­tung des Kriegs oder eine gerech­tere Weltwirtschaftsordnung fordern, haben die VolksschulabsolventIn­nen einen deu­tlich höheren Anteil als die Abiturgruppe. Elitendämmerung

In der Tradition des apokalyptischen Denkens spielt seit jeher das Moment der Aufhebung oder der Umkehrung von Hierarchien eine wesentliche Rolle: die Vorstellung, dass »diejenigen, die jetzt in Angst und Unterdrückung leben, nach dem apokalyptischen Umschla­ gen der Geschichte zu den Geretteten – zur ›Elite‹ – gehören mö­gen«, der »Befreiung der materiell, sozial, religiös oder psychisch Unterdrückten: seien es um 100 n. Chr. die Christen, seien es im Mittelalter die plebeji­schen Häretiker, seien es in der Renaissance die Ketzer, radikalen Protestanten und Bauern, seien es im 19. Jahrhundert die verelendeten Proleten« (Böhme 1989, 17). Eine herrschaftskritische Komponente von Endzeitdenken ist auch in den STERN-Zusendungen häufig. Dies frei­lich nur selten in der Form, dass ein die irdische Ungerechtigkeit beendendes Jüngstes Gericht oder eine aus Katastrophen hervorge­hende gerechtere Gesellschaftsordnung erhofft wird – was übrigens häufiger in der VS- und RSGruppe als in der Abiturgruppe der Fall ist –, sondern zumeist in der Weise, dass der prophezeite oder befürchtete Menschheitsuntergang als Desavouie­rung des Füh­rungsanspruchs der »Eliten« bewertet wird: Die Imminenz einer selbstgemachten Katastrophe beweist demnach, dass die hegemonialen Gruppen nicht ihren eigenen Normen ent­sprechend handeln, falschen Normen gehorchen oder einfach unqualifiziert sind. Vergleicht man die Textpassagen,17 in denen Ursachen für eine Menschheitsgefährdung angeführt werden, so findet man die Über­zeugung, dass die Allgemeinheit die drohende Katastrophe zu ver­antworten habe, am häufigsten in der Abiturgruppe; öfter als bei den anderen Einsendern liest man hier zudem, dass die »Dummheit der Masse« das Problem sei, dass »nicht die Unfähigkeit der politi­schen Führung in aller Welt, sondern die Uneinsichtig­keit der sie tragenden Bevölkerung« (Kauf­mann, Abitur, geb. 1936) die notwen­ digen Entscheidungen verhindere. EinsenderInnen der VS- und der RS-Gruppe dagegen klagen signifikant häufiger die »Mächti­gen«, die »Politiker«, übrigens oft auch den »Kapitalismus« an: Die Spitze dieser Zivilisation, jene, die nicht glauben besser zu sein, als andere, sondern wissen, dass sie es sind, sonnen sich in ihrer absoluten Unfehlbarkeit die frei ist, frei von

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jedem Zweifel alles tuen zu dürfen, das sie wollen. Sie bauen Atomkraftwerke, die so genial sind, dass sie auch gleichzeitig in der Lage sind, das umliegende Areal auf tau­sende von Quadratmeilen zu desinfizieren. (…) Sie stellen Waffen her, an deren Wirkung sie sich so ergötzen können, dass sie sie immer wieder ausprobieren müssen. Natürlich wird das Produkt ihres allumfassenden Wissens nicht an ihres Gleichen verschwendet, sondern mit Vorliebe unter das ein­fache Volk gestreut. Und wozu Gewissensbisse? Sie erlösen doch nur Menschen, die bald eines Hungertodes sterben wer­den … (…) Selbst die neuen Seuchen sind nicht so tödlich wie der Wahnsinn der technokratischen und elitären Intelli­genz. Die Macht des gefühllosen Wissens ist eine glänzende Edelstahlplatte, die sich über eine blü­ hende Sommerwiese legt. (Gelegenheitsarbeiter, abgebr. Realschule, geb. 1954) So muss man fragen, ob die wenigen Mächtigen, die im Hinter­grund ihre Fäden ziehen, dumm und dämlich sind, gelinde aus­gedrückt, ideenlos sind, weil sie erstens und letztens und zwischendurch immer und immer wieder nur darauf aus sind, ihre Macht zu erhalten und diese noch zu vergrößern und da­mit auch ihren Reichtum. (…) Für eine wirkliche, wirksame Verbesserung haben die Mächtigen in der Regel keinen Sinn, keinen Draht, keine Antenne. Sie sehen keine Notwendigkeiten – im Gegenteil, sie haben womöglich teuflischen Spaß an bö­sen, bösen Spielchen wie Krieg, Waffenproduktion und -ver­trieb und deren Anwendung, Hungersnot, Armut, Flüchtlings­elend und anderen abscheulichen Machenschaften. (Handwer­ker, später Techniker, geb. 1929, VS) In einigen Fällen wird der Moment, in dem sich das Versagen der Eliten beweisen wird, geradezu herbeigesehnt. Ein ehemaliger kaufmännischer Ange­stellter, Volksschulabsolvent, geb. 1930, der sich als lebenslang ver­kannten Warner betrachtet, als vielseitig belesen, aber doch »wahrer Nobo­dy, dessen Erkenntnisse der STERN wohl kaum brin­gen wird«, wird hier besonders deutlich: Mit absoluter Gewissheit wird die Natur ihre Rechnung späte­stens im zweiten, dritten oder vierten Jahrzehnt des näch­sten Jahrhun­derts in steigender Weise vorlegen. (…) Um in 40 bis 50 Jah­ren für eine Woche die Vorkommnisse auf der Erde beobachten zu können, würde ich gern fünf Jahre meines Lebens hergeben, damit ich die kommende ›Rech­ nungs­legung‹ erleben könnte. Ähnliche Rachegedanken äußert auch ein – wie er schreibt – mit seinen Umweltprojek­ten auf Unverständnis gestoßener und deshalb fallierter Kaufmann: Aufgrund dieses vergeblichen Bemühens um eine bessere Welt in der Blüte meiner Jahre bin ich heute vollkommen verarmt und verschuldet, fru­striert und verbittert. Aber die Vorfreude auf den katastrophendurchsetzten Untergang stimmt mich wieder heiter, denn auch ich bin nicht frei von Scha­denfreude.

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Es folgt eine Revue zu erwartender Schreckensereignisse: Die Stürme (Hurrikans, Tornados, Taifune usw. ) werden immer stärker. (…) Die fla­chen Küstenländer werden sich also auf allerhand lustige Zwischen­spiele einrichten müs­sen. In Holland ist die dünnste Stelle des Seedeiches gerade zehn Meter breit. (…) Zwischen­ durch wird Tokyo im Erdbeben versinken und die Welt wird einen Wimpernschlag lang die Luft anhalten, dann geht es weiter (…). Es wird Kampf, Krampf und Krieg geben, denn so sind die Menschen eben. In den Pausen fliegt dann hin und wieder ein Kraftwerk der atomaren Sorte in die Luft und sorgt für Turbulenzen. (…) Traurig ist, dass auch Menschen durch unser Fehlverhalten betroffen werden, die wirklich friedlich sind. Die Südsee­inseln werden bald absaufen, obwohl die es am allerwenigsten verdient haben. (…) Wer global sieht und denkt, der kann das Ende der Menschheit ausrech­nen und sein eigenes dazu: 2026. (Handelsvertreter, Abitur/FHS, geb. 1942) Neben den bildungsspezifischen gilt es auch geschlechtsspe­zifische Unterschiede zu beach­ ten: Es sind in allen Gruppen eher die Männer, welche den Eliten und anderen Fremdgruppen die ent­scheidenden Fehler ankreiden, während Frauen eher einen allgemei­nen »Egoismus«, eine all­gemeine Konsumorientierung u. ä. als Pro­blemursachen ausmachen. (Zweimal – nur zweimal – werden »die Män­ner« als Täter genannt.) Und wo Männer doch von einer Kollektiv­schuld ausge­hen, gebrauchen sie weit häufiger als Frauen die For­ mulierung, »der Mensch« oder »die Men­schen«; Frauen benützen in diesem Fall deutlich öfter das selbstanklägerische »Wir«. Teil­weise werden dabei die eigenen Gewissensbisse drastisch dar­gestellt: Mich macht z. B. der Gedanke krank, dass ich 30mal klimasch­ädlicher lebe als ein Mensch in einem Entwicklungsland und dass ich, selbst wenn ich mich enorm anstrenge, höchstens schaffen könnte nur noch 25mal so klimaschädlich zu leben, dass ein einziges Kind von mir das Klima so belasten würde, wie 30 Kinder einer Frau in einem Entwicklungsland. (Sach­bearbeiterin, RS, geb. 1958) Doch die genannten Geschlechtsunterschiede hebeln die Bildungs­unterschiede nicht aus. Auto­rinnen der VS- und der RS-Gruppe kla­gen etwa doppelt so häufig wie solche aus der Abiturgrup­pe »die Mächtigen« (u. ä.) an und rechnen sich nur etwa halb so oft mit »Wir«Sätzen der Schuldi­genseite zu. Die Hetzjagd nach Reichtum und Luxus bringt die Menschen bald um den Verstand. (…) Bald zeichnet sich aber auch hier ein Ende ab, nämlich dann, wenn die Natur so kaputt und vergiftet ist, dass kein Tropfen sauberes Wasser mehr da ist und kein Getreidekorn mehr wächst. Dann werden auch die ›Oberen Zehntausend‹ erkennen, was wichtig und was unwichtig ist, nämlich:

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sauberes Wasser, statt ein 50-Millionen-Picasso, gesundes Brot, statt Brillanten Menschlichkeit, statt Aktien. Dann aber ist es zu spät. Dann werden die Lebenden die Toten beneiden und die Sache hat sich. (Sachbearbeiterin, RS, geb. 1924) Der Befund der Elitendämmerung, der Eindruck, dass die Führungs­schichten an der prekären Situation der Menschheit schuldig oder mitschuldig seien oder zumindest kein effektives Ret­tungsprogramm zu bieten haben, legt die Konsequenz nahe, dass das notwendige Veränderungs­potential eher in den anderen, den nichthegemonialen Gruppen liege. Von zahlreichen Einsendern wird diese Position deutlich artikuliert: Sie erheben nicht gerade für sich, aber für von ihnen ver­tretene Potentiale und Qualifikationen einen Führungsoder doch Mitwirkungsanspruch. Ein Handwerker und Tech­niker (VS, geb. 1929) präsentiert halb bescheiden, halb selbst­sicher »Lö­sungsvorschläge, die absolutes Stammtischniveau haben. Aber wo gibt’s andere, wo gibt es über­haupt welche?« Ein Drucker (VS, geb. 1946) fügt seinen Forderungen nach internationaler Äch­tung von Gewalt und nach Geburtenkontrolle den Kommentar hinzu: »Dass solche Binsenweishei­ten als Forderung für eine menschliche Zukunft aufgestellt werden müssen, beweist, wie weit sich die heutige Gesellschaft von jeder logischen Ver­nunft entfernt hat.« Und ein Schlosser (VS, geb. 1939) beginnt seinen 39seitigen, durch zahlreiche Beilagen ergänzten Beitrag mit der captatio benevo­lentiae »Bitte lache niemand, dass hier jemand sich so umfangreich einträgt, wie ich es tue«, fährt dann aber selbstbewusst fort, dass es Pflicht sein muss, will diese Gesellschaft lebensfähig blei­ben, ihr als Indikator zu dienen und einen Spiegel vorzuhalten! Dies möchte ich deutlich und unmissverständlich tuen. Gerade die Stimme des unteren Fußvolkes, die nur eine schwache Ver­tretung im Parlament hat, sollte man sich auch mal zu Gemüte führen. Welche Eigenschaften, welche Kompetenzen, welche Wissensformen sind es nun im Einzelnen, welche die EinsenderInnen der unteren Bildungsgruppen in ihren oft ausführlichen Problemdia­gnosen und Handlungsvorschlägen ins Spiel bringen, und wie, wenn überhaupt, unterscheiden sich die »Kapitalien«, mit denen sie den Kampf um die Anerkennung ihrer Meinung führen, von denen der Abiturgrup­pe? Offenbarungswissen

Absolut gesehen selten, doch deutlich häufiger als in der Abitur­gruppe finden sich in der Volks- und der Realschulgruppe AutorIn­nen, die sich nicht nur unter anderem, sondern vor allem auf Of­fenbarungswissen beziehen. Dabei wird dieses Wissen teilweise ausdrücklich gegen ›rationalisti­sche‹ Kritik verteidigt bzw. der Verstandeserkenntnis überlegen erklärt.

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Eine Modistin (RS, geb. 1917), vom Herannahen des Gottesreichs überzeugt: »Glauben ist nicht ›nichts wissen‹, sondern Erkenntnis.« Unter den 159 Einsen­derInnen mit Volks- oder Realschulabschluss hält sich etwa ein Dutzend strikt an die Apokalypse-Vorhersagen der Bibel; etwa ebensoviele Einsendungen bezie­hen sich vor allem auf volkskirch­liche Propheten oder populäre Hellseher. Mehrmals wird auf die bayerischen »Waldpropheten« Matthäus Lang und Alois Irlmaier Be­zug genommen. Der Rekurs auf solche Wissensquellen klinkt sich nicht nur aus der herrschenden Bildungskonkurrenz aus, sondern kontert diese geradewegs mit einer Konkurrenz um die »höhere Un­bildung«. An einer Mühlhiasl-Figur am Großen Arbersee, aus der bei Geldeinwurf Weissagungen ertönen, liest man den Satz: »Ich war ein einfacher, naturverbundener Waldhirte, der weder schrei­ben noch lesen konnte« (Haller 1993, 62). Der Sinn dieses Unkul­tiviertheitsbeweises ist offen­sichtlich: Unbe­ lecktheit von jedwe­der Kultur bedeutet unbe­fleckte Empfängnis höherer Wahrheiten. Wie heißt es doch bei Norbert Backmund, einem Irlmaier-Verehrer, über den Freilassinger Brunnenmacher und Volkspropheten: »Seine Freunde meinten, er sei so unbe­gabt gewesen, dass er seine Gesich­te nie hätte erfinden kön­nen« (zit. nach Bekh 1985, 27). Auf »höheres Wissen« zurückzugreifen, muss aber nicht heißen, sich einer fremden Autorität – sei es die Bibel, seien es Volksprophe­ten – zu unterwerfen. Auch in den Glauben ist längst Individuali­sierung eingezogen. Selten wird das herangezogene Offenbarungs­wissen in den Ein­sendungen einfach zitiert; öfter wird der Akzent auf die eigene Auslegefähigkeit gelegt: »Als bibelgläubiger Christ weiß ich die Zeichen der Zeit mit den Weissagungen der Heiligen Schrift zu deuten«, schreibt ein Industriekaufmann (VS, geb. 1947) und versucht sich dann daran, in Vorher­sagen der Bibel die aktuelle Situation im Nahen Osten wiederzuerkennen. Ein Hand­werker (VS, geb. 1929) entwickelt biblische Verheißungen zu eige­nen Visionen weiter: Er »träumt«, wie er sagt, von einem Auszug der 20 Millio­nen Arbeitslosen Westeuropas nach Afrika, wo auch für die von Krieg be­drohten Israelis Platz sei: »Ich sehe einen neuen, hoff­nungsvollen (…) Exodus der geplagten, gejagten Juden in ein neues heiliges Land und ich sehe ein neues Jerusalem (…) in einer neuen blühenden Landschaft (…)«. Neben der Schilderung bestimmter Visionen findet man den generellen Hinweis auf intuitive Fähigkeiten, welche fehlende formale Bildung oder feh­lendes wissenschaftliches Wissen ausglichen, ja überträfen. Be­sonders eindrücklich sind die einschlägigen Darlegungen des schon zi­tierten Gelegenheitsarbeiters (geb. 1954): Als dreijähriger erlitt ich bei einem Verkehrsunfall eine Hirnschädigung. (…) Seit dem geht mir jedes logische Den­ken »ab«. (…) Zum logischen Denken gehört auch die Recht­­ schreibung und sie werden sicher die Diskrepanz von Schreib­stil und Orthographie be­­ merkt haben. (…) Mein Ego ließ sich also in den unergründlichen Welten der rech­ten Hirnhe­misphäre nieder, dem Sitz der Intuition … sprich auch des Instinktes. (Übrigens auch der Sitz der Muse). Einen Be­reich, zu dem die »Macher« der heutigen Welt längst alle Brücken abgebrochen haben. (…) Damit bleiben den Intelligensbestien Erkennt­ nisse ver­schlossen, die sie zu den Ursprüngen unseres Seins führen könnten. (…) Sie

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wissen nicht um die Ewigkeit des Egos, sondern leben nach dem Mot­to: »nach mir die Sintflut« … und werden sie somit auch produzieren. In der rechten Hirnhälfte aber ist alles denk­bare schon vorgegeben und sie zeigt mir Visionen, die ich dem »sachlich denkenden« ohne den »Über­setzer« Logik nicht vermitteln kann.18 Hier wird, so interpretiere ich, nicht nur die Geschichte einer physischen, sondern auch einer sozialen Verletzung erzählt, die der Autor mit anderen EinsenderInnen aus den unteren Bildungs­gruppen teilt. » ›Bildung‹ «, schreibt Bourdieu, die ein hoher Aus­bildungsabschluss angeblich ge­währ­leistet, ist ein Grundelement dessen, was nach herrschender Meinung persönliche Vollendung ausmacht. Nicht gebildet sein wird deswegen als Verstümme­lung der Person empfunden, die sie in ihrer Identität und Würde beschädigt und bei allen offiziel­len Anläs­sen, bei denen man ›öffentlich in Erscheinung zu treten hat‹, sich vor den anderen mit seinem Körper, seinen Umgangsformen, seiner Sprache zu zeigen hat, mit Stummheit schlägt (Bour­dieu 1982, 605). Auch der zitierte Autor hat das Bewusstsein einer »Ver­stümmelung«, aber er wendet es offensiv und sucht den Verlust als Gewinn zu verbuchen. Wie bei der Berufung auf die totale Unbil­dung der »Waldpropheten« wird hier nicht versucht, mit schlechten Karten am Spiel­tisch der Experten mitzuspielen, sondern nach an­deren Spielregeln gerufen. Moralisches und energetisches Kapital

Mehr noch als der Besitz von Offenbarungswissen sind es charak­terliche Qualitäten sowie lebens­praktische Erfahrungen und Fähig­keiten, welche AutorInnen der unteren Bildungsschicht für sich reklamieren und – weit mehr als Angehörige der Abiturgruppe – zu den entscheidenden Ressour­cen der Krisenbewältigung oder Weltret­tung erklären. »Wissen hat kein Gewissen«, schreibt ein Maurer und Bademeister (VS, geb. 1941) unter Hinweis auf »Gentechnologie, Klonen usw.«, und setzt den Grundsatz dagegen: »Du musst richtig lieben und glauben!« Ein Schlosser und Werkmeister (VS, geb. 1939) führt einen Satz von Albert Schweitzer für sich ins Feld: »Wer an der Ehrfurcht vor dem Leben arbeitet, treibt die höhere Politik und die höhere Nationalökonomie.« Dass mehr Bescheidenheit die Welt retten könnte, meinen bezeichnenderweise ca. 26 Prozent der Volksschul-, ca. 14 Prozent der Realschul- und nur 9 Prozent der Abiturgruppe. Vor allem ältere Einsenderinnen ver­weisen gern auf die günstige Ökobilanz, den geringen Energiever­brauch und wenigen Abfall, welche sich mit der ihnen anerzogenen Sparsamkeit verbinden. (Gemeindeschwester, VS, geb. 1920: »Ener­giesparen ist der beste Umweltschutz«; ehemal. Postangestellte, VS, geb. 1920: »Als der Wohlstand ausbrach, war für mich klar, es geht abwärts.«)

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Ein Hufschmied (VS, geb. 1955) stellt angesichts der Diskussion um schwindende Energiereserven die Überlegung an, ob wirklich er und nicht vielmehr die Autobauer zu den ausster­benden Berufen gehören: Als ich mal wieder mit unseren Pferden Holz vom Wald holte und wir dann zufrieden nach Hause fuhren, habe ich mir mal wieder meinen Kopf darüber zerbrochen, wie man manches – nicht alles – verbessern könnte: Es wird zuviel Erdöl ver­braucht. Sei es in Verkehr, Heizung oder Industrie oder Streitkräfte. (…) Viele Beispiele veranschaulichen uns, dass auch in unserem hochtechnisierten Zeitalter die Natur Grenzen setzt und dass man manchmal einen Schritt zurückgehen muss, sich auf traditionelle Methoden besinnen, um am Ende die Nase vorn zu haben. (…) Man sollte auch den Tierein­satz wieder neu betrachten. Wir brauchen das Rad nicht noch einmal erfinden, bloß sinnvoll einsetzen. (…) Zum Schluss noch ein Sprichwort, das ich einmal im Radio hörte, mir aber immer in Erinnerung bleibt. Ich möchte es hiermit auch Ihnen mitteilen: Lebten wir nur nach der Tradition lebten wir noch in Höhlen Leben wir nur nach dem Fortschritt leben wir bald wieder in Höhlen. Vor allem in den unteren Bildungsgruppen trifft man auf Ein­senderInnen, welche die Klage über eine rücksichtslose Ausbeutung von Mensch und Natur mit der selbstbewussten Prognose verbinden, dass sich die Überlegenheit ihres moralischen Kapitals über das ökonomische bald herausstellen werde. Die schon zitierte Gemein­deschwester (VS, geb. 1920), die bekundet, für wenig Geld und noch weniger Rente viel gearbeitet zu haben, klagt zu­nächst: »Dass man mit Güte und Ehrlichkeit so wenig erreicht und für dumm ver­kauft wird«, kommt aber dann zu dem selbstbewussten Schluss, dass am Ende die anderen die noch Dümmeren sein könnten: »Der Mensch ist zu habgierig und gedankenlos. (…) Ich den­ke, wenn es unserer Erde zu viel wird, schüttelt sie die Menschen ab.« Auch für eine kaufmännische Angestellte (RS, geb. 1950), eine gläubige Christin, liegt die Zukunft in der Erkenntnis, dass Moral nicht nur etwas für die »Einfältigen« sei: Die negativen menschlichen Eigenschaften wie Hass, Neid, Missgunst, Profitgier/Raff­ sucht sor­gen überall, nicht nur in Deutschland, für Unzufriedenheit und Natur­katastro­ ph­en. (…) Es gibt aber auch die Möglichkeit, mit Hilfe der menschlichen Ver­nunft, des Wage­mutes und etwas Bescheiden­heit, einfach mit diesen Schweinereien aufzuhören und unse­ren blau­en Planeten nicht schwarz werden zu lassen. Bei diesem Appell lässt es die Einsenderin nicht bewenden. Ihr Beitrag endet mit An­klängen an eine klassisch-apokalyptische Vi­sion, den Untergang des großen Babylon:

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Auf dem Weg der Rechtschaffenheit zu gehen ist nicht immer leicht. Wer der Ansicht ist, dass Rechtschaffenheit nur etwas für die Einfältigen ist, der sollte sich vielleicht gelegentlich mit den Wirkungen eines eventuellen ›Rundumschlages der Befreiung‹ auseinandersetzen. Lebenserfahrung

Eine andere Qualifikation, auf die sich AutorInnen der unteren Bildungsgruppen gerne berufen, ist Erfahrung. Bei älteren Auto­rInnen handelt es sich dabei meist um eine besondere Form von Lebenserfahrung – um das, was Bourdieu den Verweis auf »durch die Erfahrung von Mangel, Leiden und Erniedri­gung erworbene Weisheit« (Bourdieu 1982, 616) nennt: Sind (…) nicht gerade die alten, die viel erlebt und er­litten haben, besonders sensibel für das, was sich auf der Weltenbühne abspielt an Schönem und Beglückendem, aber auch an sinnloser Zerstörung, sinnlosem Wüten des Menschen gegen­einander. (Verkäuferin, Buchhalterin, VS, geb. 1921) Wir waren im März 1945 Totalausgebombte in Chemnitz gewor­den, meine Eltern standen vor dem Nichts (…). Mein Mann und ich gingen 1945 – schwarz – in den Westen und holten, als wir eine Wohnung hatten, meine Eltern zu uns. (…) Sie waren alt, verbraucht, wir noch jung für den neuen Anfang. Gesehen, erlebt, erfahren habe ich in mei­ nem langen Leben unendlich viel – das Leben war mein Lehrmeister, ohne Schul­ab­ schlüsse. (Akkordeonspielerin, kaufmänn. Angestellte, RS, geb. 1920) Bei Jüngeren sind es öfters Reiseerfahrungen, vor allem in Län­dern der Dritten Welt, mit denen die Kompetenz zur Wortmeldung in Untergangsfragen begründet wird: Die Menschenmassen in Asien wirken erdrückend. Die Natur wirkt ausgelaugt. In In­dien waren große Gebiete versteppt und ausgetrocknet. (…) Militärische Konflikte erlebte ich persönlich in Kashmir (Indien) und den Golanhöhen (Syrien). In den USA fuhr ich lange Strecken an einem Atomtestgelände entlang, was uns zu dem Thema Kernwaffen und Kernenergie bringt. Während eines Hilfstransportes, den ich vor einem Jahr mit nach Lettland begleitete, lernte ich die brisante politische Lage im Ostblock kennen. Kern­ technisch ist der Osten ein Pulverfass. (Hausmeister, VS, geb. 1959) Auch die Bezugnahme auf die körperliche Erfahrung von Umweltver­änderungen spielt vor allem in den unteren Bildungsgruppen eine nicht unbeträchtliche Rolle. In manchen Fällen wird solche sinn­liche Evidenz explizit dem bornierten Verstand angeblicher Exper­ten entgegengestellt. Eine Krankenschwester (VS, geb. 1944) erlebt, so sagt sie, seit einiger Zeit

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eine »brennende, aggressive Sonne«, wel­che »die ganze Landschaft in ein gläsernes, gleißendes Licht« tauche und die Pflanzen mit ungewohnter Schnelligkeit aus dem Boden schießen lasse (»Knospen entfalten sich nicht behutsam, sie platzen auf wie unter Gewalteinwirkung«), und schildert das »Ge­fühl der Bedrohung, Weltuntergangsstimmung«, das sie neuerdings bei Gewittern empfinde, die anders als in ihrer Kindheit seien: Unwetter hat es schon immer gegeben, sagen die Leute, be­sonders die Männer reden so daher. Ihr zivilen Feiglinge! Warum könnt ihr nicht sehen, was ist? Gebraucht doch endlich wieder eure Sinne, befreit sie von der Abgestumpftheit, hört auf, eure Gutachten und Gegengutachten zu erstellen, hebt die Augen hoch von euren Zahlen, Zellkulturen, Teles­ kopen und denkt euch fühlend in die ganze Welt hinein, beseelt endlich euren Intellekt und fügt euch in das Leben. In einem Begleitbrief erwähnt die Einsenderin, dass sie sich in einer Umweltinitiative engagiert habe. Auch in anderen Texten ihrer Bildungsgruppe verbindet sich die Betonung sinnespraktischer mit der von praktischen Kompetenzen: Man berichtet von öko­logiebewusster Lebensweise, von sozialem Engagement, von Aktivitä­ten in der Umwelt- oder Friedensbewegung. In »schönen Reden« (Kaufmann, RS, geb. 1928), so bedeuten einem diese EinsenderInnen, mögen andere überlegen sein, wir aber können ›energetisches Kapital‹ vorweisen: Wir haben bewiesen, dass wir anpacken wollen und anpacken können. Populare Wissenschaftlichkeit

Nun sind traditionelle populare Selbstbehauptungsstra­te­gien – das Rekurrieren auf Glaubenskraft, auf Tatkraft, auf Lebenserfahrung – in den Einsendungen aus unteren Bildungsgruppen zwar, wie dar­gelegt, überdurchschnittlich vertreten, sie sind aber dort kei­neswegs dominant. Was in allen drei Bildungsgruppen vorherrscht, ist der argumentative Bezug auf wissenschaftliches oder populär­wissenschaftliches Wissen. Die Einsendungen bestätigen auf ein­drucksvolle Weise die Thesen eines Ulrich Beck oder Anthony Gid­dens über die soziale Diffundierung wissenschaftlichen Denkens und die damit verbundene »Verwissenschaftlichung des Protests gegen Wissenschaft« oder die Expertokratie.19 Es sind zum einen technologische Kenntnisse (zum Biosphärenbau, zur Photovoltaik, zur Solarenergie usw.), die hierbei mobili­siert werden, aber auch volkswirtschaftliches, philosophi­sches, psychologisches, astrono­misches Wissen. Die Einsendungen stützen mithin keineswegs die – auch in der Apokalyptik-Diskussion vor 2000 wieder laut gewordene20 – Meinung, dü­ste­re Zukunftsprognosen und Weltuntergangsängste bedienten sich be­vor­zugt bei vormodernen Wissens- oder Glaubensbeständen. Mit dieser Feststel­lung ist nicht gemeint, dass die AutorInnen vorwiegend in einer Weise argumentierten, die von der Mehrheit der scientific commu­nity als rational bewertet würde; zu beobachten ist jedoch, dass das Para­digma »Wissenschaftlichkeit« zumeist – wie

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dargelegt: nicht immer – anerkannt wird, dass auch esoterische Theorien gern auf »wissenschaftliche Ergebnisse« gestützt werden oder die Kritik an bestimmten Experten oder Meinungen in wissenschaftli­cher oder zumindest wissenschaftskompatibler Form dargeboten wird. Aller­dings zeigen sich in der Art und Weise, wie solches Wissen und Können in den Texten repräsentiert wird, bei den drei Bildungs­gruppen recht verschiedene Ausprägungen, die hier – in einigen Aspekten – vorgestellt werden sollen. Wo AutorInnen der Abiturgrup­pe sich in Expertendiskussionen über Natur- und Gesellschaftsentwicklung einmischen, tun sie das häu­fig auf Gebieten, wo sie auf berufliche Kenntnisse zurückgreifen und deshalb den Status des Fachmanns/der Fachfrau reklamieren können. Man findet hier z. B. den Maschinenbauingenieur, der ein Arche-Konzept zur Erschließung des Kosmos für die menschliche Besiedlung entwickelt; den Planungsingenieur der Lufthansa, der Pläne zu einer neuen Ökonomie, zu neuen Energietechnologien und einer ebenso effizienten wie umweltverträglichen Verkehrsgestal­tung vorlegt; die Ärztin, die Grundlagen einer Natur- und Lebens­philosophie skizziert und Bedingungen der Koexistenz von Mensch und Natur, von Mikrokosmos und Makrokosmos formuliert; oder den Forstingenieur, der eine naturwissenschaftliche Abhandlung über »Umweltkrise und Populationsökologie« liefert. Oft wird ein sol­cher Expertenstatus dabei durch eine Berufsnennung im Briefkopf oder durch Hinweise im Text selbst beglaubigt. Ein im Sozialbereich tätiger Akademiker und Beamter (geb. 1952), der sei­nen in ein Frage- und Antwortschema gekleideten Text mit »Forschungen zu dem Thema ›Weltuntergang – Kulturzerfall‹ « betitelt, tritt im Ornat gleich mehrerer Qualifikationen auf: Kernenergie: (Hier bin ich Experte, denn im Rahmen meiner Tätigkeit im Katastrophen­ schutz leite ich in meinem Heimat­kreis die Atomare Melde- und Auswertestelle.) (…) Thema Kriminalität: (…) Wenn man, so wie ich, seit fast 20 Jahren mit jugendlichen Straftätern zu tun hatte, wird einem sehr deutlich, dass bei vielen dieser Jugendlichen ein Unrechtsbewusstsein (…) nicht mehr oder nur in mangelhafter Ausprägung vorhanden ist. (…) Thema Familie: In der ersten Stunde des Soziologieunter­richts lernt man, dass die Familie die Keimzelle der Gesell­schaft ist. (…) Wie ich in Tausenden von Beratungs­gesprä­chen im Rahmen der Trennungs- und Scheidungsberatung immer wieder bestätigt bekommen habe, lässt zunehmend die Bereit­schaft nach, für den anderen da zu sein (…). Wer auf solch kumulierte Kompetenz verweisen kann, kann es sich dann auch mit der Hoffnung auf Akzeptanz erlauben, seinen Text mit einem »Ich sage Euch«, einer quasi ex cathedra gesprochenen Prognose zu schließen: Komme ich zurück auf Platos Politeia und betrachte im Ver­gleich dazu die Entwicklung der letzten Jahrzehnte, so muss ich feststellen, dass unser System kaum noch die Kraft besitzt, jene in ihm selbst vorhandenen, destruktiven Elemente auch nur annähernd eingrenzen zu können. Ich prognostiziere daher seinen Untergang (…).

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Bringen EinsenderInnen aus den beiden unteren Bildungsgruppen in ihre Texte Fachwissen ein, so geschieht dies recht selten in ei­nem erkennbaren, gar expliziten Bezug auf Berufswissen. Weit eher lassen sich im weiten Sinn autodidaktische Formen des Wissenser­werbs ausmachen, und in den Begleitbriefen oder auf den Fragebö­gen wird öfters auf solche Wissensquellen hingewiesen: auf Vorträge (z. B. an der Volkshochschule), auf Fernsehmagazine, Fachzeitschriften, populärwissenschaftliche Bücher, manchmal auch auf Gespräche oder Briefwechsel mit Experten; wo spezielle Kon­texte solchen Wissenserwerbs erwähnt werden, ist es vor allem ehrenamtliche Arbeit in Bürgerinitiativen. Viele AutorInnen sind offenbar davon überzeugt bzw. wissen aus Erfahrung, dass es nicht leicht ist, mit solchem autodidaktischen Hintergrund als Diskus­sionsteilnehmer oder gar als »Gegenexperte« anerkannt zu werden. Öfters trifft man deshalb auf die Versicherung, man habe sich schon seit Jahren für die diskutierten Zusammenhänge interessiert, man beschäftige sich »hobbymäßig« schon lange mit dem Thema, man habe diese und jene Fachzeitschriften abonniert. Es finden sich Entschuldigungen wie die, dass man »mit der deut­schen Orthographie etwas auf Kriegsfuß stehe« oder dass man keine Zeit gefunden habe, einen den eigenen Ansprüchen wirklich entsprechenden Text zu verfassen, sowie die offene Befürchtung, man werde gar nicht ernst genommen: »Aber wer wird glauben, was ein Amateur zufällig gefunden hat?«, schreibt ein Zeichner, Pfle­ger, Buchhalter (VS, geb. 1919); ein Angestellter (RS, geb. 1959), der mehrere Abhandlungen einsendet (»Überlegungen zum Sinn des Lebens«, »Wirtschaft in der Krise?«, »Die Zukunft der Mensch­heit«), schreibt im Begleitbrief: »Ich hoffe, Sie können damit etwas an­fangen« und kritzelt später auf den Fragebogen: »größte Hoffnung: dass Sie sich über meine Beiträge nicht tot­lachen (Ach­tung: Scherz!)«. Nicht zuletzt mit unterschiedlicher Selbstsicherheit haben auch deutliche Gruppenunterschiede in der Form der Wissensdarbietung selbst zu tun. EinsenderInnen mit Abitur schreiben öfter einen freien Essay als eine penible Abhandlung. Und viele AutorInnen dieser Gruppe sagen einfach »Ich meine«, »Ich denke«, stellen Reflexionen an oder Behauptungen auf, ohne sich die Mühe zu ma­chen, ihre Auffassungen mit langen Argumentationen, gar mit Fak­ten und Zahlen zu belegen. Ein Offiziersanwärter (Abitur, geb. 1962) tut einleitend kund: »Ich (möchte) meine Vorstellungen, unabhängig von Beweisführungen, zum Thema ›Weltuntergang‹ darle­gen.« Eine Pädagogin (Studi­um, geb. 1923) fügt ihrer stichwort­artigen Darlegung (u. a. über »Vorboten für den Niedergang unserer Welt«) hinzu: »Ich (möchte) noch andeuten, dass innerhalb meines (meist weiblichen) Freundeskreises die gleiche Meinung vor­herrscht. Für Objektivierung werden Ihnen andere Stati­stiken zur Verfügung stehen.« Solche Lässigkeit findet sich in den Texten der VS- und der RS-Gruppe selten. Hier wird zumeist nicht nur konstatiert, meditiert, assoziiert, sondern detailliert, zitiert, belegt. In die Texte werden Zahlen über Zahlen eingeflochten (»Täglich werden in Deutschland ca. 70 Hektar Wald, Moor, Wiese und Feld durch wirtschaftliche und bauliche Maßnahmen vernichtet (…) Und jährlich gehen in Deutschland weit über zwei Millionen Tonnen Staub und Ruß nieder«; Galvanotechniker, VS, geb. 1923), oft werden die eigenen Ausführungen durch beigelegte Buch-, Zeit­schriften- und Zeitungskopien ergänzt. Diese Bemühung um Belege läßt sich sicherlich mit einem gewissen Recht als eine teilwei-

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se Annäherung an wissenschaftliche Schreibstandards bezeichnen; dass dieser Stil jedoch bei einer Gelegenheit angewandt wird, wo »Mei­nungen, Warnungen, Phantasien« gefragt waren und nicht Wissenschaftlichkeit verlangt wurde, verweist zweifellos weniger auf eine größere Affinität dieser Einsender zur Wissenschaft als die dafür eher disqualifizierende Tatsache, dass die Autodidakten (oh­ne »Titel und Stelle«) von ihnen dargebotenen ›bloßen‹ Reflexio­nen oder Meinungen keine große Autorität zumessen. Die Beobach­tung eines unterschiedlichen Grads der Thesenuntermauerung bei den verschiedenen Einsendergruppen entspricht übrigens dem Befund, zu dem Richard Whitley beim Vergleich popularisierender Darstellun­gen aus verschiedenen Wissenschaften kam: »The greater the social and scientific prestige of a scientific field«, schreibt Whitley, »the more popularisation is likely to be apodictic and incontro­vertible. The degree to which arguments need to be justified and presented in detail is lower than for fields which are less cen­ tral to dominant scientific values. Parapsychologists and other deviant scientists, for instance, have to present much more de­tail and substantiate their claims to a greater degree than if they were simply communicating the results of the ortho­doxy« (Whitley 1985, 18). Deutlich wird das ungleiche Vertrauen in die Macht des eigenen Arguments auch in dem höchst unterschiedlichen Grad, in dem die AutorInnen zur Stützung ihrer Ansicht fremde Autoritäten herbei­zitieren. In den Texten der Abiturgruppe geschieht das ver­gleichsweise selten. Zur Bekräftigung der eigenen Meinung dient hier weniger das Zeugnis von Koryphäen als das Heben der eigenen Stimme: Häufiger als in der VS- und RS-Gruppe greift man zu sar­kastischen bis aggressiven Tönen. Man behandelt das inkorporierte Wissen weniger als gesellschaftliches Lehr- und Lernprodukt und eher als eingebo­renes Vermögen, das man niemandem schuldig ist. Anders, im Durchschnitt, die EinsenderInnen der unteren Bildungs­gruppen: Ihnen geht es gerade nicht um die Demonstration intel­lektueller Autonomie, sondern umgekehrt um den Nachweis, dass ihre Thesen keineswegs auf dem eigenen Mist gewachsen, sondern besse­rer Herkunft seien. Erlaube mir auch, einige kompetente Autoren zu zitieren, allen voran Riane Eisler aus ihrem Werk ›Kelch u. Schwert‹, erschienen in Deutsch bei Goldmann. (Reprotechniker, VS, geb. 1928) Als weiteren ›Beleg‹ zu Wandells Hypothesen lege ich ein Referat von Prof. Dr. Dagobert Müller (…) bei. (Ange­stellter, RS, geb. 1959) Bei solchen genauen Angaben verbindet sich die Imagepflege des Autors mit einem Dienst am Leser; doch das Referenz-Prinzip, der Rückgriff auf eine renommierte Ge­währs­person, kommt mitunter auch ganz ohne Informationswert aus: »Ein kluger Mann sagte, dass unser Planet ein lebendes Organ ist« (Gemeindeschwester, VS, geb. 1920). Nicht selten freilich zeigen sich bei der Bemühung um Beglaubi­gung Allodoxie-Effekte: z. B. der falsche Glaube, dass als Referenz herangezogene Artikel aus Bild am Sonntag oder der Neuen Revue im öffentlichen oder gar im Expertendiskurs als hochwertige Güter eingeschätzt würden.21

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Und wenn beim name drop­ping bekannte Namen falsch buchstabiert werden, schlägt der Ver­such, Insidertum zu demonstrieren, in einen Beleg für Wissenschaftsferne um: »Wissen ist Macht« verkündete vor 400 Jahren Bacon. Sein Zeitgenosse, der Italiener Gali­ lei, zog die Folgerungen aus der Erkenntnis: »Alles berechnen, was berechenbar ist, und berechenbar machen, was es noch nicht ist.« Damit wurden die exakten Wissenschaften gegründet. Die Generationen der Wis­senschaftler um Max Plank (sic!), Hahn, Nils (sic!) Boor (sic!) stellten dann anfangs dieses Jahrhunderts das bis dahin gültige physikalische Weltbild auf den Kopf. (Galva­notechniker, VS, geb. 1923) An anderer Stelle schreibt derselbe Einsender: Was ist aus dem kategorischen Imperativ, was Kant vor etwa 200 Jahren formulierte, ge­­ wor­den? Was aus Kant und Hegels Gedanken, die Marx und Engels übernahmen, um daraus das Kom­munistische Manifest 1848 zu formen? Je mehr einer nach­denkt, umso aufmüpfiger muß er werden. Und so möchte ich es Leo Tolstoy (sic!) gleichtun, der sein Wort und Denken noch in hohem Alter in die Tat umsetzte: Verzicht auf weltliche Ehre und Ruhm, Verhöhnung von Macht, Staat und Kirche und ein Leben in natürlicher Ein­ fachheit. Die Devise, zu der sich der Autor hier bekennt, ist stolz: Sie heißt »Verhöhnung von Macht«. Doch er spricht sie nicht selbst aus, sondern borgt sich dafür Tolstois Autorität. Das unabweisbare Gefühl, einer globalen Krise entgegen­zugehen, hat auch Angehörige unterer Bildungsgruppen zur öffentli­chen Rede ermutigt, doch vie­le von ihnen reden in gewisser Weise noch immer nicht selbst. Da­mit offenbart sich selbst dort, wo die populare Apoka­lyptik sich dem gesellschaftspolitischen Inhalt nach oppositionell gibt, in der Aussageform ein unübersehbares Moment von kultureller Subal­ternität. In Brechts »Flüchtlingsgesprächen« – nicht nur des Brechtjahrs wegen seien sie hier zi­­ tiert – räso­niert Ziffel: Während die Ansichten der bedeutenden Menschen auf alle Arten ausposaunt, er­muntert und hoch bezahlt werden, sind diejenigen der unbedeu­tenden unterdrückt und verachtet. Die Unbedeutenden müssen infolge davon, wenn sie schreiben und gedruckt werden wollen, im­mer nur die Ansichten der Bedeutenden vertreten, anstatt ihre eigenen. Das scheint mir ein unhalt­barer Zustand (Brecht 1967, 1397). Ein recht haltbarer ist es offenbar auch.

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Populare Philosophie

Es ist also festzuhalten: Die verschiedenen Bildungsgruppen wei­sen in der inhaltlichen Tendenz sowie in ihren Etablie­rungs­strategien deutliche Unterschiede auf. Doch gleichzeitig ist zu unterstreichen, dass diese Differenzen sich im wesentlichen inner­halb desselben »Diskursuniver­sums« bewegen: Die gemeinsame Schnittmenge von Themenaspekten, Informationen, Argumen­ten und Wissensquellen ist außerordentlich hoch, wissenschaftlich erar­beitetes Wissen ist in allen Gruppen verbreitet, und auch die – im weiten Sinn – wissenschaftsförmige Themenbehandlung ist in den unteren Bildungsgruppen keine terra incognita. Die Einsendungen der Volks- und Real­schulgruppe sind Zeugnisse einer Popularkultur der verwissenschaftlichten Welt, die von dieser jedoch in teil­weise spezifischer, von sozialen und kulturellen Hierarchien mit­geprägter Weise Gebrauch macht. Nun muss man sicherlich bedenken, dass der hier dargestellte Schreibaufruf nur eine bestimmte Klientel mobilisiert hat. Ich glaube zwar nicht an die Existenz einer »authentischen« Volkskul­tur, die jenseits der Welt der Massenmedien angesiedelt ist; doch zweifellos dürfen für die Öffentlich­keit geschriebene Texte des schreibbereiten Teils der Leserschaft einer bestimmten Illu­strierten nicht als pars pro toto der hierzulande vorfindbaren Popularkultur allgemein und der popularen Apokalyptik im besonde­ren genommen werden. Es wäre deshalb sinnvoll, wenn die volkskundli­ch-kulturwissenschaftliche Forschung die Mobilisierung von Zeit- und Zukunftsdia­gnosen, welche Ereignisse wie die Jahrtausendwende mit sich zu bringen pflegen, zu einschlägi­gen Recherchen nutzen würde. Dabei käme es nicht nur darauf an, weitere – schriftliche und mündli­che – Zeugnisse popularer Philo­sophie zusammenzutragen, sondern sich mit feldforscherischen Me­thoden auch deren Entstehungskontext, den Arbeitsweisen der auto­didaktischen Experten sowie ihren Adressaten und Kommunikations­kreisen zuzuwenden – nicht zuletzt zu dem Zweck, diese Kommunika­tionskreise noch besser nach außen und für außen zu öffnen: »Die Intellektuel­ len können eine sehr wichtige Rolle für die Kommuni­kation zwischen den Gruppen spielen. Jeder Mensch besitzt Wissen, der Intellektuelle muss nur dabei helfen, es auf die Welt zu brin­gen – als Geburtshelfer« (Bourdieu 1991, 21). Anmerkungen 1 Den Schreibaufruf formulierte, in Anlehnung an einen von mir gemachten Text­vorschlag, die STERNRedaktion – ein Verfahren, das ich an­gesichts der Möglich­keit, den STERN kostenlos für ein wissenschaftliches Pro­jekt zu nutzen, in Kauf nahm, zumal mir die redaktionelle Fassung zur Prü­fung vorgelegt wurde. – Für die Kooper­ation mit dem STERN sprach vor allem dessen große Leserschaft (wöchentlich 8,8 Millionen = 13,7 Prozent der deutschen Bevölkerung; vgl. Der STERN 1995). 2 Die Texte sind inventarisierter Bestandteil des »Erzählarchivs« des Ludwig-Uh­land-Instituts für Empirische Kulturwissenschaft der Universität Tübingen und können dort eingesehen werden. Ein ge­planter Beitrag des STERN über die Einsendeergebnisse kam über einen Artikelentwurf nicht hin­ aus, was u. a. mit einem Lei­tungswechsel in der dortigen Wissenschaftsredak­tion zu tun haben dürfte.

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Populare Apokalyptik

3 Nicht zu verwechseln mit der als »Popularphilosophie« bezeichneten populären, d. h. auf All­ge­mein­ verständlichkeit zielenden Philosophierichtung im späten 18. Jahrhundert. 4 Diese lauten: »Volksbotanik«, »Volkszoologie«, »Wetter- und Sternkunde«, »Astrolo­gie, Wahrsagerei, Mantik, Traumdeutung«, »Alchemie« und »Mechanik«. 5 Bei Autorinnen betrug der Durchschnittsumfang 3,8, bei Autoren 5,5 Seiten. Einsen­de­rInnen mit Volks- und Realschulabschluss schrieben deutlich länger als solche mit Abitur (4,5 vs. 3,1 Seiten); bei den Männern zeigte sich hier kein signifikanter Unterschied. 6 In der Rubrik »Religionsbekenntnis« häuften sich unklare Angaben (v. a. Querstriche, die sowohl »keines« als auch Angabenverweigerung bedeuten können). Von den 247 AutorInnen mit klarer Angabe bezeichneten sich 43 Prozent als evangelisch, 18 Prozent als katholisch, 28 Prozent schrieben »keines« (o. ä.) und elf Prozent nannten andere Religionszugehörigkeiten. 7 Herzlich danke ich Stefan Müller und Esther Hoffmann für ihre Mithilfe bei der Frage­bogenaktion und der Textregistratur sowie den damaligen Freiburger KollegInnen Silke Göttsch, Hannjost Lix­ feld und Andreas Schmidt für das Einverständnis damit, den Schreibaufruf während meiner Vertre­ tungszeit am Freiburger Volkskundeinstitut im Win­tersemester 1994/95 durchzuführen und dabei auf Institutsressourcen zurückzugreifen. 8 VS- und RS-Gruppe zusammengenommen haben einen Frauenanteil von knapp 30 Prozent. Das bedeutet, dass die im Folgenden zumeist miteinander vergli­chenen »Großgruppen«, die mit und die ohne Abitur, mit 27 Prozent bzw. 30 Prozent eine in etwa gleiche Frauenquote haben. 9 So stammten von den 210 Texten, die 1980/81 bei der Pro-Senectute-Ak­tion Lebens­geschichte und Geschichten aus dem Leben von älteren Winter­thurer BürgerIn­nen einge­sandt wurden, 110 von Frauen (Schenda 1982, 11). Unter den EinsenderInnen zu einem baden-württembergischen Schreib­aufruf Ältere Menschen schreiben Ge­schich­te. Erlebtes, Erforschtes, Gewesenes, der über 60-jährige MitbürgerInnen ansprach, waren 55 Prozent Frau­en; der Frauenanteil in dieser Altersgruppe betrug damals in BadenWürttemberg 62 Prozent (vgl. Warne­ken 1985, 87). 10 Manches spricht dafür, dass durch das Hochzie­hen einer millenaristischen Endzeiter­wartung ungleich verbrei­tetere und ungleich realistischere Ängste mitentsorgt, quasi abge­lacht werden sollen. 11 Das hinderte die annabelle-Redaktion nicht, mit der Schlagzeile »Die halbe Schweiz glaubt/Unser Planet stirbt!« aufzumachen. Bei genauerem Hinsehen hatten 33 Prozent der 809 telefonisch befragten SchweizerInnen gemeint, dass ein Weltuntergang (von der Redaktion auch mit »Aussterben der Menschheit« um­schrieben) »vielleicht« stattfinden werde, 23 Prozent waren sich dessen sicher. Von den zusammen 80 Prozent wiederum, die einen Weltuntergang nicht ausschlossen (darunter 24 Prozent, die mein­ten, er werde »eher nicht« stattfinden), glaub­ten nur ein Prozent, also sechs bis sieben Befragte, das geschehe schon vor dem Jahr 2000; zehn Prozent rechneten mit einem Ende vor 2050, 22 Prozent mit einem Zeitpunkt zwischen 2051 und 3000, 51 Prozent meinten »später als im Jahr 3000« (vgl. annabelle 10/95, 5. 5. 1995). 12 Vgl. Süddeutsche Zeitung, 16. 1. 1996. 13 Freilich: Bei einer Repräsentativumfrage des Bundesumweltministeriums meinten 1996 64 Prozent der Befragten aus den alten und 67 Prozent derer aus den neuen Bundesländern der BRD, dass eine – nicht näher bezeichnete – »Ka­tastrophe« nicht mehr ab­wendbar sei, »wenn wir so weiterma­chen wie bisher« (vgl. Süd­deutsche Zeitung, 10. 7. 1996). 14 Mir ist bewusst, wie grob und einseitig die dabei vor allem benutzte Drei­teilung nach Schulabschlüssen ist; auch die Angaben zu erlernten bzw. ausge­übten Berufen systema­tisch einzubeziehen, hätte freilich für die beabsichtig­ten quantitativen Vergleiche zu kleine Gruppengrößen ergeben. Unterstrichen sei zudem das methodische Problem, dass die An­gaben über die Gruppenverteilt­heit von Meinungen usw. auf meiner gewiss subjektiven Zuordnung unstandard­isierter, oft komplexer und widersprüchlicher

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Aussagen beruhen. Ich habe dieses Verfahren allerdings nur dort angewandt, wo die jeweils genannten Auto­rInnengruppen meiner Auswertung nach sehr deutlich auseinanderlagen. Wenn ich teilwei­ se zu – gewiss pseudo­exakten – Prozentangaben greife, so deshalb, weil sich so das unge­fähre Ausmaß dieses Auseinanderliegens in knapper Form vermitteln lässt. 15 DER SPIEGEL 1/1996 vom 1. 1. 1996, 136 f. 16 Ein genauerer Blick auf die Geschichte der europäischen Apokalyptik zeigt allerdings, dass apokalyptisches Denken nur partiell mit totalitärer Politik bzw. ge­walttätigen Bewe­gungen verschwistert war. Ganz offenbar konnten »verschie­dene Versionen einer apoka­lyptischen Vision gleichzeitig dazu ver­ wendet wer­den (…), eine politische Elite zu stür­zen, maßvolle Reformen durchzuführen und eine blutige Revolution zu rechtfertigen« (Thompson 1997, 95). 17 Beim Zitieren aus den Einsendungen habe ich offensichtliche orthographi­sche und grammatikalische Fehler in der Regel verbessert. Über dies Verfahren läßt sich streiten; mir schien jedoch der informatorische Wert der Wiedergabe solcher Fehler meist geringer als deren denunziatorischer Beigeschmack. 18 Die Orthographie ist hier unverändert wiedergegeben. 19 »Die Auf­bruchsphase primärer Verwissenschaftlichung, in der die Laien wie die Indi­aner aus ihren ›Jagdgründen‹ vertrie­ben und auf klar eingegrenzte ›Reser­vate‹ zurück­­gedrängt wurden, ist längst abge­ schlos­sen und mit ihr der ganze Über­legen­heitsmythos und das Machtge­fälle, das das Verhält­nis von Wissenschaft, Praxis und Öffent­lich­keit in dieser Phase gekennzeichnet hat« (Beck 1986, 259). – »Weit­ verbreitetes Laien­wissen über moderne Risikoumwelten führt zu einem Bewusstsein der Grenzen des Sachverstands und bildet eines der ›Public-Relations‹-Probleme, denen sich diejenigen stellen müssen, die das Vertrauen der Laien in Expertensysteme zu wahren bestrebt sind« (Giddens 1995, 163). 20 So meint Max Schoch in einem »Weltangst – Weltuntergang« betitelten Zeitungskom­mentar, der eine Konjunktur düsterer Zukunftsprognosen konsta­tiert: »Der rasche Wandel der Wissenschaft wird von der Menge nicht mitvoll­zogen. Was droht, ist die Zuwendung zu einem Altwissen, dessen Zeit eigent­ lich vorüber ist. (…) Der sich rasch vergrößernde Abstand zwischen dem Wis­sen an den Universitäten und in den Forschungslaboratorien der Industrie einerseits und dem bescheidenen, oft nur aus groben Ahnungen bestehenden Wissensstand, über den der Durchschnitt der Bevölkerung und ihre Lehrer, ihre Journali­sten, ihre Dichter und Künstler verfügen, ist mitschuldig an der Flucht aus der Welt« (Neue Zürcher Zeitung, 1. 1. /2. 1. 1995). 21 Wo EinsenderInnen der Abiturgruppe Zeitschriftenartikel beilegen oder über ihre Lektürevorlieben informieren, geschieht dies meist in distinktions­bewusster Auswahl – bis hin zu dem Hinweis, dass der von mir als Medium gewählte STERN eigentlich unter dem eigenen Niveau liege: »U. a. bin ich ZEITLeser; Abonnent des GEO-Magazins, von ›bild der wissenschaft‹ und der ›Scheidewege‹. Zufällig stieß ich (als Patientin-Begleiter) jetzt erst auf einen ›Stern‹ als Wartezimmer-Lektüre und las darin Ihren Aufruf (…)« (Arzt, geb. 1924).

Literatur Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Mo­derne. Frankfurt am Main. Bekh, Wolfgang Johannes (1985): Bayerische Hellseher. Mühlhiasl, Irlmai­er und andere. München. Böhme, Hartmut (1989): Vergangenheit und Gegenwart der Apokalypse. In: Johannes Cremerius u. a. (Hg.): Freiburger literaturpsychologische Gespräche Bd. 8: Untergangsphantasien. Würzburg, 9‑26. Bourdieu, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesell­schaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main. Bourdieu, Pierre (1991): Die Intellektuellen und die Macht. Hg. von Irene Dölling. Hamburg.

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Brecht, Bertolt (1967): Flüchtlingsgespräche. In: Ders.: Gesammelte Wer­ke in 20 Bänden. Bd. 14. Frankfurt am Main. Giddens, Anthony (1995): Konsequenzen der Moderne. Frankfurt am Main. Greverus, Ina-Maria/Gisela Welz (Hg.) (1990): Spirituelle Wege und Orte. Untersuchungen zum New Age im urbanen Raum (= Notizen, Bd. 23). Frankfurt am Main. Haller, Reinhard (1993): Matthäus Lang 1753–1805, genannt »Mühlhiasl«. Vom Leben und Sterben des »Waldpropheten«. Grafenau. Margolina, Sonja (1995): Die gemütliche Apokalypse. Unbotmäßiges zu Kli­mahysterie und Einwander­ ungs­debatte in Deutschland. Berlin. Otten, Dirk (1995): Populäre Esoterik. »Okkultismus« und »New Age« als Forschungsproblem. In: Jahr­ buch für Volkskunde, NF 18, 89‑113. Schenda, Rudolf (Hg.) (1982): Lebzeiten. Autobiographien der Pro-Senectu­te-Aktion. Zürich. Sofsky, Wolfgang (1982): Endzeiten. Kultursoziologische Notizen zum Weltuntergang. In: Frankfurter Hefte, 37. Jg., H. 11, 59‑66. Der STERN in der MA ’95. Hg. von der Anzeigenabteilung des STERN. Hamburg, Juni 1995. Thompson, Damian (1997): Das Ende der Zeiten. Apokalyptik und Jahrtau­sendwende. Hildesheim. Warneken, Bernd Jürgen (1985): Populare Autobiographik. Empirische Stu­dien zu einer Quellengattung der Alltagsgeschichtsforschung. Tü­bingen. Whitley, Richard (1985): Knowledge Producers and Knowledge Acquirers. Popularisation as a Relation Between Scientific Fields and Their Publics. In: Terry Shinn/Richard Whitley (Hg.): Expository Science: Forms and Functions of Popularisation. Sociology of Sciences, Vol. IX, 3‑28.

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Zeppelinkult und Arbeiterbewegung Eine mentalitätsgeschichtliche Studie

»Doch nichts war mit der Zeppelinbegeisterung zu vergleichen, die im Lande des Grafen Zeppelin, in Württemberg also, besonders turbulent war.« Carlo Schmid: Erinnerungen.1 In der Universitätsstadt Tübingen gab es vor der Eingemeindung des Vororts Lustnau nur drei Straßen, die nach Gestalten der Technikgeschichte ohne gleichzeitigen wissenschaftlichen oder literarischen Rang benannt waren: die Zeppelinstraße, die Eckener- und die Dürrstraße. Eckener und Dürr waren Mitarbeiter Zeppelins.2 Die Ausnahmestellung dieser Straßen­namen ist ein Indiz für die außerordentliche Intensität, die die »Zeppelin­ begeisterung« der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts besaß. Der Grad, in dem unsere Eltern- und unsere Großelterngeneration dieser Zeppelinbegei­sterung oblagen, und die Bedeutung, die Zeppelin und die Zeppeline zeitweise als Bestandteile des nationalen Identitätsbewusstseins hatten, stehen im krassen Missverhältnis zur weitgehenden Neglektion dieses Phänomens durch die Wissenschaft; der Anfang einer eingehenderen kulturhistorischen Beschäftigung mit dem Zeppelinkult ist erst 1979 durch Karl Clausbergs – zwischen Dokumentation und Essay stehenden – Aufriss »Zeppelin« ge­macht worden (Clausberg 1979). Dass sich nun ein volkskundlicher Kulturwissenschaftler dieses Themas annimmt, schickt sich in die mentalitätsgeschichtliche Richtung des Fachs, die es unternimmt, so­­wohl persistente als auch ephemerere kollektive Denk- und Verhaltens­weisen zu untersuchen, die weder in einem konsistenten ideologischen Dis­kurs aufgehen noch auf der Ebene unkonturierter Stimmungslagen ver­bleiben, sondern diskursive Momente aufnehmen. Dabei geht das Forschungsinteresse wie in der französischen Histoire des mentalités dahin, Mentalitäten und ihre Derivate im Kontext bestimmter sozialer und ökono­mischer Lagen ihrer Träger zu sehen. Die Konzentration auf den Aspekt »Zeppelinkult und Arbeiterbewe­gung« wiederum steht in der Fachtradition der Beschäftigung mit Fragen der Arbeiter- und Arbeiterbewegungskultur und der Wechsel­wirkung zwischen ihnen; der bei aller gesamtdeutschen Verbreitung doch regional-schwäbische Bias des Zeppelinismus stimmt mit der besonderen Aufmerksamkeit des Ludwig-Uhland-Instituts auf die württembergische Ar­beitergeschichte zusammen.

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Zeppelinkult und Arbeiterbewegung

Die folgende Darstellung beschränkt sich auf die Jahre 1908/09, in denen die Konstituierung des Zeppelinkults sich im we­sentlichen vollzieht. Zunächst seien die äußeren Fakten dieser Konstitu­ierungsphase – früher jedem Schulkind bekannt – kurz rekapituliert und systematisiert. Unterscheiden lassen sich drei Teilphasen: 1. Die Introduktionsphase. Nachdem erfolgreiche Flugversuche insbe­sondere 1906 und 1907 dem Luftschiff des Grafen Zeppelin und ihm selbst bereits eine beträchtliche Popularität verschafft haben, glückt ihm am 1. Juli 1908 mit der sogenannten »Schwei­ zerfahrt« der erste Fernflug (vgl. dazu die Fahrtschil­derung von Sandt 1907/08, 5 f.). Dieser löst in Deutschland, insbesondere in Württemberg und Baden, eine Begeiste­ rungswelle aus, in der Technik- und Fortschrittsbegeisterung, patrioti­scher Stolz auf den »Lands­mann« Zeppelin sowie offen chauvinistische Ge­fühle und Pläne zusammenfinden.3 Es wird zu einem häufig geübten Ritual, dass Men­schenmengen bei Huldigungen für Zep­pelin oder bei Zeppelinlandungen das (damals noch nicht als Nationalhymne fung­ierende) Lied: »Deutsch­land, Deutschland über alles« anstimmen.4 2. Die Probationsphase. Graf Zeppelin, der der Meinung ist, dass Luft­schiffe nicht nur für Forschungs- und Verkehrszwecke taugen, sondern »zur siegreichen Führ­ung des Kriegs wesentlich beitragen« können (von Zeppelin 1908, 26), setzt auf eine größere Förderung seiner Tätigkeit durch die Reichsregierung. Der preußische Kriegsminister von Einem verlangt als Bedingung dafür eine die militärische Verwendbarkeit des Luftschiffs erweisende 24-stündige Dauer­fahrt (vgl. von Einem 1933, 163; s. auch Eckener 1938, 155). Zeppelin startet am 4. August, erreicht wie geplant Mainz, muss auf dem Rückflug jedoch in Echterdingen zwischenlanden. Dort wird das wenig verankerte Luftschiff von einem Sturm losgerissen; es geht sofort in Flammen auf. Noch am selben Tag wird zu einer Volksspende für Zeppelin aufgerufen. Ein Enthusiasmus für ihn und seine Luft­schiffpläne entwickelt sich, der von der zeitgenössischen Publizistik immer wieder als nur noch mit dem nationalen Einheitserlebnis im 1870er Krieg vergleichbar be­zeichnet wird.5 Diese Volksspende, die über sechs Millionen Reichsmark er­bringt, begründet ein Quasi-Besitzverhältnis der Bevölkerung an den künf­tigen Zep­ pelinen, das sich unter anderem im fordernden Charakter von »Besuchs­bitten« äußert.6 Der »Tag von Echterdingen« hat wesentlichen Anteil an der Entwicklung im engeren Sinn kultischer Elemente der Zeppelinbegeisterung (das Kursieren von Reliquien, z. B. aus dem Aluminiumgerippe des verunglückten Luftschiffs her­gestellter Löffel und Gedenkmünzen; ›Wallfahrten‹ zum alsbald errichteten »Zeppelinstein« an der Unglücksstelle, usw.).7 3. Die Affirmationsphase des Zeppelinkults durch verschiedene Deutsch­land­flüge des neuen Luftschiffs im Frühjahr und Sommer 1909. Ihr Höhe­punkt ist der Berlin­besuch Zeppelins am 30. August 1909; Hunderttau­sende8 versammeln sich auf dem Lande­ platz, dem Tempelhofer Feld. Der Zeppelinkult, bis dahin in Süd­deutsch­land zentriert, wird end­gültig zu einem allgemeindeutschen Phänomen, das in modifizierter Form und Funk­tion Jahrzehnte überdauert – mit weiteren Kulminationspunkten im

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1. Weltkrieg (»Zeppeline über London« als Symbol deutscher Siegessicher­heit) und 1924, als der sogenannte Reparationszeppelin den Atlantik über­quert und im In- und Ausland als Sym­bol der deutschen ›Wiedergeburt‹ nach der Kriegsniederlage rezipiert wird (vgl. Clausberg 1979, 13‑20). In einer Reichstagsrede vom Februar 1907 wirft Reichskanzler von Bülow der Sozialdemokratie – wieder einmal – vor, sie verletze Gefühle, die »der großen Mehrheit des deutschen Volkes heilig« seien.9 Der Zeppelin und sein Erfinder sind 1908 offenbar in diese Gefühle eingeschlossen worden. Wie verhält sich nun die sozialdemokratische Arbeiterbewegung zum Zep­pelin und zur Zeppelinbewegung? Was ihre einfachen Mitglieder betrifft, so lässt sich über sie natürlich wenig aussagen. Man darf annehmen, dass auch sozialdemokratische Ar­beiter aus den Fabriken rannten, wenn der Zeppelin zu sehen war; aber z. B. welcher Anteil von ihnen für Zeppelin spendete, lässt sich nicht annähernd rekonstruieren. Am ehesten greifbar sind zum einen Entscheidungen sozial­demokratischer und sozialdemokratisch beschickter Gremien, zum anderen die Haltung der Publizistik der Arbeiterbewegung. Die diesem Aufsatz zugrundeliegenden Recherchen10 ergeben, dass die Sozialdemokraten zwar immer wieder die Indienstnahme der Luftschifffahrt für militärische Zwecke, für den damals so genannten »Luftmilitarismus«, sowie nationalistische bis imperialistische Ingredienzien des Zeppelinkults kritisieren, dass ein Teil der Partei aber ein beträchtliches Stück mit der Begeisterung für Zeppelin und die Zeppeline mitgeht, insbesondere – aber nicht nur – in Südwestdeutschland, der Heimat Zeppelins (und einem Zentrum des sozialdemokratischen Refor­mismus).11 Diese Haltung manifestiert sich auch praktisch: Im April 1908 stimmt die Reichstagsfraktion der SPD einer Subventionszahlung des Reichs an das Zeppelinsche Unter­nehmen zu; nach der Schweizerfahrt Zeppelins im Juli 1908 schließen sich die badischen und württembergischen Landtags­f raktionen der SPD den Glückwunschadressen der jeweiligen Abgeordne­tenkammern an Zeppelin an (vgl. Karlsruher Volksfreund, 9. 7. 1908; Schwäbische Tagwacht, 8. 7. 1908). Der Verleihung der Stuttgarter Ehrenbürger­würde an den Grafen Zeppelin stimmen die sozialdemokratischen Kommunalvertreter zu (vgl. Schwäbische Tagwacht, ebd.); auch aus München, wo die SPD ebenfalls im Gemeindeparlament sitzt, wird im September 1909 die »einmütige« Ernennung des Grafen zum Ehrenbürger gemeldet (vgl. Schwäbischer Merkur, 4. 9. 1909, Mittagsblatt). Nach der »Katastrophe von Echterdingen« unterstützen mancherorts die SPD­­-Stadträte die Gewährung städtischer Spenden für den Bau eines neuen Luft­schiffes12 – in Ludwigshafen ist es sogar die SPD-Gemeinderatsfraktion, die die Initiative zu einer solchen Hilfe ergreift.13 Die vier untersuchten badi­ schen und württembergischen Tageszeitungen der SPD richten allesamt – wie bürgerliche Zeitungen – Sammelstellen für Zeppelinspenden ein. Zu den Unterzeichnern eines Karlsruher Spendenaufrufs, der die Unterstüt­zung des als »nationale Errungenschaft« bezeichneten Zeppelin-Luftschiffs eine »Ehrenpflicht des deutschen Volkes« nennt, gehört auch der bekannte badische SPD-Landtagsabgeordnete Kolb (ab 1909 Fraktionsvorsit­zender) (vgl. Karlsruher Volksfreund, 7. 8. 1908); der Vorsitzende der württembergischen Landtags-

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fraktion der SPD, Tauscher, ist Mitglied im Stuttgarter Komitee für die Zeppelin­spende (vgl. Der Beobachter, Stuttgart, 13. 8. 1908). Das Zentralorgan Vorwärts, das eine Beteiligung an den Zeppe­linsammlungen als »Übereifer« ablehnt – Zeppelins Unternehmungen seien auch ohne Volksspende gesichert, diese laufe auf die billige Schaffung einer Kriegsluftflotte hinaus (Vorwärts, 9. 8. 1908, vgl. ebd., 7. 8. 1909. Ähnlich Leipziger Volkszeitung, 10. 8. 1908, und Münchner Post, 13. 8. 1908) –, sieht sich in diesen Augusttagen zur mehr­ mals variierten Mahnung genötigt, »denkende Menschen sollten sich überhaupt nicht so sehr durch Stimmungen beherrschen lassen«, »die nicht­besitzende Klasse« solle »kaltes Blut bewahren und sich fragen: cui bono? Wem nützt die Zeppelinsche Erfindung?« (Vorwärts, 7. 8. 1908). Kurzum: Die hier beigebrachten Indizien reichen zwar nicht aus, den Ausbreitungsgrad der Zeppelinbegei­sterung bei Mitgliedern der deutschen Arbeiterbewegung auch nur halbwegs genau zu bestimmen, sie machen aber doch deutlich, dass der Zeppeli­nismus in der Sozialdemokratie keine marginale (und also von der Arbei­terkulturforschung vernachlässigbare) Rolle spielte und die in der bürgerli­chen Presse jener Zeit häufig artikulierte Freude über eine ungewöhnlich große Klassen- und Parteieneinigkeit14 im Zeichen Zeppelins durchaus ihr fundamentum in re hat. Kommen wir nun, in einem nächsten Schritt, zu den zentralen Topoi dieser sozialdemokratischen Zeppelinbegeisterung, soweit sie sich in den untersuchten Berichten, Kommentaren, Glossen, Witzen, Gedichten und nicht zuletzt der sozialdemokratischen ZeppelinImagerie finden. Der erste, allgemeine Befund ist, dass diese Topoi in aller Regel als aus dem sozialde­mokratischen Diskurs ableitbar bzw. mit ihm vereinbar annonciert werden, also an keinem Punkt z. B. Anleihen bei einem nationalistischen Diskurs machen. Dies, so die zweite Beobachtung, hat mehrere Anknüpfungs­punkte in der Zeppelin- und Zeppelinismusrealität, impliziert jedoch auch Verleugnungen und Projektionen. Im Folgenden soll dies nun detaillierter vorgestellt werden. Unterschieden seien dabei drei Teilthematiken: Das zeppelinsche Luftschiff selbst, die Person des Grafen Zeppelin und die Zep­pelinbewegung. Was die erste Thematik betrifft, das Luftschiff, so wird dieses selbst scharfen Kritikern nationalistischer und chauvinistischer Inhalte des Zeppelinismus sofort zum Inbegriff technischer und überhaupt mensch­licher Entwicklungsmöglichkeiten. »Was ist es im Grunde, das auch die breiten Massen für Zeppelin so enthusiasmiert?«, fragt der Vorwärts, und antwortet: »Es ist das ästhetische Wohlbehagen über den neuen Sieg des Menschengeistes über die Materie« (Vorwärts, 7. 8. 1908). Dasselbe Blatt am 29. August 1909 vor dem Zeppelinbesuch in Berlin: (…) sinnenfälliger hat sich noch nie ein Erfolg der Technik offenbart, mit höherem Stol­ ze ist noch nie ein Triumph des Menschengeistes empfunden worden! Die Eroberung der Luft ist das Wahrzeichen des Siegs über widerstrebende Naturgewalten, die Ver­ heißung des endlichen Sieges der Vernunft und des festen Menschenwillens über alle Hem­mnisse.15

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Von der Luftschifffahrt verspricht man sich bei der Sozialdemokratie nicht nur Erleichterungen des Personen- und Gütertransports, sondern auch eine sprunghafte Steigerung des »Lebensgenusses der Menschheit«: Selbst wenn sich einstweilen, meint der Vorwärts, nur An­gehörige der Bourgeoisie den Luxus des Reisens durch die Luft leisten können, so ist das für das Proletariat nur ein Ansporn mehr, dem Kapita­lismus und den privilegierten Klassen die Herrschaft über die Technik aus der Hand zu winden, damit nicht nur die Arbeitsmaschinen zum Wohle der Menschheit rationell verwendet werden können, sondern auch alle techni­schen Errungenschaften, die den Lebensgenuss, die Lebensfreudigkeit der Menschheit steigern können! Und welch höherer Genuss lässt sich denken, als der Flug durchs unendliche Äthermeer, als die Beherrschung des Ozeans der Luft! 16 Überdies wird der Zeppelin als ein Verkehrsmittel, das Länder, ja künftig Kontinente zusammenrücken kann, als Medium des sozialdemokratischen Internationalismus interpretiert. 17 Der Süddeutsche Postillon schreibt: »Der ›Lenkbare‹ ist ein gewaltiger Schritt zum Sozialismus, mögens auch die Hurraschreier bis jetzt noch nicht begreifen. Er lehrt die Überflüssig­ keit und zugleich die Unhaltbarkeit der Grenzen, mehr als Dampf und Elektrizität – und die kommende Zeit wird ihre Konsequenzen daraus ziehen« (Süddeutscher Postillon, Jg. 1908, Nr. 18, 145). Die Mannheimer Volksstimme nennt den Zeppelin »eine wei­tere Etappe auf dem Wege der allgemeinen Verbrüderung der Völker und Nationen«, die »das große humanitäre Ideal der internationalen Sozialdemo­kratie« sei (zitiert nach Schwäbische Tagwacht, 9. 7. 1908). Der Arbeiterbewegung konkordial erscheint die Luftschifferei dabei auch deshalb, weil sie ihre Ziele ohne Behinderung durch obrigkeit­liche Absperrmaßnahmen verfolgen zu können scheint. Der Vorwärts, fasziniert: »(…) das freie Vagieren durch die Lüfte, wo man keine Schutz­leute zu Fuß und zu Pferde postieren kann, müsste ja unserem Polizei- und Militärstaat geradezu als die Lösung aller Bande frommer Untertanenscheu erscheinen.«18 In einem Zeppelin-Artikel des badischen Sozialdemokraten und Schriftstellers Anton Fendrich, der in der Unterhaltungsbeilage des Vor­wärts und anderer Parteizeitungen erscheint, wird ebenfalls auf die Souveränität des Luftschiffers verwiesen, der sich um die Grenzziehungen der Souveräne nicht zu kümmern braucht: »Ledig aller Erdenschwere lachte (das Luft­schiff ) der Zollwächter und Grenzpfähle (…)«.19 Dergestalt als Überwinder sowohl natürlicher als gesellschaftlicher Schranken bewundert, kann der Zeppelin sogar zum Symbol der sozialde­mokratischen Bestrebungen überhaupt werden, will er doch ebenso wie sie »zur Sonne, zur Freiheit«. Solche Tendenzen enthält z. B. das Gedicht von Robert Seidel, einem damals bekannten sozialdemokratischen Publizisten und Lyriker, das der Wahre Jacob (Auflage 1908: 235 000) am 4. Au­gust 1908 veröffentlicht:

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Das Luftschiff Was der Dichter einst gesungen, Der Prophet im Geist erschaut, Groß und herrlich ist’s gelungen; Staunend hat’s die Welt geschaut. Durch die Lüfte kam ein Brausen Mitten in den Sonnenschein –  Ist’s des Heiligen Geistes Sausen? Bricht der jüngste Tag herein? Tausend blickten auf voll Schrecken Nach des Himmels lichtem Raum –  Will die Phantasie uns necken? Ist es Wahrheit? Ist’s ein Traum? Droben in den blauen Wogen Zieht ein golden Schiff die Bahn, Neigt sich grüßend und im Bogen Steigt’s zur Sonne kühn hinan. Und es bricht aus jedem Munde, Donnernd auf ein Jubelschrei: Großer Tag und große Stunde, Nun sind wir in Lüften frei! Nun sind wir nicht bloß auf Erden Herrscher über Raum und Zeit, Nun muss auch der Himmel werden Uns mit seiner Herrlichkeit. Dieselbe Zeitschrift bringt zum SPD-Parteitag von 1908 in Nürnberg – der übrigens mit dem Chorstück »Empor zum Licht« von Emanuel Wurms eröffnet wird20 – nichts anderes als einen die Sozialdemokratie tragenden Zeppelin als Titelbild (Abb. 1). Das Rad, an dem der Metallarbeiter im Alltag steht und an dem er in der sozialdemokratischen Imagerie zu er­kennen ist, ist zum Steuerrad des Zeppelin geworden; Blumen streuende Mädchen, in der Allegorik der Arbeiterbewegung die Ankunft des Völker­f rühlings, der neuen Zeit symbolisierend, rücken auch den Zeppelin in dieses Assoziationsfeld, während das betont mittelalterlich gezeichnete Nürnberg offensichtlich die nun überwindbare alte Zeit darstellt.

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Eine ähnliche Symbolkoalition findet sich auf dem Titelblatt der Neujahrsnummer des Süddeutschen Postillon von 1909: Es zeigt den kleinen Postboten mit der Jakobinermütze, das Wahrzeichen der Zeitschrift, wie in früheren Zeichnungen schon auf einem Maß­ krug durch die Luft reitend, diesmal aber von Zeppelinen begleitet. Aus einem hochgele­genen Fenster schaut ein Mann mit Zipfelmütze (erbost?) auf diese fliegende Gesellschaft (Abb. 2). Freilich finden in der sozialdemokratischen Bildpresse nicht nur solche positiven Zeppelindarstellungen Platz, vielmehr ist das Luftschiff für sie ein, wie man sagen könnte, »gespal­tenes Symbol«: In satirischen Zeichnungen des Wahren Jacob z. B. ist es auch Ingrediens der deutschen Aufrüstung (Abb. 3). Doch nicht überall und nicht stets Abb. 1: Der Wahre Jacob, Nr. 578 vom 15. 9. 1908 hat die Warnung vor einem durch (Titelseite) Zeppelins Unternehmungen möglich werdenden Luftkrieg einen ebenso großen Stellenwert in der sozialdemokratischen Presse. Öfters, vor allem unter dem Eindruck eines »Zeppelinbesuchs«, wird die Enthusiasmus trübende Zukunftsaussicht bombenwerfender »Luft­kreuzer« mehr in den Hintergrund gedrängt. So schreiben sozialdemokrati­sche Zeitungen zur Zeit der Zeppelinfahrt nach München: »Die Hoffnung braucht nicht aufgegeben zu werden, dass, noch ehe ein zuverlässiges Kriegsluftschiff in Aktion tritt, eine Vereinbarung unter den zivilisierten Völkern erfolgt, die es ihnen möglich macht, lieber den großen Aufgaben aufbauender Kultur nachzugehen, statt auf immer neue Werke der Zerstö­rung zu sinnen« (Schwäbische Tagwacht, 3. 4. 1909; Münchner Post 4. /5. 4. 1909). Auch ein in mehreren der untersuchten SPD-Organe ent­haltener Bericht über den Berlinbesuch des Zeppelin meint optimistisch, die Luftmilitaristen müssten sich noch gedulden, hätten die Flugprobleme bei der Berlinfahrt doch gezeigt, dass »die Luftschifffahrt zwar eine herrliche, zukunftsreiche, aber immer noch recht unsichere Sache ist. Wir haben also immer noch Zeit für die Fortschritte der Zivilisation, wie sie uns die Technik bietet, durch politischen Kulturfortschritt reif zu werden« (Schwäbische Tagwacht, 30. 8. 1909;

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vgl. auch Münchner Post und Karlsruher Volksfreund, 31. 8. 1909). Be­­ sonders begeisterte Zeppelinisten in der Sozialdemokratie erklären es gar für legitim, den gegenwärtigen Zeppelinbau primär von einer postimperialisti­schen Zukunft her zu beurteilen: »(…) schließlich wird und muss die Ver­nunft der großen Volksmassen die Ursachen der Kriege aus der Welt schaffen. Von diesem Gesichtspunkte aus bewer­ten wir die große Tat Zep­pelins« (Schwäbische Tagwacht, 8. 7. 1908). Entsprechend versteht die Schwäbische Tagwacht, aus der dies Zitat stammt, ihre Ei­ nreih­ung in die Financiers des Luftschiffbaus nach dem 5. August 1908 keineswegs als Unterstützung eines Rüstungs­unternehmens, sondern als Zukunfts­investition, zu der Sozialisten geradezu verpflichtet seien; der Kritik des Vorwärts am Mitsammeln für Zeppelin entgegnet sie: Abb. 2: Süddeutscher Postillon (München), 28. Jg. 1909, Nr. 1

(…) unbestreitbar bleibt, dass eine Erfindung, die es möglich macht, die Luft zu durchsegeln, unter allen Umständen einen Kulturfort­schritt darstellt, und wenn diese Errungenschaft im bürgerlichen Klassen­staat auch zunächst für den Militarismus reklamiert wird, so ändert das nichts daran, dass in einer künftigen Gesellschaft das Luftschiff eben nur kulturellen Zwecken dienen wird. Wann hätte sich die Sozialdemokratie je­mals einem Kulturfortschritt widersetzt?21

Ein Beispiel für die Eskamotage der Dialektik des Zeppelinfortschritts ist zudem eine Episode unmittelbar nach der Schweizerfahrt Zeppelins: Die potentiell völkerverbindende Funk­tion der Luftschifffahrt dem deutschen, von der Militärverwaltung geför­derten Zeppelinunternehmen als den wesentlichen Realgehalt anrechnend, empört sich das sozialdemokratische Neckar-Echo über eine Kritik der Schweizer Sozialdemokratie am ungefragten Überfliegen der Schweiz am 1. Juli 1908: »Das ist gut, das ist sehr gut. Die Sozialdemokraten, die Vorkämpfer der in­ternationalen Menschenverbrüderung, als nationale

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Wächter an der Ein­g angs­p for­t e ihres Ländchens« (6. 7. 1908). Der Redakteur der Mannheimer Volks­ stimme, Hauth, schreibt in derselben Sache einen Offenen Brief an Graf Zeppelin, der »zur Ehrenrettung« der schwei­zerischen Parteigenossen fest­­stellt, die Meldung über ihre Schwei­zerfahrt-Kritik sei eine bürgerliche Zei­tungsente: »Die schweizerische Sozialdemokratie steht, wie die deutsche, der genialen Erfindung Ew. Exzellenz mit dem Gefühl auf­­richtig­ster Bewunderung gegenüber« (zitiert nach Schwä­bische Tag­wacht, 9. 7. 1907). Die Schwäbische Tagwacht fügt einem Abdruck dieses Briefs den Ko­m­mentar hinzu: »Wir meinen, des Briefes hätte es nicht bedurft, soweit Graf Zeppelin in Betracht kommt. Der hat den Schwin­del der bürgerlichen Presse sicher­lich nach Gebühr ein­geschätzt. Aber zur Kennzeichnung der Praxis der bür­ Abb. 3: Der Wahre Jacob, Nr. 586 vom 5. 1. 1909 gerlichen Presse ist der Brief gut« (Titelseite) (zitiert nach Schwäbische Tag­wacht, 9. 7. 1907). Damit sind wir bei der Haltung der hier untersuchten SPD-Quellen zum Luftschiff-Erfinder und -Lenker, dem zum Nationalhelden aufgestiegenen Grafen Zeppelin. Hierbei ist zunächst auffallend, wie konsequent sozialde­mokratische Angriffe auf »Luftkreuzer«- und »Luftgroßmacht«-Pläne, die sich mit der Erfindung des lenkbaren Luftschiffs verbinden, die einschlä­gigen Überlegungen des Grafen selbst (z. B. von Zeppelin 1908, 26) übergehen. Zum andern sticht hervor, dass die SPD-Publizistik immer wieder versucht, Parallelen zwi­ schen der Geschichte, den Intentionen und den Persönlichkeitsidealen der Arbeiterbewegung und der Biographie, den Bestrebungen und dem Cha­rakter Zeppelins her­zustellen. Die Schwäbische Tagwacht grüßt ihn als Bruder im Utopismus, der »den Unverstand der Philister wie kaum ein zweiter gekostet« habe, der, als Phantast verlacht, »unter all den Reichen und Mächtigen kaum einen offenen, ehrlichen Freund« gefunden habe, der ihm geholfen hätte. Der Vorwärts setzt nach dem Unglück von Echter­dingen das »Trotz-alledem«-Motiv als Adapter zwischen Zeppelin und der Arbeiterbewegung ein: »Auch (Zeppelins) Leben

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ist ein Leben der Arbeit und des Kampfes gewesen, und in dieser Stunde, die dem Unermüdlichen noch­mals den Preis seines Mutes entriss, drängt es uns, die wir uns mit Stolz Arbeiter und Kämpfer nennen, auszusprechen, wie sehr wir sein Unglück bedauern« (Vorwärts, 6. 8. 1908). Der Süddeutsche Postillon ruft unter der Überschrift »Zep­pelin-Gedanken« aus: »Glück oder Unglück – vorwärts! ist die Lo­sung«, und umwirbt den Mann der Stun­ de mit der Behauptung: »Wir Pro­letare sind dem Gra­fen Zep­­pelin näher verwandt als alle die Hurra­schrei­er und Schranzen, die sich jetzt um ihn drängen, denn er ist Arbeiter, wie wir – und das mag sein schönster Ehren­titel sein!«22 Zur Identifikation mit dem ›Ar­­bei­ter Zeppelin‹ kommen Sym­pa­thie­­erklä­rungen für Graf Zeppelin als Unternehmer. Dem Grafen, der seinen Betrieb »in durchaus lie­­benswürdigpatriarchalischer Ma­­nier« (Clausberg 1979, 2) führte und im übrigen ein entschiedener Gegner der Sozialdemokratie war,23 wird von der Schwäbischen Tagwacht lobender Worte für seine Helfer wegen bescheinigt, dass er anscheinend »seinen Mitarbeitern die gebüh­ rende Anerkennung zuteil werden lasse« (Schwäbische Tagwacht, 8. 7. 1908), und ein unter der Überschrift »Zeppelin als Arbeitgeber« von der Tagwacht nachgedruckter Artikel der Frankfurter Volksstimme schildert, wie Graf Zeppelin am 5. Au­gust 1908 bei seiner Zwischenlandung nahe Nierstein einen ihm ge­reichten Wein mit seinen »Gefährten« geteilt und ihnen dabei selbst ein­geschenkt habe: Dieses ungekünstelte Zeichen seiner Anerkennung für die ›Gefährten‹ – ein besserer Ausdruck dafür ist gar nicht zu finden – und sein sonstiges Benehmen ihnen gegenüber lässt wohl die Verehrung verstehen, die alle für ihn hegen. Manchem aber kann dieser Graf auch darin zum Vorbild dienen, wie man ›seine Leute‹ behandelt, mit denen man etwas Besonderes erreichen will (Schwäbische Tagwacht, 12. 8. 1908). Resümiert: Es gibt auf sozialde­mokratischer Seite eine unübersehbare Tendenz, eine Zeppelin-Imago zu schaffen, der mit der eigenen Programmatik disharmonierende Züge Zep­ pelins fehlen, die sogar das Gefühl eines »Er ist unser« erlauben. Und es wird deutlich, dass dem Grafen Zeppelin, den der Bürgermeister von Berlin in Gegenwart des – von Zeppelin quasi zum Bodenpersonal degra­dierten – Kaisers zum »Helden und Führer«, zum »Liebling des Volkes« erklärt«24, auch von Sozialdemokraten als einer Helden- und Vaterfigur zugleich gehuldigt wird.25 Ganz im Gegensatz zur sozialdemokratischen Beurteilung Zeppelins ist die der Zeppelinbewegung in vielem distanziert und kritisch. Doch auch hier wird man von einer Neigung zeppelinbegeisterter Sozialdemokraten spre­chen dürfen, zumindest zeit- und teilweise der Projektion eigener Überzeugungen aufzusitzen. Dies gilt sicherlich nicht für die Einschätzung, diese der Form nach herrschende Ordnungsregeln ja vielfach übertretende26 »Volksbewegung«27 weise auch dem innenpolitischen Inhalt nach ge­wisse antipreußisch-antiwilhelminische Züge auf. Wenn Anton Fendrich süddeutschen Zeppelinfreunden den »Hass des verträumten Alemannen­schlags gegen preußische Überhebung« zuspricht (Vorwärts, 14. 7. 1908, Unterhaltungsblatt), so ist das nicht unrea­listisch, gehört zur Zeppelinbegeis-

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terung im deutschen Süden doch neben der Freude am preußische Leistungen übertreffenden »Schwabenstreich« Zeppelins auch eine teilweise heftige Kritik an der lange beibehaltenen In­transigenz Berliner Regierungsstellen und des Kaisers selbst gegenüber dem Zeppelinschen Projekt (vgl. dazu Eckener 1949, 154 f.) Zu fragen ist jedoch, ob in manchen sozialdemo­kratischen Äußerungen das Gewicht der – mit Obrigkeitskritik ja durchaus vereinbaren – nationalistischen und militaristischen Gehalte in der Mas­senbegeisterung für den Zeppelin nicht unterschätzt wird. Gewiss, selbst in entschieden »zeppelinistischen« Organen der SPD sind Warnungen vor »hurrapatriotischen«, auslandsfeindlichen und aufrüstungsorientierten Zep­pelinfreunden, vor einem von Zeppelins Erfolgen entfachten »chauvinisti­schen Wind« (Schwäbische Tagwacht, 30. 8. 1909) häufig zu finden; doch gleichzeitig wird – vor allem in den Kulminationsaugenblicken des Zeppelinskults jener Tage – immer wieder dem unerschütterten Glauben Ausdruck gegeben, die herrschende Tendenz der Massenbegeisterung sei die reine Fortschrittsbegeisterung. So beruhigt sich die Schwäbische Tagwacht am 7. August 1908 über den vom Zep­pelin entzündeten »furor teutonicus« in »ein(em) Teil unserer bürgerlichen Presse«: Wir sind überzeugt, dass die große Mehrzahl des deutschen Volkes sich zur Höhe eines solchen ›nationalen‹ Empfindens nicht aufzuschwingen vermag, das in der Katastrophe von Echterdingen weiter nichts sieht, als eine verpasste Gelegenheit, demnächst zur höheren Ehre Deutschlands fremden Völkern von oben her Dynamitpatronen an den Kopf zu werfen. Dieselbe Zeitung registriert bei der »Pfingstfahrt« Zeppelins 1909, das Luft­schiff sei diesmal ohne militärische Besatzung gefahren: »Dafür haben die Massen des Volkes (…) den kühnen Männern umso rückhaltloser zugeju­belt« (Schwäbische Tagwacht, 1. 6. 1909). Über den Empfang Zeppelins in Berlin schreibt der Vorwärts am 31. August 1909: »Was die Hunderttausende am Tempelhofer Felde bekun­deten, war frohlockender Jubel über den so glänzend verkörperten Triumph der Technik, war freudige Dankbarkeit für den greisen Erfinder und Lenker des prächtigen Luftschiffs.« Als Beleg für diese Interpretation ist dem Vor­wärts die – in Wirklichkeit ja mehrdeutige – Tatsache genug, dass die Massen das von einer Musikkapelle angestimmte Deutschlandlied nicht mit­sangen: »Zu Ausbrüchen des Hurrapatriotismus aber ließ sich die Menge nicht fortreißen. Als etliche ›Patrioten‹ das ›Deutschland, Deutschland über alles‹ anzustimmen versuchten, fanden sie so wenig Echo, dass sie alsbald wieder beschämt verstummten« (Vorwärts, 31. 8. 1909). Und in dem schon zitierten, unter an­derem in der Schwäbischen Tagwacht und der Münchner Post abge­druckten Korrespondentenbericht, der Eindrücke von der Berlin-Ankunft Zeppelins zusammenfasst, steht zwar: »Auch in Berlin fehlt es nicht an ge­dankenlosen Mengen, die ein wirklich menschliches Kulturfest gemäß ihrer eigenen geistigen Beschaffenheit auf das Niveau einer Militärparade oder einer höfischen Einweihungsfeier herabziehen möchten«, aber am Ende des Berichts heißt es dann doch:

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Während das unvermeidliche ›Heil dir im Sie­gerkranze‹ steigt, klingt es doch ganz anders in hunderttausend Herzen: Der Erde Glück, der Sonne Pracht, Des Geistes Licht, des Wissens Macht Dem ganzen Volke sei’s gegeben!28­ Was hier mit im pejorativen Sinn traumwandlerischer Sicherheit als cantus firmus unter einer nicht sonderlich beachteten Oberstimme angenommen wird, sind bekanntlich Zeilen aus der Hymne der Sozialdemokratie, dem 1891 entstandenen Sozialistenmarsch. Fassen wir das bisher Dargelegte zusammen: –– Die Begeisterungswelle der Jahre 1908/1909 für Zeppelin und für den Zeppelin erfasst auch Teile der Sozialdemokratie. –– Diese interpretieren ihre Involvierung in den Zeppelinkult als Verfol­gung genuin sozial­demokratischer Ideologie und Politik. –– Diese Interpretation kann an Realtendenzen ihres Gegenstands an­knüpfen, sie enthält andererseits jedoch Momente selektiver und projektiver Perzeption. Wie aber lässt sich diese Haltung nun erklären? Einige Überlegungen hierzu seien ab­schließ­end skizziert. Die Arbeiterkulturhistorik – grundlegend Brigitte Emig (1980, 197‑202) – hat immer wieder darauf hingewiesen, dass vor allem auf dem reformistischen Flügel der Ar­beiter­bewegung jener Epoche eine »vulgärmaterialistische« Verkürzung des Konnexes von Produktivkräftefortschritt und Gesellschaftsfortschritt ver­breitet war.29 Solche Hoffnungen auf eine soziale Emanzipation als automa­tische Folge, als Beiprodukt der Produktivkräfteentwicklung sind gewiss durch Erfahrungen politischer Stagnation und gar politischer Niederlagen der Arbeiterbewegung befördert worden. Diese müssen in der fraglichen Zeit nicht lange gesucht werden: Erinnert sei hier insbesondere an die Reichstagswahl von 1907, die sogenannten »Hottentottenwahlen«, in denen die Sozialdemokratie einen für viele ihrer Anhänger und Repräsentanten schockhaften Rückschlag erlitt.30 Dass in dieser Situation, in der die doch häufig als unmittelbar bevorstehend gedachte »neue Zeit« auf sich warten ließ, der auch optisch spektakuläre Durchbruch in der technischen Entwicklung, den der Zeppelin damals bedeutete, als neuer Verbündeter imaginiert wird, ist durchaus naheliegend. Zur Erklärung heranzuziehen ist aber auch das Theorem der »doppelten Loyalität« von Teilen der deutschen Arbeiterschaft. Es meint bekanntlich, dass, beeinflusst z. B. von Sozialisationsinstanzen wie Volksschule und Mi­litär und der glanzvollen Seite der monarchischen Ordnung überhaupt, viele Mitglieder der Arbeiterbewegung zwischen sozialdemokratischer und na­tionaler Loyalität hin- und hergerissen waren. Man kann diesen Überle­gungen, wie sie z. B. von Günther Roth vorgetragen wurden,31 den Aspekt hinzufügen, dass die Integration ins »Lager« der Arbeiterbewegung, in so­zialdemokratische Partei, freie Gewerkschaften und Arbeitervereine, ja gleichzeitig einen Ausschluss von kommunikativen Beziehungen bedeutete, in denen nichtsozialistische Familienmitglieder, Kindheits- und Schul­f reunde,

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Arbeitskollegen und Nachbarn lebten, einen Ausschluss, der nicht nur als positiv erfahren wurde, was dann ebenfalls wieder Loyalitätskonflikte mit sich brachte. Die Integration in die Zeppelinbewegung als in eine so­zial vielschichtige Bewegung, die weder der Form noch dem Inhalt nach ein­fach als Bewegung der ›alten Mächte‹ definierbar war, erlaubte eine Aufhe­bung dieses Konflikts, ein Durchbrechen der Lagergrenze, ohne dass dies als Verlassen des Lagers eingestanden werden musste. Die exuberante sozialde­mokratische Zuneigung zum Grafen Zeppelin wiederum dürfte auch damit zu erklären sein, dass Zeppelin, Adliger und Neuerer, Unternehmer und Mitarbeiter seines Betriebs, ausgestattet mit Autorität ebenso wie mit Jovia­lität, dem Wunsch nach Überwindung des im Loyalitätskonflikt enthaltenen Leitfigurenkonflikts als ideales Erfüllungsobjekt erschien.32 Fasst man diese Befunde und Überlegungen in einem Resumee zu­sammen, so lässt sich – nur wenig zugespitzt – sagen, dass Teilen der Sozial­demokratie die ›Zeppelin­tage‹ der Jahre 1908 und 1909 wie das Vorspiel eines revolutionären Umbruchs erschienen. In realis­tischerer Betrachtung entpuppen sie sich wohl eher als etwas anderes: als Vorspiel des »August­er­lebnisses« von 1914, des Augenblicks nach der Kriegserklärung, als ein großer Teil der sozialdemokratischen Arbeiter und Funktionäre in einen Be­geisterungstaumel nationaler Integration geriet. Wer die Zeppelinbewe­gung fünf, sechs Jahre vorher als Mentalitätsindikator zu lesen versteht, wird dieses »Augusterlebnis« kaum mehr als überraschend bezeichnen können.33 Anmerkungen 1 Bern usw. 1979, 41. 2 Zum Thema »Zeppelin und Tübingen« vgl. auch Jaisle 1908. 3 Rückblickend schreibt Eckener zur deutschen Begeisterung über die ersten Zeppelin­erfolge: »So konnte ich schon damals erleben, was ich zwanzig Jahre später beim Auf­leben einer neuen Zeppelin-Begeis­ terung feststellen musste, dass, etwa im Gegensatz zu der anfangs durchaus technischen und sportlichen Stellungnahme der Amerikaner zum Erfolg des Zep­pelin-Schiffes, das deutsche Volk in starkem Maße mit politischen und nationalen Gefühlen auf die Leistungen dieses Schiffes reagierte.« Und er interpretiert: »Die sehr ernste Marok­kokrise wurde zwar durch die Konferenz von Algeciras beigelegt, aber die politische Span­nung blieb bestehen, und das deutsche Volk fühlte sich sehr unbehaglich und in seinen ge­rechten Ansprüchen, ja in seiner Existenz bedroht. Da wurde ihm das Zeppelin-Schiff, das ja eine spezifisch deutsche, von den Fachtechnikern auch des Auslandes bespöttelte Erfin­dung war, zu einer Art Symbol der nationalen Einheit und der deutschen Leistungsfähigkeit, die ein moralisches Recht auf einen ›Platz an der Sonne‹ zu begründen schien« (Ec­kener 1949, 27, 26). 4 Der Schwäbische Merkur berichtet über die Zeppelinlandung bei Nierstein am 4. August 1908: »In der Menge, die die vordere Gondel umdrängte, stimmte einer plötzlich ›Deutsch­land, Deutschland über alles‹ an. Wie auf Kommando nahm die Menschenmenge die Me­lodie auf und sang begeistert mit« (Schwäbischer Merkur, 5. 8. 1908, Mittagsblatt). Über die Landung bei Bitterfeld am 28. August 1909 schreibt dieselbe Zeitung: »(…) als das Fahr­zeug zur Ankerschleife gezogen wurde, marschierte die Menge, ›Deutschland, Deutschland über alles‹ singend, im Takte mit, direkt unter dem Luftschiff, zwi-

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schen den Gondeln und um diese herum. Es war, als würde das Luftschiff von der Menge getragen« (Schwä­bischer Merkur, Sonderausgabe, 29. 8. 1909). 5 Solche Einschätzungen haben den Augenblick überlebt. Theodor Heuss z. B. schreibt in seinen Erinner­ ungen: »Die Erschütterung, die durch die Nation ging, hat im geschichtlichen Sinn einen politischen Rang: ›das Volk‹ fühlte sich in jener ›Spende‹ als Einheit. Das hatte es, vergleichbar, in Deutschland noch nie gegeben« (Heuss 1963, 140). 6 Ähnliches geschieht Ende der 20er Jahre nach einer 1925 begonnenen erneuten Sammelak­tion für die deutsche Luftschifffahrt, die »Zeppelin-Eckener-Spende«. Eckener berichtet, dass man damals »überall in deutschen Landen den allmählich weltberühmt gewordenen ›Graf Zeppelin‹ zu haben oder wenigstens zu sehen wünschte. Hatte man doch zum Bau des Schiffes sein Scherflein beigetragen! Es regnete Einladungen von allen großen und selbst von kleinen Städten, dorthin zu kommen« (Eckener 1949, 401 f.). 7 Nachdem ein Zeppelinluftschiff am 31. Mai 1909 bei Göppingen einen Birnbaum gerammt hat, werden aus dessen Holz ebenfalls Andenken (Tisch, Stopfei usw.) hergestellt (Mittei­lung von Karl-Heinz Rueß, Göppingen). Auch sogenannter »Zeppelinsand« – aus Ballastsäcken der Luftschiffe abgeworfen – wurde von Bewohnern überflogener Ortschaften ge­sammelt, auf Schächtelchen oder Nadelkissen geklebt und in den Handel gebracht (vgl. Schwäbischer Merkur, 31. 8. 1909, Mittagsblatt). 8 Der Vorwärts schätzt die Menge auf gut eine Viertelmillion, der Schwäbische Merkur auf anderthalb Millionen Menschen (vgl. Vorwärts, 31. 8. 1909; Schwäbischer Merkur, 31. 8. 1909, Mittagsblatt). 9 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, XII. Legis­latur­periode, 1. Session 1907, Bd. 227, Berlin 1907, 66 B. 10 An sozialdemokratischen Organen wurde für den fraglichen Zeitraum durchgesehen: Die Tages­ zei­tungen Vorwärts (Berlin), Leipziger Volkszeitung, Münchner Post, Schwäbische Tagwacht (Stuttgart), Neckar-Echo (Heilbronn), Volksfreund (Karlsruhe), Pforzheimer Freie Presse; die Zeit­schriften Die Gleichheit, Die Neue Zeit, Sozialistische Monatshefte sowie die satirischen Zeitschriften Der Wahre Jacob (Stuttgart) und Süddeutscher Postillon (München). 11 Das Jahr 1908 bringt auch einen Höhepunkt der Auseinandersetzung zwischen der SPD-­Linken und den süddeutschen Reformisten, nachdem die badische und die bayerische Land­tagsfraktion der Par­ tei – wie ein Jahr zuvor schon die württembergische – jeweils das Re­gierungsbudget gebilligt haben. Der badische Landesvorstand beschließt diese Zustimmung am 6. August, einen Tag nach »Echterdingen«; die bayerischen Landtagsabgeordneten stimmen am 13. August für das Budget. Ein Einfluss der nationalen Einigkeitseuphorie dieser Tage wenn nicht auf diese Entscheidungen selbst, so doch auf das Mitgliederecho darauf könnte vermutet werden, ist jedoch aus den vom Verfasser eingesehenen Quellen nicht belegbar. – Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, dass ein in der Partei heftig diskutierter Fall von »Hofgängerei« im Jahr 1909, mit dem sich auch der Parteitag in Leipzig beschäftigt, ein Beiprodukt der Zeppelinbegeisterung ist: Sozialdemokratische Landtags­abgeordnete, die im Juli 1909 einen Ausflug des württembergischen Landtags zu den Zep­pelinwerken nach Friedrichshafen mitmachen, schließen sich nach der Werksbesichtigung einer Visite beim württembergischen König im nahegelegenen Schlossgarten an. Die Stand­ard­werke über die württembergische SPD-Geschichte jener Zeit übersehen bzw. über­gehen den Anlass des Ausflugs und damit den »zeppelinistischen« Aspekt dieses folge­nrei­chen Königsbesuchs (vgl. Christ-Gmelin 1976, 178 f.; Schlemmer 1953, 144). 12 So in Stuttgart (vgl. Schwäbische Tagwacht, 7. 8. 1908), Ulm (vgl. Schwäbischer Merkur, 6. 8. 1908, Abendblatt), Ludwigshafen (Münchner Post, 13. 8. 1908). 13 Vgl. Anm. 9. 14 Die ›Klassenverbrüderung‹ im Zeichen Zeppelins wird in den Jahren 1908/09 nicht nur kon­statiert, sondern auch zelebriert. Der Schwäbische Merkur schildert eine Szene, die sich beim Kölnbesuch Zeppelins

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abspielte: Graf Zeppelin und mehrere Generale stehen auf dem Balkon des Militärkasinos, darunter eine Menschenmenge. »Einige Generale sehen lächelnd auf das Gewühl hernieder, schließlich winken sie zwei Arbeitern, die in der Menge unten stehen und begeistert immer wieder die Wacht am Rhein oder Deutschland, Deutschland über alles anstimmen. Sie sind einigermaßen verdutzt, können nicht recht glauben, dass sie wirklich gemeint sind. (…) Nach kurzer Zeit erscheinen sie oben auf dem Balkon, Zeppelin in der Mitte (…). Der eine winkt und bittet um Ruhe – es wird still.« Der Arbeiter bringt dann ein Hoch auf »Baron Zeppelin« aus, das unten bejubelt wird. »Es war ein erhe­bendes, ergreifendes Bild, der jugendfrische Graf, umgeben von ordensgeschmückten Gene­ralen, inmitten zweier einfacher Arbeiter im Werktagskleid; ein Symbol, dass arm und reich, hoch und gering eins sind in der Liebe zu dem großen und doch so bescheidenen Erfinder« (Schwäbischer Merkur, 7. 8. 1909, Mittagsblatt). 15 Das Fliegenlernen der Menschheit als Sieg in einem Mensch-Natur-Krieg zu bejubeln, war eine seinerzeit in der bürgerlichen wie der sozialdemokratischen Publizistik übliche Denk- ­und Ausdrucksweise. Karl Kraus kommentierte sie – und das Echterdinger Unglück – mit dem Satz: »Die Luft wollte sich verpesten, aber nicht ›erobern‹ lassen« (Kraus 1908, 2). Eine spezifisch sozialdemokratische Metaphorik für das Mensch-Natur-Verhältnis präsentiert ein Echter­dingen-Kommentar des Süddeutschen Postil­ lon: »Die Naturgewalten sind tückisch wie eine Bestie, und hinterlistig, wie ein Reaktionär. Sie rächen sich für jeden Sieg, den man über sie erfochten hat. Aber – gebändigt werden sie doch!« (Süddeutscher Postillon, Jg. 1908, Nr. 18, 145.) 16 Vorwärts, 29. 8. 1909. – Verschiedene Witze und Karikaturen des Wahren Jacob und des Süddeutschen Postillon drücken die Überzeugung aus, dass der Zeppelin eigentlich kein adäquates Gefährt für die alte Klassengesellschaft sei. Ein dicker Herr, Typus Kapita­list, zu einem Luftschiff aufblickend: »Ick wirde ja ooch jerne den Luftflottenverein beitreten, aber ick jloobe, mit meine drei’nhalb Zentner Lebendjewicht lassen se mir in keen Ballon ’rin!« (Wahrer Jacob Nr. 581, 27. 10. 1908, 5995.) In einem »Der Knallprotz« überschriebenen Dialog zwischen einem Grafen und einem Kommerzienrat erklärt letzterer, er fahre prinzipiell nicht mit dem Luftschiff: »Hat ja nicht ma’ erste Klasse!« (Süddeutscher Postillon, Jg. 1909, Nr. 1, 7.) 17 Zur seinerzeit verbreiteten Assoziation von Luftfahrt und Kosmopolitismus, ja Welt­f rieden vgl. Ingold (1980, 14, 105 und passim); Rosenkranz (1931, 174). 18 Vorwärts, 11. 7. 1908. – Dem Spott über das Vorgehen der »königlich preußischen Po­lizei« gegen das Ballonfahren wird ausführlich Raum gegeben im Vorwärts vom 29. 8. 1909, Artikel »Ist die Landung eines Luftballons strafbar?« 19 Vorwärts, 14. 7. 1908, Unterhaltungsblatt. – Zur literarischen Tradition der Verbindung LuftfahrtGrenz­­verletzung siehe Jean Pauls Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch; zur Real­tradition dieser Be­zieh­ ung vgl. die von dem Fotografen Nadar organisierten Ballonflüge aus dem belagerten Paris im Krieg 1870/1871 (hierüber Ullrich 1978, 252‑267). 20 Vgl. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutsch­lands, abgehalten zu Nürnberg, Berlin 1908, 297. 21 Schwäbische Tagwacht, 8. 8. 1908. – Noch lapidarer das Neckar-Echo, 12. 8. 1908: »Die Arbeiterschaft hat ihre Sympathien für den Grafen Zeppelin ausgesprochen, weil sie jeden technischen Fortschritt fördert und jede opferwillige Hingabe an eine Sache ehrt.« 22 Süddeutscher Postillon, Jg. 1908, Nr. 18, 145. – Im selben Sinn auch ein Witz in der fol­genden Nummer auf S. 155: In ihm deklariert ein »von Y«, Graf Zeppelin sei kein Aristo­krat, da er »arbeetet«. 23 Nach Clausberg war Graf Zeppelin sogar Mitglied des »Reichsverbands gegen die Sozialdemokratie« (vgl. Clausberg 1979, 71). Aus seiner Angabe geht jedoch nicht hervor, wann Zeppelin diesem 1904 gegrün­deten Verband beigetreten ist.

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24 Vgl. Vömel (1913, 134). 1908/09 wurde immer wieder der Wunsch laut, den »Beherrscher der Lüfte« auch als Herrscher auf Erden eingesetzt zu sehen. So war vor dem Berlinbesuch Zeppelins die Hoff­ nung ver­breitet, der Kaiser werde den Grafen aus diesem Anlass zum Fürsten machen (vgl. Neue Preußische Zeitung vom 27. 8. 1909, wonach es bereits Ansichtskarten von der Ernennungsszene gab; vgl. auch Schwäbischer Merkur, 30. 8. 1909, Mittagsblatt). Auch tauchte in der Presse der Vorschlag auf, Zeppelin zum König von Hannover zu krönen (vgl. Leipziger Volks­zeitung, 6. 8. 1908) – was freilich fast so irrealistisch war wie die damals gewiss oft geträumten Tagträume von einem »Volkskaiser Zeppelin« anstatt des – gerade 1908 in einer besonders tiefen Ansehenskrise befindlichen – Kaisers Wilhelm II. (vgl. Eckener 1949, 26 f.). Ein Vierteljahrhundert später rückte übrigens eine Personalunion zwischen Zeppelin- und Staatsführer tatsächlich in den Bereich des Mög­lichen: Der im In- und Aus­ land populäre Eckener – bei einer weltweiten Umfrage des Corriere della Sera 1929 zum berühmtesten Zeitgenossen kreiert – wurde 1932 von so­zialdemokratischer und Zentrumsseite gefragt, ob er nicht bei der Reichspräsidentenwahl als überparteilicher Kandidat auftreten wolle. Eckener neigte dem Vorschlag zu – unter anderem unter der Bedingung, dass Hindenburg nicht wieder kandidiere. Dieser stellte sich dann aber doch wieder zur Wahl. 1949 schreibt Eckener, er habe seine Entscheidung bald bedauert, als er die große Nachgiebigkeit Hindenburgs gegenüber der Hitlerpartei erkannt habe (vgl. Eckener 1949, 449‑451. Vgl. auch Severing 1950, Band 2, 314‑316. Zur Corriere-Umfrage vgl. Italiaander 1981, 278). 25 In einer »Der Held« überschriebenen Betrachtung der Schwäbischen Tagwacht vom 7. 8. 1908 sind die beiden genannten Aspekte exemplarisch vereint: Sie erkennt dem Grafen Zeppelin zum einen »trotzige Titanenkraft« zu, zum andern nennt sie ihn »groß, vereh­rungswürdig und liebenswert«. 26 Zum Beispiel nehmen sich die Massen in Erwartung und bei der Ankunft eines Zeppelin das ihnen bei politischen Demonstrationen meist abgesprochene »Recht auf die Straße« oder geraten beim Durch­ brechen einer das ›gemeine Volk‹ benachteiligenden Absperrung mit Po­lizei und Militär aneinander. So in Mün­chen, wo sich danach die Münchner Post energisch auf die Seite der Menge schlägt, sie gegen den polizeilichen Vorwurf der »Mas­senpsychose« und »Disziplinlosigkeit« in Schutz nimmt und es für nicht verwunderlich er­klärt, wenn »die große Masse den Kordon bricht, nachdem sie mit Erbitterung und Empö­rung die Verletzungen der Verordnung (d. h. einer Absperrung, B. J. W.) durch unsere Edlen und Besten eine Zeitlang in Schafsgeduld und allzu großer Gutmütigkeit ertragen« habe (Münchner Post, 7. 4. und 8. 4. 1909). – Interessant ist in diesem Zusammenhang auch ein Augenzeugenbericht der Schwäbischen Tag­wacht vom Echterdinger Geschehen am 5. August 1908, der fast so etwas wie eine Revolutionsszene zeich­net: Danach hielt, als der Sturm aufkam, nur ein Teil der anwesenden Soldaten die Stricke des Zeppelinluftschiffs fest, während andere »nach schneidigem Kommando« den Absperrungsdienst versahen und einige Offiziere »keine Zeit (hatten), sich der heiligen Mission zu erinnern, die ihnen übertragen war, denn sie mussten, zum Teil mit Damen, in abstoßender Gespreiztheit auf dem abgesperrten Platze einherstolzieren, sich mit dem Ballon als Hintergrund photographieren lassen und immer aufs neue die Soldaten zum Zurückdrängen der Menschenmassen anfeuern.« Männer aus der Menge, die halten helfen wollten, seien ebenfalls zurückgedrängt worden, und so sei dann das Unglück eingetreten. »Und dann schrien die Zehntausende eine Anklage zum Himmel; eine fürchterliche Anklage gegen den Geist, der uns regiert und lenkt, der unser ganzes öf­fentliches Leben vergiftet (…). Und fürchterlich verzerrten sich die Gesichter; Blitze schossen aus den Augen und die Fäuste ballten sich drohend und die Arme reckten sich gen Himmel. Stoßen, drängen und drücken. (…) Ein Soldat fasst sein Gewehr beim Lauf. ›Schlagt mit dem Kolben drein!‹ schrie er. ›Ja, das könnt ihr; und absperren, das könnt ihr auch‹, schreit es hundertstimmig zurück. Ein junger Leutnant kommt hinzu: ›Der ist’s, der hat die Griffe üben lassen‹, brüllen alle. Und ein Toben bricht los gegen die unschuldigen Opfer des Uniformgeistes. Ein Toben und Schreien. Eine Sekunde noch, dann wäre die Schlacht los-

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gegangen. Entsetzliches Schauspiel. Doch da kam Zeppelin im Automobil; starren Auges sah er den Trümmerhaufen und da löste sich die entsetzensvolle Spannung. Was kümmerte die Zehntausende die Uniform, wenn er, der Held und Meister, da ist« (Schwäbische Tagwacht, 7. 8. 1908). Was an dieser Schilderung Realität, was angst- und lustvolle Revolutionsphantasie ist, ist schwer zu entscheiden; in den herangezogenen nichtsozialdemokratischen Zeitungs-, Zeitschriften- und Buchdarstellungen über das Un­glück von Echterdingen fand sich jedenfalls keine Bestäti­gung für diese Version einer Massenempörung. 27 Diesen Begriff verwendet Linde (1908, 431). – Was speziell die Volksspendenbewegung für Zeppelin angeht, so nennt sie der Schwäbische Merkur einen »guten und schönen Gedanken (…) von unten herauf« und konstatiert: »Alles ist in den ersten Tagen zustande gekommen ohne Nachhilfe von oben, ohne Eingreifen der Regierungen und ohne Protektoren« (Schwäbi­scher Merkur, 11. 8. 1908, Mittagsblatt). 28 Schwäbische Tagwacht, 30. 8 . 1 909; vgl. auch Münchner Post und Karlsruher Volks­­freund, 31. 8. 1909. – Man lese zum Vergleich die Bewertung des Berliner »Zep­pelin­­tags« im nationalliberalen Schwäbischen Merkur, die gewiss (ebenfalls) partei­lich-verein­nahmende Tendenz hat, aber doch – wie ähnliche Berichte es belegen – keineswegs ganz aus der Luft gegriffen ist: »In diesen ungeheuren, nur nach Hunderttausenden zu zählenden Massen war kein Unterschied des Glaubens und der politischen Meinung. Ein kleines Häuf­lein nur stand missmutig bei Seite, jene ›führenden‹ Geister der Sozialdemokratie, die zwar der Erfindungstat Zeppelins ihre Hochachtung nicht versagen, aber nichts wissen wollen von den Gefühlen nationaler Begeisterung, die sie im deutschen Volk ausgelöst hat. Wo waren sie in der weihevollen Stunde? Niemand beachtete sie, die große Menge, selbst die, die ihren Lockrufen sonst nur allzu sehr zugänglich ist, wusste nichts von ihnen. Alles, alles stimmte ein in ›Deutschland, Deutschland über alles‹, in die Wacht am Rhein. (Hier ist wohl nicht von der An­kunftsszene, sondern von späteren Begeisterungskundgebungen die Rede, B. J. W.) Wie kam es, dass immer wieder gerade diese patriotischen Lieder sich ganz von selbst der Brust dieser Massen entrangen? Weil ihnen Zeppelin III samt dem Werdegang seines Erfinders ein Symbol war der Schicksale dessen, was uns allen das Höchste auf Erden ist, des Vaterlandes. Per aspera ad astra! In diesem alten Worte hat der Berliner Bürgermei­ster Zeppelins Lebenswerk treffend zusammengefasst. Im Sinne dieses Wortes hat die Menge die Bedeutung der Zeppelinschen Großtat für uns alle begriffen. Sollte man darum nicht ver­trauen dürfen, dass etwas von diesem Geiste fortan auch unser politisches Alltagstun be­seelen werde? Nein, so klein, so entartet sind wir wirklich nicht, wie es in den letzten Zeiten manchmal hat scheinen mögen. Das soll man sich nicht nur im Ausland sagen lassen, son­dern es mögen auch diejenigen daheim beherzigen, denen in den Scheuklappen des Partei­fanatismus die Kenntnis der wahren Volksseele mehr und mehr verloren geht« (Schwäbi­scher Merkur, 31. 8. 1909, Mittagsblatt). 29 Erinnert sei an Walter Benjamins scharfe Formulierungen hierzu in These XI der Ge­schichts­phi­loso­ phischen Thesen (Benjamin 1961, 273 f.). 30 In dieser Wahl verringerte sich der Stimmenanteil der SPD, der seit 1890 ständig gestiegen war, um 2,7 Prozent auf 29 Prozent; weit einschneidender war aber noch, dass infolge einer erfolgrei­chen antisozialistischen Sammelpolitik die Zahl der sozialdemokratischen Reichstagsman­date beinahe halbiert wurde (statt 81 noch 43 Sitze). »Wir haben sie niedergeritten«, rief der Kaiser nach der Wahl einer jubelnden Menge zu (vgl. Stampfer 1957, 114‑117). 31 Roth (1966). Hermann Bausinger schlug statt des eine »leicht herstellbare Balance« suggerierenden Begriffs der »doppelten Loyalität« den bei Robin M. Williams vorgefundenen Begriff der »Zickzack-­ Loyalität« vor (vgl. Bausinger 1973). 32 Eine Haltung, die der Wiener Sozialist Friedrich Adler 1915 in seiner Studie »Die Sozialde­mokratie in Deutschland und der Krieg« als einen Geisteszustand bezeichnete, »der in der Sprache der neuen

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Wiener psychiatrischen Schule zu charakterisieren wäre: Kriegsbegeiste­rung als Überkompensation der Insurrektionsgelüste« (Adler 1918, 12). 33 Korrigierende Anmerkung anno 2009: Die seitherige Forschung hat das Bild einer großen, Klassen und Parteien übergreifenden Kriegsbegeisterung bei Kriegsbeginn Zug um Zug als Mythos entlarvt. Erst nach den deutschen Siegen in der zweiten Augusthälfte zog die nationale Euphorie auch in manche Arbeiterviertel ein – und schon einige Wochen danach wieder aus. Richtiger sollte es also heißen: Die »doppelte Loyalität« vieler Sozialdemokraten, die sich in der Zeppelinfrage zeigt, ist ein Vorbote der »Burgfriedenspolitik« nach 1914.

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Der schöne Augenblick Eine Exploration

Die kulturhistorische Forschung, so heißt es immer wieder, interessiere sich besonders für die »Innenseite« von Geschichte, für die Wahrnehmungs- und Sinngebungsmuster der handelnden Subjekte. Nun spricht die Frage, welche Augenblicke, welche – privaten oder öffentlichen – Ereignisse von ihren ZeugInnen und AkteurInnen als schön erlebt werden (wobei »schön« als Sammelbegriff für als positiv bewertete Erlebnisse dient), zweifellos eine der wichtigsten Dimensionen dieser Innenseite an. Dennoch ist der »schöne Augenblick« kulturwissenschaftlich kaum untersucht worden. Ansätze gibt es – z. B. bei der Frage nach dem »Augusterlebnis« 1914 oder nach der Verklärung der Kindheit in Erinnerungserzählungen –, aber es wurde nicht allgemeiner gefragt, was welche Personengruppen in einer bestimmten Epoche als schönes Erlebnis schildern und was daraus über eine bestimmte Kultur zu lernen ist. Die Gründe für diese relative Abstinenz sind sicherlich vielfältig. Vielleicht wirkt hier die generelle Furcht, eine Beschäftigung mit Gefühlen, zumindest die ethnographische Empathie in anderer Leute Gefühlserlebnisse, könnte den Forscher (hier passt die männliche Form) selbst als gefühlsselig erscheinen lassen;1 vielleicht auch eine spezielle Abneigung gegen die Thematisierung »schöner Erlebnisse«, die an betuliche Schulaufsätze oder Andenkenkitsch Marke Sonnenuntergang erinnert, wo doch im intellektuellen Mi­lieu bekanntlich nicht das Foto eines schönen Augenblicks, sondern höchstens das schöne Foto eines wie immer gearteten Augenblicks als legitime Kultur gilt. Und sofern nicht von Anfang an feststeht, dass die Untersuchung dazu dienen wird, diese – gar von Kollektiven, und auch noch von deutschen – positiv empfundenen Erlebnisse als Illusionen oder Schlimmeres zu entlarven, überwiegt womöglich die Angst, von der klebrigen Materie affiziert zu werden und der wissenschaftlichen Distanz- und Kritikpflicht nicht mehr Genüge zu tun. Diese Bedenken sind auch meine eigenen; die LeserInnen mögen am Ende beurteilen, ob es gelungen ist, über eine Berührung mit spitzen Fingern hinauszukommen, ohne gleich in einer stürmische Umarmung zu landen. Beim Folgenden handelt es sich um eine Exploration: um die Durchsicht einiger Materialien und um erste Überlegungen zu ihrer Hermeneutik. Untersucht werden einige deutsche Darstellungen von Episoden, welche die Beteiligten als besonders schön erlebt haben. Das Interesse gilt sowohl Inhalten wie Formen: Es wird gefragt, welche Ereignisse als schön empfunden werden und wie diese Empfindung durch Handlungen ausgedrückt bzw. von welchen Handlungen sie begleitet wird. Hierzu werden Selbstzeugnisse von AkteurInnen und Zeugnisse von BeobachterInnen herangezogen. Dabei geht es bei dieser ersten Annäherung nicht um den Vergleich zwischen Innen- und Außenperspektive, sondern um die Sichtung von Gefühls- und Handlungsmustern, deren Vorkommen in zumindest einer der

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beiden Quellenarten konstatiert wird. Auch die Frage nach der historischen Varianz, nach schicht- und geschlechtsspezifischen Differenzen sowie unterschiedlichen Kontexten und das heißt Bedeutungen derselben Muster wird hier nicht gestellt; die Darstellung beschränkt sich auf den analytischen Zwischenschritt der Herausarbeitung homologer Musterelemente. Dass diese nicht allzu abstrakt ausfallen, scheint mir dadurch gewährleistet, dass die untersuchten Fälle nicht allen möglichen Epochen und Kulturen entnommen sind, sondern aus dem Deutschland des 20. Jahrhunderts stammen und mittleren und unteren Sozialschichten bei ihnen ein wesentlicher Part zukommt. Eingeleitet wird die Musteranalyse durch einen kurzen Überblick über die Darstellung schöner Erlebnisse in Lebenserinnerungen von GelegenheitsautorInnen, die um 1900 geboren sind. Danach werden zwei kollektive Erlebnisse der jüngeren deutschen Geschichte herausgegriffen, denen viele Zeitgenossen das Prädikat »schön« verliehen haben: das Zeppelinerlebnis gegen Anfang und das Erlebnis des Mauerfalls gegen Ende dieses Jahrhunderts; hierbei wurden vor allem Tageszeitungen und im letzteren Fall überdies Fernsehberichte ausgewertet.2 Das »schöne Erlebnis« in der popularen Autobiographik

Die autobiographischen Erlebniserzählungen, die nach Darstellungen »schöner Augen­ blicke« – relativ weit gefasst als: schöne Momente bis hin zu schönen Tagen – durchforstet wurden, stammen aus 164 kurzen Lebensgeschichten, die zu einem Erinner­ungs­wettbewerb des baden-württembergischen Landesseniorenrats 1976/77 eingeschickt wurden.3 Aus diesen Texten wurden alle »Erzählungen in der Erzählung« herausgesucht, erkennbar an Einleitungsformeln wie »Einmal«, »An einem Sonntag« usw., was 705 Passagen ergab, in denen Erlebnisse mehr oder weniger szenisch dargestellt wurden. Etwa 18 Prozent dieser Szenen werden als besonders schön – im Sinne von beglückend, euphorisierend, ergreifend – geschildert. AutorInnen mit Volksschulabschluss erzählen solche Erlebnisse etwas häufiger als solche mit Gymnasialbildung und sie stellen sie häufiger als biographische Umbrüche denn als bloße Alltagsunterbrechungen dar. Frauen und Männer sind etwa gleich oft vertreten, jedoch thematisieren Frauen erstens öfter und zweitens ausführlicher die Gefühle, welche die schönen Erlebnisse begleitet haben. Über den Charakter der geschilderten schönen Erlebnisse ergab sich unter anderem Folgendes: 1. Fast die Hälfte der Episoden spielt im Krieg; es handelt sich hier um Glücks­momente, die entweder Kriegsnot unterbrechen oder sich mit dem Kriegsende verbinden. Auch beim »schönen Erlebnis« gilt offenbar, was Adorno für das Ästhetisch-Schöne gesagt hat: Schönes wird anhand von Hässlichem bemerkt (vgl. Hartmann 1976, 13). 2. Der schöne Augenblick wird zumeist als unerwartet geschildert. Das Unerwartete ist dabei nicht nur etwas, auf das man momentan nicht gefasst war, sondern oft auch etwas

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inhaltlich Überraschendes, das man kaum oder kaum mehr zu hoffen gewagt hat, ja das man sich gar nicht vorstellen konnte. Diese »schönen Augenblicke« unterscheiden sich also grundlegend von der Erlebnisart, die Gerhard Schulze als typisch für die Erlebnisgesellschaft bezeichnet. Schulze charakterisiert diese Gesellschaft damit, dass sich in ihr »erlebnisorientiertes Handeln zu routinisierten Ziel-Mittel-Komplexen« (Schulze 1992, 40) verfestigt habe, wofür er den Begriff »Erlebnisrationalität« prägt. Erlebnisse, die man nicht geplant oder überhaupt nicht einkalkuliert hat, fallen aus dieser Bestimmung heraus. 3. Die Erzählungen drehen sich häufig um überraschende Wiederbegegnungen mit vertrauten Menschen – z. B. mit dem Ehemann auf Heimaturlaub, mit der Familie am Kriegsende – sowie um das Zusammenfinden von sich fremden Personen: etwa darum, dass man von Bauern freundlich aufgenommen wird, oder um eine Kriegsweihnacht, die man zusammen mit Zwangsarbeitern feiert. Oft wird die errungene oder wiedererrungene Gemeinsamkeit dabei durch miteinander Singen und miteinander Essen zelebriert. Hier einige Belege für die genannten Erfahrungsmuster: Schon manchen Abend standen wir an der Sperre und warteten [bei Kriegsende 1918, B. J. W].Viele Soldaten in Uniform sind schon heimgekommen. Frauen, Männer, Mütter, Söhne, Brüder und Schwestern lagen sich in den Armen. Der Krieg war zu Ende. An einem der Abende entsteigt auch unser Vater dem Zug. Wir freuen uns sehr. Stolz marschieren wir mit ihm heim. Die Mutter hatte uns schon kommen sehen. Alle Angst hat nun ein Ende (Otto Bangerter, geb. 1911, HStA Stuttgart, I 175, Nr. 778, 3). Schon in der ersten Nacht [nach dem Einrücken 1918, B. J. W] sagt mein Fallen[= Bett-, B. J. W]-Nachbar zu mir vor dem Einschlafen: »Wir wollen gute Kameraden zu einander sein!« Ich gebe ihm mein Einverständnis und wir sind, so lange wir beieinander waren, es auch geblieben. Und als wir uns nach dem Krieg zufällig auf dem Bahnhof in Eutingen wieder sahen, war er es – ein Bürstenbinder aus Lützenhardt –, der mich zuerst erkannte und zu mir sagte: »Kennst Du Deinen Kollegen nimmer?« An der Sprache habe ich ihn dann schnell wieder erkannt und es gab ein fröhliches Wiedersehen (Adolf Pfleiderer, geb. 1899, HStA Stuttgart, 1 175, Nr. 1607, 3). Einmal kam mein Mann mit seinem Kapitän und Familie, sowie noch zwei Kameraden die hier in der Nähe wohnten, aus der Krim in Urlaub zu uns. Das war eine Überraschung und die Freude war riesengroß und wir haben so manches Festle zusammen gefeiert. (…) Weil mein Mann ein guter Organisator war, hat er immer für Speis und Trank gesorgt. Aber nach den schönen Tagen kam der traurige Abschied wieder für lange (Else Beyl, geb. 1908, HStA Stuttgart, I 175, Nr. 1208, 4).

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Ich erinnere mich noch gut an das Christfest 1942 wo wir mit den Gefangenen Weih­ nachten erlebt haben [mit Kriegsgefangenen, die in derselben Fabrik wie die Verfasserin arbeiteten, B. J. W]. Wir haben zusammen Weihnachtslieder gesungen, jeder in seiner Sprache, die Melodie ist ja dieselbe, ich machte für uns Glühwein und reichte unsern selbstgebackenen Hefekranz herum. Für die Kinder brachten sie Schokolade und Kekse die sie von zu Haus bekommen hatten. Das war ein ergreifendes Christfest das ich nie vergessen werde (Else Beyl, ebd., 5). Die zitierten Erlebnisse beziehen sich allesamt auf einen relativ kleinen Personenkreis und haben zumeist (bis auf das letzte) privaten Charakter. Das ist nun aber keineswegs bei allen der untersuchten lebensgeschichtlichen Episoden der Fall. Der häufigste Typus eines schönen Augenblicks, von dem in den genannten Lebenserinnerungen berichtet wird, ist ein öffentliches und kollektiv erlebtes Ereignis: der Moment, in dem zum ersten Mal ein Zeppelin am Himmel erschien. Der folgende detaillierte Blick auf das »Zeppelin­er­ lebnis« – ermöglicht durch eine über das Lebensgeschichten-Korpus hinaus erweiterte Quellen­basis, die vor allem deutsche Tageszeitungen aus den Jahren 1908 und 1909 einbezieht – wird zeigen, was sich bei diesem Erlebnis an bereits genannten Mustern wiederholt und was an neuen hinzukommt. Das Zeppelinerlebnis

Wie wohl kein anderes Ereignis eint die Zeppelinbegeisterung vor allem in den ersten Jahren der Luftschifffahrt, zwischen 1908 und 1909, die deutsche Gesellschaft der Kaiserzeit. Nicht nur die Arbeiterschaft, auch große Teile der Sozialdemokratie (insbesondere in Süddeutschland) sind in diese Begeisterung eingeschlossen (vgl. den Aufsatz Zeppelinkult und Arbeiterbewegung in diesem Band). Die Eindrücklichkeit des »Zeppelinerlebnisses« hatte nicht nur mit der Sensation des Fliegens und der Größe der Luftschiffe zu tun; es handelt sich überdies um die Erfahrung eines gemeinsamen Enthusiasmus, der sich neben der technischen Grenzüberschreitung, die der Zeppelin bedeutete, auch auf andere Grenzüberschreitungen bezieht. »Es war ein erhebendes, ergreifendes Bild«, schreibt der Schwäbische Merkur (7. 8. 1909, Mittagsblatt) über die Begrüßung des Zeppelin und seines Erfinders in Köln im August 1909: »der jugend­f rische Graf, umgeben von ordensgeschmückten Generalen, inmitten zweier einfacher Arbeiter im Werktagskleid; ein Symbol, dass arm und reich, hoch und gering eins sind in der Liebe zu dem großen und doch so bescheidenen Erfinder«. Die Gemeinsamkeit beschränkt sich dabei nicht auf die gemeinsam geteilte Begeisterung, sondern drückt sich auch in kollektiven Handlungen, in Massenaufläufen und Massenkundgebungen aus, von denen niemand ausgeschlossen werden kann und soll und in denen hierarchische Abstufungen zumindest nicht dominieren: Die Arbeiter, welche die Dächer ihrer Fabriken besteigen, und die Bauern, welche den landenden Zeppelin an die Leine nehmen,

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haben bei diesen Großereignissen sogar bessere Plätze als die Honoratioren der wilhelminischen Gesellschaft. Die Gemeinsamkeit im Zeichen des Zeppelins wird von vielen Beobachtern als Verbrüderung der Deutschen, als Beitrag zur inneren Nationbildung erlebt. Öfters wird bei Zeppelinankünften mehr oder weniger spontan das Deutschlandlied angestimmt; viele begeistern sich an dem aeronautischen Vorsprung, den Deutschland nun gegenüber Frankreich und anderen Konkurrenten errungen habe. Doch außer diesem, bei vielen Zeppelinfans auch statt diesem nationalen Gehalt enthält die Begeisterung ein kosmopolitisches Element: Man ist sich bewusst, einen großen Schritt bei der Verwirklichung eines »Menschheitstraums« zu erleben und glaubt daran, dass die Überwindung der Erdenschwere zugleich die von Ländergrenzen bedeute. Der Zeppelin, so schreibt der Süddeutsche Postillon (27. Jg. 1908, H. 18, 145), lehre »die Unhaltbarkeit der Grenzen, mehr als Dampf und Elektrizität«, und die Mannheimer Volksstimme nennt das Luftschiff »eine weitere Etappe auf dem Wege der allgemeinen Verbrüderung der Völker und Nationen« (vgl. Schwäbische Tagwacht, 9. 7. 1908). Beides sind sozialdemokratische Blätter, aber sie artikulieren hier nicht nur sozialdemokratische Hoffnungen. Auch für viele andere Zeppelinfreunde sind die Zeppelinbegrüßungen lokale Kundgebungen für die globale Kommunikation und Kooperation der Zukunft – für eine Idee, die von den Kriegszeppelinen des Ersten Weltkriegs desavouiert wird, aber in den 20er Jahren, als der Zeppelin auf seinen Interkontinentalflügen unter anderem in New York begeistert empfangen wird, wieder aufersteht. Doch es sind nicht nur Gruppen- und Nationalgrenzen, es sind auch herkömmliche Re­geln von Ordnung und Unterordnung, an welchen das Zeppelinerlebnis rüttelt. Bekanntlich standen das Berliner Kriegsministerium und der Kaiser selbst den Zeppelinschen Luftschiffplänen lange Zeit skeptisch gegenüber; die Fortführung des Zeppelinbaus nach dem Unglück von Echterdingen wird nicht durch staatliche Subventionen, sondern durch eine als »Volksspende« firmierende Sammelaktion in der Bevölkerung ermöglicht, von der immer wieder betont wird, dass sie »ohne Nachhilfe von oben« vor sich gegangen sei (Schwäbischer Merkur, 11. 8. 1908, Mittagsblatt). Sie macht das Zeppelinprojekt in den Augen zeitgenössischer Beobachter zur »Volksbewegung« (Linde 1908, 431) und die Luftschiffe selbst zu einer Art von Volkseigentum. Die Teilnehmer dieser Volksbewegung nehmen sich bei den Zeppelinbesuchen Dinge heraus, die ihnen üblicherweise versagt sind. Der Entfesselung der Gefühle, die sich in Hüte- und Tücherschwenken, in Schreien und Singen, in »tausendstimmigen Jubelrufen« (Tübinger Chronik, 2. 7. 1908), in atemlosen Verfolgungsjagden ausdrückt, entsprechen massenhafte Regelübertretungen. Herrschafts- und Ordnungsinstanzen wie Schule, Arbeitgeber, Polizei werden von den Untertanen und Untergebenen durch die »höhere Gewalt« der Zeppelinerscheinung am Himmel partiell außer Funktion gesetzt. So versammeln sich die begeisterten Massen unangemeldet auf Straßen und Plätzen; polizeiliche Absperrungen werden wieder und wieder durchbrochen, ohne dass es dabei zu größeren Konfrontationen kommt. »In manchen Betrieben liefen die Leute von der Arbeit weg«, liest man in einem Bericht über den Kölnbesuch des Zeppelin 1909 (Schwäbischer Merkur, 3. 8. 1909,

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Abendblatt). »Der Werktag hatte sich zum Festtag verwandelt«, heißt es über die Zeppelinlandung bei Göppingen im Juni 1909; »aber statt der Sabbatstille herrschte das bunteste Jahrmarkttreiben. (…) In den Fabriken, die nicht von selbst schlossen, wurde gestreikt, nicht durch ›bewusstes und gewolltes Zusammenwirken‹ der Arbeiter, sondern mehr ungewollt, es kam eben so. Ein Arbeiter sah den andern im Festgewand und dann ging er nach Haus und wechselte eben auch den Habitus« (Der Hohenstaufer, 2. 6. 1909). Viele Schüler hält es ebenfalls nicht mehr im Unterricht, wenn der Zeppelin am Himmel erscheint. Sie bekommen oder nehmen sich ungefragt »zeppelfrei« – ein damals geläufiger Ausdruck (Wehrhan 1910, 352). Majestätisch schob sich das Wunderwerk der Technik über dem Schulgebäude hervor und flog langsam über uns dahin. Die Begeisterung über den Anblick war so groß, dass viele der Schülerinnen dem Luftschiff nachliefen bis hinaus vor die Stadt, wo es langsam den Blicken entschwand, dabei das Klingeln, das das Ende der Pause ankündigte, nicht hörten oder nicht hören wollten (Leonore Stilcke, geb. 1898, HStA Stuttgart, 1175, Nr. 999, 1). Nirgends jedoch, so wird immer wieder erstaunt konstatiert, artet der kollektive Taumel in Chaos aus: »Mit einer wundervollen Disziplin der Massen ging die Begeisterung der Millionenstadt einher«, berichtet der Schwäbische Merkur über den ersten Berliner Zeppelintag, den 30. August 1909, bei dem seiner Schätzung nach anderthalb Millionen zum Landeplatz, dem Tegeler Feld, geeilt waren. Keine Verhaftung, kein Unglücksfall war bis in die späten Abendstunden hinein bekannt geworden, trotzdem ganz Berlin auf dem Kopf stand (…). Und diese Ordnung der Massen erzwang kein Schutzmannsaufgebot, kein Militärkordon; sie kam aus dem Bewusstsein der Massen heraus, Zeuge einer großen Sache werden zu sollen (Schwäbischer Merkur, 30. 8. 1909). Die liberale Presse nimmt diese Erfahrung zum Anlass, das Recht auf Versammlungen unter freiem Himmel auch für andere Anlässe, wie z. B. für Demonstrationen gegen das preußische Dreiklassenwahlrecht, zu reklamieren, und versteht sie als Beweis dafür, dass die Berliner Massen zur disziplinierten und friedlichen Durchführung solcher Massenaufmärsche durchaus fähig seien (Tägliche Rundschau, 8. 3. 1910; vgl. Die Hilfe, Jg. 1910, H. 11, 165). In der zeitgenössischen Presse ist im Zusammenhang mit den massenhaften Zeppelinbegrüßungen gern von »Volksfesten« oder, wie schon zitiert, von »Feiertagen« die Rede. Doch diese Epitheta gehen meines Erachtens an etwas Wesentlichem vorbei: Der schöne Augenblick, in dem der Zeppelin erscheint, ist keine lizensierte Ventilsitte, kein periodisch wiederkehrendes Fest, welches die Ordnung, die es in geregelten Formen aufhebt, zugleich bestätigt; er bricht vielmehr ungefragt und überraschend in den Alltag ein, erscheint als einmalig und kann eben deshalb den Uhlandschen Frühlingsglauben wecken, dass nichts mehr sein werde wie zuvor, dass sich jetzt »alles, alles ändern« müsse.

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Der Mauerfall

Es folgt der Sprung vom Zeppelinerlebnis zum Mauerfall, der über 80 Jahre und viele differierende Variablen hinwegführt, aber doch, wie zu zeigen sein wird, zumindest in einigen Grundmustern keinen qualitativen Sprung darstellt. Rekapitulieren wir kurz das Geschehen: Am frühen Abend des 9. November 1989 gibt der Informationssekretär des Zentralkomitees der SED, Günter Schabowski, bekannt, dass DDR-Bürger ab sofort in den Westen reisen könnten; die Grenzbehörden seien angewiesen, Visa unverzüglich zu erteilen. An den Berliner Grenzübergängen finden sich allmählich immer mehr OstberlinerInnen ein, die Durchlass begehren; die Grenzposten bestehen zunächst auf der Besorgung eines Visums, doch schließlich wird den wachsenden Massen, die auf Durchlass drängen, der Übergang in den Westen auf das bloße Vorzeigen eines Personalausweises hin gestattet. Zu Fuß oder im Auto passieren nun Zehntausende die Berliner Mauer und andere ost-westdeutsche Grenzübergänge. Auf der anderen Seite werden sie von zahlreichen an die Grenze geeilten Schaulustigen empfangen. Vor allem in Westberlin füllen sich die Straßen mit feiernden Ost- und Westdeutschen.4 Zu konstatieren ist hierbei zunächst eine Vervielfachung der Partner direkter freundschaft­ licher Kommunikation. Die übliche Distanz gegenüber Fremden wird in mehrfacher Weise kassiert: Man spricht andere Personen ungeniert an, man duzt sie und wird wiedergeduzt, man fällt sich um den Hals. (Eine historische Erinnerung: Die accolade war nach 1789 die übliche Begrüßungsform der citoyens.) Die Fernsehaufnahmen zeigen, dass der Topos »Wildfremde Menschen fallen einander in die Arme« (Frankfurter Rundschau, 11./12. 11. 1989) tatsächlich von der Realität gedeckt wird. Auch Helmut Kohl und Willy Brandt werden, als sie an der Grenze auftauchen, von Passanten in den Arm genommen; ein Mann in der Menge, so berichtet die Frankfurter Rundschau (ebd.), ruft aus: »Ich könnt’ Euch alle knuddeln«. Kommen die Ostdeutschen nicht zu Fuß, sondern im Auto über die Grenze, wird der körperliche Kontakt durch ein Willkommensklopfen auf Trabi- und Wartburgdächer substituiert. Und auch die soziale Distanz, die in der Ware-GeldBeziehung liegt, wird teilweise eingezogen: Fremde Menschen beschenken sich, die Berliner Verkehrsbetriebe dürfen ohne Fahrschein benutzt werden, in einigen Berliner Kaufhäusern und vielen Kneipen gibt es Getränke und Essen gratis. Das Gesetz des Marktes, das »kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen (hat), als das nackte Interesse, als die gefühllose ›bare Zahlung‹ « (Marx/Engels 1969, 464), wird einen schönen Augenblick lang entmachtet. Die »Tausende von Verbrüderungsszenen« (Der Spiegel 1989, 19), die sich in jener Nacht abspielen, vollziehen sich interessanterweise nicht nur zwischen Ost- und Westdeutschen, sondern ebenso zwischen Ostdeutschen und zum Teil zwischen Westdeutschen untereinander. Der Augenblick ist also nicht bloß schön, weil eine Verschwisterung stattfindet: die Verschwisterung findet auch deshalb statt, weil der Augenblick so schön ist. Es ist ein Augenblick der Befreiung, den nicht nur die Befreiten feiern, sondern auch die Westdeutschen – man könnte interpretieren: als Enthusiasten des Prinzips Freizügigkeit, die

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zumindest momentan nicht nachrechnen, was die Freizügigkeit der anderen für ihre eigenen Eigentums- und Bequemlichkeits-Interessen bedeutet. Man darf hier, mit aller Vorsicht, an Immanuel Kants Notiz über die Begeisterung der Zuschauer für die Französische Revolution erinnern (Kant 1968, 359). Kant nennt diese einen von Eigennutz freien »wahren Enthusiasm«, der eine moralische Tendenz der Menschheit beweise: Diese Revolution eines geistreichen Volkes, die wir in unseren Tagen haben vor sich gehen sehen, mag gelingen oder scheitern; sie mag mit Elend oder Greueltaten dermaßen angefüllt sein, dass ein wohldenkender Mensch sie, wenn er sie, zum zweitenmale unternehmend, glücklich auszuführen hoffen könnte, doch das Experiment auf solche Kosten zu machen nie beschließen würde – diese Revolution, sage ich, findet doch in den Gemütern aller Zuschauer (die nicht selbst in diesem Spiele mit verwickelt sind) eine Teilnehmung dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasm grenzt, und deren Äußerung selbst mit Gefahr verbunden war, die also keine andere, als eine moralische Anlage im Menschengeschlecht zur Ursache haben kann (ebd., 358). Dass dieser »wahre Enthusiasmus« auf westdeutscher Seite am 9. November 1989 mit von der Partie war, kann unter anderem daraus geschlossen werden, dass die Euphorie dort bei vielen nur kurz anhielt: Schon nach zwei Tagen schlug ja die Stimmung im Westen teilweise wieder um, die Gäste wurden immer mehr als Belästiger, das weiterhin gezahlte Begrüßungsgeld als unberechtigte Bevorzugung empfunden. Die Zauber, die zusammenbanden, was die Mode streng geteilt hatte, waren nur als Interludium willkommen. Die wenn nicht allgemeine, so doch verbreitete Freude an dieser Distanzaufhebung besitzt freilich nicht für alle denselben Gehalt. Bei den einen hat sie unter anderem mit Aufwands­ ersparnis für Distinktionsarbeit zu tun, bei den andern mit dem ersparten Kampf um Anerkennung durch Statushöhere; für alle ist es Vorsichtsersparnis, da man sich dort, wo man lacht, weint und singt, ruhig niederlassen kann. Eine reale und nicht nur ideologische Familialisierung sozialer Beziehungen findet statt, in der sich Regression und Expansion verbinden: Die Vereinfachung der Rollenanforderungen geht mit der Ausweitung der Beziehungspartner zusammen. Geborgenheitsgefühl und ozeanisches Gefühl kommen zusammen, oder präziser: Die Erleichterung über das Überflüssigwerden des Selbstbehauptungskampfs verbindet sich mit dem Triumph, der Herausforderung der Vergesellschaftung doch Genüge getan, ein neues Stück Welt angeeignet zu haben. Wenn in den Reportagen von der Mauer- und Grenzöffnung immer wieder gesagt wird, es herrsche »Volksfeststimmung«, ist dies mithin nur halbrichtig, zumindest dann, wenn mit Volksfest die schönen Erlebnisse verbunden werden, die Gerhard Schulze dem »Trivialschema« der Popularkultur zuordnet (Schulze 1992, 151). Schulze stellt das in diesem Milieu gesuchte schöne Erlebnis unter den Leitbegriff »Gemütlichkeit«. Ein großer Teil der Merkmale, die Schulze diesen Gemütlichkeitserlebnissen zuordnet, findet sich auch in der Nacht vom 9. auf den 10. November: Man ist laut, singt, schunkelt, darf sich ein wenig gehenlassen, »man ist einander nahe; die Gesichter sind freundlich; für das leibliche Wohl

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ist gesorgt« (ebd.). Aber Schulze fügt weitere Merkmale hinzu: »Es gibt keine Gemütlichkeit unter freiem Himmel, allein oder mit völlig Fremden, aufgewühlt durch etwas Unerwartetes«. Die Gemütlichkeitssehnsucht, so Schulze, enthalte »ein Urmisstrauen gegenüber den anderen (Egoismus-Skala), gegenüber sich selbst und der Fähigkeit, etwas zu bewirken (Fatalismus-Skala), gegenüber unbekannten, noch nicht durch Routinen strukturierten Situationen (Rigiditäts-Skala)« (ebd.). Beim Mauerfall aber werden diese Rückzugs- und Resignationstendenzen auch von Angehörigen des von Schulze so genannten »Harmoniemilieus« überwunden. Ein Teil des Vergnügens liegt hier gerade darin, dass sich »wildfremde Menschen« ohne große Vorsichtsmaßnahmen zueinander gesellen, das heißt, dass die traditionelle Koalition von Harmonie- und Abgrenzungsbedürfnis aufgebrochen wird. Aber die Euphorie resultiert nicht nur aus der direkten Interaktion mit neuen und doch gleichgesinnten Handlungspartnern, sondern auch aus einer eigenmächtigen Erweiterung des Handlungsspielraums. Das Neue Deutschland spricht in den Tagen nach dem Mauerfall immer wieder von der »Regelung«, die der Staat getroffen habe, und zitiert öfters DDR-Bürger mit Formulierungen wie »Diese Regelung ist ja eine Wucht« oder »Sehr gut sei diese Regelung, die der Staat getroffen habe« (ebd., 11. 11, 12. 11. und 13. 11. 1989). Viele Beteiligte handeln jedoch in dem Bewusstsein, dass sie diese Regelungen erzwungen haben, ja sie erleben sich am 9. und 10. November als Regelsetzer in einer staatlich ungeregelten Situation. Dieses anarchische Moment kennzeichnet im übrigen nicht nur die Situation an den Grenzen, sondern – in abgeschwächter Weise – auch die im Westen, wo zumindest die Verkehrsregeln zeitweise außer Kraft gesetzt, einem »friedliche(n) Chaos« (so eine Fernsehreporterin) gewichen sind. Damit wird dieser schöne Augenblick nicht zuletzt zum Augenblick der Erkenntnis, dass Ordnung ohne Ordnungsmacht möglich ist. Es ist dieselbe faszinierende Erfahrung, die schon in den Zeppelintagen immer wieder gemacht wurde: Es geht auch ohne Polizei. Der Topos ist freilich älter; so begeistert sich Joachim Heinrich Campe 1789 im revolutionären Paris daran, wie zu einer Zeit, da alle Gemüter in aufbrausender Gärung sind, da beinahe eine völlige Anarchie durchs ganze Reich herrscht und da die große, aus mehreren tausend Rädern zusammengesetzte Maschine der ehemaligen Pariser Polizei gänzlich zertrümmert ist, gleichwohl überall, sogar beim größten Volksgedränge, alles so ruhig, so friedlich, so an­ständig und sittlich zugeht, dass man stundenlang dastehen und die wimmelnde Menge von lebhaften Empfindungen beseelter Menschen unverrückt im Auge behalten kann, ohne auch nur ein einziges Mal eine einzige unanständige oder gesetzwidrige Handlung zu bemerken, ohne auch nur ein einziges Mal ein beleidigendes, scheltendes oder zankendes Wort zu hören (Campe 1961, 136). Partiell entmachtet ist am 9. November 1989 aber nicht nur die beiderseitige Polizei, sondern auch die politische Klasse. Die östliche lässt sich erst gar nicht sehen, die westliche ist nur Gast, bestenfalls Ehrengast des Massenfestes. Wenn man am Ziel angekommen ist,

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braucht es keine Führer mehr. »Bei aller Hochachtung vor unserem Bundeskanzler: Dies sind die Tage des Volkes«, sagt Fritz Pleitgen dazu treffend in einer ARD-Sendung. Die Politiker, die von der Entwicklung »überrascht und überrannt« wurden (Pleitgen), spielen in diesem Moment keine besondere Rolle. Ihr Wort wird da akzeptiert, wo sie sich zum Sprachrohr der Gefühle aller machen; Walter Momper gelingt das bei der Schöneberger Kundgebung vom 10. November, Kohl dagegen wird von vielen der Versammelten als Vertreter von Partikularinteressen verstanden und ausgepfiffen (vgl. dazu den Bericht »Glückliches Volk, mürrischer Kanzler« in der Frankfurter Rundschau vom 13. 11. 1989). Ebenso geht es der dritten Strophe des Deutschlandlieds: Die Nationalhymne wird offenbar als – zudem nur-westliche – Staatshymne verstanden und abgelehnt. Die Massenhymne dieser Tage geht anders, sie lautet: »So ein Tag, so wunderschön wie heute«. Coda

Das Lied »So ein Tag, so wunderschön wie heute«5 erfüllt sämtliche Voraussetzungen, die für eine nachhaltige Verachtung durch alle Bildungs- und Geschmacksträger der Nation erforderlich sind. Doch dieses Musterbeispiel von Trivialkultur ist keineswegs die reine Flachware. Schon seine Melodie enthält – wenngleich kaum absichtlich – verborgene Konterbande: Die ersten Takte des Refrains haben zwar nicht unüberhörbare, aber doch hörbare Anklänge an die »Internationale«6. Man sollte das nicht überbewerten, und ich würde Walter Moßmanns und Peter Schleunings Kommentar zu dieser Kollusion (»Das Unbewusste des Volks wird schon wissen, warum das Lied so beliebt ist für Triumphgesänge! Die BRD-Nationale!« [Moßmann/Schleuning 1978, 270]) nicht unterschreiben wollen. Doch spätestens seit auf diesen Zusammenhang aufmerksam gemacht wurde, ist er in den Ko-Text dieses Liedes aufgenommen. Aber auch sein Text hat einige bemerkenswerte Ingredienzien: So ein Tag, so wunderschön wie heute, So ein Tag, der dürfte nie vergeh’n. So ein Tag, auf den ich mich so freute, Und wer weiß, wann wir uns wiederseh’n. Ach, wie schnell entschwinden schöne Stunden, Die wie Wolken verweh’n. So ein Tag, so wunderschön wie heute, So ein Tag, der dürfte nie vergeh’n. Mit größter Selbstverständlichkeit finden die Verse in dem unvermittelt eingeschossenen »Und wer weiß, wann wir uns wiederseh’n« zu der – aus unseren Beispielen schon geläufigen – Vorstellung, dass zum schönen Augenblick das Zusammentreffen von üblicherweise Getrenntem gehört; und sie dekretieren nicht, dass man dabei an die Reunion mit lange vermissten Verwandten und Wahlverwandten zu denken habe, sondern lässt der Möglich-

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keit Raum, dass es sich dabei auch um das Glück eines erstmaligen Zusammenkommens handelt, bei dem Fremde sich wie alte Freunde begegnen oder als hätte man immer schon auf einander gewartet. Für die Auffassung vom schönen Augenblick als dem Moment einer prinzipiell niemand ausschließenden Verschwisterung ist das Lied also durchaus anschlussfähig. Der andere Gehalt dieser Momente, dass sie oft solche der Entfesselung, der Entfaltung sind, findet sich bei »So ein Tag« nur, aber immerhin in der Lautstärke wieder, mit der die gemessen daherkommenden Tonschritte sich singen lassen. Im Text selbst fällt das Lied hinter den Freiheitsgehalt, den das Massenhandeln bei Anlässen wie dem Zeppelinbesuch oder dem Mauerfall kennzeichnet, zurück. Es betont, so könnte man sagen, eher das Verschmelzende und damit eher Regressive, nicht die in diesen Erlebnissen ebenfalls repräsentierten Wünsche und Fähigkeiten zum Aktivwerden, zur Auto­nomie. Dass er dies beides verbinden kann, das erst, so scheint mir, hebt den schönen Augenblick aus der Menge netter, lustiger, angenehmer Erlebnisse heraus und macht ihn unvergesslich. Zugleich freilich macht es ihn, immutatis mutandis, ebenso kurz wie selten. Auch davon weiß die deutsche Volksfesthymne: Ihre Schlusszeile »So ein Tag, der dürfte nie vergeh’n« bleibt in der Schwebe zwischen Irrealis und Optativ. Anmerkungen 1 Für seine Generation hat Hans-Ulrich Wehler hierzu folgende Hypothese geäußert: »Zur veränderten Bedeutung der Gefühle, Emotionen, Affekte [in der Geschichts­forschung, B. J. W] möchte ich die Vermutung äußern, dass hier generationsspezifische Erfahrungen eine wesentliche Rolle spielen. Für diejenigen Generationen, die den Zweiten Weltkrieg, die Flucht und die Nachkriegszeit bewusst miterlebt haben, war meines Erachtens Affektkontrolle eine unabdingbare Voraussetzung des psychischen und physischen Überlebens. Gefühlen wurde nur im Kreis der Familie, unter engen Freunden und Freundinnen offen nachgegeben (…). Für jüngere besitzt die Äußerung und Verteidigung von Emotionen offenbar einen anderen Stellenwert, sie gelten nicht mehr als strikt privatisiert; Kontroll­ mechanismen rasten nicht sofort quasi-automatisch ein. Von daher eröffnet sich auch ein anderer Zugang zur Bedeutung von Gefühlen in der Alltagsgeschichte« (Wehler 1988, 309). 2 Es ist mir bewusst, dass das Heranziehen anderer Beispiele auch andere Verhaltens- und Erfahrungs­ aspekte erbringen würde. Ich bin allerdings der Überzeugung, dass die im Folgenden herausgearbeiteten Grundmuster weder ephemer noch marginal sind. 3 Die Einsendungen lagern im Hauptstaatsarchiv Stuttgart (Bestand 1175) und sind durch einen sogenannten Systematischen Katalog nach Themenbereichen sowie durch einen Personen- und Ortskatalog erschlossen. 4 Als Quellen für die folgende Darstellung dienten Sendungen der ARD und des ZDF vom 9. bis 11. 11. 1989, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Frankfurter Rundschau, Neues Deutschland, Süddeutsche Zeitung und die Tageszeitung (taz) jeweils vom 11. bis 13. 11. 1989 sowie der Spiegel 1989, 18‑30. 5 Der Text des Lieds stammt von dem Hamburger Walter Rothenburg, geboren 1889, gestorben 1975, der auch Hits schrieb wie »Du, du, du, lass’ mein kleines Herz in Ruh« (als »You, you, you« nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA erfolgreich), »Junge, komm bald wieder« oder das in Fußballstadien noch oft zu hörende »Oh, wie bist Du schön« (vgl. Neue Osnabrücker Zeitung, 28. 12. 1989). Vertont

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wurde »So ein Tag« von Lotar Olias, geboren 1913 in Königsberg, gestorben 1990 in Berlin, einem Kabarettisten, Schlager- und Musicalkomponisten, der unter anderem die Musik zu zahlreichen FreddyQuinn-Songs komponierte und viel mit Rothenburg zusammenarbeitete – so auch bei »Junge, komm bald wieder« und »Du, du, du« (vgl. Honegger 1976, 101). Rothenburg schrieb das Lied 1951, es wurde 1952 zum ersten Mal von den Mainzer Hofsängern auf dem Mainzer Karneval gesungen (vgl. Moßmann/Schleuning 1978, 269). 6 Obgleich nicht naheliegend, ist die Vorstellung doch auch nicht absurd, dass dem Komponisten Lotar Olias die »Internationale« im Ohr geklungen haben könnte: Zu ihrer Hoch-Zeit in Deutschland, Anfang der 1930er Jahre, lebte er in Berlin, und im Zweiten Weltkrieg kam er in sowjetische Kriegs­ gefangenschaft (vgl. die Kopie eines Zeitungsnachrufs auf Olias vom 21. 10. 1990 im Deutschen Volks­ liedarchiv Frei­burg).

Literatur Campe, Joachim Heinrich (1961): Briefe aus Paris. Während der französischen Revolution geschrieben. [Zuerst 1790.] Berlin. Der Spiegel (1989): 43. Jg., H. 46, 18‑30. Hartmann, Peter (1976): Beitrag zum Thema des 4. Karlsruher Kolloquiums: »Gibt es heute noch eine sinnvolle Verwendung des Begriffs ›schön‹?« In: Siegfried Schmidt (Hg.): »schön«. Zur Diskussion eines umstrittenen Begriffs. München, 1‑28. Honegger, Marc (1976): Das große Lexikon der Musik, Bd. 6. Freiburg im Breisgau. Kant, Immanuel (1968): Der Streit der Fakultäten. In: Ders.: Werke in zwölf Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel. Bd. XI. [Zuerst 1784.] Frankfurt am Main, 261‑393. Linde, Ernst (1908): Die Begeisterung für Zeppelin. Eine volkspsychologische Studie. In: Allgemeine deutsche Lehrerzeitung, 60. Jg., 429‑431. Marx, Karl/Friedrich Engels (1969): Manifest der Kommunistischen Partei. In: Dies.: Werke, Bd. 4. Berlin/ DDR, 459‑493. Moßmann, Walter/Peter Schleuning (1978): Alte und neue politische Lieder. Reinbek. Schulze, Gerhard (1992): Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt am Main, New York. Wehler, Hans-Ulrich (1988): Aus der Geschichte lernen? Essays. München. Wehrhan, Karl (1910): Kinderlieder und Kinderreime über Zeppelin und seinen Luftballon. In: Zeitschrift für den deutschen Unterricht, 24. Jg., 345‑364.

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Nachbemerkung Stefan Beck

In seinem Beitrag im Band Tübinger Beiträge zur Volkskultur über Entstehung, sozialkulturellen Kontext und Rezeptionsgeschichte der Gôgenwitze, der auch in die vorliegende Auswahl aufgenommen wurde, führt Bernd Jürgen Warneken folgende Anekdote an: Zwei Frauen aus der Tübinger Unterstadt beschimpfen einander am Heiligen Abend. Ein vorübergehender Pfarrer ermahnt sie zum Frieden mit den Worten »›Wisst ihr denn nicht, dass heute der Heiland geboren ist?‹ – Antwort: ›Ha sell wär?! Mir do unte erfahret doch au gar net, was in der obere Stadt passiert‹« (Warneken 1986, 116). Die Frage, wer sich beim Erzählen der Anekdote über wen lustig macht, wird natürlich erst durch die soziale Position des Erzählers bestimmt – witziger ist sie aber als bissiger Kommentar der HandarbeiterInnen ›unten‹ auf die Vorurteile von KopfarbeiterInnen ›oben‹, deren Nicht-Wissen um die Lebensumstände derjenigen ›da unten‹, ihre Handlungsrelevanzen und Werturteile. Ein klasse Witz ist oft ein Klassen-Witz, in dem die orthodoxen Repräsentationen des Sozialen herausgefordert werden. »Ha sell wär?« – dies könnte auch der ironische Kommentar der Tübinger Empirischen Kulturwissenschaft auf die wohlmeinende Aufforderung von Vertretern der internationalen Sozial- und Kulturwissenschaften sein, den im Hause vertretenen Ansatz doch bitte einmal »anschlussfähig« an die Theoriedebatten etwa um Handlungs- oder Praxistheorie, die Auseinandersetzungen um die Verbindung von Mikro- und Makroebenen, Macht- vs. Strukturtheorie etc. darzulegen. Dem »Stil des Hauses« – wie vor längerer Zeit eine Ausgabe der EKW-Fachschaftszeitung betitelt wurde – liegt das eher nicht: Denn der wurde als einer kultiviert, der den Zusammenhang zwischen Denk- und Handlungsstil, zwischen Denkgegenständen und Denkgestus, zwischen Erkenntnisobjekten und -subjekten eng zu halten suchte. Er beförderte eine »Bereitschaft für gerichtetes Wahrnehmen und entsprechendes Verarbeiten des Wahrgenommenen« (Fleck 1980, 187), für ein Theoretisieren mit »mittlerer Reichweite« (Merton 1968), das sich für die forschungshandelnden Kopfarbeiter im Tübinger Haspelturm im Blick auf die »kulturale Seite der Gesellschaft« als außergewöhnlich produktiv erwies. Qualitative oder »weiche« methodische Zugänge zu den Forschungsgegenständen versprachen ja gerade, die sozialen und diachronen Kontexte der untersuchten Phänomene genauer in den Blick bekommen zu können, als dies in anderen Sozial- und Kulturwissenschaften üblich war: Die EKW als Kontextwissenschaft (Bausinger 1980) förderte bewusst eine Bereitschaft, sich auf empirische Komplexitäten, Widersprüchlichkeiten, Machtasymmetrien, fremdartig scheinende Wahrnehmungsdispositive,

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Handlungslogiken und deren sozialhistorische Genese in den untersuchten »popularen Kulturen« einzulassen (Warneken 2006). Der epistemische »Stil des Hauses« ist eher »genealogisch« denn abstrahierend-verallgemeinernd. Die Betonung der Kontextualität der untersuchten Phänomene beförderte aber eben auch eine – absichtsvoll skeptische oder zumindest duldend hingenommene – Ferne zu den vermeintlich ›oben‹ angesiedelten Kopfgeburten der etablierteren Sozial- und Kulturwissenschaften und eine Nähe zur Sozialgeschichte, die jedoch keine Vollmitgliedschaft in der historischen Zunft sicherte. Die EKW – der Gôg der deutschen Sozial- und Kulturwissenschaftslandschaft? Wie in der zitierten Gôgen-Anekdote verfolgte auch die Tübinger Empirische Kulturwissenschaft – in Selbst- und Fremdwahrnehmung eher ›unten‹ oder am Rand des »sozialen Feldes« der Wissenschaften (Bourdieu 1975) angesiedelt – natürlich intensiv, was ›oben‹ passierte, doch setzte sie stets ihre eigenen Relevanzen und fand ihren eigenen Ton. Während die ›oben‹ nicht wissen, dass sie intensiv beobachtet werden, sich vor allem aber nicht vorstellen können, dass sie ob ihres theoretischen Kapitals nicht nur bewundert werden. Joas, Geertz, Giddens, Schulze, Turner – ›Ha, sell wär?‹ Aber womöglich ist eine solche Interpretation noch zu sehr einem »humanistischen Interpretament« verpflichtet, das die sozialen und psychologischen Spiele wissenschaftlicher Distinktionsarbeit über- und die Wechselwirkungen zwischen Wahrgenommenem und Wahrnehmern unterschätzt. Was, wenn die Praxis, populare Praktiken zu beobachten und sich auf die materialen Bedingungen »praktizierter Lebenspraxis« einzulassen sowie ihre Situativität und historische Kontextualität in Rechnung zu stellen, schnellen Generalisierungen Widerstand leistete und stattdessen einen Denkstil und eine Forschersubjektivität hervorbringt, die theoretische Halbhöhenlagen bevorzugen muss? Hierfür sprächen zwei Argumente: Ludwik Fleck stellte am Beispiel der Etablierung der Wassermann-Reaktion für die Diagnose der Syphilis (Wassermann et al. 1906) die These auf, dass nicht nur wissenschaftliches Erkennen in hohem Maße durch die Materialitäten der Erkenntnisgegenstände und Erkenntnismittel gelenkt würde, sondern dass das Erkennen den Erkennenden verändere, »ihn an das Erkannte harmonisch« anpasse. Für Fleck sind es die sozialen Interaktionen der Forscher in einem gemeinsam bearbeiteten Feld, die durch gegenseitige Bestätigung und Kritik einen Denkstil erzeugen. Zuspitzend übernimmt Fleck Ludwig Gumplowicz’ Diktum aus dessen Grundriss der Soziologie (1905, 269): »Was im Menschen denkt, das ist gar nicht er, sondern seine soziale Gemeinschaft«.1 Aber Fleck bescheidet sich nicht mit einer idealistischen Perspektive; für ihn ist es auch die materielle Umwelt des Menschen, die das Denken prägt. Danach sind es die von Wissenschaftlern in einem Feld gleichermaßen zu überwindenden materiellen Widerstände der Experimentalapparaturen und der Forschungsobjekte, die zu einem geteilten, an die bearbeiteten Probleme angepassten Denk- und Handlungsstil beitragen (Fleck 1980, 111 ff.). Übertragen auf eine kontextualistische Interpretation ethnographisch oder sozialhistorisch generierten empirischen Materials bedeutet dies, dass dieses Material mit spezifischen »interpretativen Widerständen« aufwartet. Es legt nach kanonisierter Auffassung einen Typ der Verallgemeinerung nahe, der sich – mit Clifford Geertz – als »klinisch« bezeich-

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nen lässt: »Es werden keine allgemeinen Aussagen angestrebt, die sich auf verschiedene Fälle beziehen, sondern nur Generalisierungen im Rahmen eines Einzelfalles« (Geertz 1983, 37). Würden ethnographische Interpretationen von ihrer Bindung an den Einzelfall losgelöst, dann wirkten sie trivial und leer. Doch ist diese Anleitung zur ethnographischen Interpretation – »not to generalize across cases but to generalize within them«, wie sie klarer im englischen Original lautet – nicht alternativlos. Tatsächlich scheint sie nur sinnvoll, wenn das Kernproblem, wie bei Geertz, darin gesehen wird, das – überwiegend implizite – Wissen herauszuarbeiten, das die Akteure über die kulturelle Logik symbolischen Handelns besitzen. In diesem Zusammenhang ist eine Unterscheidung von Thomas Nagel hilfreich, der vorschlägt, zwischen drei unterschiedlichen »types of generality« zu differenzieren, die auf unterschiedliche Phänomene anzuwenden wären. Angesiedelt auf einer Skala zwischen ›subjektiv‹ und ›objektiv‹ seien dies »agent-relative«, »agent-neutral« und »agent-independent« Handlungsgründe (Nagel 1986, 152 f.). Die in der »dichten Beschreibung« ins Zentrum gerückten Phänomene sind demnach allesamt »agent-relative«; sie fokussieren auf die »selbstgesponnenen Bedeutungsgewebe« der Akteure, während neutrale oder von den Akteuren unabhängige Aspekte wenig relevant für eine kulturtheoretische Interpretation scheinen. Hiermit werden aber gerade jene Formungen kollektiver Denk- und Handlungsstile interpretativ verpasst, auf die Fleck mit der Betonung der Materialität der Handlungsgegenstände und -situationen verweist. Einen Ausweg aus dieser kulturalistischen Einseitigkeit versprechen praxistheoretische Ansätze. Beispielhaft kann die Argumentation des Wissenschaftshistorikers Andrew Pickering herangezogen werden: Für ihn gilt es aus einer praxistheoretischen Perspektive über die Marxsche Einsicht hinauszugelangen, dass die Produktion nicht nur einen Gegenstand für das Subjekt, sondern auch ein Subjekt für den Gegenstand erzeuge (Marx 1953): »Marx’s language of ›subjects‹ and ›objects‹ is too weak. Scientists and [bio-chemical, SB] reagents are more active then these words suggest. We need to think about agency – performance, doing things« (Pickering 2001, 163). Dabei sei diese »agency« gleichmäßig auf Menschen und Nicht-Menschen verteilt, das Verhältnis von Menschen und Dingen sei aus praxistheoretischer Perspektive als ko-konstitutiv zu konzipieren. Im Gegensatz dazu sei die Mehrzahl sozialwissenschaftlicher Konzepte einer humanistischen Orientierung verpflichtet, da sie die untersuchten Phänomene vor allem durch Konzepte wie Interessen, Regeln, Normen, Wissen oder soziale Strukturen zu erklären suchten – allesamt »Beweger« menschlicher Handlungen, die ausschließlich in der Sphäre des Sozialen oder Psychischen verortet seien. Ein solcher humanistischer »Rest« klingt auch noch in der oben zitierten, auf menschliche Akteure zentrierten Unterscheidung von Thomas Nagel nach. Pickering vertritt die These, dass damit die Bedeutung der Auseinandersetzung mit der materialen Welt, die für Praktiken – auch wissenschaftliche! – gerade die zentrale Herausforderung darstelle, systematisch ausgeblendet oder unterschätzt würde. Gefordert ist nach Pickering daher eine posthumanistische Sozialtheorie, die Prozesse der Ko-Konstitution zwischen materialer und humaner »agency« analysiere.

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»Ha, sell wär?« Womöglich eine Theorie des Sozialen, die symmetrisch den menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren (Latour 1995) durch Handlungssituationen folgen würde, die Sachkultur nicht nur in ihren symbolischen (also: diskursiven) Sublimationen ernst nähme, sondern als materiale Be-Dingung alltäglichen Handelns (Flusser 1993) und als entscheidend für die Erzeugung sozial spezifischer, weil in einer sozial distinkten materialen Umwelt erzeugter Denkstile anerkennen würde. Zugleich – und dies wäre durchaus als ein wissensanthropologischer Gewinn anzusehen – ließe sich eine solche Theorie reflexiv auf wissenschaftliche Praxis anwenden: als Mittel der praxistheoretischen Analyse ethnographischen oder empirisch-kulturwissenschaftlichen Forschens, die weit über die üblichen Ansätze einer disziplinären Selbstvergewisserung im Modus der Wissenschaftsgeschichtsschreibung als Ideengeschichte des Faches hinausginge. Was mit dem »practice turn in contemporary theory« (Schatzki et al. 2001) oder auch der Akteur-Netzwerk-Theorie (Oppenheim 2007) in der internationalen Sozialwissenschaft angekündigt wird, weist Parallelen auf mit der bei Bernd Jürgen Warneken zu findenden, oft auf Pierre Bourdieu rekurrierenden Analyse. Dies allerdings mit einigen Besonderheiten: Die Warnekensche Perspektive auf alltägliche Praktiken ist nicht posthumanistisch, sondern dem empathiegeleiteten »intersozialen Dolmetschen« verpflichtet. Ähnlich wie die britische Sozialanthropologie das Übersetzen von »modes of thought« ›zwischen‹ Kulturen als Ziel definierte (Asad 1993; Lienhardt 1954), wird hier – einem aufklärerischen Programm folgend – der Nutzen der Ethnographie nicht zuletzt in der Herstellung von Verständnisund Verständigungspotenzialen zwischen sozialen Gruppen in der modernen Gesellschaft gesehen (Warneken 2006, 341). Dieses praxistheoretisch ausgerichtete Interpretationsverfahren produziert keine Abstraktionen, sondern ist stets rückgebunden an die sorgfältige historische Rekonstruktion der untersuchten Phänomene: Die Schlussfolgerungen sind ›klinisch‹ in dem Sinne, als dass sie vermeintlich unzusammenhängende empirische Befunde in einen verständlichen Zusammenhang zu bringen suchen (Geertz 1983, 37 f.). Was die in diesem Band zusammengestellten Studien von der Mehrheit der sozialwissenschaftlichen, praxistheoretisch inspirierten Ansätze unterscheidet, ist zudem, dass sie – ganz in der anthropologisch-ethnologischen Tradition – nicht nur die Dimensionen von Macht und Moral, sondern auch die Körperlichkeit von alltäglichen Praktiken systematisch in Betracht ziehen. Der vorliegende Band pointiert diese praxistheoretische Ausrichtung schon in der Gliederungssystematik: Die Verbformen gehen, protestieren, erzählen, imaginieren betonen den Prozess des körperlichen und geistigen Tätigseins in der Welt und arbeiten die Widersprüchlichkeiten und Ambivalenzen alltäglicher, körpergebundener Praktiken heraus: Etwa den disziplinierenden ebenso wie den freiheitlichen und befreienden Aspekt des »aufrechten Gangs«, des »Schönschreibens« (das ebenso eine »Haltung« erfordert, die mühsam eingeübt werden muss), den Zusammenhang von Lebensweise und biographischem Erzählen; der proletarische »Massentritt« wird als körpersprachlicher Ausdruck eines kollektiven Politischen analysiert; das Pfeifen als – illegitime – Kommunikationskunst. Die konsequent kontextualistische Interpretation der Logiken dieser Praktiken ähnelt dem, was Laurent Thévenot, einer der innovativsten französischen Praxistheoretiker, als »pragmatic

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regimes of engagement« mit der sozialen, materialen und kulturellen (Um-)Welt bezeichnet (Thévenot 2001); sie geht jedoch insofern darüber hinaus, als stets die sozialhistorische Genese dieser Praktiken herausgearbeitet wird. Resonanzen bestehen damit auch zu der mit der »Manchester School« der britischen Sozialanthropologie assoziierten »situational analysis« und der von Max Gluckman propagierten »extended case method«, die darauf zielte, soziale Ordnungen als emergente – und stets vergängliche – Ereignisse zu interpretieren, die aus der sozialen und politischen Dynamik von Konfliktsituationen erklärt werden sollten: »(…) the extended case depended on the study of practice through time« (Evens/Handelman 2006, 6). Was die beiden Sozialanthropologen Evens und Handelman in dieser neueren programmatischen Einordnung der »Manchester School« zu Recht betonen, ist dass die Arbeiten der damit assoziierten Ethnologen ebenso wie der Ansatz Pierre Bourdieus aus dem Versuch hervorgingen, strukturalistische und normative Theorien des Sozialen zu überwinden, wobei Praxis in einem umfassenden, nicht auf die Diskurs- oder Bedeutungsebene verkürzten Sinne verstanden wurde. Evens und Handelman plädieren dafür, an diese verschüttete Tradition ethnographisch disziplinierten Theoretisierens von Praktiken anzuknüpfen, um der – wie sie es sehen – Orthodoxie US-amerikanischen, Geertzschen Denkens in der internationalen Anthropologie, die eine Privilegierung des Diskursiven impliziere, eine heterodoxe Position entgegenzuhalten (vgl. hierzu mit ähnlicher Kritikrichtung Rabinow et al. 2008). Der vorliegende Band erweitert den Raum der ethnologischen Doxa ebenso. Wenn es etwas zu wünschen gäbe, dann eine englische Übersetzung der vorangehenden Aufsätze dieses Bandes mit einer Einleitung von Bernd Jürgen Warneken, die seinen Ansatz der internationalen anthropologischen »Denkgemeinschaft« nahe bringt. Das Interesse ist garantiert, denn diese ist gerade dabei, ihre interne »diversity« wieder zu entdecken – die große Variationsbreite der anthropologisch-ethnologischen Disziplinentwicklung in Europa, Nord- und Südamerika, die unterschiedlichen disziplinären Konstellationen und Koalitionen, in denen die ethnographisch arbeitenden Fächer jeweils stehen, die Reichhaltigkeit ihrer theoretischen Orientierungen und die Spannbreite der Erfahrungen, populare Praktiken sichtbar zu machen. Eine solche »Translationsarbeit« könnte den lange fälligen Ausgang aus der selbstgewählten Unterstadt bereiten. Ha! Anmerkungen 1 Interessanterweise entwickelt Gumplowicz seine These in Auseinandersetzung mit den Überlegungen des Tübinger Rechtswissenschaftlers Gustav Rümelin, insbesondere dessen Aufsatz Über sociale Gesetze (in: Tübinger Zeitschrift für die gesammten Staatswissenschaften, 1868). Fleck wiederum entnimmt diese Sicht »second hand« einem Aufsatz von Wilhelm Jerusalem: Die soziologische Bedingtheit des Denkens und der Denkformen. In: Max Ferdinand Scheler: Versuche zu einer Soziologie des Wissens. München 1924, S. 182‑207. Diese wissenssoziologische Stafette, die ihren Ausgangspunkt in einer primitivistischen Argumentation Rümelins nahm, kann hier nicht weiter verfolgt werden.

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Drucknachweise

Zum Kulturbegriff der Empirischen Kulturwissenschaft. In: Kultur – ein interdisziplinäres Kolloquium zur Begrifflichkeit. Halle (Saale), 18. bis 21. Februar 1999. Halle (Saale) 2000, 207‑213. Ver-Dichtungen. Zur kulturwissenschaftlichen Konstruktion von »Schlüsselsymbolen«. In: Rolf Wilhelm Brednich/Heinz Schmitt (Hg.): Symbole. Zur Bedeutung der Zeichen in der Kultur. Münster usw. 1997, 549‑562. Volkskundliche Kulturwissenschaft als postprimitivistisches Fach. In: Kaspar Maase/Bernd Jürgen War­ neken (Hg.): Unterwelten der Kultur. Themen und Theorien volkskundlicher Kulturwissenschaft. Köln 2003, 119‑141. Biegsame Hofkunst und aufrechter Gang. Körpersprache und bürgerliche Emanzipation um 1800. In: Bernd Jürgen Warneken (Hg.): Der aufrechte Gang. Zur Symbolik einer Körperhaltung. Tübingen 1990, 11‑23. Fußschellen der Unmündigkeit. Weibliche Gehkultur in der späten Aufklärung. In: Diskussion Deutsch, H. 131, Juni 1993, 247‑253. Kleine Schritte der sozialen Emanzipation. Ein Versuch über den unterschichtlichen Spaziergang um 1900. In: Historische Anthropologie, 2. Jg. 1994, 423‑441. »Massentritt«. Zur Körpersprache von Demonstranten im Kaiserreich. In: Peter Assion (Hg.): Transfor­ mationen der Arbeiterkultur. Beiträge der 3. Arbeitstagung der Kommission »Arbeiterkultur« in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde in Marburg vom 3. bis 6. Juni 1985. Marburg 1986, 64‑79. »Aufrechter Gang«. Metamorphosen einer Parole des DDR-Umbruchs. In: Rainer Bohn/Knut Hickethier/ Eggo Müller (Hg.): Mauer-Show. Das Ende der DDR, die deutsche Einheit und die Medien. Berlin 1992, 17‑30. »Vorwärts, doch nichts vergessen!« Zum Gebrauchs- und Bedeutungswandel sozialistischer Symbolik in Ostdeutschland seit 1989. In: Andreas Kuntz (Hg.): Arbeiterkulturen: Vorbei das Elend – aus der Traum? Düsseldorf 1993, 37‑50. Über das Pfeifen. In: Carola Lipp (Hg.): Medien popularer Kultur. Erzählung, Bild und Objekt in der volks­kundlichen Forschung (Festschrift Rolf Wilhelm Brednich). Frankfurt/New York 1995, 230‑241. Zur Schichtspezifik autobiographischer Darstellungsmuster. In: Andreas Gestrich/Peter Knoch/Helga Merkel (Hg.): Biographie – sozialgeschichtlich. Göttingen 1988, 141‑162. Schreibkulturen. Von den unterschiedlichen Schreiberfahrungen in der älteren Generation. In: KarlHeinz Ziessow u. a.: Hand Schrift – Schreib Werke. Schrift und Schreibkultur im Wandel in regionalen Beispielen des 18. bis 20. Jahrhunderts. (Materialien zur Volkskultur nordwestliches Niedersachsen, H. 167). Cloppenburg 1991, 227‑255. Die Gôgenwitze oder Tübinger Volkskultur in der Moderne. In: Utz Jeggle u. a. (Hg.): Tübinger Beiträge zur Volkskultur. Tübingen 1986, 111‑126. Die Stunde der Laien. Eine Studie über populare Apokalyptik der Gegenwart. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde, 94. Jg. 1998, 1‑20. Zeppelinkult und Arbeiterbewegung. Eine mentalitätsgeschichtliche Studie. In: Zeitschrift für Volkskunde, 80. Jg. 1984, 59‑80. Der schöne Augenblick. Eine Exploration. In: Rheinisches Jahrbuch für Volkskunde, 33. Bd. 1999/2000, 119‑128.

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Abbildungsnachweise

S. 60: Matthias Claudius: Sämmtliche Werke des Wandsbecker Bothen. Wandsbeck 1774. S. 61: Des Weltberühmten Engelländers Robinson Crusoe Leben und ganz ungemeine Begebenheiten. Frank­furt a.M./Leipzig 1720. S. 63, 73: Graphische Sammlung am Kunsthistorischen Institut der Universität Tübingen. S. 109: ADN Zentralbild, Berlin/DDR. S. 110: Aus: Eduard Bernstein: Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung. Teil III. Berlin 1910, 192. S. 111 o.: ADN Zentralbild, Berlin/DDR. S. 111 u.: ADN Zentralbild, Berlin/DDR. S. 112: Aus: Beilage zur Zeitschrift »Arbeiterjugend«, 24. 9. 1910. S. 113 o.: Werkbund-Archiv, Berlin/West. S. 113 u.: Kladderadatsch, 26. 1. 1908. S. 114: Stadtarchiv Frankfurt am Main. S. 115 o.: Berliner Illustrierte Zeitung, 13. 3. 1910. S. 115 u.: Archiv der sozialen Demokratie, Bonn. S. 116: Ebd. S. 117 o.: Aus: Jochen Boberg u. a.: Exerzierfeld der Moderne. Industriekultur in Berlin im 19. Jahr­hundert. München 1984, Bild Nr. 301. S. 117 u.: Aus: Dietrich Mühlberg (Hg.): Arbeiterleben um 1900. Berlin (DDR) 1983. S. 118 o.: Aus: (wie Anm. 11), Bild Nr. 333. S. 118 u.: Die Woche, 16. 4. 1910. S. 119: Landesbildstelle Berlin. S. 120: Stadtarchiv Hanau. S. 121: Archiv der sozialen Demokratie, Bonn. S. 122 o.: Landesbildstelle Berlin. S. 122 u.: ADN Zentralbild, Berlin/DDR. S. 123: Berliner Illustrierte Zeitung, 20. 2. 1910. S. 124: ADN Zentralbild, Berlin/DDR. S. 125: Der Wahre Jacob, 24. 5. 1910.

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