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German Pages 268 Year 2018
Ralf von Appen, André Doehring (Hg.) Pop weiter denken
2018-10-08 10-12-34 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03a1505290123330|(S.
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Beiträge zur Popularmusikforschung 44 Editorial Board: Dr. Martin Cloonan (Glasgow) | Prof. Dr. Ekkehard Jost † (Gießen) Prof. Dr. Rajko Mursˇicˇ (Ljubljana) | Prof. Dr. Winfried Pape † (Gießen) Prof. Dr. Helmut Rösing (Hamburg) | Prof. Dr. Mechthild von Schoenebeck (Dortmund) | Prof. Dr. Alfred Smudits (Wien)
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Ralf von Appen, André Doehring (Hg.) Pop weiter denken. Neue Anstöße aus Jazz Studies, Philosophie, Musiktheorie und Geschichte
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© 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: © Vektormaus – Fotolia.com (bearbeitet) Lektorat & Satz: Eva Schuck Print-ISBN 978-3-8376-4664-1 PDF-ISBN 978-3-8394-4664-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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INHALT Editorial Ralf von Appen und André Doehring | 7
I. IMPROVISATION Improvisieren als performative Mu sikpraxis. Zugänge und Forschungspers pektiven Martin Pfleiderer | 11 Jazzimprovisation zwischen spontaner Erfindung und erlernten Modellen . Ein empirisch er Ansatz zur Analyse mit Hilfe von Video-Stimulated-Recall-Interviews Andreas Back und Peter Klose | 31
II. ANALYSE Analyzing Texture in R ock Music: Stratification, Coordination , Position, and Perspective John Covach | 53 Technoides Klanggeschehen und seine performative Praxis am Beispiel von Bauchklangs »Le Mans« Josef Schaubruch | 73 Development of Musical Ideas in Compositions by Tortoise Reiner Krämer | 95
III. ÜBERTRAGUNGEN From Leipzig to St. Louis — Einflü sse deutscher Musiktheorie und -pädagogik auf die Entstehung des Ragtime, Blues und Jazz Philipp Teriete | 121 Der Schnitzelbank-Song und seine Rezeption in den USA Fabian Bade | 1 4 7 »Shame Shame Shame!« Deutsche Coverversionen und Bea rbeitungen US-amerikanischer S oul- und Fun kmusik 1958-1975 Dietmar Elflein | 171
IV. PHILOSOPHIE Zur ästhetischen Spezifik des Ja zz. Improvisation und Werk Daniel Martin Feige | 195 Music That Changed My Life. Pop-Musik und Selbstverständnis Matthias Vogel | 211 Auditive Evidenz. Zum sinnlichen Verstehen in der Musik Dirk Stederoth | 229 Who is »You' re so Vain« A bout? Reference in Popular Music Lyrics Theodore Gracyk | 245
Zu den Autoren | 263
EDITORIAL »Denk nur, genau richtig.«1
Das Denken ist ein zentraler, gleichwohl impliziter, sprich: oft nur gedachter Bestandteil des Tuns von Wissenschaftler*innen, auch und zumal derjenigen, die sich der Erforschung populärer Musik zuwenden. Nur: Was denken die sich eigentlich? Und was fällt ihnen ein? Was als alltägliche Formulierung oft vorwurfsvoll klingt und auch so gemeint ist, verdient doch genaueres distanziertes Beobachten und Nachdenken: Wie wird heute eigentlich über, in oder durch Popmusik gedacht? Wie gestaltet sich in diesem Denken über populäre Musik der Gegenstand selbst? Wer denkt, an wen wird dabei gedacht, wer darf nicht mitdenken? Die in den letzten Jahren so wohltuend ins rollin' and tumblin' gekommene akademische Beschäftigung mit populärer Musik zeigt, dass sie vorwiegend in einem kulturwissenschaftlichen Rahmen gedacht wird. Dies ist adäquat, da populäre Musik inmitten eines kulturellen Geflechts entsteht, verkauft und genutzt wird und sich oft als probates Medium zum tieferen Verständnis von Kulturen erweist. Ein Effekt davon ist indes, dass mitunter historische, musikstrukturelle oder klanglich-ästhetische Dimensionen populärer Musik weniger bedacht werden. Ein anderer, dass populäre Musik als relativ enger Begriff durch zeitgenössische mediale Diskurse und daraus folgend durch bestimmte klangliche Formen definiert wird. Dies ist nicht per se zu kritisieren, gerade wenn ebendiese klanglichen Formen aus bisher weitgehend vernachlässigter elektronischer Tanzmusik stammen. Doch es wiederholt sich hier eine Verengung des Gegenstands populäre Musik, wie sie Simon Frith2 für die Frühphase der internationalen Forschungslandschaft diagnostizierte: Damals war ein ursprünglich weit gedachter, Jazz und Blues beinhaltender Begriff ›popular music‹ auf Rockmusik eingedampft worden.
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Lotta in Lindgren, Astrid (1972). Na klar, Lotta kann Rad fahren. Bilder von Ilon Wikland. Hamburg: Oetinger, S. 17. Frith, Simon (2007). »Is jazz popular music?« In: Jazz Research Journal 1, DOI: 10.1558/jazz.v1i1.7.
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EDITORIAL
Der vorliegende Beiträge-Band Pop weiter denken versammelt Aufsätze, die sich diesem Titel-Motto in zwei Weisen nähern: Zum einen wollen sie populäre Musik weiter denken, den Begriff also wieder öffnen und einen stilistisch breiteren und historisch umfassenderen Zugang abbilden. Popmusik, das sind in diesem Band auch früher Ragtime und populäre Lieder alter süddeutscher Fastnachtsbräuche bis hin zu gegenwärtigem Jazz und der Musik von Bauchklang, die elektronisch produziert klingt, aber ausschließlich a capella erzeugt wird. Zum anderen will der Band Ansätze der Popforschung weiterdenken — im Sinne von wieder aufgreifen und fortspinnen —, die einst selbstverständliche Bestandteile des akademischen Denkens über Musik waren, in den letzten Jahren aber aus unserem Blickfeld geraten sind, obwohl sie sich auf bemerkenswerte Art weiterentwickelt haben: die aktuelle Jazzforschung und die Musikphilosophie. Aufgegriffen und weitergedacht werden hier aber auch musiktheoretische Zugänge zu populärer Musik, die in den USA seit vielen Jahren so selbstverständlich wie fruchtbar, hierzulande indes kaum gebräuchlich sind. Dementsprechend sind die Aufsätze in vier Abteilungen geordnet. Die erste, »Improvisation«, bringt jazzmusikalische Klänge und Verfahren in den Fokus der Popularmusikforschung zurück; ein angesichts der Dynamik der Jazz Studies so fälliger wie notwendiger Schritt, der hoffentlich dazu führt, auch Improvisation etwa in elektronischer Tanzmusik besser erfassen und verstehen zu können. Der mit »Analyse« überschriebene Abschnitt umfasst Aufsätze, die Musik nicht bloß »zerlegen«, sondern grundsätzliche Fragen zur musikalischen Organisation von (Post-)Rock und (vermeintlich) elektronischer Tanzmusik stellen. Die Sektion »Übertragungen« denkt z.T. Jahrhunderte weit zurück und sucht nach unerwarteten Einflüssen auf USamerikanische populäre Musik aus dem deutschsprachigen Raum bzw. blickt genau umgekehrt darauf, wie hierzulande mit US-Vorbildern umgegangen wurde. Der letzte Abschnitt mit den Texten von vier gegenwärtigen Philosophen greift eine nicht zuletzt durch Adorno etablierte Tradition des Denkens wieder auf. Sie fragen nach dem spezifischen Wesen populärer Musik im Vergleich mit anderen Musiken und denken darüber nach, was es heißt, populäre Musik zu verstehen oder durch sie verändert zu werden. Bis auf diesen letzten Teil gehen die Texte aus der 27. Arbeitstagung der GfPM hervor, die vom 17.-19.11.2017 an der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz unter dem Titel »Populäre Musik und ihre Theorien. Begegnungen — Perspektivwechsel — Transfers« stattfand. Es war eine mit der Gesellschaft für Musiktheorie gemeinsam durchgeführte Tagung, die den Bedarf und die Notwendigkeit des Austausches, des Überprüfens 8
EDITORIAL
und Aufgreifens bestehender Wissensbestände in der nur gemeinsam zu bewältigenden Erforschung populärer Musik in den Mittelpunkt stellte. 240 Teilnehmer*innen zeigen, dass dieser Weg nachgefragt und richtig ist. Weitere Vorträge dieser Tagung werden auch in den Publikationen der GMTH veröffentlicht werden. Eine Person war an dieser Tagung allerdings nicht mehr dabei. Thomas Phleps, langjähriger Vorsitzender der GfPM und Herausgeber dieser Schriftreihe seit 1998 sowie Mitbegründer der SAMPLES, verstarb im Juni 2017 im Alter von nur 61 Jahren. Er war für viele von uns ein Freund, die GfPM, insbesondere aber wir selbst verdanken ihm viel. Thomas hinterlässt einen hohen herausgeberischen Anspruch, den die GfPM von nun an den jeweiligen lokalen Organisator*innen gemeinsam mit einem/r gewählten Herausgeber*in überträgt. Wenige Tage vor Thomas' unerwartetem Tod schickte er uns einen Abstract für die damals »Verkehrswege afroamerikanischer Musik« betitelte Sektion »Übertragungen«, der diesem Buch in Erinnerung beigefügt ist. Wir danken den Grazer Organisatoren Christian Utz und André Doehring, dem Institut für Jazzforschung sowie dem gesamten dortigen Team und allen finanziellen Unterstützern für die gelungene Tagung. Sämtlichen an diesem Buch Beteiligten haben wir für ihre Arbeit den größten Dank auszusprechen, insbesondere den Gutachter*innen des anonymen Peer Review-Verfahrens, die, wie es in schöner Beiträge-Tradition heißt, leider, aber selbstverständlich ungenannt bleiben müssen. Eine Anmerkung: Der vorliegende Band bildet die herrschende Geschlechterverteilung in der Disziplin drastisch verschärft ab und enthält leider nur Aufsätze von Autoren, da auf unsere Einladung hin keine Texte von Autorinnen eingingen. Dies ist ebenso bedauerlich wie künftig zu ändern. Eine weitere Anmerkung: Bezüglich des Umgangs mit der im Schriftdeutsch so schwer zu lösenden Frage nach dem Geschlechtlichen mündeten unsere Überlegungen in Empfehlungen im Style-Sheet für die Beiträge und finden sich in diesem kurzen Text illustriert. Wir haben uns aber entschlossen, den Autoren die Wahl zu überlassen, ob sie in dieser Weise Sprache gendern wollen (oder eben nicht) und greifen nicht weiter in eine unabgeschlossene Diskussion ein. Wir wünschen allen Leser*innen großes Vergnügen beim Weiterdenken. Ralf von Appen, André Doehring Bremen und Graz, im August 2018
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R O L L I N ' A N D T U M B L I N ' — V ER K EH R S W E GE (A B S T R A C T )
IM
B L U ES
T H O M A S P H L E P S († ) Die Geschichte des Blues ist in großen Teilen, wenn nicht fast ausschließlich eine Geschichte des Recorded Blues. Daher sind die Vermittlungswege des Blues nur vermittelt (über Textwanderungen bei den Plattenaufnahmen beispielsweise) ermittelbar. Entgegen diesen in Bluesanalysen üblichen Prozeduren soll es im Vortrag einzig um die im Feld der gar nicht so einheitlichen Bluesakteure gesammelten gar nicht so einheitlichen musikalischen Strukturen einer Song- resp. Tune-Family gehen: Die Rollin' And Tumblin'-Family — sie sei so genannt, obgleich dieser Familienzweig durchaus nicht der erste und schon gar nicht der Stamm ist, aber er ist der bei weitem erfolg- und folgenreichste — hat Zweige, die Texte weiterschieben, aber auch instrumentenspezifische Begleitformula und Licks und mit diesen einen bestimmten Gestus, und es gibt in und neben diesen Zweigen auch metrisch in hohem Maße unterschiedene, die mitunter zu anderen querstehen... Insgesamt ein äußerst vielschichtiges, weitläufiges und auch jahrzehntelanges musiksprachliches ›Miteinander-Agieren‹ und ›Aufeinander-Reagieren‹, das einen ungewohnten, aber gewichtigen Blick auf den Umgang mit bluestypischem musikalischen Material und seinen Verfahrensweisen eröffnet, dem bislang kaum Beachtung geschenkt wurde.
I M P R O V I SI E R E N A LS P ER F O R M A T IV E M US I K P R A X I S . Z U G Ä N G E U ND F O R S C HU N G SP E RSP E K T I V E N MARTIN PFLEIDERER Seit der Jahrtausendwende zeichnet sich ein neues und wachsendes Interesse am Improvisieren ab — und das nicht nur in der Musikforschung, sondern in so unterschiedlichen Bereichen wie den Tanz- und Theaterwissenschaften, den Performance Studies, der Philosophie, Soziologie und Informatik sowie in der Politik und im Management. Indizien für dieses Interesse sind die Gründung von Zeitschriften und Forschungsnetzwerken sowie die Herausgabe von Sammelbänden zum Thema. 2004 wurde in Kanada die Online-Zeitschrift Critical Studies in Improvisation / Études critiques en improvisation gegründet. Federführend waren Theaterwissenschaftler der Universität Guelph, aus deren Kreis 2015 der Improvisation Studies Reader (Caines/Heble 2015) hervorging — ein Sammelband mit kanonischen Texten zum Improvisieren sowie Reflexionen von improvisierenden Künstlern; der thematische Schwerpunkt des Bandes liegt im Bereich der Theaterwissenschaften und Performance Studies. Im Jahre 2006 wurde in den USA die International Society for Improvised Music gegründet. 2016 erschien das zweibändige Oxford Handbook of Critical Improvisation Studies mit knapp 60 Texten aus verschiedenen Bereichen der Improvisationsforschung (Lewis/Piekut 2016a). Improvisation wird in den Critical Improvisation Studies als grundlegendes Merkmal des menschlichen Lebens verstanden, das weit über den künstlerischen Bereich hinausweist: Improvisieren ist ein Charakteristikum fast aller menschlichen Praktiken, bei denen bestimmte körperlich verankerte Routinen immer wieder neu an die sich wandelnden situativen Gegebenheiten angepasst werden. Improvisiert wird u.a. im Gespräch und in der Alltagskommunikation, beim Kochen und bei Feiern, improvisiert wird aber auch in der Politik oder in der Unternehmungsführung. Denn das menschliche Zusammenleben, so die grundlegende Annahme, ist nicht planbar, zumindest nicht bis ins letzte Detail. Feste Pläne und unverrückbare Routinen sind in vielen Lebensbereichen auch gar nicht sinnvoll, da sie den Erfindungsreichtum und die kreativen Potentiale des menschlichen Handelns unnötig einengen.
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MARTIN PFLEIDERER In der neueren Improvisationsforschung dient die musikalische Improvisation, und insbesondere die Jazzimprovisation, oftmals als ein Modellfall, an dem sich Forscher anderer Disziplinen orientieren und von dem sie allgemein etwas über den improvisatorischen Charakter sozialer und kultureller Praktiken lernen wollen. Dieses interdisziplinäre Interesse verstehe ich als Chance und zugleich als Herausforderung für die Musikforschung: Als Chance, Fragestellungen und Erkenntnisse aus dem Bereich der Musik in ein transdisziplinäres Forschungsfeld einzubringen, und als Herausforderung, theoretische und methodologische Ansätze aus anderen Wissenschaftsdisziplinen für die Musikforschung fruchtbar zu machen. Vor diesem Hintergrund möchte ich im Folgenden Einblicke in Fragestellungen, Erklärungsmodelle und Forschungsmethoden der neueren musikbezogenen Improvisationsforschung geben. Zu Beginn sollen einige zentrale Themen im Diskurs um Improvisation skizziert werden. Bisherige und mögliche zukünftige musikwissenschaftliche Zugänge zum Improvisieren werden sodann am Beispiel der Jazzimprovisation diskutiert. Dabei stellt sich auch die Frage einer übergreifenden Theorie der musikalischen Improvisation. Schließlich möchte ich einige Perspektiven einer künftigen Erforschung musikalischen Improvisierens diskutieren.
De r D is k ur s u m s I m p r o v is i er en In der Musikforschung ist das Phänomen der Improvisation noch immer eine Art »kategoriale[r] Geisterfahrer« (Kaden 1993: 47): Man begegnet ihm zwar immer wieder, aber meistens steht es quer zur »eigentlichen Richtung« der Forschungsinteressen. Dessen ungeachtet gibt es inzwischen eine reichhaltige Forschungsliteratur zur musikalischen Improvisation, die von Jahr zu Jahr weiter anwächst. Vor allem Musikethnologen und Jazzforscher interessieren sich seit Jahrzehnten für Improvisationspraktiken. Historische Musikwissenschaftler beschäftigen sich mit dem Improvisieren vor allem im Kontext der historisch informierten Aufführungspraxis von Musik vor 1800 oder der aleatorischen Konzepte in der Neuen Musik. Eng damit verknüpft sind Bestrebungen, Kompetenzen der musikalischen Improvisation zu vermitteln und in die Musikerausbildung einfließen zu lassen. Definiert wird das Improvisieren dabei nahezu übereinstimmend als »spontane[s] Erfinden, Gestalten und gleichzeitige[s] Ausführen von Musik« (Ferand 1956: 5) oder als »creation of music in the course of performance« (Nettl/Russell 1998) — also als ein musikalischer Schaffensprozess am Instrument während der Darbietung. Musikalische Improvisationspraktiken lassen sich demnach nicht von der performativen Si-
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IMPROVISIEREN ALS PERFORMATIVE MUSIKPRAXIS — ZUGÄNGE UND FORSCHUNGSPERSPEKTIVEN tuation trennen, die u.a. durch die Wechselbeziehung zwischen Musikern untereinander und zwischen Musikern und Publikum geprägt wird. Zugleich lässt sich das Improvisieren im Sinne der neueren Praxistheorien (vgl. etwa Reckwitz 2003) durch ein spezifisches Verhältnis des Musikers zu seinem Körper und zu seinem Instrument sowie durch eine spontane Anpassung von Routinen an sich wandelnde Situationen und Rahmenbedingungen charakterisieren. Allerdings tauchen diese Aspekte im älteren Diskurs ums Improvisieren eher am Rande auf. In der Einleitung zum Oxford Handbook of Critical Improvisation Studies nennen George Lewis und Benjamin Piekut eine Reihe von Themen und Argumentationsfiguren, die für den wissenschaftlichen Umgang mit dem Phänomen der Improvisation bislang bezeichnend waren (Lewis/ Piekut 2016b: 3-12). Ich möchte die dort genannten Themen zum Ausgangspunkt eines kurzen Überblicks über den Improvisationsdiskurs nehmen. Mein besonderes Augenmerk liegt dabei auf der musikalischen Improvisation, und ich ergänze Hinweise auf Teilaspekte und Texte, die mir in diesem Zusammenhang wichtig erscheinen, jedoch von den beiden Autoren nicht genannt werden. Oft wird der Begriff des Improvisierens vermieden und durch andere Ausdrücke ersetzt — obwohl es de facto ums Improvisieren geht. Lewis und Piekut sprechen hier von Verschleierung (»masking«), die in weiten Bereichen der Musikethnologie anzutreffen ist, aber zum Beispiel auch in der Soziologie des Alltags. So analysiert etwa Erving Goffman ausgiebig die vielen improvisatorischen Aspekte von Alltagsinteraktionen, vermeidet dabei jedoch den Begriff des Improvisierens. Eine Ausnahme ist Pierre Bourdieu, der 1976 im Entwurf einer Theorie der Praxis den Habitus als das »durch geregelte Improvisationen dauerhaft begründete Erzeugungsprinzip« von sozialen Praktiken beschreibt (Bourdieu 1976: 170). Ein improvisatorisches Moment ist somit in den vom Habitus geprägten Praktiken von vornherein mitangelegt, was jedoch von Bourdieu nicht näher erläutert wird. Oftmals wird Improvisation nicht nur verschleiert, sondern geleugnet oder abgewertet. Improvisieren sei nichts anderes als unbeholfenes, durch Zufälle geprägtes ›Herumnudeln‹, erfordere keinerlei musikalische Expertise und sei ohne künstlerischen Wert. Oder es sei eine bewusste Täuschung, da angeblich spontan improvisierende Musiker doch immer wieder nur dieselben Phrasen herunterspulen. Dass dem nicht so ist, dürfte jedem klar sein, der sich eingehender mit dem Improvisieren beschäftigt. Weit verbreitet im Diskurs ums Improvisieren ist noch immer eine konzeptionelle Opposition zwischen Prozess und Produkt, bei der das Improvisieren dem Komponieren entgegengestellt wird. Beim Improvisieren zähle der Prozess, beim Komponieren das fertige Produkt, die Komposition. Während das
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MARTIN PFLEIDERER Ziel der Komposition Perfektion sei (mit den Worten Christian Kadens: das »So-und-nicht-anders-Sein«), werde beim Improvisieren das Unvollendete, das »So-und-auch-anders« in Kauf genommen (Kaden 1993: 51f.). Der Jazzkritiker Ted Gioia spricht in diesem Zusammenhang vom Jazz als einer »imperfect art« (Gioia 1988). Oftmals wird das perfektionierte Musikwerk mit der Hochkultur in Verbindung gebracht, Improvisation und Imperfektion dagegen mit untergeordneten Kulturbereichen. In diese ästhetische Opposition zwischen angeblicher Unvollkommenheit und angeblich vollkommener Kunst werden auch die Musiker verstrickt, die Kompositionen aufführen und interpretieren. Denn auch bei der Aufführung von Kompositionen zählt ja seit dem 19. Jahrhundert zunehmend die Perfektion im Sinne der ›Treue‹ zum Notentext. Dass gerade durch die Personalunion im Erfinden und Ausführen von Musik besondere musikalische Qualitäten entstehen können, die bei einer Arbeitsteilung zwischen Komponist und Musiker nicht möglich sind (vgl. Wilson 1994: 67), wurde allerdings bislang nur selten thematisiert. Ein weiteres Thema, das sich vor allem mit dem Improvisieren im Jazz verbindet, ist die durchaus soziopolitisch verstandene Verknüpfung von Improvisation mit Freiheit und Befreiung. Das Zusammenspiel in einer Jazzband wird als Symbol für eine ungezwungene, demokratische Kooperation unter freien Menschen verstanden, oder aber es wird auf die Verbindungen von musikalischen Improvisationspraktiken und der gesellschaftlichen Emanzipation der Afroamerikaner hingewiesen (vgl. Lewis 1996, Monson 2007). Die Freiheit des Improvisierens hängt wiederum eng mit der Ereignishaftigkeit, Momenthaftigkeit, Emergenz und Undeterminiertheit der Musik und mit der Spontaneität und Kreativität der Musiker zusammen. Die Rede ist von einer Feier des Moments (›celebration of the moment‹), oder kurz: von der ›Andersartigkeit‹ des Improvisierens — im Gegensatz zur Wiederholung des Bekannten und Geplanten. Undeterminiertheit wird dabei oftmals auf das Fehlen einer schriftlichen Spielvorlage bezogen, aber auch auf den Verzicht eines vorab fixierten Planes oder Spielentwurfs. Spontaneität meint ein ungeplantes Handeln, das in erster Linie aus einem inneren, momentanen Impuls oder aus der Inspiration der Situation heraus erfolgt. Allerdings weiß jeder Musiker, dass das Improvisieren nicht so voraussetzungslos ist, wie es die Topoi von der Freiheit und Ereignishaftigkeit vielleicht suggerieren. Improvisieren ist eine Expertise, die gelernt sein will. Sie beruht auf einer umfassenden Wissensbasis, die sich die Musiker in jahrelangen Prozessen des Lernens, Übens und Spielens aneignen. Dabei lassen sich drei Aspekte unterschieden (vgl. hierzu Nettl 1974): Grundlegend ist zunächst das Aneignen oder ›Erspielen‹ eines Vokabulars an Bausteinen, Mustern oder For-
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IMPROVISIEREN ALS PERFORMATIVE MUSIKPRAXIS — ZUGÄNGE UND FORSCHUNGSPERSPEKTIVEN meln durch den Musiker. Manche dieser Bausteine fließen unverändert in bestimmte Improvisationen ein, in der Regel werden sie jedoch im Spielprozess verändert, mit anderen Mustern kombiniert und so der jeweiligen Spielsituation angepasst. Diese situativen Veränderungen und Transformationen folgen bestimmten Strategien oder Gestaltungsprinzipien, also habituellen oder gezielt und bewusst eingesetzten Techniken wie dem Paraphrasieren, Ornamentieren oder Variieren. Hinzu kommt in vielen Genres die Orientierung an bestimmten musikalischen Modellen. Diese sorgen vor allem für eine zeitliche, z.T. aber auch harmonische oder melodische Strukturierung der Musik. Bestimmte Formmodelle bilden eine Art Rahmen oder Skelett für die Improvisationen, ebenso Melodievorlagen, Rhythmen (etwa Patternmodelle und Grooves) oder, wie im Jazz, die zyklisch wiederholten Harmoniefolgen eines Jazzstandards. Diese Modelle dienen insbesondere beim Zusammenspiel mehrerer Musiker als Referenzrahmen für die musikalische Gestaltung. Solche regelmäßig wiederkehrenden Aspekte des Improvisierens — Bausteine, Gestaltungsweisen und Modellbezüge — sind der wissenschaftlichen Rekonstruktion wie auch der musikpraktischen Lehre weit eher zugänglich als das Einmalige, Spontane, Ereignishafte und Emergente des Improvisierens. Sie stehen daher im Zentrum vieler analytischen Studien zur musikalischen Improvisation ebenso wie von Improvisationsanleitungen und Improvisationsschulen. Ich möchte dies am Beispiel der Jazzforschung konkretisieren.
I m p r o v i s i er e n a l s G eg en s t a nd d er J a z z f o r s c h u ng Hintergrund und Zielrichtung der analytisch ausgerichteten Jazzforschung war zunächst die Würdigung der künstlerischen Qualitäten des Jazz und seine angestrebte Aufwertung als künstlerisch wertvolle Musikform. Seit den 1950er Jahren gibt es zahlreiche analytische Studien, die einzelne Jazzimprovisationen würdigen — angefangen von Gunther Schullers (1958) Analyse des Solos von Sonny Rollins in »Blue Seven« (1956) bis zu der jüngsten Buchreihe Oxford Studies in Recorded Jazz, in der einflussreiche Jazzaufnahmen analytisch beschrieben werden (Harker 2011, Waters 2011, Tackley 2012, Elsdon 2013, Solis 2014, Cooke 2017). Allerdings wurde wiederholt auf den Umstand hingewiesen, dass bestimmte Improvisationsaufnahmen nur Indikatoren, bestenfalls prototypische Beispiele für genrespezifische oder individuelle Improvisationsstile und -praktiken sind. Nicht die einzelnen Improvisationen bzw. deren Aufnahmen, sondern übergreifende Gestaltungsprinzipien eines Musikers oder einer Stilrichtung rücken daher ins Zentrum der Improvisationsforschung. Gefragt wird
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MARTIN PFLEIDERER nach den Gemeinsamkeiten in der melodischen, harmonischen, rhythmischen und klanglichen Gestaltung, nach den Bausteinen und Gestaltungsprinzipien, die für die Improvisationen eines Stilbereichs oder eines Musikers typisch sind. In einer historischen Perspektive ergänzen diese zeitlichen, regionalen oder individuellen Improvisationsstile einander zu einer Stilgeschichte der Jazzimprovisation. Dabei werden verschiedene musikanalytische Fragestellungen verfolgt und erhalten, je nach Gegenstand, unterschiedliches Gewicht. Oft liegt ein Schwerpunkt in der harmonischen Analyse, also der Frage, wie bestimmte Tonhöhen auf die Harmonik der Stückvorlage bezogen sind. Hierzu haben sich inzwischen sehr differenzierte jazztheoretische Ansätze entwickelt, die wiederum die Jazzpädagogik stark dominieren. Dagegen werden Fragen der rhythmischen und klanglichen Gestaltung eher am Rande thematisiert; womöglich ist das Methodenarsenal für diese Fragen noch nicht differenziert genug. Immer wieder geht es um die melodischen Gestaltungsweisen, manchmal auch um das konkret verwendete Repertoire an Pattern. Im Zuge der analytischen Studien von Schuller (1958) und Barry Kernfeld (1983) hat sich eine analytische Unterscheidung zwischen drei Improvisationsstrategien durchgesetzt: dem Paraphrasieren einer Melodievorlage, dem Zusammenfügen und Variieren bestimmter Bausteine oder Patterns (»formulaic improvisation«) sowie schließlich einer Improvisationsweise, bei der motivische Bezüge im Zentrum stehen. »[P]araphrase involves the strict, bar-by-bar embellishment of pre-existing material in such a way that it remains recognizable; formulaic and motivic improvisation create new ideas. Paraphrase and motivic improvisation involve the constant development respectively of a specific theme and fragment, which give a piece a particular identity; formulaic improvisation proceeds by means of the ingenious weaving together of fragments from a general repertory that is common to many diverse pieces« (Kernfeld 2002: 320). Bei einem stilanalytisch orientierten Analyseansatz ist es natürlich sinnvoll, auf größere Korpora von Improvisationen zurückzugreifen, im Idealfall auf alle zur Verfügung stehenden Aufnahmen. Ein beeindruckendes Beispiel hierfür ist die detaillierte Studie des Patternvokabulars von Charlie Parker, die Thomas Owens bereits 1974 veröffentlicht hat (Owens 1974). Allerdings wird der Korpus an Improvisationsaufnahmen, die der Analysierende kennt und gehört hat, in der Regel nicht explizit ausgewertet, sondern fließt als implizite Hörerfahrung in dessen Vorwissen ein. Im Zentrum der Analyse stehen stattdessen einzelne, als repräsentativ oder prototypisch empfundene Improvisationen, durch deren exemplarische Analyse die typischen Gestaltungskriterien eines Musikers verdeutlich werden (Jost 1975: 15f.).
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IMPROVISIEREN ALS PERFORMATIVE MUSIKPRAXIS — ZUGÄNGE UND FORSCHUNGSPERSPEKTIVEN Lange Zeit hat sich die Jazzforschung auf die Untersuchung von begleiteten Improvisationen einzelner Musiker, sog. Jazzsoli, konzentriert. Erst in jüngerer Zeit werden Aspekten der Interaktion innerhalb eines Ensembles vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt, also nicht nur die Improvisationsstimme des Solisten, sondern darüber hinaus deren Bezüge zum Spiel der Rhythmusgruppe analysiert. Voraussetzung hierfür sind umfangreiche Partiturtranskriptionen, wie sie in den Studien von Paul Berliner (1994), Ingrid Monson (1996), Richard Hodson (2007) oder Keith Waters (2011) zu finden sind. Benjamin Givan (2016) hat allerdings kritisiert, dass der Begriff der ›musikalischen Interaktion‹ oftmals eher unpräzise verwendet wird. Er plädiert dafür, zwischen drei verschiedenen Typen der Interaktion zu unterschieden: »Microinteraction« meint demnach eine Feinkoordination hinsichtlich des Tempos und des Timings, der Dynamik, der Intonation und Artikulation im Ensemble; solche Interaktionsprozesse gibt es in allen Musikgenres, in der ›Klassik‹ ebenso wie im Rock, sie sind somit nicht an das Konzept des Improvisierens gebunden. »Macrointeraction« bezieht sich dagegen auf übergeordnete Textur- und Strukturwechsel sowie koordinierte dramaturgische Entwicklungen: Die ganze Band spielt beispielsweise sukzessive lauter oder dichter oder wechselt ihre Begleitpatterns — was von den Musikern in vielen Musikgenres, z.B. im Blues oder Rock, auch ohne ausgefeilte improvisatorische Expertise praktiziert werden kann. Dagegen konzentrieren sich viele Studien zur Interaktion im Jazz auf die verschiedenen Formen der »motivic interaction«. Darunter versteht Givan das Aufgreifen, Weiterspinnen und Verändern von melodischen, rhythmischen oder harmonischen Zellen. Er erläutert anhand zahlreicher Jazzaufnahmen verschiedene Möglichkeiten der motivischen Interaktion, weist allerdings auch darauf hin, dass nicht alle Jazzmusiker diese Interaktionsform favorisieren. Viele Jazzmusiker sprechen sich sogar ausdrücklich gegen eine motivische Interaktion zwischen den Musikern aus: Der improvisierende Solist soll nicht durch unerwünschte Einwürfe und Interaktionsangebote der Begleitmusiker von seinem Solo abgelenkt werden. Vielmehr bevorzugen manche Jazzgruppen inszenierte Performances, bei denen, ähnlich wie in nichtimprovisatorischen Genres, Abläufe zuvor geprobt und einstudiert werden. Spontane motivische Interaktionen fehlen hier völlig. Givan vermutet, dass im Hintergrund der Konjunktur der Interaktionsanalyse in der Jazzforschung auch die Verknüpfung von Jazz mit einer gerade im Jazzjournalismus verbreiteten »collectivist popular ideology« des kollaborativen, gleichberechtigten, quasi demokratischen Handelns stehen könnte. Ein Sonderfall ist die Interaktion zwischen Musikern und Publikum. Hierzu gibt es für den Bereich des Jazz bislang nur wenige empirische Studien. Eine Befragung der Londoner Jazzposaunistin und Musikwissenschaftlerin Gail
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MARTIN PFLEIDERER Brand kommt zu dem Ergebnis, dass ein konzentriert zuhörendes Publikum die Inspiration der Improvisatoren beflügelt und sie in ihrem Einfallsreichtum anspornt (Brand et al. 2012).1 In der Jazzforschung wurde erst relativ spät damit begonnen, die Musiker zu ihren Improvisationspraktiken zu befragen und diese Interviews systematisch auszuwerten. Wegweisend war die Studie des US-amerikanischen Musikethnologen Paul Berliner (1994), der in den 1980er Jahren 52 Musiker der New Yorker Jazzszene zu ihren Lern- und Improvisationsstrategien befragte. Berliner beabsichtigte mit seiner Studie, »to present artists in the light by which their own community has always appreciated them — as knowledgeable, articulate, exacting practioners of a highly valued art form« (Berliner 1994: 9) und »to increase the abilities of readers to comprehend jazz in much the same terms as do its improvisers« (ebd.: 15). Es folgten weitere Studien, u.a. von Ingrid Monson (1996). Jüngst wurde in zwei deutschsprachigen Interviewstudien (Figueroa-Dreher 2016, Müller 2017) auf Methoden der interpretativen Sozialforschung zurückgegriffen. Als besonders ertragreich haben sich in diesen beiden Studien eine Kombination von Einzelinterviews mit Musikern und Gruppendiskussionen mit ganzen Bands erwiesen. Die Gruppendiskussionen wurden direkt im Anschluss an ein Konzert (bei Müller) bzw. an Studioaufnahmen (bei Figueroa-Dreher) durchgeführt, die Tondokumente wurden als zusätzlicher Stimulus für die Befragungen verwendet. Die Leitfrage bei Christian Müller ist das Erleben des Improvisierens durch den Musiker, wobei zwischen den drei Dimensionen Musiker und Instrument, dem Zusammenspiel als Band und der Konzertsituation unterschieden wird. Silvana FigueroaDrehers Ziel ist es, eine soziologische Handlungstheorie zu formulieren, bei der von einer Gleichzeitigkeit von Entwerfen und Handeln, also einem »entwerfenden Handeln« oder »handelnden Entwerfen« (Figueroa-Dreher 2016: 72) ausgegangen wird, und diese am Beispiel des musikalischen Improvisierens empirisch zu begründen. Bemerkenswert an beiden Studien ist der hohe Reflexionsgrad und die große Differenziertheit der Aussagen der befragten Musiker.
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Der libanesische Musikethnologe und Buzuki-Spieler Ali Jihad Racy hat nachdrücklich darauf hingewiesen, dass für das Gelingen von Improvisation in arabischer Musik (im solistischen Taqsim) die Aufmerksamkeit und Kennerschaft des Publikums ganz zentral sind. Dies kann so weit gehen, dass Musiker ausdrücklich mit erhelltem Zuschauerraum auftreten, um die Reaktionen des Publikums sehen und darauf reagieren zu können (Racy 1998: 96).
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IMPROVISIEREN ALS PERFORMATIVE MUSIKPRAXIS — ZUGÄNGE UND FORSCHUNGSPERSPEKTIVEN
Z u e i ner T h eo r i e d e r m u s i k a l is c h en I m p r o v i s a t io n Bislang haben vor allem Musikpsychologen versucht, den Prozess des Improvisierens auf eine allgemeingültige Weise zu beschreiben. Von besonderem Interesse für die Psychologen ist dabei die tendenzielle kognitive Überforderung des improvisierenden Musikers, die aus dem Entscheidungsdruck in der Spielsituation entsteht. Wie gelingt es dem Musiker, die äußerst komplexe Aufgabe des Improvisierens so zu handhaben, dass kreatives Handeln möglich wird? Eine psychologische Antwort hierauf ist die Annahme einer Automatisierung bestimmter Spielabläufe, etwa durch die Wiederholung von Patterns. Ein weiterer Erklärungsansatz betont die kognitiven Verknüpfungen verschiedener Aspekte des Improvisierens, die sich mit zunehmender Spielerfahrung und Übung immer weiter differenzieren. Beide Strategien entlasten das kognitive System und ermöglichen es, dass die Aufmerksamkeit flexibel zwischen verschiedenen Aspekten des Spielprozesses — dem eigenen Spiel und dem Spiel der Mitmusiker, der Auftrittssituation, übergreifenden Stimmungen und Intentionen u.a. — hin und her wandern kann. Es ist hier nicht der Rahmen, die Vorzüge und Nachteile der verschiedenen psychologischen Improvisationsmodelle von Jeff Pressing (1988), Klaus-Ernst Behne (1992), Andreas Reinhard (1996) oder Philip Johnson-Laird (2002) en détail zu diskutieren (vgl. hierzu Figueroa-Dreher 2016: 46-57). Allerdings wird nicht ganz klar, auf welcher Erfahrungsgrundlage die Autoren ihre Theoriemodelle eigentlich formulieren. Zumindest liegen ihnen keine systematischen Datenerhebungen, sondern eher verstreute Beobachtungen zugrunde. Viele der in den Modellen gemachten Hypothesen lassen sich zudem kaum oder nur sehr schwer empirisch überprüfen. Figueroa-Dreher hat auf zwei weitere Schwachstellen der psychologischen Improvisationstheorien hingewiesen. Zum einen konzentrieren sie sich auf den einzelnen Musiker und verweisen interaktive Aspekte des Improvisierens in den Bereich von ›Randbedingungen‹. Außerdem tendieren die Modelle zu einem zeitlichen Auseinanderziehen von mental imaginierten Handlungsentwürfen und deren Umsetzung am Instrument. Besonders deutlich wird dies etwa bei Klaus-Ernst Behne (1992), der das Improvisieren als eine Kette von Entwerfen, Entscheiden, Handeln und Evaluieren beschreibt. Laut der gängigen Definitionen liegt der Kern des Improvisationsphänomens jedoch gerade in der Gleichzeitigkeit von Erfinden und Ausführen, von ›creation‹ und ›performance‹, von Handlungsentwurf und Handlungsausführung. Diesen Aspekt
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MARTIN PFLEIDERER rückt Figueroa-Dreher ins Zentrum des von ihr vorgeschlagenen Improvisationsmodells. Sie hat in ihrer Studie die Musiker zweier Flamenco-Ensembles und dreier Free-Jazz-Trios (u.a. des renommierten Schlippenbach-Trios und eines Trios um den Berliner Schlagzeuger Michael Griener) ausführlich befragt und sodann mit qualitativen Methoden der sog. datengeleiteten Theoriebildung (Grounded Theory) eine in diesen Musikeraussagen fundierte Theorie des Improvisierens formuliert. Figueroa-Drehers Modell umfasst vier Dimensionen, die zueinander in enger Wechselbeziehung stehen: die Dimensionen des musikalischen Materials, der Interaktion, der Haltung des Musikers sowie der emergenten Musik. Gemeinsam bedingen diese Dimensionen das Ausmaß von »Improvisation« als »creativity in performance«, also den Grad der Neuheit einer Darbietung und der damit zusammenhängenden Kreativität der Musiker (s. Abb. 1).
Abb. 1: Improvisationsmodell nach Figueroa-Dreher (2016: 168).
Allgemein versteht man unter ›Material‹ Stoffe, die Gegenstand der Weiterverarbeitung und Gestaltung sind. Im Falle von Musik, so Figueroa-Dreher, wird das Material (Klänge, Geräusche, Töne, Tonfolgen, Rhythmen usw.) erst im Prozess des künstlerischen Handelns erzeugt. Musiker verfügen über Material, insofern sie über ein Wissen und Können der Materialerzeugung und Materialgestaltung am Instrument verfügen. Dabei kann Wissen als »subjektiv sedimentierte Erfahrung« (Figueroa-Dreher 2016: 171), also als Ergebnis vorherigen Handelns, aber auch des Imaginierens und Fantasierens verstanden werden. Je nach Genre, Spielerfahrung, Wissensbreite und Expertise verfügen Musiker über unterschiedliches und unterschiedlich viel Material. Ein Großteil des Materials wird allerdings von den Musikern eines Genres kollektiv geteilt; sie schöpfen aus dem gemeinsamen Materialschatz von bestimmten Musiktraditionen. Material wird zumeist mit Modifikationen aktualisiert, also
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IMPROVISIEREN ALS PERFORMATIVE MUSIKPRAXIS — ZUGÄNGE UND FORSCHUNGSPERSPEKTIVEN während des Spielens der jeweiligen Spielsituation angepasst. Da diese spontane Formung und Gestaltung des Materials das zentrale Merkmal des Improvisationsprozesses darstellt, ist die Formbarkeit des Materials eine wichtige Voraussetzung für das Improvisieren. Verschiedenartiges musikalisches Material besitzt unterschiedliche Grade der Formbarkeit sowie abhängig vom Musikgenre eine unterschiedlich große Vielfalt und Differenziertheit. Bisweilen wird auch während des Improvisationsprozesses neues Material ›entdeckt‹ und dann beim Üben, aber auch in der Darbietungssituation erkundet und erarbeitet. Wichtig hierbei ist das Hören — einerseits das Zuhören und das Wiedererkennen von Material im eigenen Spiel und im Spiel der anderen Musiker, andererseits das Vorweghören, die auditive Imagination. Die Interaktion zwischen den Musikern zeichnet sich durch unterschiedliche Grade der Enge oder Intensität aus. Wenn in einem Genre, wie etwa im Flamenco, eine klare Rollenverteilung zwischen improvisierenden Solisten und den begleitenden Musikern vorgesehen ist, so ist die Intensität der Interaktion eine andere als z.B. in der freien, idiomatisch nicht gebundenen Gruppenimprovisation. Dabei umfasst die Dimension der Interaktion sowohl die Feinjustierung im Sinne von Givans »microinteraction«, die Koordination größerer Entwicklungen (»macrointeraction«) als auch motivische Interaktionen. Mit der Dimension der Haltung meint Figueroa-Dreher den »Bezug der Handelnden zur Kontingenz in der Spielsituation, die Bereitschaft, Unvorhergesehenes, Ungeplantes und Zufälliges in ihr Handeln aufzunehmen und in die Musik, die sie spielen, zu integrieren. Diese Haltung kann offener (höhere Bereitschaft) oder geschlossener (niedrigere Bereitschaft) sein« (ebd.: 268). Die Offenheit zeigt sich in der Abwesenheit von Plänen und in einer Bereitschaft, spontan auf das Spiel der anderen Musiker, aber auch auf das eigene Spiel Bezug zu nehmen. Weitere Aspekte dieser Offenheit sind eine nichtreflexive Einstellung, ein Aufgeben der Situations-, Impuls- und Handlungskontrolle sowie selbstzensierender Instanzen, was auch das Zulassen automatisierter motorischer Abläufe miteinschließt. Dies geht einher mit dem Erleben eines entspannten Zustandes und einer spezifischen Konzentration und Wachheit im Hier und Jetzt. Überraschend bei Figueroa-Drehers Modellentwurf ist vielleicht, dass die Musik selbst als weitere Dimension auftaucht. Der Grad der Emergenz bezieht sich auf die Neuheit und Lebendigkeit der Musik, die sich über bereits Bekanntes hinwegsetzt. Der Emergenzgrad ist abhängig von dem genrespezifischen Grad der Formbarkeit des musikalischen Materials und der Offenheit der Spielmodelle, vom Interaktionsgrad und von den Haltungen der Musiker.
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MARTIN PFLEIDERER Die kollektiv gespielte Musik ist dabei immer mehr als die Summe der Spielstränge der einzelnen Musiker. Und sie wirkt in unterschiedlichem Grade auf den Spielprozess zurück. Das von Figueroa-Dreher anhand ihrer Musikerbefragungen entwickelte Improvisationsmodell verlangt geradezu nach einer empirischen Überprüfung und Verfeinerung anhand vergleichender Studien zwischen unterschiedlichen Improvisationsgenres. Obwohl sich Figueroa-Dreher auch auf Aussagen der Flamenco-Musiker stützt, hat ihr Modell womöglich durch die Dominanz der Free-Jazz-Musiker eine gewisse Schlagseite in Richtung freier, kollektiver Gruppenimprovisation. Wie verhält es sich mit den vier Dimensionen ihres Improvisationsmodells in anderen Musikgenres? Und welche Aspekte lassen sich auf nicht-musikalische Improvisationspraktiken übertragen? Bedenkenswert ist zudem Figueroa-Drehers (ebd.: 315) Vorschlag, in der Improvisationsforschung verschiedene Ansätze und Methoden interdisziplinär zu kombinieren. Während die Untersuchung des musikalischen Materials und des emergenten Charakters der Musik eine musikanalytische Herangehensweise erfordere, lassen sich Phänomene der Interaktion und der Improvisationshaltung eher mit den empirischen Methoden der Sozial- und Verhaltenswissenschaften untersuchen.
Me t ho d o l o g i s c h e P er s p ek t iv e n d er I m p r o v i s a t io ns fo r s c hu n g Grob gesehen lassen sich in der Forschung zur musikalischen Improvisation zwei empirische Herangehensweisen unterscheiden: Die Analyse von dokumentierten Improvisationen einerseits, die im weitesten Sinne ethnographische, qualitative Erforschung von Improvisationspraktiken andererseits. Innerhalb der Musikanalyse gibt es wiederum zwei Fragerichtungen: erstens die Frage nach den Besonderheiten einzelner Improvisationen, also nach den emergenten Charakteristika der Musik, und zweitens die Materialanalyse, also die Beschreibung und Analyse von klanglichen Mustern und Bausteinen sowie, abhängig von genretypischen Modellen und Konventionen, den Strategien der Formung und Gestaltung dieses Materials. Beide Fragerichtungen sind aufeinander bezogen: Einerseits lässt sich die Neuheit und Emergenz konkreter Improvisationen nur mit der Kenntnis der in einem Genre üblichen Materialbasis und Gestaltungskonventionen sinnvoll beurteilen. Andererseits muss die Untersuchung des Materials und der Gestaltungsstrategien ihren Ausgangspunkt in der Analyse konkreter Improvisationen nehmen. Je größer der Fundus an Improvisationen, umso eindeutiger lassen sich Rückschlüsse auf das
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IMPROVISIEREN ALS PERFORMATIVE MUSIKPRAXIS — ZUGÄNGE UND FORSCHUNGSPERSPEKTIVEN musikalische Material und die Gestaltungsprinzipien ziehen, das bzw. die typisch für einen Musiker, ein Ensemble oder ein Improvisationsgenre sind. Grundlage des musikanalytischen Ansatzes sind Höranalysen sowie Transkriptionen von Tonaufnahmen. Die Problematik von Transkriptionen ist in der Musikethnologie (und Popularmusikforschung) bereits ausführlich thematisiert worden. Im Gegensatz zu präskriptiven, also zum Nachspielen gedachten Transkriptionen, sind analytische oder deskriptive Transkriptionen immer an konkreten analytischen Fragestellungen orientiert. Sie erheben keinen Anspruch, objektive Repräsentationen der Musik zu sein, sondern sind immer an den Höreindruck des Analysierenden sowie an dessen Erkenntnisinteressen und Hörerfahrungen geknüpft. Zugleich sind Transkriptionen vielfach Gratwanderungen zwischen den Kriterien der leichten Lesbarkeit und der sachlichen Angemessenheit. Der immense Aufwand von vergleichenden Korpusstudien, also der Untersuchung von möglichst vielen Aufnahmen bzw. deren Transkriptionen, kann womöglich durch neue, computergestützte Methoden bewältigt werden. Besonders vielversprechend erscheint mir die Kombination einer herkömmlichen Analyse einzelner exemplarischer Improvisationen mit der statistischen Auswertung solcher Korpora, also mit einem ›distant listening‹ im Sinne des Konzepts des »distant reading« des Literaturwissenschaftlers Franco Moretti (2013). Hierzu gibt es erste Ansätze, so das Jazzomat Research Project mit der Weimar Jazz Database, einer computerlesbaren Datenbank von 456 Jazzsoli (http://jazzomat.hfm-weimar.de/, Pfleiderer et al. 2017) oder einer Datenbank von Flamencoaufnahmen (http://www.cofla-project.com/, Kroher et al. 2016). Ob Improvisationsaufnahmen in absehbarer Zeit verlässlich automatisch transkribiert bzw. direkt als Audio-Daten statistisch ausgewertet werden können, ist angesichts der zahlreichen technischen Probleme eher unwahrscheinlich, angesichts der rasanten Entwicklungen im sogenannten Music Information Retrieval jedoch nicht ausgeschlossen.2 Was bei einer Musikdarbietung improvisiert, was geplant und reproduziert ist, lässt sich allerdings aufgrund des bloßen Hörens nie mit Sicherheit entscheiden — das wissen nur die Musiker selbst. Daher sind Befragungen von Musikern und die gewissenhafte inhaltsanalytische Interpretation dieser Interviews und Gruppendiskussionen wichtig, ja unausweichlich. Nur auf diese Weise ist etwas über die interaktive Dimension, die Spielhaltung, die Motivation und das Erleben von Improvisationspraktiken herauszufinden.
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In diese Richtung zielt das transatlantische Forschungsprojekt Dig That Lick. Analysing large-scale data for melodic patterns in jazz performances (http://digthat-lick.eecs.qmul.ac.uk/).
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MARTIN PFLEIDERER Zwar finden sich in den Interviewstudien von Berliner (1994) und Monson (1996) auch viele Transkriptionen und analytische Abschnitte, durch die die Musikeraussagen veranschaulicht und erläutert werden. Allerdings beziehen sich die befragten Musiker nicht explizit auf eigene, konkrete Improvisationen. Figueroa-Dreher (2016) hat zwar Musikaufnahmen gemacht, die sie ihren Interviews mit den Musikern als Stimulus zugrunde legte. Konkrete musikalische Sachverhalte erwähnt sie jedoch in ihrer Arbeit nur am Rande, Müller (2017) blendet sie völlig aus. Für Musikforscher stellt sich natürlich die Frage: Wie lassen sich Musikerbefragungen und Musikanalyse sinnvoll kombinieren? Der englische Musikpsychologe John Sloboda machte hierzu bereits 1985 den folgenden Vorschlag: »By recording an improvisation and then playing it back to the performer, with as many pauses and backtracks as required, we could hope to obtain a detailed record of the conscious decisions involved in constructing the improvisation« (Sloboda 1985: 148). Von einer solchen Befragung entlang der konkret gespielten und durch Aufnahmen und Transkriptionen dokumentierten Musik sind nicht nur anschauliche Einsichten in die genrespezifischen oder individuellen Umgangsweisen mit dem musikalischen Material und in improvisatorische Schaffensprozesse einschließlich ihrer interaktiven Momente zu erwarten, sondern auch eine Konkretisierung der oft eher allgemein gehaltenen persönlichen Erfahrungen und Reflexionen der Musiker. Diese Idee einer ›study of in vivo improvisation‹ wurde jedoch bislang nur selten umgesetzt (vgl. dazu aber den Beitrag von Back und Klose in diesem Band). Martin Norgaard folgte in seiner Dissertation dem Vorschlag von Sloboda und bat sieben Jazzmusiker, begleitet von einem Drum-Loop über einen Blues in F zu improvisieren und direkt anschließend eine automatisierte Transkription des gerade Gespielten zu kommentieren (Norgaard 2008). Dabei wurde deutlich, auf welche musikalischen Aspekte die einzelnen Musiker während des Improvisierens jeweils ihre Aufmerksamkeit richteten. Ungeachtet unterschiedlicher individueller Gewichtungen berichteten alle Musiker sowohl von einer Bewertung und Kontrolle des gerade Gespielten als auch von dem mehr oder weniger konkreten Planen des kommenden Spiels. Generell kommen vier Strategien zur Geltung: die Verwendung gelernten musikalischen Materials (»idea bank«), die Tonauswahl unter primär harmonischen Vorzeichen (»harmonic priority«), die Tonauswahl mit Blick auf die Gestaltung der melodischen Linie (»melodic priority«) sowie schließlich der Bezug auf das Zuvor-Gespielte (»recall«). Allerdings entsprach die Spielsituation der Musiker nur bedingt der normalen Spielsituation eines Jazzmusikers, denn es fehlten die interaktiven und performativen Aspekte.
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IMPROVISIEREN ALS PERFORMATIVE MUSIKPRAXIS — ZUGÄNGE UND FORSCHUNGSPERSPEKTIVEN Zudem ist fraglich, ob die von Sloboda und Norgaard favorisierte Fokussierung auf bewusste Spielentscheidungen zielführend ist — vielleicht sind ja eher körper- und instrumentengebundene Umgangsweisen mit dem erspielten musikalischen Material relevant für das Improvisieren der Musiker. So beschreiben etwa die von Müller und Figueroa-Dreher interviewten Musiker das Improvisieren als Sich-Zurücknehmen und Raumgeben, als einen fast schlafwandlerischen Zustand, in dem weder entschieden noch überhaupt nachgedacht wird, sondern in dem ›die Musik‹ das Regime übernimmt (vgl. FigueroaDreher 2016: 252; Müller 2017: 83). Meines Erachtens ist das Potential eines weiteren Ansatzes noch nicht voll ausgeschöpft: dem der introspektiven Selbstbeobachtung, die etwa der Studie des Soziologen David Sudnow aus den 1970er Jahren zugrunde liegt und bei der sowohl musikalische Details im Sinne der von Norgaard ermittelten Spielstrategien als auch Hinweise auf besondere körperliche und mentale Befindlichkeiten ihren Platz haben (Sudnow 1978). Neuerdings hat der Soziologe und Hobby-Jazzsaxophonist Peter Stegmaier (2012) diesen introspektiven Ansatz weiterverfolgt. Ein Problem dieses Ansatzes liegt allerdings darin, dass eine systematisch geschulte Beobachtungsgabe und ein hoher Grad an improvisatorischer Expertise wohl eher selten in einer Person zusammenfallen. Dass bislang kaum Videoaufnahmen von Improvisations-Performances ausgewertet wurden, liegt meines Erachtens vor allem daran, dass gegenüber der akustischen Dimension die visuelle Dimension kaum nennenswerte Erkenntniszugewinne bietet. So musste Silvana Figueroa-Dreher (2016: 248ff.) feststellen, dass in den Video-Aufnahmen der von ihr untersuchten Improvisations-Ensembles kaum Interaktionen zwischen den einzelnen Musikern zu beobachten sind. Einzige Ausnahme war die von den Musikern gestisch ausgedrückte Freude über gelungene Spielmomente. Immerhin verdeutlichen die Videoaufnahmen durchweg die Haltung des konzentrierten Zuhörens, die an Gestik und Körperhaltung der Musiker ablesbar ist.
A us b l ic k Der US-amerikanische Musikethnologe und Jazzforscher Gabriel Solis hat darauf hingewiesen, dass sich Improvisationsschulen und -anweisungen bislang weitgehend darauf beschränken, musikalisches Handwerk zu vermitteln. Dagegen sei das Improvisieren selbst nicht lehrbar: »Instructional writing has generally had less to say about the creativity involved in improvising than about techniques—how, that is, to move from knowing what is possible to developing a feel for what is right in the moment.
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MARTIN PFLEIDERER This is often treated as ineffable, or just something that comes with time and practice, and that therefore is not worth addressing in any detail in instructional literature« (Solis 2009: 6). Die Kenntnis von musikalischem Material, seiner Formbarkeit und entsprechender Gestaltungsstrategien ist ohne Frage eine Voraussetzung sowohl für das Improvisieren als auch für ein umfassendes Verständnis von Improvisationspraktiken. Eine Auseinandersetzung mit dem, was erfahrene Improvisatoren über ihre Spielpraxis, ihre Spielhaltung zu sagen haben, vermag jedoch das Verständnis von Improvisationspraktiken auf instruktive Art und Weise zu erweitern. Dies gilt nicht nur für die Musiker, sondern ebenso für die Hörer. Dass ein Verständnis von Musik und musikalischen Praktiken von hoher Relevanz für die Lebendigkeit von Hörkulturen ist, gilt natürlich für jedwede Musik. Aber ganz besonders gilt dies für jene Musikrichtungen, in denen LiveDarbietungen mit improvisatorischen Gestaltungsfreiräumen und mehr oder weniger stark ausgeprägten Rückkopplungsmöglichkeiten zwischen Musikern und Hörern wesentlich sind — und für die eine schriftliche Fixierung oder technische Aufnahme und Wiedergabe nicht konstitutiv sind. Die derzeitige Blüte der Improvisationsforschung hängt vermutlich mit der Konjunktur der Performanceforschung und der Praxistheorie innerhalb der Kultur- bzw. Sozialwissenschaften seit den 1990er Jahren zusammen. Die Anschlussmöglichkeiten gehen dabei in beide Richtungen. Eine Berücksichtigung von Konzepten und Begriffen der soziologischen Praxistheorie und der Performanceforschung, aber auch der Handlungstheorie, wie die Studie von Figueroa-Dreher zeigt, kann anregend für die musikalische Improvisationsforschung sein. Denn Aspekte der Körperlichkeit und leiblichen Ko-Präsenz von Musikern und Zuschauern, der Rolle von Artefakten — den Musikinstrumenten — für die Improvisationspraxis und der autopoietischen Feedbackschleifen innerhalb einer Performance, zwischen den Musikern sowie zwischen Musikern und Hörern, sind konstitutiv für improvisatorische Praktiken. Angesprochen sind darüber hinaus die Zusammenhänge zwischen der Offenheit der Spielsituation, der Spontaneität und Kreativität der Musiker, dem Stellenwert von implizitem Wissen und Routinen sowie schließlich eines motivational-emotionalen Wissens: Worum geht es den Musikern — und ihren Zuhörern — eigentlich beim Improvisieren? Wie die ethnographischen Studien und die Befragungen von Musikern zeigen, vermag umgekehrt eine empirische Auseinandersetzung mit musikalischen Improvisationspraktiken durchaus die soziologische und kulturwissenschaftliche Theoriebildung zu bereichern und zu verfeinern. Die übergreifenden Gründe für das wachsende Interesse am Phänomen des Improvisierens liegen womöglich in der Erfahrung einer von zunehmender sozialer Unübersichtlichkeit und Ungewissheit geprägten Welt. Improvisieren,
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IMPROVISIEREN ALS PERFORMATIVE MUSIKPRAXIS — ZUGÄNGE UND FORSCHUNGSPERSPEKTIVEN so scheint es, ist heute nicht mehr nur eine Ausnahmestrategie für jene Situationen, in denen alle Pläne und Routinen versagen, sondern sie wird in vielen Lebensbereichen zur Regel. In immer mehr Gesellschaftsbereichen sind wir gezwungen, unabhängig von Entwürfen oder verlässlichen Gewohnheiten zu handeln und dabei schnell und flexibel auf Veränderungen zu reagieren — also zu improvisieren. Vor diesem Hintergrund stellt das Improvisieren im geschützten Bereich von Musik und Kultur vielleicht ein Laboratorium für das Erproben neuartiger sozialer und kulturelle Praktiken und Handlungsweisen dar — ein Spielraum für ein gleichermaßen enges und flexibles Zusammenwirken von Menschen (Musikern, Mitmusikern und Hörern) und Dingen (Instrumenten).
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Abstract In recent years, research on improvisation has been flourishing in various disciplines such as theatre and performance studies, sociology, computer sciences, political sciences, and philosophy. In the course of this, musical practices of improvisation, above all jazz improvisation, often serve as a model for theorizing about improvisational practices in general. In this situation, musicological research on improvisation may benefit from approaches and methodologies used by other disciplines, and at the same time can transfer highly relevant insights into improvisatory music practices to the broader field of improvisation studies. After discussing both central topics of research on improvisation and recent approaches to jazz improvisation, including interaction and interviews with improvising musicians, a model of improvisation formulated by sociologist Silvana Figueroa-Dreher is sketched. Following that model a twofold methodology of future research on musical improvisation is suggested which combines an ethnographic approach towards practices of improvisation with an analysis of musical material employed in improvisatory performances.
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J A Z Z I M P R O V IS A T I O N Z W I S C HE N SP O N T A N E R E R F I N DU N G U N D E RL E R N TE N M O D E L LE N . E I N E M P I R I S CH E R A NS A T Z Z U R A N A L Y S E M I T H I LF E V O N V I DE O -S T I M U L A TE D -R E C A L L -I N T E R V I EW S A n dr e a s B a c k u n d Pe te r K l os e Die Praxis der Jazzimprovisation ist länger schon Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtungen (vgl. für einen Überblick Knauer 2004b, Pfleiderer 2004 sowie den Beitrag von Martin Pfleiderer in diesem Band), vorwiegend allerdings ästhetischer, musiktheoretischer und -analytischer Art (vgl. z.B. Jost 1975, Knauer 1990, DeVeaux 1990 sowie Knauer 2004a). Eine wichtige Rolle spielt dabei von Anfang an das Ziel, Improvisieren mit Hilfe von Theorie systematisch lehr- und lernbar zu machen (vgl. etwa Bohländer 1947 als frühes Beispiel). Von zahlreichen Jazzmusiker*innen existieren außerdem Aussagen zu ihrem individuellen Zugang zur Improvisation, die in Interviews oder für Biographien gesammelt wurden.1 Der Saxphonist Dave Liebman versucht in den 1970er Jahren mit seiner Band Lookout Farm als einer der ersten, die Prozesse der Improvisation in der Gruppe über harmonisch-melodische Fragen hinaus als Fallstudie zu thematisieren (Liebman et al. 1977). Versuche eines systematischen Zugriffs auf die Praxis der Improvisation mit Hilfe der Methoden qualitativ-empirischer Forschung sind dagegen relativ jung. Als Meilenstein kann Paul F. Berliners umfangreiche Studie Thinking in Jazz gelten, die auf langjähriger Vorarbeit basiert (Berliner 1994: 3). Weiterhin gibt es psychologische und soziologische Studien (Pressing 1988, Behne 1992, Wilson/MacDonald 2016, Figueroa-Dreher 2016). Das Methodenrepertoire ist aber längst noch nicht ausgeschöpft. Improvisation ist eine von Regelmäßigkeit und Dynamik geprägte soziale Praxis. Aus dem Zugriff auf geteilte Wissensbestände resultieren Regelmäßigkeiten, die durch das prinzipiell nicht prädeterminierte Handeln einzelner
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Eine Zusammenstellung von Aussagen einzelner Musiker*innen etwa findet sich im viel zitierten Hear Me Talkin' To Ya von Nat Shapiro und Nat Hentoff (1966).
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ANDREAS BACK UND PETER KLOSE Akteure in der Situation des Musizierens konterkariert werden. Erst im Zusammenspiel beider Facetten ergibt sich Improvisation als Phänomen, das also weder allein auf stilkritische Analysen, noch allein auf Untersuchungen individueller psychischer Prozesse zurückgeführt werden kann. Dem Blick auf die Situation des Improvisierens kommt eine Schlüsselrolle bei der Erforschung dieser Praxis zu; die in Musiktheorie geronnene Musiziertradition und ihre die Wahrnehmung strukturierende Rolle sowie der sich in den letztlich gespielten Klängen materialisierte Sinn, wie er sich der Musikanalyse im Nachhinein erschließt, dürfen dabei aber nicht außen vor gelassen werden. Wir möchten daher in diesem Artikel Video-Stimulated-Recall-Interviews als Methode zur Erforschung von Improvisation mit Fokus auf die Situation des Improvisierens sowie einige der damit gewonnenen Ergebnisse aus einer 2016 durchgeführten Studie zur Diskussion stellen.2 Dabei geht es uns nicht um das Präsentieren vermeintlich letztgültiger Antworten; wir möchten eher in der Rückschau vorstellen, welche Anregungen und Perspektiven sich für die künftige Erforschung von Improvisation aus dem Projekt ergeben. Nach einer Einordnung der Studie in den Forschungsstand zur (nicht nur) empirischen Improvisationsforschung und der Darstellung des methodischen Designs der Studie folgt der kontrastierende Vergleich zweier Detailbeispiele, an dem sich interessante Aspekte für zukünftige Studien und Optimierungsmöglichkeiten in Bezug auf die Methode aufzeigen lassen. Im Anschluss an einen Überblick über weitere Ergebnisse steht daher ein Ausblick auf Potentiale und Desiderate zukünftiger qualitativ-empirischer Erforschung von Improvisation.
1 . F o r s c h un g s s t a nd : A n s ä t z e z ur ( e m p i r i s c h e n ) I m p r o v i s a t io ns fo r s c hu n g Unter den Erklärungsansätzen bzw. Modellen zur Improvisation gibt es zum einen solche, die a priori, also präskriptiv fungieren, weiterhin deskriptive, die auf Grundlage von Datenmaterial Improvisation rekonstruieren, sowie solche Ansätze, die versuchen, der Logik von Improvisation in actu nahezukommen. Diese Systematik soll im Folgenden anhand einzelner Beispiele erläutert werden, ohne dass der Anspruch eines erschöpfenden Überblicks in diesem Rahmen erfüllt werden kann.
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Andreas Back (2016) hat diese Studie als Master-Arbeit im Rahmen seines Lehramtsstudiums an der TU Dortmund durchgeführt; Peter Klose war Betreuer und Erstgutachter.
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JAZZIMPROVISATION ZWISCHEN SPONTANER ERFINDUNG UND ERLERNTEN MODELLEN Zu den präskriptiven Entwürfen sind vor allem Improvisationsanleitungen im engeren Sinn zu zählen. Es handelt sich dabei in der Regel nicht um wissenschaftliche Modelle. Ein umfassender und gleichzeitig einflussreicher früher Entwurf ist z.B. George Russells Lydian Chromatic Concept of Tonal Organization (1959). Auf der Grundlage ausführlicher musiktheoretischer Überlegungen systematisiert Russell die Assoziation von Akkorden mit dazugehörigen Skalen. Diese Sichtweise auf das Improvisieren über Changes prägt bis heute das Erlernen und Unterrichten von Jazz als Idiom und Praxis. Ein anderes Beispiel sind Konzepte, die mit Hilfe z.B. pentatonischer Skalen eine Strategie zur Auswahl von Tönen beim Improvisieren bereitstellen. Beispiele hierfür sind etwa Werner Pöhlerts Basic Mediantic (1992) und die Pentatonic Khancepts des Gitarristen Steve Khan (2002). Zwar sind solche Improvisationsanleitungen kaum ohne vorausgehende Erfahrungen in der Jazzpraxis denkbar und insofern in den seltensten Fällen rein präskriptiv — alle genannten Autoren sind in diesem Sinne auch Praktiker. Dennoch bilden musiktheoretische Überlegungen einen Einflussfaktor, der nicht aus den Spielerfahrungen allein resultiert. Als Improvisationsmodelle (und nicht bloß Modelle einer Jazzmusiktheorie) können sie darüber hinaus deswegen angesehen werden, weil sie eine Definition von Improvisation als primär musiktheoretisches Problem der Auswahl geeigneter Töne implizieren. Indem sie ein Teil eines Systems von »strukturierten und strukturierenden Dispositionen« (Bourdieu 2015: 97) werden, prägen sie aber »Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata« (ebd.: 101) und werden so in der Situation des Improvisierens auf eine Weise wirksam, die über ihre Rolle bei der rationalen Entscheidung über die zu spielenden Töne hinausgeht.3 Zum anderen existieren Modelle, die wir als deskriptiv klassifizieren möchten. Das sind solche Ansätze, denen Datenmaterial aus bereits erfolgten Improvisationen zugrunde liegt — sei es als Transkription oder als Schallaufnahme. Hierzu zählen psychologische Erklärungsmodelle wie diejenigen von Jeff Pressing (1988) oder Klaus-Ernst Behne (1992). Weiterhin sind Herangehensweisen zu nennen, die durch musiktheoretisch fundierte Analysen Soli von Jazzmusikern auf Muster, Regelhaftigkeiten und idiosynkratische Elemente hin untersuchen. Martin Pfleiderers Jazzomat-Projekt hat zuletzt eindrucksvoll die Leistungsfähigkeit einer computergestützten Analyse eines großen Korpus im Rahmen solcher Untersuchungen bewiesen (Pfleiderer et al. 2017). Auf den algorithmischen Ansatz Philip N. Johnson-Lairds (1991, 2002)
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Besonders bei instrumentenspezifischen Improvisationsanleitungen wirkt umgekehrt die Materialität des Musizierens auf das musiktheoretische Konstrukt zurück.
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ANDREAS BACK UND PETER KLOSE möchten wir nicht inhaltlich, aber in Bezug auf die Herangehensweise etwas genauer eingehen. Johnson-Lairds Methode ist synthetisch (im Gegensatz zu analytisch): Er rekonstruiert Improvisation als Prozess durch einen Algorithmus, d.h. eine prinzipiell programmierbare Verfahrensvorschrift. Die Validität dieses Algorithmus bemisst sich daran, ob er in der Lage ist, eine akzeptable Improvisation hervorzubringen, was in diesem Zusammenhang die Beurteilung anhand ästhetischer Maßstäbe bedeutet. Diese Vorgehensweise beruht daher zwangsläufig auf einem klar abgegrenzten Idiom; in diesem Fall ist dies die melodisch-harmonisch-rhythmische Konzeption des Bebop der 1940er Jahre, vorliegend in zahlreichen Transkriptionen und Aufnahmen. Dabei strebt Johnson-Laird eine Reichweite seines Modells bis auf die Ebene von Entscheidungen über konkrete Töne, Akkorde und Rhythmen an. Johnson-Laird (1991: 319) schränkt aber schon ein, dass auch ein solcher im ästhetischen Sinn valider Algorithmus noch keine zwangsläufige Aussage über den Prozess des Improvisierens selbst erlaubt. Er schließt daher psychologische, letztlich kybernetische Überlegungen an, welche von mehreren denkbaren Formen von Algorithmen in Bezug auf den Menschen am plausibelsten erscheinen (ebd.; vgl. auch Johnson-Laird 2002: 242f.). Bei Johnson-Laird zeigt sich das Potential deskriptiver Modelle, als Verfahrensvorschrift in präskriptive Anleitungen zum Improvisieren einzugehen. Man kann dies als systematisierte Erweiterung eines Lernens mit Hilfe von Transkriptionen ansehen, das im Jazz eine lange Tradition hat. Die Grundform dessen stellen transkribierte Soli wie Louis Armstrongs 50 Hot Chorusses for Cornet (1927) oder das Charlie Parker Omnibook (Parker 1978) dar; der nächste Schritt besteht im systematischen Ordnen (wie. z.B. in Form einer Sammlung von Jazzphrasen über die II-V-I-Verbindung, vgl. z.B. Kohl 2000), anschließend im Ableiten und Formulieren präskriptiver Regeln (vgl. Norgaard 2016).4 Weder präskriptive noch deskriptive Modelle können per se für sich in Anspruch nehmen, den Prozess des Improvisierens selbst valide zu beschreiben. Johnson-Lairds Ansatz wirft die Frage auf, ob die Gleichförmigkeit eines regelhaft ablaufenden Algorithmus den inneren Abläufen im Menschen bei einer Improvisation wirklich entspricht. Er hat sein Modell nicht umsonst an 4
Werke wie etwa Gunther Schullers Early Jazz (1986) bzw. The Swing Era (1991) oder Scott DeVeauxs The Birth of Bebop (2000) zählen wir dagegen nicht im engeren Sinne zu den deskriptiven Modellen, weil hier trotz zahlreicher Analysen improvisierter Soli der Fokus auf ästhetischen und stil- resp. bei DeVeaux sozialgeschichtlichen Entwicklung des Jazz im Sinne historisch-musikwissenschaftlicher Geschichtsschreibung liegt und nicht auf dem linear-prozesshaften Zustandekommen des einzelnen Solos.
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JAZZIMPROVISATION ZWISCHEN SPONTANER ERFINDUNG UND ERLERNTEN MODELLEN einem Programm getestet, das Walking-Bass-Linien erzeugt (Johnson-Laird 1991: 313ff., Johnson-Laird 2002: 437; dazu auch: Norgaard et al. 2013: 243f.). Diese Basslinien sind gleichförmig in ihrer rhythmischen Ausgestaltung. Sie sind aber insbesondere an die harmonische Grundlage gebunden. Auch wenn es zwar prinzipiell ein Spektrum vom bloßen Ausbuchstabieren der Akkorde bis hin zu geschmeidigen melodischen Linien mit Ausschmückungen und Durchgangstönen gibt, muss die Basslinie zumindest im Standard-Jazz trotzdem ein Mindestmaß an Regelmäßigkeit und Regelhaftigkeit aufbieten, das den Mitspielern den hörenden Nachvollzug der Changes erlaubt. JohnsonLaird liefert ein plausibles Modell für eine eng begrenzte Teilaufgabe im Rahmen des Improvisierens, wie sie das interne Prozessieren harmonisch-melodischer Regeln darstellt. Die darüber hinaus gehenden Abläufe in der sozialen Praxis des Improvisierens kann (und soll) es nicht abbilden. Deskriptive Modelle betonen also tendenziell eher Regelhaftigkeit gegenüber der Dynamik und Offenheit für Neues bzw. Regelbrüche, die Improvisation prinzipiell innewohnt. Das heißt insbesondere, dass einige musikalische Idiome sich einer Modellierung durch einen Algorithmus möglicherweise stärker widersetzen. Außerdem ergibt sich eine weitere erkenntnistheoretische und methodische Problematik in zweifacher Hinsicht: Erstens ist die wissenschaftliche Betrachtung von Improvisation anfällig für das, was Pierre Bourdieu den »scholastischen Irrtum« (Bourdieu 2017: 64) nennt: Das Modell, das sich Forschenden ohne Zeitdruck in Kontemplation und Reflexion darstellt, ist nicht mit der Logik der Praxis selbst zu verwechseln und stimmt vielleicht nur in Ausnahmefällen damit überein (Bourdieu 2015: 148f.). Für die sich in der Zeit entfaltende Praxis der Musik ist in diesem Zusammenhang z.B. bedeutsam, dass die synoptische Form der Transkription erlaubt, zeitlich nacheinander ablaufende Ereignisse »im selben Augenblick zu überblicken und damit ansonsten nicht wahrnehmbare Beziehungen (und unter anderem auch Widersprüche)« aufzudecken (ebd.: 151; vgl. dazu auch Jost 1975: 17f.). Zweitens muss man davon ausgehen, dass im Rahmen von Improvisation auch auf implizites, inkorporiertes Wissen zurückgegriffen wird, also auf die »praktischen, stummen, vorsprachlichen Könnens- und Erkennensformen sowie auf die im Zusammenspiel von Körpern beobachtbaren Koordinations-, Orientierungs- und Abstimmungsfähigkeiten« (Schmidt 2012: 59). Dabei ist zu fragen, in welchem Maße das inkorporierte knowing how des Improvisierens gänzlich auf die Automatisierung vormals bewussten Handelns zurückzuführen ist oder inwieweit es auch ein Residuum ebenso implizit erworbenen Körperwissens gibt, das beim Improvisieren zum Einsatz gebracht wird. Da Jazzimprovisation
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ANDREAS BACK UND PETER KLOSE aber in der Regel an Standards und im Rückgriff auf die von Russell begründete Systematisierung mit Hilfe von Skalen gelehrt und gelernt wird, ist es plausibel, zumindest in diesem Bereich auch von einer Durchdringung von expliziten und impliziten Wissensbeständen auszugehen.5 Das führt zur dritten, logisch zwischen präskriptiven und deskriptiven Modellen angesiedelten Kategorie von Versuchen, der Improvisation in actu nahezukommen. Dazu genügt es nicht, auf Schallaufnahmen oder Transkriptionen zurückzugreifen; stattdessen muss man die Menschen in der Situation des Improvisierens selbst in den Blick nehmen — und das bedeutet methodisch: es müssen mindestens Videoaufnahmen benutzt werden. Besser noch sind teilnehmend-beobachtende, ethnographische Vorgehensweisen (denn auch eine Videoaufnahme ist nicht identisch mit der Situation selbst); zudem müssen — unter der Prämisse, dass wesentliche den Prozess leitende innere Vorgänge nicht beobachtbar sind — die beteiligten Musizierenden befragt werden. Sogar neurologische Methoden sind als Erweiterung denkbar. Die Psychologen Graeme B. Wilson und Raymond A.R. MacDonald (2016) haben in diesem Zusammenhang eine qualitative Studie ähnlich der Backs durchgeführt. Sie haben Trios improvisierender Musiker*innen gefilmt, ihnen im Anschluss die Aufzeichnung gezeigt und dabei Interviews geführt. Die Probanden der Studie von Wilson und MacDonald sind so ausgewählt, dass sie eine künstlerische und stilistische Bandbreite repräsentieren, sollen aber ausdrücklich frei improvisieren. Dem liegt vermutlich die Hypothese zugrunde, dass freie Improvisation mehr Interaktion erfordert oder auch befördert (Wilson/MacDonald 2016: 1032). Der Fokus der Autoren liegt auf der Frage nach dem Zusammenhang von Interaktionen in der Gruppe und den individuellen Entscheidungs- bzw. Auswahlprozessen. Wilson und MacDonald entwerfen ein Modell des prozeduralen Flusses von Entscheidungen während des Improvisierens, das allerdings nicht die Ebene von Entscheidungen über einzelne Töne, Akkorde und Rhythmen berührt. Dem Modell liegt ein grundsätzlicher Zweischritt von Evaluation und anschließender Entscheidung über das als adäquat erachtete Handeln zugrunde. Die Ebenen der Entscheidung bestehen dann aus den Möglichkeiten zum Beibehalten oder Ändern des eigenen Improvisationsverhaltens, zum Reagieren oder Initiieren sowie auf musikalischer Ebene zur Übernahme, Erweiterung oder Kontrastierung des Gehörten (ebd.: 1035). Aus
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Ein Modell, das explizit reflexives Handeln auf der Basis eines Handlungsentwurfs, automatisiertes, ehemals bewusstes Handeln sowie Handeln auf Basis von vorreflexiv-implizitem Wissen vereint, schlägt Gregor Bongaerts vor; er versucht damit, den Schütz'schen Handlungsbegriff mit praxeologischen Ansätzen zu verbinden (Bongaerts 2008: 227, 230 sowie Bongaerts 2007; vgl. dazu auch FigueroaDreher 2016: 103ff.).
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JAZZIMPROVISATION ZWISCHEN SPONTANER ERFINDUNG UND ERLERNTEN MODELLEN den Interviews mit den Probanden arbeiten Wilson und MacDonald anschließend die Kategorien bzw. Kriterien heraus, nach denen im Fluss des Improvisierens Entscheidungen getroffen werden (ebd.: 1036f.). Durch die Zweistufigkeit weist dieses Modell Ähnlichkeiten mit anderen ebenfalls psychologisch fundierten Improvisationsmodellen auf, die den Fluss der Improvisation als prinzipiell auflösbar in eine Abfolge von disjunkten Situationen verstehen, z.B. Pressing (1988) oder Behne (1992; vgl. dazu Figueroa-Dreher 2016: 47ff. sowie Pfleiderer 2004: 91f.). Studien zum Prozess des Improvisierens finden sich — in Bezug auf die Frage nach Interaktion nicht völlig zufällig — auch auf Seiten der Soziologie. Ähnlich wie Wilson und MacDonald geht Silvana K. Figueroa-Dreher in ihrer sehr umfangreichen Studie vor. Ihre Probanden sind professionelle Free Jazzsowie Flamenco-Musiker (Figueroa-Dreher 2016: 143ff.); auch sie filmt die Musiker im Studio, interviewt sie im Rückgriff auf die Videoaufnahmen und entwickelt nach der Grounded Theory-Methodologie ein theoretisches Modell des Improvisierens (ebd.: 153ff.). Figueroa-Drehers Ansatz kann einer mundanphänomenologisch informierten Wissenssoziologie zugerechnet werden. Im Kontrast der beiden unterschiedlichen Musikstile arbeitet sie heraus, auf welche Weise die Musiker ihr Wissen zur Anwendung bringen. Interessant ist dabei der Unterschied der hochkomplexen Idiomatik des Flamenco, in der sich Regelhaftes und Freiheit verzahnen, und des insbesondere für musikalische Interaktion recht offenen Free Jazz (ebd.: 115, 264f.). Klänge spielen als musikalisches Material eine zentrale Rolle als Teil des Wissensbestands (ebd.: 173ff.), der Fokus liegt aber auf der Art und Weise des Zugriffs der Musiker auf dieses Material. Die Ebene der konkreten Entscheidungen etwa für bestimmte Töne wird auch von Figueroa-Dreher nicht berührt. Der Soziologe und Saxophonist Peter Stegmaier (2012) wählt — ebenfalls mundanphänomenologisch informiert — einen anderen methodischen Zugriff: Er geht dem Prozess des Improvisierens lebensweltanalytisch-ethnographisch auf den Grund und setzt bei seinem eigenen Jazzspiel an. Anders als Wilson/MacDonald und Figueroa-Dreher widmet er sich dem Spiel von Jazzstandards, arbeitet aber auf einer übergeordneten Ebene das Charakteristische von Improvisation als »planvoll unplanvoll[es] Handeln« (ebd.: 339, 331f.) heraus. Kennzeichnend dafür sei, dass dem Unvorhergesehenen intentional ein Rahmen gesetzt wird — in verschiedenen Dimensionen: angefangen bei der Besetzung, der eigenen Rolle innerhalb der Band, der Stilistik, den Changes bis hin zu bewussten Handlungsentwürfen in Bezug auf das konkrete Solo (ebd.: 330). Paul F. Berliners Thinking in Jazz (1994) stellt eine Zwischenstufe dar zwischen der deskriptiven Herangehensweise a posteriori und dem Versuch,
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ANDREAS BACK UND PETER KLOSE die Logik der Praxis in actu zu erfassen. Er hat Musikerinnen und Musiker retrospektiv zum Prozess und zum Erlernen von Improvisation befragt. Das aus der Analyse der Interviews resultierende Modell konkretisiert er auf der musikalischen Ebene in Form von Analysen (ebd.: 11), tut dies aber im Rückgriff auf Aufnahmen. Gleichzeitig beruht die Studie auf umfangreicher ethnographischer Feldforschung in teilnehmender Beobachtung der Jazz-Szene. Der Unterricht, den Berliner bei verschiedenen Jazzmusikern nimmt, um seine eigenen Improvisationsfähigkeiten zu verbessern und entwickeln, spielt dabei eine doppelte Rolle: einerseits trägt er zum Verständnis der Erklärungen und Aussagen seiner Lehrer auch in (text-)analytischer Hinsicht bei, anderseits nutzt Berliner seine eigenen Improvisationserfahrungen als Sensibilisierung für Aspekte des Themas, ähnlich wie in Stegmaiers autoethnographischer Herangehensweise (ebd.: 10). Ein solcher Mixed Methods-Ansatz erscheint auch angesichts der Problematik einer klaren Definition von Improvisation sinnvoll. Berliner schreibt: »Was a particular practice improvisation or not? If one defines improvisation in such a way as to include the practice, then, presumably, it is« (ebd.: 4). Aus dieser Unmöglichkeit, deduktiv eine klare Definition von Improvisation zur Basis ihrer empirischen Erforschung zu machen, zieht Berliner für sich den Schluss, auch Praktiken des Jazz im größeren Rahmen in den Blick zu nehmen, um ihre möglicherweise subtilen Verbindungen zur Praxis der Improvisation nicht zu übersehen (ebd.: 9, 12). Die im folgenden dargestellte Studie ist ebenfalls der dritten Kategorie zuzuordnen. Sie stellt einen Versuch dar, einerseits eng an der Situation des Improvisierens zu forschen und damit der Logik der Praxis nahezukommen, andererseits in Bezug auf die Musik auch den konkreten Entscheidungen über Klänge auf den Grund zu gehen.
2 . F r a g es t e l l u ng u nd M et ho d ik d es P r o j ek t s Jazzimprovisation bewegt sich im Spannungsfeld zwischen spontaner Erfindung und erlernten Modellen (Pfleiderer 2004, Johnson-Laird 2002, Knauer 2004), was diese Praxis einerseits dem Vorwurf aussetzt, dass Improvisationen aus vorgefertigten und nur scheinbar kreativen Elementen bestünden. Andererseits wird vielfach die spontane Kreation von Ideen hervorgehoben. Was genau an einer Jazzimprovisation ist aber nun eigentlich improvisiert? Diese etwas paradox anmutende Ausgangsfrage stand am Anfang der qualitativempirischen Studie von Andreas Back (2016). Mit Hilfe von Video-StimulatedRecall-Interview sollte im Anschluss an ein Konzert einer speziell ausgewählten Band durch die Rekonstruktion handlungsleitender Kognitionen der
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JAZZIMPROVISATION ZWISCHEN SPONTANER ERFINDUNG UND ERLERNTEN MODELLEN Unterschied zwischen dem Rückgriff auf Vorwissensbestände und spontaner Erfindung herausgearbeitet werden. Die Studie geht von der Hypothese aus, dass das handlungsleitende Improvisationswissen der Probanden, das offengelegt werden soll, teilweise ein praktisches, inkorporiertes Wissen und teilweise explizites Wissen ist. Der Versuch des Zugangs zur Praxis im Moment des Handelns steht dabei im Vordergrund der Untersuchung. Als Probanden haben sich Mitglieder der Band Filou aus Dortmund bereiterklärt. Die Band wurde im Jahr 2013 zunächst als Trio gegründet und hatte sich bis zum Zeitpunkt der Untersuchung zu einem größeren Ensemble bestehend aus einem Schlagzeuger, einem Bassisten, zwei Keyboardern, einem Gitarristen und einem Saxophonisten entwickelt. Bekannt geworden ist die Band durch einen Auftritt als Vorband der Band Snarky Puppy, die Konzertreihe Filou presents… im Dortmunder Club domicil sowie den Gewinn des futuresounds-Wettbewerbs und einen Auftritt im Hauptprogramm der Leverkusener Jazztage. Die interviewten Musiker haben ein Jazzstudium absolviert, verfügen über jahrelange Erfahrungen im Bereich der Jazzimprovisation und können als Experten auf diesem Gebiet angesehen werden. Der Stil der Band lässt sich zum Genre Fusion zählen, da er Elemente aus Jazz, Funk und HipHop enthält (vgl. Kirsten 2018). Es handelt sich also um eine Mischung aus einem idiomatischen Genre und struktureller Freiheit, da der Stil zum einen an ein harmonisches Grundgerüst gebunden ist und zum anderen ein relativ freies Improvisieren ermöglicht. Der Fokus der Untersuchung liegt auf der musikalischen Momentaufnahme. Die leitende Fragestellung war daher: »Wie kommt ein Musiker in einem bestimmten Moment zu dem, was er spielt?« In dieser Formulierung wird zum einen der schon von Berliner (1994: 4) thematisierte, u.U. zirkelschlüssige Rückgriff auf den Begriff Improvisation vermieden. Zum anderen ist die Frage offen für Vorwissensbestände, die z.B. von musiktheoretischem Denken sowie geteiltem Wissen über stilistische Konventionen geprägt sind, aber auch für Einflussfaktoren, die situationsbezogen und materiell z.B. aus der Interaktion in der Gruppe oder aus dem auf das Instrument bezogene Körperwissen der Musizierenden resultieren. Die Fragestellung zielt also darauf ab, ausgehend von der Betrachtung der Schlüsselsituation des Improvisierens auch die präskriptive und die deskriptive Perspektive nicht von vornherein auszuschließen.
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ANDREAS BACK UND PETER KLOSE
2.1 Methodik Beim Video-Stimulated-Recall-Interview schauen sich Probanden einen Ausschnitt eines Videos bezüglich ihres Verhaltens in einer bestimmten Situation an und reflektieren anschließend ihre Entscheidungsfindungsprozesse, die sie während der Aufnahme durchlaufen haben. Mit dieser Methode sollen Daten über Kognitionen von Individuen in einer bestimmten Situation erhoben werden. Die Methode ermöglicht im Idealfall das Zurückholen der Gedanken, die ein Individuum im Moment einer spezifischen Situation hatte (Nguyen et al. 2013). Zur Sicherstellung der im Interview entwickelten »Rekonstruktion von Gedanken, Überzeugungen, Normen und Entscheidungen« (Messmer 2015) werden Aufzeichnungen und Transkriptionen angefertigt (vgl. ebd.) Die Interviews der vorliegenden Studie sind als Experteninterviews konzipiert worden, da sie der »Rekonstruktion komplexer Wissensbestände« (Meuser/Nagel 2010: 457) dienen. In diesem Fall geht es um die Rekonstruktion von Handlungswissen aus dem Bereich der Jazzimprovisation. Außerdem wird das Experteninterview eingesetzt, um »Erfahrungswissen und die Faustregeln, wie sie sich aus der alltäglichen Handlungsroutine« (ebd.) ergeben, zu gewinnen. Prinzipiell zielen Experteninterviews also sowohl auf explizite Wissensbestände wie auch auf die Offenlegung von implizitem knowing how ab. Die Experteninterviews basieren auf einem Leitfaden, der eine flexible Durchführung gestattet. Daraus ergibt sich der Vorteil, dass im Interview auf die in Bezug auf die Fragestellung relevanten Bereiche eingegangen und »eine Vergleichbarkeit mit anderen Interviews, denen derselbe Leitfaden zugrunde lag« (ebd.) ermöglicht werden kann. Zudem zielen die Experteninterviews auf einen Zugang zu einem Wissen, über das zwar nicht nur Experten allein verfügen, »das aber doch nicht jedermann bzw. jederfrau in dem interessierenden Handlungsfeld zugänglich ist« (ebd.: 460f.). Im direkten Anschluss an ein Konzert am 20. Januar 2016 fanden Einzelinterviews mit drei verschiedenen Instrumentalisten (Gitarrist, Saxophonist und Keyboarder) der Band Filou in den Räumlichkeiten des Dortmunder Jazzclubs domicil statt, um möglichst gute und detaillierte Erinnerungen der Musiker an ihr Gespieltes zu ermöglichen und die gegenseitige Einflussnahme zu vermeiden. Die Interviews liefen nach dem folgenden Schema ab: Nach einer Einführung in die Methodik bekamen die Improvisatoren Konzertszenen mit ihrer solistischen Beteiligung auf einem Laptop vorgespielt und entschieden i.d.R. selbst, zu welchem Moment sie etwas sagen möchten. Die Interviewten durften eine eigene Szenenauswahl treffen und das Video stoppen, sobald ihnen
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JAZZIMPROVISATION ZWISCHEN SPONTANER ERFINDUNG UND ERLERNTEN MODELLEN etwas zu dem einfiel, was sie in einem bestimmten Moment musikalisch machten. Die Auswertung der Interviews fand in Anlehnung an die Qualitative Inhaltsanalyse und die induktive Kategorienbildung nach Philipp Mayring und Eva Brunner statt (vgl. Mayring/Brunner 2010: 323-333, Mayring 2010: 601613).
3 . B ei s p ie l e a u s d e n E r g eb n i s s en 3.1 Verschiedene Herangehensweisen an das Outside-Spielen Wir haben zwei Beispiele aus den Interviews herausgesucht, die unserer Ansicht nach interessante Anknüpfungspunkte bieten. In beiden Fällen geht es auf musikalischer Ebene um das Phänomen des sog. Outside-Spielens, zu dem sich die beiden befragten Musiker aber durchaus unterschiedlich äußern. So äußerte sich der Gitarrist nach der folgenden Stelle:
Nb. 1: Transkribierter Ausschnitt des Gitarrensolos
»[Gitarrist]: Chromatisch. Da bin ich quasi aus der Tonart rausgegangen. Da habe ich meine Homebase verlassen, kurz rausgegangen, dann wieder reingegangen. Und das sind Momente, wo man aber manchmal nicht weiß, wie das Zeug klingen wird. Wenn man jetzt einfach mal techt6 und einfach mal seine Finger machen lässt, aber bewusst, trotzdem bewusst rausgeht und weiß, wo man an welchen Tönen man plötzlich dann wieder rein muss. [Interviewer]: Ok, das heißt, so ein großer Rahmen ist irgendwie, ist da, aber was dazwischen passiert ist dann, einfach so…. G.: … ja (.) auch Risiko.
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Als Verb abgeleitet von »Technik« bzw. vom englischen »technique«; gemeint: Instrumental- bzw. Spieltechnik in den Vordergrund der Improvisation stellen.
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ANDREAS BACK UND PETER KLOSE I.: Risiko, okay G.: Also die Kontrolle ist nicht mehr da« (Interview I, S. 2, Z. 12-21, Back 2016: 81). Bedeutsam erscheint uns an der Stelle zum einen der Verweis auf das in Bezug auf die Musik planvoll-ungeplante Handeln, wie Stegmaier es nennt (»wo man manchmal nicht weiß, wie das Zeug klingen wird«). Gleichzeitig wird aber bewusst dem inkorporierten Wissen der Vorrang eingeräumt (»wenn man jetzt einfach mal techt und einfach mal seine Finger machen lässt«). Hier kommt die Gitarre als Instrument — oder in der soziologischen Terminologie: die Affordanz des Artefakts Gitarre — mit ins Spiel. Die zur Transkription in traditioneller Notation zusätzlich hinzugefügte Tabulatur soll daher die Fingersätze nachvollziehbar machen, die sich im Zusammenspiel von Körper und dem Griffbrett einer Gitarre im Standardtuning ergeben. Denn erst in der Interaktion mit der Gitarre vervollständigt sich das Handeln des Spielers. Methodologisch gesehen ist bei der Videographie also die Perspektive auf die Hände des Spielers von besonderer Bedeutung. Eine ähnliche Stelle gibt es auch beim Saxophonisten, der aber in der Rückschau sein Tun ganz anders erklärt. Hier der Ausschnitt, auf den er sich bezieht:
Nb. 2: Transkribierter Ausschnitt des Saxophonsolos
»Da haben wir so ein, so eine Outside-Konstruktion. Die habe ich schon mal häufiger von mir gehört irgendwie, weil das ist, wie gesagt, auch schnell, genau, und, ja, ist halt so ein Konzept, dass man... (2 [Sekunden Pause]) Ich fange jetzt hier an auf der Terz von dem Root quasi, also von dem D7, den ich da zu spielen habe. Da habe ich dann halt so eine Terz-Konstruktion da drüber gebaut. Das wäre dann Fis-Dur, der sich dann über F-Dur, quasi so halbtonmäßig runter, dann wieder auflöst, in das, was dann wieder passt. Genau« (Interview 3, S. 2, Z. 2-6, Back 2016: 93). Es erscheint so, als seien in diesem Fall musiktheoretische Überlegungen leitend, die aufgrund des hohen Tempos dann aber mit Hilfe von Patterns umgesetzt werden. Bei der Interpretation des Interviewausschnitts ist nicht sicher zu entscheiden: Erläutert der Saxophonist seine eigenen präskriptiven Modelle, die ehemals bewusst angewendet wurden und durch Üben zu auto-
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JAZZIMPROVISATION ZWISCHEN SPONTANER ERFINDUNG UND ERLERNTEN MODELLEN matisierten Abläufen geworden sind (vgl. Bongaerts 2008: 227)? Oder analysiert er sein eigenes Spiel im Moment des Interviews a posteriori, was einer musikwissenschaftlichen Haltung gegenüber dem Spiel eines anderen Menschen gleichkäme? Oder hat er wirklich Zugriff auf die handlungsleitenden Kognitionen des Moments?7 Geht man von einem Ineinandergreifen expliziten Wissens auf Grundlage bewusster Entscheidungen, automatisierten Routinen und habitualisiertem Handeln aus (vgl. ebd.: 229f.), dann schließen sich diese drei möglichen Interpretationen nicht zwangsläufig aus. Habitualisierter Umgang mit dem Instrument führt zu melodischen Erfindungen, denen anschließend reflexiv Sinn zugewiesen wird. Dieser Sinn ist dann die Grundlage weiterer bewusster Entscheidungen. Bei einem hohen Tempo wie im Beispiel beziehen sich solche Entscheidungen allerdings auf größere Einheiten und nicht auf einzelne Töne. Dies würde implizieren, dass die Aufmerksamkeit kontinuierlich zwischen der unmittelbaren Vergangenheit und der Vorausschau auf die unmittelbare Zukunft pendelt; Martin Norgaard (2011: 118) beschreibt eine solche Aufmerksamkeit auf das eigene Spiel als »evaluative monitoring«. Interessant ist auch die Formulierung »die habe ich schon mal häufiger von mir gehört irgendwie«. Mit dieser Aussage wird bzgl. des eigenen Spielens die Perspektive eines Außenstehenden eingenommen. Es könnte sich hierbei einerseits um eine rhetorische Figur der (Selbst-)Darstellung im Rahmen der sozialen Situation Interview handeln. Andererseits bleibt genauer zu untersuchen, inwieweit die Einnahme eines solchen Beobachterstandpunkts gegenüber dem eigenen Tun sowohl auf der Mikro-Ebene im Moment des Improvisierens wie auch auf der Makro-Ebene der längerfristigen Entwicklung des eigenen Stils bedeutsam etwa im Sinne von Norgaards »evaluative monitoring« ist. Zu fragen wäre in diesem Zusammenhang auch, ob es dabei spezifische Strategien des Selbst-Befremdens gibt.
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Methodologisch ergibt sich bei der hier geschilderten Vorgehensweise zusätzlich der Bedarf, den Zusammenhang zwischen musiktheoretischen Ausführungen der Probanden und der (Transkription der) Musik, auf die sich die Äußerungen beziehen, ggf. interpretierend zu rekonstruieren.
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3.2 Kategorien von Improvisation zwischen planvollem und ungeplantem Handeln Bewusste und unbewusste Entscheidungen Zunächst hat sich herausgestellt, dass alle drei Interviewten bewusste und unbewusste Entscheidungen im Improvisationsprozess auf direkte oder indirekte Art und Weise ansprechen. Bewusste Entscheidungen treffen die Musiker hauptsächlich über größere musikalische Strukturen. Dazu zählen alle Parameter, die eine Orientierung für das musikalische Vorgehen in einer Improvisation geben können wie etwa die Wahl der Klangfarbe, die Klangveränderung, die Nutzung von diversen Skalen und verschiedenem Tonmaterial, das Verlassen eines tonalen Zentrums, die Wahl bzw. das Bedienen eines konkreten Spielstils, der Aufbau eines Solos sowie melodische Entwicklungsprinzipien und Guide-Lines (vgl. Back 2016: 43f.). Den Großteil der unbewussten Entscheidungen treffen die Improvisatoren über kleinere Einheiten innerhalb größerer musikalischer Strukturen einer Improvisation. Als Beispiel sei hier angeführt, dass die Musiker sich bewusst für die Wahl einer Klangfarbe oder die Nutzung von Skalenmaterial entscheiden, unbewusst hingegen für die Art und Weise der Klangerzeugung bzw. die konkrete Auswahl der Tonfolgen. Weitere unbewusste Prozesse der Improvisation beziehen sich auf das Entwerfen von Melodiefolgen beim Vertrauen auf die eigene Fingerfertigkeit, das Abrufen und die Auswahl von erarbeitetem Repertoire wie Licks und Ähnlichem (vgl. ebd.: 45-48).
Verwendung von Bausteinen in einer Improvisation Alle drei Musiker äußern in den Interviews, dass sie bestimmte musikalische Bausteine in ihren Improvisationen nutzen, »die halt immer funktionieren und die […] in das Raster dann eben so passen« (Interview 3, S. 3, Z. 14-15, Back 2016: 95). Mit Bausteinen sind also Elemente in einer Improvisation gemeint, die jederzeit abrufbar und in einem bestimmten Rahmen anwendbar sind. Dazu zählen Licks, Fills, Skalen, Ideenrepertoire u.Ä. Die Auswertung der Interviews legt den Schluss nahe, dass insbesondere in Stresssituationen oder für das Spielen schneller Läufe und Phrasen auf selbst erarbeitetes Improvisationsmaterial zurückgegriffen wird. Ein befragter Musiker vergleicht die musikalische Ausdrucksweise in einer Improvisation mit der sprachlichen Ausdrucksweise: Ist man rhetorisch gewandt, kann man sich gut ausdrücken. Um
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JAZZIMPROVISATION ZWISCHEN SPONTANER ERFINDUNG UND ERLERNTEN MODELLEN sich improvisatorisch adäquat ausdrücken zu können, werde ein ausreichendes Ideenrepertoire benötigt (ebd.: 48). Bei der Betrachtung der Ergebnisse über die Verwendung von musikalischen Bausteinen in einer Improvisation fällt auf, dass die Musiker den Bausteinen unterschiedliche Funktionen zuweisen. Bausteine werden als Ausdrucksmittel, Rettungsanker in Stresssituationen, Füllmaterial zum Überbrücken von Ideenmangel, Lieferant für Ideenmaterial (Skalentöne) und virtuoses Element zur schnellen und technisch gewandten Ausführung eines Improvisationsabschnitts genannt (ebd.: 50).
Einflussfaktoren auf eine Improvisation Von allen drei Teilnehmern der Untersuchung werden verschiedene Faktoren genannt, die sich in einer Improvisation auf ihr solistisches Spielen auswirken können. Im Rahmen der qualitativen Inhaltsanalyse konnten diese Faktoren den verschiedenen Bereichen formale Einflüsse, materielle Einflüsse, Einflüsse durch Mitspieler*innen und persönliche Einflüsse der Improvisierenden zugewiesen werden. Formale Einflüsse beziehen sich im Wesentlichen auf die formale Anlage eines Stückes. Gewisse Tonarten und Harmoniefolgen grenzen beispielsweise die Auswahl des Ideenrepertoires ein oder erweitern sie, da sich die Spielerfahrungen und -gewohnheiten bezogen auf bestimmte Tonarten und Changes unterscheiden. Dies hat zur Folge, dass in manchen Improvisationen ein größerer und in manchen ein kleinerer Fundus an nutzbarem Improvisationsmaterial in Form von bereits verwendeten und passenden Motiven, Licks u. Ä. zur Verfügung steht (vgl. ebd.: 51). Ferner wird durch das Arrangement vorgegeben, ob es offene oder zeitlich begrenzte Soli gibt, sodass im ersten Fall ein behutsamer Aufbau und eine behutsame Entwicklung eines Solos in Betracht kommen, während im zweiten Fall die Improvisationsfreiheit dadurch eingeschränkt wird, dass der Improvisierende unter dem Druck steht, innerhalb einer vorgegebenen Zeit sein improvisatorisches Können unter Beweis zu stellen. Ebenso begünstigen langsame Improvisationstempi die Kreativität bezüglich der Entwicklung von Phrasen, was durch die folgende Aussage eines Befragten unterstrichen wird: »Die schöneren Phrasen sind natürlich dann wieder da, wo man eigentlich Zeit hat, zu überlegen« (Interview 3, S. 6, Z.33-34, ebd.: 97). Auch der Stil des Arrangements beeinflusst die Musiker in ihren Improvisationen, indem sie etwa die Wahl des Ton- und Skalenmaterials darauf ausrichten, Klischees zu bedienen oder zu durchbrechen (vgl. ebd.: 52f.).
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ANDREAS BACK UND PETER KLOSE Die materiellen Einflüsse umfassen die Beschaffenheit des Instrumentes sowie die allgemeine Gestalt und Akustik des Aufführungsraumes. Die Interviewten berichten davon, dass die Wahl von Tonverbindungen teilweise von der Bauform und der Konstruktion des Instrumentes abhängig ist. Ausschlaggebend hierfür seien motorisch angenehme oder unangenehme Grifffolgen bzw. Tastenkombinationen (vgl. ebd.: 53f.). Als Einflüsse durch Mitspieler*innen können jegliche Formen von Steigerungen wie die Erhöhung der Begleitlautstärke oder das Neueinsetzen weiterer begleitender Mitspieler*innen, das Spielen von bestimmten BegleitVoicings in Kombination mit einem bestimmten Basston und die gesamte Spielstilistik der Band genannt werden (vgl. ebd.: 54f.). Des Weiteren können sich persönliche Faktoren auf eine Improvisation auswirken. Diese schließen Gewohnheiten, persönliche Klangvorstellungen (s. iv), individuelle Vorerfahrungen durch eine spezifische Ausbildung im Bereich der Improvisation, einen persönlichen Bezug zum Arrangement oder auch die Anzahl der bereits durchgeführten Improvisationen in einem Stück, Emotionen und die Beherrschung des Instrumentes ein (Interview 3, S. 6, Z. 33-34, vgl. ebd.: 55-57).
Leitideen einer Improvisation: Klangvorstellungen, theoretische Zugänge Die Analyse der Interviews lässt den Schluss zu, dass eine Improvisation stark von den individuellen Klangvorstellungen der jeweiligen Improvisierenden geleitet wird. Verhältnismäßig oft nennen die Befragten die Begriffe Klangvorstellung, Klangideal, Klang und Sound, wenn es um die Beschreibung ihrer Improvisationen geht. Insgesamt unterstreichen die Musiker in den Interviews den hohen Stellenwert von Klangvorstellungen in einer Improvisation: Einerseits haben sie konkrete Assoziationen wie einen schreienden oder mixolydischen Klang als Klangvorstellung und andererseits verbinden sie Harmonien oder Skalen mit bestimmten Klangvorstellungen (vgl. ebd.: 57f.). Als eine weitere Kategorie leitender Ideen haben sich theoretische Zugänge zu einer Improvisation herausgestellt. Alle Improvisierenden nutzen im Vorhinein oder im Verlauf einer Improvisation theoretische Überlegungen, um eine Eingrenzung des zu gebrauchenden Tonmaterials vorzunehmen. Es fallen Aspekte wie Outside-Konstruktionen, Terz-Konstruktionen, Ausbrechen aus Schemata, Nutzung von Akkorderweiterungstönen und sogenannten upper structures sowie die passende Skalenwahl zu den Begleitharmonien (vgl. ebd.: 58-60).
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JAZZIMPROVISATION ZWISCHEN SPONTANER ERFINDUNG UND ERLERNTEN MODELLEN
Neuartiges in Form von spontanen Ideen In den Videomitschnitten und den Interviews finden sich Hinweise auf spontan entstandene Ideen, die sich in drei Klassen einteilen lassen: spontan erdachte Phrasen, allgemeine Inspirationen und spontane Ausführung von Erlerntem. Mit spontan erdachten Phrasen werden musikalische Phrasen bezeichnet, die in einer Improvisation neu kreiert werden. Dies lässt sich möglicherweise in der Terminologie von Alfred Schütz als eine reflexive Ausdeutung spontanen Verhaltens (in Form eines Zusammenspiels von Körper und Musikinstrument) verstehen, das durch die umgehende Sinnzuweisung im Fluss des Spielens zum musikalischen Handeln wird. Eine aus implizitem, inkorporiertem knowing how des Instrumentalspiels resultierende Folge von Klängen wird auf diese Weise direkt im Anschluss durch Reflexion mit einem Handlungsentwurf in Einklang gebracht, der auch als um-zu-Motiv für weitere Musizierhandlungen trägt (vgl. Bongaerts 2008: 228f.). Unter allgemeinen Inspirationen werden spontane Gedanken zur Gestaltung des Improvisierens aus zuvor gespielten Phrasen oder Motiven verstanden. Damit können Wiederholungen von Motiven, die Wahl des Tonmaterials und der Tonlage sowie die Umsetzung von Klangvorstellungen gemeint sein. Die spontane Ausführung von Erlerntem umfasst überwiegend die spontane Anwendung der oben beschriebenen musikalischen Bausteine einer Improvisation (vgl. Back 2016: 60f.).
4 . F a z i t u nd A us b l ic k Auch wenn die vorliegende Studie schon allein vom Umfang her nicht als zuverlässige Validierung von Befunden und Hypothesen anderer Forschung herangezogen werden kann, bietet sie dennoch Hinweise und Anknüpfungspunkte für eine weitere qualitativ-empirische Erforschung von (Jazz-)Improvisation, und zwar sowohl in methodologischer wie inhaltlicher Hinsicht. Es kann festgehalten werden, dass sich die Methode des Video-Stimulated-Recall-Interviews dazu bewährt hat, dem inkorporierten und implizierten Improvisationswissen ebenso wie den expliziten Wissensbeständen einzelner Musiker auf die Spur zu kommen und einen Zugang zur musikalischen Praxis des Improvisierens zu finden. Den Musikern scheint es mit Hilfe der Videoaufzeichnungen gelungen zu sein, ihr musikalisches Handeln und die den Improvisationsprozess leitenden Gedankengänge zumindest in Teilen zu rekonstruieren und zu reflektieren. Allerdings hat sich im Nachhinein gezeigt, dass
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ANDREAS BACK UND PETER KLOSE nicht immer eindeutig zwischen der Rekonstruktion der handlungsleitenden Kognitionen und einer Reflexion des eigenen Handelns getrennt werden kann: Es ist nicht eindeutig zu beurteilen, ob der Interviewte gerade seine Gedankengänge während des Improvisationsprozesses selbst beschreibt oder ob er sein eigenes musikalisches Handeln eher a posteriori aus einer Beobachterperspektive analysiert und erläutert. Hierzu bedarf es einer Weiterentwicklung der Methode. Stegmaier weist in Bezug auf seine eigene autoethnographische Vorgehensweise darauf hin, dass nicht nur »das subjektive Wissen anderer Menschen dem Forschenden nicht gänzlich und nicht direkt zugänglich ist« (Stegmaier 2012: 314), sondern dies auch für den Versuch gilt, dem eigenen Wissen in actu auf die Spur zu kommen (ebd.; vgl. auch Figueroa-Dreher 2016: 160ff.). Vor diesem Hintergrund weisen unterschiedliche Forschungsperspektiven auf das Improvisieren in jeweils verschiedener Hinsicht Desiderate auf: Figueroa-Drehers etwa hat als forschende Nicht-Musikerin einen Blick von außen (ebd.: 161), Stegmaier ist methodologisch geschult, muss aber als Saxophonist und native der Praxis Jazz mit Mitteln des Befremdens arbeiten (Stegmaier 2012: 314) und die von Berliner befragten Jazzmusiker sind ebenso wie die in dieser Studie teilnehmenden Musiker zwar Experten ihrer eigenen Praxis, bei denen aber ungeklärt bleibt, wie weit sie zu ihrem eigenen Wissen Zugang haben. Eine Alternative und Ergänzung zu den bisherigen Herangehensweisen könnte also z.B. eine methodologische Schulung von Jazzmusiker*innen als Expert*innen sein, um sie anzuleiten, ihrer eigenen Expertise introspektiv — ähnlich Liebman et al. (1977) — auf den Grund zu gehen. Des Weiteren könnte eine Veränderung der Interviewsituation in Erwägung gezogen werden: Wenn den Befragten die Möglichkeit dazu eröffnet wird, ihre während der Aufzeichnung des Videos gespielten Phrasen auf dem eigenen Instrument nachzuspielen, könnte dies über die motorischen Abläufe möglicherweise die Rückerinnerung an die Improvisation unterstützen und ggf. optimieren. Hierbei könnte bei Instrumenten wie Gitarre oder Saxophon auch eine weitere Kameraperspektive hilfreich sein, die auf die Finger des jeweiligen Solisten ausgerichtet ist, ebenso wie eine aufwändigere Form der Audioaufnahme, die über getrennte Spuren auch im Nachhinein eine optimierte Tonqualität für das exakte Abhören jeden einzelnen Instruments erlaubt. Gegebenenfalls könnte weiterhin eine Kooperation mit Neurowissenschaftlern angestrebt werden, um qualitativ-empirisch gewonnene Ergebnisse z.B. mit Hilfe bildgebender Verfahren zur Untersuchung neuronaler Prozesse im Sinne einer Methodentriangulation zu untermauern. In Bezug auf die Forschungsfrage bestätigt sich die Vermutung, dass Improvisationen größtenteils eine Kombination aus erlernten Modellen und
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JAZZIMPROVISATION ZWISCHEN SPONTANER ERFINDUNG UND ERLERNTEN MODELLEN spontanen Ideen sind. Die Befragten greifen explizit auf erlernte Modelle zurück, indem sie eine große Anzahl an bewussten Entscheidungen über die Stilistik, die Wahl des Tonmaterials in Form von Licks oder Skalen und das Ausbrechen aus einem tonalen Zentrum fällen. Solche theoretischen Vorwissensbestände erscheinen unabdingbar, wenn es um das Bedienen einer Spielstilistik, die Nutzung von zu einem Harmonieschema passenden Tonmaterial und um die bewusste Ausführung von Inside- und Outside-Spielen geht. Diese Rahmung der Improvisation durch teils auch schon a priori gefällte bewusste Entscheidungen fügt sich in Stegmaiers Prinzip: »planvoll unplanvoll Handeln« (ebd.: 339). Erlernte Bausteine können im Rahmen einer Improvisation dagegen als vormals bewusstes, automatisiertes und insofern implizit verfügbares Wissen angesehen werden. Beispielsweise müssen gewisse Tonfolgen, Licks und Fills zunächst abgespeichert werden, damit sie in Improvisationen »als Ausdrucksmittel, Rettungsanker, Quelle für passendes Tonmaterial, Füllmaterial oder virtuoses Element einsetzbar sind.« (Back 2016: 63). Faktoren wie ein schnelles Improvisationstempo und die Vorerfahrungen mit einem bestimmten Stück begünstigen einen solchen Rückgriff auf Erlerntes. Es hat sich gezeigt, dass sich bei den Improvisierenden zum Teil unbewusst Gewohnheiten etablieren, indem in oft gespielten Stücken ähnliche Phrasen, Anfänge und Enden, GuideLines und ein ähnlicher Aufbau des Solos gewählt werden. In einem solchen Zusammenhang kann man also eher von spontaner Ausführung von bereits Erdachtem anstelle von unmittelbar spontaner Erfindung sprechen. Andere Einflüsse können hingegen die spontane Erfindung bestärken. Während ein schnelles Improvisationstempo das Abrufen von erarbeitetem Repertoire begünstigt, fördert ein langsameres die spontane Kreation von Melodien und Phrasen. Darüber hinaus sind die Emotionen von Improvisierenden und die Einflüsse durch Mitspieler*innen, aus denen sich ein Wechselspiel zwischen Solist*in und Begleitband ergeben kann, der spontanen Erfindung zuträglich. Zudem werden die Solist*innen erfinderisch dadurch tätig, dass sie spontan einen Gesamtklang kreieren, der sich aus dem selbst erzeugten Klang und dem Klang der Begleitband zusammensetzt. Ist das Ergebnis einer solchen Interaktion im Fluss des Spielens, bei der die Musiker*innen letztlich nicht wissen können, was die Mitspieler*innen im nächsten Moment spielen, reiner Zufall, oder lassen sich möglicherweise gerade hier auch Spuren implizit erworbenen und ebenso implizit angewendeten Körper- und Handlungswissens finden? Für eine theoretische Grundlegung von Improvisationsforschung ist also weiterhin ein Begriff musikalisch-improvisatorischen Handelns nötig, der es erlaubt, das Wechselspiel zwischen implizitem, inkorporiertem knowing how
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ANDREAS BACK UND PETER KLOSE und reflexivem Handeln auf der Basis von expliziten Wissensbeständen abzubilden. Gregor Bongaerts führt habituelles, präreflexives Wissen und den Handlungsbegriff von Schütz in einem Modell zusammen, das dafür geeignet erscheint (Bongaerts 2008: 230). In Bezug auf den Unterschied zwischen einer musikalisch konventionalisierten Praxis von Jazz als Standard-Improvisation und dem in musikalischer Hinsicht geöffneten Free Jazz weist Stegmaier darauf hin, dass Free Jazz im handelnstheoretischen Sinn durchaus nicht frei ist (Stegmaier 2012: 338), so wie Ekkehard Jost dies schon 1975 für die strukturelle Dimension dieser Musik feststellt (Jost 1975: 11). Daran anknüpfend wäre es für ein zu entwerfendes musik- und improvisationsbezogenes Handlungsmodell also wichtig, zwischen den Dimensionen des musikbezogenen Handelns und der Dimension musikalischer Strukturen zu differenzieren. In beiden Dimensionen können sich in ganz unterschiedlichem Maße Regelmäßigkeiten und Konventionen sowie eine spezifische Dynamik entwickeln; nicht nur für die Musiker*innen, sondern auch in Bezug auf das Vorverständnis von Forscher*innen ist wichtig zu klären, in welcher Dimension man den Wesenskern dessen, was man als Improvisation ansieht, verortet. Die Auswahl der improvisierenden Probanden — in den vorliegenden Studien reicht das Spektrum von Flamenco über freie Musik und Free Jazz bis hin zu dem Spiel von Jazzstandards und Rock — ist daher auch methodologisch gesehen eine zentrale Entscheidung im Rahmen von Improvisationsstudien.
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Abstract This article proposes video stimulated recall interviews as a method in research on improvisation. Assuming a categorization of approaches in prescriptive, descriptive and practice orientated models of improvisation the authors argue towards a focus on the actual situation of musical action and interaction without neglecting the formative role of shared knowledge concerning music theory, stylistic conventions and material conditions of improvisation. The article discusses video stimulated recall interviews on a methodological background in comparison to other studies. Furthermore, it presents findings of a recent qualitative empirical study by Andreas Back (2016): A fusion band was filmed on performance in a jazz club; three members were shown the recordings and interviewed right after the concert.
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A N AL YZI N G TE XTU R E I N RO CK MU S I C: S T R A T I F I C A T I O N , C O O R DI N A T I O N , P O S I T I ON , P E RS P EC T I V E 1
AND
J o hn C o va c h This article will explore aspects of texture, a musical dimension that is often overlooked or relegated to secondary status in much music-theoretical and music-analytical writing.2 Often when we think of music, and especially when we read it or imagine it in terms of a printed score, we conceive of a kind of a two-dimensional object—perhaps like a painting. We usually assume that there is a particular viewing angle on a painting, and though we may move from side to side as we contemplate it, this is ultimately an expanded single view rather than a number of distinct angles. When it comes to thinking about and listening to musical texture, we might imagine that the best position— acoustically or intellectually—is where everything can be heard equally. And while the sound from the conductor's podium may be ideal, music can also be something more like sculpture or even architecture: there are a number of angles from which to understand a musical texture and we can even in a certain sense »get inside« the music—walk around in it and appreciate it from different perspectives with no particular position taking precedence. In the discussion that follows, it will be useful to distinguish »texture« from »instrumentation,« »orchestration,« or »arrangement.« While these dimensions can be closely linked and even interdependent, texture will here be understood to address the structural relationship of parts or layers in the music to one another—parts or layers that might remain in the same structural relationship even if elements in the instrumentation, orchestration, or arrangement were changed.
1
2
An earlier version of this article was presented at the conference, Populäre Musik und ihre Theorien, Universität für Musik und darstellende Kunst, Graz, Austria; and as part of the Music Theory Colloquium of the Robert Samels Visiting Scholar Series, Jacobs School of Music, Indiana University, Bloomington. For a thoughtful exploration of texture in classical music, as well as the history of its use as a technical term, see Dunsby (1989).
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JOHN COVACH This article seeks to encourage a greater awareness of issues of texture, and to emphasize how such an increased awareness can affect the ways in which we hear, perform, imagine, and ultimately analyze music. We will concentrate primarily on examples of musical texture drawn from rock music, though some examples taken from other pop styles are also included. As we examine aspects of musical texture, we will first distinguish between »coordinated« and »stratified« textures, defined by the ways in which elements in a texture can interact structurally. We will then explore the possibility of »positional listening,« with emphasis on how textures can be construed in a variety of ways depending on the listener's and performer's focus of attention. Finally, we will consider the idea of »analytical perspectivism« and examine how various and even contrasting analytical »positions« may be negotiated. All of this will bring us back to the sculpture versus painting analogy, which hopefully will have become a bit clearer along the way.
A p p r o a c h es t o T e x t ur e : O p p o s it io ns A useful distinction may be drawn—if only in a preliminary manner—between what we might call »traditional« and »alternative« approaches to texture. In a traditional approach, we strive to hear all the parts in a texture at once. Certain complex or complicated pieces may make this quite difficult to do (as in four-voice contrapuntal pieces or dense orchestral passages, for instance), but nevertheless we try to hear everything. Even when we cannot quite accomplish this, we still wish we could. In such instances we may adopt the »Ideal Listening Position« (ILP), which means that we—at least implicitly— posit a single position from which to understand the musical texture—a kind of musical God's-eye view. In a traditional approach to texture, all voices are coordinated vertically and thus focusing on the entire texture allows one to perceive and appreciate the coordinated structure. In tonal music, this means that no matter where we might freeze the music as it unfolds, we can always account for how each note is related to the prevailing harmony and/or counterpoint. Dissonance may be controlled, but in any case, we depend on the notion of coordination to determine dissonance and consonance, chord tones and non-harmonic tones. In much atonal and twelve-tone music, coordination is also assumed and we are able to make vertical connections within the texture at any point, finding referential sonorities and motivic relationships between parts, for instance. An alternative approach arises when we focus on some parts or layers in the texture more than others. Rather than adopting a single ILP, we hear the
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ANALYZING TEXTURE IN ROCK MUSIC music from a particular point in the texture—and there may be multiple such points within any given texture. This alternative approach is familiar to performers, who frequently listen to the music differently than an audience member would—sometimes by necessity, but also sometimes by choice. The term »position« may be used to capture a conceptual point of orientation in listening (not a specific physical location) and we may call this aspect of the alternative approach »positional listening.« In addition, some textures may be less coordinated than others, consisting of layers that do not reduce down to a single harmony, contrapuntal relationship, or referential sonority or motivic collection. In fact, forcing such a reduction between layers in the texture might threaten to do a certain violence to the music and ultimately misrepresent the listening experience. We may employ the term »textural stratification« to describe this kind of layered texture. We are thus faced with a pair of dualities: coordinated structure versus textural stratification; and ILP versus positional listening.
T ex t ur a l S t r a t i fi c a t io n We will return to positional listening later in our discussion; for now, let us focus on textural stratification. Textural stratification occurs when parts in a texture cannot be satisfactorily reduced to a single coordinated structure. A basic form of this kind of layering has been labeled the »melodic-harmonic divorce.« This term was coined by Allan Moore (1995), who cites Peter Winkler (1978) for noting the idea first in print, though Winkler does not use the term »divorce.«3 David Temperley (2007) and Drew Nobile (2013) have further explored this type of layering. The melodic-harmonic divorce occurs when notes in the melody do not align with the harmony that accompanies them. Example 1 provides Temperley's analysis of Steve Miller Band's »Rock'n Me« 3
As Moore (1995: 189) notes, Winkler describes the independence of the melody from the harmonic accompaniment in Schenkerian terms. In discussing a passage from »The Entertainer« by Scott Joplin, Winkler writes: »The melody simply treats this background harmony as if it were foreground and elaborates it directly. Thus, the background is elaborated in two different ways simultaneously. The ear accepts the clashes along the way because the two parts coincide at the crucial points, and because each part makes sense by itself« (1978: 16). Moore also cites Peter Van der Merwe in a similar context. While considering two excerpts by Franz Schubert, for instance, Van der Merwe remarks: »In these two examples we see melodic patterns beginning to assert their independence over harmonic ones. Instead of the melody simply following prevailing chords, independent melodic patterns begin to appear which live a life of their own regardless of what the harmony happens to be doing« (1989: 226).
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JOHN COVACH (1976). The harmony to this verse section moves from I to bVII then to IV and back to I in B; the example provides only the move from I to bVII. The melody clearly employs the B-major pentatonic collection, here with an inflected third scale degree, not shown in the example but clear in the recording. The melodic-harmonic divorce arises in measures 3 and 4, where the melody securely remains within the B-major pentatonic collection while the harmony moves to bVII. Any attempt to classify these melodic notes as non-harmonic tones in terms of the bVII harmony seems wrong. Instead, Temperley posits a harmonic layer and a melodic layer, both in B but not reducing down in the way a coordinated texture would.
Example 1: Melodic-harmonic divorce in Steve Miller Band's, »Rock'n Me« (1976); Temperley (2007)
The weakness in the melodic-harmonic divorce as Temperley and Nobile use it is that it only accounts for two layers. In their use, the entire accompaniment is reduced down to a single coordinated textural layer, with the melody comprising a second layer when a divorce is present. It can often happen, however, that there are various »divorces« present in the accompaniment as well, and the harmonic-melodic divorce cannot capture this increased level of stratification. Example 2 shows an excerpt drawn from one of the verses in Yes's »Close to the Edge« (1972) (Covach 1997). In this passage, the electric sitar and vocal are in 12/8 while the electric bass and drums are in 4/2. Each part repeats after two measures in its respective meter and the two layers re-align metrically after four guitar/vocal phrases and three bass/drum phrases. While the electric sitar plays a progression that moves from i to bVII to i and then ii, employing the Dorian mode, the vocal melody does not align within this layer. Against this, the bass line, also in the Dorian mode, does not align with either the sitar part nor with the vocal melody. We thus can detect two layers stratified rhythmically, and a three-way split in the melodic-harmonic domain. The »divorce« exceeds the simple-two-way split
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ANALYZING TEXTURE IN ROCK MUSIC found in Example 1, providing a clear example of textural stratification. We will return to this example later in our discussion of positional listening.
Example 2: Stratification in Yes, »Close to the Edge« (1972); Covach (1997)
Before moving on to consider stratification in more detail, it will be useful to explore some examples in which stratification might seem to be present but is not, giving rise to »apparent stratification.« For these examples, we will move outside the rock style. Example 3 shows the beginning of Harold Arlen and Yip Harburg's »If I Only Had a Brain« from the 1939 film musical, The Wizard of Oz. The brackets in the first two measures draw our attention to a melodic sequence that occurs between these two measures. The first of these outlines a D-major tonic triad, while the second seems to outline a B-minor triad. Against this, however, the harmony outlines a stylistically typical I – ii – V – I progression. In the second measure of this example, then, the B-minor triad in the melody and the ii to V movement in the accompaniment might seem to be in conflict. Most listeners, however, are not likely hear such a conflict. Most will hear the B-minor triad notes as harmonic extensions of the ii and V chord, indicated by the ii9 and V11 markings in the example. It is worth pausing to consider why this perception of harmonic extension seems so obvious here, when a melodic-harmonic divorce in a similar situation also seemed so obvious in the Steve Miller example. Perhaps these differing interpretations arise because harmonic extensions are normative in musical theater and pop styles of the pre-rock era, while some form of stratification is common in rock; in many instances, style can indeed play a role in determining how we hear textures. »If I Only Had a Brain« is thus a coordinated texture. Non-chord tones in the melody alone, even when they project a melodic sequence seemingly at odds with the supporting harmony, are not enough to result in a melodic-harmonic-divorce nor produce textural stratification.
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JOHN COVACH
Example 3: »If I Only Had a Brain« (Arlen and Harburg), from The Wizard of Oz (1939)
A second pre-rock example, this time taken from Rodgers and Hammerstein's Oklahoma! (1943), illustrates another kind of »apparent stratification.« The melody to »I Cain't Say No« is set to a recurring two-measure, four-chord vamp, which acts as a »loop« (Tagg 2016, Nobile 2013). In rock, the presence of such a loop often signals that at least some element of stratification might be present. But as Example 4 shows, that is not the case here. The melody notes are mostly coordinated with the accompanying loop. The only melody note that is not a chord tone is the C over ii 65 (mm. 4 and 8 in the example), and this is easily seen as a chord tone in the I and V chords that frame the harmonic loop. The resulting texture is a coordinated structure.
Example 4: »I Cain't Say No« (Rodgers and Hammerstein), from Oklahoma! (1943)
Having now considered examples that are stratified and others that are not, let us examine a few instances that might give rise to different analyses even among those well versed in rock textures. Example 5 provides an analysis of the introduction to the Rolling Stones' »(I Can't Get No) Satisfaction« (1965). The song begins with the famous fuzz-tone guitar riff, tracing out a stepwise melodic path from scale-degree 5 to b7 and back. Against this, the bass moves from the first scale degree to scale-degree 4, creating a moment in which the D in the fuzz guitar sounds above an A in the bass. The acoustic guitar strums the I chord to start, moving to bVII at that D-against-A moment, and then
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ANALYZING TEXTURE IN ROCK MUSIC moving to the IV chord to produce a double plagal succession when I arrives to re-start the two-measure pattern. Experienced listeners may well differ regarding how coordinated or stratified they find these three parts, especially in light of the moment indicated by the second arrow in Example 5. If one hears this introduction as stratified, each part will be heard to move from a kind of »home base« (first arrow) to an »away place« (second arrow) and back again: the guitar from scale degree 5 to b7 and back, the acoustic guitar from I to bVII and back, and the bass from scale 1 to scale degree 4 and back. The moment indicated by the second arrow is not dissonant from this perspective, but not coordinated either (it is not dissonant precisely because the texture is not coordinated). If one hears the passage as coordinated, then the moment indicated by the second arrow is indeed dissonant in a traditional structural sense, resulting in an unstable bVII 64 chord, which then resolves into a root-position IV as the acoustic guitar cycles back towards tonic.
Example 5: The Rolling Stones, »(I Can't Get No) Satisfaction« (1965)
Example 6 shows Walter Everett's (2001) graph of the Beatles' »Help!« (1965). This song employs the »Beatles contrasting verse-chorus« form (Covach 2005 and 2006), which is a contrasting verse-chorus form in which there are two versions of the chorus (usually one at the beginning and a second in the rest of the song). Other instances of this form occur in »She Loves You,« »Can't Buy Me Love,« »I'm a Loser,« and even »Eleanor Rigby« (both Lennon and McCartney employed this form). Everett labels the first chorus as »introduction« (see the boxed letter A) and the second version as »chorus« (see the boxed letter D), but the similarity between the two is very clear from his graph. Note especially the second chorus, which is enclosed in a box in the example. Lennon's vocal note at the beginning of the chorus is a kind of recitation tone on the fifth scale degree, E. This is a logical extension of Lennon's C# recitation tone from the verses; but when the E arrives at the start of this chorus it is accompanied by the ii chord, a B-minor triad. Everett takes this texture to be coordinated, and this causes him to cast this E in the melody as an upper neighbor to D, which is indeed consonant with the ii chord. But it is
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JOHN COVACH also possible to view this passage as partly stratified (in the sense of a melodic-harmonic divorce) and that the E is in fact the important structural tone in the melody in this chorus (not an upper neighbor to D), ultimately working its way down to A at the cadence. Similarly, one can also hear the E as the important note over the following chord, IV (or G major). It is not until the accompaniment arrives at the V chord (E major) that the E falls into coordination. If one wanted to combine this latter reading with Everett's to produce a third possible reading, one could take the E as a large-scale anticipation to the structural support provided by the arrival of the V chord. But in either of these latter two cases, the D is less structurally stable than the E.
Example 6: The Beatles, »Help!« (1965); Everett (2001)
Example 7 shows Everett's (1999) graph of the Beatles' »Lucy in the Sky with Diamonds« (1967). This song resists analysis in a single key. It is cast in a contrasting verse-chorus form with a pre-chorus. The verse is in A, the prechorus wanders from Bb to D, and the chorus is mostly in G, though ending in A. As one can see in the example, Everett takes the song in G overall. For purposes of our present focus on multiple interpretation, let us pause to consider the pre-chorus, which Everett labels »transition« (enclosed in a box in the example) and explore how Lennon's vocal relates to the harmonies that seem to support it. Once again, the melody is built on a recitation tone—a kind of vocal pedal point—and the chords shift beneath it. As the D sounds in the vocal it is supported by a Bb-major triad, then a C-major triad, and then an F-major triad. The phrase ends with Lennon sliding down to a Bb as a Bbmajor triad returns. He returns to the D against a C-major triad, and then against a G-major triad, before moving scale-wise down to A, accompanied
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ANALYZING TEXTURE IN ROCK MUSIC by a D-major chord. The D in the melody is not always a non-chord tone, but when it is not one of the notes in the chord that supports it, we might wonder if this is a situation similar to the one in »If I Only Had a Brain« discussed above. Are these non-chord notes simply harmonic extensions? It is possible to argue plausibly that they are not harmonic extensions and that this passage is at least partially stratified—that collapsing the melody note into the chord does a certain violence to the texture.
Example 7: The Beatles, »Lucy in the Sky with Diamonds« (1967); Everett (1999)
P o i nt s o f C o o r d i na t io n , S p a ns , a nd T ex t ur a l R hy t h m Thus far we have considered two examples where the melodic-harmonic divorce and textural stratification were clear, examined two more examples where one might suspect stratification to be present but is not, and explored three examples that are open to multiple interpretation in terms of texture. Let us turn now to an example where stratification is clear in order to advance our discussion beyond simply identifying when stratification is present, moving to considerations of how stratification can operate once we are confident it is in play. Example 8 provides a transcribed score for Yes's »Roundabout« (1971), and Example 9 provides an analysis of the relationships between the layers.4 We will focus on the first verse of the song, along with the lead-in to the singing for both this first verse and the second verse. The texture is made up
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The following analysis summarizes points made in Covach (2014). See also Covach (2013, 2016). For a discussion of stratification in the music of Benjamin Britten, see Rupprecht (1996).
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JOHN COVACH of three layers: the bass plays a one-bar ostinato pattern in E minor, walking up scale-degrees 1, 2, and 3, and then including a pentatonic flourish up to scale-degree 1. The guitar employs a progression that moves from i to ii to bIII and back, in the Dorian mode and only partially coordinated with the bass. The lead vocal, which is not coordinated with either the guitar or the bass, traces a path up to the second scale degree, perhaps resolving to the first scale degree. The F# in the vocal melody could easily be heard as the ninth of the chord. But whether one hears this note as a harmonic extension or as an upper neighbor seeking resolution, the question arises: where exactly is the harmony against which the analyst is making that decision? There is no sustained tonic chord in this passage—at least not in the foreground.
Example 8: Yes, »Roundabout« (1972), transcribed score
Example 9: Yes, »Roundabout,« stratification and coordination in verse sections
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ANALYZING TEXTURE IN ROCK MUSIC Up to this point, emphasis in the discussion of stratification has been placed on the absence of coordination; but complete absence of coordination is rarely the case in most rock music in a strict sense. All of the examples considered to be stratified in this article, for instance, are to some extent coordinated in many ways. Most share a common time signature, though even those that do not share a time signature at least share a common pulse. All are also in the same key—when a key can be determined, that is—and the dissonances produced by stratification are often not particularly jarring and are most often constitute some form of pan-diatonicism. Cross relations can be found, but stratification tends to obscure these when they occur between layers, since the specific notes involved frequently do not relate directly to one another. Stratification, then, is perhaps best understood not as an absence of coordination but rather as a looser form of coordination. And once a stratified texture is identified, the next task is to identify the duration of the stratification: is there a point where the levels re-align? In the case of »Roundabout« and Examples 8 and 9, that point initially happens every two measures. We may call this moment of alignment the »point of coordination« and the length of the stratification occurring between points of coordination will be its »span.« To return once more to that F# in the vocal melody: determining its status as a ninth or as an upper neighbor requires hearing that note against the point of coordination and not necessarily against any specific or individual chord. The discussion thus far might also have implied that once a section is identified as stratified, it will be found to be stratified throughout that section. This is often not the case, however. A shift between stratified and coordinated passages can occur both between sections and within them. In »Roundabout,« for instance, the stratified two-bar spans described above give way to coordinated material at the end of the verse. In Example 9, an arrow is used to mark the point of coordination in the passage analyzed on the left (the two-bar span). When the harmonic succession i – ii – bIII moves to A minor, note that the bass locks in with the chords in the guitar, and this is shown with a series of arrows marking these points of coordination. With the vocal line holding on to a high A (a melodic pedal tone), this latter passage is clearly coordinated. This shift from stratified to coordinated textures creates a kind of »textural rhythm«—something akin to what Temperley (2007) has identified as »loose verse-tight chorus« in his discussion of the melodic-harmonic divorce. In fact, Temperley's scheme is just one of many that can arise in rock music, both within and between sections.
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De g r e es o f C o o r d i na t io n Let us take a moment to consider the range of textures—at least in a theoretical sense—that might be possible. On one end of the spectrum we might imagine the type of coordinated texture we are accustomed to from European common-practice music of the eighteenth and nineteenth centuries. At the other end we place full stratification, which features no point of coordination beyond an initial one; this is simply musical material sounding simultaneously. The progression from coordinated structure to full stratification occurs as coordination is gradually loosened (Covach 2014). Coordinated structure: Traditional harmonic-contrapuntal texture. Momentary stratification: Within an otherwise coordinated texture, a brief passage of stratified texture may arise that cannot satisfactorily be normalized according to traditional principles but that does not significantly disrupt the overall coordination of the texture. Pedal point: Upper parts operate according to traditional principles, but the static part (usually but not always in the bass) is isolated, creating two layers temporarily. Ostinato: Similar to pedal point, but with notes in the ostinato figure (usually but not always in the bass) relating to one another primarily within that layer, secondarily to the other layer. Melodic-harmonic divorce: Similar to ostinato, but with a melodic part replacing the ostinato figure as melody; still in two layers: melody and accompaniment. Textural stratification: Similar to melodic-harmonic divorce, but with accompaniment composed of two, but often also three or more layers. Full stratification: Layers of simultaneously sounding material with no recurring point of coordination beyond an initial one. These seven degrees of stratification can be reduced to three, of which two, coordinated structure and textural stratification, are useful for our discussion. The transition point from coordinated structure into textural stratification comes between pedal point and ostinato:
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ANALYZING TEXTURE IN ROCK MUSIC Coordinated structure: Includes traditional coordination, momentary stratification, and pedal point. Parts and layers are always directly relatable to one another. Textural stratification: Includes ostinato, melodic-harmonic divorce, and textural stratification; points of coordination create spans. Full stratification: No coordination or points of coordination beyond an initial one.
P o s it io na l L i s t e ni ng a nd P o s it i o na l A n a l y s is We began this discussion by considering the differences between painting and sculpture and with the possibility of getting inside a musical texture—walking around in it and appreciating it from different angles, with none of these angles constituting a privileged position. Stratified textures allow us to imagine this a little more easily, because textural stratification sometimes makes it difficult to hear everything—and even when we can, we are forced to hear it from an orientation that privileges one layer or another. Positional listening refers to a mode in which we focus on some layer or instrumental part within a texture and hear everything else in relationship to this point of textural focus. In a sense, what we hear depends on where we »stand« (understood in a figurative sense).5 The idea that we are able to isolate various »streams« in music as we listen has been much discussed by music cognition scholars, as chronicled by Betsy Marvin (2016). Building on Albert Bregman's work on auditory scene analysis (1990 and 2008; Bregman and McAdams 1979), researchers have explored how we are able to isolate, say, an electric guitar part within a fairly dense texture. The »cocktail party« example is often cited: when speaking with friends at a noisy cocktail party or reception, we are able to isolate the voices of our friends as they speak while simultaneously suppressing the other voices and noise in the room. Research suggests that this is a way of focusing our aural attention—something that people can do quite readily but that is very difficult to program computers to do. Streaming is a complicated and complex cognitive activity that is nevertheless mostly transparent to humans.
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For discussions of similar approaches, see Berger (1997, 1999), Bruford (2016, 2018), and Klorman (2016). See also Clarke (2005: pp. 91-125 and 182-188 especially) for discussions of listening position and texture that differ in some ways from the ones presented here.
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JOHN COVACH It is clear that musicians engage in cognitive streaming routinely, both aesthetically (as listeners to music) and in performance. Such positional listening may be defined as the purposeful suppression of some element in a texture to create increased focus on other element(s). The word »purposeful« is employed here because this activity assumes all elements of the texture are available to a listener.6 In analysis, we usually assume the Ideal Listening Position (ILP). In fact, we have mostly adopted the ILP in discussing the musical examples presented thus far. Positional analysis, by contrast, tries to capture and examine a sense of textural multi-dimensionality. It is an approach that begins by defining a place within the texture and working out from there. And though we have been focusing primarily on stratified textures in this discussion, positional listening can occur in listening to and performing rock music that is coordinated as well.7 Texture stratification makes positional listening more obvious, but positional listening is not restricted to stratified textures. In order to gain a greater sense of how positional listening can occur in performance, let us return to the example drawn from Yes's »Close to the Edge« (Example 2). The reader may recall that in this passage the electric sitar and vocal are in 12/8, while the electric bass and drums are in 4/2. In terms of meter, the point of coordination between these two layers occurs after the 12/8 layer is played four times and the 4/2 layer is played three times—a span of forty-eight eighth notes. Within the electric sitar and vocal layer, these two parts are stratified in terms of harmony and melody (divorce), with a point of coordination that occurs every two measures of 12/8, creating a span of twenty-four eighth notes. In performance, the guitarist and singer are likely to lock in with one another metrically and mostly suppress the 4/2 meter in the bass and drums. The bassist and drummer, on the other hand, are likely to lock in with one another in 4/2 and suppress the 12/8 in the voice and sitar. The listener, by contrast, is free to opt for a listening position that takes all of this stratification in, perhaps striving for the ILP, much like the producer and recording engineers do in the recording studio or the front-of-house engineer does in a concert setting. It can often occur in live performance that the listening positions of the musicians will each differ from one another while their ensemble performance creates a texture that 6
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The reader is reminded that a »position« as employed here is not a physical position such that certain instruments are louder or softer than others by virtue of placement in some physical space. A position here refers to the listener’s focus of attention: one achieves a position by focusing on some elements and suppressing others while all elements are available. For a fuller discussion of positional listening and analysis, see Covach (forthcoming).
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ANALYZING TEXTURE IN ROCK MUSIC can be heard from the ILP.8 In addition, just as textures can shift from stratified to coordinated, so too can the performer's listening position shift during the course of a single performance, or even between individual performances of the same song (McCandless 2016). Positional analysis attempts to capture such differences without resolving them into a single position. Position and shifting can be driven by the texture and the demands of performance, but this is not always the case. Positional listening and texture are thus related but distinct.
A na l y t ic a l P er s p e c t iv i s m Much of what is presented above suggests that no single analysis can fully represent the various ways of experiencing and understanding rock music. This argument also challenges the idea that all textures are coordinated and rejects the idea that the Ideal Listening Position is the only valid perspective from which to hear and interpret music. This openness to variant analytical interpretations may be referred to as »analytical perspectivism«—the notion that what you hear depends upon where you stand. The term »perspectivism« is adapted from its use by the German philosopher Friedrich Nietzsche. In his notebooks that would posthumously be published as The Will to Power, Nietzsche writes: Against positivism, which halts at phenomena—»There are only facts«—I would say: No, facts is precisely what there are not, only interpretations. We cannot establish any fact »in itself«: perhaps it is folly to want to do such a thing. »Everything is subjective,« you say; but even this is interpretation. The »subject« is not something given, it is something added and invented and projected behind what there is.—Finally, is it necessary to posit an interpreter behind the interpretation? Even this is invention, hypothesis. In so far as the word »knowledge« has any meaning, the world is knowable; but it is interpretable otherwise, it has no meaning behind it, but countless meanings.—»Perspectivism« (Nietzsche 1967: 267). Nietzsche challenged accepted notions and intellectual habits by radically disrupting common assumptions—the sounding out of hollow idols, as he writes in the Preface to Twilight of the Idols. In the case of perspectivism, 8
Of course, a listener can choose to focus on any element in the texture, sometimes following a particular instrument, and at other times skipping around the texture to focus on whatever element captures their interest.
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JOHN COVACH Nietzsche is advancing the proposition that there are only ever interpretations—no single interpretation can suppress others by appealing to facts. There are only ever perspectives.9 The idea that music theorists will tolerate divergent analyses is hardly new, nor is the idea that it is impossible for any single analysis to completely capture a piece or passage of music.10 But it may be somewhat more novel to suggest that analyses are inherently incomplete and even prejudiced, with this latter term being used in the positive sense espoused by Hans-Georg Gadamer (1991). There are at least two ways in which perspectivism may apply to musical analysis. The first is when two or more analyses approach the same piece or passage but arrive at differing conclusions, and this is the situation most often found in music theoretical and analytical discussion and debate. Here perspectivism encourages us to hold variant readings in a kind of positive tension, acknowledging that no analysis can attend to every feature or aspect of the music. Indeed, certain analytical approaches develop a more powerful focus as a result (at least in part) from suppressing certain dimensions of the music. This sort of perspectivism applies to the differing analyses of »(I Can't Get No) Satisfaction,« »Help,« and »Lucy in the Sky with Diamonds« discussed above. The second way perspectivism may apply to analysis is when two or more analyses of the same piece or passage, arising from different listening positions, provide differing but complementary analyses. In this second case, the possibility of analytical perspectives arising from inside the texture opens up a third dimension to musical understanding, as was suggested by the analyses of »Roundabout« and »Close to the Edge.« As soon as one admits the validity of multiple interpretations, however, the slippery slope of relativism presents itself. If analysis is all interpretation, one might object, is any analysis valid, no matter how bad or demonstrably incorrect it may be? What, indeed, might »bad« or »incorrect« even mean in such a context? Perspectivism need not necessarily level the field of analytical value, making every analysis just as valid, useful, or convincing as any other. An analysis, for instance, that takes the passage from »Rock'n Me« discussed above as a coordinated structure can still be rejected. Perspectivism is rather most valuable in its use of a different metaphor for musical understanding and analysis. As suggested at the start of this discussion, a piece is not so much like a painting, to be viewed from some ideal location; it is rather more like sculpture or architecture, which can produce many complementary perspectives. In terms of musical texture and the discussion at 9
For a fuller discussion of analytical perspectivism in the context of organicism and the theoretical writing of Arnold Schönberg, see Covach (2017). 10 For a fuller discussion of this issue, see Dunsby (1994) and Guck (2006).
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ANALYZING TEXTURE IN ROCK MUSIC hand, the analyst »steps inside« the piece (literally and figuratively), transforming a musical experience from the usual two dimensions into one of three-dimensional richness and depth.
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ANALYZING TEXTURE IN ROCK MUSIC
Abstract This article considers musical texture as an aspect of structure, examining first how elements in a texture may relate to one another, and then exploring how the analyst may develop a variety of perspectives by privileging certain elements in the texture over others. Traditional classical music textures are coordinated, and the traditional analytical perspective employs the Ideal Listening Position (ILP). Some popular music, however, may employ layered textures, which manifest varying degrees of textural stratification. The ideas of point of coordination and span are developed as a way of analyzing textural rhythm and mapping variations in the level of coordination that may occur both within and between sections in a given piece. Stratified music encourages positional listening, particularly in performance, and such positions tend to differ from the tradition ILP. Positional analysis attempts to capture such variant positions and analytical perspectivism provides a lens for considering how such differences may be reconciled (or not).
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T E C H N O I DE S K L A N G G E S C HE H E N U N D SE I N E P E R F OR M A T I V E P R A X I S A M B E IS P IE L V O N B A U C H K L A N G S »L E M A N S « J os e f Sc ha u br uc h Ein Vergleich von Definitionen in einschlägigen Sachlexika und wissenschaftlichen Aufsätzen, die sich mit den Begriffen »elektronische Tanzmusik«, »Electronic Dance Music« (EDM) und »Techno« auseinandersetzen, zeigt ähnliche, aber keineswegs einheitliche Begriffsverständnisse auf (vgl. Wicke 1998, Peel 2001, McLeod 2001: 60, Butler 2006: 32-34, Wicke et. al. 2007, Thom 2014, Wicke 2015, Kaul 2017).1 Ihnen ist weitgehend gemeinsam, dass sie ein musikalisches Genre2 beschreiben, das sich durch Gemeinsamkeiten hinsichtlich des Klanggeschehens und der jeweiligen musikalischen Herstellungs- und Darbietungsformen durch Electronic Artists3 auszeichnet. Unter diesen Vorzeichen soll im Folgenden ein »per se interessante[r] Fall« als ein »neue[r] und unbeschriebene[r] Fall« (Hering/Schmidt 2014: 529531) im Rahmen einer Einzelfallanalyse skizziert werden, dessen Zuordnung zur elektronischen Tanzmusik Fragen aufwirft. Es handelt sich um die seit 1
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Im Folgenden verwende ich vor allem den im deutschsprachigen Forschungsdiskurs geläufigeren Begriff der elektronischen Tanzmusik (vgl. Thom 2014; Feser/ Pasdzierny 2016: 7-21). Da auch der Begriff Techno (bzw. technoid, vgl. Thom 2008) nach wie vor sehr gebräuchlich ist, insbesondere innerhalb der in diesem Beitrag fokussierten musikalischen Praxis, verwende ich beide Begriffe folgend (»der Einfachheit halber«, wie auch Kühn 2017: 157-159) synonym. Zur begrifflichen Problematisierung s. ebd. und McLeod (2001). Genre wird hier in Anlehnung an Franco Fabbris vielzitierte Definition verstanden als »a set of musical events (real or possible) whose course is governed by a definite set of socially accepted rules« (Fabbri 1980: 52). Diese Regeln können formaler und technologischer, semiotischer, verhaltensbezogener, sozialer und ideologischer, ökonomischer und juristischer Art sein. Zur Kritik an dieser Definition im Hinblick auf aktuelle Genrediskurse s. Brackett (2016: 6-13). Unter »Electronic Artists« verstehe ich im Folgenden musikalische Akteur*Innen wie DJs und Liveacts. Für den (aus dem Englischen ins Deutsche entlehnten) Begriff Liveact ist im Englischsprachigen auch die Bezeichnung »live PA« (Butler 2006: 33, 70f. u. 326) oder »laptop performer« (Butler 2014: 6f. u. 13) gebräuchlich; beide fasst Butler (2006: 47-51) mit DJs als »performing artists« zusammen.
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JOSEF SCHAUBRUCH 1996 bestehende Wiener »Beatboxing- und A Cappella-Band« Bauchklang, die spätestens mit dem Album Akusmatik stilistisch im Kontext der elektronischen Tanzmusik verortet wird (vgl. Demcisin 2011, Weidinger 2013, Anonym o.J.) und sich auch selbst dort verortet (Fasthuber 2013, Sageder 2014, Fraenzl 2014, Fraenzl et al. 2017), sich aber — in der elektronischen Tanzmusik eher untypisch — dezidiert als »Band« versteht, die ihre Musik live auf der Bühne aufführt (Fraenzl 2014). Es erscheint hier weder »neu«, dass vokal ausgerichtete Ensembles verschiedene Stile imitieren, noch dass elektronische Tanzmusik in verschiedenen Ausprägungen von Liveness dargeboten wird. »Interessant« und »unbeschrieben« wirkt vielmehr die Verbindung aus Beatboxing/A Cappella, Live-Darbietung und Techno, da hier verschiedene musikalische Praktiken aufeinandertreffen. Während ein (wenn auch flexibler) Rahmen von elektronischer Tanzmusik maßgeblich durch ihre »elektronische Welt« bestimmt wird, die sich in den Produktionsumgebungen und Arbeitsweisen, der damit einhergehenden Klangästhetik und performativen Praxis von Electronic Artists und Publikum manifestiert, zeichnen sich Bauchklangs gewählte Ausgangsbedingungen durch grundlegend andere musikalische Implikationen aus. Als Vokalisten, die basierend auf Geräuschen und Klängen aus dem eigenen Körper ein mit Techno assoziiertes Klanggeschehen in Echtzeit gestalten, fehlt ihnen auf den ersten Blick die »elektronische Welt«, die für das Genre konstitutiv ist. Der vorliegende Beitrag geht nun erstens der Frage nach, wie sich Bauchklangs diskursive Verortung in das Genre der elektronischen Tanzmusik auf der Ebene des Klingenden erklären lässt. Die präsentierte musikalische Analyse kann hier mögliche Antworten auf diese Frage geben. Basierend auf eigenen Transkriptionen werden exemplarisch die Produktionspraxis und Klangästhetik sowie die zeitliche und formale Gestaltung der Studio-Version von »Le Mans« untersucht, ein Stück, das sich live zu Bauchklangs stärkstem entwickelt habe (vgl. Fraenzl 2014). Zweitens wird danach gefragt, wie sich die diskursive Verortung als elektronische Tanzmusik gegenüber Bauchklangs Darbietungsformen und den darin anzusiedelnden Dimensionen von Liveness nachvollziehen lässt, die sich von Electronic Artists unterscheiden. Theoretische Überlegungen zu Liveness bilden diesbezüglich die Basis, da sie medialisierte Aufführungsumgebungen der elektronischen Tanzmusik (kontrastiv) beschreibbar machen. Exemplarisch wird dazu die Aufführung des analysierten Stücks auf dem Tanz- und FolkFest in Rudolstadt aus dem Jahr 2013 (vgl. Official Bauchklang 2014a/b) hinsichtlich verschiedener Zugänge zu Liveness untersucht. Die Überlegungen werden durch teilnehmende Beobachtungen (vgl. Thierbach/Petschick 2014)
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TECHNOIDES KLANGGESCHEHEN UND SEINE PERFORMATIVE PRAXIS — BAUCHKLANGS »LE MANS« von Live-Konzerten von Bauchklang (u.a. im August 2013) und zwei leitfadengestützte Einzelinterviews sowie ein Gruppeninterview mit der Band ergänzt (vgl. Helfferich 2014), die der Verfasser zwischen August 2014 und November 2017 geführt hat.
P r o d uk t io ns p r a x is u nd K l a n g ä s t h et ik v o n » L e Ma ns « »Le Mans« ist ein Track des Albums Akusmatik, das der Produzent Patrick Pulsinger in einer Studio-Session live mitschnitt (Bauchklang Official 2012, Fraenzl 2014, Fraenzl et al. 2017). Basis des Live-Recordings war eine Demoversion des Bandmitglieds Christian Birawsky, der Aufnahmen einer vorherigen Jam Session aufgriff und arrangierte, was die Band dann einübte und mit einer Bandmaschine aufnahm. Die Aufnahme sollte Gerald Huber von Bauchklang zufolge »so puristisch wie möglich« gestaltet werden und der ursprüngliche Sound von vornherein so »interessant« sein, dass nachträglich »möglichst wenig« bearbeitet werden musste (Huber in Fasthuber 2013). Die einzelnen Gesangsstimmen wurden also gleichzeitig aufgenommen, sodass, wie bei der Live-Aufführung, eine »non-take-two-ness« (Sanden 2013: 5) bestand (bzw. es überhaupt nicht notwendig erscheinen sollte, mehrere Takes zu machen). Die Stimm- und Beatboxing-Signale wurden nicht künstlich verfremdet, »sondern lediglich durch Räume wie Reverb oder Delay erweitert und dann beim Mixen perfekt positioniert« (Fraenzl in Fasthuber 2013). Auch auf der Bühne wird bei Bauchklang neben Reverb, Delay und Kompression nur Equalizing zur Unterstützung des Arrangements eingesetzt (Fraenzl 2014, Sageder 2014): »Es ging darum, zu schauen, was man zu fünft hinkriegt, in diesem Sound, der uns interessiert und der auch mit elektronischer Musik zu tun hat […]. Wie wenig kann man im Nachhinein mit Overdubs machen?« (Sageder in Fraenzl et al. 2017). Ziel dieses Vorgehens in der Produktion war es, die Energie des Live-Moments zu konservieren und somit die »Energieform« (Fraenzl in Fraenzl et al. 2017) zu transportieren, die es live hat. Die finale Studioaufnahme war unmittelbar am Imperativ der Aufführbarkeit orientiert, um »vom Proberaum direkt auf die Bühne« kommen und es direkt »so aufführen zu können, wie wir es aufgenommen haben« (Fraenzl 2014): »Die Frage lautete: Wie können wir zu fünft sowohl auf der Bühne als auch im Studio einen Druck und eine Energie erzeugen, die der elektronischen Musik noch näherkommt?« (Huber in Fasthuber 2013).
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JOSEF SCHAUBRUCH Um Bauchklangs Produktionsprozesse systematisch reflektieren zu können, sollen sie im Folgenden anhand ihrer Funktionen, die die jeweiligen Arbeitsphasen einnehmen, betrachtet werden. Butler (2006: 60-62) unterscheidet Synthesizing, Processing, Sampling und Sequencing, die ich hier zu den drei Ebenen Auswahl der Klangquelle(n) (Synthesizing und Sampling), Bearbeitung des Klangs/der Klänge (Processing) und Klangorganisation/-speicherung (Sequencing) zusammenfasse. Butlers Perspektive richtet sich allerdings auf musikalische Handlungen eines »performer-producer[s]« (Butler 2014: 13) in einer Produktionsumgebung aus technischen Geräten (bspw. Computer/ Laptop, Drum Machines, Keyboards, Sampler-Sequencer, Controller usw., vgl. ebd.: 70-95). Da Bauchklang bei ihrer Aufnahme ja auf elektronisch produzierte (bspw. durch Synthesizing-Module, Samples aus Soundlibraries etc.) oder bereits aufgezeichnete Klänge (bspw. auf Preset-Sounds, Field-Recordings etc.) verzichten und vergleichsweise wenige Hilfsmittel zur Bearbeitung von Klängen nutzen, erscheint seine Systematisierung zunächst nur begrenzt auf ihre musikalische Arbeitsweise anwendbar. Die einzigen Klangerzeuger und -bearbeiter sind Stimme, Bauch und Zwerchfell, die als ein Zusammenwirken von bewegten Stimmlippen, klangformenden Ansatzräumen sowie geräuschhaften Lautäußerungen eng miteinander verbunden sind. Trotzdem verfolgen Bauchklang dezidiert eine nicht-menschliche, technoide Klangästhetik, die von den gebräuchlichen technischen Geräten auf allen funktionalen Ebenen (assoziativ formuliert) »maschinell-präzise«, »repetitiv«, »instrumental« geprägt ist. Die konzeptionelle Orientierung erläutert Fraenzl (2014) wie folgt: »Die Spezialisierung hing auch mit der Leidenschaft zusammen, die wir selbst als Musikhörer für Techno haben. Wir haben uns dann live immer mehr in diese Richtung entwickelt, auch deshalb, weil wir zu 3/4 des Konzerts die Leute zum Tanzen bringen wollen und Techno sich da nun mal anbietet. Wir haben uns dann entschieden, uns zu reduzieren und ein Live-Set zu machen, ohne Zwischenansagen und wie ein DJ elektronische Tracks zu spielen — nur eben ausschließlich mit Stimmen. Daran haben wir die letzten Jahre dann wirklich intensiv gearbeitet und heraus kam Akusmatik.« Auch Sageder (2014) benennt technoide Klangvorstellungen als richtungsweisend: »Es war grundsätzlich die Idee, zu überlegen, wie sich der Sound von Techno und die dazugehörigen Effekte live umsetzen lassen, zum Beispiel mit DecayZeiten zu spielen oder durch Veränderungen des Mundraums die Obertöne so zu variieren, dass es dann ähnlich klingt wie ein Filter-Effekt. Aber das ist alles live umgesetzt und nicht im Nachhinein künstlich produziert. Wir haben auch
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TECHNOIDES KLANGGESCHEHEN UND SEINE PERFORMATIVE PRAXIS — BAUCHKLANGS »LE MANS« nie stimmverändernde Effekte eingesetzt, wie Modulationseffekte oder PitchShifting«. Bauchklangs Strategien der Realisierung dieser Klangvorstellungen beschreibe ich folgend als Imitation, Experiment und Potenzierung. Auch wenn bspw. das Synthesizing bei Bauchklang konzeptionell bedingt konsequent physisch bleibt, sind die Klangresultate an einer Imitation synthetischer Instrumentalklänge mit ihren jeweiligen Klangerzeugungen orientiert, die für Techno als charakteristisch gelten. Somit lassen sich alle Klänge in »Le Mans« auf die Nachahmung der typischen »electronic synthesized and sampled instrumentation« (Collins et al. 2013: 102) zurückführen, wie bspw. auf synthetische Vorbilder von Schlagzeug, Percussion-Instrumenten und Bass in Form einer Roland TR-808/TR-909 und einer Roland TB-303 (s. Abbildung 4). Fraenzl beschreibt die Besetzung wie folgt: »Grundsätzlich ist es wie in einer Band verteilt, auch wenn wir oft unsere Rollen untereinander tauschen. Es gibt die Beatbox von Gerald und Bina [Christian Birawski, Anmerkung JS], die entspricht dem Schlagzeug und vor allem Bass Drum und Snare Drum. Mouthpercussions entsprechen eher den Percussioninstrumenten, aber auch der Hi-Hat; bei uns macht das vor allem Philipp, der aber auch Vocal Sounds übernimmt. Vocal Sounds imitieren eher Melodieinstrumente wie zum Beispiel einen Synthesizer. Vocal Sounds übernehme aber auch ich, genauso wie die Leadvocals. Den Bass macht Alex« (Fraenzl 2014; zur Besetzung s. auch Weidinger 2013). Bauchklang bilden beim Synthesizing die Instrumentalklänge nicht statisch nach; sie verändern diese folglich durch einen Wechsel instrumentaler Rollen und insbesondere durch ein typisches Experimentieren mit den prozessualen Modifikationen instrumentaler Charakteristika. Rick Snoman schreibt diesem Processing eine zentrale Rolle im Techno zu: »Ultimately, the key technique for techno is experimentation with effects and processing. Heavy compression, bit-crushers, distortion, saturation, phasers, delay, reverb and automation of all these parameters over any number of bars provides the foundation for this genre of music« (Snoman 2014: 372f.). Auf der Ebene des Processings sind damit Klangmanipulationen/-verfremdungen zu konstatieren, wie bspw. das von Sageder bezeichnete Spiel mit Hüllkurvenbearbeitungen durch Variationen der Ein-/Ausschwing-Zeiten, den Einsatz von Filtern usw.4 Auch werden typische Sounds und deren Prozessierung 4
Auch in anderen Tracks von Bauchklang treten diese klanglichen Phänomene auf; weitere Beispiele für eine Imitation von Filterbewegungen sind »Morgenluft« (3:25-3:37) und der »rise in pitch« (Butler 2006: 225) im Build Up in »Bidde« (3:18-3:33).
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JOSEF SCHAUBRUCH mittels spezifischer Beatboxing-Techniken imitiert, bspw. ein Reverse-Effekt (Pattern A der Hi-Hat open und Pattern A der Vocal Sounds) oder ein Noise Sweep eines Oszillators mit Reverb (Pattern A der Vocal Sounds, s. Abb. 4, vgl. Sageder 2014). Bauchklang betonen selbst ihre Affinität zum Experimentieren und zur Improvisation als einen kontinuierlichen Prozess des Forschens nach neuen Klängen, um sich individuelle Klangidentitäten und damit nicht nur Techno, sondern grundsätzlich neue Stile anzueignen und diese zu adaptieren (vgl. Kozaklewicz 2011). Auf die Strategie der Potenzierung weisen die erweiterten Gestaltungsräume des Beatboxings in Kombination mit einer externen Signalverarbeitung hin, die Bauchklang die Adaption typischer simultaner, »multiple complementary layers« (Collins et al. 2013: 114) ermöglichen. So ist das Synthesizing und Processing nicht auf nur auf ein Instrument beschränkt; stattdessen sind mehrere Instrumentalklänge und deren variabler Einsatz auch gleichzeitig von einer Person realisierbar. Auch auf der Ebene des Sequencings ist eine Imitation der maschinellen Klangorganisation zu beobachten, die sich vor allem auf rhythmischer und formaler Ebene widerspiegelt.
Z ei t l ic he G e s t a l t u ng Das Klangbild von »Le Mans« ist sehr transparent angelegt, was die rhythmische Gestaltung deutlich hervortreten lässt. Von den von Butler (2006: 82) unterschiedenen vier typischen geraden Rhythmen (»even rhythms«) — das four-on-the-floor-Pattern (fotf-Pattern) mit der Bass Drum, das BackbeatPattern eines Handclaps/einer Snare Drum, das Offbeat-Pattern der geschlossenen Hi-Hat sowie das aus sechzehn Sechzehntelnoten bestehende Pattern der Hi-Hat5 — werden die ersten drei hier genau so und mit nur minimaler rhythmischer und klanglicher Variation eingesetzt. Das vierte Pattern wird bei »Le Mans« nicht durch nur ein Instrument wie bspw. Hi-Hat oder Shaker gebildet, sondern nahezu durchgehend aus einem Gefüge komplementärer Rhythmen, indem sich die durch die geraden Rhythmen auftuenden Lücken entsprechend des für diesen Stil üblichen »filling the ›gaps‹«6 ergänzt werden und dadurch ein ineinandergreifendes rhythmisches Geschehen entsteht: 5 6
Nahezu identische Rhythmen werden von auch Lothwesen (1999: 78), Collins et al. (2013: 117) u. Snoman (2014: 365) als stiltypisch identifiziert. »The initial approach here is to ›fill‹ the gaps between the kick, snare, and open hi hat with any number of different synthesized percussive elements« (Snoman 2014: 369).
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Abb. 1: Ausschnitt komplementärer Rhythmen in »Le Mans« (Takt 56-64, 1:45-2:00)7
Die gegenseitige rhythmische Ergänzung entsteht dadurch, dass die Patterns von Bass, Synthesizer I und II fast ausschließlich als Elemente von zum Teil versetzt beginnenden diatonischen Rhythmen zu sehen sind.8 Diese lassen sich jeweils als 3+3+3+3(+4) betrachten.9 Sie bestehen aus punktierten Achtelnoten, die von unterschiedlichen Startpunkten aus verschieden oft aneinandergereiht werden und in diesem Stil Butler zufolge sehr häufig auftreten. So ist das Bass-Pattern mit dem Pattern des Synthesizers I in Abb. 1 bspw. rhythmisch und tonal nahezu identisch (dieses Pattern wird darüber hinaus im gleichen Rhythmus auch vom Pattern C und D des Synthesizers II repräsentiert, s. Abb. 4). Die punktierte Achtelnote stellt neben den geraden Rhythmen in »Le Mans« damit ein essentielles Element dar, da außer dem (insgesamt nur acht Takte lang zu hörenden) Pattern B des Synthesizers II keine synkopierten Rhythmen auftreten, die nicht auf punktierte Achtelnoten zurückgreifen. Zu bemerken ist hier die Dominanz dieser Rhythmen: Abgesehen 7
8
9
Alle Klänge sind vokal produziert, die angegebenen Instrumente müssten somit in Anführungsstrichen stehen. Der besseren Lesbarkeit wegen wird darauf hier und im Folgenden verzichtet. Von den »even rhythms«, die eine Zeitspanne gleichmäßig unterteilen, differenziert Butler »diatonic rhythms«. Diese strukturieren eine Zeitspanne asymmetrisch (vgl. Butler 2006: 81-85). Die Kombination von 3+3+3+3+4 lässt sich als allen drei Patterns zugrundeliegend betrachten, wenn das »3 (1)« als ein »3+1« und damit als ein »4« gedacht wird: Synthesizer II A als 3+3+3+3+(3+1), Synthesizer I B als 3+3+3+3(+4) und der Bass A als 3+3+3(+3)(+4), deren Dauer — wie beim für das Sequencing üblichen »Muten« (Stumm-Schalten) von einzelnen Patterns — gekürzt bzw. verlängert werden.
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JOSEF SCHAUBRUCH von den vier Basis-Rhythmen und diatonischen Ergänzungen tauchen kaum rhythmische Variationen auf. Das Metrum ist in »Le Mans« auf den ersten Blick eindeutig, es handelt sich um einen 4/4-Takt bei 128bpm.10 Die Zeit wird größtenteils symmetrisch geteilt (die Repetitionszyklen mit dem Umfang von einer Viertelnote bis zu vier ganzen Noten sind gerade, s. Abb. 4), und auch wenn vereinzelte Patterns mit einer Pause beginnen, bleibt die erste Zählzeit häufig klar markiert. Anfang und Ende, an denen bei anderen Stücken sonst häufig metrische Phänomene wie eine »ambiguity of beginning« (ebd.: 124-129) oder ein »turning the beat around« (ebd.: 141ff.; folgend TBA) auftreten, geben in »Le Mans« eine klare metrische Orientierung vor. Dennoch tritt die zeitliche Gestaltung auch hier als ein wesentliches Ausdrucksmittel im Kontext eines sonst repetitiven Geschehens auf, dem die Parameter Melodik und Harmonik, wie im Techno üblich, untergeordnet sind (vgl. Collins et al. 2013). So sind Formen der Ambiguität und sogenannte metrische Dissonanzen erkennbar, die eine interpretative Multiplizität erzeugen und das Metrum als eine sich prozessual konstituierende Entität herausstellen (vgl. ebd.: 117-177). Metrische Desorientierungen tauchen in »Le Mans« unmittelbar mit dem Aussetzen tieffrequenter und das Metrum sonst klar markierender Patterns auf. Divergierende metrische Strebungen, die als kontinuierliche Spannungen von gleichzeitigen unterschiedlichen Teilungen der Zeit bereits latent vorhanden waren, nehmen an diesen Stellen mehr Raum ein. Zwei Beispiele sollen dies verdeutlichen, die bezeichnenderweise an den einzigen Stellen lokalisiert sind, an denen der Bass und zeitgleich die Bass Drum aussetzen bzw. variieren: In Takt 72 (2:15) verschiebt sich das Snare Drum-Pattern, unterstützt durch das Pattern B der Bass Drum, um eine Viertelnote nach vorne. Erstmals erklingt an dieser Stelle ein diatonischer Rhythmus (3+3+3+3), der über die 4/4-Taktgrenze hinausgeht, somit den längsten Repetitionszyklus hat und die Zeit asymmetrisch teilt. Im Ergebnis wird eine sogenannte »grouping dissonance« zwischen Bass Drum und Pattern C des Synthesizers I angedeutet:
Abb. 2: Unterbrochene grouping dissonance und theoretische Synchronisationspunkte in »Le Mans« (Takt 72-76, ab 2:15)
10 Zu detaillierten Überlegungen zum 4/4-Takt im Techno s. Butler (2006: 113-116).
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TECHNOIDES KLANGGESCHEHEN UND SEINE PERFORMATIVE PRAXIS — BAUCHKLANGS »LE MANS« Der diatonische Rhythmus des Synthesizers I verhindert durch seine Versetzung um eine Achtelnote vor Taktbeginn und den Beginn mit einer Sechzehntelpause einen früh lokalisierbaren Startpunkt des Patterns und verzögert dadurch eine Etablierung von Synchronisationspunkten mit dem Pattern der Bass Drum (welches das ursprüngliche Metrum markiert), da es erst im Laufe seiner Wiederholung als ein drei Viertelnoten umfassendes Pattern erkannt werden kann. Der Eindruck einer grouping dissonance wird hier durch die periodische Akzentuierung des diatonischen Rhythmus verstärkt, die ebenso als metrische Referenz (als bspw. mögliche neue erste Zählzeit) plausibel ist. Die grouping dissonance umfasst drei Viertelnoten des Synthesizers gegenüber vier der Bass Drum (G4/3, 1= ).11 Da die erste Synchronisation von Synthesizer und Bass Drum allerdings außerhalb von vier Takten liegen würde und das Synthesizer-Pattern durch vier Takte begrenzt ist, setzt hier keine Synchronisierung ein, weshalb nur von einer unterbrochenen grouping dissonance gesprochen werden kann, die die bisherige Zeiteinteilung vorübergehend destabilisiert. Damit wird die prozessuale (De)Konstruktion des Metrums angedeutet (vgl. ebd.: 113-116), da ein neues Pattern, wenn auch nur temporär, das bisher angenommene re-interpretierbar macht. In diesem wie auch im nächsten Beispiel (an der Stelle, an der das fotfPattern mit immerhin acht Takten am längsten aussetzt) resultiert die metrische Destabilisierung aus der Konfrontation von diatonischen Rhythmen mit einem Metrum, das vorher durch das fotf-Pattern stabilisiert sowie durch gerade Rhythmen unterstützt wurde und dessen Patterns dann pausieren. Ab Takt 110 sind im Rahmen des Build Ups in den klanglich präsenten Synthesizer-Patterns zunehmend diatonische Rhythmen verdichtet, diesmal allerdings nicht singulär, sondern in einer variablen Zusammensetzung. Den eintaktigen Patterns A und B des Synthesizers I (3+3+3+3+4) steht nun das eintaktige (ab Takt 116 gelayerte) Pattern A des Synthesizers II (ebenso 3+3+3+3+4) als Gegenkraft gegenüber, das allerdings um drei Achtelnoten (wie ein Auftakt) versetzt ist und sich damit nicht mehr mit der zuvor interpretierten »Eins« auf die erste Zählzeit synchronisieren lässt:
11 Das »G« bezeichnet das Phänomen der grouping dissonance, die »4« und die »3« den jeweiligen Repetitionszyklus mit der Wertigkeit einer Viertelnote, nachdem die beiden Patterns wieder den gleichen Startpunkt haben (vgl. Butler 2006: 155166). Butler betrachtet eine sehr ähnliche grouping dissonance wie die hier besprochene auf S. 159. Die »8« und die »3« innerhalb der Klammer beziehen sich auf Sechzehntelnoten.
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Abb. 3: Verschobener diatonischer Rhythmus in Pattern A von Synthesizer II (hier nur als Ausschnitt von Takt 110-114, ab 3:26)
»Le Mans« zeichnet sich somit zwar durch metrische Spannungen aus, die jedoch nur temporär gegen ein durch das fotf-Pattern verdeutlichtes Metrum wirken. Insofern enthält der Track auch keine »ambiguity of metrical type« und abgesehen von den stiltypischen »displacement dissonances« (ebd.: 139), bspw. zwischen Bass Drum und Hi-Hat (D2+1, 1= ) auch keine dauerhaften metrischen Gegenspannungen, was sich mit der von Bauchklang intendierten Tanzbarkeit und einer damit zusammenhängenden rhythmisch-metrischen Verständlichkeit deckt.12
F o r m a l e G es t a l t u ng Das gesamte Arrangement von »Le Mans« lässt sich auf repetitive Strukturen zurückführen, die auf Patterns als kleinster struktureller Einheit basieren. Größere formale Abschnitte werden zum einen durch unterschiedliche Repetitionszyklen gebildet, die sich primär auf Viertelnoten, punktierte Achtelnoten und ein Vielfaches von ganzen Noten zurückführen lassen und auf einem »lower level« Abschnitte von bis zu acht Takten umfassen (s. dazu Abb. 4).13
12 Auch in anderen Tracks von Bauchklang treten viele der hier als charakteristisch bezeichneten rhythmisch-metrischen Phänomene auf. Zu nennen sind bspw. der ausgeprägte Einsatz eines über mehr als fünf Minuten konsequent nicht-gruppierten diatonischen Rhythmus in »Morgenluft« (»ambiguity of beginning« von 0:000:12), der reale (0:18) und latente (0:41) TBA in »Ray« durch eine Voranstellung von Pausen und der Akzentuierung metrisch unbetonter Stellen sowie der über zwölf Takte solistisch aufrechterhaltene, aus einer punktierten Viertelnote bestehende diatonische Rhythmus in »Lagu« (3:53-4:11). 13 Ein Beispiel für ein achttaktiges Pattern ist das Pattern B des Basses, das sich nach einer Viertelnote wiederholt, allerdings am Ende von vier, sechs und acht Takten jeweils variiert wird. Dadurch entsteht insgesamt ein achttaktiges Pattern (Takt 80-88, Takt 88-96, Takt 96-104 etc.).
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Abb. 4: Zugrundeliegende Patterns (oben) und formale Struktur (unten) von »Le Mans« (eigene Darstellung)14
14 Die Visualisierung der formalen Struktur und ihrer zugrundliegenden Patterns orientiert sich maßgeblich an Butler (2006: 259-261) und dokumentiert in erster Linie das Arrangement und dessen einzelne Bausteine. Die Darstellung wird dem 4-Takt-Schema gerecht, auf dem der Track aufbaut; jedem Instrument bzw. jeder Instrumentengruppe ist eine Farbe zugeordnet. Mehrere Patterns pro Instrument sind durch verschiedene Buchstaben voneinander zu unterscheiden; Weiße Stellen markieren Pausen. Variationen innerhalb eines Patterns sind durch ein Kreuz gekennzeichnet; unterschiedliche klangliche Repräsentationen rhythmisch gleicher Patterns werden als eigenständige Patterns betrachtet. Die gestrichelten Linien deuten exemplarisch an, dass innerhalb dieser Sequenzen alternative
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JOSEF SCHAUBRUCH Zum anderen wird die Wahrnehmung von Achttaktigkeit durch vereinzelte Variationen jeweils am Ende von acht Takten unterstützt (»anacrusis orientation«, ebd.: 92). So sind kaum Stellen zu finden, an denen an Achttaktgrenzen keine Fill-Ins oder kurze Pausen als »two-beat cuts« oder »four-beat cuts« (ebd.: 189-191) auftreten und damit größere formale Abschnitte umfassende »higher levels« vorbereiten, die gleichermaßen an Achtaktschemata orientiert sind. So setzen nach konsequent acht Takten Veränderungen der vertikalen Zusammensetzung der Patterns ein, bspw. durch Hinzunahme (in Takt 9 in den Hi-Hats), Entfernung (in Takt 40 im Bass), Wiederaufnahme (Takt 49 im Bass) und Variation (in Takt 73 in der Bass Drum) von Patterns. Die formale Strukturierung ist somit konsequent symmetrisch, was eine durch vier teilbare Gesamttaktzahl von 136 Takten zur Folge hat. Die Veränderung der Zusammensetzung der Patterns (vertikal betrachtet) erfolgt hier überwiegend direkt und nicht graduell, wodurch die Wahrnehmung von Mehrtaktigkeit zusätzlich begünstigt wird. Als höhere Strukturebene lassen sich vier unterschiedliche Sequenzen beschreiben, die durch einen systematischen Auf- und Abbau von Patterns innerhalb der einzelnen Sequenzen determiniert sind. Die sequenzdeterminierenden Patterns erscheinen dabei unterschiedlich genug, um sich formal voneinander abzugrenzen: Sequenz A besteht mit dem Intro und dem Core 1 aus dem sukzessiven Aufbau von Pattern A und B des Synthesizers I; Sequenz B besteht mit dem Breakdown, dem Build Up und dem Core 2 ebenso aus einem sukzessiven Aufbau von Pattern A des Synthesizers II. In Sequenz C setzt ein durch ein neues Pattern (Pattern B) des Synthesizers II begleiteter Breakdown ein, der entlang des darauffolgenden Patterns C des Synthesizers I erneut in einen Build Up und einen dritten Core führt. In Sequenz D erfolgen Breakdown, Build Up und der vierte Core nicht entlang eines explizit neuen Patterns, allerdings werden die bisherigen Patterns klanglich gedoppelt (Takt 97109) und neuartig miteinander kombiniert (ab Takt 120). Der längste Build Up führt schließlich zu einem letzten Core, der alle Synthesizer-Patterns miteinander kombiniert und damit die von Butler beschriebene Intensivierung im letzten Core so umsetzt, wie es die »prototypische Einteilungen denkbar sind, je nachdem, ob sich an strukturstiftenden tieffrequenten Patterns (Bass/Bass Drum) oder dem zeitlichen Verlauf der SynthesizerPattern orientiert wird. Der Übersichtlichkeit halber orientiert sich die Abbildung der zugrundeliegenden Patterns nicht an Butler, sondern an Collins et al. (2013: 117). Die Aufteilung in rhythmische Sounds, artikulative Sounds und atmosphärische Sounds entfällt damit. Der Repetitionszyklus wird hier durch die jeweils vorangestellte Taktart markiert und ist am ersten Zeitpunkt orientiert, an dem sich ein Pattern wiederholt. Insgesamt ist die Darstellung als Interpretation und insofern nur als Annäherung zu berücksichtigen.
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TECHNOIDES KLANGGESCHEHEN UND SEINE PERFORMATIVE PRAXIS — BAUCHKLANGS »LE MANS« Form« beschreibt (Abbildung 5). An dieser Stelle wird die Intensität gesteigert, indem bereits bestehende Patterns gelayert (ab Takt 112) und zuvor eingeführte Patterns auf engerem Raum variiert werden. Das Material setzt sich dabei immer nur aus einem begrenzten Vorrat bestehender Patterns zusammen, die gekürzt, verlängert und variiert werden. Die Formteile erlauben somit die Zuordnung von »Le Mans« zum von Butler und Snoman beschriebenen Prototypen eines EDM-Tracks, was sich auch in der »Energie-Kontur« der Wellenform des Tracks widerspiegelt (Abbildung 6). Auch wenn die hier vorgenommene Sequenzierung von »Le Mans« nur eine von mehreren möglichen darstellt (da sich die Sequenzen durch die vielen gleichbleibenden Patterns stark ähneln), spiegeln die Prototypen die musikalische Anlage durchaus angemessen wider.
Abb. 5: Prototypische Repräsentationen des formalen Ablaufes eines EDM-Tracks15
Abb. 6: Anwendung der formalen Struktur auf Bauchklangs Wellenform von »Le Mans« (eigene Darstellung)
15 Die obere Abbildung entspricht Snoman (2014: 278), die untere Butler (2006: 222). Butlers Abbildung basiert auf der Zeichnung eines von ihm interviewten Produzenten und Liveacts namens »Stanley«. Zum besseren Vergleich der Abbildungen sind hier zusätzlich die Formteile eingetragen.
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L iv e ne s s a l s p er fo r m a t iv e P r a x is Unter Liveness im Sinne einer performativen Praxis verstehe ich (in Anlehnung an Sanden 2013: 31-33) im Folgenden eine Wahrnehmungs- und Handlungsmodalität, die sich auf die Umsetzung eines Klanggeschehens im Rahmen einer musikalischen Aufführung bezieht.16 Liveness kann dabei durchaus auch mit den multiplen (ästhetischen) Sinnangeboten eines Live-Konzerts assoziiert werden (Kolesch 2014: 199f.) und wäre somit als Gegenüber zu — im Techno par excellence anzutreffenden — medialisierten Aufführungen zu verstehen, bei denen die Klangerzeugung nicht in Echtzeit erfolgt, sondern auf medientechnisch fixiertem Klangmaterial basiert.17 Mit Sandens Versuch der Entwicklung einer multiperspektivischen und umfassenden Theorie von Liveness lassen sich folgende Modalitäten der Wahrnehmung von Liveness auf Bauchklangs 60-minütiger Aufführung auf dem Tanz- und Folk-Fest in Rudolstadt anwenden: Bauchklangs Aufführung wird deshalb als live wahrgenommen, weil sie als ein raumzeitlich begrenztes musikalisches Ereignis stattgefunden hat (temporal liveness und spatial liveness, ebd.: 35). Diese Form der Liveness lässt sich mit Auslander (2008: 61) auch als die klassische Form von Liveness verstehen, als »physical co-presence of performers and audience; temporal simultaneity of production and reception; experience in the moment«. In diesem Punkt unterscheiden sich Bauchklang allerdings nicht von den meisten Performances durch Electronic Artists (bzw. von weiten Teil des Live-Entertainment generell), da die beteiligten Akteure auf der Bühne (bzw. im DJBooth) und das Publikum vor der Bühne raumzeitliche Ko-Präsenz als ein HierUnd-Jetzt-Mit-Sich-Und-Anderen teilen. An Kontur gewinnt Bauchklangs Aufführung durch die Dimension der fidelity (»Music is live when it is perceived as faithful to its initial utterance, its unmediated (or less mediated) origins, or an imagined unmediated original«, ebd.: 11; Herv. i. Orig.): Die Aufführung wird als live empfunden, da (anders als bei DJs) die präsentierten Stücke ausschließlich auf eigenen Kompositio-
16 Sanden (2013: 31) betont vor allem dem Aspekt der Wahrnehmung: »It is worth restating that liveness is a concept based in the perception of performance and the exact articulation of this concept in any given situation and for any given musicker depends on the specific ways in which he or she perceives performance within that experience«. 17 »Live« und »nicht-live« sind allerdings keinesfalls zu dichotomisieren, sondern dialektisch zu betrachten, wie verschiedene Autor*Innen hervorheben (vgl. Auslander 2007, 55-63, Butler 2014: 65-69).
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TECHNOIDES KLANGGESCHEHEN UND SEINE PERFORMATIVE PRAXIS — BAUCHKLANGS »LE MANS« nen und Arrangements basieren und auf der Bühne weitgehend ohne technische Hilfsmittel aufgeführt werden (im Gegensatz zu Liveacts). So bleiben technische Geräte auf der Bühne auf ein äußerstes Minimum reduziert: Abgesehen von fünf Mikrofonen befinden sich bewusst keine elektronischen Musikinstrumente auf der Bühne, wie sie im Kontext von Live-Techno sonst konstitutiv sind.18 Ehrlichkeit und Originaltreue/Wiedergabetreue entstehen hier dadurch, dass der erzeugte Klang als ein eindeutig auf die fünf Akteure zurückführbarer, ursprünglich akustisch erzeugter (und erst nachträglich verstärkter) Klang (deshalb auch wiedergabetreu) präsentiert wird. Dies wird dem Publikum »dezent« (Fraenzl 2014) verdeutlicht, indem die einzelnen Musiker von Fraenzl auf der Bühne vorgestellt werden und dazu jeweils kurz solieren (09:16-10:30, s. Official Bauchklang 2014a). In diesem Moment wird nahegelegt, welcher Musiker für jeweils welche Klänge verantwortlich ist (was bei den von mir besuchten Konzerten regelmäßig mit kräftigem Applaus gewürdigt wurde). Bauchklang werden damit als Urheber des Klanggeschehens präsentiert. Auch die spezifische Körperlichkeit von Bauchklang grenzt ihre Performance von Electronic Artists ab, wodurch corporeal liveness (»Music is live when it demonstrates a perceptible connection to an acoustic sounding body«, Sanden 2013: 11) erlebbar wird. Bauchklang präsentieren ihre Körper als klingende Musikinstrumente, die das hörbare Klanggeschehen kausal auf ihre sichtbaren (Klang)Körper zurückführbar darstellen. Bauchklang verkörpern technoide Musik durch den Vorgang der physischen Klangerzeugung — ganz im Gegenteil zu Electronic Artists, bei denen das per definitionem (s.o.) nicht der Fall ist.19 Die Aufführung erfüllt außerdem Sandens (ebd.: 10) interactive liveness, da sowohl die Musiker sichtbar untereinander als auch Musiker und Publikum miteinander interagieren, bspw. im gemeinsamen In-Die-Hocke-Gehen, Mitklatschen, Zwischenrufen, Tanzen usw. Sanden (ebd.: 11) spricht des Weiteren von einer liveness of spontaneity, sofern die Performance Spontaneität und Unvorhersehbarkeit bereithält. Auch wenn die Performance auf der Ebene des Klanggeschehens überwiegend auf kompositorischem Material basiert, das live kaum von den arrangierten Versionen abweicht (Fraenzl 2014) und auch die Reihenfolge der Tracks sowie deren Übergänge festgelegt sind, 18 Fraenzl (2014) begründet diese konzeptionelle Ausrichtung wie folgt: »Es gibt dieses ›Echtheitszertifikat‹. Ich habe es auch ausprobiert, mit technischen Geräten auf der Bühne zu arbeiten, aber das stellt das gesamte Konzept in Frage. Sobald wir zu fünft aktiv sind und keiner von Geräten abhängig ist, hatten wir eine ganz eigene Dynamik, die ausgereicht hat und sehr schön war«. 19 Zum Verhältnis von Körper und Klang vgl. Sanden (2013: 38-40), in Bezug auf EDM s. Ferreira (2008).
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JOSEF SCHAUBRUCH besteht die Option der Improvisation. Diese äußert sich bspw. hinsichtlich der Bewegungsabläufe (es gibt keine einstudierten Choreografien), spontaner Ansagen an das Publikum etc. Selbst das Ende der Aufführung, an dem »überraschenderweise« noch fünf Minuten als Zugabe möglich sind, lässt sich als unvorhergesehenes Ereignis beschreiben. Die beiden letztgenannten Formen der Interaktion und Spontaneität erscheinen in medialisierten Performances von Electronic Artists allerdings (mindestens) ebenso möglich, da hier Electronic Artists von der physischen Klangerzeugung entkoppelt sind und hinsichtlich der Trackauswahl, Trackreihenfolge und der Art der Präsentation flexibler auf ein Publikum eingehen können. Damit wären vor allem die Dimensionen der fidelity und corporeality als distinktiv zu betrachten, auf die bezeichnenderweise auch Auslander (2013) als audio/visuelle Ökonomie von musikalischen Aufführungen und Butler mit Blick auf die »performing audience« als »listening with their eyes« (Butler 2014: 100) hinweisen. Auslander beschreibt diese Perspektive als traditionalistisch, da sie ein lange vorherrschendes Verständnis von musikalischen Aufführungen ausdrückt, bei denen die Konfiguration von Visuellem und Auditivem kausal (und ohne elektronische Hilfsmittel) gestaltet ist. Gerade in medialisierten Aufführungen der elektronischen Tanzmusik ist die Beziehung dieser beiden Pfade besonders intransparent. Anders als bei traditionellen Instrumenten lasse sich bspw. in Laptop-Performances zwischen Gehörtem und Gesehenem keine kausale Beziehung mehr herstellen, da die Zusammenhänge der Handlungen der Performer mit dem Interface-Environment dem Publikum womöglich weniger bekannt oder überhaupt sichtbar sind. Bauchklangs Präsentation audio/visueller Zusammenhänge ließe sich in dieser traditionalistischen Lesart als Antwort deuten, diese (Auslander zufolge dominante) Ökonomie wiederherzustellen: »Sosehr die Ästhetiken aktueller Performances populärer Musik auch von rein visuellen Spektakeln dominiert zu sein scheinen, so bleiben sie ideologisch doch der traditionalistischen Denkweise verhaftet, dass wir eine visuelle Überprüfung musikalischer Klänge benötigen. Wenn neue Wege des Musikmachens aufkommen, finden seine Praktiker in den meisten Fällen Wege, sie traditionalistischen Werten anzupassen« (Auslander 2013: 35). Die Anpassung an traditionalistische Werte einer Live-Aufführung erfolgt bei Bauchklang in ihrer dargestellten Zurückführung eines Klanggeschehens auf sie als sichtbare Urheber. Gleichzeitig wird auf technische Hilfsmittel auf der Bühne verzichtet und es sind keine Musikinstrumente als Objekte vorhanden, mit denen interagiert wird.
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TECHNOIDES KLANGGESCHEHEN UND SEINE PERFORMATIVE PRAXIS — BAUCHKLANGS »LE MANS« Die Wahrnehmung dieser Verbindung scheint dennoch kaum konfliktfrei zu sein, da es fraglich sein dürfte, ob das Publikum den Zusammenhang der Handlungen und deren Wirkung wirklich nachvollziehen kann und weiß, welcher Musiker zu welchem Zeitpunkt welchen Klang erzeugt. Auch Auslander stellt diesen kognitiven Nachvollzug grundsätzlich infrage und »die traditionalistische Betonung der sichtbaren Kausalität« als ideologisch heraus, da das Publikum in den meisten Fällen wahrscheinlich keinen »detailgenauen Sinn für instrumentale Zusammenhänge« habe: »In den meisten Fällen versteht das Publikum nicht wirklich, wie der Klang im Einzelnen produziert wird. Es möchte aber dennoch glauben, dass es das kann« (ebd.: 25). Bauchklang thematisieren diesen Zusammenhang der »visuellen Verifizierung« (Auslander 2013: 26) des Gehörten selbst, indem sie ihr Album Akusmatik betiteln. Sie wählen damit einen Begriff, der die auditiven und visuellen Pfade voneinander löst, für Musik, »bei der Klangquellen nicht nachvollziehbar sind« (Huber in Fasthuber 2013). Auch wenn sie in ihrer musikalischen Darbietung also eine audio/visuelle Kausalität anbieten (was allerdings nicht nur der Kausalität willen intendiert ist, sondern auch spielpraktische Gründe hat20), weisen sie die Bedeutung der Frage, ob das Publikum ihr Handeln jederzeit nachvollziehen kann, zurück: »Ist das denn wichtig?« (Sageder in Fraenzl et al. 2017).21
S c hl u s s b et r a c ht un g en Ausgangspunkt der Überlegungen war es, sich Bauchklangs »Le Mans« als einer bisher unbeschriebenen Konstellation aus technoidem Klanggeschehen und deren Herstellung im Studio und auf der Bühne anzunähern, um die Verortung in das Genre der elektronischen Tanzmusik nachzeichnen zu können. Bei aller Reduktion, die eine musikalische Analyse mitbringt, lässt sich schließlich bilanzieren, wie sehr »Le Mans« in der zeitlichen und formalen Gestaltung musikalischen Konventionen von Technotracks entspricht. Auf der Ebene des Klanggeschehens ist damit eine deutliche Orientierung an Genrenormen zu konstatieren, die die Zuordnung zur elektronischen Tanzmusik nachvollziehen lässt. Bauchklangs präsentierte Formen von Liveness unterscheiden sich jedoch von der gängigen performativen Praxis von Electronic Artists in der elektro-
20 Dazu zählen Fraenzl zufolge bspw. das »Unmittelbare und das schnelle Reagieren aufeinander« (Fraenzl 2014). 21 So beschreiben Bauchklang bei Riepl (2013) ihre gewünschte Publikumsreaktion als »Wurscht jetzt, wie das gemacht ist, das ist einfach leiwande Musik.«
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JOSEF SCHAUBRUCH nischen Tanzmusik. Während das Klingende hier üblicherweise bereits in konservierter Form provisorisch vorliegt (vgl. Butler 2014: 42-54) und in Echtzeit eher elektronisch bearbeitet als erzeugt wird, verzichten Bauchklang bewusst auf (Re)Produktionsmedien und Formen der Automation. Damit weicht ihre performative Praxis von den genretypischen medialisierten Techno-Darbietungen ab, auch wenn Bauchklang nicht gänzlich auf elektronische Geräte verzichten, sondern diese lediglich verlagert sind.22 Bauchklangs Aufführung lässt sich vielmehr als eine Traditionalisierung technoider Darbietungen lesen, indem sie audio/visuelle Zusammenhänge präsentieren, die dem Publikum eine prinzipielle Nachvollziehbarkeit musikalischer Zusammenhänge erlauben. »Traditionalisierung« ist hier als positiv besetzter Begriff zu interpretieren, da sie die mit klassischer Liveness assoziierten ästhetischen Erfahrungen in besonderer Intensität erlebbar macht: als eine »über Jahre hinweg perfektionierte ad-hoc-Kunst, die im Moment des gemeinsamen Auftritts entsteht« (vgl. Weidinger 2013). Abschließend ist anzumerken, dass sich die Nähe von »Le Mans« zur elektronischen Tanzmusik Techno nicht nur deshalb erklärt, weil der Track die bspw. von Butler aufgezeigten musikalischen Charakteristika enthält. »Le Mans« ist auch deshalb als Techno rezipierbar, da Bauchklang aufgrund ihrer mehr menschlich als maschinell geprägten Ausgangsbedingungen von sich aus eine besondere Herausarbeitung stilistischer Konventionen geleistet haben, deren Zitation in »Le Mans« ihnen dann ihre Lesbarkeit überhaupt erst ermöglicht. Es bleibt zu bedenken, dass sowohl Butlers als auch Bauchklangs technoide »Idealtypen« (bzw. oben zitierte »Prototypen«, vgl. Abb. 5) jedoch unter Einbeziehung ihrer eigenen Historizität und ihres sozio-kulturellen Kontexts zu betrachten sind, da sich die charakteristischen Dispositionen eines Genres in
22 So bleibt bspw. zu bedenken, dass auch bei dieser Aufführung in Rudolstadt der Anteil technischer Geräte keine unwesentliche Rolle spielt, da sie als Beschallungsanlage den Klang verstärken und an das Publikum (PA) und die Band (Monitoring) adressieren und spezielle Beatboxing-Techniken diese Technisierung bewusst nutzen. Der Front-of-House-Tontechniker optimiert und erweitert zudem den Klang dezent, auch wenn er für das Publikum nicht auf der Bühne sichtbar ist. Auch wenn das Klingende also aus den eigenen Körpern hervorgebracht wird und Technik erst in der Phase der Tonaufnahme, unterstützenden Effekten, dosiertem Layering durch Overdubs und minimalen Nachbearbeitungen integriert wird, bleibt eine Elektrifizierung von Klang für Bauchklang bedeutsam. Aus diesem Grund ist der Tontechniker bei der Live-Darbietung (bzw. der Studioproduzent bei der Studioproduktion) als »Bandmitglied« mitzudenken, der von Bauchklang mehrfach in seiner Relevanz betont wird (vgl. Fraenzl 2014, Fraenzl in Fraenzl 2017).
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TECHNOIDES KLANGGESCHEHEN UND SEINE PERFORMATIVE PRAXIS — BAUCHKLANGS »LE MANS« einer konstanten Verschiebung befinden (vgl. Brackett 2016: 13).23 »Le Mans« kann deshalb vielmehr als gegenwärtige Iteration stilistischer Konventionen betrachtet werden, die diese um eine weitere performative Praxis von Techno bereichert.
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23 Dies ließ bereits der Vergleich der zu Beginn angestellten Genre-Definitionen andeuten, weshalb v.a. neuere Definitionen auch auf die gewachsene Vielfalt, Dynamik und auch Gegensätzlichkeit elektronischer Musikkulturen hinweisen (vgl. Rietveld 2013: 2, Butler 2014: 16) und dafür plädieren, unter elektronischer Tanzmusik (bzw. Electronic Dance Music) ein Netzwerk aus verwandten musikalischen Stilen zu verstehen (vgl. Butler 2012: xii, Thom 2014) und diese Begriffe insofern als Bezeichnungen für ein »Metagenre« (McLeod 2001: 60) zu begreifen.
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Abstract The article investigates how the Austrian beatboxing and a cappella band Bauchklang performs techno live on stage. It focuses on their specific constellation of production, musical design, and live performance as key elements defining the genre of electronic dance music. The article combines ethnographic methods (expert interviews with the band and participatory observation), musical analysis (Butler 2006), and performance analysis (Sanden 2013, Auslander 2013).
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D E V E LO P M E N T
OF
M U S IC A L I D E AS BY TORTOISE
IN
C O M P O S I T IO N S
Reiner Krämer Prologue For more than 25 years, the Chicago-based experimental rock band Tortoise has crossed over multiple popular music genres (ambient music, krautrock, dub, electronica, drums and bass, reggae, etc.) as well as different types of jazz music, and has made use of minimalist Western art music.1 The group is often labeled a pioneer of the »post-rock« genre. Allegedly, Simon Reynolds first used the term in his review of the album Hex by the English east London band Bark Psychosis (Reynolds 1994a) and shortly afterwards in his article »Shaking the Rock Narcotic« (Reynolds 1994b: 28-32). In connection to Tortoise he used »post-rock« in his review article of their 1996 album Millions Now Living Will Never Die (Reynolds 1996). Reynolds describes music he labels as ›post-rock‹ where bands use guitars »in [non-rock] ways« to manipulate »timbre and texture rather than riff[s]« and »augment rock's basic guitar-bass-drums lineup with digital technology such as samplers and sequencers« (Reynolds 2017: 509). Most members of Tortoise act as multiinstrumentalists that play different combinations of instruments at different times. As Jeanette Leech (2017: 16) has stated, a typical Tortoise stage setup can feature vibraphones, marimbas, two drum sets, and a multitude of synthesizers. With regards to the instrumental setup Leech draws up parallels with progressive rock of the 1970s but points to one decisive difference within the genres: »for Tortoise, the range of instrumentation [is] about creating mood, not showboating« (ibid.). More importantly and of particular importance to Tortoise, since the band does not have a singer in its line-up, post-rock »parts with such notions as the singer as storyteller and the song as narrative, source of life1
Tortoise's band name speculatively aligns itself with La Monte Young's 1964 composition »The Tortoise, His Dreams and Journeys,« in which instruments improvise over an electronic drone (Nicholls 1996).
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REINER KRÄMER wisdom, or site of social resonance« (Reynolds 2017: 509). In regard to vocals in post-rock music Osborn (2010: 51) states that »post-rock subverts rock tradition by nearly always removing the vocals«. Querying Music Brainz—a community-maintained open source encyclopedia of music information (music brainz.org)—reveals that there are about 365 other bands labeled »post-rock« at the time of writing. The top 10 groups include Godspeed You! Black Emperor, Mogwai, Sigur Rós, 65daysofstatic, MONO, Tortoise, Do Make Say Think, Explosions in the Sky, Caspian, and God is an Astronaut. Because Tortoise cannot rely on text to propel musical motion, the ensemble developed a unique communicative musical style. Studying Tortoise's corpus might enable us to gain a better understanding of post-rock instrumental genres, and can also give us insights into collective compositional processes and multi-timbral/textural musical narratives. In the music of Tortoise, musical ideas are often broken down into smaller elements or fragments, using melodic, rhythmic, harmonic, textural, contrapuntal, timbral transformations, and long-ranging formal transformation, creating recognizable recurring music features. These features create musical narratives. How do the different types of episodic developments relate to one another? Are the fragments overt or hidden? In what way is episodic material self-similar and how does it serve the musical narrative? This study will try to answer these questions by laying out the ground work for a two-dimensional corpus study in the future, consisting of (1) the corpus of all recorded pieces (the »written«2), and (2) different performed versions of the same piece in live, remix, or radio performance contexts (the »spoken«), highlighting discrete musical narratives of particular importance. The study focuses on the latter part of the two-dimensional corpus, from which three different compositions (»Along the Banks of Rivers,« »Jetty,« and »Salt the Skies«) are analyzed and compared to different versions. By focusing on the second dimension (»the spoken«), I am able to distinguish whether a piece is based on improvisation—using form as guideposts—,its form is fluid, or whether it is through-composed. Hereafter, the study can serve as a launching point for a comparative study of instrumental music by other bands of the »post-rock« genre, in order to be able to tag bands with actual music metadata and establish relationships based on this newly found data. 2
In linguistics a multidimensional corpus study »has been used to address issues such as the relations among spoken and written genres in English« (Biber 1992: 331).
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DEVELOPMENT OF MUSICAL IDEAS IN COMPOSITIONS BY TORTOISE
T o o l s Us ed a n d B ui l d i n g a T o r t o is e C o r p u s The following data has been collected by applying web scraping techniques with the Python programming language. All data processing has also been completed by way of Python and the Python data analysis library pandas (https://pandas.pydata.org). Graphs were drawn using the Python matplotlib library (https://matplotlib.org, access: June 1, 2018). Tortoise's musical output or corpus is constantly growing because the band is still actively touring and producing music. The corpus can be quantified by querying several online resources, such as musicbrainz.org, the Internet Archive (archive.org), allmusic.com, and discogs.com. Additionally, the Thrill Jockey website, Tortoise's label (thrilljockey.com/artists/ tortoise), the bands' website (trts.com), and the Brainwashed website (brainwashed.com/tortoise/) provide additional discographic information to assemble a complete picture of the corpus. MusicBrainz shows that Thrill Jockey has released eight full-length albums, two compilations, five remix collections, two EPs, and ten singles by Tortoise. Each of these releases can have multiple editions for different dates and countries that may include different tracks. Overall, there are ca. 170 different recorded titles in Tortoise's all-inclusive corpus. In addition, the Internet Archive holds 1055 live recordings of individual compositions spanning from 1994-2017. One can divide Tortoise's corpus up into an outlier corpus and a core-corpus. The outlier corpus includes all pieces that have not been performed live (including remixes), of which there are ca. 60 recordings. The core-corpus includes all live performances of titles available at the Internet Archive and ranks the number of performances of these titles. The three compositions chosen for the ensuing study (»Along the Banks of Rivers,« »Jetty,« and »Salt the Skies«) have been chosen from the corecorpus because a multidimensional study, as previously described, can only be completed with a core-corpus. Table 1 displays the core-corpus, and shows how many different live versions are available at the Internet Archive (titles are separated by semicolon). The table also shows from which album each track originates (albums separated by semicolon correspond to titles separated by semicolon).
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REINER KRÄMER Title »In Sarah, Mencken, Christ, and Beethoven There Were Women and Men« »I Set My Face to the Hillside« »Eros« »Monica« »Swung From the Gutters« »Seneca« »Dot/Eyes« »Crest« »Salt the Skies« »Ten Day Interval« »High Class Slim Came Floatin' In« »Prepare Your Coffin« »The Suspension Bridge at Iguazu Falls« »Benway«; »DJed« »Gigantes« »Taut & Tame«; »Tin Cans & Twine« »Charteroak Foundation« »Magnet Pulls Through« »It's All Around You« »Stretch (You Are All Right)« »Five Too Many«; »Minors« »Yinxianghechengqi« »Eden 2«; »Glass Museum« »Gamera«; »The Equator« »Along the Banks of Rivers«; »TNT« »Cornpone Brunch«; »The Catastrophist« »Gesceap«; »The Lithium Stiffs« »Night Air« »On the Chin«; »Shake Hands With Danger«; »Yonder Blue« »At Odds With Logic«; »Jetty«; »Everglade«; »Hot Coffee«; »Aldeia de Ogum«; »Reservoir« »Firefly«; »Six Pack«; »Spiderwebbed«
Live Performances 71
Album TNT
67 65 63 60 59 58 55 49 47 37 35 34
TNT Standards Standards TNT Standards It's All Around You It's All Around You It's All Around You TNT Beacons of Ancestorship Beacons of Ancestorship TNT
33
Standards; Millions Now Living Will Never Die Beacons of Ancestorship Millions Now Living Will Never Die
31 30 27 25 24 23 21 20 17 15 14 11 10 9 9 8 7 6
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Beacons of Ancestorship Tortoise It's All Around You It's All Around You It's All Around You; Beacons of Ancestorship Beacons of Ancestorship Standards; Millions Now Living Will Never Die Millions Now Living Will Never Die (Japan) Millions Now Living Will Never Die; TNT Tortoise; The Catastrophist The Catastrophist; It's All Around You Tortoise It's All Around You; The Catastrophist; The Catastrophist The Catastrophist; TNT; The Catastrophist; TNT Peel Session; A Digest Compendium of the Tortoise's World Standards; Standards; Tortoise
DEVELOPMENT OF MUSICAL IDEAS IN COMPOSITIONS BY TORTOISE Title »Speakeasy«; »Tesseract«; »The Clearing Fills«; »Wait« »Eden 1«; »Mosquito«; »Ox Duke«; »Ry Cooder« »A Survey«; »Reservoir Sheets«; »Sheets«; »Vaus« »Daniel«; »Gooseneck«; »Love Is Love«; »On Noble«; »The Lawn of the Limp« »Almost Always Is Nearly Enough«; »Deltitnu«; »Monument Six One Thousand«; »Othello«; »The Fall of Seven Diamonds Plus One«; »The Match Incident«
Live Performances 5 4 3
2
1
Album Standards; The Catastrophist; The Catastrophist; A Lazarus Taxon Standards; Tortoise (Japan); The Catastrophist; Tortoise Millions Now Living Will Never Die; Lonesome Sound; Lonesome Sound; Vaus The Brave and the Bold; Mosquito; The Brave and the Bold; Tortoise; In the Fishtank TNT; It's All Around You (Japan); Beacons of Ancestorship; A Lazarus Taxon; Beacons of Ancestorship; Rhtyhms, Resolutions & Clusters
Table 1: Tortoise Core-Corpus.
» A l o n g t he B a nk s o f R iv er s « The track »Along the Banks of Rivers« appears on Tortoise's 1996 album Millions Now Living Will Never Die. According to Andrew Earles (2014: 334), the album »changed part of the underground rock landscape for the rest of the '90s and earned the band, for better or worse, the label ›godfathers of American post rock‹«. The piece closes the album, and to Michael Shields (2016) it is a »a fitting swan song to this classic work of art; an atmospheric, affectionate kiss good night where softly swirling guitar and bass riffs lull you into a fantastical dreamscape«. Sonically, the composition evokes scenes from a »lambent Ennio Morricone« (Salamon 1996: 113) scored ItaloWestern movie or perhaps surf music, due to the electric guitar timbre, a sound that Reynolds (1995: 29) describes as »lugubrious spy movie TripHop,« and that »calls to mind Angelo Badalamenti's film scores from the late 1980s« (Novara/Henry 2009: 828). Tortoise uses the Italo-Western surf guitar and bass combination the first time on Millions Now Living Will Never Die and revisits the sound on the albums TNT (especially on the tracks »TNT,« »I Set My Face To The Hillside«) and Standards (»Six Pack,« »Blackjack«) etc. A query to the Internet Archive hosts 13 live recordings of the song ranging from 1996 to 2017 (the site also reveals that there are a total of 116 live recordings of Tortoise's concerts altogether). The 21-year life span is a testament of the song's importance within Tortoise's core-corpus.
99
REINER KRÄMER The album version of »Along the Banks of Rivers« (on which the following analysis is based on) consists of a clearly defined formal structure. The composition starts with a regular pulse emerging from transitional material held over from the previous track »Dear Grandma and Grandpa.« The bassstyle pulse is centered around pitch class »C« and occurs at regular intervals around 60 beats per minute (bpm), setting up a 4/4 meter. The introductory section lasts 12 seconds and ends with an anacrusis that consists of a three eighth note grouping (G3, D4, Eb4 respectively—where middle C is C4) beginning on beat 3.5. The goal of the anacrusis is C4 on beat 1, which concludes the initial motif a (00:12-00:20). The second iteration of motif a, a', begins on beat 3.5 with G3 and reuses the previous motif, , but changes its rhythmic material on beat 4 of the anacrusis to a triplet figure consisting of D4, Eb4 and C4, and adds D4 as its goal note on beat 1. The third iteration (a'') of the initial motif, also beginning on beat 3.5 with G3, adapts the triplet figure from the second motif iteration a', including its pitch content in order, but its goal now changes from D4 (beat 1) to B3 (beat 1.5). The developmental process through the two additional iterations of motif a is that of accretion. The musical idea (MI1) ends with a three-note motif, beginning on beat 3.5 with D4, continuing to beat 4.5 with Eb4, and concluding on beat 1 with C4, or motif b. The module is called A (00:12-00:48), and its main goal is to establish a key center around pitch class C by moving from C4 up to D4, down to B3, and returning to C4. The key of A is firmly situated in c minor. A encompasses nine measures. The example indicates the ninth measure as being a rest in the guitar. However, the drum set creates a measure-long fill in its place. Example 1 shows MI1 in the A section. It should be noted that a musical idea does not always pair up with an entire section of a piece, as the analysis of the other pieces will reveal.
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A
Example 1: Musical Idea 1 (MI1) in the A Section of »Along the Banks of Rivers.«
The second musical idea (MI2) occurs in the A' section (00:48-01:20) and is almost identical to MI1 in the A section, except that now the idea spans eight measures, rather than nine (example 2). Tortoise thereby plays with the listener's expectations. When hearing A the listener wants to hear only
100
DEVELOPMENT OF MUSICAL IDEAS IN COMPOSITIONS BY TORTOISE eight measures, but gets nine, while in A' the listener's expectation seems to be fulfilled.
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Example 2: MI2 in the A' Section of »Along the Banks of Rivers.«
Example 3 shows a third musical idea (MI3) occurring in the B section (01:20-01:55) that is again nine measures long. As was the case with the previous A and A' sections, Tortoise uses accretion to develop an initial motif a in its consecutive iterations (a' and a''). The module returns to pitch center C using motif b. The goals of each motif are Eb4, F4, G4, F4, Eb4, and C4 respectively, indicating a move to the mediant of c minor, and returning to the tonic.
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B
Example 3: MI3 in the B Section of »Along the Banks of Rivers.«
After the B section, the piece returns to another A' section (01:55-02:27), which is eight measures in length. At this point, the listener may expect the conclusion of the AABA form, common to rock music, with the caveat that the form spans 34 measures rather than 32. However, Tortoise then returns to the B section (02:27-03:03), where the b' motif has also been expanded by one measure as previously, in order to incorporate a transitional drum fill that introduces the next section. The procedure seems to be necessary, because the C section (03:03-05:00) changes the meter to 6/8. Metric shifts and rhythmic variety are a core feature of Tortoise's music, perhaps because the band has two drummers (although all members of the band play the drums at various times). The C section changes the key and serves as a sort of solo section in which the guitar performs a series of 21 slides, as if to imitate an object that rides the waves of the river flow. Those 21 guitar slides are performed in an unpredictable ascending or descending pattern. The slides span 8+8+ 8+8+8 measures +2 additional measures as a reaction of a communicative nod, whereas the penultimate measure of the group represents the apex of the section by way of a continuous rising motion as represented by the 21
101
REINER KRÄMER slide patterns. The last measure of the group serves as a drum transition back to the 4/4 time signature of the ensuing A' section (05:00-05:32). The last four measures are the ending section of the track (05:32-05:51). Table 2 summarizes the form of the studio version of »Along the Banks of Rivers.« Measures
00:00
Module (Section) Intro
00:12
A
(1)+8+1
Start
Motifs Transition a
00:20
a'
00:28
a''
00:36 00:48
b A'
8
a
00:56
a'
01:04
a''
01:12 01:20
b' B
8+1
a
01:28
a'
01:36
a''
01:44 01:55
b A'
8
a
02:04
a'
02:11
a''
02:19 02:27
b' B'
8+1
a
02:35
a'
02:43
a''
02:52
b'
03:03
C
8+8+8+8+8+(2)
Solos
05:00
A'
8
a
05:08
a'
05:16
a''
05:23 05:32
b' End
4
Ending
Table 2: Form of »Along the Banks of Rivers« (album version).
The recorded form of »Along the Banks of Rivers,« however, only represents the exception to how Tortoise performs the track in a live setting (figure 1). The y-axis displays the number of performances, which are 14 altogether (one studio, 13 live), i.e. when looking at the transition or introduction section, only six of the performances included this section. Out of the 13 available live performances, only one performance from 1996 strictly follows the form recorded on Millions Now Living Will Never Die. The other 13 perfor-
102
DEVELOPMENT OF MUSICAL IDEAS IN COMPOSITIONS BY TORTOISE mances use the following formal structure: Introduction (pulses emerging from various crowd or stage noises that set the mood and tempo of the piece in the first 30 seconds, including a rimshot on beat one of the measure containing the anacrusis to A), A (the section ends with drum fills of various lengths after the eighth measure to bewilder the listeners expectations), A', B, then they omit A' and B' and continue directly with C (solos of varying lengths, not only consisting of guitar slides), A', and an ending. From the performances a clearer case for an altered AABA form can be made, whereby AABA (or A A' B |C| A') has been interjected by a solo section (C). 14 12 10 8 6 4 2 0 Transition [Intro]
A
A'
B
A'
B'
C (Solos)
A' (Recap)
End
Figure 1: Individual Section Occurrences in »Along the Banks of Rivers.«
How Tortoise changed the form of the piece over time is presented in figure 2Figure 2. The y-axis expresses the number of sections and which sections were played during each performance of the piece, while the x-axis specifies when each performance was played and whether it was recorded live or in the studio. Changing forms during different performances points to the modularity of the different sections and the improvisatory character of the piece. 9 8 7 6 5 4 3 2 1 0 Album
Live
Live
Live
Live
Live
Live
Live
Live
Live
Live
Live
Live
Live
199601-30
199608-15
199804-05
199805-11
200302-28
200609-17
200611-17
200706-30
200707-08
200809-19
201102-12
201201-24
201307-14
201603-09
A' (Recap)
End
Transition [Intro]
A
A'
B
A'
B
C (Solos)
Figure 2: »Along the Banks of Rivers,« Section Changes Over Time.
103
REINER KRÄMER »Along the Banks of Rivers« highlights one of the techniques that Tortoise uses frequently throughout their core-corpus, namely the development of a motif through accretion, as for example the interpolated accretion in »Ten Day Interval« on the TNT album.
» J et t y « La Jetée is a 28-minute black and white 1962 science fiction short film built from still photos by the French film maker Chris Marker. The time travel story involves a prisoner protagonist, »the man,« being sent to multiple different time periods by a group of scientists. Eventually »the man« recognizes himself in one of the time periods and tries to prevent his own ultimate demise. »La Jetée« is also the title of the third track off of the Chicagobased band Isotope 217's 1997 album The Unstable Molecule. The group consists of members from Tortoise and the Chicago Underground (Kampmann 2001). »Jetty« is a re-interpretation of »La Jetée« and appears as the eleventh track on Tortoise's 1998 album TNT one year later. »Jetty« reflects the narrative of the film by using a chaconne-styled re-iterative ground bass and chord progression. It is not uncommon for music of the jazz, blues, and rock 'n' roll genres to make use of this type of lamento bass, as can be heard for example in Robert Johnson's »Walkin' Blues,« the Eagles' »Hotel California,« or Led Zeppelin's »Dazed and Confused« (Ross 2004). Example 4 shows Tortoise's »Jetty« bass line. Although descending bass lines occur in other pop and rock music types, the term chaconne has been deliberately chosen because the composition is an instrumental piece.
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˙ Ó c3
Example 4: Bass Line in »Jetty.«
The bass line in »Jetty« (first heard at 2:12, see ex. 4) consists of 12 motifs and is 24 measures in length. All of the motifs utilize the same rhythmic
104
DEVELOPMENT OF MUSICAL IDEAS IN COMPOSITIONS BY TORTOISE motif (s[hort]-s[hort]-l[ong]; notice that the tied-half note is arbitrary, the decay of the bass note may be longer or shorter at times). The 12 motifs consist of four discrete, separate motifs (presented as a, b, c, and d). If a motif is repeated exactly, it shares the same number; if it is transformed, a different number has been added to the lowercase letter. Therefore, a2, consisting of the pitch-class collection {E, 2, 9} or {B, D, A}—[9, E, 2] or [A, B, D] in normal form—is transposed by a perfect fourth down (a.k.a. 7 halfsteps up, or T7) from a1. All »a« motifs belong to set-class (025). The b1 and b2 (b2 in normal form reads as [0, 4, 5] or [C, E, F], thus T4 from b1, which reads as [9, T, 2] or [A, Bb, D]) motifs belong to set-class (015), whereas c1, c2 (T4 from c1), and c3 (T7 from c2) belong to set-class (026). Motif d belongs to set-class (027). The overall trajectory of the bass line is descending, especially starting from m. 13 onward, providing more evidence for the chaconne-like form. The bass plays a chromatically descending line on the downbeat on every other consecutive measure, with the exception for mm. 21 and 23 where the bass descends by step, or E, Eb, D, C#, C, and Bb. Time Start
Chaconne (Measures)
Events
00:00
Intro (24+16)
Electronic Drums, Synth Bass Voices
01:00
i1 (24)
Bass, Synth Brass, Voices
01:36
i2 (24)
Bass
02:12
i3 (24)
descending Bass
02:48
i4 (24)
Melody Module 1
03:24
i5 (24)
Melody Module2
04:00
i6 (24)
Melody Module3
04:36
i7 (24)
Melody Module4
05:12
i8 (24)
Solo 1
05:48
i9 (24)
Solo 2
06:24
i10 (24)
Solo 3
07:00
i11 (24)
Solo4
07:36
i12 (24)
Melody Module5
08:13
End (2)
a1
Table 3: Formal Structure of the Studio Version of »Jetty.«
The resulting structure (which will now be referred to as »i«-iteration) built with the bass figure occurs 12 times in »Jetty« (see table 3) and is 24 measures long. A bipartite prologue (24+16) at the beginning of the track and an epilogue with a monopartite ending (2 measures at 08:13) flank these iterations. The composition moves swiftly at about 160 bpm in 4/4 time, and begins with a two-part prologue of an electronically altered
105
REINER KRÄMER drum-groove, presumably played by the two drummers in the group, along with a two-chord tonic-(minor)dominant oscillation. The second part adds a synth generated brass part to the two-chord oscillation drum groove (00:36). The two-chord oscillation eventually becomes part of i1 (revisit the first eight measures of the bass line in example 4). During i1 decorative chords—chords that do not serve a specific harmonic function, that may be different with each iteration—and a synthesized child-like voice are added to the continued drum groove and the synthesized and/or special-effects brass part. In i2 the brass and child voices drop out, and a proto-bass is established that is not related to the actual ground bass part. However, in i3 the listener hears the bass figure the first time. During i4 the complementary musical idea is added to the texture of the bass line, chords, and drums (example 5 displays the chaconne's melodic material). Tortoise uses accretion again, but this time to create the complete texture of the chaconne.
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Example 5: Melody Part of the Chaconne in »Jetty.«
The chaconne's melody part consists of eight different interrelated motifs. The a-group confirms what the bass line has set up to be the key of e minor. Motif a1 represents an encircling motion to A4 by way of G4 and B4 and sets up an s-s-s-l rhythmic motif. The following motif a2 uses an interpolation to add A4 at its onset in between G4 and B4, but rather than ending on A4, it reaches its goal on F#4, all while using an s-s-s-s-l rhythmic motif. Motif a1' is almost identical to a1, except that it uses a leap up to D5, which then reaches its goal of A4. However, a1' maintains its rhythmic relationship to a1. In motif a2' the goal changes from F#4 to E4, while the rest of the pitch material remains identical to a2. The rhythmic material of a2' is congruent to that of a2. By changing the goal of a2', a chromatic descent from E4,
106
DEVELOPMENT OF MUSICAL IDEAS IN COMPOSITIONS BY TORTOISE Eb4, to D4 on the pick-ups to measures 9, 11, and 13 respectively, foreshadows the succeeding chromatically descending bass line beginning in measure 13, which is the main purpose of motifs b1 and b2, both of which have identical l-s-l rhythmic motifs (example 7). As the bass begins its descent in m. 13, the melodic line becomes rather sparse and only two motifs (c1 and c2) that are more fragmentary develop. Motif c1 rhythmically consists of an l-s-l gesture, where the first note D4 recalls the end of the descent in m. 13, and the last note, as was the case with the other descent, continues the descent as a pick-up to m. 19 with C#4. The subsequent motif c2 is a depletion of c1, only re-iterating the s-l rhythmic gesture, but continuing the descending line with a C4 anacrusis to m. 21. Further, the descending line in the melody module, or musical idea, consists of the same pitch-class material as the line presented in the bass part. Example 5 highlights the descents in the melodic module and the bassline. The E4 in m. 23 prepares the listener for the chaconne to begin anew, and it is parenthesized, because sometimes it occurs singularly, whereas other times it occurs with decorative chordal notes. 3 4 5 6 7 8 # 4 Ó Œ 2œ œ Œ œ œ Œ Œ ˙ ˙ œ œœœœ & 4 œ œ ˙ ˙ œ œ œœ ˙ œ
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Example 6: Descents in the Melody and Bass
Returning to the iterations of the chaconne, a synthesizer and guitar combination make up the timbre of the melodic module in i4 (timbre 1), while in
107
REINER KRÄMER i5 Tortoise adds a vibraphone to the module, thickening the timbral combination (timbre 2). In i6 Tortoise thins-out the timbral texture at first by only using a vibraphone and, about halfway through the iteration, by adding the guitar back in (timbre 3). Tortoise applies i5's timbral combination to i7, or reuses timbre 2. These past four iterations (i4-i7) present the musical idea of the chaconne in order to create different timbral shadings. Guitarist Jeff Parker3 performs a guitar solo during i8 and i9 (two iterations), while a drum solo is the focus of i10. In i11, a non-virtuosic rhythmic keyboard solo is performed, and the drum solo continues, highlighting more possible chordal decorations of the iterations, while i12 is a recapitulation or reprise of i5 and i7 because timbre 2 is reused. The epilogue is a monopartite ending which uses the first motif a1 of the melody without any chordal decorations, drums, or the bass line, representing a break of »the man«'s cycle, and thereby creating a non-conclusive ending. 14 12 10 8 6 4 2 0 Album
Album
Live
Live
Live
Live
Live
Live
Live
Live
1997-04-11 1998-03-10 1998-04-05 1998-04-08 1998-05-11 1998-05-12 1998-07-10 1998-07-23 1998-08-03 2012-04-28 Prologue
Intro
Melody
Solos
Drum Solo
Reprise
Epilogue
Figure 3: »Jetty« Forms.
While observing all 10 available recordings of »Jetty« (figure 3), i.e. the two studio recordings—Isotope 217's The Unstable Molecule (1997-04-11), Tortoise's TNT respectively (1998-03-10)—and the eight available live recordings from the Internet Archive, it becomes clear that »Jetty's« formal structure on the TNT studio recording is an exception. For the majority of performances, the chaconne resembles the studio recording of Isotope 217's »La Jetée« on The Unstable Molecule. On the live recordings, the chaconne is most often played nine times, whereas the first iteration is an introduction. The reprise consistently presents the chaconne and uses a ritardando in lieu of using the epilogue ending featuring the a1 motif from the melody 3
More on Jeff Parker and his influences can be found in Holt (2014: 105-150).
108
DEVELOPMENT OF MUSICAL IDEAS IN COMPOSITIONS BY TORTOISE part. The musical idea occurs three times after the introduction, including the timbral variations laid out in the studio recording by Tortoise, whereas solos occur for the duration of three iterations. Before the reprise occurs, another chaconne iteration features a drum solo. Additionally, listening to the live recordings also highlights the fluidity by which chords are added by the keyboardist and the guitarist. In most iterations, the chords are varied and only function as timbral decoration for the drum grooves, the musical idea, and the descending bass line. Furthermore, the bass line and the musical idea are somewhat more fluid, meaning that the studio recording merely outlines their pitch class content, while the musicians in practice add and subtract pitch classes, and also vary their rhythms according to the ensembles' and audiences' energies during performances. Figure 3 also shows that there are only live recordings available within a year from the album TNT's release, except for one in 2012. The 2012 recording stays somewhat true to the versions from the late 1990s, but is abbreviated quite a bit; in fact, it only features six iterations instead of nine as was the case with the other live recordings. Naturally, just because no other live recordings are available does not necessarily mean that Tortoise seldom performs the piece. 3 4 5 6 7 8 # 4 Ó Œ 2œ œ Œ œ œ Œ Œ ˙ ˙ œ œœœœ & 4 œ œ ˙ ˙ œ œ œœ ˙ œ
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Example 7: Interconnectivity of Chaconne Melody and Bass.
109
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REINER KRÄMER Although both the melody and the bass part are important individual features of the chaconne musical idea, they are also intricately interconnected (example 7) and, through their symbiotic relationship, make the chaconne a distinguishable gestalt. The bass and melody parts create a kind of call response figure, which can work independently, but also together. Tortoise frequently uses the development of this type of musical idea in their core-corpus, especially when developing different timbral combinations. In »Jetty,« Tortoise's narrative depends on the musical idea of the chaconne. Its repetition portrays the scientist sending »the man« multiple times through the time machine to different eras, but in the end the chaconne's »bass line is a fate from which we cannot escape« (Ross 2004).
» S a l t t he S k i es « »›Salt The Skies‹ captures the quintet gloriously galvanised in ebbing from plaintive jazz to free-flowing post-punk rawness« (Pannett 2009). The piece closes Tortoise's 2004 release It's All Around You. Tortoise's 2006 box-set release A Lazarus Taxon includes a video of a live performance in a living room. Although MusicBrainz lists ten additional, mostly live recordings, aside from various releases of the studio recording, a query of the Internet Archive reveals that a total of 49 live recordings of »Salt the Skies« are available. The initial discussion begins with the studio version of »Salt the Skies.« The composition begins with a short musical idea (MI1) in the A section, reminiscent of a change ringing algorithm, or »bell-like« clockwork (»AAJ Staff« 2004), initially performed by a guitar and vibraphone in a Klangfarbenmelodie manner, foreshadowing ensuing timbral switches (examples 8). The tempo is ca. 80 bpm. q = c 80
Vib.
E.Gtr.
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A
Example 8: »Salt the Skies« initial Musical Idea (MI1).
110
˙ ˙
DEVELOPMENT OF MUSICAL IDEAS IN COMPOSITIONS BY TORTOISE The musical idea (0:00-00:13) uses time signature changes, 6/4 to 5/4 returning to 6/4, which could have been strictly written out, or perhaps resulted from the free interplay of the musicians. The first part of the musical idea (a), the question, consists of a downward motion from scale degree 3 (mediant) to scale degree 1, while the answer (b) is fractured between the vibraphone and the electric guitar and moves upward from scale degree 6 (sub-mediant) to scale degree 1, resulting in an octave displaced tonic. The effect is that of perhaps an imperfect authentic cadence, where the listener is left with longing for continuance. A Morse code sound artifact sample can be heard during the first exposure in section A. The musical idea is reiterated a second time (with drums, bass, and a keyboard) by an electric piano (timbral transformation), and this time with meter changes from 6/4 to 5/4 to 4/4, further pointing to coincidental meter changes (00:13-00:25). On the third iteration of the musical idea (00:25-00:36), the previous meter changes are maintained, the timbre is changed back to guitar and vibraphone, while maintaining the previously added drums, bass and keyboard parts. The three iterations of A thereby create an introduction to the piece. Also, because the musical idea has been transformed twice in its reiteration, Tortoise has created a gestalt memory of the musical idea for us. q = c 80
Vib.
Bass
& 44 œj œ œ œ œ ? 44 j œ ˙
˙
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˙
Example 9: B Section Ostinato 1.
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The next section is 15 measures long (00:36-01:18) and provides the B section, after a four measure introduction of a vibraphone-bass-electric-pianodrums ostinato figure, ostinato 1 (example 9, here abbreviated to vibraphone and bass). Ostinato 1 establishes A Dorian as a key (00:36-00:47) and the tempo is held over from the previous introduction section. An electric guitar introduces the new musical idea (MI2) in the B section at 00:47 which is four measures long (example 10). MI2, as has been true for the majority of musical ideas thus far, is bipartite and can be subdivided into a question (a) and answer (b) area. The a area moves from tonic to dominant, while the b section moves from dominant to tonic. Ostinato 1 and MI2 repeat three times during this section.
111
REINER KRÄMER E.Gtr.
4 &4 Ó
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œ œ œœœ a
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˙.
b
B
Example 10: Musical Idea (MI2), B Section.
After the third iteration of ostinato 1 and the second iteration of MI2 in the B section, a discontinuity occurs in the bass part (example 11) that leads to a new musical idea in an additional guitar part. The function of this discontinuity is to provide a transitional figure between this section and the next section (at the double bar line). The fourth iteration is not complete and the time signature changes to 3/4. This change is another step in the transition that leads to the 6/8 time signature of the following section. Tortoise divides the 3/4 measure to one consisting of three groupings of two eighth notes, which then changes in the next measure to two groupings of three eighth notes, an effective rhythmic modulation. The bass in the 6/8 measure, along with another guitar, plays ostinato 2 used in the C section.
Vib.
E.Gtr. 1
E.Gtr. 2
Bass
& 44
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∑
∑
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e = c 120
68
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Œ œ Œ 43 œ
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Œ œ 68 œ œ œ œ œ œ b œ œ œ . œ œ œ
Example 11: Section B Transition.
The guitar-bass ostinato (consisting of an A-E oscillation implying the tonic of A Dorian or minor on the first beat, and outlining a minor seven G subtonic chord on the second beat in which C3 is used to get to Bb2) of the C section accompanied by the drums is repeated eight times (01:18-01:41) before the entrance of the next musical idea (MI3). The repetition creates tension, grounds the listener within the new time signature, and builds up a sense of anticipation within the listener. The new melodic musical idea enters at 01:41 and features the timbral combination of electric-guitar-electricpiano-electric-bass. More striking is the juxtaposition of meters of the ostinato 2 pattern against the melodic musical ide: its 4:3 relationship. And al-
112
DEVELOPMENT OF MUSICAL IDEAS IN COMPOSITIONS BY TORTOISE though the musical idea is in 4, it consists of a tripartite structure (example 12 displays a bass-vibraphone reduction).
Vib.
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a
Bass
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Vib.
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Bass
Vib.
Bass
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c
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C
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Example 12: Musical Idea (MI3) in Section C.
Vib.
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Bass
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a
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Example 13: Diminution of MI3 in Section C and Ostinato 2.
Section C is in the minor dominant of A Dorian. The a motif of MI3 ascends from E4 to D5, outlining an e minor 7th with an added 9th and 11th, while the b motif ascends from E5 to D6. Although the pitch class collection of motif b is different from the pitch class collection of motif a, the overall motion represents an octave displacement, which was observed in the introductory A section with motifs a and b. Now, however, a c motif is added, closing the musical idea with an overall descending motion from E5 to B4. MI3 repeats once more before the next iteration of the same idea is presented in diminution (02:15-02:27), one of the most common compositional transforma-
113
REINER KRÄMER tions of musical ideas, heightening the overall tension of the section (example 13). The diminution removes the 4:3 relationship of the musical idea and synchronizes the musical idea to the meter of the ostinato 2 pattern in 6/8. The diminution ushers in the next section A'. In the A' section (02:2603:55) the guitar-bass ostinato changes to a different pattern. Although the rhythmic motif of ostinato 3 has changed, the harmonic content remains the same, namely on beat 1 a pattern outlining (and this time clarifying) an a minor chord (tonic), and on beat 2 outlining a g minor 7th chord (subtonic). As was the case in the previous C section ostinato 3 occurs eight times before the entrance of the next musical idea (02:26-02:48). In addition, the drum set begins a drum solo that will continue throughout the remaining A' section and dovetail into the next section (02:26-04:03). The following musical idea is motif a from MI1 in the introductory A section (example 14). The motif is repeated by itself four times over the ostinato pattern (02:48-03:11) along with the drum solo, building tension while the listener, recalling the motif being part of the introduction, is longing for motif b to complete MI1. Motif a was non-metered in the introduction, or loosely used 6/4 meter in the transcription here, and Tortoise could have used the motif and placed it verbatim into 6/8.Instead, the group places the motif into a 4:3 relationship, as was the case with the motivic material in the C section, and thereby successfully rhythmically re-contextualizes its meaning. Vib.
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Bass
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a
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Example 14: A' Section Ostinato 3, Motif a from MI1.
Additionally, on the second repeat of motif a, the guitarist begins a distortion-based textural guitar solo that dovetails from the A' section into the next section (03:11-04:03), like the drum solo. When motif a is played the fifth time, it is at last answered by motif b to produce the complete musical idea A, all while the ostinato pattern, drum solo, and guitar solo continue (see table 4). This treatment of MI1 is a development from how the idea was presented in the introduction of the piece. Example 15 illustrates how MI1 is repeated a total of four times, and on the fourth time in the last
114
DEVELOPMENT OF MUSICAL IDEAS IN COMPOSITIONS BY TORTOISE measure of the b motif, ostinato 3 changes back to the ostinato 2 of the previous C section (03:11-03:55), and indeed another iteration of the C section begins (03:55-04:26). Vib.
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A
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Bass
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Ostinato 2
Example 15: A' Section Re-iteration of MI1.
As was previously stated, the guitar and the drum solos continue for four measures into the C' section. When the solos end the MI3 is repeated twice (04:03-04:26), conveying a calming effect. At the end of the second MI3 iteration the ending section begins (04:26-04:46), re-stating the non-metered musical idea A once more to further reduce the energy, and the piece ends with the return to pitch class A at the end of motif b. The repetition of the non-metered musical idea A thereby creates a frame narrative. Table 4 summarizes the form of »Salt the Skies.« Since there are 50 different live recordings available (one from a live video of the 2006 A Lazarus Taxon box-set release, and the others on Internet Archive) a closer analysis of the form and performance practice is also possible. Figure 4 shows that all performances of the composition before its studio recording in 2017, spanning 14 years, were identical in regard to form. Even sub-formal sections as the ones previously described were maintained in detail. The figure shows that the piece is through-composed, although a solo-section has still been reserved for textural improvisation. The composition falls within one of four through-composed archetypes common in post-rock, namely type IV, the multi-part polythematic type (Osborn 2011). In fact, even the time spans of the different performances are within a 20-second range.
115
REINER KRÄMER Start Times 00:00 00:04 00:13 00:17 00:25 00:29 00:36
Sections Musical Ideas
Measures Motifs
Descriptions Meter
A
1 2 1 2 1 2 4
a b a b a b
Intro
00:47 00:53 00:59 01:04 01:10 01:15
MI2
2 2 2 2 2 2
a b a b a b'
01:18 01:41 01:47 01:53 01:58 02:04 02:10 02:15 02:18 02:21 02:27 02:48 02:54 02:59 03:05 03:10 03:14 03:21 03:25 03:33 03:36 03:44 03:47 03:58 04:03 04:06 04:09 04:14 04:17 04:20 04:26 04:30
MI1 MI1 MI1
B
MI2 MI2
C
8 MI3 MI3 MI3
A' MI1
MI1 MI1 MI1 C' MI3 MI3 A''
MI1
2 2 2 2 2 2 1 1 2 8
a b c a b c a' b' c'
2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 4
a' a' a' a' a' b' a' b' a' b' a' b''
1 1 2 1 1 2 1 3
a' b' c' a' b' c' a b
Table 4: »Salt the Skies« Form.
116
Body
Intro, Ostinato 1 Body
Intro, Ostinato 2 Body
Simple Quadruple
Simple Triple Compound Duple
Intro, Ostinato 3 Body
Compound Duple
Intro, Ostinato 2 Body
Compound Duple
DEVELOPMENT OF MUSICAL IDEAS IN COMPOSITIONS BY TORTOISE 6 5 4 3 2 1 0 Live 200302-28
Studio 200404-06
Live
Live
Live
Live
Live
Live
Live
Live
Live
Live
Live
Live
200404-27
200510-14
200609-17
200707-07
200809-27
200907-21
201009-02
201102-12
201206-08
201307-14
201603-17
201703-16
Introduction: A
B
C
A'
C
Ending: A''
Figure 4: Annual Sample of »Salt the Skies« Forms.
Epilogue Although three compositions by Tortoise have been discussed here in detail, the majority of Tortoise's compositions comprise the described features. Those features consist of the development of musical ideas by way of motivic accretion and depletion, thematic accretion and depletion, diminution, metric shifts, and timbral exchanges. In addition, I have pointed to how Tortoise uses the development of musical ideas to support their narrative without requiring a vocalist. By focusing on one dimension of our corpus-study (»the spoken«) we were able to distinguish whether a piece was based on improvisation—using form as guideposts—,its form was fluid, or whether a piece was throughcomposed. From the features gathered it is clear that the post-rock genre straddles the boundaries of art music and can be seen as minimalist type of small ensemble music. With the definition of our features, I can now scan Tortoise's entire corpus, extract and catalog the different types of features, and feed these to machine learning algorithms. In the future, the study can serve as a launching point for a much larger comparative study of instrumental music by other bands of the »post-rock« genre. The gathered musical data should supplement the currently available metadata, and relationship maps between bands within the genre will be more accurate and smart enough to assume new meaning.
117
REINER KRÄMER
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118
DEVELOPMENT OF MUSICAL IDEAS IN COMPOSITIONS BY TORTOISE
Discography Tortoise (1996). »Along the Banks of Rivers«. On: Millions Now Living Will Never Die. Thrill Jockey, THRILL 025. Tortoise (1998). »Jetty«. On: TNT. Thrill Jockey, THRILL 050. Tortoise (2004). »Salt the Skies«. On: It's All Around You. Thrill Jockey, Thrill 115.
Abstract For more than 25 years the Chicago-based experimental post-rock band Tortoise has crossed over multiple popular music genres, different types of jazz music, and has made use of minimalist Western art music. In the paper, I conceptualize a twodimensional corpus study by examining multiple live recordings of three different tracks by Tortoise. I examine by what compositional techniques Tortoise generates musical ideas, and I develop a process for distinguishing whether a piece is based on improvisation—using form as guideposts—, its form is fluid, or whether it is through-composed.
119
F R O M L E I P Z I G T O S T . L O U IS — E I N F L ÜS SE D E U TS C H E R M U S I K T H EO R I E U ND - P Ä D A G O G I K A U F E N T S T E HU N G D E S R A G T I M E , B L UE S U ND J A Z Z
DIE
P hi l i p p T e r ie te Ragtime und Blues gelten als direkte Vorläufer des Jazz. Während sich der Blues seit seiner Entstehung bis heute weiterentwickelte und dabei stets populär geblieben ist, geriet der Ragtime nach einer kurzen Blüte (ca. 18901920) in Vergessenheit. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jh. kam es zur Wiederentdeckung der Gattung in Wissenschaft und Praxis sowie zur Re-Popularisierung. Spätestens seit George Hills oscarprämiertem Film The Sting von 1973 ist der Ragtime — genauer gesagt: sind Scott Joplins Klavierkompositionen wie etwa »Easy Winners« (1901), »The Entertainer« (1902), oder »Solace« (1909) — ins allgemeine Bewusstsein zurück gelangt.1 Obwohl die Frage nach der Genealogie des Jazz einigermaßen geklärt ist, ist dennoch verhältnismäßig wenig über die Genese der Ursprungsformen Ragtime und Blues bekannt.2 Einer der Hauptgründe hierfür ist der Mangel an verlässlichen Quellen. Zudem wurden viele der vorhandenen Quellen noch nicht vollständig ausgewertet.3 Diese Umstände haben jedoch die populäre Geschichtsschreibung in der Presse, in Hollywood, aber auch in manchen Teilen der Forschung nicht davon abgehalten, ein geradliniges, geschlossenes und gut konsumierbares Geschichtsbild zu entwerfen (»Die Wiege des Jazz ist 1
2
3
The Sting (1973). Regie: George Hill (mit Paul Newman, Robert Redford). USA: Universal Pictures. Der Film erhielt 1974 sieben »Oscars«, darunter den »Academy Award for Best Film Score« für Marvin Hamlischs Arrangements der Kompositionen Joplins. Diesem Thema haben sich seit der Wiederentdeckung des Ragtime zahlreiche Forscher gewidmet, etwa Schuller (1968), Berlin (1980), Abbott/Seroff (2007), Hendler (2008), Muir (2010), jedoch ohne dabei ausführlich auf die musiktheoretisch-pädagogischen Hintergründe einzugehen. Dabei handelt es sich z.B. um seltenes Notenmaterial, Tonträger, Lehrbücher und historische Zeitungen. Durch die Digitalisierung haben sich in den letzten zwei Jahrzehnten die Voraussetzungen für das gezielte Auffinden von Daten und deren systematische Auswertung jedoch wesentlich verbessert, etwa durch die Schlagwortsuche in digitalen Archiven wie newspapers.com oder archive.org.
121
PHILIPP TERIETE New Orleans«, »Die Erfinder des Jazz waren Autodidakten«), von dem faktisch höchstens Konturen zu erkennen sind. Derartige Vereinfachungen und nicht zuletzt der Star- und Geniekult haben die Sicht auf die historischen Tatsachen und die komplexen Vorgänge verstellt, die zur Entstehung und Manifestierung jener Stile und Gattungen geführt haben.4 Diese Einzelaussagen sind selbst wiederum ein Teil bestimmter sozialer, politischer und ästhetischer Diskurse und Forschungstraditionen, die eine Betrachtung der musiktheoretischen, handwerklichen Ursprünge immer begleiten und mitunter zu überformen drohen. Die jüngere Forschung hat versucht, ein differenzierteres Bild zu zeichnen (Harer 2007: 171-173). Dabei wird deutlich: die Wurzeln des Ragtime und Blues sind vielfältiger als angenommen. Ragtime, das war und ist nicht nur Klaviermusik, sondern auch Vokal- und Ensemblemusik (Berlin 1980). Blues ist in seinen Anfängen teilweise synonym zu setzen mit Ragtime (Muir 2010: 56), ebenso der frühe Jazz (Gioia 2011: 20); terminologisch lassen sich hier kaum klare Grenzen ziehen. Während die Werke und Biographien der Protagonisten des Ragtime, Blues und Jazz relativ gut erforscht wurden, blieb aber insbesondere eine Frage weitgehend unbeantwortet: Wer waren ihre Lehrer und wie fand der Transfer des musiktheoretisch-kompositorischen Handwerks statt?5 Um Antworten auf diese Fragen zu finden, ist es hilfreich, den zeitlichen und räumlichen Fokus zu weiten und den Blick auf den Mittleren Westen der USA, insbesondere Missouri zu richten. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang eine Aussage von Nathan B. Young Jr. (1894-1993), einem der ersten afro-amerikanischen Richter und Chronisten der afro-amerikanischen Geschichte von St. Louis: »The story of American music […] call it Afro-American, Negro-American or Black-American music, the fusion of it started in St. Louis and is an important story […]. My research shows that it was a fusion of the German talent in St. Louis, its musical talent, the refugees from Germany driven out of Germany, seeking freedom, who came to St. Louis, who set up their sing-alongs and their music clubs, and their appreciation for music […]. Listen, all the early teachers in the west were German teachers, music teachers. All our famous black musicians, Tom Turpin, Scott Joplin, all went to German music teachers to get their formal education. […] Handy, in his book tells you that he got his fundamental music composition from [Maurice] Bach. 4
5
In diesem Punkt ähneln sich Teile der frühen Jazzforschung und der »klassischen« Musikforschung, insbesondere über die großen Komponisten der »Romantik« (Chopin, Wagner, Verdi). Zum Geniekult im 19. Jh. vgl. Teriete (2015). Die Gründe für die geringe Beachtung dieser Frage sind vielfältig und können an dieser Stelle nicht behandelt werden, vgl. dazu Wald (2014).
122
EINFLÜSSE DEUTSCHER MUSIKTHEORIE AUF DIE ENTSTEHUNG DES RAGTIME, BLUES UND JAZZ So the Germans infused their technical music into the stream of Negro beat and rhythm. And soon we had rag time and the development of blues. And later jazz. That to me is the real America. Negro music is not all African. It is not all tom-tom, they knew nothing about the piano there and the other instruments that have been mastered. The clarinet, the violin. Mastered by Negroes in New Orleans and St. Louis but put to the use of fusing the feeling of the Negroes on the technical basis of German music. And that's why it's lasted. And that to me is the real picture of America. It is the fusion of cultures, not one culture alone, standing and growing by itself. […] And it's an untold story, it's undeveloped. I told somebody I said, ›These Ph.D.'s are doing research, they really ought to get busy right here in Missouri‹« (Young 1970: 7-9). Youngs Ausführungen erscheinen auf den ersten Blick erstaunlich, denn deutsche Lehrer spielen in der Jazzgeschichtsschreibung über diese Zeit praktisch keine Rolle, und wenn doch, dann nur eine marginale.6 Geht man aber der Spur nach, die Young hier aufzeigt, lassen sich verblüffende Muster erkennen: •
•
•
•
•
Scott Joplin (1867/8-1917) wurde von mindestens einem deutschen Lehrer unterrichtet und studierte Musiktheorie nach der Lehrart des Leipziger Konservatoriums (s.u.) (Piras 2012). William C. Handy (1873-1958) erhielt Unterricht von einem schweizerischen Absolventen des Leipziger Konservatoriums (s.u.) (Handy 1991: 32, Starling 1887: 756f.). Will Marion Cook (1869-1944) studierte Musiktheorie und Komposition am Oberlin Conservatory, das von Absolventen des Leipziger Konservatoriums nach Leipziger Vorbild entworfen worden war, und später Klavier, Musiktheorie sowie Geige bei Joseph Joachim (1831-1907) an der Hochschule für Musik Berlin (Carter 2008: 12f.). James Reese Europe (1880-1919) hatte Privatunterricht in Musiktheorie und Instrumentation beim deutsch-ungarischen Konzertpianisten Hans Hanke (1883-192[?]), einem Absolventen des Leipziger Konservatoriums (Badger 1995: 21). Will Vodery (1885-1951) bekam Theorieunterricht von Louis Koemmenich (1866-1922) (Tucker 1996: 128) einem deutschen Absolventen des Kullakschen Konservatoriums in Berlin (Winter/Thoma 1894: 99).
Diese Liste ließe sich noch fortsetzen (vgl. zur Heide 2006). Mit Handy, Cook, Europe und Vodery sind hier nur die bedeutendsten Vertreter genannt. Sie gehörten im Harlem der späten 1910er und 20er Jahre nicht nur zu den ge-
6
Auf die Bedeutung deutsch-amerikanischer Musikkultur für die Entwicklung des Ragtime haben bereits zur Heide (2006), Piras (2012) und Wald (2014) hingewiesen.
123
PHILIPP TERIETE fragtesten Ragtime-, Blues- und Jazzkomponisten, sondern waren auch die Mentoren der nächsten Generation von Jazzmusikern wie James P. Johnson7 (1894-1955) und Duke Ellington (1899-1974). Es bedarf einer ausführlicheren Untersuchung, um herauszufinden, welche Rolle europäische Lehrer und europäische Musiktheorie in der Ausbildung jener Musiker gespielt haben. Sie würde den Rahmen dieser Studie sprengen.8 Die folgenden Ausführungen beschränken sich darauf, am Beispiel von Scott Joplin und in kürzerer Weise von W.C. Handy zu zeigen, welchen Einfluss die deutsche Musiktheorie und Kompositionslehre des 19. Jh. auf die beiden Musiker und somit auf die Entwicklung des Ragtime, Blues und Jazz gehabt haben könnten. Es versteht sich, dass diese Einflüsse nur einen Teil im komplexen Zusammenspiel verschiedenster Elemente ausmachen (vgl. Harer 2006 u. 2007: 171). Es geht hierbei nicht darum, die genuinen Leistungen, die Eigenständigkeit und die Originalität der bedeutenden afro-amerikanischen Komponisten zu relativieren. Es sollen lediglich bislang unerforschte Verbindungen auf musiktheoretischkompositorischer und pädagogischer Ebene historisch untersucht werden, die zur Herausbildung dieser Musikrichtungen beigetragen haben könnten.
I. Scott Joplin 1. Joplins Ausbildung Scott Joplin wurde 1867/8, kurz nach dem Ende des Bürgerkriegs, in der Nähe von Texarkana, Texas, als Sohn ehemaliger Sklaven geboren.9 In Texarkana wurde Julius Weiss (1841-1913[?]) aus Sachsen sein erster Klavierlehrer (Albrecht 1979). Über Julius Weiss ist wenig bekannt (vgl. Piras 2012). Fest steht aber, dass er für Joplins frühe musikalische Ausbildung und vermutlich auch dessen Allgemeinbildung verantwortlich war. Weiss unterrichtete die Kinder der Familie Rodgers, bei der Joplins Mutter als Hausangestellte arbeitete, in 7
8 9
Johnson studierte die englische Übersetzung der offiziellen Harmonielehre des Leipziger Konservatoriums, dem Lehrbuch der Harmonie (1853) von Ernst Friedrich Richter (1808-1879), sowie Percy Goetschius' (1853-1943) musiktheoretische Schriften (Howland 2009: 209), die die Lehre von Goetschius' deutschem Mentor Immanuel Faißt (1823-1894), dem Gründer des Stuttgarter Konservatoriums, wiedergeben. Die Doktorarbeit des Verfassers zum Einfluss der europäischen Musiktheorie auf den frühen Jazz ist in Vorbereitung. Zu Joplins Biographie vgl. Berlin (2016). Diese Studie beschränkt sich auf Joplins Lehrjahre in Texarkana, Sedalia und St. Louis. Zum Kontakt von Joplin zum italienischen Klavierpädagogen Bruto Giannini (1848-1931) in New York vgl. Piras (2013).
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EINFLÜSSE DEUTSCHER MUSIKTHEORIE AUF DIE ENTSTEHUNG DES RAGTIME, BLUES UND JAZZ Deutsch, Astronomie, Mathematik und Musik (Klavier und Geige). Zudem machte er seine Schüler mit dem klassischen europäischen Repertoire vertraut und weckte in ihnen eine Liebe zur Oper (Blesh 1971: xiv). Als Jugendlicher gründete Joplin ein Vokalensemble, trat als Pianist in den Bars und Vergnügungsetablissements der Region auf und komponierte seine ersten Rags. 1894/5 zog Joplin nach Sedalia, Missouri, wo er 1896 Mitglied der Queen City Cornet Band wurde und ca. 1896/7-1900 am George R. Smith College studierte, einem der ersten Colleges für Afro-Amerikaner, an dessen »Music Department« neben »Vocal and Instrumental Music« auch »Theory and Harmony« unterrichtet wurden (SWC 1903: 2).10 Es ist bislang ungeklärt, wer Joplins Lehrer am George R. Smith College waren und was er dort lernte. In Sedalia traf Joplin 1898 auf seinen späteren Verleger John Stark (18411927) und dessen Tochter Eleanor (1872-1929). Bei John Stark & Son veröffentlichte Joplin 1899 den »Maple Leaf Rag«, der zu einem Hit wurde und ihm den Titel »The Ragtime King« einbrachte. Eleanor Stark war mit Joplin befreundet und spielte dessen Werke bei ihren Auftritten als Pianistin. Sie hatte ihre Ausbildung — so wie viele USamerikanische Musiker*innen — in Deutschland erhalten.11 1895-1898 studierte sie Klavier bei Moritz Moszkowski (1854-1925) am Kullakschen Konservatorium in Berlin und erhielt Musiktheorieunterricht von einer Studentin Ludwig Busslers.12 Nach ihrer Rückkehr in die USA half Eleanor neben ihrer Konzerttätigkeit im Musiklektorat von Stark & Son (Berlin 2011: 356). Ende 1900 zogen sowohl Joplin als auch die Familie Stark mitsamt Verlag nach St. Louis. In St. Louis widmete Joplin sich zunehmend der Komposition 10 Zur Diskussion der Zugangsmöglichkeiten für Afro-Amerikaner zu Ausbildungsinstitutionen und Konzerthäusern vgl. Piras (2012) und Berlin (2016). 11 Zur internationalen Dominanz deutscher Konservatorien — insbesondere des Leipzigers — im späten 19. Jh. und ihrer Anziehungskraft auf US-amerikanische Studenten vgl. Philips (1979), Bromberger (1991) und Wasserloos (2004). Carl Lachmund (1853-1928), einer der bedeutenderen deutsch-amerikanischen Schüler Liszts, schreibt am 4. März 1882 im American Art Journal über die proportionale Verteilung US-amerikanischer Studenten an europäischen Konservatorien in jenem Jahr: Es studierten »seven Americans at the Paris Conservatory, four at the Brussels Conservatory, three at the Prag Conservatory, two at the Milan Conservatory and one at the Vienna Conservatory. At the same time there were 128 Americans attending a group of six German conservatories which did not include the popular Kullak, Stern, or Munich Conservatories« (Lachmund 1882, zit. n. Bromberger 1991: 8f.). 12 Ludwig Bussler (1838-1900) war einer der bedeutendsten Musiktheoretiker seiner Zeit und Professor am Sternschen Konservatorium in Berlin. Busslers Lehrbücher, etwa die Praktische Harmonielehre in Aufgaben (1875) oder die Musikalische Formenlehre (1878), wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und waren Ende des 19. Jh. international verbreitet.
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PHILIPP TERIETE und dem Unterrichten jüngerer Ragtime-Pianisten und -Komponisten. 1901 traf Joplin auf Alfred Ernst (1868-1916), den aus Sachsen stammenden Leiter der 1880 gegründeten St. Louis Choral-Symphony Society. Möglicherweise kam das Treffen durch Eleanor Stark zustande, die in Ernsts Chor sang. Ernst war begeistert von Joplins Talent. Am 28. Februar 1901 schrieb der St. Louis Post-Dispatch: »To Play Ragtime in Europe Director Alfred Ernst of the St. Louis Choral Symphony Society believes that he has discovered, in Scott Joplin of Sedalia, a negro, an extraordinary genius as a composer of ragtime music. So deeply is Mr. Ernst impressed with the ability of the Sedalian that he intends to take with him to Germany next summer copies of Joplin's work with a view to educating the dignified disciples of Wagner, Liszt, Mendelssohn and other European masters of music into an appreciation of the real American ragtime melodies. It is possible that the colored man may accompany the distinguished conductor. When he returns from the storied Rhine Mr. Ernst will take Joplin under his care and instruct him in the theory and harmony of music. […] ›I am deeply interested in this man,‹ said Mr. Ernst to the Post-Dispatch. ›He is young and undoubtedly has a fine future. With proper cultivation, I believe, his talent will develop into positive genius. Being of African blood himself, Joplin has a keener insight into that peculiar branch of melody than white composers. His ear is particularly acute. Recently I played for him portions of ›Tannhauser.‹ [sic] He was enraptured. I could see that he comprehended and appreciated this class of music. […] The work Joplin has done in ragtime is so original, so distinctly individual, and so melodious withal, that I am led to believe that he can do something fine in compositions of a higher class when he shall have been instructed in theory and harmony‹« (SLPD 1901: 3). Zur Reise nach Deutschland kam es für Joplin höchstwahrscheinlich nicht, möglicherweise aber zum weiteren Austausch mit dem fast gleichaltrigen Alfred Ernst.13 Sie lebten immerhin etwa sechs Jahre lang (1901-1907) zur gleichen Zeit in St. Louis. 1902 wurde Ernst Professor am Strassberger Conservatory (Abb. 1), das 1891 von Clemens Strassberger (1859-1919) — einem gebürtigen Sachsen, der am Dresdner Konservatorium studiert hatte (McGroarty 1921) — gegründet worden war (Burk 2001). Dort und an den anderen Konservatorien in St. Louis unterrichteten überdurchschnittlich viele deutsche Musiker. Aber warum ausgerechnet Deutsche und warum in St. Louis?
13 Zu den Spekulationen über Joplins angebliche Reise nach Deutschland s. Berlin (2016: 209).
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Abb. 1: The Reporter of Strassberger's Conservatory of Music (Quelle: RSC 1902, S. 1).
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PHILIPP TERIETE
Exkurs: Immigration in den USA im 19. Jh. und Musikkultur in St. Louis Die Deutschen stellten in der zweiten Hälfte des 19. Jh. die größte Einwanderergruppe in den USA dar, dicht gefolgt von den Iren. Nach ersten Immigrationswellen zu Beginn und in der Mitte des Jahrhunderts (ausgelöst durch die Revolution von 1848) kam es gegen Ende des Jahrhunderts zu sogenannten »chain migrations« aus Deutschland mit einem Höhepunkt von über 200.000 Einwanderern im Jahre 1882. Insgesamt immigrierten im 19. Jh. mehr als fünf Mio. Deutsche in die USA (Detjen 1985). Die »Germans« brachten ihre Traditionen und ihre Kultur mit in die neue Heimat — die Turnvereine, das Bier, »kindergarten«, Liederkränze und Singvereine, Orchester, Instrumente und Musikalien — und sie wurden zu einem wichtigen wirtschaftlichen und politischen Motor der USA. Die Deutschen prägten, ja dominierten bisweilen das kulturelle Leben und genossen im Allgemeinen ein hohes Ansehen. Das änderte sich mit den Weltkriegen.14 Noch heute lässt sich der sogenannte »German Belt« erkennen. Laut dem Ancestry 2000 Report des U.S. Census Bureau gab jeder sechste US-Bürger (insgesamt ca. 42 Mio.) an, deutsche Vorfahren zu haben (Brittingham/de la Cruz 2004: 3-8). St. Louis war ein beliebtes Ziel deutscher Einwanderer (Arenson 2011: 19f.). Die Stadt war bis weit ins 19. Jh. hinein das bedeutendste kulturelle Zentrum und Drehkreuz des US-amerikanischen Westens: am Mississippi gelegen, auf der Grenze von Missouri und Illinois, zwischen New Orleans, New York, Chicago und San Francisco. In der zweiten Hälfte des 19. Jh. erfuhr St. Louis eine regelrechte Bevölkerungsexplosion (1850-1900 von ca. 78.000 auf 575.000 Einwohner) und wuchs bis 1900 zur viertgrößten Stadt der USA heran. Deutsche bildeten mit über 50% die größte Gruppe unter den Einwanderern in St. Louis, das als »German city in the middle of America« bezeichnet wurde (Detjen 1985: 6). Die »St. Louis Germans« hatten großen Einfluss in der lokalen Politik und Wirtschaft und machten aus der Stadt ein musikalisches Zentrum von internationalem Rang. Es gab diverse Orchester, Singver14 »German-Americans came under intense, and often violent, scrutiny. […] There had long been doubts about the loyalty of German-Americans, especially in the myriad pockets of the Midwest where they were particularly dominant. Even the German music of Beethoven and Brahms, which had been assumed to be immune to the hysteria, came under attack. […] Sheet music, along with books by German authors, was burned in public spectacles. Not surprisingly, those who could hid their Germanic roots; some switched their names; many others canceled their subscriptions to German newspapers, which virtually disappeared« (Kirschbaum 2015).
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EINFLÜSSE DEUTSCHER MUSIKTHEORIE AUF DIE ENTSTEHUNG DES RAGTIME, BLUES UND JAZZ eine und »Concert Bands« (vgl. Wald 2014: 35f.). Das »klassische« Repertoire umfasste die italienische, deutsche und französische Oper, vor allem aber die deutsche Kammer- und Chormusik sowie Symphonik (Burk 2001). Ein Großteil der Musiker, Verleger und Musiklehrer in St. Louis war deutschstämmig, so auch die Gründer der zahlreichen »Music Conservatories«. Das älteste Konservatorium war das Beethoven Conservatory (gegr. 1871). Es gehörte zusammen mit dem Strassberger Conservatory zu den renommiertesten musikalischen Lehranstalten des Westens. 1916 schließlich gab es allein in St. Louis mehr als ein Dutzend Konservatorien, die fast ausnahmslos von deutschstämmigen Musikern nach deutschem Vorbild gegründet worden waren.15 Durch die in Deutschland ausgebildeten US-amerikanischen Studenten und die eingewanderten deutschen Musiker verbreitete sich auch die deutsche »Konservatoriumslehre«. Alfred Ernst war ein Teil dieser Entwicklung. Wie aus dem Kurzportrait des Reporter of Strassberger's Conservatory hervorgeht, war er ein Absolvent des Leipziger Konservatoriums (RSC 1902: 2): »The distinguished and eminent piano artist, composer and successful conductor of the St. Louis Choral-Symphony Society, has been engaged by Director Strassberger as Instructor of Piano in the higher grades for his Conservatory. Mr. Ernst received his final musical education at the Leipsic Royal Conservatory under the eminent Carl Reinicke, Oscar Paul, L. [sic] Jadassohn and others. […] In 1894 he came to St. Louis and was chosen Director of Orchestra and Choir of the St. Louis Choral-Symphony Society, and in this responsible position he has made a wonderful success. All criticisms and testimonials which he received are conclusive evidence of his knowledge as a piano virtuoso and teacher of international reputation. Mr. Strassberger has so arranged matters that applicants can obtain instruction from him at reasonable terms.«16 Ernst blieb bis 1907 Dirigent der St. Louis Symphony-Choral Society und kehrte schließlich nach Deutschland zurück. Im gleichen Jahr verließ auch Joplin die Stadt. Ob sie nach ihrer ersten Begegnung weiterhin in Kontakt standen und 15 Die Konservatorien und ihre Gründer/Direktor*innen: Beethoven Conservatory of Music (August Waldauer), Henniger's Conservatory (Frank Henniger), Strassberger's Conservatory (Clemens Strassberger), Weltner Conservatory (Frank Weltner), Boeddecker Conservatory (Emily Boeddecker), Heink Conservatory (Felix Heink), Schrickel College (Carl Schrickel), Rinaldo's Conservatory (Eugene Rinaldo), Frederich School of Music (Joseph Frederich), Conrath Conservatory (Louis Conrath), Kroeger School of Music (Ernst Kroeger), Missouri Conservatory (J. Eisenberg), Geisser Piano School (Carl Geisser), St. Louis Conservatory of Music and School of the Arts (Charles Kunkel), Christensen School of Ragtime (Axel Christensen) (SLPD 1906: 14; SLS 1916: 7). 16 Bislang ist wenig über Ernst bekannt, es gibt weder Einträge in einschlägigen Enzyklopädien noch gesonderte Arbeiten über ihn. Es scheint, als könne hier zum ersten Mal belegt werden, dass Ernst ein Student Jadassohns war.
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PHILIPP TERIETE ob es zu den versprochenen Unterrichtsstunden kam, lässt sich nicht belegen.17 Zum Strassberger Conservatory hatte Joplin aufgrund der damaligen Segregation vermutlich offiziell keinen Zugang. Ein Austausch hätte aber durchaus privat und informell stattfinden können. Joplins Wissensdurst war bekannt (Berlin 2016: 58). Wenn Ernst bereit war, ihn zu unterrichten, dann vermutlich auch einer der weniger bedeutenden, aber kompetenten Lehrer, an denen es in der Stadt nicht mangelte. Rudi Blesh überliefert, dass Joplin 1904 eine englische Übersetzung von Jadassohns Lehrbuch des einfachen, doppelten, dreifachen und vierfachen Contrapunkts18 kaufte und dieses, den Gebrauchsspuren nach zu urteilen, fleißig studierte (Blesh 1971: xxxiv-xxxv). Es ist denkbar, dass Joplin dieses Lehrbuch auf Rat von Alfred Ernst erworben oder sogar von diesem persönlich erhalten hat. Es gibt jedoch weder dafür Belege, noch dafür, dass Joplin weitere Lehrbücher Jadassohns besaß.
2. Vergleichende Analyse Eine vergleichende Analyse ausgewählter Werke Joplins (»Maple Leaf Rag«, School of Ragtime, Treemonisha) und dreier Lehrbücher Jadassohns (Manual of Counterpoint, Manual of Harmony, Die Kunst zu Moduliren und zu Präludiren) soll helfen herauszufinden, ob es satztechnische Analogien zwischen Joplins Werken und Jadassohns musiktheoretischen Übungen gibt. Dabei geht es nicht darum, einen direkten Einfluss der jeweiligen Lehrbücher auf eine konkrete Komposition zu beweisen, sondern darum, Einflüsse in einem allge17 Beide starben eines vorzeitigen und tragischen Todes: Einen Tag vor Silvester 1916 erlag Ernst den Verletzungen, die er auf deutscher Seite in Gefechten des Ersten Weltkrieges davongetragen hatte (SLPD 1917: 3). Nur vier Monate später starb Joplin, mittellos und vereinsamt, an den Folgen einer Demenzerkrankung. 18 Salomon Jadassohn (1831-1902) hatte am Leipziger Konservatorium Klavier, Musiktheorie und Komposition bei E.F. Richter, M. Hauptmann (1792-1868) und I. Moscheles (1794-1870) studiert und war einer von Liszts Meisterschülern in Weimar. Er wurde später Professor am Leipziger Konservatorium und Lehrer von E. Grieg (1843-1907), I. Albéniz (1860-1909), F. Busoni (1866-1924) u.v.a. (Saslaw 2001). Zu Jadassohns wichtigsten Lehrwerken gehören die Musikalische Kompositionslehre (I. Die Lehre vom reinen Satz: 1. Lehrbuch der Harmonie (1883), 2. Lehrbuch des einfachen, zweifachen, dreifachen und vierfachen Contrapunkts (1884), 3. Die Lehre vom Canon und von der Fuge; II. Die Lehre von der freien Komposition: 1. Die Formen in den Werken der Tonkunst (1885), 2. Lehrbuch der Instrumentation (1889)); Die Kunst zu Moduliren und zu Präludiren (1890); Das Tonbewusstsein: Die Lehre vom musikalischen Hören (1899); Der Generalbass (1901). Jadassohns musiktheoretische Schriften wurden zum großen Teil ins Englische übersetzt und fanden weite Verbreitung im anglo-amerikanischen Raum. In den USA wurden seine Lehrbücher von G. Schirmer (1829-1893) herausgegeben.
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EINFLÜSSE DEUTSCHER MUSIKTHEORIE AUF DIE ENTSTEHUNG DES RAGTIME, BLUES UND JAZZ meineren Sinne zu untersuchen. Jadassohns Lehrbüchern liegt eine avancierte stufentheoretisch durchsystematisierte Generalbassharmonik zugrunde. Die Analysen und Bezifferungen der Werke und Übungen richten sich im Folgenden nach der Methodik Jadassohns.
Nb. 1: Joplin (1899): »Maple Leaf Rag«, S. 1 (Analyse/Bezifferung des Verfassers nach Jadassohn).
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PHILIPP TERIETE Joplins wohl berühmtestes Stück, der »Maple Leaf Rag«, ist enharmonisch korrekt und »klassisch« notiert.19 Das charakteristische Umkreisen der 5. Bassstufe in der Kadenz (Nb. 1, T. 9-12/13-16) findet sich auch in Jadassohns Manual of Harmony, jedoch mit leicht veränderten Akkordvarianten (Nb. 2). Das Erreichen des kadenziellen Quartsextakkordes durch einen verminderten Septakkord in Quintsextakkord-Stellung auf der prädominantischen erhöhten 4. Tonleiterstufe (Nb. 1, T. 9-10) lehrt Jadassohn in Die Kunst zu Moduliren und zu Präludiren (Nb. 3).
Nb. 2: Jadassohn (1883): Manual of Harmony, S. 113.
Nb. 3: Jadassohn (1890): Die Kunst zu Moduliren und zu Präludiren, S. 106.
Joplin veröffentlichte den »Maple Leaf Rag« 1899, bereits zwei Jahre bevor er die Bekanntschaft von Alfred Ernst machte. Ob er die zugrundeliegenden Modelle von Julius Weiss, am George R. Smith College, von Eleanor Stark oder anderswo gelernt hat — entweder per Gehör und durch rein praktische Anweisung oder durch »textbooks« —, lässt sich nicht feststellen. In diesem Zusammenhang wesentlicher ist aber, dass die Grundlage seiner Komposition auf einer spezifischen Ausarbeitung von traditionellen Generalbass- bzw. Harmoniemodellen beruht, einer Methode, die er auch in seinen späteren Werken und in seiner School of Ragtime ausformuliert (Nb. 4).
19 Dies allein lässt freilich noch keine Rückschlüsse auf Joplins Notationskenntnisse in jener Zeit zu, denn die Korrektur enharmonischer »Fehler« hätte auch durch Lektor*innen von Stark & Son (z.B. Eleanor Stark) vorgenommen werden können.
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Nb. 4: Joplin (1908): School of Ragtime, S. 1 (Analyse/Bezifferung des Verfassers nach Jadassohn).
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PHILIPP TERIETE Die Kadenz in T. 3-4 aus der »Exercise No. 2« von Joplins School of Ragtime (Nb. 4) ähnelt Bsp. 384, 2 (Nb. 5) aus Jadassohns Manual of Harmony (einer Übung zum prädominantischen Quintsextakkord auf der 6. Bassstufe — nach Jadassohn einer Umkehrung des IV7 Akkordes mit hochalteriertem Grundton).
Nb. 5: Jadassohn (1883): Manual of Harmony, S. 231 (Analyse/Bezifferung des Verfassers nach Jadassohn).
Ob die Synkopierungen des »modern free style« im Bsp. 135 aus Jadassohns Manual of Counterpoint auch eine Inspirationsquelle für die Entwicklung der »ragtime syncopations« gewesen seien könnten, bleibt noch zu untersuchen (Nb. 6).20
Nb. 6: Jadassohn (1884): Manual of Counterpoint, S. 51.
20 Die Herkunft der Synkopierungen ist nicht eindeutig geklärt (vgl. Berlin 1980). Sie werden oft auf afro-kubanische Einflüsse zurückgeführt (Hendler 2008: 184191), denkbar sind aber auch orientalische (vgl. zur Heide 2012/13) sowie iroschottische Einflüsse (Kerschbaumer 2012: 3-20).
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EINFLÜSSE DEUTSCHER MUSIKTHEORIE AUF DIE ENTSTEHUNG DES RAGTIME, BLUES UND JAZZ Joplin schrieb außer Klavier- und Vokalmusik auch ein Ballett und zwei Opern: A Guest of Honor (1903) und Treemonisha (1911). A Guest of Honor ist verschollen, die orchestrierte Fassung von Treemonisha wurde offenbar vernichtet, überliefert ist nur ein Klavierauszug (Berlin 2016: 326). Die Satztechnik und Form von Treemonisha erinnert in mancher Hinsicht an frühromantische europäische Opern. Joplin bedient sich hier vieler klassischer Satzmodelle. In T. 2-6 des Nb. 7 (»Ouvertüre«) etwa findet sich ein »Omnibus« bzw. eine Variation der »Teufelsmühle«.21
Nb. 7: Joplin (1911): Treemonisha »Ouvertüre«, S. 18 (Analyse/Bezifferung des Verfassers nach Jadassohn).
Eine Übung zum »Omnibus« findet sich auch in Jadassohns Manual of Harmony (Exercise 239h, S. 281) und in seiner Kunst zu Moduliren und zu Präludiren (Nb. 8, T. 2-4).
21 Zu »Omnibus« und »Teufelsmühle« vgl. Yellin (1998) und Holtmeier (2008: 763f.). Es handelt sich um zwei bedeutende chromatische Harmonisierungsmodelle. Die »Teufelsmühle« wurde gegen Ende des 18. Jh. populär und bezeichnet die Folge von Dominantseptakkord, vermindertem Septakkord und Moll-Quartsextakkord über chromatisch steigendem bzw. fallendem Bass. Im Gegensatz zur »Teufelsmühle« findet sich der Begriff »Omnibus« (Yellin 1998) nicht in den Quellen des 18. und 19. Jh. Letzterer bezeichnet die Folge von Dominantseptakkord, dominantischem Sekundakkord, Moll-Quartsextakkord, Dominantseptakkord, (dominantischem Quintsextakkord) über chromatisch steigendem bzw. fallendem Bass. Dabei versteht sich, dass die Dominantseptakkorde (und ihre Umkehrungen) auch als übermäßige Quintsextakkorde notiert werden können.
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Nb. 8: Jadassohn (1890): Die Kunst zu Moduliren und zu Präludiren, S. 172.
Ähnlich ist der »Omnibus« auch in frühromantischen deutschen Opern zu finden, etwa in Carl Maria von Webers (1786-1826) Oberon-Ouvertüre. Treemonisha erinnert nicht selten an die Musik von Webers. Dies ist nicht weiter verwunderlich, denn von Webers Werke gehörten im späten 19. Jh. auch zum Standardrepertoire in den USA und es ist wahrscheinlich, dass Joplin diese kennenlernte: durch Julius Weiss, Eleanor Stark oder Alfred Ernst, durch Konzertbesuche oder ein Partiturstudium (vgl. Berlin 2016: 264f.).22 Natürlich sind gängige und verbreitete harmonische Modelle, wie etwa der »Omnibus«, nicht »deutsch«.23 Es spricht aber einiges dafür, dass Joplin sie in einer quasi deutsch-akademischen Vermittlungsform kennengelernt und auch so angewandt hat: Joplin lernte Teile seines Handwerks über deutsche Lehrer und durch deutsche Lehrwerke. Darüber hinaus scheint auch das deutsche Repertoire, das in seinem näheren Umfeld gepflegt wurde — insbesondere die klassische und romantische Symphonik und Oper (Beethoven, von Weber, Wagner) — einen nachhaltigen Einfluss auf ihn ausgeübt zu haben (vgl. Piras 2012).
22 Vgl. dazu Albrecht (1979) und Piras (2012). Ob Joplin trotz der Segregation Zugang zu den Konzertsälen in Missouri erhalten konnte, ist schwer zu sagen, aber durchaus denkbar. 23 Ein »Omnibus« findet sich auch in der Einleitung von Jelly Roll Mortons (18901941) »King Porter Stomp« (1910[?]).
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I I . W il l i a m C . H a n d y 1. Handys Ausbildung Wenig ist über Handys (1873-1958) Ausbildung und Lehrer bekannt. Seine musikalische Grundausbildung erhielt er nach eigener Aussage unter Professor Y.A. Wallace an der »District School for Negroes« in seiner Heimatstadt Florence, Alabama. Handy beschreibt, dass der Schulchor in Ermangelung an Instrumenten a capella sang und er im Laufe seiner elfjährigen Schullaufbahn alle Stimmlagen durchlief. Vor dem Singen auf Text mussten die Schüler die Stimmen nach der »tonic sol-fa« Methode solmisieren, wodurch sie lernten, in allen Tonarten zu singen.24 Handy behauptet, dass er bereits mit zehn Jahren mithilfe der »tonic sol-fa« Methode sämtliche Klänge per Gehör einordnen konnte. An der Schule kaufte man jährlich neue Lehrbücher und der Chor erreichte ein Niveau, das es ermöglichte Ausschnitte aus Werken Wagners, Bizets und Verdis ohne Instrumentalbegleitung zu singen (Handy 1991: 14f.). Ähnlich wie Joplin wurde Handy später Mitglied in einer »brass band« und gründete ein Vokalensemble. Von 1893/4-1896 lebte er in Henderson, Kentucky, wo er sich offenbar privat weiterbildete: »A German singing society of several hundred voices was one of the glories of Henderson at the time. I was so impressed by the work of Professor Bach, their director, that I angled for a janitor job in their Liederkranz Hall in order to study the professor's methods and at the same time hear the men sing. In this way I obtained a postgraduate course in vocal music—and got paid for it. Of course I wasn't content to remain at a distance. Before long I was doing odd jobs around Professor Bach's house, winning my way into his good graces and hungrily snatching up every musical crumb that fell from the great man's table. Bach was not only an accomplished teacher and director. He had also written several successful operas« (Handy 1991: 32). Maurice Bach (1854-1917) war ein Organist und Komponist aus der Schweiz. Er hatte am Sternschen Konservatorium in Berlin und — so wie Alfred Ernst — am Leipziger Konservatorium bei Carl Reinicke studiert. Bach ließ sich in Henderson, Kentucky nieder, war dort Direktor der Musikabteilung des Henderson Female Seminary und Leiter des deutschen Chors (Starling 1887: 756f.). Wie stark der Einfluss von Bach auf Handy war, ist im Detail noch zu erforschen. Handys Kompositionen scheinen jedenfalls in harmonischer Hinsicht, ähnlich wie Joplins Werke, in der Tradition der stufentheoretisch über24 Zur »tonic sol-fa« Methode s. Rainbow/McGuire (2001).
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PHILIPP TERIETE formten Generalbassharmonik des späten 19. Jh. zu stehen. Stellvertretend für diese Tradition kann wiederum Jadassohn stehen, dessen Lehrbücher daher auch im Folgenden als Bezugspunkt dienen sollen.
2. Vergleichende Analyse An Handys »Memphis Blues« von 1912, einer der ersten notierten Blueskompositionen, lässt sich die Vermischung von Ragtime- und Blueselementen beobachten (vgl. Muir 2010: S. 104-140). Dieser als »Southern Rag« untertitelte Blues ist mehr Ragtime als Blues. Handy verwendet aber im Mittelteil statt der sonst eher üblichen 16-taktigen Phrasen eine ausnotierte 12-taktige Form, die als Blues-Schema (»12-bar blues«) die formelle und harmonische Improvisationsgrundlage schlechthin für den Blues, Jazz und Rock werden sollte (Nb. 9).25
Nb. 9: W.C. Handy (1912): »Memphis Blues«, S. 3 (Analyse/Bezifferung des Verfassers nach Jadassohn).
Fasst man die »blue note« cis in T. 6 des »Memphis Blues-Schemas« als akkordeigenen Ton auf und nicht lediglich als Appoggiatura (zur nicht akkordeigenen großen Septime über IV), so wären die T. 6-7 als Kadenzfortschreitung eines übermäßigen Sekundakkords auf der ersten bzw. übermäßigen Quint25 Zum Ursprung und zur Verbreitung des 12-taktigen Blues-Schemas vgl. Muir (2010).
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EINFLÜSSE DEUTSCHER MUSIKTHEORIE AUF DIE ENTSTEHUNG DES RAGTIME, BLUES UND JAZZ sextakkordes auf der vierten Skalenstufe (jeweils ii7 mit hochalteriertem Grundton) in die Tonika zu interpretieren. Eine derartige Fortschreitung findet sich auch bei Jadassohn, der sie als Plagalkadenz, ii7 (mit hochalteriertem Grundton) — I, beschreibt (Nb. 10) (vgl. Jadassohn 1890: 163f.).
Nb. 10: Jadassohn (1883): Manual of Harmony, S. 284.
Dies wirft die Frage auf, ob die auskomponierten »blue notes« (kleinen Septimen bzw. übermäßige Sexten) der subdominantischen und tonikalen Akkorde IV7 und I7 ihren Ursprung nicht auch in der avancierten Harmonielehrepraxis des späten 19. Jh. haben könnten (Nb. 10, 11 und 12).26
Nb. 11: Jadassohn (1883): Manual of Harmony, S. 135.
Nb. 12: Jadassohn (1883): Manual of Harmony, S. 136.
26 Über die genaue Herkunft der »blue notes« wurde bereits viel spekuliert. In der Regel werden sie jedoch auf den Einfluss westafrikanischer Musikpraktiken zurückgeführt: »Traditionally they were attributed to the difficulty in adapting West African pentatonicism to European diatonicism experienced by the American slaves, who were caused thereby to invent two new scale degrees of indistinct pitch. However, the proponents of this view overlook the fact that some West African scales are diatonic, and that pitch inflection occurs in West African music and may thus form part of the African heritage of the blues« (Robinson/Kernfeld 2003). Vgl. dazu auch Schuller (1968: 43f.) und Kubik (2001).
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PHILIPP TERIETE Im »Blues-Schema« von Handys »St. Louis Blues« (1914) mit seiner berühmten »Tango/Habanera«-Einleitung sind die subdominantischen Akkorde in T. 2/6 jeweils mit kleiner Septime notiert (analog zur abwärts führenden Melodie, Nb. 13).27
Nb. 13: Handy (1914): »St. Louis Blues«, S. 1 (Analyse/Bezifferung des Verfassers nach Jadassohn). 27 Man beachte, dass die kleine Septime über den subdominantischen Akkorden (IV) in der (später hinzugefügten) Ukulele-Tabulatur nicht angezeigt wird, obwohl sie in der Melodie und im Akkord erscheint (T. 2/6 des »St. Louis Blues-Schemas«), während die Tabulatur über den tonikalen Akkorden — analog zur Partitur — die Akkorde abwechselnd mit und ohne kleiner Septime anzeigt (T. 1, 3-4, 7-8); vgl. zur Tabulatur Paymer (1993: 264f.).
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Fazit Es wurden hier nur die Spuren der deutsch-amerikanischen Musikausbildung und ihr möglicher Einfluss auf die Entwicklung des Ragtime, Blues und Jazz verfolgt. Wie die »Tango/Habanera«-Einleitung des »St. Louis Blues« zeigt, sind dies selbstverständlich nicht die einzigen Einflüsse, sondern es gibt daneben auch noch die afro-amerikanischen, afro-kubanischen, argentinischen, französischen, italienischen, spanisch-mexikanischen, orientalischen, iroschottischen u.a. Einflüsse. In Hinsicht auf die konkreten musiktheoretischhandwerklichen Grundlagen und die pädagogischen Hintergründe und Ausgangsbedingungen steht die Forschung erst am Anfang. Neben der Harmonik und Rhythmik wären in ähnlicher Weise auch noch die Formen- und Instrumentationslehre sowie die Gesangs- und Instrumentalpädagogik zu untersuchen.28 Es kann und soll hier nicht behauptet werden, dass Joplin oder Handy ihre Ausbildung und ihre satztechnischen Grundlagen dem Leipziger oder Sternschen Konservatorium verdanken, und es geht es nicht darum, den afroamerikanischen Komponisten ihre Leistungen als Schöpfer eines individuellen, bahnbrechend neuen Stils abzusprechen. Ragtime, Blues und Jazz sind von ihren Ursprüngen her jedoch hybride Stile. Sie entstanden in den USA aufgrund der spezifischen historischen und soziokulturellen Kontexte erst spät und durch die Vermischung unterschiedlichster kultureller Einflüsse und musikalischer Elemente. Die »fusion of cultures«, von der Young (1970: 8) spricht, ist dabei nicht nur eine der Stile und Genres, sondern auch eine der sozialen Ebenen, über die hier wenig gesprochen wurde und die es vor diesem Hintergrund noch einmal neu zu untersuchen gilt. Joplin und Handy haben offenbar gezielt den Austausch mit den professionellen Musikern der sie umgebenden unterschiedlichen musikkulturellen Traditionen gesucht, die das US-amerikanische Musikleben bestimmt haben. Darin nahmen die deutschen Traditionen eine dominante Rolle ein. Der pädagogische Transfer ist im Einzelnen schwer zu rekonstruieren, die Quellenlage ist nach wie vor dünn. Dennoch ist es möglich und lohnend, den methodisch-didaktischen Diskurs und das Umfeld, in dem die Entwicklung der hier behandelten Musiker stattfand, zumindest partiell zu rekonstruieren. 28 Die Verwandtschaft der Formen (Marsch, Polka etc.) und Instrumentationen europäischer Musik und des Ragtime wurde bereits vielfach untersucht, jedoch nicht unter Einbeziehung zeitgenössischer, verbreiteter Lehrbücher wie etwa Jadassohns Formen- und Instrumentationslehre, Manual of Musical Form (1892) und A Course of Instruction in Instrumentation (1899).
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PHILIPP TERIETE Viele der Formen und harmonischen Progressionen des Ragtime, Blues und Jazz stehen im Einklang mit europäischen Traditionen und sie spielen, genau wie die Terminologie und Theorien (Stufen- und Funktionstheorie), auch in der heutigen akademisierten und globalisierten Jazzausbildung noch eine gewichtige Rolle. Während die europäische »Kunstmusik« sich im späten 19. und 20. Jh. von einem regelpoetischen, schematabasierten Denken zunehmend entfernte (und damit auch von der Tonalität und — besonders folgenreich — der Improvisation),29 wurde dieses Denken im Ragtime, Blues und Jazz fortgesetzt und weiterentwickelt. Es mag vor allem diese Trennung sein, die den Gegensatz von »Popularmusik« und »Kunstmusik«, von »nieder« und »hoch«, von »Unterhaltungskultur« und »Hochkultur« befördert hat. Eine Rückbesinnung auf die pädagogischen Ursprünge des Ragtime, Blues und frühen Jazz hingegen zeigt die große handwerkliche Nähe der Traditionen auf.
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PHILIPP TERIETE
Abstract Ragtime and blues are considered to be direct precursors of jazz. However, at the beginning of the twentieth century, generic distinctions between ragtime, blues, and jazz were less marked than they are today. In fact, the terms were often used interchangeably. In this paper, I suggest a widening of our historical lens in order to see how certain European traditions played an important role in shaping these three iconic US-American styles. While relatively much is known about the biographies and oeuvres of the creators of ragtime, blues, and jazz, music-theoretical contexts and educational backgrounds of composers do not receive the same scholarly focus. Who were these musicians' teachers? What exactly did they learn? Analyses only rarely address such topics and often ignore music-theoretical questions. My research into previously unknown textual and musical sources suggests that the creators of ragtime, blues, and jazz were not only strongly influenced by a certain European repertoire but also by European (and particularly German) music-theoretical concepts. I demonstrate that the interaction between African-American musicians and German music teachers and traditions such as the »Leipziger Konservatoriumslehre« may have played a significant role in the shaping of ragtime, blues, and jazz.
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D E R S C H N I T Z E L B A N K -S O N G U N D R E Z E P T I O N I N D E N USA
SEINE
Fa b ia n B a d e 1. Prolog Deutschsprachiger populärer Musik fällt in den USA trotz eines Bevölkerungsanteils von etwa 15% US-Amerikanern mit deutschen Wurzeln1 allenfalls eine marginale Rolle zu. Dies zeigt sich sowohl im sporadischen Auftreten weniger Stücke in den Billboard-Charts2 als auch bei der geringen Anzahl von Songs, die in anderen Kontexten wie Werbespots3 oder Kinofilmen4 Eingang in die US-amerikanische Popkultur fanden. Nimmt man die Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in den Blick, so gehören Kraftwerk, Trio, Nena, Falco und Rammstein samt einiger heute dort weniger bekannter Interpreten wie bspw. Marlene Dietrich und Peter Schilling zu den zentralen Repertoirequellen deutschsprachiger (Pop-)Musik in den Vereinigten Staaten. Bei genauerer Betrachtung fällt hier allerdings ein weiterer Titel ins Auge, der in verschiedenen Zusammenhängen immer wiederkehrt und um den es im Folgenden gehen soll: die Schnitzelbank. Interessanterweise ist dieser Song 1 2
3
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Vgl. den Bericht des U.S. Census aus dem Jahr 2000, https://www.census. gov/history/pdf/ancestry.pdf, S. 3, Zugriff: 5.4.2018. Vgl. etwa die Songs »Da Da Da« (Trio, 1982, Platz 33 der Billboard Dance Charts), »99 Luftballons« (Nena, 1984 auf Platz 2 der Billboard Hot 100) oder »Rock Me Amadeus« (Falco, 1986, Platz 1 der Billboard Hot 100). Trios »Da Da Da« wurde bspw. in der Originalversion von 1982 in TV-Werbespots zur Hauptsendezeit im Rahmen großer medialer Ereignisse eingesetzt. 1997 findet sich der Titel in einem Volkswagen-Clip (vgl. Robert Peele am 4. Dezember 2009 in der New York Times unter https://wheels.blogs. nytimes.com/2009/12 /04/classic-ad-volkswagen-golf/, Zugriff: 4.4.2018) und noch einmal neun Jahre später in einer von Christina Aguilera gesungenen Version innerhalb eines Werbespots zur Fußball-Weltmeisterschaft 2006 für Pepsi (vgl. Schock, Axel am 4.12.2012 in einem Beitrag in der Mitteldeutschen Zeitung: https://www.mzweb.de/kultur/musik--trio----von-grossenkneten-in-die-weite-welt-729750, Zugriff: 4.4.2018. So wurden etwa die Rammstein-Songs »Heirate mich« (1995) und »Rammstein« (1995) im Film Lost Highway des Regisseurs David Lynch verwendet.
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FABIAN BADE — präziser formuliert: sind die Schnitzelbank-Songs, denn der Song tritt in verschiedenen Phänotypen auf — nicht nur wesentlich älter als die angeführten Beispiele, sondern in Deutschland — wenn überhaupt — nur wenigen Menschen bekannt. Eher könnte man sagen, dass hierzulande nicht die Schnitzelbank als Song, sondern ein Schnitzelbank-Sujet bekannt ist — dies aber in der Regel in anderen Nexus.
2 . Wa s g en a u m e i nt d er T er m i nu s S c hn it z e l b a nk ? Eine Schnitzelbank ist laut Duden zunächst einmal ein veraltetes Wort für eine Werk- oder Schnitzbank.5 Zudem bezeichnet der Begriff je nach Region in Europa und den USA auf den ersten Blick scheinbar völlig zusammenhangslose kulturelle Traditionen, die im Kontext mit (Hochzeits-)Festen, alemannischen Fastnachtstraditionen und Trinkliedern stehen. Hier meint der Terminus Schnitzelbank primär einen Sujetaufgriff innerhalb US-amerikanischer Popsongs. Das Sujet des Kettenliedes Schnitzelbank hat sich aus einem Volkslied heraus entwickelt, welches wiederum textlich Bezug auf die genannten Brauchtümer nimmt und über deutsche Auswanderer in die USA gelangte. Wie bei Volksliedern nicht unüblich, liegen alleine in den Vereinigten Staaten zahlreiche Varianten der Schnitzelbank vor.6 Die Zusammenhänge zwischen den europäischen Vorläufern und dem in den USA heute bekannten Volkslied sind bereits dokumentiert und in Teilen beschrieben worden (vgl. Keel 2002: 21ff., Keel 2003: 221ff. sowie Keel 2009: 213ff.). Von besonderem Interesse ist die Tatsache, dass das Schnitzelbank-Sujet auf verschiedene Arten Eingang in die US-Popkultur fand (vgl. Punkt 6 dieses Aufsatzes), u.a. durch die Verwendung in Popsongs. Bevor dies konkret in den Blick genommen werden soll, lohnt aber eine Betrachtung der vorausgegangenen Rezeption deutschsprachiger Musik in den USA sowie eine kurze Beschreibung der zugrunde liegenden Mechanismen.
5 6
Vgl. https://www.duden.de/rechtschreibung/schnitzelbank, Zugriff: 15.4.2018. Vgl. exemplarisch eine Version von John Schmid im Pennsylvania Dutch-Dialekt (2004) unter https://www.youtube.com/watch?v=lvIefmFEu2U&frags=pl%2Cwn, Zugriff: 9.8.2018.
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DER »SCHNITZELBANK«-SONG UND SEINE REZEPTION IN DEN USA
3 . Di e R ez e p t io n d e ut s c he r u n d d e ut s c h s p r a c h ig er M us ik i n N o r d a m er ik a Hadamer (2001: 119f.) beschreibt gängige musikkulturelle Praxen des späten 18. und 19. Jahrhunderts und erklärt, wie religiöse und weltliche deutschsprachige Lieder Eingang in die Musikkultur Nordamerikas fanden. Er macht im Hinblick auf den Sprachwechsel bei Liedern sechs Verfahrensweisen aus (1. wörtliche Übersetzungen, 2. freie Nachahmungen, 3. Parodien, 4. neue Textkreationen zu bestehenden Melodien, 5. das Ersetzen deutscher durch englische Texte und 6. das Zusammenfügen deutscher Melodien mit deutschen Texten in englischen Übersetzungen) und spricht auch dann noch von einer »Form der Zweisprachigkeit«, wenn die Melodienamen trotz der Verwendung der englischen Sprache noch in deutscher Sprache angegeben werden (ebd.: 122). Seine Schlussfolgerung lautet, dass auf diese Weise ein überwiegend englischsprachiges Publikum Zugang zu deutschen und deutschsprachigen Liedern finden konnte, was wiederum zur Folge hatte, dass ein umfangreiches Repertoire deutscher Melodien als Vergleichsmaterial vorhanden ist, an dem US-Amerikaner »ihre Vorstellungen von deutschen Einwanderern und Deutsch-Amerikanern verhandeln konnten« (Hadamer 2008: 315). Dies ist insofern von Bedeutung, als dass sich hier andeutet, auf welch vielfältige Weisen musikkultureller Austausch im Zusammenhang mit deutschsprachiger Musik schon im 19. Jahrhundert stattgefunden haben muss. Hadamer beschreibt die Blütezeit der »freie[n] Adaptionspraxis« in den 1830er Jahren, innerhalb der Melodien unterschiedlichsten Ursprungs vom Tanzstück bis zur Opernarie für Sonntagsschulen und andere Anwendungsbereiche umfunktioniert worden sind und wie diese »neuen Lieder« in der populären Musik der USA aufgehen (Hadamer 2001: 127). Im Folgenden sollen zunächst die europäischen Schnitzelbank-Traditionen kurz beschrieben werden, um Zusammenhänge mit dem Sujet in US-amerikanischen Popsongs zu verdeutlichen. In einem weiteren Abschnitt soll dann auf den Schnitzelbank-Song eingegangen werden, wie er heute in den USA als Volkslied kursiert — denn in dieser Form hat er mutmaßlich als Vorlage für viele Songs gedient. Anschließend wird das Vorkommen des SchnitzelbankSujets in US-Popsongs dargelegt. Die Grundlage hierfür bieten die BillboardCharts, deren Daten ausgewertet und tabellarisch dargestellt werden. Zum Abschluss sollen weitere Beispiele aus einem nicht im Billboard-Magazin erfassten Song sowie aus Zeitungen, Printwerbungen und Veranstaltungsankündigungen dabei helfen, die Schnitzelbank als deutsch-amerikanisches Phänomen innerhalb der Popkultur der Vereinigten Staaten zu verstehen.
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FABIAN BADE
4 . Z u d e n e ur o p ä is c h e n V o r l ä u f er n d er US -a m er ik a n is c h en S c h ni t z el b a nk In der europäischen Geschichte sind mehrere Vorläufer bekannt, die auffällige Gemeinsamkeiten mit der heute in den USA geläufigen Schnitzelbank aufweisen. Parallelen lassen sich konkret in drei Fällen beobachten: 1. Im Moritaten- und Bänkelsängertum des Mittelalters im deutschsprachigen europäischen Raum, 2. bei der Verwendung des Schnitzelbank-Sujets innerhalb alemannischer Fastnachtsbrauchtümer in der Schweiz und Südwestdeutschlands und 3. in einem überlieferten Hochzeitsbrauchtum deutscher Siedler im heutigen Polen. Im ersten und letzten Fall erlauben historische Quellen einen Blick auf die heute in der Form nicht mehr fortgeführten Traditionen; die Verwendung der Schnitzelbank innerhalb verschiedener Karnevalstraditionen lässt sich aber z.B. in Basel und Ellwangen noch heute beobachten. Folgende Prinzipen der drei genannten (musik-)kulturellen Traditionen können als wesentliche Eigenarten festgehalten werden, auch wenn nicht bei jeder Ausprägung alle Attribute gleichermaßen beobachtbar sind: 1. Bildtafeln werden in allen Traditionen — im Bänkelsang, bei dem genannten Hochzeitsbrauchtum deutscher Siedler und in bestimmten Ausprägungen der alemannischen Fastnacht — als zentrales Merkmal genutzt. Die Textinhalte werden gemeinhin in Form von einfachen Darstellungen und Skizzen veranschaulicht. Allen drei Traditionen ist gemein, dass die bildliche Darstellung eine Deutung durch Analphabeten möglich macht. Dies gilt zwar weniger für die kritischen und teilweise komplexeren Inhalte der Verse einiger Fastnachtstraditionen, jedoch ist die bildliche Illustration zentraler Momente in jedem Fall hilfreich und ermöglicht schreibunkundigen Personen kulturelle Teilhabe. 2. Die Aufführung findet in der Regel im Rahmen geselliger Anlässe statt. Dies trifft auf alle Traditionen zu. 3. Es gibt eine ausgeprägte Hierarchie und eine klare Aufgabenverteilung zwischen Vor- und Nachsängern: Im Hochzeitsbrauchtum wird nach dem Call and Response-Prinzip gesungen, in der alemannischen Fastnachtstradition dagegen singen die Nachsänger lediglich eine Refrainzeile: »Ei du schöne Schnitzelbank«. Im Umfeld des Bänkelsangs verhält es sich noch einseitiger: Der Bänkelsänger ist der aktive Part, die Rezipienten haben rein passiv am Geschehen teil.
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DER »SCHNITZELBANK«-SONG UND SEINE REZEPTION IN DEN USA 4. In einigen Fällen (Hochzeitsbrauchtum) liegt eine Kettenliedstruktur vor. 5. Eine Refrainzeile wie etwa »Ei du schöne Schnitzelbank« oder »Oh du schöne Schnitzelbank« ist bei der Schnitzelbank als Hochzeitsbrauchtum und Fastnachtsbrauch üblich — wenn auch häufig in leicht abgewandelter Form. Aufgrund der Passivität der Rezipienten gibt es im Bänkelsang im Regelfall keine Refrainzeile. 6. Trotz der typischerweise geselligen Kontexte, in denen alle Traditionen stehen, gehören auch Belehrung und Moral zu den Kennzeichen von Schnitzelbänken. Im Falle des Bänkelsangs und der Fastnachtstraditionen ist dies besonders ausgeprägt und zwar auch dann, wenn die Belehrung in unmittelbarem Zusammenhang mit Komik steht. Um später beurteilen zu können, welche Attribute nun konkret auf einen Zusammenhang mit der US-amerikanischen Schnitzelbank deuten, werden die genannten Traditionen kurz beschrieben:
4.1 Moritaten- und Bänkelsängertum und die Parallelen zur Schnitzelbanktradition in den USA Bänkelsänger transportieren im zentraleuropäischen Raum vom Mittelalter bis weit ins 19. Jahrhundert in der Regel dramatische Inhalte in Form von Liedern, wobei hier eher von einem Erzählen zu optionaler musikalischer Begleitung mit wechselndem Instrumentarium ausgegangen werden kann. Der Bänkelsänger steht dabei im Zentrum des Geschehens und deutet mit einem Stab auf Zeichnungen auf einer Tafel oder ähnlichen Gegenständen, die er zur Illustration der gesprochenen und gesungenen Inhalte nutzt (vgl. Abb. 1). Petzoldt sieht als konstituierende Elemente des Bänkelsangs vier zentrale Funktionskategorien — Belehrung, Sensation, Information und Unterhaltung — an, wobei mit der Zeit zunehmend eine Reduktion auf das Moment der Unterhaltung beobachtbar sei (vgl. Petzoldt 1978: 1ff.). Möglicherweise erkannte er bereits 1978 wichtige Anhaltspunkte für die unterschiedlichen Schnitzelbank-Ausprägungen und differierende Rezeptionsformen in Deutschland und den USA: Er argumentiert mit Blochs Begriff der Ungleichzeitigkeit von 1935 und verweist auf den Umstand, dass es zum gleichen Zeitpunkt durchaus zu unterschiedlichen musikkulturellen Entwicklungen und Wahrnehmungen verschiedener gesellschaftlicher Schichten kommen kann. Demzufolge träfen »Moralauffassung, Stoffe, Stil [und] Aussage« (ebd.: 2) aus vergangenen Zeiten auf ein ungleichzeitiges Publikum; eine potentielle Rezipienten-Gruppe also, die sich aus verschiedenen gesellschaftlichen Schichten
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FABIAN BADE rekrutiert und in ihrem Denken und Handeln keinesfalls als gleichmäßig progressiv eingestuft, sondern vielmehr als heterogen charakterisiert werden kann. Aus Ermangelung an Rezipienten, die noch in der Lage wären, ursprüngliche Kontexte zu verstehen, zieht er deshalb die logische Konsequenz: die »Überbetonung des unterhaltenden Charakters« (ebd.: 1) bleibt zurück, wenn ein Inhalt aufgrund zeitlicher Diskrepanz zwischen Konzept und Perzept analog zu den eingangs erwähnten Funktionskategorien schlichtweg nicht mehr als belehrend, sensationell oder informativ empfunden werden kann. Das Moment der Unterhaltung, die komische Seite der Schnitzelbank ist das, was in den USA heute vorrangig übrig geblieben ist von den facettenreichen Varianten europäischer Schnitzelbänke. Doch dazu später mehr.
Abb. 1: Bänkelsänger mit Frau und ländlichem Publikum. Beromünster, etwa 17901800. Eglomisé auf Glas, Schweizerisches Landesmuseum, Zürich. Original in Farbe.
4.2 Die Schnitzelbank als Hochzeitsbrauchtum Aus verschiedenen Gebieten in Zentraleuropa, von der Halbinsel Hel in Polen bis nach Winningen an der Mosel, liegen Überlieferungen von Hochzeitsbräuchen vor, die textlich eine große Nähe zum Schnitzelbank-Song aufweisen, wie sich anhand des nächsten Beispiels zeigen lässt. Bereits in der Mitte des
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DER »SCHNITZELBANK«-SONG UND SEINE REZEPTION IN DEN USA 19. Jahrhunderts dokumentieren Volkskundler ein angeblich Jahrhunderte altes Brauchtum, das damals unter dem Terminus Lichtputzschere geläufig war (vgl. Mannhardt: 1855).7 Fischer aus dem Raum Danzig führten zu Hochzeiten ein halb improvisiertes Singspiel auf, bei dem eine Lichtputzschere einen Phallus symbolisiert. Ein männlicher Vorsänger illustriert während des Singens die Inhalte auf einem Tisch oder ähnlichen Gegenständen. Die von ihm gestellten Fragen wie »Ist das nicht ein kurz und lang« werden von den anwesenden Jungfrauen, die sich um den Vorsänger versammeln, postwendend mit »Ja, das ist ein kurz und lang« beantwortet. Im Gegensatz zur BänkelsängerTradition verfügt der Vorsänger hier nicht über eine fertige Bildtafel, sondern muss diese in Echtzeit zum Gesang erstellen. In jeder Strophe gibt es ein Reimpaar und bei jeder weiteren Strophe werden alle vergangenen Paare wiederholt sowie ein neues hinzugefügt. Die Reimpaare aus Mannhardts Beispiel lauten »storchenschnabel, mistelgabel, hühnersteig, harf' und geig', baum und mist, hafkeschiß, vater und sohn, Absalon, jud im haus, kukuk kukt zum Fenster raus, reiter zu pferd, feuerheerd, finger und ring, kleines kind, beil und klotz, bauernf-tz (vulva)« (Mannhardt 1855: 259-261). Nach dem Aufzeichnen aller Begriffe beschließt der Vorsänger das Lied mit der Zeichnung eines Phallus-Symbols, das er mit seinen Händen bedeckt und hierzu singt: »Ein Hin und Her, eine Lichtputzscher!« Alle Frauen versuchen daraufhin, die Hände des Zeichners von dem Symbol loszureißen, ohne dabei die Skizzen zu beschädigen und singen währenddessen »Eine schöne, schöne Lichtputzscher« (ebd.). Dem Aberglauben zufolge wird die Ehe umso kinderreicher, wenn dies zügig gelingt.8 Obgleich diese Wortpaare nur geringfügige Übereinstimmungen mit der heute in den USA bekannten Version des Schnitzelbank-Songs aufweisen, wird die strukturelle Anlage als Kettenlied dennoch unmittelbar
7
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Lichtputzschere ist eine heute kaum noch gebräuchliche Bezeichnung für eine Dochtschere. Vor allem in Europa war die Schnitzelbank in gesungener Form in vergangenen Jahrhunderten auch unter dem Titel Lichtputzschere, Hobelbank oder Snydersbank bekannt. Häufig zwar mit regional unterschiedlichen Schreibweisen, jedoch immer mit gleichen Ordnungsprinzipien als Kettenlied sowie mit mehreren begrifflichen Übereinstimmungen, wie kurz und lang — Hobelbank — hin und her — Lichtputzscher. Für eine präzise Darstellung dieses Brauchtums siehe Mannhardt (1855: 259-261). Interessant ist in dem Zusammenhang auch die Aussage, dass es sich bei den erwähnten Fischern um »seit jahrhunderten in abgeschiedenheit lebende […] fischer […] deutscher Abkunft« handelt, was darauf hindeutet, dass diese Hochzeitstradition bereits wesentlich länger bestand, als der Zeitpunkt ihrer schriftlichen Dokumentation durch die Wissenschaft in der Mitte des 19. Jahrhunderts vermuten lässt.
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FABIAN BADE deutlich. Als weitere Gemeinsamkeiten können zudem das hohe Maß an Vulgarität, die Bildtafel (auch wenn sie hier erst entsteht) sowie das Call and Response-Prinzip festgehalten werden. Auch wenn der Begriff Lichtputzschere kaum noch in den heute in den USA geläufigen Versionen der Schnitzelbank vorkommt, sei erwähnt, dass es sehr wohl dokumentierte Einzelfälle gibt, die zeigen, dass der Begriff auch in zentraler und titelgebender Funktion zu finden ist: Korson (1949: 80f.) zeichnet 1937 in Rehrersburg, Pennsylvania ein Lied mit dem folgenden Text auf: »Ei du scheene, ei du scheene, ei du scheene Lichtputzscher. Is des net des Hie und Her? Ja des is des Hie und Her! Des Hie und Her, un die Lichtputzscher.« Dieses Beispiel zeigt deutlich, dass die Schnitzelbanktradition auch unter dem Terminus Lichtputzschere in den USA bekannt gewesen sein muss.
4.3 Zur Verwendung des Schnitzelbank-Sujets innerhalb alemannischer Fastnachtsbrauchtümer in der Schweiz und Südwestdeutschlands Die dritte europäische Tradition, die Gemeinsamkeiten mit dem US-amerikanischen Schnitzelbank-Song aufweist, ist den alemannischen Fastnachtsbrauchtümern zuzuordnen. Ellwangen und Basel sind diejenigen Städte, in denen diese bis heute am deutlichsten ausgeprägt sind und sichtbar werden. In Ellwangen führen Tübinger Jurisprudenz-Referendare Mitte des 19. Jahrhunderts eine Schnitzelbank-Tradition ein. Die angehenden Juristen sichern sich die Unterstützung junger Gymnasiasten, die diesen Brauch bis heute fortführen. Der Übernahme und Konservierung dieser Tradition durch die Gymnasiasten verdankt sich auch der Name: Der Pennäler Schnitzelbank. Konkrete Inhalte sind kurze Spottverse, die sich mehrheitlich mit Verfehlungen der Lokalprominenz befassen9, teilweise aber auch nationale Entwicklungen aufgreifen und politische Kommentare beinhalten.10 Obwohl sich bereits in antiken Vorstellungen und Abläufen des Saturnalienfestes Prinzipien erkennen lassen, die hier konkret Anwendung finden11, ist eher anzunehmen, dass der 9
Ein Beispiel hierfür ist eine Schnitzelbank aus dem Jahr 1981, die die Abwesenheit des Bischofs bei der Firmung sowie die Haltung des ehemaligen Stadtpfarrers und Kreisdekans Patriz Hauser thematisiert: »Da kann ich's gleich selber machen, hört man Hauser spöttisch lachen, firmte doch in diesem Jahr nur ein Domkapitular« (Kohring/Nußbaumer/Hurler 2000: 173). 10 1936 ist ein kritischer Kommentar zur NS-Hetzschrift »Flammenzeichen« Inhalt eines Verses: »Nörgler, jetzt müsst ihr erbleichen! Denn es leuchten Flammenzeichen, Überall hin dringt ihr Schein, Holen selbst den letzten ein!« (Kohring/ Nußbaumer/Hurler 2000: 165). 11 Im Rom der Antike tauschten Sklaven und Herren während des Saturnalienfestes für einen Tag die Rollen.
154
DER »SCHNITZELBANK«-SONG UND SEINE REZEPTION IN DEN USA demokratische Geist der 1848er Generation in der Fastnacht einen Moment findet, im Schutze der Narrenfreiheit der Obrigkeit einen Spiegel vorzuhalten (vgl. Kohring 2000: 14). Da der Fokus der Kritik im Regelfall auf lokalen Geschehnissen liegt, ist in einer kleinen Stadt wie Ellwangen die Anonymität der Protagonisten essentiell für die Erhaltung des Brauchtums — und die Vermummung eine logische Konsequenz. Die in Schwarz gehüllte Exekutive der Schnitzelbank nennt sich in Ellwangen dementsprechend die Schwarze Schar. Auch wenn dies auf andere Art und Weise geschieht: In Basel nimmt die Schnitzelbank gleichsam eine wesentliche Rolle im lokalen Fastnachtsgeschehen ein. Auch in der Basler Ausprägung spielt die Anonymität eine große Rolle. Der Schnitzelbank — dort in maskuliner Form — wird von Vorsängern präsentiert, die zumeist rhythmisch gesprochene oder gesungene Verse vortragen. Im Gegensatz zum Brauchtum aus Ellwangen sind die Ausführenden hier nicht komplett vermummt, tragen aber unterschiedliche und oftmals bunte Verkleidungen samt einer Larve (= Maske) und präsentieren mit einem Zeigestock die Inhalte der Verse auf einer Bildtafel, deren einzelne Zeichnungen hier Helgen genannt werden.12 So wie in Ellwangen das Spiegelbild von Handlungen zum Ausgangspunkt der Versdichtungen wird, kann dies auch hier als zentrales Moment bezeichnet werden. Fürstenberger und González (2002: 8) schrieben der Basler Schnitzelbangg13 die Funktion eines »Stadtspiegels [zu, in dem sich] das politische, soziale, aktuelle Umfeld, das sogenannte Spiegelbild [zeige]«. Die Funktion einer Widerspiegelung von Handlungen und Konsequenzen hat in Basel wiederum eine lange Tradition: Auf literarischer Ebene kritisierten schon Konrad von Würzburg in Die Klage der Kunst in der Mitte des 14. Jahrhunderts (vgl. Joseph 1885: 1ff.), Sebastian Brandt 1494 im Narrenschyff sowie Erasmus von Rotterdam in Lob der Torheit aus den Jahren 1511-1515 mangelnde Selbstreflexion oder auch Teilnahmslosigkeit am Kunstgeschehen (vgl. Fürstenberger und González 2002: 10ff.). Möglicherweise ist also auch die Basler Tradition älter, als die Dokumentation durch die Wissenschaft es bisher belegen kann. Durch das Spiegelbild wird auch eine Nähe zur ersten Bänkelsang-Funktionskategorie Petzoldts, der Belehrung, deutlich und könnte auf eine gemeinsame historische Vergangenheit hindeuten. Auch wenn heutige Aufführungspraxen von Schnitzelbängg deutlich von denen aus den USA abzugrenzen sind, so weist doch einiges auf gemeinsame Vorläufer hin. Die wahrscheinlich bedeutendste Gemeinsamkeit ist der Umstand, dass in früheren Basler Ausprägungen eine Kettenliedstruktur vorlag, 12 Der Begriff Helgen leitet sich von den Heiligenbildern der Franziskaner ab; vgl. Fürstenberger/González (2002: 20). 13 Häufige alternative Schreibweise im Baseldeutschen Dialekt: Schnitzelbangg (Singular) resp. Schnitzebängg (Plural).
155
FABIAN BADE auch wenn das in heutigen Versdichtungen der Schnitzelbank kaum noch der Fall ist.14 Die Überschneidungen sind allzu auffällig, als dass die Verbindungen zwischen den Traditionen ignoriert werden könnten: »Isch das nit e Spalethor? Jo das isch en-Eselsohr, Eselsohr, Spalethor. Ei du scheene, ei du scheene, Ei du scheene Schnitzelbangg. Isch das nit e Lindemaier? Jo das sin drei Oschteraier, Oschteraier, Lindemaier, Spalethor, Eselsohr. Ei du scheene, ei du scheene Ei du scheene Schnitzelbangg«.15 So eindeutig die Kettenliedstruktur hier erkennbar ist, so unterschiedlich ist die sprachliche Ausdrucksweise. Das Textverständnis wird nicht nur durch einen Dialekt, sondern auch durch Begriffe erschwert, die nur Personen zugänglich sind, die mit bestimmten Facetten des Basler Stadtlebens vertraut sind16 (vgl. exemplarisch auch Canova 2005: 17). Dieses Lokalkolorit ist der deutlichste Unterschied zur US-Variante und der Hochzeitstradition, in der Inhalte prinzipiell unabhängig von der Region erhalten geblieben sind. Ein möglicher Grund für das spätere Aussterben der Kettenliedstruktur kann darin gelegen haben, dass sich die Schnitzelbank-Texte im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunächst verlängerten, da Jahr für Jahr neue Strophen hinzugefügt wurden. Da allerdings erwartet wurde, dass die Verse eine gewisse Aktualität aufweisen, ist nachvollziehbar, dass Veraltetes durch Aktuelleres ersetzt wurde und sich die Kettenliedstruktur irgendwann aufweichte, verschwand und ersetzt wurde.
5 . De r S c h n it z el b a nk -S o n g a l s V o l k s l i ed in d e n US A In den USA hat sich eine Schnitzelbanktradition durchgesetzt, die folgende Merkmale aufweist: Es handelt sich um ein gesungenes Volkslied, zu dessen Gesang üblicherweise eine Bildtafel Inhalte transportiert. Es besteht weiterhin eine klare Hierarchie zwischen Vorsänger und Nachsänger, das Call and 14 Der Basler Schnitzelbank-Experte Bernhard Batschelet bestätigte in einem Interview am 8. September 2016, dass die Refrainzeile in vielen Schnitzelbänken der Nachkriegszeit regelmäßig gesungen wurde. Heute ist diese Praxis im Basler Raum laut Batschelet aber fast ausgestorben. Vgl. exemplarisch die Darstellung Gernys in der Neuen Zürcher Zeitung, die regelmäßig zur Basler Fasnacht über die Schnitzelbank-Aufführungen berichtet, Gerny (2018) sowie die Darstellungen der Refrainzeile bei Röhrich/Brednich (1965: 524ff.) für den deutschprachigen Raum und bei Brendle/Troxell (1949: 80f.) für die USA. 15 Das hier angeführte Beispiel ist bereits bei Füstenberger/González (2002: 14ff.) und noch wesentlich genauer bei Canova (2005: 15ff.) beschrieben worden. 16 So etwa »Spalentor«, ein ehemaliges Stadttor in Basel, welches in die Stadtmauer integriert war.
156
DER »SCHNITZELBANK«-SONG UND SEINE REZEPTION IN DEN USA Response-Prinzip wird angewendet, das Lied wird im Regelfall zu geselligen Anlässen aufgeführt und ist selten konzertant. Des Weiteren sind üblicherweise eine Refrainzeile und eine Kettenliedstruktur beobachtbar (vgl. Keel 2002: 21ff., Keel 2003: 11ff. und Keel 2009: 213ff.). Die zugrundeliegende Melodie ähnelt stark dem französischen Kinderlied »Ah! Vous Dirai-je, Maman«, ist aber auch aus vielen weiteren Liedern wie »Twinkle, Twinkle, Little Star«, »Baa Baa Black Sheep« oder »ABCDEFG« bekannt.17 Obwohl auch Varianten dokumentiert sind, denen andere Melodien zugrunde liegen18, geht die Verbreitung einer prädominanten Version innerhalb verschiedener Varianten so weit, dass Keel gar von einer klassischen, in der Midwest-Region geläufigen Schnitzelbank mit 17 Darstellungen spricht. Er macht hierzu auch Textangaben (vgl. Keel 2003: 223f.): »Ist das nicht eine Schnitzelbank? Ja, das ist eine Schnitzelbank! Ist das nicht ein Kurz und Lang? Ja, das ist ein Kurz und Lang! Ist das nicht ein Hin und Her? Ja, das ist ein Hin und Her! Ist das nicht ein Kreuz und Quer? Ja, das ist ein Kreuz und Quer! Ist das nicht ein Schies Gewehr? Ja, das ist ein Schies Gewehr! Ist das nicht ein Wagen Rad? Ja, das ist ein Wagen Rad! Ist das nicht ein Krum und Grad? Ja, das ist ein Krum und Grad! Ist das nicht ein grosses Glas? Ja, das ist ein grosses Glas! Ist das nicht ein Oxen Blas? Ja, das ist ein Oxen Blas! Ist das nicht ein Hauffen Mist? Ja, das ist ein Hauffen Mist! Ist das nicht ein Schnickel Fritz? Ja, das ist ein Schnickel Fritz! Ist das nicht eine dicke Frau? Ja, das ist eine dicke Frau! Ist das nicht eine fette Sau? Ja, das ist eine fette Sau! Ist das nicht ein langer Mann? Ja, das ist ein langer Mann! Ist das nicht ein Tanenbaum? Ja, das ist ein Tanenbaum! Ist das nicht ein Hochzeit Ring? Ja, das ist ein Hochzeit Ring! Ist das nicht ein gefahrliches Ding? Ja, das ist ein gefahrliches Ding!« Die Anlage des Liedes erinnert stark an das bereits 1949 von Korson beschriebene Lied Di Lichtputscher, in dem zwar im Pennsylvania-deutschen Dialekt gesungen wird, aber doch auffällige Ähnlichkeiten feststellbar sind: Aus Kurz und Lang wird »Kaz un Lang«, aus Krum und Grad wird »Grum und Grâd«, aus
17 Vgl. für die unterschiedlichen Versionen Fuld (2012: 593f.) und für die Melodiebeispiele Korson (1949: 80) sowie W.A. Mozarts KV 265 (1778). 18 Ein Beispiel für eine andere Melodie, die ebenfalls mit Deutschland assoziiert werden dürfte, ist das von Joseph Haydn komponierte »Gott erhalte Franz den Kaiser« aus dem späten 18. Jh. Die Einbindung in die US-amerikanische Schnitzelbanktradition kann man exemplarisch im Video »German in the US: Schnitzelbank« (Baum 2009) beobachten.
157
FABIAN BADE Wagen Rad wird »Wajjerâd« etc. (vgl. jeweils Korson 1949: 80-82). Auch Begemanns Untersuchungen zum Liedgut der Pennsylvania-Deutschen zeigen zwei Varianten, die abgesehen von der Schreibweise auffällige sprachliche Ähnlichkeiten mit der Version aus Keels Darstellung aufweisen (vgl. Begemann 1973: 148f.): »Is des net en Schnitzelbank? Jâ des is en Schnitzelbank. Un des do en Koz und Lang? Ja des is en Kaz und Lang.« Überhaupt scheint hier die Vereinnahmung des Liedes und die Empfindung als zugehörig zum Liedgut der Pennsylvania-Deutschen aus zwei Gründen für die Tradierung bedeutsam. Begemann (1973: 53) weist zum einen darauf hin, dass die im Kollektiv durchgeführten Arbeitsparties wie die »Apple Butter Party« als Umschlagplatz für Liedgut betrachtet werden können, und zum anderen darauf, dass der Schnitzelbank insofern eine Sonderrolle zufällt, als dass das Lied sowohl als Kinderlied als auch in der Erwachsenenunterhaltung funktioniert. Dieser alle Altersgruppen umfassende Anwendungsbereich führt möglicherweise dazu, dass es einem breiten Spektrum an German-Americans aus der Region um Pennsylvania in Erinnerung bleiben konnte, und macht das Lied somit zum potentiellen Kandidaten für fortlaufende Überlieferung (ebd.: 48). Nun sind die drei europäischen Vorläufer der US-amerikanischen Tradition der Schnitzelbank als Volkslied beschrieben worden, und es steht aus (vgl. Abb. 2), das Schnitzelbank-Sujet in Popsongs zu beschreiben und zu deuten.
Abb. 2: Die Entwicklung der Schnitzelbank in den USA aus europäischen Traditionen heraus.
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DER »SCHNITZELBANK«-SONG UND SEINE REZEPTION IN DEN USA
6 . Da s S c h ni t z el b a nk -S u je t i n US -a m er ik a n is c h en Popsongs Schon vor 1945 sind in den USA Aufnahmen der Schnitzelbank erschienen. Hier sind mit der »Schnitzelbank« des Louis Bauer Quartet (1913, Columbia E1315), der »Schnitzelbank« des Manhattan Quartet (1911, Victor C-10326), der Variante »Ei du schöne Schnitzelbank« des Nebe Quartet (1913, Edison Blue Amberol 26082) und der »Schnitzelbank« des Heidelberg Quartette (1922, Gennet 4884-A) mindestens vier Fälle bekannt. Wenn man bedenkt, dass auch in Printmedien schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Schnitzelbank-Sujet Verwendung findet (vgl. die Abb. 3 sowie die Beschreibung des Schnitzelbank Carnival in Abschnitt 7 dieses Beitrages), wird deutlich, dass die Aufgriffe nach 1945 eine weitere Adaptionsstufe in der Historie der Schnitzelbank in den USA darstellen. Dies ist bemerkenswert, da durchaus ein Bruch zu erwarten gewesen wäre. Die Beschränkung des Datenkorpus für diese Studie auf Songs, die nach 1945 erschienen sind, ist vor allem deshalb von Interesse, da es nicht als Selbstverständlichkeit angesehen werden kann, dass in Zeiten zunehmender Germanophobie nach den beiden Weltkriegen deutschsprachige Begriffe und Musik deutschen Ursprungs kommerziell verwertet werden. Um das Vorkommen des Schnitzelbank-Sujets in US-amerikanischen Popsongs nach 1945 zu ermitteln, stützt sich diese Studie ausschließlich auf die Einträge der Billboard-Charts, da es auch um die Frage geht, ob es sich nicht möglicherweise um Randerscheinungen handelt, die außerhalb des popkulturellen Mainstreams verortet werden können. Um dies ausschließen zu können, werden die Billboard-Charts hier als Indikator für kommerziellen Erfolg und Massenkompatibilität verwendet. Der Beginn der Erfassung liegt im Jahr 1945 — dem Jahr, in dem die Schnitzelbank erstmals in diesem Kontext in Erscheinung tritt. Tabelle 1 zeigt die Nennungen des Begriffs Schnitzelbank im BillboardMagazine nach 1945.19 Es zeigt sich, dass zwischen dem 12. Mai 1945 und dem 19 Die Darstellung beinhaltet die Ergebnisse der Volltextsuche in allen zur Zeit der Recherche online frei verfügbaren Billboard-Ausgaben über https://books. google.de (Zugriff: 15.4.2018), weiterhin der verfügbaren Ausgaben aus dem Zeitungsarchiv newspapers.com sowie die Ergebnisse von Sichtungen der privaten Sammlung des Autors mit alten Magazinen. Die Liste ist dennoch vermutlich unvollständig. Möglicherweise existieren noch weitere Schnitzelbank-Aufgriffe. Es ist allerdings schwierig dies zu überprüfen, da die Billboard-Ausgaben bislang nur unvollständig digitalisiert worden sind und es zum anderen denkbar ist, dass sich mögliche Sujet-Aufgriffe hinter völlig anderen Titeln verbergen, die hier nicht erfasst wurden.
159
FABIAN BADE Quelle
Kategorie (Kategorisierung im Magazin)
Interpret
Aufführungsort
Details zur Aufführung / Aufnahme sowie Songtitel
12.5.1945, S. 30
Konzertbericht / Night Clubs-Vaudeville
Sophie Tucker & Ted Shapiro
Chez Paree, Chicago, Il
Terrific patriotic parody of the tune of »Ist Das Nicht Ein Schnitzelbank«?
13.7.1946, S. 41
Konzertbericht / Night Clubs-Vaudeville
Pittsburgh, PA
Encored with »Schnitzelbank«
20.7.1946, S. 43
Konzertbericht / Night Clubs-Vaudeville
Emsee Cornell Cooper Billy Green
Sherman Oaks, CA
14.5.1949, S. 25
Werbeanzeige von Coral Records
The Ames Brothers
—
Billy Green […] almost brought the house down with the old vaude standby, »Schnitzel Bank«. Oh, You Sweet One (the Schnitzelbank Song)
11.6.1949, S. 21
Werbeanzeige von Decca Records
Andrew Sisters
—
Oh, You Sweet One (the Schnitzelbank Song
9.7.1949, S. 150
Auflistung Neuerscheinungen: International
The Weidler Brothers
—
The Schnitzelbank Polka
30.7.1949, S. 45
Werbeanzeige von RCA/Victor Records
Joe Biviano
—
Schnitzel Bank
13.8.1949, S. 111
Bewertungen durch Disc-Jockeys
Joe Biviano
—
Another popular oldie gets a spirited, good-humored going-over from the fine vocal group and lively band […].
27.8.1949, S. 103
Konzertbericht
The Weidler Brothers
Los […] had George, Walter Angeles, CA and Warner Weidler […] as recent guests. They were pitching for their new »Schnitzelbank Polka«…
1.10.1949, S. 21
Werbeanzeige von Vokalion Records
Leighton Noble
—
Oh, You Sweet One (the Schnitzelbank Song)
22.10.1949, S. 79
Werbeanzeige von RCA Joe Biviano Victor Records
—
Schnitzel Bank
31.3.1951, S. 31
Werbeanzeige von RCA Lawrence Victor Records Duchow & his RCA-Victor Recording Orchestra Kleinanzeige in der kein spezifiRubrik Miscellaneous scher Interpret
—
Oh You Sweet One (The New Schnitzelbank Song)
Hoboken, NJ
12.5.1956, S. 100
Reviews of New Pop Records
Hal Dickinson
—
11.8.1956, S. 60
Kleinanzeige RCA Victor Records
Six Fat Dutchmen
—
[…] walkaround equipment allows taxless music and Schnitzelbank acts […]. Using the »Schnitzelbank Song« and »O du lieber Augustin« as the basis of his material. The German Band, Dickinson lampoons the oompah bands beloved by the Germans. Schnitzelbank Polka
25.4.1953, S. 99
Tab. 1: Schnitzelbank-Einträge im Billboard-Magazine nach 1945.
160
DER »SCHNITZELBANK«-SONG UND SEINE REZEPTION IN DEN USA 17. Februar 1962 mindestens zwölf Interpreten oder Gruppen sich der Schnitzelbank auf verschiedene Weisen widmeten: Das Sujet ist bei Sophie Tucker & Ted Shapiro, Emsee Cornell Cooper, Billy Green sowie den Weidler Brothers als Live-Performance dokumentiert, Schallplattenaufnahmen sind von den Ames Brothers, den Andrew Sisters, den Weidler Brothers, Joe Biviano, Leighton Noble, Lawrence Duchow, Hal Dickinson, den Six Fat Dutchmen sowie Rudy Vallee erschienen. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass die Aufführungsorte (an zwei Orten in Kalifornien und je einmal in Illinois und Pennsylvania) recht weit auseinanderliegen. Aufgrund der Datenarmut und anhand der dokumentierten Darbietungen lässt sich allerdings vorerst nicht ausschließen, dass es sich möglicherweise doch um ein regionales Phänomen handelt, was zumindest denkbar ist, wenn man die Migrationsbewegungen aus Deutschland in die USA betrachtet und bedenkt, dass ein Ungleichgewicht bzgl. der Verteilung von Siedlungen deutschstämmiger US-Bürger in den einzelnen Bundesstaaten besteht (vgl. New York Times Immigration Explorer 2009). Die in Tab. 1 aufgelisteten Aufnahmen entstanden in einem Zeitraum von etwa dreizehn Jahren zwischen dem 14. Mai 1949 (Ames Brothers) und dem 17. Februar 1962 (Rudy Vallee). Nicht nur der ungewöhnlich lange Zeitraum, in dem die Schnitzelbank immer wieder Teil der US-Popkultur war, ist hier auffällig, sondern auch die Diversität der Interpretationen von eher seriösen Aufnahmen (die Andrew Sisters-Version aus den 1940er Jahren) bis hin zur bierseligen Trinkliedatmosphäre, die die Interpretation der Six Fat Dutchmen vermittelt.20 Die hier beschriebenen Aufnahmen und Aufführungen sind aber nur die sprichwörtliche Spitze des Eisberges. Weitere und vor allem umfangreichere Korpus-Analysen wären vonnöten, um ein genaueres Bild der SchnitzelbankRezeption in den USA nachzuzeichnen. Der hier gegebene Rahmen ermöglicht es lediglich, einige weitere Schlaglichter zu werfen. Wie Tab. 1 zeigt, findet sich die Schnitzelbank in 25% der Einträge auch unter dem Titel »Oh, You Sweet One« wieder, partiell mit dem Zusatz »the Schnitzelbank Song« oder »The New Schnitzelbank Song«. Tabelle 2 listet die Einträge mit dem Titel »Oh, You Sweet One« auf.21 Die 35 Einträge stammen aus dem Zeitraum 1949
20 Vgl. exemplarisch die RCA Victor-Aufnahme der Schnitzelbank vom Album Six Merry Polkas der Six Fat Dutchmen aus dem Jahr 1957 unter https://www. youtube.com/watch?v=G8NfOdNDuy0 ab Minute 8:00. 21 Es wurden folgende Begriffe auf Übereinstimmungen mit den Billboard-Charts überprüft: Schnitzelbank, Hobelbank, Snydersbank und Lichtputzschere. Es ist denkbar, dass aufgrund sich verändernder Dialekte oder Übertragungsfehler (vgl. exemplarisch Korson 1949: 80f.) noch weitere Varianten existieren.
161
FABIAN BADE Quelle
Interpret
7.5.1949, S. 25
Kategorie (Kategorisierung im Magazin) Anzeige und BestellListe (Coral-Records)
Details zur Aufführung / Aufnahme sowie Songtitel
14.5.1949, S. 36
Vorankündigungen von Veröffentlichungen
Ames Brothers Oh, You Sweet One
21.5.1949, S. 116
Bewertungen durch Disc-Jockeys
Ames Brothers Oh, You Sweet One. Lyric set to the »Schitzelbank Song« (!) makes for a downright infectious etching [...].
18.6.1949, S. 21
Anzeige (DeccaRecords)
Andrew Sisters Oh, You Sweet One and Russ Morgan and his Orchestra
25.6.1949, S. 36
Konzertbericht / On The Stand
Russ Morgan
Konzert in Hollywood, CA. His current release »Oh, You Sweet One« [...] is expected to be still another strong contender for platter coin.
9.7.1949, S. 19
Anzeige (DeccaRecords)
Oh, You Sweet One (The Schnitzelbank Song)
16.7.1949, S. 39
Vorankündigungen von Veröffentlichungen
16.7.1949, S. 39
Vorankündigungen von Veröffentlichungen
Andrew Sisters and Russ Morgan Andrew Sisters and Russ Morgan Leighton Noble
30.7.1949, S. 43
Anzeige (DeccaRecords)
Andrew Sisters Oh, You Sweet One (The Schnitzelbank and Russ Song) Morgan
13.8.1949, S. 35
Bewertungen durch Disc-Jockeys
Leighton Noble
3.9.1949, S. 17
Anzeige (DeccaRecords)
Andrew Sisters Oh, You Sweet One (The Schnitzelbank and Russ Song) Morgan
10.9.1949, S. 21
Anzeige (Vocalion Records)
Leighton Noble
1.10.1949, S. 21 14.1.1950, S. 15
Anzeige (Vocalion Records) BillboardJahresbestenliste
Leighton Oh, You Sweet One (The Schnitzelbank Noble Song) Andrew Sisters Oh, You Sweet One
20.5.1950, S. 22
Hitliste: Platz 17 in der — Kategorie England's Top Twenty
Oh, You Sweet One
27.5.1950, S. 22
Hitliste: Platz 7 in der — Kategorie England's Top Twenty
Oh, You Sweet One
3.6.1950, S. 22
Hitliste: Platz 5 in der — Kategorie England's Top Twenty
Oh, You Sweet One
10.6.1950, S. 22
Hitliste: Platz 5 in der — Kategorie England's Top Twenty
Oh, You Sweet One
vermutl. Ames Oh, You Sweet One (The Schnitzelbank Brothers Song)
Oh, You Sweet One
Oh, You Sweet One
Oh, You Sweet One. The Schnitzelbank song gets like treatment.
Oh, You Sweet One (The Schnitzelbank Song)
Tab. 2: »Oh, You Sweet One«-Einträge im Billboard-Magazine nach 1945.
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DER »SCHNITZELBANK«-SONG UND SEINE REZEPTION IN DEN USA bis 1956 und fügen der oben genannten Aufzählung von zwölf Interpreten respektive Gruppen mit Thurl Ravenscroft noch einen weiteren hinzu. Zusammenfassend betrachtet deuten die oben genannten Anzeigen, Konzertberichte, Vorankündigungen, Bewertungen in verschiedenen Größen sowie Hitparaden aus dem im Rahmen der Volltextsuche ermittelten Datenkorpus auf die Diversität der Kontexte hin, in denen die Schnitzelbank in den USA in diesem Zeitraum vorkam. Es wird sichtbar, dass die Schnitzelbank auch als Popsong in weit mehr als nur Einzelfällen Eingang in die Popkultur fand. Ein Beispiel für einen in den tabellarischen Darstellungen nicht enthaltenen Song ist Bill Haleys »Rockin' Rollin' Schnitzlebank« vom 1956 veröffentlichen Decca-Album Rockin' Around The World. Obwohl diese Version von einem der die 1950er Jahre musikalisch entscheidend mitprägenden Interpreten stammt, findet sie im Billboard-Magazine nicht weiter Erwähnung. Ein Grund hierfür mag darin liegen, dass der Titel in den Vereinigten Staaten nie als Single ausgekoppelt wurde.22 Dennoch deutet gerade der Sujet-Aufgriff durch so unterschiedliche Interpreten wie Rudy Vallee, die Andrew Sisters, Bill Haley oder die Six Fat Dutchmen darauf hin, dass die Schnitzelbank nicht nur an bestimmten regionalen Hotspots, sondern landesweit bekannt gewesen sein muss. Zwar kommen einige Interpreten aus Regionen mit höherer Dichte deutscher Einwanderer oder US-Amerikanern mit deutschen Wurzeln23, jedoch stammen ebenso viele aus ganz anderen Regionen. Vielmehr noch ist hier die Verteilung auffällig: Mit den Ames Brothers aus Massachusetts, George Weidler aus Los Angeles, Thurl Ravenscroft aus Nebraska oder Bill Haley aus Michigan stammen die Interpreten aus unterschiedlichsten Regionen der Vereinigten Staaten. Die popkulturelle Relevanz national berühmter Interpreten und Künstler wie den Andrew Sisters und Bill Haley allein verdeutlicht noch einmal die mediale Reichweite, von der die SchnitzelbankBekanntheit sicherlich profitiert haben dürfte. Nachdem nun die der Schnitzelbank zugrundeliegenden Traditionen aus dem zentraleuropäischen Raum bekannt sind und der Schnitzelbank-Song in den USA und das Auftreten des Schnitzelbank-Sujets in US-amerikanischen Popsongs systematisch erfasst und beschrieben wurden (vgl. Tab. 1 u. 2), soll
22 Vgl. https://www.discogs.com/de/Bill-Haley-And-His-Comets-Rockin-Rollin-Schnit zelbank/release/7627991, Zugriff: 15.4.2018. 23 Russ Morgen kam aus Pennsylvania, die Six Fat Dutchmen und die Andrew Sisters wurden allesamt in Minnesota geboren. Beide Bundesstaaten haben laut Census einen überdurchschnittlich hohen Anteil an US-Amerikanern mit deutschen Vorfahren. Dieser Wert liegt im Durchschnitt bei 14,9%, beträgt aber in einigen Counties in Minnesota bis zu 40% (vgl. https://www.census.giv/library/ visualizations/2016/comm/german-roots.html, Zugriff: 15.4.2018).
163
FABIAN BADE abschließend eine tabellarische Darstellung den Überblick im Sinne einer Zusammenfassung vereinfachen: Merkmale (v.l.n.r.)
Sprache
KettenFreie Refrain- Bildtafel Call- & Humo- BelehliedVersform zeile Response reske rung & Struktur -Prinzip Inhalte Moral
Moritatenund Bänkelsang
Versch. Nein Dialekte
Nicht zwingend
Nein
Ja
HochzeitsBrauchtum deutscher Siedler in Polen
Dt. bzw. Ja Dialekt
Nein
Unklar
FastnachtsBasel-dt. Nein Brauchtum in (NiederBasel alemannisch)
Ja
FastnachtsSchwäNein Brauchtum in bisch Ellwangen (Alemannisch) Schnitzelbank-Song in den USA
Dt. mit Überlieferungsfehlern
SchnitzelEngl. u. bank-Sujet in vereinUS-Popsongs zelt dt.
Ja
Ja
Häufig
Entsteht Ja während Aufführung
Ja
Nein
Teilweise
Ja
Nein
Ja
Ja
Ja
Unklar
Unklar
Nein
Ja
Ja
Nein
Ja
Ja
Ja
Ja
Nein
Teilweise Ja
Nein
Noch er- Nein kennbar, jedoch stark verkürzt
Ja, aber Nein i.d.R. abgeändert
Nein
Tab. 3: Merkmale der Schnitzelbank-Traditionen und ihrer Vorläufer im Vergleich.
7 . Da s S c h ni t z el b a nk -S u je t i n d er US a m e r ik a n is c h e n P o p k ul t ur Keel argumentierte bereits, dass die Schnitzelbank angesichts der hohen Frequenz, mit der sie in der US-amerikanischen Popkultur auftaucht, offenbar ins kulturelle Gedächtnis der USA eingebrannt sei (vgl. Keel 2003: 221). Zu den prominentesten Beispielen können die Verwendungen der Schnitzelbank in Filmen, TV-Serien und Literatur gezählt werden. Keel verweist u.a. auf die Filme Horsefeathers der Marx Brothers (1932), I'll Never Heil Again der Three Stooges (1941) und Stalag 17 von Billy Wilder (1953), auf Serien wie I Love Lucy aus den 1950er Jahren oder Steven Spielbergs Animaniacs aus den 1990er
164
DER »SCHNITZELBANK«-SONG UND SEINE REZEPTION IN DEN USA Jahren sowie auf Literatur von Betty Smith und Katherine Anne Porter. Die Tatsache, dass das Sujet nicht nur als Volkslied in mannigfaltigen Ausprägungen oder als Popsong in verschiedenen Abwandlungen, sondern auch in diesen Filmen und Fernsehserien sowie darüber hinaus nicht selten in Printwerbungen ortsunabhängig und über einen längeren Zeitraum präsent ist, macht umso deutlicher, dass auch die der Schnitzelbank zugrunde liegenden Formprinzipien wie die Kettenliedstruktur, das Call and Response-Prinzip und die Melodie in den USA verbreitet gewesen sein müssen. Denn die Texte sind hier oft stark verändert oder meiden den Begriff Schnitzelbank gar. Zudem sind nicht immer alle genannten Formprinzipien gleichermaßen sichtbar, dies ist aber für die Klassifizierung als Schnitzelbank auch gar nicht nötig: Seemann (1959) erklärt, dass es zum Typ des »Schwellliedes« gehöre, dass »vielfach improvisiert« werde und sich je »nach Versmaß und Melodie die unterschiedlichsten Gestalten entwickeln« können. Abschließend sollen einige Beispiele aus verschiedenen Orten innerhalb der USA dies noch verdeutlichen: Bewerbung von Produkten oder Gastronomie in der Printwerbung 1951 wirbt die Beverage Sales Co. in Maryland für Old Reading Beer, ein traditionelles Bier der Pennsylvania-Deutschen. Das Getränk selbst ist allerdings innerhalb einer ganzseitigen Werbeanzeige an exponierter Stelle in der Daily Mail aus Maryland vom 27.3.1951 (S. 3) nicht im Zentrum der Anzeige zu finden, der Fokus liegt vielmehr auf der Überschrift »Let's sing the Schnitzelbank Song«. Darunter folgen die Zeilen »Ist das nicht Old Reading Beer? Ya das ist Old Reading Beer. Ist das nicht die best bei mir? Ya das ist die best bei mir« und der übliche Chorus »Ei du schoene«.24 Etwa 2760 Meilen westlich von Maryland wirbt das Mountain Home Inn im Daily Independent Journal aus San Rafael in Kalifornien am 23.7.1954 mit den Zeilen: »Ist das nicht ein Schnitzelbank? Nein es ist das bergheim schenke.«25
24 Vgl. ein Digitalisat der Anzeige unter https://www.newspapers.com/image/ 27972791, Zugriff: 15.4.2018. 25 Vgl. ein Digitalisat der Anzeige unter https://www.newspapers.com/image/ 70348786, Zugriff: 15.4.2018.
165
FABIAN BADE Und in Pennsylvania, einer ersten Heimat der frühen German-Americans, die im späten 17. Jahrhundert den Bundesstaat besiedelten, fragt sich ein Autor 1909 in der Reading Times in der Anzeige »Schnitzelbank. Ei du Schoene, Ei du Schoene, Ei du Schoene Schnitzelbank« gar »Who has not heard of the Schnitzelbank?«26
Abb. 3: Schnitzelbank-Anzeige in der Reading Times vom 31.8.1909, https://www. news papers.com/image/44821265, Zugriff: 15.4.2018.
Benennungen ganzer Veranstaltungen nach der Schnitzelbank In Nashville wird im Herbst des Jahres 1903 ein dreizehntägiger Schnitzelbank Carnival abgehalten. Auffällig ist nicht nur die Bewerbung der Veranstaltung selbst, sondern auch die Tatsache, dass Veränderungen im Management der Veranstaltung der Öffentlichkeit kommuniziert werden. Von öffentlichem Interesse in der Region Nashville im Jahr 1903 kann also ausgegangen werden.27
26 In der Reading Times vom 31.8.1909 ist das Sujet allgegenwärtig: Der »hit of the day» verspreche »more fun than a circus«. Ein »Schnitzelbank-Tonic«, »Schnitzelbank-Outfit«, Notendruck und Memorabilia — nahezu alle angebotenen Leistungen scheinen hier die Schnitzelbank im Namen zu tragen. Vgl. ein Digitalisat unter https://www.newspapers.com/image/44821265, Zugriff: 15.4.2018. 27 Vgl. hierzu zwei Digitalisate aus dem Tennessean aus den Monaten September und Oktober 1903 unter https://www.newspapers.com/image/118980034 sowie unter https://www.newspapers.com/image/118976925, Zugriff: 15.4.2018.
166
DER »SCHNITZELBANK«-SONG UND SEINE REZEPTION IN DEN USA Leserbriefe Im August 1974 schreibt ein Louis Fagon einen Brief an die Herausgeber des Kingston Daily Freeman in New York State, in dem es um die Frage nach der Rechtsgrundlage einer Anhebung der Kraftstoffkosten geht: »Perhaps we should join in the chorus of the Schnitzelbank […] Song: Ist das nicht ein rate increase? Ja, das ist ein rate increase.«28 Wahlkampagnen 1948 berichtet die New York Times, dass bei einer Wahlveranstaltung im Kontext der bevorstehenden Präsidentschaftswahlen das Publikum für den Kandidaten Henry Wallace eine »Wallace Schnitzelbank« singen wird.29 Jährliche Großveranstaltungen Ein aktuelles Beispiel ist das »Strassenfest« in Jasper im US-Bundesstaat Indiana, wo jährlich ein »Wettlauf« (5K Road Race) stattfindet. Auf dem T-Shirt zur Veranstaltungsauflage im Jahr 2017 bilden dem Anlass angepasste Reimpaare die Grundlage für »The Wettlauf Running Song«: »5K Run — Starting Gun, Carb Load — Hit The Road, Outdoor John — Jasperbaum, Running Shoe — Shorts Too, Gatorade Cup — Speed It Up, Sauerkraut — Jasper Route, Run Or Walk — Timers Clock, Finish Line — Trophy Time.« Auch hier deuten die Bilder auf eine Verbindung zur Schnitzelbank-Tradition.30
8. Fazit Die hier dargestellten Musik- und Textbeispiele aus verschiedenen Landesteilen aus den Jahren zwischen 1903 und 2017 zeigen die mannigfaltige Ausprägung der Schnitzelbank in den USA. Ebenso wie dem Schnitzelbank-Sujet ursprünglich im europäischen Raum verschiedene Funktionen innewohnten resp. zugeschrieben wurden, so besteht im 20. Jahrhundert zwar nicht mehr der gleiche Facettenreichtum wie bei den europäischen Vorläufern, jedoch scheint das Sujet immer noch geeignet, heterogene Anwendungsbereiche abzudecken. So werden Restaurants, Lauf- und Karnevalsveranstaltungen und auch Bier beworben. Bei Wahlkampfveranstaltungen und Leserbriefen findet sich die Schnitzelbank ebenso wieder wie in den von Keel besprochenen Filmen, Serien und Büchern. Die Abwandlung des Schnitzelbank-Songs in den 28 Vgl. den Leserbrief in voller Länge unter https://www.newspapers.com/image/ 86089145, Zugriff am 15.4.2018. 29 Vgl. New York Times vom 24.10.1948, S. 51. 30 Vgl. https://jasperstrassenfest.org/wp-content/uploads/2017/06/2017-WettlaufBrochure.pdf sowie http://cargocollective.com/christianpaeth/Wettlauf-TShirt, Zugriff: 15.4.2018.
167
FABIAN BADE USA für diese differierenden Anlässe kann nur dann sinnvoll sein, wenn die Kommunikation dieses Sujets von den Rezipienten verstanden wird. Das bedeutet, dass die Schnitzelbank samt Text und Formprinzipien unabhängig von regionalen Hotspots deutsch-amerikanischer Kultur bekannt gewesen sein muss. Andernfalls ließen sich die verschiedenen Aufgriffe nur schwer erklären. Keel nennt die Historie der Schnitzelbank mit einem ironischen Blick auf die Kettenliedstruktur »truly a never-ending one« (vgl. Keel 2003: 238). Ob sie wirklich nie endet, sei dahingestellt, dennoch deuten die ausgewerteten Daten darauf hin, dass das Schnitzelbank-Sujet in den USA über das 20. Jahrhundert hinweg durchgehend bekannt gewesen sein muss. Interessant ist, dass genau dies bislang kaum untersucht wurde und dieses Stück deutschamerikanischer Kultur diesseits des Atlantiks so unbekannt ist. Dieser Beitrag kann nun als Ausgangspunkt für Rezeptionsstudien dienen, wobei vor allem interessant sein dürfte herauszufinden, wer die Schnitzelbank wann und wie rezipiert hat respektive wie es um die Rezeption nach der Jahrtausendwende bestellt ist. Hierbei könnten die systematisierten Daten hilfreich und ein Startpunkt für weitere Überlegungen sein.
Literatur Anonymous (1948). »Wallace Prepares for Last Speeches«. In: New York Times vom 24.10., S. 51, https://timesmachine.nytimes.com/timesmachine/1948/10/24/ 110057433.html, Zugriff: 15.4.2018. Baum, Stephan (2009). »German in the US: Schnitzelbank«, https://www.youtube. com/watch?v=c-ygUMCdaJk, Zugriff: 15.4.2018. Begemann, Renate (1973). Die Lieder der Pennsylvaniadeutschen in ihrem sozialen Kontext. Eine Analyse der Brendelschen Sammlung 1935-1950. Dissertation: Universität Marburg [im Archiv des ZPKM Freiburg: V 1/843]. Brendle, Thomas R. / Troxell, William S. (1949). »Pennsylvania German Songs.« In: Pennsylvania Songs & Legends. Hg. v. George Korson. Baltimore: Johns Hopkins University Press. Canova, Ruth (2005). Jo, das isch e Schnitzelbangg. Die Geschichte des Basler Schnitzelbankwesens. Basel: Spalentor. Fuld, James J. (2012). The Book of World-Famous Music: Classical, Popular, and Folk. Mineola: Dover. Fürstenberger, Marcus / González, Emelyn (2002). Ei du scheene… Das 20. Jahrhundert im Spiegel der Basler Schnitzelbänke. Basel: Schwabe & Co. Gerny, Daniel (2018). »Trump, Erdogan und Billag: Die Basler Fasnacht 2018 ist politisch«. In: Neue Zürcher Zeitung vom 20.2., https://www.nzz.ch/panorama/ trump-erdogan-und-billag-die-basler-fasnacht-2018-ist-politisch-ld.1358881, Zugriff: 1.7.2018. Hadamer, Armin W. (2001). »German Melodies in American Songs. Beispiele populärer Revival-Lieder der USA mit Wurzeln im deutschsprachigen Kulturraum.« In:
168
DER »SCHNITZELBANK«-SONG UND SEINE REZEPTION IN DEN USA Populäre Musik im kulturwissenschaftlichen Diskurs II. Hg. v. Thomas Phleps (= Beiträge zur Popularmusikforschung 27/28). Karben: CODA, S. 119-135. Hadamer, Armin W. (2008). Mimetischer Zauber. Die englischsprachige Rezeption deutscher Lieder in den USA 1830-1880. Münster: Waxmann. Joseph, Eugen (1885). Konrads von Würzburg Klage der Kunst. [Dissertation] (= Quellen zur Sprach- und Culturgeschichte der germanischen Völker 54). Straßburg: K.J. Trübner. https://archive.org/stream/bub_gb_g-gIAAAAQAAJ#page/n23/ mode/2up, Zugriff: 15.4.2018. Keel, William (2002). »Was ist eine Schnitzelbank? The Tradition behind the Popular German-American Sing-Along«. In: Missouri Folklore Society Journal 24, S. 21-35. Keel, William (2003). »A German-American Icon: O, du schöne Schnitzelbank!« In: Yearbook of German-American Studies 38. Hg. v. dems. Lawrence: Society for German-American Studies, S. 221-253. Keel, William (2009). »From Bänkelsang to Schnitzelbank: A Never-Ending Story.« In: Er ist ein wol gevriunder man: Essays in Honor of Ernst C. Dick on the Occasion of His Eightieth Birthday. Hg. v. Karen McConnell u. Winder McConnell. Hildesheim u.a.: Olms, S. 213-236. Kohring, Jens (2000). »Brauchtum — der moralische Schatten«. In: Geheimsache Schnitzelbank. 1851-2001. Hg. v. Kultur-, Presse- und Touristikamt der Stadt Ellwangen. Ellwangen: o.V., S. 10-25. Kohring, Jens / Nußbaumer, Wolfgang / Hurler, Joseph (2000). »Der Pennäler Schnitzelbank«. In: Geheimsache Schnitzelbank. 1851-2001. Hg. v. Kultur-, Presse- und Touristikamt der Stadt Ellwangen. Ellwangen: o.V., S. 165 u. 173. Korson, George (1949). Pennsylvania Songs and Legends. Baltimore: Johns Hopkins University Press. Mannhardt, Wilhelm (1855). »Der Kukuk.« In: Zeitschrift für Deutsche Mythologie und Sittenkunde 3, S. 209-298. New York Times Immigration Explorer (2009). »Remade in America. The Newest Immigrants and their Impact«, https://archive.nytimes.com/www.nytimes.com/ interactive/2009/03/10/us/20090310-immigration-explorer.html?_r=0, Zugriff: 1.7.2018. Nußbaumer, Wolfgang (2000). »Mission, Moritaten und Maskierte — Ein Blick in die Geschichte eines Geheimbundes«. In: Geheimsache Schnitzelbank. 1851-2001. Hg. v. Kultur-, Presse- und Touristikamt der Stadt Ellwangen. Ellwangen: o.V. S. 32-37. Petzoldt, Leander (1978). Die freudlose Muse: Texte, Lieder und Bilder zum historischen Bänkelsang. Stuttgart: J.B. Metzler u. Carl Ernst Poeschel. Röhrich, Lutz / Brednich, Rolf Wilhelm (1967). Deutsche Volkslieder. Texte und Melodien Bd. 2: Lieder aus dem Volksleben. Düsseldorf: Pädagogischer Verlag Schwann. Seemann, Erich (1959). Korrespondenz zwischen Prof. Dr. Erich Seemann (DVA Freiburg) und Dr. Friedrich Carl Sarre (Rechtsanwalt) vom Januar 1959 zum Thema »Herkunft der Schnitzelbank«. Aus dem Archiv des ZPKM Freiburg, Gruppe XII: »Das ist kurz und das ist lang«. Kopie im Privatarchiv des Autors.
169
FABIAN BADE
Diskografie Ames Brothers feat. Russ Morgan And His Orchestra (1949). »Oh, You Sweet One (The Schnitzelbank Song)«. Coral, 60065-B. Blanc, Mel (1953). »Yah, das ist ein Christmas Tree«. Capitol, F2619-A. Falco (1985). »Rock Me Amadeus (Extended Version)«. US-Version, A&M, SP-12150. Haley, Bill (1956). »Rockin' Rollin' Schnitzelbank«. Auf: Rockin' Around The World. Decca, DL 8692. Heidelberg Quartette (1922). »Schnitzelbank«. Gennet, 4884-A. Joe Biviano (1949). »Schnitzel Bank«. RCA Victor, 25-1129. John Schmid (2004). »Schnitzelbank«. iTunes: https://itunes.apple.com/us/ album/in-dutch!/id571654998. Lawrence Duchow (1951). »Oh, You Sweet One (The New Schnitzelbank Song)«. RCA Victor 25-1193. Leighton Noble (1949). »Oh, You Sweet One (The Schnitzelbank Song)«. Vocalion, 55015-B. Louis Bauer Quartett (1913). »Schnitzelbank«. Columbia, E1315. Manhattan Quartet (1911). »Die Schnitzelbank«. Victor, C-10326. Nebe Quartet (1913). »Ei du schöne Schnitzelbank«. Edison Blue Amberol, 26082. Nena (1983). »99 Luftballons«. CBS, CBSA, 12.3060. Rudy Vallee (1962). »Schnitzelbank«. Auf: Stein Songs. Decca, 74242. Rammstein (1995a). »Rammstein«. Auf: Herzeleid. Motor, 529160-2. Rammstein (1995b). »Heirate mich«. Auf: Herzeleid. Motor, 529160-2. Six Fat Dutchmen (1956). »Schnitzelbank Polka«. RCA Victor, 47-6593-A. The Andrew Sisters (1949). »Oh, You Sweet One (The Schnitzelbank Song)«. Decca, 24664-B. The Weidler Brothers (vermutlich 1949). »The Schnitzelbank Polka«. Capitol, 78-108. Thurl Ravenscroft (1956). »Oh You Sweet One«. Bally, 1008-A. Trio (1982). »Da Da Da Ich Lieb Dich Nicht Du Liebst Mich Nicht Aha Aha Aha«. Mercury, 6400544.
Abstract The »Schnitzelbank« is a chain-song-type whose structure and rhyme scheme have been used in quite a number of US pop songs in the 20th century. Though the phenomenon of the Schnitzelbank is only little known throughout Germany, it seems to be ubiquitous in American popular culture, appearing in movies, cartoons and advertisements as well as in newspapers. The Schnitzelbank is based on three distinct European traditions: street ballads from the Middle Ages, ancient wedding customs of German fishermen in the Gdansk area as well as specific Shrovetide customs in the cities of Ellwangen (Germany) and Basel (Switzerland). The present study focuses on the varieties of the Schnitzelbank manifestations in the USA and offers data from archival research.
170
»S H A M E S H A M E S H A M E !« D E U T S CH E C O VE R VE R S I ON E N U ND B E A R B E I TU N G E N US- A M E R I K A N I S C HE R S O U L - UN D F U N K M U S I K 1958-1975 D ie tm a r Elf le i n Im Rahmen meines Forschungsprojektes zur Aneignung afroamerikanischer Musik in Deutschland dienen Coverversionen und Bearbeitungen als Mittel zum Zweck, um zu überprüfen, was im Prozess der Aneignung musikalischer Äußerungen als unveränderbar und was als veränderbar wahrgenommen wird — inklusive aller dazwischenliegenden Graustufen. Mein Blick ist also nicht an einer (post-)hermeneutischen Werkkritik interessiert, sondern an Diskursanalyse. Grundlage meiner Betrachtungen zur Aneignung von Musik sind Akteur-Netzwerkanalysen, die im hier gegebenen Rahmen jedoch kaum eine Rolle spielen; sie bilden das Hintergrundrauschen, vor dem die Coverversionen und Bearbeitungen analysiert werden.1 Ich habe versucht, die Aneignung afroamerikanischer Musik in Deutschland für diesen Aufsatz zu systematisieren und gehe im Folgenden von drei Schritten aus: Anpassung an europäische Hörgewohnheiten, Modernisierung2 derselben und Essentialisierungsbestrebungen.3 Diese versuche ich — im Anschluss an eine kurze Diskussion der Quellen- und Materiallage sowie von Begrifflichkeiten und rechtlichen bzw. ökonomischen Faktoren in Bezug auf Coverversionen im Allgemeinen — anhand von Beispielen zu belegen.
1 2
3
Das hat auch zur Folge, dass an anderen Stellen mehr zu den AkteurNetzwerken um die hier behandelten Stücke zu lesen sein wird. Unter Modernisierung verstehe ich eine Anpassung an den jeweils aktuellen musikalischen Mainstream bzw. eine Integration von Elementen aktueller Popularmusikstile in einen bereits länger bestehenden Musikstil. Essentialisierung ist mit Michael Schönhuth (o.J.) die Festschreibung des Anderen auf seine Andersartigkeit bzw. des Eigenen auf seine ursprüngliche Wesenheit, wobei innere Differenzen nivelliert werden (vgl. http://www.kultur glossar.de/html/e-begriffe.html und https://www.idaev.de/recherchetools/ glossar/, Zugriff jeweils am 17.7.2018).
171
DIETMAR ELFLEIN
C o v er v er s io n en u nd B e a r b ei t u ng e n Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema Coverversionen ist kaum vorhanden und nicht sehr weit verbreitet. Neben einzelnen Aufsätzen stößt man vor allem auf den kulturwissenschaftlichen Sammelband Play it Again: Cover Songs in Popular Music, hg. von George Plasketes (2010), und die Dissertation Von der Coverversion zum Hit-Recycling von Marc Pendzich (2004). Diese übersichtliche Quellenlage mag damit zu tun haben, dass der Begriff der Coverversion oder des Coversongs durchaus undeutlich zu sein scheint und auch in der genannten Literatur schwammig bleibt. Dies betrifft beispielsweise die Frage, ob Coverversionen von Bearbeitungen zu unterscheiden sind oder nicht. Eine Bearbeitung ist eine urheberrechtliche Ansprüche erhebende Veränderung eines veröffentlichten Werks, die genehmigungspflichtig durch den/die Autor*in des Originalwerkes ist. Dagegen entsprechen Coverversionen häufig einfach Interpretationen eines bereits veröffentlichten Werkes durch von der Erstveröffentlichung differierende Interpret*innen, für die keine Bearbeitungsansprüche geltend gemacht werden und die deshalb urheberrechtlich nicht genehmigungspflichtig sind. Schwammig wird diese Unterscheidung bspw. bei der Neutextierung eines Stückes oder der Übersetzung des Originaltextes ins Deutsche — urheberrechtlich sind dies nämlich grundsätzlich genehmigungspflichtige Bearbeitungen. Unklar bleibt auch — zumindest in historischer Hinsicht — die Frage nach dem Original, wenn die Erstveröffentlichung nicht als Tonträger, sondern als Partitur erfolgt und mehrere Interpretationen gleichzeitig auf dem Markt getestet werden. Coverversionen scheinen damit begrifflich erst Sinn zu machen, wenn die Erstveröffentlichung einer Komposition bereits eine Interpretation durch eine/n bestimmte/n Interpret*in ist, die in der Folge dann als das Original gilt. Eine Coverversion ist im Sinne dieses Aufsatzes eine Neuaufnahme eines bereits auf Tonträger veröffentlichten Stückes, für die in musikalischer und textlicher Hinsicht keine neuen Urheber- oder Bearbeitungsansprüche erhoben werden. Ein textlicher Eingriff — wahlweise im Sinne einer Übersetzung in eine andere Sprache oder einer Neutextierung in einer anderen Sprache als der des Originals — führt zur Bezeichnung Bearbeitung. Derartige Werke werden auf dem deutschen Markt häufig als »Deutsche Originalversion« bezeichnet. Desgleichen kann man sich mit Recht fragen, wie sich die Bezugsgröße des R&B-, Soul- oder Funkoriginals eigentlich definiert, welche Originale also für mich von Interesse sind und welche nicht. Auch hier möchte ich eine
172
»SHAME SHAME SHAME!« Abeitsdefinition versuchen: Ich beziehe mich auf die Veröffentlichungen bestimmter Labels wie Motown oder Stax, auf die Aufnahme in bestimmten Studios wie Muscle Shoals, auf Veröffentlichungen, die auf ein afroamerikanisches Zielpublikum zugeschnitten sind sowie auf Veröffentlichungen, die diese Zuschreibung im Image der Performer affirmieren. Dabei spielt die Hautfarbe von Publikum und Musikern explizit keine tragende Rolle. Viele Beispiele bewegen sich auch dann, wenn man diese Arbeitsdefinition zugrunde legt, in Graubereichen, im Bereich des Uneindeutigen, bleiben aber für mich unter anderem deshalb spannend.4 Ein paar Worte noch zu drei möglichen Motivationen, derartige deutsche Originalversionen auf dem deutschsprachigen Markt zu veröffentlichen: 1. Der Parasit: Die GEMA verfolgt bis 1995 (!) die Praxis, die Texter deutscher Bearbeitungen an den Einnahmen der Originale zu beteiligen — die entsprechenden GEMA-Regeln sind bei Pendzich (2004: 280ff.) und Bernd Matheja (2007: 30-33) zitiert. Laut diesen Regeln verdient der Texter einer bei der GEMA angemeldeten deutschen Bearbeitung eines bspw. US-amerikanischen Stückes bei jeder Aufführung oder Sendung des US-Originals (!) mit. »Deutsche Originalversionen« können aufgrund dieser Praxis zur »Gelddruckmaschine« für deutsche Liedtexter werden. Die Intention für die Veröffentlichung einer »deutschen Originalversion« kann auf diesen Zusatzverdienst reduziert sein, sodass weder ein künstlerisches noch ein kommerzielles Interesse an der neuen Version selbst besteht, sondern es geht ausschließlich um ihre pure Existenz, um am Erfolg des Originals parasitär beteiligt zu sein. 2. Der Trittbrettfahrer: »Ich kenne herrliche Häuser, nur aus Rückseiten gebaut — welch geniale Architekten waren da am Werk«, wird Ralph Siegel im Spiegel (o.A. 1963: 105) zitiert. Was meint Siegel damit? Eine Vinyl 7-Inch Single besteht aus Vorder- und Rückseite. Die Höhe der Tantiemen für Komposition und Textierung der B-Seite entspricht exakt der für die A-Seite. Allerdings wird die Single im Normalfall wegen der Vorder- und nicht der Rückseite käuflich erworben. Die A-Seite besteht dann bspw. aus einer
4
Ein Beispiel: »I Who Have Nothing« von Ben E. King (1963) ist ein früher SoulKlassiker, von dem es eine deutsche Originalversion gibt. Gleichzeitig ist Ben E. Kings Version die »US-Originalversion« eines Italo-Schlagers (Joe Sentieri: »Uno Dei Tanti«, 1961), für deren Produktion laut wikipedia und diverser Spiegelungen die instrumentalen Masterbänder aus Italien verwendet wurden (vgl. https://en.wikipedia.org/wiki/I_(Who_Have_Nothing); http://popdose.com/ soul-serenade-ben-e-king-i-who-have-nothing/; Zugriff jeweils am 25.7.2018). Meine Analyse zieht diese Behauptung wiederum in Zweifel, da bspw. die Basslinie beider Versionen nicht völlig identisch zu sein scheint.
173
DIETMAR ELFLEIN Coverversion oder Bearbeitung eines aktuellen Hits, um am Erfolg des Originals zu partizipieren. Zusätzlichen Profit machen die Akteur*innen jedoch mit der B-Seite, für die sie die Kompositions- und Texttantiemen erhalten, die bei der Coverversion auf der A-Seite an die Originalautor*innen gehen. Man kann auch versuchen, der A-Seite zu höherer Medienpräsenz zu verhelfen, indem die Kompositions- und/oder Texttantiemen der B-Seite an einflussreiche Akteur*innen der Medien oder des Musikbusiness vergeben werden. Hier wird die Grenze zur Korruption durchlässig. 3. Der Fan: Die in diesem Aufsatz in Frage stehenden Coverversionen und Bearbeitungen passen mehrheitlich nicht in die Kategorien 1 oder 2, denn die R&B-, Soul- und Funk-Originale sind erstens in der BRD im Normalfall keine Hits, sodass sie für parasitäre Verdienstmöglichkeiten unattraktiv sind, und sind zweitens oft selbst als B-Seiten veröffentlicht, sodass die Rückseiten weder als mediales »Schmiermittel« noch als Zusatzverdienst funktionieren. Es gilt also eine dritte Möglichkeit: Man mag das Stück und rechnet sich wahlweise Modernisierungs- bzw. kommerzielles Potential aus. Vielleicht möchte man auch einfach dem Original seine Referenz erweisen.
C o v er v er s io n en u nd B e a r b ei t u ng e n v o n R & B , S o ul und F u nk — ei n Ma s s e n - o d er Ra nd p hä no m e n ? In Deutschland produzierte Coverversionen und Bearbeitungen US-amerikanischer R&B- und Soultitel erscheinen kontinuierlich ab 1958 auf dem Markt. Es handelt sich bei diesen Veröffentlichungen weder um ein Massenphänomen noch um zu vernachlässigende Einzelfälle. Vielmehr werden die Produzent*innen und Interpret*innen deutscher Popmusik auf der Suche nach Inspiration immer wieder auch im Funk, Soul oder R&B fündig. Ab Mitte der 1960er Jahre haben auch deutsche Beatbands entsprechende Coverversionen im Programm. Die Aneignung von R&B im deutschen Beatkontext mag dabei zumindest teilweise über die R&B- und Soulvorlieben britischer Beatund vor allem Modbands wie The Who, The Kinks oder The Small Faces vermittelt sein. Sowohl die entsprechenden Beat- als auch die Schlagerveröffentlichungen sind bis in die 1970er Jahre hinein kommerzielle Flops. Kaum ein Stück schafft es in die Charts, viele werden wie erwähnt nur als B-Seiten von Singles oder als reine Albumtracks veröffentlicht. Sowohl im Schlager als auch im Beat spielen Alben in den Überlegungen der Produzent*innen nur eine untergeordnete Rolle. Das Medium der Wahl ist im zu untersuchenden Zeitraum weiterhin die Single, das Ziel der Hitparadenerfolg. Allerdings
174
»SHAME SHAME SHAME!«
werden in Anlehnung an den Zeitgeist auch im Schlager ab Anfang der 1970er Jahre Albumveröffentlichungen wichtiger, die über die reine Zweitverwertung bereits veröffentlichter Singles hinausgehen — ohne jedoch dadurch an konzeptioneller Kohärenz zu gewinnen.5
A np a s s u ng e n: F r ü h e Ä n d er u ng en d e s G r o o v e s Am Beginn der Geschichte westdeutscher Aneignung von R&B, Soul und Funk stehen Bandleader in der Swing- und Tanzorchester-Tradition wie Paul Kuhn oder Viktor Reschke. Letzterer verantwortet 1958 eine Bearbeitung von Sam Cookes Debüt und Nummer-Eins-Erfolg in den Billboard Hot 100- und Billboard Rhythm & Blues Records Charts, »You Send Me« (Cooke 1957), mit Billy Mo als Sänger (Mo 1958). Kuhn spielt im selben Jahr eine Bearbeitung mit der Schwedin Alice Babs (1958) als Sängerin ein. Das Original von Cooke erscheint in Deutschland bereits im Jahr der Erstveröffentlichung auf London Records. Auch die »You Send Me«-Version von Teresa Brewer, die in den USA ebenfalls 1957 erscheint, wird von Coral Records umgehend und im selben Jahr in Deutschland veröffentlicht. In musikalischer Hinsicht ist mittels der unterschiedlichen Arrangements der Formteile A und B sowie der unterschiedlichen Basslinien nachweisbar, dass sich beide deutschen Adaptionen stärker an Cookes Original als an Brewers Version orientieren. Die Songstruktur von »You Send Me« gliedert sich in den vier angesprochenen Versionen wie folgt: Formteil
Cooke
Brewer
Reschke
Kuhn
Intro (A)
—
4
—
4
A
8 Takte
8
8
8
A'6
8
8
8
8
B
8
8
8
8
A
8
8
8
8
A
8
8
8
8
A'
8
8
8
8
B
8
8
8
8
A
8
8
8
8
—
5 (Fade out)
—
3
Outro (A)
Tab. 1: Formale Struktur verschiedener »You Send Me«-Versionen. 5
6
Eine ausführlichere theoretische und analytische Einbettung des Gesagten in den deutschen Schlagerdiskurs sprengt hier den Rahmen und erfolgt deshalb an anderer Stelle. A' leitet in Takt 7 und 8 zum folgenden B-Teil hin.
175
DIETMAR ELFLEIN Da sich Kuhn formal offensichtlich stärker an Brewer als an Cooke anlehnt, steht die eben aufgestellte These der Orientierung an Cookes Version durchaus in Frage. Allerdings spielt der bei Brewer in A- und B-Teil unverändert durchlaufende Groove weder bei Reschke noch bei Kuhn eine Rolle, beide orientieren sich stattdessen deutlich an Cookes unterschiedlichen Grooves für den A- und B-Teil. Abb. 1 zeigt die unterschiedlichen Grooves als Rhythmusraster. BREWER
A+B 2
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Snare
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COOKE
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Snare
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1
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COOKE
B +
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1
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Snare
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Gitarre
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Bass
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KUHN/BABS
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Snare
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Bass
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Gitarre
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Gitarre
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Bass
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KUHN/BABS
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Gitarre
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Bass
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Gitarre
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Bass
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RESCHKE/MO
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Snare
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Bass
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Abb. 1: Rhythmustranskription verschiedener Versionen von »You Send Me«.
176
4
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»SHAME SHAME SHAME!«
Dass der Groove von Brewer für beide deutschen Bearbeitungen keine Rolle spielt, ist wegen der unterschiedlichen Linien von Bass und Snare offensichtlich. Im B-Teil greift Reschke für Mo vielmehr direkt auf Cookes Originalgroove mit den drei Staccato gespielten Vierteln zurück, während Kuhn für Babs einen Walking Bass in Vierteln entwickelt. Im A-Teil nehmen dann beide Cookes Groove als Vorbild und verändern diesen auch auf die gleiche Art und Weise, indem sie den Groove über die Reduzierung des Basslaufes auf einen stetig wiederkehrenden Notenwert abschwächen. Die abschließende Triole im Bass bei Cooke, die den Groove zu einer sich wiederholenden Kreisbewegung macht, wird in die Gitarre verlegt und sehr leise abgemischt. Diese Veränderung des Grooves passt diesen an die herrschenden deutschen Hörgewohnheiten an und bietet eine erste Arbeitshypothese für einen deutschen Umgang mit R&B und Soul: Die Besetzung kann variieren, wird aber in ihren tragenden Elementen häufig nachgeahmt. Melodik und Harmonik werden unverändert übernommen — gegebenenfalls wird transponiert. Die Songstruktur wird ebenfalls weitestgehend kopiert. Der Groove ist dagegen ein Element, das man ändern kann, soll oder muss z.B. im Sinne einer Anpassung an den Genuss variierter Wiederholung noch nicht angepasste Hörgewohnheiten (vgl. Elflein 2012: 249f.). Das Riffartige des Bassgrooves bei Cooke wird dementsprechend abgeschwächt. Die beginnenden Modernisierungsprozesse im deutschen Schlager führen in den 1960er Jahren zu vielen Beispielen, bei denen man einerseits versucht, das US-Original möglichst genau zu kopieren, andererseits aber nicht davor zurückschreckt, in den Groove einzugreifen. Man kopiert zwar die Basslinie, addiert aber gleichzeitig Stops und Schlusswendungen, um die kreisende variierte Wiederholung in zielgerichtete Strukturen zu überführen. Als Beispiele sollen zwei Beat-Adaptionen von Frankie Farian und die Schatten einerseits und The Boots andererseits dienen, also einer Band auf Amateurlevel und einer professionellen Beatband. Frankie Farian und die Schatten covern 1965 »Mickey's Monkey«, im Original 1963 von The Miracles mit den Funk Brothers eingespielt und auf Motown veröffentlicht. The Boots eignen sich ein Jahr später »In The Midnight Hour« an, eine Komposition von Wilson Pickett und Steve Cropper, die 1965 von Pickett auf Atlantic Records erstveröffentlicht wurde. Die Musik wurde von Mitgliedern von Booker T. & The M.G.'s eingespielt. Beide Coverversionen übernehmen den Originaltext in englischer Sprache.
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DIETMAR ELFLEIN 1
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The Miracles Becken Clap
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Farian Becken
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Clap/Tamb.
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Snare Gitarre/Orgel
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Abb. 2: Rhythmustranskription »Mickey's Monkey« (The Miracles, Frankie Farian).
»Mickey's Monkey« beruht im Original auf einem polyrhythmischen Geflecht auf Basis der Son Clave in der Orgel, die mit einem stark akzentuierten Backbeat sowie durchgehenden Achteln in den Becken kontrastiert wird. Die Basslinie, die von der Zählzeit ›2u‹ auf zwei sich beständig abwechselnde Arten jeweils zur nächstfolgenden ›1‹ strebt, verstärkt den polyrhythmischen Charakter. Zusätzlich werden im Verlauf des Stücks optional Single Note-Gitarrenfiguren und Bläserriffs, die auch die erste Hälfte der Son Clave doppeln können, zum Groove addiert. Diese polyrhythmische Struktur wird von Farian (1965a) deutlich vereinfacht. Bezeichnend ist insbesondere, dass die in der Besetzung der Schatten eigentlich vorhandene Orgel, die die Son Clave bei den Funk Brothers ja über weite Strecken trägt, komplett in den Hintergrund tritt. Stattdessen dominieren Beatgitarren, die mittels Slide-In die Son Clave im ersten Teil der Formel einerseits aufweichen und andererseits mittels der StaccatoSpielweise auf Zählzeit ›2‹ und ›3‹ des zweiten Taktes fast marschartig verstärken. Dies wird zudem durch parallele Snare- und Bass-Betonungen unterstrichen. Farian will aus dem Motown-/R&B-Song eindeutig ein Beatstück machen. Auch wenn Farian Fan zu sein scheint — seine ersten drei Singles (vgl. Farian 1965a, 1965b, 1967) bestehen fast ausschließlich aus Soul Covers — bleibt er immer innerhalb der musikalischen Normen der damals neuen Beatmusik, um einen hypothetischen Erfolg, den Anschluss an die aktuelle Mode nicht zu gefährden. The Boots (vgl. Klitsch 2000: 159) aus Berlin gelten im Gegensatz zu Farian und die Schatten (vgl. ebd.: 278) als eine der besten Beat Bands der BRD. Sie covern 1965 »In The Midnight Hour« und verfahren dabei im Prinzip
178
»SHAME SHAME SHAME!«
ähnlich wie Farian — sie passen Form, Besetzung und Arrangement an ihre eigene Intention an und transformieren den R&B-/Soul-Groove des Originals in Beatmusik. Der um die Backbeat-Snare kreisende Groove von Picketts Version wird viel stärker linear nach vorne schreitend gedacht, ohne dass das Ziel des Drängens wirklich in den Blick gerät. Die Basslinie der BootsVersion zitiert bspw. die Original-Basslinie von Donald »Duck« Dunn, konstruiert aber aus einem beständigen halbtaktigen Pendeln zwischen I und IV durch eine rhythmische Variante ein zweitaktiges Pattern.
Abb. 3: Basslinie »In the Midnight Hour« (Wilson Pickett, The Boots).
Mo d er ni s i er u ng s s t r a t eg i e n 1 : Mi x u nd K l a ng b il d Im Schlager finden sich in der Hochzeit des Beats viele möglichst genaue Kopien von Soul-Originalen, die meist nur minimal in den Groove eingreifen, sich jedoch in Klangbild und Mix-Architektur stark von den Originalen unterscheiden. Die Räumlichkeit der Coverversionen und Bearbeitungen ist dabei eher an Rock'n'Roll und seine Verhallung der Gesangsstimme sowie den Gebrauch von Plattenhall angelegt, wie sie Peter Doyle (2005) exzellent beschrieben hat. Die entsprechende Mix-Architektur sucht nach realistischen Nachbildungen der Instrumentenklänge und einer differenzierten Hörbarkeit aller Elemente. Die US- Originalversionen aus dem R&B und Soul sind dagegen weniger bzw. anders verhallt und stärker hierarchisiert, man ist weniger an Realismus denn an einer Staffelung des Klangbildes interessiert, die Groove und Singstimme in den Vordergrund stellt und einen charakteristischen, wiedererkennbaren Sound sucht — unabhängig von einer realistischen Nachbildung des Instrumenten- bzw. Ensembleklangs. Dementsprechend sind die deutschen Mixe möglicherweise handwerklich korrekter, aber gleichzeitig auf jeden Fall weniger originell. Ein Bemühen um einen charakteristischen Sound ist in Deutschland nicht zu konstatieren. Michael Holm bestätigt diese Einschätzung: »Wir hatten damals die Gitarre, die klang wie eine Gitarre, das Piano klang wie Piano, die Trompete klang wie eine Trompete, die Geige klang wie Geige, soll ich weitermachen? So [Holm haut auf den Tisch]: Sounds, es gab keine Sounds!« (Interview mit dem Verfasser am
179
DIETMAR ELFLEIN 29.10.2017). Gleichzeitig ist die Anlehnung der deutschen Mixe an das, was man für eine klangliche Ästhetik des Rock'n'Roll hält, Ausdruck eines Modernisierungsschubes im deutschen Schlager. Man ist in deutschen Tonstudios damals offensichtlich noch mit der klanglichen Verarbeitung des Rock'n'Roll beschäftigt und nicht willens, schon wieder Änderungen und Neuerungen vorzunehmen. Als Beispiele sollen hier drei Produktionen des Arrangeurs, Produzenten und Komponisten Christian Bruhn dienen, die zwischen 1964 und 1968 veröffentlicht wurden.7 1964 veröffentlichen Drafi Deutscher and His Magics mit Bruhn als Produzenten eine Bearbeitung von Arthur Alexanders »You Better Move On« (1962) unter dem Titel »Es ist besser, du gehst« als B-Seite ihrer Single »Cinderella Baby«. »You Better Move On« ist laut Charles L. Hughes (2015: 13-15) eines der prägenden Stücke für den Muscle Shoals-Sound. Neben der Stimme steht insbesondere eine fast blechern wirkende Snare im Vordergrund des Mixes, beide mit deutlichem Raumanteil im Gegensatz zu den trockener wirkenden Gitarren und Bass im Hintergrund. Bruhn bemüht sich für Deutscher durchaus um eine Kopie des Originals. Allerdings wird zum einen die Basslinie verändert, zum anderen das Tempo um sieben bpm verlangsamt und vor allem beim Mix eine völlig andere Räumlichkeit geschaffen. Bruhn fügt sowohl Deutschers Stimme als auch der Begleitband einen dominanten und sehr höhenlastigen Raumanteil hinzu. Dagegen verliert die Snare ihren blechernen Charakter und klingt im Sinne von Holms obiger Aussage wieder wie eine Snare. Manuelas 1968er Bearbeitung von Percy Sledges »Warm And Tender Love« von 1966, das wie »You Better Move On« mit Personal der Muscle Shoals-Studios aufgenommen wurde8, wird von Bruhn ähnlich produziert. Seine Version für Manuela erscheint unter dem Titel »Morgen kommt der Tag« ebenfalls als B-Seite. Arrangement, Form, Harmonik und Stimmführung werden kopiert und analog zur Verfahrensweise bei Drafi Deutscher mit mehr, größeren und helleren Hallräumen sowie einer anderen MixArchitektur versehen. Bruhns Mix ist weniger basslastig als das Original, das
7
8
Der studierte Komponist und Klarinettist Christian Bruhn arbeitet ab 1956 als Arrangeur und Produzent für das Münchner Low Budget-Label Tempo (vgl. Bloemeke 2014) und gründet Anfang der 1960er mit dem Verleger Peter Meisel in Berlin die Hansa Musikproduktion, die sich stark an US-amerikanischen Vorbildern aus dem Independent-Bereich anlehnt. Von 1991 bis 2009 war Bruhn Aufsichtsratsvorsitzender der GEMA. Die Mitmusiker und das Studio sind nicht bekannt, die Produzenten entstammen dem Muscle Shoals-Personal.
180
»SHAME SHAME SHAME!«
Schlagzeug steht weiter im Hintergrund, die Orgel dagegen weiter vorn.9 Zudem ist die Bearbeitung von Manuela 5 bpm schneller als die Version von Sledge. Auch Bruhns Mix von Peggy Peters10 B-Seite, »Aus« (1964), einer Bearbeitung von »Shout« (1959) der Isley Brothers, ist durchsichtiger, höhenlastiger, weniger am Ensembleklang orientiert und auf der Stimme von Peters liegt ein heller großer Raum. Bei »Aus« greift Bruhn übrigens auch stark in die Songstruktur ein und gibt das Stück — vielleicht deshalb — als Eigenkomposition aus. »Shout« basiert auf dem taktweisen Wechsel zwischen erster Stufe und ihrer Mollparallele, der beständig variiert wird und seine Binnengliederung insbesondere über den Antwortchor erhält. Takte
Isley Brothers
8 8 8 16 16 14 20 Sek. 8 16 12 8 16
Vokaler Einstieg A [»Shout«] A [»Say you will«] A [»Say«] A [»shoo-be-doo-wop«] B Half-Time ohne Chor A [»Shout«] Break, freies Tempo A [»Shout«] A [»Softer«] A [»Louder«] A [»Hey«] A [»Shout«]
Takte 4 10 8 9 18 8
8
12 14
Peters Instrumentales Intro A' [»Aus-aus-aus«] A' [»Bei-bei-bei-bei«] A [»Aus«; »yeah«] A' [»Schubi-dubi«] B [»Von heute an«] [entfällt] [entfällt] A [»yeah«] [entfällt] [entfällt] A [»Yeahehehe«] A [»Aus«]
Tab. 2: Formale Struktur von »Shout« und »Aus«.
Bruhn vereinfacht die Struktur von »Shout«, in dem er »Aus« auf einen Puls und eine Dynamik reduziert: Sowohl der rhythmisch freie Break als auch die beiden Teile, in denen die Musiker der Isley Brothers der Aufforderung des Vorsängers »A little bit softer now« bzw. »a little bit louder now« folgen, werden aus der Struktur eliminiert. In harmonischer Hinsicht addiert er in Formteil A' eine Schlusskadenz IV-V jeweils in den Takten fünf und sechs. Bruhn verweigert sich damit deutlich der Aneignung der aus dem Gospel übernommenen Elemente von »Shout« und macht »Aus« nicht nur klanglich zu einem Rock'n'Roll-beeinflussten Stück Popmusik. 9
Sowohl Sledge als auch Manuela interessieren sich laut meiner Analyse übrigens nicht für die eigentliche Originalversion von Joe Haywood auf Bobby Robinsons New Yorker Enjoy Label aus dem Jahr 1965. 10 Peters (eigentlich Christa Zalewski) startet wenig später als Tina Rainford eine zweite Karriere im Schlager, deren größte Erfolge Mitte der 1970er Jahre liegen.
181
DIETMAR ELFLEIN
Mo d er ni s i er u ng s s t r a t eg i e n 2 : Mi s c hu n g e n un t er s c h ie d l ic her V er s io ne n In den beginnenden 1970er Jahren ist man in der deutschen Aneignung von Soul und Funk einen Schritt weitergekommen. Rock'n'Roll und Beat sind verarbeitet, man orientiert sich nun stärker an aktuellen US-amerikanischen Entwicklungen. Kurz zuvor sind Ende der 1960er Jahre nach Gebesmair (2008: 205) die Verkäufe einheimischer deutschsprachiger Produktionen massiv eingebrochen. Modernisierung ist also auch als eine mögliche ökonomische Überlebensstrategie notwendig. Unter den Modernisierern stehen ehemalige Mitarbeiter der Meisel Musikverlage wie Joachim Heider, Giorgio Moroder und Holm in der ersten Reihe. Diese verbindet ein vielfältiges Netzwerk. Heider spielt mit Holm in den ausgehenden 1960er Jahren bspw. in der Beatband Daisy Clan, eignet sich als Alfie Khan den Philly Sound an und kommerzialisiert dies mit Marianne Rosenberg als Sängerin (zu Heider s. auch Elflein 2014). Moroder covert u.a. ein Stück von Daisy Clan und bildet mit Holm schon bei Meisel immer wieder ein kommerziell erfolgreiches Autorengespann, in dem Moroder für die Musik und Holm für die Texte zuständig ist. Parallel zu den an Bubble Gum, Beat und Rock orientierten Veröffentlichungen mit Holm arbeitet er an seiner Version elektronischer Tanzmusik, für die er via Donna Summer später weltbekannt werden wird. Die Karriere von Holm als Interpret nimmt über die Zusammenarbeit mit Moroder kommerziell Fahrt auf (»Mendocino«, »Barfuß im Regen«, beide 1970). Der aus der Kölner Beatszene stammende Rainer Pietsch ist bereits zu diesem Zeitpunkt immer wieder als Arrangeur in die Zusammenarbeit der beiden involviert. Pietsch ersetzt ab 1972 Moroder als langjährigen Partner von Holm und co-produziert dessen Alben bis zu Holms vorübergehendem Rücktritt von der Bühne im Jahr 1981. Pietsch wird in den späteren 1970er Jahren auch als Streicherarrangeur für Rockbands wie Rainbow oder das Electric Light Orchestra bekannt. Holm, Pietsch und Moroder arbeiten von München, Heider als einziger weiter von West-Berlin aus. 1973 veröffentlicht Holm auf dem von ihm und Pietsch produzierten Album Stories11 eine Bearbeitung der Holland/Dozier/Holland-Komposition »Baby I Need Your Loving« als »Baby ich such nach dir«. Das Stück erscheint 11 Stories enthält zudem Bearbeitungen von Steely Dan (»Do It Again«, 1972), B.J. Thomas (»Rock And Roll Lullaby« — komp. von Barry Mann/Cynthia Weil, 1972), David McWilliams (»Days Of Pearly Spencer«, 1967), Lobo (»I'd Love You To Want Me«, 1973) und eine Coverversion von Bobby Darin (»Splish Splash«, 1958).
182
»SHAME SHAME SHAME!«
im Original 1964 auf Motown von den Four Tops, wird im gleichen Jahr auch von der englischen Beatband The Fourmost eingespielt, Marvin Gaye covert es 1966 im Duett mit Kim Weston und 1969 mit Tami Tarrell; Johnny Rivers hat 1967 damit einen Hit, Gladys Knight & The Pips spielen es 1968 und O.C. Smith veröffentlicht 1970 eine Funkversion. Der Höreindruck der Holm/Pietsch-Version legt nahe, dass diese Versionen bei der Produktion zumindest teilweise bekannt waren. Holm bestätigt dies: »Der Rainer kannte das alles« (Interview mit dem Verfasser am 29.10.2017). Holm/Pietsch übernehmen von den Four Tops die Harmonik und die Melodik sowie die Grundzüge der Songstruktur. Sie ändern allerdings — wie auch alle anderen mir bekannten Versionen — den Schlagzeug-Groove, den die Funk Brothers für die Four Tops vorlegen. Mit Ausnahme der Four Tops verlassen sich alle Versionen auf den Backbeat oder alternativ auf eine alle Viertel durchschlagende Snare. 1 Four Tops Snare Alle anderen Snare oder: Snare
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Abb. 4: Rhythmustranskription »Baby I Need Your Loving«, Snare Drum.
In Sachen Arrangement lassen sich Holm und Pietsch ebenfalls von unterschiedlichen Versionen inspirieren. Tabelle drei zeigt die Songstruktur der Versionen von den Four Tops, Holm/Pietsch, Rivers, Smith und Gaye/ Terrell.
Intro Verse Chorus Verse Chorus Bridge Verse Chorus
Four Tops 6 Takte 14 8 10 8 8 16 (10+6) 12
Holm/Pietsch 5 (4+1) 14 10 (8+2) 10 8 8 (4+4) 16 16
Rivers 4 14 8 10 8 8 16 17
Smith 8 14 12 (8+4) 10 12 (8+4) 8 16 14
Gaye/Terrell 6 14 8 10 8 8 16 (10+6) 18
Tab. 3: Songstruktur »Baby I Need Your Loving«, verschiedene Versionen im Vergleich.
Holm/Pietsch verkürzen in Bezug auf die Four Tops das Intro um zwei Takte und fügen einen Brückentakt ein. Zudem addieren sie nach dem ersten Chorus ein zweitaktiges Zwischenspiel, teilen die Bridge in vier instrumentale
183
DIETMAR ELFLEIN und vier gesungene Takte, ignorieren die Binnengliederung des dritten Verses mit seinen zusätzlichen Akzenten auf Zählzeit ›3‹ und ›4‹ in den Takten 12, 14 und 16 und verkürzen das Fade-out des Schlusschorus um vier Takte. Gleichwohl bleibt die Songstruktur des Originals grundsätzlich erhalten. Den Höreindruck, dass die Holm/Pietsch-Version eine Mischung aus unterschiedlichen Versionen darstellt, unterstreichen folgende Bezüge: Der für die Holm/Pietsch-Version typische dynamische Gegensatz von Verse und Chorus findet sich bei den Four Tops nicht, dafür aber bei Rivers, der zudem das Intro ebenfalls (sogar auf nur vier Takte) verkürzt. Die von Holm/Pietsch zur Verdeutlichung des dynamischen Gegensatzes genutzte Verdopplung des Beats vom Verse zum Chorus (Backbeat im Verse, Snareschläge auf allen Vierteln im Chorus, s. Abb. 4) hört man bei Rivers dagegen nur im dritten Chorus, dafür aber als durchgängig eingesetztes Mittel auch bei Gaye/Terrell. Die Idee eines an den ersten Chorus angehängten Zwischenspiels nutzt neben Holm/Pietsch auch Smith, allerdings differieren die Längen zwischen zwei und vier Takten. Desgleichen findet sich die bei Smith prominent vertretene Single-Note Funkgitarre bei Holm/Pietsch in der Bridge und im dritten Verse. Von Rivers wiederum übernehmen Holm/Pietsch den Ersatz des männlichen Chores (Four Tops) durch Vorsänger und Frauenchor sowie ein charakteristisches Bläserriff im Schlusschorus. Das Arrangement des Intros von Holm/Pietsch lehnt sich dagegen mittels der Bläser, die bei Rivers fehlen, wieder stärker an die Four Tops an. Im Chorus ist der Frauenchor bei Holm/Pietsch deutlich im Vordergrund, während er bei Rivers dezenter gemischt ist. Damit lehnen sich Holm/Pietsch ebenfalls an die Four Tops an, stellen sich jedoch über die Änderung von Männer- zu Frauenchor auch in eine Schlagertradition, die von den Big Band-Reminiszenzen des ChorusArrangements noch unterstützt wird. Als auffälligste neue Arrangement-Idee von Holm und Pietsch entpuppt sich eine Generalpause am Schluss des Chorus, die überraschenderweise von einem Männergesangssatz gefüllt wird. Holm/Pietsch zeigen eine deutlich gereiftere Aneignung von R&B und Soul als die bisherigen Beispiele. Sie wollen nicht mehr einfach kopieren, sondern eignen sich Ideen an, zitieren andere Künstler*innen und versuchen, diese Elemente wiederum neu und gleichzeitig sinnvoll zu kombinieren. Sie sind auf der Suche nach einem modernen deutschen Popsong jenseits von Schlagerklischees der 1950er und 60er Jahre. Dabei bedienen sie sich durchaus virtuos bei Ideen anderer, die sie neu kombinieren. Pietsch wird in der Folge wichtig als Streicherarrangeur des Munich Disco-Sounds. Holm verantwortet weiterhin immer wieder Modernisierungsversuche des deutschen Schlagers, bricht aber nie mit der Schlagertradition. Seine zwischen 1972 und 1976 gemeinsam mit Pietsch unternommenen Modernisierungsversuche
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»SHAME SHAME SHAME!«
mittels Soul12 bleiben in der Minderheit und werden ab 1977 durch Country & Western-Bezüge ersetzt (vgl. Holm 1977). Die Musiker auf den Holm/ Pietsch-Produktionen entsprechen der damaligen ersten Liga der Munich Disco-Szene und sind auch auf den damaligen Produktionen von Moroder mit Donna Summer, Farian mit Boney M. oder Michael Kunze mit Silver Convention zu hören (vgl. Elflein 2017). Holm präzisiert diesen Eindruck: »Wir hatten in München zwei Besetzungen, die waren Weltklasse und dann fiel es ja total in den Boden runter, dann ging grade noch so Volksmusik« (Interview mit dem Verfasser am 29.10.2017).
Mo d er ni s i er u ng s s t r a t eg i e n 3 : E s s e nt ia l is i er un g 1975 landen Hamburger Studiomusiker, wahrscheinlich unter der Leitung von Detlef Petersen, einen Hit mit einer Coverversion von »Shame Shame Shame« von Shirley & Company (1974). Die deutsche Version von Linda & The Funky Boys (1975) steigt gleichzeitig mit dem Original in die deutschen Charts ein und gelangt bis auf Platz 15, während das Original die Spitzenposition erreicht. Ziel der Coverversion ist es jetzt erstmals nicht, als deutsch wahrgenommen zu werden, sondern als genuiner Soul und Funk. Nach Aussagen von Beteiligten handelt es sich übrigens um eine Auftragsarbeit für RCA (vgl. Miller-Haupt o.J.b: Abs. 3). Während die Singlehülle des Originals zwecks Breitenwirkung mit der Kategorisierung »Black Pop 75« versehen ist13, wollen die Hamburger explizit als Teil von R&B, Soul bzw. Funk wahrgenommen werden und vermeiden auf der Singlehülle14 jeden Hinweis darauf, dass es sich um eine Coverversion handelt. In der linken oberen Ecke findet sich stattdessen eine rote Banderole mit der Aufschrift »USA Smash Hit«; der Hinweis, dass es sich eben nicht um die Original-Version handelt, fehlt jedoch. Die rechte untere Ecke ist wie ein zusätzlicher Aufkleber gestaltet mit der Aufschrift: »Miami Soul.« Da das Original jedoch in New Jersey aufgenommen wurde, handelt es sich dabei um eine bewusste Fehlinformation. RCA stellt damit eine Verbindung her zwischen Linda & the Funky Boys und George McCrae, der mit »Rock Your Baby« 1974 als erster afroamerikanischer Musiker überhaupt
12 Neben »Baby ich such nach dir« z.B. Coverversionen von den Drifters (Holm 1975) oder Joe Tex (Holm 1972). 13 https://www.discogs.com/de/Shirley-And-Company-Shame-Shame-Shame-Origi nal-Version/release/3129732, Zugriff: 1.4.2018. 14 https://www.discogs.com/de/Linda-The-Funky-Boys-Shame-Shame-Shame/mas ter/296292, Zugriff: 1.4.2018.
185
DIETMAR ELFLEIN einen Nummer Eins-Hit in Deutschland landen konnte. »Rock Your Baby« hielt sich zehn Wochen auf dem ersten Platz der deutschen Charts und mit 23 Wochen fast ein halbes Jahr in den Top Ten. Miami Soul im Stile von Harry Wayne Casey und Richard Finch, den Komponisten und Produzenten von »Rock Your Baby« erscheint 1975 offensichtlich als ein Sound der Stunde. RCA will davon profitieren und zieht »Miami Soul« der Kategorisierung »Black Pop 75« vor. Noch deutlicher wird diese gegenläufige Tendenz von Original und Cover bei den zugehörigen Alben.15 Die Hülle der LP Shame Shame Shame von Shirley & Company (1975) spielt auf Nixons Rücktritt nach Watergate an, sucht also im Sinne von (Black) Pop zeitgenössische Allgemeingültigkeit, das Cover von Satisfied von Linda & The Funky Boys (1976a) gibt die Funky Boys weiter als afroamerikanisch aus und castet zu diesem Zweck für den Cover-Hintergrund drei dunkelhäutige männliche Fotomodels, die sonst nichts mit der Produktion zu tun haben, aber auch noch auf mehreren Singlehüllen16 als vermeintliche Funky Boys auftauchen. Musikalisch kopiert man in Hamburg die Songstruktur, Melodik, Harmonik, das Arrangement und auch die Instrumentierung des Originals eins zu eins. Die Songstruktur basiert auf dem regelmäßigen Wechsel von Verse und Chorus. Die Verses werden abwechselnd von einer Frauen- und Männerstimme gesungen, die Chorusse im Duett. Unterschiede ergeben sich nichtsdestotrotz bei den Gesangsstimmen, in der Ausführung des Grooves und wiederum in der Mix-Architektur. Die beiden Frauenstimmen von Shirley Goodman im Original und Linda Fields in der Hamburger Coverversion sind auf keinen Fall verwechselbar und sollen auch nicht verwechselt werden. Das Bemühen um eine originalgetreue Kopie endet hier. Man ersetzt Goodmans eher hohe, dünne und unübliche Soulstimme (vgl. Millar 1975: 1f.) durch die stärker dem Klischee entsprechende Stimme von Fields, hat aber höchstwahrscheinlich bei der Produktion auch keine große Auswahl an Stimmen. Dagegen sind die beiden Männerstimmen von Stimmcharakter und -lage her erheblich ähnlicher, hier scheint die Idee der Kopie durch. Wie bei einigen der bereits vorgestellten Bearbeitungen und Coverversionen unterscheidet sich auch hier die Raumaufteilung der Instrumente im 15 Shirley & Company (1975): https://www.discogs.com/de/Shirley-And-CompanyShame-Shame-Shame/master/67932, Zugriff: 1.4.2018. Linda & the Funky Boys (1976a): https://www.discogs.com/de/Linda-TheFunky-Boys-Satisfied/master/339356, Zugriff: 1.4.2018. 16 »Dance with me/Show it« und »We got Love/Crazy«, 1976b und c, vgl. https:// www.discogs.com/de/artist/235211-Linda-Fields-The-Funky-Boys, Zugriff: 1.4. 2018.
186
»SHAME SHAME SHAME!«
Mix zwischen US-Original und deutscher Version deutlich. Das Original beruht auf einem Mix, bei dem alle Klangquellen wie bei einer Monoaufnahme in der Mitte liegen. In Bezug auf die Tiefenstaffelung sind Gitarre und Schlagzeug dominant im Vordergrund, Tasteninstrumente und insbesondere der Bass bewegen sich dagegen unauffällig im Hintergrund. Im Chorus kommt deutlich hörbar ein Tamburin hinzu, das ab dem dritten Verse immer wieder durch eine zusätzliche, ungewöhnlich laute Hi-Hat gedoppelt wird, die bei der Hamburger Coverversion deutlich leiser abgemischt wurde. Abb. 5 zeigt einen Ausschnitt aus beiden Stücken als normalisierte Wellenformdarstellung, in beiden markiert ein Pfeil unbegleitete Hi-Hat-Schläge. Der Pegelunterschied ist deutlich zu sehen.
Abb. 5: »Shame Shame Shame«, zweiter Chorus Takt 3, Shirley & Company oben, Linda & The Funky Boys unten, beide normalisiert, Wellenformdarstellung Audacity.
Zudem setzt die Coverversion im Gegensatz zum Original auf eine deutliche Verteilung der Klangquellen im Stereoraum: Die Gitarre erklingt stärker rechts, die Tasteninstrumente stärker links, Bass und Schlagzeug stehen in der Mitte. Fields Stimme kommt leicht von links, die Männerstimme wie auch das Tamburin dagegen leicht von rechts, die zusätzlichen Hi-HatBecken erklingen wie beim Original mittig, aber erheblich leiser abgemischt. Der den Chorus jeweils einleitende Mark Tree-Klang ist in beiden Versionen dagegen quasi identisch.
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DIETMAR ELFLEIN Das Original präferiert insgesamt erneut ein Klangbild, das die einzelnen Klangquellen zu einem einzigen Groove vereinen will und mit der zusätzlichen Hi-Hat seinen Höhepunkt erreicht. Tony Cummings (1975: 3) beschreibt den Sound als exzentrisch (»Drums were recorded with so much treble and echo«) und zitiert eine/n nicht genannte/n Interviewpartner*in: »Yeah, it was real funny. People were saying to us: ›we really love the sound you've got down there… it's such a unique thing.‹ Yet it was all done by accident. Nobody knew how to work the boards properly. The production was a shambles yet it seemed to work« (ebd.). Derartige Fehler werden aufgrund des kommerziellen Erfolges zum Markenzeichen des Labels ausgebaut. Dagegen will die deutsche Produktion wiederum die einzelnen Klangquellen identifizierbar halten und präferiert auch Mitte der 1970er Jahre noch einen handwerklich »ordentlichen« Mix. Der Groove löst sich durch diese Mixstrategie jedoch stärker in seine Einzelteile auf. Dies hat Konsequenzen, die sich in Abb. 6 zeigen:
Shirley Git Key R Key L Linda Git Key R Key L
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+
x
(x)
2 x x
x x x
+ (x)
3
x
(x)
+
4
+
x x
x
(x)
x x x
x x
(x)
x x
x x
x
x x
Abb. 6: »Shame Shame Shame«, Rhythmustranskription Grundgroove, Original oben, Coverversion unten. Deadnotes sind mit »()« gekennzeichnet.
Der dargestellte Grundgroove wird in beiden Versionen mit einem einfachen Backbeat plus durchgehenden Sechzehntel Noten auf der Hi-Hat kontrastiert. Wichtig erscheint mir der Unterschied in der rechten Hand des E-Piano Spielers. In der Coverversion ist der Bereich um Zählzeit ›3u‹ signifikant anders gestaltet als beim Original, indem die Betonung um eine Sechzehntel vor die Son Clave-Betonung des Originals vorgezogen wird. Der Gitarrist bleibt über die zwei gespielten Sechzehntel zwar im Pattern, vollzieht aber ebenfalls nicht die Betonung der ›3u‹ aus dem Original via der vorgelagerten Deadnote (x) nach, sondern gewichtet beide Impulse gleich. Des Weiteren verzichtet die Rhythmusgitarre bei der Coverversion schon vorher auf die beiden Vorschläge und addiert stattdessen einen weiteren zur ›3‹ hinfüh-
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»SHAME SHAME SHAME!«
renden Impuls, der den auf Zählzeit ›2u‹ liegenden Impuls des Grooves abschwächt. Das zu hörende Spiel- und Groove-Verständnis der Coverversion ist damit erstaunlich weit vom Original entfernt. Bei der Coverversion entsteht ein quasi regelmäßiger Groove à la »Dam Da-Dam Da-Dam« mit den drei auf »Dam« liegenden Schwerpunkten, die mit der linken Hand des Pianisten identisch sind. Dagegen hat der unregelmäßige Bo Diddley-Groove des Originals mit »Dam-Dam-Dam Da-Dam« fünf Impulse, die beide Hände der Pianistin kombinieren. Gerade wenn man von der Intention einer Kopie eines Tanzstückes ausgeht, erstaunt diese doch recht große Eigenständigkeit, die mit Sicherheit nicht aus einem Nicht-Können entsteht, sondern neben den Erfordernissen eines handwerklich korrekten Mixes auch das eher an Blues und Boogie angelehnte Spielgefühl der Hamburger Session-Musiker abbildet. Diese Argumentation unterstützend wird auch der für »Shame Shame Shame« charakteristische Schrei der männlichen Singstimme im Chorus (Jesus Alvarez im Original, Ian Cussick bei der Coverversion) in der Hamburger Produktion ›ordentlicher‹ gesungen.
Abb. 7: »Shame Shame Shame«, beide Versionen, erster Chorus Takt 2, Alvarez oben, Cussick unten, Spektrogramm Sonic Visualiser Screenshot, 900-1765 Hz.
Alvarez betritt nach seiner eigenen Erzählung (Cummings 2015: Abs. 4) das Studio spontan und unter Drogen und singt mit dem Bewusstsein einer Probe einfach drauflos. Mit seinem Zielton f über C als Harmonie peilt er die Quarte an, die im Zusammenhang mit der Tonart G einer erniedrigten sieb-
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DIETMAR ELFLEIN ten Stufe entspricht und im Rahmen von Richard Ripanis (2006: 16-61) Ausführungen zur Bluestonalität als im R&B üblich gelten muss. Cussicks Vibrato bewegt sich zwischen den Tönen fis und gis, kreist also ums g, das die Quinte zu c und gleichzeitig der Grundton des Stückes ist. Damit ist Cussicks Gesang an dieser Stelle weniger von einer Bluestonalität als von einem europäischen Denken geprägt. Die Quarte zu singen, erscheint ihm offenbar keine Option. Das von Alvarez nicht verwendete Stilmittel des Vibratos wird zum Ausweg, um sich Alvarez' Intonation anzunähern und gleichzeitig eine eigene Note einzubringen. Die Plattencover von Linda & The Funky Boys nutzen rassistische Klischees und konnotieren die Musik über die abgebildeten Personen als »schwarz« und via der Miami Soul Kennzeichnung als »afroamerikanisch« unabhängig von der Hautfarbe und Herkunft der Musiker*innen des Originals und der Coverversion. R&B, Soul und Funk wird so als schwarze Musik verkauft. Diese Essentialisierung wird über die im Vergleich zu Goodmans Original stärker an Soul-Gesangs-Klischees angelehnte Singstimme von Fields in der Coverversion noch unterstützt. Die Unterschiede der männlichen Schreie sind dagegen weniger eindeutig zu interpretieren. Die Mixarchitektur steht zudem bruchlos in einer Tradition handwerklich korrekter deutscher Tontechnik und ignoriert den Groove Schwerpunkt des Originalmixes. Die insbesondere in der visuellen Inszenierung der »Shame Shame Shame«-Coverversion zu beobachtende Essentialisierungsstrategie setzt sich damit in der Aneignung des Klangbildes nicht bruchlos fort, sondern konzentriert sich insbesondere auf die weibliche Singstimme.
Fazit Die analysierten Coverversionen zeigen einige Strategien der Aneignung von R&B, Soul und Funk in Westdeutschland, die bei der Anpassung an europäische Hörgewohnheiten in der Zeit vor der Beatwelle beginnt, mit den Modernisierungsbestrebungen der 1960er und 1970er fortschreitet und Mitte der 1970er dann in Bestrebungen der Essentialisierung mündet. Das veränderbare Element im Prozess der Aneignung ist anfangs der Groove, der europäisiert wird. In den 1960er Jahren beginnt man, sich zu modernisieren, das Klangbild unterscheidet sich in seiner Verhalltheit jedoch plötzlich stark vom trockeneren Originalklang. Auch die Mix-Architektur zeigt einen Unwillen oder eine Unfähigkeit deutscher Tonstudiohandwerker, sich auf die häufig aus der Not geborenen kreativen bzw. ungewöhnlichen tontechnischen Lösungen US-amerikanischer R&B-Independents einzulassen. Gleichwohl
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»SHAME SHAME SHAME!«
lässt sich spätestens Anfang der 1970er Jahre ein Bemühen um eine international konkurrenzfähige deutsche Popmusik-Produktion konstatieren, für die in diesem Aufsatz die Produktionen von Holm und Pietsch als Beispiel dienen. Als nächster Schritt ist eine Essentialisierung festzustellen, möglicherweise auch aus der Erfahrung fehlender Wertschätzung, wenn eine deutsche Herkunft eines Musikstückes erkennbar ist. Man möchte selbst in nicht essentialistischer Weise als genuine/r Soul- und Funk-Musiker*in wahrgenommen werden und revitalisiert paradoxerweise zu diesem Zweck für das Marketing auch rassistische Klischees. Im Vergleich zu Holm/Pietsch und in Bezug auf eine Aneignung von Soul in Deutschland ist dies auch ein Rückschritt in bereits überwunden geglaubte Stereotype, dem jedoch der kommerzielle Erfolg recht gibt. Dieser Teil der Aneignung von R&B, Soul und Funk setzt sich dann via Boney M. und Euro Dance weiter fort.
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»SHAME SHAME SHAME!« Holm, Michael (1975). »Am Broadway.« Auf: Wenn ein Mann ein Mädchen liebt. Ariola, 89 175 IT. Holm, Michael (1977). Poet der Straße. Ariola, 25 250 IT. Isley Brothers, The (1959). »Shout Part 1«/»Shout Part 2«. RCA, 47-7588. King, Ben E. (1963). »I Who Have Nothing«/»The Beginning Of Time«. Atlantic ATL 70.108. Knight, Gladys & the Pips (1968). »Baby I Need Your Loving«/»You've Lost That Lovin' Feelin'«. Tamla Motown, TM 25.952. Linda & the Funky Boys (1975). »Shame, Shame, Shame«/»Solid Funk«. RCA, PBO4052. Linda & the Funky Boys (1976a). Satisfied. Spark, SRLP 121. Linda & the Funky Boys (1976b). »We Got Love«/»Crazy«. RCA, PPBO-4231. Linda & the Funky Boys (1976c). »Dance With My Baby«/»Show It«. RCA, PPBO4171. Manuela (1968). »Das Haus von Huckleberry Hill«/»Morgen kommt der Tag«. Telefunken, U 56 002. McCrae, George (1974). »Rock Your Baby/»Rock Your Baby (Part 2). RCA, T.K. 501. Miracles, The (1963). »Mickey's Monkey«/»Whatever Makes You Happy«. CBS, 1293. Mo, Billy (1958). »Darling du weißt ja.« Auf: Buona Sera Billy Mo! Decca, DX 2008. Peters, Peggy (1964). »Ich setze alles auf eine Karte«/»Aus«. Hansa, 11 088 AT. Pickett, Wilson (1965). »In The Midnight Hour«/»I'm Not Tired«. Atlantic, ATL 70. 144. Rivers, Johnny (1967). »Baby I Need Your Loving«/»Getting' Ready For Tomorrow«. Liberty, L23 444. Sentieri, Joe (1961). »Uno Dei Tanti«/»Cara Cara«.Ricordi SRL 10-218. Shirley & Company (1974). »Shame, Shame, Shame/More ›Shame‹«. Vibration, VI532. Shirley & Company (1975). Shame, Shame, Shame. Vibration, VI-128. Sledge, Percy (1966). »Warm And Tender Love«/»Sugar Puddin'«. Atlantic, ATL 70. 177. Smith, O.C. (1970). »Baby I Need Your Loving«/»San Francisco Is A Lonely Town«. CBS, 5203.
Abstract The paper deals with adaptations of R&B, soul, and funk in West German popular music between 1958 and 1975. I compare cover songs with their US-originals by analyzing formal structure, groove, and production features. These cover versions usually were not successful in terms of sales figures, but West German pop producers used them, for instance, to try out modernizations of West German pop music. I systemize four categories of adaptions: First, early groove variations to suit European listening habits, second, technically correct mix-architectures with a massive use of bright reverb instead of groove orientation, third, the merging of different adaptions, and finally the strategy of essentialisation, that is faking markers of authenticity of so-called black music.
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ZUR
S PE Z I F I K DE S J A Z Z . I M P R O V I S A T IO N U N D W E R K
Ä S TH E T IS C H E N
Da n ie l M a r t i n F e i g e Die These, die im Hintergrund der folgenden Überlegungen steht, lautet: Der Jazz ist ein besonders interessanter Gegenstand für die Kunstphilosophie, weil in ihm wesentliche Momente künstlerischer Musik überhaupt explizit werden (vgl. dazu umfassend Feige 2014). Mehr noch: Vor allem mit Blick auf den Aspekt der Improvisation im Jazz lässt sich etwas über die Verfasstheit und den Wert der Kunst als solcher lernen. Ein paar Sätze können helfen, diese These in das richtige Licht zu rücken. Ich möchte sie nicht so verstanden wissen, dass Jazz damit als eine wertvollere Musik als andere Arten von Musik zu bestimmen ist oder dass Jazz das Zentrum der Künste darstellen würde. Ich möchte die These auch nicht so verstanden wissen, dass sie den Wert des Jazz als Kunstform benennt. Sie zielt vielmehr auf die Bestimmung der kunstphilosophischen Relevanz dieser Musik ab. Ich werde diesen Grundgedanken in drei Schritten entwickeln. In einem ersten Schritt werde ich kurz einige Festlegungen beleuchten, die die Frage betreffen, was Jazz überhaupt ist. Im zweiten Schritt, der den Hauptteil meiner Überlegungen ausmachen wird, werde ich die Struktur dessen herausarbeiten, was für den Jazz derart charakteristisch ist, dass man es häufig als seine Wesensbestimmung verstanden hat: Die Improvisation. Ich werde zu zeigen versuchen, dass Jazzimprovisationen ästhetisch etwas irreduzibel Neues schaffen, insofern sie gelingen. In einem dritten und letzten Schritt werde ich schließlich auf die einleitend genannte These zurückkommen und ausgehend von der Analyse der Improvisation im Jazz genauer ausbuchstabieren, wie sie zu verstehen ist. Ich hoffe auf diese Weise, im Folgenden sowohl ästhetische Eigenarten des Jazz zu klären, wie auch ein wesentliches Moment der philosophischen Relevanz dieser Musik in den Blick zu nehmen.
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DANIEL MARTIN FEIGE
1 . B eg r i f f u n d G eg e n s t a n d d e r K un s t p h il o s o p h i e Worüber reflektiert man, wenn man über eine Kunstform wie den Jazz philosophisch nachdenkt? Zu dieser Frage möchte ich zumindest einige kurze Bemerkungen voranstellen, bevor ich mich eingehender einer Analyse der Improvisation im Jazz widmen werde. Die philosophische Tätigkeit verstehe ich als reflexive Klärung der für unser Selbst- und Weltverständnis wesentlichen Grundbegriffe. Die Philosophie hat dabei den Charakter einer allgemeinen und nicht-empirischen Disziplin. Reflexiv ist die Philosophie, weil sie nicht einfach Erkenntnisse über Dinge der Welt produziert, sondern vielmehr Erkenntnisse über Erkenntnisse produziert. Damit klärt sie uns über etwas auf, über das wir in gewisser Weise schon etwas wussten. Allgemein ist sie, weil sie einen Anspruch auf Wahrheit erhebt, d.h. sie stellt einen Streit darum dar, welche Thesen zutreffend sind und welche nicht, ist aber nicht bloßer Ausdruck einer Meinung. Nicht-empirisch ist sie, weil ihr Geschäft das Nachdenken ist, nicht aber wissenschaftliche Experimente oder statistische Erhebungen. Ich werde im Folgenden den Jazz primär unter kunstphilosophischer Perspektive betrachten. Kunstphilosophie beschäftigt sich insgesamt mit der Frage, welche Rolle die Kunst in menschlichen Lebensformen spielt. Dabei interessiert sie sich natürlich nicht zuletzt für die Frage des Unterschieds und Zusammenhangs verschiedener Künste wie Musik, Literatur und dem Film und in der Musik etwa spezifischer mit Unterschieden und Zusammenhängen von Klassik, Jazz und Pop (vgl. als Versuch einer Differenzierung dieser Arten von Musik Feige 2017). Eine nicht unwesentliche Frage ist somit die Frage, was den Jazz von anderen Arten von Musik unterscheidet. Was also ist Jazz? Anstelle aber eine inhaltliche Antwort auf diese Frage zu geben, werde ich zunächst vielmehr zwei unterschiedliche Logiken einer solchen Antwort präsentieren. Die erste ist meines Erachtens zum Scheitern verurteilt, die zweite zutreffend. Fragt man danach, was Jazz ist, versteht man eine solche Frage üblicherweise als Frage nach einer Definition. Eine Definition meint in der Philosophie heute zumeist die Angabe jeweils notwendiger und zusammen hinreichender Bedingungen (vgl. aus kunsttheoretischer Perspektive dazu auch Carroll 1999, v.a. Kapitel 5). Einen Begriff zu definieren heißt demnach, Bedingungen aufzuzählen, die es ermöglichen sollen, aus allen Gegenständen — neben raumzeitlichen Dingen auch Ereignisse und Eigenschaften usf. — nur diejenigen Gegenstände herauszugreifen, die unter den Begriff fallen. Man sucht nach solchen Bedingungen, die eben Jazzperformances herausgreifen
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ZUR ÄSTHETISCHEN SPEZIFIK DES JAZZ und nicht etwa Darbietungen von Bachs Fugen oder Beethovens Sonaten einschließen. Bei einem solchen Definitionsversuch kann man offensichtlich einiges falsch machen. Sagt man etwa, dass Jazz Ausdruck von Kreativität sei und nichts weiter, so kann eine solche Erläuterung ihn nicht trennscharf von anderen Gegenständen unterscheiden, denn auch das Aufstellen wissenschaftlicher Hypothesen ist häufig Ausdruck von Kreativität (vgl. hierzu Gaut 2010). Sagt man umgekehrt, Jazz ist Musik, die einen Swing-Rhythmus aufweist, so schließt man zu vieles aus — denn Jazzperformances können auch mit den Rhythmen des Bossa Nova oder Rhythm'n'Blues operieren oder — wenn man etwa an Robert Glaspers Arbeiten denkt — mit Rhythmen des HipHop. Treten wir kurz einmal einen Schritt zurück hinter ein solches Unterfangen und fragen uns, ob der Versuch einer derartigen Definition wirklich dem Projekt gerecht werden kann, uns in unserem Denken angemessen auf den Jazz als Kunstform zu beziehen. Ich möchte dafür plädieren, dass ein solcher Versuch bei keiner Kunstform letztlich ein sinnvolles Unterfangen ist. Das ist aus mindestens zwei Gründen so. Erstens: Die Art und Weise, wie ich das Projekt einer Definition des Jazz eingeführt habe, versteht eine solche Definition als deskriptive Definition. Damit nimmt eine solche Definition aber zu wenig ernst, dass es in der Kunst um ästhetisches Gelingen geht. Misslungene Kunstwerke sind nicht einfach dasselbe wie gelungene Kunstwerke, sondern sie sind vielmehr eine Schwundstufe derselben. Die Kunstphilosophie muss kurz gesagt versuchen, die Kraft der Kunst derart aufzuklären, dass sie etwas zu der Frage sagt, warum uns Kunstwerke und in unserem Fall gelingende Jazzperformances überhaupt angehen. Sie ist ein normatives Projekt — aber kein präskriptives, denn sie würde ihre Kompetenzen überschreiten und sich lächerlich machen, wenn sie der Kunstpraxis Vorschriften machen würde. Zweitens und für die vorliegende Frage noch wichtiger: Eine herkömmliche Definition übergeht die geschichtliche Bewegtheit dessen, was sie definiert. Sie behandelt den Jazz in etwa so, wie man Elemente in der Chemie behandelt — als etwas Vorhandenes, das keine Geschichte hat. An dieser Vorstellung ist offensichtlich etwas schief, wenn es darum geht, eine Kunstform als Kunstform zu denken. Nun kurz zur Alternative zur klassischen Definition, die im Hintergrund meiner folgenden Überlegungen steht. Sie sieht so aus, dass man in Rechnung stellt, dass sich unser Denken in der Kunst auf etwas bezieht, was wesentlich in Bewegung ist. Das sollte nicht dazu führen, dass man daraus schließt, dass Begriffe wie der des Jazz gänzlich unbestimmt würden, noch dass sie leer würden und man je nach geschichtlicher Situation etwas anderes in sie hineinlegt. Denn das wäre einfach eine schlechte Verwischung aller Unterschiede, die für unser Verständnis dieser Musik durchaus wichtig sind. Die
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DANIEL MARTIN FEIGE Konsequenz sollte vielmehr lauten, sich auf ein anderes Verständnis dessen, was Begriffe sind, zu verpflichten als auf das Verständnis der herkömmlichen Definition. Im Geiste Hegels (vgl. Hegel 1986: Einleitung) kann man Folgendes sagen: Der Begriff des Jazz meint letztlich nichts anderes als die geschichtliche Entwicklung einer bestimmten musikalischen Praxis. Und nicht allein da diese Entwicklung nicht abschlossen ist, darf eine Erläuterung des Begriffs nicht in Form einer abgeschlossenen Definition geschehen. Denn ästhetisch ist Jazzmusik just darin, dass das Projekt, sie im Rahmen einer subsumptiven Definition in den Griff zu bekommen, von vorneherein kategorial verfehlt ist. Anders gesagt: Sich auf den Jazz als Jazz zu beziehen heißt sowohl, die faktische geschichtliche Entwicklung dieser Musik im Blick zu haben wie auch ihre Offenheit im Lichte zukünftiger Bestimmungen. Eine andere Weise diesen Gedanken zu formulieren besteht darin, dass man sagt: Jazzperformances fallen nicht unter einen Begriff, sondern arbeiten an der Entwicklung des Begriffs in jeweils spezifischer Weise mit. Über den Jazz nachzudenken, heißt somit über eine offene Tradition musikalischer Praxis nachzudenken — und zugleich sich auf je singuläre Jazzperformances zu beziehen. Der Kern dieses Gedankens lässt sich wie folgt veranschaulichen: Jüngere Entwicklungen des Jazz, die mit einer Integration von Elementen elektronischer Tanzmusik operieren, sind nicht deshalb Jazz, weil ihre Performances dieselben Eigenschaften aufweisen wie der Jazz in früheren historischen Epochen. Es gibt also keine abzählbaren Bedingungen, die dafür sorgen würden, dass — und im Folgenden nenne ich historische Epochen des Jazz — Bebop, Free Jazz und Fusion alle unter denselben Begriff fallen. Die Suche nach solchen Bedingungen ist eine Suche nach etwas, dass eine bloß externe Klassifizierung dieser Kunstform darstellt. Vielmehr arbeitet jede gelungene Jazzperformance im Lichte einer offenen Tradition musikalischen Produzierens an der Bestimmung dessen mit, was Jazz ist. Bevor ich nun die Jazzimprovisation in den Blick nehmen werde, eine Bemerkung zu den Konsequenzen dieser kunsttheoretischen Festlegung, die ich gerade eingegangen bin. Das ist wie bereits festgehalten nicht als Projekt einer Definition des Jazz im herkömmlichen Sinne zu verstehen, denn die gibt es bei keiner Kunstform. Hat man das erst einmal erkannt und es nicht im Sinne einer Unschärfe des Nachdenkens missverstanden, so stellt die Tatsache, dass es kein letztgültiges inhaltliches Kriterium zur Abgrenzung des Jazz von anderen Arten von Musik gibt, nicht länger ein Problem dar. In diesem Sinne ist die nun folgende Analyse der Improvisation im Jazz nicht als Analyse von etwas zu verstehen, das eine definitorisch notwendige oder hinreichende Bedingung dieser Musik meint, sondern vielmehr als Analyse von einem zweifelsohne wichtigen Aspekt dieser Musik.
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ZUR ÄSTHETISCHEN SPEZIFIK DES JAZZ
2 . Z ur L o g i k d e r J a z z im p r o v i s a t i o n Auf die Frage, was für Jazz charakteristisch ist, würden sicherlich die meisten Leser*innen mit dem Begriff »Improvisation« antworten. In der Tat stellt die Improvisation einen wesentlichen Aspekt dieser Musik dar. Aber — und das als Vorbemerkung zu meiner Analyse — Improvisation ist, anders als man denken könnte, weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung für Jazz. Denn es gibt Jazzperformances, bei denen wenig oder gar nicht improvisiert wird. Ich denke dabei weniger an künstlerische Experimente wie Mostly Other People Do the Killings Album Blue, das eine akustische Eins-zu-Eins Kopie von Miles Davis klassischem Album Kind Of Blue zu sein versucht (vgl. Magnus 2016). Hier handelt es sich weniger um ein paradigmatisches Jazzalbum als vielmehr um ein Werk der Concept Art, das in seiner und durch seine Durchführung die Frage stellt, ob es so etwas wie Re-Enactments im Jazz geben kann und was das heißen würde. Ich denke dabei viel eher an Jazzmusik wie die Big Band-Kompositionen von Maria Schneider — etwa an ihre CD Allégresse (2000). Hier liegen ausgefeilte Kompositionen vor, die durchaus verbindlich sind für das entsprechende Spielen. Gleichwohl wird natürlich auch auf der CD in Teilen improvisiert. Aber noch in dem Fall, in dem wir es mit einer Big Band-Einspielung zu tun hätten, auf der gar nicht improvisiert würde, würde sie nicht schon deshalb aus dem Jazz herausfallen. Sie könnte vielmehr aufgrund anderer Eigenschaften wie des Rhythmus, der Expressivität der Spielweise, der Instrumentierung usf. dennoch dem Jazz zugehörig sein.1 Anders gesagt: Etwas kann paradigmatischer Big Band-Jazz sein, ohne dass hier viel improvisiert würde. Auch vollständig durchkomponierte Big Band-Musik ist nicht schon deshalb kein Jazz, weil hier nicht improvisiert wird. Dass im Rahmen einer Performance improvisiert wird — Improvisation eben nicht verstanden als Interpretation im Sinne des immer leicht anderen Spielens von Noten; das gilt für die musikalische Praxis in der Tradition der europäischen Kunstmusik ebenso —, ist somit keine notwendige Bedingung für Jazz. Eine hinreichende Bedingung ist es aber erst recht nicht — denn nicht nur im Jazz wird improvisiert. In außereuropäischer Musik wie in der afrikanischen oder indischen Musik wird ebenso improvisiert, wie in der Tradition europäischer Kunstmusik vor der Erfindung des Werkparadigmas zu Beethovens Zeiten Improvisation auch in dieser musikalischen Tradition ein integraler Bestandteil war; Bach hat seine musikalische Praxis noch nicht als die einer Komposition 1
Dass dabei selbst im Fall von Ellingtons komplexen Kompositionen der Gedanke der Werktreue von eher untergeordneter Relevanz ist, hat Andrew Kania (2011) überzeugend geltend gemacht.
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DANIEL MARTIN FEIGE von Werken verstehen können (vgl. zur Genese des Werkparadigmas auch den zweiten Teil in Goehr 1992). Mit der Implosion des Werkkonzepts in der Neuen Musik tritt die Improvisation heute in Teilen erneut hervor, in der Praxis der Kirchenmusik lebt sie ungeniert fort. Selbst wenn es sich bei der Improvisation somit weder um eine notwendige, noch um eine hinreichende Bedingung für Performances als Jazzperformances handelt, ist Improvisation zweifelsohne ein wesentliches Merkmal des Jazz. Im Folgenden werde ich die Jazzimprovisation anhand einer, wenn nicht sogar der paradigmatischen Praxis des Jazzspielens analysieren: Dem Spielen von Standards. Bei Standards handelt es sich um einen beweglichen Kanon von Songs aus Broadway-Shows, Pop, Chansons, Songs bekannter Jazzmusiker und vielem mehr. Dieser Kanon ist beweglich, weil beständig neue Einträge dazu kommen und andere verblassen — es wäre wohl deshalb nicht nur müßig eine Liste der hier relevanten Songs aufzustellen, sondern kategorial verfehlt. Wenn ich sage, dass das Spielen von Standards die vielleicht paradigmatische Praxis des Spielens von Jazz ist, so meine ich damit nicht, dass alle Entwicklungen des Jazz aus dem Spielen von Standards abgeleitet werden können. Ebenso wenig meine ich damit, dass nur diejenigen Musiker Jazzmusiker sind, die ihren Weg in diese Musik vornehmlich über das Spielen von Jazzstandards genommen haben. Es lässt sich trotz all dieser wichtigen Differenzierungen gleichwohl festhalten, dass anhand der Praxis des Spielens von Standards Strukturmomente dessen, was es überhaupt heißt, im Jazz zu improvisieren, sichtbar werden. Ich möchte wesentliche Aspekte der Improvisation im Jazz anhand des Spielens von Standards nun in Form von drei Thesen herausarbeiten. Daraufhin werde ich zwei grundsätzliche Thesen zur Jazzimprovisation formulieren, die über das Spielen von Standards hinausgehen. Die leitende Einsicht meiner folgenden Analyse von Standards ist, dass diese keine Werke sind. Wenn wir uns im Real Book ein bekanntes Stück wie »Autumn Leaves« — ursprünglich ein Chanson — anschauen, so fällt auf, dass sich auf diesen Notenseiten sehr wenige Angaben finden. Bei »Autumn Leaves« finden sich nur einige wenige schematische Hinweise zu den Akkorden, eine ausnotierte Melodie und als stilistische Angabe »Medium Jazz«. Worum es mir geht, ist Folgendes: Ein Leadsheet ist etwas kategorial anderes als eine Partitur, wie sie in der Tradition europäischer Kunstmusik seit der Genese des Werkparadigmas bis hin zur Neuen Musik unverzichtbar ist und die ein inniges Verhältnis zu dem unterhält, was ein Werk ist (vgl. in diesem Sinne auch Hagberg 2002). Denn ein Leadsheet ermöglicht anders als eine Partitur keine Entscheidung darüber, ob ein bestimmtes Spielen des Standards fehlerhaft ist oder nicht. Wenn man sich kontrastiv dazu eine Partitur anschaut — denken wir etwa an Beethovens
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ZUR ÄSTHETISCHEN SPEZIFIK DES JAZZ Klaviersonate in G-Dur, op. 14, Nr. 2 —, so ist die Lage ganz anders. Spielt man hier einen Ton anders als es die Partitur vorschreibt, so hat man offensichtlich einen Fehler gemacht — wobei ich schon hier einmal kurz festhalten möchte, dass die Lage mit Blick auf Eigenschaften wie Tempo und Phrasierung nicht ganz so einfach ist. Aber die Tonhöherelation etwa ist sakrosankt — wenn man in der Partitur die Vorzeichen dahingehend ändert, dass man in gMoll anstelle von G-Dur spielt, dann spielt man schlicht und einfach nicht länger Beethovens Klaviersonate. Beim Spielen von Standards sieht die Lage ganz anders aus: Spielt man einen Ton abweichend von der hier ausnotierten Melodie oder verändert einige Akkorde oder sogar alle Akkorde oder spielt den Standard in einem anderen Stil als angegeben, hat man nicht notwendigerweise einen Fehler gemacht. Viele dieser Leadsheets sind nämlich in Wahrheit nichts anderes als auf wenige Informationen reduzierte Transkriptionen einzelner paradigmatischer oder historisch besonders relevanter Jazzperformances; selbst die Broadway-Songs oder eben Chansons tauchen hier nicht in einer einzigen maßgeblichen Fassung auf, sondern es gibt viele verschiedene Fassungen der Leadsheets. Die Tonart ist ebenfalls nicht sakrosankt — vielmehr kann der Standard in allen Tonarten, in allen Tempi, in allen Taktarten und in allen Stilen gespielt werden, ohne dass damit schon ein Fehler begangen worden wäre. Kurz gesagt: Ist eine Partitur eng mit dem, was ein musikalisches Werk in der Tradition europäischer Kunstmusik ist, verbunden, so ist ein Leadsheet nicht mehr als ein Hilfsmittel für die musikalische Praxis. Transkribiert man die Aufzeichnung einer Jazzperformance in einem Notentext, so hat man keine Partitur eines Werkes transkribiert, sondern vielmehr ein konkretes raumzeitliches musikalisches Ereignis in einem Notentext festgehalten. Derartiges Transkribieren und mehr noch das genaue Nachspielen einer Improvisation ist zwar im Jazz weit verbreitet. Aber es erfüllt eine bestimmte Funktion vor allem mit Blick auf den Erwerb der Fähigkeit zur Improvisation sowie der Ausbildung eines persönlichen Stils — es dient der Schulung des eigenen Gehörs und der Schulung der eigenen musikalischen Sensibilität, aber es dient nicht dem Zweck, ein Werk im Sinne dessen, was darunter in der Tradition europäischer Kunstmusik verstanden wird, festzuhalten. Wenn wir uns unterschiedliche Einspielungen von »Autumn Leaves« anhören — um die Diversität zu betonen, können wir etwa an die Einspielung des Bill Evans Trios auf der CD Portrait In Jazz von 1960 denken und kontrastiv dazu die Aufnahme der Chick Corea Akoustic Band 1996 auf der CD Live from the Blue Note Tokyo und die Einspielung auf dem Album Rendezvous von Cassandra Wilson und Jacky Terrasson —, so gilt: Die Harmoniesprache, die Art der Melodiebildung und die rhythmische Gestaltung sind bereits mit Blick
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DANIEL MARTIN FEIGE auf die Einspielungen von Evans und Corea sehr verschieden; nochmal radikaler weicht davon die Fassung von Jacky Terrasson ab. Die Pointe dieser imaginativen Zusammenschau dreier unterschiedlicher Aufnahmen des Standards lässt sich so formulieren: Es gibt keine vor der Performance festgelegten Eigenschaften, die es ermöglichen würden, über die Frage zu entscheiden, ob eine Performance noch eine Performance des entsprechenden Standards ist oder nicht. Alle drei Einspielungen greifen unterschiedliche Aspekte des Standards heraus — etwa seine harmonische Struktur und seine Melodie in jeweils ganz unterschiedlicher Weise oder aber, wie im letzten Beispiel, nur Fragmente seiner Melodie. Präziser müsste man sagen: Hier wird nicht so sehr etwas herausgegriffen, was vorher schon bestünde, sondern in und durch die einzelnen Performances wird vielmehr jeweils neu ausgehandelt, was überhaupt ein wesentlicher Aspekt des Standards ist und was nicht. Vor dem Hintergrund dieser Bemerkungen kann ich nun meine Thesen formulieren: Meine erste These zum Spielen von Standards lautet damit: In und durch die einzelnen Jazzperformances wird intern ausgehandelt, was ein wesentlicher Aspekt des Standards ist und was nicht. Ein Standard ist somit kein Werk in dem Sinne, dass es eine Partitur gäbe, die eine Autorität über die Performance hätte, sondern das Spielen eines Standards besteht vielmehr in nichts anderem als einer jeweiligen Neuaushandlung dessen, was für ihn wesentlich ist. Das geschieht freilich nicht im luftleeren Raum, sondern immer schon vor dem Hintergrund vorangehender Aushandlungen, d.h. Improvisationen; kurz gesagt lautet meine zweite These zum Spielen von Standards: Jedes Spielen eines Standards stellt ein Antworten und ein Fortschreiben einer Tradition des Spielens dar. Wenn jede Performance neu aushandelt, was zu einem Standard gehört und was nicht, so werden notwendigerweise auch die Ansprüche intern neu ausgehandelt werden, die die Frage betreffen, was es heißt, ein gelungenes Spielen des entsprechenden Standards zu sein. Die dritte These zum Spielen von Standards lautet: Es gibt keine vor der jeweiligen Improvisation gegebenen Kriterien der Evaluation einer Improvisation, sondern die Kriterien der Evaluation einer Improvisation werden vielmehr von der jeweiligen Improvisation etabliert. Das heißt natürlich nicht, dass Performances in bestimmter Hinsicht nicht miteinander vergleichbar wären oder es keine missglückten Performances mehr gäbe — das Missglücken ist hier aber, wenn wir mal den schlichten Fall ganz handwerklicher Fehler o.ä. außen vor lassen, immer ein ästhetisches Missglücken in dem Sinne, dass es der entsprechenden Performance nicht gelingt, gerade eine solche Neuaushandlung zu leisten. Um nicht falsch verstanden zu werden: Das ist weniger ein präskriptives Kriterium für gelingende Jazzperformances, sondern vielmehr ein ana-
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ZUR ÄSTHETISCHEN SPEZIFIK DES JAZZ lytisches Kriterium dessen, was immer schon passiert, insofern Jazzperformances gelingen. Gelungen sind die drei Performances, die ich eben erwähnt habe und die man sich als Hintergrundfolie für meine Überlegungen einmal daraufhin anhören sollte, nicht deshalb, weil sie jeweils einen von ihnen unabhängigen Kernbestand musikalisch festgelegter Eigenschaften exemplifizieren würden, sondern weil sie jeweils aus sich heraus vor dem Hintergrund einer Tradition des Spielens dieses Standards seine Potentiale neu ausloten. Ich möchte die sich in dieser Analyse artikulierende ästhetische Zeitlichkeit etwas genauer anhand der einzelnen Züge einer Improvisation beschreiben. Ich werde hier zwei grundsätzliche Thesen formulieren. Der Begriff des Zuges ist hier natürlich mit Vorsicht zu genießen, da er so etwas wie ihm vorgängige Regeln impliziert, was für eine Improvisation eben gerade nicht gilt.2 Im Rahmen einer Improvisation legt nicht etwa der erste Ton fest, was der Improvisierende daraufhin für Möglichkeiten hat. Vielmehr legt jeder weitere Zug der Improvisation fest, was der Sinn der vorangehenden Züge war. Spiele ich eine Phrase in dieser oder jener Weise weiter, so gewinnt auch das, was ich vorher improvisiert habe, eine andere Kontur. Hören wir uns etwa einen Ausschnitt von Russel Ferrantes Solo über »Civil War« auf der letzten CD der Yellowjackets aus dem Jahre 2013 an, so lässt sich daran ersehen, dass — mit Blick auf seine Verfahren der Variation von Motiven, etwa durch Verschiebung in andere Tonhöhen und Veränderung der rhythmischen Struktur — es hier nichts gibt, was im Vorhinein sakrosankt wäre — auch wenn natürlich die Frage, in welchem Stil des Jazz man spielt, hier von Bedeutung sein kann, der aber selbst wiederum nicht stabil und statisch zu deuten ist. Der Pianist Bill Evans (zitiert etwa bei Gioia 1987: 594f.) hat davon gesprochen, dass der Jazz keine prospektive Kunst sei, die anhand einer Blaupause das musikalische Ereignis im Vorhinein strukturiere, sondern vielmehr eine retrospektive Kunst. Ich möchte hier den stärkeren Begriff der Retroaktion einführen, um geltend zu machen, dass einzelne Elemente einer Improvisation ihren Sinn zuallererst im Lichte der jeweils späteren Elemente gewinnen und erst aus der Einheit, die die Improvisation als ganze ist, letztlich verständlich werden. Meine erste These zur ästhetischen Zeitlichkeit der Jazzimprovisation — sie lässt sich als Generalisierung meiner Thesen zum Spielen von Standards verstehen — lautet: Die ästhetische Zeitlichkeit des Jazz ist eine retroaktive Zeitlichkeit, insofern der Sinn jedes Zugs einer Improvisation erst im Lichte der zukünftigen Züge herausgearbeitet wird. Noch einmal: Wenn es so ist, dass jede Improvisation ihre Elemente relational konstituiert, ist es zugleich so, dass sie die 2
Man könnte mit Wittgenstein vielmehr sagen: We »make up the rules as we go along«, vgl. Wittgenstein (2003: 68).
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DANIEL MARTIN FEIGE Kriterien dessen, was es heißt, eine gelingende Improvisation zu sein, selbst mit aushandelt. Das, was der Improvisierende tut, erhält seinen spezifischen Sinn erst im Lichte dessen, was er später getan haben wird. Das heißt zugleich: Die Zeitlichkeit der Improvisation ist in bestimmter Weise eine rückblickende wie gleichermaßen rückwirkende Zeitlichkeit. Denn der Anfang legt — noch einmal — paradoxerweise den Improvisierenden nicht auf das fest, was seine weiteren Züge sein werden. Vielmehr wird im Lichte der weiteren Züge festgelegt, was der Sinn des Anfangs war. Jazzperformances sind dabei nicht allein wegen ihrer häufig markanten rhythmischen Gestaltung und hier natürlich vor allem des Swing intensiv, sondern auch deshalb, weil in jedem Moment der Sinn des Ganzen der Improvisation damit zur Disposition steht — und das in einer stärkeren Weise als bei der Darbietung eines musikalischen Werks, bei der das Werk selbst sozusagen nicht durch die misslingende Darbietung beschädigt wird (vgl. in diesem Geiste auch Brown 2000). Fehler und Scheitern kommen damit im Jazz vor allem als ästhetisches Misslingen zustande, dass nämlich die Elemente einer Improvisation im Lichte der anderen keinen Sinn ergeben (vgl. zum Fehler im Jazz auch Bertinetto 2016). Es ist wichtig festzuhalten, dass diese Art von Einheit nichts mit einem klassizistischen Ideal von Kohärenz zu tun hat — denn sie ist selbst noch für die rabiatesten Improvisationen des Free Jazz charakteristisch. Das, was sich in der Improvisation artikuliert, ist somit nicht ein Set ihr vorgängiger Regeln, sondern vielmehr eine musikalische Persönlichkeit im Sinne eines Personalstils. Die Aufnahmen von Evans, Corea, Terrasson und Ferrante exemplifizieren jeweils einen unterschiedlichen Stil des Spielens, der wesentlich darin besteht, dass die musikalischen Linien, die Stimmführung der Akkorde, aber selbst noch die Art von Groove und Swing, die ihr Spiel exemplifiziert, Ausdruck einer genuin eigenen Spielweise sind. Dass es sich hier um einen eigenen Stil und eine eigene Spielweise handelt, heißt dabei nicht, dass hier etwas irreduzibel Privates und nicht Öffentliches vorliegen würde — das öffentliche Spiel selbst ist vielmehr identisch mit dem, was ich hier als musikalische Persönlichkeit oder Personalstil bezeichne. Er besteht wesentlich in einer Einheit dessen, was der entsprechende Musiker in unterschiedlichen Kontexten in jeweils unterschiedlicher Weise in der Lage zu tun ist. Das sich damit artikulierende öffentliche wie praktische Moment der musikalischen Persönlichkeit im Jazz ist eines, das sich anhand einer weiteren Bestimmung der Improvisation im Jazz fassen lässt. Meine zweite grundsätzliche These zur Jazzimprovisation lautet: Die interaktive Gruppenimprovisation stellt das Paradigma der Improvisation im Jazz dar. Dieser Gedanke ist
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ZUR ÄSTHETISCHEN SPEZIFIK DES JAZZ nicht so zu verstehen, dass Gruppenimprovisation gegenüber der Soloimprovisation einen ästhetischen Vorrang genießen würde. Sie ist auch nicht so zu verstehen, dass das Üben am Instrument irrelevant wäre und man eigentlich seine Fähigkeiten nur im Kontext mit anderen erweiterte. Die These, dass die interaktive Gruppenimprovisation das Paradigma der Jazzimprovisation darstellt, ist vielmehr derart zu verstehen, dass sie den Erwerb der Fähigkeit zur Improvisation meint wie auch die Ausübung der Fähigkeit zur Improvisation. Das möchte ich kurz ausführen. Mit Blick auf den Erwerb der Fähigkeit zur Improvisation gilt es zweierlei festzuhalten: Erstens, man lernt nicht zunächst für sich zu improvisieren und tritt dann erst in einem zweiten, logisch davon unabhängigen Schritt in einen Austausch mit anderen in Form von Gruppenimprovisationen. Natürlich ist es so, dass selbst gestandene Jazzmusiker im Regelfall täglich mehrere Stunden an ihrem Instrument alleine üben. Aber dieses Üben am Instrument dient dem Zweck, Fähigkeiten zu erwerben, die sich auch und vor allem in Interaktionen mit anderen artikulieren. Zweitens ist es nicht so, dass der Prozess des Erwerbs der Fähigkeiten allein in einem solchen Üben bestehen würde oder durch ihn sozusagen abgeschlossen wäre und das Erworbene sich bloß noch in der improvisatorischen Interaktion mit anderen ausdrückte. Die Fähigkeiten der einzelnen Musiker werden vielmehr auch in Kontexten gemeinsamen Improvisierens weiterentwickelt. Mehr noch: Die musikalischen Persönlichkeiten interagieren in der Gruppenimprovisation in einer Weise miteinander, dass nicht allein neue Aspekte des Spiels des einen im Lichte des Spiels des anderen sichtbar werden, sondern dass sich das Spiel aller in Gruppenimprovisationen verändert. Solche Veränderungen gehen sozusagen in die einzelnen musikalischen Persönlichkeiten ein, die dann, wenn die Interaktion gelungen war, nicht aus der gemeinsamen Improvisation als dieselben herauskommen. Musikalische Persönlichkeiten sind somit nichts Abgeschlossenes, sondern etwas immer in Entwicklung Befindliches — und ein Motor dieser Entwicklung sind auch und vor allem gelingende gemeinsame Improvisationen. Mit Blick auf die Ausübung der Fähigkeit der Improvisation lässt sich wiederum zweierlei festhalten. Erstens ist selbst für die Soloimprovisation die Gruppenimprovisation noch das Paradigma. Interagieren in der Gruppenimprovisation nämlich verschiedene Musiker in einer dialogischen Weise dergestalt miteinander, dass sie aufeinander antworten, sich ergänzen, das, was sie tun, umdeuten usw., so wird das im Rahmen einer Soloperformance durch den entsprechenden Musiker alleine geleistet. Man kann auch sagen: Er tritt mit sich selbst in einen imaginativen Dialog, indem er auf sich selbst antwortet, sich Einwände macht, bestärkt, was er getan hat usw. Zweitens ist auch die Begleitung ein besonderer Modus der Gruppenimprovisation. Beim Spielen
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DANIEL MARTIN FEIGE von Standards ist es häufig so, dass Musiker abwechselnd solieren. Die Auffassung, dass derjenige, der begleitet und gerade nicht soliert, nicht improvisiert, ist allerdings falsch. Denn wenn ich etwa das Solo eines Saxophonisten am Klavier oder der Gitarre begleite, ist es nicht so, dass er improvisiert und ich nicht. Noch die Begleitung eines Solisten auf einem Harmonieinstrument ist ein besonderer Modus der Gruppenimprovisation, bei dem die Artikuliertheit der eigenen Stimme zugunsten der Artikuliertheit der Stimme des Solisten in den Hintergrund tritt. Wenn wir an einen paradigmatischen Standard wie »Come Fly With Me« und eine gelungene Einspielung, etwa die von Kurt Elling auf der CD 1619 Broadway. The Brill Building Project (2012) denken, gilt folgendes: Im Klaviersolo von Laurence Hobgood mag die Begleitung durch Bass und Schlagzeug gegenüber den oben genannten Aufnahmen von Evans und Corea sehr zurückgenommen sein, aber noch hier gilt, dass keineswegs ein Solist vor dem Hintergrund einer statischen oder passiven Begleitung aktiv ist. Wenn der Solist die Stimme erhebt, werden die anderen Stimmen zwar leiser, aber sie verstummen keineswegs. Das gilt nicht allein für die Begleitung des Solos von Hobgood, sondern auch für die Begleitung von Kurt Ellings Vocals durch die ganze Band.
3 . J a z z a l s E x em p l i fik a t io n m u s ik a l is c h er P r a x is üb er ha up t Ich komme damit zum letzten Teil meiner Ausführungen. Ich habe sicherlich viele wesentliche Aspekte des Jazz ausgespart, die jeweils einen eigenen Beitrag verdient gehabt hätten.3 Dennoch ist mit der These, dass der Jazz eine Form ästhetischer Zeitlichkeit aufweist, die sich als retroaktive und dialogische Zeitlichkeit fassen lässt, ein wesentliches Moment der Form musikalischer Praxis im Jazz benannt. Inwieweit kann man sagen, dass eine solche ästhetische Zeitlichkeit auch für andere Arten von Musik charakteristisch ist? Das möchte ich zumindest kurz mit Blick auf das retroaktive Moment zeigen. Als paradigmatische künstlerische Musik kann sicherlich diejenige in der Tradition europäischer Kunstmusik gelten. Für diese Musik ist spätestens seit Beethoven das Werkkonzept das ästhetische Paradigma. Werke sind nun keineswegs Improvisationen. Sie haben ein inniges Verhältnis zur Partitur und zudem leistet auch noch ein anderer als der Aufführende einen Beitrag in der Aufführung, nämlich der Komponist des Werks. Dieser Unterschied ist aber, so meine These, ein Unterschied allein der Form der musikalischen Praxis. 3
Vgl. zur rhythmischen Dimension von Musik, der wir, was für die meisten Jazzeinspielungen sicher gilt, einen »groove« bescheinigen würden, auch Roholt (2014).
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ZUR ÄSTHETISCHEN SPEZIFIK DES JAZZ Das, was im Jazz explizit ist, ist in der Tradition europäischer Kunstmusik implizit. Damit ist folgendermaßen gemeint: Die Aufführungen eines Werkes stehen in genau demselben Verhältnis zueinander, wie Elemente einer Improvisation zueinander stehen: In einem Verhältnis retroaktiver Neu- und Weiterbestimmung. Diesen Gedanken möchte ich abschließend konkretisieren. Auch für die Darbietungen musikalischer Werke gilt das, was ich für die Konstitution von Elementen einer Improvisation festgehalten habe. Werke sind nichts vor der Darbietung fertig Bestimmtes und Abgeschlossenes. Vielmehr werden sie in und durch jede Darbietung weiter bestimmt. Denn die naheliegende Unterscheidung, dass die Partitur eines Werks eindeutig bestimmte Eigenschaften der Aufführung festlegt — etwa die Tonhöherelation — und andere eben weniger eindeutig festlegt — etwa Tempo und Phrasierung —, kann keinen Bestand haben, wenn man die Frage, ob etwas eine Darbietung eines Werks ist, als ästhetische Frage und damit als Frage ästhetischen Gelingens versteht. Denn die Darbietung eines Werks ist dann, wenn sie gelungen ist, eine Einheit; auch vermeintlich nicht verhandelbare Eigenschaften wie die Tonhöherelation erhalten erst im Lichte der anderen Aspekte der Musik ihren ästhetischen Sinn. Beurteilen wir sie angesichts einer Aufführung getrennt voneinander, so dürfte die Aufführung selbst schlichtweg misslungen sein. Gesetzt den Fall, dass eine solche Bestimmung des Werks und seiner Einheit in der einzelnen Aufführung zutreffend ist, so muss man sagen, dass jede Performance an dem Werk weiterkomponiert. Ein Werk ist damit nichts anderes als der historische Prozess, im Rahmen dessen verschiedene Performances in solch einem Sinne aufeinander antworten, dass sie mit- und gegeneinander um dessen ästhetischen Wert ringen — und zugleich doch etwas anderes, nämlich etwas, in dessen Namen dieses Ringen geschieht und das niemals ganz in der Praxis eingeholt werden kann (vgl. als Versuch dazu auch Hindrichs 2013: Kapitel 6). In diesem Sinne kann man sagen, dass jede gelingende Performance mit aushandelt, was der Sinn des Werks gewesen ist. Man kann diesen Gedanken auch so erläutern, dass das Werk durch seine Komposition nicht abschließend bestimmt ist. Es wird vielmehr in und durch seine Aufführungen immer weiter und neu bestimmt und lebt in diesen — und in diesem Sinne kann man sagen, dass jede musikalische Interpretation an dem Werk weiterkomponiert. Noch einmal: Mit diesen Überlegungen möchte ich keineswegs den Unterschied zwischen Improvisationen im Jazz und dem Spielen von Werken einziehen. Ich wollte vielmehr dem Gedanken Ausdruck verleihen, dass künstlerische Musik in Begriffen ästhetischen Gelingens zu erläutern ist und ein solches Gelingen nichts ist, was vor den entsprechenden Performances und Aufführungen in Form von — in Wahrheit dann immer externen — Maßstäben
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DANIEL MARTIN FEIGE oder Regeln bestimmt werden kann. Dieser Aspekt der Eigengesetzlichkeit der Kunst wird besonders deutlich im Jazz exemplifiziert und das zugleich in der besonderen Weise, dass sie hier explizit artikuliert ist. Auch die musikalische Interpretation eines musikalischen Werks muss im jeweiligen Vollzug ein eigenständiges ästhetisches Gelingen vollbringen — anders als in der Improvisation spricht sie aber zugleich immer im Geiste und mit der Stimme des Werks. In einem retroaktiven Verhältnis stehen dabei in dieser Praxis vor allem verschiedene musikalische Interpretationen eines musikalischen Werks — wobei wir sicherlich auch sagen sollten, dass im Lichte der Phrasierung und Dynamik einer späteren Passage in einer musikalischen Interpretation auch das Spielen von früheren Passagen des Werks in ein anderes Licht gerückt werden. In der improvisatorischen Praxis des Jazz artikuliert sich somit ein wesentliches Moment dessen, was es überhaupt heißt, dass etwas musikalisch gelingt.
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Abstract The paper proposes a new understanding of the relationship of musical improvisation and musical interpretation: jazz is a relevant topic for philosophical aesthetics, as in its practice aspects of the aesthetic in general become explicit. I develop this thesis in three parts. In the first part I provide a sketch of what it could mean to relate to an aesthetic practice like jazz music in thinking. I argue that it is impossible to give a definition in terms of individually necessary and jointly sufficient conditions. This is not only because of the historical character of musical practices in general but also because such a definition is relating to singular jazz performances only in a subsumtive way. The second part exhibits a theory of improvisation over jazz standards, saying that—in contrast to musical works in the classical tradition— every aspect of the standard is renegotiable in and through playing. Finally, the third part argues for the idea, that the difference between interpreting a musical work and improvising over a jazz standard is not as big as one would think. The retroactive character of improvisation, i.e. that every move of the improvisation redefines the meaning of all previous ones, is also a good model of the relation of different musical interpretations of a musical work. The idea of aesthetic achievements being a process rather than a product is also applicable to the interpretation of musical works.
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M U S I C T H A T C H A N G ED M Y L I F E . P O P -M U S I K U ND S E L BS T V ER S T Ä ND N I S M a tt h ia s V og e l »I think it was a day or two after that that his plane went down. And somebody — somebody I'd never seen before — handed me a Leadbelly record with the song ›Cottonfields‹ on it. And that record changed my life right then and there. Transported me into a world I'd never known. […] I must have played that record a hundred times« (Bob Dylan 2017).1 Glaubt man empirischen Untersuchungen, so wird heute mit Abstand die meiste Musik nicht im Konzertsaal oder gar anlässlich von Hausmusikabenden gehört, sondern im Auto, in der Bahn, im Flugzeug, beim Einkaufen oder bei der Arbeit (Huron 2001: 51). Und es ist nicht rituelle oder Kunstmusik, die in diesen Kontexten ganz überwiegend gehört wird, sondern Pop-Musik — sei es, um Langeweile oder das Gefühl der Einsamkeit zu vertreiben, sich vor einem Wettkampf zu pushen oder besser auf die Arbeit konzentrieren zu können. So gesehen wäre Pop-Musik ein ziemlich nebenwirkungsarmes Mittel der Selbstregulation. Das ist richtig, greift meines Erachtens aber zu kurz. Denn darüber hinaus spielt Pop-Musik im Leben vieler Menschen offenbar eine Rolle, die eng mit der Entwicklung ihres Selbstverständnisses, damit, welche Person sie sein oder werden wollen, verknüpft ist. Auf den ersten Blick harmoniert diese Ansicht gut mit der Perspektive, die Tia DeNora in ihren einflussreichen Arbeiten auf die Musik eingenommen hat. Doch während DeNora beeindruckende Evidenz dafür liefert, dass Musik eine instrumentelle Rolle in Prozessen der Selbstregulation und -situierung spielt, bleibt sie eine Erklärung dessen, was ausgerechnet Musik und im Besonderen Pop-Musik für die »Konstitution von Identität« oder — wie ich lieber sagen würde — die Entwicklung und Transformation der personalen Identität geeignet macht, letzten Endes schuldig. Dafür scheint mir nicht zuletzt DeNoras Verschiebung des theoretischen Fokus von der Frage, »what music 1
Dylan bezieht sich auf den Flugzeugabsturz, bei dem u.a. Buddy Holly starb. Für den Hinweis auf die Rede danke ich Ralf von Appen.
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MATTHIAS VOGEL ›means‹« zur Frage, »what it ›does‹« (DeNora 1999: 34) verantwortlich zu sein. Ich möchte demgegenüber versuchen, eine solche Erklärung zu geben. Dazu ist es nötig, den Fokus neu einzustellen und etwas auszuholen. Zunächst, im ersten Abschnitt, votiere ich dafür, dass die Frage, warum wir Musik hören, nicht nur legitim ist, sondern einer Antwort bedarf, die sowohl über die meines Erachtens unverständliche Antwort »um ihrer selbst willen« als auch über die zu kurz greifende Antwort »um ihrer Effekte willen« hinausgeht. Im zweiten Abschnitt präsentiere ich eine Reihe von Äußerungen, in denen Hörer behaupten, dass ein bestimmtes Musikstück, die Musik einer Band oder einer bestimmten Stilrichtung ihr Leben verändert hat. Da die materiellen Lebensbedingungen von diesen Veränderungen unberührt geblieben sein dürften, können wir vermuten, dass sie sich in Dimensionen vollzogen haben, die für ihr Selbstverständnis eine gewisse Rolle spielen. Auch wenn Hörer in aller Regel keine Erklärungen für derartige Prozesse geben und sich mit Blick darauf sogar ratlos zeigen, finden sich in ihren Selbstauskünften doch Andeutungen dessen, was hier zum Tragen kommen könnte. Der dritte Abschnitt skizziert dann die Grundlinien einer Theorie musikalischen Verstehens in Begriffen einer Theorie des Nachvollzugs. Im vierten Teil versuche ich, die vorangegangenen Überlegungen zu einer Antwort auf die Frage zusammenzuführen, warum insbesondere Pop-Musik ein leistungsfähiges Medium der Entwicklung und Transformation von Selbstbildern ist.2 Das — so meine These — lässt sich verständlich machen, wenn die Relationen, die Subjekte zu sich und zur Musik einnehmen, als Relationen des Verstehens aufgefasst werden.
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In meinem Leben hat es nicht wenige solcher musikimprägnierten Veränderungsprozesse gegeben. So haben die Alben von Joy Division meine Perspektive auf mich und die Welt über viele Monate bestimmt, es mir erlaubt, eine Haltung zu den sich verdüsternden Verhältnissen der frühen 1980er einzunehmen, die gegen jede weitere Enttäuschung gefeit zu sein schien, weil Depression nichts mehr war, das man noch auf Distanz hätte halten müssen, sondern etwas, das geeignet war, einen Unterschied zu denen zu machen, die das Debakel nicht verstanden oder BWL studierten, etwas, zu dem man Tanzen konnte (»Isolation«) oder sich mit dem schweren Glanz einer verdunkelten Sonne verbinden konnte, die am Ende von »Day Of The Lords« über der ganzen Szenerie aufsteigt. Techno und House stand ich viele Jahre später zunächst als Musik gegenüber, die mir dumm erschien und nichts sagte, bis zu einem Abend in einem Hamburger Club, der einem Saulus/Paulus-Erlebnis gleichkam, das mir den Zugang zu der wortlosen Feier gewährte, die seit nunmehr 25 Jahren anlässlich der Hochzeit von Tanz und (universeller) Maschine gefeiert wird und meinen Blick auf Urbanität und Zivilisation neu grundiert hat.
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MUSIC THAT CHANGED MY L IFE. POP-MUSIK UND SELBSTVERSTÄNDNIS
N ic ht um i hr er s e l b s t wi l l e n Ich habe Zweifel an der Auffassung, dass wir Musik (wie die Kunst insgesamt) um ihrer selbst willen schätzen (vgl. dazu Vogel 2013b), und diese Zweifel hat DeNora in ihrem vielbeachteten Aufsatz »Music as a Technology of the Self« (1999) noch weiter genährt. Ihre soziologischen Untersuchungen erweisen nämlich Musik als ein inmitten unserer alltäglichen praktischen Lebensvollzüge situiertes Phänomen, das wir nicht nur für Prozesse der emotionalen Selbstregulation und für soziale Rituale nutzen, sondern auch als eine kulturelle Ressource für Prozesse der Selbstkonstruktion. Das läuft auf die These hinaus, dass Musik eine wichtige Rolle in Prozessen spielt, in denen wir Antworten auf die Frage entwickeln, wie die Person beschaffen ist, die wir sind oder sein wollen: als Mittel der Selbstinterpretation, der Artikulation eines Selbstbilds und der Selbstsituierung.3 DeNora kann mittels ihrer Interviews zweifelsfrei belegen, dass Menschen Musik in alltäglichen Kontexten zu Zwecken der emotionalen Selbstregulation nutzen. Dass Musik für solche Zwecke geeignet ist, lässt sich im Rekurs auf die kausalen Effekte der Musik (»what it does«) gut erklären.4 Musik kann sich als etwas herausstellen, das energetisierende, beruhigende, fokussierende oder euphorisierende Effekte zeitigt; und wir Rezipienten, die wir ein Wissen über ebensolche Effekte auf uns selbst erworben haben, können Musik instrumentell zur erneuten Herstellung dieser Effekte nutzen. Daraus folgt, dass wir in der Perspektive unseres musikalischen Appetits antizipieren können, nach welcher Musik uns der Sinn steht, welche Musik uns jetzt zum Beispiel guttäte. 3
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Ich vermeide im Folgenden Ausdrücke wie »Selbstkonstitution«, »Selbstkonstruktion« oder »Konstitution von Identität« (derer sich DeNora häufig bedient), weil sie systematisch missverständlich sind: Wenn das »Selbst« (?) als das Subjekt der Konstitution verstanden wird, dann gibt es wohl keinen Prozess, der diese Bezeichnung zu Recht trägt, denn alle Konstitutionsprozesse haben Bedingungen, die nicht zum »Selbst« gehören und nicht in der Verfügungsgewalt der Person stehen. Und was soll das sein, ein »Selbst«? »Konstruktion« hat m.E. deutlich zu voluntaristische Konnotationen; und »Identität« muss nicht konstituiert werden, weil jedes Ding trivialerweise mit sich selbst identisch ist. Ganz ohne diese Ausdrücke, die geeignet sind, unseren Verstand zu verhexen, komme ich aber auch nicht aus: Mit dem Selbstverständnis einer Person meine ich die Antwort, die sich eine Person auf die Frage gibt, was für sie selbst spezifisch ist oder spezifisch sein soll. Auch wenn die Frage interessant ist, warum Musik solche Effekte herbeizuführen vermag, hängt die Plausibilität der Beobachtungen DeNoras natürlich nicht davon ab, dass wir eine Antwort auf diese Frage haben. Ergiebige Überlegungen zu einer derartigen Theorie finden sich m.E. in Trevarthen (2000).
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MATTHIAS VOGEL Auch wenn in derartige Techniken der Selbstregulation ein Wissen über uns eingeht, scheint mir dieses Wissen nicht über ein empirisches Wissen über unsere psychischen Dispositionen hinauszugehen, und nur in diesem trivialen Sinn von uns als Personen zu handeln. Ebenso wie ich wissen kann, dass mir nachmittags grüner Tee meist besser tut als schwarzer Kaffee, kann ich wissen, dass mir Substrata von Biosphere bei der Schreibtischarbeit besser tut als Stadt der Angst von Turbostaat. Aber solches Wissen macht nicht verständlich, warum Musik in einem nichttrivialen Sinn für Prozesse der Bestimmung der eigenen Person geeignet ist. Ähnlich verhält es sich, wenn wir uns von den blank kausalen Effekten lösen und zum Beispiel Relationen des Evaluierens von Musik betrachten. Natürlich können wir Musik dazu nutzen, uns als Personen zu beschreiben, die dieses Stück, diese Band, diesen Stil mögen, ablehnen oder gar abscheulich finden. Aber dazu lassen sich natürlich auch Automarken, Mode, Designstile oder Landschaften nutzen. Interessant ist jedoch nicht die Tatsache, dass jemand Siouxsie and the Banshees, U2 oder Moby schätzt, sondern die Tatsache, dass dieses Wertschätzen Signifikanz für die jeweiligen Personen hat oder gewinnen kann. Den Unterschied, um den es hier geht, kann man sich veranschaulichen, wenn man folgende Äußerungen vergleicht: (a) Ich bin eine Person, die Muskat mag. (b) Ich bin eine Person, die Run the Jewels mag. Während in (a) ein Faktum artikuliert wird, dessen Erwähnung eine Liste kontingenter Präferenzen verlängern könnte, die wir achselzuckend zur Kenntnis nehmen, ist die Wertschätzung, die in (b) ausgedrückt wird, dazu geeignet, etwas Interessantes über eine Person zu offenbaren, und zwar auch für die Person selbst. Was wir angesichts dieses Kontrasts verstehen müssen, ist die Quelle der Signifikanz von (b). Diesbezüglich besteht ein erster Schritt darin, sich zu vergegenwärtigen, dass aus (a) nichts weiter folgt: Die Tatsache, dass jemand Muskat mag, ist kein guter Prädiktor dafür, dass er Schokolade mag, Audi fährt oder Vegetarier ist. Die Muskat-Präferenz scheint mit unendlich vielen anderen vereinbar zu sein, sodass es weder überraschend wäre zu erfahren, dass jemand, der Muskat mag, auch Vanille schätzt, noch dass er außerdem eine Vorliebe für englische Parks hat. Mit Blick auf die gesuchte Quelle der Signifikanz von (b) können wir uns auf die Tatsache stützen, dass das Wertschätzen eines Musikstücks oder der Musik einer Band oder eines Stils eine Aktivität der wertschätzenden Person voraussetzt, die tatsächlich etwas über die Person sagt. Sie ist eine Person, der die Musik etwas sagt, eine Person, der es gelingt, die Musik zu verstehen, und das heißt: auf eine Weise zu hören, die ihren Sinn erfasst. Hier verhält
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es sich anders als im Falle des Muskat-Liebhabers: Es würde uns doch sehr überraschen, wenn sich in der Sammlung unseres Run the Jewels-Fans auch alle Alben von Mr. President oder Sarah Connor befänden. Nicht dass es nicht möglich wäre, alle drei zu schätzen, aber die Tatsache, dass jemand das tut, macht zumindest neugierig darauf, was das wohl für eine Person sein mag. Das bringt mich zu meinem eigentlichen Thema und meiner zentralen Idee, dass nämlich der Zusammenhang zwischen Pop-Musik und personaler Identität genauer erläutert werden kann, wenn die Relationen, die ein Subjekt zu sich selbst einnimmt, und die Relation, die es zur Musik einnimmt, als Relationen des Verstehens rekonstruiert werden. Mit Blick auf einen recht unspezifischen Aspekt lässt sich diese Idee vielleicht am leichtesten plausibilisieren. Wahrscheinlich ist die Zahl derer, die im Erwachsenenalter gern Kinderlieder hören, recht gering. Das dürfte auch damit zusammenhängen, dass viele Kinderlieder sehr einfach strukturiert sind. Analoges gilt sicher auch für viele sogenannte Schlager. Wenn ich Schlager mag, kann das also als ein Indiz dafür genommen werden, dass ich beim Musikhören mit minimalen Herausforderungen zufrieden bin. Wer hingegen schnell am Ohrwurmcharakter eines Stücks leidet, mag simple Musik als Ursprung solchen (ästhetischen) Leidens verachten, und Personen, die solche Musik schätzen, können einem fremd werden. In dieser Hinsicht können Unterschiede in der Wertschätzung auch zu sozialen Distinktionsmerkmalen werden. Wichtig ist: Diese Unterschiede bestehen nicht nur mit Blick auf die Komplexität von Musik, sondern auch mit Blick auf die Gesten, die diese den Hörern (auch angeleitet durch die prototypische Aufführung der Gesten durch die Musiker) nahelegt. Während dem einen der Gitarrenmachismo peinlich oder zuwider ist, schätzt eine andere gerade die implizite Inszenierung von Stärke oder Macht. Interessant werden diese Differenzen, wenn sie im Lebensverlauf ein und derselben Person auftreten, so dass sie über Musik, die sie früher sozusagen geatmet hat, heute nur noch den Kopf schütteln kann. So mag die einst als spannend oder gar als Offenbarung empfundene polymorph-perverse Inszenierung von sexuellem Begehren in Madonnas »Justify My Love« heute nur noch albern, schematisch oder kühl kalkuliert wirken. Und noch interessanter wird es, wenn sich diese individualbiographischen Differenzen und Distanzierungen allein aufgrund musikalischer Merkmale auftun. Dem werde ich nun im nächsten Abschnitt genauer nachgehen.
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S el b s t a u s k ü n ft e Wenn Musik als Musik, also qua ihrer musikalischen Eigenschaften, einen wichtigen Einfluss auf das Leben ihrer Hörerinnen nehmen kann und in irgendeiner Weise zu Prozessen des Selbstverstehens beizutragen vermag, dann sollte es Berichte oder Erzählungen geben, in denen Hörerinnen auf derartige Prozesse Bezug nehmen. Für unseren Zusammenhang sind dabei insbesondere solche Berichte von Interesse, in denen es zum einen speziell um Pop-Musik geht, die zum anderen (weitgehend) ohne Texte auskommt.5 Natürlich müssen sich lebensverändernde Effekte auch im Falle von Musik mit Texten nicht allein sprachlicher Botschaften verdanken; um die Rolle der Musik für solche Transformationsprozesse jedoch unabhängig vom Einfluss anderer Faktoren studieren zu können, lohnt es sich, die Untersuchung auf Instrumentalmusik zu beschränken, sodass wir ihren Einfluss wie in einer Laborsituation isolieren können. Wie ein Blick auf Kommentarplattformen zeigt, gibt es erstaunlicherweise keinen Mangel an Berichten über die lebensverändernde Kraft instrumentaler Pop-Musik. Beginnen wir mit dem Nutzer Peter Grimmer, der über das 1994 erschienene Album Global Chillage von The Irresistible Force Folgendes schreibt: »I bought this on Cassette at gramaphone in chicago when i was in high school. changed my life.«6 »Changed my life« — wie kann das sein? Wie kann das Hören eines Ambient-Albums das Leben eines seiner Hörer verändern? Zumal die Stücke auf dem Album (abgesehen von ein paar Loops) keinen Text haben, der irgendeine lebensverändernde Botschaft transportieren könnte (»Macht kaputt, was euch kaputt macht!«), und Morris Gould (aka Mixmaster Morris), der sich hinter dem Pseudonym The Irresistible Force verbirgt, gewiss kein Star ist, dessen öffentliche Inszenierungen zur Identifikation einladen. Auch 5
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Diedrich Diederichsen betrachtet Pop-Musik mit guten Gründen als einen Komp– lex aus »Bildern, Performances (meist populärer) Musik, Texten und an reale Personen geknüpften Erzählungen« (Diederichsen 2014: XI). Ich verwende hier den Ausdruck »Pop-Musik«, um den musikalischen Bestandteil dieses Komplexes herauszugreifen, und spreche dann, wenn es mir um den ganzen Zusammenhang geht, vom Pop-Musik-Komplex. Um fokussiert die Rolle der Musik zu untersuchen, ziehe ich im Folgenden darüber hinaus nur Pop-Musik heran, die weitgehend ohne Text auskommt und bei der die anderen Komponenten des Komplexes von vergleichsweise geringer Bedeutung sind. Siehe den Kommentar zu »The Irresistible Force, Global Chillage [Full Album]«, www.youtube.com/watch?v=sAw_yllpSYQ, Zugriff: 10.4.2017. Mir ist bewusst, dass die Wendung »changed my life« hin und wieder auch als leicht übertriebenes Lob verwendet wird. In den von mir herangezogenen Zitaten scheint mir das jedoch nicht der Fall zu sein. Ich nehme sie daher für bare Münze bzw. als wörtlich wahre Selbstauskünfte.
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als politisches Manifest erscheint mir die Platte eher ungeeignet, selbst wenn hbmf auf discogs.com schreibt, sie sei »subversively political«.7 Eine Weise, Peters Kommentar zu deuten, besteht darin, ihn als Erwähnung einer singulären, das heißt strukturell unwiederholbaren Erfahrung zu verstehen, die beispielsweise durch eine gesteigerte meditative Aufmerksamkeit gekennzeichnet war. Gegen diese Deutung spricht jedoch die Wahl des Veröffentlichungsortes; Peter hat die Beschreibung seiner Erfahrung nicht seinem Tagebuch anvertraut,8 er hat sich vielmehr für ein öffentliches Forum entschieden, was darauf hindeutet, dass er andere Hörer auf dieses Album aufmerksam machen und dabei auf etwas hinweisen möchte, das auch für andere von Interesse sein könnte: die Tatsache, dass ihm die Musik — also etwas intersubjektiv Zugängliches — eine Art von Erfahrung ermöglicht hat, die sein Leben verändert hat. Da Global Chillage weder Peters Kontostand verändert hat noch via Text seine Einstellung zur Welt, stehen uns als einzige Ressource für die Veränderung in Peters Leben diejenigen ästhetischen Erfahrungen zur Verfügung, die er anlässlich oder mit der Musik gemacht hat. Und da ästhetisches Erfahren ein Prozess ist, an dem Rezipienten selbst einen kreativen Anteil haben, können wir vermuten, dass es Peter vielleicht gelungen ist, beim Hören von Global Chillage eine der Musik angemessene Form der Aufmerksamkeit zu entwickeln, die ihn in die Lage versetzte, eine Musik, die in den Ohren vieler wie formloses echogetränktes repetitives Geklimper klingt, als eine (musikalische) Einheit zu hören, und ihm fortan auch in anderen Kontexten zur Verfügung stand. Vielleicht evoziert die Musik bei ihm die Vorstellung einer zyklischen Geschäftigkeit, die den Kontext all unserer Lebensvollzüge bildet, vielleicht hat ihn aber auch die subkutane Musikalisierung des geräuschhaften Hintergrunds in den Bann geschlagen. Entscheidend ist jedenfalls, dass die Weise, in der die Musik zu einer Veränderung von Peters Leben beigetragen hat, mutmaßlich die Form einer Veränderung seiner Erfahrungsfähigkeit hat — eine Art Horizonterweiterung, die sich darin zeigt, dass sich ihm eine neue Art von Musik erschlossen hat. Wenn das der Fall ist,
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www.discogs.com/de/Irresistible-Force-Global-Chillage/master/30708, Zugriff: 10.4.2017. Es gibt zahllose derartige Kommentare, nicht wenige nach dem Muster »i listened to this on so much acid. i felt like the hubble telescope. such wonders …« (vgl. Ken, ebd.). Obwohl es interessant ist, dass Musikstücke es so effektiv vermögen, Erinnerungen zu aktivieren — der Chartshow-Industrie ist ihr Publikum sicher! —, helfen uns Memes wie »Gets me back to those days«, »amazing blast from the past«, »memories!« nicht wirklich weiter. Denn einerseits — man setze sich in einen VW-Käfer oder Trabant — können das auch alte Autos und natürlich Fotos, und andererseits ist die Tatsache, dass Musik uns so effektiv in die Vergangenheit versetzen kann, gerade selbst erklärungsbedürftig.
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MATTHIAS VOGEL dann hätte er die Erfahrung, die zu dieser Veränderung geführt hat, womöglich auch mit Musiken ähnlichen Typs, zum Beispiel Brian Enos Music for Airports oder Chill Out von The KLF, machen können. Es ist interessant, dass die Gründe und Hinsichten, in denen Musik zu einer Veränderung des Lebens beigetragen hat, selten artikuliert werden. So kann sich Genki78 zwar noch ganz genau an die Umstände des ersten Kontakts mit »Melt« von Leftfields Album Leftism erinnern, aber warum genau das Stück eine so starke Faszination auf ihn/sie ausübte, schreibt er/sie nicht: »›Melt‹ (track 3) was a life changing experience! Never heard such a fascinating ambient tune before that. I heard it for the first time during vacation in Belgium in the mid-90s, when going into a clothing shop near the beach, and they played »Melt« […]. Then we asked the sales girl which song they are currently playing, because it sounds awesome! And they showed us the Leftism CD. We never heard about Leftfield before. That was such a great thing!«9 Wie schwierig es ist, die lebensverändernde Kraft musikalischer Erfahrungen zu artikulieren, macht — vorangegangene Statements aufnehmend — XXNovaXxs Kommentar zu Goldies »Timeless« explizit: »Groundbreaking, Utter brilliance… Okay okay.. This album is Fucking insanely brilliant.. In my opinion the stand out here is »Timeless«. I get a mysterious and unusual feel of nostalgia every time i hear those lush pads and Diane's soothing voice. Timeless got me into DNB [Drum and Bass], and it is and probably will remain my favourite track of all time, among a couple of others. [...]. Thank you Goldie for changing my life, it's a hard thing to put into words of what this album has done to me, but I m sure you can figure it out. Absolutely jaw dropping.«10 »It's a hard thing to put into words« — die Äußerung, dass es nicht leicht ist zu sagen, worin die transformierende Kraft besteht, ist möglicherweise ein Indiz dafür, dass mit der Rede von der Lebensveränderung mehr zum Ausdruck gebracht wird als höchste Wertschätzung. Unter dem Titel »23 Records that made me who I am« schreibt co_existence: »Everyone has a history of records that they have been exposed to, beyond their control. I think those records shape our personality to some extent whether we like it or not. Here are 23 key records of my life.«11
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www.discogs.com/de/Leftfield-Leftism/release/3301#comment641903, Zugriff: 10.4.2017, meine Hervorhebung. 10 www.discogs.com/Goldie-Timeless/release/2399, Zugriff: 10.4.2017, meine Hervorhebung. 11 https://rateyourmusic.com/list/co_existence/23-records-that-made-me-who-iam, Zugriff: 10.4.2017, meine Hervorhebung.
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Hier wird — kontra »Technologien des Selbst« — die These vertreten, dass wir Musik nicht nur aktiv als Mittel der Persönlichkeitsentwicklung nutzen, sondern dass Pop-Musik auch ohne unser Zutun auf die Prozesse der Persönlichkeitsentwicklung einwirkt, also faktisch Teil jenes auditorischen Biotops sind, in dem wir geworden sind, was wir sind. Das leuchtet ein, aber unklar ist immer noch, wie Musik genau dies tut bzw. warum sie es tun kann. 5thEye deutet in seinem/ihrem Kommentar zum Ambient-Album Substrata von Biosphere eine interessante, wenngleich noch immer sehr allgemeine Hinsicht an, die in einer gewissen Spannung zur Auffassung von co_existence steht: »The best ambient album I have ever listened to in my life. Every single track is just perfect. »Kobresia« makes me want to cry whenever I listen to it. This album has changed my outlook on life, it is just so damned beautiful. Listening to this, I feel like I am in the arctic — I know that sounds weird but it's true! Such an amazing album.«12 Für 5thEye besteht die lebensverändernde Erfahrung darin, dass sich die Perspektive auf ihr/sein Leben verändert hat. Die musikalische Erfahrung ist nicht bloß ein kausaler Faktor, der Einfluss auf den gegenwärtigen psychischen Zustand einer Person nehmen kann, sondern eine Kraft, die zu einer Veränderung von Sichtweisen beizutragen vermag. Wie entfaltet sich diese Kraft? Unter dem Titel »Ultimate… 10 bands that make me who I am«13 veröffentlicht redhalo eine Liste von zehn Bands und stellt dem letzten Eintrag folgenden Satz voran: »I was 29 when I had my last revolution in how I listen and understand music.«14 Dieser Spur möchte ich im nächsten Abschnitt nachgehen.
12 https://rateyourmusic.com/list/5thEye/1001-albums-you-must-hear-beforeyou-die-rym-edition/3, Zugriff: 10.4.2017, Anführungszeichen und Hervorhebung von mir. 13 https://rateyourmusic.com/list/redhalo/ultimate____10_bands_that_make_me _who_i_am_, Zugriff: 10.4.2017. 14 Ebd., meine Hervorhebung.
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Mu s i k v er s t e he n : E in e g a nz k u r z e E i nf ü hr un g i n d i e T h eo r i e d e s N a c hv o l l z ug s Musikhören steht wie das Hören sprachlicher Äußerungen vor der Alternative, das Gehörte zu verstehen oder nicht zu verstehen.15 Im Unterschied zu dem, was wir verstehen, wenn wir sprachliche Äußerungen verstehen, sollten wir das, was wir im Falle der Musik verstehen, aber nicht als die Bedeutung eines Musikstücks betrachten. Die Bedeutung einer sprachlichen Äußerung zu verstehen, setzt nach einer weithin geteilten Auffassung voraus, dass man informativ artikulieren kann, was man verstanden hat. Das aber ist nur möglich, wenn verschiedene Weisen zur Verfügung stehen, in denen ein und dieselbe Bedeutung ausgedrückt werden kann, denn es ergibt schlicht keinen Sinn, zu behaupten: »Ich weiß, was x bedeutet, ich kann nur nicht sagen, was.« Im Fall des Musikverstehens sind diese Bedingungen jedoch nicht zu erfüllen. Denn aufgrund der unersetzbaren Rolle der sinnlichen Beschaffenheit eines erklingenden Musikstücks kann es nicht durch etwas vertreten werden, das andere sinnliche Eigenschaften, gleichwohl aber dieselbe Bedeutung hat. Klingt die vermeintliche Bedeutungsangabe anders als das Stück, kann sie das Stück nicht vertreten. Das ist bei sprachlichen Äußerungen anders. Adorno (1978: 251) hat diesen Zusammenhang so ausgedrückt, dass das mit Musik Artikulierte »sich nicht von der Musik ablösen« lässt. Während man also die Bedeutung von »es regnet« vermittels von »it is raining« ausdrücken kann, wobei die zweite Äußerung eine Form ist, die Bedeutung der ersten anzugeben, gibt es keine derartigen informativen Übersetzungen von musikalischen Äußerungen. Musikalische Aufführungen oder musikalische Äußerungen können bestenfalls durch ihre Wiederholung vertreten werden; Wiederholungen sind jedoch keine informativen Bedeutungsangaben. Abgesehen beispielsweise von ihrem Gebrauch als Klingelton oder Sound-Logos haben Musikstücke darüber hinaus typischerweise keine repräsentationale Funktion. Wenn wir Musik als Musik und nicht bloß als Signal oder als Indikator für die Qualität eines Lautsprechers hören, dann entschlüsseln wir sie nicht, indem wir Sachverhalte identifizieren, die mit ihrer Hilfe ausgedrückt oder repräsentiert werden. Daher fehlt Musik etwas (wie beispielsweise Wahrheits- oder Erfüllungsbedingungen), woran wir den Erfolg einer stellvertretenden Übersetzung überhaupt messen könnten. Kurzum: Musik zu 15 Die nachfolgenden Gedanken zum Musikverstehen habe ich anderenorts genauer entwickelt, insbesondere in Vogel (2007) und zuletzt auf ganz ähnliche Weise wie in diesem Abschnitt in Vogel (2018).
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verstehen, heißt in aller Regel nicht, einen artikulierbaren repräsentationalen Gehalt zu erfassen.16 Will man im Lichte dieser Schwierigkeiten an der Intuition festhalten, dass Musik mehr ist als »bloßes Spielwerk der Sinne« (Hanslick 1989: 95) oder als etwas, das wir aufgrund seiner Wirkungen schätzen, nämlich etwas, das wir verstehen können, muss das, was wir beim Musikverstehen erfassen, etwas anderes als Bedeutung sein. Die Idee besteht nun darin zu sagen, dass wir nicht ihre Bedeutung, sondern ihren Sinn erfassen — indem wir ihre sinnlich erfahrbare Beschaffenheit in Akten des Nachvollzugs strukturieren.17 Ganz grob lässt sich Nachvollziehen als eine Tätigkeit verstehen, deren sich schon kleine Kinder bedienen, wenn sie auf ins Auge springende Merkmale des Verhaltens von etwas hinweisen, das sie gerade sehen oder gesehen haben, etwa indem sie angesichts einer durchs Gras gleitenden Schlange eine schlängelnde Handbewegung machen (vgl. dazu Plessner 1982). Ganz analog kann ich die Frage, was Pia gerade getan hat, dadurch beantworten, dass ich einfach das tue, was Pia getan hat, das heißt, indem ich etwas tue, das in relevanten Hinsichten dieselbe Form hat wie das, was Pia getan hat. Wenn mich nun jemand fragt, wie »Forgive« von Burial klingt, so kann ich versuchen zu beschreiben, was ich höre, und mich dabei durchaus auf Vergleiche mit anderer Musik oder Assoziationen stützen; und ich kann die Form dessen, was ich höre, artikulieren, indem ich mich beispielsweise körperlicher, das heißt tänzerischer oder gestischer Bewegungen bediene und darauf vertraue, dass sich dem Adressaten der nachvollziehenden Bewegung die Pointe der Bewegung vor dem Hintergrund seines propriozeptiven Erfahrungsschatzes mitteilt — zumindest so, dass er beim Hören des Stücks so etwas sagt wie: »Ah, ich glaub', ich verstehe, was du meinst.« Mittels solcher Bewegungen sage ich natürlich nicht, wovon das Musikstück handelt oder was es repräsentiert, ich versuche vielmehr mitzuteilen, wie ich es erfahre. Ich artikuliere gewissermaßen — um in loser Verbindung 16 Hier liegt der Einwand nahe, dass die Musik ja zum Beispiel Emotionen ausdrücke und insofern doch repräsentationalen Gehalt habe. Wie schwierig es ist, diese Intuition zu verteidigen, macht schon die Frage deutlich, wie genau dieser repräsentationale Gehalt zu bestimmen wäre. Drückt die Musik die (gegenwärtigen, vergangenen?) Emotionen der Komponistin, des Sängers oder des Bassisten aus? Und wenn sie nicht die Emotionen dieser Leute ausdrückt, wessen Emotionen dann? Darüber hinaus haben Emotionen meist formale Objekte, etwas worauf sie sich beziehen, und man fragt sich, vermittels welcher Ressourcen Musik in der Lage sein könnte, beispielsweise einen Sachverhalt zu bestimmen, auf den sich Furcht oder Neid richtet. Einen ausgezeichneten Überblick über das Verhältnis zwischen Musik und Emotionen gibt Zwinggi (2016: Kap. 1). 17 Detaillierte Vorschläge zur Erläuterung des Verstehens von Musik in Begriffen des Nachvollzugs finden sich in Becker (2007) sowie in Vogel (2007).
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MATTHIAS VOGEL zu Gottlob Frege zu reden — die Gegebenheitsweise, in der mir das Stück qua meines Nachvollzugs gegenübersteht und damit seinen Sinn. Wenn ich den Sinn artikulieren will, den ich vermittels eines Nachvollzugs, also durch eine ausgeführte oder imaginierte Tätigkeit oder mittels einer Vorstellung erfasst habe, bin ich also nicht darauf festgelegt, sprachlich artikulierte Begriffe zu verwenden. Mein Verstehen scheitert insofern nicht daran, dass ich das Spezifische des Stücks nicht in Worte fassen kann oder sprachlich nicht artikulieren kann, warum meine Tätigkeit oder Vorstellung geeignet ist, den Sinn des Stücks zu erfassen und auszudrücken. Der Begriff des Nachvollzugs ist daher offen für eine Form des Verstehens, dessen Erfolgsbedingungen nicht erst dann erfüllt werden, wenn es gelingt, den Sinn sprachlich explizit zu machen.18 Am anschaulichsten lässt sich das Konzept des Nachvollzugs im Rekurs auf Tätigkeiten wie Gestikulieren oder Tanzen plausibel machen, aber es ist, wie ich bereits angedeutet habe, nicht darauf angewiesen, dass wir Nachvollzüge realisieren, indem wir tatsächlich körperliche Bewegungen vollziehen. Denn wir können unsere Wahrnehmung der Musik auch mit Hilfe imaginärer Bewegungen und Vorstellungen strukturieren, zu denen uns die Musik inspiriert. Wir können etwa einen Streicherklang als eine leuchtende Fläche hören oder eine Klangsequenz als Sturz (vgl. dazu Reuter 2015). Auch wenn uns manche solcher Vorstellungen aufgrund des kausalen Einflusses des Stücks auf uns näherliegen als andere, geht es hier nicht um bloß kontingente Assoziationen, sondern um Tätigkeiten und Vorstellungen, die geeignet sind, jene Klangereignisse, die mit dem Erklingen eines Musikstücks einhergehen, in einen Zusammenhang zu bringen, und zwar in einen, der verständlich macht, warum sich das Musikstück aus ebendiesen Klangereignissen zusammensetzt. Musikstücke sind, abgesehen vielleicht von aleatorischen, keine bloßen Ansammlungen von Klangereignissen, und es liegt auf der Hand, dass jemand, der ein Musikstück versteht, den Zusammenhang der wahrgenommenen Klänge erfahrend erfasst haben muss. Er muss nicht das Konstruktionsprinzip angeben können, das der Komposition des Stücks zugrunde liegt, aber er muss es auf eine Weise hören können, vermöge deren die Klangereignisse zu einer strukturierten Erfahrung beitragen. Verstehenden Hörern muss sich der Zusammenhang der wahrgenommenen Klangereignisse in der Erfahrung erschließen. Angesichts dieser Aufgabe besteht die Idee des Nachvollzugs darin, dass eine Sequenz von Klangereignissen Sinn gewinnt, indem man sie nach dem Modell einer zusammenhängenden Bewegung erfährt, einer Bewegung, deren 18 Dass die Erfolgsbedingungen ästhetischen Verstehens relativ offen sind, stellt meines Erachtens ein zentrales Element für die Erklärung der ästhetischen Lust bereit. Vgl. dazu meine Ausführungen in Vogel (2013: Abschnitt III).
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Einheit uns ebenso unmittelbar verständlich ist, wie die Einheit einer ablehnenden Geste, eines Sonnenaufgangs, eines Sturzes oder einer Umarmung (vgl. dazu Becker 2007: 289f.). Da wir gewissermaßen Experten darin sind, den Anfang und das Ende von Handlungen oder, allgemeiner, die Einheit von körperlichen Bewegungen (insbesondere solchen, die Handlungen sind) zu erfassen,19 können wir Musik mit Hilfe solcher Bewegungen strukturieren und in der Erfahrung Einheit verleihen. Darüber hinaus ist aber die Musik selbst durch Bewegungskategorien bestimmt: Klänge und Töne sind für uns in der Vertikale des musikalischen Raums auf unterschiedlichen Höhen positioniert, sodass wir Klangfolgen als auf- oder absteigend hören oder als verharrend.20 Zugleich sind die Klangereignisse horizontal nicht in einer Dimension bloßer Sukzession situiert, sondern in der musikalischen Zeit, die durch Ordnungen wie Metrum und Takt sowie durch rhythmische Gewichtungen strukturiert ist (vgl. dazu genauer Vogel 2018: Abschn. 3). Vorstellungen körperlicher Bewegungen liegen uns beim Musikverstehen also auch deshalb nahe, weil wir Musik selbst als etwas hören, das durch Kategorien der Bewegung bestimmt ist.
Mu s i k , N a c hv o l l z u g , H a l t u n g , P er s o n Die Weise, in der Menschen ihre Körper bewegen, welcher Habitus ihnen zu eigen ist, ist wesentlich durch das bestimmt, was sie tun und wie sie tun, was sie tun. Jemandem, der als Model arbeitet oder professionell in einer Ballettkompanie tanzt, sind die tausendfach eingeübten Körperbewegungen genauso zur zweiten Natur geworden, wie jemandem, der seine Brötchen als Fahrradbote im Verkehr einer Großstadt verdient. Während sich die Bewegungen von 19 Die Einheit von Handlungen können wir im Rekurs auf explizite, kausal relevante Intentionen erläutern oder, wie Michael Thompson vorgeschlagen hat, als die von Prozessen, deren Phasen ihrer Einheit dienen, so dass zwischen ihnen ein teleologischer Nexus besteht, der sich in einer Kette von Warum-Fragen entfalten lässt: Warum schält Karl Kartoffeln? Weil er Pellkartoffeln kocht. Warum kocht er Pellkartoffeln? Weil er einen Kartoffelsalat macht. Warum macht er Kartoffelsalat? Weil er einen Kindergeburtstag vorbereitet. Und so fort, vgl. Thompson (2011). 20 Man kann darüber streiten, ob die Rede von »hoch« und »tief« zur Charakterisierung von Tonhöhen genuin metaphorisch ist. Es scheint mir jedoch klar zu sein, dass Hörer unabhängig davon, welche Ausdrücke ihre jeweilige Sprache dafür bereitstellt (das Englische »high« und »low«, das Französische »grave« und »aigu«) musikalische Bewegungen als auf- oder abwärtsgerichtet hören. Das jedoch kann nur verständlich gemacht werden, wenn die Klänge am Anfang der Bewegung relativ zu den Endklängen als höher oder tiefer gehört werden; vgl. dazu Scruton (1997: 21).
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MATTHIAS VOGEL Models oder Balletttänzern (wie die von Angehörigen der höfischen Gesellschaft oder des »gehobenen« Bürgertums, vgl. Bourdieu 1982) auch an expliziten Bewegungsidealen orientieren, stellen sich die Bewegungsmuster und Haltungen von Fahrradboten eher infolge einer Reaktion auf die Arbeitsbedingungen ein, in denen die permanente Übersicht über die Bewegungen anderer Verkehrsteilnehmer sowie ein hochgetaktetes Bewusstsein für knappe Zeitressourcen eine Körperspannung erzeugen, die nicht nur den Tritt, sondern auch die Körperhaltung des Fahrradkuriers bestimmen. Wenn es richtig ist, dass viele unserer Nachvollzüge beim Musikhören tatsächlich Handlungen sind (wie im Falle des Tanzens) oder Tätigkeiten imaginieren, und wenn Handlungen oder Tätigkeiten körperliche und psychische Voraussetzungen haben — etwa in Form spezifischer Spannungszustände oder Aufmerksamkeitsmuster —, dann scheint mir das Beispiel des Fahrradboten gut geeignet zu sein, um verständlich zu machen, wie Verstehensherausforderungen, die von (Pop-)Musik ausgehen,21 auf die Strukturierung unserer Körperbewegung (Hexis) und auf unsere Einstellung der Welt gegenüber (Habitus) Einfluss nehmen können. Wenn uns Musik vor die Aufgabe stellt, ihre Merkmale als Momente einer Einheit zu erfassen, und Körperbewegungen nicht zuletzt aufgrund der Bewegungskategorien, die für Musik grundlegend sind, privilegierte Nachvollzugsmodelle darstellen, dann ist klar, dass Musik vermöge der Nachvollzugsmodelle, die sie uns nahelegt, Einfluss darauf nimmt, wie wir unsere Aufmerksamkeit organisieren, welche Körperspannungen wir bereitstellen, um die Nachvollzüge zu realisieren, und wie wir uns halten. In diesem Sinne stellt ein Drum and Bass-Track mit 162 bpm wie Goldies »Kemistry« eine Herausforderung für unsere Nachvollzugskompetenzen dar, die der Herausforderung verwandter ist, welche vom Zeitdruck und der Komplexität des innerstädtischen Verkehrs für die Navigationskompetenzen des Radkuriers ausgeht, als die Herausforderung, die von einem Ambientstück wie dem oben erwähnten »Kobresia« von Biosphere ausgeht.
21 Herausforderungen vermag Roger Scruton im Fall der Pop-Musik nicht zu sehen, unter anderem, weil er nicht verstanden hat, dass beispielsweise Sound genauso ein essentieller Parameter von Pop-Musik ist, wie agogische Nuancierungen, die partiell gerade auf den regelmäßigen Beat angewiesen sind, den Scruton nur als Verfallssyndrom deuten kann. Der Vorwurf der Formlosigkeit, der immer wieder in Stellung gebracht wird, um sein negatives Diktum über Pop-Musik zu begründen, kann genauso gut als Ausdruck der Unfähigkeit verstanden werden, relevante Aspekte von Pop-Musik als Aspekte einer spezifischen musikalischen Einheit zu hören; vgl. Scruton (1997: 496-502).
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Wenn man eine Antwort auf die Herausforderung des Musikstücks findet und der Nachvollzug darüber hinaus lustvoll ist, dann organisiert man die eigene Wahrnehmungs- und Strukturierungsfähigkeit auf eine Weise, die nicht ohne Einfluss darauf bleiben kann, wie man den innerstädtischen Verkehr oder allgemeiner die Bedingungen wahrnimmt, unter denen man lebt. Das aber läuft darauf hinaus, der Lebenswelt als eine anders beschaffene Person gegenüberzustehen. Genki78 hatte die Faszination, die von »Melt« ausging, wenig erhellend auf den großartigen Sound zurückgeführt, ohne zu erläutern, was daran faszinierend war. Fizmaster hingegen verleiht seiner/ihrer Begeisterung für Leftism großformatig und gewissermaßen im Geiste Hegels Ausdruck: »This album is a true celebration of what it is to be alive and human in the late 20th century«22 Wenn die vorangegangene Analyse des Verhältnisses zwischen Nachvollzügen und Haltungen nicht fehlgeht,23 dürfen wir Fizmasters Lob in folgendem Sinne deuten: Leftism ist ein Album, dessen Rezeption als Einheit einer Aufmerksamkeitsorganisation bedarf, die der verwandt ist, vermittels derer sich menschliche Wesen im ausgehenden 20sten Jahrhundert orientieren (können). Darüber hinaus regt seine fast durchgängig tanzbare rhythmische Strukturierung Nachvollzüge an, die lustvoll erfahren werden können. Wenn Fizmasters Diktum etwas Zutreffendes sagt, müssen wir zudem unterstellen, dass das ausgehende Jahrhundert aus der Perspektive der Erfahrung durch Merkmale geprägt ist, die denen der Musik ähneln. Leftism ist nun nicht einfach ein Progressive House-Album, sondern umfasst eine große Bandbreite von Einflüssen, insbesondere aus Tribal, Dub, Reggae, HipHop, Trance und Jungle. Aufgrund dieser unterschiedlichen Einflüsse stellt sich die Frage nach einem inneren Zusammenhang des Albums,24 wie sich die Frage nach dem Zusammenhang einer Welt stellt, in der Stammesgesellschaften und solche auf dem Weg zur postindustriellen Gesellschaft koexistieren, und es scheint, als würde der Zusammenhang des Albums über die musikalisch heterogenen
22 www.discogs.com/Leftfield-Leftism/master/66073, Zugriff: 10.4.2017. 23 Die Idee, Haltungen im Rekurs auf Nachvollzüge zu erläutern, geht auf Vogel (2007) zurück. Im Gegensatz zur Pose, die in Diederichsens Überlegungen eine zentrale Rolle spielt, ist eine Haltung weder etwas, das intentional markiert oder demonstrativ in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt wird, noch etwas, das gewohnheitsmäßig im Verdacht steht, nur vorgeblich zu sein. 24 Dass sich die Musiker mit diesem Problem auseinandergesetzt haben, machen die Zitate im Abschnitt »Produktion« auf https://en.wikipedia.org/wiki/Leftism_ (album) deutlich (Zugriff: 10.4.2017).
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MATTHIAS VOGEL Aspekte und Stile mittels des Tanzes gestiftet, also über eine nachvollziehende Bewegungsform, die Lebendigkeit feiert.25 Den Ausgangspunkt meiner Überlegung bildete der Verdacht, dass weder das quasi-pharmakologische Wissen, das Hörer hinsichtlich ihrer Selbstregulation im Umgang mit Musik erwerben, noch kontingente, mit Musik verknüpfte Erinnerungen verständlich machen können, warum Musik ein Medium ist, das eine wichtige Rolle im Kontext von Prozessen des Selbstverstehens spielen kann. Diese Rolle können wir vielmehr nur dann verstehen, wenn wir PopMusik als einen Gegenstand des Verstehens betrachten. Weil dieses Verstehen nicht als das Erfassen einer angebbaren Bedeutung erläutert werden kann, sondern als Nachvollzug, und Nachvollziehen, ein kreativer Prozess ist, in dem wir unser Erfahren und damit einen wesentlichen Aspekt unserer Person experimentell (re-)strukturieren, tragen Nachvollzüge nicht nur etwas zur Strukturierung ihrer Gegenstände, sondern auch zur Strukturierung ihrer Subjekte bei. Ein Mensch, dem es gelungen ist, anlässlich von Musik geeignete Nachvollzugsmodelle zu entwickeln — Modelle, die es ihm erlauben, die Einheit oder den Zusammenhang dieser Musik zu erfahren —, ist eine andere Person als der Mensch, der diese Nachvollzugsmodelle noch nicht entwickelt hat oder noch nicht entwickeln konnte. Er ist eine Person, der andere Mittel der Strukturierung der Wirklichkeit zur Verfügung stehen und die andere Haltungen der Wirklichkeit gegenüber einzunehmen vermag. Da Musik zudem ein Medium ist, das wesentlich durch Kategorien der Bewegung bestimmt ist, sodass strukturierende Nachvollzüge von Musik (reale oder imaginierte) Bewegungen und Haltungen des eigenen Körpers hervorbringen, scheint sie für Prozesse des Selbstverstehens besonders geeignet zu sein, insofern wir in diesen Nachvollzügen probehalber Körperbilder, Haltungen und Einstellungen
25 Mir ist wichtig zu betonen, dass der Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen und musikalischen Strukturen, der hier ins Auge gefasst wird, deutlich vermittelter ist, als etwa in Ernst Blochs kruder Parallelisierung zwischen sozialen Schichten und musikalischen Stimmen: »Dem beginnenden Unternehmertum entsprechen die Herrschaft der melodieführenden Oberstimme und die Beweglichkeit der übrigen ebenso, wie der cantus firmus in der Mitte und die gestufte Vielstimmigkeit der ständischen Gesellschaft entsprochen haben« (Bloch 1977: 1249). Die Ähnlichkeit, die meine obige Analyse in Anspruch nimmt, ist eine zwischen Erfahrungen, die Personen mit musikalischen und sozialen Strukturen machen, und keine zwischen (intrinsischen) Eigenschaften musikalischer und sozialer Entitäten. Dabei ist die Möglichkeit einer wechselseitigen Strukturierung des Erfahrens, anders als in Blochs Vulgärmaterialismus nicht ausgeschlossen; vgl. dazu auch Kim (2013).
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MUSIC THAT CHANGED MY L IFE. POP-MUSIK UND SELBSTVERSTÄNDNIS
einnehmen, die wir darauf prüfen, ob sie (auch im Kontext der sozialen Situierung) zu uns passen.26 Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wird im Versuch, Pop-Musik nachvollziehend zu verstehen, nicht nur thematisch, was das Spezifische der jeweiligen Musik ausmacht, sondern was uns ausmacht. Pop-Musik stellt uns Fragen des Typs: Will ich einer sein, der sich so und so bewegt? Der sich so hält oder in Szene setzt? Der solche Posen oder Haltungen oder ein bestimmtes, durch diese Haltung vermitteltes Verhältnis zur Welt einnimmt? Kurzum: Will ich eine Person sein, die sich zurechnen will, was ihr das Verstehen dieser Musik erlaubt? Der Pop-Musik-Komplex reichert diese Hinsichten durch eine Vielzahl von Aspekten wie Songtexte, Videos, Mode oder Stars an (Diederichsen 2014: XI), davon aber scheint mir die Fähigkeit der Pop-Musik, solche Fragen aufzuwerfen, nicht abzuhängen.27
Literatur Adorno, Theodor W. (1978 [1956]). »Fragment über Musik und Sprache.« In: Gesammelte Schriften Bd. 16: Musikalische Schriften I-III. Hg. v. R. Tiedemann. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 251-256. Becker, Alexander (2007). »Wie erfahren wir Musik?« In: Musikalischer Sinn. Beiträge zu einer Philosophie der Musik. Hg. v. Alexander Becker u. Matthias Vogel. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 265-313. Bloch, Ernst (1977 [1959]). Das Prinzip Hoffnung Bd. 3, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Bourdieu, Pierre (1982 [1979]). Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt/M.: Suhrkamp. DeNora, Tia (1999). »Music as a Technology of the Self.« In: Poetics 27, S. 31-56. Diederichsen, Diedrich (2014). Über Popmusik, Köln: Kiepenheuer & Witsch. Bob Dylan (2017). »Nobel Lecture«, http://www.nobelprize.org/nobel_prizes/liter ature/laureates/2016/dylan-lecture.html, Zugriff: 10.4.2017. Hanslick, Eduard (1989 [1854]). Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik der Tonkunst, Wiesbaden: Breitkopf & Härtel. Huron, David (2001). »Is Music an Evolutionary Adaptation?« In: Annals of the New York Academy of Sciences 930, S. 43-61. 26 Auch der partiell scheiternde Versuch, Musik nachvollziehen, die sich wie beispielsweise der K-Pop südkoreanischer idol groups die Automatismen des Perzeptions-Aktions-Systems (PAS) zunutze macht, das zu unserer Fähigkeit zum vokalen Nachahmen beiträgt, kann noch als Entwicklung einer Haltung verstanden werden — einer Haltung, die sich in der Bewunderung von Stars niederschlägt, deren »prothetisch-superioristische« Stimmlichkeit mit einer transhumanen Perfektion spielt, die jenseits der Nachvollziehbarkeit vermittels eines bloß menschlichen Körpers liegt; vgl. dazu Meier (2014) sowie als Beispiel solcher Musik »Can't Nobody M/V« von 2NE1, www.youtube.com/watch? v=Ihi_kJJj_8A, Zugriff: 10.4.2017 27 Für kritische Hinweise danke ich Norman Hammel, Anna Mense, Laura Schneider und Ralf von Appen.
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MATTHIAS VOGEL Kim, Jin Hyun (2013). »Shaping and Co-Shaping Forms of Vitality in Music: Beyond Cognitivist and Emotivist Approaches to Musical Expressiveness.« In: Empirical Musicology Review 8 (3-4), S. 162-173. Meier, Niklas (2014). Warum werde ich ständig kurzatmig? Stimmakustische Semiotik in Produktionen südkoreanischer Idol Groups.« Unveröff. MA-Thesis, Institut für Musikwissenschaft Universität Leipzig. Plessner, Helmuth (1982 [1951]). »Zur Anthropologie der Musik.« In: Gesammelte Schriften Bd. 7. Hg. v. Günther Dux, Odo Marquard u. Elisabeth Ströker, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1982, S. 184-200. Reuter, Gerson (2015). »Die Rolle der Vorstellungskraft für unsere Musikwahrnehmung: das Phänomen des Hören-als.« In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 63(4), S. 625-643. Scruton, Roger (1997). The Aesthetics of Music. Oxford: Oxford University Press. Thompson, Michael (2008). Leben und Handeln. Grundstrukturen der Praxis und des praktischen Denkens. Berlin: Suhrkamp. Trevarthen, Colwyn (2000). »Musicality and the Intrinsic Motive Pulse: Evidence from Human Psychobiology and Infant Communication.« In: Musicae Scientiae 3, S. 155215. Vogel, Matthias (2007). »Nachvollzug und die Erfahrung musikalischen Sinns.« In: Musikalischer Sinn. Beiträge zu einer Philosophie der Musik. Hg. v. Alexander Becker u. Matthias Vogel. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 314-368. Vogel, Matthias (2013). »Ästhetisches Erfahren — ein Phantom?« In: Kunst und Erfahrung. Beiträge zu einer philosophischen Kontroverse. Hg. v. Stefan Deines, Jasper Liptow u. Martin Seel, Berlin: Suhrkamp, S. 91-119. Vogel, Matthias (2018). »Musik und Geste — Wahlverwandtschaft oder zufällige Liaison?« In: Geste und Musik. Theorien, Ansätze, Perspektiven. Hg. v. Katrin Eggers und Christian Grüny. Paderborn: Wilhelm Fink, S. 51-70. Zwinggi, Stefan (2016). Musik als affektive Selbstverständigung. Eine integrative Untersuchung über musikalische Expressivität. Freiburg u. München: Karl Alber.
Abstract It is perfectly legitimate to ask why we listen to music. While the answer »for its own sake« is at best a riddle, the reference to mere (pleasurable) effects is not specific enough. My claim is that an informative answer to this question has to take into account the fact that music is something we can understand. To make this claim plausible, I initially look at narratives in which people report that listening to pieces of (instrumental) pop music has changed their lives. Since material living conditions may not have been affected by these changes, we can assume that they have taken place in dimensions that play a role for the listeners' self-image. Against the background of a theory of understanding music in terms of re-enactment, I then try to make intelligible why pop music in particular is something we can value as a powerful medium for the development and transformation of self-images.
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ZUM
A U DI T I V E E V I DE N Z . S I N NL I C H E N V E RS T E H E N I N
DER
M US I K
D ir k S te de r o t h »Manches, was ich schreibe, verstehe ich ja selber nicht« (Karlheinz Stockhausen in Adorno/Stockhausen 1960: ab 15:18). Das Zitat Stockhausens aus einem Radiogespräch mit Theodor W. Adorno aus dem Jahre 1960 enthält scheinbar eine Paradoxie, die mit dem Verstehen nicht nur von Neuer Musik im engsten Zusammenhang steht. Es ist der scheinbar paradoxe Sachverhalt, dass sich im Felde der Neuen Musik Kompositionen finden, die nicht nur dem Verstehen des Hörers sich entziehen, sondern dem des Komponisten in gleicher Weise, wobei beide (und letzterer insbesondere) nicht davon ausgehen, dass hier ein völlig Irrationales, Willkürliches oder Zufälliges die Komposition geleitet hat. Das Paradoxe dieser Aussage setzt sich dann darin fort, dass es entsprechend im Felde der Neuen Musik möglich ist zu komponieren, ohne vom Verstand im engeren Sinne geleitet zu sein und mithin der Kompositionsprozess von einer Sinnhaftigkeit geleitet wird, die eben gerade nicht in einem Verstehen aufgeht, sondern von einer anderen Beschaffenheit ist, ohne jedoch die sinnhafte Sicherheit zu verlieren, die sonst nur durch den regelgeleiteten musikalischen Verstand gewährleistet wird. Entsprechend konstatiert Stockhausen im weiteren Verlauf des Gesprächs, es »gäbe auch eine Art von Verstehen, die sich unter Umständen darin äußert, dass der Mann sagt: ›Ich habe nichts verstanden von dem, was sie da gesagt haben‹. Damit meine ich, dass etwas ins Unterbewusstsein geht und dort arbeitet. Das kann sowohl gefährlich sein, als sich irgendwann für den Mann als sehr nützlich erweisen — Sie wissen, wenn man heute über die Straße geht, wird man von Litfaßsäulen viel mehr beeinflusst, ohne dass man überhaupt weiß, dass man sie gesehen hat, und irgendwann tut man etwas, kauft irgendetwas, und legt sich gar keine Rechenschaft darüber ab, wieso. Aber in einem sehr viel differenzierteren Bereich passiert das ja auch: Wenn ich einer
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DIRK STEDEROTH Musik ausgesetzt bin, da gibt es ein — es klingt ganz paradox — ein unterbewusstes Verstehen« (Stockhausen, ebd.: ab 25:32). Stockhausens Hinweis auf ein »unterbewusstes Verstehen«, das von ganz anderer Art ist als das musikalische Verstehen, das sich an musikalischen Regeln und der Form ihrer Anwendung in Kompositionen orientiert, löst somit die scheinbare Paradoxie auf, die in dem Eingangszitat zu liegen schien, insofern nun zwei differente Begriffe des Verstehens vorliegen, wobei derjenige, der im Zitat gebraucht wurde, das regelhafte, bewusste Verstehen betrifft, wohingegen das geschriebene Werk, dem dieses Verstehen verwehrt bleibt, von einer anderen, »unterbewussten« Form des Verstehens geleitet wurde und entsprechend — wenn überhaupt — auch nur einem solchen Verstehen zugänglich ist. Es sei dahingestellt, ob der Begriff des »Unterbewussten« sowie der erläuternde Hinweis auf Priming-Phänomene aus dem Bereich der Werbung hier wirklich den Wink in die richtige Richtung geben, um das Phänomen einer Form des Verstehens jenseits des gewöhnlichen, regelgeleiteten zu illustrieren — auf das Phänomen selbst hingewiesen zu haben, ist Anlass genug, Stockhausen hier zu Wort kommen zu lassen, will sich der folgende Text doch genau diesem Phänomen stellen. Hierbei wird zunächst ganz allgemein aus rezeptionsästhetischer wie produktionsästhetischer Perspektive ein Begriff »auditiver Evidenz« herausgearbeitet, dessen spezifisch popmusikalischen Ausprägungen dann im Anschluss thematisiert werden. Interessanterweise greift Hans Heinrich Eggebrecht (1995) 35 Jahre nach Stockhausens Gespräch mit Adorno diesen Faden in seinem Buch Musik verstehen wieder auf, wenn er für die Musik-Rezeption zwei Weisen des musikalischen Verstehens unterscheidet: das erkennende und das ästhetische Verstehen. Während er unter »erkennendem Verstehen« die Form eines regelgeleiteten, begrifflichen und sprachlich formulierbaren Verstehens begreift, das die in den musikalischen Regeln festgesetzten Sinnformen bewusst zum Ausdruck zu bringen bestrebt ist, sei das »ästhetische Verstehen« »in seiner reinen Form das im Bereich des Sinnlichen sich abspielende begriffslose Verstehen des in der musikalischen Formung begriffslos objektivierten Sinns der Musik« (ebd.: 35). Dieses Verstehen sei zwar begriffslos und vollziehe sich im Sinnlichen, jedoch folge diesem im Ausgang von dem sinninhärierenden musikalischen Objekt gleichermaßen »adäquates, dem Sinn der Musik angemessenes« (ebd.: 42). Verstehen, insofern in jede tonale Komposition ein »präkompositorisches musikalisches Normen- und Regelsystem« (ebd.: 83) eingegangen sei, das dem Rezipienten in seiner von diesem System geprägten ästhetischen Erfahrung gleichsam aufscheint. Das tonale musikalische Objekt bzw. die tonale Komposition ist also selbst von
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AUDITIVE EVIDENZ. ZUM SINNLICHEN VERSTEHEN IN DER MUSIK den musikalischen Regeln und Normen solchermaßen durchzogen, dass die sinnliche Erfahrung des von diesen Regeln geprägten Rezipienten ein adäquates Vernehmen des musikalischen Sinns möglich wird, ohne dass dieses Vernehmen bereits bewusste, begrifflich eingeholte und sprachlich ausdrückbare Formen annehmen muss. Aber nicht nur das allgemeine System von Normen und Regeln wird dabei als musikalischer Sinn erfasst, sondern zugleich die für das einzelne Werk spezifische Ausformung und Ausführung dieser Regeln sowie auch die jeweilige Bestimmung von besonderen, nur für dieses Werk einschlägigen Spielregeln: »In dem vorkompositorisch existenten und kompositorisch präsentierten Netz des musikalisch Geltenden spielt die Musik ihr Spiel, indem sie das System zur einmaligen Gestalt konkretisiert und individualisiert und dabei auf der Basis des in ihr erscheinenden Regelsystems auch je eigene Spielregeln aufstellen und durchführen kann, die als Definitionsprozesse ad hoc zu verstehen geben und verstanden werden können« (ebd.: 84). Insofern ist für Eggebrecht im Rahmen des tonalen Systems auch ein adäquates Verstehen des allgemeinen und individuellen Sinns eines musikalischen Werkes auf der Ebene des rein Sinnlichen möglich. Problematisch wird dieses Modell eines ästhetischen Verstehens jedoch bei der Neuen Musik, die im Verlauf des 20. Jahrhunderts dem »Netz des musikalisch Geltenden« eine gründliche Absage erteilt hat, insofern es mit den klassischen tonalen Regeln und Normen bricht und sich von einem tonalen Regelsystem befreit. Auch wenn diese Befreiung zumindest in der Zweiten Wiener Schule für Eggebrecht nicht vollständig ist, sondern Restbestände des alten Systems weiter tradiert (vgl. ebd.: 88-95), tritt für ihn mit der atonalen Musik eine neue Komponente in das ästhetische Verstehen hinzu, die er in Bezug auf das tonale System von diesem Verstehen differenzierte: der Emotionsgehalt. Aufgrund der subjektiv sich sehr unterschiedlich gestaltenden Reaktionen auf musikalische Werke sei der Emotionsgehalt auch in doppelter Hinsicht von dem ästhetischen Verstehen zu unterscheiden, insofern die Emotionen einmal vom Subjekt und nicht, wie beim ästhetischen Verstehen, vom Objekt ausgingen, und zudem bei den emotionalen Gehalten keine dem ästhetischen Verstehen vergleichbare Adäquation stattfinde, da das sinnliche Subjekt in Bezug auf Emotionen direkt auf sich selbst und eben nicht wie das ästhetische Verstehen auf adäquates Erfassen eines objektivierten Sinns gerichtet sei (vgl. edd.: 72ff.). Im ästhetischen Erfahren der Neuen Musik nun wird für Eggebrecht diese Differenz überwunden, weil für die Neue Musik eine Einheit von Form und
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DIRK STEDEROTH Expression einschlägig sei, die auch eine »neue Art des Hörens und Verstehens« (ebd.: 93) erfordere. Bei dieser neuen Art von Verstehen »sind nun der Formsinn und die Expressionsbedeutung gleichsam miteinander kurzgeschlossen und untrennbar geworden. Der Sinn des Sinns ist es, nicht Formung zu sein, die etwas bedeutet, sondern Bedeutung direkt. Und wenn demnach das ästhetische Verstehen die Expression empfindet, versteht es den Sinn dieser Form, dessen Sinn es ist, Expression zu sein« (ebd.: 95). Vor diesem Hintergrund lassen sich also mit Eggebrecht zwei unterschiedliche Formen ästhetischen Verstehens differenzieren, wobei die eine Form im Felde der tonalen Musik verortet ist und sich durch ein sinnliches Erfassen der im Objekt aufscheinenden allgemeinen und individuellen Formgehalte auszeichnet, während es sich von den subjektiven Emotionsgehalten getrennt zeigt. Die andere Form, die mit der atonalen Musik einhergeht, trennt sich nicht nur mit dieser von dem tonalen Regelsystem, sondern verwickelt sich zugleich mit den emotionalen subjekthaften Gehalten, da die Formgehalte der atonalen Musik zugleich als Expressionsgehalte zu sehen sind. Mit diesem Ansatz differenziert Eggebrecht den eingangs geschilderten Anstoß Stockhausens in mehrfacher Hinsicht. Ebenso wie Stockhausen in seiner Rede vom »unterbewussten Verstehen« sowie in seinem Priming-Beispiel geht Eggebrecht von einer nicht-bewussten Prägung aus, die im Rezipienten ein unmittelbar sinnliches, ästhetisches Verstehen ermöglicht, jedoch differenziert er es weiter in ein tonales und atonales ästhetisches Verstehen aus. Weiterhin wird von Eggebrecht durch diese Differenzierung der Grad an Subjektivität und Objektivität eines solchen Verstehens weiter auseinandergelegt, insofern sich für ihn das atonale ästhetische Verstehen gegenüber dem tonalen durch eine stärkere Verwicklung mit dem Rezeptionssubjekt wie auch vermittelt über den »Ausdruckswille[n] des Komponisten« (ebd.: 92) mit dem Produktionssubjekt auszeichnet. Letzteres kommt in Eggebrechts Ansatz leider etwas kurz, geht es ihm doch grundsätzlich zunächst um rezeptionsästhetische Aspekte, wobei in Stockhausens Anstoß, wie das Eingangszitat andeutet, sowohl Rezeptions- als auch Produktionsästhetik im Fokus stand. Ein jüngerer ästhetischer Ansatz, der die Produzentenperspektive stärker in den Blick bringt, wird von Judith Siegmund (2007) in ihrer Schrift Die Evidenz der Kunst vertreten. Selbst als bildende Künstlerin tätig, stellt sie die Produzentenperspektive in den Mittelpunkt der Analyse, die jedoch so allgemein gehalten ist, dass sie weitgehend problemlos auf die Sphäre der Musik übertragen werden kann. Für sie steht das Kunstwerk in der Mitte
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AUDITIVE EVIDENZ. ZUM SINNLICHEN VERSTEHEN IN DER MUSIK zwischen dem Produzenten und dem Rezipienten, die jeweils eine unterschiedliche Erfahrungsform dem Kunstwerk gegenüber aufweisen. Die Produzentenperspektive beschreibt sie dabei folgendermaßen: »In gewisser Hinsicht steht die Künstlerin vor dem Nichts, wenn sie beginnt. Sie geht mit biografischer und gesellschaftlicher Erfahrung um, sie arbeitet in einem vorgegebenen Kontext; aber das Material, in das ihre Erfahrungen transformatorisch hineingearbeitet werden, auch wenn es als ein erschlossenes, als interpretiertes Material vorliegt, wird gerade nicht als eine Gegebenheit von der Künstlerin erlebt, sondern als etwas, das es zu verändern, mindestens zu nutzen gilt, bzw. als etwas, das sich im Prozess verändert. Das bedeutet, dass Künstler ein anderes Verhältnis zum eigenen Werk vor und während seiner Entstehung haben als Rezipienten zum Kunstwerk in der Rezeption« (ebd.: 17). Das Spezifische der Produzentenperspektive bzw. des Verhältnisses des Künstlers zu seinem herzustellenden Werk ist somit, dass er ein wie auch immer beschaffenes Material vor sich hat, das er allererst durch seinen individuellen Erfahrungskontext, sei's bewusst oder nicht-bewusst, zu modeln hat und in dieser Weise in das Material etwas bzw. sich einbildet, das dem Rezipienten dann als ein »implizites Versprechen« im Kunstwerk entgegentritt: »Das implizite ›Versprechen‹ an die Rezipienten, dass sie im Werk auf fremde Erfahrung treffen können, ist das Fundament dafür, dass Kunstwerke mehr vermögen, als uns lediglich an unsere eigenen Erfahrungen zu erinnern. Die rezeptionsästhetische Erfahrung von Alterität ereignet sich als Begegnung mit einem bestimmten Anderen« (ebd.: 18, Herv. i. Orig.) Jenes »Versprechen« kann aber nur eingelöst werden, wenn der Künstler seine Erfahrungen nicht direkt, gleichsam als rein Subjektives in das Kunstwerk einbringt, sondern sie so im Material objektiviert, dass sie einem Rezipienten am Kunstwerk vernehmbar wird. Der Künstler modelt Siegmund zufolge seine eigene Erfahrung also solchermaßen in das Material ein, dass sie als Sinn in dem sinnlichen Material aufgehoben ist und sich dem Rezipienten als solcher Sinn präsentiert, wodurch sich bei diesem eigene Erfahrungsgehalte aktualisieren, jedoch diese zugleich in eine Reibung mit dem im Kunstwerk selbst eingeschriebenen Sinn geraten können. Dieses im Sinnlichen des Kunstwerks durch den Künstler eingearbeitete und somit in jenem aufbewahrte Widerständige ist dann das, was Siegmund als die Evidenz des Kunstwerks versteht, wobei zugleich das Kunstwerk selbst wie auch das, was durch es erfahren werden kann, als evident bezeichnet wird (vgl. ebd.: 127).
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DIRK STEDEROTH Bezieht man diesen Ansatz nun spezifischer auf den Bereich musikalischer Werke und knüpft an das an, was oben am Ansatz von Eggebrecht herausgearbeitet wurde, so steht ein Begriff im Horizont, den man in Anlehnung an Gottfried Boehms (2008) Begriff der ikonischen Evidenz als auditive Evidenz bezeichnen könnte. Um diesen Begriff mit dem bisher Ausgeführten etwas zu konturieren, sei zunächst danach gefragt, wie sich Siegmunds Evidenzbegriff im spezifisch musikalischen Feld konkretisieren lässt. Demgemäß wäre es der Anspruch des Komponisten, das musikalische Material, das in seiner Beschaffenheit vorliegt, als ein solches zu sehen, in das seine individuelle Erfahrung, kurz: seine Individualität, solchermaßen eingearbeitet wird, dass sie dem Rezipienten als solche erscheinen und er die individuellen Gehalte in der bearbeiteten Form vernehmen kann. Ist dies bei einem musikalischen Werk der Fall, dann kann es nach Siegmund als evident und Evidenzerfahrungen hervorbringendes Werk gelten. Auditive Evidenz läge demnach — ganz allgemein formuliert — dann vor, wenn ein Werk über die formale Beschaffenheit seines Materials hinaus individuelle Gehalte, die der Komponist in es eingearbeitet hat, für einen Rezipienten zum Ausdruck bringen kann. In dieser Allgemeinheit scheint diese Bestimmung wenig mehr auszusagen als das, was Eggebrecht über die individuelle Ausgestaltung des Normen- und Regelsystems in einer tonalen Komposition ausgeführt hat (s.o.). Zweierlei unterscheidet sie jedoch von Eggebrechts Ansatz. Das ist einmal die Reflexion der Produzentenperspektive und zudem, dass hier nicht zwischen einem, wie man sagen könnte, tonalen und einem emotionalen Ausdruck unterschieden wird. Sie sei deshalb vor diesem Hintergrund nochmals in den Blick genommen. Eggebrecht unterscheidet das ästhetische Verstehen und die emotionale Erfahrung beim Rezipienten ja insbesondere dahingehend, dass dem ästhetischen Verstehen eine Objektivität im Sinne einer Adäquation zukommt, und zwar deshalb, weil im Hörer aufgrund seiner Bekanntschaft mit dem Normen- und Regelsystem der tonalen Musik ein adäquates Erfassen der Form und ihrer individualisierten Ausgestaltung auch im Bereich des Sinnlichen möglich wird. Dagegen sei die emotionale Erfahrung des Rezipienten immer an dessen Subjektivität gebunden und weise entsprechend keine vergleichbare Adäquation auf. Diese saubere Trennung wird jedoch durch die Reflexion der Produzentenperspektive problematisch, scheint Eggebrecht doch davon auszugehen, der Produzent habe im tonalen System die Möglichkeit, seine individuellen Erfahrungen gleichsam verlustfrei in das gegebene Material einzubinden. Nach Siegmund liegt in dieser Einbindung aber bereits eine Reibung zwischen der individuellen Erfahrung des Produzenten und dem Anspruch, diese am Material in eine objektivierte
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AUDITIVE EVIDENZ. ZUM SINNLICHEN VERSTEHEN IN DER MUSIK Form zu bringen. Die gleiche Spannung findet sich dann aber auch auf der Rezipientenseite wieder, insofern das evidente Werk neben individuellen Erfahrungen auch Reibungspunkte gegenüber diesen hervorbringt. Auf beiden Seiten also liegt demnach vielmehr eine Spannung zwischen Subjektivem und Objektivem vor, die sich beim Produzenten als Widerständigkeit des Materials und beim Rezipienten als Widerständigkeit des Werks gegenüber den jeweiligen subjektiven Erfahrungen zeigt. Und die gleiche Spannung findet sich entsprechend auch im Werk wieder, weil es als Objekt zugleich etwas in sich trägt, das Ausdruck von und Ausdruck für Subjektivität ist. Vor diesem Hintergrund erscheint dann auch die Trennung, die Eggebrecht zwischen der tonalen und der atonalen Musik hinsichtlich des musikalischen Verstehens vornimmt, in einem neuen Licht. Die Engführung von ästhetischer Erfahrung und Erfahrung von Emotionalität bzw. von Formsinn und Expressivität des Werks, die Eggebrecht für die atonale Musik herausarbeitet, läge somit bereits in der tonalen Musik vor, insofern auch der tonale Komponist in einer Spannung zwischen Subjektivität und Objektivität steht, die gleiches auch beim Rezipienten, wenn auch in anderer Weise aufscheinen lässt. Der Unterschied zwischen tonaler und atonaler Musik läge damit also lediglich in der Unterschiedlichkeit der Beschaffenheit des Materials und der unterschiedlichen Bekanntschaft mit dieser Beschaffenheit beim Rezipienten. Dass diese fehlende Bekanntschaft mit dem Material auch beim atonalen Komponisten ein Verstehen seines Werks behindern kann, was wiederum auf das Eingangszitat von Stockhausen zurückverweist, zeigt das Beispiel Arnold Schönbergs, von dem Adorno in dem Gespräch mit Stockhausen erzählt: dass ihm nämlich eines seiner Werke bis in das späte Alter hinein verschlossen geblieben sei, wobei Adorno darauf verweist, dass es auf der Basis der Bekanntschaft mit dem Material im Jahre 1960 durchaus als verständlich gelten könne.1 Dieses Beispiel verweist darauf, dass mit der fortschreitenden Bekanntschaft mit dem Material nicht nur der Grad an Verständnis beim Rezipienten steigt, sondern ebenfalls der Grad des Verständnisses des Komponisten seinem eigenen Werk gegenüber. Adorno geht in 1
»Es wird Sie vielleicht interessieren, Herr Stockhausen, dass diese Äußerung [das Eingangszitat — D.S.], die nun sicherlich die meisten unserer Zuhörer schockieren wird, während sie mir gerade eigentlich [als] etwas außerordentlich Fruchtbares erscheint, dass eine Äußerung ganz analogen Sinnes mir erinnerlich ist von Schönberg, der mir vor zwanzig Jahren einmal in Los Angeles von einem Stück gesagt hat, nämlich von seinem Bläserquintett, er verstehe es selber noch nicht. Nun unterdessen, das ist auch glaube ich interessant, ist gerade dieses Stück für uns verhältnismäßig leicht verständlich geworden und er würde es ohne Frage heute auch verstehen« (Adorno, in: Adorno/Stockhausen 1960: ab 15:23).
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DIRK STEDEROTH dieser Passage aber noch weiter, indem er in diesen Augenblicken des Nicht-Verstehens des Komponisten seinem eigenen Werk gegenüber gerade die produktiven Momente des Werks sieht, die ein Neues zum Ausdruck brächten, das dem Komponisten selber eben noch nicht bekannt war.2 Ohne diesen interessanten Aspekt des musikalisch Neuen hier nun weiter verfolgen zu können, zeigt sich in diesem Aspekt, dass der Materialfortschritt selbst dazu auffordert, dass der Komponist sich in die Spannung zwischen seinen individuellen Erfahrungen, oder — wie Eggebrecht es sagt — seinem Ausdruckswillen und der Notwendigkeit einer Objektivierung im Material begeben muss, wobei noch der zusätzliche Aspekt ins Spiel kommt, dass sich auf diesem Wege auch Erfahrungen des Komponisten in das Werk einspielen, die von ihm selbst als unbewusste Erfahrungen gar nicht als Einbringungen in das Werk intendiert waren. Dieser Aspekt setzt sich natürlich ebenfalls im Rezipienten fort, insofern auch eine Reibung oder Aktualisierungsanlässe des Werks in Bezug auf unbewussten Erfahrungsgehalte beim Rezipienten möglich sind, die auch dazu beitragen können, dass ihm ein Werk aus unverständlichen Gründen verschlossen bleibt oder gerade deshalb eben sehr entgegenkommt. Die von Adorno konstatierte Fremdheit des Werks gegenüber dem Komponisten, die sich angesichts einer noch mangelnden Vertrautheit mit der Beschaffenheit des Materials oder auch durch unbewusste Einspielungen auszeichnet, gilt zwar im Fortschritt der Beschaffenheit des Materials insbesondere für die Phasen, in denen größere Veränderungen in dieser zu verzeichnen sind (wie das bei Schönberg ja der Fall war), jedoch ist dies angesichts des Fortschreitens der Materialentwicklung nur graduell zu sehen, weshalb eine solche Fremdheit als ebenso grundsätzlich bezogen auf die Materialbeschaffenheit wie auch auf die Beteiligung unbewusster Erfahrungen auf den Kompositionsprozess beurteilt werden muss. Gleiches gilt dann vice versa, wenn auch in etwas anderer Form, für den Rezipienten. Somit lässt
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»Nun das zeigt, dass das, was Sie gesagt haben, nicht dieses Harmlose meint, dass etwa der sogenannte Augenblick der Inspiration irrational sei und dass man seiner selbst nicht mächtig ist, sondern dass hier schon das gemeint ist, dass die Werke selber gegenüber dem Autor eine Art von Selbstständigkeit, eine Art Eigengesetzlichkeit annehmen können, die es ihm verwehrt, sie in all seinen [ihren] Eigentümlichkeiten sofort und ganz mitzuvollziehen, dass also das Werk seinem eigenen Autor gegenüber auch in einem wirklich radikalen Sinn sich zu entfremden vermag und dass es durchaus möglich ist, dass gerade diese Augenblicke, in denen er am wenigsten das Werk selber versteht, die ihm also die fremdesten sind, dass das die eigentlich produktiven sind, nämlich die, in denen das Neue erscheint, das was er also hervorbringt, ohne dass er es selber bereits gewusst hätte« (Adorno, in: ebd.: ab 16:07).
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AUDITIVE EVIDENZ. ZUM SINNLICHEN VERSTEHEN IN DER MUSIK sich die von Eggebrecht dargelegte Trennung zwischen tonaler und atonaler Musk hinsichtlich des ästhetischen Verstehens nicht aufrechterhalten, womit die übergreifende Bestimmung der auditiven Evidenz, wie sie oben vorgenommen wurde, von dieser Seite her als gerechtfertigt bezeichnet werden kann.
*** Doch was bedeutet nun ein solcher Begriff der »Auditiven Evidenz« im Rahmen populärer Musik? Lassen sich hier besondere Merkmale gegenüber der Tradition der sog. Kunstmusik, die ja im bisherigen Verlauf dieses Textes im Vordergrund stand, herausstellen? Um diese Fragen in den Blick zu nehmen, sei zunächst darauf verwiesen, dass die bisherigen Erörterungen sich auf das klassische Modell eines musikalischen Werkes richteten, das von einem Komponisten in einer bestimmten Form festgehalten wird (Partitur oder Ähnliches), damit es dann von Musikern interpretiert einem Publikum präsentiert werden kann. Dieses Modell ist jedoch, wie Daniel Martin Feige darlegt, in Bezug auf den Jazz und hier insbesondere das Spielen von Jazz-Standards problematisch, da beim Standard-Jazz fast alle wesentlichen strukturalen Parameter in der konkreten Performance verhandelbar bleiben und insofern die Musik und ihre konkrete Struktur erst in der Realisierung entsteht (vgl. Feige 2014 sowie Feiges Beitrag in diesem Band). Feige hält daher auch für solche realisierungsorientierte Musik den Werkbegriff letztlich für obsolet bzw. erweitert ihn dahingehend, dass erst die Geschichte der Interpretationen das Werk vervollständige (ebd.: 84f.), worauf hier jedoch nicht näher eingegangen werden kann. Diesen Gedanken weiterführend hat der Autor des vorliegenden Textes an anderer Stelle (Stederoth 2017) ein grundsätzliches musikästhetisches Spannungsfeld zwischen strukturorientierter Musik, die sich auf festgeschriebene Werke bezieht, und realisierungsorientierter Musik, deren Entstehen an den konkreten Vollzug gebunden ist, dargelegt. Hierbei zählt der Autor zu den realisierungsorientierten Musiken neben dem Standard-Jazz und kunstmusikalischen Ansätzen, die ihre Ausgestaltung an die konkrete Realisierung durch die Musiker binden (beispielsweise Stockhausens Textkompositionen aus den 1960er Jahren), auch weite Teile der populären Musik, bei denen die vorgegebene und auf einem Leadsheet zusammenfassbare tonale, harmonische und rhythmische Struktur ebenso rudimentär ist wie etwa beim Standard-Jazz, auch wenn gegenüber diesem diese Strukturparameter in populärer Musik während der Performance weit weniger verhandelbar sind. Ohne das hier vertiefen zu wollen, wird es jedoch sinnvoll sein,
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DIRK STEDEROTH den oben erörterten Begriff der auditiven Evidenz auf die besondere Situation realisierungsorientierter Musik hin zu befragen. Da sich die Konsequenzen immer besser am Extrem ablesen lassen, soll entsprechend zunächst die Jazz-Performance als Beispiel dienen, um zu klären, was auditive Evidenz im Rahmen einer Performance bedeuten kann. In der Regel wird eine Standard-Jazz-Performance bekanntlich in einer Gruppe gespielt,3 wobei nach dem gemeinsamen Spiel des Themas (head) abwechselnd Soloimprovisationen folgen, bis das Stück mit dem erneuten gemeinsamen Spielen des Themas endet. Bei dieser Standardform der Standard-Jazz-Performance scheint es auf den ersten Blick so, als würde während einer Solo-Passage nur der Solist improvisieren und die restlichen Musiker lediglich eine standardisierte Begleitung spielen, jedoch ist dies keineswegs der Fall, insofern auch die jeweils begleitenden Musiker improvisierte bzw. spontane rhythmische Akzente, tonale Variationen und harmonische Umstellungen und Erweiterungen vornehmen. In einer StandardJazz-Performance sind somit alle Musiker an der aktualen und spontanen Entstehung, Formung und Ausgestaltung beteiligt, wobei die Lebendigkeit dieser Ausgestaltung davon abhängt, inwieweit die beteiligten Musiker offen sind für die von den jeweils anderen Musikern geäußerten spontanen Ideen, die es produktiv und kreativ in das interpersonale Spiel zurückzugeben gilt. Durch dieses rezeptive und kreativ-produktive Aufeinanderbezogensein entsteht zwischen den beteiligten Musikern eine Objektivität, die einem Organismus gleicht, in dem alle Organe in der ihnen eigenen Weise das Ganze am Leben erhalten. Jeder Musiker ist so Rezipient, Produzent und in einem gewissen Sinne Teil des »Werkes« selbst, das durch die Spontaneität aller Beteiligten aktual als ein dichtes Gewebe von Aktionen und Reaktionen, die jeweils aus objektiven materialen und subjektiv emotionalen Aspekten bestehen, entsteht. Bezieht man diese Situation auf den oben erörterten Begriff auditiver Evidenz, so lässt sich die Struktur, dass der Komponist seine subjektiven Erfahrungen in einem gegebenen Material verobjektiviert, zunächst auf alle beteiligten Musiker einer Jazz-Performance anwenden, denn alle sind im Aktual der Performance kompositorisch tätig und bringen ihre Subjektivität solchermaßen in das Material ein, dass sie für die jeweils anderen vernehmbar ist. Zugleich aber sind die Musiker in der Performance Rezipienten der spontanen Einwürfe der jeweils anderen Musiker, denen sie mit ihrer Subjektivität, sei's bestärkend, sei's mit Reibung, aktual begegnen. Aus diesem 3
Auf den seltenen Sonderfall einer Einzelperformance sei hier aus Platzgründen nicht näher eingegangen.
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AUDITIVE EVIDENZ. ZUM SINNLICHEN VERSTEHEN IN DER MUSIK produktiven Wechselspiel auditiver Evidenzen entsteht dann ein musikalisches Ganzes, dem ebenfalls auf einer höheren Ebene Evidenz zukommen kann, wobei diese davon abhängt, inwieweit die gemeinsame Bildung einer Objektivität aus dem Zusammenspiel der einzelnen Musiker glückt, weniger glückt oder gar misslingt. Auch diese auditive Evidenz zweiter Stufe, wie sie genannt werden könnte, kann von den einzelnen Musikern vernommen werden, jedoch zielt sie eigentlich auf das Publikum als Rezipienten. Zwar kann dieses auch seine Aufmerksamkeit auf das Wirken der einzelnen Musiker und damit auf die Evidenzen erster Stufe richten, jedoch liegt sein Hauptohrenmerk zumeist auf dem Vernehmen der Evidenz der Gesamtsituation, die sich in der Performance ereignet und die sich der individuellen Erfahrung des Publikums gegenüber aktualisierend oder widerständig oder beides zugleich zeigen kann. Dass natürlich auch hier alle dargelegten Bestandteile und Ebenen mit dem oben erörterten Aspekt des Unbewussten ergänzt werden müssten, versteht sich von selbst und braucht deshalb nicht eigens ausgeführt werden. Nun scheint auf den ersten Blick eine solche Jazz-Performance nicht weit von dem Ideal eines Kammerorchesters entfernt zu sein, wie es Adorno formuliert: »Der erste Schritt, Kammermusik richtig zu spielen, ist, zu lernen, nicht sich aufzuspielen, sondern zurückzutreten. Das Ganze konstituiert sich nicht durch die auftrumpfende Selbstbehauptung der einzelnen Stimmen — sie ergäbe ein barbarisches Chaos — sondern durch einschränkende Selbstreflexion. […] Große Kammermusikspieler, die im Geheimnis der Gattung sind, neigen dazu, so sehr auf den anderen zu hören, daß sie den eigenen Part nur markieren« (Adorno 1975: 109f.). Auch im Kammerorchester müssen sich die Musiker also solchermaßen aufeinander beziehen, dass sie ein gemeinsames Ganzes hervorbringen, weshalb die Frage im Raum steht, ob die Unterschiede zwischen einer strukturorientierten und einer realisierungsorientierten Perspektive sich nicht dann auflösen, wenn bei ersterer nicht nur der Komponist und der Rezipient, sondern zudem der Interpret mit in den Fokus rückt. Doch drängt sich sofort ein gewichtiger Unterschied zwischen den Musikern in einem Kammerorchester und denen in einer Jazz-Band auf, dass nämlich jene ihr Spiel an einer fest vorgegebenen Partitur orientieren, während diese keine solche Partitur vorliegen haben, sondern das Stück bis zu einem gewissen Grade erst in der konkreten Realisierung komponieren. Der Interpret einer Partitur greift zwar durch die Generierung der Klangfarbe und die entsprechende Phrasierung in die Präsentation des Materials mit ein und hat entsprechend auch
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DIRK STEDEROTH einen Anteil an der Realisierung auditiver Evidenz, jedoch bei weitem nicht in dem Maße, wie dies bei Musikern in einer Jazz-Performance der Fall ist. Auch wenn der Interpret nicht in der Radikalität an die Komposition gebunden sein muss, dass in der Klangfarbe jedes Tones die jeweilige Funktion desselben im Werkganzen sich ausdrücken muss, wie es etwa Adorno (2014: 527) fordert, sondern im konkreten Spiel weit mehr Entscheidungen treffen muss, als es Adorno wahrhaben wollte (vgl. Klein 2017), ist der Anteil des einzelnen Musikers an der Komposition selbst eben lediglich auf farbliche und artikulative bzw. phrasierende Momente beschränkt. Nun ließe sich hier einwenden, dass dies zwar für den engen Kreis einer Standard-Jazz-Performance zutreffen könne, der Musiker einer Mainstreampop-Band dagegen jedoch fast ebenso wenig Spielräume in seiner Performance habe wie der Musiker eines Kammerorchesters. Dieser Einwand trifft insofern zu, als die kreativen Möglichkeiten im aktualen Spiel einer Mainstreampop-Performance weit kleiner sind als bei einer Standard-JazzPerformance. Gleichwohl ist die Variabilität in der Gestaltung eines Popsongs, der ebenfalls lediglich in einem Leadsheet vorliegt, wiederum fast so groß wie im Jazz, wenngleich die Variablen bereits im Vorfeld der Performance festgelegt werden. Die Mainstreampop-Musiker sind insofern auch kompositorisch tätig und etablieren dabei auditive Evidenz im spezifischen Arrangement des Songs, jedoch verbleibt ihnen dadurch weniger kompositorische Freiheit im aktualen Performen des Songs. Gegenüber dem Jazz wie auch dem Kammerorchester gewinnt in einer Mainstreampop-Performance allerdings der Sound eine große Bedeutung, die ihn zu einer der zentralen ästhetischen Kategorien populärer Musik macht (vgl. hierzu Stederoth 2017 sowie die Beiträge in Phleps/v. Appen 2003). Soundgestaltung ist nicht nur ein wesentliches Element im Arrangement eines Songs, wodurch dieser und die Band, die ihn spielt, einen individuellen Charakter bekommt, sondern Soundgestaltung ist in einer MainstreampopPerformance auch die Basis dafür, dass die einzelnen Stimmen und Klänge sich gegenseitig zu einem Ganzen fügen können und sich nicht gegenseitig auslöschen oder stören. Damit die Soundidee des Arrangements in einer Performance für einen Rezipienten vernehmbar wird, also ein evidenter Sound und nicht nur ein Brei wechselseitiger Auslöschungen oder Überlagerungen hervortritt, bedarf es eben einer klaren Soundgestaltung, die jene Vernehmbarkeit gewährleistet. Dieses Vernehmen auf der Rezipientenseite kann nun ebenfalls zu einer Aktualisierung von individuellen Erfahrungen führen und somit positiv oder negativ ansprechen oder es kann sich der Sound diesen Erfahrungen gegenüber widerständig zeigen und so einen ei-
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AUDITIVE EVIDENZ. ZUM SINNLICHEN VERSTEHEN IN DER MUSIK genwilligen Charakter annehmen. Insofern findet sich auditive Evidenz also auch im Rahmen der Soundgestaltung. Doch nicht nur der Sound spielt in einer Mainstreampop-Performance eine wichtige Rolle, sondern einem weiteren Faktor kommt eine besondere Bedeutung zu, die in einer Jazz-Performance und schon gar in einem Kammerkonzert bei weitem nicht diesen Stellenwert hat: das Publikum. Ist dies in einem Kammerkonzert meist in der Rolle des passiven Rezipienten (was bei einer Jazz-Performance häufig ebenso der Fall ist), wird das Publikum im Rahmen einer Mainstreampop-Performance mehr oder weniger zu einem Akteur in dem Geschehen, da es sich durch Mitsingen, Mitklatschen, Tanzen etc. aktiv in das Gelingen der Performance einbringt. Diese Aktivität gestaltet aber nicht nur die Atmosphäre der Performance, sondern wirkt direkt auf die Musiker und ihre Performance zurück und hat damit — verglichen mit einem Symphoniekonzert — mehr die Rolle eines Dirigenten denn die eines passiven Rezipienten inne. Entsprechend entscheidet sich die Güte einer Mainstreampop-Performance insbesondere auch daran, inwiefern die Musiker fähig sind, diese Aktivität wahrzunehmen und in das eigene Spiel zu integrieren, wodurch dann eine Rückwirkungsschleife entsteht, die sich direkt auf das musikalische Geschehen auswirkt. Dies verweist auf einen Aspekt, der im bisherigen Verlauf der Darstellung noch viel zu wenig Beachtung gefunden hat, und zwar den Anteil leiblicher Aktivität am musikalischen Geschehen. Stand bisher die auditive Evidenz als ein sinnlich-ästhetisches Phänomen im Mittelpunkt der Erörterung, so haben leibliche Aspekte — wenn überhaupt — nur im Rahmen passiver Emotionen in Eggebrechts Konzept und in Anknüpfung an dieses eine Rolle gespielt. Jedoch ist sinnliches Verstehen in Form des Vernehmens auditiver Evidenz auch auf leiblicher Ebene möglich, was sich insbesondere am Begriff und Phänomen des Groove zeigen lässt. Dass Groove als ein zentraler Bestandteil von Mainstreampop gelten kann, wurde bereits an anderer Stelle dargelegt (Stederoth 2017) und kann hier nicht nochmals ausführlich erörtert werden. Für den hier gestellten Problemkontext ist es allerdings wichtig festzuhalten, dass sich Groove im unmittelbaren Etablieren von Körperbewegungen zeigt, die vom Tippen des Fußes, dem Schwelgen bei einer Ballade bis zum ekstatischen Tanzen reichen können. Stellt sich hingegen keinerlei spontane Bewegung beim Zuhörer einer Pop-Performance ein, so gibt es für dieses Phänomen zunächst nur zwei plausible Erklärungen: Entweder ist die Pop-Band nicht fähig, Groove in der Musik zu etablieren, weshalb beim Hörer auch kein entsprechender Impuls ausgelöst wird, oder aber der Zuhörer spricht nicht auf die spezifische Grooveform an, die ihm darge-
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DIRK STEDEROTH boten wird. Die erste Erklärung betrifft somit mehr die Produzentenseite und die zweite eher die des Rezipienten. Was die Produzentenseite betrifft, so sei hier auf ein Zitat des USamerikanischen Jazz-Schlagzeugers Jo Jones verwiesen — sagte er doch einmal recht bündig: »Die beste Art, in der du sagen kannst, was swing ist, ist, daß du ihn spielst, wenn du ihn fühlst, oder du spielst ihn überhaupt nicht« (Jo Jones, zit. n. Berendt 1981: 203f.). Das Geheimnis des Groove wäre demnach nicht, dass man bestimmten Regeln oder Normen folgt, was bei solch minimalen mikrorhythmischen Abweichungen, die in der Musikwissenschaft für das Phänomen Groove verantwortlich gemacht werden (vgl. Gerischer 2010, Pfleiderer 2006, Keil/Feld 1994), auch kaum möglich wäre, sondern dass der Musiker selbst den Groove oder Swing spüren muss, damit er ihn spielen kann. Hier zeigt sich ein sehr deutlicher Unterschied zur Position des Komponisten im obigen Modell: Ein Komponist muss bspw. nicht traurig sein, um eine traurige Passage im Werk evident zu etablieren, und auch ein Interpret muss nicht mit dieser Emotion erfüllt sein, um sie adäquat auf seinem Instrument zu realisieren; dem Pop-Musiker kommt dagegen bei der Etablierung von Groove genau diese Identität mit dem zu etablierenden Gefühl zu, wenn Groove erst dann entstehen kann, wenn die Musiker ihn selbst im Spiel fühlen. Dies ist denn auch der Grund dafür, dass tippende Füße oder auch ekstatische Tanzbewegungen in einer Mainstreampop-Performance nicht nur das Geschehen vor einer Bühne, sondern gleichermaßen auf der Bühne kennzeichnen. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Etablierung von Groove von Produzentenseite aus ebenfalls als ein Anspruch auf Herstellung von auditiver Evidenz auf einer leiblichen Ebene bestimmen, die vom aktual realisierten Werk direkt auf die Leiblichkeit der Rezipienten ausstrahlt. Was den Rezipienten betrifft, so bringt dieser natürlich immer seine individuelle leibliche Konstitution mit, in die auch seine individuellen Erfahrungen eingegangen sind. Dieser leibliche Erfahrungsgehalt kann nun durch einen Groove aktualisiert werden und sich demgemäß ebenfalls in tippenden Füßen oder ekstatischen Tänzen äußern, oder aber die spezifische Form von Groove weist zu viel Widerständiges gegenüber den leiblichen Erfahrungsgehalten auf, was dann einer unmittelbaren leiblichen Reaktion im Wege stehen kann. Somit entsprich auch die Rezipientenseite exakt der Struktur des Vernehmens auditiver Evidenz, nur dass sie sich hier in unmittelbar leiblichen Sphären ereignet und entsprechend das ästhetische Verstehen sich in einer leiblichen Regung äußert. Somit lässt sich abschließend festhalten, dass sich auditive Evidenz nicht nur im Felde strukturorientierter Musik als ein Konzept zum Begreifen sinnli-
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AUDITIVE EVIDENZ. ZUM SINNLICHEN VERSTEHEN IN DER MUSIK chen Verstehens etablieren lässt, sondern zudem für alle wesentlichen kategorialen Bereiche realisierungsorientierter Musik einschlägig ist, was dieser Text sich vorgenommen hatte zu zeigen.
Literatur Adorno, Theodor W. / Stockhausen, Karlheinz (1960). »Der Widerstand gegen die neue Musik.« Diskussion zwischen Theodor W. Adorno und Karlheinz Stockhausen, aufgenommen im Hessischen Rundfunk, Sendung am 22.4.1960, verfügbar unter: https://archive.org/details/AdornoKarlheinzStockhausen-GespraechUebe rNeueMusik1960. Adorno, Theodor W. (1975). Einleitung in die Musiksoziologie. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Adorno, Theodor W. (2014). Kranichsteiner Vorlesungen. Nachgelassene Schriften. Abteilung IV: Vorlesungen. Bd. 17. Hg. v. Klaus Reichert u. Michael Schwarz. Berlin: Suhrkamp. Berendt, Joachim E. (1981). Das große Jazzbuch. Von New Orleans bis Jazz Rock. Frankfurt/M.: Krüger (5., vollst. überarb. u. aktual. Ausg.). Boehm, Gottfried (2008). »Augenmaß. Zur Genese der ikonischen Evidenz.« In: Movens Bild. Zwischen Evidenz und Affekt. Hg. v. dems., Birgit Mersmann u. Christian Spies. München: Fink, S. 15-43. Eggebrecht, Hans Heinrich (1995). Musik verstehen, München: Piper. Feige, Daniel Martin (2014). Philosophie des Jazz. Berlin: Suhrkamp. Gerischer, Christiane (2010). »Groove — magische Momente — Versuch einer rationalen Annäherung«, in: PopSkriptum 11, https://www2.hu-berlin.de/fpm/ popscrip/themen/pst11/pst11_gerischer.html, Zugriff: 31.7.2018. Keil, Charles / Feld, Steven (1994). Music Grooves. Chicago: University of Chicago Press. Klein, Richard (2017). »Adorno als negativer Hermeneutiker. Zu seiner Theorie der musikalischen Interpretation.« In: Zeitschrift für kritische Theorie 44/45, S. 158-175. Pfleiderer, Martin (2006). Rhythmus. Psychologische, theoretische und stilanalytische Aspekte populärer Musik. Bielefeld: transcript. Phleps, Thomas / Appen, Ralf von (Hg.) (2003). Pop Sounds. Klangtexturen in der Pop- und Rockmusik. Basics — Stories — Tracks. (= texte zur populären musik 1). Bielefeld: transcript. Siegmund, Judith (2007). Die Evidenz der Kunst. Künstlerisches Handeln als ästhetische Kommunikation. Bielefeld: transcript. Stederoth, Dirk (2017). »Sound, Groove, Performance. Musikästhetische Realisierungskategorien zur Charakterisierung populärer Musik.« In: Was ist Popmusik? Konzepte, Kategorien, Kulturen. Hg. v. Timo Hoyer, Carsten Kries u. Dirk Stederoth. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 111-134.
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DIRK STEDEROTH
Abstract This text initially develops a general concept of auditive evidence that provides an explanation for how a work of art can express individual contents, incorporated by the composer and beyond the formal nature of its material, to the recipient. For this purpose, it considers both the aesthetic response, specifically Hans Heinrich Eggebrecht's concept of a sensual understanding of music which he conceives of alongside a conceptual understanding that orients itself upon rules of composition as well as the production aesthetics in form of the conceptualized term evidence which Judith Siegmund has developed for the visual arts. In the second part of the text, this concept is applied to the specific contents of popular music. In doing so, the compositional process of a standard jazz performance is initially focused upon. Furthermore, the concept is substantiated on the basis of the three central popular music categories of sound, groove, and performance.
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W H O I S »Y O U ' R E S O V A I N « A B OU T ? R E F ER E N C E I N P O PU L A R M US I C L Y R I C S T he o d or e Gr a c y k »But you do speak of understanding music. … The way music speaks. Do not forget that a poem, even though it is composed in the language of information, is not used in the languagegame of giving information.« (Ludwig Wittgenstein 1970: 27) »A song is capable of having several life spans.« (Paul Simon, quoted in Alterman 1970: 38)
I . I n t r o d uc t io n In an iconic scene in the film Say Anything (1989), Lloyd Dobler stands outside the bedroom of his former girlfriend and lofts a large boom box above his head. Inside the house, Diane Court recognizes the song blaring from the boom box: Peter Gabriel's »In Your Eyes«. Lloyd had played the song for her once before, shortly after they started to date. To understand the movie, one must understand this scene. To understand the scene, one must understand the song, »In Your Eyes«. In addition, one must understand what the character is doing with the (recorded) song. Lloyd is not inviting Diane to engage in disinterested, appreciative engagement of a piece of music. Instead, Lloyd is using the music to communicate something to Diane. There is no question of understanding a communicative action unless there is also a possibility of misunderstanding it. In this sense, »understanding« indicates successful interpretation. If someone thinks that Jimi Hendrix's »Purple Haze« is an early anthem of gay liberation, based on mishearing the lyric »'scuse me while I kiss the sky« as »kiss this guy«, then that interpretation of the Hendrix recording is a misunderstanding. The listener misunderstands what the song is about. Or suppose an ophthalmologist says that the boom box scene is one of her favorite movie scenes, because the song calls attention to the importance of eyes. Although true in a very narrow sense, that response would also be a profound misunderstanding, for it would also
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THEODORE GRACYK fail to grasp what the song addresses thematically.1 This essay primarily addresses the topic of aboutness—of intentionality, or the capacity to refer to one thing rather than another—and how it arises in popular songs and their performances. Specifically, I propose that popular songs invite us to ask what they are about, yet they are not necessarily about what they superficially and literally appear to be about. Furthermore, what the song is about and what a performance of that song is about may part company on any given occasion of use. For example, the song »Tell Me Why You Like Roosevelt« was written by Otis Jackson in 1945 or 1946, and it is about Franklin D. Roosevelt. The song was largely forgotten until it was recorded by Jesse Winchester in 1974. His decision to record it raises the question of why he did so: why sing about Roosevelt some thirty years after his death? The answer, in this case, is that he sang about Roosevelt because he wanted to say something about Canadian politician Pierre Trudeau—he even amends some of Jackson's words to include reference to Trudeau, ensuring that his performance is about something contemporary. However, we do not need an alteration of lyrics to generate reference to contemporary events. On the view that I recommend, every song performance tends to generate reference to events contemporaneous with the performance, shifting the reference to people and events that may differ from what the words are literally about. On my account, song lyrics are not literally about anything. I will begin with some very obvious points. Understanding a song—a distinctively identifiable combination of text and music—requires understanding it both musically and verbally, as well as understanding how the two interact in some meaningful way. However, I must be clear at the start that I do not take either of these elements to be fixed and constant across all renderings of any given song. Consequently, the successful interpretation of even a relatively simple popular song is a very complex achievement. It becomes even more complex when the performance context guides audience understanding. I'll have a few words to say about each of the four elements of understanding— music, words, their interaction, and their interaction with the performance context—in order to set up some points that are not especially obvious. I will argue that understanding a song is not generally the point of performing and hearing songs. Instead, particular instances of a song are the sites that secure world-directed reference. To be consistent with this point, I will emphasize
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This misunderstanding is different from personal association, or so-called »meaning for the subject,« which is not a case of misunderstanding at all. See Koopman/Davies (2001: 268-270).
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WHO IS »YOU'RE SO VAIN« ABOUT? REFERENCE IN POPULAR MUSIC LYRICS songs for performance, especially those in the domain of modern popular music.2 I will argue that songs for performance are seldom the sort of thing that carries meanings in which we, as audiences, become engrossed. Linguistic understanding involves a great many things. Fundamental among these are the human capacity to grasp representation and reference. The former consists of some amount of description of some situation, as in the following descriptive phrases: »a brown unicorn, lame in one leg« and »a poverty-stricken country, today, with no system of formal education worthy of the name«.3 As these phrases demonstrate, verbal representation does not always refer to reality. There are no unicorns, and it is possible that there is no country matching the second description. However, when representation is coupled with reference, we can inquire about the truth of the combination: »The animal in the garden is a brown unicorn, lame in one leg.« »A brown unicorn, lame in one leg, has never been seen by anyone.« »The United States is a poverty-stricken country, today, with no system of formal education worthy of the name.« On any standard interpretation, the second sentence is true but the first and third are false. At best, the hyperbole of the third captures a grain of truth. This third sentence illustrates that sentences are not false simply because they contain a referring term that does not refer to actual things; truth depends on the totality of information, including how it is combined with other referring terms.
I I . U nd er s t a nd i n g t he M us ic The capacity to understand, create, and enjoy music is a human universal. Yet there are few, if any, universal rules governing musical design. A sense of rhythm is essential, but the polyrhythmic patterns of West Africa are very different from a Viennese waltz or a Greek Kalamatianos (7/8 meter) dance rhythm. In much the way that humans effortlessly learn and use the grammatical rules of their first language, through mere exposure, individuals become attuned to the rhythmic approaches that prevail in their own society. The same holds for melodic and harmonic »rules« or practices of different 2
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See Bicknell (2015: 28). In particular, the social uses of work songs and hymns gain much of their meaning through the shared activity of advancing some group end. See Wolterstorff (2015, chap. 16). It might be assumed that the one phrase refers to a unicorn, and the other to a poverty-stricken country. For the classic explanation of why we do not have reference every time we have a noun phrase, see Russell (1905).
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THEODORE GRACYK regions and time periods. And, just as fluency in one natural language does not translate into fluency in unrelated languages, and may even inhibit subsequent acquisition of it, understanding of one popular music style may become second nature, inhibiting the understanding and appreciation of others. So, although almost all of the musical features of any example of popular music can be understood effortlessly—through mere repeated exposure to stylistically similar music—it will not be true that all popular music is equally accessible to everyone. The comparison between music and natural language is fruitful because there is a sense in which each musical tradition has its own »grammar« or syntactical structure.4 These are patterns of permissible organization of more basic units: just as words and punctuation are grouped into categories that limit or prescribe the order in which they can be arranged, musical tones and beats have their permitted orders. At its most basic level, an understanding of music involves an immediate, unreflective perception of good order, as regulated by the relevant musical style.5 To offer a simple example, when Thelonious Monk plays the nineteenth-century hymn »Blessed Assurance« in his recording »This Is My Story, This Is My Song«, he begins with an extremely straightforward performance of the melody and harmonic progression as composed by Phoebe Knapp.6 Then, just as he reaches the final notes of the first verse, he begins to embellish the familiar tune with a slight rhythmic disruption and small dissonance. He then plays a second verse, »jazzing« it more and breaking up the rhythm. Suppose we play Monk's recording both for a jazz fan and for a country music fan who never listens to jazz but knows the song through Alan Jackson's version. Although it might take the jazz fan more than forty seconds to do so, it will become evident that the music is jazz—at which point it may even become apparent that Monk is the pianist. The country fan, hearing the same thing, will most likely hear the first moments of »jazzing« the tune as errors. They will literally make no sense—will not fit—within the perceptual gestalt under which the music is being understood. Hearing the second verse, there may be conscious realization that it's jazz, and that the music is meant to sound that way. However, conscious knowledge of this sort 4
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I do not mean to imply that music is an offshoot of language, or that the »music instinct« derives from the »language instinct«. There seems to be little reason to adopt such views. See Levinson (1997); his view is very similar to Wolff's (2015: 323) »intellectual« understanding, which involves a listener's construction of imaginary causality (causalité imaginaire) from sound to sound, generating an ideal acousmatic world (monde idéal). The brief performance was recorded in the 1960s and unreleased until available on an expanded digital reissue of the Straight, No Chaser album (1996).
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WHO IS »YOU'RE SO VAIN« ABOUT? REFERENCE IN POPULAR MUSIC LYRICS does not automatically result in musical understanding of the kind at issue here, which is a matter of the music hanging together in a way that makes sense. To the country music fan, Monk's chord substitutions and timing will sound wrong. Given that Monk's performance choices will make sense to most post-bebop jazz fans, hearing them as wrong is a blameless misunderstanding by someone who does not »know« jazz. To summarize these very general points, there are two basic competencies involved in understanding the musical component of a song. 1. Perception of the music's rhythmic, melodic, and harmonic organization and the related ability to anticipate later events based on earlier events (e.g., experiencing the verse as ending and thus expecting a new verse or chorus).7 In some cases, timbre or tone color is an important aspect of the music's organization. A more advanced level of understanding involves the ability to explain why various organizational choices have been made by the composer and/or performers, relative to the whole piece, but there is no reason to think that level is required in all cases of understanding popular songs. 2. Perception of aesthetic and expressive properties of the music as they emerge from the musical organization. Classically, aesthetic properties include gestalt properties such as degree of beauty, but it also includes aspects such as balance, originality, and concision. Expressive properties, such as the difference between sad music and peaceful music, are sometimes classified as a subset of aesthetic properties (see Goldman 2009). There is considerable controversy about how aesthetic and expressive properties are generated by musical form or organization (see De Clercq 2011), but the details of that relationship are not important in the present context.
I I I . T he S o n g -C e nt er ed V i e w o f Me a n i ng My primary concern is to address, and reject, a common idea about understanding songs. It is the view that the meaning of a song's performance stems from, and is determined by, the meaning of the song. Let's call this the songcentered view: understanding what a song is about is foundational for understanding what its performances are about. The song-centered view has some obvious plausibility, particularly if we emphasize that failure to understand 7
An excellent short review of this topic is provided by Davies (2011: 88-99).
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THEODORE GRACYK the song will normally interfere with understanding its performances. I love the energy of Plastic Bertrand's 1977 hit record »Ça Plane pour Moi«. I certainly understand its musical idiom: punkish power pop. However, I have no idea about the meaning of most of its French lyric, and therefore I cannot claim to understand the song. Clearly, the song-centered view is correct insofar as it holds that one cannot understand a performance if one does not understand both the music and text of a song, and how they interact and illuminate one another. A failure to understand either—or both—music or text is therefore an obstacle to understanding the song and therefore also to understanding it in performance. However, the song-centered view claims a stronger relationship than a requirement to understand music and text and their relationship. It claims that the meaning of the song's performances is a function of what the song means. On this view, »Tell Me Why You Like Roosevelt« is always about Roosevelt. The song-centered view has the virtue of explaining a particular kind of interest that is frequently directed at songs. Consider the case of »You're so Vain«, Carly Simon's hit song of 1972-73. Singing to someone who was (presumably) her former lover, Simon's teasing chorus jokes about her target's vanity: »You probably think this song is about you / Don't you? Don't you?« However, she never names the referent, and for many years interviewers and fans asked about his identity (although the words do not themselves determine who the song is about, the song-centered view says that the song is about whomever she wrote it about). Recently, more than forty years after its release, the song became headline news in major new outlets—one headline reads, »Carly Simon Finally Reveals Who's so Vain« (D'Zurilla 2015). What Simon revealed was long suspected. The second verse of the song describes film star Warren Beatty, how he took advantage of her when she was »naïve«, and how he lied to her about his commitment to their relationship. According to the song-centered view, all performances of the song have a second verse that refers to Beatty. Therefore, when Marilyn Manson recorded the song for his Born Villain album (2012), the second verse still refers to Beatty. On this account, Manson might have avoided such a reference by revising its lyrics (which he did not do), in which case it would be plausible to say that a derivative song has been substituted for the original one. However, when the lyrics are not altered, they refer to whoever or whatever they referenced when the song was composed. Because Winchester made changes, it is plausible to say that his performance of »Tell Me Why You Like Roosevelt« involves a derivative song. However, Manson's »You're so Vain« does not. Against the song-
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WHO IS »YOU'RE SO VAIN« ABOUT? REFERENCE IN POPULAR MUSIC LYRICS centered view, my primary claim will be that the referential meaning of Manson's version does not hinge on Simon's compositional activities, even if Manson sings exactly what Simon wrote. Following the logic of the song-centered view, we can clear up another mystery about »You're so Vain«, the meaning of the phrase, »they were clouds in my coffee«, which appears four times. Simon introduces this obscure phrase to characterize her dashed dreams when Beatty »gave [her] away«. It seems to function metaphorically, but it lacks the transparency of a classic metaphor like Shakespeare's line for Romeo, »Juliet is the sun.«8 However, Simon has clarified its meaning in her autobiography, saying that the phrase describes an occasion when the clouds in the sky were reflected in a cup of coffee she was drinking (Simon 2015: 254). Understood in this light, saying that her dreams were like the clouds in coffee (i.e., they were a mere reflection) is a relatively straightforward metaphor.9 The song-centered view has been endorsed by at least two philosophers, Thomas Carson Mark (1981) and Peter Kivy (1995: 2012). Technically, Mark concentrates on instrumental music, while Kivy adapts Mark to deal with the question of whether modern performers of Handel's Messiah are presenting and endorsing anti-Semitic messages by performing the piece as written. Setting aside this difference in emphasis, they agree that compositions normally come to performers with pre-encoded meanings: each musical work »can be likened to statements: works of art can be thought of as entities which are accepted, in certain social or institutional contexts, as making statements« (Mark 1981: 319f.).10 In an important respect, therefore, a performance of a pre-existing composition parallels the practice of quoting language that another person has put together on some earlier occasion. I have, at various points above, quoted song lyrics. However, to quote is not necessarily to endorse. Therefore, Mark argues, a genuine performance of a musical work must also assert whatever the composer intended it to mean (ibid.: 307). For, otherwise, the performance is a meaningless, empty display of musical talent. Now it is certainly true that some performances are meaningless because they
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William Shakespeare, Romeo and Juliet, Act 2 Scene 2. There is a longstanding view, called anti-intentionalism, that denies both (1) that the meanings that hold for a text at the time of its composition determine its semantic interpretation, and (2) that author's subsequent clarifications about how to interpret unclear or ambiguous communication determine its correct interpretation. See Wimsatt/Beardsley (1946). For rejoinders, see Stecker (2013) and Livingston (2005). 10 On this model, a work can be composed and then »lost« and never instantiated in performance (Mark 1981: 301-302), but the meanings of that unperformed work are no less determinate or real on that account.
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THEODORE GRACYK are musically defective—as inauthentic, lifeless, »going through the motions«, and so on. In effect, the song-centered view tells us that a performance will also be defective whenever a performer is insincere, declining to (personally) assert or endorse whatever the lyric literally asserts. Before I challenge this the song-centered view, I must introduce an important elaboration of it. Let us set aside, without further concern, examples involving a language barrier, as when I don't understand the line »Une louloute est v'nue chez moi« in »Ça Plane pour Moi«, and musical ignorance, as when the country music listener hears a series of musical errors in bop piano. Let us also set aside cases where a performer avoids an unwanted meaning by changing or omitting the established text. Although I find it insufficient, I want to acknowledge that proponents of the song-centered view have a strategy that will allow them to say that performers have some capacity shift what a performance is about, so that it is not merely about whatever it is originally or literally about. Consider the first line of Stephen Foster's song »Oh! Susanna« (1848): »I come from Alabama with my banjo on my knee.« There is nothing complicated about this lyric. The word »Alabama« refers to the state of Alabama, the words »banjo« and »knee« refer to a stringed musical instrument and a part of the human anatomy, respectively. Those are some things that the song is about. So if I sing »Oh! Susanna«, my performance references Alabama, banjos, knees, and so on. However, we must also account for the way that performances often take on additional meanings—meanings that cannot be derived from an understanding of the song itself (i.e., the composed combination of text and music). For example, Taj Mahal recorded »Oh! Susanna« for his album Happy Just to Be Like I Am (1971) and he frequently performed it in concerts. We might ask why an African-American singer would give such prominence to a song associated with the minstrel tradition, which did so much to degrade African-Americans (Lott 1993; In a verse that is seldom sung, and evidently never sung by Mahal, Foster's lyric includes a racial slur.) We might also ask why he sings it in such a joyful, even celebratory, manner. And it might be plausible to answer that the singer is consciously reclaiming his own heritage, ugly as it may be, as an act of self-affirmation and a symbolic rejection of deep-seated racial stereotypes. In short, the performance aligns the song's meaning with a particular social context (e.g., the singer's racial identity) and thereby uses the song to generate meanings that are not found in the song itself. This use of Foster's song fits the idea that the musical work (encoded with Foster's meanings) is to be distinguished from its presentation (performance) in a particular social or institutional context. The song supplies a specific (but minimal) semantic content, and then additional meaning is
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WHO IS »YOU'RE SO VAIN« ABOUT? REFERENCE IN POPULAR MUSIC LYRICS attached to a particular performance through contextual supplementation (Cappelen/Lepore 2004; Gracyk 2013). The meaning might be inverted by the performance style, as when a song is performed ironically (Mark 1981: 310). By taking account of performance context, it appears that the song-centered view can explain what is happening in my initial example, where Lloyd plays the Peter Gabriel song for Diane. The song was (allegedly) written about Rosanna Arquette, with whom Gabriel was involved (Mann 2005: 90). Lloyd can take the expression of emotion that Gabriel directed at Arquette, can identify it as his own emotion by his ostentatious act of sharing it, and so can use it to declare his devotion to Diane. However, the song-centered view holds that if Gabriel did write it about Arquette, then it is always about her, and so it was about Arquette when I heard it for the first time, sitting in a movie theater watching Say Anything. Presumably, it is about Arquette even in the fictional world where Lloyd dates Diane. However, I think both of those claims amount to excess baggage: reference to Arquette plays no role whatsoever in understanding (1) writer-director Cameron Crowe's selection of this song for two scenes in this movie and (2) the choice made by Lloyd Dobler in world of the film fiction. I begin to develop my reasons in the next section.
I V . S o n g s a nd F ic t io n After some howling, the first line of Warren Zevon's original recording of »Werewolves of London« (1978) is »I saw a werewolf with a Chinese menu in his hand«. Carly Simon may have seen clouds in her coffee, but I doubt that Warren Zevon ever saw a werewolf prowling London, with or without a Chinese menu. Not to put too fine a point on it, many song lyrics are fictions. On the view that I recommend, fictionality is the default condition for song lyrics in songs written for performance—they are fictions unless there are unusual circumstances that would override this default. Zevon's song is obviously a fiction, given its absurdity. As is »Oh! Susanna«. It is less obvious that the song »You're so Vain« is a fiction, but there are strong reasons to grant that it is. Mere assemblage of a set of true statements does not count against the fictionality of the resulting song or performance. As Kendall Walton notes, »fantasy remains fiction even if it happens to correspond to the actual course of events« (1990: 74). In her autobiography, Simon makes it clear that »You're so Vain« is a fantasy: it is an assemblage of incidents involving different men, mixed together with details that were not strictly true. Her description of how she cherry-picked lines that she had written into a notebook at different
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THEODORE GRACYK times, and her admission that two key lines of the song were ones she heard others speak, indicate that veracity was not the guiding principle in constructing the song's lyric. She set out to write a song about male vanity, and then incorporated a mixture of accurate and fabricated details. Furthermore, it is worth noting that the line that gives the song its title was written long before she thought about writing about Warren Beatty (Simon 2015: 254). When she originated the line »you're so vain you probably think this song is about you«, it was not about Beatty. It was not about anyone. It was a line for possible use in a song lyric. If the song-centered view dictates that it becomes a line about Beatty by its placement in relation to the details of the second verse, that admission would be a harmless one. In fact, it illustrates my key point. One and the same text—understood simply as a particular combination of meaning-bearing symbols—can be false in one use, true in another use, and fictional in yet another use. Simon (2015: 254) acknowledges that the song's first verse contains both true and false details. It is far less important to determine which details are true or false than it is to recognize the holistic result as the outcome of Simon's artistic process: Simon combined various lines to create a fiction. It would be no less fictional if she had composed it entirely of individually true sentences. The combination still bears the hallmarks of a work of fiction, which is to say that its fictionality overrides its assertion of literal truth. Indeed, the very decision to combine words and music in a song for performance is sufficient reason to treat it as fiction. Fictionality is not primarily a matter of telling lies rather than truths, or of the ratio between lies and truths. Instead, it is the result of satisfying two criteria in the creative process: (1) prioritizing factors other than the communication of truth when selecting details and their arrangement, and (2) intending that any audience for the resulting text will regard it as a prop for content-oriented make-believe (i.e., as an occasion for content-guided imaginative engagement).11 It is obvious that the compositional process of the music of a song will be informed by the coherence and expressive effect of the music. It is no less true that song composers select and combine words for their coherence and expressive effect, including their interaction with the music. As songwriter Jimmy Webb observes, words are combined (or not) with an ear to »the way they can be jammed together in unlikely alliances that delight and entertain … Which is to say that all great lyrics use the devices of poetry« (Webb 1998: 12). When communication is organized by such devices—when it is controlled by cultural devices of »making special«, to use Ellen Dissanayake's (1992) phrase—and the communication is directed to a 11 The former criterion is defended by Davies (2007: 45-48), the latter by Walton (1990, chap. 2).
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WHO IS »YOU'RE SO VAIN« ABOUT? REFERENCE IN POPULAR MUSIC LYRICS general audience rather than specific targeted individuals, the communicative act is an invitation for make-believe. Now, certainly, aesthetic decisions inform all sorts of non-fiction communications to a general audience (e.g., the design of a restaurant's menu), as well as many personal communications (e.g., selection of a birthday card). Because »making special« is not definitive of fictionality, we must consider how the communication is meant to function: are we expected to accept what is communicated? In fictional communication, the primary function is not assertion of content and audience acceptance of it, but rather presentation of aesthetically-heightened content for the purpose of imaginative and empathetic engagement.12 Following the dual criteria for fictionality, a communication is no less fictional because it asks us to engage in make-believe about real things. Every fiction must have some toehold in reality in order to provide directions for the imagining. For the sake of argument, suppose that the song-centered view is correct and that »Tell Me Why You Like Roosevelt« is always about F.D.R. (Ill withdraw this concession at a later stage in my argument). Anyone who hears Winchester's recording is unlikely to have any feelings one way or another about F.D.R., yet the song invites listeners to assume, imaginatively, of themselves, that he or she »likes« F.D.R. This invitation to pretend/imagine holds even for listeners who do not know who is meant. Emphasizing that fictionality is the default status of songs for performance does not trivialize their capacity to communicate messages in performance. By engaging in guided imagining, audiences are frequently invited to understand various things about the world.13 The novels of Charles Dickens called attention to issues of child welfare and systemic injustice. Abraham Lincoln is famously said to have identified the novel Uncle Tom's Cabin as the cause of the American civil war (Gura 2013: 143). As content-oriented props, these fictions support world-oriented make-believe (Armour-Garb/Woodbridge 2015: 51). The same is true for many songs. Some songs are so clearly world-oriented and so specific in their description that we can reasonably hold the songwriter(s) accountable for the claims they make; Bob Dylan took such poetic license with some of the events in the fact-based narrative »Hurricane« (1975) that lawyers convinced him to withdraw his intended recording from the Desire album (1976), to rewrite it, and to re-record it (Bieri 2008: 12 Both Friend (2008) and Matravers (2014) remind us that non-fiction narrative may also invite imaginative and empathetic engagement; this is why it is important to keep in mind that fictionality also involves relaxation of normal standards of fidelity to truth in communication: the audience is not intended to accept or believe the particulars of the communication. 13 For a survey of some different ways we learn about the world through guided imagining, see Lamarque (2009: 241-244).
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THEODORE GRACYK 107).14 Yet to the degree that »Hurricane« is making a general point about systemic racism and injustice, its general message can be conveyed to listeners who are indifferent to the truth of its various assertions. Although both songs and novels can advance general truths, there is an important difference between them. Novels are not normally works for performance. Granted, Dickens made a considerable sum of money by giving public readings of his novels, and Uncle Tom's Cabin was almost immediately popularized as a theatrical play. Nonetheless, literary works are not essentially works for performance.15 Songs essentially are. That fact, I will now argue, combines with fictionality to render the song-centered view doubtful even when construed as a view that songs like »You're so Vain« and »Tell Me Why You Like Roosevelt« are invitations to engage in make-believe in relation to real people and places.
V . Un d er s t a n d i n g a P e r f o r m a n c e The fundamental problem with the song-centered view is that it requires us to think of composed songs as statements by song composers rather than performers, and then to regard performers as vehicles for the presentation of those statements. So far, I have accepted the philosophical position of Mark and Kivy that performers successfully perform a song by endorsing or asserting the song's meaning. However, there is no reason to adopt this view if song performance is normally an occasion for fiction rather than assertion. An interesting illustration of this point is provided by Carly Simon. In October, 2016, Simon endorsed the use of »You're so Vain« in a political advertisement that ridicules presidential candidate Donald Trump (Penrose 2016). The video clip uses the first verse of the original recording, but replaces one word (»scarf« is replaced with »face«).The replacement is amusing, but it is so trivial that the result certainly does not qualify as a new, derivate musical work. If the song-centered view is correct, then the song still is about whoever the first verse of the song was about when it was written and recorded 14 Co-written by Bob Dylan and Jacques Levy, »Hurricane« provides considerable detail about a real crime and its aftermath. The lyric deviates from truth in many details, but the lawyers were only concerned about the lyric's description of living individuals who were involved in the case. One of them did sue, but the case was eventually dismissed on the grounds that Dylan and Levy were writing about a public figure, a defense that would not protect them in most countries. 15 An interesting contrary view is Kivy (2006). However, it does not undercut my points about song performance, because Kivy's view is that the reader is typically performing the novel for herself, not for others.
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WHO IS »YOU'RE SO VAIN« ABOUT? REFERENCE IN POPULAR MUSIC LYRICS by Simon in the 1970s.16 It is then additionally about Trump through contextual supplementation—Simon's approval of the coupling of her recording with images and clips of Trump. However, here is an alternative way of thinking about songs and meanings. The biographical fact that a particular person or incident inspired a song lyric does not imply that the lyric refers to the actual person or incident. The main reason for making this distinction follows from the observations of the previous section: in the case of songs for performance, lyrics are fictions. »Werewolves of London« does not refer to the real London, but rather to a fictional city in which there are Werewolves. »You're so Vain« mentions Nova Scotia, but because the text is a fiction, the Nova Scotia it references is a place in the fictional world indicated by the song's text. It is, at best, a counterpart modeled on the real place. And if that is the case for the places referenced in songs for performance, then it must also be true of the people who are referenced. The degree to which the place or person in the song is like or unlike the real-world counterpart will vary enormously. Evidently, the Alabama of »Oh! Susanna« has magical weather. Simon's reference to an eclipse in Nova Scotia has been used as a clue to dating some of the events of »You're so Vain«, but it is certainly possible that the timing of the eclipse in the world of the song differs from the timing of eclipses in the real-world. Returning to the example at the beginning, »In Your Eyes« might not be a Peter Gabriel song in the fictional world of Lloyd and Diane, so there is no reason to assume that it is about, or even inspired by, Rosanna Arquette in that world. Given that the world-directedness of fictions is only loosely indicated by references to actual places and persons, an additional point is of primary importance. Once it is created, anyone may choose to perform a given song for performance. As Kendall Walton formulates this idea, we should regard modern poets, musicians, and songwriters as »thoughtwriters.« They produce »texts for others to use in expressing their thoughts (feelings, attitudes)« (2015: 54). As I noted in the previous section, songs differ from most literature in being texts that are created for use in performance. Communication is an act, and an unperformed song is not yet a communication. It is the performer, not the songwriter, who invites the audience to regard the song as a prop for content-oriented make-believe.17 I don't know why Manson 16 While Simon has been very clear that the only the second verse was directed at Warren Beatty and the other verses are about two other men, she has not identified them. 17 Where publishing a poem or story constitutes its author's communicative act (understood broadly), publishing a song does not have the same status. In the former
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THEODORE GRACYK wanted to cover »You're so Vain«, but he did. When Taylor Swift sings it in concert, her fans apparently understand her to be (intentionally) making a comment on one or more of her high-profile romances and breakups, and inviting them to treat it as a comment on their own love lives.18 There is no reason to assume that the song requires Swift to do this by inviting listeners to think about Warren Beatty and then to imaginatively supplement that reference in ways that will allow them to understand a message that is not tied to Beatty. Singers are free to use the song to convey anything that can be communicated given the resources it makes available in its structure of words and music. Simon realized that she could use it to make a political statement about the 2016 presidential election. By that time she had revealed that Beatty inspired the second verse, yet there is no reason to suppose that, in 2016, she was making a point about candidate Trump by making a statement about ex-lover Beatty. In its 2016 use, it is simply about Trump, and it is about Trump even if none of its details are literally true. It makes its point by way of fictional discourse, and this fictional discourse has no need to locate Warren Beatty in the world of the fiction. There is an important ambiguity in what I have just proposed. I have made the point that a song's composer is not yet engaged in a communicative act. Songwriters create something for use in such an act (Gracyk 2013: 28), and therefore the songwriter's inspiration for the fictional world of the song need not appear in the fictional world conjured up in a particular performance or communicative use. I offered the example of Taylor Swift singing »You're so Vain« in order to offer herself (fictionalized) to the audience so that they could reflect on their own relationships. I then offered Simon's political use of her own song. In the former case, we have a performance; in the latter case, we have a recording (newly combined with images in a video). In the case of live performance, time and place go a long way to explaining how a performer intends to use the song to direct the audience in world-directed commentary: at Woodstock, Jimi Hendrix's performance of »The Star Spangled Banner« was clearly offered as a political commentary, and at least some of it was directed at the ongoing war in Vietnam (Gracyk 2013). Similarly, different playbacks of a recorded song can be used to make very different statements. In part, this can be accomplished by changing their reference, given changing uses and contexts. When someone records themselves (falsely)
cases, the audience has its prop in the published text. With songs, the prop for imaginative engagement is not yet in place. 18 »Carly Simon and Taylor Swift—You're So Vain.« Los Angeles Times. n.d. 2015. http://www.latimes.com/85081751-157.html, access: 7 July 2018).
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WHO IS »YOU'RE SO VAIN« ABOUT? REFERENCE IN POPULAR MUSIC LYRICS say »I can't come to the phone right now, please leave a message«, the indexical expression »now« will refer to the present time on each of its playbacks, rather than the time when it was actually spoken (Cohen 2013). The indexical »I« can also shift, because the same recording can be used with telephones with different owners. It can be done with recorded songs, too: for years, I used a snippet of Laurie Anderson's »O Superman« (1982) as my own answering machine message (»Hi. I'm not home right now …«), and in its use, each playback meant that I (and not Laurie Anderson) was not available at that time. Without belaboring the point, recordings are used in ways that establish world-directed references that the songs do not have if taken to be about whatever the composer thought they were about. Like songs, recorded popular songs are things created for use, including the communicative uses of the mass audience: Lloyd speaks to Diane using Gabriel's »In Your Eyes«.
V I . C o n c l us io n »The stories behind most songs are less interesting than the songs themselves,« Tom Waits told his biographer. »So you tell somebody, ›Hey, this is about Jackie Kennedy.‹ And they go, ›Oh wow.‹ Then you say, ›No, I was just kidding, it's about Nancy Reagan.‹ Well, it's a different song now. In fact, all my songs are about Nancy Reagan« (quoted in Hoskyns 2009: xix). Waits is joking, of course, but his joke contains a kernel of truth: even if the songs were inspired by Nancy Reagan, the inspiration is something behind the songs, which are themselves props for us in communicative performance. A song lyric inspired by an actual person does not make assertions about that person, and different performances can yield different world-directed referents. Songs can be performed in all sorts of situations and with various communicative intentions, and thus a single song can be used to communicate different things on different occasions of use. In some ways, my analysis parallels the standard anti-intentionalist idea that a lyric or poem »is detached from the author at birth and goes about the world beyond his power to intend about it or control it. The poem belongs to the public« (Wimsatt/Beardsley 1946: 470). However, anti-intentionalism is only plausible about the creative activity that takes place prior to the use of the poem or song in a particular communicative act. It is relevant that poems are not generally created for performance, but songs are, and so we may owe more deference to the intentions of poets than songwriters. Others may note that my analysis resonates with Roland Barthes' (1977: 148) idea that authorial intention never
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THEODORE GRACYK constrains interpretation, and that every work is »constitutively ambiguous« and yields multiple texts with distinct interpretations. But, again, I have suggested that there may be important differences between poems and songs. Texts should be interpreted in terms of their use, where a use is a particular act of directing the text to an audience in a particular situation at a particular time. As such, a use reflects intentions, and an audience that is interested in the communicative dimension of a performed song cannot be insensitive to the performer's intentions. The song »You're so Vain« may be constitutively ambiguous in reference, but particular performances of it need not suffer that same fate.
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Discography Dylan, Bob (1976). »Hurricane.« On: Desire. Columbia PC 33893. Gabriel, Peter (1986). »In Your Eyes « On: So. Geffen Records 9 24088-2. Jackson, Otis (1997). »Tell Me Why You Like Roosevelt.« On: Roosevelt's Blues: African-American Blues and Gospel Songs On FDR. Agram Blues AB 2017. Manson, Marylin (2012). “You're so Vain.« On: Born Villain. Cooking Vinyl COOK CD554. Monk, Thelonious (1996). »This Is My Story, This Is My Song.« On: Straight, No Chaser (reissue). Columbia CK 64886. Plastic Bertrand (1977). »Ça Plane Pour Moi«. On: Ça Plane Pour Moi. Sire SRK 6061. Simon, Carly (1972). »You're so Vain.« On: No Secrets. Elektra EKS-75049. Taj Mahal (1971). »Oh! Susanna.« On: Happy Just to Be Like I Am. Columbia C 30767. Winchester, Jesse (1974). »Tell Me Why You Like Roosevelt.« On: Learn to Love It. Bearsville BR 6953. Zevon, Warren (1978). »Werewolves of London.« On: Excitable Boy. Asylum Records 6E-118.
Abstract This essay addresses standard accounts of song meaning and argues against the view that songs have fixed meanings that are encoded in the song's combination of music and lyrics. In contrast, my account of song meaning builds on the position that meaningful communication arises in particular communicative acts. However, songs do not themselves qualify as communicative acts. Instead, songs provide opportunities for communicative activity on the various occasions of their performances. Like other literary fictions, song lyrics should be understood as fictional constructs that invite imaginative and empathetic engagement from listeners. True events may have partially inspired a song such as Carly Simon's »You're So Vain,« but the people and events that inspired the song are not who and what the song is about when it is performed.
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ZU
DE N
AUTOREN
Andreas Back studierte Schulmusik und Mathematik an der Technischen Universität Dortmund. Seine Bachelor-Arbeit schrieb er über Head-Arrangements im Kansas City Jazz; seine Master-Arbeit war eine empirische Studie zur JazzImprovisation. Seit 2017 unterrichtet er am Schalker Gymnasium in Gelsenkirchen. Er ist als Saxophonist, Klarinettist und Pianist in verschiedenen Ensembles aktiv. • E-Mail: [email protected]. Fabian Bade, Studium der Schulmusik und Popularmusik an den Musikhochschulen Lübeck und Hamburg sowie am McNally Smith College of Music St. Paul; 2012-2017 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der HMTM Hannover, seit 2019 Wissenschaftlicher Mitarbeiter und zugleich Doktorand an der HMT Rostock. Seit 2011 Lehraufträge an der MH Lübeck und der HMTM Hannover für Musikwissenschaft, Musikpädagogik, E-Bass und Ensemblespiel • Veröffentlichungen s. https://www.hmt-rostock.de/hochschule/lehrende/institut-fuer-musikwis senschaft-und-musikpaedagogik/musikwissenschaft/fabian-bade/ • E-Mail: [email protected]. John Covach is Director of the University of Rochester Institute for Popular Music and Professor of Theory at the Eastman School of Music. He has published dozens of articles on popular music, twelve-tone music, and the philosophy and aesthetics of music. He is the principal author of the college textbook What's That Sound? An Introduction to Rock Music (W.W. Norton) and has coedited Understanding Rock (Oxford University Press), American Rock and the Classical Tradition and Traditions (Routledge), Institutions, and American Popular Music (Routledge), Sounding Out Pop (University of Michigan Press), as well as the forthcoming Cambridge Companion to the Rolling Stones. • EMail: [email protected]. Dietmar Elflein, Dr. phil, lehrt als apl. Professor populäre Musik und Systematische Musikwissenschaft am Institut für Musik und ihre Vermittlung der TU Braunschweig und der HdpK Berlin. Er hat 2009 mit der Arbeit Schwermetallanalysen — Untersuchungen zur musikalischen Sprache des Heavy Metal (transcript 2010) promoviert. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte populärer Musik im deutschsprachigen Raum, populäre Musik und Netzwerktheorie, die Aneignung afroamerikanischer Musik im deutschsprachigen Raum sowie Analyse populärer Musik. • Publikationen und mehr unter www.d-elflein.de.
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ZU DEN AUTOREN Daniel Martin Feige, Studium des Jazzpianos, der Philosophie, der Germanistik und der Psychologie, 2009 Promotion an der Goethe-Universität Frankfurt/ M., 2009-2015 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Sonderforschungsbereich »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste« an der Freien Universität Berlin, 2017 Habilitation ebd. Forschungs- und Publikationsschwerpunkte an der Schnittstelle von theoretischer Philosophie und philosophischer Ästhetik. Monographien zur Kunst, zum Jazz, zum Videospiel und zum Design. • E-Mail: [email protected]. Theodore Gracyk is Professor of Philosophy at Minnesota State University Moorhead and, since 2013, co-editor of the Journal of Aesthetics and Art Criticism. His first book, Rhythm and Noise: An Aesthetics of Rock (Duke University Press 1996) is widely cited for its defense of a new theory of what constitutes the musical work in the practices and reception of rock music. His book I Wanna Be Me: Rock Music and the Politics of Identity (Temple University Press, 2001) was selected as co-winner of the 2002 Woody Guthrie Award. He is the author of four other books on philosophy of art, author of more than fifty articles and book chapters, co-editor of two books, including The Routledge Companion to Philosophy and Music (2011), and co-author of Jazz and the Philosophy of Art (Routledge 2018). • Further information: http://web.mnstate.edu/gracyk/ • E-Mail: [email protected]. Peter Klose studierte Schulmusik und Mathematik an der Universität Dortmund und arbeitet seit 2002 im Schuldienst an verschiedenen Gymnasien und Gesamtschulen, zuletzt seit 2018 am Mallinckrodt-Gymnasium Dortmund. Von 2012 bis 2018 lehrte er Musikwissenschaft, Didaktik und Praxis von Jazz, Pop und Rock als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl Musikpädagogik der TU Dortmund. Er forscht zu praxeologischen Zugängen zu Musik aus musikdidaktischer und musikwissenschaftlicher Perspektive. Als Konzertgitarrist, Bassist und E-Gitarrist ist er solistisch und in verschiedenen Ensembles aktiv. • EMail: [email protected]. Reiner Krämer is a teacher, music theorist, composer, researcher, and programmer. He teaches music theory at the University of Northern Colorado and the history of rock music at Metropolitan State University of Denver. Previously, he was as a Postdoctoral Researcher at McGill University with the Single Interface for Music Score Searching and Analysis project. He has taught at Northeastern State University, and the University of North Texas. He earned a Ph.D. in Music Theory with a related field in Computer Music at the University of North Texas. Krämer's research interests include counterpoint, computational music analysis, popular music, and computer music. • E-Mail: musicus @gmail.com. Martin Pfleiderer, Studium der Musikwissenschaft, Philosophie und Soziologie, 1999-2005 wissenschaftlicher Assistent für Systematische Musikwissenschaft an der Universität Hamburg, 2006 Habilitation mit einer Studie zur Rhythmusgestaltung in populärer Musik, seit 2009 Professor für Geschichte des Jazz und
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ZU DEN AUTOREN der populären Musik am gemeinsamen Institut für Musikwissenschaft der Hochschule für Musik Weimar und der Friedrich-Schiller-Universität Jena, zugleich wissenschaftlicher Leiter des Lippmann+Rau-Musikarchivs in Eisenach. • Veröffentlichungen siehe https://www.hfm-weimar.de/fileadmin/user_upload/ Institute/Musikwissenschaft/Lehrende/Pfleiderer_Martin_Publikationen.pdf • E-Mail: [email protected]. Josef Schaubruch, Studium der Germanistik, Philosophie und Musik auf gymnasiales Lehramt (M.Ed.) in Heidelberg und Mainz. Stipendiat der Leuphana Universität Lüneburg und dort Doktorand im Promotionskolleg »Bildung, Kultur und Diversität« am Institut für Kunst, Musik und ihre Vermittlung. Arbeit an einer Dissertation über Liveness in der elektronischen Tanzmusik mit Blick auf die performative Praxis von Electronic Artists. Aktive musikalische Tätigkeiten (Musikproduktion, DJing). • E-Mail: [email protected]. Dirk Stederoth, Studium der Philosophie, Soziologie und Politik an der Universität Kassel, dort 2001 Promotion über Hegel, 2002-2007 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Kassel, dort von 2007-2014 Lehrkraft für besondere Aufgaben, 2013 Habilitation und Privatdozentur, seit 2014 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Kassel; aktuelle Forschungsschwerpunkte: Kritische Theorie, Musikphilosophie, Bildungsphilosophie. • Veröffentlichungen: www.uni-kassel.de/go/ stederoth • E-Mail: [email protected]. Philipp Teriete, international tätig als Pianist, Komponist und Forscher, 20062014 Studium der Fächer Klavier und Musiktheorie an der Hochschule für Musik Freiburg, der Royal Academy of Music London und dem Conservatoire National Supérieur de Musique Paris. 2014-2017 Studium der Fächer Jazz Composition/ Piano an der Norwegian Academy of Music Oslo und der New York University. 2014-2015 Lehrbeauftragter für Musiktheorie an der HfM Freiburg, 2016-2017 Adjunct Instructor für Jazz Piano/Harmony an der NYU. Seit 2017 Professurvertretung für Musiktheorie an der HfM Freiburg und Promotion zum Thema »The Influence of 19th-Century European Music Theory on Ragtime and Early Jazz«. Weitere Forschungsschwerpunkte: Improvisation im 19. Jh. • Veröffentlichungen: www.philippteriete.com • E-Mail: p.teriete @mh-freiburg.de. Matthias Vogel, Studium der Philosophie, Allgemeinen Sprachwissenschaften, Physik, Geschichte sowie Historische und Systematische Musikwissenschaft an der Universität Hamburg. 1991-2002 Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Assistent am Institut für Philosophie der Universität Frankfurt/M., dort 1994 Promotion (Theorie der Rationalität). 2006 Gastprofessur in Wien, 2007/8 Vertretungsprofessur in Marburg, 2008/9 Forschungsprojektmitarbeiter in Basel. Habilitation (Philosophie des Geistes) an der Universität Frankfurt 2009, seit 2009 Professor für Theoretische Philosophie am Institut für Philosophie der Justus-Liebig-Universität Gießen. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Philosophie des Geistes, Ästhetik und Philosophie der Musik. • Veröffentlichungen: www.uni-giessen.de/fbz/fb04/institute/philosophie/theophil • E-Mail: [email protected].
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Popularmusikforschung ist das Miteinander der Disziplinen im offenen Blick auf die gesamte Breite populärer Musik und Kultur. Seit 1984 bietet die unabhängige Gesellschaft für Popularmusikforschung (GfPM, bis 2014: ASPM) hierfür das mitgliederstärkste Netzwerk im deutschsprachigen Raum. SELBSTVERSTÄNDNIS Unabhängigkeit | Als gemeinnütziger Verein sind wir finanziell, inhaltlich und politisch unabhängig. Aus dieser Position heraus ist es uns möglich, als unabhängige Expert*innen für Popularmusikforschung zu agieren. Vielfalt | Popularmusikforschung widmet sich einem reichen Feld kultureller Texte, Kontexte und Praxen. Wir versammeln in unserem Verein die unterschiedlichsten disziplinären, methodischen, praktischen und theoretischen Zugriffe, um diese zu analysieren, zu diskutieren und zu vermitteln. Internationale Ausrichtung | Popmusikforschung ist für uns selbstverständlich das internationale Miteinander der Disziplinen. Deutsch und Englisch sind unsere Publikations- und Tagungssprachen. AUFGABEN Förderung und Unterstützung | Die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses ist uns wichtig: Wir bieten finanzielle Unterstützung für Reisen und Publikationen aus einem Nachwuchsfond, vergeben jährlich den ersten Förderpreis auf dem Gebiet der Popularmusikforschung und veranstalten für junge Wissenschaftler*innen Workshops und internationale Postgraduate Summer Schools. Outputs | Seit 1984 führen wir jährliche Tagungen durch, deren Ergebnisse in mittlerweile 44 Bänden der Beiträge zur Popularmusikforschung veröffentlicht und online als Volltext-Archiv verfügbar sind. Außerdem publizieren wir das Open Access-Journal SAMPLES (16 Jg.) und die Schriftenreihe texte zur populären musik (Bde. 1-9). Mehr Informationen unter www.popularmusikforschung.de
Musikwissenschaft Michael Rauhut
Ein Klang – zwei Welten Blues im geteilten Deutschland, 1945 bis 1990 2016, 368 S., kart., zahlr. Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3387-0 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3387-4
Sarah Chaker, Jakob Schermann, Nikolaus Urbanek (Hg.)
Analyzing Black Metal – Transdisziplinäre Annäherungen an ein düsteres Phänomen der Musikkultur 2017, 180 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-3687-1 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3687-5
Thomas Phleps (Hg.)
Schneller, höher, lauter Virtuosität in populären Musiken 2017, 188 S., kart., zahlr. Abb. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3592-8 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3592-2
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