Bild und Idol: Perspektiven aus Philosophie und jüdischem Denken 9783631879085, 9783631881101, 9783631881118, 3631879083

Das angebliche Bilderverbot, das im Zweiten Gebot des Dekalogs enthalten sein soll, ist eigentlich ein Idolatrieverbot.

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German Pages 214 [216] Year 2022

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Inhaltverzeichnis
Einleitung (Beniamino Fortis)
Jüdischer Anikonismus. Kritische Rekonstruktion eines Missverständnisses von Kant und Hegel bis zum 20. Jahrhundert (Beniamino Fortis)
Bildersturz und Bilderliebe bei Hermann Cohen (Asher D. Biemann)
Von der „kultlich erheischten Hingabe an das geschaffene Idolon“. Aby Warburgs Kulturwissenschaft als Idolatriekritik (Ellen Rinner)
Die Adaption des jüdischen Bilderverbots in der Dialektik der Aufklärung. Zum Verhältnis von Sprache, Aufklärung und Offenbarung (Mario Cosimo Schmidt)
Sturm in der Erscheinung. Zum Bilderverbot in Ernst Blochs Ästhetik des Vorscheins (Lars Tittmar)
Das Bilderverbot in der Ästhetik von Emmanuel Levinas (Johannes Bennke)
Secret Followers of the Hidden God. Derrida’s Marrano Iconoclasm (Agata Bielik-​Robson)
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Bild und Idol: Perspektiven aus Philosophie und jüdischem Denken
 9783631879085, 9783631881101, 9783631881118, 3631879083

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Bild und Idol

APELIOTES STUDIEN ZUR KULTURGESCHICHTE UN D THEOLOGIE Herausgegeben von Rainer Kampling

BAND 16

Beniamino Fortis (Hrsg.)

Bild und Idol Perspektiven aus Philosophie und jüdischem Denken

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Gefördert durch das Selma Stern Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg

ISSN 1862-801X ISBN 978-3-631-87908-5 E-ISBN 978-3-631-88110-1 (E-PDF) E-ISBN 978-3-631-88111-8 (EPUB) DOI 10.3726/b19836 © Peter Lang GmbH Internationaler Verlag der Wissenschaften Frankfurt am Main 2022 Alle Rechte vorbehalten. Peter Lang Edition ist ein Imprint der Peter Lang GmbH. Peter Lang – Frankfurt am Main · Bern · Bruxelles · New York · Oxford · Warszawa · Wien Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Diese Publikation wurde im Peer-Review-Verfahren begutachtet. www.peterlang.com

Inhaltverzeichnis Beniamino Fortis Einleitung ������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 7 Beniamino Fortis Jüdischer Anikonismus. Kritische Rekonstruktion eines Missverständnisses von Kant und Hegel bis zum 20. Jahrhundert ��������������������������������������������������������������������������������������������� 19 Asher D. Biemann Bildersturz und Bilderliebe bei Hermann Cohen ������������������������������������������������� 49 Ellen Rinner Von der „kultlich erheischten Hingabe an das geschaffene Idolon“. Aby Warburgs Kulturwissenschaft als Idolatriekritik ���������������������������������������� 75 Mario Cosimo Schmidt Die Adaption des jüdischen Bilderverbots in der Dialektik der Aufklärung. Zum Verhältnis von Sprache, Aufklärung und Offenbarung �������������������������  103 Lars Tittmar Sturm in der Erscheinung. Zum Bilderverbot in Ernst Blochs Ästhetik des Vorscheins ��������������������������  135 Johannes Bennke Das Bilderverbot in der Ästhetik von Emmanuel Levinas ������������������������������  157 Agata Bielik-​Robson Secret Followers of the Hidden God. Derrida’s Marrano Iconoclasm ������������������������������������������������������������������������������  185 Autorinnen und Autoren ��������������������������������������������������������������������������������������  211

Beniamino Fortis

Einleitung „Das seltsamste Gebot der Bibel“. Und eine Zeile danach: „das seltsamste Verbot des Dekalogs“1 –​mit diesen Worten äußert sich Jan Assmann zu den Thoraversen Ex. 20: 4 und Dt. 5: 8, die viele immer noch hartnäckig als ‚Bilderverbot‘ interpretieren. In der Tat erscheint die in den zwei Passus enthaltene Vorschrift im Vergleich zu anderen selbstverständlicheren, gelinde gesagt, rätselhaft, und sorgt auf den ersten Blick für eine gewisse Ratlosigkeit. Die Diskussion dazu droht aber, zu vage zu bleiben, solange sie mit keiner soliden textlichen Basis versehen wird. Es lohnt sich daher, den hier infrage stehenden Text vollständig zu zitieren, welcher lautet: „Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist.“2 Der Wortlaut ist klar und eindeutig, und lässt denken, alle Bilder seien verboten. Die oben genannte Ratlosigkeit stellt sich dann wegen der offensichtlichsten Frage ein, die wahrscheinlich jedem beim Lesen einfällt: Warum? Während andere biblische Gebote –​wie z. B. das Verbot von Mord und Diebstahl –​leicht verständlich sind und sich auch in nicht-​biblischen Kulturen wiederfinden lassen, könnte man dagegen in Bezug auf ein anscheinend so umfassendes ‚Bilderverbot‘ mit Assmann fragen: Was ist so schlimm an den Bildern?

1 Assmann, Jan: „Was ist so schlimm an den Bildern?“. In: Joas, Hans (Hrsg.): Die Zehn Gebote, Ein widersprüchliches Erbe? Böhlau: Köln 2006, S. 17–​32, hier S. 17. 2 Ex. 20: 4 und Dt. 5: 8. Bekanntlich erscheint das Gebot sowohl im Exodus wie auch im Deuteronomium und der Unterschied zwischen den zwei Fassungen besteht grundsätzlich in einem einzigen Buchstaben: dem ‚‫( ‘ו‬waw), das nur im Ex. 20: 4 und nicht im Dt. 5: 8 zu finden ist. Die An-​bzw. Abwesenheit vom ‚‫( ‘ו‬waw) setzt in den zwei Versionen unterschiedliche Akzente, die vor allem für die Reflexion über die numerische Aufteilung der Gebote und die Beziehung zwischen ihnen relevant sind. Für eine Einführung in die theologische Debatte um die zwei Fassungen des Dekalogs cf. Zimmerli, Walther: „Das Zweite Gebot“ (1950). In: Id. (Hrsg.): Gottes Offenbarung. Theologische Bücherei: München 1963, S. 234–​248; Childs, Brevard S.: The Book of Exodus. A Critical Theological Commentary. The Westminster Press: Philadelphia 1974, S. 404–​409; Hossfeld, Frank-​Lothar: Der Dekalog. Seine späten Fassungen, die originale Komposition und seine Vorstufen. Vandenhoeck und Ruprecht: Göttingen 1982, S. 21–​26; Dohmen, Christoph: Das Bilderverbot. Seine Entstehung und seine Entwicklung im Alten Testament. Hanstein: Bonn 1985, S. 213–​216; Petry, Sven: Die Entgrenzung JHWHs. Monolatrie, Bilderverbot und Monotheismus im Deuteronomium, in Deuterojesaja und im Ezechielbuch. Mohr Siebeck: Tübingen 2007, S. 40–​43.

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Einleitung

1. Bild und Idol Ein Großteil der Schwierigkeiten, denen man beim Versuch, Ex. 20: 4 und Dt. 5: 8 zu verstehen, begegnet, ist einerseits auf Ebene der Textübersetzung verortet und geht andererseits aus der geschichtlichen Natur der menschlichen Bildauffassung hervor. Zum ersten Punkt muss hier die Bemerkung genügen, dass das Objekt des Verbotes im Originaltext mit einem Wort –​‫( פסל‬pesel) –​bezeichnet wird, das nicht ‚das Bild‘ im Allgemeinen bedeutet, sondern nur dasjenige, das im Bereich des Kultes verwendet wird und daher sich am besten mit ‚Kultbild‘ wiedergeben lässt.3 Was die Bildauffassung und ihre geschichtliche Natur angeht, findet man einen möglichen Ansatzpunkt zu einer so komplexen Problematik beispielsweise in Karl-​ Heinz Bernhardts Werk Gott und Bild, in dem man liest: […] bei einem ‚Bilde‘ denken wir modernen Menschen doch immer zunächst an eine Darstellung, deren Zweck es ist, dem Betrachter einen Vorgang, eine Person oder einen Gegenstand in naturgetreuer Wiedergabe zu veranschaulichen. Diese Aufgabe aber ist dem Götterbild des Altertums fremd. Das Kultbild im Tempel ist immer ein Körper, häufig aber kein ‚Bild‘ im Sinne einer Darstellung. Das Götterbild im alten Orient –​und darüber hinaus im Altertum überhaupt –​ist ein Körper, den das Fluidum des betreffenden Gottes beseelt.4

Ein Grundunterschied taucht also aus Bernhardts Worten auf: Eine moderne Bildauffassung, der zufolge Bilder als Darstellungen auf etwas –​eventuell auch auf eine Gottheit –​verweisen, unterscheidet sich radikal von einer antiken Auffassung, in welcher ein Bild eine Gottheit so beherbergt, wie ein Körper eine Seele. Ein und dasselbe Bild kann anders gesagt unterschiedliche Funktionen annehmen, je nach der geschichtlich bedingten Perspektive, von der aus es angesehen wird: nämlich, eine verweisende Funktion in der Moderne, eine verkörpernde in der Antike.5 Bernhardts Ansicht findet dann eine Parallele –​und wohl auch eine Zuspitzung –​in Régis Debrays Buch Vie et mort de l’image: Une histoire du regard en Occident, dessen Grundbegriff, ‚le regard‘ –​auf Deutsch ‚Blick‘ oder ‚Bildbetrachtung‘ –​als ‚die Art und Weise, wie Bilder angesehen sind‘ definierbar ist. Für Debray zeichnet sich le regard durch seine aktive und geschichtliche Natur aus. Anders als man denken könnte, besteht er in keiner passiven Aufnahme von sichtbaren Elementen, sondern in deren aktiver Einrichtung, welche immer in einem geschichtlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Kontext eingeschrieben ist. Wie Debray sagt: „Sehen heißt nicht, das Sichtbare passiv zu erhalten, sondern es 3 Für eine ausführlichere Erörterung der verschiedenen Übersetzungslösungen verweise ich auf meinen Aufsatz (Abschnitt 3.2. Quaestio Juris) im vorliegenden Band. 4 Bernhardt, Karl-​Heinz: Gott und Bild. Ein Beitrag zur Begründung und Deutung des Bilderverbotes im Alten Testament. Evangelische Verlagsanstalt: Berlin 1965, S. 31. 5 Zum theoretischen Unterschied zwischen Verkörperung und Verweisung cf. Sachs Hombach, Klaus: Das Bild als kommunikatives Medium. Elemente einer allgemeinen Bildwissenschaft. Herbert von Halem: Köln 2013, S. 33–​38.

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aktiv einzuordnen und Erfahrung zu organisieren. Das Bild bezieht seinen Sinn aus der Betrachtung […] und dieser Sinn ist nicht spekulativ, sondern praktisch ausgerichtet.“6 Debrays Leitthese ist, dass le regard eine Geschichte hat, die sich dann als solche konventionell in Zeitaltern aufteilen lässt, denen unterschiedliche Bildfunktionen entsprechen.7 Genauer gesagt: In einem ersten Zeitalter wendet sich ein magisch-​ religiöser Blick dem Bild so zu, wie dem Schwerpunkt einer Verkörperungsdynamik, die das etabliert, was Debray ‚Regime des Idols‘ nennt. Im Übergang vom ersten zu einem zweiten Zeitalter kommt es dann bei den Modi der Bildbetrachtung zu einer radikalen Veränderung: Der magisch-​religiöse Blick weicht einem ästhetischen; die Dynamik der Verkörperung einer der Verweisung und schließlich das Regime des Idols dem sogenannten ‚Regime der (künstlerischen) Darstellung‘.8 Die Theorien von Bernhardt und Debray haben den Vorzug, den Unterschied zwischen dem Bild und seinen Funktionen zu markieren –​zwischen dem, was beobachtet wird, und den Formen, wie es betrachtet wird. In dieser Hinsicht bleibt nur das Bild gewissermaßen konstant, während seine Funktionen jeweils von der Art des Blicks abhängen, die sich in jedem Zeitalter als tonangebend erweist. Das Begriffspaar, das diesem Sammelband seinen Titel gibt, zeichnet sich dann als ein heterogenes ab, denn während das Bild als eine Entität aufgefasst werden kann, entspricht das Idol nur einer der möglichen Bildfunktionen, nämlich der ­verkörpernden.9 Die letzte Bemerkung erlaubt schließlich, auf Assmanns Frage zurückzukommen, die noch offengeblieben war: Was ist so schlimm an den Bildern? –​fragte er emphatisch. Es ist nichts Schlimmes an den Bildern –​könnte man erwidern. Viel Schlimmes ist jedoch an den Idolen. Hochproblematisch ist also nicht das Bild an sich, sondern die idolatrische (d. h. verkörpernde) Funktion, die ihm durch einen geschichtlich, gesellschaftlich und kulturell geprägten Blick beigemessen werden

6 Debray, Régis: Vie et mort de l’image. Une histoire du regard en Occident. ­Gallimard: Paris 1992, S. 56. 7 Die Idee, dass unterschiedliche Epochen mit unterschiedlichen Funktionen des Bildes einhergehen, ist heute weitgehend akzeptiert. Neben Debrays Buch lohnt es sich, auch folgende Arbeiten in Betracht zu ziehen: Vernant, Jean-​Pierre: „Du double à l’image“ (1983). In: Id. (Hrsg.): Mythe et pensée chez les Grecs. Études de psychologie historique. La Découverte: Paris 1988. S. 323–​351; Boehm, Gottfried: „Die Bilderfrage“. In: Id. (Hrsg.): Was ist ein Bild? Fink: München 1994, S. 325–​343; Kamper, Dietmar: „Bild“. In: Wulf, Christoph (Hrsg.): Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Beltz: Weinheim 1997, S. 589–​595; Wulf, Christoph: Anthropologie: Geschichte, Kultur, Philosophie. Rowohlt: Reinbek bei Hamburg 2004, S. 227–​249. 8 Besonders aufschlussreich ist zu diesem Punkt die Tabelle in Debrays Buch. Cf. Debray, S. 292–​293. Cf. auch Morgan, David: The Sacred Gaze. Religious Visual Culture in Theory and Practice. University of California Press: Berkeley /​Los Angeles /​London 2005. 9 Cf. den Hinweis auf Jean-​Luc Marion in meinem Aufsatz, Anm. 76.

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kann. In der Thora –​so kann man aus dem Gesagten schließen –​sind nur Idole verboten, und das vermeintliche Bilderverbot in Ex. 20: 4 und Dt. 5: 8 erweist sich dann eher als ein Idolatrieverbot.

2. Zwei Beispiele Obwohl nicht explizit thematisiert, wie es bei einer theologischen oder medienwissenschaftlichen Studie der Fall wäre, ist der Unterschied zwischen Bild und Idol auch in den Quellen des Judentums10 auffindbar. Zwei Beispiele –​unter vielen anderen möglichen –​sind meiner Meinung nach besonders geeignet, um zum einen zu illustrieren, dass nicht jedes Bild unbedingt als Idol gilt, aber zum anderen auch, dass jedes Bild zum Idol werden kann. Das erste Beispiel stammt aus der Thora und betrifft die Episode der ehernen Schlange: Und das Volk wurde verdrossen auf dem Wege und redete wider Gott und wider Mose: Warum habt ihr uns aus Ägypten geführt, dass wir sterben in der Wüste? Denn es ist kein Brot noch Wasser hier, und uns ekelt vor dieser mageren Speise. Da sandte der Herr feurige Schlangen unter das Volk; die bissen das Volk, dass viele aus Israel starben. Da kamen sie zu Mose und sprachen: Wir haben gesündigt, dass wir wider den Herrn und wider dich geredet haben. Bitte den Herrn, dass er die Schlangen von uns nehme. Und Mose bat für das Volk. Da sprach der Herr zu Mose: Mache dir eine eherne Schlange und richte sie an einer Stange hoch auf. Wer gebissen ist und sieht sie an, der soll leben. Da machte Mose eine eherne Schlange und richtete sie hoch auf. Und wenn jemanden eine Schlange biss, so sah er die eherne Schlange an und blieb leben.11

Der strittige Punkt ist natürlich das Bild der Schlange. Es ist klar, dass ein solches Bild, dessen Schaffung direkt von Gott angeordnet wird, kein Idol sein darf. Jedoch ist es ebenso klar, dass die heilenden Fähigkeiten der ehernen Schlange einer magisch-​idolatrischen Macht stark ähneln, die das Idolatrieverbot zu verletzen scheint. Der Text der Thora bietet keine Hinweise zur Lösung dieses scheinbaren Widerspruchs, der aber im Talmud ausführlich diskutiert wird. Insbesondere im Mishnatraktat Rosh Hashanah ist von der Bedeutung der ehernen Schlange die Rede: „Konnte denn die Schlange töten oder am Leben erhalten?“12 –​lautet die rhetorische Frage, auf die eine negative Antwort erwartet wird. Nein, das Bild der Schlange hat keine eigene Macht und ist daher nicht in der Lage, zwischen Tod und Leben zu entscheiden. „Vielmehr –​liest man im Text weiter –​wenn Israel nach oben schaut und sie ihr Herz ihrem Vater im Himmel unterwerfen, so genesen sie, 1 0 Hier wurden vor allem Thora, Mishna und Talmud in Betracht gezogen. 11 Num. 21: 4–​9. Cf. auch Eller Rinners Aufsatz in diesem Band, Anm. 26. 12 TB, Rosh Hashanah: 29a, 7.

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wenn aber nicht, so siechen sie dahin.“13 Das heißt, dass das Bild der Schlange laut den Weisen des Talmuds nicht als Idol, sondern eher als bloßes Mittel fungiert, wodurch das Volk dazu geführt wird, nach oben zu schauen und sich durch diese Geste Gott wieder zuzuwenden.14 Wenn die Episode in Numeri als Argument dafür gelten kann, dass im Judentum auch nicht idolatrische Bilder vorgesehen oder zumindest möglich sind, dann kann eine weitere Thora-​Stelle zeigen, dass selbst ein ursprünglich nicht idolatrisches Bild wie die eherne Schlange immer noch dem Risiko einer späteren Idolisierung ausgesetzt ist. Die Stelle befindet sich in 2. Könige, wo es berichtet wird, dass der König von Juda, Hiskija, „die eherne Schlange [zerschlug], die Mose gemacht hatte. Denn bis zu dieser Zeit hatten ihr die Israeliten geräuchert.“15 Das zeigt, dass eine Veränderung der Umstände auch eine Veränderung der Bildfunktionen mit sich bringen kann. Und in den neuen Umständen kann selbst die von Gott gewollte eherne Schlange eine idolatrische Funktion annehmen, welche die Zerstörung des Bildes erfordert. Ein weiteres Beispiel kann aber auch den gegenläufigen Prozess, d. h. das Gegenteil der Idolisierung, veranschaulichen. Dabei geht es also nicht mehr um ein nicht idolatrisches Bild, das zum Idol wird, sondern umgekehrt um ein Idol, das seine idolatrische Funktion verliert. Außer der bekannten und meistzitierten Episode von Rabban Gamliel im Bad der Aphrodite16 kann auch ein bestimmt weniger bekannter Passus an dieser Stelle aufschlussreich sein. Im Traktat Rosh Hashanah wird von einer Synagoge erzählt, die zerstört wurde und deren Steine benutzt wurden, um sie an einem neuen Ort, in Nehardeah, wieder aufzubauen. Die Tatsache, dass sich eine (von anderen Völkern verehrte) Statue am neuen Ort befindet, gibt

1 3 Ibid. 14 Davon ausgehend wird sogar die These vertretbar, die Stange, die das Bild stützt, sei viel wichtiger als das Bild selbst, denn es ist ja die Stange, die den Blick nach oben leitet, damit sich das Herz wieder nach Gott richtet. Cf. Levi Della Torre, Stefano: „«Non ti farai alcuna immagine»“. La Rassegna Mensile di Israel 64(2), 1998, S. 1–​28. 15 2. Kön. 18: 4. 16 Zu dieser Talmuderzählung cf. u.a. meinen Aufsatz in diesem Sammelband (Abschnitt 3.2. Quaestio Juris) sowie Yadin, Azzan: „Rabban Gamliel, Aphrodite’s Bath, and the Question of Pagan Monotheism“. The Jewish Quarterly Review 96(2), 2006, S. 149–​179; Raphael, Melissa: Judaism and the Visual Image. A Jewish Theology of Art. Continuum: London 2009, S. 27; Picard, Jacques: „Aphrodite zu Besuch bei Rabban Gamaliel. Über Bildverbot, Kunstproduktion und Körperlichkeit“. In: Kampling, Rainer (Hrsg.): „Wie schön sind deine Zelte, Jakob, deine Wohnungen, Israel!“ (Num 24,5): Beiträge zur Geschichte jüdisch-​europäischer Kultur. Peter Lang: Berlin 2009, S. 79–​98; Fontana, Raniero: Avodah Zarah. Un’introduzione al discorso rabbinico sull’idolatria. Mimesis: Milano-​Udine 2011, S. 71–​75; Gvaryahu, Amit: „A New Reading in the Three Dialogues in Mishnah Avodah Zarah“. Jewish Studies Quarterly 19, 2012, S. 207–​229.

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allerdings keinen Anlass zum Idolatrieverdacht –​sagen die Talmudgelehrten –​, denn in einer Synagoge beten normalerweise mehrere Juden zusammen und bei einer großen Gruppe sind idolatrische Absichten extrem unwahrscheinlich, wenn nicht sogar unmöglich.17 Einmal mehr ist es der Kontext, der ausschlaggebend dafür ist, ob ein Bild eine idolatrische oder nicht idolatrische Funktion erfüllt. Eine Synagoge, in der sich eine Gemeinde versammelt, stellt einen Kontext dar, in dem idolatrische Handlungen nicht einmal infrage kommen können. Das idolatrische Potenzial des Bildes wird wegen bzw. dank seiner Kontextualisierung im Keim erstickt. Und, obwohl materiell anwesend, wird das Bild in seinen Funktionen neutralisiert –​im etymologischen Sinne von ‚neutral (d. h. harmlos) gemacht‘.

3. Idole und Philosophie Die Beiträge von Bernhardt und Debray sowie die Beispiele aus Thora und Talmud zeigen, dass nicht das Bild an sich, sondern seine Funktion zur Bestimmung der Idolatrie entscheidend ist. Bei idolatrischen Praktiken spielt anders gesagt nicht so sehr das jeweils verehrte Bild die zentrale Rolle als vielmehr die menschliche Einstellung, die es als Verkörperung einer Gottheit (d. h. eben als Idol) versteht und daher als verehrenswert erscheinen lässt. Um hier Debrays Terminologie zu verwenden, könnte man sagen, dass der Akzent viel stärker auf den idolatrischen Blick selbst zu setzen ist als darauf, was idolatrisch angeblickt wird. Dies führt dazu, den Grund der Idolatrie primär in einer ‚menschlichen Haltung‘ zu erkennen, die als solche, kraft der allgemeinen Gültigkeit, die sie als ‚menschliche‘ aufweist,18 nicht wesentlich an ihr besonderes, ursprüngliches Objekt 17 Der Text lautet: „in Nehardeah war ja eine Statue aufgestellt, dennoch gingen da Rabh, Šemuél, der Vater Šemuéls und Levi beten, ohne Verdacht zu fürchten!? –​ Anders ist es bei einer Mehrheit.“ (TB, Rosh Hashanah: 24b, 11). Frei paraphrasiert heißt es: Rabh, Šemuél, sein Vater und Levi besuchten regelmäßig die Synagoge in Nehardea͑ trotz der Statue, die dort war. Dies war möglich, weil die Anwesenheit einer Mehrheit (von Juden) –​wie es in einer Synagoge meist der Fall ist –​das Risiko eines idolatrischen Missbrauchs zu einer entfernten Möglichkeit macht. 18 Die Ansicht, Idolatrie sei das Ergebnis einer menschlichen Haltung, die aus der endlichen Natur des Menschen hervorgeht, ist vor allem im Bereich der Religionsphänomenologie vertreten. Cf. zu diesem Thema das ‚Kreaturgefühl‘ und seine Folgen in Otto, Rudolf: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. Trewendt & Granier: Breslau 1917. Die Erfahrung einer ‚Macht‘ und die menschlichen (u.a. auch idolatrischen) Reaktionen darauf sind für den niederländischen Religionswissenschaftler van der Leeuws die Grundlagen der Religion, cf. van der Leeuw, Gerardus: Phänomenologie der Religion. Mohr ­Sie­beck: Tübingen 1933, § 3 und § 65. Ebenso wichtig ist dann in diesem Zusammenhang auch Schelers Auffassung des ‚religiösen Akts‘ und seines Oszillierens zwischen ‚Glaube an Gott‘ und ‚Glaube an Idole‘, in Scheler, Max: Vom Ewigen im Menschen (1921). Francke: Bern 1954, S. 261–​264. Die Religionsphänomenologen scheinen

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(d. h. an Bilder) gebunden ist, sondern sich auch auf andere Objekte im Bereich des Menschlichen beziehen kann. Einfach ausgedrückt: Dass sich jene menschliche Haltung, die der Idolatrie zugrunde liegt, ursprünglich in Form von Bildkulten manifestiert hat, bedeutet gar nicht, dass sie auch in ihren späteren bzw. heutigen Manifestationen ausschließlich mit Bildern einhergehen muss. Wenn es stimmt, dass es nicht idolatrische Bilder, wie gezeigt, geben kann, so trifft es ebenso zu, dass auch nicht bildliche Idole möglich sind. Die lateinischen adverbialen Ausdrücke stricto sensu und lato sensu können dabei von Nutzen sein, um über unterschiedliche Idolatrieformen Rechenschaft abzulegen. Die erste Form wäre dann als Idolatrie stricto sensu definierbar und ist diejenige, die in der Thora –​und im Judentum im Allgemeinen –​in Bezug auf Kultbilder verurteilt wird. Idolatrie lato sensu wäre dagegen eine zweite Form, welche die erste in übertragener Weise widerspiegelt und über Kultbilder hinaus auch andere Elemente zu ihrem Objekt haben kann. Das ist zum Beispiel der Fall bei solchen Phänomenen wie der sogenannten ‚Idolatrie des Geldes‘, der ‚Idolatrie der Macht‘ oder Ähnlichem, die mit dem Kult von Bildern nicht das Objekt, sondern die idolatrische Haltung teilen. Anhand der Sinnverbindung zwischen stricto und lato sensu ist es außerdem möglich, eine besondere Affinität zwischen Judentum und Philosophie hervorzuheben, die trotz ihrer naheliegenden Unterschiede in einer scharfen Kritik der ‚Idolatrie‘ –​bei aller Weite des semantischen Spektrums des Wortes –​übereinzustimmen scheinen. Genauer gesagt lässt sich dabei eine Parallele ziehen: Wie sich das Judentum gegen Idole stricto sensu (d. h. Kultbilder) einsetzt, so hat die Philosophie eine lange Tradition der Feindschaft gegen Idole lato sensu –​insbesondere gegen diejenigen, die ‚Idole des Denkens‘ genannt werden können, wie z. B. Dogmen, Vorurteile und unkritische Stellungnahmen jeder Art.19 außerdem, einen prominenten Vorläufer in Nietzsche zu haben. Der Aphorismus 111 in Menschliches, Allzumenschliches I, dessen Titel ‚Ursprung des religiösen Cultus‘ lautet, zeigt, dass zwischen ‚Macht‘, ‚Verherrlichung‘ und ‚Kultbild‘ eine Verbindung besteht, die auch in vielen Arbeiten der Religionsphänomenologie thematisiert wird. Cf. Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches I (1878). In: Colli, Giorgio /​ Montinari, Mazzino (Hrsg.): Kritische Studienausgabe. De Gruyter: Berlin-​New York 1967–​1977, Bd. 2, S. 9–​366, bes. S. 112–​116. 19 Argumente für eine Erweiterung des Begriffs ‚Idolatrie‘ –​von seiner Bedeutung stricto sensu zu seiner Bedeutung lato sensu –​werden in der Sekundärliteratur von verschiedenen Seiten angeführt. Cf. z. B. Fackenheim, Emil L.: „Idolatry as a Modern Possibility“. In: Id. (Hrsg.): Encounters between Judaism and Modern Philosophy. Jewish Publication Society of America: Philadelphia 1973, S. 173–​198, bes. S. 180; Lévinas, Emmanuel: „Mépris de la Thora comme idolâtrie“. In: Halpérin, Jean /​Lévitte, Georges (Hrsg.): Idoles. Données et débats. Actes du XXIVe Colloque des intellectuels juifs de langue française. Denoël: Paris 1985, S. 201–​217, bes. S. 201; Halbertal, Moshe /​Margalit, Avishai: Idolatry. Harvard University Press: Cambridge (MA) 1992, S. 241; Belting, Hans: „Idolatrie heute“. In: Belting, Hans /​Kamper, ­Dietmar (Hrsg.): Der Zweite Blick. Bildgeschichte und Bildreflexion. Fink: München 2000, S. 273–​280, bes.

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Als falsche Annahmen versteht beispielsweise Francis Bacon die eidola, „welche den menschlichen Geist besetzt halten“20 und das korrekte Denken hemmen. Nur ihre Zerstörung –​schreibt Bacon im Novum Organum –​kann den Zugang zur Wahrheit erschließen, und konstituiert daher die notwendige pars destruens des menschlichen Denkwegs. Friedrich Nietzsche –​um ein weiteres Beispiel zu nennen –​scheint, sich in seinem Werk Götzen-​Dämmerung21 auf Bacon zu berufen,22 da das Wort ‚Götzen‘ im Titel die Werte bezeichnet, die mit dem Hammer der philosophischen Kritik niedergerissen werden sollen. Und in eine ganz ähnliche Richtung zielt schließlich auch das Werk eines Philosophen wie Ludwig Wittgensteins, der sogar so weit geht, die genuine Aufgabe der Philosophie in Termini von ‚Idolzerstörung‘ zu artikulieren: „Alles, was die Philosophie tun kann[,]‌ist, Götzen [zu] zerstören“ –​sagt Wittgenstein –​„Und das heißt, keinen neuen […] zu schaffen.“23 Bacon, Nietzsche und Wittgenstein sind aber nur einige der Philosophen, die das Motiv der Anti-​Idolatrie in ihr Denken aufgenommen und geltend gemacht haben, denn auch viele andere Denker –​oft auch unter explizitem Rückgriff auf die Bibel –​haben sich gegen die menschliche Neigung zur idolatrischen Haltung kritisch gewendet. Damit lässt sich eine tiefe Verwandtschaft zwischen Judentum und Philosophie aufgrund ihres gemeinsamen Widerstrebens gegen die Idolatrie feststellen. Zwei unterschiedliche Denktraditionen scheinen also, in ihrer Kritik an der Idolatrie zu konvergieren –​und genau der Untersuchung dieser Konvergenz sind die hier gesammelten Aufsätze gewidmet.

4. Die Aufsätze In meinem Aufsatz, der den Sammelband eröffnet, gehe ich auf das Missverständnis ein, aufgrund dessen die jüdische Anti-​Idolatrie irrtümlicherweise als ein Bilderverbot mit anikonischen Folgen aufgefasst wird. In der Thora –​es lohnt sich, darauf zu bestehen –​sind nur Idole verboten, und diese sind nicht mit Bildern zu verwechseln. Jedoch wurde die Überzeugung, das Zweite Gebot des Dekalogs sei ein radikales Verbot aller Bilder, welches das Judentum zu einem radikalen Anikonismus zwinge, erst im 20. Jahrhundert als historiografischer Mythos entlarvt, denn in der Zeit davor haben die Theorien von Kant und Hegel entscheidend

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S. 278; Benson, Bruce E.: Graven Ideologies. Nietzsche, Derrida & Marion on modern Idolatry. InterVersity: Downers Grove (IL) 2002. Bacon, Francis: Novum Organum Scientiarum (1620), Bd. 1, § 39. Nietzsche, Friedrich: Götzen-​Dämmerung oder wie man mit dem Hammer philosophirt (1889). In: Colli, Giorgio /​Montinari, Mazzino (Hrsg.): Kritische Studienausgabe. De Gruyter: Berlin-​New York 1967–​1977, Bd. 6, S. 55–​160. Bacons Einfluss auf Nietzsche wurde unter anderem von Walter Kaufmann hervorgehoben. Cf. Kaufmann, Walter: The Portable Nietzsche. Penguin: London 1976, S. 463. Wittgenstein, Ludwig: The Big Typescript. In: Luckhardt, Grant /​Aue, Maximilian (Hrsg.): Kritische zweisprachige Ausgabe Deutsch-​Englisch. Blackwell: Oxford 2005, S. 305.

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dazu beigetragen, die falsche Idee eines anikonischen Judentums zu fördern. Mein Aufsatz bietet eine kritische Rekonstruktion des ‚anikonischen Missverständnisses‘ von seinem Entstehen mit Kant und Hegel bis zu seiner Beseitigung im 20. ­Jahrhundert. Mit seinen zwei Teilen –​jeweils ‚Bildersturz‘ und ‚Bilderliebe‘ betitelt –​fokussiert der Aufsatz von Asher D. Biemann auf die zwei Hauptdimensionen von Hermann Cohens Bildauffassung. Einerseits wird das moderne Thema des Bildersturzes als eine Kulturkritik betrachtet, die sich auch bei Denkern wie Freud, Adorno oder Fromm wiederfinden lässt. Andererseits wird aber auch ein „unerwarteter Einklang […] zwischen dem Bildverbot des Monotheismus und der reinen Kunst“24 von Cohen selbst betont. Davon ausgehend liest Biemann Cohens Kunstverständnis als ein solches, das auf ‚Menschenliebe‘ basiert und eine ‚Erotik der Bilder‘ nicht nur toleriert, sondern sogar postuliert. Ellen Rinner untersucht in ihrem Essay das Nachleben des Zweiten Gebots in Aby Warburgs Kulturwissenschaft, wobei das Idolatrieverbot, als Idolatriekritik aufgefasst, die Funktion eines methodologischen Paradigmas einnehmen kann. Die idolatriekritische Agenda Warburgs liegt nicht nur seinem Bildbegriff zugrunde, sondern lässt sich auch mit Blick auf sein zentrales Thema –​das Nachleben der Antike –​nachweisen. Entlang zweier Studien Warburgs arbeitet Rinner heraus, dass seinen bildgeschichtlichen Forschungen immer auch ein ideologiekritischer Impetus eingeschrieben ist, der unmittelbar auf kulturpolitische Debatten seiner Gegenwart reagiert. So wird die zentrale Bedeutung der jüdischen kulturellen Tradition für Warburgs Kulturwissenschaft sichtbar, gerade auch im Hinblick auf seine Verortung im akademischen Diskurs deutsch-​jüdischer ­Wissenschaftsgeschichte. Die Dialektik der Aufklärung25 von Horkheimer und Adorno ist der Fokus des Aufsatzes von Mario Cosimo Schmidt. Bekanntlich findet sich im Werk, zusammen mit einer scharfen Kritik am historischen Prozess der Aufklärung, auch ein Neudenken der jüdischen Anti-​Idolatrie, die mit dem philosophischen Verfahren der bestimmten Negation assoziiert wird. Für Schmidt stellt aber der Rekurs auf die jüdische Religion mehr als einen Notnagel dar, an dem Horkheimer und Adorno ihre Kritik aufhängen, um nicht ins Bodenlose abzustürzen. Vielmehr sehen sie im biblischen Verbot ein Stück geglückter Entmythologisierung –​im Kontrast zur historischen Aufklärung, die dem Mythos gerade nicht entronnen ist. Mit dem Bilderverbot in Ernst Blochs Ästhetik des Vorscheins beschäftigt sich Lars Tittmar. Das Wort ‚Bilderverbot‘ im Aufsatztitel darf aber nicht täuschen. Wie man dem Text entnehmen kann, geht es Bloch nicht um eine –​höchst

24 Cohen, Hermann: Ästhetik des reinen Gefühls. Bruno Cassirer: Berlin 1912, Bd. 2, S. 260. 25 Adorno, Theodor Wiesengrund /​Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung (1947): In: Horkheimer, Max: Gesammelte Schriften. Fischer: Frankfurt am Main 1987, Bd. 5, S. 11–​290.

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unwahrscheinliche –​Affirmation des Anikonismus, sondern eher um eine Denkbewegung, die sich in Bezug auf die Bibel sowie auch im Gespräch mit Theodor Wiesengrund Adorno entwickelt und die Ästhetik des Vorscheins tiefgreifend beeinflusst. In die kritische Analyse dieses Einflusses integriert Tittmar dann auch die Untersuchung von Begriffen wie dem Fragmentarischen und dem Utopischen, die im Denken Blochs –​zwischen ästhetischer und politischer Dimension –​eine tragende Rolle spielen. Bildtheoretischen und ästhetischen Fragen widmet sich Johannes Bennke, der von Emmanuel Lévinas’ Schlüsseltext La réalité et son ombre26 ausgeht, um für eine ‚Umkehrung des Bilderverbots in ein Gebot der Bilder‘ zu argumentieren. Damit ist u.a. eine paradoxe ‚ikonoklastische Ikonophilie‘ gemeint, wobei aus der Zerstörung von Bildern immer wieder neue Bilder entstehen. Durch eine ideologiekritische Lesart zeigt Bennke außerdem, wie Lévinas’ Interesse an der Idee eines Bilderverbotes weit über den Bereich von Kunst und Ästhetik hinaus geht und die Bedeutung einer grundlegenden Skepsis dem Denken gegenüber annimmt. Es ist schließlich in dieser Hinsicht, dass sich Lévinas’ Überlegungen auch in den theoretischen Rahmen von Repräsentationskritik und Kritik der Totalität einschreiben. Agata Bielik-​Robson schließt den Sammelband mit einem Beitrag über Jacques Derrida und seine Deutung von Hegels Klassiker Glauben und Wissen27. Eine ‚ikonoklastische Tendenz‘ erkennt Bielik-​Robson als den Grundzug der Reflexionen, die Derrida in Auseinandersetzung mit Hegel über die Religion anstellt. Auch in diesem Fall ist der Begriff ‚Ikonoklasmus‘ offenbar im übertragenden Sinne zu verstehen: Kein Gemälde wird da verunstaltet, keine Statue abgebaut. Derridas Ansicht ist vielmehr insofern ikonoklastisch, als sie sich im Sinne einer ‚Verhüllung des Göttlichen‘ –​im Wortlaut Bielik-​Robsons: ‚it hides the idea of divinity away from the sight‘ –​interpretieren lässt, die zwischen Theismus und Atheismus –​Bejahung und Verneinung Gottes –​einen dritten Weg eröffnet. Daraus ergibt sich eine Ambivalenz, die nur paradoxe Formulierungen –​wie ‚Religion ohne Religion‘ (religion without religion), ‚frommer Atheismus‘ (pious atheism) oder ‚nicht-​säkularer Säkularismus‘ (non-​secular secularism) –​ausdrücken können.

Bibliografie Adorno, Theodor Wiesengrund /​Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung (1947): In: Horkheimer, Max: Gesammelte Schriften. Fischer: Frankfurt am Main 1987, Bd. 5, S. 11–​290. Assmann, Jan: „Was ist so schlimm an den Bildern?“. In: Joas, Hans (Hrsg.): Die Zehn Gebote, Ein widersprüchliches Erbe? Böhlau: Köln 2006, S. 17–​32. 26 Lévinas, Emmanuel: „La réalité et son ombre“. Les temps modernes 4(38), 1948, S. 771–​ 789. 27 Hegel, G.W.F.: Glauben und Wissen (1802). In: Werke in 20 Bänden. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1986, Bd. 2, S. 287–​433.

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Jüdischer Anikonismus. Kritische Rekonstruktion eines Missverständnisses von Kant und Hegel bis zum 20. Jahrhundert Dass der jüdische Anikonismus ein Konstrukt, ein historiographischer Mythos ist, darauf ist schon mehrmals und überzeugend hingewiesen worden.1 Ich werde deshalb das bereits Bekannte hier nicht wiederholen, sondern mich der weitaus interessanteren Frage zuwenden, wie, d. h. unter welchen Umständen sich ein solcher Mythos entwickeln konnte. Davon ausgehend, dass die Idee eines jüdischen Anikonismus ein Missverständnis ist, werde ich mich dann auf die kritische Analyse der theoretischen Faktoren konzentrieren, die das Entstehen des Missverständnisses in der Moderne –​hauptsächlich bei Kant und Hegel –​gefördert haben, sowie derjenigen, die später, im 20. Jahrhundert, zu seiner Beseitigung beigetragen haben.2

1 Zum Beispiel, ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Freedberg, David: The Power of Images. Studies in the History and Theory of Response. The University of Chicago Press: Chicago 1989, S. 54–​81; Bland, Kalman P.: The Artless Jew. Medieval and Modern Affirmations and Denials of the Visual. Princeton UP: Princeton 2000, S. 13–​36; Heimann-​Jelinek, Felicitas: „Zum Stereotyp des biblischen Bilderverbots“. In: Golinski, Hans Günter /​Hiekisch-​Picard, Sepp (Hrsg.): Das Recht des Bildes. Jüdische Perspektiven in der modernen Kunst. Wachter: Heidelberg 2003, S. 53–​64; Müller, Klaus: „‚Bilderverbot‘ oder: Wie ein theologisches Missverständnis zum philosophischen Mythos wird“. In: Joas, Hans (Hrsg.): Die Zehn Gebote, Ein widersprüchliches Erbe? Böhlau: Köln 2006, S. 33–​45; Raphael, Melissa: Judaism and the Visual Image. A Jewish Theology of Art. Continuum: London 2009, S. 38; Benz, Inka: „Die bildenden Künste“. In: von Braun, Christina /​Brumlik, Micha (Hrsg.): Handbuch Jüdische Studien. Böhlau: Köln 2018, S. 399–​427. 2 Als Vorabklärung finde ich empfehlenswert, die Termini bzw. Begriffe zu definieren, die ich in diesem Aufsatz verwenden werde. Mit ‚Zweitem Gebot‘ meine ich die Vorschrift, die in den Bibelversen Ex. 20: 4 (und, mit geringen Unterschieden, Dt. 5: 8) enthalten ist. ‚Bilderverbot‘ ist für mich eine –​aber gewiss nicht die einzige –​mögliche Interpretation des Zweiten Gebotes. Unter dem Substantiv ‚Anikonismus‘ und dem Adjektiv ‚anikonisch‘ verstehe ich die Enthaltung von Bildschaffung und Bildverwendung.

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1. Der zeitliche Rahmen des Missverständnisses Es lohnt sich, eines von vornherein klarzustellen: Das angebliche Bilderverbot, welches im Zweiten Gebot des Dekalogs enthalten sein soll, erweist sich bei näherer Betrachtung als ein Idolatrieverbot. Das heißt, dass im Judentum nicht Bilder überhaupt verboten sind, sondern eben nur Idole –​und es versteht sich dann von selbst, dass der entscheidende Unterschied zwischen Bild und Idol eine zentrale Rolle im vorliegenden Aufsatz spielen wird.3 Obwohl diese Ansicht heute weitgehend akzeptiert ist, gab es eine –​nicht so ferne –​Zeit, in der das Zweite Gebot als Hauptargument verwendet wurde, um das Judentum mit einer anikonischen Tradition zu identifizieren, die als solche –​so die veraltete These –​keinen bedeutenden Beitrag zu den visuellen Künsten leisten könne. Erst ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts konnte das, was ich an dieser Stelle ‚anikonisches Missverständnis‘ nennen würde, beseitigt werden –​und zwar dank zahlreicher Studien, die aus soziologischer,4 geschichtlicher,5 bibelexegetischer6 und nicht zuletzt archäologischer7 Sicht die vermeintliche Inkompatibilität zwischen Judentum und visuellen Künsten dementiert haben. Um die Thematik zeitlich einzuordnen, würde ich mich zunächst auf Kalman Bland berufen, der in seinem Buch The Artless Jew die Idee des biblischen Bilderverbotes und des damit verbundenen Anikonismus mit Kants und Hegels Auffassungen des jüdischen Gesetzes assoziiert. Bland schreibt: „Der jüdische Anikonismus ist zweifelsohne eine moderne Idee. […]. Ohne Kant und Hegel wäre [sie] nie erfunden worden.“8 Außerdem sind sich mehrere Wissenschaftler darüber einig, dass die erste entscheidende Infragestellung der Ansicht, das Judentum sei grundsätzlich anikonisch, durch das Werk von Joseph Gutmann erfolgte –​wie man beispielsweise dieser klaren Aussage von Melissa Raphael entnehmen kann: „Der vielleicht wichtigste Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts im Bereich der jüdischen Kunst, Joseph Gutmann, […] hat die ikonophobischen Interpretationen des

3 Genauer gesagt gehe ich auf den Bild-​Idol-​Unterschied im Abschnitt 3.2. Quaestio Juris ein. 4 Cf. Gutmann, Joseph: „The ‚Second Commandment‘ and the Image in Judaism“. Hebrew Union College Annual 32, 1961, S. 161–​174 und Sed-​Rajna, Gabrielle: „L’argument de l’iconophobie juive“. In: Bœspflug, François /​Lossky, Nicolas (Hrsg.): Nicée II, 787–​1987. Douze siècles d’images religieuses. Cerf: Paris 1987, S. 81–​88. 5 Cf. Konikoff, Carmel: The Second Commandment and its Interpretations in the Art of Ancient Israel. Imprimerie du Journal de Gèneve: Gèneve 1973. 6 Cf. Schroer, Silvia: In Israel gab es Bilder. Nachrichten von darstellender Kunst im Alten Testament. Vandenhoeck und Ruprecht: Göttingen 1987. 7 Cf. Calabi, Francesca: „Simbolo dell’assenza: le immagini nel Giudaismo“. Quaderni di storia 41, 1995, S. 5–​32. 8 Bland, S. 8, Herv. von mir. Diese sowie alle weiteren Übersetzungen sind von mir. Dass das Bilderverbot eine moderne Erfindung ist, wird auch von Müller betont. Cf. Müller, S. 33 und S. 41.

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Zweiten Gebots in einem Aufsatz9 herausgefordert, der 1961 […] erschien.“10 Dank dieser noch skizzenhaften Hinweise –​auf die ich im Folgenden ausführlicher eingehen werde –​ist es möglich, die zeitliche Entwicklung des ‚anikonischen Missverständnisses‘ grob zu umreißen: Es fängt ungefähr mit Kant und Hegel an und gerät schließlich in seine endgültige Krise mit einer Reihe von wissenschaftlichen Arbeiten, unter denen Gutmanns bahnbrechender Aufsatz hervorsticht.

2. Das Entstehen des Missverständnisses mit Kant und Hegel Beim Versuch, den Ursprung des Themas ‚Bilderverbot und Anikonismus‘ in den Philosophien von Kant und Hegel zurückzuverfolgen, ist zunächst anzumerken, dass die Idee, das Zweite Gebot des Dekalogs sei als ein Verbot aller Bilder zu verstehen, kraft dessen das Judentum zu einem radikalen Anikonismus verurteilt sei, einen Punkt darstellt, in dem die beiden Denker zweifelsohne übereinstimmen. Höchstwahrscheinlich ist es aber auch der einzige Punkt, denn die Ähnlichkeiten zwischen den zwei Philosophen enden hier, wenn man bedenkt, dass sie, obwohl von derselben Annahme ausgehend, ihre jeweiligen Reflexionen in so unterschiedlichen theoretischen Zusammenhängen anstellen, dass sich dieser Kontextunterschied notwendigerweise auch in den Reflexionen selbst widerspiegelt. Für die Untersuchung des Bilderverbots und des Anikonismus bei Kant und Hegel sind in rein theoretischer Perspektive zwei Begriffspaare zentral, da sowohl für Kant wie auch für Hegel jeweils zwei Begriffe die Basis ausmachen, von der her das Zweite Gebot als Bilderverbot interpretiert wird. Entscheidend für meine Analyse sind dann zum Ersten diese spezifischen Begriffspaare, in deren Licht die beiden Philosophen ihre Interpretationen entwickeln, und zum Zweiten die Gesamtbewertungen, die sie zu Bilderverbot und Anikonismus abgeben. Einer ausführlichen Erörterung vorgreifend, sollen schon hier die zwei Begriffspaare genannt werden, denen die folgenden Ausführungen gewidmet sind: zum einen die Unterscheidung Sinnliches-​Übersinnliches, das bei Kant einen echten Dualismus bildet, zum anderen die Unterscheidung Abstraktion-​Konkretheit, dessen Termini für Hegel zwei unterschiedlichen Stufen ein und desselben Prozesses entsprechen. Was schließlich die Einschätzungen angeht, die die beiden Philosophen über die vermeintliche Bildlosigkeit des Judentums geben, würde ich an dieser Stelle die klaren, schnörkellosen Worte von Kalman Bland anführen: „Kant billigte das anikonische mosaische Gesetz; Hegel missbilligte es.“11

9 Gutmanns Aufsatz ist der bereits oben zitierte Klassiker „The ‚Second Commandment‘ and the Image in Judaism“. 10 Raphael, Melissa: „Judaism and Visual Art“. Oxford Research Encyclopedia of Religion. Oxford UP: Oxford 2016, S. 13. 11 Bland, S. 15.

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2.1. Kant Kants Beitrag zur Entwicklung und Verbreitung einer Auffassung des Judentums als anikonisch ist in seiner bekannten Anmerkung zum Gefühl des Erhabenen zu erkennen: „Vielleicht gibt es keine erhabenere Stelle im Gesetzbuche der Juden, als das Gebot: Du sollst dir kein Bildnis machen, noch irgendein Gleichnis, weder dessen was im Himmel, noch auf der Erden, noch unter der Erden ist usw.“12 Diesbezüglich spricht Kant von einer „abgezogenen Darstellungsart, die in Ansehung des Sinnlichen gänzlich negativ wird“13 oder auch von einer „bloß negative[n]‌Darstellung,“14 wobei schon die Wortwahl verdeutlicht, dass Kant die biblische Stelle im Sinne einer radikalen Untersagung der sinnlichen, bildlichen Darstellung (in Ansehung des Sinnlichen gänzlich negativ) interpretiert, die nur indirekt auf etwas Übersinnliches verweist. Die Verbindung, die dabei zwischen einem als Bilderverbot angesehenen Zweiten Gebot und dem Gefühl des Erhabenen hergestellt wird, erscheint außerdem in einem positiven Licht, wenn man sie in ihrem eigenen Kontext betrachtet, und zwar im Rahmen eines theoretischen Unternehmens, das darauf abzielt, „dem Intellektuellen und den Vernunftideen über die Sinnlichkeit Obermacht zu verschaffen.“15 Die Bildlosigkeit, die Kant dem Judentum zuschreibt und mit dem Gefühl des Erhabenen einhergehen sieht, steht für ihn im Zeichen einer Abwendung von der Dimension der Sinnlichkeit, die sich zu einer –​von ihm befürworteten –​ Hinwendung zur Dimension des Übersinnlichen entwickelt. Wie vorher erwähnt, setzt diese Bewegung von Ab-​und Hinwendung eine dualistische Auffassung voraus, in der Sinnliches und Übersinnliches gegeneinandergestellt werden. Eigentlich ist eine Form von metaphysischem Dualismus in allen Kant’schen Kritiken präsent, und der Versuch, damit umzugehen –​unter anderem auch durch die Konturierung eines „Mittelglieds“16, das in der Lage ist, die zwei Gebiete miteinander zu verbinden –​, ist das erklärte Hauptziel der dritten Kritik. Schon in der Einleitung zur Kritik der Urteilskraft bietet Kant eine der meines Erachtens klarsten Formulierungen des seine kritische Philosophie charakterisierenden Dualismus: Ob nun zwar eine unübersehbare Kluft zwischen dem Gebiete des Naturbegriffs, als dem Sinnlichen, und dem Gebiete des Freiheitsbegriffs, als dem Übersinnlichen, befestigt ist, so daß von dem ersteren zum anderen (also vermittelst des theoretischen Gebrauchs der Vernunft) kein Übergang möglich ist, gleich als ob es so viel verschiedene Welten wären, deren erste auf die zweite keinen Einfluß haben kann: so soll doch diese auf jene einen Einfluß haben, nämlich der Freiheitsbegriff soll den durch

12 Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft (1790). In: Werkausgabe. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1977 ff., Bd. 10, S. 201. 13 Ibid. 14 Ibid. 15 Ibid. 16 Ibid., S. 74.

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seine Gesetze aufgegebenen Zweck in der Sinnenwelt wirklich machen; und die Natur muß folglich auch so gedacht werden können, daß die Gesetzmäßigkeit ihrer Form wenigstens zur Möglichkeit der in ihr zu bewirkenden Zwecke nach Freiheitsgesetzen zusammenstimme.17

Die Zusammenstimmung, mit der das Zitat endet und die zwischen Natur (als Bereich des Sinnlichen) und Freiheitsgesetz (als Bereich des Übersinnlichen) wenigstens vermutet werden muss, thematisiert Kant unter dem Begriff der ‚Zweckmäßigkeit‘, womit er die der menschlichen Vernunft innewohnende Tendenz meint, eine Einheit in der Vielfalt zu suchen. Dass die Zweckmäßigkeit einen Versuch darstellt, zwischen Sinnlichem und Übersinnlichem zu vermitteln, erscheint außerdem deutlich, wenn man bedenkt, dass die Vielfalt, in der eine Einheit gesucht wird, sinnlichen Charakter hat, während der Einheit selbst eine regulative, heuristische Funktion zukommt, die sie zu einem übersinnlichen Prinzip macht.18 Diejenige Zweckmäßigkeit, die in der Kritik der reinen Vernunft auf phänomenaler Ebene ausgeschlossen und in der Kritik der praktischen Vernunft auf noumenaler Ebene postuliert wird, nimmt schließlich in der Kritik der Urteilskraft die Rolle eines Hauptprinzips ein, das die zwei Teile der Philosophie zu verbinden19 ermöglicht. Mit diesem Bezug auf Dualismus und Zweckmäßigkeit sind nun auch alle Grundbegriffe angesprochen, die es mir ermöglichen, meine Analyse weiter zu vertiefen. Dies werde ich zunächst durch eine Erläuterung von Kants Auffassung des Erhabenen tun, die ich für eine notwendige Voraussetzung halte, um anschließend die Bedeutung des Zweiten Gebotes für die Kant’sche Philosophie bestimmen zu können.

2.1.1. Das Erhabene bei Kant Um das Erhabene in der thematischen Vielfalt der Kritik der Urteilskraft angemessen zu kontextualisieren, ist zunächst festzustellen, dass es –​ebenso wie sein Widerpart, das Schöne20 –​in den Bereich der reflektierenden, ästhetischen Urteilskraft eingeordnet wird. Jedes der zwei Adjektive bezeichnet eine spezifische 1 7 Ibid., S. 83–​84. 18 Kant spricht explizit von einer „für uns zwar nicht zu ergründende[n]‌aber doch denkbare[n], gesetzliche[n] Einheit“ (ibid., S, 93). 19 Doch eben nur verbinden, nicht etwa versöhnen, denn eine Versöhnung würde die Objektivität des vermittelnden Mittelglieds erfordern, wohingegen die Zweckmäßigkeit immer nur eine subjektive Gültigkeit hat. „Dieser transzendentale Begriff einer Zweckmäßigkeit der Natur ist nun weder ein Naturbegriff, noch ein Freiheitsbegriff, weil er gar nichts dem Objekte (der Natur) beilegt, sondern nur die einzige Art, wie wir in der Reflexion über die Gegenstände der Natur in Absicht auf eine durchgängig zusammenhängende Erfahrung verfahren müssen, vorstellt, folglich ein subjektives Prinzip (Maxime) der Urteilskraft“ (ibid.). 20 In dieser Phase, in der die Grundzüge der reflektierenden Urteilskraft und die Rolle der Einbildungskraft auf allgemeiner Ebene thematisiert werden, ist der Unterschied

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Eigenschaft des Urteils über das Erhabene, welches als reflektierend vom Prinzip der Zweckmäßigkeit geleitet ist21 und als ästhetisch auf der Tätigkeit der Einbildungskraft basiert.22 Das Zusammenwirken dieser zwei Kennzeichnen löst eine Dynamik aus, die sich in groben Zügen wie folgt beschreiben lässt: Die Einbildungskraft, als das in der ästhetischen Urteilskraft aktive Vermögen, versucht, ein Besonderes der Natur mit einem durch Anwendung des Zweckmäßigkeitsprinzips gesuchten bzw. gefundenen Allgemeinen zu verbinden. Zu diesem Zweck macht die Einbildungskraft von zwei Funktionen Gebrauch, die Kant jeweils ‚Auffassung‘ (apprehensio) und ‚Zusammenfassung‘ (comprehensio) nennt.23 Die Auffassung entspricht der Aufnahme von Daten (Erscheinungen), die aus der Natur stammen, und stellt daher im Kontext der reflektierenden Urteilskraft den Pol des Besonderen dar. Die Zusammenfassung entspricht dagegen dem Versuch bzw. der Fähigkeit der Einbildungskraft, die erhaltenen Daten zu einer Einheit zu bringen und als ein Ganzes zu fassen, sodass sie für den Pol des angestrebten Allgemeinen steht. Das so skizzierte Verhältnis zwischen apprehensio und comprehensio, welches die Einbildungskraft unter Leitung des Zweckmäßigkeitsprinzip verwaltet, kann nun als Basis fungieren, von der ausgehend das Erhabene, auch in Abgrenzung vom Schönen, näher erläutert werden kann, denn die spezifische Art und Weise, wie sich apprehensio und comprehensio zueinander verhalten, ist ausschlaggebend dafür, ob es um Schönes oder Erhabenes geht. Wenn Kant die zwei ästhetischen Gefühle miteinander vergleicht, schreibt er: Der wichtigste und innere Unterschied aber des Erhabenen vom Schönen ist wohl dieser: daß, wenn wir, wie billig, hier zuvörderst nur das Erhabene an Naturobjekten in Betrachtung ziehen […], die Naturschönheit (die selbständige) eine Zweckmäßigkeit in ihrer Form, wodurch der Gegenstand für unsere Urteilskraft gleichsam vorherbestimmt zu sein scheint, bei sich führe, und so an sich einen Gegenstand des Wohlgefallens ausmacht; statt dessen das, was in uns, ohne zu vernünfteln, bloß in der Auffassung, das Gefühl des Erhabenen erregt, der Form nach zwar zweckwidrig für unsere Urteilskraft, unangemessen unserm Darstellungsvermögen, und gleichsam gewalttätig für die Einbildungskraft erscheinen mag, aber dennoch nur um desto erhabener zu sein geurteilt wird.24

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zwischen Schönem und Erhabenem noch irrelevant. Er gewinnt erst in den nachfolgenden Teilen des Werkes an Relevanz. Das Prinzip der Zweckmäßigkeit gilt nur für die reflektierende Urteilskraft, „die von dem Besonderen in der Natur zum Allgemeinen aufzusteigen die Obliegenheit hat“ (ibid., S. 88). Bei der Ausübung der ästhetischen Urteilskraft „beziehen wir die Vorstellung nicht durch den Verstand auf das Objekt zum Erkenntnisse, sondern durch die Einbildungskraft (vielleicht mit dem Verstande verbunden) auf das Subjekt und das Gefühl der Lust und Unlust desselben“ (ibid., S. 115). Cf. ibid., S. 173. Ibid., S. 165–​166, Herv. von mir.

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Die drei Ausdrücke, die ich in diesem Zitat durch Kursivschrift hervorgehoben habe, stehen für die drei Aspekte, die ich in diesem Zusammenhang am relevantesten finde, und zwar erstens die Tatsache, dass der menschliche Zweckmäßigkeitsanspruch im Fall des Schönen schon in der Form des Gegenstandes befriedigt wird; zweitens im Fall des Erhabenen die Anwesenheit der Auffassung allein, ohne dass diese mit einer Zusammenfassung ausklingen kann; und schließlich drittens die Kompensationsdynamik, die das Erhabene für Kant charakterisiert. Die Zweckmäßigkeit, die dem Reflektieren in der reflektierenden Urteilskraft die Richtung vorgibt, ist nichts anderes als das subjektive Bedürfnis, eine Einheit in der Vielfalt zu finden, und seine Befriedigung –​d. h. das Denkenkönnen an eine zumindest virtuelle Einheit –​hängt von der Fähigkeit der Einbildungskraft ab, die apprehensio in einer endgültigen comprehensio aufgehen zu lassen. Genauer gesagt: Das Streben, das die Zweckmäßigkeit beseelt, kann erst dann befriedigt werden, wenn die Vielfalt der per apprehensio ankommenden Daten durch einen Akt der comprehensio zu einer Einheit harmonisiert wird. Tatsache ist aber, dass eine solche Harmonisierung nicht immer gelingt. Und genau hier zeigt sich der Hauptunterschied zwischen den sonst ähnlichen Gefühlen des Schönen und des Erhabenen. Knapp gesagt: Beim Schönen mündet die apprehensio in eine comprehensio, beim Erhabenen hingegen scheint sie unerreichbar zu bleiben. Der Punkt, an dem die apprehensio auf die comprehensio trifft und die Vielfalt jener sich zur Einheit dieser rundet, kann nur im Fall des Schönen in der Form des Gegenstandes, d. h. noch auf Ebene der Sinnlichkeit erkannt werden. Der erste Ausdruck, den ich im Zitat hervorgehoben habe, besagt im Grunde genommen nichts anderes als dies: Dass sich eine Zweckmäßigkeit bereits in der sinnlichen Form eines Gegenstandes auffinden lässt, ist allein dem Schönen vorbehalten. Im Fall des Erhabenen ist dagegen eine zweckmäßige Einheit auf sinnlicher Ebene keineswegs zu erreichen, denn das Erhabene erstreckt sich nach Kants Beschreibung zwischen Sinnlichem und Übersinnlichem, und sein sinnlicher Teil kennt nur das Moment der Auffassung. Wie man meiner zweiten Hervorhebung –​bloß in der Auffassung –​entnehmen kann, geht es beim Erhabenen um eine apprehensio, die endlos weitergehen könnte, ohne jemals ihre Erfüllung in einer comprehensio zu finden.25 Das Erreichen einer Einheit bleibt aber nur in der Sinnlichkeit verwehrt, während es durch eine Kompensationsdynamik auf das Übersinnliche verschoben wird. Meine dritte Hervorhebung zielt genau darauf ab, zu betonen, wie das Scheitern daran, eine Einheit im sinnlichen Erscheinen eines Naturphänomens zu finden, nur dazu führt, dieses als desto erhabener in einer übersinnlichen Perspektive wahrzunehmen. Auf diese Kompensationsdynamik näher eingehend, beschreibt Kant die zwei Momente, deren Kombination für ihn das Gefühl des Erhabenen im Subjekt entstehen lässt, und spricht diesbezüglich von einer „Hemmung der Lebenskräfte,“26 die 2 5 Cf., e.g., ibid., S. 178. 26 Ibid., S. 165.

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gewissermaßen die darauffolgende „Ergießung derselben“ vorbereitet.27 Was Kant beschreibt, ist eine Art Doppelimpuls, wodurch „das Gemüt von dem Gegenstande [d. h. vom Naturphänomen, das das Erhabene hervorruft] nicht bloß angezogen, sondern wechselweise auch immer wieder abgestoßen wird.“28 Man muss jedoch präzisieren, dass sich dabei Abstoßung und Anziehung –​Unlust und Lust –​nicht gegenseitig aufheben, wie es der Fall wäre, wenn sie zwei einander entgegenwirkende Kräfte wären, die am gleichen Punkt angreifen und in einem statischen Zustand resultieren. Vielmehr bewirken sie insofern einen Zustand ständigen Schwankens –​‚freien Spiels‘ würde Kant wahrscheinlich sagen –​, als sie sich auf zwei unterschiedliche Ebenen verteilen, und zwar einerseits die Ebene der Einbildungskraft als sinnlich gebundener und andererseits die Ebene der Vernunft als „übersinnlichen Vermögens“.29 Genauer gesagt: Abstoßung und damit einhergehende Unlust beziehen sich auf die Sinnlichkeit, wohingegen Anziehung und damit verbundene Lust das Übersinnliche betreffen. Kant schreibt: Die innere Wahrnehmung der Unangemessenheit alles sinnlichen Maßstabes zur Größenschätzung der Vernunft [ist] eine Unlust, welche das Gefühl unserer übersinnlichen Bestimmung in uns rege macht, […] mithin Lust ist, jeden Maßstab der Sinnlichkeit den Ideen der Vernunft unangemessen zu finden.30

Mit der Unlust auf Ebene des Sinnlichen (d. h. der Einbildungskraft) korrespondiert die Lust auf der des Übersinnlichen (d. h. der Vernunft). Die zwei Ebenen gelten aber nicht als gleichwertig. Die negative Konnotation der sinnlichen Unlust und die positive der übersinnlichen Lust suggerieren eine Art Hierarchie, die zugleich auch eine Bewegungsrichtung angibt. Eine ideelle Linie ist damit gezeichnet, welche, etwa wie bei einem Übergang vom Niederen zum Höheren, vom Sinnlichen zum Übersinnlichen führt bzw. führen sollte. Zu diesem Aspekt äußert sich Kant mehrmals und extrem explizit –​zum Beispiel in seiner Behauptung, dass beim Erhabenen „das Gemüt die Sinnlichkeit zu verlassen und sich mit Ideen, die höhere Zweckmäßigkeit enthalten, zu beschäftigen angereizt wird“31; oder auch weiter im Text, wenn er sagt: „[I]‌n der Unangemessenheit der Natur zu den [Ideen] besteht das Abschreckende für die Sinnlichkeit, welches doch gleich anziehend ist: weil es eine Gewalt ist, welche die Vernunft auf jene ausübt.“32

2 7 Ibid. 28 Ibid. 29 Ibid., S. 172. Als „übersinnliches Vermögen“ definiert Kant die Vernunft. Oder, anders gesagt: als das Vermögen des Übersinnlichen, d. h. dessen, was sich jeder möglichen sinnlichen Erfahrung konstitutiv entzieht. 30 Ibid., S. 181. 31 Ibid., S. 166. 32 Ibid., S. 189–​190.

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2.1.2. Die Irreduzibilität des Übersinnlichen Mit dieser Geltendmachung eines Vorrangs der Vernunft über die Sinnlichkeit und einer Konturierung des Erhabenen als eines Gefühls, in dem dieses Primat in eminenter Weise zum Ausdruck kommt, sind die Grundlagen dafür gelegt, zu verdeutlichen, wie Kant seine Auffassung des Zweiten Gebotes in den Kontext seines grundsätzlichen Dualismus integriert. Wie gesagt, entwickelt sich das Gefühl des Erhabenen als Gleichzeitigkeit zweier Momente, die sich durch die Stichwörter ‚Abstoßung‘ und ‚Anziehung‘ kennzeichnen lassen und jeweils Unlust und Lust entsprechen. Jedoch kann man die Ansicht vertreten, dass streng genommen nur das zweite dieser Momente das Attribut ‚erhaben‘ verdient, während dem ersten lediglich eine Art propädeutische Funktion zukommt. Es geht dabei um eine Herabsetzung der Sinnlichkeit, die eine Hervorhebung der Vernunft als Gegenstoß veranlasst. Die diesem Theorem zugrunde liegende Logik gleicht dann derjenigen einer proportionalen Zuordnung: Je stärker die Abstoßung, desto intensiver die darauffolgende Anziehung; je mehr Unlust, desto mehr Lust, die durch Kontrast daraus hervorgehen wird; und schließlich: Je mehr Einbildungskraft und Sinnlichkeit herabgesetzt werden, desto mehr werden Vernunft und Übersinnliches ­hervorgehoben. Dies ist die Stelle, an der das Zweite Gebot in der Analytik des Erhabenen erscheint, d. h. das Spannungsfeld zwischen Sinnlichem und Übersinnlichem –​Einbildungskraft und Vernunft. Das Verhältnis zwischen ihnen erweist sich nicht nur als hierarchisiert, sondern sogar als von einer Art von Gewalt geprägt, welche die Vernunft der Sinnlichkeit antun muss.33 Der Punkt ist nun, dass für Kant eine solche ‚sinnlichkeitsfeindliche‘ und ‚vernunftfreundliche‘ Haltung in der biblischen Formulierung von Ex. 20: 4 ihren höchsten Ausdruck findet. Aus Kants Sicht stellt anders gesagt das als Bilderverbot aufgefasste Zweite Gebot die Extremform –​und daher die reinste Form –​der Logik dar, die auch dem Erhabenen zugrunde liegt; die Extremform also jener Denkweise, die es ermöglicht, in der Herabsetzung von Einbildungskraft und Sinnlichkeit einen Anlass zu erkennen, Vernunft und Übersinnliches indirekt hervorzuheben. In diesem Sinne gleicht für Kant das Bilderverbot der maximalen Erniedrigung des sinnlichen Moments, d. h. seiner kompletten Abschaffung (kein Bildnis, noch irgendein Gleichnis), welche, der genannten Logik zufolge, die maximale Hervorhebung des Übersinnlichen sowie die Bekräftigung seines Vorrangs zur Folge hat.

33 Kants Bezugnahme auf den Begriff der Gewalt befindet sich in dem Abschnitt, in dem er die Verwandtschaft zwischen Erhabenem und Sittlichkeit oder Moralität erörtert. Er schreibt: „In der Tat läßt sich ein Gefühl für das Erhabene der Natur nicht wohl denken, ohne eine Stimmung des Gemüts, die der zum Moralischen ähnlich ist, damit zu verbinden“ (ibid., S. 194). Und das Element, das diese Ähnlichkeit begründet, besteht in der „echte[n]‌Beschaffenheit der Sittlichkeit des Menschen […], wo die Vernunft der Sinnlichkeit Gewalt antun muß“ (ibid.).

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Der Vorrang des Übersinnlichen, der in vielerlei Hinsicht die kritische Philosophie Kants kennzeichnet, nimmt im Bilderverbot die Form eines Widerstandes gegen jede Reduktion auf das Sinnliche an –​denn genau das ist für Kant die bildliche Darstellung, die er im Zweiten Gebot des Dekalogs verboten zu sehen glaubt: eine Reduktion, eine Minderung. Der Sinn, den Kants aus dem Bibelvers herausliest, ist dann derjenige einer radikalen Irreduzibilität, die das Übersinnliche charakterisiert und im Erhabenen spürbar wird. In der Undarstellbarkeit des Übersinnlichen ist dann ein Zeichen seines Vorrangs zu erkennen, genauso wie im Spiel der Vermögen das Ungenügen der Einbildungskraft die Überlegenheit der Vernunft indirekt bezeugt. Dass das jüdische Gebot im Sinne einer solchen Irreduzibilität interpretiert wird, kann schließlich für Kant nur eine positive, zustimmende Einschätzung erfahren, denn jede misslungene Darstellung auf Ebene der Sinnlichkeit kann jene Hinwendung an das Übersinnliche auslösen, in der Kant die authentischste Bestimmung des Menschen erkennt. Wenn das Erhabene „das Gefühl unserer übersinnlichen Bestimmung in uns rege macht“34, dann geht das gleiche Gefühl auch mit der tieferen Bedeutung einher, die für Kant im Zweiten Gebot des Dekalogs liegt.

2.2. Hegel Laut Kalman Bland ist Hegel der zweite Denker, der neben Kant zur Bestätigung und Festigung einer Auffassung des Judentums als ‚bild-​und kunstlos‘ beiträgt. Hegels Reflexionen zum Thema sind vor allem in seinen Vorlesungen über die Ästhetik dargestellt, in denen man Sätze wie den folgenden lesen kann: „[D]‌en Juden und Mohammedanern [ist es] verboten, sich ein Bild von Gott für die nähere, im Sinnlichen sich umtuende Anschauung zu entwerfen. Für die bildende Kunst, welche der konkretesten Lebendigkeit der Gestalt durchweg bedarf, ist deshalb hier kein Raum.“35 Es mag scheinen, dass Hegels Deutung des jüdischen Gesetzes in einem solchen bild-​und kunstfeindlichen Sinn –​also als Bilderverbot –​Kants Position ähnelt, und doch unterscheidet sich die Hegel’sche Einstellung von der Kant’schen durch einen entscheidenden Aspekt, nämlich das Vorzeichen der Bewertung: Was für Kant positiv war, ist für Hegel negativ. Hegel tadelt, was Kant lobt, obwohl beide die gleiche Voraussetzung postulieren, und zwar dass das Judentum anikonisch und ikonophobisch sei.36 Hegels Kritik ist aufgrund dieser falschen Annahme erst recht erklärbar, denn wenn ein jüdisches Bilderverbot wirklich existierte, würde es sich auf keinen Fall 3 4 Ibid., S. 181. 35 Hegel, G. W. F.: Vorlesungen über die Ästhetik I. In: Werke in 20 Bänden. ­Suhrkamp: Frankfurt am Main 1970 ff., Bd. 13, S. 230. 36 Der philologischen Korrektheit halber muss darauf hingewiesen werden, dass Kant das Zweite Gebot in der Lutherübersetzung zitiert, während Hegel kein Zitat anführt, sondern ein generelles Verbot der bildlichen Darstellung erwähnt, das Judentum und Islam vereine.

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mit der Hegel’schen Bestimmung der Kunst als Moment des absoluten Geistes –​ genauer gesagt: als Rückkehrs des Geistes zu sich selbst in der Form der sinnlichen Anschauung –​vereinbaren lassen. Für Hegel haben alle drei Momente des absoluten Geistes –​Kunst, Religion und Philosophie –​„keinen anderen Gegenstand als Gott“37 und die spezifische Aufgabe der Kunst in diesem Zusammenhang besteht darin, jenem gemeinsamen Gegenstand eine sinnliche Form zu verleihen –​oder, in Hegels Worten: „die Wahrheit [d. h. die Idee, d. h. das Wahre, d. h. den Geist, d. h. das Absolute, d. h. eben Gott]38 in Weise sinnlicher Gestaltung für das Bewusstsein“39 hinzustellen. Es ist jedoch klar, dass eine solche Auffassung der Kunst auch eine zu ihr passende Auffassung von Gott verlangt. Das heißt, dass als Pendant zu einer Kunst, die Gott in sinnlicher Form darstellen muss, ein Gott benötigt wird, der sich in sinnlicher Form darstellen lässt. Und das schließt definitiv den Gott des Alten Testaments aus, denn seine Undarstellbarkeit, die für Kant den Vorrang des Übersinnlichen bezeugt, entspricht für Hegel einer leeren Abstraktion –​im abwertendsten Sinne, den dieser Terminus in Hegels Denken annehmen kann. In seiner Auseinandersetzung mit dem Moment der Kunst zeigt Hegel drei Bedingungen auf, die dabei erfüllt werden müssen. Die erste Bedingung ist die Darstellbarkeit des Inhalts, worauf sich die Kunst bezieht; die zweite und dritte

37 Hegel, Ästhetik, S. 139. Diesbezüglich scheinen mir zwei Zitate von Hegel und ein Kommentar dazu besonders treffend zu sein. Erstes Zitat: „[Die Philosophie] hat zwar ihre Gegenstände zunächst mit der Religion gemeinschaftlich. Beide haben die Wahrheit zu ihrem Gegenstande, und zwar im höchsten Sinne –​in dem, daß Gott die Wahrheit und er allein die Wahrheit ist“ (Id.: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I. In: Werke in 20 Bänden. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1970 ff., Bd. 8, S. 41). Zweites Zitat: „Der Gegenstand der Religion wie der Philosophie ist die ewige Wahrheit in ihrer Objektivität selbst, Gott und nichts als Gott und die Explikation Gottes“ (Id.: Vorlesungen über die Philosophie der Religion I. In: Werke in 20 Bänden. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1970 ff., Bd. 16, S. 28). Kommentar: „Gott als Geist zu verstehen, gleicht einer Säkularisierung der mittelalterlichen Auffassung des Christlichen Gottes. Hegel bleibt also Theologe. Er ist aber Theologe eines säkularisierten Gottes“ (Cortella, Lucio: Autocritica del moderno. Saggi su Hegel. Il Poligrafo: Padova 2002, S. 245). 38 Im Kontext der Hegel’schen Ästhetik gelten alle aufgelisteten Termini als Synonyme. Als Beweis dafür mag dienen, dass Hegel jeden Terminus jeweils als spezifischen Gegenstand der Kunst bezeichnet. Man betrachte hierzu die folgenden Zitate: a. „Es ist bereits gesagt, daß der Inhalt der Kunst die Idee sei“ (Hegel, Ästhetik, S. 100); b. „Durch die Beschäftigung mit dem Wahren […] gehört auch die Kunst der absoluten Sphäre des Geistes an“ (ibid., S. 139); c. „Die Kunst [hat] das Wahre, den Geist zu ihrem eigentlichen Gegenstande“ (ibid., S. 140); d. „Die drei Reiche des absoluten Geistes [d. h. Kunst, Religion und Philosophie] [sind] nur durch die Formen unterschieden, in welchen sie ihr Objekt, das Absolute, zum Bewußtsein bringen“ (ibid., S. 139). 39 Ibid., S. 140.

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Bedingung erfordern die Konkretheit jeweils des künstlerischen Inhalts und der künstlerischen Form. Zur ersten Bedingung schreibt Hegel: Die erste Bestimmung, die hierin [in der Kunst] liegt, ist die Forderung, dass der Inhalt, der zur Kunstdarstellung kommen soll, in sich selbst dieser Darstellung sich fähig zeige. Denn sonst erhalten wir nur eine schlechte Verbindung, indem ein für sich der Bildlichkeit und äußeren Erscheinung ungefügiger Inhalt diese Form annehmen, ein für sich selbst prosaischer Stoff in der seiner Natur entgegengesetzten Form gerade die ihm angemessene Erscheinungsweise finden soll.40

Ein Beispiel dessen, was mit einem ‚für sich der Bildlichkeit und äußeren Erscheinung ungefügigen Inhalt‘ gemeint ist, ist im Umgang mit der zweiten Bedingung ein paar Zeilen danach angeführt: Die zweite Forderung, welche aus dieser ersten sich herleitet, erheischt von dem Inhalt der Kunst, daß er kein Abstraktum in sich selber sei […] Sagen wir z. B. von Gott, er sei der einfach Eine, das höchste Wesen als solches, so haben wir damit nur eine tote Abstraktion des unvernünftigen Verstandes ausgesprochen. Solch ein Gott, wie er selbst nicht in seiner konkreten Wahrheit gefasst ist, wird auch für die Kunst, besonders für die bildende, keinen Inhalt abgeben. Die Juden und Türken haben deshalb ihren Gott, der nicht einmal nur solche Verstandesabstraktion ist, nicht durch die Kunst in der positiven Weise darstellen können wie die Christen.41

Nachdem festgestellt worden ist, dass der Inhalt der Kunst darstellungsfähig sein muss (erste Bedingung) und daher nicht abstrakt –​wie z. B. der jüdische Gott –​ sein darf (zweite Bedingung), wendet sich Hegel beim Aufstellen der dritten und letzten Bedingung der Form der Kunst zu und schreibt: Wie nun ein Inhalt, um überhaupt wahr zu sein, so konkreter Art sein muß, fordert auch die Kunst die gleiche Konkretion, weil das nur abstrakt Allgemeine in sich selbst nicht die Bestimmung hat, zur Besonderung und Erscheinung und zur Einheit mit sich in derselben fortzuschreiten. Soll nun einem wahrhaften und deshalb konkreten Inhalt eine sinnliche Form und Gestaltung entsprechen, so muß diese drittens gleichfalls ein individuelles in sich vollständig Konkretes und Einzelnes sein. Daß das Konkrete den beiden Seiten der Kunst, dem Inhalte wie der Darstellung, zukommt, ist gerade der Punkt, in welchem beide zusammenfallen und einander entsprechen können.42

Um Hegels Ansicht kurz zu resümieren, kann man dann auf die Darstellbarkeit als Hauptprinzip der Kunst hinweisen, die nur durch die Konkretheit ihrer zwei Dimensionen –​Inhalt und Form –​sichergestellt werden kann. Genauer gesagt: Die Idee, die der Inhalt der Kunst ist, trifft auf die bildliche Gestaltung, die ihre Form 4 0 Ibid., S. 100. 41 Ibid., S. 100–​101. 42 Ibid., S. 101.

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ist. Dieses Treffen, wovon die Kunst selbst lebt, ist aber nur deshalb möglich, weil beide, Inhalt und Form, an der gleichen Konkretheit teilhaben. In Einklang gebracht werden also zwei Dimensionen, welche, so heterogen sie auch sein mögen, doch zumindest eins gemeinsam haben: die Tatsache, dass sie ‚konkret‘ sind. Wenn es aber die Konkretheit ist, die wie ein trait d’union zwischen Inhalt und Form ihre Konvergenz ermöglicht und daher zur Grundlage des Künstlerischen wird, ist es nur konsequent, dass eine reine Abstraktion, die als solche nicht die geringste Spur von Konkretheit aufweist, aus dem Bereich der Kunst herausfallen muss. Und genau in Bezug auf diesen Ausschluss der Abstraktion aus der Sphäre der Kunst kommen auch Judentum und Bilderverbot infrage. Was an Hegels Argumentation besonders bemerkenswert –​und für diesen Aufsatz besonders relevant –​ist, ist die Verwendung der jüdischen Auffassung Gottes als des Beispiels schlechthin für das, was ein künstlerischer Inhalt nicht sein sollte, nämlich eine Abstraktion. Der abstrakte Charakter des Judentums erscheint außerdem bei Hegel umso evidenter, wenn er mit dem konkreten Charakter des Christentums verglichen wird. Hegel sagt z. B.: „[I]‌m Christentume [anders als im Judentum] ist Gott in seiner Wahrheit und deshalb als in sich durchaus konkret […] vorgestellt.“43 Aus dem Vergleich zwischen Judentum und Christentum lässt sich daher eine Art Proportion herleiten, die in der Lage ist, ihre Beziehung in groben Zügen wiederzugeben: Die jüdische Auffassung Gottes verhält sich zur christlichen wie das Abstrakte zum Konkreten. Und gerade dank der vom Christentum aufgewiesenen Konkretheit kann die Wahrheit (d. h. Gott) künstlerische Form annehmen. Die gleiche Ausdrucksform bleibt dagegen im Judentum untersagt, weil die Abstraktheit des jüdischen Gottes es nicht erlaubt, den für die Kunst erforderlichen Grad an Konkretheit zu erreichen. Im Gegensatz zu Kant, der das Zweite Gebot in den Kontext des Verhältnisses von Sinnlichem und Übersinnlichem einordnet, kommt es bei Hegel nicht nur zu einer divergierenden Stellungnahme innerhalb des gleichen Kontextes, sondern darüber hinaus zu einer Veränderung des Rahmens selbst, in dem das Thema behandelt wird. Ausschlaggebend für die Bestimmung des neuen Rahmens ist dann nicht mehr so sehr das Begriffspaar ‚Sinnliches-​Übersinnliches‘ als das Paar ‚Abstraktion-​Konkretheit‘. Es zeichnet sich also immer deutlicher ab, dass der Schlüssel, um Hegels Auffassung des Judentums im Allgemeinen und des Zweiten Gebotes im Besonderen zu verstehen, im Begriff ‚Abstraktion‘ –​selbstverständlich auch in Abgrenzung von bzw. in Beziehung zu seinem Antonym ‚Konkretheit‘ –​zu suchen ist. Das Thema ‚Abstraktion bei Hegel‘ werde ich zunächst im Allgemeinen diskutieren, um davon ausgehend die Stellung des jüdischen Gesetzes, und vor allem des Zweiten Gebotes, im Denken Hegels zu verdeutlichen.

43 Ibid.

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2.2.1. Die Abstraktion bei Hegel Für Hegel steht die Abstraktion am Anfang des Philosophierens. In der Wissenschaft der Logik schreibt er: Der Anfang [muß] absoluter oder, was hier gleichbedeutend ist, abstrakter Anfang sein; er darf so nichts voraussetzen, muß durch nichts vermittelt sein noch einen Grund haben; er soll vielmehr selbst Grund der ganzen Wissenschaft sein. Er muß daher schlechthin ein Unmittelbares sein oder vielmehr nur das Unmittelbare selbst. Wie er nicht gegen Anderes eine Bestimmung haben kann, so kann er auch keine in sich, keinen Inhalt enthalten.44

Um wirklich voraussetzungslos zu sein, wie es sein wissenschaftlicher Charakter verlangt,45 muss das Denken von einer leeren Dimension ausgehen, die von jedem Inhalt absieht. Bekanntlich ist aber das Denken für Hegel auch als Selbstbewegung, Selbstbestimmung, Selbstreflexion aufzufassen, die –​wie das mehrmals wiederholte Präfix ‚selbst-​‘ zeigt –​ihre Inhalte nicht einfach außer sich findet, sondern imstande ist, sich diese selbst zu geben. Die Fähigkeit des Denkens, sich seine eigenen Inhalte zu verschaffen, charakterisiert sozusagen die andere Seite der Abstraktion als eines Anfangs; die Abstraktion muss, während sie einerseits von der vollständigsten Inhaltslosigkeit gekennzeichnet ist, andererseits auch eine Disposition dazu aufweisen, Inhalte zu erwerben. Auf diese zwei Aspekte geht Hegel in einem Beispiel aus der Enzyklopädie ein: „Ein gleichfalls naheliegendes Beispiel ist der Anfang; die Sache ist noch nicht in ihrem Anfang, aber er ist nicht bloß ihr Nichts, sondern es ist schon auch ihr Sein darin. Der Anfang ist selbst auch Werden, drückt jedoch schon die Rücksicht auf das weitere Fortgehen aus.“46 Dass die Sache in ihrem Anfang noch nicht ist, ist Hegels Art zu sagen, dass sie noch abstrakt ist, d. h. noch keine Inhalte bzw. Bestimmungen besitzt. Das Adverb ‚noch‘ zeigt aber, dass es um keinen permanenten Zustand geht, denn die Sache beinhaltet schon ihr Sein, nur offensichtlich in einer noch potentiellen Form, die aber schon auf ein weiteres Fortgehen abzielt. Der Anfang ist also nicht statisch, sondern dynamisch als Moment eines Werdens zu verstehen, das als solches die Einheit von Sein und Nichts ist.47 Was in diesem Abschnitt jedoch noch unbeantwortet gelassen wird, ist die Frage nach dem Grund, warum eine Abstraktion nicht einfach so bleiben darf, wie sie ist. Genauer formuliert: Was an bzw. in einer Abstraktion treibt sie dazu an, ihren Zustand von Inhaltslosigkeit zu verlassen, um 44 Hegel, G. W. F.: Wissenschaft der Logik. In: Werke in 20 Bänden. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1970 ff., Bd. 5, S. 68–​69. 45 Diese Ansicht bestätigt sich auch in der Enzyklopädie: „Alle Voraussetzungen oder Vorurteile [sind] bei dem Eintritt in die Wissenschaft aufzugeben“ (Hegel, ­Enzyklopädie, S. 167). 46 Ibid., S. 90–​91. 47 Cf. dazu die erste dialektische Triade in der Wissenschaft der Logik: Sein –​Nichts –​ Werden (Hegel, Logik, S. 82–​83).

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Inhalte durch Selbstbestimmung zu gewinnen? Um eine Antwort auf diese Frage zu geben, muss man zunächst die enge Verbindung in Betracht ziehen, die Hegel zwischen Abstraktion und Endlichkeit erkennt. In dieser Hinsicht kann man einfach eine der vielen Stellen zitieren, in denen Hegel die zwei Begriffe miteinander gleichstellt. In den Vorlesungen über die Philosophie der Religion schreibt er beispielsweise: „Dies ist das Denken, das vom Allgemeinen anfängt […]. Dies Denken ist so das abstrakte Denken und darum das endliche. Denn das Abstrakte ist endlich.“48 Abstraktion und Endlichkeit werden dabei als gleichbedeutend behandelt, sodass, was für die eine gilt, auch der anderen legitim zugeschrieben werden darf und Hegels Analyse der Endlichkeit auch für seine Auffassung der Abstraktion erhellend sein kann. Solche Analyse würde ich in drei Schritten rekonstruieren: Erstens fokussiert Hegel auf den Begriff ‚Etwas‘ und betont seine Begrenztheit: „Etwas [ist] das, was es ist, nur in seiner Grenze“;49 zweitens weist Hegel darauf hin, dass jede Grenze notwendigerweise über sich selbst hinaus verweist: Dieses Verweisen „ist die Unruhe des Etwas in seiner Grenze, in der es immanent ist, der Widerspruch zu sein, der es über sich selbst hinausschickt“;50 drittens kommt Hegel zu dem Schluss, dass das Etwas kraft seiner zwei Grundzüge –​Begrenztheit und Unruhe –​nichts anderes ist als das Endliche: „Etwas mit seiner immanenten Grenze gesetzt als der Widerspruch seiner selbst, durch den es über sich hinausgewiesen und getrieben wird, ist das ­Endliche.“51 Das Etwas gleicht dem Endlichen, das seinerseits der Abstraktion gleicht –​so würde ich zusammenfassen. Auch von der Abstraktion lässt sich dann das Gleiche behaupten, das Hegel zum Endlichen sagt, nämlich dass es in nichts anderem besteht als seiner Selbstaufhebung.52 Auch die Abstraktion also, wie das Endliche, sollte sich selbst aufheben und damit den Impuls zu einem dialektischen Prozess geben, der durch aufeinanderfolgende Aufhebungen allmählich vom höchst Abstrakten (dem Sein) zum höchst Konkreten (dem absoluten Geist) führt. Es ist aber kein Zufall, dass ich im letzten Satz das Verb ‚sollen‘ in der Konjunktivform ‚sollte‘ verwendet habe, denn was ich dabei beschrieben habe, ist nur die planmäßige Entwicklung des Hegel’schen Systems samt der Rolle, die die Abstraktion in der Regel spielen sollte. Der Punkt ist aber, dass es zu dieser Regel Ausnahmen geben kann. Und das Judentum stellt für Hegel genau eine solche Ausnahme dar, eine Anomalie, die die normale Entwicklung des dialektischen Systems hemmt und sich daher als außersystematisch –​wenn nicht sogar als antisystematisch –​erweist.

4 8 Hegel, Religion II, S. 221. 49 Hegel, Logik, S. 138. 50 Ibid. 51 Ibid., S. 139. 52 In Hegels eigenen Worten: „Alles Endliche ist dies, sich selbst aufzuheben“ (Hegel, Enzyklopädie, S. 172–​173).

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2.2.2. Unaufhebbare Abstraktion Die Art der Abstraktion, die Hegel dem Judentum und dem Anikonismus zuschreibt, stellt eigentlich einen Begriff sui generis dar, der vom Modell der normalen, systemfunktionalen und systemintegrierten Abstraktion deutlich abweicht. Was sich hier abzeichnet, ist eine Unterscheidung zwischen zwei Abstraktionsformen, nämlich zwischen der normalen Abstraktion, die sich zur dialektischen Aufhebung anbietet und dadurch konkret bzw. konkreter werden kann, und der jüdischen, anomalen Abstraktion, die sich als unaufhebbar erweist und deshalb abstrakt bleiben muss. Genauer gesagt besteht das Anomale an der abstrakten Auffassung Gottes, die Hegel im Judentum sieht, darin, dass sie von den zwei Bedingungen, die eine normale Abstraktion im Hegel’schen System erfüllen muss –​anfängliche Inhaltslosigkeit und Unruhe, die dazu führt, Inhalte zu gewinnen –​eigentlich nur die erste erfüllt: Der jüdische Gott weist für Hegel keine Inhalte auf –​und das erfüllt zweifelsohne die erste Bedingung; er ist jedoch auch unfähig, sich Inhalte zu geben –​was andererseits die zweite Bedingung unerfüllt lässt. Eine unaufhebbare Abstraktheit charakterisiert aber für Hegel nicht nur die jüdische Auffassung Gottes, sondern auch das Judentum im Allgemeinen. Eine Vorstellung des Judentums als wesentlich abstrakt zieht sich durch alle Werke Hegels hindurch und ist schon in der Phänomenologie des Geistes präsent. Besonders bedeutend in dieser Hinsicht ist das, was im der beobachtenden Vernunft gewidmeten Teil über das jüdische Volk gesagt wird: [V]‌on dem jüdischen Volke [kann] gesagt werden, daß es gerade darum, weil es unmittelbar vor der Pforte des Heils stehe, das verworfenste sei und gewesen sei; was es an und für sich sein sollte, diese Selbstwesenheit ist es sich nicht, sondern verlegt sie jenseits seiner; es macht sich durch diese Entäußerung ein höheres Dasein möglich, wenn es seinen Gegenstand wieder in sich zurücknehmen könnte, als wenn es innerhalb der Unmittelbarkeit des Seins stehengeblieben [wäre], weil der Geist um so größer ist, aus je größerem Gegensatze er in sich zurückkehrt; diesen Gegensatz aber macht er sich in dem Aufheben seiner unmittelbaren Einheit und in der Entäußerung seines Fürsichseins.53

Zum Verständnis dieses verwickelten Abschnittes ist zunächst –​wie es eigentlich sehr oft bei Hegel der Fall ist –​eine terminologische Klärung erforderlich. Obwohl Hegel von ‚Unmittelbarkeit‘ spricht, ist der Begriff in diesem Zusammenhang gleichbedeutend mit ‚Abstraktion‘, zumal diese Sinnverwandtschaft von Hegel selbst explizit bestätigt wird, indem er die zwei Begriffe durch den Ausdruck ‚das heißt‘ verbindet: „das Unmittelbare, […] d. h. das Abstrakte“.54 Die Unmittelbarkeit bzw. Abstraktion ist die Ursache dafür, dass sich im Judentum eine Diskrepanz

53 Hegel, G. W. F.: Phänomenologie des Geistes. In: Werke in 20 Bänden. Suhrkamp: ­Frankfurt am Main 1970 ff., Bd. 3, S. 257. 54 Ibid., S. 39.

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zwischen ‚Sein‘ und ‚Sollen‘ ergibt: Das Judentum ist nicht, was es sein sollte. Diese Rückständigkeit ist aber nicht kontingent oder vorläufig, sondern eher konstitutiv. Der Fortschritt zur ‚Selbstwesenheit an und für sich‘ wäre eigentlich schon möglich –​pflegt Hegel zu präzisieren. Doch würde der Übergang von dieser bloßen Möglichkeit zu ihrer vollen Verwirklichung nur durch eine ‚Rückkehr aus einer Entäußerung‘ erfolgen, die aber nie stattfinden kann, denn das Judentum beharrt darauf, in der Unmittelbarkeit bzw. Abstraktion stehen zu bleiben. Das höhere Dasein, das doch möglich wäre, bleibt eben nur möglich –​eine unerfüllte Potentialität, die insofern mit einer Schuld einhergeht, als ihre Erfüllung, obwohl vorhanden, willentlich vermieden wird. Schuldig ist dann für Hegel die Hemmung, die das jüdische Volk für den dialektischen Prozess und vor allem für den Mechanismus der Aufhebung darstellt, die dezidierte Weigerung des Judentums, sich aufheben zu lassen und somit eine höhere Existenz –​die für Hegel der christlichen Existenz entspricht –​zu erreichen.55 In Anbetracht des Gesagten scheint mir nun die These vertretbar, dass die Abstraktion, die Hegel der alttestamentlichen Auffassung Gottes im Bereich der Ästhetik zuschreibt, nichts anderes ist als ein spezieller Aspekt, der seine eigentliche Bedeutung nur durch Einbettung in den Kontext von Hegels allgemeiner Einstellung zum Judentum gewinnt. Auf eine einfache Formel gebracht: Die Undarstellbarkeit des alttestamentlichen Gottes auf ästhetischer Ebene, die für Hegel zum jüdischen Anikonismus führt, ist ein Korollar der Abstraktion, die Hegel dem Judentum auf allgemein-​theoretischer Ebene beimisst.

2.3. Fazit Zwei gegensätzliche Positionen, die jedoch auf dem gleichen Missverständnis beruhen –​so könnte man die Stellungnahmen von Kant und Hegel zum angeblichen jüdischen Anikonismus zusammenfassen. Als Verbot (vielleicht als Unmöglichkeit56) gewürdigt, das Übersinnliche auf das Sinnliche zu reduzieren, oder als Weigerung kritisiert, von einem abstrakten 55 Eine Auffassung des Judentums als widerstandsfähig gegenüber dem dialektischen Prozess findet man in Donatella Di Cesares Analyse des philosophischen Antisemitismus. Im Hegel gewidmeten Kapitel schreibt sie: „Das Judentum hat sich der christlichen Aufhebung entzogen und entzieht sich noch weiter. Es lässt sich weder überwinden noch erheben –​was doch möglich sein sollte. Auch für Hegel, dessen Denken der spekulativen Auslegung des Christentums folgt, sollte der Jude negiert und in einer höheren Existenz wieder aufgenommen werden. Da er aber Widerstand leistet und dem Geist nicht erlaubt, die Entfremdung aufzuheben, um zu sich selbst zurückzukehren, bleibt er aus der Dialektik der Weltgeschichte ausgeschlossen. […]. Das Judentum erweist sich dann als ein abgestorbener Überrest der eigenen Vergangenheit, der ohne Rolle […] weiter existiert“ (Di Cesare, Donatella: Heidegger e gli ebrei. I «Quaderni neri». Bollati Boringhieri: Torino 2014, 20162, S. 53). 56 Es fehlt bei Kant eine explizite Thematisierung des Unterschieds zwischen Verbot und Unmöglichkeit. Geht es dabei um das Verbot einer möglichen Reduktion oder

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Moment in ein konkreteres überzugehen, impliziert das Zweite Gebot sowohl für Kant wie auch für Hegel einen radikalen Anikonismus. Wenn aber beide in einer solchen anikonischen Interpretation übereinstimmen, dann muss der eklatante Unterschied in ihren jeweiligen Bewertungen von anderen Faktoren abhängen –​ z. B. von den theoretischen Kontexten, in denen solche Bewertungen getroffen werden. In der Tat liest jeder der beiden Philosophen die gleiche Annahme vor dem Hintergrund seiner eigenen Philosophie, und es ergibt sich, dass die Irreduzibilität des Übersinnlichen mit dem Denken Kants mindestens ebenso im Einklang steht, wie die Unaufhebbarkeit des Abstrakten den Grundlagen des Hegel’schen Systems widerspricht. Die anikonische Interpretation ist aber, wie gesagt, nur eine Annahme, die ohne Argumentation als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Dass das Zweite Gebot nicht als Bilderverbot zu verstehen sei und auch andere Interpretationen als die anikonische zulassen könne, das wird von Kant und Hegel nicht einmal in Betracht gezogen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts lässt sich aber ein Kurswechsel in diesem Forschungsbereich beobachten. Die Möglichkeit, die alten Vorurteile zu überwinden, steht zunehmend im Mittelpunkt verschiedener Studien, die somit den Weg eröffnen, auf dem das anikonische Missverständnis endgültig beseitigt werden kann. Solchen Studien ist der folgende Abschnitt gewidmet.

3. Die Auflösung des Missverständnisses im 20. Jahrhundert Die Infragestellung des anikonischen Missverständnisses beginnt mit Joseph ­Gutmanns Aufsatz The „Second Commandment“ and the Image in Judaism, in dem einer der einleitenden Sätze lautet: Das Missverständnis ist vor allem deshalb entstanden, weil Autoren, die sich mit diesem Thema beschäftigt haben, kritiklos [indiscriminately] aus Literaturquellen […] zitiert haben, um ihre vorgefassten Meinungen zu verstärken, und dabei vernachlässigt haben, dass solche Quellen aus verschiedenen sozialen Kontexten sowie unterschiedlichen Epochen stammen.57

Diese Kritik, die Gutmann gegen nicht weiter identifizierte ‚Autoren‘ richtet, könnte man mit Recht auch auf Kant und Hegel ausdehnen. Was auch ihren Überlegungen fehlt, ist in der Tat eine ausführliche Auseinandersetzung mit denjenigen soziokulturellen Aspekten, in deren Missachtung Gutmann die Hauptursache des anikonischen Missverständnisses erkennt.

eher um die Hervorhebung ihrer Unmöglichkeit? –​Dies ist eine Frage, die Kant nicht stellt. Für eine Erörterung dieser Alternative cf. Halbertal, Moshe /​Margalit, Avishai: Idolatry. Harvard UP: Cambridge 1992, S. 45–​48. 57 Gutmann, S. 161.

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Im Gegensatz zu dieser Oberflächlichkeit ist der neue Forschungsansatz dadurch gekennzeichnet, dass den Kontexten, in denen die jeweiligen Quellen situiert sind, besondere Aufmerksamkeit zuteilwird. Jede darauf basierende Studie nimmt außerdem eine fachspezifische Perspektive ein, je nachdem, wie der oben genannte ‚Kontext‘ aufgefasst wird –​gesellschaftlich, kulturell, allgemeingeschichtlich usw. Ich glaube aber, dass die neu gewonnene Zentralität des Kontextes, obwohl sie einerseits zweifelsohne den Vorzug hat, die falsche Annahme von Kant und Hegel zu widerlegen, andererseits nur einen Teil der gesamten Thematik abzudecken vermag. Zwar kann die Betrachtung von kontextuellen Faktoren zu einer zufriedenstellenden Antwort auf die quaestio facti führen. Doch bleibt auf diesem Weg die ebenso wichtige quaestio juris komplett außer Acht. Damit meine ich, etwas präziser formuliert, dass man durch soziologische, kulturwissenschaftliche oder historische Betrachtungen höchstens bestimmen kann, ob Bilder tatsächlich an-​oder abwesend waren, und eventuell kann man dann zu dem Schluss kommen: Ja, in Israel gab es Bilder –​wie es im Titel eines der hier berücksichtigten Werke triumphierend proklamiert wird.58 Das sagt aber noch nichts über die Legitimität solcher Bilder aus. Kurzum: Dass es Bilder gab (quaestio facti), bedeutet nicht unbedingt, dass es sie auch geben darf (quaestio juris). Weit davon entfernt, auch nur suggerieren zu wollen, dass sich die zwei quaestiones wechselseitig ausschließen oder dass eine hierarchische Abstufung der Wichtigkeit zwischen ihnen besteht, bin ich vielmehr der Meinung, dass sie der Vollständigkeit halber zusammen betrachtet und miteinander integriert werden sollten.

3.1. Quaestio Facti Der theoretische Kern von Gutmanns Essay ist die Hervorhebung der engen Verbindung zwischen Lebensweise und Gottesvorstellung. In jeder Lebensform –​ behauptet Gutmann –​projiziert der Mensch auf seine Gottesidee die Eigenschaften, die jeweils als kontextrelevant erscheinen. Im Besonderen geht das Leben des jüdischen Volkes in den biblischen Zeiten mit einer Auffassung Gottes einher, die von den Lebensbedingungen in der Wüste tief geprägt ist und auf Unsichtbarkeit sowie dementsprechend Undarstellbarkeit basiert. Das folgende Zitat illustriert, was ­Gutmann meint: Yahweh, der Gott der Juden, wurde als ein Stammesführer (tribal leader) gesehen, der eine vertraute Beziehung mit den Stämmen hatte. Er begleitete sie, um sie zu schützen, und sein Zuhause war dort, wo auch immer die Stämme waren. […] Jedoch war sein einziger sichtbarer Zug die Wolke, in die er sich während der Wüstenwanderung verhüllte.59

58 Der Titel von Silvia Schroers Arbeit lautet: In Israel gab es Bilder. Nachrichten von darstellender Kunst im Alten Testament. 59 Gutmann, S. 161.

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In einem solchen Kontext, in dem Gott ausschließlich in der unbestimmten Form einer Wolke mit unscharfen Konturen erscheint, wäre jeder Versuch, ihn bildlich darzustellen, nicht nur vergeblich, sondern auch ein Sakrileg: Was auch immer abgebildet werden mochte, wäre gewiss nicht Gott, denn er ist unsichtbar und daher undarstellbar. An dieser Stelle könnte man einwenden, dass eine Argumentation wie diese, die die Undarstellbarkeit Gottes in den Mittelpunkt stellt, letzten Endes nicht grundsätzlich anders ist als diejenige vieler anderer Autoren (z. B. von Hegel). Jedoch könnte man erwidern, dass Gutmanns Essay eigentlich ein entscheidendes Novum im Vergleich zu früheren Werken aufweist und dass dieses Novum in seinem kontextzentrierten Ansatz erkennbar ist. Die dadurch vertretene These, die eine gewisse Ähnlichkeit mit anderen durchaus aufweisen mag, hat im Gegensatz zu diesen jedoch nicht den Ehrgeiz, im Allgemeinen zu gelten, sondern ist eben auf einen bestimmten Kontext beschränkt, und ihre Gültigkeit variiert je nachdem, wie der Kontext selbst variiert. Die gleiche Veränderlichkeit betrifft aber auch die Art und Weise, wie Bilder im Judentum angesehen und bewertet werden. Auch in diesem Fall lässt sich feststellen, dass unterschiedliche Kontexte unterschiedliche –​ positive, neutrale oder negative –​Haltungen gegenüber Bildern bestimmen. Gutmann schreibt: Das Verbot geschnitzter Bilder, wie es im Zweiten Gebot formuliert ist, muss im Kontext einer semi-​nomadischen Erfahrung verstanden werden. […] Das Ziel des Gesetzes, das Bilder verbietet, scheint es zu sein, dem unsichtbaren Yahweh Treue zu versichern und zu vermeiden, dass die Nomaden [d. h. die Juden] Idole schaffen oder aus den vielen sesshaften Kulturen übernehmen, mit denen sie in Kontakt getreten sind.60

Aus diesem letzten Zitat lassen sich zusätzliche Informationen herleiten, die ich in zwei Punkte unterteilen würde. Erstens: Das Zweite Gebot wird auch von G ­ utmann im anikonischen Sinne als Bilderverbot aufgefasst. Zweitens: Dem Bilderverbot wird eine ganz praktische Funktion zugeschrieben. Um für den ersten Punkt zu argumentieren, kann man einfach darauf hinweisen, dass schon die Wortwahl von Gutmann Bände spricht. Die von ihm gewählten Ausdrücke –​‚Verbot geschnitzter Bilder‘ (proscription against graven images) und ‚Gesetz, das Bilder verbietet‘ (law forbidding images) –​geben Grund zu der Annahme, dass in diesem Fall von einem vollwertigen Bilderverbot die Rede sein kann. Ebenso wichtig ist aber der zweite Punkt, in dem ein besonderer Akzent auf die bestimmte Funktion gelegt wird, die das Bilderverbot in der jüdischen semi-​ nomadischen Gesellschaft erfüllt: Es dient dazu, das jüdische Volk vor der Assimilationsgefahr –​d. h. vor dem Risiko, dass idolatrische Praktiken aus anderen Völkern übernommen werden –​zu schützen. Wenn aber das Bilderverbot mit der Assimilationsgefahr so eng verbunden wird, wie es sich aus Gutmanns Worten 60 Ibid., S. 163.

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herauslesen lässt, ist es vertretbar, dass dieses Verbot in Zeiten, in denen die Assimilation keine Gefahr mehr darstellt oder zur Integration ausdrücklich aufgefordert wird, überflüssig oder sogar kontraproduktiv ist.61 Was sich aus Gutmanns Rekonstruktion ergibt, ist letztendlich ein Verlauf, in dem Perioden strikter Befolgung des Gesetzes sich abwechseln mit solchen, in denen das Bilderverbot flexibler angewandt wird. Eine Lockerung des Bilderverbotes lässt sich beispielhaft in den beiden Epochen feststellen, die Gutmann erörtert: sowohl in den biblischen Zeiten, als die Lebensweise des jüdischen Volkes sich von nomadisch zu sesshaft änderte, wie auch in der hellenistisch-​römischen Epoche, in der eine neue Veränderung der Lebensform von ländlich zu urban stattfand. Doch der Punkt ist, dass es bei Gutmanns Überlegungen nur um die Anwendung des Gesetzes geht und gar nicht um das Gesetz selbst. Er konzentriert sich auf die tatsächliche Anwesenheit von bildlichen Artefakten, während er zugleich an der herkömmlichen anikonischen Interpretation des Zweiten Gebotes festhält. Das bewirkt zwischen theoretischer und praktischer Ebene –​zwischen der Regel und ihrer Anwendung –​eine Diskrepanz, für welche Gutmann keine bessere Erklärung finden kann als eine Lockerung, eine Verringerung der Strenge. Wenn das Zweite Gebot nach wie vor als Bilderverbot aufgefasst wird und trotzdem die Anwesenheit von Bildern –​zumindest in einigen Epochen –​konstatiert wird, ist der einzig mögliche Schluss, dass das Verbot, obwohl immer in Kraft, manchmal rigoros, manchmal flexibel und manchmal sogar gar nicht eingehalten wird. Die Regel bleibt also unberührt; es ist nur die Strenge ihrer Anwendung, die variiert. Zweifellos genießt Gutmanns Ansatz eine besondere Glaubwürdigkeit und viele Wissenschaftler liegen mit ihm auf einer Linie. So spricht beispielsweise Carmel Konikoff in Anlehnung an Gutmann von einer „Abwechslung von Strenge und Flexibilität in der Interpretation des Gesetzes“62 und Francesca Calabi bestätigt in ihrer Studie die Ansicht, das Bilderverbot sei streng nur in den Perioden eingehalten worden, in denen die Assimilationsgefahr größer war.63 Besondere Aufmerksamkeit verdient meiner Meinung nach in diesem Zusammenhang die These von Erwin Goodenough, der auf die gleiche Diskrepanz wie Gutmann stößt und diesbezüglich eine kühne These vorschlägt: Die tatsächliche Anwesenheit von Bildern, die dem Bilderverbot widerspricht, sei Goodenough zufolge auf „eine neue Kraft, einen neuen Trend im Judentum“64 zurückzuführen, der „irgendwie dem Reformjudentum ähnlich ist“.65 Die These basiert also auf einer Analogie: Eine 61 Darauf geht zum Beispiel Gabrielle Sed-​Rajna in einem Aufsatz ein, in dem sie Rabbiner behandelt, die mit Toleranz und Pragmatismus das Bilderverbot gelockert haben, um der jüdischen Gemeinde die Integration in die Gesellschaft der Nichtjuden zu erleichtern (cf. Sed-​Rajna, S. 84–​85). 62 Konikoff, S. 95. 63 Cf. Calabi, S. 44. 64 Goodenough, Erwin R.: „The Rabbis and Jewish Art in the Greco-​Roman Period“. Hebrew Union College Annual 32, 1961, S. 269–​279, hier S. 278. 65 Ibid. S. 279.

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von Goodenough vermutete66 Gemeinde von Juden, die unter Einfluss ihrer heidnischen Nachbarn vom Bilderverbot abweichen, ähnele dem modernen Reformjudentum, denn in beiden Fällen lasse sich eine Öffnung des Judentums gegenüber der nichtjüdischen Welt beobachten. Es wäre nicht schwierig, Goodenoughs Theorie zu widerlegen. Und tatsächlich wurde es schon getan.67 Ich möchte aber den Schwerpunkt von der Theorie selbst auf die ihr zugrunde liegende Denkweise verlegen und darauf hinweisen, dass die fantasievolle Hypothese einer Art von Reformjudentum ante litteram nur deshalb als extrema ratio erscheinen kann, weil die Idee immer noch vorausgesetzt wird, das Zweite Gebot sei ein Bilderverbot. Nur unter dieser Annahme konnte sich ­Good­enough gezwungen sehen, eine Abweichung vom Gesetz ins Spiel zu bringen, um über die De-​ facto-​Anwesenheit von Bildern Rechenschaft abzulegen. Im Allgemeinen gilt, dass, wenn eine Regel und die beobachtbare Wirklichkeit, die dadurch geregelt werden soll, nicht übereinstimmen, nur zwei Wege möglich sind: Entweder vermutet man eine Abweichung von der Regel, oder man stellt die herkömmliche Interpretation der Regel infrage. Während klar ist, dass sowohl Gutmann wie auch Goodenough den ersten Weg gehen, werde ich versuchen, dem zweiten zu folgen: Vielleicht hat die Regel einen ganz anderen Sinn als denjenigen, der ihr bisher zugeschrieben wurde. Vielleicht ist das Zweite Gebot überhaupt nicht als Bilderverbot zu verstehen; und vielleicht wird sich dann auch die Diskrepanz, die Gutmann und Goodenough so viel beschäftigt hat, als nur scheinbar erweisen. Diese Möglichkeiten werde ich im folgenden Abschnitt diskutieren. Zusammenfassend kann man sagen, dass die in diesem Abschnitt behandelten Arbeiten in der Entwicklung des anikonischen Missverständnisses den Anfang seines Niedergangs markieren. Doch eben nur den Anfang. Beide Autoren, auf die ich mich fokussiert habe, vertreten die These einer gewissen Flexibilität in der Anwendung der Regel, ohne die Regel selbst zu hinterfragen –​was im Grunde eine andere Art ist, zu sagen, dass sie nur die quaestio facti berücksichtigen. Der vernachlässigten quaestio juris ist der folgende Abschnitt gewidmet.

3.2. Quaestio Juris Ein kontextzentrierter Ansatz kann, wie bereits für die quaestio facti, auch in Bezug auf die quaestio juris Anwendung finden. Der einzige Unterschied ist, dass der Begriff ‚Kontext‘ in diesem letzten Fall im wörtlichen Sinne zu verstehen ist; nicht also als sozialer oder kultureller Bereich eines Phänomens, sondern eher als

66 Ich verwende hier das Verb ‚vermuten‘. Es gibt aber Forscher, die ohne viel Federlesens für Goodenoughs Theorie das Verb ‚erfinden‘ benutzen (cf. Di Castro, ­Raffaella: Il divieto di idolatria tra monoteismo e iconoclastia. Guerini e Associati: Milano 2012, S. 369). 67 Neben dem bereits erwähnten Werk von Raffaella Di Castro cf. auch Konikoff, S. 90.

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‚Kon-​Text‘,68 d. h. als Text, der eine schriftliche Einheit umgibt. Und da die hier zur Rede stehende schriftliche Einheit selbstverständlich das Zweite Gebot sein muss, ist klar, dass sein Kon-​Text in den Bibelversen besteht, die vor und nach ihm erscheinen. Durch die Analyse einiger Schlüsseltermini im Bibelvers Ex. 20: 469 sowie in seinem Kon-​Text (Ex. 20: 3 und Ex. 20: 5) lässt sich also dafür argumentieren, dass es dabei nicht um Bilder im Allgemeinen geht, sondern nur um ihren idolatrischen Missbrauch. Das wichtigste Wort in Ex. 20: 4 ist ‫( פסל‬pesel): das Objekt des Verbotes. Luther übersetzt das Wort bekanntermaßen mit ‚Bildnis‘, wohingegen Buber und ­Rosenzweig eine dem Original näherstehende Lösung vorschlagen: ‚Schnitzgebild‘. In der Tat entspricht das Substantiv ‫( פסל‬pesel) –​plural: ‫( פסלים‬psalim) –​dem Verb ‫( פסל‬pasal), das ‚schnitzen‘ heißt. Jedoch zeigen Christoph Dohmens Erklärungen in seinem Standardwerk Das Bilderverbot. Seine Entstehung und seine Entwicklung im Alten Testament70, dass die Verbindung zwischen dem mit dem Wort ‫( פסל‬pesel) bezeichneten Gegenstand und der Tätigkeit des Schnitzens, obwohl etymologisch sicherlich nachvollziehbar, irgendwie in den Hintergrund gerät, während die Verwendung der ‫( פסלים‬psalim) im Bereich des Kultes immer mehr in den Vordergrund tritt. Man stößt an dieser Stelle auf eine Divergenz zwischen zwei Perspektiven, von denen aus das Wort ‫( פסל‬pesel) betrachtet werden kann: der etymologisch-​ semantischen und der funktionalen Perspektive. Während auf etymologisch-​ semantischer Ebene die Art und Weise betont wird, wie ein ‫( פסל‬pesel) hergestellt wird –​ es wird eben geschnitzt –​, zeigt eine Analyse der vielen Stellen, an denen das Wort in der Thora vorkommt, dass es immer dort verwendet wird, wo ein Kult verurteilt wird –​ nicht selten in Verbindung mit Verben, die einen Akt der Verehrung bedeuten. Das ‫( פסל‬pesel), das in Ex. 20: 4 verboten wird, ist also ein Bild, das geschnitzt wurde, um im Bereich eines heidnischen Kults verwendet zu werden. Und genau dieser letzte Aspekt, d. h. die gebräuchliche Einbeziehung der ‫( פסלים‬psalim) in kultische Praktiken, verdient es Dohmen zufolge mehr als die anderen, unterstrichen zu werden. Unter diesen Umständen scheint es klar, dass weder Luther noch Buber und Rosenzweig eine treffende Übersetzung für ‫( פסל‬pesel) finden konnten. Unbefriedigend ist das Luther’sche ‚Bildnis‘, da es zu weit und allgemein gefasst ist, aber auch ‚Schnitzgebild‘ wie bei Buber und Rosenzweig erweist sich als eine nicht völlig befriedigende Lösung, da sie sich auf einen nur nebensächlichen Aspekt des 68 Ich werde im Folgenden beide Schreibweisen, ohne bzw. mit Bindestrich, verwenden, um die zwei Bedeutungen zu unterscheiden: ‚Kontext‘ für ‚Bereich‘ und ‚Kon-​Text‘ für ‚umgebenden Text‘. 69 Ich beschränke mich dabei auf die Exodus-​Fassung. Die hier dargestellten Erörterungen und Reflexionen bleiben aber auch für die Deuteronomium-​Fassung gültig. Zum Unterschied zwischen den zwei Fassungen cf. die Einleitung in diesem Band, Anm. 2. 70 Dohmen, Christoph: Das Bilderverbot. Seine Entstehung und seine Entwicklung im Alten Testament. Peter Heinstein: Bonn 1985.

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Originals ‫( פסל‬pesel) konzentriert.71 Im Gegensatz dazu sollte eine gelungene Übersetzung vor allem die funktionale Determination der ‫( פסלים‬psalim), d. h. ihre Verwendung im kultischen Bereich, wiedergeben. Deshalb –​schließt Dohmen –​„ist es angebracht, die Bedeutung der Nominalbildung ‫(פסל‬pesel) im Alten Testament mit ‚Kultbild‘ zu umschreiben“ (48). Was in Ex. 20: 4 verboten wird, ist also nicht ‚das Bild‘ im Allgemeinen, sondern nur eine besondere Art von Bildern, und zwar nur die ‫( פסלים‬psalim), d. h. die Kultbilder, d. h. die Idole.72 Diese Behauptung kann weiter verstärkt werden, wenn man auch die angrenzenden Verse –​ Ex. 20: 3 und Ex. 20: 5 –​ in Betracht zieht. Diese bestätigen den idolatrischen Zusammenhang, in dem allein der authentische Sinn des Zweiten Gebotes verstanden werden kann. Die ‚fremden Götter‘, die man Ex. 20: 3 zufolge nicht haben darf, sowie das explizite Verbot in Ex. 20: 5, sich ihnen zu neigen und ihnen zu dienen, zeigen noch einmal eindeutig, dass der Bereich, in dem das Zweite Gebot betrachtet werden muss, ein idolatrischer ist. Was sich aus diesen Betrachtungen ergibt, ist also eine Einschränkung des Verbotes auf Idole sowie, indirekt, eine Hervorhebung des Unterschieds zwischen ‚Bild‘ und ‚Idol‘. Die Extensionen73 dieser zwei Begriffe können sich natürlich überschneiden –​und das ist eben der Fall bei ‫( פסלים‬psalim), die Bilder und Idole zugleich sind –​; sie decken sich aber nicht vollkommen, sodass es auch Bilder geben kann, die keine Idole und deshalb vollkommen legitim sind.74 Neben der Torah ist der Mischnatraktat Avoda Zara ein weiterer locus classicus, wenn es darauf ankommt, für den Unterschied zwischen Bild und Idol zu argumentieren. Und da denke ich insbesondere an die bekannte Erzählung von Rabban Gamliel im Bad der Aphrodite. Hier ist der Text: Proklos der Philosoph fragte R. Gamliel in Akko, als dieser im Bad der Aphrodite badete: „[…] Wieso badest du nun im Bad der Aphrodite? […]“. Er [R. Gamliel] sprach

71 Dass das Bild geschnitzt wurde, ist anders gesagt so gut wie irrelevant. Dohmen präzisiert: „[D]‌er Art und Weise, wie dies [das ‫( פסל‬pesel)] hergestellt wird, […], wird eigentlich kein Gewicht beigemessen, da dies das Wesen des Kultbildes nicht betrifft“ (ibid., S. 48–​49). 72 Ich verwende hier das Wort ‚Idol‘ als Synonym für ‚Kultbild‘, denn für beide gilt die gleiche Definition: ein Bild, das im Bereich eines Kultes verwendet und verehrt wird. In diesem Sinne erscheint die Übersetzung der Septuaginta –​εἴδωλον (eidolon) –​ besonders originaltreu. 73 Das Wort ‚Extension‘ gilt hier als Terminus technicus mit der Bedeutung, die er im Bereich der Begriffslogik hat: Mit der Extension eines Begriffs ist die Gesamtheit der Elemente gemeint, die er umfasst. 74 Hier muss ich eine höchst interessante Frage leider beiseitelassen, und zwar die Frage nach Idolen, die keine Bilder sind. Betrachtet man aber, dass sowohl das hebräische Wort ‫( פסל‬pesel) als auch das griechische εἴδωλον (eidolon) mit der Sphäre des Materiellen bzw. des Visuellen verbunden sind, wird klar, wie von nicht-​bildlichen Idolen nur im übertragenen Sinne die Rede sein kann. Cf. die Einleitung in diesem Band, Anm. 19.

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zu ihm [Proklos]: „Ich kam nicht in ihren Bereich, sondern sie in meinen Bereich. Man sagt nicht, das Bad sei zur Ausschmückung der Aphrodite errichtet worden, sondern die Aphrodite sei zur Ausschmückung der Badeanstalt aufgestellt worden“. Und noch etwas anderes: „Wenn man dir auch viel Geld geben würde, so würdest du dennoch nicht […] vor deine Gottheit treten und vor ihr urinieren. Diese aber steht vor der Rinne und das ganze Volk uriniert vor ihr […]. Was wie ein Gott behandelt wird, ist verboten. Was nicht wie ein Gott behandelt wird, ist erlaubt.“75

Die talmudische Erzählung enthält in narrativer Form viele Anregungen, deren nähere Betrachtung und begriffliche Rekonstruktion sich lohnt. Zu Beginn ist klar, dass sich die vielleicht provokante Frage von Proklos auf ein angebliches Verbot für Juden bezieht, irgendwelchen Kontakt mit Bildern von heidnischen Gottheiten wie Aphrodite zu haben. In Rabban Gamliels Antwort lassen sich drei Argumente erkennen. Zunächst weist er darauf hin, dass es die Statue der Aphrodite ist, die ‚in seinen Bereich kam‘, und nicht umgekehrt. Damit meint er, dass sich die Badeanstalt an Badegäste richtet, nicht an Anhänger des Kultes der Aphrodite, und daher keine kultischen Zwecke hat. Besonders relevant ist aber das zweite Argument, in dem unter Rückgriff auf den Begriff ‚Ausschmückung‘ eine Unterscheidung in nuce erkennbar wird zwischen ästhetischer und kultischer Funktion eines Bildes. Der Grund, weshalb sich die Statue der Aphrodite im Bad befindet –​sagt Gamliel –​, ist nicht ihre Verehrung, sondern die Verschönerung des Bades selbst. Schließlich –​ und das ist das dritte Argument –​zeigt die räumliche Nähe der Statue zum Urinal eine grundsätzliche Respektlosigkeit, die sich nur schlecht mit kultischen Zwecken vereinbaren lässt. Das bestätigt erneut, dass die Anwesenheit der Aphrodite-​Statue im Bad nur eine marginale, höchstens schmückende Funktion erfüllt, und erlaubt somit den Schluss, dass nur das, was als Gottheit behandelt wird, verboten ist, während alles andere erlaubt ist. Genauer gesagt: Nicht-​idolatrische Bilder, d. h. Bilder, die keine kultische Funktion erfüllen, sind zweifelsohne erlaubt. Für die Funktion eines Bildes ist aber die Art und Weise ausschlaggebend, wie es behandelt wird, und diese ist wiederum vom Kontext, von der Umgebung, in der es sich befindet, bestimmt. Die Statue der Aphrodite –​um auf ein konkretes Beispiel zurückzukommen –​ist nicht verboten, weil sie, obwohl sie ein Bild ist, auf keinen Fall als Idol fungiert. Und das lässt sich daran ablesen, wie mit der Statue in ihrem spezifischen Kontext (d. h. im Bad) umgegangen wird. Aus der talmudischen Erzählung geht der Schluss hervor, dass es beim Unterscheiden zwischen Bild und Idol nicht um verschiedene Seiende geht, sondern um verschiedene Funktionen, die sogar dem gleichen Seienden zugeschrieben werden können. Es ist das gleiche Bild, das je nach dem Kontext entweder ästhetisch oder kultisch, d. h. idolatrisch, funktionieren kann. Und man kann daher vermuten, dass die gleiche Statue der Aphrodite verboten wäre, wenn sie beispielsweise in einem Tempel oder einer anderen Kultstätte verortet wäre.

75 TB, Avoda Zara, III,4.

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Von dieser Ansicht ausgehend ist eine Neusemantisierung des Idols als Funktion ein Schritt, der von vielen Seiten als notwendig angesehen wird. Es ist nicht mehr möglich, das Idol als ein Seiendes zu denken, das sich vom Bild so unterscheidet wie eine Entität von einer anderen, denn nur das Bild ist eigentlich ein Seiendes, eine Entität; das Idol ist eher einer seiner Seinsmodi. Nur das Bild fällt unter die Dimension des ‚Was‘; das Idol gehört vielmehr zu derjenigen des ‚Wie‘.76 Dieser radikale Wechsel, der sich unterschiedlich ausdrücken lässt –​z. B. als Übergang vom Gegenstand zur Funktion, vom Seienden zum Seinsmodus, vom ‚Was‘ zum ‚Wie‘ –​, ermöglicht eine Erweiterung der Perspektive auf das Problem des Bildes im Judentum, dank deren auch die quaestio juris neben der quaestio facti berücksichtigt werden kann. Die Anwesenheit von Bildern im Judentum, die heute als unbestritten gilt, ist nicht auf die lockere Anwendung eines vermeintlichen Bilderverbotes zurückzuführen, wie manchmal in der Forschung vertreten wird. Es ist eigentlich nicht nötig, eine solche Lockerung zu postulieren, weil es nie um ein Bilderverbot gegangen ist. Schon der Buchstabe des Gesetzes, sofern angemessen vor der Folie des Begriffs ‚Funktion‘ gelesen, erlaubt es, die Anwesenheit von Bildern nicht nur de facto zu erklären, sondern auch de jure zu rechtfertigen. Bilder sind anders gesagt nicht nur deshalb da, weil das Gesetz, das sie verbieten sollte, nicht streng genug eingehalten wird. Sie haben das Recht, da zu sein, solange sie keine idolatrische Funktion erfüllen.

3.3. Fazit Gutmanns Aufsatz sowie die anderen Arbeiten, die seinen Ansatz teilen, stellen die erste Reaktion gegen das ‚anikonische Missverständnis‘ dar. Als erster Schritt auf dem Weg zur Beseitigung eines Jahrhunderte währenden Missverständnisses weist diese Generation von Arbeiten auch Mängel auf –​allen voran eine einseitige Ausrichtung auf die questio facti. Diese Einseitigkeit kann aber insofern überwunden werden, als der quaestio juris das gleiche Gewicht beigemessen und daher auch die gleiche Aufmerksamkeit wie der quaestio facti gewidmet wird. Ich habe versucht, zu zeigen, dass hierzu mindestens zwei Faktoren erforderlich sind: zum einen eine kritische Auseinandersetzung mit den zum Thema relevanten Quellen (vor allem Torah und Talmud, aber auch Midrashim, rabbinische Responsa usw.); 76 In diese Richtung zielen beispielsweise auch die Reflexionen von Jean-​Luc Marion, der in seiner theologischen Phänomenologie eine Ansicht präsentiert, in der das Bild zwischen zwei Extremen oszilliert: dem Idol und der Ikone. „Ebenso wenig wie die Ikone bezeichnet das Idol ein besonderes Seiendes oder eine Klasse von Seienden. Ikone und Idol zeigen je einen Seinsmodus der Seienden“ (Marion, Jean-​ Luc: „Fragments sur l’idole et l’icône“. Revue de métaphysique et de morale 84, 1979, S. 433–​445, S. 433–​434). Für Marion ist dann nur das Bild ein Seiendes, dessen ontologischer Modus entweder ikonisch oder idolatrisch sein kann. Für eine Auffassung von Idol bzw. Idolatrie als Funktion cf. unter anderem auch Mosès, Stéphane: „Le pointe d’Énoch. L’art et l’idole selon les sources juives“. In: Halpérin, Jean /​Lévitte, Georges (Hrsg.): Idoles. Données et débats. Denoël: Paris 1985, S. 133–​143; Kochan, Lionel: Beyond the Graven Image. A Jewish View. McMillan: London 1997.

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zum anderen auf theoretischer Ebene der Einsatz des Begriffs ‚Funktion‘ als Schlüssel zum Verhältnis des jüdischen Gesetzes zur Bildpraxis.

4. Schluss Das Missverständnis, das ich in diesem Aufsatz diskutiert habe, besteht von einem logischen Standpunkt in zwei Operationen: einer falschen Gleichung und einer falschen Implikation: Das Zweite Gebot des Dekalogs (Ex. 20: 4) wird irrtümlicherweise mit einem Bilderverbot gleichgesetzt –​das ist die falsche Gleichung –​, und dieses Verbot wird ebenso irrtümlicherweise als Ursache eines angeblichen Anikonismus aufgefasst –​das ist die falsche Implikation. Geschichtlich gesehen lassen sich in der Entwicklung des Missverständnisses drei Phasen erkennen. In der ersten Phase, deren relevanteste Denker Kant und Hegel sind, sind beide genannten Operationen –​falsche Gleichung und falsche Implikation –​als gültig vorausgesetzt. Sowohl Kant wie auch Hegel denken, das jüdische Gesetz verbiete alle Bilder und das Judentum sei daher anikonisch. Nur ihre jeweiligen Einschätzungen dazu sind gegensätzlich: Der geglaubte jüdische Anikonismus wird von Kant positiv und von Hegel negativ gewertet. In der zweiten Phase lässt sich die Infragestellung der falschen Implikation zusammen mit der Bewahrung der falschen Gleichung beobachten. Es bleibt immer noch die Überzeugung, das Zweite Gebot sei als Bilderverbot zu interpretieren; es konstituiert aber nicht mehr die Ursache eines angeblichen jüdischen Anikonismus. Archäologische Funde haben eindeutig gezeigt, dass das Judentum nicht immer anikonisch gewesen ist. Aber auch wenn das der Fall war, war der Anikonismus eher auf kontingente Bedingungen als auf ein bilderfeindliches Gesetz zurückzuführen. Von dieser konkreten Basis ausgehend zielen alle Arbeiten, die zu dieser zweiten Phase gehören, darauf ab, die tatsächliche Anwesenheit von Bildern zu erklären, ohne jedoch die falsche Annahme anzutasten, sie seien illegitim. Ich habe versucht, den daraus folgenden Stand der Dinge als eine Diskrepanz zwischen quaestio facti und quaestio juris zu schildern: Ich glaube, nur die quaestio facti findet in dieser Phase eine zufriedenstellende Lösung, während die quaestio juris vernachlässigt wird. Die zweite Phase endet also mit einer teilweisen Beseitigung des anikonischen Missverständnisses, welches erst in der dritten und letzten Phase vollkommen geklärt werden kann. Die Analyse der jüdischen Quellen samt der Neusemantisierung von Idol und Idolatrie als ‚Funktion‘ treten schließlich als unabdingbare Grundlagen für jede Arbeit in Erscheinung, die sich mit der ganzen Thematik der Bilder im Judentum nicht nur de facto, sondern auch de jure auseinandersetzen will.

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Asher D. Biemann

Bildersturz und Bilderliebe bei Hermann Cohen Der nachstehende Aufsatz beschäftigt sich mit der Ästhetik des jüdischen Neu-​ Kantianers Hermann Cohen (1842–​1918) und besteht aus zwei Teilen: Bildersturz und Bilderliebe. Ausgehend von Cohens Spätwerk, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums1, betrachten wir das moderne Thema des Bildersturzes als eine Kulturkritik, die sich über Denker wie Sigmund Freud, Theodor W. Adorno, oder Erich Fromm bis in die Gegenwart hineinzieht. Doch spricht Cohen in seiner Ästhetik des reinen Gefühls2 auch von einem „unerwarteten Einklang“ zwischen dem monotheistischen Bilderverbot und der reinen Kunst. Diesem Einklang widmet sich der zweite Teil des Aufsatzes zum Thema der Bilderliebe. Cohens Ästhetik entwickelt ein Kunstverständnis aus der Menschenliebe heraus, welches die Erotik der Bilder nicht nur toleriert, sondern sogar postuliert. In diesem Sinne entstand das biblische Bilderverbot nur aus einer prophetischen „Einseitigkeit,“ die nicht anerkennen konnte, was die Ästhetik zu Bewusstsein bringt: Dass die „reine“ Kunst eine Tiefe des Gefühls erschließt, welche der Religion verschlossen bleibt.

1. Bildersturz 1.1. Die Sprache der Gewalt Hermann Cohens spätes, erst posthum erschienenes opus magnum, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, widmet bereits sein zweites Kapitel dem Thema des Bilderdiensts.3 Aus der Einheit und Einzigkeit Gottes, die den Anfang des Buches ausmacht, folgt dessen Unvergleichbarkeit. Der einzige Gott muss auch einzigartig sein. Nur der Mythos, nur der Polytheismus sucht in der Natur eine Analogie der Götter. Daher kennen wir aus den alten Kulturen die Denkmäler der Plastik, während das Judentum seine Quellendokumente hauptsächlich in der Literatur findet: „Die Plastik macht sich zur Analogie der Natur,“ schreibt Cohen. „Die Poesie dagegen, als die Ursprache der Literatur, macht den geistigen Gedanken auch durch die Form innerlicher, als er durch die bildende Kunst werden kann.“4 Auch das Judentum musste sich erst aus dem Mythos befreien und erkennen, dass

1 Cohen, Hermann: Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums (1919). ­Kaufmann: Frankfurt am Main 1929. 2 Cohen, Hermann: Ästhetik des reinen Gefühls. Bruno Cassirer: Berlin 1912. 3 Cohen, Religion der Vernunft, S. 58–​67. 4 Ibid., S. 43–​44.

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Götterbilder nicht Bilder von Gott sein können, sondern nur immer Bilder bleiben müssen von Gegenständen der Natur. „So entsteht im prophetischen Monotheismus,“ fährt Cohen fort, „notwendigerweise der Gegensatz, der Widerspruch zur Kunst, die die ursprüngliche Betätigungsweise des menschlichen Geistes ist, zu allererst Bilder zu erschaffen, als Abbilder der natürlichen Dinge, welche das Universum erfüllen.“5 Und daher obliegt es dem „wahrhaften Monotheismus,“ das „einzige Sein Gottes“ mit „einziger Liebe“ zu verteidigen: „Der Monotheismus kann keine Toleranz anerkennen gegenüber dem Polytheismus. Der Götzendienst muß schlechterdings ausgerottet werden.“6 Diese berühmte, oder sogar berüchtigte, Passage aus Cohens wohl bekanntestem Werk schockiert heute nicht nur durch die im späteren Nazi-​Deutschland ruchloseste Verwirklichung des unseligen Begriffs der „Ausrottung,“ sondern auch, und vielleicht noch viel mehr, durch das in letzter Zeit immer wieder thematisierte Potential ikonoklastischer Gewalt, das den monotheistischen Religionen zugeschrieben wird. Jan Assmann hat dies in seinen provokativen, sogar kontroversen Thesen die „Sprache der Gewalt“ genannt, welche als kulturelle Semantik den Traditionen eines „exklusiven Monotheismus“ –​ob jüdisch, christlich, muslimisch oder anders bestimmt –​zu eigen ist.7 Assmann bezeichnet dies mit dem etwas verunglückten Begriff der „mosaischen Unterscheidung,“ oder auch einer „mosaischen Dialektik,“ die sich durch „Negation und Ikonoklasmus“ geradezu als „Gegenreligion“ auszeichnet: „Was ich mit dem Begriff ‚Gegenreligion‘ bezeichnen will,“ heißt es bei Assmann, „ist die Negationskraft oder antagonistische Energie wie sie etwa im Ersten Gebot mit dem Verbot der Verehrung anderer Götter zum Ausdruck kommt…Diese antagonistische Energie findet ihren konkretesten, handgreiflichsten Ausdruck im Bilderverbot und dessen Umsetzung im Ikonoklasmus.“8 5 Ibid., S. 62. 6 Ibid., S. 60. Zu diesem Thema siehe besonders Erlewine, Robert: „Hermann Cohen and the Humane Intolerance of Ethical Monotheism“. Jewish Studies Quarterly 15(2), 2008, S. 148–​173. Auch Seeskin, Kenneth: „Hermann Cohen on Idol Worship“. In: Holzhey, Helmuth /​Motzkin, Gabriel /​Wiedebach, Hartwig (Hrsg.): „Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums“: Tradition und Ursprungsdenken in Hermann Cohens Spätwerk. Olms: Hildesheim 2000, S. 129–​143. 7 Siehe etwa Assmann, Jan: „Monotheismus und die Sprache der Gewalt“. In: Walter, Peter (Hrsg.): Das Gewaltpotential des Monotheismus und der dreieine Gott. Herder: Freiburg /​Basel /​Wien 2005, S. 18–​38, bes. S. 18–​21. Für eine hervorragende Auseinandersetzung mit Assmann im Lichte Hermann Cohens siehe ­Erlewine, Robert: „Reason Within the Bounds of Religion: Assmann, Cohen, and the Possibilties of Monotheism“. In: Rashkover, Randi /​Kavka, Martin (Hrsg.): Judaism, Liberalism & Political Theology. Indiana University Press: Bloomington /​Indianapolis 2014, S. 269–​288. 8 Assmann, Jan: „Monotheismus und Gewalt“. Perlentaucher. Das Kulturmagazin, 19.01.2013. https://​www.perlen​tauc​her.de/​essay/​monot​heis​mus-​und-​gew​alt.html. Dazu auch Id.: „Was ist so schlimm an den Bildern?“. In: Joas, Hans (Hrsg.): Die Zehn Gebote, Ein widersprüchliches Erbe? Böhlau: Köln 2006, S. 17–​32. In etwas veränderter

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1.2. Ikonoklasmus als Revolution „Der Ikonoklasmus,“ wie Carlos Eire in seiner klassischen Studie zur protestantischen Reformation, War Against Idols, bemerkte, „ist ein revolutionärer Akt.“ Und an anderer Stelle bezeichnet er ihn als „politische Revolte.“9 Ursprünglich religiös motiviert, jedoch selten ohne „säkulare“ und pragmatische Interessen, reicht das ikonoklastische Verhalten tief hinein in konkrete Politik, Kultur, und gesellschaftliche Verhältnisse. Ikonoklasmus ist nicht nur Bildersturz. Er ist auch Umsturz politischer und gesellschaftliche Ordnungen. In diesem Sinn war die protestantische Reformation keine Reform, sondern eine totale Umwälzung. In seiner Abendländischen Eschatologie, mit der er 1947 in Zürich promovierte, verlegte Jacob Taubes die Ursprünge des revolutionären Denkens auf das Judentum. Israel stellt den geschichtlichen Ort einer revolutionären Apokalyptik dar, die sich bis in die moderne Zeit erstrecken sollte. „Das wesentliche Verhalten Israels zum Leben,“ schreibt Taubes, „wird durch das Pathos der Revolution bestimmt.“10 Die Welt muss verändert werden durch die Herrschaft des Allmächtigen. Die Stimme Gottes „erschallt als Ruf zur Tat.“ So wird Israel das „unruhige Element,“ der „Gärungsstoff“ in der Weltgeschichte, so wird es zum ewigen Wendepunkt, zum Ereignis der „Umkehr.“ Seine Theologie ist geprägt vom Widerstreit einer gegengöttlichen Welt mit einem gegenweltlichen Gott.11 Heinrich Graetz, der umstrittene Pionier der modernen jüdischen Geschichtsschreibung, betrachtete das Judentum daher tatsächlich als eine Art „Gegenreligion“ in dem von Assmann beschworenem Sinne. In seiner 1846 erschienenen Konstruktion der jüdischen Geschichte heißt es: „Das Judentum stellt sich bei seinem Eintritt in die Geschichte als Negation dar, es negiert das Heidentum, es tritt gleichsam als Protestantismus auf.“12 Daraus erklärte sich für Graetz die „scharfe Opposition des Judentums gegen das in Götzenanbetung und in Unzucht versunkene Heidentum“ und mithin auch gegen alles plastische Bildwerk.13

1.3. Jüdischer Puritanismus Neuere Forschung hat allerdings den aufgeklärten Mythos eines „protestantischen,“ bilderfeindlichen und kunstwidrigen Judentums längst hinter sich gelassen. Auch

Form erschienen als „What’s Wrong With Images?“. In: Ellenbogen, Josh /​­Tugendhaft, Aaron (Hrsg.): Idol Anxiety. Stanford University Press: Stanford 2011, S. 19–​31. 9 Eire, Carlos N. N.: War Against Idols: The Reformation of Worship from Erasmus to Calvin. Cambridge University Press, Cambridge 1986, S. 151 und S. 156. 10 Taubes, Jacob: Abendländische Eschatologie. Matthes & Seitz: München 1991, S. 15. 11 Ibid., S. 15. „Die Welt ist das Gegengöttliche und Gott ist das Gegenweltliche.“ (ibid., S. 9). 12 Graetz, Heinrich: Die Konstruktion der jüdischen Geschichte. Eine Skizze. ­Schocken: Berlin 1936, S. 10. 13 Ibid., S. 14.

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die durchwegs antijüdischen und antisemitischen Vorwürfe, mit denen sich etwa G. W. F. Hegel und später Richard Wagner gegen die angebliche Bilderlosigkeit und das Fehlen einer „sinnlichen Anschauung“ bei den Juden empörten, haben ihre ursprüngliche Ideologiekraft verloren. Wagners notorische Behauptung, „der Jude hat nie eine eigene Kunst gehabt, daher nie ein Leben von kunstfähigem Gehalte,“ dürfte selbst den heutigen Vertretern antisemitischer Vorstellung als überholt erscheinen.14 Dennoch blieb die vermeintlich an-​ikonische Tendenz des Judentums als theologisches und philosophisches Prinzip erhalten, ja sie wurde sogar Postulat, mit dem sich moderne jüdische Denker oft gegen das griechische Erbe des Westens stemmten, um sich der eigenen Differenz zu versichern. Es war die strenge Trennung des griechischen „Augenmenschen“ vom hebräischen „Ohrenmenschen,“ die etwas zur Bestimmung und Vergeistigung des jüdischen „Wesens“ beitragen sollte. „Das Heidentum schaut seinen Gott, das Judentum hört ihn,“ war Graetz’s prägnante Formel.15 Damit erinnerte Graetz nicht nur an das alte Bilderverbot, welches durch Immanuel Kant philosophische Konjunktur in der protestantischen Aufklärung erhalten hatte, sondern implizierte auch den „schwerverdaulichen Katholizismus,“ der bei Schelling als ganz und gar im Mythos verfangene „Heiterkeit“ erschienen war.16 Noch Hans Kohn, der Prager Historiker, Humanist und große Kritiker aller moderner Nationalismen, unterscheidet ganz kategorisch zwischen Völkern des „Gehörs“ und der „Schau,“ des Zeit-​und des Raumsinnes: „Dem Griechen ist der Stein, mit dem er baut, das Sinnbild des Raumes und der Schau, dem Juden ist der Strom, in den er taucht, das Sinnbild der Zeit und des Werdens.“17 Daher „marmorisiert“ und „entzeitlicht“ der Grieche die Welt, während der Jude sie als Geschehen und sittliche Tat wahrnimmt. Mit diesem stark moralisierenden Antrieb avancierte die moderne Wiederentdeckung des Bilderverbots zu einer Form vehementer Kulturkritik, und es war wieder der „protestantische“ Heinrich Graetz, der in seinem fiktiven Briefwechsel einer

14 Cf. Wagner, Richard, Das Judenthum in der Musik. J. J. Weber: Leipzig 1869, S. 21. „Die sinnliche Anschauungsgabe der Juden ist nie vermögend gewesen, bildende Künstler aus ihnen hervorgehen zu lassen.“ (ibid., S. 17). Zu diesem Punkt siehe besonders Bland, Kalman: The Artless Jew: Medieval and Modern Affirmations and Denials of the Visual. Princeton University Press, Princeton 2000, S. 15–​30. 15 Graetz, Die Konstruktion der jüdischen Geschichte, S. 13. 16 Cf. Graetz, Heinrich: Briefwechsel einer englischen Dame über Judenthum und Semitismus. Levy & Müller: Stuttgart 1883, S. 49. Schelling, Friedrich Wilhelm Johann: „Philosophie der Kunst“. In: Schellings Werke: Schriften zur Identitätsphilosophie 1801–​1806. C. H. Beck: Berlin 1927, Bd. 3, S. 463. Siehe auch Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft, wo er das Zweite Gebot als Inbegriff jüdischer Sittlichkeit darstellte: „Diese reine, seelenerhebende, bloß negative Darstellung der Sittlichkeit, bringt […] keine Gefahr der Schwärmerei, welche ein Wahn ist, über alle Grenze der Sinnlichkeit hinaus etwas sehen […] zu wollen.“ (Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft (1790). In: Werkausgabe. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1977 ff., Bd. 10, S. 202). 17 Kohn, Hans: Die politische Idee des Judentums. Meyer & Jessen: München 1924, S. 12.

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englischen Dame über Judenthum und Semitismus den alten Götterglauben als den Urgrund europäischer Lasterhaftigkeit betrachtete: „Die Einführung der Götzen war der Anfang der Unzucht und die Erfindung der Lebensverderbtheit,“ heißt es dort. „Das Altertum war ein großes öffentliches Schandhaus, und die moderne Cultur hat daraus maisons privées gemacht.“18 Von der „Schaustellung der Nuditäten“ in Museen zu den jedes „Schamgefühl tödtenden Akademien,“ zu den „unfläthigen Romanen“ eines Emile Zola besteht kein Zweifel für Graetz, „daß der Cultus der Aphrodite noch jetzt in der civilisierten Welt eifrige Anhänger hat.“ Die dunkle Wahrheit dieser „heidnischen Lebensgewohnheit“ kann nur französisch geflüstert werden: „La volupté était un élément du culte religieux.“19 Wollust beherrscht das antike wie das moderne Heidentum. Die aphroditische Liebe, die nur mit einem Feigenblatt bedeckt auszusprechen sei, beherrscht „unheilbar tödtlich“ ganze Menschenkomplexe, Nationen und Staaten, und es bleibt dagegen die ewige Aufgabe des Judentums „keusche Enthaltsamkeit“ zu lehren und Warnung zu sein gegen die „entnervende Fleischeslust.“20

1.4. Eine Sehnsucht nach Schönheit und Schaffen Eine solch puritanische Haltung konnte im modernen Judentum zwar nicht normativ werden, hinterließ aber Spuren, die sich bis in die Gegenwart verfolgen lassen. Denn einerseits feierten manche Schriftsteller um die Jahrhundertwende die Wiedergeburt der darstellenden Kunst im Judentum und das Entstehen einer neuen „Sehnsucht nach Schönheit und Schaffen,“ die, wie Martin Buber 1902 schrieb, „im Ghetto immer wieder totgequält wurde,“ während andererseits derselbe Diskurs um eine „authentisch“ jüdische Kunst sich immer wieder auf den „un-​hellenischen,“ ja formwidrigen Charakter angeblich „echt“ jüdischer Ästhetik berief.21 Einerseits also entstand ein jüdisches Kunstbewusstsein, das sich auch von Nuditäten und lasziver Literatur nicht erschrecken ließ, andererseits aber schreckte die junge jüdische Kunst zurück vor allzu hellenischer Form. „Nicht maßvoll, nicht edel, nicht zierlich ist die jüdische Kunst,“ schrieb der Prager Zionist Felix Weltsch um 1925, „…sondern bewegt, gewagt, stark, zum Äußersten strebend, exzentrisch, phantastisch.“22 Im Gegensatz also zu den Griechen, welche die „Formkünstler par excellence“ waren, überwältigt die jüdische „Ausdrucksbegierde“ den Formwillen überhaupt. Für Weltsch war die jüdische Kunst dem Wesen nach expressionistisch. Der Wiener jüdische Künstler Uriel Birnbaum wiederum sah im Expressionismus eine 1 8 Graetz, Briefwechsel einer englischen Dame, S. 50. 19 Ibid., S. 50–​51. 20 Ibid., S. 49; 51. 21 Cf. Buber, Martin: „Von jüdischer Kunst“. In: Die jüdische Bewegung. Gesammelte Aufsätze und Ansprachen 1900–​1915. Jüdischer Verlag: Berlin 1916, S. 61. 22 Weltsch, Felix: „Jüdische Kunst“. In: Brod, Max /​Weltsch (Hrsg.) Felix: Zionismus als Weltanschauung. R. Färber, Mährisch-​Ostrau 1925, S. 91–​92, hier S. 92.

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besonders gefährliche Form „heidnischer Ästhetik,“ da die Expressionisten nach dem Absoluten strebten und damit leicht auf die „Wege der Schwärmerei“ gerieten, statt auf den einen Weg zu Gott: „Denn um diesen einzig richtigen Weg einzuhalten, dazu bedarf es vor allem jener Geradlinigkeit der Seele, die allein imstande ist, durch das jämmerliche Chaos liberaler Gleichheitslügen zu einem festen Ufer zu führen –​jener selbstverständlichen und naiven Konsequenz, die nur ein fester Glaube verleihen kann.“23 Daher forderte Birnbaum eine „gläubige Kunst,“ die sich gegen die „ästhetische Antimoral“ zur Wehr setzten sollte: „Kein Kompromiß darf mehr sein zwischen Gottgläubigen und Heiden, sondern Kampf bis zum Ende, dem von Gott verheißenen sicheren Ende!“24 Die Kampfansage der gläubigen Künstler galt nun allen „Staatsästheten“ und Götzendienern der Bildung („Volksbildung heißt der Götze!“), sie galt allen „Caféhausreligionen,“ ja sogar allen „Religionscaféhäusern,“ derer es im Wien um diese Zeit natürlich viele gab.25 Damit stand die Aufgabe gläubiger Künstler und wirklich „jüdischer“ Kunst eindeutig fest: „Die Kunst, die nicht Gottes ist, muß wieder entlarvt werden als das, was sie ist, als Lüge und Verbrechen.“26 Noch 1951 vertrat Martin Buber den Gegensatz zwischen heidnischer und jüdischer Weltanschauung, indem er dem „optischen Charakter“ der griechischen Philosophie, die jüdische Religion als den „verhüllten Daseinsbereich des Hörenden“ gegenüberstellte.27 Damit umfasste die jüdische Religion, wie auch die jüdische Kunst, die „gelebte Konkretheit“ des „ganzen“ Menschen, dessen Gestalt mehr als dessen Form, sein Werden mehr als dessen abgeschlossenes Sein. Doch erweiterte Buber den religiösen Daseinsbereich auf alle „wahre“ Kunst. „Kunst,“ schreibt Buber an anderer Stelle, „ist das Werk und Zeugnis der Beziehung zwischen der substantia humana und der substantia rerum, das gestaltgewordene Zwischen.“28 Und dieses Zwischen tritt auch in den großen Aktskulpturen aller Zeiten hervor, die mehr sind als die bloße „Gegebenheit des Menschenleibs.“ Aus dem Abbild wird bei Buber das Gebild, nämlich das „eigentümliche Gebild“ der Eigentümlichkeit des Menschen, und der Künstler ist nun jener Mensch, der, „statt das ihm Gegenüberstehende zum Gegenstand zu objektivieren, es zum Gebild gestaltet.“29 Folglich 23 Birnbaum, Uriel: Gläubige Kunst. R. Löwit: Wien /​Berlin 1919, S. 9. Uriel Birnbaum war bekanntlich der Sohn des jüdischen Philosophen und Schriftstellers Nathan Birnbaum, der sich von der Freigeisterei zum orthodoxen Judentum bekehrt hatte, wodurch Uriels Eifer zu erklären ist. 24 Ibid., S. 16. 25 Ibid., S. 17–​18. 26 Ibid., S. 16 27 Buber, Martin: Gottesfinsternis: In: Martin Buber Werkausgabe: Schriften zur Philosophie und Religion. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2017, Bd. 12, S. 385 und S. 387. 28 Buber, Martin: Urdistanz und Beziehung. Lambert Schneider: Heidelberg 1978, S. 24. 29 Cf. Buber, Martin: Der Mensch und sein Gebild: In: Martin Buber Werkausgabe: Schriften zur Philosophie und Religion. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2017, Bd. 12, S. 449 und S. 458.

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galt das Bilderverbot für Buber, der in dieser späten Phase seines Denkens sehr von Heidegger beeinflusst und zugleich gegen Heidegger gerichtet war, eigentlich als Dingverbot, als Verbot, die Natur und die Natur des Menschen beziehungslos darzustellen. Eine religiöse Ästhetik bedeutete für ihn die „inständige Bejahung menschlicher Person als solcher.“ In diesem Sinne war Kunst immer auch Ausdruck und Werk der Liebe zum Menschen.30

1.5. Die Neue Normativität des Bilderverbots Hier wird nun die künstlerische, philosophische und kulturelle Bedeutung des Bilderverbots in späterer Zeit verständlicher. Bereits Sigmund Freud berief sich auf das biblische Verbot des Bildermachens, um vor dem Hintergrund einer mörderischen Selbstvernichtung der Kultur, die 1939 Europa vor seinen Augen verschlang, den sinnlichen Triebverzicht des Judentums herauszustellen. Das Verbot, argumentiert Freud, bedeutete eine „Zurücksetzung der sinnlichen Wahrnehmung gegen eine abstrakt zu nennende Vorstellung, einen Triumph der Geistigkeit über die Sinnlichkeit.“ So wurde der mosaische Gott auf eine „höhere Stufe der Geistigkeit“ gehoben, die es dem jüdischen Volke erlaubte, „die Rohheit und die Neigung zur Gewalttat einzudämmen, die sich einzustellen pflegen, wo die Entwicklung der Muskelkraft Volksideal ist.“31 Hier lag für Freud der wesentliche Unterschied zwischen dem jüdischen und dem hellenisch-​deutschen Erwählungsgedanken. Dasselbe Motiv kehrte wieder bei Horkheimer und Adorno, wo die „äußerste Treue zum Bilderverbot“ und die „äußerste Askese jeglichem Offenbarungsglauben gegenüber“ als Widerstand gegen alle totalitäre Fetischisierung menschlicher Macht und Politik verstanden wurden.32 Dass Politik Götzendienst sein kann, und dass es weiterhin eine Aktualität des Bilderverbots gab, war eine tragische Einsicht jüdischer Intellektueller nach dem Zweiten Weltkrieg, die sich etwa bei Ernst Cassirer, Erich Fromm, oder Emil Fackenheim wiederfindet.33 Durch die dramatische Krise der Repräsentation nach 30 Cf. Ibid. S. 462. Dies, wie wir sehen werden, entspricht auch der Ästhetik Hermann Cohens. 31 Freud, Sigmund: Der Mann Moses und die monotheistische Religion. In: Gesammelte Werke: Werke aus den Jahren 1932–​1939. Imago Verlag: London 1950, Bd. XVI, S. 220 und S. 222–​223. 32 Cf. Adorno, Theodor: Vernunft und Offenbarung. In: Gesammelte Schriften. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1980, Bd. 10/​II, S. 616. Siehe hierzu Pritchard, Elizabeth: „Bilderverbot Meets Body in Theodor Adorno’s Inverse Theology“. Harvard Theological Review 95(3), 2002, S. 291–​318. Batnitzky, Leora: „The Image of Judaism: German-​ Jewish Intellectuals and the Ban on Images“. Jewish Studies Quarterly 11(3), 2004, S. 259–​281, bes. S. 268–​270. Auch Owetschkin, Dimitrij: „Spuren der Versöhnung: Zu theologischen Motiven bei Theodor W. Adorno“. Études Germaniques 63(1), 2008, S. 29–​47, bes. S. 37–​39. 33 Cassirer, Ernst: The Myth of the State. Doubleday: Garden City 1955, S. 370–​371; Fromm, Erich: You Shall be as Gods: A Radical Interpretation of the Old Testament

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der Shoah erhielt das biblische Verbot eine weitere Normativität: „Indem es die Drohung ‚toter Bilder‘ in eine Drohung des Todes verwandelte,“ bemerkte die amerikanische Kunsthistorikerin Margaret Olin, „konnte das Zweite Gebot dazu verwendet werden, die Komplexität jüdischer Identität in der post-​Holocaust Diaspora auszudrücken.“ Das Bilderverbot, laut Olin, entwickelte sich zu einer Art „Abzeichen jüdischer Identität.“34 Philosophisch stellte sich damit eine neue Entdeckung der Negativität ein, worin die Grundsätze klassisch negativer Theologie ästhetisch verarbeitet wurden. Abwesenheit und Leere sind seither dominante Kategorien eines „jüdisch“ ästhetischen Bewusstseins, das besonders die Erinnerungskultur der letzten drei Jahrzehnte in Europa geprägt hat. Der heidnischen Lasterwelt mit ihrer plastischen Unzucht und Muskelkraft steht nun eine bilderscheue, karge Kunst gegenüber. Die Künstler selber müssen Ikonoklasten werden. „Zu aller Kunst gehört Bilder-​Streit“ schrieb der amerikanische Religionsphilosoph Mark Taylor im Anschluss an die neue Negativität, und berief sich dabei auf das gleichnamige (Photo-​)Gemälde des in Deutschland geborenen und heute in Frankreich lebenden Malers Anselm Kiefer von 1980.35 Während die faschistischen, nationalsozialistischen und anders totalitären Regime durch einen Kult ästhetischer Politik und eine Wucht visueller Signale sowohl die „Massen“ wie auch die „Eliten“ betörten, zerschlägt das Zweite Gebot die Macht der Bilder und den gewaltigen Glauben daran.

1.6. Innerer Ikonoklasmus So steht das Zweite Gebot plötzlich im Widerspruch zu genau jener Gewalt, die dem ikonoklastischen Monotheismus zugeschrieben wird. Der einzige Gott toleriert keine Bilder, weil es die Bilder sind, die uns zu ihren Dienern machen, die uns versklaven, da sie uns auffordern zur totalen Hingabe. „Nur einem Herrn kann der Mensch selbst sich zum Sklaven machen,“ heißt es bei Hermann Cohen.36 Und dieser widerstrebt durch seine Einzigartigkeit der Darstellung. Alles Dargestellte muss entmachtet werden. Dies war für Cohen das Prinzip einer wahrhaft theokratischen Weltordnung: „Gott ist Herrscher; das heißt: Kein Mensch ist Herrscher.“37

Tradition. Fawcett: New York 1969, S. 36–​40; Fackenheim, Emil: Encounters Between Judaism and Modern Philosophy: A Preface to Future Jewish Thought. Schocken, New York 1980, S. 171–​198. 34 Olin, Margaret: The Nation Without Art: Examining Modern Discourses on Jewish Art. University of Nebraska Press: Lincoln /​London 2001, S. 194–​195. „I will argue that since the Holocaust, the Second Commandment, above and beyond its religious significance, has become significant as a badge of Jewish identity.“ (ibid., S. 191). 35 Taylor, Mark C.: Disfiguring: Art, Architecture, Religion. University of Chicago Press: Chicago 1992, S. 305. 36 Cohen, Religion der Vernunft, S. 60. 37 Cohen, Hermann: „Der Sabbat in seiner kulturgeschichtlichen Bedeutung“. In: Jüdische Schriften. Schwetschke, Berlin 1924, Bd. II, S. 58.

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Der Sturz der Bilder ist der Sturz falscher Souveränität. Die Theokratie schützt den Menschen vor sich selber. Wie wir etwa vom Bildersturm nach dem Fall der alten kommunistischen Regime wissen, und wie wir heute an den eilig aus ihren Sockeln gehobenen Standbildern einstiger Südstaatengeneräle oder unlauterer Präsidenten in Amerika sehen können, gibt es auch einen Ikonoklasmus, der zur Geschichte einer nationalen und kulturellen Selbstbesinnung und Selbstläuterung gehört. Der Bildersturm wird Zeichen einer kollektiven Einkehr, eines neuen Sündenbewusstseins. „Schämen müssen sich alle, die den Bildern dienen,“ heißt es im 97. Psalm, und am jüdischen Versöhnungstag wird gebetet: „Sie werden sich schämen mit ihren Bildern.“ Dazu schrieb Hermann Cohen: „Die Bilder müssen sich schämen, denn sie sind ja nur Illusionen.“38 So wird die Scham zur letzten Zuflucht der Bilderdiener. Denn sie bedeutet die Erkenntnis der Nichtigkeit der Bilder. Max Scheler nannte die Reue, die mit der Scham und der Erkenntnis einhergeht, die „revolutionärste Kraft der sittlichen Welt.“ Zur Reue gehört ein innerer Bildersturz, eine „Umkehr,“ eine ganze Sinnesänderung, der radikale „Bauplan eines neuen Herzens,“ der nicht geschehen kann ohne die Zerstörung des alten. „Reue tötet nur, um zu schaffen. Sie vernichtet nur, um aufzubauen.“39 In diesem Sinne ist Reue revolutionär, ob sie nun im Individuum oder als „sozial-​historische Gesamterscheinung“ geschieht. Denn es gibt nach Scheler ein großes „Prinzip der Solidarität aller Kinder Adams in Verantwortlichkeit, Schuld und Verdienst,“ welches auch an die große „Mitverantwortlichkeit für alles Geschehen des moralischen Kosmos“ geknüpft ist. Die pure Form der Mitverantwortlichkeit aber ist das „stete Bewußtsein, daß auch die gesamte moralische Welt von Vergangenheit und Zukunft, aller Sterne und Himmel ganz radikal anders sein könnte, wenn ‚ich‘ nur ‚anders‘ wäre.“40 Es gibt eine kollektive Sinnesänderung, eine „Gesamtreue,“ wie Scheler es nennt, in der das alte Selbst zerschmettert werden muss. Doch wohnt in jeder Zerschmetterung und in jedem Schaffen eines „neuen Ich“ oder eines kollektiven „Wir“ das Potential auch einer reinigenden Gewalt. Die Zerstörung des alten Ich bleibt eben Zerstörung. Die „Ausrottung“ des Götzendiensts kann der Gewalt ihres Begriffes nicht entgehen. Es gibt keinen sanften Bildersturm. Den Propheten, hieß es bei Hermann Cohen, musste die Toleranz ein „fremder, ein störender Gesichtspunkt sein.“41 Und auch wenn er an anderer Stelle vom „Weltbürgertum des Prophetismus“ spricht, konnte Cohen den Propheten dennoch die Toleranz eines laissez-​faire Kulturrelativismus nicht zusprechen.42

3 8 Cohen, Religion der Vernunft, S. 64. 39 Scheler, Max: „Reue und Wiedergeburt“. In: Gesammelte Werke: Vom Ewigen im Menschen. Francke: Bern 1954, Bd. 5, S. 50. 40 Ibid., S. 51. 41 Cohen, Religion der Vernunft, S. 61. 42 Zum Weltbürgertum der Propheten siehe Cohen, Ästhetik 2, S. 358. Auch Cohen, Religion der Vernunft, S. 319.

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Denn die Propheten waren Reformer des eigenen Kultus, Kritiker der menschlichen Regierungen, Anstifter des Umsturzes. Sie waren die Störenfriede jeder existierenden Ordnung. „Reformen und Revolutionen“ schrieb Hermann Cohen einmal, „sind die Perioden der experimentellen Ethik.“43 Hier liegen die Kraft jeder Erneuerung und Gefahr ihrer notwendigen Intoleranz. So sehr der Umsturz des alten, so sehr die Reform, die nationale Selbstläuterung, die Wende, die Umkehr überhaupt, zum Bewusstsein der Kultur gehören, manchmal vielleicht sogar zu ihren Tugenden, so führen sie doch immer in den Grenzbereich einer Ethik, die das Äußerste wagt, wenn die Selbstläuterung eine andere Kultur „mitläutern“ will, wenn sich der Ikonoklasmus vom eigenen zum „fremden“ Dienst, nämlich gegen die Avodah Zarah richtet.44 Dieses Problem sah Cohen in aller Klarheit, und es beschäftigte ihn noch spät im Leben die Frage, ob die Propheten, die ja die ersten Weltbürger der Geschichte waren, in ihrem bilderstürzenden Eifer nicht das Potential der Kunst verkannten, am Menschenbild mitzuwirken, ob nicht die Kunst in ihrem eigenen Recht prophetisch sein durfte, oder wie Cohen in seiner Religion der Vernunft schrieb: „Und endlich könnte die Frage entstehen, ob nicht wenigstens für die Darstellung des Menschen die Plastik zugelassen werde?“45

2. Bilderliebe 2.1. Einheit des Systems Vom Standpunkt der Religion aus mussten die Propheten tatsächlich auch diese Darstellung verwerfen. Vom Standpunkt der Ästhetik jedoch ergibt sich, wie Cohen in seiner monumentalen Ästhetik des reinen Gefühls von 1912 schrieb, „vielleicht ein unerwarteter Einklang…zwischen dem Bilderverbot des Monotheismus und der reinen Kunst.“46 Wie aber ist nach aller Polemik gegen die Bilder ein solcher Einklang denkbar? Cohens Ästhetik erschien als Abschluss seines 1902 mit der Logik der reinen Erkenntnis begonnenen und 1904 mit der Ethik des reinen Willens fortgesetzten philosophischen Systems. Für den Marburger Neu-​Kantianer war diese Einteilung die logische Folge der drei Kritiken Kants, die er schließlich selbst in ausführlichen 4 3 Cohen, Hermann: Ethik des reinen Willens. Bruno Cassirer: Berlin 1904, S. 311. 44 Zum Thema des ‚Fremd-​Dienstes‘ (avodah zarah) siehe Kochan, Lionel: Jews, Idols, and Messiahs: The Challenge from History. Basil Blackwell: Oxford /​Cambridge 1990, S. 129–​156; Halbertal, Moshe /​Margalit, Avishai: Idolatry. Harvard University Press: Cambridge (MA) 1992, S. 180–​213. Marcel Poorthius versteht daher den Diskurs der Idolatrie als eine Selbstkritik im Gegensatz zur Kritik an dem uns ‚Fremden.‘ Siehe Poorthius, Marcel: „The Prohibition of Idolatry: Source of Humanity or Source of Violence?“. In: Desirable God? Our Fascination with Images, Idols, and New Deities. Peeters: Leuven 2003, S. 39–​60. 45 Cohen, Religion der Vernunft, S. 66–​67. 46 Cohen, Ästhetik 2, S. 260.

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Kommentaren bearbeitet hatte. Tatsächlich jedoch hatte Cohen die ursprüngliche Absicht, ein viertes Werk seinem System hinzuzufügen –​nämlich eine Psychologie, denn es war der Horizont der Psychologie, vor dem die Ästhetik zum Abschluss kam. Allerdings verstand Cohen den Begriff der Psychologie in einem weiteren Sinne als er heute gebräuchlich ist. „Die Psychologie,“ lesen wir am Ende der Ästhetik, „ist die Psychologie der Einheit des Bewußtseins der einheitlichen Kultur.“47 Als solches gehörte sie in das System der Philosophie, welches selbst um eine systematische Einheit von Erkenntnis, Willenstat und Gefühl bemüht war. Die Aufgabe der systematischen Philosophie, heißt es am Anfang derselben Ästhetik, ist es, „die Kultur einheitlich zu machen in ihrer einheitlich methodischen Gesetzlichkeit.“48 Als solches sind Logik, Ethik und Ästhetik Vorbedingungen einer Einheit, die das Kulturbewusstsein ausmachen. Und es ist tatsächlich der Begriff der Einheit, der alle drei Teile des Systems verbindet. „Denn diese Einheit erst,“ schreibt Cohen am Ausgang seiner Logik, „bringt die Einheit des Menschen, und somit den Begriff des Menschen zur Erzeugung.“49 Während die Logik diese Einheit durchaus auf die Gesellschaft bezog, entwickelte Cohens Ethik den Begriff des Staates und des Staatenbundes, welcher wiederum von der Idee der Menschheit ausgehen und auf sie hinführen muss. Die Kunst ist es nun, der es obliegt, jene „Einheitlichkeit des Menschengeschlechts“ im ästhetischen Gefühl darzustellen. Sie tut dies, indem sie sowohl Kunst der Völker als auch Kunst der Menschheit sein kann: „Das ist der harte, aber sichere Prüfstein echter Kunst, dass in ihr Nationalität und Menschheit keinen Widerspruch bilden,“ schreibt Cohen in der Ethik, „sondern dass sie die innigste Harmonie eingehen, in welcher die Einheit der Menschheit zur Offenbarung kommt.“50 Und in diesem letzten Ziele finden Ethik und Ästhetik zusammen.

2.2. Einheit des Menschengeschlechts Die fundamentale Einheit des Menschengeschlechts war Ausgangspunkt und Leitstern des gesamten Cohen’schen Systems. Hier lag die im Letzten messianische Orientierung seines Lebenswerks. Wir dürfen nach dem heutigen Stand der Dinge von einer Einheit des Menschen nicht länger überzeugt sein, da diese Vorstellung –​mit manchem Recht –​mehr und mehr zu den Privilegien „weißer“ Europäer und deren kolonialer Gesinnung gerechnet wird. Doch müssen wir versuchen zu verstehen, warum Hermann Cohen, der sein Judentum niemals verweigerte, sich sogar als „Stockjude“ bezeichnete, und trotz seiner Ablehnung einer „jüdischen Philosophie“ ein zutiefst jüdischer Denker blieb, sich gegen alle Formen des „Rassendünkels“ sträubte und unermüdlich gegen das allgegenwärtige „Gespenst des Völkerhasses“ eintrat. Der Völkerhass muss „ausgetilgt“ werden aus dem Kulturbewusstsein der

4 7 Ibid., S. 429. 48 Cohen, Ästhetik 1, S. 18. 49 Cohen, Hermann: Logik der reinen Erkenntnis. Bruno Cassirer: Berlin 1922, S. 610. 50 Cohen, Ethik, S. 602.

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Menschheit, heißt es im Schlusskapitel der Religion der Vernunft, und dann: „Der Messianismus verbindet die Menschheit mit jedem Einzelmenschen.“51 Diese Verbindung aber erforderte einen Begriff des Einzelmenschen, der sowohl in seiner konkreten Einzigkeit bestehen als auch auf den abstrakten Begriff der Menschheit hinausweisen konnte; ein Begriff, der sich erweitern lassen konnte auf die Einzelnation, die ebenso bestehen sollte neben und unter dem Ideal der einheitlichen Menschheit. Dies war für Cohen der Begriff der Menschlichkeit, der Begriff von der Natur des Menschen, den die Aufklärung mit der klassischen Humanität verbunden hatte. In seiner Ethik bezeichnet Cohen die Humanität als eine „Tugend des Menschengefühls“ und zugleich eine „ästhetische Tugend.“52 Diese merkwürdige Erweiterung des Tugendbegriffs erlaubt es Cohen zu sagen: „Die Humanität ist zur Tugend der Kunst geworden.“ Und er fährt fort: „Das Gefühl bildet die Verbindung zwischen Ethik und Ästhetik; und die Humanität als das Menschengefühl, vollzieht sie.“53 Ohne die Sicherheit des Menschengefühls bliebe die Tugend „Stückwerk.“ Sie bliebe Stückwerk, da die Kultur ihr fehlt mit allem ihrem „Schwergewicht,“ mit ihrer Verwurzelung in der Natur, in der Geschichte, im Material der menschlichen Erfahrung; weil ihr die Anschauung fehlt, welche die Kunst den Begriffen der Philosophie hinzufügt.

2.3. Die Grenzen der Logik und der Ethik Die Kunst ist Anschauung. Damit beginnt Cohens Reise in die Ästhetik. Zur Anschauung gehören das Sehen und das Schauen, und im Schauen ist bereits die Bedeutung der Idee begründet, die für alles philosophische Denken wegweisend werden soll. „Kulturreife entsteht erst mit der platonischen Idee.“54 So steht die Kunst ihrer Grundlegung nach in einem Verhältnis zur philosophischen Erkenntnis. Sie kann nicht nur Anschauung sein, noch kann sie sich mit der reinen Sichtbarkeit der Erscheinungen begnügen. Sie muss etwas darin „sehen,“ wie wir gemeinhin sagen würden, das heißt ihre Anschauung zur Anwendung bringen. Sie muss, wie die Logik, etwas „erzeugen,“ etwas schaffen. Ihr Gegenstand darf niemals ein gegebener sein, „sondern immer nur ein rein erzeugter.“55 Darin aber liegt eine Gefahr für die Erkenntnisform der Philosophie –​für die Eigenständigkeit der Logik. Die Logik löst diese Gefahr, indem sie idealistisch bleibt: Ihre Anschauung, ihr reines Denken, ihr eigenes Erzeugen ist wohl „innere Anschauung,“ aber eben immer noch Denken. „Wir fangen mit dem Denken an,“ steht in Cohens Logik. „Das Denken darf keinen Ursprung haben außerhalb seiner selbst, wenn anders seine Reinheit uneingeschränkt und ungetrübt sein muß.“56 5 1 Cohen, Religion der Vernunft, S. 523. 52 Cohen, Ethik, S. 602 und S. 600. 53 Ibid., S. 601. 54 Cohen, Ästhetik 1, S. 73. Cf. auch Cohen, Logik, S. 5–​6. 55 Cohen, Ästhetik 1, S. 83. 56 Cohen, Logik, S. 14.

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Aber es besteht noch eine zweite Gefahr: Indem die Kunst das Individuum nicht nur abstrakt, sondern in seiner Geschichtlichkeit handelnd erkennt, scheint sie die Eigenständigkeit auch der Ethik infrage zu stellen. Denn „ohne Geschichte gibt es kein wahrhaftes Individuum.“57 Die Logik kennt das Individuum nur seinem Begriffe nach, die Ethik kennt es nur als Ausdruck der Allheit: „Der Mensch ist ihr der Mensch der Menschheit.“58 Sie kann nicht vom „empirischen Ich“ ausgehen, sondern nur vom Prinzip der unbedingten Gleichheit. Hier liegt ihr Unterschied zur Ästhetik. Hier findet sie aber auch ihren Anspruch auf Gerechtigkeit und das Fundament ihrer Gesetzlichkeit. Die Gerechtigkeit wird daher zur Tugend des Staates, der das Ideal der Sittlichkeit bildet. Der Rechtsstaat schließlich kämpft nicht mehr um Land oder um Macht allein, sondern um das „sittliche Selbstbewußtsein“.59 Das sittliche Selbstbewusstsein jedoch kann der Natur des Menschen noch nicht genüge tun. Erst die Humanität macht den Staat „mündig,“ denn sie allein erhebt ihn über die Versuchung des Nationalismus und über den immer wieder auflebenden „Atavismus der Rasseninstinkte.“ Während der Staat an die Gerechtigkeit der Mehrheit gebunden ist, wird die Humanität zum „Anwalt der Minoritäten.“60 So aber bildet die Humanität eine „Grenze der Ethik.“61

2.4. Das menschliche Antlitz Wir haben bereits gesehen, dass Cohen die Humanität eine ästhetische Tugend nannte, und dass die Menschlichkeit den Abschluss seiner Ethik bildet. „Die Menschlichkeit macht die Menschenpflicht zum Menschengefühl, und das Menschengefühl zur Menschenpflicht.“62 Wie aber gelangt die Ethik vom Gesetz und von der Gerechtigkeit zum Begriff des Gefühls? Den Durchgangsbegriff auf diesem Weg bildete für Cohen das Menschenantlitz: „Es ist das Menschenantlitz, welches Freundlichkeit ausstrahlt…Und es ist die Freundlichkeit des Menschengefühls, die aus dem eigenen Innern aufleuchtet.“63 Ohne die „Leuchte“ der Menschlichkeit, ohne diese „Freundlichkeit,“ die das Böse im Menschen und damit den Glauben an das Böse starrsinnig verleugnet, kann sich die Ethik nicht zur Humanität aufschwingen. Es gibt eine „Ethik“ der Religion, die Scheiterhaufen anzündet, und es gibt eine „Ethik“ des Vaterlandes, welche den Hass der Fremden zu ihrer Pflicht erklärt. „Die Humanität allein vermag alle jene Irrgänge der Kultur unwegsam zu machen.“64 Diese Humanität ist eben nicht ein anderes Wort nur für Menschheit. Die Menschheit ist eine Idee. Die Humanität dagegen ist eine Form des Handelns, 5 7 Cohen, Ästhetik 1, S. 33. 58 Ibid., S. 225. 59 Cf. Ethik, S. 568 und S. 582. 60 Cf. ibid., S. 596. 61 Cf. ibid., S. 599. 62 Ibid., S. 593. 63 Ibid., S. 594. 64 Ibid., S. 564.

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des Behandelns, welches die Konkretheit des empirischen Individuums voraussetzt. Was dieser Konkretheit jedoch Menschlichkeit verleiht, ist ihr Antlitz. Cohens Religion der Vernunft erklärt daher das menschliche Antlitz zum Zeichen des Friedens. Es ist der physiologische Ort der „Rührung und der Freude.“ Ja, „[d]‌ie Rührung bildet das physiologische Beweismittel von der Naturkraft des Friedens.“65 Indem das Antlitz uns der Natur des Menschen am nächsten bringt, offenbart es uns auch dessen Bestimmung. Der Friede ist das Ziel der Geschichte. Er ist die „Seelenkraft, welche alle Gespenster, die die Sittlichkeit der Seele bedrohen, verscheucht und zunichte macht.“66 Eines dieser Gespenster ist der Pessimismus, den Cohen ruchloser fand als jeden ruchlosen Optimismus. Die Ästhetik erklärt den Pessimismus schlicht als „Unreife,“ als „Einseitigkeit des geschichtlichen Bewußtseins.“67 Das menschliche Angesicht verdrängt den Pessimismus, denn es bringt Freude, Rührung, Freundlichkeit, den Glauben nämlich an das Gute im Menschen und die Zuversicht, dass dieses Gute in der Geschichte verwirklicht werden kann. Und diesen Glauben an das Gute im Menschen, schreibt Cohen, „strahlen die Werke der echten Kunst aus von ihren archaischen Typen bis zu der hohen Kunst.“68 Es ist ein Glaube, der sogar in den archaischen Götterbildern vorgebildet ist. Es ist der eigentümliche Humor der Kunst. Die Kunst scheint in diesem Glauben die Ethik „schier zu übertreffen.“ In Wahrheit aber steht die Kunst weder über der Ethik, noch unter ihr. Sie ist ihr nebengeordnet, systematisch beigeordnet.69 Jedes ihrer Werke, wie jedes Angesicht des Menschen, ist eine Erfüllung der Hoffnung, welcher der Ethik nur ein Grenzbegriff und der Religion nur unzulänglich bleibt. Die Kunst öffnet den Horizont der Vollkommenheit. Dieser aber muss die Sittlichkeit zur Voraussetzung haben. Denn der Horizont der Vollkommenheit kann sich nur über den empirischen Menschen spannen. Dem Künstler darf nichts Menschliches in der Geschichte fremd bleiben. „Das Menschenherz in allen seinen Tiefen und mit allen seinen Falten muß ihm ein offenes Buch sein.“70 Aber er darf dieses Herz nicht nur kennen; er muss es auch lieben. „Die Menschenliebe ist die Sittlichkeit des Künstlers.“71 Insofern es nun die Natur des Menschen zusammenfasst, 65 Cohen, Religion der Vernunft, S. 525. Von Cohen führt, über Buber, eine indirekte Linie zu Max Picard, dessen Studie zum Menschengesicht (1929) bekanntlich starken Einfluss übte auf Emmanuel Lévinas. Siehe Picard, Max: Das Menschengesicht. Delphin Verlag: München 1929 und Lévinas, Emmanuel: „Max Picard and the Face“. In: Proper Names (übers. Michael B. Smith) Stanford University Press: Stanford 1996, S. 94–​98. Auch Zucal, Silvano: „La filosofia del volto in Max Picard e Emmanuel Lévinas“. Rassegna di Teologia 47(4), 2006, S. 561–​584 und Moore, Michael E.: „Meditations on the Face in the Middle Ages (With Lévinas and Max Picard)“. Literature and Theology 24(1), 2010, S. 19–​37. 66 Ibid., S. 524. 67 Cohen, Ästhetik 2, S. 230. 68 Ibid., S. 230. 69 Cf. Cohen, Ästhetik 1, S. 37. 70 Cohen, Ästhetik 1, S. 224. 71 Ibid., S. 224.

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wird das menschliche Antlitz zum Ausgangspunkt dieser Liebe. „Es ist die Liebe zur Natur des Menschen, welche bei einem Ausdruck ihrer Reinheit, bei einem Abglanz dieser Reinheit im Antlitz des Menschen zur Ausstrahlung kommt.“72 Von hier ist es nur ein kleiner Schritt zur Ethik des Antlitzes bei Emmanuel Levinas, die uns ad nauseam bekannt ist.73

2.5. Liebe als erzeugendes Gefühl Aber es ist ein Schritt, der durch die Ästhetik zur Religion führt. „Denn das religiöse Bewußtsein benutzt ebenso reichlich das ästhetische, wie das ethische Bewußtsein,“ schreibt Cohen; es „bemächtigt“ sich sogar der ästhetischen Kraft des Bewusstseins.74 Die Religion braucht die Liebe zum Einzelmenschen, sie braucht mehr als die Liebe zur Menschheit, mehr sogar als die Liebe zum Nächsten –​sie braucht Humanität. „Wahrhaft aber wird die Humanität nicht durch die abstrakte Nächstenliebe,“ schreibt Cohen in seiner Ästhetik, „sondern durch die Menschenliebe, wie die Kunst allein sie durch die Liebe zur Natur des Menschen zu lehren und zu bekräftigen vermag.“75 Die Kunst allein leistet diese Sicherstellung der Humanität, und sie leistet dies durch die Gegenwart einer Liebe, die, weil sie die Natur des Menschen liebt, auch die Geschlechtsliebe miteinschließen muss: Sie leistet dies durch die Liebe als Eros. Und so heißt es mit ebenso lapidarer wie ungeheuerlicher Kraft in der Ästhetik: „Die Humanität ist die Frucht des Eros.“76 Hier sind wir der Frage nach dem überraschenden Einklang zwischen der bilderfeindlichen Religion und der bildenden Kunst einen Schritt nähergekommen, wobei zu bedenken ist, dass Cohen von einer Einheit der Künste ausging, also auch die Dichtkunst, die Musik, die Baukunst nach demselben Schema der Ästhetik abhandelte. Was die Künste methodisch zusammenhielt war für Cohen der Begriff des Gefühls, den er bereits in seiner Ethik herausgearbeitet hatte. Die Ästhetik betrachtet das Fühlen als eine „Urform des Bewußtseins“.77 Aber indem das Fühlen eigentlich Bewegung ist, wird sie auch zum Ursprung des Bewusstseins, welches Cohen selbst als Bewegung bezeichnet.78 So wird die Ästhetik zur Grundwissenschaft des Bewusstseins. Ihre Aufgabe ist es, die Reinheit des Gefühls zu denken, zu „ersondern“, wie es die Sprache der Cohen’schen Logik nennt.79 Worin aber besteht die Reinheit des Gefühls? In seiner Eigenbewegung. Und welches Gefühl ist es, dem wahre Eigenbewegung zukommt, welches bewegt, ohne bewegt zu werden? 7 2 Cohen, Religion der Vernunft, S. 525. 73 Cf. Anm. 65. 74 Cohen, Religion der Vernunft, S. 525. 75 Cohen, Ästhetik 2, S. 42. 76 Ibid., S. 45. 77 Cohen, Ästhetik 1, S. 136. 78 „Insofern das Fühlen der Ursprung des Bewußtseins ist, ist es eo ipso der Ursprung der Bewegung; den Bewußtsein ist Bewegung.“ (ibid, S. 143). 79 Cf. Cohen, Ästhetik 1, S. 153 und Cohen, Logik, S. 60–​62.

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Die Liebe –​l’amor che move il sole e l’altre stelle, wie in Dantes Comedia (Par. XXXIII:145) heißt. Nur die Liebe kann „reines“ Gefühl sein bei Cohen, weil sie „erzeugendes Gefühl“ ist.80

2.6. Liebe und Offenbarung Franz Rosenzweig, Hermann Cohens wohl originellster Schüler, nannte die Liebe deshalb ein „Ereignis,“ in der keine Eigenschaft Platz hat. Sie ist in diesem Sinne „reinste Gegenwart.“81 In der Sprache der Theologie steht die Liebe für das Wunder der Offenbarung, für die „in jedem Augenblick erneute Selbsthingabe“ des liebenden Gottes, die aber nicht abstrakte „Allliebe“ sein kann, „sondern in rätselhaftem Ergreifen Einzelne ergreift –​Menschen, Völker, Zeiten, Dinge.“82 So wird die Offenbarung bei Rosenzweig selbst zu einer ästhetischen Kategorie. Aber sie widerstrebt auch dem Anspruch der Kunst: Denn die „Liebe scheut sich davor, ein Bildnis vom Liebenden zu machen; das Bildnis ließe das lebendige Antlitz zum Toten erstarren.“83 Und doch sind es die Künstler, deren Sprache bereits das „Sprachwunder der Offenbarung“ vorwegnehmen. „[W]‌enn es keine Künstler gäbe,“ schreibt Rosenzweig, „dann wäre die Menschheit ein Krüppel; denn es fehlte ihr dann die Sprache vor der Offenbarung.“84 Die Kunst wird zur Vorbereitung der Offenbarung. Aber sie bleibt „Stückwerk“ vor dem Ganzen des Lebens. Der Künstler ist „Unmensch,“ nicht „ganz Mensch,“ und das Kunstwerk bleibt stumm, wenn es nicht durch den ganzen Menschen beseelt wird. „Das Werk erwacht zum Leben in der Liebe des Menschen selber.“85 Es muss erst, wie der Mensch, der ja das Kunstwerk Gottes ist, zum Leben „umgeliebt“ werden. So versteht Rosenzweig die Offenbarung, die von der Kunst vorgezeugt und wiedererzeugt werden muss, als das „unter der Liebe Gottes geschehene Mündigwerden des stummen Selbst zur redenden Seele.“86 In diesem nach Rosenzweig durchaus erotischen Sinne, ist alle Kunst, die zum Leben erwacht, in eine geheime Grammatik von Ich und Du gestellt, die sich erst in der

80 „Diese Liebe ist echtes Gefühl, ist erzeugendes Gefühl. Ohne diese Liebe wäre die Kunst nicht entstanden, und ohne sie kann sie nicht fortgeführt werden.“ (Cohen, Ästhetik 1, S. 182). Es ist vielleicht kein Zufall, dass Cohen seine Ästhetik aus der Liebe entwickelt, denn Richard Wagner hatte genau diese Liebe dem Judentum abgesprochen, ja die „Lieblosigkeit“ des jüdischen Wesens beklagt. Cf. Wagner, Das Judenthum in der Musik, S. 21. 81 Cf. Rosenzweig, Franz: Der Stern der Erlösung. In: Gesammelte Schriften. Nihoff: Haag 1976, Bd. II, S 183. 82 Cf. ibid., S. 181 und S. 183–​184. 83 Ibid., S. 183. 84 Ibid., S. 212. 85 Ibid., S. 214. 86 Ibid., S. 221. Hieraus erschließt sich, dass, wie schon bei Cohen, das dialogische Denken durchaus ästhetisch zu verstehen ist.

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Lyrik (Rosenzweig denkt hier an das Hohe Lied) ganz offenbaren konnte, die aber auch in jeder Kunst droht, immer wieder zur „toten Objektivität der dritten Person“ zu erstarren.87

2.7. Die Lyrik des Dialogs Das lyrisch-​dialogische Element der Kunst hatte Cohen bereits in seiner Ästhetik betont. Während im Epos die Poesie nach einer nationalen Einheit strebt, die auch die Einheit der Stämme ist und somit auf die Einheit der Völker hinausweist, bleibt die Lyrik zu allen Zeiten die Poesie des Individuums. Cohens Religion der Vernunft sollte später das Individuum durch den Begriff des Mitmenschen zum Ich entwickeln. In der Sittlichkeit der Religion entsteht das Ich durch die Gegenwart eines Anderen, eines zum Mitmenschen gewordenen Nebenmenschen, und durch die Erfahrung der Liebe, des Mitleids und der Schuld. „Nur durch das Du soll das Ich zur Erzeugung kommen können.“88 Dies war Cohens berühmte Formulierung, mit der er –​vier Jahre vor dem Erscheinen von Martin Bubers Ich und Du –​die prophetische Sittlichkeit jenseits der Grenzen der Ethik stellte: in die Eigenart der Religion. Seine Ästhetik jedoch nahm auch dies der Religion vorweg. Denn auch in der Lyrik wird das Individuum zum Ich, ein Schritt, den übrigens die Logik noch nicht wagen kann, und der in dieser Form auch der Ethik noch vorenthalten blieb. Das „Ich der Poesie,“ schreibt Cohen, fordert „überall mehr ein Du als ein Er oder Es.“89 Dies gilt freilich für alle Kunst, da alle Kunst ihrem Begriff nach poetisch ist, und da alle Kunst der Liebe zur Natur des Menschen entspringt. Doch gerät das ästhetische Du immer auch in Gefahr, bloßes Es der Kunst zu werden, Darstellung zu bleiben statt Erzeugung. In der Lyrik erst, welche die eigentliche Sprachform der Liebe ist, die reinste Gefühlform der Kunst, wird das Ich wirklich zum „Doppelich“, zum Postulat eines Du: „Die Isolierung des Ich weitet sich zu der Dualität.“90 Es ist die Erweiterung des denkenden Ich zum fühlenden Ich, welche Cohen bereits im ersten Teil seiner Ästhetik durch erstaunliche Wortkreationen wie „Denkgefühle“ oder „Begriffswortgefühle“ andeutet.91 In der systematischen Einheit seines Systems ist die Ästhetik bereits in der Logik vorgezeichnet. Die Lyrik aber bringt das Gefühl zur systematischen Eigenständigkeit. „Die Gefühlssprache ist die Sprache des Eros. Und die Liebe fordert die Konfrontation mit dem Du; sie verträgt nicht dessen Zurückstellung als ein Er.“92 Dies ist die lyrische Eigenart unserer menschlichen Existenz. „Die Liebe veredelt das Tier zum Menschen,“ heißt es bei Cohen.93 So umfängt die Liebe 8 7 Ibid., S. 223. 88 Cohen, Religion der Vernunft, S. 208 und S. 192–​196. 89 Cohen, Ästhetik 2, S. 23. 90 Ibid., S. 23. 91 Cf. Cohen, Ästhetik 1, S. 363 und S. 372. 92 Cohen, Ästhetik 2, S. 23. 93 Cohen, Ästhetik 1, S. 289.

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auch das „Häßliche“, verwandelt es und macht es zu einem Moment des Schönen. Die Liebe erzeugt das Schöne. Und sie erzeugt erst das wahrhafte ästhetische Ich durch die Gegenwart des Du. „Nur die Liebenden sprechen in der Sprache des Gefühls; nur sie bilden ein wahrhaftes Ich, ein Ich im Du, ein Du im Ich.“94

2.8. Die Erotik der Bilder Der Eros ist es nun, der diese Einheit zu einem allgemeinen Prinzip macht, der die Kunst gewissermaßen „lyrisiert,“ der in ihr die Liebe zur Entstehung bringt. Er ist das „Grundwerkzeug“ der Kunst. Daher darf sich die Kunst nicht verschließen vor der ästhetischen Kraft der Geschlechtsliebe. Die Bilder dürfen erotisch sein, „denn nur der Eros ist der Gott der reinen Liebe zur Natur des Menschen, zum Menschen der Natur.“95 Der Mensch ist und bliebt das „Urmodell der Kunst.“96 So darf sich die Kunst auch nicht scheuen, die Natur des Menschen ganz zu schauen. Die Nacktheit des Menschenleibes wird ihr dabei zum „Werkzeug,“ oder in Cohens eigenen Worten: „Ein Werkzeug dieser Entdeckung des Menschen, aus der Liebe des Menschen heraus, ein solches Werkzeug der Kunst ist die Nacktheit.“97 Hier liegt sogar der „Vorzug“ der bildenden Kunst vor der Poesie, denn ohne die Nacktheit, schreibt Cohen, „würde der Eros in dem Menschen nicht zur Offenbarung kommen.“98 Wer die Nacktheit schmäht, würde daher auch einen „heiligsten Teil der Kunstwerke“ verkennen, und wer sich abwendet von ihr mit „verschämter Angst vor der Sündhaftigkeit,“ dessen Scham entlarvt sich als eigentliche Lüsternheit. „Vor dem Eros der Kunst verschwindet die Sündhaftigkeit,“ schreibt Cohen im Gegensatz zu Heinrich Graetz’s puritanischer Auffassung des Judentums, denn die ästhetische Liebe erzeugt ein neues Schamgefühl –​das Gefühl der Ehrfurcht und Bewunderung.99 Die Kunst verklärt den nackten Leib zum Menschenleib, zum Inbegriff der Menschlichkeit, und es ist in dieser Erzeugung der Menschengestalt, dass die Liebe selbst ihre Läuterung und eigentliche Reife erfährt.100 Die Bilder also dürfen erotisch sein, und die Kunst bedarf der ästhetischen Urkraft des Eros, um ihre Menschenliebe zu erzeugen. Denn das reine Gefühl muss sich selbst erzeugen, um erzeugend zu wirken. So darf die Nacktheit auch nicht „selbstgenügsames Objekt“ der Liebe sein, sondern muss „Organ,“ nämlich „Werkzeug zur Erzeugung der Menschengestalt“ werden.101 Sie darf also nicht 9 4 Cohen, Ästhetik 2, S. 24. 95 Cohen, Ästhetik 1, S. 285. 96 Ibid., S. 188. 97 Ibid., S. 177. 98 Ibid. 99 Ibid., S. 180. 100 „Und so gewinnt auch die Liebe ihre Läuterung und ihre Reife durch die Darstellung der Nacktheit.“ (ibid., S. 177). 101 Cf. Ibid. S. 181. Hier würde Cohen vermutlich die Unterscheidung zwischen Akt und Pornografie ansetzen.

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anatomisch bleiben, sondern muss sittlich werden. Der Leib muss allem „religiösen Dogmatismus“ entgegen als „Tempel Gottes“ gefeiert werden dürfen. Er steht nun in seiner „biologischen Wahrheit“ für die Einheit des Menschen, als deren Werkzeug er nicht nur erscheint, sondern auch mit der Kraft des Eros wirkt. „Vor der leuchtenden Schärfe, vor der Sonnenklarheit dieses Werkzeugs,“ schreibt Cohen, „erbleicht die Angst vor dem Menschenleibe, mit der die unfreie religiöse Sittlichkeit den Geist verschüchtert hat.“102

2.9. Der Prophet als Künstler Kann die Kunst also die Religion von ihrer ängstlichen Sittlichkeit befreien? Mit dieser abschließenden Frage kehren wir zu unserem Ausgangspunkt zurück. Es geht um den „unerwarteten Einklang“ zwischen dem Bilderverbot des Monotheismus und der reinen Kunst. Die reine Kunst ist uns nun als die Kunst des reinen Gefühls entstanden, als Kunst der reinen Liebe zur Natur des Menschen. „Sie allein ist Liebe,“ behauptet Cohen. „Jede andere Bedeutung der Liebe ist von ihr entlehnt.“103 In diesem Sinne kann auch die religiöse Liebe ihren ästhetischen Ursprung nicht verleugnen. Und in diesem Sinne ist es verkehrt zu sagen, wie es die Kunsthistorik oft vermeint, die Kunst nähre sich von der Religion. Cohen besteht auf das gerade Gegenteil: „[D]‌ie Religion nährt sich durchgängig von der Kunst.“104 Eine „religiöse“ Kunst kann es nach dieser Betrachtung gar nicht geben. Alle Kunst hat den Menschen zum Gegenstand, auch in ihrer Darstellung eines Tieres oder eines Gottes.105 Aber auch die Religion hat den Menschen zum Gegenstand, oder wie Cohen es in seiner Ethik formulierte: „Nicht was Gott sei, soll Gott mich lehren; sondern was der Mensch sei.“106 Auch die Religion also muss mit der Menschenliebe beginnen. „Die Liebe zum Menschen muß deshalb den Anfang machen,“ steht in Cohens Religion der Vernunft, „weil Gott zwar den Menschen geschaffen hat, den Mitmenschen aber der Mensch sich selber zu erschaffen hat.“107 So stehen der jüdische Monotheismus und der griechische Polytheismus einander gegenüber nicht durch ihre Kunstliebe und Kunstfeindlichkeit, sondern „vereinigen sich in ihrem verschiedenen Anteil an der Kunst.“108 Der jüdische Anteil lag in der Poesie, der Lyrik, der Musik. Der griechische gab diesem noch den plastischen dazu. Gemeinsam aber war ihnen die „Erhöhung und Vollendung“ der Natur des Menschen. „Wo die Kunst lebendig wird, da regt sich die Liebe zum Menschen. Und wo die Götter der Darstellung entzogen werden, da öffnen sich neue Schleusen für 1 02 Cohen, Ästhetik 1, S. 179. 103 Ibid., S. 183. 104 Ibid., S. 184. 105 „[D]‌enn es ist ja immer der Mensch, der direkt oder indirekt zur Darstellung kommt.“ (ibid., S. 81). 106 Cohen, Ethik, S. 403. 107 Cohen, Religion der Vernunft, S. 170. 108 Cohen, Ästhetik 1, S. 186–​7.

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den Strom der Menschenliebe, indem der Mensch nicht weniger erhöht wird als durch die plastische Natur.“109 Auch die Propheten waren Künstler. „Ihre Beredsamkeit ist Kunst,“ schreibt Cohen in einem Aufsatz von 1901; „es blüht die Poesie in ihr.“110 Ihre neue Religion von dem Einzigen Gott ist Kunstwerk, so wie der Sinai Bund das Kunstwerk Gottes war.111 Sie sind Lyriker und doch auch Satiriker. Ihr Messianismus, ihre „Poesie des sozialen Mitleids“ fordert die „wahrhafte Satire“ heraus, die den ästhetischen Schleier vom Blendwerk der Gegenwart reißt.112 Die Kunst, die dem Luxus frönt, die über das Elend der Armut hinwegtäuscht, die Kunst der Unwahrhaftigkeit und Beschönigung, weist der Prophet zurück. Einen Selbstzweck der Kunst, eine l’art pour l’art Doktrin erkennt er nicht an. Die Natur erscheint ihm nur als Werk und Werkzeug Gottes. Seine Lyrik gehört der Liebe Gottes. Die Liebe Gottes aber bedeutet die Liebe zur Menschheit. „Indem der Prophet diese wahrhafte Liebe Gottes entdeckt,“ schreibt Cohen, „wird er zum großen Dichter der Menschenliebe.“113

2.10. Die Kunst als Humanisierung der Religion Mussten die Propheten also die Kunst der Bilder wirklich verwerfen? Hätten sie nicht anerkennen können, dass die Werke der Kunst auch Werkzeuge sind der Menschenliebe, dass auch die Götterbilder Menschenbilder sind? Hätten sie nicht sehen müssen, dass die Plastik den Menschen ebenso zu erhöhen vermochte, wie die Lyrik, dass die Plastik lyrisch sein konnte, wie später bei Michelangelo, dem „großen wahrhaften Künstler,“ in dem der „Geist der Propheten“ wehte?114 Durfte der Monotheismus die polytheistischen Mythenbilder wirklich verbannen, zur Lächerlichkeit herabsinken lassen, oder gar zerschlagen? Cohens Ästhetik hält daran fest, dass die Konsequenz des Bilderverbotes nicht genug zu bewundern sei: „Der Poesie, der Musik im Innersten zugetan, mithin den Grundmächten der Kunst erschlossen, erkühnt sich der monotheistische Gedanke zu diesem Widerspruch gegen eine Urtätigkeit des Menschengeistes, zu dieser Entsagung auf die Mitarbeit an diesem universellen Gebiete der Weltkultur.“115 In der Entsagung auf die Mitarbeit an der Kultur lag die prophetische Einseitigkeit, und

1 09 Ibid., S. 187. 110 Cohen, Hermann: „Der Stil der Propheten“. In: Jüdische Schriften. Schwetschke, Berlin 1924, Bd. II, S. 263. Daniel H. Weiss hat diesen Aufsatz hervorragend analysiert. Cf. Weiss, Daniel H.: Paradox and the Prophets: Hermann Cohen and the Indirect Communication of Religion. Oxford University Press: Oxford 2012, S. 40–​63. 111 Cf. Cohen, „Der Stil der Propheten“, S. 264. Auch die Aussage: „Dieser Bund ist das Kunstwerk Gottes, aber nicht das Kunstwerk des Menschen.“ (Cohen, Hermann: Der Begriff der Religion im System der Philosophie. A. Töpelmann: Gießen 1915, S. 96). 112 Cohen, „Der Stil der Propheten“, S. 279. 113 Ibid., S. 272. 114 Ibid., S. 283. 115 Cohen, Ästhetik 2, S. 260.

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es sei ungeschichtlich, meint Cohen, „darüber zu grübeln, ob diese Konsequenz nicht doch vielleicht überspannt war.“116 Von ihrer „einseitigen Überzeugung“ her konnten die Propheten nicht anders als durch die „Vernichtung der Götterbilder“ gegen den diesen Bildern verfallenen „Kult der Unsittlichkeit“ zu protestieren. Die Propheten sahen nicht die Bilder, sondern nur den Bilderdienst. Sie konnten die Bilder nicht zulassen, weil sie in ihnen nur Werkzeuge der Unsittlichkeit sahen. Dabei fehlte es ihnen wahrlich nicht an „deutlichen Spuren ihres Interesses an den Reizen der Plastik,“ so wie wir auch im rabbinischen Judentum eine kenntnisreiche Faszination mit der plastischen Welt finden. Was ihnen fehlte, war jedoch die Vorstellung, dass die Erotik der Bilder nicht nur Menschenhass, sondern auch Menschenliebe erzeugen konnte, dass es ein reines Gefühl gab, welches der reinen Sittlichkeit entsprach, weil es diese zur Voraussetzung hatte. Die Propheten waren eben keine systematischen Ästhetiker. Sie waren keine Philosophen. Wären die Propheten Philosophen gewesen, behauptet Cohen mit erstaunlicher Kühnheit, so hätte „der Gedanke ihnen aufsteigen können, daß die von ihnen verworfene Kunst selbst vielmehr die Aufgabe übernehmen könnte, und ihrem Begriffe nach es mußte, an ihrem Teile über den Fetisch den Menschengeist zu erheben.“117 Es konnte gar nicht die Aufgabe der Plastik sein, solche Fetischgötter zu bilden, wenn sie reine Kunst und aus reinem Gefühl entsprungen war. Die Plastik kann kein Götze sein, wenn sie reines Gefühl ins Leben ruft, wenn sie aus Menschenliebe erzeugt diese Liebe wiederzeugt. Was die Propheten nicht wissen konnten, war das Wissen um die Aufgabe der reinen Kunst, sich das Kunstwerk zum Hebel der Läuterung zu machen. „Die reine Plastik,“ lesen wir weiter bei Cohen, „muß daher die methodische Aufgabe empfangen, über den Götterkult den Menschengeist zu erheben, und von dem Polytheismus ihn zu befreien.“118 Dass die Plastik den Menschen vom Götzendienst befreien konnte, musste den Propheten natürlich absurd erscheinen. Für Cohen jedoch war dies der notwendige Gang einer Kunst, die aus dem reinen Gefühl geschaffen dieses auch zur Entdeckung bringt. Alle Kunst wird „rein,“ indem sie den Menschen liebt, und alle Kunst verfällt zur starren Maske, zum Idol, wo diese Liebe zu lieben aufhört. Die lieblose Kunst muss tatsächlich „ausgerottet“ werden. Die lieblosen Bilder müssen fallen. Hier steht die Kunst im Einklang mit dem Monotheismus. Hier kann die Kunst sogar der prophetischen Religion zur Hilfe stehen, hier kann sie die Religion humanisieren, wie Franz Rosenzweig bereits in seiner Einleitung zu Cohens

1 16 Ibid. 117 Ibid., S. 261. 118 Ibid. Meine Lesart Cohens wird durch diesen Satz etwas provokativer als Ezio Gamba es bereits in seiner ausgezeichneten Studie vorbereitet hat. Cf. Gamba. Ezio: Tu non ti farai un’immagine. Il problema della raffigurazione del divino nell’estetica di Hermann Cohen. Vetus Ordo Novus: Trepuzzi 2009, S. 36–​55. Denn ich sehe in der Kunst nicht nur eine Möglichkeit, sondern ein Korrektiv der Religion.

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Jüdischen Schriften bemerkt hatte.119 Und hier lag endlich der größte Anspruch, den Cohen an die Ästhetik stellen konnte: „Die Kunst muß zur Religion hinzukommen. Die Kunst erst erschließt Tiefen des Gefühls, welche der Religion verschlossen bleiben.“120

2.11. Arbeit am Messianismus So sind wir also vom Bildersturz, vom radikalen Monotheismus, der keine Götzen tolerieren darf, zu einem Begriff der Religion gelangt, der erst durch die Kunst humanisiert werden muss. Der Einklang zwischen dem bilderlosen Monotheismus und der bilderreichen Kunst bestand in ihrer Humanität, in ihrer Menschlichkeit. Denn weder die Kunst noch die Religion kann anders sein als menschlich. Aber es kann nicht die Menschlichkeit allein sein, die sie verbindet: Es muss auch die Liebe zum Menschen sein. Gewiss gibt es einen Unterschied zwischen der ästhetischen Liebe des Eros und der religiösen Liebe der Agape oder der Caritas. Für Cohen besteht dieser Unterschied im Schaffen und im Mitleid. „Die religiöse Liebe entzündet sich am Leide des Menschen,“ heißt es im Begriff der Religion, während die ästhetische, wie wir gesehen haben, sich an dessen Natur entzündet.121 Dies ist der tragische Begriff des Menschen vom messianischen Gesichtspunkt aus: „Der Idealmensch leidet. Der Messias wird vom ganzen Jammer der Menschheit erfaßt.“122 Hier gibt es kein Heldentum und keinen naturalistischen Hedonismus. Hier gibt es auch keine „Reize der Kunst.“ Selbst die Poesie „mit allen ihren Zaubern“ gehört nicht zum messianischen Bild –​„alle Kunst stört das reine Bild dieses Dulders der Menschheit.“123 Und doch besteht eine Wechselwirkung in der „Doppelliebe“ von Kunst und Religion. Denn auch die Kunst kann, in ihrer Reife, zur Liebe des Mitleids finden. Sowie der Messianismus das Bild des Armen und Leidenden in den Horizont der prophetischen Weltgeschichte stellt, deren Ziel –​deren Trost –​der Sabbat ist, so wendet sich auch die moderne Kunst bei Cohen an das Leid der Unterdrückten: „[D]‌ie moderne Malerei gipfelt in dem Menschenrecht des Arbeiters.“124 Die Kunst also veredelt das Mitleid zu einem Menschenrecht. Mit diesem messianischen Ausblick auf die „soziale Humanität“ eröffnet Cohens Ästhetik den Weg einer sozial verantwortlichen Kunst, die heute fast zur Selbstverständlichkeit geworden ist. Ob diese Kunst aber sich selbst und anderer Zeiten Werke immerfort zu „reinigen“ berufen ist, dies bleibt das Problem des Monotheismus und seiner fortwährenden Suche nach dem richtigen Sinn der Menschenliebe.

119 Cf. Rosenzweig, Franz: „Einleitung in die Akademieausgabe der Schriften Hermann Cohens“. In: Cohen, Hermann: Jüdische Schriften, Bd. I, S. XLIII, wo Rosenzweig von einer „ästhetischen Humanisierung des Religiösen“ bei Cohen spricht. 120 Cohen, Ästhetik 1, S. 323. 121 Cohen, Begriff der Religion, S. 88. 122 Cohen, Religion der Vernunft, S. 310. 123 Ibid., S. 310. 124 Cohen, Ästhetik 2, S. 415.

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Von der „kultlich erheischten Hingabe an das geschaffene Idolon“. Aby Warburgs Kulturwissenschaft als Idolatriekritik* Angelehnt an Aby Warburgs (1866–​ 1929) zentrale Frage des Nachlebens der Antike in der europäischen Kulturgeschichte fragt die folgende Untersuchung, welches Nachleben das Zweite Gebot in seiner Kulturwissenschaft gefunden hat.1 Es soll gezeigt werden, dass das Idolatrieverbot, verstanden als Idolatriekritik, gleichsam als Paradigma seiner kulturwissenschaftlichen Methode gelten kann. Zugleich wird die zentrale Bedeutung der jüdischen Tradition für Warburgs Denken und Forschen herausgestellt, die in der Forschung bis heute oft übersehen wird. Denn es ist eben diese idolatriekritische Agenda, durch die sich Warburgs Kulturwissenschaft grundlegend von anderen kunsthistorischen Strömungen des frühen 20. Jahrhunderts abgrenzt und die ihre ungebrochene Aktualität ausmacht. Um auszuloten, wie tief ein solcher idolatriekritischer Impetus in Warburgs Kulturwissenschaft verwurzelt ist, muss ein weiter Bogen gespannt werden. Den Einstieg bilden ausgewählte biographische Quellen über Warburgs Verhältnis zum

* Bei den folgenden Ausführungen handelt es sich um Teilergebnisse meines Dissertationsprojektes. An dieser Stelle möchte ich Dr. Claudia Wedepohl und Dr. Eckardt Marchand für ihre Unterstützung bei meinen Recherchen im Archiv des Warburg Institute (WIA) und für die Genehmigung, ausgewählte Zitate aus dem Bestand verwenden zu dürfen, danken. 1 Vorab sei darauf hingewiesen, dass ich im Folgenden ausschließlich von „Idolatrieverbot“ sprechen werde, da der weit verbreitete Begriff des „Bilderverbots“ die Vorstellung perpetuiert, dass es sich beim Zweiten Gebot des Dekalogs (Ex. 20: 4) um ein generelles Verbot von Bildern handle. Nicht nur wird die Annahme eines vermeintlichen jüdischen Anikonimus durch die zahlreichen Bilder, die das Judentum zu allen Zeiten hervorgebracht hat und über deren Gebrauch in der rabbinischen Literatur beständig verhandelt wurde, widerlegt. Darüber hinaus hat beispielsweise Christoph Dohmen in seiner etymologisch-​semantischen Analyse unter Berücksichtigung des Kontexts (Ex. 20: 3 und Ex. 20: 5) gezeigt, dass das Zweite Gebot nicht auf Bilder, sondern vielmehr auf den Bilderkult, d. h. ihren idolatrischen Missbrauch, bezogen werden muss; cf. Dohmen, Christoph: Das Bilderverbot. Seine Entstehung und seine Entwicklung im Alten Testament. Athenäum: Frankfurt am Main 19872. Cf. auch: Kochan, Lionel: Beyond the Graven Image. A Jewish View. New York University Press: New York 1997. Für eine ausführliche Darstellung des „Missverständnisses des jüdischen Anikonismus“ cf. den Beitrag von Beniamino Fortis in diesem Band.

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Judentum. Darauf aufbauend wird herausgearbeitet, wie seine Auseinandersetzung mit dem Idolatrieverbot die Entwicklung seines Bildbegriffs beeinflusst hat. Diese Überlegungen werden im nächsten Schritt auf seine Forschungsmethode und ihren Gegenstand ausgeweitet. Abschließend wird entlang von zwei Vorträgen Warburgs deutlich gemacht, dass seine kulturhistorischen Studien auch als direkte Stellungnahmen zu zeitgenössischen kulturpolitischen Debatten verstanden werden müssen. Im Verlauf der Untersuchung wird sichtbar, wie unter der Perspektive der Idolatriekritik die vielfältigen Forschungsgebiete Warburgs ineinandergreifen. Seine bildtheoretischen Studien, seine Schriften zum Nachleben der Antike in der Frührenaissance und zur Sternengläubigkeit im Reformationszeitalter sowie seine Auseinandersetzung mit dem völkisch-​nationalistischen Rembrandt-​und Dürerkult erweisen sich so als einzelne Kapitel seiner Arbeit am „noch fehlenden Handbuch ‚Von der Unfreiheit des abergläubigen modernen Menschen‘“.2

1. „ein weites und weitgehend unerforschtes Land“. Warburgs Verhältnis zum Judentum Seit Ernst Gombrichs einflussreicher Intellektueller Biographie Aby Warburgs hat in der Forschungsliteratur in Bezug auf Warburgs Verhältnis zum Judentum lange die Ansicht dominiert, dass seine wissenschaftliche Eigenständigkeit erst mit seiner allseits bekannten, vehementen Abwendung von der orthodoxen –​oder, wie es sein jüngster Bruder Fritz bezeichnete, „orthopraxen“ –​3 Tradition seiner Familie begonnen habe.4 Unter dieser Perspektive erscheint die frühe Prägung durch sein Elternhaus entweder als hinderlich oder als vernachlässigbar für die Entwicklung seiner kulturwissenschaftlichen Methode und die Arbeit seiner Hamburger Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg (KBW). Warburgs eigene Beschreibungen des qualvollen Ringens um Emanzipation und der Kämpfe mit dem Vater –​vor allem in Bezug auf seinen Entschluss zu Studienzeiten in Bonn, die Speisegesetze nicht länger einzuhalten, und seine Heirat mit der protestantischen Künstlerin Mary Hertz –​werden dementsprechend als Ausweis seiner grundlegenden Abwendung von der jüdischen Tradition interpretiert. Dies ist umso erstaunlicher, als bereits unmittelbar nach Erscheinen der Intellektuellen Biographie kritisch auf Gombrichs Entscheidung, Warburgs jüdische Sozialisation auszuklammern,

2 Warburg, Aby: „Heidnisch-​antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten“ [1920]. In: Id.: Gesammelte Schriften (GS), Bd. I.2: Die Erneuerung der heidnischen Antike. Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Geschichte der europäischen Renaissance. Hrsg. v. Bredekamp, Horst et al. Akademie Verlag: Berlin 1998, S. 487–​558, S. 490. 3 Warburg Spinelli, Ingrid: Die Dringlichkeit des Mitleids und die Einsamkeit, nein zu sagen. Dölling und Galitz Verlag: Hamburg 1990, S. 43. 4 Gombrich, Ernst H.: Aby Warburg. An Intellectual Biography. With a Memoir on the History of the Library by F. Saxl. Warburg Institute, University of London: London 1970.

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hingewiesen wurde.5 Auch wenn in den letzten Jahren das Interesse an der Bedeutung von Warburgs Verhältnis zum Judentum merklich gestiegen ist, steht eine umfassende Analyse der Frage, welchen Niederschlag jüdische Traditionen in seiner Kulturwissenschaft gefunden haben, bis heute aus.6 Dass Warburg die jüdischen Traditionen und Quellen kannte, steht außer Frage. Besonders sein Vater Moritz Warburg bestand auf die Einhaltung der täglichen Gebete, der hohen Festtage und die religiöse Erziehung seiner Kinder. Laut den Erinnerungen seines jüngeren Bruders Max Warburg lernte Aby ab dem sechsten Lebensjahr hebräisch, erhielt Tora-​und Talmudunterricht und legte Wert darauf, „dass das Gebet in einer Sprache war, die nicht die Alltagssprache war.“7 Trotz seiner Abwendung von der religiösen Praxis, behielt er „eine grosse Anhänglichkeit an die Religion […], ohne religiös zu sein“,8 so Max Warburg weiter. 5 Liebeschütz, Hans: „Aby Warburg (1866–​1929) as Interpreter of Civilisation“. Year Book of the Leo Baeck Institute 10, 1971, S. 225–​236, hier S. 230; Gilbert, Felix: „From Art History to the History of Civilization: Gombrich Biography of Aby Warburg“. The Journal of Modern History 44(3), 1972, S. 381–​391, hier S. 390. 6 So stellt beispielsweise Ulrich Raulff die Bedeutung des Judentums für Warburgs Kulturwissenschaft explizit heraus, geht ihr jedoch mit dem Verweis, dass man damit „an eine Grenze rührt, hinter der sich ein weites und weitgehend unerforschtes Land auftut“, nicht näher nach; Raulff, Ulrich: „Von der Privatbibliothek des Gelehrten zum Forschungsinstitut: Aby Warburg, Ernst Cassirer und die neue Kulturwissenschaft“. Geschichte und Gesellschaft 23(1), 1997, S. 28–​43, hier S. 43. Auch Anne Marie Meyer beließ es in ihrer Untersuchung des frühen Briefwechsels Warburgs bei einer offenen Frage: „Exactly what was the relation between Warburg’s research on paganism in the Renaissance and his meditations and fears about Judaism (and Jews) remains of course the problem“; Meyer, Anne Marie: „Aby Warburg in His Early Correspondence“. The American Scholar 57(3) 1988, S. 445–​452, hier S. 542. Als Beispiele jüngerer Publikationen, die Warburgs Verhältnis zum Judentum in den Mittelpunkt stellen, seien genannt: Treml, Martin /​Meyer, Thomas: „Kulturwissenschaft aus dem Geist des Judentums. Aby Warburgs Transformation der religiösen Tradition“. Neue Zürcher Zeitung, 10.–11.12.2005, S. 67–​68; Levine, Emily J.: „Aby Warburg and Weimar Jewish Culture: Navigating Normative Narratives, Counternarratives, and Historical Context“. In: Aschheim, Steven E. /​Liska, Vivian (Hrsg.): The German-​ Jewish Experience Revisited. De Gruyter: Berlin /​Boston 2015, S. 117–​134; Pollock, Griselda: „Aby Warburg (1866–​1929): ‚Thinking Jewish‘ in Modernity“. In: Picard, Jacques et al. (Hrsg.): Makers of Jewish Modernity. Thinkers, Artists, Leaders, And The Worlds They Made. Princeton University Press: Princeton /​Oxford 2016, S. 108–​125. Hingewiesen sei auch auf: Schoell-​Glass, Charlotte: Aby Warburg und der Antisemitismus. Kulturwissenschaft als Geistespolitik. Fischer: Frankfurt am Main 1998. Warburgs Auseinandersetzung mit dem Judentum gerät in dieser umfassenden Studie allerdings hauptsächlich als Reaktion auf den zunehmenden Antisemitismus in den Blick. 7 WIA.III.1.7.2.3.6.1. „Erinnerungen von Max Warburg“, TS, top copy with Max ­Warburg’s corrections, 9 fols. 8 Ibid.

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Dass Warburgs Verhältnis zur Religiosität seiner Familie keinesfalls nur von inneren und äußeren Konflikten geprägt, sondern durchaus spielerisch und selbstbewusst war, bezeugen zahlreiche Anekdoten, die im Nachlass Warburgs überliefert sind. Beispielsweise ist, wiederum von Max Warburg, von einem Besuch bei seiner Tante Amalie Goldschmidt, née Warburg, genannt Tante Malchen, folgende Episode überliefert, die zugleich als Einstieg in die Untersuchung von Warburgs Auseinandersetzung mit dem Idolatrieverbot dienen soll. Im frommen Haushalt ist es nicht erlaubt, Figuren aufzustellen (um keine Erinnerung an den Götzendienst zu erhalten); meine Tante hatte zwei sehr gewöhnliche Gipsfiguren von Schiller und Goethe da; nachdem Aby als Vertreter der Orthodoxie einmal eine Rede gehalten hatte, nahm er die beiden Figuren und entfernte von beiden die Nasen „weil sie sonst zu leicht als Götzen hätten dienen können.“ Das Komische hierbei war auch, dass meine Tante diese Figuren nie hat reparieren lassen und jahrzehntelang schmückten also Schiller und Goethe ohne Nasen den Vorplatz.9

Um die Anekdote einzuordnen, ist es wichtig, sich vor Augen zu führen, dass Warburg hier im Rahmen einer der vielen schauspielerischen Tischreden in der Rolle des „Vertreters der Orthodoxie“ auftrat, die in der Familie regelmäßig zur Belustigung aufgeführt wurden und deren Zielscheibe oft die oben erwähnte Tante war.10 Wenn auch im komödiantischen Gewand zeigt die Episode eindrücklich Warburgs Gespür, dass die Versuchung zur Idolisierung, d. h. zur unkritischen Verehrung, überall lauert und auch vor den Vertretern des humanistisch-​bildungsbürgerlichen Kanons keinen Halt macht. Bemerkenswert ist auch, dass Warburgs Intervention des Nasenabtrennens trotz der humoristischen Inszenierung exakt der rabbinischen Tradition entspricht, wonach Bilder von Menschen, insbesondere von Gesichtern, mit der Halacha (dem gesetzlichen Teil der Überlieferung des Judentums) vereinbar sind, wenn sie in unvollständiger oder gebrochener Form wiedergegeben werden, um ihrer Verehrung vorzubeugen.11

9 WIA.III.1.7.2.3.2. A second list of Warburg anecdotes dated 15.12.1929, TS, 4 fols., with photocopy of accompanying letter, dated 08.12.1929 [original in General Correspondence (GC)]. Die Anekdote ist Teil einer Aufzählung verschiedener Erinnerungen an Aby Warburg, die Max Warburg kurz nach dem Tod seines älteren Bruders an Gertrud Bing übersandte. 10 Ibid. 11 Cf. Raphael, Melissa: Judaism and the Visual Image. A Jewish Theology of Art. ­Continuum: London 2009, S. 28: „On the basis of Rabbi Joseph Caro’s Shulchan ’Aruch, the accepted codification of Jewish law […], it is widely argued that representations of divine and mythic beings, humans and celestial bodies can only be made on condition that the images are incomplete. Images of people, their faces especially, must be partial defaced or broken –​given, say, only one eye or a broken nose –​if they are to be a halakhically legitimate representation. Defaced images of human faces demonstrate that the image is essentially a counterfeit –​its ugliness protests its reproduction and warns of its inauthenticity: it is unworshipable.“ Cf.

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2. „jene Verlegenheiten des geistigen Menschen“. Bildkult und Kultbild Wendet man den Blick von diesen privaten Auskünften über Warburgs Kenntnis der jüdischen Auseinandersetzung mit dem Zweiten Gebot zu seinen publizierten Schriften, wird rasch deutlich, dass Warburg in seiner eigenen Beschäftigung mit dem idolatrischen Potential, das von Bildern ausgeht, eine völlig andere Richtung einschlug. Zunächst fällt auf, dass die Begriffe „Idol“ oder „Idolatrie“ in seinen Schriften nur selten auftauchen. Eine der prominentesten Nennungen erfolgt jedoch in der Einleitung zu seinem späten Hauptwerk, dem unvollendet gebliebenen Bilderatlas Mnemosyne. In seiner Einführung in die von ihm über Jahrzehnte entwickelte kulturwissenschaftliche Methode fällt er an entscheidender Stelle, als Warburg in seinem typisch gedrängten Stil konzise auf den Punkt bringt, warum ausgerechnet Bildern eine besondere Rolle für sein Unterfangen zukommt. Diese Doppelheit zwischen antichaotischer Funktion, die man so bezeichnen kann, weil die kunstwerkliche Gestalt das Eine auswählend umrißklar herausstellt, und der augenmäßig vom Beschauer erforderten, kultlich erheischten Hingabe an das geschaffene Idolon schaffen jene Verlegenheiten des geistigen Menschen, die das eigentliche Objekt einer Kulturwissenschaft bilden müßten, die sich illustrierte psychologische Geschichte des Zwischenraums zwischen Antrieb und Handlung zum Gegenstand erwählt hätte.12

In der für ihn bezeichnenden Vorliebe für Polaritäten bestimmt Warburg die Position der Bilder dauerhaft zwischen den Polen Magie und Logos. Die vom Menschen als „leibseelisch-​geistigem Zeichenbenutzer“13 produzierten Bilder waren für ihn Manifestationen seiner psychischen Orientierungsversuche im Kosmos, Instrumente der Distanzierung vom furchteinflößenden Ausgeliefertsein an die Natur und damit essenziell für die Bildung des „Denkraums der Besonnenheit“14. Andererseits behielten sie –​anders als abstrakte Zeichen –​ ihre Bindung an die Welt, an das leibliche Erleben, sodass das „im Bildsymbol generierte Auseinandertreten von Bild und Ding“15 jederzeit Gefahr lief, wieder zusammenzufallen, d. h. magisch verknüpft und damit zum Idol zu werden. auch: Schwarzschild, Steven: „The Legal Foundation of Jewish Aesthetics“. The Journal of Aesthetic Education 9(1), 1975, S. 29–​42, hier S. 31 ff. 12 Warburg, Aby: „Mnemosyne Einleitung“. In: Id.: GS, Bd. II.1: Der Bilderatlas ­Mnemosyne. Hrsg. v. Warnke, Martin et al. Akademie Verlag: Berlin 2012, S. 3–​6, hier S. 3. 13 Wenzel, Catherina: „Bildmagie und Distanz in Aby Warburgs ‚indianischer Reise‘“. In: Kleinert, Markus /​Schulz, Heiko (Hrsg.): Natur, Religion, Wissenschaft. Beiträge zur Religionsphilosophie Hermann Deusers. Mohr Siebeck: Tübingen 2017, S. 61–​92, hier S. 61. 14 Warburg, Heidnisch-​antike Weissagung, GS, I.2, S. 534. 15 Wessels, Antje: Ursprungszauber. Zur Rezeption von Hermann Useners Lehre von der religiösen Begriffsbildung. De Gruyter: Berlin /​New York 2003, S. 59.

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Aus dieser den Bildern inhärenten polaren Spannung entsprangen für Warburg „jene Verlegenheiten des geistigen Menschen“, dessen Umgang mit den Bildern beständig droht, ins Idolatrische umzuschlagen. Warburgs Formulierung der „kultlich erheischten Hingabe“ weist bereits darauf hin, dass es die Einbindung der „kunstwerklichen Gestalt“ in kultische Praxis ist, die zum idolatrischen Verhalten verführt. Im Verweis auf die entscheidende Bedeutung des (Bild)Kults klingt bereits an, dass sich die Wirkmacht der Bilder nur enträtseln ließ, wenn die kunst-​und kulturwissenschaftliche Forschung durch religionswissenschaftliche Studien ergänzt würde. Das Risiko der Idolatrie stellt sich dementsprechend als ein doppeltes dar: Zum einen entspringt es der Mittelstellung des Bildes selbst zwischen Magie und Logos, zum anderen dem jeweiligen kultischen –​ob religiösen oder politischen –​ Gebrauch der Bilder. Tatsächlich ausmessen und bannen ließe sich die Gefahr der Idolatrie mithin nur, wenn ihre psychologische Ursache erkannt und das Verhalten den Bildern gegenüber entsprechend verändert würde. Hier liegt der entscheidende Schritt, durch den Warburg den religiösen Umgang mit dem Idolatrieverbot hinter sich ließ, indem er tiefer auf dessen anthropologisch-​psychologische Implikationen reflektierte und diese als das eigentliche Problem bestimmte, auf die das Zweite Gebot zielt. Anstatt die Bilder durch partikulare Zerstörung oder Verfremdung der nach wie vor falschen, weil idolatrischen Bildpraxis anzupassen, müsse stattdessen eine Rezeptionshaltung eingenommen und eingeübt werden, die selbst anti-​idolatrisch ist und sich dadurch allen Bildern gegenüber bewähren würde. Getragen wurde Warburgs Kulturwissenschaft von der Idee, seinen Zeitgenossen zu zeigen, „dass ein historisches Bewusstsein (Bildung) ihnen zur Klarheit über ihren seelischen Ort verhelfen kann“,16 weil Idolatrie dort drohe, wo eine solche Selbstverortung innerhalb der eigenen Kulturgeschichte nicht gelingt, weil (bewusst oder unbewusst) die eigenen Bedürfnisse oder Ängste auf die Bilder projiziert würden. Durch eine solcherart gebildete (selbst)kritische Haltung dem eigenen idolatrischen Reflex gegenüber würde bildschöpferisches Verhalten als Symptom und Lösungsversuch für psychische Spannungs-​und Krisensituationen erkennbar, die in Bildern Ausdruck und temporäre Linderung gefunden hatten. Dazu war ein akribisches Studium ihrer sozialen, politischen, religiösen und psychischen Entstehungskontexte vonnöten, um von dort ihre Überlieferungsgeschichte, d. h. ihre morphologischen und semantischen Transformationen im kulturgeschichtlichen Prozess zu verfolgen. Warburgs Untersuchung der Überlieferungsstadien der Bilder ist vor diesem Hintergrund nichts anderes als die Sichtbarmachung der „Geschichte [dieser] Symptome, die sich unter dem Regime der Dialektik von Verdrängung und Wiederkehr des Verdrängten vollzieht“17. Die 16 WIA.III.102.4.1. Mnemosyne. Grundbegriffe II, 1929 (dated between Jan. and June 1929), Notes, green spring back, MS, 129 fols., undatierter Eintrag Warburgs, fol. 49. 17 Naumann, Barbara: „Bilder-​Denken und Symbolisierungsprozesse in der frühen Kulturwissenschaft“. In: Benthien, Claudia /​Weingart, Brigitte (Hrsg.): Handbuch Literatur & Visuelle Kultur. De Gruyter: Berlin /​Boston 2014, S. 86–​103, hier S. 89.

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Bilder als „geronnene Denkräume“18 und ihr Nachleben als „historisch fassbar[e]‌ Schichtung der vorgeprägten Formen“19 bildeten für Warburg jene ideengeschichtlichen ‚Ablagerungen‘, die es ihm als Kulturwissenschaftler erlaubten, immer tiefer liegende Sedimente im Steinbruch des europäischen Bildgedächtnisses freizulegen. Einer Kulturwissenschaft, die die von Warburg anvisierte „historisch[e]‌Psychologie des menschlichen Ausdrucks“20 leisten soll, musste mithin eine Methode zugrunde liegen, die das idolatrische Potential der Bilder zugleich vorführt und neutralisiert, die ihrer Bedeutung für die geistige Orientierung gerecht wird und zugleich die „kultisch erheischte Hingabe“ des Beschauers unterbindet.

3. „a liberation […] for the cerebral animal“. Idolatriekritik statt Idolatrieverbot In den vorangegangenen Überlegungen klang bereits die Kritik Warburgs am traditionellen religiösen Umgang mit Bildern an, die in seinen Augen auf einem Missverständnis der konstitutiven psychologischen Funktion bildschöpferischen Verhaltens fußte. Entlang seiner Auseinandersetzung mit dem Idolatrieverbot lässt sich Warburgs ambivalente Haltung zum Judentum näher bestimmen. Als Einstieg hierfür bietet sich eine Aussage seines Sohnes Max Adolph an, die aus einem Entwurf einer Rede zum hundertsten Geburtstag seines Vaters stammt, der sich im Archiv des Londoner Warburg Institute erhalten hat. Das Bilderverbot, the prohibition of imagery, had, of course, at that time long lost its grip even on the most orthodox Jews –​in fact, there had been ways of getting around it from the earliest centuries. […] But I do suspect that, apart from his interest in art, the choice of his subject, history of art, consciously or not, have been part of his protest and revolt against orthodoxy with its deeply ingrained hidden survival of Bilderhass and Bilderfurcht, the hatred and fear of imagery. At the same time, opening the windows of one’s eyes on the world of art was a relief and a liberation „für das Zerebraltier in ihm“, for the cerebral animal, as he called the mighty abstract trend in himself, which also had been so predominant in the past of the Jews.21

Max Adolph Warburgs Hinweis folgend, lohnt es sich, streng zwischen religiöser Orthodoxie und jüdischer Tradition und Kultur zu unterscheiden, wenn es darum geht, Warburgs Verhältnis zum Judentum zu bestimmen. So lassen sich in

18 Bauerle, Dorothee: Gespenstergeschichten für ganz Erwachsene. Ein Kommentar zu Aby Warburgs Bilderatlas Mnemosyne. Lit Verlag: Münster 1988, S. 15. 19 WIA.III.102.3.1. Mnemosyne. Grundbegriffe I, 1929, green-​spring back, MS, 149 fols., Eintrag Warburgs vom 17.05.1929, fol. 103. 20 Warburg, Aby: „Italienische Kunst und internationale Astrologie im Palazzo ­Schifanoia zu Ferrara“ [1912]. In: Id.: GS, I.2, S. 459–​481, hier S. 478. 21 WIA.III.1.7.2.4.3.2.2. Max Adolph Warburg, Notebook II, MS, 50 fols., fol. 41. Der Entwurf stammt wahrscheinlich aus den Jahren 1964–​65.

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Warburgs Korrespondenz zahlreiche Belege finden, dass sich seine radikale und kompromisslose Kritik stets gegen die Orthodoxie richtete. Besonderen Anstoß nahm er daran, dass „meine Familie immer noch an eine Art Superiorität der spezifisch jüdischen Geisteskultur“ glaube, wohingegen er sein „ganzes wissenschaftliches Leben dafür eingesetzt [habe], diese Art der Pretension [sic] zu bekämpfen“.22 Die „bewusst frondierende Sonderexistenz“,23 die er den Anhängern der Orthodoxie attestierte, war in seinen Augen unvereinbar mit seinem humanistischen Bildungs-​und Rationalitätsideal. Außer Frage standen für ihn hingegen die kulturellen Leistungen und die Bedeutung des Judentums im europäischen Zivilisationsprozess. Im Anschluss an den Philosophen und Neukantianer Hermann Cohen, dessen Werke Die Ethik des reinen Willens (1907) und Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums (1918/19) er eingehend studiert hatte, sah auch Warburg den monotheistischen Vergeistigungsprozess durch die Abschaffung des Opfers im Judentum als historische Errungenschaft.24 In seinem berühmten Kreuzlinger-​Vortrag heißt es dazu:25 Der Menschen-​opfernde und Tier-​verehrende Götzendienst war ja die feindliche Macht, gegen die die Propheten am erbittertsten kämpften. […] Daß die Aufrichtung

2 2 WIA, GC, Brief von Aby Warburg an John Hertz, April 1897. 23 Ibid. 24 Raulff, Ulrich: „Der Patient der Weltgeschichte. Anmerkungen zu einem Wort Aby Warburgs“. Zeitschrift für Ideengeschichte I(1), 2007, S. 67–​82, hier S. 78. 25 Warburg hielt den Vortrag über seine Reise aus den Jahren 1895–​1896 zu den Pueblo und Hopi nach Arizona und New-​Mexiko am 21.04.1923 vor Ärzten und Patienten im Kreuzlinger Sanatorium Bellevue, wo er infolge eines psychischen Zusammenbruchs zwischen April 1921 und August 1924 behandelt wurde. Mit dem Vortrag bewies er seine fortschreitende Genesung, die es ihm 1924 erlaubte, nach ­Hamburg und zu seiner wissenschaftlichen Tätigkeit zurückzukehren. Obwohl Warburg einer Veröffentlichung explizit widersprochen hatte, erschien der Vortrag 1988 unter dem Titel „Schlangenritual. Ein Reisebericht“ und gehört heute zu seinen bekanntesten Texten. Zu Warburgs Krankengeschichte cf. Marazia, Chantal /​ Stimilli, Davide: Ludwig Binswanger –​Aby Warburg: Die unendliche Heilung. Aby Warburgs Krankengeschichte. Diaphanes: Zürich /​Berlin 2007. Aus der umfangreichen Forschungsliteratur zu Warburgs Amerikareise und zur Entstehung des Vortrags seien hier als Auswahl genannt: Freedberg, David: „Pathos at Oraibi: What­ Warburg Did Not See“, online abrufbar unter: https://​acad​emic​comm​ons.colum​bia. edu/​doi/​10.7916/​D8JW8​MPD/​downl​oad (zuletzt aufgerufen am 15.05.2022); publiziert als: „Pathos a Oraibi: Ciò che Warburg non vide“. In: Cieri Via, Claudia /​ Montani, Piet­ro (Hrsg.): Lo sguardo di Giano: Aby Warburg fra tempo e memoria. N. ­Aragno: Turin 2004, S. 569–​611; Despoix, Philippe: „Dia-​Projektion mit freiem Vortrag. Warburg und der Mythos von Kreuzlingen“. Zeitschrift für Medienwissenschaft 2, 2014, S. 18–​36; und jüngst: Bredekamp, Horst: Aby Warburg, der Indianer: Berliner Erkundungen einer liberalen Ethnologie. Wagenbach: Berlin 2019.

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der Schlange26 im schroffsten Widerspruch zu den allerdings erst später fixierten zehn Geboten steht, ist klar, im schärfsten Gegensatz zu der Bilderfeindlichkeit, die das Wesen der reformierenden Propheten ausmacht. Wenn Religion Verknüpfung heißt, so ist das Symptom der Entwicklung aus diesem Urzustande heraus, dass die Verknüpfung zwischen Mensch und höherem Wesen auf Vergeistigung dadurch hindrängt, dass der Mensch […] die Verursachung rein gedanklich vollzieht. […] Mit dem, was wir Fortschritt in der Kultur nennen, verliert die Hingabe erheischende Macht immer mehr diese ungeheuerliche Erfaßbarkeit und wird schließlich zum geistigen, unsichtbaren Symbol.27

Aufgerufen wird hier ein weiterer Themenkomplex, der für Warburg untrennbar mit der Frage der Idolatrie zusammenhängt, jener des Opferkultes. In der „Erlösung vom blutigen Thierkult-​Opfer“ sah Warburg einen wesentlichen Schritt im „Sublimierungsprozeß“, einen „Gradmesser des von Fetischismus zur reinen Erlösungsreligion sich wandelnden Glaubens.“28 Die Vermeidung von opfernder Gewalt und idolatrischer Verehrung durch die Überwindung der leiblich-​magischen Verknüpfung hin zur rein geistigen Bestimmung des Verhältnisses von Mensch und Gottesvorstellung war für Warburg ein notwendiger, jedoch keineswegs ausreichender Schritt im Zivilisationsprozess. Ausgehend von der anthropologisch-​konstitutiven Bedeutung, die Warburg bildschöpferischem Verhalten zusprach, ist zu vermuten, dass ihm die ritualisierte Bilderfurcht, die die Orthodoxie seiner Meinung nach verlangte, als ähnlich unkritisches Verhalten den Bildern und damit der idolatrischen Gefahr gegenüber erscheinen musste, wie deren magische Verehrung. Diese Vermutung untermauert ein Brief Warburgs an seine Nichte Gisela anlässlich eines Jerusalembesuchs ihrer Familie, der darüber hinaus eine der wenigen erhaltenen Äußerungen Warburgs über die Situation in Palästina in den 20er Jahren darstellt. Was beweinen denn die Frommen? Den Verlust des Tempels? Wuerde dieser wiederhergestellt werden duerfen, so koennten sie, wie zur Zeit der Bluete des juedischen Reichs, Opfer bringen. […] Durch die Zerstoerung des Schlachtaltars von Jerusalem ist das Judentum letzten Endes zur monotheistischen Vergeistigung gezwungen worden […]. Das Judentum hat in der Entwicklung des Opferkultus (der bei jeder Religion im

26 Warburg bezieht sich hier auf die Erzählung im 4. Buch Mose (Num. 21: 6–​9), nach der Gott während der Wanderung durch die Wüste nach dem Auszug aus Ägypten als Strafe für ihre Ungeduld und Undankbarkeit giftige Schlangen unter die Israeliten sandte. Später befahl er Moses, eine eherne Schlange aufzurichten, deren Anblicken die Gebissenen heilte. Im 2. Buch der Könige (2. Kön. 18: 4) wird geschildet, wie die Schlangenfigur zerstört wurde, nachdem sie zum Götzendienst missbraucht wurde. Cf. die Erörterung der gleichen Erzählung in der Einleitung von Beniamino Fortis, Abschnitt 2. 27 Warburg, Aby: „Bilder aus dem Gebiet der Pueblo-​Indianer“. In: Id.: GS, Bd. III.2: Bilder als dem Gebiet der Pueblo-​Indianer in Nord-​Amerika: Vorträge und Fotografien. Hrsg. v. Fleckner, Uwe. De Gruyter: Berlin 2018, S. 65–​104, hier S. 89 ff. 28 Ibid., S. 87.

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Ellen Rinner geheimnisvollen Mittelpunkt steht) eine heroische vermittelnde Aufklaerungsstellung dadurch eingenommen, dass Elias den kinderschlachtenden Molochpriestern eine unheilbare moralische Niederlage verschaffte;29 aber das Tieropfer blieb, hierin blieben die Juden Heiden am Mittelmeerbecken.30

Aus den Zeilen spricht Warburgs Verdacht, dass „die Frommen“ ihre aus Furcht entsprungene, unterwürfige Anbetung, die durch Opfer versucht, den angebeteten Gott zu besänftigen, nicht wirklich reflektierend überwunden haben und deshalb Gefahr liefen, wieder der gewalttätigen Praxis zu verfallen, sollten es die äußeren Umstände zulassen.31 Gleichermaßen mussten ihm Bilderverehrung und Bilderhass als zwei Seiten desselben phobischen Reflexes erscheinen, als Abwehrreaktionen der eigenen Ängste durch Projektion. Demzufolge war für ihn die Auseinandersetzungsbereitschaft Bildern gegenüber wichtiger Indikator für den jeweiligen Stand aufgeklärten Bewusstseins. Die fortdauernde Befragung von Bildern als Teil des transgenerationellen „sozialen Gedächtnisses“32 war in Warburgs Augen der Versuch, der Gefahr des Irrationalen, des Rückfalls in mythisch-​kultisches Bewusstsein vorzubeugen. Mehr noch, auf diese Weise könnten „die Bilder […] für die Nachkommenden eine Hilfe sein bei dem Versuch der Selbstbestimmung zur Abwehr der Tragik der Gespanntheit zwischen triebhafter Magie und auseinandersetzender Logik.“33 Nur durch ein solches kulturhistorisches Bewusstsein könne, so 29 Warburg bezieht sich hier höchst eigenwillig und selektiv auf den biblischen Bericht aus dem 1. Buch der Könige, wonach der Prophet Elias den Opferkult der Baals­ propheten als Scharlatanerie entlarvte (1. Kön. 17–​18). Warburgs Beurteilung der Episode als „unheilbare moralische Niederlage“ verschweigt nicht nur, dass Elias die 450 Propheten des Baal anschließend töten ließ, sondern vermischt sie auch mit den Kinderopfern des Molochkults, die im 7. Jahrhundert v. Chr. durch König Josia beendet wurden (2. Kön. 23: 10); cf. hierzu: McEwan, Dorothea /​Treml, Martin: „Aus dem Archiv. Aby an Gisela Warburg“. Trajekte 8, 2004, S. 5–​11; und: Treml, Martin: „Judentum als Schlüssel zur Religions-​und Kulturtheorie“. Ibid. S. 12–​15. Im Zusammenhang mit der Überwindung des Menschenopfers im ­Judentum verweist Warburg im weiteren Verlauf des Briefes auch auf die Erzählung der Bindung Isaaks (Gen. 22: 1–​19) als Beleg der „alten jüdischen Lehre vom Substitutionsopfer“, d. h. der Ersetzung des Menschenopfers durch das Tieropfer. 30 WIA, Family Correspondence (FC), Aby Warburg an Gisela Warburg, 14.05.1929; veröffentlicht in: McEwan /​Treml, Aus dem Archiv, (Anm. 29). 31 Warburgs harschem Urteil, die Abschaffung des Opfers sei vor allem Resultat der Zerstörung des Jerusalemer Tempels durch Titus (70 n. Chr.), widersprach sein wichtigster Mitarbeiter und stellvertretender Bibliotheksleiter Fritz Saxl und wies darauf hin, „dass doch die Tendenz, aus dem Judentum eine reine Logosreligion zu machen, schon älter [ist], die Vertreibung nur der äussere Anstoss“; WIA, GC, Fritz Saxl an Aby Warburg, 22.05.1929. 32 WIA.III.102.3.1. Mnemosyne. Grundbegriffe I, 1929, green-​spring back, MS, 149 fols., Eintrag Warburgs vom 03.06.1929, fol. 82. 33 Notiz Warburgs zum Kreuzlinger Vortrag, zit. nach: Raulff, Ullrich: „Nachwort“. In: Warburg, Aby: Schlangenritual. Ein Reisebericht, Wagenbach: Berlin 20115, S. 79–​ 128, hier S. 111 f.

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Warburg, die Leiderfahrung vorangegangener Generationen „für die Nachfolger ethischen und praktischen Wert“34 behalten. Idolatriekritik im Warburg’schen Sinne wäre einzig als andauernde, bewusste und selbstkritische Anstrengung denkbar, die nur um den Preis der reflektierenden Auseinandersetzung zu haben ist und für jedes Bild aufs Neue aufgenommen werden muss. So verstanden, ließe sich Warburgs Verhältnis zur jüdischen Tradition als Transformation eines religiösen in ein kulturelles oder kulturpsychologisches Verständnis des Idolatrieverbots beschreiben.35

4. „die Schizophrenie des Abendlandes“. Antike als Idol par excellence Aufbauend auf den bisherigen Überlegungen soll im Folgenden gezeigt werden, wie sich Warburgs idolatriekritische Agenda in Methode und Gegenstand seiner Kulturwissenschaft niedergeschlagen haben. Dazu sei eingangs an Warburgs mahnende Worte hinsichtlich der methodischen Schwierigkeiten, die jede kulturwissenschaftliche Arbeit adressieren muss, erinnert: Jeder Wissenschaftler, der sich an ein kulturgeschichtliches Problem heranwagen muss, liest über dem Eingang seiner Werkstatt Goethes Wort: „Was Ihr den Geist der Zeiten heißt, das ist im Grund der Herren eigner Geist, in dem die Zeiten sich spiegeln. […] wenn wir dennoch eine Teilrevision dieses Spruches befürworten wollen, so veranlasst uns dazu die Einsicht, dass bisher methodisch nicht alles versucht wurde, um den „Geist der Zeiten“ aus den eigenen Stimmen der Zeit selbst ­herauszustellen.36

Über dem Eingang von Warburgs kulturwissenschaftlicher „Werkstatt“, der KBW, stand nun nicht das Wort Goethes, sondern der Name der griechischen Göttin der Erinnerung, Mnemosyne. In griechischen Lettern über den Türsturz im Vorraum eingraviert, gelangte man gleichsam nur nach dem Gang durch die Erinnerung in die Bibliothek. Dies war zugleich Mahnung und Aufforderung, sich die eigene Verwicklung in den kulturgeschichtlichen Prozess, den zu erforschen man sich anschickte, bewusst zu machen. Auf dieses Gespür für die eigenen blinden Flecken

3 4 WIA, FC, Aby Warburg an Max Warburg, 03.12.1915. 35 Dies ließe sich in ähnlicher Weise auch in Bezug auf einige Zeitgenossen Warburgs wie Ernst Cassirer, Siegmund Freud, Walter Benjamin, Theodor W. Adorno oder Max Horkheimer untersuchen; cf. die entsprechenden Aufsätze in: Picard (Hrsg.): Makers of Jewish Modernity (Anm. 6). Cf. auch die Beiträge von Lars Tittmar und Mario C. Schmidt in diesem Band. 36 Warburg, Aby: „Italienische Antike im Zeitalter Rembrandts“ [1926]. In: Id.: Nachhall der Antike. Aby Warburg. Zwei Untersuchungen. Vorgestellt von Pablo Schneider. Diaphanes: Zürich 2016, S. 69–​101, hier S. 69.

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verweist auch Warburgs Credo: „Wir suchen unsere Ignoranz auf und schlagen sie, wo wir sie finden.“37 Die Strategien, mit denen eine solche kritische Distanz aufrechterhalten werden sollte, waren vielfältig. Zunächst wurde sich jedem Gegenstand durch akribisches Quellenstudium genähert und der Radius des zu berücksichtigen Materials weit ausgespannt. Um ein Bild tatsächlich aus seinem Entstehungszusammenhang heraus zu verstehen, konnten Inventar-​und Rechnungsbücher der Auftraggeber oder die Behandlung ähnlicher Themen in Theater, Musik oder Dichtung, die die Künstler beeinflusst hatten, von entscheidender Bedeutung sein, wie Warburg in seinen Studien zur italienischen Frührenaissance immer wieder gezeigt hatte. Warburgs Unterfangen, „das bildhafte Phänomen des geschichteten Zusammenhangs der Mittelmeerbecken-​Kultur von Babylon ab bis auf den heutigen Tag zu erfassen“,38 erforderte es zudem, „durch etwa drei Jahrtausende hindurch“39 den geographischen Bogen von Indien, Mesopotamien und Ägypten bis nach Italien, Spanien und Nordeuropa zu spannen. Nur so ließe sich der Austauschprozess zwischen Ost und West, Nord und Süd nachvollziehen, in dessen Verlauf die europäische Kultur entstanden war. Außerdem war die an der KBW betriebene Forschungsarbeit konsequent interdisziplinär. Zum einen versammelte der Buchbestand Werke unterschiedlichster Disziplinen, die gemäß des „Gesetzes der guten Nachbarschaft“40 fächerübergreifend nebeneinander in den Regalen geordnet wurden. In der KBW fanden sich so Philologie und Archäologie, Anthropologie und Psychologie gemeinsam mit „Kunstgeschichte und Religionswissenschaft […] im Laboratorium kulturwissenschaftlicher Bildgeschichte an einem gemeinsamen Arbeitstisch [zusammen]“.41 Solcherart stellte die KBW den dort Forschenden über Disziplin-​, Epochen-​und Ländergrenzen hinweg alle bibliographischen, wissenschaftlichen und technischen

37 WIA.III.1.7.2.4.4. „Warburgismen“, exercise book, MS, 47 fols., fol. 21. Laut Warburgs Sohn spielt sein Vater hier auf das Motto General von Moltkes „Wir suchen den Feind auf und schlagen ihn, wo wir ihn finden“ an; Stimilli, Davide: „Aby Warburg’s Impresa“. Image Re-​vues. Histoire, anthropologie et théorie de l’art, Hors-​série 4, 2013, S. 1–​26, hier S. 4. 38 WIA, FC, Aby Warburg an Max Warburg, 13.06.1928. 39 Formulierung Warburgs, zit. aus: Saxl, Fritz: „Die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg in Hamburg“ [1930]. In: Warburg, Aby: Ausgewählte Schriften und Würdigungen, Hrsg. v. Wuttke, Dieter. Körner Verlag: Baden-​Baden 1996, S. 331–​334, hier S. 334. 40 Formulierung Warburgs, zit. nach: Saxl, Fritz: „Die Geschichte der Bibliothek Aby Warburgs (1886–​1944)“ [1943–​1944]. In: ibid, S. 335–​346, hier S. 337. Die Anordnung der Bücher in der KBW erfolgte thematisch-​assoziativ, fächer-​und epochenübergreifend, so dass sich beispielsweise Bücher über die Geschichte der Naturwissenschaft neben Werken über Magie, Astrologie oder Alchemie fanden, um den Übergang vom kultisch-​magischen Denken zur modernen Wissenschaft nachzuzeichnen. 41 Warburg, Heidnisch-​antike Weissagung, GS, I.2, S. 535.

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Mittel zur Verfügung, um „die geschichtlichen Tatsachen der Überlieferung zu untersuchen, die Wanderstraßen der Kultur aufzuzeigen, und zwar so allseitig als möglich, dann aber aus solcher Erkenntnis allgemeine Schlüsse auf die Funktion des sozialen Gedächtnisses der Menschheit zu ziehen“,42 wie Fritz Saxl formulierte. Zum anderen führte die KBW als „Stätte geistiger Gemeinschaft“43 Gelehrte verschiedenster Disziplinen zusammen, die in der Bibliothek, vor allem aber auch in den Vortrags-​und Publikationsreihen der KBW miteinander in Dialog traten.44 Dadurch fließe ihnen, so Warburg, durch die „geistesversammelnde Kraft“ des erforschten Problems „aus über-​einzel-​persönlichen Quellen eine Energie [zu], die aufklärende Antworten hervorruft, wenn wir nur […] die Fragen gemeinschaftlich aufnehmen und weitergeben.“45 Insofern fungierten die einzelnen Forschenden mit ihren jeweiligen Spezialgebieten füreinander nicht nur als wichtige Inspirations-​und Wissensquellen, sondern zugleich als gegenseitiges Korrektiv. Warburg selbst bezeichnete das Netzwerk der KBW als „Kollegium der kleinen Brückenbauer […] über den Lethestrom“46. In Bezug auf die idolatriekritische Methodik sei auch auf Warburgs Umgang mit dem visuellen Material selbst hingewiesen, insbesondere auf seinen Einsatz großer stoffbespannter Tafeln, auf denen er Reproduktionen der untersuchten Bilder in immer neue Konstellationen brachte und die die Grundlage seines Bilderatlas Mnemosyne bildeten. Dieses Vorgehen erlaubte es den Bildern, eine Eigendynamik und Wechselwirkung zu entfalten, sodass zuvor übersehene Details oder Korrespondenzen zwischen ihnen sichtbar werden konnten, die dem auf eine bestimmte Fragestellung fixierten Forscherblick sonst entgangen wären. Diese Re-​ Kontextualisierungen der Bilder, die sich auf rein visueller Ebene vollzog, stellte gleichsam ein in die Methode eingebautes Moment des Unberechenbaren dar. Dieses entzog sich der Kontrolle der Forschenden und damit der Projektion des „eignen Geistes“, d. h. der Erwartungen der kulturwissenschaftlichen Fragestellung, auf den Gegenstand. Auch die Wahl des Gegenstands seiner Kulturwissenschaft lässt sich im Sinne einer solchen idolatriekritischen Agenda verstehen. „Das Problem“, das Warburgs ganze Forschungsarbeit „kommandiert[e]‌“,47 war das Nachleben der Antike, genauer gesagt die Wiederaufnahme und Transformation antiker Bildformeln im europäischen Zivilisationsprozess. Besondere Aufmerksamkeit schenkte er 4 2 Ibid., S. 331. 43 Warburg, Aby: „Zum Vortrage von Karl Reinhardt über ‚Ovids Metamorphosen‘ in der Warburg Bibliothek am 24. Oktober 1924“. In: Id.: Werke in einem Band. Hrsg. v. Treml, Martin et al. Suhrkamp: Berlin 2010, S. 680 f., hier S. 680. 44 Ab 1922 erschienen die Studien der Bibliothek Warburg, 1923 folgten die Vorträge der Bibliothek Warburg. 45 Warburg, Ovids Metamorphosen, S. 680. 46 Ibid., S. 681. Lethe ist der Fluss des Vergessens in der Unterwelt der griechischen Mythologie. 47 WIA.III.1.7.2.4.3.2.2.3. Max Adolph Warburg, Notebook III, MS, 47 fols., fol. 26: „Das Problem, das mich kommandiert“.

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jenen bildhaften Ausdrücken höchster Erregungszustände von orgiastischer Ekstase bis zu menschenopfernder Raserei –​für die er den Ausdruck Pathosformeln prägte – und ihrer Wirkungsgeschichte. Die Antike bildet im Warburg’schen Kosmos jene Größe, mit deren Erbe sich alle nachfolgenden Epochen auseinander zu setzen haben. Da Warburg die Antike als „Urprägewerk europäischer Mentalität“48 verstand, stand für ihn außer Frage, dass deren dämonenfürchtige, orgiastisch-​gewaltsame Anteile ebenso zum kulturellen Erbgut Europas gehörten wie deren abstrahierend-​beruhigende Elemente. Er folgte darin den Einsichten Jacob ­Burckhardts und Friedrich Nietzsches in das „Doppelantlitz d. Antike als Apollinisch-​Dionysische“.49 In der seit dem 18. Jahrhundert durch Johann Winckelmann etablierten klassizistischen Idealisierung der Antike, die in ihren Bildwerken allein „eine edle Einfalt und eine stille Größe“50 erkennen wollte, erkannte er eine „Neuschöpfung der gelehrten humanistischen Kultur“,51 die dementsprechend als Idolisierung bezeichnet werden muss, die es zu kritisieren und revidieren galt. Die herausragende Stellung der Antike für Warburgs Kulturwissenschaft ergab sich aus ihrer Ambivalenz und der Ausgleichsleistung zwischen den rationalen und irrationalen Elementen menschlichen Verhaltens zur Welt, die sich in ihren Bildwerken ausdrückte. Das Verhältnis zur Antike fungierte für ihn als eine Art Gradmesser für den Auseinandersetzungsprozess einer Epoche mit ihrem paganen-​heidnischen Erbe und damit auch für den jeweiligen Stand der Zivilisation. Anhand der bildnerischen Anleihen an der Antike und dem „Studium der Wandlung antiker Mythologeme“52 ließe sich demnach ablesen, ob es sich um passive Übernahmen oder aktive Umgestaltungen handle, ob also das pagane Erbe von nachfolgenden Generationen als Problem reflektiert oder unkritisch rezipiert wurde. Der Philosoph Edgar Wind, Schüler und Mitarbeiter Warburgs, hat die Rolle der Antike für die Diagnose der Auseinandersetzungsbereitschaft nachfolgender Epochen mit der eigenen Vorgeschichte treffend auf den Punkt gebracht:

48 Formulierung Warburgs, zit. nach: Saxl, Kulturwissenschaftliche Bibliothek ­Warburg, S. 334. 49 WIA.III.102.3.1. Mnemosyne. Grundbegriffe I, 1929, green-​spring back, MS, 149 fols., Eintrag Warburgs vom 17.05.1929, fol. 102; Zum Verhältnis von Burckhardt, ­Nietzsche und Warburg cf. beispielsweise: Maikuma, Yoshihiko: Der Begriff der Kultur bei Warburg, Nietzsche und Burckhardt. Hain bei Athenäum: Königstein im Taunus 1985; und jüngst: Santini, Carlotta: „Zwischen Geschichte und Gedächtnis: Aby Warburg, Jacob Burckhardt und Friedrich Nietzsche“. In: Id. /​Jensen, Anthony K. (Hrsg.): Nietzsche on Memory and History. The Re-​Encountered Shadow. De Gruyter: Berlin /​Boston 2021, S. 279–​300. 50 Winckelmann, Johann Joachim: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst. Walther: Dresden /​Leipzig 17562, S. 21. 51 Warburg, Heidnisch-​antike Weissagung, GS, I.2, S. 491. 52 Formulierung Warburgs, zit. nach: Saxl, Kulturwissenschaftliche Bibliothek ­Warburg, S. 332.

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Und es ist nun für das Verhältnis einer Epoche zur Antike unendlich bezeichnend, in welcher räumlich-​ greifbaren Form sie diesen Pathosformeln Einlaß gewährt, ob sie das antike Kunstwerk in eine Sammlung stellt als Objekt wissenschaftlich-​ archäologischen Interesses, oder ob sie es in eine Gartenmauer einbaut als besitzanzeigendes Prunkstück, oder ob sie es gar in verkleinerter Kopie als Nippesfigur auf den Kamin setzt.53

Unter dieser Perspektive erscheint die Antike geradezu als Idol par excellence, entlang deren Rezeptionsgeschichte sich die „Bedeutung der Rückkehr und Wiederbelebung des Heidnischen in der Kultur als Quelle von Aufklärung oder Aberglauben“54 gleichermaßen nachverfolgen ließ. Warburg folgte dem Nachleben des paganen europäischen Erbes in seinen Studien zur Wiederaufnahme antiker Pathosformeln seit der Frührenaissance55 bis in die Malerei der Moderne und in seinen Untersuchungen zum Fortleben der „heidnischen Götterwelt“56 in der Astrologie, deren Wirkungsgeschichte er über den Sternenaberglaube im Zeitalter der Reformation und der Bauernkriege57 bis in den Kriegsaberglauben des Ersten Weltkriegs nachzeichnete. Dem Warburg’schen Blick offenbarte sich dergestalt die „Unfreiheit des abergläubigen modernen Menschen“,58 die Fortdauer des Irrationalen bis ins vermeintlich aufgeklärte Europa des 20. Jahrhunderts, das sich besonders in Krisensituationen immer wieder Bahn brach und in Gewaltausbrüchen ungebremst seine zerstörerische Wirkung

53 Wind, Edgar: „Warburgs Begriff der Kulturwissenschaft und seine Bedeutung für die Ästhetik“. Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft XXV, 1931, Beilagenheft zum Vierten Kongress für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, S. 163–​179, hier S. 176. 54 Wind, Edgar: „Offene Rechnungen. Aby Warburg und sein Werk“ [orig.: „Unfinished Business. Aby Warburg and his Work“. The Times Literary Supplement, 25.06.1971, S. 735 f.], zit. aus: Id.: Heilige Furcht und andere Schriften zum Verhältnis von Kunst und Philosophie, [Fundus-​Bücher, 174]. Hrsg. v. Krois, John Michael /​Ohrt, Roberto. Philo Fine Arts: Hamburg 2009, S. 374–​394, hier S. 374. 55 Cf. beispielsweise seine Studien: Sandro Botticellis „Geburt der Venus“ und „Frühling“ (1893), Florentinische Wirklichkeit und antikisierender Idealismus (1901) oder Der Eintritt des antikisierenden Idealstils in die Malerei der Frührenaissance (1914). 56 Warburg, Heidnisch-​antike Weissagung, GS, I.2, S. 490. 57 Cf. beispielsweise seine Studien: Die Planetenbilder auf der Wanderung von Süd nach Nord und ihre Rückkehr nach Italien (1913), Heidnisch-​antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten (1920) oder Orientalisierende Astrologie (1926). Warburgs Auseinandersetzung mit der Astrologie nimmt in seinem Werk eine zentrale Stellung ein, kann aber an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden; cf. hierzu: McEwan, Dorothea: „Aby Warburg’s (1866–​1929) Dots and Lines. Mapping the Diffusion of Astrological Motifs in Art History“. German Review 29, 2006, S. 243–​268; Newman, Jane O.: „Luther’s Birthday. Aby Warburg, Albrecht Dürer, and Early Modern Media in the Age of Modern War“. Daphnis 37, 2008, S. 79–​110. 58 Warburg, Heidnisch-​antike Weissagung, GS, I.2, S. 490.

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entfaltete.59 Damit brachte sich, wie es Peter Gay ausdrückte, „der Warburgstil“ gegen die „brutal[e]‌Intellektuellenfeindlichkeit und de[n] ordinären Mystizismus, welche die deutsche Kultur in den zwanziger Jahren mit Barbarei bedrohten,“60 in ­Stellung. So sehr Warburg die Bedeutung zunehmender Rationalität im Zivilisationsprozess betonte, hütete er sich vor einem teleologisch-​naiven Fortschrittsglauben. Der Blick auf die Geschichte des „Selbsterziehungsversuch[s]‌des europäischen Menschengeschlechts“61 zeigte ihm, dass das Verhältnis von Mythos und Logos ein dialektisches war und jeder zivilisatorische Fortschritt schnell in sein Gegenteil umschlagen konnte. „Athen will eben immer wieder neu aus Alexandrien zurückerobert werden“,62 wie Warburg formulierte, und das galt für den gesellschaftlichen wie für den individuellen Kampf um den Denkraum. Warburg prägte hierfür das Bild von sich selbst als „psychische[m] Seismographen“,63 der die Schwingungen empfing, die die KBW als „Antenne“ aufzeichnete, und „als Psychohistoriker die Schizophrenie des Abendlandes aus dem Bildhaften in selbstbiographischem Reflex abzulesen versuche“.64

5. „Jede Zeit hat die Renaissance der Antike, die sie verdient“. Warburg über Rembrandt und Dürer Warburgs Selbstbezeichnung als „Psychohistoriker“ drückt bereits aus, dass er seine wissenschaftliche Arbeit als diagnostisches Instrument benutzte, um aus

59 Cf. hierzu: Newman, Jane O.: „Entchantment in Times of War: Aby Warburg, Walter Benjamin, and the Secularization Thesis“. Representations 105(1), 2009, S. 133–​167. 60 Gay, Peter: Die Republik der Aussenseiter. Geist und Kultur in der Weimarer Zeit 1918–​1933. Fischer: Frankfurt am Main 1968, S. 56 f. 61 Formulierung Warburgs aus: Kulturwissenschaftliche Methode 1927/​1928; zit. nach: Bauerle: Gespenstergeschichten, S. 4. Möglicherweise lehnt sich Warburgs Formulierung an Lessings religionsphilosophisches Hauptwerk Die Erziehung des Menschengeschlechts (1780) an, das in einer Ausgabe von 1917 in der Bibliothek des Warburgs Instituts vorliegt. Warburg hat den entscheidenden Einfluss Lessings, dessen Laokoon er bereits während seiner Schulzeit gelesen hatte, auf sein Denken stets betont; cf. WIA.III.1.7.1.4. Warburg, undated autobiographical sketch, leading up to 1895; WIA.I.10.1.1. Warburgs Kopie: „Vom Arsenal zum Laboratorium“, Warburgs Address of 31. Dec. 1927 in form of an autobiographical sketch. 62 Warburg, Heidnisch-​antike Weissagung, GS, I.2, S. 534. 63 Warburg, Aby: „‚… ein phaenomenaler Scheinwerfer‘ Ein Brief an Gustav Pauli aus dem Jahr 1929“. In: Diers, Michael (Hrsg.): Portrait aus Büchern. Bibliothek Warburg und Warburg Institute. Hamburg · 1933 · London. Dölling und Galitz Verlag: Hamburg 1993, S. 82–​84, hier S. 83. 64 Eintrag Warburgs vom 03.04.1929, in: Id.: GS, Bd. VII: Tagebuch der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg. Hrsg. v. Michels, Karen /​Schoell-​Glass, Charlotte. Akademie Verlag: Berlin 2007, S. 429, Eintr. 249.

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dem Blick auf die Vergangenheit Rückschlüsse auf seine eigene Gegenwart zu ziehen. Eingeschrieben in seine kulturwissenschaftlichen Studien ist immer auch eine Stellungnahme zu den Geschehnissen und Krisen seiner eigenen Zeit, die erst sichtbar wird, wenn man ihren kultur-​und gesellschaftspolitischen Entstehungskontext berücksichtigt. Dies soll im Folgenden an zwei Studien Warburgs über zwei Künstler des 16. und 17. Jahrhunderts gezeigt werden, mit denen er unmittelbar auf deren Rezeption im 20. Jahrhundert reagierte. Die Rede ist vom völkisch-​ nationalistischen Kult um Albrecht Dürer und ­Rembrandt van Rijn, der um die Jahrhundertwende einen Höhepunkt erreichte und als eine Art Paradebeispiel für den Rückfall in Irrationalismus gelten kann. Während die deutsche Dürerverehrung bereits im 17. Jahrhundert einsetzte und sich seit der Romantik „zu einem regelrechten Dürerkult“65 gesteigert und den Maler fest als nationales Idol etabliert hatte, erfolgte die Mystifizierung Rembrandts zur Ikone nordischer „Tiefe und Wahrhaftigkeit“66 erst im späten 19. Jahrhundert. Der wohl folgenreichste und auflagenstärkste Ausdruck dieser Idolisierung war August Julius Langbehns Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen (angelehnt an Nietzsches Schopenhauer als Erzieher).67 Warburg hatte von der Schrift bereits im Erscheinungsjahr 1890 Kenntnis genommen, wie ein Brief an seine Mutter belegt, in dem er sich beeindruckt zeigt, dass sein Großvater Langbehns Buch lese.68 Er selbst verwahrte es später allerdings im sogenannten „Giftschrank […] für ihm besonders verhasste Autoren“69 zusammen mit anderen einschlägigen Namen der antisemitisch-​rassistischen Kulturkritik wie Paul de Lagarde, Houston Chamberlain und Arthur de Gobineau.70 Denn Langbehn fügte seinem Buch mit zunehmender Auflagenzahl (1891 lag bereits die 37. vor) auch zunehmend offen judenfeindliche Passagen hinzu, was wohl auf den Einfluss des antisemitischen Publizisten­ Theodor Fritsch zurückging, für dessen „Art der Antisemitenakquisition“71

65 Grebe, Anja: „‚Dürer als Führer‘. Zur Instrumentalisierung Albrecht Dürers in völkischen Kreisen“. In: Puschner, Uwe (Hrsg.): Völkisch und national: zur Aktualität alter Denkmuster im 21. Jahrhundert. Wissenschaftliche Buchgesellschaft: Darmstadt 2009, S. 379–​399, hier S. 389. 66 Ressos, Xenia: „‚Rembrandt als Erzieher‘. Symptomatik und Paradoxon einer Künstlerrezeption im Zeitalter des Kulturpessimismus“. In: Bstieler, Michaela et al. (Hrsg.): Kunst als gesellschaftskritisches Medium. Wissenschaftliche und künstlerische Zugänge. Transcript: Bielefeld 2019, S. 57–​71, hier S. 57. 67 Langbehn, August Julius: Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen. Verlag C. L. Hirschfeld: Leipzig 1890. 68 WIA, FC, Aby Warburg an Charlotte Warburg, 13.06.1890. 69 WIA.III.1.7.2.4.4. „Warburgismen“, exercise book, MS, 47 fols., fol. 22. 70 Schoell-​Glass, Warburg und der Antisemitismus, S. 147. 71 Niemeyer, Christian: „Über Julius Langbehn (1851–​1907), die völkische Bewegung und das wundersame Image des ‚Rembrandtdeutschen‘ in der pädagogischen Geschichtsschreibung“. In: Kaufmann, Sebastian (Hrsg.): Nietzsche und die Konservative Revolution. De Gruyter: Berlin /​Boston 2018, S. 35–​50, hier S. 43.

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Langbehn empfänglich war.72 Doch strotzt bereits die Erstausgabe dieser „Rhapsodie des Irrationalismus“73 von der rassistischen Ideologie des Autors, der den Maler als Folie für seine reaktionäre, antimoderne Gesellschaftskritik benutzt, die im Aufruf zur Wiedergeburt des „Deutschtums“ als „vornehmster nationaler Aufgabe“74 gipfelt. Dazu müsse sich vor allem die deutsche Jugend Rembrandt zum Erzieher nehmen, denn „als echter Arier“ mit „aristokratische[m]‌Blut [, das] von allem menschlichen Blut […] das am meisten sittliche ‚Gold‘ in sich hat“, könne sein Geist „die germanische Eigenart“ neu beleben.75 Dieselbe Konstruktion eines vermeintlich Eigenen durch Abgrenzung, Abwertung und Abwehr eines imaginierten, „entarteten“ Fremden wiederholt sich in der von Langbehn und Momme Nissen verfassten Schrift Dürer als Führer. Vom Rembrandtdeutschen und seinem Gehilfen. Diese erschien zuerst 1904 im Kunstwart, bevor 1928 eine unveränderte, nun aber altertümelnd in Fraktur gedruckte, reich illustrierte Ausgabe folgte.76 Sie beschwört Dürer als „monumentalen Volkskünstler“, der durch seine „Bodenwüchsigkeit und Seelenstärke geradezu das Rückgrat der deutschen Kunst“77 verkörpere, und schließt schwülstig mit dem Anruf: „­Rembrandts Herz und Dürers Geist leite uns –​zur Heimatkunst, zur Heldenkunst. Möge Dürer […] uns zum Siege führen –​über inländische Mache, über ausländische Mode.“78 Es mag überraschen, dass Warburg mit Langbehns „Gehilfen“ spätestens seit 1902 einen knappen Briefwechsel unterhielt; schon im November 1900 lobte er einen seiner Aufsätze in der Hamburger Wochenschrift für deutsche Kultur. Der

72 Fritsch war der Autor des Antisemiten Katechismus (1887), des Handbuchs der Judenfrage (1907), Herausgeber des antisemitischen Propagandablatts Der Hammer und Angeklagter in zwei langjährigen Prozessen, die Max Warburg wegen Verleumdungen und übler Nachrede gegen ihn führte; WIA.III.2.1. Zettelkästen, ZK 66 Religionswesen (51–​54), Rubrik Judentum Mod[erne], Zeitungsausschnitt aus der Vosschen Zeitung vom 5.-​6.12.1926. Aby Warburg wurde in den zweiten Prozess unmittelbar verwickelt, weil Fritsch im März 1926 einen Privatbrief Warburgs im Hammer drucken und der II.-​Instanz vorlegen ließ, um dessen „Mentalität zu illustrieren“; Eintrag Warburgs vom 24.09.1926, GS, VII, S. 13, Eintr. 29; cf. hierzu auch: Schoell-​Glass, Warburg und der Antisemitismus, S. 178 ff., S. 181 ff. 73 Stern, Fritz: Kulturpessimismus als politische Gefahr: Eine Analyse nationaler Ideologie in Deutschland [orig.: Politics of Cultural Despair, 1961]. Klett-​Cotta Verlag: Stuttgart 2005, S. 144. 74 Langbehn, Rembrandt als Erzieher, S. 378. 75 Ibid., S. 328 f. 76 Nissen, Benedikt Momme: „Dürer als Führer“. Kunstwart 1.17 (15), 1904, S. 93–​102; Id. /​Langbehn, August Julius: Dürer als Führer. Vom Rembrandtdeutschen und seinem Gehilfen (Julius Langbehn und Momme Nissen) Mit einem Brief von Hans Thoma und achtzig Bildern in Kupfertiefdruck nach Dürer. Verlag Josef Müller: München 1928. 77 Nissen, Dürer als Führer (1928), S. 12. 78 Ibid., S. 16.

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Lotse und schickte ihm 1910 sogar eine seiner eigenen Studien.79 Was diese Schriften für die vorliegende Untersuchung interessant macht, ist, dass Langbehn und Nissen die Erneuerung des deutschen Volkes explizit als Wiedergeburt imaginieren, die sich nicht politisch, sondern auf der Ebene der Kultur als „Bildung durch ­Bilder“80 vollzieht. Die Führerrolle, die Rembrandt und Dürer für dieses Unterfangen zugeschrieben wird, leiten beide nun gerade aus deren „urdeutscher“ Charakterstärke ab, die sie auch der Antike gegenüber immun mache. So stellt Langbehn in der Ausgabe von 1922 als Charakteristikum Rembrandts heraus, dass sich dieser „nicht direkt [von den antiken Bildwerken]“ beeinflussen ließ und deshalb, weil er „[das Fremde] von sich fernhielt, […] vorbildlich für das deutsche Volk“ sei.81 Gleichermaßen, wenn auch versteckter, reklamiert Nissen Dürer als „germanischen Recken“, dem jede „praxitelische82 Seelenstimmung“ fern läge, und gerade darin gründe sein „Großtypus“, der Genies wie Rafael und Tizian angeregt habe.83 Im Kontext dieser auch in der Öffentlichkeit ausgetragenen kulturpolitischen Debatte um „das Deutsche in der deutschen Kunst“84 hielt Warburg 1905 seinen Vortrag über „Dürer und die italienische Antike“85 auf dem Philologenkongress in Hamburg.86 Er konzentrierte sich darin auf eben jene Auseinandersetzung Dürers mit der Antike, die Nissen negiert hatte, und wies nach, dass diesem für seine Handzeichnung „Tod des Orpheus“ (1494) ein Kupferstich aus dem Kreise ­Mantegnas als Vorbild gedient hatte, dem wiederum antike Vasenbilder des Themas zugrunde

79 WIA, FC, Aby Warburg an Max Warburg, 13.11.1900; WIA, GC, Momme Nissen an Aby Warburg, 31.05.1910. Es handelte sich um Warburgs Aufsatz Die Wandbilder im Hamburgischen Rathaussaale (1910). Nissen taucht auch in Warburgs Briefwechsel mit dem Hamburger Bankier Friedrich Bendixen auf, der Nissen förderte, sich aber seit 1906 vermehrt über den „unseligen Momme N.“ und seine dreister werdenden Bitten um Geld beklagte; WIA, GC, Fritz Bendixen an Aby Warburg, 20.09.1906. 80 Grebe, Dürer als Führer, S. 387. 81 Langbehn, August Julius, Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen. Verlag C. L. Hirschfeld: Leipzig 192250–​55, S. 77. 82 Praxiteles (ca. 390 v. Chr.–​ca. 320 v. Chr.) war einer der bedeutendsten Bildhauer der griechischen Antike. 83 Nissen, Dürer als Führer (1928), S. 8, 12. 84 So der Titel von Volker Gebhardts 2004 beim Kölner DuMont Verlag erschienenen umfassende Studie, die der Geschichte dieser Frage nachgeht; cf. hierzu auch: Grebe, Dürer als Führer, S. 385 f. 85 Warburg, Aby: „Dürer und die italienische Antike“ [1905]. In: Id.: GS, I.2, S. 443–​449 (zuerst veröffentlicht in: Verhandlungen der 48. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner in Hamburg 1905, Leipzig 1906, S. 55–​60). 86 Im gleichen Jahr fand außerdem die von ihm kuratierte und mit einem Vortrag eröffnete Ausstellung „Dürer im Spiegel seiner selbst und seiner Zeit. 100 Handzeichnungen“ im Hamburger Volksheim statt; cf. hierzu: Russell, Mark: „Aby ­Warburg and the Public Purposes of Art in Hamburg“. Canadian Journal of History, 2004, S. 297–​323.

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lagen. Die diesen entnommene „pathetisch gesteigerte“87 Gebärdensprache der Figur des Orpheus und der ihn zu Tode prügelnden Mänaden gelangte über Mantegna zu Dürer, was bewies, dass der Austauschprozess zwischen Nord und Süd in beide Richtungen ging. Hier brach also der Inbegriff heidnischer, mordender Raserei unverändert in die Bildsprache der humanistisch-​christlichen Renaissance ein. Zugleich betonte Warburg aber, dass Dürer der Antike „zu verschiedenen Zeiten [seines Schaffens, E.R.] verschiedenes Recht zugestanden“ habe. Dadurch sei „das Erbe der Vergangenheit durch Neuerwerb zu seinem eigensten Besitz“ und Fundus für eigene künstlerische Gestaltungen geworden.88 Diese reflektierend-​ schöpferische Auseinandersetzung beweise, dass man an die Frage des Nachlebens der Antike nicht mit der „kriegspolitischen Geschichtsauffassung […] ‚entweder Sieger oder Besiegter‘“89 herantreten dürfe, sondern für jeden Einzelfall akribisch untersuchen müsse, wie das antike Erbe verarbeitet worden war. Etwa zwanzig Jahre später, am 29. Mai 1926, hielt Warburg seinen Vortrag über „Italienische Antike im Zeitalter Rembrandts“ im frisch eröffneten Neubau der KBW. Warburg führte seinem Publikum zunächst an ausgewählten Beispielen vor Augen, wie niederländische Maler des 17. Jahrhunderts die von italienischen Künstlern importierten antiken Pathosformeln in ihren Werken übernommen hatten. Er zeigte, dass die ursprünglich in der Antike gefundenen Ausdrucksformen höchster Leid-​und Erregungszustände durch die neuzeitliche Rezeption zu Formeln geronnen waren, deren vormalige Sinngehalte bereits mehrfach überformt oder invertiert worden waren. So wurde beispielsweise dieselbe Gebärde, die ursprünglich Raserei ausdrückte, für die Darstellung tiefster Trauer verwendet. Nicht nur finde dadurch keine Auseinandersetzung mit den darzustellenden Emotionen statt, weil nicht mehr nach einem eigenen Ausdruck gesucht werde; auch die „Zähigkeit des Nachlebens der Antike“, besonders ihres „orgiastisch-​kultischen“ Erbteils, bliebe unerkannt.90 Dieser harschen Diagnose stellte Warburg nun die Werke Rembrandts gegenüber. Wie zuvor Dürer präsentiert ihn Warburg als schöpferische Persönlichkeit, die dem antiken Erbe nicht einfach zustimmend oder ablehnend gegenübertrat, sondern sich bewusst-​reflektierend mit ihm auseinandersetzte und so zu einem eigenständigen Ausdruck gelangte. So stelle die „neue Sachlichkeit Rembrandts“91 gerade nicht den Höhepunkt des tragischen Geschehens dar, sondern den Moment vor der Handlung, wie er an dessen Verschwörung des Claudius Civilis (1661–​1662) zeigte.92 Dieser hatte im 1. Jahrhundert n. Chr. einen Aufstand gegen die Römer 8 7 Warburg, Dürer und die italienische Antike, S. 446. 88 Ibid., S. 446, 449. 89 Ibid., S. 449. 90 Warburg, Italienische Antike im Zeitalter Rembrandts, S. 79. 91 Ibid. 92 Zur geradezu emblematischen Bedeutung, die Rembrandts Claudius Civilis für ­Warburg hatte, cf. Hadjinicolaou, Yannis: „Die Neue Sachlichkeit Rembrandts. Aby Warburgs Claudius Civilis“. Journal of Art Historiography 19, 2018, S. 1–​19.

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angeführt und wurde in den Niederlanden als Nationalheld verehrt. Rembrandt hatte das Gemälde für das Amsterdamer Rathaus geschaffen, doch stieß es auf heftige Ablehnung, weil es, so Warburg, nicht den offiziellen Repräsentationsansprüchen „nationaler Empfangskunst“93 entsprach. Denn Rembrandt lieferte nicht die triumphale Schilderhebung nach dem blutigen Sieg, sondern die heimliche Schwurszene vor dem Aufstand. Warburg sah darin eine Aufforderung zur Reflexion, zum Innehalten und Abwägen der eigenen Emotionen, bevor sich diese reflexartig in (gewalttätiger) Handlung entluden. Worauf Rembrandts Gemälde, laut Warburg, verwies war … die ewig flüchtende Pause zwischen Antrieb und Handlung, es steht bei uns, wie lange wir mit Hilfe der Mnemosyne die Atempause dehnen können. Man darf der Antike die Frage „klassisch-​ruhig“ oder „dämonisch-​erregt“ nicht mit der Räuberpistole des Entweder-​Oder auf die Brust setzen. Es hängt eben vom subjektiven Charakter der Nachlebenden, nicht vom objektiven Bestand der antiken Erbmasse ab, ob wir zu leidenschaftlicher Tat angeregt oder zu abgeklärter Weisheit beruhigt werden. Jede Zeit hat die Renaissance der Antike, die sie verdient.94

Im Unverständnis seiner Zeitgenossen gegenüber den Bildfindungen Rembrandts zeigten sich Warburg die „konservative Tendenzen“95 der Rathausherren, die eine reflektierende Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit zugunsten eines verherrlichenden Nationalmythos ablehnten und für dessen malerische Repräsentation jene Künstler bevorzugten, die in ihren Werken die antiken Pathosformeln einsetzten. Zusammen gelesen veranschaulichen die beiden Vorträge eindrücklich, wie Warburg über seine Studien zum Nachleben der Antike Stellung zum aktuellen kulturpolitischen Diskurs nahm. Er führte seinem Publikum vor Augen, wie das antike Erbe zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich verhandelt wurde und welche Rückschlüsse dies auf die jeweils zugrunde liegende Geisteshaltung zuließ. Er konfrontierte die idolisierende Vereinnahmung Dürers und Rembrandts mit deren aktiver Auseinandersetzung mit antiken Bildwerken und zeigte, wie breit das europaweite Netzwerk kultureller Austauschprozesse war, in das beide Maler eingebunden waren. Zugleich gab er mit seinen Studien zwei Beispiele dafür, wie die Antike zum Idol werden konnte. Langbehn und Nissen diffamierten sie als das Fremdartige, dessen zersetzenden Einfluss die „wahre, deutsche Kunst“ zu überwinden hätte, und sie erfüllte in dieser verzerrten Gestalt eine wichtige Funktion für die nationalistisch-​rassistische Mythisierung der eigenen Vorgeschichte. In den offiziellen niederländischen Repräsentationsbildern hingegen wurden die antiken

9 3 Warburg, Italienische Antike im Zeitalter Rembrandts, S. 83. 94 Ibid., S. 101. 95 Schneider, Pablo: „Die Zivilisation vorantreiben. Bilder, Motivwanderungen und Humanitätsidee im Denken Aby Warburgs“. In: Warburg, Nachhall der Antike, S. 103–​130, hier S. 119.

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Pathosformeln als triumphale, aber eben leere Gesten für die staatliche Glorifizierung der nicht weniger konstruierten eigenen Vergangenheit instrumentalisiert. Wie unmittelbar die Bezüge seiner Studien zur aktuellen politischen Situation waren, zeigt ein Eintrag Warburgs in das Tagebuch der KBW vom 31. Dezember 1926, der sich auf die Übernahme römisch-​antiker Herrschaftssymbole, der fasces, als Parteiabzeichen von Mussolinis Partito Nazionale Fascista bezieht: „Die Antike als Marke [fasces] führt in Italien zur Offenbarung des schizophrenen ­Machtfimmels.“96 Durch die Ignoranz gegenüber historischer Forschung und die Verweigerung kritischer (Selbst)Reflexion entging der rassistisch-​ nationalistischen Kulturkritik außerdem das, was für Warburg an Dürer und Rembrandt tatsächlich vorbildhaft war, nämlich ihre humanistisch-​reflektierende Geisteshaltung, die sich gerade darin bewies, dass sie gegenüber den Vereinnahmungen und Überformungen durch die frühneuzeitliche Antikenrezeption eigene Positionen einnahmen. Die Aufforderung zur aktiven Auseinandersetzung und Reflexion war denn auch ­Warburgs erklärtes Ziel, wie er im Anschluss an seinen Rembrandt-​Vortrag in einem Brief schrieb: Ich […] konnte schließlich in meinem Vortrag […] dem Gedächtnis meiner Hamburger Mitbürger den Claudius Civilis so einhämmern, dass sie ihn nicht vergessen werden. […] indessen sind mir ernsthafte Proteste meiner Patienten nicht zu Ohren gekommen, dagegen einige Zustimmung von Menschen, auf deren Einverständnis ich Wert lege.97

In Warburgs Bezeichnung seiner Zuhörerschaft als Patienten klingt bereits seine spätere Diagnose der krankhaften „Schizophrenie des Abendlandes“ zwischen Magie und Logos an, wodurch jene dauerhaft der heilsamen Mnemosyne bedurften, um „Klarheit über ihren seelischen Ort“ zu gewinnen. Sie verweist aber auch auf einen von seiner wichtigsten Mitarbeiterin und Assistentin Gertrud Bing überlieferten Ausspruch Warburgs, in dem er auf die historische Erfahrung des Judentums verwies, die ihn in besonderer Weise dazu befähige, bei dieser Aufgabe zu helfen: „Wir sind eben schon 2000 Jahre länger Patienten der Weltgeschichte ­gewesen.“98

9 6 Eintrag Warburgs vom 31.12.1926, GS, VII, S. 39, Eintr. 96. 97 WIA, GC, Aby Warburg an Jacques Dwelshausen, 01.06.1926, zit. aus: Schneider, Die Zivilisation vorantreiben, S. 123. 98 Gertrud Bing an Hanns Swarenski, 29.05.1933, Staatsbibl. Berlin, Nachl. 270 (G.u.H. Swarenski), Mp. 423, zit. aus: Vorholt, Hanna: „‚Das was ich als Jude vertrete, kann ich auch in England oder Frankreich sein‘. A letter by Gertrud Bing to Hanns Swarzenski of May 1933“. In: Fleckner, Uwe et al. (Hrsg.): Vorträge aus

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6. „durchaus nicht Gegenstand einer zielstrebigen besonderen Aufmerksamkeit“. Fazit Die hier vorgestellten Überlegungen zu Warburgs Kulturwissenschaft als Idolatriekritik zeigen, wie weitreichend und komplex der Einfluss der jüdischen Tradition auf seine Methode war und wie wesentlich ihre Berücksichtigung gerade auch im Hinblick auf die Verortung Warburgs im akademischen Diskurs deutsch-​jüdischer Geistes-​und Wissenschaftsgeschichte ist. Gezeigt wurde auch, wie eine solche Untersuchung aussehen kann, die ganz im Sinne von Warburgs Verständnis der Kulturwissenschaft die Form einer „historischen Detektivarbeit“99 annehmen muss. Zentrale Kategorien der Warburg’schen Methode wie das Nachleben der Antike oder Mnemosyne, die in der Forschungsliteratur stets betont und eingehend untersucht wurden und werden, können so um eine ihrer wichtigsten Quellen ergänzt werden. Mehr noch, Warburgs Apell zu einer aktiven, bewussten und selbstkritischen Auseinandersetzung mit dem, was uns durch Bilder überliefert wird und uns in ihnen entgegentritt, entfaltet seine volle Wirkung erst vor dem Hintergrund der idolatriekritischen Agenda seiner Kulturwissenschaft. Zuletzt erhellt sich unter dieser Perspektive auch, worin für Warburg die Tradition „deutsch-​jüdischer Geistigkeit“ bestand, in der er sich selbst und die Arbeit der KBW als Ausbildungsstätte der „Vertreter der nächsten Generation“ verortete.100 Wie der Antike darf man auch Warburgs Verhältnis zum Judentum nicht die „Räuberpistole des Entweder-​Oder“101 auf die Brust setzen, denn eine explizite Auseinandersetzung mit oder Herleitungen aus jüdischen Quellen wird man in seinen Schriften nicht finden. Dass jüdische Traditionen sein Forschen und Denken deshalb nicht weniger entscheidend prägten, hat niemand deutlicher gemacht als Warburg selbst: Dass das deutsche Judentum als wesentliche Funktion heraustreten und anerkannt werden würde war mir selbstverständlich, aber durchaus nicht Gegenstand einer zielstrebigen besonderen Aufmerksamkeit. Ich liess mich von geisteswissenschaftlichen Problemen auf bildhaft-​geschichtlicher Grundlage einfach kommandieren.102

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dem Warburg-​Haus, Bd. 12: The Afterlife of the Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg. The Emigration and the Early Years of the Warburg Institute in London. De Gruyter: Berlin 2015, S. 23–​37, hier S. 31; auch in: Bing, Gertrud: „Aby M. W ­ arburg“. In: Warburg, Ausgewählte Schriften und Würdigungen, S. 455–​464, hier S. 464. Warburg, Aby: „Flandrische Kunst und florentinische Frührenaissance“ [1902]. In: Id.: GS, Bd. I.1: Die Erneuerung der heidnischen Antike. Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Geschichte der europäischen Renaissance. Hrsg. v. Bredekamp, Horst et al. Akademie Verlag: Berlin 1998, S. 185–​206, hier S. 194. Eintrag Warburgs vom 30.05.1928, GS, VII, S. 263, Eintr. 67. Warburg, Italienische Antike im Zeitalter Rembrandts, S. 101. WIA, FC, Aby Warburg an Max Warburg, 13.06.1928.

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Archivquellen Folgende Quellen befinden sich im Archiv des Londoner Warburg Institute (WIA), bei dem auch das Copyright für die im Text zitierten Briefe und Aufzeichnungen liegt. Family Correspondence (FC) General Correspondence (GC) WIA.I.10.1.1. „Vom Arsenal zum Laboratorium“, Warburg’s Address of 31. Dec. 1927. WIA.III.2.1. Zettelkästen, ZK 66 Religionswesen (51–​54). WIA.III.1.7.1.4. Aby Warburg, undated autobiographical sketch, leading up to 1895. WIA.III.1.7.2.3.2. A second list of Warburg anecdotes dated 15.12.1929, TS, 4 fols. WIA.III.1.7.2.3.6.1. „Erinnerungen von Max Warburg“, TS, 9 fols. WIA.III.1.7.2.4.3.2.2. Max Adolph Warburg, Notebook II, MS, 50 fols. WIA.III.1.7.2.4.3.2.2.3. Max Adolph Warburg, Notebook III, MS, 47 fols. WIA.III.1.7.2.4.4. „Warburgismen“, exercise book, MS, 47 fols. WIA.III.102.3.1. Mnemosyne. Grundbegriffe I, 1929, green-​spring back, MS, 149 fols. WIA.III.102.4.1. Mnemosyne. Grundbegriffe II, 1929, Notes, green spring back, MS, 129 fols.

Bibliografie Bauerle, Dorothee: Gespenstergeschichten für ganz Erwachsene. Ein Kommentar zu Aby Warburgs Bilderatlas Mnemosyne. Lit Verlag: Münster 1988. Bing, Gertrud: „Aby M. Warburg“. In: Warburg, Aby: Ausgewählte Schriften und Würdigungen, Hrsg. v. Wuttke, Dieter. Körner Verlag: Baden-​ Baden 1996, S. 455–​464. Bredekamp, Horst: Aby Warburg, der Indianer: Berliner Erkundungen einer liberalen Ethnologie. Wagenbach: Berlin 2019. Despoix, Philippe: „Dia-​Projektion mit freiem Vortrag. Warburg und der Mythos von Kreuzlingen“. Zeitschrift für Medienwissenschaft 2, 2014, S. 18–​36. Dohmen, Christoph: Das Bilderverbot. Seine Entstehung und seine Entwicklung im Alten Testament. Athenäum: Frankfurt am Main 19872. Freedberg, David: „Pathos a Oraibi: Ciò che Warburg non vide“. In: Cieri Via, Claudia /​Montani, Pietro (Hrsg.): Lo sguardo di Giano: Aby Warburg fra tempo e memoria. N. Aragno: Turin 2004, S. 569–​ 611; engl. Übersetzung „Pathos at Oraibi: What Warburg Did Not See“ online abrufbar unter: https://​ acad​emic​comm​ons.colum​bia.edu/​doi/​10.7916/​D8JW8​MPD/​downl​oad (zuletzt aufgerufen am 15.05.2022). Gay, Peter: Die Republik der Aussenseiter. Geist und Kultur in der Weimarer Zeit 1918–​1933. Fischer: Frankfurt am Main 1968.

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Die Adaption des jüdischen Bilderverbots in der Dialektik der Aufklärung. Zum Verhältnis von Sprache, Aufklärung und Offenbarung Von mir werden keine neuen Götzen aufgerichtet. Götzen umwerfen –​das gehört zu meinem Handwerk. Nietzsche, Ecce Homo

Die Dialektik der Aufklärung,1 die Theodor Wiesengrund Adorno und Max ­Horkheimer im amerikanischen Exil zu einer Zeit verfasst haben, zu der sich in Europa die unvorstellbarsten Katastrophen ereigneten, zählt meiner Einsicht nach zu den grundlegenden Quellen für Kritische Theorie. Das bedeutet aber nicht, dass man sie wie einen Katechismus lesen kann. Der Untertitel lautet: Philosophische Fragmente, denn diese mögen zwar zu den ersten Versuchen gehören, die das Grauen, das sich auf der Welt ereignet hat, zu begreifen, die letzte gültige Erklärung liefern sie allerdings nicht. Die Geschichte schreitet fort und so auch das Denken über sie. Heute scheint es möglich, auch die gewagtesten Vermutungen in der Dialektik der Aufklärung auf eine andere Art und Weise als in der Vergangenheit zu beachten. Eine der verblüffendsten Überlegungen in der Dialektik der Aufklärung sieht eine Ähnlichkeit zwischen dem jüdischen Bilderverbot und Hegels philosophischem Begriff der ‚bestimmten Negation‘. Lange Zeit wurde diese Überlegung jedoch nicht zur Kenntnis genommen. In der jüngeren Forschungsliteratur zeigt sich immer öfter ein Bewusstsein dafür, wie wichtig das jüdische Bilderverbot für die Kritische Theorie ist. Häufig wird es philosophisch als eine Art letzter Schritt gedeutet, in welchem der dialektische Denkprozess terminiert und der den Kern dieses theoretischen Ansatzes schützt, indem er eine Idee des Transzendenten errettet. Dieser Eindruck mag dadurch zustande kommen, dass Adornos Überlegungen in der Negativen Dialektik zum Schluss des Kapitels über Begriff und Kategorien, welches sich insbesondere den erkenntnistheoretischen Problemen widmet, in eine Konvergenz von einem ‚bilderlosen Materialismus‘ und dem ‚theologischen Bilderverbot‘ münden. Sie verbiete, den utopischen Zustand ‚positiv auszumalen‘, so Adorno. Worin genau besteht aber in diesem Materialismus der „Gehalt seiner Negativität“?2 Soll das 1 Adorno, Theodor W. /​Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung (1947). In: ­Horkheimer, Max: Gesammelte Schriften. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1987, Bd. 5, S. 11–​290. 2 Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik (1966). In: Gesammelte Schriften. ­Suhrkamp: Frankfurt am Main 1970, Bd. 6, S. 7–​412, hier S. 207.

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bedeuten, dass die Idee Gottes, wie sie vom theologischen Bilderverbot herrührt, in einen philosophischen Begriff der Negativität überführt wird, der nicht einmal durchs dialektische Denken aufgehoben werden kann? Kehrt in einem solchen Materialismus nicht etwas von der Positivität des absoluten Geistes wie im Hegelschen Idealismus, nur unter dem Denkmantel der Negativität, wieder? Etabliert diese Negative Dialektik letztlich ein neues absolutes Prinzip? Ist jener Materialismus also nichts anderes als ein verkapptes metaphysisches Denken?3 In Wirklichkeit hat die Adaption des jüdischen Bilderverbots in der Kritischen Theorie eine ganz andere Funktion. Deutungen, wie jene, ergeben nur dann einen Sinn, wenn man davon ausgeht, dass die Möglichkeit reiner Erkenntnis besteht –​einer Erkenntnis, die ihre Objekte unabhängig von jeglicher praktischen Dimension bestimmen kann. Adornos Einschätzung beschreibt das glatte Gegenteil: „Der Gedanke ohne Bedürfnis, der nichts will, wäre nichtig; aber Denken aus dem Bedürfnis verwirrt sich, wenn das Bedürfnis bloß subjektiv vorgestellt wird. Bedürfnisse sind ein Konglomerat des Wahren und Falschen“.4 Darum ist der entscheidende Punkt in jener von Adorno beschriebenen Konvergenz von Materialismus und Theologie derjenige, dass ein radikaler Materialismus Freiheit, den Kern der idealistischen Philosophie, nur in seiner radikalen Verwirklichung denken kann: als Abschaffung des Todes, sodass jenes Element der theologischen Tradition in sensu proprio genommen werden muss und nicht nur in sensu allegorico, wie Schopenhauer es vielleicht ausdrücken würde. Religion nur als Erklärung der Welt in sensu allegorico zu verstehen, ist die übliche Sichtweise der modernen Philosophie auf die Religion. Die moderne Philosophie, als Resultat der Aufklärung, beansprucht, genau zu wissen, wie die Welt erkannt oder nicht erkannt werden kann. Die Kritische Theorie sieht darin nicht nur einen gewagten, sondern vielmehr einen gefährlichen Anspruch: „Seit je hat Aufklärung im umfassenden Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.“5 Mit diesen Gedanken beginnt der erste Teil der Dialektik der Aufklärung, der sich dem Begriff der Aufklärung widmet. Zu entfalten, worin die Widersprüche und Verstrickungen der Aufklärung bestehen, ist Thema des ganzen Buches. Das Verhältnis von Aufklärung und jüdischem Bilderverbot ist dabei ein Element, und zwar eines, anhand dessen jene Verstrickungen sehr deutlich zu Tage gefördert werden. Anzudeuten, warum Adorno und H ­ orkheimer große Zweifel an der Art und Weise hegen, wie die moderne Aufklärung die Welt

3 Diese These hat Michael Theunissen prominent vertreten: „In der Metaphysik soll der Negativismus den Halt gewinnen, den er anders nicht findet“ (Thenuissen, Martin: „Negativität bei Adorno“. In: von Friedeburg, Ludwig /​Habermas, Jürgen (Hrsg.): Adorno-​Konferenz 1983. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1983, S. 41–​65, hier S. 57). 4 Adorno, S. 100. 5 Adorno /​Horkheimer, S. 25.

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zu erklären trachtet, und gleichzeitig Aufklärung als Praxis zur Befreiung des Menschen doch nicht aufgeben, ist zwar nicht das Ziel, aber doch ein Nebeneffekt dieses Essays. Das zentrale Anliegen ist zu zeigen, wie das jüdische Bilderverbot in der Dialektik der Aufklärung adaptiert wird, und zwar mit einer möglichst starken Fokussierung auf die erkenntnistheoretischen Zusammenhänge. Das jüdische Bilderverbot wird in der Kritischen Theorie nicht nur auf eine bestimmte Weise adaptiert, vielmehr ist es umgekehrt so, dass Kritische Theorie ohne Eingedenken des jüdischen Bilderverbots keine ist. Noch in einem Gespräch mit Helmut Guminor aus dem Jahre 1970 sagt Horkheimer, das jüdische Bilderverbot sei ein „entscheidender Grundsatz für die Kritische Theorie.“6 In der Dialektik der Aufklärung interpretiert er zusammen mit Adorno das jüdische Bilderverbot als eine frühe Form der Entmythologisierung, ja sogar als ein Modell für sie. Daher hat das jüdische Bilderverbot in der Dialektik der Aufklärung verschiedene Dimensionen: eine religiöse, eine erkenntnistheoretische, eine ästhetische und nicht zuletzt eine geschichtliche. Die Adaption ist keine rein philosophische oder gar erkenntnistheoretische. Allerdings ist der Zusammenhang, in dem das jüdische Bilderverbot Erwähnung findet, einer, der sich mit typischen Fragestellungen der philosophischen Erkenntnistheorie beschäftigt: nämlich mit Sprache und Formen menschlicher Erkenntnis. Eine Vorbemerkung sei noch gestattet. Es kann kaum genug betont werden, dass die Dialektik der Aufklärung, genauso wie die mit ihr eng verwandte Schrift Horkheimers über Die instrumentelle Vernunft, im Namen der Vernunft spricht und nicht gegen sie. Den Ursprung der Vernunft sehen Adorno und Horkheimer nicht erst in der Entgegensetzung von Logos und Mythos in der griechischen Antike. Vielmehr wird die Entgegensetzung von Logos und Mythos selbst als ein immer wiederkehrender Topos einer bestimmten Richtung im Prozess der Aufklärung gelesen. Die Philosophie des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, mit der beide Autoren aufgewachsen sind, kennt diesen Topos ebenfalls. Anders aber als in der Epoche der Aufklärung während der Neuzeit, wird das Aufkommen des Logos –​ der Wissenschaft, des rationalen Denkens –​zu jener Zeit vielfach für eine ‚Dekadenz‘, einen Verfall der Menschheit und ihres Weltbezugs verantwortlich gemacht. Am radikalsten wohl in der Philosophie Martin Heideggers, der den Prozess der Aufklärung für das Vergessen eines ursprünglichen, durch die traditionelle Philosophie gerade verdeckten Seins (eine ‚Seinsvergessenheit‘) verantwortlich macht. Auch wenn der philosophische Sinn dieser Heideggerschen Formulierung sich hier nicht einfach en passant entfalten lässt, so sei zumindest festgehalten, dass es nicht abwegig ist, sie gerade vor dem Hintergrund jenes zivilisationskritischen Zeitgeistes als eine philosophische Chiffre für die Entfremdung des Menschen durch seine Vernunft von einer Art Urgrund der Existenz zu lesen. Im Gegensatz zu jenen zivilisationskritischen Strömungen erkennen Adorno und Horkheimer auch schon in

6 Horkheimer, Max: Die Sehnsucht nach dem ganz Anderen (1970). In: Gesammelte Schriften. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1985, Bd. 7, S. 385–​404, hier S. 387.

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den magischen Riten der frühen Menschheit die Regungen von Vernunft. „Aber die Mythen, die der Aufklärung zum Opfer fallen, waren selbst schon deren eigenes Produkt. […] Jedes Ritual schließt eine Vorstellung des Geschehens wie des bestimmten Prozesses ein, der durch den Zauber beeinflußt werden soll.“7 In dieser Vernunft sehen die beiden aber nicht etwa die ‚eigentliche‘, noch nicht entfremdete Form von Vernunft, sondern die gleiche Vernunft, wie sie im Prozess der Aufklärung zu finden ist. „Dieses theoretische Element des Rituals hat sich in den frühesten Epochen der Völker verselbständigt. Die Mythen, wie sie die Tragiker vorfanden, stehen schon im Zeichen jener Disziplin und Macht, die Bacon als das Ziel verherrlicht.“8 Aus diesem Grunde ist es nicht korrekt, die Kritik am aufklärerischen Denken, um die es in der Dialektik der Aufklärung geht, mit einer Zivilisationskritik an der Entfremdung von einer vermeintlich ursprünglichen Schicht des Seins in eins zu setzen. In der Tat sehen Adorno und Horkheimer im menschlichen Erkennen eine Distanzierung und damit auch Entfremdung von der Natur. Nur sehen beide darin eben keinen „fatal split“ zwischen „reason“ und „natural right“.9 Im Gegenteil wird das entscheidende Problem der modernen Gesellschaft und der fortgeschrittenen Aufklärung darin gesehen, dass Natur als ein unversöhntes und gewaltvolles Moment weiter fortbesteht. „Aufklärung ist mehr als Aufklärung, Natur, die in ihrer Entfremdung vernehmbar wird. In der Selbsterkenntnis des Geistes als mit sich entzweiter Natur ruft wie in der Vorzeit Natur sich selber an, aber nicht mehr unmittelbar mit ihrem vermeintlichen Namen, der Allmacht bedeutet, als Mana, sondern als Blindes, Verstümmeltes.“10 Es geht nicht um eine Aufhebung der Entfremdung von Natur und Geist, sondern darum, nicht bei der aufklärerischen Einsicht, welche die Allmacht der Natur als Schein durchschaut, stehen zu bleiben. Die Vorzeit, in der Natur als Übermacht erscheint, bleibt auch im fortgeschrittensten Denken anwesend, wenn nicht erkannt wird, dass der Geist nicht das glatte Gegenteil von Natur, sondern Natur in ihrem Anderssein ist. Die Reflexion in Theorie wie Praxis auf jenes Verhältnis von Geist und Natur kann es erkennen als „Index der Unwahrheit seiner selbst und der Wahrheit.“11

1. Sprache und Aufklärung Das jüdische Bilderverbot wird in der Dialektik der Aufklärung in jenem Abschnitt behandelt, der sich der Geschichte der Formen menschlicher Erkenntnis widmet.12 Es wird dort ins Auge gefasst, wo vom ‚Namen‘ als einer besonderen Form der Erkenntnis die Rede ist. Der Prozess der Aufklärung, insbesondere wie er sich in 7 Adorno /​Horkheimer, S. 30. 8 Ibid. 9 Wie es Martin Jay in seinem Buch Reason after Its Eclipse formuliert. Siehe Jay, Martin: Reason after its Eclipse, The University of Wisconsin Press: Madison 2016, S. 13. 10 Adorno /​Horkheimer, S. 63. 11 Ibid. 12 Ibid., S. 39–​52.

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der griechischen Antike formierte und sich schließlich seit der Neuzeit vollzog, ging häufig mit einer Abwertung des mimetischen Moments von Sprache und dessen Bedeutung für die Erkenntnis einher. Adorno und Horkheimer bezeichnen die fortschreitende Entwicklung in denjenigen Erkenntnistheorien, die mit einer solchen Abwertung einhergehen, als ‚Nominalismus‘ der Aufklärung. Allerdings verstehen Adorno und Horkheimer Aufklärung nicht als identisch mit jenem ‚Nominalismus‘. Viele Kritiker der Dialektik der Aufklärung, welche glauben, das Projekt von Aufklärung, das Vermögen der menschlichen Vernunft oder technische und zivilisatorische Errungenschaften vor der Kritik der Dialektik der Aufklärung in Schutz nehmen zu müssen, bemerken gar nicht, dass hier nicht Aufklärung im Allgemeinen, sondern der Zusammenfall von Aufklärung und Nominalismus kritisiert wird. Dies ist auch der Grund, warum die Auseinandersetzung mit dem jüdischen Bilderverbot in der Dialektik der Aufklärung so gut wie keine Beachtung findet. Denn, um es vorwegzunehmen, das jüdische Bilderverbot wird von Adorno und Horkheimer als eine Art Gegenmodell zu jenem Nominalismus gedeutet, als ein Modell von Aufklärung, das der Vernunft gerechter wird als die Tradition des Nominalismus in der Aufklärung. Man muss diese Auseinandersetzung schlichtweg überlesen, wenn man an der Sichtweise festhalten will, dass die Dialektik der Aufklärung nicht mehr als die Verurteilung der Aufklärung zu bieten habe. Auf den ersten Blick scheint es verwunderlich, dass das Bilderverbot jenem Nominalismus entgegenstehen soll. Schließlich haben eine ganze Reihe von Vertretern der Aufklärung bemerkenswerterweise gerade dem biblischen Bilderverbot große Achtung entgegengebracht, es explizit als einen Schritt zum aufklärerischen Denken angesehen oder es sogar adaptiert. Man denke etwa an das Novum Organum von Francis Bacon, das einen ganzen Abschnitt über die verschiedenen Arten der Idolatrie enthält.13 Der Kampf gegen die Idole ist hier gleichzeitig ein Kampf im Namen der Aufklärung. Noch verwunderlicher scheint es zu werden, wenn man bedenkt, dass Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung selbst auf Bacons Werk rekurrieren, um exemplarisch zu zeigen, wie in der Neuzeit ein Naturverständnis prominent wird, das Natur nur noch unter dem Aspekt von Herrschaft kennt –​ein Verständnis also prominent wird, demnach das Wissen über die Natur gleichzeitig die Macht über sie mehren soll. Aber gerade hier bestimmt Nominalismus die Erkenntnistheorie Bacons: das mimetische Moment von Erkenntnis wird hier nur dann geduldet, wenn es dem Zweck der Naturbeherrschung dient. Jede Aneignung der Natur, die nicht der Vermehrung von Macht dienlich ist, wird als unnützes und damit sinnloses Wissen diffamiert. Darum steht auch der Ikonoklasmus Bacons, der äußerst typisch für die Adaption des biblischen Bilderverbots in der Philosophie der Neuzeit ist, unter nominalistischen Vorzeichen. Adorno und Horkheimer beziehen sich nicht ohne Grund auf das jüdische Bilderverbot und nicht etwa auf das Bilderverbot im Allgemeinen. Sie formulieren, der 13 Bacon, Francis: Novum Organum Scientiarum (1620). Übers. von Hoffmann, Rudolf /​Korf, Gertraud. Meiner: Hamburg 1990. Bd. 1, §§ 38–​69.

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Sinn des jüdischen Bilderverbots bestehe darin, nicht „das Falsche als Gott anzurufen“.14 Anders also als etwa in den ikonoklastischen Strömungen des Christentums und des Islams wird hier nicht das Wort gegen das Bild ausgespielt –​das jüdische Bilderverbot kann nicht jenem Nominalismus zugerechnet werden, sondern steht für eine andere Form der Entzauberung der Sprache.15 Am deutlichsten zeigt sich dieser Umstand darin, dass das Bilderverbot in der jüdischen Tradition nicht nur die buchstäblichen Kultbilder betrifft, sondern auch den Namen Gottes diesem Verbot unterstellt hat. Diese Deutung des Bilderverbots ist nicht einfach dem Text des Pentateuch entnehmbar, sondern entstammt der rabbinischen Tradition. Die so oft beschworene Abstraktheit des jüdischen Gottesverständnisses, die sich angeblich im Bilderverbot manifestieren soll, lässt die Auslegungstradition des Bilderverbots stets hinter den Bibeltext zurücktreten. Dass aber der Name Gottes genauso dem Bilderverbot unterliegt, zeigt, wie sehr ein solches Verständnis des jüdischen Bilderverbots zu kurz greift: Das Bilderverbot richtet sich nicht gegen bildliche Darstellungen an sich, sondern gegen den symbolischen, also magischen Umgang mit Bildern.16 Mit ‚Bild‘ wird hier das hebräische Wort ‘‫( ’פסל‬pesel) aus der Torah übersetzt, das eigentlich ein Idol im Sinne einer kleinen Statuette, eines Götzenbildes meint. In der Rabbinischen Tradition steht es exemplarisch für einen besonders eindeutigen und klaren Fall des Götzendienstes. Darum ist auch die lautliche Sprache nicht von jenem Verbot ausgenommen. So, wie die bildhafte Erscheinung eines Gottesbildes die Anwesenheit des Gottes nicht magisch falsch beschwören soll, so soll auch der Name Gottes nicht als magisches Zauberwort benutzt werden.17 Die jüdische Religion wird in der Dialektik der Aufklärung darum nicht als ein bloßes Durchgangsstadium im Prozess eines großen Für-​und-​Widers zwischen Glauben und Wissen beschrieben, das man freilich mit dem Aufklärungsprozess verwechseln kann. Diese Perspektive auf den Aufklärungsprozess verfolgt, wie wir sehen werden, selbst einen nominalistischen Ansatz und ist nicht die Perspektive der Dialektik der Aufklärung. Adorno und Horkheimer sehen im jüdischen Bilderverbot tatsächlich ein Stück geglückter Aufklärung, ein Stück geglückter ­Entmythologisierung. Worin genau aber besteht der magische Gebrauch von Bildern und Namen? Warum soll das jüdische Bilderverbot nicht haargenau mit der nominalistischen 1 4 Adorno /​Horkheimer, S. 46. 15 Zur Geschichte dieser unterschiedlichen Deutungstraditionen siehe: Brumlik, Micha: „Vom Sinn des theologischen Bilderverbots“. In: Id.: Vernunft und Offenbarung. Theologische Versuche. Philo: Berlin /​Wien 2001, S. 115–​134. 16 Siehe Schwarzschild, Steven: „The Legal Foundation of Jewish Aesthetics“. The Journal of Aesthetic Education 9(1), 1975, S. 29–​42. 17 Zumindest finden sich im Talmud zahlreiche Überlegungen, die einen solchen magischen Gebrauch des Gottesnamens zu verhüten trachten. Siehe: Ben-​Sasson, Hillel: Understanding YHWH. The Name of God in Biblical, Rabbinic, and Medieval Jewish Thought. Palgrave Macmillan: London 2019: S. 73–​75.

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Kritik an falschen Erkenntnisformen übereinstimmen? Ist das jüdische Bilderverbot nicht genauso eine Kritik von Idolatrie, wie die Kritik Bacons? Um diese Fragen zu beantworten und die Beziehungen zwischen Entmythologisierung, Aufklärung, Nominalismus und Magie klarer herauszustellen, ist es notwendig, sich mit der Sprachtheorie in der Dialektik der Aufklärung auseinanderzusetzen, bevor wir uns dann schließlich der dortigen, zentralen Stelle zum Bilderverbot zuwenden können. Meine nun folgende Darstellung bezieht sich auf den Schluss des ersten und den Anfang des zweiten großen Abschnitts aus dem Teil über den Begriff der Aufklärung. Allerdings folgt meine Darstellung vor allem dem erkenntnistheoretischen Strang. Allerdings folgt meine Darstellung vor allem dem erkenntistheoretischen Strang und lässt andere weitgehend außer Acht. Formen der Erkenntnis sind für Adorno und Horkheimer immer schon Formen menschlicher Sprache. Da aber jede sprachliche Form für Adorno und Horkheimer immer schon eine geistige Aneignung von Natur ist, gibt es auch keine sprachlichen Formen, die vollkommen frei von Gewalt wären. Das konkrete geschichtliche Verhältnis von Gewalt und Sprache, die Vermittlung von beidem in konkreten sozialen Ordnungen, spielt in diesem Abschnitt mindestens eine genauso große Rolle wie die erkenntnishafte Funktion der sprachlichen Formen, mehr noch: beide Momente von Sprache sind aufeinander bezogen. Es sollte darum nicht vergessen werden, dass in der Dialektik der Aufklärung Sprache und Herrschaft immer in einem geschichtlich konkreten Zusammenhang behandelt werden, und ich werde an der ein oder anderen Stelle daran erinnern. Meine Darstellung verzichtet bewusst darauf, jede einzelne getroffene Aussage am Text zu belegen. Es gibt in der Dialektik der Aufklärung kaum Stellen, Sätze oder einzelne Formulierungen, die als Zitat für sich stehen können. Es ist, als ob sich der Text selbst bereits interpretieren würde. Und in der Tat bleiben die Formulierungen der Dialektik der Aufklärung hermetisch verschlossen, wenn man sie nur für sich stehend darstellen möchte. Auch meine Darstellung ist eine Interpretation –​eine, die versucht, den hier in Rede stehenden Gedankenzusammenhang genau ­nachzuzeichnen.

Ursprung der menschlichen Sprache –​Der Name Das jüdische Bilderverbot versucht, einen magischen Gebrauch von Namen und Bildern zu verhüten. Die Dialektik der Aufklärung behandelt Namen und Bilder als Formen menschlicher Erkenntnis, wobei im Namen sogar die ursprüngliche Form menschlicher Sprache gesehen wird. In einigen äußerst dichten Überlegungen formulieren Adorno und Horkheimer eine ganze Theorie über den Ursprung der menschlichen Sprache. Wie bereits gesagt, sind für Adorno und Horkheimer Formen menschlicher Erkenntnis immer schon sprachliche. Denn die Ausdifferenzierung menschlicher Erkenntnisformen beginnt mit der Ausdifferenzierung der menschlichen Sprache. Bereits dort, wo von menschlicher Sprache noch gar nicht die Rede sein kann, nämlich dort, wo Ausdruck nichts anderes als eine bloße Reaktion aufs Unbekannte ist, ist im Keim menschliche Sprache als Form von Erkenntnis schon angelegt. Der „Ruf des Schreckens“ begleitet die Erfahrung

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des Unbekannten, Überraschenden.18 Wo jener Ruf zum Namen für das Erfahrene wird, beginnt bereits ein innerer Widerspruch die menschliche Sprache zu durchziehen. Sie fixiert mit jenem Ausdruck dasjenige, was doch eigentlich gerade das Nichtfixierte, Unbekannte, also notwendig Unbestimmte wäre. Den sprachlichen Ausdruck ‚Mana‘, welcher von der Ethnologie entdeckt und beschrieben wurde, nehmen Adorno und Horkheimer für das älteste bekannte Zeugnis eines solchen Namens.19 Der Name ist nichts anderes als der schon sedimentierte Ruf des Schreckens und damit ein sprachlicher Laut, der an eine bestimmte, konkrete Erfahrung gebunden ist. Ausdruck und Ausgedrücktes sind im Namen zwar unterschieden, aber nicht voneinander ablösbar. Zur menschlichen Sprache, wie wir sie kennen, gehört freilich, dass sie nicht nur aus Namen besteht, sondern auch den vom Konkreten abgelösten, bedeutungslosen Laut und das bloß abstrakte Wort kennt, Erkenntnisformen also, die erst in einen Zusammenhang eingehen müssen, um Bedeutung zu erhalten. Diese Formen der Sprache sind dann allerdings bereits als Derivate des ursprünglichen Namens zu verstehen. An der Entstehung dieser anderen Formen der Sprache hat der Nominalismus entscheidenden Anteil. Versteht man unter dem Prozess der Aufklärung die Entzauberung der Welt, durch die die Emanzipation des Menschen von der Gewalt der Natur erst möglich wird –​wie Adorno und Horkheimer sie in der Dialektik der Aufklärung deuten –​, dann gehört auch schon der Name als eine Form der Erkenntnis zu diesem Prozess. Denn der Name ist mehr als nur die bloße Reaktion auf etwas Erfahrenes. Er ist der im Geist geronnene Ruf des Schreckens, und damit ein sedimentierter Ausdruck, der die bloße, unmittelbare Erfahrung übersteigt. In ihm wird vom unmittelbar Erfahrenen abstrahiert. Im Namen vollzieht sich bereits die Trennung von Subjekt und Objekt, die Trennung von Wesen und Reflexionsbestimmungen, in ihm finden sich bereits logische Differenzierungen, die in anderen sprachlichen Formen zwar in einem viel größeren Maße vollzogen sind, aber eben auch schon den Namen, als sedimentierten Ausdruck, auszeichnen. Für Adorno und Horkheimer gibt es keinen ursprünglichen Kern der Sprache, der unberührt von Abstraktion wäre, einen Bereich jenseits jeglicher Entfremdung von der Natur. Aber der Name als Ausdruck fürs Unbekannte und doch Erfahrene –​und mit ihm auch alle anderen sprachlichen Formen –​hat nicht nur eine erkenntnishafte Funktion. Mit dem Namen wird auch die Macht angerufen, die als Ursache jener Erfahrung des Unbekannten gilt. Adorno und Horkheimer wenden sich gegen die in der

1 8 Adorno /​Horkheimer, S. 37 19 Die Kultur ums Mana wurde in der Ethnologie sogar als eine Art Elementarform der Religion gehandelt. Mauss und Hubert machten Mana zur Grundlage ihrer Theorie Generale de la Magie (Hubert, Henri /​Mauss, Marcel: Esquisse d’une théorie générale de la magie (1904). Presses Universitaires de France: Paris 2019) auf die sich auch Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung beziehen und aus der sie unter anderem ihre Kenntnisse übers Mana gewinnen.

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damaligen Ethnologie und auch durch Freud vertretene These, dass der Mensch in seiner frühen Phase ein animistisches Verhältnis zur Natur gehabt und er also seine Subjektivität, seine eigene Intentionalität so sehr überschätzt habe, dass er sie auf die Außenwelt und in die Natur projiziert habe. Sie halten Freud als Vertreter dieser These entgegen, dass nicht die „Allmacht der Gedanken“, sondern vielmehr die Allmacht der Natur zu den Erfahrungen der frühen Menschen gehört habe.20 Freud setzte mit seiner Annahme bereits ein entwickeltes Subjekt voraus, das die Welt im Geiste beherrschen kann. Aber jene sprachlich-​geistige Beherrschung von Natur musste sich erst herausbilden, bevor der Mensch seine Gedankenwelt für wesentlicher erachteten konnte als die Welt der äußeren Erscheinungen, so Adorno und Horkheimers Argument. Der Name, der aus einer bloßen Reaktion auf das Erfahrene entstand, macht das Übermächtige zumindest in einer geistig-​theoretischen Form beherrschbar. Eine Form, die schließlich sogar auf das durch sie Benannte einwirken möchte.

Mythisches Denken Das Verhältnis der frühen Menschen zur Natur kann als ein mythisches bezeichnet werden: Der Erkenntnischarakter und die Macht erheischende und Gewalt ausübende Funktion der Sprache fallen in diesen sprachlichen Formen zusammen. Mit dem Versuch, durch Namen auf Natur einzuwirken, beginnt der kultische Gebrauch von Sprache, der notwendigerweise eine soziale Dimension enthält. Namen werden als Zauberworte verwendet und ihr Gebrauch ist durch rituelle Ordnungen geregelt, deren Übertretung sanktioniert wird. Adorno und H ­ orkheimer weisen immer wieder darauf hin, dass die Beherrschung der Natur durch jene menschlichen Formen der Erkenntnis soziale Herrschaft mit sich bringt. Die bereits sedimentierten Formen der Sprache können nicht unabhängig von sozialer Herrschaft verstanden werden. Schon wenn die Sprache in die Geschichte eintritt, sind ihre Meister Priester und Zauberer. Wer die Symbole verletzt, verfällt im Namen der überirdischen den irdischen Mächten, deren Vertreter jene berufenen Organe der Gesellschaft sind. Was dem vorausgeht liegt im Dunkeln. Der Schauder, aus dem das Mana geboren wird, war überall, wo es in der Ethnologie begegnet, zumindest von den Stammesältesten, schon sanktioniert.21

Im Symbol kulminiert diese Verschränkung von Sprache und sozialer Herrschaft. Es ist gleichzeitig eine Form von Herrschaft sowohl über Natur als auch einer Priesterkaste über andere Menschen. So stellt der symbolische Gebrauch der Sprache, wie ihn die priesterliche Kultur kennt, eine solche doppelschlächtige Funktion von

20 Siehe Adorno /​Horkheimer, S. 33 und Freud, Siegmund: Totem und Tabu. In: Studienausgabe. Fischer: Frankfurt am Main 1974, Bd. IX, S. 287–​444, hier S. 364–​386. 21 Adorno /​Horkheimer, S. 43.

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Sprache dar. Adorno und Horkheimer verstehen unter einem Symbol einen sprachlichen Ausdruck, der, anders als der Name, nicht auf etwas Singuläres bezogen ist, sondern Natur als großen kosmischen Zusammenhang begreift, dessen Prozesse nichts anderes als ewige Wiederholungen darstellen; Wiederholungen, gegenüber denen der Einzelne und das Besondere machtlos sind. Auf diese Weise beschwören die Riten die Wiederkehr der Jahreszeiten, die Wiederholung von Geburt und Tod. Das Symbol, welches mit der priesterlichen Sphäre des Magischen assoziiert ist, lässt sich aber nicht vom Symbolisierten abtrennen. Das magische Symbol steht in fataler Weise für das, was es symbolisiert, ein. Spätestens in der antiken griechischen Philosophie werden das Zeichen-​und das Bildhafte der Sprache, welche im Symbol miteinander verschränkt sind, voneinander unterschieden. Das Zeichen wird zur wahrheitsfähigen Erkenntnisform erhoben und den Bildern ihr Platz im Reich der Erscheinungen zugewiesen. „Als Zeichen soll Sprache zur Kalkulation resignieren, um Natur zu erkennen, den Anspruch ablegen, ihr ähnlich zu sein. Als Bild soll sie zum Abbild resignieren, um ganz Natur zu sein, den Anspruch ablegen, sie zu erkennen.“22 Platons Verdikt über den Künstler, wie es in der Politeia zu finden ist, stellt eine radikale Abwertung von bildhaften, nicht-​begrifflichen Formen der Erkenntnis dar. Platon sieht im Künstler einen Handwerker, der nichts anderes tut, als die Natur in ihrer Scheinhaftigkeit nachzuahmen, statt sich ihrer zweckmäßig zu bedienen oder gar ihre Wahrheit zu ergründen. Das Symbol schließlich, in dem Natur als mythischer Zusammenhang begriffen wird, wird zu einer unwahren Form der Erkenntnis. Die Anfänge der Naturwissenschaften in der Antike melden Zweifel an der Wahrheit der Mythen an. Das rationale Kalkül stellt sich mehr und mehr als die bessere Art der Einwirkung, als das zweckmäßigere Instrument zur Beherrschung der Natur heraus.

Die nominalistische Kritik des Symbols Die mythische Erklärung der Welt zu durchschauen, sprich: den Mythos als unwahr zu erkennen –​nichts anderes ist das Projekt von Aufklärung. Dies ist der Grund, warum Adorno und Horkheimer den Begriff der Entmythologisierung parallel zu dem der Aufklärung verwenden. Der parallele Gebrauch der beiden Begriffe scheint nur eine kleine Verschiebung des Akzents mit sich zu bringen, er ist aber eine sehr bedeutsame Nuance. Schon im antiken griechischen Denken kommt diese Nuancierung zum Tragen. Ohne Zweifel leistet die antike griechische Philosophie einen Beitrag zur Entmythologisierung und damit einen zum Projekt der Aufklärung. Aber mit der antiken Entmythologisierung geht ein erkenntnistheoretischer Nominalismus einher, der Momente der mythischen Weltsicht ungewollt perpetuiert. Der Mythos beschreibt die Welt als eine Ordnung allen Seins. Er ist erkenntnistheoretisch gesprochen nichts anderes als eine Ontologie der Welt. Mythisches Denken ist in seiner ontologischen Funktion immer gleich. Vielfältig

22 Ibid., S. 40.

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und an konkrete Naturerfahrung gebunden sind nur die konkreten Inhalte der Mythen. Gegen sie revoltiert das antike philosophische Denken aufs Schärfste. Es erkennt einen immanenten Widerspruch in den Versuchen des Mythos, die Welt zu erklären: Obwohl die Mythen die allgemeine Ordnung der Welt erklären und begründen wollen, sind sie doch an besondere Naturerscheinungen, Orte, Götter oder an konkrete Geschichten gebunden. Aristoteles kritisiert an einer Stelle in seiner Metaphysik, es sei widersprüchlich, den Verzehr von Nektar und Ambrosia als Ursache der Unsterblichkeit der Götter anzuführen, wie es Hesiod getan habe. Denn das Göttliche, in dem Aristoteles durchaus die Prinzipien von Allgemeinheit und Unvergänglichkeit verkörpert sieht, könne nicht auf dem zufälligen Verzehr von Nektar und Ambrosia gründen.23 Die Mythen verfehlen ihren Anspruch, etwas Allgemeines über die Welt auszusprechen. Das Symbol als mythische Erkenntnisform muss daher gleichsam der philosophischen Kritik verfallen. Aristoteles jedenfalls möchte oder kann den Verzehr von Nektar und Ambrosia nicht als symbolische Erklärung für die Unsterblichkeit akzeptieren. Fürs antike griechische Denken ist das Symbol nur eine schlechte Vermischung von zeichenhafter und bildlicher Erkenntnisform. Die beiden Momente trennt die antike griechische Philosophie voneinander: Das Zeichenhafte des Symbols wird von der Kritik bewahrt, während das Bildhafte dem Verdikt verfällt, keine Erkenntnisform zu sein. Platons Philosophie wertet die Welt der Erscheinungen zu einem Schattenreich ab, dessen Gestalten aber vom Menschen als Verweise auf die Urbilder oder Urgestalten, als Verweise auf die Ideen, verstanden werden können (bei Platon mit εἶδος oder ἰδέα bezeichnet). Mehr noch wird es in Platons Philosophie zum obersten Ziel von Erkenntnis, Einsicht in das Reich dieser Ideen und letztlich der höchsten Idee –​der Idee des Guten –​zu erlangen. Eine symbolische Interpretation der Natur nimmt, von dieser Warte Platons aus gesehen, die besondere Beschaffenheit der Natur zu ernst und lässt sich von der Welt der Erscheinungen täuschen. Platon möchte die ontologische Ordnung der Welt jenseits der Welt der Erscheinungen durch seine Ideenlehre begründen und etabliert eine Stufenleiter der Erkenntnisformen. Höchstes Ziel ist die philosophische Einsicht in die Urbilder: die Ideen. Schon die erfahrbare Welt der Phänomene bietet nur ein Abbild der Urbilder. Die menschliche Imitation der Welt der Phänomene, wie in Bildern, Statuen oder Geschichten, bietet dann nur noch die Abbilder der Abbilder der Urbilder und entfernt sich so noch weiter vom Reich der Ideen.24 Aus dieser Stufenleiter der Erkenntnis erklärt sich, warum Platons Philosophie ein Misstrauen gegen alle bildlich-​mimetischen Erkenntnisformen hegt. Die nominalistische Kritik am Symbol als einer mythischen Erkenntnisform richtet sich gegen die bildlich-​mimetischen Momente des Symbols. Indem Zeichen und Bild voneinander geschieden werden, möchte die aufklärerische Kritik das mythische Symbol überwinden. Die mythischen Erklärungen der Welt sollen von 2 3 Cf. Aristoteles, Metaphysik, 1000a. 24 Platon, Politeia, 597d passim.

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der wissenschaftlichen Erkenntnis abgelöst werden; und zwar von einem wissenschaftlichen Denken, welches die Welt auf Grundlage allgemeiner Begriffe erklären kann. Für Aristoteles war Thales der erste, der von einem kosmologischen Grundprinzip ausging,25 aber auch noch die moderne Kosmologie der Physik träumt von der ‚großen vereinheitlichten Theorie‘, die alle Wirkungen von einer einzigen physikalischen Grundkraft ableiten soll. Die antike aufklärerische Kritik am Symbol wehrt sich dagegen, in besonderen Phänomenen allgemeine Kräfte und Gesetzmäßigkeiten als anwesend zu betrachten, die besondere Erscheinung also als Erscheinung eines Allgemeinen zu nehmen. Naturereignisse, die sich jedes Jahr wiederholen, werden im symbolischen Bewusstsein gerade nicht als exemplarische Erscheinungen allgemeiner Gesetzmäßigkeiten aufgefasst, wie es das aufgeklärte Denken tut, sondern jedes wiederkehrende Naturereignis ist immer wieder die einmalige Erscheinung derselben höheren Macht, desselben göttlichen Wesens. Die formelle Allgemeinheit, die im Symbol darin besteht, ein sich wiederholendes Ereignis auf dieselbe Macht zu beziehen, wird vom aufklärerischen Denken nun in die Erkenntnisform des Begriffes überführt. Der Begriff kommt ohne eine bildhaft erscheinende Repräsentation des Allgemeinen aus und umgekehrt kann für das aufklärerische Denken eine Erscheinung nicht mehr unmittelbar Ausdruck eines Allgemeinen sein. Das allgemeine Moment der Erkenntnis wird nun mit dem zeichenhaft-​begrifflichen Moment des Symbols und das besondere Moment von Erkenntnis mit dem bildhaft-​mimetischen Moment des Symbols gleichgesetzt. In dieser doppelten Gleichsetzung besteht der Nominalismus der aufklärerischen Erkenntnistheorie.

Positivismus Der Schritt von Göttern zu allgemeinen Ideen ist nur der erste dieses Nominalismus. Der letzte, ultimative Schritt möchte auch die Allgemeinbegriffe als metaphysische Phantasmen aus den ernst zu nehmenden Formen der Erkenntnis ausschließen. Ein solcher erkenntnistheoretischer Ansatz findet sich in der Sprachphilosophie des modernen Positivismus.26 Adorno und Horkheimer kritisieren den Positivismus des frühen 20. Jahrhunderts oder, wie sie ihn nennen, den Neopositivismus sehr scharf.27 Nicht, weil sie in ihm die Speerspitze aufklärerischen Denkens sehen, sondern im Gegenteil, weil sie in ihm die mythische Gewalt der Symbole wieder hervorkommen sehen. Schuld daran ist allerdings nicht einfach der erkenntnistheoretische Nominalismus. Denn nominalistische Sprachauffassungen halten 2 5 Aristoteles, Metaphysik, A3 983b. 26 Hauptorgan dieses Positivismus war die Zeitschrift Die Erkenntnis, die von Rudolf Carnap und von Hans Reichenbach 1930 gegründet wurde. 27 An dieser Nomenklatur lässt sich ablesen, dass Adorno und Horkheimer den Positivismus nicht erst im 20. Jahrhundert erspähen. Für sie geht auch schon der antike Nominalismus mit einem latenten Positivismus einher, der in der Philosophie des 20. Jahrhunderts dann nur manifest wird.

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zwar das formelle Moment des sprachlichen Ausdrucks für das Wesentliche oder sogar Wahre an Sprache, sie heben damit aber auch das offenbarende Moment von Sprache hervor und enthalten so auch die Einsicht, dass menschliche Sprache nicht nur ein Reflex auf Reales ist, sondern das Reale transzendieren kann. Menschliche Sprache kann über die Immanenz der Natur hinausgehen. Sprachliche Ausdrücke aber, die nichts anderes als den ‚Ruf des Schreckens‘ perpetuieren, bleiben auch jener Immanenz verhaftet. Genau gegen diese mythische Tendenz der Sprache, richtete sich ja gerade der Nominalismus. Ein sprachlicher Ausdruck hat sowohl ein formelles als auch ein inhaltliches Moment. Der Sinn eines sprachlichen Ausdrucks besteht in der Vermittlung von beidem. Für den Neopositivismus stellt sich Erkenntnis aber gerade nicht durch diese sprachliche Vermittlung her. Während der Nominalismus die Wirklichkeit der sprachlichen Ausdrucksformen für wesentlicher hält als die reale Schicht der Erfahrung im sprachlichen Ausdruck, ist für den Neopositivismus Sprache gar keine Ausdrucksform mehr, sondern nur noch ein formelles System von Aussagen. Nicht nur die Frage, wie, sondern auch die Frage, ob sich überhaupt ein sprachlicher Ausdruck auf etwas Reales bezieht, ist für den Positivismus nichtig. Alle erkenntnistheoretischen Positionen, die irgendetwas über das reine Sprachsystem Hinausgehendes postulieren, gelten ihm als ‚Metaphysik‘. Erkenntnis dürfe sich ausschließlich in den Grenzen der reinen sprachlichen Formen bewegen, Erkenntniskritik könne allein darin bestehen, dass die formale Konsistenz sprachlicher Aussagen und Aussagesysteme geprüft wird. Alles, was an Gehalt über die formelle Seite von sprachlichen Ausdrücken hinausgeht, ist für den Positivismus keine Sache der Erkenntnis mehr, sondern Interpretation von Ausdrücken. Es wird also nicht nur das formelle Moment von Sprache als primär für den Erkenntnisprozess genommen wie schon im traditionellen Nominalismus, sondern Sprache wie Erkenntnis können nur noch als ein formelles System verstanden werden.28 Im Neopositivismus sehen Adorno und Horkheimer den Nominalismus der Aufklärung terminieren: Erkenntnis wird nicht einmal mehr als eine Vermittlung von Ausdruck und Sache verstanden, sondern schlägt sich ganz auf die formelle Seite der sprachlichen Ausdrucksformen. Dass aber in jeder Ausdrucksform auch etwas Inhaltliches mitschwingt, dessen ist sich der Neopositivismus nicht bewusst. Die Form der Allgemeinheit ist nicht nur bloße Form, sondern ein Erbteil des alten mythischen Denkens. Hier kommt der Gedanke zum Tragen, dass in der sprachlichen Form des Symbols gesellschaftliche Herrschaft sedimentiert ist. Auf diesen Gedanken geht die These zurück, dass im Neopositivismus, indem er den Nominalismus der Aufklärung vollendet, genau das wiederkehrt, was ihm überwunden zu

28 Cf. Haag, Karl Heinz: Der Fortschritt in der Philosophie, Suhrkamp: Frankfurt am Main 1985, S. 9. Haags Schrift kann als detaillierte und äußerst genaue Explikation dessen gelten, was Adorno und Horkheimer im Teil über den Begriff der Aufklärung als eine Tendenz in der Philosophiegeschichte verdichtet darstellen oder bisweilen nur andeuten.

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sein dünkt: „Die Aufklärung hat schließlich nicht bloß die Symbole sondern auch ihre Nachfolger, die Allgemeinbegriffe, aufgezehrt und von der Metaphysik nichts übriggelassen, als die abstrakte Angst vor dem Kollektiv, aus der sie entsprang.“29 Allerdings ist der Begriff nicht schon durch seine bloße Form ein Instrument von gesellschaftlicher Herrschaft. Dazu wird er nur, wenn er in konkreten Verhaltensweisen eine entsprechende Anwendung findet. Was allen durch die Wenigen geschieht, vollzieht sich stets als Überwindung Einzelner durch Viele […]. Es ist diese Einheit von Kollektiv und Herrschaft und nicht die unmittelbare gesellschaftliche Allgemeinheit, Solidarität, die in den Denkformen sich niederschlägt. Die philosophischen Begriffe, mit denen Platon und Aristoteles die Welt darstellen, erhoben durch den Anspruch auf allgemeine Geltung die durch sie begründeten Verhältnisse zum Rang der wahren Wirklichkeit.30

Nicht die Form der Allgemeinheit bedeutet an sich schon ein unterdrückerisches Herrschaftsverhältnis, sondern dass in seiner Anwendung die Form der Allgemeinheit über den besonderen Inhalt triumphiert. Adorno und Horkheimer halten an dieser Stelle sogar einen emphatischen Begriff von gesellschaftlicher Allgemeinheit fest, nämlich den Begriff der Solidarität, unter dessen Zeichen sich eine Einheit von Individuum und Kollektiv ebenfalls herstellen könnte. Das Mythische am Nominalismus liegt darin, dass er die Einheit von Kollektiv und Herrschaft, die auch dem symbolisch-​magischen Gebrauch der Sprache eigen ist, durch die Form des Begriffes zu einem absoluten Prinzip erhebt und damit nicht die Ontologie des mythischen Denkens überwindet, sondern nur von allen besonderen Inhalten befreit. Die Form dieser Ontologie aber lässt er übrig. Die besonderen Inhalte, die dann durch die nominalistischen Sprach-​und Denkformen erfasst werden, bleiben im Bann einer Allgemeinheit, in der die Einheit von Kollektiv und Herrschaft erhalten bleibt. „Die Einheit von Kollektiv und Herrschaft zeigt sich vielmehr in der Allgemeinheit, welche die schlechten Inhalte in der Sprache notwendig annimmt, sowohl in der metaphysischen wie in der wissenschaftlichen“.31 Wenn die magische Dimension der Sprache zur Kenntnis genommen werden soll, darf vom Zusammenhang von Sprache, Gesellschaft und Herrschaft nicht abstrahiert werden. Die Aufklärung im Zeichen des Nominalismus will die Macht der Symbole durch die Aushöhlung ihrer Inhalte brechen. Pointiert kann man die Kritik der Dialektik der Aufklärung vielleicht so formulieren: Die Ordnung des Mythos geht in eine Ordnung von Logik und Konsistenz über, statt Priestern wahren die Philosophen und Wissenschaftler über die Einhaltung der Gesetze. Die Symbole nehmen den Ausdruck des Fetischs an. Die Wiederholung der Natur, die sie bedeuten, erweist im Fortgang stets sich als die von ihnen repräsentierte

2 9 Adorno /​Horkheimer, S. 45. 30 Ibid., S. 44. 31 Ibid., S. 45.

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Permanenz des gesellschaftlichen Zwanges. Der zum festen Bild vergegenständlichte Schauder wird zum Zeichen der verfestigten Herrschaft von Privilegierten. Das aber bleiben die allgemeinen Begriffe, auch wenn sie alles Bildlichen sich entäußert haben. Noch die deduktive Form der Wissenschaft spiegelt Hierarchie und Zwang.32

Die ‚modernen Priester‘ haben kein Bewusstsein über das, was sie tun, solange sie von einer fundamentalen Trennung zwischen theoretischen und praktischen Aneignungsformen ausgehen. Es lässt sich eine solche fundamentale Trennung denn auch nur annehmen, wenn man die Geschichte der Erkenntnisformen ignoriert. Um rein theoretische Aneignungsformen zu erhalten, müsste man münchhausengleich das Kunststück vollbringen, ungeschichtliche Formen der Erkenntnis zu erfinden und sie nicht nur von ihrem historischen Inhalt zu reinigen, wie es der Nominalismus getan hat.

2. Das jüdische Bilderverbot als geglückte Entmythologisierung Das Recht des Bildes Bild und Name sind mimetische Erkenntnisformen. Allerdings ist das Bild im Sinne des Abbilds ein Abkömmling des Symbols. Ein Abkömmling, der die verallgemeinernde Seite der Erkenntnis ablegt. Das Symbol ist wie der Name ans Konkrete und Einmalige gebunden. Das Abbild aber versucht zu vervielfältigen, was nur einmalig sein kann. Das Zeichen als Abkömmling des Symbols sieht in dessen Einmaligkeit die Form der Allgemeinheit verbürgt, in seiner konkreten Fülle aber nur etwas Kontingentes. Der Begriff versucht, diese Form der Allgemeinheit innerhalb des Denkens auszuprägen. Man kann den Universalienstreit in der mittelalterlichen Scholastik als einen Streit darüber verstehen, welchen ontologischen Status die Ideen bei Platon haben. Während der Realismus die Ideen tatsächlich als Urbilder versteht, als Universalien, denen ein Sein zukommt, hält der Nominalismus die Ideen Platons bloß für Abstraktionen des Geistes, für Verweise auf ein wahrhaftes Sein, für bloße begriffliche Bestimmungen.33 Der Nominalismus ist der schärfste Kritiker aller Metaphysik, die aus den besonderen Inhalten der menschlichen Erkenntnis eine Ontologie gewinnen möchte. Aber auch der Nominalismus verstummt mit seiner Kritik dort, wo es um diejenige Form der Erkenntnis geht, die ihm seinen Namen gibt –​nämlich bei der Erkenntnisform des Namens. Der entscheidende Punkt in der Kritik des erkenntnistheoretischen Nominalismus der Aufklärung führt Adorno und H ­ orkheimer in der Dialektik der Aufklärung zum jüdischen Bilderverbot. Ihre Kritik ist keine bloß historische, die über ein verlorenes Paradies des Namens und der mimetischen

3 2 Ibid., S. 43 f. 33 Siehe zu dieser Sichtweise auf den Universalienstreit: Haag, S. 37–​54.

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Erkenntnis klagt, sondern eine immanente Kritik des Nominalismus. Das zeigt sich gerade darin, wie unterschiedlich Adorno und Horkheimer die Erkenntnisform des Namens im Nominalismus und im jüdischen Bilderverbot behandelt sehen. Der betreffende Absatz zum jüdischen Bilderverbot in der Dialektik der Aufklärung beginnt mit diesen Überlegungen: „Die Aufklärung als nominalistische macht Halt vor dem Nomen, dem umfangslosen, punktuellen Begriffen, den Eigennamen.“34 Der Nominalismus unterscheidet streng zwischen Begriff und Bild. Die Erkenntnisform des Namens steht für ihn an der Grenze des Sinnvollen. Namen sind ihm umfangslose Begriffe, Allgemeines, das auf ein Einzelnes zusammengeschrumpft ist. Aus nominalistischer Sicht ist der Name nicht bedeutungslos, aber er ist willkürlich applizierbar. Er unterliegt nicht der Ordnung von Allgemeinem und Besonderem wie die Begriffe. Der Name gilt dem Nominalismus immer als Eigenname, als das Individuelle schlechthin, als „Ichsubstanz“. Adorno und Horkheimer hingegen gilt der Name, wie wir gesehen haben, als ursprüngliche sprachliche Ausdrucksform des Menschen. Die Trennung zwischen Form und Inhalt des Ausdrucks, die Differenz zwischen der Gestalt des Ausdrucks und dem, was er ausdrückt, kennt bereits der Name. Aber anders als beim nominalistischen Begriff, ist das „Band zwischen Ausdruck und Sein“ im Namen nicht aufgehoben.35 Anders als beim Zeichen und Begriff ist seine lautliche Gestalt inhaltlich bedeutend, mit anderen Worten: von der lautlichen Gestalt des Namens kann nicht einfach abstrahiert werden. Der Nominalismus wertet das bildhaft-​mimetische Moment der Erkenntnis ab und erhöht die zeichenhaft-​begriffliche tendenziell zur höchsten oder sogar einzigen Form der Erkenntnis. Das jüdische Bilderverbot hingegen vollzieht erkenntnistheoretisch gerade nicht die gleiche Abwertung wie der Nominalismus, sondern errettet sogar etwas an der bildhaft-​mimetischen Erkenntnisform. Dies zumindest ist die zentrale These, die Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung vertreten: „Gerettet wird das Recht des Bildes, in der treuen Durchführung seines Verbots.“36 Obwohl für das jüdische Bilderverbot genauso wie für den Nominalismus das Bild eine problematische Erkenntnisform darstellt, weil sie Gefahr läuft, symbolisch aufgefasst zu werden, sind beide in der Interpretation der Dialektik der Aufklärung vollkommen entgegengesetzt. Der Nominalismus verdammt das Bild, das jüdische Bilderverbot errettet es. Anders also, als es meist in der Philosophie geschehen ist, sehen Adorno und Horkheimer im jüdischen Bilderverbot nicht den gleichen Kampf gegen das mythische Denken am Werk, wie ihn der antike Nominalismus vollzieht. Der Nominalismus gesteht dem Bild gerade kein Recht in der Erkenntnis zu, sondern verdammt es: Statt die Welt der Erscheinungen in den Erkenntnisformen zu transzendieren, macht es sich der Erscheinung der

3 4 Adorno /​Horkheimer, S. 45 f. 35 Siehe ibid. 36 Ibid., S. 46.

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Gegenstände ähnlich –​das zumindest ist die Perspektive des Nominalismus aufs Bild als eine Form der Erkenntnis. Aber gerade in dem Umstand, dass das Bild als Erkenntnisform die Verbindung zwischen der Form der Erkenntnis und der Welt der Erscheinung nicht einfach kappt, liegt ein Moment, das am Bild als Form der Erkenntnis zu retten wäre. Das Recht des Bildes liegt in seinem mimetischen Bezug zur Welt begründet. Darum ist es verwandt mit der Erkenntnisform des Namens, die ein lautlich-​mimetischer Ausdruck ist. Für den Nominalismus ist ein Bild immer ein Abbild, also Verdopplung der Erscheinung, nie Erscheinung von etwas Wesentlichem. Im mythischen Denken fungiert das Symbol als eine solche Erscheinung. Der Nominalismus macht das mimetische Moment dafür verantwortlich, dass das Symbol in den Mythos verstrickt ist. Das jüdische Bilderverbot behandelt Bilder hingegen nicht per se als Abbilder, genauso wie der Name nicht einfach für einen arbiträren Ausdruck genommen wird. Darum ist in der jüdischen Religion die Erscheinung aller Erscheinungen und der Name aller Namen geschützt durch das Verbot, irgendein Bild oder irgendeinen Namen für die Erscheinung und für den Ausdruck der Anwesenheit Gottes selbst zu halten.

 ntzauberung und Aufhebung des Priestertums in der E jüdischen Religion Die geschichtsphilosophische Konstellation, um die es in der Dialektik der Aufklärung geht, ist die zwischen Aufklärung und Mythos. Aufklärung, die sich dazu anschickt, den Mythos zu überwinden, überwindet ihn an einer entscheidenden Stelle nicht: In der vom Nominalismus der Aufklärung bevorzugten Erkenntnisform, dem Begriff, trägt sich ein unreflektiertes Moment des mythischen Denkens weiter fort, nämlich die subsumierende Gewalt, die der Begriff als Erkenntnisform mit sich bringt und die als unabwendbare Notwendigkeit erscheint. Adorno und Horkheimer dechiffrieren Denkformen als geronnene Formen gesellschaftlicher Herrschaft. Die geschichtsphilosophische These der Dialektik der Aufklärung, die ich hier möglichst innerhalb eines erkenntnistheoretischen Rahmens habe nachzeichnen wollen, lautet, dass Aufklärung ihr Projekt der Entmythologisierung nicht weit genug durchgeführt habe. Die Grenzen der Aufklärung liegen nicht in den von ihr noch nicht durchdrungenen Bereichen, sondern in ihr selber. Aber in welchem Verhältnis steht nun die jüdische Religion zu dieser Grundkonstellation? Adorno und Horkheimer deuten die jüdische Religion geschichtsphilosophisch als Aufhebung des Priestertums durch das Priestertum. Das Symbol steht ganz im Zusammenhang mit der sozialen Herrschaft der Priester. „Der zum festen Bild vergegenständlichte Schauder wird zum Zeichen der verfestigten Herrschaft von Privilegierten.“37 Die Wendung gegen jene geronnenen Bilder und fatalen Symbole wird von Adorno und Horkheimer als entscheidender Schritt der jüdischen Religion gedeutet. Wie aber überwindet, Adorno und Horkheimer zufolge, die jüdische 37 Ibid., S. 43 f.

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Religion den Mythos? Die Antwort: Gerade weil ihre Entzauberung nicht rigoros ist. Sie schafft es, die Macht des magischen Symbols zu brechen und trotzdem das mimetische Moment nicht im gleichen Zuge zu verlieren. „In der jüdischen Religion, in der die Idee des Patriarchats zur Vernichtung des Mythos sich steigert, bleibt das Band zwischen Namen und Sein anerkannt durch das Verbot, den Gottesnamen auszusprechen.“38 Das Verbot, Götzenbilder anzubeten, ist ein Verbot des Symbols: Der Tanz ums goldene Kalb ist ein Götzendienst, weil dieses als Symbol eines göttlichen Wesens angebetet wird. Das jüdische Bilderverbot ist kein abstraktes Verbot des Bildes. Es schützt Namen und Bild Gottes. Weil der Gottesname als ein machtvolles Wort gilt, wird sein magischer Gebrauch verboten. Aber, und dies ist der entscheidende Schritt in der jüdischen Religion, der Gebrauch ist nicht nur den Menschen verboten, die nicht zum Priesterdienst geweiht sind, wie es z. B. für die Verwendung des Ausdrucks ‚Mana‘ galt, sondern auch den jüdischen Priestern.39 Adorno und Horkheimer verdichten ihre These im folgenden Satz: „Die entzauberte Welt des Judentums versöhnt die Zauberei durch deren Negation in der Idee Gottes.“40 Die Gottesidee in der jüdischen Religion wird hier als ein entscheidender Schritt zur Entmythologisierung verstanden. Allerdings nicht primär wegen des Schrittes hin zum Monotheismus, sondern primär wegen der Stellung der Gottesidee gegen die Zauberei, wie sie die mythischen Formen der Erkenntnis kennen. Die Vorstellung Gottes in der jüdischen Religion besteht nicht einfach darin, die Götterwelt auf einen einzigen Gott zusammenzuschrumpfen, die göttliche Macht aber als solche intakt zu lassen. Sie besteht nicht in einem himmlisch-​ göttlichen Wesen, dessen Willen die Welt unterworfen ist. Die große Geschichte über Rabbi Eliezer aus dem Talmud-​Traktat Baba Meçia macht dies deutlich.41 Dort wird erzählt, wie Rabbi Eliezer versucht, seine Autorität in Bezug auf eine seiner Lehrmeinungen gegenüber den anderen Rabbinern geltend zu machen. Als nach einigen Wundern, durch die sich die Rabbiner allerdings nicht überzeugen lassen, sogar eine himmlische Stimme ertönt, um die Autorität Rabbi Eliezers zu bekräftigen, ist auch das für die anderen Rabbiner kein Grund, dessen Autorität anzuerkennen. Rabbi Jehošua stellt fest: „Die Torah ist nicht im Himmel.“ Und Rabbi Jirmeja erklärt: „Die Torah ist bereits vom Berge Sinaj her verliehen worden. Wir achten nicht auf die Halstimme [sicl. die himmlische Stimme], denn bereits hast du am Berge Sinaj in die Torah geschrieben: nach der Mehrheit zu entscheiden.“ Gottes Autorität liegt in seiner Offenbarung, sprich: in der Torah, wie sie am Berge Sinai den Menschen gegeben wurde. Die Offenbarung lässt sich 3 8 Ibid., S. 46. 39 Das rabbinische Judentum macht beim Bilderverbot gar keinen Unterschied zwischen Rabbinern und Nicht-​Rabbinern aber auch nicht zwischen Juden und Nicht-​ Juden. Das Bilderverbot gilt hier für alle Menschen. 40 Ibid. 41 TB, Baba Meçia, 59b. Hier in der Übersetzung von Lazarus Goldschmidt.

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als ein Einbruch der Transzendenz in die Welt verstehen, insofern auch als ein Wunder. Aber die Offenbarung Gottes ist einmalig, sie wiederholt sich nicht. Die himmlische Stimme, die Rabbi Eliezer recht gibt, wird darum nicht als Offenbarung anerkannt. Und genau in diesem Punkt unterscheidet sich das Ereignis der Offenbarung Gottes in der jüdischen Religion kategorisch von den magischen Ritualen der mythischen Welt. Die mythischen Symbole kennen die Transzendenz immer als sich wiederholende, immer wieder in die Welt hineinbrechende Transzendenz. Die Lehren der Torah sind nicht als symbolische Erklärungen der Welt zu verstehen, sprich: nicht als Mythen, sondern als Tradierung einer einmaligen Offenbarung Gottes. Statt einer absoluten, himmlisch-​göttlichen Macht, besitzt nur die Offenbarung Gottes, die Torah und nicht ein darin zu ergründender Wille Gottes, die höchste Autorität. Gleichzeitig bringt die Form der Überlieferung der Torah, die einen schriftlichen und einen mündlichen Strang hat, die Notwendigkeit mit sich, die Offenbarung zu deuten und immer wieder neu zu bestimmten. Die schriftliche Tradierung ist nicht nur buchstabengetreu, sondern überliefert das Schriftbild mit jeder noch so kleinen Feinheit der Schriftzeichen. Da aber die Vokalisierung des Textes nicht überliefert wird, ist eine Interpretation des Textes schon dadurch unabdingbar. Im religiösen Verständnis geht auch die mündliche Tradierung auf die Offenbarung am Berg Sinai zurück. Ihr Niederschlag lässt sich diesem Verständnis nach in allen überlieferten Lehrmeinungen, in den Praktiken des Gottesdienstes, überhaupt im Judentum als einer praktischen Form der Lebensführung finden. Sie ist genauso Teil der Offenbarung Gottes wie die schriftlich tradierte Torah. Die Offenbarung Gottes ist als ein einmaliger Akt vorgestellt –​was aber offenbart wurde, ist in der Überlieferung nicht durch eine einzige Deutung bestimmt, vielmehr bricht die Überlieferung die Offenbarung wie ein Prisma das Licht in seine Facetten auf. Im jüdischen Bilderverbot wird das gewaltvoll-​magische Moment der Sprache nicht ignoriert, jedoch nicht zur gleichen Einheit von Kollektiv und Herrschaft geführt, wie sie Adorno und Horkheimer in nominalistischen Sprach-​und Denkformen beobachten. Herrschaft kommt nicht schicksalhaft über die Menschen. Und selbst Gott, dessen Offenbarung die höchste Autorität darstellt, hat keine schicksalhafte, absolute Herrschaft mehr über die Welt. In diesem Sinne kann die Welt des Judentums als eine entzauberte bezeichnet werden.

Offenbarung und Geheimnis in der jüdischen Religion Adornos und Horkheimers Interesse gilt der geistesgeschichtlichen Bedeutung der jüdischen Religion. Sie wird dem Horizont der Dialektik der Aufklärung entsprechend im Spannungsfeld zwischen Mythos und Aufklärung beschrieben. Geistesgeschichtliche Deutungen des Judentums spielen bereits in der Philosophie des deutschen Idealismus eine bedeutende Rolle. Sie wiesen der jüdischen Religion meist einen würdigen Platz darin zu, erklärten sie gleichzeitig aber zu einer überwundenen Stufe des Geistes. Dies geschah in der Regel vor dem Hintergrund einer

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spekulativen Deutung des Christentums.42 Adornos und Horkheimers Deutung des Judentums unterscheidet sich allerdings von diesen grundsätzlich. Dies zeigt sich im Kontrast zu Hegels Deutung des Judentums, die nämlich sogar in manchen Punkten mit der Dialektik der Aufklärung übereinstimmt. Für Hegel ist das Judentum eine Religion des bloßen Dienstes an Gott, eine –​wie Hegel es nennt –​ „Religion der Knechtschaft“.43 Die Spannung zwischen Gott als selbstständigem und freiem Bewusstsein und dem Individuum als einem, das bloß Gottes Gesetze erfüllt, sei im Judentum am stärksten ausgeprägt. Zwar erlange das Judentum in der Gottesidee einen reinen Begriff des freien, selbstständigen Wesens, den Dienst aber, der dem Individuum damit zufalle, deutet Hegel als absolute Depotenzierung des Subjekts, des individuellen Selbstbewusstseins, sodass es sich nur in absolutem Gegensatz zu jenem göttlichen Selbstbewusstsein setzen und begreifen könne. Das Subjekt erkenne sich noch nicht selbst als Träger der sittlichen Substanz. Die Konsequenz für das Judentum als Religion: Der Natur werde alles Offenbarende abgesprochen und nur Gott als Quelle der Offenbarung anerkannt. Hegel legt großen Wert darauf, dass damit zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte die Natur nicht mehr als Inbegriff der Unendlichkeit angesehen gleichzeitig aber der Mensch zur Endlichkeit verdammt werde. Hegel bemerkt durchaus etwas von der entzaubernden Leistung der jüdischen Religion. Allerdings hält er die Welt des Judentums für derart entzaubert, dass nichts Fassbares mehr vom Geheimnis der göttlichen Offenbarung in ihr übrig bleibe. Das Geheimnis selbst war etwas durchaus Fremdes, in das kein Mensch eingeweiht (war), von dem er nur abhängen konnte; und die Verborgenheit des Gottes im Allerheiligsten hat einen ganz anderen (Sinn) als das Geheimnis der eleusianischen Götter.

4 2 Siehe Brumlik, Micha: Deutscher Geist und Judenhaß. Luchterhand: München 2000. 43 Micha Brumlik hat darauf aufmerksam gemacht, dass Hegel im berühmten Herr-​ Knecht-​Kapitel aus der Phänomenologie des Geistes seine Deutung des Judentums als „Religion der Knechtschaft“ wiederholt, allerdings ohne zu erwähnen, dass es sich um seine Deutung des Judentums handele. Vgl. ibid., S. 243. Meiner Ansicht nach hat dies den Grund, dass Hegel in der Phänomenologie an dieser Stelle den geistesgeschichtlichen Gehalt von der Religionsphilosophie abgelöst behandelt. Die Dialektik von Selbstständigkeit und Unselbstständigkeit des Bewusstseins, von Herr und Knecht, die in der Phänomenologie allgemein beschrieben wird, sieht Hegel, zumindest in seinen Religionsschriften, konkret in der jüdischen Religion am deutlichsten verwirklicht. Egal, ob man man Hegel in dieser Einschätzung folgt oder nicht, bedeutet das aber nicht, dass diese Dialektik nur innerhalb der jüdischen Religion verwirklicht sein muss. Adorno und Horkheimer beispielsweise sehen die Dialektik von Herr und Knecht insbesondere in der modernen bürgerlichen Gesellschaft auf die Spitze getrieben. Dass Hegel wiederum diese Dialektik auf das Judentum projiziert, hängt wohl wiederum mit dem latenten Antisemitismus der modernen bürgerlichen Gesellschaft zusammen.

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Von den Bildern, Gefühlen, der Begeisterung und Andacht zu Eleusis, von diesen Offenbarungen des Gottes war keiner ausgeschlossen, gesprochen durfte von ihnen nicht werden, denn sie würden durch Worte entweiht; von ihren Dingen und Handlungen und den Gesetzen ihres Dienstes konnten die Israeliten wohl schwatzen […], denn daran ist nichts Heiliges, das Heilige war ewig außer ihnen, ungesehen und ungefühlt.44

Hier deutet sich bereits der Gedanke eines Gegensatzes von jüdischer und griechischer Religiosität an, wie ihn Hegel in seinen späteren Vorlesungen zu Religionsphilosophie systematisch ausführen sollte –​seiner Ansicht nach wird der Gegensatz erst im Christentum aufgehoben. Für Hegel ist es ein Manko, dass die Offenbarung Gottes im Judentum in keiner Weise sinnlich in Erscheinung tritt, nicht durch Bilder, Gefühle, Begeisterung und Andacht. Dem Philosophen des Geistes ist das Judentum zu sehr vergeistigt. Nur der bloße Dienst an Gott bleibe übrig und dies verdamme das Subjekt zu einer Knechtschaft, in der es blind den göttlichen Gesetzen folgen müsse, ohne den Sinn dieser Gesetze selbst nachvollziehen zu können. Der historische Jesus ist für Hegel schließlich eine Art Befreier dieses unselbstständigen religiösen Subjekts. Adorno und Horkheimer sehen in dem durch die göttlichen Gebote auferlegten Dienst auch ein entscheidendes Charakteristikum der jüdischen Religionsausübung, deuten sie aber nicht als Manko eines noch nicht durch sich selbst zur vollen Freiheit bestimmten Selbstbewusstseins. Die Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft sehen Adorno und Horkheimer nicht im Judentum auf die Spitze getrieben. Hegel kann im Judentum kein versöhnendes Moment entdecken, sondern sieht nur die Entzweiung der Welt in eine göttliche und menschliche Sphäre. Adorno und Horkheimer hingegen machen auf das versöhnende Moment in der Negation der Zauberei aufmerksam. Die entzauberte Welt des Judentums versöhnt die Zauberei durch deren Negation in der Idee Gottes. Die jüdische Religion duldet kein Wort, das der Verzweiflung alles Sterblichen Trost gewährte. Hoffnung knüpft sie einzig ans Verbot, das Falsche als Gott anzurufen, das Endliche als Unendliches, die Lüge als Wahrheit. Das Unterpfand der Rettung liegt in der Abwendung von allem Glauben, der sich ihr unterschiebt, die Erkenntnis in der Denunziation des Wahns.45

Sie verstehen die Idee Gottes nicht als eine absolute Entgegensetzung von göttlicher und menschlicher Sphäre und das Bilderverbot als eine Art Anhängsel, sondern sie halten die jüdische Idee Gottes gerade im Bilderverbot für verwirklicht. Das Bilderverbot ist ein praktisches Gebot und nicht die Umsetzung einer Theologie. Als praktisches Gebot bezieht es sich auf das Falsche der mythischen Erkenntnis der Welt. 44 Hegel, G. W. F.: Der Geist des Christentums und sein Schicksal. In: Werke in 20 Bänden. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1970 ff., Bd. 1, S. 285. 45 Adorno /​Horkheimer, S. 46.

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Hegels Deutung der jüdischen Religion geht zwar auch davon aus, dass sie die Negation einer früheren Form der menschlichen Erkenntnis sei, doch hält Hegel im Gegensatz zu Adorno und Horkheimer die Negation der mythischen Erkenntnis der Welt im Judentum nicht für geglückt. Denn für Hegel stellt das Judentum nur eine abstrakte Negation der symbolischen Welterkenntnis dar. Im Kampf der Juden gegen Völker, die andere Götter als den einen wahren Gott verehren, sei, so Hegel, jene abstrakte Negation am Werke: „Der Gott des jüdischen Volkes ist nur der Gott Abrahams und seines Samens […]. Gegen diesen Gott sind alle anderen Götter falsche; und zwar ist der Unterschied von wahr und falsch ganz abstrakt, denn bei den falschen Göttern ist nicht anerkannt, daß ein Schein des Göttlichen in sie hineinblickte.“46 Hegel lehnt also nicht die Gottesidee des Judentums ab, sondern kritisiert, dass die jüdische Religion nicht die Wahrheit anerkenne, die in den symbolischen Formen der Religionen enthalten sei. Das Göttliche stehe als das Geistige schlechthin der Schöpfung als der Entäußerung des Geistes unversöhnlich gegenüber. Zwar seien –​und hier argumentiert Hegel ganz nominalistisch –​die symbolischen Formen der Religion zu kritisieren, denn sie nehmen die Naturerscheinungen als unmittelbaren Ausdruck des Göttlichen, die jüdische Gottesvorstellung aber ließe keine Vermittlung mehr zwischen der Sphäre des Göttlichen und des Sinnlichen zu. Diese Vermittlung sieht Hegel dann als Leistung des Christentums an. Für Adorno und Horkheimer hingegen stellt das jüdische Bilderverbot die bestimmte Negation der symbolischen Welterkenntnis dar. Die jüdische Religion wird nicht zum hoffnungslosen Unternehmen, weil sie im Endlichen keinen Trost finden kann, im strikten Sinne also keine symbolischen Formen der Welterkenntnis dulden möchte. Dem Endlichen nicht falsch die Kraft des Unendlichen anzudichten, sehen sie als die große Leistung der jüdischen Religion, durch welche die Magie entthront wird. Den Juden schien gelungen, worum das Christentum vergebens sich mühte: die Entmächtigung der Magie vermöge ihrer eigenen Kraft, die als Gottesdienst sich wider sich selbst kehrt. Sie haben die Angleichung an Natur nicht sowohl ausgerottet als sie aufgehoben in den reinen Pflichten des Rituals. Damit haben sie das versöhnende Gedächtnis bewahrt, ohne durchs Symbol in Mythologie zurückzufallen.47

Der jüdischen Religion ist Entmythologisierung insofern geglückt, als sie den Namen als Erscheinung von Wahrheit kennt und die offenbarten Pflichten von jeglicher symbolischen Bedeutung frei sind. Hegel kritisiert, dass der jüdische Dienst an Gott kein andachtsvoller sei und keinen symbolischen Ausdruck habe. Für Adorno und Horkheimer liegt gerade darin das versöhnende Moment der jüdischen Religion. Selbstverständlich unterscheidet sich dieser Begriff der Versöhnung 46 Hegel, G. W. F.: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. In: Werke in 20 Bänden. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1970 ff., Bd. 12, S. 242. 47 Adorno /​Horkheimer, S. 216.

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vom christlichen. Der Sinn wird in der jüdischen Tradition zu dem In-​Frage-​Stehenden, zum Geheimnis der Offenbarung. Darum hat Scholem Offenbarung und Tradition als zwei im Judentum voneinander abhängige Kategorien bestimmt.48 In Hegels Deutung bleibt von der Offenbarung Gottes nicht mehr übrig als eine statutarische Gesetzeslehre, wie sie auch schon Kant in seiner Religionsschrift der jüdischen Religion unterstellte. Die Geschichte der jüdischen Religion kennt aber ein Ringen um das Geheimnis der Offenbarung und kennt auch die ganze Bandbreite von rationalistischen bis hin zu mystischen Traditionen. In den Deutungen Kants und Hegels fehlt schlicht und ergreifend diese Geschichte der jüdischen Religion, sie nehmen ganz in protestantischer Manier nur den genauen Wortlaut des alten Testaments als Quelle der jüdischen Religion. Das Bilderverbot und die darin verwirklichte Idee Gottes behandeln Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung als Kern der jüdischen Religion. Sie gilt ihnen als geglückte Entmythologisierung. Das heißt: sie verunglückt nicht wie die rigorose Aufklärung, die im Mythos nichts anderes als ihr Feindbild erkennen kann. „Es soll kein Geheimnis geben, aber auch nicht den Wunsch seiner Offenbarung“49, kommentieren Adorno und Horkheimer den aufklärerischen Wissensbegriff, für den stellvertretend Bacons herangezogen wird. Die Aufklärung zerstört nicht nur die falschen symbolischen Welterklärungen, sondern richtet sich auch gegen die Idee der Offenbarung. Die aufklärerische Entzauberung der Welt unter nominalistischen Vorzeichen negiert letztlich die Kategorie der Offenbarung, weil sie im Versuch der Sprache, konkret zwischen Ausdruck und Sein zu vermitteln, immer wieder eine mythische Form der Erkenntnis wittert. Im jüdischen Bilderverbot jedoch wird das offenbarende Moment von Erkenntnis festgehalten, ohne dem Falschen das Richtige entgegenzusetzen. Der Tod wird als Negatives entlarvt, seine Sinnlosigkeit aber nicht durch Einsicht in eine höhere Wahrheit abgemildert oder gar gerechtfertigt, wie es der Mythos durchaus tut. Vor diesem Hintergrund stellt sich der moderne Streit zwischen Glauben und Wissen als bloße Wiederkehr der Dynamik dar, die auch schon die Bewegung zwischen Mythos und Aufklärung bestimmte. Die jüdische Religion geriet dadurch in Spannung zu einer Moderne, die jenen Streit zur Entscheidung bringen will und heute nur vor der Alternative zu stehen scheint, sich entweder einem unbedingten Glauben an die positivistische Wissenschaft oder dem in einer Überdrehung von Theorie gewonnen, erfahrungslosen Wissen, um die große Weltverschwörung zu überantworten. Diese geschichtsphilosophische Deutung des Für-​und-​Widers zwischen Wissen und Glauben deutet sich zumindest auch schon

48 Cf. Scholem, Gershom: „Offenbarung und Tradition als religiöse Kategorien des Judentums“. In: Tiedelmann, Rolf (Hrsg.) Judaica. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1984, S. 189–​227. Für einen Überblick über Scholems besondere geschichtliche und philosophische Perspektive auf die jüdische Religion, siehe das Kapitel Theology, Language, and History in Biale, David: Gershom Scholem. Kabbalah and Counter-​ History. Harvard University Press: Cambridge 1982, S. 112–​146. 49 Adorno /​Horkheimer, S. 27.

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bei Adorno und Horkheimer an. Sie gehört nicht zu den schlechtesten Ansätzen, um zu erklären, warum ausgerechnet in der Moderne, in der doch das Christentum und so auch dessen Antijudaismus an Einfluss und Kraft verloren haben, Antisemitismus zu einem globalen Phänomen geworden ist. Dass gerade der Hass auf jenes Stück geglückter Entmythologisierung auch ein unbewusstes, aber darum nicht weniger mächtiges Motiv des modernen Antisemitismus sein könnte, dieser These wird in den Elementen zum Antisemitismus Ausdruck verliehen. So gelten sie der fortgeschrittenen Zivilisation für zurückgeblieben und allzu weit voran, für ähnlich und unähnlich, für gescheit und dumm. Sie werden dessen schuldig gesprochen, was sie, als die ersten Bürger, zuerst in sich gebrochen haben: der Verführbarkeit durchs Untere, des Dranges zu Tier und Erde, des Bilderdienstes. Weil sie den Begriff des Koscheren erfunden haben, werden sie als Schweine verfolgt. Die Antisemiten machen sich zu Vollstreckern des alten Testaments: sie sorgen dafür, daß die Juden, da sie vom Baum der Erkenntnis gegessen haben, zu Erde werden.50

Es ist wichtig, dieses Motiv im hiesigen Zusammenhang zu erwähnen. Denn Adorno und Horkheimer verfolgen mit ihrer Studie keine spekulative Religionsphilosophie, sondern wollen konkret beantworten oder zumindest zu beantworten versuchen, wieso die Moderne so Unmenschliches wie den auf Vernichtung zielenden Antisemitismus überhaupt hervorbringen konnte. Die moderne Menschheit bietet dem Mythos noch immer genügend Residuen, und zwar gerade dort, wo die nominalistische Aufklärung es nicht vermutet. Dies ist der Erklärungsansatz von Adorno und Horkheimer. Auch die spekulative Deutung des Judentums findet vor diesem Hintergrund statt.

3. Das Bilderverbot als bestimmte Negation Das Verbot, sich von Gott ein Bild zu machen, das Verbot des Götzendienstes also, ist nicht äquivalent mit einem Gebot, das den Glauben an den einen Gott fordert. Ersteres fordert, bestimmte Praktiken zu unterlassen, Letzteres ein Bekenntnis. Ersteres bietet eine Bestimmung des Falschen, Letzteres eine Bestimmung des Wahren. Die Bestimmung des Falschen mag einen Begriff von Wahrheit voraussetzen, sie setzt aber nicht die vollständige Bestimmung des Wahren voraus. Das Bekenntnis hingegen setzt die Bestimmung des Wahren voraus und bestimmt davon ausgehend das Falsche. Adorno und Horkheimer assoziieren das jüdische Bilderverbot mit der ‚bestimmten Negation‘ Hegelscher Provenienz. Diese Assoziation ist selbstverständlich keine historisch-​philologische. Hegel hatte nicht das jüdische Bilderverbot vor Augen, als er von einer ‚bestimmten Negation‘ innerhalb der dialektischen Bewegung des Geistes sprach. Adorno und Horkheimer meinen hier eine philosophische Nähe. Sicherlich hat die Assoziation dieser beiden

50 Ibid., S. 216.

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Methoden der Erkenntnis –​wenn ich beides für einen Augenblick so nennen darf –​ viel mit ihrem persönlichen Leben zu tun. Aber: Dies gilt für jede Assoziation und ist weder ein Argument dafür, die Tragweite einer Assoziation für besonders begrenzt zu halten, noch ein Argument für die Aussagekraft einer Assoziation. Viel wichtiger für die Beurteilung ist, welche Argumente Adorno und Horkheimer für ihre Assoziation vorbringen.

Hegels ‚Bestimmte Negation‘ und die Bewegung des Geistes Die bestimmte Negation wird von Hegel in der Einleitung zur Phänomenologie des Geistes im Zusammenhang einiger erkenntnistheoretischer Überlegungen beschrieben. Die Bewegung des Gedankens ist bei Hegel eine dialektische und ohne sie sei eine Bestimmung der Wahrheit, d. h. Erkenntnis, nicht möglich. Damit ist nichts anderes gemeint, als dass eine im Denken gewonnene Einsicht, sobald sie zum Standpunkt verhärtet, notwendigerweise falsch wird und das Denken sich darum „verflüssigen“ müsse.51 Die vollkommene Verflüssigung des Denkens wäre der Skeptizismus, der nicht nur jede Einsicht dem Zweifel unterstellt, sondern in jeder Einsicht grundsätzlich eine falsche Bestimmung der Wahrheit sieht. Denn ein konsequenter Skeptizismus findet in jeder Bestimmung der Wahrheit einen Widerspruch, der dazu veranlasst, die jeweilige Bestimmung ganz zu verwerfen, er sieht in jedem neuen Resultat, welches das Bewusstsein hervorbringt, „nur immer das reine Nichts“. Der konsequente Skeptiker erkennt ganz zu Recht, dass die Bestimmung der Wahrheit im jeweiligen Bewusstsein falsch ist, er erkennt aber nicht, dass jede Bestimmung der Wahrheit bereits das Resultat der Bewegung des Geistes ist. Er abstrahiert von der inhaltlichen Dimension der Bestimmung und hält die widerspruchshafte Form der Bestimmung bereits für den zureichenden Grund, die Bestimmung in toto als falsch zu verwerfen. Hegel fordert darum, jedes Resultat der Bewegung des Geistes als „bestimmte Negation“ aufzufassen, als Bestimmung, die bereits aus der Negation falscher inhaltlicher Bestimmungen resultiert.52 Auch Adorno und Horkheimer kommen in jenem Absatz zum jüdischen Bilderverbot auf den Skeptizismus zu sprechen. Sie sehen in ihm nicht nur eine Form falschen Bewusstseins, sondern einen Verstoß gegen das Bilderverbot. „Die unterschiedslose Bestreitung jedes Positiven, die stereotype Formel der Nichtigkeit, wie der Buddhismus sie anwendet, setzt sich über das Verbot, das Absolute mit Namen zu nennen, ebenso hinweg wie sein Gegenteil, der Pantheismus, oder seine Fratze, die bürgerliche Skepsis“.53 Wie bei ihrer Kritik des Positivismus so möchten Adorno und Horkheimer auch hier darauf aufmerksam machen, dass

51 Siehe Hegel, G. W. F.: Phänomenologie des Geistes. In: Werke in 20 Bänden. ­Suhrkamp: Frankfurt am Main 1970 ff., Bd. 3, S. 36 f. 52 Ibid., S. 73 f. 53 Adorno /​Horkheimer, S. 46.

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sich die mythische Art und Weise, die Welt zu erklären, hier wiederholt. Positive Vorstellungen vom Absoluten verstoßen gegen das Bilderverbot genauso wie die Bestreitung jedes Positiven. Der bürgerliche Skeptizismus, obwohl er alles Positive bestreitet, wird zu einer positiven Bestimmung der Wahrheit. Gerade wegen dieser Erkenntnisstruktur des Skeptizismus sehen Adorno und Horkheimer im Skeptizismus einen Verstoß gegen das Bilderverbot. Der Götzendienst des Skeptizismus liegt nicht in der Anbetung falscher Götter, die neben dem einen wahren stünden, sondern in der Anbetung eines Gottes der Nichtigkeit, wenn man es paradox ausdrücken möchte. Das Nichts wird zum positiven Inhalt des Bewusstseins. Für Adorno und Horkheimer berühren sich hier die beiden Extreme (der Skeptizismus und der Pantheismus): Sie beide haben die Struktur einer mythischen Erklärung der Welt, sprich einer Ontologie, die dem Schicksal das Wort redet. Die Erklärung der Welt als Nichts oder Alls sind Mythologien und die garantierten Pfade zur Erlösung sublimierte magische Praktiken. Die Selbstzufriedenheit des Bescheidwissens und die Verklärung der Negativität zur Erlösung sind unwahre Formen des Widerstands gegen den Betrug.54

Adorno und Horkheimer folgen hier Hegels Kritik am Skeptizismus. Obwohl der Skeptizismus gegen den Betrug ankämpft und ähnlich dem Bilderverbot der menschlichen Erkenntnis misstraut, wird er selbst zu einer positiven Form der Erkenntnis, welche die Wahrheit darin bestimmt, dass die Bestimmung der Wahrheit grundsätzlich unmöglich sei. Das Bewusstsein, welches auch in dieser Art des Denkens, in dieser Form des Bewusstseins, einen verhärteten Standpunkt erkennt, nennt Hegel ein „unglückliches“: es ist zur Erkenntnis gekommen, dass die Formen des Denkens für sich allein nicht der Wahrheit fähig sind. Die dialektische Bewegung erschöpft sich nicht in reiner Reflexion, sondern sie muss ihr Anderes in sich aufnehmen. Darum bestimmt Hegel das Wahre als „Bewegung und Substanz“ zugleich. Die bestimmte Negation ist demnach das Resultat einer wiederkehrenden Bewegung des Geistes. Der Skeptizismus bricht jene Bewegung ab, weil er die jeweilige inhaltliche Bestimmung der Wahrheit nicht als Resultat dieser Bewegung auffasst, sondern abstrakt der Form nach als Setzung des Bewusstseins verwirft. Die Bewegung des Geistes fortzuführen, würde hingegen heißen, eine bestimmte Negation des Falschen hervorzubringen. Die Bestimmung der Wahrheit liegt dann nicht darin, eine richtige Form des Bewusstseins hervorzubringen, sondern das Falsche zu bestimmen. Die Formen des Bewusstseins können dann nicht als adäquate Formen zur Bestimmung der Wahrheit gesehen werden, aber sie sind auch nicht abstrakt als grundsätzlich falsch zu verwerfen. Bei Hegel ist die bestimmte Negation das Resultat einer immer wiederkehrenden Bewegung des Geistes. Genau diese aber gibt Hegel zufolge die Entwicklung der Formen des Bewusstseins vor. Indem das jeweilige Resultat der dialektischen 54 Ibid.

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Bewegung des Geistes „aufgefaßt wird, als bestimmte Negation, so ist damit unmittelbar eine neue Form entsprungen und in der Negation der Übergang gemacht, wodurch sich der Fortgang durch die vollständige Reihe der Gestalten von selbst ergibt.“55 Der, wohlgemerkt, „vollständige“ Gang durch die Phänomenologie der Formen menschlicher Erkenntnis, die Erscheinungsformen des Geistes, würde sich darum also automatisch ergeben, wie Hegel hier in der Einleitung zur Phänomenologie des Geistes schreibt. An diesem Punkt kritisieren Adorno und Horkheimer ihn: Denn jene Hegelsche Methode, die sich nicht der positiven Bestimmung der Wahrheit verschreibt und gleichzeitig nicht dem Skeptizismus verfällt, wird so doch zu einer Methode, die schon vor aller Bestimmung der Wahrheit weiß, wie sie am Ende eine endgültige Bestimmung der Wahrheit liefern wird. Das Sein des Geistes sei durch seine Bewegung in ihm selbst vermittelt und es ist diese Totalität des Geistes, die von Hegel schließlich als Wahrheit bestimmt wird. Damit aber ist der Erkenntnisprozess, der doch Hegel selbst zufolge die bestimmte Negation erfordert, schon im Voraus auf ein Endresultat festgelegt. Genau hier setzt die Kritik von Adorno und Horkheimer an. Mit dem Begriff der bestimmten Negation hat Hegel ein Element hervorgehoben, das Aufklärung von dem positivistischen Zerfall unterscheidet, dem er sie zurechnet. Indem er freilich das gewußte Resultat des gesamten Prozesses der Negation: die Totalität in System und Geschichte, schließlich doch zum Absoluten machte, verstieß er gegen das Verbot und verfiel selbst der Mythologie.56

Die bestimmte Negation, die immer nur konkret vollzogen werden kann, wird wie ein Gesetz zur Bestimmung der Wahrheit genommen. Die Methode kennt bereits ihr Ziel, sie visiert im Voraus bereits den Weg an, der sich eigentlich nur in der konkreten Auseinandersetzung ergeben kann. Aus dem erkenntnistheoretischen Modell wird so ein Gesetz der Erkenntnis. Darum sehen Adorno und H ­ orkheimer in den Resultaten der Hegelschen Philosophie eine Wiederkehr der mythischen Erklärung der Welt. Die Begriffe, die im erkenntnistheoretischen Sinne mit der Idee Gottes verbunden sind, der Begriff des Absoluten, der Unendlichkeit, der Wahrheit, sollen in den Endresultaten der Hegelschen Philosophie begrifflich erfasst sein. Das jüdische Bilderverbot enthält kein Dogma zur Abstraktion. Es fordert keinen abstrakten, leeren Begriff von Gott oder seine abstrakte Bestimmung als Absolutes, sondern sieht in der Offenbarung Gottes Wahrheit, welche vor eilfertigen Bestimmungen des Menschen geschützt werden muss. In diesem Sinne möchte auch Horkheimer in jenem schon eingangs erwähnten Gespräch mit Guminor das Bilderverbot verstehen: „Ich glaube dieses Gebot gibt es deshalb, weil es in der jüdischen Religion nicht so sehr darauf ankommt, wie Gott ist, sondern wie der Mensch ist.“57 Aufklärung ist die getreue Durchführung der bestimmten 5 5 Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 74. 56 Adorno /​Horkheimer, S. 47. 57 Horkheimer, S. 387.

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Negation des Falschen und nicht identisch mit dem Zerfallsprozess von Wahrheit, der Entfremdung des Geistes. Sobald die bestimmte Negation als Motor einer dialektischen Bewegung verstanden wird, deren Resultat als Bestimmung der Wahrheit gilt, führt auch sie zu einem Standpunkt des Denkens. Genau dies sei in der Hegelschen Philosophie der Fall, so Adornos und Horkheimers Diagnose. Sie wird dadurch zur Mythologie, weil sie die bestimmte Negation selbst zum bloßen Instrument der Wahrheitsfindung und damit zu einem letztlich nichtigen Moment innerhalb der Totalität des Systems mache.

Dialektik offenbart vielmehr jedes Bild als Schrift Hegels Gebrauch der bestimmten Negation als einer Methode der Erkenntnis verfällt letzten Endes selbst einem Götzendienst. Trotzdem assoziieren Adorno und Horkheimer das jüdische Bilderverbot mit der bestimmten Negation. Denn anders als Hegel, sehen sie in der bestimmten Negation nicht eine immer wiederkehrende Bewegung des Geistes, sondern eine Bruchstelle in der Bewegung des Geistes. Sie rettet etwas für die Erkenntnis, was im nominalistischen Denken nicht aufgeht. Genau genommen ist es gerade die bestimmte Negation, welche die mimetische Dimension des Bildes als eine Quelle der Erkenntnis retten kann. Gerettet wird das Recht des Bildes in der treuen Durchführung seines Verbots. Solche Durchführung, ‚bestimmte Negation‘, ist nicht durch die Souveränität des abstrakten Begriffs gegen die verführende Anschauung gefeit, so wie die Skepsis es ist, der das Falsche wie das Wahre als nichtig gilt. Die bestimmte Negation verwirft die unvollkommenen Vorstellungen des Absoluten, die Götzen, nicht wie der Rigorismus, indem sie ihnen die Idee entgegenhält, der sie nicht genügen können. Dialektik offenbart vielmehr jedes Bild als Schrift.58

Bestimmte Negation ist, in der Interpretation Adornos und Horkheimers, weit davon entfernt, irgendein allgemeines Prinzip aufzurichten, auch nicht den abstrakten Begriff als Form konkreter Inhalte. Das, was der Nominalismus als bloßen Inhalt begreift, muss als Ausdruck genommen werden. Nicht als ein Ausdruck des Wahren, aber überhaupt als Ausdruck, der gelesen werden kann. An diesem Punkt wird das Recht des Bildes gerettet. Denn obwohl jeder konkrete Ausdruck der Kritik der Idolatrie nicht entrinnen kann und nicht als unmittelbare Erscheinung der Wahrheit gelten kann, so muss ein jeder Ausdruck ernst genommen werden als konkreter Verweis aufs Falsche und darum als bestimmte Negation der Wahrheit. Diese Dialektik enthüllt nicht die Wahrheit und verdammt nicht alles im Namen der Kritik, sondern „offenbart jedes Bild als Schrift.“ Die hiesige Vorstellung des Bildes unterscheidet sich grundsätzlich von der Vorstellung des Nominalismus. Der Nominalismus kennt das Bild nur als Abbild, als bloße Repräsentation oder als Verdopplung, nicht aber als etwas, das wie

58 Adorno /​Horkheimer, S. 46.

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Schrift gelesen und dessen Sinn entschlüsselt werden müsste. Erkenntnistheoretische Überlegungen und sogar die hiesige Formulierung stehen der Philosophie Walter Benjamins sehr nahe. Im Werk Benjamins findet man Ähnliches, allerdings in andern Gestalten und Zusammenhängen: wie in seiner Vorstellung vom mimetischen Vermögen, seiner in Konstellationen lesenden Ideenlehre, seiner Ausdruckstheorie der menschlichen Sprache und der Erkenntnisform, die er selbst als ‚dialektisches Bild‘ oder als ‚Dialektik im Stillstand‘ bezeichnet hat.59 Der Begriff des dialektischen Bildes war Gegenstand einer Kontroverse zwischen Benjamin und Adorno, die durch Benjamins Kafka-​Aufsatz von 1934 angestoßen wurde. Offensichtlich gibt es eine ästhetische Dimension des Bilderverbots, die sich in dieser Vorstellung des Bildes niederschlägt und die Adorno später in seiner Ästhetischen Theorie sich zu eigen machen sollte. Von wem genau das eine oder andere Element dieser Gedanken stammt, möchte ich hier nicht rekonstruieren. Wichtiger für uns ist hier, dass der Begriff des dialektischen Bildes nicht nur eine andere Vorstellung vom Bild, sondern auch eine andere Vorstellung von Dialektik mit sich bringt, nämlich Dialektik als eine Fähigkeit, Bilder zu lesen, gleichsam wie Hieroglyphen zu entziffern. Hieroglyphen erscheinen als bildliche Darstellungen, sie sind aber Schriftzeichen und können darum gelesen werden. Das Verfahren der bestimmten Negation behauptet, dass es nicht notwendig ist, bereits den ganzen Schlüssel zu kennen, um etwas vom Sinn des Geschriebenen entziffern zu können. Die Aufgabe für die Erkenntnis ist dann nicht, das gegebene Bild ins Zeichen aufzulösen, sondern es als sinnvollen Ausdruck zu lesen. Das Problem für die menschliche Erkenntnis ist dabei: der Schlüssel fehlt. Darum ist es nur möglich, den Sinn negativ zu bestimmen, man könnte auch sagen: invers zu konstruieren. „Dialektik offenbart vielmehr jedes Bild als Schrift. Sie lehrt aus seinen Zügen das Eingeständnis seiner Falschheit lesen, das ihm seine Macht entreißt und sie der Wahrheit zueignet. Damit wird Sprache mehr als ein bloßes Zeichensystem.“60 * So mancher Gedanke aus der Dialektik der Aufklärung könnte als dialektisches Bild in diesem Sinne verstanden werden, als ein Versuch, die Konstellationen am Himmel der Geschichte zu entziffern, und nicht als ein weiter Scheinwerfer, der auf die „vollends aufgeklärte Erde“ gerichtet wird.61 Aufklärung, Mythos,

59 Cf. zu diesem Thema Buck-​Morss, Susan: Die Dialektik des Sehens. Suhrkamp: ­Frankfurt am Main 1993, S. 262–​307. 60 Adorno /​Horkheimer, S. 46 f. 61 Zumindest scheint mir dieser Ansatz nicht nur ergiebiger, sondern auch weitaus adäquater zu sein, als die Dialektik der Aufklärung wie eine gigantische Ideologiekritik am Prozess der Aufklärung zu interpretieren, wie Habermas es getan hat. Siehe: Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne, Suhrkamp:­ Frankfurt am Main 1985, S. 130–​157.

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Entmythologisierung, Nominalismus, Positivismus, Religion und das „Eingedenken der Natur ins Subjekt“62 sind in gewissem Sinne die Fixpunkte in diesen Konstellationen. Aber das Verhältnis zwischen diesen Punkten kann nicht einfach als ontologisches, als gegebenes, als historisch sich konstant entwickelndes und vor allem nicht als bereits vollendetes genommen werden. Die Beziehungen sind geschichtlich veränderbar und darum funktioniert das dialektische Bild nicht einfach wie eine Sternenkarte für diese Konstellationen. Die Adaption des jüdischen Bilderverbots ist dann sicherlich ebenfalls einer dieser Gedanken: „Gerettet wird das Recht des Bildes in der treuen Durchführung seines Verbots.“ Insbesondere dieser Satz mag als Kern einer Dialektik im Stillstand gelesen werden. Nichts anderes habe ich in diesem Essay versucht. Er korrespondiert mit den genannten Elementen und erläuterten Gedanken. Nicht nur für das Verständnis der Dialektik der Aufklärung, sondern um überhaupt die Beziehungen zwischen Kritischer Theorie, Aufklärung, Theologie, Religion und insbesondere der jüdischen Religion zu begreifen, ist es wichtig, dieser Adaption des jüdischen Bilderverbots Aufmerksamkeit zu schenken. Freilich, die Adaption jenes religiösen Verbots löst es aus seinem religiösen Zusammenhang, lässt es in einen philosophischen eingehen und ändert dadurch seinen Gehalt. Aber das betrifft nicht nur das biblische Gebot, sondern genauso die Adaption von Hegels Begriff der bestimmten Negation. Auch er wird in einer radikalen Weise verändert, er verliert seine Funktion innerhalb der idealistischen Philosophie Hegels und wandelt sich zu einem Element im Projekt der Entmythologisierung, ähnlich wie es Adorno in der Negativen Dialektik beschreibt. Die Adaption des jüdischen Bilderverbots ist keine Schutzvorkehrung, um zu verhindern, dass die dialektische Bewegung des Denkens positiv oder zum Fundament einer falschen Praxis wird. Adorno und Horkheimer malen nicht aus, wie Versöhnung gesellschaftlich oder in der Erkenntnis sein sollte oder sein wird. Sie schauen auf die Geschichte und möchten offenlegen, wie Versöhnung nicht sein kann. Das dialektische Bild, welches sie entwerfen, zeigt sicherlich nicht die Versöhnung, aber es zeigt, dass Versöhnung noch nicht ist. Sie schauen nicht in den Himmel der Geschichte, um in ihm die Zukunft zu erblicken, sondern um ihn als Erscheinung zu lesen, in dem die Wahrheit verborgen ist. Das Gebot, die Zukunft nicht durch Astrologie oder andere magische Praktiken vorauszusagen, ist im jüdischen Recht bekannt. Die Sterne sind in der Moderne wieder, wie es der Titel einer Studie von Adorno zu diesem Thema ausspricht, Down to earth gekommen und auch Benjamin hat sich jenes jüdische Gebot in seinen Thesen zum Begriff der Geschichte zu eigen gemacht. Die Beziehung zwischen religiöser Tradition und philosophischem Denken ist ein wiederkehrendes Thema in der Kritischen Theorie. Aber muss man nicht zugeben, dass die Adaption eines religiösen Gebots wie dem jüdischen Bilderverbot in einen philosophischen Zusammenhang selbst schon eine Verletzung des religiösen Gebots darstellt? Dem wäre nur dann so, wenn die jeweilige philosophische Adaption Religion als eine 62 Ibid., S. 64.

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falsche Gestalt des Bewusstseins abstrakt negieren würde, wie es etwa der Skeptizismus macht. Dies aber ist nicht die Intention von Adorno und Horkheimer. Das Verhältnis zwischen Religion und Profanität als gegebenes oder als mehr oder weniger entschiedenes zu denken, muss wohl ebenfalls als eine Verletzung des Bilderverbots gelten –​die Frage ist vielmehr wo genau der Mythos überdauert und wie Entmythologisierung glücken kann.

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Lars Tittmar

Sturm in der Erscheinung. Zum Bilderverbot in Ernst Blochs Ästhetik des Vorscheins Der marxistische Philosoph Ernst Bloch ist wie kein anderer diesem Denkzusammenhang entstammender Theoretiker dem Begriff der Utopie verbunden wie auch verpflichtet. Vor diesem Hintergrund wird er oft als Antipode zu einer auf Negativität fixierten Kritischen Theorie angesehen. Während deren Vertreter, wobei in diesem Zusammenhang Theodor W. Adorno im Mittelpunkt steht, angeblich nicht über das Bestehende hinausblicken wollen und dies mit dem Begriff des Bilderverbots unterlegen, wird Bloch als derjenige begriffen, der über genau diesen Punkt hinausgehe. Für den Politikwissenschaftler Richard Saage gilt Bloch dann auch als „einer der ersten […] der sich im deutschen Sprachraum über das antiutopische Bilderverbot der marxistischen Denktradition hinwegsetzt.“1 Dabei wird übersehen oder unterschlagen, dass Blochs Philosophie der Hoffnung vor allem utopisches Bewusstsein stärken möchte und nicht den besseren, vom Gegenwärtigen grundverschiedenen Zustand gedanklich vorwegnehmen will. Sein Hauptwerk Das Prinzip Hoffnung ist der Versuch einer dialektischen, materialistischen Erkenntnistheorie des Utopischen. Es ist kein am Schreibtisch entworfener Plan für eine zukünftige Gesellschaft, sondern die von ihm behandelten Werke menschlicher Tätigkeit werden als Ausdruck eines latenten Strebens nach einer besseren Welt begriffen. Dabei unterscheidet er immer wieder gelungene Artikulationen dieser Sehnsucht von gescheiterten, falschen, schlechten utopischen Entwürfen. Vor diesem Hintergrund ist es wenig überraschend, dass Bloch in einem Gespräch mit Adorno über die Notwendigkeit utopischen Denkens auch in der Frage nach dem Stellenwert des Bilderverbots mit diesem übereinkommt. Adorno definiert das Bilderverbot dort zunächst wie folgt: Was da gemeint ist, das ist eigentlich, um der Utopie willen zu verbieten, von der Utopie ein Bild zu machen, im tiefen Zusammenhang mit dem Gebot: „Du sollst dir kein Bild machen!“, das wahrscheinlich ebenso die Abwehr der zu billigen, der falschen, der Utopie ist, die sich es abkaufen läßt, was eigentlich gedacht war.2

1 Saage, Richard: Utopische Profile. Band 4. Widersprüche und Synthesen des 20. Jahrhunderts. LIT: Münster 2004, S. 401. 2 Bloch, Ernst /​Adorno, Theodor W.: „Etwas fehlt… Über die Widersprüche der utopischen Sehnsucht. Ein Gespräch mit Theodor W. Adorno“. In: Traub, Rainer /​Wieser,

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Bloch begegnet dem mit Zustimmung und fügt hinzu, dass der Versuch, Utopie in ihrer konkreten Ausgestaltung, ob als Bild oder in literarischer Form, als schon seiend darzustellen zu einer Entwertung ihrer kritischen Funktion führt. Er fügt dem an: „Also Bilderstürmerei gegen solche Verdinglichung ist jetzt in dem Zusammenhang vollkommen richtig.“3 Was hier implizit anklingt ist ein Verständnis der Figur des Bilderverbots, welches kein Verbot im Sinne einer Unterlassung mit Strafe bei Zuwiderhandlung meint, sondern einen Begriff mit einer kritischen Funktion. Daher soll untersucht werden, wo und inwieweit das Bilderverbot in Blochs Philosophie anwesend ist und welche Funktion ihm zukommt. Dies gilt insbesondere auch für Blochs Ästhetik des Vor-​Scheins, die hier im Mittelpunkt stehen soll. Zu Beginn wird Blochs Konzeption einer materialistisch begriffenen Philosophie der Hoffnung erläutert, was Anhand der Begriffe von Front, Novuum und Materie geschieht. Hier wird deutlich, dass Bloch utopisches Streben zwangsläufig mit einer Grenze konfrontiert sieht, die er als notwendige begreift. In einem zweiten Schritt wird die Anwesenheit und Wirkungsweise des Bilderverbots in Blochs Ästhetik aufgezeigt, da in Bezug auf diese der Grenzbegriff mit dem und als Bilderverbot zu begreifen ist. Zentral ist dabei auch die Erweiterung des Scheins als etwas potenziell Trügerischem zum Vor-​Schein als dem Ausdruck utopischen Strebens. An dieser Stelle soll erkennbar werden, dass Bloch diese Unterscheidung in der Funktion des Scheins nur vor dem Hintergrund und der Wirkungsweise des Bilderverbots als einer Bewegung im dialektischen Sinn vornehmen kann. Im daran anschließenden letzten Punkt wird aufgezeigt, wie Bloch gelungene und gescheiterte Kunst bzw. die Reflexion des Utopischen innerhalb dieser vor dem Hintergrund einer Notwendigkeit, utopische Sehnsüchte zum Ausdruck zu bringen, unterscheidet.

1. Zur Grundkonzeption einer materialistischen Philosophie der Hoffnung Blochs Werk ist der Versuch, eine Ontologie des Noch-​Nicht-​Sein zu entwerfen. In dieser geht es ihm insbesondere um die Offenheit der Zukunft und das Noch-​Nicht-​Abgeschlossene im menschlichen Entwicklungsprozess. Im Zusammenhang damit entwickelt Bloch einen Materialismus, in welchem die Materie aufgrund ihrer Eigenschaft „als einheitliches Substrat des Weltprozesses, als Träger von Entwicklung und damit als Stoff, aus dem das Neue wird, als Bedingung der Möglichkeit von Utopie“4 angesehen wird. Das Prozesshaft-​Offene der Materie im Zusammenhang mit der menschlichen Entwicklung soll das, was noch nicht Harald (Hrsg.): Gespräche mit Ernst Bloch. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1975, S. 58–​77, hier S. 69. 3 Ibid. 4 Zudeick, Peter: „Materie“. In: Beat, Ditschey /​Zimmermann, Reiner /​Id. (Hrsg.): Bloch-​ Wörterbuch. De Gruyter: Berlin /​Boston 2012, S. 265–​275, hier S. 265.

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ist, als Möglichkeit begreifbar werden lassen. Die Verwirklichung der Utopie einer befreiten Menschheit ist für Bloch das Ziel dieses Prozesses, wenn auch keinesfalls das Erreichen dieses Ziel garantiert ist. Den Bogen zwischen Materie und Utopie schlägt Bloch, indem er aus der aristotelischen Bestimmung von Materie ableitend in dieser mit dem Nach-​Möglichkeit-​Seienden (Kata to dynaton) einerseits und dem In-​Möglichkeit-​Sein (Dynamei on) andererseits das Utopische in der Materie schon angelegt sieht: Bedeutet doch das Kata to dynaton in der Folge genau so die nötige Anzahl der partiellen Bedingungen, damit Utopie eine konkrete, eine materiell durchführbare sein könne, wie das Dynamei on die Grundbestimmung überhaupt angibt, wodurch Utopie in der Welt noch ein Substrat hat.5

Das Ergebnis des dialektischen Prozesses, der für Bloch im Widerstreit zwischen dem real schon Existierenden und dem in Latenz wie Tendenz vorhandenen Möglichen besteht, ist das Neue als noch nie Dagewesenes, als Novum. Dieser Begriff ist Teil einer Begriffs-​Triade: Front, Novum und Ultimum. Während Letzteres den Zielinhalt des Utopischen als das final zu Erreichende meint, was am Ende des menschlichen Entwicklungsprozesses und der Geschichte steht (wobei diese dann im empathischen Sinn erst anfangen würden), ist das Novum die Kategorie, die zwischen dem gegenwärtig herrschenden Zustand und dem aus dem dialektischen Prozess neu Entspringenden unterscheidet. Dem Novum kommt so die Vermittlung zwischen Gegenwart und Utopie zu. Die Kategorie der Front schließlich „ist der vorderste Abschnitt der Zeit, wo die nächste entschieden wird.“6 Sie ist der Begriff, der die tatsächliche Auseinandersetzung der utopischen Tendenzen, dem Streben nach dem Besseren, mit der Gegenwart beschreibt. Da das Ultimum am Ende steht und somit nicht mehr Teil des Prozesses, sondern vielmehr dessen Ergebnis ist, äußert Bloch in Bezug auf seine Konzeption von Dialektik: „Drei Kategorien des dialektischen Prozesses sind folglich zentral: Front, Novum, Materie;

5 Bloch, Ernst: Tübinger Einleitung in die Philosophie. Gesamtausgabe Band 13. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1977, S. 208 f. An anderer Stelle legt Bloch sein Grundverständnis von Materie wie folgt dar: „Materie, das ist nicht der mechanisch bewegte Klotz, sondern –​gemäß dem implizierten Sinn der Aristotelischen Materie-​Definition –​sowohl das Nach-​Möglichkeit-​Seiende, also das, was das jeweils historisch Erscheinenkönnende bedingungsmäßig bestimmt, wie das In-​Möglichkeit-​ Seiende, also das reale Möglichkeitssubstrat des dialektischen Prozesses. Gerade als bewegtes Sein ist die Materie ein nach vorwärts offenes, ein in seinen Möglichkeiten noch unausgetragenes Sein; sie ist der Boden und die Substanz, worin unsere Zukunft, als ihre ebenso eigene, ausgetragen wird.“ (Bloch, Ernst: Philosophische Aufsätze zur objektiven Phantasie. Gesamtausgabe Band 10. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1985b, S. 316) 6 Ibid.

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alle drei setzen die ehrlichste menschlichste Eigenschaft zur Erfassung und Betätigung voraus: Hoffnung.“7 Im Gegensatz zum objektiv Möglichen, welches „alles [ist], dessen Eintritt auf Grund einer bloßen Partial-​Erkenntnis seiner vorhandenen Bedingungen wissenschaftlich erwartbar ist oder wenigstens nicht ausgeschlossen werden kann“8, ist in der Kategorie des Novum „die reale Möglichkeit des Noch-​Nicht-​Bewusstseins, Noch-​Nicht-​Gewordenen“9 aufgehoben. Das real Mögliche kennzeichnet sich dadurch, dass seine Bedingungen in Bezug auf seine objektive Seite noch nicht vollständig erfüllt sind, da sie sich noch nicht vollkommen herausgebildet haben bzw. es selber als Neues neue Bedingungen, die zu seiner Realisierung unabdingbar sind, hervorbringt. Das real Mögliche, als „zureichend vermittelter, also dialektisch-​ materialistisch vermittelter Neuheit“10, verkörpert die Latenz, die dem utopischen Streben als „ihr konkretes Korrelat“11 eine Grundlage gibt, die es schlussendlich als materialistisch begriffene Hoffnung vom bloß abstrakten, schwärmerischen Utopismus unterschiedet. So ist das Unabgeschlossene des menschlichen Entwicklungsprozesses nach Bloch die Möglichkeit des Einspruchs utopischen Denkens gegen das Faktische als scheinbar Unveränderlichem. Gleichzeitig ist aber die Vermittlung des utopischen Gedankens mit den vorgefundenen Gegebenheiten zentral für seine kritische Bedeutung und auch die Abgrenzung gegenüber abstrakten Utopien: Und solange die Wirklichkeit noch keine vollständig ausdeterminierte geworden ist, solange sie in neuen Keimen wie neuen Räumen der Ausgestaltung noch unabgeschlossene Möglichkeiten besitzt: solange kann von bloß faktischer Wirklichkeit kein absoluter Einspruch gegen Utopie ergehen. Es kann Einspruch gegen schlechte Utopien ergehen, das heißt gegen abstrakt ausschweifende, schlecht vermittelte, jedoch gerade die konkrete Utopie hat in der Prozeßwirklichkeit ein Korrespondierendes: das des vermittelten Novum.12

Für Bloch wird somit die prozesshaft vermittelte Latenz des Noch-​Nicht-​Gewordenen, wie er sie in der Kategorie des Novum verkörpert sieht, zur Instanz für die Frage nach guten, konkreten und schlechten, abstrakten Utopien. Ein solches Urteil über Utopien kann als das „kritische Recht“13 des utopischen Denkens nur vom Standpunkt dieses Denkens selber vorgenommen werden und nicht von

7 Ibid. 8 Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung. Gesamtausgabe Band 5. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1978, S. 225. 9 Bloch 1985b, S. 316. 10 Bloch 1978, S. 226. 11 Ibid. 12 Ibid. 13 Ibid.

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dem des Bestehenden aus, da sonst das „Vorhandene und Gewordene zur Realität schlechthin“14 verabsolutiert werden würde. Bloch spricht auch von einem Widerstand gegen das Novum als Noch-​Nicht-​ Bewusstes, der im Objekt selber entspringt und sich gegenüber einem Subjekt geltend macht, dass das Neue zu explizieren hat. Die von ihm so bezeichnete Sperre „tritt zunächst und überall als eine geschichtliche auf. Genauer als eine gesellschaftliche; das auch dann, wenn das Auszusagende oder zu Erkennende an und für sich selber keinesfalls neu ist.“15 Die hier aufgezeigte Grenze liegt im Material selbst und den jeweils vorgefundenen geschichtlich-​gesellschaftlichen Bedingungen, hierbei aber vor allem in der Tatsache des „prozessual-​unabgeschlossenen Zustand[s]‌“16 des Materials. Diese objektive Grenze als eine der Erkenntnis begründet sich im noch unabgeschlossenen Prozess und lässt sich „am wenigsten als bereits Fertiges, gar überschwänglich Sonnenklares abspiegeln oder deklarieren.“17 Hier lässt sich bereits erahnen, dass es Bloch nicht um das Entwerfen einer zukünftigen Gesellschaft geht bzw. deren bildlicher Vorwegnahme: diese hält er auch schlicht für nicht möglich, außer als einer abstrakten und somit schlechten Utopie. Blochs Anliegen ist es, die Ausdrücke utopischer Sehnsucht, das Streben nach dem Besseren aufzuzeigen und in eine Philosophie zu integrieren, die sich mit dem Status quo grundsätzlich nicht abfinden will. Stattdessen unternimmt es seine Philosophie, dieses Streben sowohl im Verlauf der Geschichte aufzuzeigen wie auch für die Gegenwart zu verstärken in der Hoffnung, damit einen Beitrag zur Veränderung der Welt zu leisten. Es ist somit die Aufgabe seiner Philosophie, nicht abstrakt in eine konstruierte Zukunft abzuschweifen, sondern die Gehalte der Hoffnung auf das Bessere herauszuarbeiten und deren kritisches, unabgegoltenes Potential zur Geltung zu bringen. Blochs Philosophie einer materialistisch begriffenen Hoffnung sieht sich dabei in der Gegenwart dem Kampf für eine Zukunft verpflichtet, die als eine von Ausbeutung und Herrschaft befreite auch in den Zeugnissen der Vergangenheit anwesend ist wodurch diese wiederum als Teil eines noch nicht entschiedenen Prozesses aktualisiert wird. Blochs Philosophie schweift nicht ab in mit der Gegenwart unvermittelte Welten einer utopischen Zukunft, sondern hat ihren Platz dort, wo der Prozess des Weltverlaufs schlussendlich entschieden wird: „Philosophie der begriffenen Hoffnung steht darum per definitonem an der Front des Weltprozesses, das ist, an dem so wenig durchdachten vordersten Seinsabschnitt der bewegten, utopisch offenen Materie.“18 Die unabgegoltene Zukunft in der Vergangenheit versucht Bloch in seiner Ästhetik des Vorscheins geltend zu machen. Die Ästhetik steht als solche an der Front, an ihr ist es, das Streben zu befördern während in ihr gleichzeitig auch ein Streben erkennbar, ja erst sichtbar wird.

1 4 Ibid. 15 Ibid., S. 146. 16 Ibid., S. 147. 17 Ibid., S. 148. 18 Ibid., S. 230.

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2. Vor-​Schein und Bildersturm Worum es Bloch in seiner Ästhetik des Vor-​Scheins zunächst geht, ist die Aufwertung der Kunst und des Charakters ihres Scheins. Das Bilderverbot wird in diesem Zusammenhang zunächst negativ rezipiert, als Einspruch der religiös-​spirituellen Kunstfeindschaft gegen die Kunst überhaupt. Richtete sich die Abwertung der Kunst in der rationalistischen wie empiristischen Kritik noch gegen „den goldenen Nebel Kunst“19, also gegen deren Schein-​Charakter, so hatte die religiöse Kunstfeindschaft die Ablehnung von Kunst insgesamt als Darstellung des Schönen und „die in ihr überakzentuierte Erscheinung“ im Sinn.20 In diesem Zusammenhang zitiert Bloch das aus dem Dekalog stammende Gebot, welches für ihn den Bildersturm überhaupt erst in die Welt setzt, da Kunst der monotheistischen Religion als „gleißende, letzthin luziferische Vollendung, die der wahren ungleisnerischen im Weg steht, ja, sie verleugnet“21, gilt. Für Bloch besteht die Verwandtschaft der religiösen wie der rationalistischen und empiristischen Abwertung von Kunst in dem gemeinsamen „Wahrheitsanspruch gegen das Schöne“22. Bei aller Differenz bezüglich der Motivation wie auch Stoßrichtung dieser Ablehnung sieht Bloch beide Stränge der Kunstfeindschaft „geeint im willen zum Ernst gegen das Spiel des Scheins.“23 Bloch nimmt nun die Kritik, die aus der Setzung von Wahrheit gegenüber dem bloßen Schönen bzw. schönen Schein resultiert, auf und bringt die Kunst mit der Frage nach Wahrheit in Verbindung. Diese besteht dabei gerade nicht in der Tatsache möglichst realistischer Darstellung in der abbildlichen Kunst, sondern im Ausdruck eben jenes Scheins, welchen die religiöse und rationalistisch-​empiristische Kunstfeindschaft noch als Gegenpol zur Wahrheit begriffen hatte: [D]‌ie Frage nach der Wahrheit der Kunst wird philosophisch die nach der gegebenenfalls vorhandenen Abbildlichkeit des schönen Scheins, nach seinem Realitätsgrad in der keineswegs einschichtigen Realität der Welt, nach dem Ort seines Objekt-​ Korrelats. Utopie als Objektbestimmtheit, mit dem Seinsgrad des Realmöglichen, erlangt so an dem schillernden Kunstphänomen ein besonders reiches Problem der Bewährung.24

Die Aufgabe der Philosophie, insbesondere auch einer Philosophie materialistisch begründeter Hoffnung, besteht somit in Bezug auf die Kunst darin, nach dem realen Grund des Scheins zu fragen. Bloch entbindet den Begriff des Scheins aus seinem, auf Alexander Gottlieb Baumgarten zurückgehenden, negativen Verständnis

1 9 Ibid., S. 244. 20 Ibid. 21 Ibid., S. 245. 22 Ibid. 23 Ibid. 24 Ibid., S. 247.

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als niederem Erkenntnisvermögen und hebt ihn in den Bereich des Ontologischen. Wahrheit ist in einem Kunstwerk nach Bloch dann aufgehoben, wenn der Abbildlichkeit des Scheins im Werk eine Entsprechung in der sozialen, geschichtlichen Realität zukommt. Diese ist dann gegeben, wenn in einem solchen Werk ein Streben aufscheint, was entweder eine Latenz oder auch Tendenz zum Besseren hin zum Ausdruck bringt. Daher auch seine Formulierung, dass „Utopie als Objektbestimmtheit“ sich am Phänomen der Kunst zu beweisen habe: Utopie darf nicht mehr bloß abstrakt bleiben, sondern die utopischen Sehnsüchte müssen in der Kunst auffindbar sein, dort ihr Objekt-​ Korrelat haben. Der Schein-​ Charakter des Kunstwerks wird so auch verwandelt und ist nicht mehr der schöne Schein, sondern als objekthaft-​vermittelter der Schein des Noch-​Nicht-​Gewordenen. Die Wahrheit eines Kunstwerks bemisst sich somit an der Frage, ob es diesem gelingt mehr zu sein als trügerischer Schein und sich als Ausdruck utopischen Strebens zum Vor-​Schein zu erweitern: Und die Antwort auf die ästhetische Wahrheitsfrage lautet: Künstlerischer Schein ist überall dort nicht nur bloßer Schein, sondern eine in Bilder eingehüllte, nur in Bildern bezeichenbare Bedeutung von Weitergetriebenem, wo die Exaggerierung und Ausfabelung einen im Bewegt-​Vorhandenen selber umgehenden und bedeutenden Vor-​Schein von Wirklichem darstellen, einen gerade ästhetisch-​immanent spezifisch darstellbaren.25

Der Vor-​Schein unterscheidet sich für Bloch vom bloßen Schein dadurch, dass er zwar auch etwas ausdrückt, was so nicht ist, aber nach Blochs Worten eben noch-​ nicht ist: der Vor-​Schein bringt gerade die Tendenzen zum Ausdruck, die in der realen, geschichtlich-​gesellschaftlichen Welt umgehen und er ist der Versuch, die in den Tendenzen vorhandenen utopischen Potentiale durch deren Ausdruck auf ihre schlussendliche Verwirklichung hinzutreiben: „Eben dadurch wird Vor-​Schein erlangbar, daß Kunst ihre Stoffe, in Gestalten, Situationen, Handlungen, Landschaften zu Ende treibt, sie in Leid, Glück wie Bedeutung zum ausgesagten Austrag bringt.“26 Der Boden auf dem dieser Vorgang stattfindet ist der offene, dialektisch-​ materialistisch vermittelte Prozess und hierin ist das Substrat zu sehen, wodurch der Vor-​Schein nicht losgelöst von den vorgefunden Verhältnissen zu betrachten ist. Vielmehr ermöglicht es der Bezug auf die immanent vorhandenen Sehnsüchte, die gerade auch auf dem Boden der Verhältnisse gewachsen sind, die ästhetischen Gegenstände im Vor-​Schein als gelungene darzustellen: Ästhetisch dargestellt, das bedeutet: immanent-​gelungener, ausgestalteter, wesenhafter als im unmittelbar-​sinnlichen oder unmittelbar-​historischen Vorkommen dieses Gegenstands. Diese Ausgestaltung bleibt auch als Vor-​Schein Schein, aber sie bleibt nicht Illusion; vielmehr alles im Kunstbild Erscheinende ist zu einer Entschiedenheit

2 5 Ibid. 26 Ibid.

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hin geschärft oder verdichtet, die die Erlebniswelt zwar nur selten zeigt, die aber durchaus in den Sujets angelegt ist.27

Hier wird noch einmal eine entscheidende Differenz zwischen dem bloßen ästhetischen Schein und dem materialistisch-​dialektisch vermittelten Vor-​Schein deutlich: während jener etwas Unwirkliches, Transzendentes darstellt, ist dieser die Erweiterung der vorhandenen Erscheinungen und Gegenstände außerhalb der ästhetischen Sphäre. Daher bringt Bloch auch den Begriff der Virtualität ins Spiel, wenn er schreibt, solche Kunst „bleibt virtuell, doch im selben Sinn, wie ein Spiegelbild virtuell ist, das heißt, einen Gegenstand außerhalb seiner, mit aller Tiefendimension, auf der Reflexionsfläche wiedergibt.“28 Mit dem Bezug auf Virtualität scheint der Rückbezug auf ein affirmativ verstandenes Bilderverbot zunächst nahezu unmöglich: die Darstellung von etwas Nicht-​Vorhandenem bzw. so noch nicht Gewordenen scheint eher eine Vorwegnahme zu sein, die der im Bilderverbot geforderten Enthaltsamkeit gegenüber Aussagen das ganz Andere betreffend, konträr gegenüber steht. Im Anschluss erfolgt jedoch eine Explikation, die eben diesen Eindruck wegwischt und eine Grenze formuliert, über welche die im Vor-​Schein erfolgende Bewegung nicht hinausgelangt: Und der Vor-​Schein bleibt, zum Unterschied vom religiösen, bei allem Transzendieren immanent: er erweitert, wie Schiller gerade den ästhetischen Realismus am Exempel Goethes definierte, er erweitert die „Natur, ohne über sie hinauszugehen.“ Schönheit, gar Erhabenheit sind derart stellvertretend für ein noch nicht gewordenes Dasein der Gegenstände, für durchformte Welt ohne äußerlichen Zufall, ohne Unwesentlichkeit, Unausgetragenheit.29

Der Vor-​ Schein transzendiert das Gegebene, Vorgefundene, aber bleibt darin immanent in den Grenzen des darzustellenden Gegenstandes. Das ist eine dialektische Bewegung, die im Hinausgehen eine Grenze beachtet und diese Beachtung ist notwendig, um der Erweiterung, die dem Vor-​Schein zukommt, gerecht zu werden. Diese Erweiterung ist aber immanent und geht nicht über den zu erweiternden Gegenstand selbst hinaus. Bloch formuliert das Credo einer so verstandenen Ästhetik des Vor-​Scheins als Frage: „[W]‌ie könnte die Welt vollendet werden, ohne daß diese Welt, wie im christlich-​religiösen Vor-​Schein, gesprengt wird und apokalyptisch verschwindet“30? Er verweist hier explizit auf eine Stelle in Geist der Utopie, in welcher er das Motiv der Vollendung ohne apokalyptische Sprengung im Zusammenhang mit dem Problem des ästhetischen Ausdrucks behandelt. Noch stark von Motiven einer schwärmerischen, expressionistischen Religiosität geprägt, wird die Bewegung einer Transzendierung ohne Sprengung bzw. Überschreitung erkennbar, wenn er fragt, wie die Dinge und Menschen vollkommen 2 7 Ibid., S. 247 f. 28 Ibid., S. 248. 29 Ibid. 30 Ibid.

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dargestellt werden können, „solange das innere-​obere Licht noch verborgen ist und der Sprung seiner ganz anders verwandelnden Einsetzung des Herzen Jesu in die Dinge, die Menschen und die Welt noch aussteht.“31 Anders formuliert ist das die Frage danach, wie sich ein utopisches Ahnen in der Kunst Ausdruck verschaffen kann in einer Welt die alles andere als vollkommen ist und auch nicht vor ihrer utopischen Vollendung steht. Die Antwort darauf ist die Transzendierung in der Immanenz oder anders ausgedrückt, die Möglichkeit der Vollendung oder das Streben danach so darzustellen und auszudrücken, dass dieser dargestellte Ausdruck nicht schon selbst als die Vollendung angesehen werden kann: Wo dieses letzte ästhetische Bemühen nicht ermattet und derart absperrend, verblendend, heidnisch immanent gerät, wird das große Kunstwerk ein Abglanz, ein Stern der Antizipation und ein Trostgesang auf dem Heimweg durch die Dunkelheit; und doch eben nur Ferne, Scheinen, Abglanz, erklärter Widerspruch aller Vollendung auf Erden, außerstande, den bedürftigen Menschen selbst bereits in der verzweifelt antizipierten Glorie wohnhaft zu machen.32

Der Ausdruck im Kunstwerk ist als Antizipation des ganz Anderen, des besseren Zustands, ein Trost wie auch der Einspruch gegen die Verhältnisse, die noch nicht so sind wie sie sein könnten bzw. sollten. Aber wozu ein solches Kunstwerk nicht imstande ist und wofür es auch nicht gehalten werden darf, das ist die Darstellung als Vollendung selbst. Nicht nur würde es dadurch seiner stärkenden wie kritischen Funktion nicht gerecht werden, also Trost zu spenden im Angesicht der Verzweiflung über den Zustand der Welt wie auch eine Stärkung des Bewusstseins, dass das was ist eben nicht alles ist. Vielmehr ist die Darstellung als Vollendung genau jene Verdinglichung innerhalb der Kunst, gegen die sich Bloch im Gespräch mit Adorno wendet. Eine Darstellung von Transzendenz, die in der Immanenz verleibt, wäre also eine Darstellung „ohne daß diese Welt gesprengt ist; daher die vollkommene Sichtbarkeit dieses Vor-​ Scheins.“33 Diese Form von Sichtbarkeit oder auch eines bildlichen Charakters des Vor-​Scheins ist dabei nicht als Gegenpol zum affirmativen Bezug auf das von Horkheimer und Adorno in Dialektik der Aufklärung formulierte Bilderverbot zu verstehen. Dort schreiben sie: „Die Selbstzufriedenheit des Vorwegbescheidwissens und die Verklärung der Negativität zur Erlösung sind unwahre Formen des Widerstands gegen den Betrug. Gerettet wird das Recht des Bildes in der treuen Durchführung seines Verbots.“34 Vielmehr kann Blochs Ästhetik des Vor-​Scheins durchaus als Versuch einer Antwort auf die Frag verstanden werden, wie das Recht des Bildes in der Durchführung seines Verbotes

31 Bloch, Ernst: Geist der Utopie. Zweite Fassung. Gesamtausgabe Band 3. ­Suhrkamp: Frankfurt am Main 1985a, S. 151. 32 Ibid., S. 151 f. 33 Bloch 1978, S. 248. 34 Adorno, Theodor W. /​Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung (1947). In: Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften. Suhrkamp: Frankfurt am Main 2003, Bd. 3, S. 40.

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gerettet werden kann: Bloch verklärt ja die Negativität gerade nicht als Erlösung, wenn er die Sprengung der Welt in der Transzendierung eben nicht will, da die Welt nicht verschwinden, sondern sich verändern muss. Die Kunst ist somit ein Ort, an dem das Noch-​Nicht-​Gewordene seinen Ausdruck sucht und im Fall gelungener Kunstwerke auch findet. Sie ist „ein Laboratorium und ebenso ein Fest ausgeführter Möglichkeiten“35. Sie kann aber Tendenzen und Latenzen nur zum Ausdruck verhelfen, diese weder verwirklichen noch sollte sie gar mit deren Verwirklichung verwechselt werden. Das würde genau jener Verdinglichung entsprechen, gegen die Adorno unter Blochs Zustimmung das Bilderverbot in Stellung bringt. Das äußert auch Bloch, wenn er als den Ort gesellschaftsverändernder Praxis eben die Gesellschaft selbst benennt: „Ob allerdings der Ruf nach Vollendung –​man kann ihn das gottlose Gebet der Poesie nennen –​auch nur einigermaßen praktisch wird und nicht bloß im ästhetischen Vor-​Schein bleibt, darüber wird nicht in der Poesie entschieden, sondern in der Gesellschaft.“36 In dieser Formulierung kommt etwas zum Ausdruck, welches eine Nähe zum Adornoschen Verständnis des Bilderverbotes herstellt, die oberflächlich betrachtet zunächst nicht erwartbar scheint und in der bisherigen Rezeption fast immer übersehen wurde. So schreibt Adorno in Funktionalismus heute: In dem falschen Gesamtzustand schlichtet nichts den Widerspruch. Die frei jenseits der Zweckzusammenhänge des Bestehenden ersonnene Utopie wäre kraftlos, weil sie ihre Elemente und ihre Struktur doch dem Bestehenden entnehmen muß; unverbindliches Ornament. Was dagegen, wie unterm Bilderverbot, das utopische Moment mit dem Bann belegt, gerät in den Bann des Bestehenden unmittelbar.37

Das führt etwas präziser aus, was Adorno im Gespräch mit Bloch als die Notwendigkeit, wie auch Gefahr bezeichnet, die im Begriff des Bilderverbots im Zusammenhang mit der Utopie angelegt ist: einerseits verhindert der Bezug auf das Bilderverbot den Verlust der kritischen Funktion der Utopie als Einspruch gegen die Verhältnisse, indem sie sich als schon seiend darstellt. Anderseits unterliegt die Utopie mit dem Bezug auf das Bilderverbot der Gefahr, gänzlich verschluckt, somit kraftlos zu werden. Bloch unternimmt nun genau das nicht, was nach Adorno zum Verlust der Kraft führt die im richtig verstanden Begriff der Utopie aufgehoben ist: Er konzipiert eben keine Utopie jenseits der gesellschaftlichen Verhältnisse und bildet keine vorgefertigte neue Gesellschaft ab. Vielmehr kann die Realisierung der Tendenzen und Potentiale, die im Vor-​Schein bloß zum Ausdruck kommen, nur im Prozess der gesellschaftsverändernden Praxis erfolgen. Blochs Ästhetik ist daher der Versuch, genau diesem Spannungsfeld von Notwendigkeit wie Gefahr, die im Vollzug utopischen Denkens wie dem Ausdruck dessen liegen,

3 5 Bloch 1978, S. 249. 36 Ibid. 37 Adorno, Theodor W.: Ohne Leitbild. In: Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften. Suhrkamp: Frankfurt am Main 2003, Bd. 10.1, S. 289–​453, hier S. 391.

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gerecht zu werden. Dass Kunst nicht vorwegnehmend konstruieren darf, sondern etwas stärken soll, was in der Praxis sich herausbilden muss, darauf insistiert Bloch mit Nachdruck: „Erst beherrschte Geschichte, mit eingreifendem Gegenzug gegen Hemmungen, mit ausführender Beförderung der Tendenz, verhilft dazu, daß Wesenhaftes im Abstand der Kunst auch wachsend Erscheinung im Umgang des Lebens werde.“38 Kunst ist demzufolge in der Lage bzw. auch hierfür notwendig, einen wesenhaften Kern, nämlich jene menschliche Fähigkeit zur Antizipation in welcher die utopischen Wünsche und Sehnsüchte aufgehoben sind, zu artikulieren. Eine Verwirklichung solcher Latenzen aber kann nur im Fortgang einer gesellschaftsverändernden Praxis geschehen, eben jener beherrschten Geschichte, die das Ende der Vorgeschichte wäre, in der, da sind sich sowohl Bloch wie auch Adorno im Anschluss an Marx einig, die Menschen noch immer gefangen sind. Dass diese Einsicht im Zusammenhang mit dem Bilderverbot steht und diesem eine Funktion für Blochs Ästhetik zukommt, wird im an den vorhergehenden Satz direkt anschließenden Teil deutlich: Das ist dann allerdings dasselbe wie richtig gewordener –​Bildersturm, nicht als Vernichtung der Kunstbilder, doch als Einbruch in sie –​zum Zweck der Fruktifizierung des in ihnen, gegebenenfalls, nicht nur typisch, sondern paradigmatisch, also beispielgebend Enthaltenen. Und überall dort, wo Kunst sich nicht zur Illusion verspielt, ist Schönheit, gar Erhabenheit dasjenige, was eine Ahnung künftiger Freiheit ­vermittelt.39

Die Bewegung im Bilderverbot, von Bloch wiederholt als Bildersturm bezeichnet, setzt demzufolge etwas frei, was ohne den Bezug auf diese Bewegung verloren ginge. Dieser Verlust erfolgt, wenn das was gärt und drängt, das utopische Moment, so dargestellt wird als sei es schon real, als sei es schon verwirklicht. So sagt Bloch auch im Gespräch mit Adorno: „Man ist also betrogen. Es [das zu Erreichende als kritischer Maßstab, L.T.] ist entspannt worden, und es gibt eine Verdinglichung von ephemeren oder nichtephemeren Tendenzen, als wäre schon der Tag da.“40 Dann wäre Kunst bloße Illusion und ihrer möglichen kritischen Funktion beraubt. Schönheit und Erhabenheit als das was nach Bloch noch eine Ahnung dessen aufscheinen lässt was möglich wäre, können also erst durch die ikonoklastische Bewegung im Bilderverbot ermöglicht werden. Bloch formuliert somit ein Bilder affirmierendes Bilderverbot, aber nicht anderes unternehmen auch ­Horkheimer und Adorno, die ja durch den Bezug auf das Bilderverbot nicht die Bilder aus der Welt schaffen wollen, sondern es ihnen um die Rettung dieser geht. Dem Bezug auf das Bilderverbot kommt somit eine kritische Dimension zu, die den Ausdruck des Vor-​Scheins als ein Versprechen auf eine mögliche, wenn auch alles andere als garantierte Zukunft überhaupt erst ermöglicht: Der Vor-​Schein wird 3 8 Bloch 1978, S. 249. 39 Ibid., S. 249 f. 40 Bloch /​Adorno, S. 361.

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somit zum Gewähr, dass es anders sein kann, dass in der Realität die Möglichkeit einer anderen Welt angelegt ist. Darauf verweist Bloch, wenn er einen so verstandenen Ikonoklasmus nicht als Negation jeglicher Bilder sondern als Einbruch in sie beschreibt. Doch wie können nach Bloch gelungen Bilder, also solche mit dem Einbruch des Bildersturms in sie selbst, aussehen bzw. welches sind die Kriterien, die ein solches Werk auszeichnen?

3. Offenheit –​Fragment –​Antizipation: Über falsche Utopien und gelungene Bilder Zu einem entscheidenden Kriterium für Kunstwerke, die der von Bloch vertretenen ikonoklastischen Bewegung entsprechen, wird das Fragmenthafte: Dieses steht einer Abgeschlossenheit entgegen, welche sich der Hypostasierung des Gegebenen verweigert, gerade auch dann, wenn sie sich in der Form einer abstrakten Utopie darstellt. Das Fragment eröffnet vielmehr den Raum für das noch Unabgeschlossene, das Werdende, das Mögliche: Doch ebenso […] zeigt alle große Kunst das Wohlgefällige und Homogene ihres werkhaften Zusammenhangs überall dort gebrochen, aufgebrochen, vom eigenen Bildersturm aufgeblättert, wo die Immanenz nicht bis zur formalinhaltlichen Geschlossenheit getrieben ist, wo sie sich selber als noch fragmenthaft gibt. Dort öffnet sich –​ganz unvergleichbar mit bloßer Zufälligkeit des Fragmentarischen im vermeidbaren Sinn –​noch ein Hohlraum sachlicher, höchst sachlicher Art, mit ungerundeter Immanenz. Und gerade darin zeigen die ästhetisch-​utopischen Bedeutungen des Schönen, gar Erhabenen ihren Umgang.41

Der Bezug auf das Erhabene lässt hier den Einfluss Kants hervortreten, der in Kritik der Urteilskraft das Erhabene im Zusammenhang mit der Undarstellbarkeit von Ideen begreift und im Anschluss daran auch auf das Bilderverbot verweist.42 Das Utopische kann als ein Zusammenspiel von Schönheit und Erhabenheit begriffen werden, da das Schöne für die erfüllte Utopie steht bzw. diese sich durch jenes auszeichnet, während die Utopie des ganz Anderen gerade in seiner notwendigen Unbestimmtheit (notwendig um Utopie sowohl als Kritik des Vorhandenen als auch Überschreitung des Bestehenden auffassen zu können) wie auch seinem Wesen als undarstellbarer Perfektion mit dem Erhabenen in Beziehung steht. Die Analogie zur Undarstellbarkeit Gottes greift Bloch auf, wenn er davon spricht, dass

4 1 Bloch 1978, S. 252. 42 Cf. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. In: Kants gesammelte Schriften. Preußische Akademie der Wissenschaften: Berlin 1968, Bd. V, S. 165–​485, hier S. 268 und S. 274. Ähnliches unternimmt auch Walter Benjamin, der sich in Ursprung des deutschen Trauerspiels auf eben diese Stelle bei Kant beruft. (Cf. Benjamin, ­Walter: Ursprung des deutschen Trauerspiels. In Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften.­ Suhrkamp: ­Frankfurt am Main 1991, Bd. I.1, S. 203–​430, hier S. 284).

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der „Grund für solch inneren Bildersturm in der groß vollendeten Kunst und gerade in ihr, […] im Weg-​und Prozesspathos, im eschatologischen Gewissen, das durch die Bibel in die Welt kam“43, liegt. Das eschatologische Gewissen säkularisiert sich zu einer weltlichen Utopie, die für Bloch den Zielinhalt des menschlichen Entwicklungsprozesses, der Geschichte, bildet. Allein über dessen Ausgang ist damit noch nichts gesagt und ein solcher im Sinne des utopischen Zielinhalts ist alles andere als garantiert. Die Unabgeschlossenheit muss für Bloch zum Kriterium der ästhetischen Darstellung werden, gerade um das Offene des Prozesses wie auch dessen Zielrichtung ausdrücken zu können: „Der Mensch ist noch undicht, der Gang der Welt ist noch unbeschlossen, ungeschlossen, und so ist es auch die Tiefe in jeder ästhetischen Information: dieses Utopische ist das Paradox in der ästhetischen Immanenz, das ihr selber am gründlichsten immanente.“44 Der ästhetische Ausdruck muss unfertig bleiben, da die Welt ebenfalls noch nicht fertig ist. Ein geschlossenes Kunstwerk, welches sich bloß als schön geriert, würde nicht dem Bloch’schen Bilderverbot entsprechen, da es nicht offen ist für das Künftige und somit nicht auf ein noch zu Verwirklichendes verweist. Dabei ist entscheidend, dass Bloch das Fragment als geeignete Form künstlerischer Darstellung nicht deshalb begreift, weil es seiner Hoffnungsphilosophie am ehesten entspricht und nahe kommt, sondern weil vor dem Hintergrund seiner materialistisch fundierten Reflexion die Welt als defizitär und eben fragmentiert erkannt wird. So „ist jeder künstlerische, erst recht jeder religiöse Vor-​Schein nur aus dem Grund und in dem Maße konkret, als ihm das Fragmentarische in der Welt letzthin die Schicht und das Material dazu stellt, sich als Vor-​Schein zu konstituieren.“45 Dementsprechend ist das Kriterium einer realistischen künstlerischen Darstellung für Bloch anders zu begreifen als es in den meisten künstlerischen Diskursen, beispielsweise im Sozialistischen Realismus oder der Neuen Sachlichkeit, aufgefasst wird. Ist das entscheidende Merkmal solcher als Realismus begriffener Kunstrichtungen die möglichst abbildgenaue Darstellung des Sichtbaren, Vorgefundenen, so besteht es für Bloch vielmehr im genauen Gegenteil: „Es gibt keinen Realismus, der einer wäre, wenn er von diesem stärksten Element in der Wirklichkeit, als einer unfertigen, abstrahiert.“46 Blochs Theorie der Kunst ist somit durch eine eigentümliche Umkehrung der Begriffe von Realismus und dessen Widerpart, der Illusion geprägt. Beiden Begriffen kommt in dieser Umkehrung, welche sich aus einem ideologiekritischen Impuls speist, eine materialistische Dimension zu: Die gegebenen, vorgefundenen Verhältnisse geben sich als ewig und unveränderlich aus, wogegen Bloch seinen Realismusbegriff in Stellung bringt. Die Welt ist eben nicht fertig und schon gar nicht wahr im Sinne von abgeschlossen oder vernünftig. Eine realistische Darstellung nach Bloch hat genau dieses Defizitäre mitzudenken und zum Ausdruck zu

4 3 Bloch 1978, S. 254. 44 Ibid., S. 255. 45 Ibid. 46 Ibid., S. 728.

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bringen. Gerade darin besteht dann auch die Möglichkeit, den utopischen Gedanken, dass es so nicht sein müsste, mitzudenken und anwesend sein zu lassen. Ähnliches gilt für den Begriff des Illusionären, der dann zum Ausdruck kommt, wenn die Welt als abgeschlossene imaginiert wird. Demgegenüber ist der Ausdruck des Vor-​Scheins einer anderen Welt für Bloch das Gegenteil von Illusion, da dieser das gärende, latent vorhandene Potential zu einer solchen Welt wie auch die Sehnsucht danach zur Artikulation bringt. So schreibt Bloch, „nur die ästhetische Illusion löst sich vom Leben los, der ästhetische Vor-​Schein dagegen ist gerade einer, weil er im Horizont des Wirklichen steht.“47 So ist die Ästhetik des Vor-​Scheins von Blochs, wenn auch durchaus eigentümlicher, materialistisch-​dialektischer Philosophie herleitend eine, die das Utopische in ihr Zentrum stellt. Dabei begreift sie das Utopische gerade nicht als Illusion, sondern als Ausdruck der in den Verhältnissen liegenden, von diesen auch hervorgebrachten Tendenzen und Latenzen. Die Offenheit mit dem Fragmenthaften als einer möglichen Ausdrucksweise ist somit das zentrale Kriterium der Ästhetik des Vor-​Scheins und vor allem das, was als Merkmal und Folge des aus dem Bilderverbot abgeleiteten Bloch’schen Ikonoklasmus verstanden werden muss: „Folglich inhaltlich-​materielle Kunst samt ihrer Theorie gar nicht umhin kann, eine ungeschlossene zu sein, sondern eine in der Weise des zu Ende getriebenen Vor-​Scheins geschehende Darstellung der Tendenz und Latenz ihrer Gegenstände“.48 Von seinem Modell ausgehend kann Bloch eine Vorstellung von falschen Bildern und auch falschen Utopien entwickeln. Diese zeigen sich in den abstrakten Utopien, wie er sie im Frühsozialismus von Charles Fourier oder Robert Owen vorfindet. So sehr er deren Infragestellung des Status quo und die Weigerung, sich mit den vorgefundenen Lehensverhältnissen abzufinden, schätzt und hervorhebt, so kritisiert er sie für die Abstraktion von den gegebenen Verhältnissen: Es fehlt die Vermittlung mit den Potentialen der tatsächlichen Welt, was er in Bezug auf Fourier in dem Urteil zum Ausdruck bringt, bei diesem sei „mehr Dekret als Erkenntnis, mehr abstrakte als konkrete Utopie.“49 Wo die Vermittlung mit der Gegenwart fehlt, wird die Utopie ihres kritischen Potentials dadurch beraubt, dass sie als statischer Entwurf dem Bestehende bloß gegenübergestellt wird, anstatt das Offen und Prozesshafte der Welt zum Ausdruck zu bringen. In einer solchen ahistorischen und undialektischen Konstruktion entsteht dann eine „wesentlich private und abstrakte Ergründung eines von Geschichte und Gegenwart […] unabhängigen Phantasiestaats.“50 Dieser entspricht jener Verdinglichung, gegen die Bloch den Ikonoklasmus stark zu machen trachtet. Das Gegenbild zur abstrakten Utopie ist die konkrete Utopie. Diese zeichnet sich durch die Fundierung im gesellschaftlichen Prozess aus und unternimmt es

4 7 Ibid., S. 948. 48 Ibid., S. 947. 49 Ibid., S. 675. 50 Ibid.

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„den Traum von ihrer Sache, der in der geschichtlichen Bewegung selbst steckt, genau zu verstehen. Es kommt ihr, als einer mit dem Prozeß vermittelten, darauf an, die Formen und Inhalte zu entbinden, die sich im Schoß der gegenwärtigen Gesellschaft bereits entwickelt haben.“51 Die Ästhetik des Vor-​Scheins hat dabei die Aufgabe diese Inhalte und Formen sichtbar werden zu lassen. Was für Bloch ebenfalls falsche Bilder von Utopien sind bzw. auch falsche Utopien, zeigt sich in der gesamten Anlage von Das Prinzip Hoffnung. Es ist weniger eine Enzyklopädie von affirmativen Bildern einer besseren Welt als eine Bewertung solcher Bilder anhand der von Bloch aufgestellten Kriterien. So kritisiert er sozialistische Entwürfe wie jenen Proudhons als „zwerghaft-​komische Gebilde […], auf bloße Zahlungsmittel Sozialismus bauend“52 wie auch die reaktionär-​völkischen Entwürfe von Arthur Moeller van den Bruck und Alfred Rosenberg als „Kapitalismus plus Mord.“53 Sein Hauptwerk kann dabei als der Versuch begriffen werden, die möglichen kritischen Gehalte in Kunstwerken herauszuarbeiten, anstatt ein bloßes Sammelsurium von als utopisch verstandenen Bildern zu präsentieren. Nicht zufällig unternimmt er es im Aufbau dieses Buches mit der Beschreibung des antizipierenden Bewusstseins, eine Art erkenntnistheoretische wie erkenntniskritische Grundlegung seinem Unterfangen voranzustellen. Dort führt auch die Ästhetik des Vor-​Scheins ein, in deren Zusammenhang er auf das Bilderverbot Bezug nimmt. Gelungene Bilder müssen in der Lage sein, in ihrer Offenheit und ihrem fragmentarischen Charakter etwas zu antizipieren, weshalb es nicht unplausibel ist, das dem Bloch’schen Bilderverbot entsprechende Bild als ein antizipatorisches zu bezeichnen. Im Gegensatz zu einem bloßen Abbild, welches auf nichts hinweist, sondern eine detailgetreue Darstellung oder eine nicht geglückte Darstellung des abzubildenden Gegenstandes sein kann, hat ein Bild für Bloch die Funktion des Verweisens: Es verweist auf etwas das nicht ist, aber sein will oder auch sein sollte. Ein solches Bild als Wunschbild ist nach Bloch genau dadurch gekennzeichnet: „Wo also die Vorstellung eines Besseren, schließlich wohl Vollkommenen, da findet Wünschen statt, gegebenenfalls ungeduldiges, forderndes. Die bloße Vorstellung wird so zu einem Wunschbild, sie ist mit dem Cachet versehen: so sollte es sein.“54 Nicht jedes Wunschbild ist dabei aber als ein antizipatorisches zu begreifen. So weist Francesca Vidal in ihrer grundlegenden Arbeit über Blochs Ästhetik auf den zentralen Unterschied von antizipatorischen und individuellen Wunschbildern hin: Vor allem Wunschbilder, die entstehen, wenn der Mensch die Ungerechtigkeiten der Realität als gegeben und nur individuell veränderbar begreift, zielen auf ein Sicheinrichten in der bestehenden Welt und führen derart zur Produktion von Kitsch. In einer Gesellschaft, die auf den Gesetzen des Warentausches basiert und in der selbst

5 1 52 53 54

Ibid., S. 727. Ibid., S. 721. Ibid., S. 682. Ibid., S. 51.

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der Mensch zur Ware geworden ist, scheint eine Verbesserung der Situation der Individuen nur privatistisch möglich.55

Bloch nennt solche Kitschbilder, wie sie sich auch in der Gegenwart in hoher Zahl auf den vorderen Plätzen der Bestsellerlisten finden lassen, auch Erfolgsbücher, Geschichten aus Syrup56 oder eskapistische Flucht-​Utopien. Solche Werke samt der in ihnen aufgerufenen Bilder antizipieren nichts im Bloch’schen Sinne, sondern erzählen die immer gleiche Geschichte mit minimal veränderten Nuancen, worin in einer statischen Welt das Glück bloß in der privaten Vereinigung zweier –​meist eindeutig dem binären männlich/​weiblich Schema entsprechenden –​ Individuen besteht. Ein antizipatorisches Bild bzw. auch ein antizipatorische Wunschbild kommt für Bloch aber dann zum Ausdruck, wenn es mit dem Ganzen, der gesellschaftlichen Totalität vermittelt ist und in seinem vorwegnehmenden Wünschen etwas über die zu erstrebende Beschaffenheit dieser Totalität aussagt, ohne dabei abstrakt und losgelöst von den vorgefundenen Umständen konstruiert zu werden. Paradigmatisch kommt dies für ihn in einem Diktum von Marx zum Ausdruck: Die Essenz des Perfektiblen ist nach der allerkonkretesten Marxschen Antizipation „die Naturalisierung des Menschen, die Humanisierung der Natur“. Das ist die Abschaffung der Entfremdung in Mensch und Natur, zwischen Mensch und Natur oder der Einklang des unverdinglichten Objekts mit dem manifestierten Subjekt, des unverdinglichten Subjekts mit dem manifestierten Objekt.57

Allerdings handelt es sich bei dem im ursprünglichen Wortlauf so formulierten Satz „Also die Gesellschaft ist die vollendete Wesenseinheit des Menschen mit der Natur, die wahre Resurrektion der Natur, der durchgeführte Naturalismus des Menschen und der durchgeführte Humanismus der Natur.“58 nicht um einen genuin dem Bereich der Ästhetik zuzuordnenden Beitrag wie auch das Werk von Marx insgesamt sehr enthaltsam ist in Bezug auf Aussagen zur Kunst. Dennoch kann diese als Postulat formulierte Antizipation durchaus als ein Bild im Sinne Blochs verstanden werden, sind doch die Grenzen zwischen Geschichtsphilosophie, Ästhetik wie auch Sozial-​und Moralphilosophie fließend im Werk Blochs, insbesondere auch in der Anlage von Das Prinzip Hoffnung. So hat die „dialektische Weltfahrt Fausts“59 für ihn eine direkte Parallele in Hegels Phänomenologie des Geistes: Wo Hegel die Frage nach der Identität von Subjekt und Objekt, der Versöhnung des Menschen mit der Welt aus einer erkenntnistheoretischen Perspektive aufwirft, sieht Bloch in Goethes Faust die gleiche 55 Vidal, Francesca: Kunst als Vermittlung von Welterfahrung. Zur Rekonstruktion der Ästhetik von Ernst Bloch. Könighausen & Neumann: Würzburg 1994, S. 82. 56 Cf. Bloch 1978, S. 406. 57 Ibid., S. 277. 58 Marx, Karl: „Ökonomisch-​Philosophische Manuskripte“ In: Id. /​Engel, F­ riedrich: Marx-​Engels-​Werke. Dietz: Berlin 1973b, Bd. 40.1, S. 465–​588, hier S. 538. 59 Bloch 1978, S. 1192.

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Frage aus der Sicht der Ästhetik behandelt. Faust ist nun aber auch ein Beispiel für eine gelungene Antizipation utopischer Inhalte, ja er stellt, so Bloch, „das höchste Exempel des utopischen Menschen dar“.60 In der Wandlung des Faust als einer negativen Figur wie sie in der 1587 von Johann Spies veröffentlichen Sammlung dargestellt ist, welche ihr Drang nach Wissen in die Hölle führt, zu einem im positiven Sinn nach Erkenntnis strebenden, dabei immer wieder scheiternden Individuum bei Goethe, sieht Bloch auch den Übergang vom Feudalismus zur kapitalistischen Wirtschaftsweise ausgedrückt. Der vor diesem Hintergrund entstandene Faust Goethes verkörpert nicht mehr den frevelnden, ketzerischen, ja die Ursünde verkörpernden Zweifler sondern ein dem Bestehenden gegenüber sich kritisch verhaltendes, Rationalität verkörperndes Subjekt. In der Faustwette sieht Bloch das Streben nach dem vollkommenen Augenblick als Moment des Utopischen gerade „nicht im Sinne einer abstrakten Idee“ behandelt, vielmehr sieht er im Leben Fausts die Bewegung „zu einer sehr konkreten Idee, zu einer so konkreten, daß überhaupt keine Idee mehr vorliegt, sondern ein Experiment, freilich ein gezieltes, eines auf das Erfüllende“61, ausgedrückt. Die suchende Reise Fausts führt ihn immer wieder an Grenzen, die nur überschritten werden, um an neue Grenzen zu gelangen. Doch führt dieses stetig Weitergetriebene nicht zu einem Zu-​sich-​selber-​Kommen durch das Ende der Reise, sondern stößt schlussendlich immer wieder auf etwas, dass zu erneuter Überschreitung nötigt: „Etwas fehlt, der schöne Augenblick steht aus.“62 Hier zeigt sich, dass der gelungene Ausdruck des Utopischen in der Kunst eben nicht in seiner verdinglichten Abbildung erfolgt, sondern in dem Streben nach diesem Utopischen, welches auch immer die Gefahr des Scheiterns in sich trägt. Aus genau diesem Scheitern kann Kraft wie Hoffnung erwachsen, indem der Prozess als noch nicht zu seinem Ende gekommen begriffen werden kann. Gerade im Scheitern wird so auch eine Annäherung an den utopischen Zielinhalt ermöglicht. Wenn, wie Bloch es formuliert, das höchste Gut in der ästhetischen Sphäre „immanenter Vor-​Schein einer human-​vollkommenen Welt“63 ist, dann wird diese Aufgabe der Kunst im Faust erfüllt: Die vollkommene Welt, die im „Verweile doch, du bist so schön“ zum Ausdruck gebracht wird, ist eine zutiefst menschliche, da ein Augenblick gerade im Hinblick auf Endlichkeit seinen Sinn erlangt und in einer transzendenten, überirdisch-​göttlichen Sphäre, die jeder Zeit entrückt ist, nicht existieren könnte. Daher wird in diesem sprachlichen Bild, das ja schlussendlich in seiner konsequenten Weltzugewandtheit nichts anderes ist als eine Antizipation gelungener Utopie, die „metaphysische Leittafel für volle Existenz und ohne Hinterwelt“64 formuliert. Es zeigt sich aber neben dem inhaltlichen Aspekt, also worin

6 0 61 62 63 64

Ibid., S. 1189. Ibid., S. 1190 f. Ibid., S. 1192. Ibid., S. 198. Ibid., S. 1194.

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die gelungene Utopie als konkrete ausgedrückt wird, um eben nicht abstrakt und unvermittelt gesetzt zu werden, noch etwas anderes. Im Faust auch das Zusammengehen und somit die Aufhebung einer starren Trennung von Form und Inhalt in Bezug auf die Kriterien von Fragment und Offenheit deutlich: Gerade in dem das Utopische im Wunsch des Verweile doch, du bist so schön von einem zutiefst hadernden und zweifelnden Subjekt vorgebracht wird, indem sich auch noch „das eigene Selbst zum dem der Menschheit erweitert“65, zeigt sich das Bruchstückhafte, Fragmentarische im gelungenen Kunstwerk. Gerade der scheinbar nicht in die Welt zu passende Faust sagt mehr über die Wahrheit dieser Welt aus wie auch nur in dieser fragmentarischen, also nicht sich einer falschen Versöhnung mit dem Bestehenden hingeben Existenz das Utopische aufgehoben sein kann. Die Offenheit zeigt sich schließlich darin, dass in diesem vielleicht berühmtesten Satz Goethes die Utopie sich in dem offenbart, was sich auf der Ebene der Empfindung abspielt, ohne die exakten Bedingungen auszuformulieren, die erfüllt sein müssen bzw. die dazu führen, dass ein solches Gefühl überhaupt erfasst und formuliert werden kann. Daher kann Goethes Faust als gelungener Ausdruck utopischer Sehnsucht gelten in dem Sinn, wie es Bloch es schon im Vorwort des ersten Bandes von Das Prinzip Hoffnung dargelegt hat: Die Vorstellung und Gedanken der so bezeichneten Zukunftsintention sind utopisch, das aber wieder nicht in einem engen, gar nur aufs Schlechte hin bestimmten Sinn dieses Wortes (affekthaft unbesonnene Ausmalerei, Spielform abstrakter Art), sondern eben im nur vertretbaren Sinn das Traums nach vorwärts, der Antizipation ­überhaupt.66

Die Antizipation der erfüllten Utopie erfolgt somit im Ausdruck eines Vorgefühls als etwas Fragmentarisches und Offenes statt einer bildreichen Vorwegnahme des ganz Anderen, Besseren in der Ausmalung eines perfekten, abgeschlossenen Zustandes. In einer solchen würde die Utopie in der Abstraktion verdinglicht. Die Antizipation ist somit das gelungene Bild, welche das Bilderverbot im Bloch’schen Sinne beachtet und den Bildersturm als dialektische Bewegung in sich einfasst. Gerade dass „dies strebende Bemühen noch in keiner Figur der Überschreitung enden konnte, macht es groß.“67 Das Vorgefühl eines erfüllten Augenblicks, der die Verkörperung der gelungenen Utopie darstellt, zu erzeugen bzw. in einem Kunstwerk zu erfassen und durch dieses auszulösen, kann als das Ergebnis der Bloch’schen Auseinandersetzung mit dem Bilderverbot begriffen werden und wird zur Aufgabe seiner Ästhetik des Vor-​Scheins.

6 5 Ibid., S. 1196. 66 Ibid., S. 11. 67 Ibid., S. 1201.

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4. Schlussbetrachtungen Ernst Bloch ist ohne Zweifel der Philosoph, nicht nur marxistischer Prägung, in dessen Werk sich der Begriff der Utopie am drängendsten Geltung verschafft. Er stellt diesen Begriff wie die sich dahinter entfaltende Denkbewegungen schon durch sein Frühwerk Der Geist der Utopie ins Zentrum seiner Philosophie. Diese zeichnet sich nach dem Scheitern der Revolution 1918/​19 und dem Verlust der kritischen Kraft des vermeintlich revolutionären Subjekts der Arbeiter:innebewegung dadurch aus, dass sie die Hoffnung auf eine von Herrschaft, Ausbeutung und Unterdrückung befreiten Menschheit dennoch nicht begraben will. Bloch deshalb ohne Umschweife als Antipoden Adornos zu begreifen, insbesondere in Bezug auf die Frage nach dem Bilderverbot68 oder ihn wie Richard Saage als ersten Exponenten einer emphatischen Ablehnung des vermeintlich antiutopischen Marxschen Bilderverbots heranzuziehen, greift nicht nur zu kurz, sondern schlussendlich fehl in der Grundannahme: Nicht nur bekräftigt Bloch im Gespräch mit Adorno die kritische Kraft der Denkbewegung, welche im Bilderverbot aufhoben ist, vielmehr noch sieht er eine Analogie zwischen dem Idolatrieverbot der Religion des Judentums und philosophischer Erkenntnis, da er die Aufgabe dieser begreift als Eroberung des Dings an sich, das nur dieses ist, was noch nicht ist, was letzte Zukunft, endlich echte Gegenwart ist, als noch unbekannte, unfertige Utopie. Wiederum zeigt sich das Denken der Philosophie zum „Mythos“ hingewendet, zu einem anderen aber als bisher, zu dem letzten vor der großen Biegung, zu jenem Mythos an Utopie, der Juden wie Philosophen bewegt hat, der ihnen beiden bildhaft statische Absolutheit verdächtig machte.69

Die Verwandtschaft von religiöser Offenbarung und weltlicher Utopie beschäftige Bloch schon in seinem Frühwerk und auch nach seiner Hinwendung zum Marxismus gibt er diese Verbindung nicht auf, sondern begreift sie als notwendige Zusammenführung metaphysischer und materialistischer Elemente.70 Gerade die Bezugnahme auf das Konzept des Bilderverbots kann als ein Ausdruck dieser Zusammenführung begriffen werden. In Bezug auf die Frage nach der Übertretung eines Marxschen Bilderverbotes muss festgehalten werden, dass zum einen ein solches so von Marx nicht formuliert worden ist, wenn auch seine Verweigerung 68 Eine solche Position vertritt unter anderem auch Hans Mayer. Cf. zu diesem Punkt Mayer, Hans: „Ernst Bloch. Utopie. Literatur“. In: Ernst Blochs Wirkung. Ein Arbeitsbuch zum 90. Geburtstag. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1975, S. 237–​250. 69 Bloch 1985b, S. 121. 70 Hans-​Ernst Schiller formulierte dies prägnant, wenn er schreibt, dass für Bloch „eine allseitige und radikale, auf Marxscher Theorie basierender Kritik der kapitalistischen Moderne gebunden bleibt an die Rettung metaphysisch-​theologischer Intentionen.“ (Schiller, Hans-​Ernst: „Jetztzeit und Entwicklung. Geschichte bei Ernst Bloch und Walter Benjamin“. In: Arnold, Heinz Ludwig (Hrsg.): Ernst Bloch. Wissenschaftliche Buchgesellschaft: Darmstadt 1985, S. 175–​193, hier S. 175).

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„Rezepte […] für die Garküche der Zukunft zu verschreiben“71, zunächst als Vorwurf gegen ihn vorgebracht, später in der marxistischen Theoriebildung durchaus einflussreich wurde. Zum anderen stellte für Bloch die Verweigerung gegenüber auskonstruierten utopischen Zukunftsmodellen eine Stärke des Marxschen Denkens dar. So erhält die Utopie als Zielinhalt, utopisches Zielbild als das zu Erreichende, insbesondere durch das „was Marx als ‚kategorischen Imperativ‘ statuiert hatte: nämlich ‚alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist‘ […] Boden, Hand und Fuß.“72 Das Bilderverbot als Konzept mit genau dieser Bezeichnung taucht dann in Dialektik der Aufklärung auf. In Bezug darauf kann Blochs Philosophie nicht als Gegenposition aufgefasst werden, sondern muss bei genauer Betrachtung, was hier versucht wurde aufzuzeigen, als ein Versuch der Ausführung dieses zunächst paradox erscheinenden Unternehmens, das Recht des Bildes in der Durchführung seines Verbots zu retten, verstanden werden. Das Bilderverbot ist nicht nur für Adorno und Horkheimer als Einspruch gegen die Kunst und deren Relevanz zu verstehen, sondern schon in der Bezugnahme Kants fungiert es als Abgrenzung gegen bestimmte Vorstellungen von Kunstproduktion-​wie auch Rezeption. Gleichzeitig kommt ihm immer mehr zu als nur eine ästhetische Dimension, so nämlich auch eine erkenntniskritische und schlussendlich ethische. Im Begriff der Utopie sind alle drei Dimension eingefasst, weshalb sie sich auch bei Blochs Behandlung utopischer Inhalte immer wieder überlagern und gegenseitig durchdringen. Die Entbindung utopischer Inhalte, die im Bestehenden vorhanden sind, „Tendenz, als der Spannung des verhindert Fälligen, […] Latenz, als dem Korrelat der noch nicht verwirklichten objektiv-​realen Möglichkeiten in der Welt“73, kann für Bloch nur gelingen, wenn der Ikonoklasmus als Bewegung in diese Entbindung einfällt: Er unterscheidet schließlich die falschen Bilder und verdinglichten Darstellungen, die abstrakten und reaktionären utopistischen Entwürfe von den gelungenen Antizipationen konkreter Utopie. So zeigt sich, dass das Bilderverbot selber sich aus der Verteidigung der Utopie speist und nicht aus ihrer Ablehnung: nur utopisches Denken selbst kann das kritische Recht des Einspruchs gegen utopische Bilder formulieren, da sonst der Schwund des utopischen 71 Marx, Karl: Das Kapital. Erster Band. In: Marx-​Engels-​Werke. Dietz: Berlin 1973a, Bd. 23, S. 25. 72 Bloch 1978, S. 726. Schon in Geist der Utopie wird erkennbar für wie zentral Bloch den Einfluss von Marx auf die Herausbildung eines materialistisch-​dialektisch fundierten Utopiebegriffs hält, welcher nicht abstrakt bleibt, aber in seiner konkreten Bestimmung ohne direkte Ausgestaltung der künftigen Gesellschaft verfährt, ohne deshalb an Kraft zu verlieren: „Derart bietet das ferne Ganze Utopias das Bild eines sich in nichts mehr ökonomisch rentierenden Baus: jeder produzierend nach seinen Fähigkeiten, jeder konsumierend nach seinen Bedürfnissen; jeder offen, nach den Graden seiner Hilfe, seines sittlich-​geistigen Prädikantentums auf dem Heimweg der Menschheit durch das Dunkel der Welt ‚begriffen.‘ “ (Bloch 1985a, S. 306) 73 Bloch 1978, S. 727.

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Bewusstseins überhaupt droht, wenn vom Standpunkt des Bestehenden aus dieses verabsolutiert und jeder Versuch über es hinauszuweisen als totalitär, weltfremd, schlussendlich potentiell gefährlich angesehen wird. Bloch Ästhetik unternimmt es aber, utopische Sehnsüchte nicht nur aufzuzeigen, sondern zu stärken und sich so dem Schwund utopischen Bewusstseins entgegenzustellen. Statt der bloßen Abbildung einer Realität wie sie ist oder wie sie als fertig Ausgestaltete wäre, geht es ihm (nicht nur) in der Kunst um die Antizipation als das Fortbilden einer Realität, wie sie sein könnte und wie sie ihren Möglichkeiten nach auch angelegt ist. Aufgabe der Kunst ist es, das zu zeigen, darauf zu verweisen. Bloch erhebt den Schein des Kunstwerks zum Prinzip seiner Ästhetik, indem er es vom Scheinbaren als etwas trügerischem zum Vor-​Schein als eines realen, in der Welt angelegten, was seinen Ausdruck sucht, konkretisiert. Dieser Vor-​Schein ist dabei als ein Suchen zu begreifen, welches auf ein Ziel hin gerichtet ist, ohne die konkrete zu findende Gestalt in allen Einzelheiten zu kennen. Damit wird die Offenheit zu einer zentralen Kategorie der Bloch’schen Ästhetik und eben diese ist mit einer Verweigerung des konkreten Ausgestaltens im Sinne des Bilderverbots durchaus zu verbinden: „Die Offenheit widersetzt sich dem Ziel, Zukünftiges auszugestalten und ästhetisch ein fertiges Bild zu schaffen. Die Eindeutigkeit würde der Dynamik des utopischen Blicks entgegenstehen.“74 Der utopische Blick ist somit gebunden an eine Verweigerung das ganz Andere, Bessere, Neue, konkret auszugestalten. Die Welt muss als defizitäre, fragmentierte, dabei aber in ihrem Prozess nicht abgeschlossene erkannt werden und als solche wohnt ihr die Möglichkeit zur Veränderung inne. Der Kunst kommt dabei nicht die Aufgabe zu, diese Welt als fertige abzubilden wie sie aussehen würde, wäre sie verändert, sondern wie sich in Blochs Behandlung des Goetheschen Faust zeigt, kann es gelingen, ein Vorgefühl zum Ausdruck zu bringen, in welchem das Utopische aufgehoben und somit weiterhin in der Welt ist.

Bibliografie Adorno, Theodor W. /​Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung (1947). In: Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften. Suhrkamp: Frankfurt am Main 2003, Bd. 3. Adorno, Theodor W.: Ohne Leitbild. In: Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften. Suhrkamp: Frankfurt am Main 2003, Bd. 10.1, S. 289–​453. Benjamin, Walter: Ursprung des deutschen Trauerspiels. In Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1991, Bd. I.1, S. 203–​430. Bloch, Ernst /​Adorno, Theodor W.: „Etwas fehlt… Über die Widersprüche der utopischen Sehnsucht. Ein Gespräch mit Theodor W. Adorno“. In: Traub, Rainer /​

74 Vidal, S. 69.

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Lars Tittmar

Wieser, Harald (Hrsg.): Gespräche mit Ernst Bloch. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1975, S. 58–​77. Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung. Gesamtausgabe Band 5. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1978. Bloch, Ernst: Geist der Utopie. Zweite Fassung. Gesamtausgabe Band 3. ­Suhrkamp: Frankfurt am Main 1985a. Bloch, Ernst: Philosophische Aufsätze zur objektiven Phantasie. Gesamtausgabe Band 10. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1985b. Bloch, Ernst: Tübinger Einleitung in die Philosophie. Gesamtausgabe Band 13. ­Suhrkamp: Frankfurt am Main 1977. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. In: Kants gesammelte Schriften. Preußische Akademie der Wissenschaften: Berlin 1968, Bd. V. Marx, Karl: „Ökonomisch-​ Philosophische Manuskripte“ In: Id. /​Engel, ­Friedrich: Marx-​Engels-​Werke. Dietz: Berlin 1973b, Bd 40.1, S. 465–​588. Marx, Karl: Das Kapital. Erster Band. In: Marx-​Engels-​Werke. Dietz: Berlin 1973a, Bd. 23. Mayer, Hans: „Ernst Bloch. Utopie. Literatur“. In: Ernst Blochs Wirkung. Ein Arbeitsbuch zum 90. Geburtstag. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1975. Saage, Richard: Utopische Profile. Band 4. Widersprüche und Synthesen des 20. Jahrhunderts. LIT: Münster 2004. Schiller, Hans-​Ernst: „Jetztzeit und Entwicklung. Geschichte bei Ernst Bloch und Walter Benjamin“. In: Arnold, Heinz Ludwig (Hrsg.): Ernst Bloch. Wissenschaftliche Buchgesellschaft: Darmstadt 1985, S. 175–​193. Vidal, Francesca: Kunst als Vermittlung von Welterfahrung. Zur Rekonstruktion der Ästhetik von Ernst Bloch. Könighausen & Neumann: Würzburg 1994. Zudeick, Peter: „Materie“. In: Beat, Ditschey /​Zimmermann, Reiner /​Id. (Hrsg.): Bloch-​Wörterbuch. De Gruyter: Berlin /​Boston 2012, S. 265–​275.

Johannes Bennke

Das Bilderverbot in der Ästhetik von Emmanuel Levinas 1. Einleitung: Vom Bilderverbot zum Gebot der Bilder Der bis heute anhaltende und nicht enden wollende Streit um das sogenannte Bilderverbot ist so alt, wie dessen Verkündung selbst. Keines der zehn Gebote ist so umstritten und zugleich so eng mit dem jüdischen Monotheismus verbunden wie das zweite Gebot. „Du sollst dir kein Gottesbild machen und keine Darstellung von irgendetwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde.“1 Und bereits im Ursprungsmythos kann man die Bruderschaft von Moses und Aaron auch symbolisch für den inneren Widerstreit des Bildes lesen: Während Aaron im goldenen Kalb die reale Präsenz durch das Bild vergegenwärtigt sieht, die bis hin zur begehrten rituellen Vereinigung mit Gott reicht, steht Moses für die ikonoklastische Position einer kargen Bildentbehrung unter sprachlichem Imperativ. Beiden ist jedoch gemeinsam, dass sie einerseits den nicht-​sichtbaren Gott, und damit ein Undarstellbares anerkennen, und dass sie dem Bild grundsätzlich eine Macht zusprechen.2 In den bisherigen Debatten um das Bilderverbot sind die Überlegungen von Emmanuel Levinas erstaunlich wenig präsent. Das überrascht umso mehr, da Levinas sich mehrfach zum Bilderverbot geäußert und dies in Verbindung mit jener Ethik gebracht hat, für die sein Werk bekannt ist. Es überrascht zudem, weil auch andere viel zitierte Autoren zum Bilderverbot wie etwa Kant, Adorno und Horkheimer keine umfassenden Werke zum Bilderverbot verfasst haben. Im Falle von Levinas steht das Bilderverbot im Kontext der Theodizee und einer noch näher zu beschreibenden Ästhetik. Für Levinas ist hierbei eine Unterscheidung grundlegend. Er trennt das Bild von den Idolen, die für ihn nicht das Problem sind, wie er in einem späten Interview von 1988 wenige Jahre vor seinem Tod hervorhebt: „Natürlich gibt es empfindliche oder fromme Monotheisten, die denken, dass die Museen voller Figuren sind, die 1 Während die Lutherbibel schlicht von „Bildnis“ und „Gestalt“ schreibt, setzt die Einheitsübersetzung der Bibel die Betonung des Gebots auf das „Gottesbild“ (pesel) und die „Darstellung“ (temuna). Die revidierte Fassung durch die katholische Kirche von 2016 wählt an dessen Stelle das „Kultbild“ und, wie bei Luther, anstelle von Darstellung die „Gestalt“. All diese Begriffe beziehen sich auf eine idolatrische Bedeutung des Bildes. Ich beziehe mich hier auf die Einheitsübersetzung von 1984: https://​www. uibk.ac.at/​theol/​leser​aum/​bibel/​ex20.html (zuletzt aufgerufen am 30.12.2021). 2 Vgl. auch die Ausführungen von Boehm, Gottfried: „Die Bilderfrage“. In: Id. (Hrsg.): Was ist ein Bild?. Fink: München 1994, S. 331.

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Johannes Bennke

man weder hätte zeichnen und schon gar nicht formen dürfen… Aber in diesem Sinne fürchte ich die Idole nicht!“3 Von vornherein schließt Levinas die Thematisierung des Bilderverbots als Idolatrieverbot aus. Ihn interessiert nicht das Problem der Repräsentation Gottes auf Erden durch Bilder oder andere Kunstwerke. Damit ist zunächst auch ein für das Bilderverbot charakteristisches Konfliktfeld um Ikonoklasmus und Ikonophilie im byzantinischen Bilderstreit ausgeklammert.4 Es geht Levinas damit weniger um ein historisch-​religiöses Phänomen, als vielmehr um die Herausforderung, die das Bilderverbot für das Denken bedeutet. Ich möchte daher herausarbeiten, dass der zentrale Impuls für eine ideologiekritische Lesart von der Theodizee herkommt und in eine Denkbewegung mündet, die das Bilderverbot umkehrt in ein Gebot der Bilder. Diese ideologiekritische Lesart des Bilderverbots bleibt nicht ohne Konsequenzen für eine Theorie des Bildes und ein Denken von Ästhetik. Am Ende meiner Ausführungen möchte ich daher auf Konturen einer jüdischen Ästhetik eingehen. Dabei können diese Ausführungen auf keine systematische Kunsttheorie von Levinas bauen. Es ist hier zwar nicht der Ort seine verstreuten und vergleichsweise raren Aussagen zur Ästhetik zu versammeln, aber das Bilderverbot gibt zumindest einen wichtigen Hinweis auf die operative Funktionsweise seines Bilddenkens und seiner Ästhetik.5 Wie also wird mit Levinas der Unterschied zwischen ‚guten‘ und ‚schlechten‘ Bildern möglich?

2. Das Bilderverbot und das Ende der Theodizee Noch unter den Eindrücken der Shoah verfasst Levinas unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg einen Artikel zur philosophischen Kunstkritik. 1948 publiziert Levinas in der von Jean-​Paul Sartre und Maurice Merleau-​Ponty herausgegebenen Zeitschrift Les temps modernes einen Schlüsseltext für sein ästhetisches Denken: „Die Wirklichkeit und ihr Schatten“6 kommt auf der Oberfläche als kunst-​und 3 Levinas, Emmanuel: Die Obliteration. Diaphanes: Berlin /​Zürich 2019, S. 44. 4 Cf. Bredekamp, Horst: Kunst als Medium sozialer Konflikte: Bilderkämpfe von der Spätantike bis zur Hussitenrevolution. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1975. Cf. Brumlik, Micha: Schrift, Wort und Ikone: Wege aus dem Bilderverbot. EVA Europ. ­Verlagsanstalt: Hamburg 20062. 5 Cf. Bennke, Johannes /​Mersch, Dieter (Hrsg.): Levinas und die Künste. Transcript: ­Bielefeld 2022 (im Erscheinen). 6 Levinas, Emmanuel: „La réalité et son ombre“. Les temps modernes 4(38), 1948, S. 771–​789. Wiederabgedruckt in: Id.: Les imprévus de l’histoire. Fata Morgana: Saint-​ Clément-​la-​Rivière 1994, S. 123–​148. Deut. Übers.: Levinas, Emmanuel: „Die Wirklichkeit und ihr Schatten“. In: Id.: Die Unvorhersehbarkeiten der Geschichte. Übers. von Letzkus, Alwin. Alber: Freiburg /​München 2006, S. 105–​124. Wiederabgedruckt in: Alloa, Emmanuel (Hg.): Bildtheorien aus Frankreich. Fink: München 2011, S. 65–​86. Im Folgenden beziehe ich mich auf die deutsche Textversion von 2006.

Das Bilderverbot in der Ästhetik von Emmanuel Levinas

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bildskeptischer Artikel daher, in dem das Bild ontologisch an eine Unwirklichkeit gebunden wird und einen Hang zum Idolatrischen und damit zum Ästhetizismus hat.7 Im Allgemeinen wird dabei aber übersehen, dass Levinas das Bild von seiner Funktionsweise her versteht. Damit gewinnt das Bild an Mehrdeutigkeit, die Levinas ontologisch als ‚Riss im Sein‘8 bezeichnet, und an Ähnlichkeit, Selbstverschattung und schließlich an eine Zeitphilosophie knüpft.9 Das Bild steht demnach zwischen Idolatrie und ihrer Aufhebung, wie ich noch zeigen möchte. In den einleitenden Zeilen einer Anthologie, die dem Verhältnis von Levinas zu den Künsten gewidmet ist, bringt Danielle Cohen-​Levinas die Überlegungen in „Die Wirklichkeit und ihr Schatten“ in Verbindung mit der Shoah: [Es handelt sich um] einen Text, der bis heute gegenüber der Erfahrung der Katastrophe und der Bedeutung, die der Kunst vor den Mächten des Übels beigemessen wird, unnachgiebig geblieben ist. So wird das Kunstwerk zunächst als ein Alptraum errichtet, worin es dem Zerbrechen der Totalität ausgesetzt ist, um in die Lage zu kommen, Vorteile aus seinen Vorzügen zu ziehen.10

Wenn Danielle Cohen-​Levinas die Kunst im Angesicht des Übels positioniert, so macht sie auf die Ambivalenz der Kunst aufmerksam: einerseits verfällt und dient sie dem Übel11, andererseits widersteht und kreiert sie Eigensinniges. Die Kunst vermag demnach das Übel zwar nicht zu tilgen, aber sehr wohl zu widerstehen. Zunächst steht die Kunst aber unter dem Verdacht, in Komplizenschaft mit dem Übel zu stehen. In einem Kommentar zu »Die Wirklichkeit und ihr Schatten« wird diese Ambivalenz der Kunst von Richard A. Cohen mit einer Szene aus Schindlers Liste (USA, 1993) beschrieben:

7 Cohen, Richard A.: „Levinas on Art and Aestheticism“. Levinas Studies 11, 2016, S. 149–​194. 8 Cf. Levinas, „Die Wirklichkeit und ihr Schatten“, op. cit., S. 116. 9 Cf. Bennke, Johannes: „Zur Ethik des Bildes bei Emmanuel Lévinas“. Mersch, Dieter (Hrsg.): figurationen. gender literatur kunst: Visuelles Denken/​Visual Thinking (1), 2016, S. 93–​114. 10 Cohen-​Levinas, Danielle: „L’art n’est pas ultime“. In: Id. (Hrsg.): Le souci de l´art chez Emmanuel Levinas. Manucius: Houilles 2010, S. 9. Der Sammelband geht auf eine Tagung zurück, die anlässlich von Levinas 100. Geburtstag an der Sorbonne Paris IV mit dem Thema „Levinas et les arts“ am 16. und 17. November 2006 veranstaltet wurde. 11 Ich schließe mich hier dem Übersetzungsvorschlag von Thomas Wiemer an, der das Französische „mal“ mit Übel und nicht mit dem Bösen übersetzt. „[…] le mal umfaßt das moralisch Böse, das Boshafte, umfaßt Krankheit und Sterblichkeit ebenso wie das existentielle Unheil und Leid, ja, Lévinas versucht, in ihm die Bedeutung des Existentiellen selbst zu überschreiten.“ Cf. die Fußnote a in: Levinas, Emmanuel: „Die Transzendenz und das Übel“. In: Id.: Wenn Gott ins Denken einfällt. Alber: Freiburg /​München 20042, S. 172.

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Many of us may recall the scene from the movie “Schindler’s List” […] where a Nazi SS soldier plays an upright piano, sensitively plays the beautiful prelude of Bach’s „English Suite Number Two“, it is enchanting and he is handsome –​but the piano is in an abandoned torn-​up apartment in the Jewish ghetto, the pianist soldier is taking a break from rounding up and shooting helpless Jews, from herding them off to a concentration camp to be murdered. Is the playing beautiful? Yes, in a certain sense. Is it also horrifying, even more horrifying than beautiful? Certainly, in a moral sense.12

In dieser Szene wird auf kinematographische Weise gezeigt, wie Kunst in ihrer verführerischen Schönheit in den Dienst eines Vergessens genommen wird, das den Abgrund menschlicher Grausamkeit überdeckt. Es ist auch ein Beispiel dafür, dass es mit Entbehrungen und Anstrengungen –​seitens des Zuschauers –​verbunden ist, der Verführungskraft des Schönen zu widerstehen. Ich möchte hier dafür argumentieren, dass diese Ambivalenz der Kunst nicht in einer historischen Ursache um 1945 zu finden ist, sondern mit dem jüdischen Bilderverbot verstanden werden kann. Levinas nimmt an einer Stelle in seinem Artikel direkt Bezug auf das Bilderverbot: „Das Bilderverbot ist wahrhaftig das höchste Gebot des Monotheismus, einer Lehre, die das Schicksal –​diese rückwärts gewandte Schöpfung und Offenbarung –​überwindet.“13 Trotz dieser starken Aussage, bleibt aber noch unklar, worin Levinas die Bedeutung dieser Referenz genau sieht. Welche Bedeutung kommt dem Bilderverbot im Angesicht des Übels zu? Angesichts der maschinellen Vernichtung, der „Vernichtung um der Vernichtung willen, Massaker um des Massakers willen, Böses um des Bösen willen“14 gibt es für Levinas keinen Zweifel über den „in Auschwitz abwesenden Gott“15. Mit dem Philosophen und Holocaust-​Theologen Emil Fackenheim macht Levinas darauf aufmerksam, dass Auschwitz eine Chiffre für das Ende der Theodizee ist.16 1 2 Cohen, „Levinas on Art and Aestheticism“, S. 183. 13 Levinas, „Die Wirklichkeit und ihr Schatten“, S. 121. 14 Fackenheim, Emil L.: La Présence de Dieu dans l’histoire Affirmations juives et réflexions philosophiques après Auschwitz. Éditions Verdier: Paris 1980, S. 123 f., zitiert nach Levinas: „Das sinnlose Leiden“. In: Id.: Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen. Hanser: München: 1995, S. 125. Engl. Original: Fackenheim, Emil L.: God’s Presence in History. New York University Press: New York 1970, S. 70 f. 15 Levinas, „Das sinnlose Leiden“, S. 127. 16 Vgl. die Genese des geschichtstheologischen Diskurses um die Deutung des Holocausts innerhalb des Judentums, die Christoph Münz in seiner grundlegenden Studie erwähnt: Münz, Christoph: Der Welt ein Gedächtnis geben. Geschichtstheologisches Denken im Judentum nach Auschwitz, Gütersloher Verlagshaus: Gütersloh 19962. In einem Artikel skizziert Münz die drei Positionen der sogenannten Holocaust-​ Theologen und nennt darunter auch Emil Fackenheim: Münz, Christoph: „Der Holocaust, das Judentum und die Erinnerung. Anmerkungen zu innerjüdischen Deutungen des Holocaust und der Zentralität des Gedächtnisses im Judentum“. Online unter: https://​www.nos​tra-​aet​ate.uni-​bonn.de/​eri​nner​ung-​als-​theol​ogis​che-​bas​iska​ tego​rie/​der-​holoca​ust-​das-​juden​tum-​und-​die-​eri​nner​ung/​pdf-​dr.-​christ​oph-​muenz-​ der-​holoca​ust-​das-​juden​tum-​und-​die-​eri​nner​ung (zuletzt aufgerufen am 30.12.2021).

Das Bilderverbot in der Ästhetik von Emmanuel Levinas

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„Das krasse Mißverhältnis zwischen dem Leiden und jeder Theodizee zeigte sich in Auschwitz mit einer Klarheit, die in die Augen –​sticht. Daß so etwas möglich war, stellt den jahrtausendealten traditionellen Glauben in Frage.“17 Wenn Levinas hier die Theodizee als theologische Denkfigur verabschiedet, dann hat dies seinen Grund vor allem darin, dass die Theodizee nahegelegt, dass die menschlichen Leiden und das Böse einen Ursprung und einen Sinn haben: „Diese [Leiden] erhalten Sinn durch den Bezug auf eine Ursünde oder auf die angeborene Endlichkeit des Menschen.“18 Die moralische Lehre der Theodizee bestehe also nach Levinas darin, für eine Sünde zu sühnen, um schließlich Wiedergutmachung zu erlangen. Für Levinas hat aber die Theodizee nach Auschwitz alle Legitimität als Denkfigur einer wie auch immer gearteten Schuld verloren. Vielmehr stellt die eigentliche philosophische Herausforderung das sinnlose Leiden dar. Die darin liegende Schwierigkeit betrifft den Sinn, den nach dem Ende der Theodizee Religiosität, aber auch menschliche Morallehre vom Guten, noch haben können. Dem Philosophen zufolge, den wir soeben zitierten [gemeint ist Emil Fackenheim], beinhaltet Auschwitz paradoxerweise eine Offenbarung eben des Gottes, der in Auschwitz schwieg: ein Gebot der Treue. Nach Auschwitz auf diesen in Auschwitz abwesenden Gott zu verzichten –​das Weiterleben Israels nicht mehr zu garantieren –​käme einer Vollendung des kriminellen Unternehmens der Nazis gleich, das die Vernichtung Israels und das Zum-​ Schweigen-​Bringen der ethischen Botschaft der Bibel zum Ziel hätte, deren Träger das jüdische Volk ist und deren vieltausendjährige Geschichte durch seine Existenz als Volk fortgesetzt wird.19

Jeglicher Versuch, dieses Ereignis über die individuelle oder kollektive Schuld der Opfer zu erklären, würde ihnen Hohn sprechen und den Nazis einen späten Sieg bescheren.20 Levinas hebt vielmehr das ‚Gebot der Treue‘ hervor und es ist dieser Umschlagpunkt, der mich hier interessiert. Levinas fragt nämlich im Anschluss an Fackenheim danach, wie eine neue Modalität eines Glaubens ohne Theodizee ausschauen mag, in dem es ein nicht-​sinnloses Leiden gibt. Der entscheidende Aspekt für Levinas besteht nämlich darin, dass aus der Singularität des Holocaust, eine Treue erwächst, die „universelle Bedeutung annehmen“21 kann. Wenn Levinas also unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg einen kunst-​und bildskeptischen Artikel verfasst, mit dem jüdischen Bilderverbot als paradigmatische Referenz für ein Bilddenken, dann stehen diese Überlegungen auch unter dem Eindruck eines Denkens des Endes der Theodizee. Wenn aber die These stimmt, dass das Bild nicht bloß idolatrisch verstanden wird, sondern ikonophil, wie

1 7 18 19 20 21

Levinas, „Das sinnlose Leiden“, S. 124 f. Ibid., S. 123. Cf. ibid., S. 126 f. Cf. ibid., S. 126. Cf. ibid., S. 127.

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schlägt dann das Bilderverbot um in ein Gebot der Bilder? Worin besteht die Verbindung zwischen dem jüdischen Bilderverbot und dem Ende der Theodizee? Wie lassen sich nicht-​idolatrische Bilder erkennen? Was bedeuten diese Überlegungen für eine Theorie des Bildes und welche Konsequenzen hat dies für eine jüdische Ästhetik?

2.1. Idolatrie In den Texten zu den Bilderstürmen und theologischen Kommentaren wird meist übersehen, dass sich das jüdische Bilderverbot zu keinem Zeitpunkt gegen Bilder im Allgemeinen richtete. Das Verbot richtet sich vielmehr gegen Darstellungen von Gott und dem Göttlichen, sowie gegen eine bestimmte Bildpraxis, die das Bild zum Fetisch macht, und mit dem man wie mit einem Götzenbild bestimmte (rituelle) Handlungen vollziehen kann. Dass sich das Bilderverbot insbesondere gegen die Verehrung anderer Götter richtet, wird deutlich, wenn man das erste Gebot hinzuzieht: „Du sollst neben mir keine anderen Götter haben.“22 Die Betonung des Verbots von Bildern erscheint unter dem ersten Gebot nicht als generelle Ablehnung sämtlicher bildnerischen Werke, sondern als eine moralische Verpflichtung zur Treue zu dem einen, nicht sichtbaren Gott. Diese Treue wiederum steht nicht im Widerspruch zu nicht-​idolatrischen Bildpraktiken. In dieser Perspektive regelt also das Bilderverbot den Umgang mit dem nicht-​sichtbaren Göttlichen. Auch die jüdischen Kommentare des Talmuds legen das Bilderverbot nicht als generelles Verbot bildnerischer Werke aus.23 Tatsächlich sind im Ursprungstext drei verschiedene Begriffe für ‚Bild‘ zu finden. So macht Catherine Chalier darauf 22 Die Bibel in der Einheitsübersetzung: https://​www.uibk.ac.at/​theol/​leser​aum/​bibel/​ ex20.html (zuletzt aufgerufen am 30.12.2021). Levinas legt in einem Interview mit Christoph von Wolzogen auch eine andere Lesart nahe: „Es gibt eine Sage –​eine Frage: Wie standen auf den zwei Tafeln, die Moses vom Berge Sinai gebracht hat, die zehn Gebote? Zwei Tafeln und zehn Gebote. Es gibt die erste Meinung: auf jeder Tafel waren sie alle zehn; das ist sehr gut, nicht wahr, wenn man sie wieder liest, hat man immer etwas Neues zu erfahren. Die anderen sagen: nein, es waren fünf auf einer Seite und fünf auf der anderen Seite. Wozu? Denn dann kann man sie auch horizontal lesen. Und dann liest man: Ich bin Gott, der Dich aus Ägypten herausgeführt hat, Du sollst nicht töten. Als ob der volle Monotheismus der Bibel darin besteht, man soll nicht töten.“ (von Wolzogen, Christoph: „Eine Zukunft denken, die Sinn hat, ohne daß ich dabei bin“. Interview Emmanuel Levinas-​Christoph von Wolzogen, Paris 1989 (Auszüge). Online unter http://​www.denkb​erat​ung.de/​texte/​ jul​ius-​sch​aaf-​emman​uel-​levi​nas/​ (zuletzt aufgerufen am 30.12.2021). Cf. auch den Dokumentarfilm Liebesweisheit –​Emmanuel Levinas, Denker des Anderen (BRD 1989, R.: Christoph von Wolzogen, Henning Burk). 23 Levinas weist auf die Traktate Rosh Hashanah (Fol. 24a) und Avodah Zarah (Fol. 42b-​43a) im babylonischen Talmud hin. Cf. Levinas, Emmanuel: „Bilderverbot und Menschenrechte“. In: Id.: Verletzlichkeit und Frieden. Schriften über die Politik und das Politische. Diaphanes: Berlin /​Zürich 2007, S. 115.

Das Bilderverbot in der Ästhetik von Emmanuel Levinas

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aufmerksam, dass die beschriebene Gottesebenbildlichkeit des Menschen in der Genesis –​„Gott schuf also den Menschen als sein Abbild“24 –​nicht auf das Ikonische zurückzuführen ist, wie dies die altgriechische Übersetzung εἰκὼν τοῦ θεοῦ oder das Lateinische imago dei nahelegen, sondern auf das Hebräische ‫( צל‬tsel), das den Schatten bezeichnet. Interpretiert wird dies demnach als die Möglichkeit, durch das menschliche Gesicht ‫( פנים‬panim) den Schatten des Unendlichen wahrzunehmen.25 Die Rückführung auf den Schatten ist deshalb wichtig für das Bilddenken, da es sich dann nicht mehr um Abbilder (εἰκὼν) wie in Platons Ideenlehre handelt oder um Repräsentationen und innere Bilder wie beim lateinischen imago, sondern um eine Ähnlichkeit ohne Urbild oder Vorbild, eine Ähnlichkeit also, die auf ein Unendliches hinweist. Demgegenüber kennt das Hebräische aber ebenso Bildbegriffe, die die Idolatrie betonen: Was ins Deutsche mit ‚Gottesbild‘ oder ‚Bildnis‘ übersetzt wurde geht auf das Hebräische ‫( פסל‬pesel) zurück, das ‘behauen’, ‘schnitzen’ bedeutet und ursprünglich ein geschnitztes, behauenes oder gegossenes Bild bezeichnet. Auch der dritte Begriff für „Darstellung“ ist nicht auf εἰκὼν zurückzuführen, sondern auf das Hebräische ‫( תמונה‬temuna), das ‘zeichnen’, ‘malen’ bedeutet, aber auch das ‘mit acht multiplizieren’ meint und die falsche Unendlichkeit (le faux-​infini) bezeichnet.26 Bei pesel und temuna handelt es sich demnach um plastische Werke zu kultischen Zwecken, die das Unsichtbare an sich reißen und durch ihre Opazität und Abgeschlossenheit verdecken.27 Es geht also nicht um ein allgemeines Bilderverbot, sondern um ein Denken des Bildes, dass weder ikonisch und damit abgeschlossen ist, noch idolatrischen Zwecken dient, sondern als verschattet zu verstehen ist, das auf das Unendliche hinweist.28 Diese Zurückweisung von Idolen teilt Levinas mit anderen jüdischen Philosophen. So stellt etwa Daniel Boyarin eine rabbinische Tradition heraus, die nach einem sichtbaren Gott verlangte, und auch Gerschom Scholem zeigt eine Affirmation des Bildes in der mystischen Tradition des Judentums auf.29 Doch was 2 4 Gen. 1: 26. 25 Chalier, Catherine: „L’image dans le judaïsme. L’invisible en proximité“. Nouvelle revue de théologique. 120(4), 1998, S. 592. Online unter: https://​www.nrt.be/​fr/​artic​ les/​l-​image-​dans-​le-​judai​sme-​l-​invisi​ble-​en-​proxim​ite-​61 (zuletzt aufgerufen am 30.12.2021). 26 Cf. ibid., S. 601. 27 Vgl. Dohmen, Christoph: Das Bilderverbot. Seine Entstehung und seine Entwicklung im Alten Testament. Hanstein: Bonn 1985. Cf. auch Bauks, Michaela: „Bilderverbot (AT)“, S. 3, online unter http://​www.bibelw​isse​nsch​aft.de/​stichw​ort/​15357/​ (zuletzt aufgerufen am 30.12.2021). 28 Es ist daher ganz richtig, das Bild vom Idol zu trennen. Cf. Bernhardt, Uwe: „Die Jugendlichkeit des Werkes. Zum Status der Kunst bei Levinas“. Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 26(3), 2001, S. 225–​244. Darin allein erschöpft sich aber das Bild bei Levinas nicht. 29 Cf. Boyarin, Daniel: „The Eye in the Torah: Ocular Desire in Midrashic Hermeneutic“. Critical Inquiry 16(3), 1990, S. 532–​550. Cf. Scholem, Gershom: „Shi’ur Koma.

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bedeutet das Bilderverbot für konkrete Bildpraktiken und deren Ästhetik, sowie für das Denken?

2.2. Ideologiekritik In einem Kolloquiumsbeitrag mit dem Titel „Bilderverbot und Menschenrechte“ greift Levinas 1981 nach über 30 Jahren seine frühen Überlegungen aus „Die Wirklichkeit und ihr Schatten“ wieder auf und stellt die Tendenz eines Denkens heraus, das auf Geltung, Intentionalität und Repräsentation aus ist. Ich für meinen Teil möchte fragen, ob hinter dem vom jüdischen Monotheismus angeratenen Mißtrauen bezüglich der Repräsentation und Bilder der Wesenheiten nicht eine gewisse Vorherrschaft der Repräsentation gegenüber anderen möglichen Formen des Denkens, in den Strukturen der Bedeutung und des Sinns, angeprangert wird.30

Für Levinas zeigt das Bilderverbot also eine grundlegende Skepsis nicht allein dem Bild gegenüber an, sondern des Denkens selbst. Unter Verdacht der missbräuchlichen Verwendung steht ein Denken, das sich intentional auf dieses und jenes richtet und es nach Maßgabe eben dieses Denkens einem Gedachten begreif-​und verfügbar macht. Etwas wird als etwas begriffen. Die Repräsentationskritik richtet sich also gegen ein Denken, das identifiziert, wie man „mit dem Zeigefinger“31 auf etwas hinweist, und auf diese Weise ein intentionales Objekt, und letztlich Wissen und Wahrheit schafft, die die Form von Begriffen annehmen. Levinas weist mit dem Bilderverbot auf eine Ambivalenz des Denkens hin, das in seinen verschiedenen Aneignungs-​und Ausdrucksformen einerseits vielfältige, partikulare Formen anzunehmen vermag, zugleich aber auch zu Repräsentation und Nominalisierung tendiert. Dieser jeder medialen Äußerung, sei sie bildlich oder sprachlich, mitgängige Zug läuft nämlich immer auch Gefahr, ein Nicht-​Repräsentierbares in eine Adäquation des Denkens zu überführen. Das Einmalige würde so getilgt, seines „Angesichts beraubt,“32 sein Gesicht weggewischt [dévisager]. Die Ambivalenz des Medialen liegt demnach zwischen der Ermöglichung und ihrer notwendig endlichen Begrenzung. Dies versinnbildlicht Levinas etwa durch seine Kritik an der allgemeinen Auffassung von der Zeit, die durch „die Metapher des Flusses ausgedrückt wird, als ob die Zeit ein Seiendes wäre, das mit einer fließenden Flüssigkeit vergleichbar ist.“33 Die Metapher helfe damit zwar einen kontinuierlichen Verlauf eines Gestern, Heute und Morgens zu veranschaulichen, zugleich prägt sie dadurch aber auch eine Vorstellung von fließender Zeit. Genau gegen eine solche

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Die mystische Gestalt der Gottheit“. In: Id.: Von der mystischen Gestalt der Gottheit Studien zu Grundbegriffen der Kabbala. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1962, S. 7–​47. Levinas, „Bilderverbot und Menschenrechte“, S. 115 f. Ibid., S. 117. Ibid., S. 119. Ibid., S. 118.

Das Bilderverbot in der Ästhetik von Emmanuel Levinas

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Formalisierung der Zeit argumentiert Levinas. Jedoch wendet sich seine Kritik nicht grundsätzlich gegen die Notwendigkeit oder Legitimität von Beschreibungen als solche. Zweifellos wäre niemand lächerlich oder verrückt genug, die Legitimität und die Souveränität des Wissens und des Substantivs in einem unumgänglichen Bereich und in einem wesentlichen Moment der Intelligenz in Frage zu stellen. Im Bilderverbot wird nur das ausschließliche Privileg in Frage gestellt, das die abendländische Kultur dem Bewußtsein und der Wissenschaft verliehen haben soll, die es in sich trägt und die, als Selbstbewußtsein, allerletzte Weisheit und absolutes Denken zu sein erhofft.34

Die Kritik, die sich im Bilderverbot artikuliert, ist also im Wesentlichen Ideologiekritik –​und in der levinasschen Wendung insbesondere Geltungskritik an der Rationalität.35 Wenn Levinas also das Bilderverbot aufruft, so erinnert er damit an die „Transzendenz im Sinnhaften“36 und wendet ihn als skeptischen Einwand gegen die Rationalität als eine „Macht der geheimen Verführung […], die einer sich selbst nicht bewußten Intention entspringt […].“37 Das Bilderverbot ist demnach eine Form der Rationalitätskritik.38 Dadurch dass Levinas das Bilderverbot als Ideologiekritik an der Rationalität auslegt, macht er auf eine Bewegung im abendländischen Denken aufmerksam, das Repräsentationspraktiken genauso einschließt wie Techniken der Identifizierung, die keinen prinzipiellen Unterschied machen zwischen Dingen, Maschinen, Algorithmen und Menschen. Während für Levinas das Menschliche in seiner irreduziblen Einzigkeit besteht, die sich gerade nicht auf ein Allgemeines zurückführen lässt, so greift Levinas hier einen Gedanken Franz Rosenzweigs auf, der sich damit gegen das Totalitätsdenken Hegels wendet.39 In dieser Unrückführbarkeit 3 4 Ibid. 35 Jüngst hat etwa Dieter Mersch auf die Aktualität der Geltungskritik kantischer Prägung für die Medienphilosophie aufmerksam gemacht: Mersch, Dieter: „Kreativität und Künstliche Intelligenz. Einige Bemerkungen zu einer Kritik algorithmischer Rationalität.“ Zeitschrift für Medienwissenschaft. Künstliche Intelligenzen 11(21), 2019, S. 65–​74. 36 Levinas, „Bilderverbot und Menschenrechte“, S. 119. 37 Levinas, Emmanuel: „Ideologie und Idealismus“. In: Id.: Wenn Gott ins Denken einfällt. Freiburg, Alber: München 20042, S. 23. Levinas bringt diese Rationalitätskritik mit der Ideologiekritik von Marx in Verbindung, die ihre Überzeugungskraft schließlich bei Nietzsche und Freud erhalten habe. 38 Cf. auch das Nachwort von Michael Wetzel zu den Talmudlektüren von Levinas, worin Wetzel die ideologiekritische Lesart des Bilderverbots hervorhebt, ohne dies aber weiter auszuführen. Wetzel, Michael: „Nachwort“. In: Levinas, Emmanuel: Die Stunde der Nationen. Talmudlektüren. Fink: München 1994, S. 185. 39 Cf. den Abschnitt „Die Kategorien des Neuen Denkens“ in dem 1965 veröffentlichten Artikel zu Franz Rosenzweig. Levinas, Emmanuel: „Franz Rosenzweig: Ein modernes jüdisches Denken“. In: Id.: Außer sich. Meditationen über Religion und Phiolosophie. Übers. von Miething, Frank. Hanser: München 1991, S. 99–​122, bes. S. 107–​112.

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des Einzelnen auf das Allgemeine artikuliert sich der Widerstand gegen ein Denken, das identifiziert, verfügbar macht, sammelt, selektiert und verarbeitet. Wenn Levinas also das Bilderverbot anführt, so zielt er damit auf eine Kritik am abendländischen Denken, das für ihn wesentlich in einem Identitäts-​und Immanenzdenken liegt und einer der tieferen Gründe für die Shoah darstellt, in der Menschen prinzipiell wie quantifizierbare Dinge behandelt werden.40 Es ist ein Denken, dem nicht das Fremde und der Andere, sondern Wissen und eine ‚siegreiche Wahrheit‘41 heilig sind. „Das, was die Struktur des Denkens und der Wahrheit in der westlichen Welt charakterisiert, ist […] die Distanz, die von Anfang an den Menschen und die Welt der Ideen, aus der er sich seine Wahrheit wählt, voneinander trennt.“42 Was Levinas hier in einer seiner frühen Schriften diagnostiziert, ist eine falsch verstandene Freiheit, die sich gleichgültig verhält gegenüber dieser von Platon eingesetzten Distanz zur Welt der Ideen. Diesem Ideal unversehens zu verfallen macht empfänglich für die Idolatrie des Schönen und die Verführungskraft der Rationalität und des Wissens. Was Idee ist, wird für Wirklichkeit genommen. Das Bilderverbot wird in diesem Sinne säkularisiert und zu einer Allegorie für das Denken selbst, das in seiner Bewegung droht, stillzustehen, sich zu verhärten, in pure Immanenz überzugehen und sich in Form der instrumentellen Vernunft die Wirklichkeit als absolut appropriierbar und damit verfügbar zu machen. In seiner letzten Vorlesung von 1976 verallgemeinert er dies als Funktionsprinzip des Wissens: Ist das abendländische Wissen demnach nicht die Säkularisierung der Idolatrie? Im außerordentlichen Einbruch der Transzendenz, den die Idolatrie darstellt, präfiguriert die Ruhe der Erde unter der Himmelskuppel die Herrschaft des Selben. Das Staunen ist das Eingeständnis des Wissens, dessen Unwissenheit etwas ahnt, des Wissens, das darin besteht, das Identische zu identifizieren.43

Für Levinas ist diese Überführung des Wirklichen ins Identische, die Adäquation des Denkens mit dem Gedachten, ein Streben nach dem Sein des Selbst, dem conatus essendi, den Levinas Spinoza entlehnt und damit „das Bestreben [bezeichnet], 40 In dieser rationalen Logik der Moderne durch Quantifizierung, Selektion, Abstrahierung und Distanzierung, Technisierung und Bürokratisierung von Individualität sah auch der polnisch-​britische Philosoph Zygmunt Bauman eine der Bedingungen für Genozide.⁠ Vgl. Bauman, Zygmunt: Modernity and the Holocaust. Cornell University Press: Ithaca 2000. 41 Cf. Levinas, Emmanuel: „Zur Lebendigkeit Kierkegaards“. In: Id.: Außer sich. Meditationen über Religion und Phiolosophie. Übers. von Miething, Frank. Hanser: München 1991, S. 77. 42 Levinas, Emmanuel: „Einige Betrachtungen zur Philosophie des Hitlerismus“. In: Id.: Die Unvorhersehbarkeiten der Geschichte. Übers. von Letzkus, Alwin. Alber: Freiburg /​München 2006, S. 31. 43 Levinas, Emmanuel: „Transzendenz, Idolatrie und Säkularisierung“. In: Id.: Gott, der Tod, und die Zeit. Übers. von Nettling, Astrid /​Wasel, Ulrike. Passagen: Wien 20132, S. 174.

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womit jedes Ding in seinem Sein zu beharren sucht, […].“44 In dieser Transdeszendenz bis zur Erstarrung liegt das Kriegerische, wie Levinas wiederholt betont: „Der Krieg ist der Vollzug oder das Drama des Interessiertseins am Sein.“45 In diesen Niederungen der Totalität des Seins, wo „elementare Gefühle“46 geweckt werden, auf dem Sein zu beharren, fungiert das Bilderverbot damit als eine regulative Idee.47 Levinas bietet damit eine andere säkulare Lesart des Bilderverbotes an als Immanuel Kant, dessen „direkte Verbindung von Bilderverbot, Moralität und Politik als eine Gründungsfigur der modernen Debatte um das Bilderverbot verstanden werden [kann].“48 Während Kant das Bilderverbot allegorisch für die Autonomie des Subjekts liest, das der moralischen Entscheidung fähig ist, und es damit stärkt, sind es die vereinnahmenden Gesten persuasiver Rhetoriken durch Staat, Regierung und Kirche, die das Subjekt vom Schrecken und der Last der Autonomie befreien. Bei dieser Lesart des Bilderverbots steht harte Machtpolitik im Fokus, die sich auf Unfreiheit gründet und politische Einflussnahme auf manipulationsanfällige Bürger ausspielt. Für Levinas stehen aber nicht die einer manipulativen Machtpolitik gegenüberstehenden autonomen Subjekte im Mittelpunkt des Bilderverbots, sondern der Widerstand gegen die gewaltsame Appropriation des Wirklichen durch Rationalität, Sprache, Medien und Technik. Levinas setzt damit vor jeglicher Politik beim Akt der Setzung, und damit bei der

44 Spinoza, Baruch: Die Ethik. Schriften und Briefe. Übers. von Vogl, Carl. Kröner:­ Stuttgart 19767, S. 122. 45 Levinas, Emmanuel: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. Alber: München /​Freiburg 2012, S. 26. Vgl. auch das Vorwort zur zweiten Auflage von Vom Sein zum Seienden. Alber: München /​Freiburg 1997, S. 13. Das Statische ist dem Alt-​Griechischen ‚stasis‘ entlehnt und bezeichnet einen konfrontativen Stillstand und wurde zum Synonym für die Frontstellung von Soldaten im Krieg. Ob eine bestimmte Auffassung von Materialität zu der These von Friedrich Kittler geführt hat, dass Medienwissenschaft, mithin Medientheorie aus dem Krieg geboren sei, wäre genauer zu prüfen und etwa auch mit der hier skizzierten Zeitphilosophie von Levinas zu diskutieren. Cf. Winthrop-​Young, Geoffrey: „The Wars of Friedrich Kittler“. In: Kittler, Friedrich: Operation Valhalla. Writings on War, Weapons, and Media. Duke University Press: Durham /​London 2021, S. 1–​48. 46 Cf. Levinas, „Einige Betrachtungen zur Philosophie des Hitlerismus“, S. 23. 47 Cf. zum Begriff des regulativen Prinzips die Zweite Abteilung, zweites Buch, 8. Abschnitt „Der Antinomie der reinen Vernunft Achter Abschnitt Regulatives Prinzip der reinen Vernunft in Ansehung der kosmologischen Ideen“ bei Kant, ­Immanuel: Kritik der reinen Vernunft (1781). In: Werkausgabe. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1977 ff., Bd. 4, S. 471–​476. 48 Koch, Gertrud: „Bilderpolitik im Ausgang des monotheistischen Bilderverbots“. In: Id.: Zwischen Raubtier und Chamäleon. Texte zu Film, Medien, Kunst und Kultur. Fink: Paderborn 2016, S. 130. Die Stelle bei Kant ist zu finden in Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft (1790). In: Werkausgabe. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1977 ff., Bd. 10, B 124 f. /​A 123 f.

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Ethik an.49 Daher spitzt Levinas dies in einer seiner Talmudexegesen polemisch auf die Formel zu: „Götzendienst oder Religion.“50

2.3. Das Ende der Theodizee und das sinnlose Leiden Liest man nun das Bilderverbot als Ideologiekritik an der Rationalität zusammen mit der Theodizee, so findet sich dort, am tiefsten Punkt des exzessiven Übels51 eine Grenze des Verstehbaren. Am Saum des Rationalen trifft das Denken auf die Nähe des menschlichen Leibs, der für Levinas zur ‚Umschlagstelle‘52 wird. Dort nämlich begegnet der Leib in seinem schutzlosen Ausgeliefertsein ohne Verteidigung: „Extreme Direktheit eben des ‚gegenüber von…‘, das in seiner Nacktheit dem Tode-​Ausgesetztsein ist: Nacktheit, Entblößtheit, Passivität und reine Verletzlichkeit. Antlitz als Sterblichkeit des anderen Menschen.“53 Bereits in seiner frühen Schrift zur Philosophie des Hitlerismus von 1934 beschreibt Levinas diese Ausgesetztheit als Schmerz: „Im physischen Schmerz würde sich dann so etwas wie eine absolute Position enthüllen. Der Leib […] –​ seine Zugehörigkeit zum Ich ist ein Wert an sich selbst.“54 Levinas stellt damit noch vor der Shoah das Leiden des menschlichen Körpers als unhintergehbares Moment ins Zentrum einer Analyse des Übels. „Das Wesen des Menschen liegt nicht mehr in der Freiheit, sondern in einer Art des Gefesseltseins.“55 Diese Geiselhaft an den jeweils einmaligen, verletzlichen Leib, der hungert und leidet, steht im Zentrum dieses Umschlagpunktes. Die Verletzlichkeit entzieht sich logischer Kategorien und abstrakter Begriffe: „Das Leiden als Leiden ist nur eine konkrete und gleichsam fühlbare Manifestation des Nicht-​Integrierbaren, des Nicht-​zu-​Rechtfertigenden.“56 Die entscheidende Umschlagstelle im sinnlosen Leiden ist dieses 49 Dies hat auch Konsequenzen für das Denken einer Politik des Ästhetischen. Cf. hierzu Bennke, Johannes: „Testimonial Image Practices as a Politics of Aesthetics after Levinas“. Religions 10(3), 2019. Online unter: https://​doi.org/​10.3390/​rel1​0030​ 216. (zuletzt aufgerufen am 30.12.2021). 50 Levinas, Emmanuel: „Verachtung der Tora als Idolatrie. Traktat Sanhedrin 99a-​b“. In: Id.: Die Stunde der Nationen. Talmudlektüren. Übers. von Weber, Elisabeth. Fink: München 1994, S. 94. 51 Cf. Levinas, „Die Transzendenz und das Übel“, S. 180–​185. 52 Bernhard Waldenfels greift diesen Begriff von Edmund Husserl auf, und verwendet ihm in Kontext seiner Leibanalyse, die er auch mit Levinas diskutiert. Cf. ­Waldenfels, Bernhard: Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes. Suhrkamp: Frankfurt am Main 20135, S. 246–​264. Cf. Waldenfels, Bernhard: Idiome des Denkens: deutsch-​französische Gedankengänge II. Suhrkamp: Frankfurt am Main 2005, S. 189. 53 Levinas, Emmanuel, „Diachronie und Repräsentation“. In: Id.: Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen. Hansen: München 1995, S. 204. 54 Cf. Levinas, „Einige Betrachtungen zur Philosophie des Hitlerismus“, S. 29 f. 55 Ibid., S. 30. 56 Levinas, „Die Transzendenz und das Übel“, S. 182.

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Nicht-​zu-​Rechtfertigende, das für Levinas den Ausschlag gibt, das Rationale in seine Grenzen zu weisen. Das, was der Begriff des Exzesses quantitativ anzeigt, kippt um in eine Qualität, „als Charakteristikum der Übelhaftigkeit des Übels, als phänomenale Washeit.“57 Levinas führt anlässlich eines Buches von Philippe Nemo diese Analyse vom Exzess des Übels etwas genauer aus und kommt zu einer überraschenden Einsicht.58 Im Erscheinen des Übels, in seiner ursprünglichen Phänomenalität, in seiner Qualität kündigt sich eine Modalität an, eine Weise: das Nicht-​Platz-​Finden, die Ablehnung jeglicher Übereinstimmung mit …, ein Wider-​die Natur, eine Monstrosität, das von sich her Störende und Fremde. Und in diesem Sinne die Transzendenz! Die Anschauung, die darin besteht, in der reinen Qualität eines Phänomens wie des Übels das Wie des Bruchs der Immanenz zu erblicken, ist eine Sicht, die uns intellektuell ebenso reich scheint, wie in den Anfängen der Phänomenologie die Wiederentdeckung der Intentionalität oder, in Sein und Zeit, die faszinierenden Seiten über die Zuhandenheit und die Stimmung.59

Wenn Levinas hier herausstellt, dass der Exzess des Übels in einen Bruch mit der Immanenz führt und in Transzendenz umkippt, dann liegt hierin kein Hohn gegenüber den „nächsten Angehörigen unter den sechs Millionen der von den Nationalsozialisten Ermordeten.“60 Vielmehr artikuliert sich in dieser überraschenden Wende eine andere Sichtweise auf das sinnlose Leiden. Das Nicht-​zu-​rechtfertigende widersteht jeder Theodizee, die meint, dass das Leiden lediglich begangene Sünden aufrechne. Was Levinas mit dieser neuen Anschauung heraushebt, ist eine neue Modalität jenseits von Sein und Nichts. Weder geht es um ein Beharren im Sein, noch um ein Sein-​zum-​Tode oder einer existenziellen Angst um die eigene Sterblichkeit.61 Vielmehr blitzt in diesem Übel eine Qualität auf, wie die Immanenz zerrissen wird: „das Wie des Bruchs der Immanenz“ erfolgt als Störendes, das, was keinen Ort hat, „eine Monstrosität, das von sich her Störende und Fremde.“ Im Übel wird –​ohne Hohn –​eine neue Modalität sichtbar, die mit der Immanenz bricht. Das Übel wird also nicht als verwerflich abgetan, sondern als Qualität für die Art und Weise genommen, wie diese Umschlagstelle einbricht: sie wird in dem, wie sie einen affektiv in Bewegung versetzt als unangenehm und störend empfunden. Was hier also aufscheint ist eine gänzlich andere Art und Weise die ontologische

5 7 Ibid., S. 183. 58 Nemo, Philippe: Job et l´excès du Mal. Grasset: Paris 1978. Eng. Übers.: Nemo, ­Philippe: Job and the Excess of Evil. Duquesne University Press: Pittsburgh 1998. 59 Levinas, „Die Transzendenz und das Übel“, S. 183 f. 60 Auszug aus der Widmung, die Levinas seinem zweiten Hauptwerk Jenseits des Seins vorangestellt hat. 61 Den Kommentar zu Nemos Buch durchziehen an mehreren Stellen Absatzbewegungen vom Existenzialismus und von der Ontologie Heideggers. Cf. Levinas, „Die Transzendenz und das Übel“, S. 185.

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Differenz von „to be or not to be“62 zu umgehen, und dieser stattdessen die „Differenz zwischen dem Guten und dem Übel“63 voranzustellen. Eine solcher Art verstandene Ethik ist nicht angenehm, tröstend oder selbsterhöhend. Sie ist hochgradig störend, beunruhigend und stellt das Selbst infrage. Wenn Levinas also das Phänomen des Leidens aufruft, dann geht es ihm um eine Sinnlosigkeit, die zur Umschlagstelle wird. „So daß das Phänomen des Leidens in seiner Sinnlosigkeit im Grunde das Leiden des Anderen ist. […] Vielleicht dadurch ist das Für-​den-​ Anderen –​kürzester Weg zum Anderen –​das tiefste Erlebnis der Subjektivität, ihre äußerste Intimität.“64 Wenn also das sinnlose Leiden mit der Immanenz bricht und sich darin zugleich kein Hohn gegenüber den Opfern und ihren Angehörigen artikuliert, sondern eine Anerkennung des Leids des Anderen, dann scheint hier eine neue Modalität einer Verpflichtung auf –​eine Verpflichtung, eben diesen Bruch als ein Band der Treue zu nehmen und sich gerade dadurch nicht zum Komplizen mit jenen Kräften zu machen, die dieses sinnlose Leiden verursachen und vergessen machen wollen. Es ist dieses Gebot der Treue, das Levinas an der Position des Holocaust-​Theologen Emil Fackenheim hervorhebt und dem er eine ‚universelle Bedeutung‘ auch über das jüdische Volk hinaus für einen Humanismus des anderen Menschen zuspricht.65 „Das eigentlich Zwischenmenschliche liegt in einer Nicht-​Gleichgültigkeit [non-​ in-​différence] der einen für die anderen, in einer Verantwortlichkeit der einen für die anderen […].“66 Für Levinas bezeugt dieses Gebot der Treue eine humanistische Universalie. Wenn also Transzendenz eine „Bewegung des Überquerens ist (trans) und eine Bewegung des Aufstiegs ist (scando)“67, dann handelt es sich im Bruch mit der Immanenz nicht einfach um eine Umkehr des Übels in Gutes, sondern um eine Erhöhung. „Gutes, das nicht Annehmlichkeit ist, sondern das befiehlt und vorschreibt.“68 Das Gute ist nichts angenehmes, es ist fordernd. Es bricht in das

62 Diese shakespearsche Sentenz aus Hamlet zitiert Levinas wiederholt, um auf diese falschen Alternativen, die darin angeboten werden, aufmerksam zu machen. Cf. ibid. 63 Ibid., S. 187. 64 Levinas, „Das sinnlose Leiden“, S. 126. 65 Cf. Levinas, Emmanuel: Der Humanismus des anderen Menschen. Meiner: Hamburg 2005. Cf. auch Levinas, „Das sinnlose Leiden“, S. 127. Weniger philosophisch, dafür aber auf psychologisch-​literarische Weise macht auch Viktor Frankl auf diese ‚kopernikanische Wende‘ in der Perspektive auf den Sinn des Lebens aufmerksam: „Leben heißt letztlich eben nichts anderes als: Verantwortung tragen für die rechte Beantwortung der Lebensfragen, für die Erfüllung der Aufgaben, die jedem einzelnen das Leben stellt, für die Erfüllung der Forderung der Stunde.“ Frankl, Viktor: …trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psycholog erlebt das Konzentrationslager. dtv: München 2005, S. 125. 66 Levinas, „Das sinnlose Leiden“, S. 128. 67 Levinas, „Transzendenz, Idolatrie und Säkularisierung“, S. 173. 68 Levinas, „Die Transzendenz und das Übel“, S. 193.

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Gewohnte als Fremdes ein und stellt auf diese Weise den Status quo infrage. Dieser Riss aber wird zum Gegenstand nicht nur einer Kunstpraxis, sondern auch eines Glaubens.69

3. Ikonoklastische Ikonophilie Meine These ist, dass die Engführung mit der Theodizee eine auch von Levinas nicht genügend artikulierte ästhetische Perspektive aufscheinen lässt: Im Übel die Möglichkeit zu sehen, mit der Immanenz zu brechen ohne jene zu verhöhnen, die darunter leiden, rückt eine Qualität des ‚Wie‘ jenes Bruches mit der Immanenz in den Mittelpunkt. Was hier einbricht ist nicht der Schnitt in die Dauer, der einen Augenblick für die Ewigkeit festhält, sondern umgekehrt, bricht die Zeit in die Erstarrung ein. Die räumliche Metapher70 des Bruches nimmt hier eine zeitliche Bedeutung an. Im Bruch artikuliert sich eine Widerständigkeit gegen den conatus essendi, jenem Streben in seinem Sein zu beharren. Im Sinne einer Widerständigkeit, sich mit dem Gegebenen nicht zufrieden zu geben, hat auch Françoise Armengaud die Obliteration in ihrem jüngsten Beitrag als eine Kunst der Verweigerung (un art du refus) gefasst.71 Etwas Statisches, Fixiertes wird dynamisiert und gelöst: Wenn Levinas die Entformalisierung der Zeit in der Formel ‚Wenn Gott ins Denken einfällt‘72 fasst, dann scheint hier eine Umkehr im Denken der Theophanie auf: Das überraschende an Levinas’ Analyse ist, dass das Erscheinen Gottes dem Übel nicht gegenüber gestellt wird. Vielmehr –​und das ist hier der wesentliche Perspektivwechsel zum Ästhetischen –​nimmt das, was Levinas mit der Metapher Gottes anführt, selbst die Qualität einer Störung an, das als Übel wahrgenommen wird, und ins Denken einbricht. Die Theophanie hat in diesem Sinne etwas diabolisches (im etymologischen Sinne des altgriechischen διαβάλλειν, das ‘durcheinanderwirbeln’ bedeutet). Zugleich bricht die Vorstellung einer diabolischen Theophanie mit der idealistischen Bedeutung von Ästhetik, die sich am Schönen, Wahren, Guten orientiert. Während das sinnlose Leiden ein Gebot der Treue gegenüber dem Nicht-​ sichtbaren einsetzt, so insistiert das Bilderverbot auf ein neues Denken. Das Gebot 69 Einen solchen Glauben in die Welt zu bringen, in der „das Band zwischen Mensch und Welt“ zerrissen ist, eben darin sah Gilles Deleuze „die Macht des modernen Kinos.“⁠ Deleuze, Gilles: Das Zeit-​Bild. Kino 2. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1997, S. 224. Cf. hierzu auch: Früchtl, Joseph: „Den Glauben an die Welt fiktiv wieder herstellen. Zu einer These aus dem Kino-​Buch von Gilles Deleuze“. In: Voss, Christiane /​Koch, Gertrud (Hrsg.): „Es ist, als ob“. Fiktionalität in Philosophie, Film-​und Medienwissenschaft. Fink: München 2009, S. 13–​26. 70 Cf. Levinas: „Die Wirklichkeit und ihr Schatten“, S. 120. 71 Armengaud, Françoise: „Sacha Sosno et l’oblitération: un art du refus?“. Cycnot 28(1), 2012, S. 17–​25. 72 So der Titel eines Sammelbandes, der an mehreren Stellen diesen Vorgang als Entformalisierung der Zeit beschreibt. Cf. Levinas, Wenn Gott ins Denken einfällt.

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der Treue –​und damit das Ende der Theodizee –​im Verbund mit der Ideologiekritik des Bilderverbots vermögen das Bollwerk der Wissensformen und die Idolatrie des Schönen nicht zu verhindern, sehr wohl aber zu erschüttern. Darin liegt die Verbindung zwischen dem Bilderverbot und dem Ende der Theodizee. Es geht also um ein neues Denken, das nicht nur eine neue Modalität eines Glaubens ohne Theodizee bezeugt, sondern auch eine andere Episteme, die nicht mehr im identifizierenden Wissen erstarrt ist, sondern in ihrer von außen einbrechenden Bewegung eine Funktionsweise des Ästhetischen bezeichnet. Diesen Einbruch von außen als ästhetische Qualität wahrzunehmen, ist die entscheidende Initiation für die Dramaturgie jenes Wandels vom Verbot zum Gebot. Diese Umschlagstelle, setzt eine Freiheit ein, die wesentlich vom Gebot der Treue ausgeht, die sich dem Unsichtbaren, Unbenennbaren und Unverfügbaren verschrieben hat. Ihr ist eine Bewegung eigen, die sich den Fesseln der Sprache entledigt, mitreißend wirkt und vom Rhythmus fortgetragen dasjenige erhöht, was in den Niederungen des erstarrten Seins verharrte. Die „Desinkarnation der Wirklichkeit“ [désincarnation de la réalite]73 ist eine vertikale Bewegung der Erhöhung, die „dieses Erklingen oder Erzeugen des sein in Gestalt von Kunstwerken“74 sucht und schließlich, so Levinas, zum Gesang wird. Diese musikalische Metaphorik von ‚singen‘, ‚klingen‘ und ‚Rhythmus‘ steht keineswegs im Widerspruch zum Bilddenken. Vielmehr ist diese Musikalität ein Charakteristikum des Bildes. Wenn also das Bild mitreißend ist, dann entfaltet sich hier ein innerer Konflikt des Bildes: Kaum ist die Umschlagstelle benannt, die Möglichkeit eines anderen Denkens aufgezeigt und sie als Teil einer Bewegung der Erhöhung eingeordnet, schon droht die erneute Gefahr, dass sich eben diese neuen Modalitäten ihrerseits erneut an die Stelle Gottes setzen: „Die Theologie und die Kunst ‚behalten‘ die unvordenkliche Vergangenheit [im Sinne des Zurückhaltens, des Festhaltens].“75 Es bleibt die Gefahr der Idolatrie, wo das Nicht-​Sichtbare appropriiert wird und die Artikulation verführend wirkt. Wo aber das Bild von Außen als Ideal einbricht, fortträgt, mitreißt und eben jene Bewegung der Erhöhung vollzieht, gebietet es auch. „Gutes, das nicht Annehmlichkeit ist, sondern das befiehlt und vorschreibt. […] Von dieser Verantwortlichkeit für das Übel des 73 Alwin Letzkus übersetzt désincarnation mit ‚Entleiblichung‘. Darüber tritt allerdings die Vertikalität der hier vorgeschlagenen Denkfigur hinter einem Denken des Mangels zurück. Die Inkarnation als Stellvertretung Gottes auf Erden liest Levinas nicht wie Hegel als eine Verabsolutierung des Subjekts, sondern als Selbsterniedrigung Gottes im anderen Menschen. Die Desinkarnation ist daher eher als eine Form der (Selbst-​)Erhöhung als Hinwendung zum Anderen zu lesen. Cf. Levinas, „Die Wirklichkeit und ihr Schatten“, S. 111. 74 Ibid., S. 110. Cf. auch Levinas, Jenseits des Seins, S. 101. In kaum einer Passage seines Werkes ist die musikalische Metaphorik so präsent, wie im zweiten Hauptkapitel „Von der Intentionalität zum Empfinden“, S. 65–​141. Zur musikalischen Metaphorik bei Levinas cf. Bennke: „Zur Ethik des Bildes bei Emmanuel Lévinas“. 75 Levinas, Jenseits des Seins, S. 329, Anm. 21.

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anderen Menschen kann kein Scheitern entbinden. Sie bleibt sinnvoll trotz des Scheiterns.“76 Das ‚gute Bild‘ gebietet, indem es irritiert. Es bricht als Ideal in das Sein ein, „in ein Leben ohne Ausweg“,77 wie es Levinas mit Bezug auf einige Figuren Gogols formuliert, und stört den idolatrischen Genuss, ohne selbst gänzlich frei vom Verdacht der Idolatrie sein zu können. Wo sich also die Treue einem Entzug verschrieben hat und in einer Emphase als Exzess in das Sein einbricht, mitreißt, fortträgt und nach oben zieht, dort handelt es sich um eine rhetorische Figur, ein Übertreiben im Ausdruck, eine Weise des Sich-​Übersteigerns und eine Weise des Sich-​Zeigens. Das Wort ist sehr gut, genau wie das Wort ,Hyperbel‘: es gibt Hyperbeln, in denen Begriffe sich verwandeln. Eine solche Verwandlung beschreiben, auch das heißt Phänomenologie treiben. Die Steigerung bis ins Äußerste als philosophische Methode!78

Levinas beschreitet mit diesem rhetorischen Verfahren die via eminentiae, um an die Stelle des Unverfügbaren, eine Bewegung der Überhöhung, der Transaszendenz, zu setzen. Mit der musikalischen Metaphorik bettet Levinas das Bild in diese hyperbolische Bewegung ein, und spricht dem Bild damit eine gewisse stellvertretende Rolle zu. Das Bild übernimmt an dieser Umschlagstelle eine regulative und mediale Funktion. Es geht hierbei nicht darum, dass das Bild etwas vermittelt, sondern als Medium der Theophanie nicht das Absolute repräsentiert, sondern vielmehr den beschwerlichen und prekären Weg des Aufstiegs angeht, eingedenk dessen, dass mit jeglicher Manifestation der verführerische Gesang der Idolatrie –​ und damit das Scheitern des Bildes –​nicht weit weg ist. „Unter der plastischen Figur, die erscheint, wird das Angesicht schon verfehlt. Es erstarrt in der Kunst selbst, trotz des möglichen Versuchs des Künstlers, das ‚Etwas‘ zu ent-​bilden, was in der Präsenz bildlich wieder entsteht.“79 Zum Bilddenken bei Levinas gehört also diese Hyperbolik des Ent-​bildens von dem, was bildlich erneut entsteht. Hier von einer Affirmation des Bildes zu sprechen bedeutet, dass sich eine Ikonophilie im Modus eines ent-​bildenden Sich-​ Zeigen artikuliert. Wenn die Etymologie der Ikonophilie eine Liebe (φιλία) zum Bild (εἰκών) bedeutet, dann sieht eine solche Liebe das Bild nicht als Gegenstand der Inbesitznahme, sondern als Medium einer Erhöhung. In dem es das niederreißt, was es hochhält und hochhält, was es niederreißt, drückt das Bild dem, was es negiert, seinen Stempel auf. Diese paradoxe Bewegung ist nicht logisch, sie ist ikonisch. Eine solche Ikonophilie ist äußerst prekär und nicht nur nicht frei von Skepsis, sondern die Bilderskepsis ist ihr Prinzip. Das ikonische Denken stellt sich

7 6 Levinas, „Die Transzendenz und das Übel“, S. 193. 77 Levinas, Die Obliteration, S. 37. 78 Levinas, Emmanuel: „Fragen und Antworten“. In: Id.: Wenn Gott ins Denken einfällt. Alber: Freiburg /​München 20042, S. 113. 79 Levinas, „Bilderverbot und Menschenrechte“, S. 119.

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auf eine Weise selbst infrage, indem es das aufhebt, was es zugleich setzt. Wie bei vielen anderen Begriffen, geraten auch hier gegenteilige Tendenzen unter dem Blick von Levinas in eine Nähe. Wir haben es hier also mit einem Bildbegriff zu tun, der sich paradoxerweise als eine ikonoklastische Ikonophilie charakterisieren ließe. An die Stelle von Bildern treten Bilder, die eine destabilisierende Wirkung haben. Bilder werden nicht einfach zertrümmert, abgerissen, überstrichen, ausgelöscht oder vernichtet, sondern auf ihren Trümmern entsteht Neues, das sich seinerseits einer Infragestellung nicht entziehen kann. Aus dem Bilderverbot wird ein Gebot der Bilder.80 Bei Levinas handelt es sich also nicht um eine ontologische Bildtheorie, sondern um eine pragmatische. Gerade aus der inneren Dynamik des Bildes erwächst eine Bildpragmatik, die jegliche Form der Idolatrie, Abgeschlossenheit und des Ästhetizismus zurückweist. Eine solche ikonoklastische Ikonophilie, deren Zuneigung darin besteht, Bilder vor der Idolatrie und das Denken vor einer Stasis und dem Vergessen zu bewahren, und beides dafür in Bewegung versetzen muss, ist rast-​ und atemlos. Das Iterative gehört damit wesentlich zu einem solchen Bilddenken. Die Sisyphusarbeit gegen die Erosion des Absoluten wird unter der Perspektive des Bilderverbots als ein mitreißendes Gebot der Bilder sichtbar, als Zeit in das Bestehende einzubrechen und dabei weniger an etwas zu erinnern, als nicht zu vergessen, dass es auch anders denk-​, fühl-​, sicht-​und erfahrbar ist. Levinas lehnt damit keineswegs das Bild ab, sondern ist ein Bildskeptiker.81 Es ist der prekäre Versuch, mit Bildern dem Scheitern des Bildes und des Denkens entgegenzuwirken, die sich dem Vergessen ergeben haben. Der ikonoklastischen Ikonophilie steht damit auch ein kulturelles Gedächtnis bei.82 Die Kunst zum Singen zu bringen, heißt eine Anstrengung zu unternehmen, sowohl zu fordern und zu gebieten, als auch

80 Diese Umschlagstelle ist nicht nur ideologiekritisch gegen den Status quo zu lesen, sondern auch erinnerungspolitisch gegen ein Vergessen. Gemeint ist hierbei zunächst die Überführung des Bundes zu Gott in ein kulturelles Gedächtnis, das institutionell geformt und abgesichert ist. Cf. Assmann, Jan: „Die Katastrophe des Vergessens. Das Deuteronomium als Paradigma kultureller Mnemotechnik“. In: Assmann, Aleida /​ Harte, Dietrich (Hg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Fischer: Frankfurt am Main 1991, S. 337–​355. Dass hierin eine Ambivalenz besteht, dass Kunstwerke oder andere (institutionalisierte) Formen des Erinnerns, nicht nur dem Vergessen widerstehen, sondern auch Vergessen machen, war ein bereits in der antiken Ästhetik bekanntes Motiv. Cf. Plinius der Ältere: Naturkunde, Buch 36, Die Steine. De Gruyter: Berlin 2010, XXXVI.27, S. 29. 81 Cf. Chalier, Catherine: „Préface. Breve estime du beau“. In: Gritz, David (Hrsg.): ­Levinas face au beaux. ECLAT: Paris /​Tel-​Aviv 2004, S. 41. 82 Cf. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. C.H. Beck: München 1999, bes. S. 90 f., wo von der rituellen, jüdischen Erinnerungskultur (zikaron) die Rede ist. Cf. auch zur Unterscheidung von kommunikativem und kulturellen Gedächtnis Assmann, Jan: „Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität“. In: Id. /​Hölzchen, Toni (Hrsg.): Kultur und Gedächtnis. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1986, S. 9–​19.

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dem Vergessen zu widerstehen. Darin formuliert sich ein höchst instabiler ästhetischer Vorgang, der mit dem Einbrechen sogleich wieder zerstiebt. Es geht also weniger darum, gute von schlechten Bildern zu unterscheiden, als darum, deren mediale Funktionsweise und performative Wirkung in den Blick zu bekommen. Welche Auswirkungen hat dies für eine Ästhetik, und lässt sich diese als jüdisch bezeichnen?

4. Jüdische Ästhetik nach Levinas Die jüdische Ästhetik als genuines Wissensfeld ist bereits seit ihrer ersten Formierung zu Beginn des 20. Jahrhunderts umstritten.83 Man kann dieses fragwürdige Wissensfeld entweder sogleich mit dem Argument bei Seite schieben, dass im Angesicht des Bilderverbots das Judentum schlicht keine visuelle Kultur habe.84 Oder aber man erkennt auch im Judentum eine Bildproduktion an, dann aber geht es um die konkreten künstlerischen Praktiken, die aus kunsthistorischer, philosophischer oder kulturwissenschaftlicher Perspektive in den Blick kommen.85 In beiden Fälle läuft man jedoch in die Gefahr antisemitischer Positionen: Während die eine Position jüdische Kunst verleumdet und ihr eine visuelle Kraft jenseits der Idolatrie abspricht und dabei die Tatsache ignoriert, dass es etwa religiöse Artefakte im liturgischen Rahmen gibt, so versucht die andere Position ästhetische 83 Cf. Cohn-​Wiener, Ernst: Die Jüdische Kunst: ihre Geschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart [1929]. Zweitausendeins: Frankfurt am Main 1996. 84 Die rassistische und anti-​semitische Argumentation von Eugen Dühring erkennt den Juden die Kunstfähigkeit ab. „Die schöne Kunst und das Judenthum sind Gegentheile, die einander ausschliessen. Schon der gewöhnliche Jude ist in seinen Manieren ein Gegenstand der Volkskomik. […] Ihre angestammte Phantasielosigkeit ist die Ursache ihrer Abneigung gegen klare Veranschaulichung und demgemäss auch der Grund der von ihnen erfundenen Religionssatzung.“ Dühring argumentiert mit Zuschreibungen (phantasielos) und kausal (deshalb kunstlos) und unterstellt, das Bilderverbot sei nur eine vorgeschobene Staffage für ein tatsächliches Unvermögen dem goldenen Kalb abzusagen. Dass die Identitätszuschreibung, der Kausalzusammenhang, die falsche Unterstellung und die Ignoranz dasjenige obliteriert, was der Obliteration zugrunde liegt –​nämlich das Unbestimmte und Unsichtbare als affirmative Kraft –​, ist die Pointe, die es erlaubt die Argumentation gegen Dühring und seine Erben in Stellung zu bringen. Dührings Werk erschien erstmals 1881 und gilt als ein Grundstein des rassistischen Antisemitismus und als Vorläufer der nationalsozialistischen Hetzschriften. Dühring, Eugen: Die Judenfrage als Racen-​, Sitten-​und Culturfrage. Reuther: Karlsruhe /​Leipzig 1881, bes. S. 72–​76. 85 Cf. Olin, Margaret: „From Bezal’el to Max Liebermann: Jewish Art in Nineteenth-​ Century Art-​Historical Texts“. In: Soussloff, Catherine M. (Hrsg.): Jewish Identity in Modern Art History. University of California Press: Berkeley 1999, S. 20. Aaron Rosen argumentiert, dass jüdische Kunst Teil westlicher Kunst und dessen christlicher Ikonographie sei. Vgl. Rosen, Aaron: Imagining Jewish Art: Encounters with the Masters in Chagall, Gaston, and Kitaj. Legenda: London 2009.

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Merkmale zu bestimmen, die als jüdisch gelten und dadurch drohen unversehens antisemitische Klischees zu reproduzieren. Auch wenn beide Positionen gegensätzlich sind, so halten sie beide aber an einer jüdischen Identität fest. Levinas hat sich nirgends zur jüdischen Ästhetik geäußert, sehr wohl aber zur Frage jüdischer Identität und zu Werken jüdischer Künstler.86 Levinas macht zur Frage jüdischer Identität darauf aufmerksam, dass es sich dabei um einen prekären Drahtseilakt zwischen dem Sagen und dem Gesagten handelt: „Sich nach der jüdischen Identität fragen, heißt sie bereits verloren haben. Aber noch an ihr festhalten, andernfalls würde man der Befragung ausweichen.“87 Levinas sieht das Anrufen der jüdischen Identität einerseits bereits als Verlust, hält aber andererseits doch noch an ihr fest. Es ist also unvermeidlich sie zu benennen und sie zugleich zurückzuweisen, sie ein-​und auszuklammern. Denn angenommen, so spekuliert Levinas weiter, das Judentum sei ein Volk „außerhalb der Völker (und eben das heißt, schlicht gesagt, ‚Volk, das abseits wohnt‘ oder ‚Volk, das nicht zu den Völkern zählt‘)“88 also ein „der Diaspora fähiges Volk“,89 dann ändert sich damit die Auffassung von Universalität und die konfrontative Spannung entweicht in einen „universalistischen Partikularismus.“90 Wenn M ­ aurice Blanchot die Identität von Levinas als „klandestin“91 bezeichnet, so hebt er weniger auf die diasporische Identität des Jüdischen ab, sondern vielmehr auf diese Identität als verdeckte, unkenntliche und geheime. Wenn also das Jüdische in diesem Sinne als „obliteriert“92 verstanden wird, und hier in diesem Kontext von jüdischer Kunst oder jüdischer Ästhetik die Rede ist, dann geht es auch nicht allein um jüdische Künstler*innen, sondern vielmehr um skeptische Praktiken, die nicht nur etwas infrage stellen, etwa durch ironische Wendung oder Parodie, sondern dies auf eine Weise tun, dass dabei zugleich auch ein Unendliches als universalistischer Partikularismus aufscheint. Trotz der Vorbehalte gegenüber einer Identität des Jüdischen, hat dies einige Philosophen nicht davon abgehalten doch philosophisch-​theologische Prinzipien jüdischer Ästhetik zu bestimmen. So ragt ein Beitrag von Steven ­Schwarzschild heraus.93 Bei der Charakterisierung der jüdischen Ästhetik fragt er nach den 86 Cf. Levinas, Emmanuel: Être juif: suivi d’une lettre à Maurice Blanchot. Rivages: Paris 2015. Cf. auch Levinas, Emmanuel: Eigennamen. Meditationen über Sprache und Literatur. Hanser: München 1988. 87 Levinas, Emmanuel: „Identitätsnachweise“. In: Id.: Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum. Suhrkamp: Frankfurt am Main 2017, S. 53. 88 Cf. Levinas, Emmanuel, „Messianische Texte“. In: Id.: Schwierige Freiheit, S. 100. 89 Ibid. 90 Ibid., S. 103. 91 Blanchot, Maurice: „Notre compagne clandestine“. In: Laruelle, François (Hrsg.): Textes pour Emmanuel Levinas. Jean-​Michel Place: Paris 1980, S. 79–​87. 92 Zur Obliteration cf. Bennke, Johannes: „Vorwort“. In: Levinas: Die Obliteration, S. 7–​ 28. 93 Cf. Schwarzschild, Steven: „The Legal Foundation of Jewish Aesthetics“. The Journal of Aesthetic Education 9(1), 1975, S. 29–​42.

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Fundamenten jüdischer Kultur und Religion und ruft dabei bis heute sechs wirkmächtige Kategorien auf: Er nennt erstens das jüdische Bilderverbot als Idolatrieverbot, zweitens „the Jewish principle of incompleteness“94, drittens ein Nicht-​Sichtbares in den Bildern, viertens Darstellungen, die menschliche Aktivitäten des Herstellens in den Fokus rücken und damit für eine handlungs-​und produktionsorientierte Perspektive sensibilisieren, fünftens eine nicht-​mimetische Kreativität und Exegese (nicht nur) jüdischer Texte, sowie sechstens eine Beziehung zum Ethischen, das mal mit dem Erhabenen in der kantischen Tradition in Verbindung gebracht wird, mal mit dem Unbeschreibbaren (the indescribable) oder der utopischen Dimension der Eschatologie.95 Schwarzschild unterstreicht damit einmal mehr die Bedeutung des Bilderverbots für das Judentum und die jüdische Ästhetik und stellt am Ende die These auf, dass die postmoderne Kunst in die Schule des jüdischen Ikonoklasmus gegangen sei. Zwar kann durch diese sechs Merkmale eine grobe Orientierung gewonnen werden, doch werden weder der Status der jeweiligen Kriterien für die Kunstpraxis artikuliert, noch systematische Kategorien für die Kunstproduktion. Jüngere Beiträge zur jüdischen Ästhetik vermeiden also aus gutem Grund ontologische Definitionen des Jüdischen und wenden sich eher konkreten Kunstpraktiken und jüdischen Künstler*innen zu.96 In den genannten Texten ist eine der wiederkehrenden Beschreibungen jüdischer Ästhetik die Unabgeschlossenheit (incompleteness, inachèvement). Wenn man die ikonoklastische Ikonophilie mit der jüdischen Ästhetik in Verbindung bringt, so fällt auf, dass Levinas vor allem die irritierende Wirkung dieser Unabgeschlossenheit vor Augen hat und Mal als ‚Durchbruch‘ oder ‚Durchstoßen‘ (percée)97 bezeichnet oder mal als ein ‚Herausreißen‘ (arrachement)98 aus dem Sein. In diesem Sinne steht die Ästhetik von Levinas modernen ikonoklastischen Kunsttheorien nahe, die mit einer idealistischen Ästhetik brechen und dem antiokularen Impuls in der Postmoderne folgen.99 So spricht Levinas etwa der Obliterationskunst von Sacha Sosno eine gewisse Gültigkeit zu, nicht nur mit Ikonographien zu brechen, sondern auch eine Verbindung zum anderen herzustellen.100 Auch nimmt 94 Schwarzschild gibt eine Referenz auf Rachel Wischnitzer an, die in ihrem Buch The Bird’s Head Haggadah (1967) von einer Unvollständigkeit bzw. Unabgeschlossenheit der figürlichen Darstellung des Menschen geschrieben habe. Cf. Schwarzschild, Steven: „Aesthetics“. In: Cohen, Arthur A. /​Medes-​Flohr, Paul (Hrsg.): 20th Century Jewish Religious Thought. Original Essays on Critical Concepts, Moments, and Beliefs. Scribner: New York 1987, S. 3. 95 Cf. ibid., S. 2–​6. 96 Raphael, Melissa: „The creation of beauty by its destruction. The idoloclastic aesthetic in modern and contemporary Jewish art“. Approaching Religion 6(2), 2016, S. 14–​22. 97 Levinas, Jenseits des Seins, S. 316. 98 Ibid., S. 121. 99 Jay, Martin: Downcast eyes: the denigration of vision in twentieth-​century French thought. University of California Press: Berkeley /​Los Angeles /​London 1994. 100 Levinas, Die Obliteration, S. 40.

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Levinas etwa die Gleichzeitigkeit verschiedener Raumperspektiven in der Malerei von Charles Lapicque zum Anlass über Zeit und ihrer Simultaneität im Raum nachzudenken, wodurch nicht nur mit dem kontinuierlichen Fluss der Zeit gebrochen, sondern auch auf eine Unvollendetheit aufmerksam gemacht werde.101 In der ideologiekritischen Lesart reicht das Bilderverbot weit über künstlerische Praktiken hinaus und umfasst ebenso die philosophische Kunstkritik wie das Denken im Allgemeinen. Um aber den partikularen Universalismus des Bilderverbots noch genauer in den Blick zu bekommen, wäre eine Diskussion des Bilderverbots im Rahmen unterschiedlicher Bildnegationen hilfreich, wie sie etwa jüngst in den Bildwissenschaften angestellt worden ist.102 Nicht alle Ikonoklasmen gehen auf das Bilderverbot zurück, genauso wenig wie sich Bildnegationen in Ikonoklasmen erschöpfen.103 Es bedürfte hier also einer noch auszuarbeitenden Systematisierung von Bildnegationen, die deutlicher noch unterscheidet zwischen ironischen und parodistischen Bildnegationen,104 sowie ontologischen und memorialen Negationen wie dies etwa in der Obliteration angezeigt ist. Welche Geltung das Bilderverbot für digitale Bildpraktiken hat, wäre in diesem Kontext ebenso zu diskutieren. Eine jüdische Ästhetik nach Levinas, die auf ein Bilddenken zurückgeht, das sich aus dem Bilderverbot und dem Ende der Theodizee speist, erlaubt daher eine wichtige Unterscheidung auf den Begriff zu bekommen: Handelt es sich um eine Auslöschung oder um eine Spur des Unendlichen? Es geht also weniger um die Frage, ob jüngere Ästhetiken Ausdruck des jüdischen Bilderverbots sind, sondern vielmehr darum, eine Sprache für die Strategien verschiedener Bildnegationen zu finden. Genau aus diesem Grunde hatte Levinas die Rolle der philosophischen Kunstkritik hervorgehoben. Auch wenn das jüdische Bilderverbot und der Ikonoklasmus der modernen Kunst Resonanzen aufweisen, so wären in jedem einzelnen Fall die Spuren des Nicht-​Sichtbaren im Negierten auch unter digitalen Bedingungen erst aufzuweisen.

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Agata Bielik-​Robson

Secret Followers of the Hidden God. Derrida’s Marrano Iconoclasm Like certain Marranos I would have begun by forgetting… Derrida, Counterpath

In my essay, I want to read Derrida’s seminal text from 1997, Faith and Knowledge, as a crypto-​credo of his Marrano ‘religion without religion.’1 Pace Martin Hägglund’s thesis according to which Derrida’s philosophy should be classified as ‘radical atheism,’2 I will claim that it is, in fact, deeply religious, yet in a radically iconoclastic manner which does not remove the idea of divinity, but rather hides it away from the sight and, precisely because of that, may appear atheistic without actually being so. As Derrida often admits, radical apophatic iconoclasm often goes hand in hand with atheism, but it nonetheless should not be mistaken with the latter: it is rather an a-​theism which mistrusts open theological discourse, but, at the same time, is not ready to give up on God completely. For Derrida, this seemingly very weak and merely half-​negative not-​giving-​up-​on-​God, usually attributed to the Marranos and their ‘minimal theology,’3 does not indicate a 1 According to John D. Caputo, who coined this term, the Derridean ‘religion without religion’ is mostly idiosyncratic: “Jacques Derrida has religion, a certain religion, his religion, and he speaks of God all the time. The point of view of Derrida’s work as an author is religious –​but without religion and without religion’s God”: Caputo, John D.: Prayers and Tears of Jacques Derrida. Religion without Religion. Indiana University Press: Bloomington 1997, p. xviii. True, but not quite. Derrida’s religion is indeed his religion and a Marrano religion which has already grown its own particular tradition. On Derrida’s Marrano identification, see most of all his famous circumfession: “I confided it to myself the other day in Toledo, [that] is that if I am a sort of marrano of French Catholic culture, and I also have my Christian body, inherited from SA in a more or less twisted line, condiebar eius sale [“seasoned with His salt,” St. ­Augustine], I am one of those marranos who no longer say they are Jews even in the secret of their own hearts, not so as to be authenticated marranos on both sides of the public frontier, but because they doubt everything, never go to confession or give up Enlightenment, whatever the cost, ready to have themselves burned, almost, at the only moment they write under the monstrous law of an impossible face-​to-​face” (Derrida, Jacques: Circumfession. In: Bennington, Geoffrey (ed.): Jacques Derrida. The University of Chicago Press: Chicago 1993, pp. 3–​315, here pp. 170–​171). 2 See Hägglund, Martin: Radical Atheism. Derrida and the Time of Life. Stanford University Press: Stanford 2008. 3 Hent de Vries’ phrase –​‘minimal theology’ –​fits perfectly well, not only because it evokes the Benjaminian picture of the ugly dwarf of theology, who must be hidden

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condition of traumatic loss or enforced self-​reduction: for him, the loss of faith, understood as traditional cultic piety, does not appear tragic. On the contrary, it rather harbours a saving potential for what Hegel, in his version of Glauben und Wissen, calls die Religion der neuen Zeiten, ‘the religion of modern times.’ Just as Marranism appears to ­Derrida as ‘Judaism’s one chance of survival,’4 so, in its universalised variant, it also emerges as a saving mediation between faith and knowledge: between traditional theism, which openly declares its faith in God –​ and modern Enlightenment and its secular culture of laicite. Derrida’s universal Marranism, therefore, offers itself as a dialectical third between the two warring antitheses: neither theistic not atheistic, it inscribes itself in the yet uncharted territories of what Gershom Scholem tentatively called ‘pious atheism’ and ‘non-​ secular secularism.’5 The modern universal Marrano, the way Derrida envisages her, lives through these aporias and turns them into a new way of religious life in the time of the world/​saeculum. Once the theological absolutism of old traditions is gone, Abrahamic religions are not fated to die together with the ‘death of God,’ conceived as the Absolute. They still can survive as the religions of the world –​and, perhaps, fare even better than in their traditional form. The Marrano religion of God who withdraws from sight and erases His image in order to let the world be may thus indeed be the only chance of survival for ‘the religion of modern times.’

1. Beyond the Iconic Fixation: Derrida contra Hegel Derrida’s essay is a vast and many-​faceted meditation on die Religion der neuen Zeiten, which Hegel identified with the deep sense of mourning: “The feeling that God himself is dead is the sentiment on which the religion of modern times rests.”6 For Hegel, the ‘death of God’ is an ambiguous condition: on the one hand, it reflects the melancholy essence of the reformed, Protestant-​Lutheran, Christianity which Hegel embraces –​on the other, however, dangerously opens the doors to the development of modern atheism. For Derrida, who in his version of Faith and Knowledge, begins to experiment with a new concept of a non-​normative Marrano religiosity, ‘the feeling that God himself is dead’ means something else: it does announce a demise of God pure and simple, rather a complex operation of sending God to the from sight, but who nonetheless pulls the strings of all serious discourses of modern times: also because it points to the iconoclastic contraction which, as I will try to show here, is highly characteristic of the Marrano religion embraced by Derrida: de Vries, Hent: Minimal Theology. The Critique of Secular Reason in Adorno and Levinas. Johns Hopkins University Press: Baltimore 2005. 4 Derrida, Jacques: “A Testimony Given…”. In: Weber, Elisabeth (ed.): Questioning Judaism Stanford University Press: Stanford 2004, p. 42. 5 Scholem, Gershom: On Jews and Judaism in Crisis. Selected Essays. Dannhauser, Werner (ed.). Schocken Books: New York 1976, p. 283. 6 Hegel, G.W.F.: Faith and Knowledge. Trans. Cerf, Walter /​Harris, H. S. SUNY Press: Albany (NY) 1977, p. 134.

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crypt or, in other words, his en-​cryption. While, at the end of the second millennium, the religion seemingly triumphantly returns in the process of ‘globalitinization’ [mondialatinisation] as an ubiquitous presence of hyper-​visibility, which spreads its ‘good news’ through all the possible channels of tele-​vision, making everybody witness its ‘miracles’ through the medium of the globally operating ‘machine’ –​ Derrida locates the true ‘religion of modern times’ in the opposite move: a retreat from visibility, an encryption so deep that makes even the name of God unmentionable, or –​in other words –​radical iconoclasm. Contrary to the tele-​evangelist tendency of religion turned into a one big show, Derrida champions the invisible self-​withdrawing God who commits tsimtsum for the sake of the perceptibility of the world, so far hidden in God’s shadow: while the former Absolute negates itself and retreats into nocturnal desert, the World, le monde, is to treat into the light and, indeed, steal all the show. But this mondialisation must be differentiated from its Latin/​Christian version: the tsimtsem God belongs here to an alternative modern tradition which Derrida associates with the ‘Spanish Marranos,’ who ‘dispersed and multiplied’ the doctrine of the Iberian kabbalah, including the one created by Andalusia born Isaac Luria, the author of the notion of God’s withdrawal in tsimtsum.7 It the symphony of voices, which Derrida orchestrates in his extremely rich essay, there is one on which I want to focus here: Hegel, since it is in the polemic with his concept of ‘the death of God’ and the mournful ‘memory of the Passion’ that Derrida develops his alternative Jewish-​Marrano idea of the ‘memory of Passover.’8 Unlike Nietzsche, who will use the phrase of ‘the death of God’ in 7 Although the very term –​tsimtsum –​by which the 16th century kabbalist, Isaac Luria, denotes the ‘contraction of God,’ does not appear explicitly in Derrida’s essay (which can also be seen as a typically Marrano manoeuvre of covering up the traces), there is one early text, testifying to his profound knowledge of the theme: ‘Dissemination,’ devoted to Philippe Soller’s novel Nombres, where Derrida states that the idea of tsimtsum is “linked to the mythology of Louria” (as he pronounces his name according to the French usage). Cf. Derrida, Jacques: Dissemination. Trans. Johnson, Barbara. University of Chicago Press: Chicago 1981, p. 344. Derrida was also highly aware of the importance of the divine ‘retreat’ in the work of Levinas. 8 I will apply a similar rule in regard to the symphony of Derrida’s commentators and choose one reader, Michael Naas, who devoted the whole book to Derrida’s Faith and Knowledge. Cf. Naas, Michael: Miracle and Machine. Fordham University Press: New York 2012. Nass, however, makes little of Hegel’s presence in Derrida’s essay on religion, despite the borrowing of the title. In his “Observation on Hegel,” Naas admits that it is always possible that Derrida is hiding his major influence, but “a lot of interpretative work would need to be done to make this case, and even more would need to be done to show that Derrida was trying, in Faith and Knowledge, to intervene in the debate between Kant and Hegel. In his attempt to understand the nature of religion today, Derrida had other things in view. For instead of ending his text with a reference to the speculative Good Friday, he concludes with an equally dramatic reference to violence, to ashes, to the massacre at Chatila, and to ‘an open

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his critique of monotheism as an irreligious religion without a sense of the true sacrum –​Hegel links it to the Christian motif of kenosis. The Hegelian God who dies as the sovereign ruler and creator –​eternally safe and sound Absolute, the very paradigm of indemnity –​in order to get contaminated by the creaturely element and work within this condition of impurity as the Spirit, is the kenotic God at his extreme. One cannot imagine a greater ‘self-​humbling’ than the original death, retreat, self-​restraint, self-​withdrawal, and radical self-​negation in which the Infinite gives up its absolute sovereignty for the sake of the adventure of becoming. This ‘kenosis in creation,’ which Hegel smuggled surreptitiously under the heading of Entäusserung –​the word meaning ‘exteriorization’ in the Hegelian vocabulary, but before that used by Martin Luther in his translation of Paul’s term kenosis9 –​is the divine self-​humbling to the point of self-​erasure, from which there begins the ‘Golgotha of the Absolute Spirit.’ It commences with the self-​emptying of the First Idea, which gives itself over to the world, loses itself in the alien being in order to resurrect in the future, outlined by Hegel as the dawn of the Absolute Knowledge. In the meantime, however, the Spirit’s sacrifice is remembered in the form of the ‘infinite grief’: the ‘religion of modern times’ is the religion of mourning. The next step consists in transforming the religion of mourning into an abstract philosophical position which Hegel, also in the same essay, calls famously a ‘speculative Good Friday.’ Derrida names this position in the Heideggerian terms as onto-​ theology: a philosophical account of the ‘death of God’ which sublates the living imagery of Vorstellungsdenken (picture-​thinking) into an iconoclastic –​deadaned, abstract, but also paradoxically saving –​concept of God. Hegel would return to the idea of ‘the infinite grief in the finite’ many times, always accentuating the tragic clash between infinity and finitude, which inevitably demands the sacrifice of the latter. If, as Kant already argued, Christianity is the only ‘moral religion,’ it is because it focuses solely on the act of ethical compensation, in which the believer, following the law of the talion, pays with his ‘sensuous life’ for the loss of the infinite vitality God had sustained in the process of pomegranate, one Passover evening, on a tray’ ” (ibid., p. 310). While not disagreeing with Naas, I would like to challenge his dismissal of Hegel and demonstrate that Derrida constantly refers to Hegel in order to subvert, but also supplement his ‘memory of the Passion’ with a different memory of a different mourning, violence, and ashes: a Marrano testimony of the forced and traumatic loss of God, which created a different kind of (non)memory. 9 On the importance of Luther’s translation of kenosis for Hegel, see Catherine Malabou: “This injury is made clear in the Hegelian concept of a divine alienation, central to the dialectical conception of kenosis and its principle. ‘Kenosis’ means the lowering or humbling of God in his Incarnation and the Passion. Luther translates κένωσις as Entäußerung, literally ‘the separation from the self through an externalisation.’ Now from this Entäußerung or ‘alienation’, Hegel forges a logical movement which becomes constitutive of the development of the divine essence. God necessarily departs from himself in His self-​determination”: Malabou, Catherine: The Future of Hegel: Plasticity, Temporality, and Dialectics. Routledge: London 2005, p. 82.

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incarnation. Unlike the ‘pagan’ cults, therefore, which praise God’s infinite vitality, Christian religion consists in a mournful cultivation of the sense of guilt and debt (Schuld) which must be duly repayed. The prospect of reconciliation between man and God becomes thus possible only if man agrees to engage in the imitatio Christi as the repetition of the ‘tragedy of the cross.’ For Hegel, faith is most of all a faithful mimesis of the suffering God, that occurs in the inner shrine of the soul: For the reconciliation of the individual person with God does not enter as a harmony directly, but as a harmony proceeding only from the infinite grief, from surrender, sacrifice, and the death of what is finite, sensuous, and subjective. Here finite and infinite are bound together into one, and the reconciliation in its true profundity, depth of feeling, and force of mediation is exhibited only through the magnitude of harshness of the opposition which is to be resolved. It follows that even the whole sharpness and dissonance of the suffering, torture, and agony involved in such an opposition, belong to the nature of the spirit itself, whose absolute satisfaction is the subject-​matter here.10

By referring to Freud’s essay on Mourning and Melancholia, we can phrase the main question of Hegel’s philosophy as: can the ‘infinite grief’ ever be finished? Can it realise itself in a complete work of mourning, or must it perpetuate into infinity as an unworkable burden of melancholy? Hegel is visibly torn between, on the one hand, the idea of the infinite process of mourning, which sustains itself in the image of the God dying on the cross and thus keeps the sacrificial scheme of the ‘death of God religion’ for ever valid –​and, on the other, the prospect of the sublation of religion into philosophical knowledge, which simultaneously ends religion/​ faith with its picture-​thinking and its call for sacrifice, and then keeps it going on a higher, abstractly ontotheological, and iconoclastic form. In his own take on fides et ratio theme, Derrida points to this aporetic tension in Hegel’s logic which makes ‘grief’ infinite (non-​sublatable) and temporal (sublatable) at the same time: Infinite pain is still only a moment, and the moral sacrifice of empirical existence only dates the absolute Passion or the speculative Good Friday. Dogmatic philosophies and natural religions should disappear and, out of the greatest ‘asperity,’ the harshest impiety, out of kenosis and the void of the most serious privation of God [Gottlosigkeit], ought to resuscitate the most serene liberty in its highest totality. Distinct from faith, from prayer or from sacrifice, ontotheology destroys religion, but, yet another paradox, it is also what perhaps informs, on the contrary, the theological and ecclesiastical, even religious, development of faith. 11

10 Hegel, G.W.F.: Aesthetics. Lectures on Fine Art. Trans. Knox, M. T. Oxford University Press: Oxford 1975, p. 537. 11 Derrida, Jacques: “Faith and Knowledge. The Two Sources of ‘Religion’ at the Limits of Reason Alone”. In: Anidjar, Gil (ed.): Acts of Religion. Routledge: New York /​ London 2002, p. 53, my emphasis. From now on indicated as FK.

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And although Derrida does not identify with Hegel’s position, which he understands as the full sublation of religion/​faith into philosophical absolute knowledge, he nonetheless is willing to pick up the Hegelian thread of the iconoclastic ontotheological abstraction –​and then play it out differently. While for Hegel, the concept can only be reached through the sacrifice of the sensuous content, Derrida decisively rejects the sacrificial logic hidden behind the process of conceptualisation.12 Derrida’s high argument consists in the attempt to abstract, that is, detach ‘the most serious privation of God’ from the tragic remnants of the sacrificial scheme, which linger in the notion of the ‘infinite grief’: while hindering the Hegelian abstraction on its way to become properly iconoclastic and thus enter the realm of ‘most serene liberty.’ The stubborn ‘picture-​thinking’ of the Christian ‘tragedy of the cross’ infects Hegel’s effort of sublation with an unwished-​for and not fully reflected iconophilia. Or, perhaps, philia is not the right word here: the abiding image of the crucified God, preserved in the persistent ‘memory of the Passion,’ suggests rather a traumatic iconic fixation. While all other Hegelian concepts pass through the purifying ‘sacrifice of the sensuous,’ it is only this one –​the concept of God –​which cannot free itself of the image of the dying body. While all other concepts become ‘impersonal presences’ which are nothing but ‘tombstones weighing on the void’ –​the concept of God stubbornly refers to the corpse painfully rotting in the tomb’s crypt. All other thoughts may thus become ‘serene’ and ‘free’ in their abstract sublimation, but not this one: the frightful thought that God himself is dead. If it remains so ‘frightful,’ it is because it is fixated on the traumatising, unspeakably scandalous horror-​image: the Icon of all Icons, the Vera Icon of Christ in Passion. Hegel’s note on the ‘death of God’ from the 1831 lectures leaves no doubt that, when it comes to the killing-​ negating essence of conceptual language, God constitutes a sovereign exception: God has died, God is dead –​this is the most frightful of all thoughts, that everything eternal and true is not, that negation itself is found in God. The deepest anguish, the feeling of complete irretrievability, the annulling of everything that is elevated, are bound up with this thought.13

12 Adorno calls the Hegelian condition of passing to conceptual thinking ‘the sacrifice of the empirical’: Adorno, Theodor W.: Metaphysics. Concepts and Problems. Trans. Jephcott, Edmund. Stanford University Press: Stanford 2005, p. 95. Yet, the best description of the murderous /​sacrificial nature of language can be found in Blanchot: “I say my name, and it is as though I were chanting my own dirge: I separate myself from myself, I am no longer either my presence or my reality, but an objective, impersonal presence, the presence of my name, which goes beyond me and whose stonelike immobility performs exactly the same function for me as a tombstone weighing on the void. When I speak, I deny the existence of what I am saying, but I also deny the existence of the person who is saying it”: Blanchot, Maurice: “The Literature and the Right to Death”. In: Id.: The Work of Fire. Trans. Mandell, Charlotte. Stanford University Press: Stanford 1995, p. 324. 13 Hegel, G. W. F.: Lectures on the Philosophy of Religion (The Lectures of 1827 –​One Volume Edition). Trans. Brown, R. F. Oxford University Press: Oxford 2006, p. 465, my emphasis.

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Thus, everything can be sacrificed, but not the God on the cross; or rather, everything else should be sacrificed precisely because He was. The frightful monstrosity of Christ’s Passion constitutes an Image which binds and fixates the thought that can never sublate it. The abstract edifice of Hegel’s conceptuality is thus founded on the non-​sublatable Icon of God’s kenosis issuing in the tragedy of the cross: the dark trauma that can never make its way into language. For Derrida, Hegel heads in the right direction, but is not iconoclastic enough: it is precisely the obstinate icon-​fixated thought of the divine kenosis as sacrifice ending in frightful death that prevents him from fully embracing what he himself advocates. Thus, by simultaneously continuing and correcting the Hegelian analysis of die Religion der neuen Zeiten, Derrida will claim that the current return of the religious ‘proclaimed in every newspaper’(FK, 53) or this ‘machine-​like return of religion’ (ibid.), which becomes all-​too-​visible, should indeed be challenged by the ‘feeling that God himself is dead’ resulting in the Hegelian ‘harshest impiety,’ taken to its extreme not yet fully realised by Hegel himself. Far from dismissing the religious as the by-​gone madness of dark ages, scorched out by the modern ‘light of the day’ (FK, 46), Derrida throws himself straight into the Hölderlinian paradox: the coincidence of the highest danger and the growing possibility of redemption, or the aporetic oscillation between ‘the most radical evil’ and the ‘promise of salvation’ (FK, 43), which he sees as the defining moment of the returning religion. If ‘radical abstraction,’ by which religion travels today all over the globe thanks to the machine of telecommunication, spells the evil of “deracination, delocalization, disincarnation, formalization, universalizing schematization, objectification” (FK, 43), the other abstraction harbours a possibility of a ‘new reflecting faith’ (FK, 49) which breaks with the dogmatic cult of any sort, always rooted in a particular sacred space, and opens itself to a universal moral appeal. And if the ‘harshest impiety’ brought by the Enlightenment can indeed lead to the war on religion waged for the sake of killing God, it may also suggest a different outcome: a retreat to ‘the void of the most serious privation of God,’ the very ‘desert in the desert’ in which there is no telling ‘what is yet to come’ (FK, 47) –​what God, living or dying (or neither living nor dying), might appear on the radically emptied horizon. The proper abstraction of ontotheology could thus still overcome the false one, while a new form of a reflecting faith could form the ground “in whose name one would protest against” the existing form of religiosity which “only resembles the void” (FK, 55). This protest against the distorted forms of the modern faith, therefore, is not ventured on the grounds of knowledge, but rather on the grounds of another –​withdrawn, invisible, ‘harsher,’ iconoclastic, yet at the same time ‘serene’ –​ foi originaire which Derrida wants to reveal (as much as it is possible) and defend: The abstraction of the desert can thereby open the way to everything from which it withdraws. Whence the ambiguity or the duplicity of the religious trait or retreat, of its abstraction or of its subtraction. This deserted re-​treat thus makes way for the repetition of that which will have given way precisely for that in whose name one would

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protest against it, against that which only resembles the void and the indeterminacy of mere abstraction (FK, 55; my emphasis).

In Derrida’s harshest possible ontotheological abstraction, the origin is conceived as a place-​maker whose role is only to give way: withdraw and make something else possible in-​stead. But that also means that, by giving space to everything and anything, the origin can also possibilitate a religion of the fully visible –​monstrously large-​looming –​gods-​idols who overshadow and cover up the modest source in retreat. The returning religion returns thus with the vengeance –​as indeed in Gilles Kepel’s famous analysis of the fundamentalist renaissance as revanche de Dieu –​in the name of the living, present, and palpable gods who loudly protest against the modern claim that ‘God is dead.’14 But Derrida, being the master of dialectics, is far from dismissing this protest. He is ready to protest together with the fundamentalists against the false voiding of the ‘death of God’ theology inaugurated by Hegel, as well as against the indeterminate abstraction of the mondialatinised God who, Christian in origin, became falsely universal by losing its roots and entering the global stage as ‘God without qualities.’ But he is also ready to protest against the fundamentalists in the name of what he perceives as the determinate abstraction: a particular process of the iconoclastic purification of faith which has not lost its Jewish specificity and remains determined by the Second Commandment. Thus while today’s religious integralists reject the diluted, ontotheological, and ‘liberal’ concept of God in the name of His commanding living presence –​Derrida cuts into this global-​Christian dispute with his Marrano votum separatum: keeping an equidistance from both, ‘death of God’ theology turned into a seemingly universal philosophical discourse, on the one hand, and the resurrected God-​Idol of the ‘returning religion,’ on the other. Neither is the post-​Christian ontotheology so universal as it claims, since it still feeds on the particularistic ‘memory of the Passion’ –​nor is the Living Presence of the fundamentalist cults free of the ‘indeterminate abstraction,’ which, as Kepel argues, makes them all more similar to one another than they would ever be ready to admit. Derrida will thus champion his third way meandering between the ‘death of God’ and God’s unscathed vitality: neither dead nor alive, neither simply particular nor simply universal, Derrida’s godhead will survive in the properly iconoclastic ‘Marrano’ variant of ontotheology: “distinct from faith, from prayer or from sacrifice,” but, at the same time, advancing modern, no longer sacrificial and icon-​fixated, ‘development of faith’ (FK, 53). In what follows, we shall see that the new concept of God, developed by Derrida’s ontotheology, is not really a proper concept, but nonetheless a very ‘determinate abstraction’: a borderline notion which names the self-​erasing and place-​making origin, Khôra. Although deriving from Plato’s

14 See Kepel, Gilles: The Revenge of God: The Resurgence of Islam, Christianity and Judaism in the Modern World. Polity Press: London 1994.

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Timaeus, Derrida’s Khôra will be also something else: a Makom, one of the names divine in the Jewish tradition.

2. Crypts and Orchards of Ontotheology Faith and Knowledge is divided into fifty-​two paragraphs and two sections: the first is called The Crypts and the second …and pomegranates. Derrida deliberately does not end his essay with the image of the divine corpse buried in the crypt and adds the second section devoted to the paradisiac rimonim: the fruit which, according to the Jewish messianic sources, is still hanging on the branches of the Tree of Life, and still within our reach. The Derridean Marrano interpretation of the Platonic Khôra –​the crypt of divine interment turned into a fertile soil growing pomegranates with their ‘thousands of seeds’ (FK, 100) –​is thus openly polemical against the death of God theology, but also suspicious towards any theology which, in its theomania, is always prone to put God in the centre of the stage, with all the lights of inquiry on Him, and thus nolens volens re-​installs God as an idolized Image: Fundamentally, this theme of the death of God is first of all Christian, which reactivates in the nineteenth century with Hegel. Khôra is foreign to the death of God, and thus it is a desert which even the Judeo-​Christian figure of the desert cannot capture.15

But, if God is not really dead, but not really alive either, what is his status? For Derrida, God’s en-​cryption is an ambivalent operation: it is, on the one hand, his interment and entombement, and, on the other, his going into hiding, erasing from sight.16 God is thus only seemingly dead: reduced to a mummified seed, he is in the state of anabiosis –​close to death, but only close, in fact still surviving. The Tree 15 Derrida, Jacques: “Christianity and Secularization”. Trans. Newheiser, David. Critical Inquiry 47(1), 2020, pp. 138–​148, here p. 145. 16 Is Khôra also a tomb of the ‘Artisan God’? In his commentary to Advances, the preface which Derrida wrote to Steve Margel’s Le tombeau de dieu artisan, Philippe Lynes perceptively notices that the term used by both in reference to Khôra, “terre sans terre [earth without earth] in French would be homophonous with terre s’enterre [the earth buries or inters itself]. Such a notion lets us read not only Derrida’s own description of the Timaeus as a tomb sinking into the earth under the weight of the scholarly imprintings on its subject, but also the notion of Khôra as a nonmemory, something that must let everything become erased in order to receive the Demiurge’s imprints” (Lynes, Philippe: “Introduction. Auparadvances”. In: Derrida, Jacques: Advances. Trans. Lynes, Philippe. University of Minnesota Press: Minneapolis 2017, p. xvii). In that sense, Khôra would be another name of God who buried himself in the act of self-​erasure: a self-​interring God who does not want to be recollected and thus appropriated –​as in the Hegelian Er-​innerung –​by any theology: a God-​in-​crypt who wants to stay in the shadows and refuses to be –​Hegel again –​‘resurrected daily’ by the pious ‘memory of the Passion’. Cf. Hegel, G. W. F.: Phenomenology of Spirit. Trans. Miller, A. V. Oxford University Press: Oxford 1976, p. 299.

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of Life, therefore, is still secretly growing: it takes roots in the crypt and sprouts out in the modest form of a ‘… pomegranates,’ necessarily and emphatically with the ellipsis which announces –​without announcing –​something truly suprising, unexpected, a pure new arrival: a hope of a new sur-​vie symbolized by the paradisiac rimonim, the traditional Jewish emblems of fertility (‘disperse, multiply…’) and love-​strong-​as-​death (‘and yet –​they still grow’). Thus, suddenly, at the very end of his essay, Derrida comes back to the issue of modern ontotheology, which sublated and abstracted the language of old ‘living religions’ and transformed them into ‘religions of the [apparent] death of God.’ Contrary to this mortifying view, Derrida says that ontotheology also… … encrypts faith and destines it to the condition of a sort of Spanish Marrano who would have lost –​in truth, dispersed, multiplied –​everything up to and including the memory of his unique secret. Emblem of a still life: an opened pomegranate, one Passover evening, on a tray (FK, 100).

For Derrida, the Marrano is an emblem of a still life [nature morte], which locates itself in-​between the premodern cult of the Living God and modern atheism which issued from the ‘death of God’: seemingly dead, but –​still –​a life; still, quiet, restrained, self-​withdrawn, and yet –​still –​a life. But if ontotheology can be compared to the Marrano condition, it is also because it is nature morte: the nominalist natura pura which, deprived of the animating presence of divine grace, transforms into collection of mechanical things –​a dead matter abandoned by God, which only on such condition could become an object of modern science. And yet –​still –​ it lives on in the realm of Verlassenheit: no longer vitalised by the living Spirit, but nonetheless un-​dead; not a vitalist pleroma of unbound power, yet –​still –​ some kind of deanimated life that does not equal death, but stubbornly survives. Ontotheology, therefore, as the nature morte /​natura pura, depicts the world as deserted by living God, yet also allows God to survive in the ‘harshest impiety’ of desiccated and desertified abstraction. The Marrano dim memory of the Jewish rite of Passover suggests that this God will be remembered/​recalled differently than in the Hegelian ‘memory of the Passion’: not as the God who fixates his believers on the traumatic image of his suffering and the demands to be redeemed /​repaid by their sacrifice, but the God of Exodus, who truly “lets his people go.” Here it is, shown to us openly and plainly, on a tray –​‘a testimony on display’ –​through the collection of objects, which, as Benjamin subtly argued, constitutes a kind of a metonymic external memory as opposed to Er-​innerung, the internalised ‘living’ memory based on metaphor and hence also an image.17 And, in the very centre of 17 In Benjamin, the collection derives from the primacy of touch over seeing. Benjamin states in the H section of his Arcades Project: “possession and having are allied with the tactile, and stand in a certain opposition to the optical. Collectors are beings with tactile instincts… The flaneur optical, the collector tactile.” Unlike metaphor, therefore, which is based on the optical iconic associations, metonymy is the trope of tactile affinity, which escapes the dominance of sight: Benjamin, Walter: The Arcades

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the Passover collection, there lies an opened pomegranate which shows ‘thousand seeds’ of stubborn survival –​dispersion, multiplication, and dissemination –​of Abraham’s seed/​name (the Yiddish word for pomegranate, milgroyn, derives from the Late Latin mille granata, ‘thousand seeds’). Ontotheology, therefore, would be a survival of God, who no longer enjoys full life in religious ‘picture-​thinking’ (Hegel’s Vorstellungsdenken), but nonetheless lives on in the iconoclastic concept, no longer remembered (er-​innert) as a living presence and no longer re-​collected/​re-​gathered as the living One (when Derrida states that the One is always already plus d’Une, more-​than-​One and no-​longer-​ One, he clearly indicates that restitutio ad integrum cannot be a desirable goal in his radically iconoclastic doctrine): Distinct from faith, from prayer or from sacrifice, ontotheology destroys religion, but, yet another paradox, it is also what perhaps informs, on the contrary, the theological and ecclesiastical, even religious, development of faith (FK, 53; my emphasis).

We should thus read this encrypted life of God seemingly mortified into the idol of ontotheology along the lines of Adorno who defends metaphysics as die rettende Kritik (the saving critique) which secretly rescues the sparks of waning faith and preserves them in modern conceptual form, devoid of any sensuous ­representation: [Metaphysics] is always also an attempt to rescue something which the philosopher’s genius feels to be fading and vanishing. There is in fact no metaphysics, or very little, which is not an attempt to save –​and to save by means of concepts –​what appeared at the time to be threatened precisely by concepts, and was in the process of being disintegrated, or corroded… Metaphysics is thus, one might say, something fundamentally modern –​if you do not restrict the concept of modernity to our world but extend it to include Greek history. And it is no accident that metaphysics re-​emerges in the High Middle Ages, a period of urban bourgeois culture in which the naive immediacy of Christian faith was already breaking down.18

It is, therefore, knowledge –​a metaphysical iconoclastic science made of concepts –​ which preserves faith precisely the moment when its fresh naïve imaginary wanes due to the rational critique. Faith, put under the scrutiny of conceptual enlightenment, does not disappear, but wanders into the realm of ontotheology: altered, no longer naïve, yet, in a strange way, all the stronger, ready to disperse, multiply, and disseminate in the form of a universal philosophical abstraction. In the same series of lectures, Adorno states that “the ancient concepts [of metaphysics] are essentially secularized gods,” both Greek and Jewish.19 When translated into the idiom of Foi et savoir, this would mean that concepts are gods who might have Project. Trans. Eiland, Howard /​McLaughlin, Kevin. The Belknap Press: Cambridge (Mass.) 1999, pp. 206–​207. 18 Adorno 2005, p. 19. 1 9 Ibid., p. 85, my emphasis.

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died for simple faith, but nonetheless come to life again in knowledge. Ratio, therefore, is not an enemy of Fides: it is its product, made of secularized/​white-​washed sacral motives which –​like the Derridean inhabitant of the crypt –​remain simultaneously dead (killed by rational critique) and alive (preserved in concepts). The concepts are thus nothing but white metaphors secretly carrying inside the spectre of once fully alive religious beliefs: la mythologie blanche.20 Just like Marranos who, despite all the forgetting, still carry the latent spark of ‘potential Judaism,’21 the concepts are meta-​phoros –​but only insofar as they are the ‘far-​fetchers’ which carry gods into the realm of knowledge –​as well as crypto-​phoros –​the crypts which carry faith in an anabiotic form of a mummified seed, seemingly deadened, but in fact ready to come alive again in the right time. Derrida’s metaphysical thinking would be precisely such kairos for those white-​washed gods, and particularly for the one who, born in the lore of the kabbalistic faith, wandered into the ontotheological realm of German Idealism, most of all Hegel. Yet, Derrida does not want to resurrect this God in his full imago: He is to remain a colourless white spectre, never again to raise as an image of unscathed vitality (or its scandalous loss, as in the kenotic passage from God the Father to the Son). The Marrano process of iconoclastic ontotheologisation, therefore, should not be reversed: not only because it preserves faith, but also because it purifies it of its iconophilia. While ‘naïve’ religions succumb to the tendency towards full ‘visibility,’ which wants to de-​monstrate presence of their gods (think of the monstrantia /​monstrance: the glorious presentation of the Lamb in the oblate, as the climaxing moment of the Catholic mass) –​ontotheology makes them invisible within its abstract conceptual folds. It thus rescues (rettet) faith from falling away from its iconoclastic vocation.22 20 See Derrida, Jacques: “White Mythology: Metaphor in the Text of Philosophy”. Trans. Moore, F. C. T. New Literary History 6(1), 1974, pp. 5–​74. 21 The concept of the Marrano as a ‘potential Jew’ derives from Révah, Israël ­Salvador: “Les Marranes”. Revue des études juives 118, 1959–​1960, pp. 29–​77, here p. 55. 22 Already Adorno disagrees with Heidegger on the issue of ontotheology, but ­Derrida goes in his polemic with the concept’s author even further. In “The Question Concerning Technology,” Heidegger talks about the ‘danger’ of the modern time of Ge-​ stell and the ensuing degradation of the idea of God: “Thus where everything that presences exhibits itself in the light of a cause-​effect coherence, even God can, for representational thinking, lose all that is exalted and holy, the mysteriousness of his distance. In the light of causality, God can sink to the level of a cause, of causa efficiens. He then becomes, even in theology, the god of the philosophers, namely, of those who define the unconcealed and the concealed in terms of the causality of making, without ever considering the essential origin of this causality” (Heidegger, Martin: Question Concerning Technology and Other Essays. Trans. Lovitt, William. Garland Publishing: New York /​London 1977, p. 26). For Derrida, however, this very ‘danger’ also conceals ‘salvation’ –​the Hölderlinian Rettung (ibid., p. 28), carried within the crypt of the ontotheological abstraction which, for him, is never simply a distortion. Derrida’s own comment on Heidegger in “Christianity and Secularization” echoes the Marrano analogy from Faith and Knowledge, when it evokes the

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The decision not to reverse ontotheology’s move away from the ‘force of images’ marks an important change in Derrida’s attitude towards metaphysics as mythologie blanche. In his earlier text under this very title, he sided with Nietzsche and his critique of metaphysical concepts as insignificant flatus voci which could regain their power only if they returned to the lively figures and colours of the real world; till then, they remain merely “worn-​out metaphors which have become powerless to affect the senses, coins which have their obverse [Bild] effaced and now are no longer of account as coins but merely as metal.”23 The effacement of the image, therefore, amounts to the loss of validity: no longer a valid currency, now only a piece of metal, the metaphysical concept is also no longer a valid concept, because ultimately it signifies nothing. So, if those concepts are to be given back life, they must, at least partly, recover ‘that fabulous scene which brought them into being’: What is white mythology? It is metaphysics which has effaced in itself that fabulous scene which brought it into being, and which yet remains, active and stirring, inscribed in white ink, an invisible drawing covered over in the palimpsest.24

In Faith and Knowledge, Derrida’s position is more nuanced: ‘the wear and tear of the symbolic’ (ibid., 10) which effaces fabulous images from philosophical concepts is now affirmed and juxtaposed with the Marrano ‘forgetting without forgetting.’ The rule which Derrida applies to the logic of the self-​effacing trace of the self-​effacing God –​“one can only recall it to oneself in forgetting it (on ne peut se la rappeler qu’en l’oubliant)”25 –​is now extrapolated on the currency of ontotheological knowledge which preserves faith in its vestigal form, but also practice of dissimulation: “Heidegger deconstructs ontotheology because fundamentally, he says, in ontotheology (and in whatever within ontotheology has infected religion, whatever has dissimulated religion by making God a cause or a foundation) there is no prayer or sacrifice… Therefore, Heidegger tries despite everything to awaken, beyond ontotheology, an experience of sacrality of the God who comes, which is not simply the naive belief (Glaube) that he critiques all the time” (Derrida 2020, p. 146–​147, my emphasis). In the light of what we have said so far, Derrida would not be so eager to restore sacrifice –​the gift of blood, which either nourishes the infinite vitality of all ‘visible’ gods or allows to ‘resurrect daily’ Christ from his tomb –​but he clearly would like to recover a possibility of prayer. But, and this is crucial here, not on the grave on ontotheology: the ‘determinate abstraction,’ which is his place-​giving God-​in-​retreat, can also be prayed to. 23 Nietzsche, Friedrich: On Truth and Falsity in their Ultramoral Sense. Trans. Mügge, Maximilian. August. T. N. Foulis: Edinburgh 1911, p. 180. 2 4 Derrida 1974, p. 11. 25 Derrida, Jacques: Sovereignties in Question. The Poetics of Paul Celan. Trans. Dutoit, Thomas /​Passanen, Outi. Fordham University Press: New York 2005, p. 49. See also Derrida’s comment on Angelus Silesius: “This is how I sometimes understand the tradition of Gelazenheit, the serenity that allows being without indifference, lets go without abandoning, unless it abandons without forgetting or forgets without

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protects it from returning to the devious ‘force of images.’ Ontotheology, playing with words-​coins which erased their iconic origin, is no longer seen as the Nietzschean toothless army of self-​effaced metaphors, which can be brought to life solely with the retrieval of their Einbildungskraft (literally: imaginative power), but as a vehicle of radical iconoclasm which effectuates le retrait de la métaphore: ‘the retreat of metaphor’ as an iconophilic means of imagining gods-​dewos in their day, light, and eternal glory.26 Derrida’s reluctance towards these divine ‘light-​beings’ manifests itself already in the earlier essay –​ What is metaphysics? A white mythology which assembles and reflects Western culture: the white man takes his own mythology (that is, Indo-​European mythology), his logos –​that is, the mythos of his idiom, for the universal form of that which it is still his inescapable desire to call Reason27 –​

… but the rift between his positions from the 70’s and the 90’s consists in choosing two very different strategies of dealing with the Western seemingly rational ‘white-​washing’ of the Indo-​European tribal contents. While in Mythologie blanche, ­Derrida stakes on the pure deconstructive critique which demonstrates deception hidden behind Western erasure of mythos –​in Faith and Knowledge, he does that, but also adds an alternative: a different, non-​Indo-​European myth, which does not associate its godhead with the ‘the day of the phallus,’ but keeps it in the nocturnal desert as the Lurianic, invisible and non-​representable, God-​in-​tsimtsum. The early diagnosis stating that “metaphysics has effaced in itself that fabulous scene which brought it into being, and which yet remains, active and stirring, inscribed in white ink” (ibid., 11) still holds, yet with a more affirmative intention: ontotheology could not but efface the foundational fable of the self-​effacing God, which nonetheless remains valid as the very beginning of the story, inscribed there in white invisible ink. Le retrait de la metaphore also means that while ontotheological concepts are indeed ‘far-​fetchers,’ this transport cannot be reversed: in that sense, they are rather catachreses –​the tropes which can never ‘turn back’ and trace their ­figurative origin. Thus, only if we understand the ontotheological anabiosis in those restricted, radically iconoclastic, manner, we can pair Derrida with Ernst Bloch who, in The Spirit of Utopia, depicts the deadened God of Western metaphysics as not-​yet-​dead and still carrying the ‘subterrenean’ spark of messianic possibilities, hidden under the mask of the indifferent Absolute: God, who was initially proposed as the quintessentially One, as causa sui, and so something immobile, in itself fundamentally unenigmatic, the universal shelter of

forgetting” (Derrida, Jacques: On the Name (Sauf le nom). Trans. Leavey, John P. S­ tanford University Press: Stanford 1995, p. 73, my emphasis). 26 See Derrida, Jacques: “The Retrait of Metaphor”. Trans. Kamuf, Peggy. Enclitic, 2(2), 1978, pp. 5–​34. 2 7 Derrida 1974, p. 11.

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logic, has to include the greatest enigma: the enigma of possibility. We and we alone, then, carry the spark of the end through the course… And the spark is still open, full of unarbitrary, objective fantasy.28

The Marrano God, officially parading as the modern/​bourgeois/​Spinozist God of Reason29, would thus still carry his secret: ‘the enigma of possibility,’ capable to break the necessitarian closure of the world’s ontological status quo. The Blochian ‘we’ –​the emphatic ‘we and we alone’ –​who “carry the spark of the end through the course” bears strong affinity to Derrida’s Marrano ‘band of survivors’ who live/​ limp on in the world of modern abstract rationality, but, as cryptophores of the once-​living-​God, they can still pierce its bubble with the light secreting from their inner secret. But, as a God of secret –​the yet unimaginable promise of possibilities –​He cannot be pictured, presented, actualised as a living image. While Bloch simply criticizes ontotheology for flattening the mysterious aspect of God, Derrida focuses on the merits of the metaphysical enterprise: the ‘white-​washing’ which prevents God from returning to his colourful aliveness and inscribes Him only in the form of the ecriture written in the white spectral ink.30

28 Bloch, Ernst: The Spirit of Utopia. Trans. Nasar, Anthony. Stanford University Press: Stanford 2000, p. 227. 29 On the Marrano context of Spinoza’s God of Reason, see most of all Yovel, Yirmiyahu: Spinoza and Other Heretics. The Marrano of Reason. Princeton University Press: Princeton, N.J. 1989. Spinoza indeed could be regarded as the father of modern ontotheology, who wanted to get rid of the religious imagination and ‘picture-​thinking’ as the main cause of the obfuscation and distortion of the true message of revelation, which, for him, was an ethical lesson of neighbourly love following the laws of reason. He thus attacked the prophets as the people of the wildest imagination, concocting images and visions of things which do not exist, e.g.: “The voice Abimelech heard was imaginary; for it is said at Genesis 20: 6, ‘and God said to him in sleep’, etc. Therefore, it was not when he was awake but only in his sleep (a time when the imagination is naturally most inclined to imagine things which do not exist) that he was able to imagine the will of God” (Spinoza, Baruch: Theological-​ Political Treatise. Trans. Israel, Jonathan /​Silverthorne, Michael. Cambridge University Press: Cambridge 2007, p. 16). By paraphrasing James Joyce’s famous sentence on history, we could thus say that for Spinoza (but also for Derrida), religion is a nightmare from which he wants to awake. Compare, for instance, Derrida’s declaration of being a man of two opposite desires: “On the one hand, my irrepressible desire to keep the old words of our memory: religion, philosophy, metaphysics… And at the same time the desire (which is also irrepressible) that something comes –​so that we would have no further need of these words, so that they disappear” (Derrida 2020, p. 148). 30 A fascinating discussion on the marranismo of ontotheology appears in Yvonne Sherwood’s and John D. Caputo’s “Ortobiographies,” where they juxtapose the Heideggerian gesture of going back to das Frühste, the proper beginning of thinking in early Greek philosophy with its parallel in the efforts of those modern

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It is thus crucial to understand that, just as the opened/​cut pomegranate, ‘stilled’ and ‘mortified’ as an element of the ontotheological nature morte, the once-​ living-​God can no longer be the symbol of unscathed vitality, growing an invincible Tree of Life Eternal. Broken internally, self-​barred, self-​negated, He is deeply wounded: cut through, exposing its inner flesh to the alien outside, exposing its scathedness, wound, blessure, circumcision… There is nothing on circumcision in Faith and Knowledge, but we know from other texts, most of all Circumfession, how important this symbol of a never-​healing wound is for Derrida: a symbol of a wounded, self-​restrained and self-​circumcised, kenomatic second source of religion, which would be even more kenotic than the Christian God, even more deipassionistic than in Hegel’s description of the modern ‘death of God’ religion, and even more universally messianic than all most radical Jewish, Muslim and Christian messianisms taken all together. The true desert source, followed by his true-​untrue mis-​believing believers, the Marranos, who stay faithful to their tradition only by betraying it, or by remembering in forgetting, because only in this way one can keep a vestigial memory of the source which self-​retreats: “one can only recall it to oneself in forgetting it.” For, if God abandons himself, the only manner to keep him in mind –​literally, via incorporation and encryption –​is to ‘forget (him) without forgetting.’ The dim ‘memory of Passover,’ which takes the externalised metonymic form of the Benjaminian collection of scattered objects, is precisely such oublier sans oublier: an exteriorised (entäußert) projection of the inner crypt, which resists any attempt to turn it into an image.31

fundamentalist religious groups which reject “the God of ontotheology (seen, in the legacy of Pascal, as an idol, an abstraction, a marrano, a vaporization of the personal God of Abraham, Isaac, and Jacob), by returning to the arms of the Gods who came before ‘him’ ” (Caputo, John D.: “Ortobiographies”. In: Sherwood, Yvonne /​Hart, Kevin (eds.): Derrida and Religion: Other Testaments. Routledge: New York 2005, pp. 209–​240, here p. 232). Just as the Marrano, therefore, the ontotheological God would be cut from his ‘earliest’ and ‘proper’ origins, but –​the authorial duo continues –​“even the briefest glance at the regretful, embodied, jealous, hidden, abject, wound-​like, animal-​like, riddling, volcanic gods of the Old Testament /​Tanakh, throws into clear relief the services rendered by the philosopher’s God of absolute presence, absolute transcendence, and unadulterated unity” (ibid.). True, the God of ontotheology has his merits in departing from the all-​too-​colourful iconic representation of Godhead, but Derrida would have agreed with Sherwood’s and Caputo’s opinion only partly: while the God of philosophers is indeed a Marrano who forgot that he was once Yahoo, the Midianite god of volcanos, he does not have to be the Unscathed One, totally transformed into a theological Absolute Without Qualities (theos apoios): the whole point of Derrida’s discussion on Hegel’s ‘speculative Good Friday’ is to show that the God of philosophers can also be a quite peculiar godhead-​ with-​negativity, even if conceived in a non-​Hegelian manner. 31 In “Testimony Given…,” Derrida criticizes the Hegelian hypermnesiac enterprise of memory insured against forgetting, by applying the logic of auto/​immunity: “You

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On the one hand, therefore, the ontotheological source of religion called Khôra is a wound itself, l’epreuve, an ordeal, constant slipping out of being: the open, still-​living flesh of the pomegranate –​but, on the other, it is also still-​growing, still-​reinvigorating the seeds of what is yet to come. The pomegranate is here the same kind of the ambivalent revolving emblem as the ashes which, seemingly dead, can still come to life as glowing cinders32: the turn which is captured in those Benjaminian dialectical images is precisely the Um-​kehr from the tragic to the messianic, which constitutes the engine of Derridean deconstruction. And Khôra, protected by ontotheological abstraction, is the privileged site of this reversal. Just as Marranos exited all forms of institutionalized religions, being now neither Jewish nor Christian, so does Khôra remain outside, abstracted from all languages of the sacred: It will never have entered religion and will never permit itself to be sacralised, sanctified, humanized, theologized, cultivated, historicized. Radically heterogenous to the safe and sound, to the holy and the sacred, it never admits of any indemnification (FK, 58).

And just as Marranos are oblivious and unsure of their past and identity, impure and contaminated –​universally despised, yet precisely because of that masters of survival –​so is Khôra: treated by Plato as metaphysically inferior, rejected by Abrahamic monotheisms, Khôra constitutes their secret messianic energy without which they turn stale, dead, cultic, too indemnified. It signifies another desert: not the one of a raging jealousy of the One God who cannot stand any rivalry, but the one of the original contamination, heterogeneity, always already ‘more-​than-​one’ (plus d’Une), subtle and generous potentiality not yet formed into rigid identities, of a ‘still life,’ but nonetheless always surviving, living-​on, ‘dispersed’ yet ‘multiplying’ –​always there, in the dark silent background, hidden and secret. Thus, the pomegranates are here also grenades: thrown into the midst of the discussion on religion (which originally took place during the seminar on Capri) in order to explode and ‘disperse’ the phantasm of the Unscathed One as the daydream (or rather nightmare) of all religions –​and yet ‘multiply’ the messianic message, hidden in their secret core, thanks to the a-​theologised idiom of ontotheology.33 would risk destroying precisely because you had wanted to save at any price. The salvation of memory cannot be an insurance against forgetting. The salvation of memory or by memory, for memory, implies an absolute risk, the act of faith that must remain a testimony on display. It will never be a proof. You cannot and should not avoid the risk of forgetting if you want to remember. Memory without risk of forgetting is no longer a memory. It’s dreadfuf, but that is finitude itself, the limit and the chance of what comes, of the other and the event: the gift” (Derrida 2004, p. 51). 32 See Derrida, Jacques: Cinders. Trans. Lukacher, Ned. Nebraska University Press:­ Lincoln 1991, p. 33. 3 3 In French, the title of the section is ‘… et grenades’: a phrase which involves an ambivalence lost in the English translation, but was well spotted by Michael Naas: “While

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Thus, if Judaism follows the One as the ‘jealous God’ who turns the desert into his kingdom (pure absolute Life), and if Christianity follows the One as the ‘dead God,’ who, in the gesture of inverse sovereignty, indebts his believers with the infinite Schuld (pure absolute Death) –​Marranism can be seen as penetrating deeper beneath those religious fixed identities into the realm of plus d’Une as Khôra, where ‘scattered existence’ tolls with the effort of survie, yet, at the same time, is free from any form of sovereign power.

3. Conclusion: Kenosis, Tsimtsum, and Khôra Derrida’s Marrano reading of Khôra /​Makom –​the place-​making origin in tsimtsum /​ retrait –​gives us a sense of how to think about the original void, the true kenoma, in a properly iconoclastic manner. Derrida’s thesis seems to be the following: the merely apparent desert that only ‘resembles the void’ (FK, 55) derives from the false pretence of the Christian kenosis which overtly presents itself as an act of self-​humbling –​the God plunging into the scathed dimension of the finite life –​but secretly harbours the inversion where all the pride of the unscathed –​the perfect self-​sacrifice, preserved by memory in the icona vera of Christ’s Passion –​is still maintained. The positive thesis is more implicit, more ‘secretive,’ but nonetheless crucial in Derrida’s text: the real void, beyond any pretence –​and in that sense properly kenomatic and thus also icon-​free –​is offered by the act of tsimtsum, the non-​sacrificial re-​treat of God, which does not leave creation in the state of the ‘infinite grief’ and the necessity to repeat the gesture of self-​offering.

the latter context [which I have just analysed –​ABR] justifies the translation of grenades by ‘pomegranates,’ its context here, in the midst of a text on religion and science, faith and violence, is not so determined as to exclude the other meaning of grenades in French, namely, ‘grenades.’ Indeed, Derrida appears to have lobbed this word into the middle of the fifty-​two sections of Faith and Knowledge in order to gather or, rather, disperse many of the themes of the phantasm we have been following throughout this essay, in order to evoke all the tensions between, precisely, faith and knowledge, nature and culture, the pomegranate of religion and the grenade of techno-​science, a symbol of female fertility, of life-​giving seed, on the one hand, and an image of masculine violence, of shrapnel-​casting death, on the other, the blood-​red pomegranate of Persephone, on the one hand, and the army-​green hand-​held machine of technoscience, on the other” (Naas, Michael: Derrida From Now On. Fordham University Press: New York 2008, p. 205). These two meanings, however, should not be regarded as simply antithetical, for, whenever the kenomatic source comes into presence of a revealed religion and its techniques of maintaining this presence in the mass-​media machine, the innocent fruit indeed hardens into a potential weapon. But Naas is absolutely right that grenades are here to explode the phantasm of the Unscathed One and make it a scattered and dispersed plus d’Une which indeed “does violence to itself” (FK, 100), by constantly withdrawing from and negating the religious image of sovereign deity.

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The very concept of withdrawal/​re-​treat, which plays such a fundamental role in Faith and Knowledge, derives from the Lurianic kabbalah which for the first time put the talmudic term tsimtsum [contraction] to metaphysical use, by turning it into a primary creative act: the Infinite Ein Sof receding –​withdrawing, retreating –​for the sake of the finite being of the world.34 And although Derrida almost never mentions tsimtsum explicitly (at least not in Faith and ­Knowledge) and even distances himself from the anthropo-​ theological appropriations of his ‘deserted re-​treat,’ which he wants to guard in its cold iconcolastic abstraction, it is nonetheless Luria’s intervention that is precursorial to all subsequent notions of the self-​negating and self-​erasing Absolute: Hegel’s ‘kenosis in creation,’ Heidegger’s Entzug des Seins, as well as Derrida’s self-​effacing spatiality of Khôra, which, though Platonic in origin, is never really described as ‘withdrawing’ by Plato himself.35 In Timaeus, Plato talks about Khôra in strictly apophatic terms as a passive, indifferent and infinitely susceptible ‘receiving vessel’ capable to accommodate all forms (pandechos), and, by calling her a ‘nurse of generation,’ he denies her/​it even the slightest activity which is implied by such Derridean terms as ‘re-​ treat,’ ‘withdrawal’ or ‘making-​place’: “khôra comes to signify this enigma of a place that Plato himself cannot think from the perspective of Platonism.”36 This residual activity inscribed into Khôra, in which khorein consists in receding for the sake of all things to appear, seems to derive from a different tradition: the one of tsimtsum which radically questions God’s revealability. Derrida’s Marrano –​i.e. mixed, Greco-​Abrahamic –​take on Khôra-​in-​tsimtsum is to demonstrate that the iconoclasm which forbids any image of God is deeply rooted in the very nature of God who himself withdraws from sight. Khôra is thus ‘secretly’ reinscribed as 34 This version of tsimtsum, in which God ‘takes in his breath’ and restricts his glory –​ the spectacular show of kavod blinding with the light –​for the sake of something else to emerge instead, derives already from Isaiah, as described by Elliott Wolfson in his interpretation of one of the bahiric texts: “The notion of withdrawal, itself withdrawn and thus not stated overtly, is a secret exegetically derived from the verse lema‘an shemi a’arikh appi u-​tehillati ehetam lakh le-​vilti hakhritekha, ‘For the sake of my name I will postpone my wrath and my glory I will hold in for you so that I will not destroy you’ (Is. 48: 9). The plain sense of the prophetic dictum relates to divine mercy expressed as God’s long-​suffering, the capacity to restrain his rage. The expression tehillati ehetam, literally ‘my glory I will hold in,’ is parallel to a’arikh appi, ‘I will postpone my wrath.’ One may surmise that at some point in ancient Israel the notion of a vengeful god yielded its opposite, the compassionate god who holds in his fury”. (Wolfson, Elliot: Alef, Mem, Tau. Kabbalistic Musings on Time, Truth, and Death. University of California Press, Berkeley 2006, pp. 132–​133). 35 On the significance of the Lurianic heritage especially for German Idealism, see Bielik-​Robson, Agata: “God of Luria, Hegel, Schelling: The Divine Contraction and the Modern Metaphysics of Finitude”. In: Levin, David /​Podmore, Simon /​Williams, Duane (eds.). Mystical Theology & Continental Philosophy. Interchange in the Wake of God. Routledge: London /​New York 2017, pp. 32–​50. 36 Derrida 2020, p. 145.

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makom according to “a deep affinity with a certain nomination of the God of the Jews, [where] He is also The Place.”37 While the talmudic tradition of naming God makom/​place offered a canvas to Luria’s metaphysical speculation on tsimtsum as precisely the act of place-​making, it also becomes the main attribute of the Derridean Khôra patiently giving room to everything that emerges as a ‘pure singularity,’ and, as such, provides a ‘link to the other in general’: a ‘fiduciary link’ which “precedes all determinate community, all positive religion, every onto-​anthropo-​ theological horizon” as foi originaire (FK, 55). But why does not Derrida mention Luria directly? There is a good reason why he should conceal the Lurianic source: it is his reluctance to be associated with any particular messianic traditions, the Jewish-​kabbalistic included, which all grow out of the kenomatic abstraction of the ‘desert in the desert,’ and thus lose the radical inconoclasm of the ‘hidden tradition’ in the process. In the light of his ‘harshest’ abstracted messianicity, which relates to the Lurianic messianism in the same manner as the general structure of revealability (the Heideggerian Veroffenbarkeit) relates to the concrete revelation (Veroffenbarung), Khôra emerges as a better candidate for the kenomatic source of religion, because it is free of any secondary anthropo-​theo-​sophic associations. If it gives room/​place/​space, it does it abstractedly, indifferently, and, as if, mechanically: not out of love, kindness, or generosity, which motivate the Lurianic Ein Sof in his miraculous act of self-​retreat. Even those affective images are forbidden to express the originary, strictly iconoclastic, ‘giving beyond the gift.’ Thus, in his deconstruction of the sovereign paradigm of religion, Derrida follows closely Hegel’s definition of the modern religious sentiment as the ‘religion of the death of God,’ but he also modifies it in the radically iconoclastic direction. While in Hegel, this sentiment is ‘the infinite grief of the finite,’ the essentially endless work of mourning in which the finite beings are destined to commemorate the image of the God dying on the cross, in Derrida’s reading it emerges as a more affirmative and future-​oriented attitude, free of the traumatic fixation of the ‘memory of the Passion’: the ultimate wo es war of the Christian tradition. Both, Hegel and Derrida, agree that in order for the singular beings of the world to come to the fore, God’s previously all-​powerful and infinite existence has to diminish: its all-​pervasive light must ‘set down,’ and hide from sight in order to let the world enter the stage. The modern God, 37 Derrida, Jacques: “Abraham, The Other”. In: Cohen, Joseph /​Zagury-​Orly, Raphael (eds.): Judeities. Questions for Jacques Derrida. Trans. Bergo, Bettina /​Smith, Michael B. Fordham University Press: New York 2007, p. 33. Michael Naas also notices Derrida’s ‘jewgreek-​greekjew’ tendency to produce a dense interference of the two idioms, for instance, in the description of his tallith in “A Silkworm of One’s Own” which brings it close to Khôra: “… and, finally, the tallith, the white tallith, as what belongs to the ‘night, the absolute night’ also resembles Khôra as ‘the place of absolute exteriority,’ the ‘nocturnal source’ of both religion and science. The tallith is thus, in some sense, another name for Khôra, the place that gives place and has no name that is absolutely proper to it”: Naas 2012, p. 231–​232.

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therefore, is always the hidden God, deus absconditus: sent off down ‘under the table’ (as in Walter Benjamin) or straight to the ‘crypt’ (as in Hegel and Derrida), and then only dimly re-​called, as in the Marrano ‘memory of Passover.’ The modern ‘atheism’ is thus never pure and simple; it is rather, as in Gershom Scholem’s seemingly oxymoronic expression, a pious atheism of a radical iconoclast thinking in the dry idiom of ontotheology which, on the one hand, is the ‘harshest impiety,’ looking straight into the eye of negativity and ‘the most severe privation of God’ –​yet, on the other, is not without its own pious sense of complicity with God’s self-​denial. This reference to Scholem is on purpose. One of the tenets of my essay was to prove that the ‘death of God religion,’ called by Derrida ‘a certain Christianity’ (FK, 55), is indeed a Christian monopoly –​but not for the reasons which it is usualy extolled. All the thinkers associated with the ‘death of God theology’ and sympathetic to its iconoclastic leanings –​Thomas Altizer, Jean-​Luc Nancy, Slavoj Žižek –​insist on the absolute uniqueness of Christianity as the only religion which harbours atheism stucturally within itself and as such paves the way to the modern process of secularization. Yet, Derrida begs to differ: in his subtle deconstruction of the Christian triumphant hegemony, best articulated in the famous claim that “only an atheist can be a good Christian; only a Christian can be a good atheist,”38 ­Derrida demonstrates that it is precisely the Hegelian image-​fixated ‘memory of the Passion,’ which blocks the advances of modern ontotheology on its way towards a-​theisation or a-​theologisation.39 He thus puts forward a different hypothesis, by refering to a parallel manoeuvre of ‘a/​theologization,’ which occurs in the tradition of Jewish messianism, beginning with the Lurianic kabbalah. Having learned from Scholem’s studies that there is an elective affinity between Lurianism and Marranism, Derrida –​obliquely and allusively –​calls this heterodox lineage ‘Marrano’ after the experience of the Iberian conversos, forced to convert to Christianity but keeping their Judaic faith undercover or, in the secret imitation of the Lurianic

38 This sentence whose first part derives from Ernst Bloch and the second from Jürgen Moltmann, appeared on the cover of the first 1968 German edition of Bloch’s Atheismus im Christentum. Zur Religion des Exodus und des Reichs, the reprinted as the epigraph to the English translation: cf. Bloch, Ernst: Atheism in Christianity. The Religion of the Exodus and the Kingdom. Trans. Swann, J. T. Verso: London 2009. 39 The term atheology derives from George Bataille who meant by it a ‘science of destruction and death of God,’ which would not result in a simple atheism, but would attempt, in the Nietzschean fashion, to uncover the true wild sacrum beneath the Judeo-​Christian pseudo-​religion of morals. For Bataille, the divine could only be achieved by man ‘in the experience of his limits,’ that is, in his experience of dying and self-​sacrifice. If I use it in reference to Derrida, it is only because of Bataille’s intention to differentiate himself from atheism pure and simple, but not because of its actual execution, which is as far from Derrida’s ‘serene abstraction’ as possible. See Bataille, Georges: “Sacrifice”. In: Œuvres completes. Gallimard: Paris 1970. vol. VII, p. 72.

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God, ‘in retreat.’40 It is precisely the Marrano ‘secret’ –​almost forgotten, bordering on a/​theology or even atheism, yet at the same time, not without its own paradoxical form of piety and memory –​that offers the aptest model for the ‘religion of modern times.’ Just as the Marrano encrypts the Jewish deus absconditus in the inner crypt of his seemingly impious self, so does the modern faith hides behind the façade of ontotheological knowledge and develops further, undercover and in secrecy, without overt expression in any religious imagination. Knowledge, therefore, not only represses faith in the (once) Living God, but it also protects faith as faith in the place-​making origin-​in-​retreat: Khora /​Makom. This alternative fides abscondita is not to be dragged out from the shadow of the crypt into the light of presence: if it develops and becomes a new ‘religion of the modern times,’ it is only thanks to the empty darkness of the ‘desert in the desert,’ which is its proper hiding place. The extreme iconoclastic hiddenness is the necessary condition of its survival. What I, therefore, following Derrida’s logic, propose here to call the Marrano kenomatic God is the further radicalization of the already radical motif of the divine ‘ordeal’ (epreuve) or the Hegelian ‘Golgotha of the Absolute Spirit’: God who not only humbles himself in the act of kenosis, but truly ‘empties himself out,’ entäußert sich, by transforming into the ‘desert in the desert’ which the Jewish-​ Gnostic tradition calls kenoma /​ tehiru: ‘the void of the most serious privation of God (Gottlosigkeit)’ (FK, 53). Thus, if Hegel describes ‘modern religious sentiment’ in terms of the ‘abandonment by God,’ it also –​or rather, most of all –​means that God had abandoned himself; that he verliess, let go and gave up his sovereign Godhead, or, in Derrida’s idiom, resigned from his unscathed, indemnified purity and oneness for the sake of contamination with the alien element of the world. It is, therefore, not the disappeared God of atheism –​but the disappearing God of a-​theism which protects divine concealment and defends it against iconophilic ‘theomania.’41 Thus, while simple atheism can be defined as the non-​belief in God’s

40 See Scholem on the Marrano antinomianism: “The psychology of the ‘radical’ Sabbatians was utterly paradoxical and ‘Marranic.’ Essentially its guiding principle was: Whoever is as he appears to be cannot be a true ‘believer.’ In practice this means the following: The ‘true faith’ cannot be a faith which men publicly profess. On the contrary, the ‘true faith’ must always be concealed. In fact, it is one’s duty to deny it outwardly, for it is like a seed that has been planted in the bed of the soul and it cannot grown unless it is first covered over. For this reason every Jew is obliged to become a Marrano”: Scholem, Gershom: The Messianic Idea in Judaism. And Other Essays on Jewish Spirituality. Schocken Books: New York 1995, p. 109, my emphasis. 41 This great term –​theomania –​is a coinage of Elliot Wolfson who, among all Derrida’s commentators, truly saw into the heart of his apophatic via negativa: “Jacques ­Derrida… [was] able to carry the project of dénégation one step further… [He] embarked on a path that culminated in the aporetic suspension of belief… Derrida… well understood that the removal of all images from God, if maintained unfailingly, seriously compromises the viability of devotional piety. To deplete God of

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presence –​the Marrano a-​theism can be defined as the belief in God’s absence. Although both refer to the same state of the world –​the non-​presence of God here and now –​the connotation of this reference is totally different. For atheism, God no longer enters the present picture of the world; for a-​theism, on the other hand, it is precisely the continuous withdrawal from the immanence, which protects the transcendent, image-​less and unimaginable, ‘otherwise than being.’

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the anthropomorphic and anthropopathic embellishments decisively curtails the imagination’s ability to concoct the deity in personalist terms. If we retain the use of theological terms, they should be viewed, according to the formulation of Carl Raschke, as ‘pure semiotic formalisms.’ In a manner comparable to mathematical postulates or scientific models, religious concepts form an ensemble of signs that contribute to the structuring of a virtual as opposed to an actual reality. The experience of a theistic God, therefore, can be delineated as a ‘particular event horizon,’ which is perceived as ‘eminently real,’ but it can never materialize with the sensual concreteness of observable data. Indeed, the horizon established by this eventality –​ as vividly as it may present itself to human imagination –​is best depicted as a territory that is peculiarly not a territory, a territory beyond all territorialization, the margin to which we are propelled by attunement to the surpassing of language through language” (Wolfson, Elliot: Giving Beyond the Gift. Apophasis and Overcoming Theomania. Fordham University Press: New York 2014, pp. xvii-​viii, my emphasis). The ‘territory beyond all territorialization’ is also the best approach to Derridean understanding of Khôra /​makom: a placeless place giving place beyond the gift.

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Autorinnen und Autoren Johannes Bennke ist Postdoc-​Fellow der Minerva Stiftung der Max-​Planck-​Gesellschaft an der Hebräischen Universität Jerusalem. Seine Forschungsschwerpunkte sind Bild-​und Medienphilosophie, Ästhetik und Kunstphilosophie, Theorien des Dokumentarischen, Ethik der Algorithmen, sowie Erinnerungskultur unter digitalen Bedingungen. Von 2015–​2019 war er Promotionsstipendiat am Kompetenzzentrum Medienanthropologie (KOMA) der Bauhaus-​Universität ­Weimar und hat zum ästhetischen, bild-​und medienphilosophischen Denken im Werk von Emmanuel Levinas promoviert. Agata Bielik-​Robson arbeitete am Institut für Philosophie und Soziologie der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Warschau. Gegenwärtig ist sie Professorin für Jüdische Studien an der University of Nottingham. Sie hat Artikel in polnischer, englischer und deutscher Sprache über philosophische Aspekte der Psychoanalyse, romantische Subjektivität und Religionsphilosophie (insbesondere zum Judentum und seinen Verbindungen mit moderner Philosophie) veröffentlicht. Zu ihren Veröffentlichungen gehören: The Saving Lie. Harold Bloom and Deconstruction (2011), Jewish Cryptotheologies of Late Modernity. Philosophical Marranos (2014), Another Finitude Messianic Vitalism and Philosophy (2019). Sie ist Mitherausgeberin von Bamidbar. The Journal for Jewish Thought and Philosophy, welches in englischer Sprache im Passagen Verlag/​Wien erscheint. Asher D. Biemann ist Professor für Religionswissenschaft und Direktor des Center for German Studies an der University of Virginia, wo er zeitgenössisches Jüdisches Denken und Ideengeschichte unterrichtet. Sein Studium absolvierte er an der Universität Graz, der Universität Wien und an der Hebrew University in Jerusalem. Er lehrte bisher an der Harvard University, der Goethe-​Universität Frankfurt am Main, der Ludwig-​Maximilians-​Universität München und der Universität Wien. Er ist Autor der kritischen Edition von Martin Buber’s Sprachphilosophische Schriften (2003) und The Martin Buber Reader (2001). Weitere Schriften sind Inventing New Beginnings: On the Idea of Renaissance in Modern Judaism (2009) und Dreaming of Michelangelo: Jewish Variations on a Modern Theme (2012) [In deutscher Übersetzung: Michelangelo und die jüdische Moderne. Vienna University Press, 2016], beide erschienen bei Stanford University Press. Beniamino Fortis ist Philosoph und Postdoktorand des Selma Stern Zentrums für Jüdische Studien Berlin-​Brandenburg an der Freien Universität Berlin. Er hat in Venedig und Florenz studiert und wurde an der Universität Florenz promoviert. In seinen Forschungen befasst er sich mit Fragen der Ästhetik und Bildwissenschaft sowie mit Themen aus dem Bereich des jüdischen Denkens. Zuletzt erschien seine Studie über Franz Rosenzweig: Tertium Datur. A Reading of Rosenzweig’s ‚New Thinking‘ (Peter Lang, 2019).

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Autorinnen und Autoren

Ellen Rinner studierte Kunstgeschichte, Neuere Deutsche Literatur und Philosophie an der Freien Universität Berlin, der Humboldt-​Universität zu Berlin und der Université Sorbonne in Paris. 2016 schloss sie ihr Magisterstudium mit einer Arbeit zur visuellen Gedächtnispoetik in den Werken von W.G. Sebald und Aby M. Warburg ab. Daneben hat sie an diversen Publikations-​und Ausstellungsprojekten zur deutsch-​jüdischen Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert gearbeitet. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen Ästhetik, Bildwissenschaft, Kunst-​und Kulturtheorie des 20. Jahrhunderts sowie visuelle und performative Gedächtniskulturen. Sie ist Doktorandin des Selma Stern Zentrums für Jüdische Studien Berlin-​Brandenburg an der Freien Universität Berlin und befindet sich in der letzten Arbeitsphase ihrer Dissertation über die kulturwissenschaftliche Methode von Aby Warburg. Mario Cosimo Schmidt studierte Komposition, Musiktheorie, Philosophie und Sozialwissenschaften in Leipzig und Paris. Er ist als freischaffender Künstler, Publizist und Lehrer tätig. Zurzeit arbeitet er an einer Dissertation zur Musikphilosophie Adornos, gefördert durch das Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk und die Ursula Lachnit-​Fixson Stiftung. Er ist assoziiertes Mitglied am Selma Stern Zentrum für Jüdische Studien Berlin-​Brandenburg und Lehrbeauftragter für Philosophie an der Hochschule für Musik und Theater Leipzig. Lars Tittmar studierte an der Universität Hamburg sowie der Humboldt Universität zu Berlin und schloss das Studium 2018 mit einer Masterarbeit in Philosophie zum Thema Konstellation der Erfahrung. Über Theodor W. Adorno und Jean Améry ab. Seine Forschungs-​und Interessenschwerpunkte umfassen vor allem die Kritische Theorie, dialektische Philosophie sowie das Verhältnis von Geschichtsphilosophie, Kunst und Utopie. Als Doktorand und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Selma Stern Zentrum für jüdische Studien Berlin-​Brandenburg und an der Freien Universität Berlin, arbeitet er an seiner Promotion im Fach Philosophie zum Thema Utopische Sehnsüchte und Bilderverbot. Bloch –​Benjamin –​Adorno.

Apeliotes. Studien zur Kulturgeschichte und Theologie Herausgegeben von Rainer Kampling

Band 1

Rainer Kampling (Hrsg.): Eine seltsame Gefährtin. Katzen, Religion, Theologie und Theologen. 2007.

Band 2

Rainer Kampling: Erbauung. Vom Wort reden. 2007.

Band 3

Matthias Vollmer: Fortuna Diagrammatica. Das Rad der Fortuna als bildhafte Verschlüsselung der Schrift De Consolatione Philosophiae des Boethius. 2009.

Band 4

Rainer Kampling / Anja Middelbeck-Varwick (Hrsg.): Alter – Blicke auf das Bevorstehende. 2009.

Band 5

Rainer Kampling (Hrsg.): „Wie schön sind deine Zelte, Jakob, deine Wohnungen, Israel!“. Beiträge zur Geschichte jüdisch-europäischer Kultur. 2009.

Band 6

Anja Middelbeck-Varwick / Markus Thurau (Hrsg.): Mystikerinnen der Neuzeit und Gegenwart. 2009.

Band 7

Karin Gludovatz / Anja Middelbeck-Varwick (Hrsg.): Gender Geschlechterforschung in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. 2010.

Band 8

Monika Schärtl: „Nicht das ganze Volk will, dass er sterbe.“ Die Pilatusakten als historische Quelle der Spätantike. Analyse und Interpretation. 2011.

Band 9

Anja Middelbeck-Varwick (Hrsg.): „So lauert die Sünde vor der Tür“ (Gen 4,17). Nachdenken über das Phänomen der Fehlbarkeit. 2011.

Band 10

Thomas Wabel / Michael Weichenhan (Hrsg.): Kommentare. Interdisziplinäre Perspektiven auf eine wissenschaftliche Praxis. 2011.

Band 11

Elisabeth Hackstein: Auf der Suche nach den jüdischen Wurzeln. Zur Kritik „christlicher Sederfeiern“. 2012.

Band 12

Andreas Hölscher / Anja Middelbeck-Varwick / Markus Thurau (Hrsg.): Kirche in Welt. Christentum im Zeichen kultureller Vielfalt. 2013.

Band 13

Rainer Kampling / Andreas Hölscher (Hrsg.): Musik in der religiösen Erfahrung. Historischtheologische Zugänge. 2014.

Band 14

Markus Thurau: Der „Fall Schelkle“ (1929-1949). Zur frühen Rezeption der Formgeschichte innerhalb der katholischen Bibelwissenschaft im Spannungsfeld von lehramtlichem Widerstand, politischem Kalkül und theologischer Erneuerung. 2017.

Band 15

Beniamino Fortis: Tertium Datur. A Reading of Rosenzweig’s ‘New Thinking’. 2019.

Band 16

Beniamino Fortis (Hrsg.): Bild und Idol. Perspektiven aus Philosophie und jüdischem Denken. 2022.

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Blick.