Polyhistorismus und Buntschriftstellerei: Populäre Wissensformen und Wissenskultur in der Frühen Neuzeit 9783110278767, 9783110279894

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German Pages 285 [288] Year 2012

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Wissensliteratur und ›Buntschriftstellerei‹ in der Frühen Neuzeit: Unordnung, Zeitkürzung, Konversation. Einführung
Polyhistorie jenseits der Systeme. Zur funktionellen Pragmatik und publizistischen Typologie frühneuzeitlicher ›Buntschriftstellerei‹
Das Vergnügen von Hund, Jungfer, Ochs und Storch. Von der Dienlichkeit der ›Buntschriftstellerei‹
Wissensvermittlung im Dialog. Literarische Pflanzenkunde und christliche Weltdeutung in den Rahmenstücken von Johann Rists Monatsgesprächen und ihrer Fortsetzung durch Erasmus Francisci
Vom Wunder zur Kuriosität. Wunderbücher und ihre Rezeption in Deutschland
»Männiglichen zur Erlustigung und erlaubeter Ergetzlichkeit«. Samuel Gerlachs Eutrapeliæ im Spannungsfeld von Unterhaltung und Belehrung
Gathering Information - Constructing Order. Johannes Praetorius’ Architecture of Knowledge
»Zu besserer Begreiffung aller Materien«. Wissensorganisation und -vermittlung bei Georg Andreas Böckler, Architect & Ingenieur
Text und Rede zwischen Pflicht und Muße. Freiherr von Seckendorffs Praktiken der Wissenserzeugung
Utopie der Bildung. Der Entwurf einer »Polymathia experimentalis« in Johann Daniel Majors See-Farth nach der Neuen Welt/ ohne Schiff und Segel (1670)
Von Nutz und Lust. Zum Verhältnis von Gelehrsamkeit und Curiosität in frühen deutschen Zeitschriften
Allerhand Begebenheiten. Happels so genannte Europæische Geschicht-Romane als Wissensfundus
Polyhistorismus, moralische Belehrung und literarische Unterhaltung. Ziglers Asiatische Banise (1689)
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Polyhistorismus und Buntschriftstellerei: Populäre Wissensformen und Wissenskultur in der Frühen Neuzeit
 9783110278767, 9783110279894

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Frühe Neuzeit Band 169

Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext Herausgegeben von Achim Aurnhammer, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller, Martin Mulsow und Friedrich Vollhardt

Polyhistorismus und Buntschriftstellerei Populäre Wissensformen und Wissenskultur in der Frühen Neuzeit

Herausgegeben von Flemming Schock

De Gruyter

ISBN 978-3-11-027876-7 e-ISBN 978-3-11-027989-4 ISSN 0934-5531 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress.

%LEOLRJUD¿VFKH,QIRUPDWLRQGHU'HXWVFKHQ1DWLRQDOELEOLRWKHN Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen 1DWLRQDOELEOLRJUD¿HGHWDLOOLHUWHELEOLRJUD¿VFKH'DWHQVLQGLP,QWHUQHWEHU http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/ Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ’*HGUXFNWDXIVlXUHIUHLHP3DSLHU Printed in Germany www.degruyter.com

Danksagung Der vorliegende Band wäre ohne die Hilfsbereitschaft und Förderung von verschiedenen Seiten nicht möglich gewesen. Für die Aufnahme in die Reihe Frühe Neuzeit danke ich herzlich den Herausgebern Prof. Dr. Achim Aurnhammer, Prof. Dr. Wilhelm Kühlmann, Prof. Dr. Martin Mulsow, Prof. Dr. Jan-Dirk Müller und Prof. Dr. Friedrich Vollhardt. Prof. Dr. Jörg Jochen Berns fühle ich mich für die freundliche Erstellung eines Gutachtens zum Vorhaben verbunden, Frau Dr. Krauß für die verlegerische Betreuung und Frau Zeiler für die stets unkomplizierte Hilfe bei Fragen der Druckeinrichtung. Meiner Frau Imke Harjes danke ich für die Unterstützung bei der Durchsicht und Korrektur des Manuskripts. Last but not least: Gedankt sei allen Beiträgerinnen und Beiträgern. Leipzig, März 2012

Inhaltsverzeichnis Flemming Schock Wissensliteratur und ›Buntschriftstellerei‹ in der Frühen Neuzeit: Unordnung, Zeitkürzung, Konversation. Einführung .................................

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Wilhelm Kühlmann Polyhistorie jenseits der Systeme. Zur funktionellen Pragmatik und publizistischen Typologie frühneuzeitlicher ›Buntschriftstellerei‹ ............ 21 Paul Michel Das Vergnügen von Hund, Jungfer, Ochs und Storch. Von der Dienlichkeit der ›Buntschriftstellerei‹ .......................................... 43 Stefanie Stockhorst Wissensvermittlung im Dialog. Literarische Pflanzenkunde und christliche Weltdeutung in den Rahmenstücken von Johann Rists Monatsgesprächen und ihrer Fortsetzung durch Erasmus Francisci .......... 67 Rosmarie Zeller Vom Wunder zur Kuriosität. Wunderbücher und ihre Rezeption in Deutschland ............................................................................................ 91 Udo Roth »Männiglichen zur Erlustigung und erlaubeter Ergetzlichkeit«. Samuel Gerlachs Eutrapeliæ im Spannungsfeld von Unterhaltung und Belehrung.............................................................................................106 Gerhild Scholz Williams Gathering Information – Constructing Order. Johannes Praetorius’ Architecture of Knowledge ......................................132 Nikola Roßbach »Zu besserer Begreiffung aller Materien«. Wissensorganisation und -vermittlung bei Georg Andreas Böckler, Architect & Ingenieur ..............149 Stefan Laube Text und Rede zwischen Pflicht und Muße. Freiherr von Seckendorffs Praktiken der Wissenserzeugung .....................168

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Inhaltsverzeichnis

Hole Rößler Utopie der Bildung. Der Entwurf einer »Polymathia experimentalis« in Johann Daniel Majors See-Farth nach der Neuen Welt/ ohne Schiff und Segel (1670) ........................................................................................191 Wiebke Hemmerling Von Nutz und Lust. Zum Verhältnis von Gelehrsamkeit und Curiosität in frühen deutschen Zeitschriften........................................221 Christian Meierhofer Allerhand Begebenheiten. Happels so genannte Europæische Geschicht-Romane als Wissensfundus ......................................................230 Karin Vorderstemann Polyhistorismus, moralische Belehrung und literarische Unterhaltung. Ziglers Asiatische Banise (1689) ................................................................252 Register ............................................................................................................275

Flemming Schock

Wissensliteratur und ›Buntschriftstellerei‹ in der Frühen Neuzeit: Unordnung, Zeitkürzung, Konversation Einführung

Vor nunmehr rund dreißig Jahren fasste Gerhard Dünnhaupt den Status Quo der Erforschung der Literatur des 17. Jahrhunderts noch in das dramatische Bild des »barocken Eisbergs«:1 Vom engen Kreis der ästhetischen ›Hochliteratur‹ abgesehen, lag ein Großteil der zwischen 1600 und 1700 produzierten Texte noch in völligem Dunkeln. Eine vollzogene ›Schmelze‹ dieses Eisbergs kann auch heute kaum behauptet werden – dafür wird der Blick auf die Literatur des Barock weiter zu stark von Kanonaspekten normiert; jedoch hat sich die Perspektive auf die deutschsprachige Textproduktion und die Medien der Zeit gerade in den letzten Jahren entscheidend differenziert und verschoben: Unter der Ägide einer erweiterten Kulturgeschichte haben die Disziplinen Literaturwissenschaft, Erzählforschung,2 Wissens- und Sammlungsgeschichte, Medien- und Kommunikationsgeschichte begonnen, auch jene Textformen, Gattungen und Praktiken in ihren Wechselwirkungen zu untersuchen,3 die vormals allenfalls an der Peripherie der Wahrnehmung auftauchten und mit dem Vorbehalt zu kämpfen hatten, aus der Feder zweit- und drittrangiger Autoren zu stammen und damit vernachlässigungswert zu sein. Dazu gehört ein Großteil der schwer zu überschauenden nicht-fiktionalen Prosa, ein – wie Dirk Niefanger einräumt – traditionelles »Stiefkind der literaturwissenschaftlichen Barockforschung«.4 In diesem nur schwer entscheidbaren Grenzbereich faktualer und fiktionaler Texte wurde seit den 1990er Jahren eigentlich nur die ›Konversationsliteratur‹ in Einzelaspekten 1 2 3

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Gerhard Dünnhaupt: Der barocke Eisberg. Überlegungen zur Erfassung des Schrifttums des 17. Jahrhunderts. In: Aus dem Antiquariat 10 (1980), S. A 441–446. Zur Erstorientierung über barocke Erzählsammlungen vgl. den Themenband: Dieter Breuer (Hg.): Simpliciana. XXI. Jahrgang (1999). Maßgeblich zum Vergleich der materiellen und textuellen Kultur in der Frühen Neuzeit jüngst: Robert Felfe, Angelika Lozar (Hgg.): Sammlungspraxis und Literatur in der Frühen Neuzeit. Berlin 2006. Dirk Niefanger: Barock. Lehrbuch Germanistik. Stuttgart 2000, S. 247. Einen »empfindliche[n] Forschungsbedarf« mit Blick auf das populäre Sammelschrifttum der Frühen Neuzeit konstatierte 1997 auch Herbert Jaumann: Bücher und Fragen: Zur Genrespezifik der Monatsgespräche. In: Christian Thomasius (1655–1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung. Hg. v. Friedrich Vollhardt. Tübingen 1997 (Frühe Neuzeit 37), S. 395–404, hier S. 397.

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näher untersucht,5 nicht zuletzt deswegen, weil sie mit Georg Philipp Harsdörffer (1607–1658) und seinen Gesprächsspielen6 einen äußerst prominenten Vertreter aufzuweisen hatte, dessen Oeuvre zu keinem Zeitpunkt unter Trivialitätsverdacht stand. Nicht der Dichter, sondern der Wissensvermittler Harsdörffer7 einerseits und die funktionale Ausrichtung barocker Texte als Medien des Gesprächs andererseits, und zwar des Gesprächs über Wissen, führen zum Gegenstand des vorliegenden Bandes: Denn einige von Harsdörffers Texten, besonders seine im 17. Jahrhundert weithin rezipierten Mathematischen Erquickstunden8 und Schauplatz9-Anthologien, gehören zu den häufig zitierten Quellen jener vermischten Masse an »mehr oder weniger gelehrter Unterhaltungs- und Bildungspublizistik«,10 die sich der Wissensvermittlung an ein möglichst breit gedachtes Publikum verschrieben hatte und dafür häufig auf den Modus des Dialogs setzte – gemeint ist die bislang nur vage erschlossene, primär volkssprachliche »Buntschriftstellerei« des Barock, unter der sich unter anderem der

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Dazu etwa: Markus Fauser: Klatschrelationen im 17. Jahrhundert. In: Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter. Bd. 1. Hg. v. Wolfgang Adam, Knut Kiesant, Winfried Schulze und Cristoph Strosetzki. Wiesbaden 1997 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 29), S. 391–399; sowie jüngst: Rosmarie Zeller: Zesens Sprachschriften im Kontext der Konversationsliteratur. In: Philipp von Zesen: Wissen, Sprache, Literatur. Hg. v. Maximilian Bergengruen. Tübingen 2008, S. 209–221. Georg Philipp Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprechspiele: so bey Ehr- und Tugendliebenden Gesellschaften/ mit nutzlicher Ergetzlichkeit/ beliebet und geübet werden mögen [...] Aus Italiänischen/ Frantzösischen und Spanischen Scribenten angewiesen [...]. Nürnberg 1644–1649. Vgl. dazu: Rosmarie Zeller: Spiel und Konversation im Barock: Untersuchungen zu Harsdörffers »Gesprächsspielen«. Berlin 1974 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker N.F. 58). Aus der mittlerweile breiten Harsdörffer-Forschung vgl. jüngst exemplarisch: Michael Thimann, Claus Zittel (Hgg.): Georg Philipp Harsdörffers ›Kunstverständige Discurse‹. Beiträge zu Kunst, Literatur und Wissenschaft in der Frühen Neuzeit. Heidelberg 2010; Berthold Heinecke: Wissenschaft und Kommunikation bei Georg Philipp Harsdörffer. In: Von Aufklärung bis Zweifel: Beiträge zu Philosophie, Geschichte und Philosophiegeschichte. Festschrift für Siegfried Wollgast. Hg. v. Gerhard Banse. Berlin 2008, S. 111– 128. Georg Philipp Harsdörffer: Deliciae Phyisco-Mathematicae. Oder Mathemat: und Philosophische Erquickstunden. Nürnberg 1651–1653. Ders.: Der Grosse SchauPlatz Lust- und Lehrreicher Geschichte: Erster und Andrer Teil. Mit vielen merckwürdigen Erzehlungen/ klugen Sprüchen/ scharfsinigen Hofreden/ neuen Fabeln/ verborgenen Rähtseln/ artigen Schertzfragen/ und darauf wolgefügten Antworten/ [et]c./ außgezieret und eröffnet [...]. Nürnberg 1648–1651; ders.: Der Grosse SchauPlatz Jämerlicher Mordgeschichte: Mit vielen merkwürdigen Erzehlungen/ neu üblichen Gedichten/ Lehrreichen Sprüchen/ scharffsinnigen Hoffreden/ artigen Schertzfragen und Antworten/ [et]c./ verdolmetscht und vermehrt durch Ein Mitglied der Hochlöblichen Fruchtbringenden Gesellschaft. Hamburg 1649–1650. Jaumann (wie Anm. 4), S. 396; als Überblick zum Aspekt unterhaltender Literatur und Publizistik siehe auch: Markus Fauser: Wissen als Unterhaltung. In: Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft. Hg. v. Richard van Dülmen und Sina Rauschenbach. Köln 2004, S. 491–514.

Wissensliteratur und ›Buntschriftstellerei‹ in der Frühen Neuzeit

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breite Strom typischer Curiositäten11-, Denk- und Merkwürdigkeiten-Titel vom späten 16. bis zum frühen 18. Jahrhundert subsumieren lässt. Sie sind ein Reservoir all dessen, was dem »curiösen Seculum«12 für wissens- und diskussionswürdig erschien. Viele der Titel waren nicht selten in Serie produzierte Long- und Bestseller und verraten insofern viel über die populäre und breitere Wissenskultur der Frühen Neuzeit. Ausgehend vom provisorischen Sammelbegriff, lässt sich das Profil der Buntschriftstellerei trotz aller Heterogenität und Binnendifferenzierungen über drei verbindende Komplexe zunächst allgemein und funktional umreißen.13 Sie geben zugleich den Rahmen für eine weite kultur- und wissensgeschichtliche Kontextualisierung vor: 1. Bunte Unordnung und enzyklopädische Sammlungspraxis: Die Buntschriftstellerei repräsentiert ›die andere‹, das heißt ungeordnete Seite des enzyklopädischen Zeitalters. Erfolgreiche Buntschriftsteller wie Erasmus Francisci (1627–1694) oder Eberhard Werner Happel (1647–1690) waren typische Vertreter des barocken Polyhistorismus;14 er ging von der Einheit aller Wissenschaften aus und postulierte eine umfassende, zusammenschauende Gelehrsamkeit und Produktivität in möglichst vielen Teilbereichen des Wissens.15 Für die konkrete Praxis der Textproduktion der Polyhistoren bedeutete dieser universale Wissensbegriff eine prinzipielle Teilhabe an den enzyklopädischen Sammlungstendenzen der Epoche16 – die meisten Werke der Buntschriftstellerei gehören daher zur Tradition der Kompilationsliteratur.17 Sie speiste sich aus dem autori-

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Zur bislang einzigen Gattungsabgrenzung: Rudolf Schenda: Kuriositätenliteratur. In: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Bd. 8. Hg. v. Rolf Wilhelm Brednich. Berlin 1996, Sp. 647–660. Nach: Jacob Friedrich Reimmann: Critisirende Geschichts=Kalender Von der Logica, Darin das Steigen und Fallen Dieser hoch=vortrefflichen Disciplin von Anfang der Welt biß auf das Jahr nach Christi Geburt 1600. entworfen [...] Dem Curieusen Seculo zur gütigen Censur überreichet [...]. Frankfurt a. M. 1699. Zur definitorischen Eingrenzung siehe die Beiträge von Wilhelm Kühlmann und Paul Michel in diesem Band. Dazu etwa: Herbert Jaumann: Was ist ein Polyhistor? Gehversuche auf einem verlassenen Terrain. In: Studia Leibnitiana 22 (1999), S. 76–89; Helmut Zedelmaier: Von den Wundermännern des Gedächtnisses. Begriffsgeschichtliche Anmerkungen zu Polyhistor und Polyhistorie. In: Die Enzyklopädie im Wandel von Hochmittelalter bis zur Frühen Neuzeit. Hg. v. Christel Meier. München 2002 (Münstersche Mittelalter-Schriften 78), S. 421–450. Zur heuristischen Abgrenzung von ›Polymathie‹ im Sinne eines Bildungskonzeptes vgl. den Beitrag von Hole Rößler in diesem Band. In der Breite immer noch grundlegend: Andreas Grote (Hg.): Macrocosmos in Microcosmo. Die Welt in der Stube. Zur Geschichte des Sammelns 1450 bis 1800. Opladen 1994 (Berliner Schriften zur Museumskunde 10). Siehe allgemein: Rainer Alsheimer: Kompilationsliteratur. In: Enzyklopädie des Märchens (wie Anm. 11), Sp. 111–114; vgl. auch die konzise Definition von Martin Gierl: »Kompilation ist das Arrangement von Textzitaten, Plagiaten, aber auch Inhaltsauszügen und das kommentierte Zusammenstellen von Literaturverweisen [...]«. Martin Gierl: Kompilation und Produktion von Wissen im 18. Jahrhundert. In: Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Martin Mulsow und Helmut Zedelmaier. Tübingen 2001 (Frühe Neuzeit 64), S. 63–94, hier S. 63; zu übergreifenden Aspekten: Frank Büttner, Markus

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tären Rückbezug auf zahllose ältere Texte, aus ihrem Exzerpieren und ›Auslesen‹, um sie in Extrakten neu zu kombinieren, zu kommentieren und überhaupt einem größeren Publikum zugänglich zu machen. Funktional übernahmen die Kompilationen der Buntschriftsteller hier die Rolle von kostengünstigen Anthologien oder ›Einhandbibliotheken‹, da sie viele, gewichtige und teure Werke zu einem einzigen – gleichwohl immer noch voluminösen – Nachschlagewerk komprimierten und mit der Auswahl eines ›best of‹ warben, mit dem Denkwürdigsten, mit der besten Blütenlese.18 Grundsätzlich war das jedoch auch der Anspruch von Enzyklopädien streng gelehrter Provenienz. Was buntschriftstellerische Entwürfe vom rigiden Systemanspruch akademischer Kompendien hingegen trennt, ist ihr süffisanter Umgang mit der Unordnung der Wissensfülle. Im ›Zeitalter der großen Ordnung‹ mag diese gewollte Strukturschwäche überraschen. Die Rolle eines Wegbereiters kam hier dem Rostocker Gelehrten Peter Lauremberg (1585–1639) zu. 1633 veröffentlichte er die Erstausgabe seiner Acerra Philologica,19 eines höchst erfolgreichen, bis weit ins 18. Jahrhundert in erweiterten Neuauflagen erschienenen Longsellers zur antiken Geschichte und Mythologie.20 In der Einleitung des ursprünglich als Lehrbuch für den Lateinunterricht konzipierten Sammelwerks bemerkt Lauremberg zur zwanglosen Form der Darbietung, dass er in den Thematibus keine sonderliche gewisse Ordnung gehalten/ sondern wie ich die Geschichte bey den Autoren zu unterschiedlichen Zeiten gelesen/ oder wie sie mir in sinn kommen/ also hab ich sie nach einander gesetzet/ verhoffend/ solche Veränderung werde nicht unlieblich und unangenehm seyn.21

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Friedrich, Helmut Zedelmaier (Hgg.): Sammeln, Ordnen, Veranschaulichen. Zur Wissenskompilatorik in der Frühen Neuzeit. Münster 2003 (Pluralisierung & Autorität 2). In Anschluss an die klassische Florilegienliteratur berufen sich die Buntschriftsteller auf das zeitgenössisch populäre Bienengleichnis, mit der sie das Prinzip ihrer praktischen Textarbeit verdeutlichen; siehe dazu etwa: Gilbert Heß: Enzyklopädien und Florilegien im 16. und 17. Jahrhundert: »Doctrina, Eruditio« und »Sapientia« in verschiedenen Thesaurierungsformen. In: Wissenssicherung, Wissensordnung und Wissensverarbeitung: Das europäische Modell der Enzyklopädien. Hg. v. Theo Stammen und Wolfgang Weber. Berlin 2004 (Colloquia Augustana 18), S. 39–57. Zur Bienenmetaphorik vgl. auch die Beiträge von Wilhelm Kühlmann und Paul Michel in diesem Band. Peter Lauremberg: Acerra Philologica Das ist/ Zwey hundert außerlesenen/ nützliche/ und denckwürdige Historien und Discursen, zusammen gebracht aus den berühmten Griechischen und Lateinischen Scribenten: Darin enthalten/ Die meisten Gedichte der Poeten/ von Göttern/ und Göttinnen: von Helden/ und Heldinnen [...]; Alle Liebhabern der Historien zur Ergetzung: Insonderheit der studierenden Jugend zur mercklichen Ubung [...] beforderlich. Rostock 1633. Erstmals zur umfassenden Erforschung auch der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte siehe: Veit Rosenberger (Hg.): Die Acerra Philologica. Ein frühneuzeitliches Nachschlagewerk zur Antike. Stuttgart 2011 (Friedenstein-Forschungen 5). Lauremberg (wie Anm. 19), Vorrede, unpag. Nicht wenige Historienkompilationen des 17. Jahrhunderts zitierten Laurembergs ›Methodo‹ als vorbildlich. In der Tempe Historica (1669) von Johann Walther heißt es etwa: »Es hat Herr D. Laurenbergius etliche hundert Historien zusammen getragen und herausser gegeben/ welches Buch Er Acerra Philologicam nennet. Weil ich dann solches selbst als ein nützlich Werck befunden/ als hab ich

Wissensliteratur und ›Buntschriftstellerei‹ in der Frühen Neuzeit

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Dieses Postulat einer den Prinzipien von Vielfalt und Abwechslung gehorchenden Ästhetik ›bunter‹ Reihung22 wurde von den folgenden Kompilatoren und Polyhistoren des Barock nicht nur beiläufig übernommen; vielmehr verfestigte es sich zu einer Art ›Glaubensgrundsatz‹ des Genres – buntschriftstellerischen Miscellaneen ging es primär um eine schweifend-chaotische Anhäufung des Wissens, darum, den Leser nicht mit elaborierten Ordnungsgebäuden zu ›ermüden‹. Die stattdessen angestrebte assoziative Beweglichkeit und Flexibilität der Form deutete Erasmus Francisci schon in den 1660er Jahren in seiner seriell produzierten lustigen Schau=Bühne von allerhand Curiositäten23 (1663) an. Es gehe darum, dass »[...] man nicht stets an einer Materie hafftet/ sondern von einer auf die andre kommt«.24 Ordnungsverstöße und ungezwungenes Durcheinander wurden in Anschluss an Lauremberg besonders genussvoll goutiert. Wenige Jahre nach Franciscis Schau=Bühne erschien ebenfalls beim Nürnberger Verlagshaus Endter eine unter zahllosen Historienkompilationen, die sich das Motto mit einem Vivat! Unordnung25 (1669) bereits emphatisch und herausfordernd auf den Titel schrieb. Programmatisch notierte auch Eberhard Happel

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Eben nach seinem Methodo dergleichen Geschichte/ [...] auch in Druck fertigen wollen«. Johann Walther: Tempe Historica Das ist Historischer Lust- und Schau-platz Darin unterschiedene Felder Fünffhundert anmuthiger und wolrichender Blumen nützlicher und merckwürdiger Geschicht enthalten/ Welche nicht allein in Predigten/ sondern auch andern gemeinen Reden so wol in publica als privata conservatione gebrauchet und von manniglichen mit grossem Nutz gelesen werden [...]. Jena 1669, Vorrede, unpag. Weitere Ausführungen zur Wissensdisposition finden sich auf http://elbanet.ethz.ch/wikifarm/karidol/index.php?n=Main.Buntschriftstellerei. Erasmus Francisci: Die lustige Schau=Bühne von allerhand Curiositäten: darauf viel nachdenckliche Sachen/ sonderbare Erfindungen/ merckwürdige Geschichte/ Sinn= und Lehrreiche Discursen/ auch zuweilen anmutige Schertz=Reden und Erzählungen/ fürgestellet werden. Bey Freundlicher Sprachhaltung aufgerichtet und erbauet. Nürnberg 1663– 1702. Die gepflegte ›Zerstreuung‹ als Modus der Wissensdarbietung verteidigt Francisci in den Paratexten seiner Kompilationen geradezu notorisch und beschreibt die adäquate Lektüreweise gerne unter Rückgriff auf bienen- und gartenmetaphorische Bilder (siehe Anm. 17). So vergleicht er (unter Berufung auf Aelian [ca. 175–230]) in seiner historischen Exempelsammlung Neu-erbauter Schau-Platz denckwürdiger Geschichte (1663) das Aufbrechen chronologischer Geschichtsdarstellung mit dem ›freien‹ Pflücken des Gärtners: »Letztlich findet man eine Art [der Geschichtsschreibung]/ die sich an keine Ordnung der Jahre/ Zeiten/ Länder/ Personen/ oder andrer Eigenschafften findet; besondern/ aus den vorigen/ allerhand nachdenckliche Exempel zusammen fasset/ und gleichsam wie aus vielen Gärten/ von mancherley Blumen/ einen Grantz sammlet; um damit den Leser zu vergnügen: Allermassen unter den Griechen Aelianus [...] mit solcher Manier zu schreiben sich belustiget«. Erasmus Francisci: Neu-erbauter Schau-Platz denckwürdiger Geschichte/ und seltzamer/ mehrentheils trauriger Fälle: Voll leß-würdiger Erzehlungen; und mancherley/ sowol bey jetzigen/ als längstverwichenen Jahren/ begebener Exempeln/ samt deren nutzlich-beygefügten Erinnerungen/ Aus Vielen alten und neuen berühmten Geschichtschreibern zusammen getragen [...]. Nürnberg 1663, Zuschrifft, Bl. ):(ijv. Francisci 1663 (wie Anm. 23), Vorrede, unpag. Matthias Abele von und zu Lilienberg: Vivat Unordnung! Das ist: Wunder-Seltzame/ niemals in offentliche Druck gekommene Gerichts: und ausser Gerichts: doch wahrhaffte Begebenheiten/ Meistentheils aus eigner Erfahrnus/ Zusammengetragen [...]. Nürnberg 1669–1675.

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in den 1680er Jahren, dass eine »[...] angenehme Confusion und Unordnung ohne Zweiffel angenehmer fallen/ als eine nette Ordnung/ welche leicht zu erfinden/ aber übel zu halten seyn möchte«.26 2. Reduktion und Zeitkürzung: Das spontane Durcheinander einer ›leicht verdaulichen‹ Präsentation veränderte auch die Struktur und Formatierung des Wissens selbst. Erschöpfend war die Buntschriftstellerei in der ausgedehnten Gesamtheit der dargebotenen Stoffmassen – dem stand jedoch bei der Formatierung der einzelnen Diskurse und Wissensinhalte ein ausgeprägter Hang zur Verknappung gegenüber. Die Buntschriftsteller reagierten auf ihre Weise auf die allenthalben beklagte Bücherflut des Barock,27 indem sie nicht nur die Menge der Bücher durch Kompilation künstlich schrumpfen ließen, sondern auch das Wissen noch einmal reduzierten und in kleinteilige Fragmente portionierten. Viele Einzelbeiträge – egal, ob sie sich ›Relationen‹, ›Fragen‹ oder ›Historien‹ etc. nannten – waren nicht länger als wenige Seiten. Solcherart aufbereitet, waren die kompilierten Themen ideales Rüstzeug für ›galante‹ ad hoc-Konversationen und lassen zudem auf eine sich stark verändernde Lesekultur schließen. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund eines sich beschleunigenden Medien- und Kommunikationssystems im Zeichen der neuen Periodizität von Wissen und Information wandelte sich auch die Wahrnehmung des ›geduldigen‹ Buchmediums und seiner Lektüremodi weg von der klassischen, sequentiellintensiven Ganztextlektüre, hin zu selektiv-extensiven,28 flüchtigen Rezeptionsweisen eines mobilen, städtisch-urbanen Medienkonsumenten.29 Analog zu einem sich differenzierenden medialen Zeitvertreib legte Erasmus Francisci seinen Sammlungen die Prämisse der »Zeit=Kürtzung«30 zugrunde. Die Verkürzung des Wissens selbst entsprach in dieser Konzeption ganz der angenommenen Ungeduld des Lesers. Geradezu topische Qualität gewann in diesem Zu-

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Eberhard Werner Happel: Gröseste Denkwürdigkeiten der Welt Oder so genandte Relationes Curiosæ: In welchen eingeführt/ erwogen und abgehandelt warden/ allerhand Historische/ Physicalische/ Mathematische und andere Merckwürdige Seltzamkeiten/ Welche in der Menschen Lebens-Lauff/ am Himmel/ in der Lufft/ im Meer und hin und wieder auff Erden sich jemahlen begeben und eräugnet haben. [Teil 3]. Hamburg 1687, S. 118. Zu diesem Komplex kritisch: Dirk Werle: Die Bücherflut der Frühen Neuzeit – realweltliches Problem oder stereotypes Vorstellungsmuster? In: Frühneuzeitliche Stereotype. Zur Produktivität und Restriktivität sozialer Vorstellungsmuster. Hg. v. Miroslawa Czarnecka. Bern 2010 (Jahrbuch für Internationale Germanistik A 99), S. 469–486. Klassisch über den Wandel von ›intensiver‹ Wiederholungslektüre zum ›extensiven‹ Leseverhalten: Rudolf Engelsing: Der Bürger als Leser. Lesergeschichte in Deutschland. 1500–1800. Stuttgart 1974. Zu dieser (neuzeitlichen) Verschiebung allgemein: Jürgen Wilke: Vom stationären zum mobilen Rezipienten. Entfesselung der Kommunikation von Raum und Zeit – Symptom fortschreitender Medialisierung. In: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 6 (2004), S. 1–55. »Eben dasselbige haben ihnen auch/ die auf unsre lustige Schau=Bühn steigende Personen fürgesetzt; wann sie bald mit ernsthafften Discursen/ Frucht= und Lehr=reichen Exempeln einander zu erbauen/ bald mit kurtzweiligen possirlichen Erzehlungen sich zu ergetzen; mit beeden aber/ eine Schau=Bühne tugendgeneigter und höflicher Zeit=Kürtzung schauen zu lassen/ entschlossen«. Francisci 1663 (wie Anm. 23), Vorrede, unpag.

Wissensliteratur und ›Buntschriftstellerei‹ in der Frühen Neuzeit

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sammenhang die Rede von der »viertel Stunde«31 – mehr als diesen gedehnten Augenblick wolle man der Neugier und Unruhe des Lesers nicht abverlangen. Hier artikuliert sich ein geradezu modern anmutender Umgang mit der knappen Ressource Aufmerksamkeit. 3. Medien- und Gattungskonvergenz: Die ›bunten‹ Kompilationen des 16. und 17. Jahrhunderts trugen durch Kommerzialisierung und Popularisierung maßgeblich zur Ausprägung eines volkssprachlichen Wissensmarktes bei; wie sie das gesamte Spektrum zeitgenössischen Wissens popularisierten und verbreiteten, so nutzten sie dafür auch das gesamte Gattungs- und Medienspektrum einer Umbruchszeit. Für diese Zeit – speziell das späte 17. Jahrhundert – ist zum einen besonders bezeichnend, dass sich fiktionale und nicht-fiktionale Wissens- und Gattungsformen nicht streng voneinander scheiden lassen. Zum anderen trafen die eigentümlichen Überlagerungsprozesse auch für die Medien selbst zu; sie zeichnen sich durch charakteristische Nähe aus, durch Konvergenz und nur allmähliche Medienumbrüche.32 Die so genannte ›Medienrevolution‹ des 17. Jahrhunderts war – auch wenn die Medienhistoriographie diesen Gemeinplatz weiter kolportiert – kein abrupter Prozess, der neue (periodische) Formate von bestehenden Genres typologisch trennscharf abgegrenzt hätte. Stattdessen ist von einem allmählichen Wandel auszugehen, in dem sich eine Mixtur aus alten und neuen Publikations-, Wissens- und Darstellungsformen noch untrennbar verzahnte. Kaum jemand unterschied im 17. Jahrhundert prinzipiell und distinktiv periodische und serielle Publikationsrhythmen, Gattungen wie Zeitung und Zeitschrift oder Roman und Enzyklopädie – beide konnten die Funktion von Nachschlagewerken übernehmen (siehe unten), beide waren durch ihren ausgeprägten Sammlungscharakter verbunden. An anderer Stelle integrierten Romane das Nachrichtenmaterial der Zeitungen und wurden zu partiellen Archiven der Zeitgeschichte (siehe unten). Grundsätzlich zeigt sich die Buntschriftstellerei als intermediales Phänomen, das an der Wende zum 18. Jahrhundert auch in der Frühgeschichte des deutschsprachigen (Wissens)Journalismus zu verorten ist. Diese drei Ebenen im vielschichtigen Profil der polyhistorischen Buntschriftstellerei vertieft der vorliegende Band in übergreifenden Beiträgen und Fallstudien. Der einleitende Beitrag von Wilhelm Kühlmann (Heidelberg) entwirft einen ganzen Katalog an »Leitfragen« zum Thema und entwickelt das schwer zu fassende Gattungsprofil der Buntschriftstellerei aus dem breiten Kontext verschiedener (wissens-)literarischer Traditionen (»Polyhistorie jen31

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»Kein Zweiffel ist bey uns/ es werde jederman ein gutes Contentement in durchlesung dieser Relationes schöpffen/ und weder alt noch jung/ gelehrt noch ungelehrt/ gereuen/ eine viertel Stunde Zeit darauff spendiret zu haben«. Eberhard Werner Happel: Gröseste Denkwürdigkeiten der Welt Oder so genandte Relationes Curiosæ. Worinnen dargestellet/ und Nach dem Probier=Stein der Vernunfft examiniret werden/ die vornehmsten Physicalische/ Mathematische/ Historische und andere Merckwürdige Seltzahmkeiten [...]. [Teil 1]. Hamburg 1683, Vorrede, unpag. Nach: Horst Wenzel: Mediengeschichte vor und nach Gutenberg. Darmstadt 2007, S. 10– 28.

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seits der Systeme – Zur funktionellen Pragmatik und publizistischen Typologie frühneuzeitlicher »Buntschriftstellerei««). Den »literarisch noch recht dunklen [...] Sektor« der Buntschriftstellerei grenzt Kühlmann typologisch zunächst von den Universal- und Fachenzyklopädien sowie den thematisch konzentrierten Fachbüchern ab. Auf der Grenzlinie dieser wesentlich systematisch organisierten Genres entfaltete sich mit der Buntschriftstellerei ein »bewusst ungeordneter« Zweig der Kompilationsliteratur, der sich gleichermaßen durch traditionelle wie innovative Momente auszeichnete: In der Vermittlung eklektischer Fakta knüpften die Buntschriftsteller einerseits an ältere Praktiken der Florilegienliteratur und humanistischen Kommentartradition an; blickte das Genre hier deutlich zurück – sogar bis zu antiken Vorläufern33 –, so antizipierte der dezidiert offene Wissensbegriff andererseits bereits modern anmutende, »journalistischserielle Formen der Wissensvermittlung mit unterhaltsamem Anspruch«. In der strukturellen Affinität der Buntschriftstellerei zu publizistisch-periodischen Wissensspeichern34 zeigt sich deutlich der intermediale Status des Genres. Als weitere Wurzel der Buntschriftstellerei macht Kühlmann die Nachfrage nach Dialog- und Konversationsliteratur35 im 16. und 17. Jahrhundert namhaft: Als Materialfundus für mehr oder weniger gebildete, in jedem Fall aber abwechslungsreiche »Tischgespräche« waren die buntschriftstellerischen Kompilationen immer auch »kommunikative Anleitungen«. In einem zweiten Schritt diskutiert der Beitrag weitere Merkmale der Gattung am Beispiel des Werks von Martin Zeiller36 (1589–1661). Im Mittelpunkt steht dessen ab 1640 veröffentlichten Ein Hundert Episteln/ oder Sendschreiben.37 Als »quasi-serielles Werk« adressierte Zeillers thematisch heterogene Briefsammlung über die charakteristische »Kombination von Wissensvermittlung, Erbauung und Zerstreuung« erfolgreich größere, unterhaltungsorientierte Leserkreise und griff dabei auf ein Grundmuster buntschriftstellerischen Schreibens zurück: »Der inhaltlichen Entgrenzung korrespondiert [...] der methodische Sinn der offenen Form«. Entlang eines breiten Quellenquerschnitts vertieft Paul Michel (Zürich) in seinem Beitrag über die »Dienlichkeit der Buntschriftstellerei« die von Wilhelm Kühlmann eröffnete Gattungsbestimmung. Auch Michel sieht in der seriellen Wissensdarbietung eines der Strukturmerkmale der Buntschriftstellerei – als 33

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Stilbildend und mit Blick auf die Gattungsterminologie prägend waren die ›Bunten Geschichten‹ (poikile istoria) des Aelian. Vergleiche dazu auch das pointierte Vorwort in: Hartwig Helms (Hg.): Claudius Aelianus: Bunte Geschichten. Leipzig 1990 (Reclam Bibliothek 1351). Vgl. den Beitrag von Wiebke Hemmerling. Vgl. den Beitrag von Stefanie Stockhorst. Dazu weiterführend: Wilhelm Kühlmann: Lektüre für den Bürger: Eigenart und Vermittlungsfunktion der polyhistorischen Reihenwerke Martin Zeillers (1589–1661). In: Literatur und Volk im 17. Jahrhundert. Probleme populärer Kultur in Deutschland. Bd. 2. Hg. v. Wolfgang Brückner, Peter Blickle und Dieter Breuer. Wiesbaden 1985 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 13/14), S. 917–934. Martin Zeiller: Ein Hundert Episteln/ oder Sendschreiben/ Von underschidlichen Politischen/ Historischen/ und andern Materien/ und Sachen / Gestellt/ und Verfertiget [...]. Ulm 1640ff.

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Spielart des Enzyklopädischen kannte diese »kein natürliches Ende«. In Ergänzung zu Kühlmann akzentuieren seine Ausführungen die funktionalpragmatische Seite der Gattung. Michel zeigt, dass sich ein breites Spektrum an »intendierten Funktionen« vor allem über eine Analyse der Paratexte gewinnen lässt. Neben topischen Legitimationen hinsichtlich der kompilatorischen Anlage finden sich hier auch konzeptionell-programmatische Profilierungen der Wissensdarbietungen. So leiten die Vorreden den weiteren Sammlungszweck häufig aus einem physikotheologischen Begründungszusammenhang ab, der die »Varietät als Abbild der Schöpfung« betrachtet. Nahe beim Bild der natürlichen Schöpfung zeigt sich auch der Einfluss der Florilegien-Tradition auf die Buntschriftstellerei: Paul Michel präzisiert diesen Punkt am Beispiel verbreiteter pflanzen- und vor allem gartenmetaphorischer Vergleiche im Hinblick auf den projektierten Zugangs zum Wissen. Immer wieder vergleichen die Buntschriftsteller den Lektüregang mit dem Schweifen durch einen vielgestaltigen Garten. Kaum weniger topisch – und bezüglich des konkreten Wissenskonsums noch anschaulicher – waren Nahrungsmetaphern. Jacob Daniel Ernst spricht etwa bereits im Titel von einer Confect-Taffel38 (1677). Doch war der solcherart propagierte Genuss letztlich kein reiner Selbstzweck. Wie Michel zeigt, funktionalisierten die Buntschriftsteller das Wissen im Kontext der maßgeblichen Wirkungspostulate des prodesse et delectare auf verschiedenen Ebenen: Häufig empfahlen sich Werke als »Therapie gegen Melancholie«.39 Viele Wissenssammlungen verstanden sich daher nicht nur als Zeit-, sondern auch als UnlustVertreiber (1669). Die charakteristische Verbindung von Unterhaltung und anwendungsorientiertem ›Bildungsmaterial‹ bzw. »Edutainment« zeigt sich darin, dass ein wesentliches Segment buntschriftstellerischer Texte als Fundus zur Konversation gedacht war.40 Mit Blick auf die Rezeptionskontexte der gesellig-barocken Dialoge offenbart sich überdies einmal mehr der inkonsistente Zug des buntschriftstellerischen Feldes: Während die Beiträge von Christian Meierhofer und Karin Vorderstemann (siehe unten) darlegen, wie die Buntschriftsteller unter allen verfügbaren Medien und Gattungen auch den Roman als Vehikel für Wissensdinge operationalisierten, gibt Michel zu bedenken, dass einige Sammlungen ihre Funktion gerade in der Abwehr der »Schundliteratur« des Romans sahen. Ein weiteres potentielles Anwendungsfeld für die »Dienlichkeit« der Buntschriftstellerei sieht Michel in ihrer Rolle als Nachschlagewerke – populäre Wissenssammlungen empfahlen sich als Kompendien und »Findmittel« für weitere Literatur in den stetig unübersichtlicher werdenden Textwelten.

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Jacob Daniel Ernst: Die Neu-zugerichtete Historische Confect-Taffel/ Worauff in Einhundert anmuthigen Schaalen [...] meistentheils neue Trauer- Lust und Lehr-Geschichte also auffgesetzet worden [...]/ Denen Geschichts-liebenden Gemüthern zu sonderbahren Nutz und Ergetzung verfertigt [...]. Altenburg 1677. Siehe dazu auch den Beitrag von Christian Meierhofer. Die Grenzen zur Konversationsliteratur waren stets fließend. Zu den Analogien zwischen beiden Gattungen vgl. etwa den Beitrag von Stefanie Stockhorst.

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Die von Wilhelm Kühlmann betonte strukturelle Verwandtschaft von Buntschriftstellerei und »journalistisch-seriellen« Formen der Wissensvermittlung gilt auch für Johann Rists Monatsgespräche (1663–1668); sie stehen im Mittelpunkt des Beitrags von Stefanie Stockhorst (Potsdam) (»Wissensvermittlung im Dialog. Literarische Pflanzenkunde und christliche Weltdeutung in den Rahmenstücken von Johann Rists Monatsgesprächen und ihrer Fortsetzung durch Erasmus Francisci«). Stockhorst liefert eine Neuverortung von Rists bunten Prosadialogen, in dem sie die »überaus heterogene Anlage des Gesprächszyklus« entlang der bislang kaum beachteten Rahmenerzählungen aufzeigt. Stockhorst zufolge war Rist nicht nur Kirchenlieddichter und Dichtungstheoretiker, sondern auch exquisiter Kenner der zeitgenössischen Naturwissenschaften mit Spezialkenntnissen auf dem Gebiet der Botanik – so beginnt jedes der Monatsgespräche mit einer Unterhaltung im Garten, die die im jeweiligen Monat blühenden Pflanzen thematisiert. Zunächst geht Stockhorst der Frage der Gattungszugehörigkeit nach und betont den medialen ›Hybridcharakter‹ der Monatsgespräche: Wie andere Werke der Buntschriftstellerei auch, standen sie einerseits in der Tradition der diskursiv verlaufenden Dialogliteratur. Andererseits war ein Interferieren mit dem allmählich entstehenden Medientypus Zeitschrift gegeben, da das kompositorische Prinzip der Monatsgliederung auch mit der monatlichen Erscheinungsweise konvergieren sollte. Das besondere Profil von Rists Wissensdialogen arbeitet Stockhorst an zwei Punkten heraus: Eine Textanalyse rekonstruiert das von Rist angelegte »Vermittlungsschema botanischer Gelehrsamkeit« und zeigt, wie sich Rist trotz vielfältiger thematischer Sprünge in seiner Strukturierung der Pflanzendiskurse auf naturkundliche »Inventarisierungsverfahren« stützt. Zudem lässt die Wissensvermittlung der Monatsgespräche eine »übliche Belegführung durch auctoritas-Argumente« hinter sich, indem Rist der Buchgelehrsamkeit die kritische Instanz eigener Erfahrung entgegenhält. Jedoch wird die durchaus szientifische Naturbetrachtung der Rahmenerzählungen wieder an einen theozentrischen Deutungsrahmen rückgekoppelt: Besondere Bedeutung kommt der Denkfigur der Allegorese zu, die eine der Natur ›eingeschriebene‹ göttliche Wahrheit aus der Naturbetrachtung herausliest. Eine vergleichbar »religiöse Projektion pflanzlicher Eigenschaften« zeichnete sich in der Fortsetzung der Monatsgespräche durch Erasmus Francisci nicht mehr ab. Der erfolgreiche Nürnberger Polyhistor lieferte nach dem Tod Rists die noch ausstehenden sechs Monate von Juli bis Dezember und ersetzte dabei das Prinzip der botanischen »Kosmologie« durch das der weit weniger theologischen »Kompilatorik«. Eine maßgebliche Einflusslinie buntschriftstellerischer Werke verfolgt der Beitrag von Rosmarie Zeller (Basel) (»Vom Wunder zur Kuriosität. Wunderbücher und ihre Rezeption in Deutschland«). Zeller lenkt den Blick zurück ins 16. Jahrhundert und widmet sich den Charakteristika und der Rezeption der vielzitierten ›Wunderbücher‹ und Prodigiensammlungen. Als Quellen und thematische Vorbilder können sie in ihrer Bedeutung für die populären Textsammlun-

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gen des Barock nicht hoch genug eingestuft werden. Macht man Intertextualität als das tragende Prinzip frühneuzeitlicher Wissensproduktion namhaft,41 so gilt dies paradigmatisch für die Wunder- und Prodigienkompilationen. Bereits die thematische Verwandtschaft von Kuriositäten-Anthologien wie Happels Größte Denkwürdigkeiten der Welt oder so genannte Relationes Curiosæ42 (1681– 1691) mit maßgeblichen und zahllose Male kopierten Wundersammlungen wie Lycosthenes Prodigiorum ac ostentorum chronicon43 (1557) ist frappierend: Zur Mitte des 16. Jahrhunderts erreicht die Kompilation alles dessen, was vom normalen Gang der Natur auf jede Art abweicht, einen ersten Höhepunkt – und das nicht nur im deutschsprachigen Raum. Wie Zeller zeigt, antizipieren die Wundersammlungen dabei als »Kreuzung zwischen dem neu erwachten Interesse an historischem und naturkundlichem Wissen und dem Bedürfnis nach nicht nur belehrender, sondern auch unterhaltender und die Neugier befriedigender Literatur« ein wesentliches Funktionsprinzip der Buntschriftstellerei. Zudem illustriert der Beitrag entlang mehrerer Befunde, dass die Buntschriftsteller des 17. Jahrhunderts nicht nur antike Vorläufer, sondern vielfältig auch die Muster und Quellen des 16. Jahrhunderts fortschrieben. Entscheidend ist, dass die Sammlungen immer wieder fortgesetzt, ausgebaut und übersetzt wurden – eine Rezeptionslinie, die zugleich die Internationalität eines (intertextuellen) Phänomens verdeutlicht. So veröffentlichte Pierre Boaistuau (1520–1566) 1560 seine Histoires prodigeuses,44 die von Francois de Belleforest (1530–1583) als Histoires tragiques45 ausgebaut und schließlich durch die Übersetzung von Martin Zeiller direkt in die buntschriftstellerische ›Zitatgemeinschaft‹ eingespeist wurde. Im Umgang mit den kompilierten Wundern und ihrer Kommentierung arbeitet Zeller Tendenzen heraus, die die Wissens- und Kommentarpraktiken unter den barocken Buntschriftstellern vorwegnahmen: Etwa der schleichende Bedeutungswandel ehemals zeichenhafter Prodigien wie ›Blutregen‹ oder Wunderge41

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Dazu umfassend: Wilhelm Kühlmann, Wolfgang Neuber (Hgg.): Intertextualität in der Frühen Neuzeit. Studien zu ihren theoretischen und praktischen Perspektiven. Frankfurt a. M. 1994. Speziell zu den Relationes Curiosæ: Uta Egenhoff: Berufschriftstellertum und Journalismus in der Frühen Neuzeit. Eberhard Werner Happels ›Relationes Curiosæ‹ im Medienverbund des 17. Jahrhunderts. Bremen 2008 (Presse und Geschichte – Neue Beiträge 33); Christian Meierhofer: Alles neu unter der Sonne: Das Sammelschrifttum der Frühen Neuzeit und die Entstehung der Nachricht. Würzburg 2010 (Epistemata Literaturwissenschaft 702), S. 279–296; Flemming Schock: Die Text-Kunstkammer. Populäre Wissenssammlungen des Barock am Beispiel der ›Relationes Curiosæ‹ von E.W. Happel. Köln, Weimar, Wien 2011 (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 68). Konrad Lycosthenes: Prodigiorum Ac Ostentorum Chronicon, Quae praeter naturae ordinem, motum, et Operationem, et in Superioribus & his inferioribus mundi regionibus, ab exordio mundi usque ad haec nostra tempora acciderunt [...]. Basel 1557. Pierre Boaistuau: Histoires Prodigievses Les Plvs Memorables Qvi Ayent Esté Observées, Depvis La Natiuté de Iesus Christ, iusques à nostre siècle: Extraictes de plusieurs fameux autheurs, Crecz, & Latins, sacrez & prophanes: mises en nostre langue [...]. Paris 1560. Francois de Belleforest: XVIII Histoires tragiques. Extraictes des oeuvres italiennes de Bandel, & mises en langue francoise. Les 6 premières par Pierre Boisteau surnommé Launay. Les 12 suivans par Franz. de Belle-Forest. o.O., 1560.

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burten zu reinen Unterhaltungsobjekten barocken Wissenskonsums. Überdies zeigt der Beitrag, dass der ›zweite Frühling‹ der Wunderbücher nicht zuletzt durch die konzeptionelle Analogie der Sammlungen zum WunderkammerModell verständlich wird, das es gerade im 17. Jahrhundert zu einer erstaunlichen Breitenwirkung brachte.46 Die folgenden Beiträge fokussieren jeweils einzelne Texte und bilden Querschnitte durch die Werke von Buntschriftstellern des 16. und 17. Jahrhunderts. Haben höchst erfolgreiche Repräsentanten wie Happel oder Francisci in den Literaturgeschichten noch immer keinen festen Platz gefunden, so gilt dies auch für den schwäbischen Pfarrer Samuel Gerlach (1609–1693). Wie Udo Roth (München) herausstellt, trägt Gerlachs Oeuvre jedoch in mehrerlei Hinsicht symptomatische Züge (»»Männlichkeiten und erlaubeter Ergetzlichkeit«. Samuel Gerlachs Eutrapeliæ im Spannungsfeld von Unterhaltung und Belehrung«). Exemplarizität zeigt sich etwa mit Blick auf die Verbindung von Biographie und Wissensproduktion: Wie viele andere Buntschriftsteller hat Gerlach einen gebrochenen Lebenslauf, in dem sich existentielle Unsicherheit mit barocker Gelehrsamkeit jenseits der akademischen Welt im engeren Sinne verbindet. Daneben konkretisieren sich in Gerlachs Werk verschiedentlich typisch kompilatorische Mechanismen: Lange gelesen und wiederholt aufgelegt war etwa sein 1659 erstmals erschienenes Wappenbuch Procerum Mundi Index Insignium.47 Ähnlich erfolgreich war seine enzyklopädische Historien- und ›Sinnspruch‹-Sammlung Eutrapeliæ historico-philologico-politicae Das ist Allerland Politische/ nützliche [...] Historien;48 sie steht im Mittelpunkt von Roths Beitrag. Bereits der vollständige Titel deutet die typischen Elemente der angenehmen Kürzung und Verdichtung von Wissen an – aus den fürnembsten/ Scribenten/ Historien/ auff das kürzeste/ zusammen gezogen. Wohl nicht zufällig zeigt die Kompilation deutliche Parallelen zur nur wenige Jahre zuvor publizierten Acerra Philologica von Lauremberg. Zum einen verfügen beide über eine ähnlich imposante Publikationsgeschichte: Wie die Acerra wurde auch die Eutrapeliæ mehrfach in erweiterter Form herausgegeben, zuletzt 1681. Zum

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Umfassend zu dieser Perspektive vgl. Schock (wie Anm. 42). Samuel Gerlach: Procerum Mundi Index Insignium, Das ist: Eine Anzeige und Aufflösung aller in- und ausländischen Potentaten/ Herrschafften und Stände Wapen/ deren sich die Calenderschreiber/ Prognosticanten und Post-Reuter verblümbter Wörter und Namen/ in Beschreibung der grossen Jahr-Bücher sich bedienen: Aus vielen Stammbüchern/ Historien und Welt-Beschreibungen/ und sonderlich aus den dreyen Theilen des illuminirten Atlantis, auch etliches aus [et]c. Herrn Schwartzen im 1642. Jahr ausgegangenem Prognostico, einem/ also genannten Postilion genommen/ und in diese Ordnung gebracht. Nürnberg 1659. Ders.: Eutrapeliæ Historico-Philologico-Politicae. Das ist Allerhand Politische/ nützliche vernünfftiger/ theils auch kurtzweilige Historien/ Discursen Apophthegmata, Denckwürdige Reden/ scharffsinnige Sprichwörter/ feine Lehren von guten Sitten/ aus der fürnembsten Scribenten Historien: auff das kürtzeste zusammen gezogen/ Und Männiglichen zur Unterweisung und Erlustigung/ insonderheit aber der studirenden Jugend zur nützlichen Ubung und besonderen Lust ins Hochteutsch ubergesetzet [...]. Lübeck 1639.

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anderen zeigt sich hier zu einem frühen Zeitpunkt die prägende Rolle von Laurembergs Lehrsammlung, sowohl strukturell und funktional als auch mit Blick auf die Quellen. Auch Gerlach erteilt eine programmatische »Absage an jegliche Anordnungsprinzipien«; zudem oszilliert die Eutrapeliæ wie die Acerra um die poetologischen Säulen des prodesse et delectare. Konkret zeigt sich der Einfluss darin, dass die Acerra zur Quellengrundlage der Eutrapeliæ zählt, die in typisch buntschriftstellerischer Manier alte und neue Texte unterschiedslos vermengt und zu einem »Sammelsurium epischer Kleinformen« wird. Wie viele andere Sammelwerke der Buntschriftstellerei entzieht sie sich so einer eindeutigen Gattungszuordnung. Ein weiteres Charakteristikum pointiert Roth in der Funktionsbestimmung von Gerlachs Sammlung – im Rahmen des zeitgenössischen Rhetorikmodells sollte die Eutrapeliæ Material für die inventio zur Verfügung stellen und damit ganz konkret der Themenfindung im Rahmen geselliger Kommunikation dienen. Als Spezifikum der Eutrapeliæ kommt hinzu, dass Gerlach die zweite Kernfunktion seines Werks darin sieht, die schriftsprachliche Produktion auf eine bessere Grundlage zu stellen und Bemühungen um eine neue Orthographie zu popularisieren, angelehnt an die Sprache des ›einfachen Volkes‹. Während sich andere Buntschriftsteller nur im weitesten Sinn in den Sprachreinigungsbemühungen des 17. Jahrhunderts wiederfanden, zeigt Roth, wie Gerlach in der Eutrapeliæ einen ganz eigenen, frühen Beitrag zur Debatte liefert. Hinsichtlich der Sammlungspraxis weist Roth zudem nach, dass Gerlach das exzerpierte Material »keineswegs als invariable Größe« behandelt. Seine Kompilationsleistung ist Roth zufolge vielmehr als kreative Aneignung zu verstehen, die einzelne Passagen ändert, modifiziert, komprimiert und in ihren Aussageintentionen verändert. Ungleich bekannter als Gerlach ist dessen jüngerer Zeitgenosse, der Leipziger Erfolgsautor Johannes Praetorius (1630–1680). Auch Praetorius’ Oeuvre spiegelt mit seinen informativ-unterhaltenden Zügen deutlich die funktionale Dimension barocken ›Edutainments‹, angereichert um belehrende und deutungslastige Komponenten. Überdies entsprach das Selbstverständnis von Praetorius als ›Wissensmanager‹ dem anderer Buntschriftsteller. Die Leistung seines Schreibens sah er vor allem darin, verlässliche und kostengünstige Auszüge aus größeren Text- und Wissenssammlungen zu geben. Wie der Beitrag von Gerhild Scholz Williams (St. Louis) (»Gathering Information – Constructing Order: Johannes Praetorius’ ›Architectures of knowledge‹«) zeigt, kommt Praetorius’ konkreten ›Wissensarchitekturen‹ im Kontext der Buntschriftstellerei jedoch eine gewisse Sonderstellung zu: Denn während Autoren wie Happel oder Francisci genüsslich gegen den »scholastischen Ordnungsfimmel« (Paul Michel) rebellierten, ging bei Praetorius die Leidenschaft für die gattungsprägende Vielfalt des Wissens auch mit dessen zumindest oberflächlicher Ordnung einher. So suchte er unablässig nach den »appropriate tools« zur Kontrolle der Wissensmassen und pflegte einen ausgeprägten Hang zur alphabetischen und numerischen Listenbildung. Die Spezifika von Praetorius’ Oeuvre diskutiert Scholz Williams auf drei Ebenen: Ein erster Schritt gibt einen Überblick des präsentierten Wissens; dabei lässt sich die Vielfalt der von Praetorius behandelten The-

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mengebiete kaum fassen: Wunderzeichenberichte nahezu jeglicher Couleur treffen auf moralische Stoffe, ›zeithistorisches‹ Nachrichtenmaterial auf kosmographische Topoi. Charakteristisch für den transportierten Wissensbegriff ist zudem, dass bei Praetorius der Glaube an ein »spirit of invention and exploration« eines empirischen, ›neuen‹ Zeitalters noch keineswegs mit tradierten Welterklärungsmodellen kollidiert. So arbeitet Scholz Williams heraus, dass die vielschichtigen »Datenspeicher« von Praetorius an theozentrische Deutungsmuster rückgebunden bleiben – der Kompilator liefert vor allem Material für eine »endlose Konversation mit Gott«. Im Kontrast zu Eberhard Happels erfolgreichen Geschicht-Romanen49 stellt Praetorius sein gesammeltes Wissen zudem an keiner Stelle in einen narrativ-fiktionalen Rahmen. In einem zweiten Schritt erläutert Scholz Williams die elaborierte Binnenstrukturierung von Praetorius Kompilationen: Ein eigentümlicher »Mischmasch« (so eine Bezeichnung von Praetorius selbst) aus lateinischen und deutschen Passagen arrangiert die Wissensinhalte in ausgefeilten formalen Organisationsformen – sie dienten ihm als Ersatz für fehlende »narrative Kongruenz« und zugleich als »mnemonic devices«. Ein dritter und letzter Punkt streicht Praetorius’ Vermittlungsleistung im Rahmen polyhistorischer Textkultur hervor: Scholz Williams sieht Praetorius – einer der frühesten »independent authors« – als einen pointierten Zeitkommentator, was sich gerade auch in dessen Rückgriff auf die neuen, periodischen Nachrichtenmedien des Jahrhunderts zeigt. Allerdings teilen auch seine Werke die Schwellencharakteristik ›bunter‹ Kompilationen – neue, tendenziell frühaufklärerische Erklärungsansätze treffen auf überkommene Orientierungen. Nikola Roßbach (Kassel) nimmt mit den barocken Technikschaubüchern des Ingenieurs und Erfinders Georg Andreas Böckler (um 1617–1687) ein spezifisches und höchst erfolgreiches Segment polyhistorischer Wissensproduktion in den Blick (»›Zu besserer Begreiffung aller Materien‹: Wissensorganisation und -vermittlung bei Georg Andreas Böckler, Architect & Ingenieur«). Böcklers Maschinenbücher Theatrum Machinarum Novum (1661) und Architectura Curiosa Nova (1664) teilen mit anderen Kompilationen die unterhaltsame bis ästhetische Präsentation »curieusen« Wissens. Gleichwohl dürfte, so Roßbach, der Grad der Popularisierung gelehrter Kenntnisse im Falle Böcklers durch zwei Faktoren vergleichsweise begrenzt geblieben sein – durch den in Relation zu anderen Werken höheren Preis der aufwendig illustrierten Kupferstichwerke sowie durch ihren (primär) höfischen Adressatenkreis, in dessen Dienst Böckler als Autor stand. Als fürstliche Auftragsarbeiten verfertigte er Kompilationen auf diversen Wissensfeldern, darunter Heraldik, Ökonomie und Architektur. Stehen im Großteil der übrigen Beiträge des vorliegenden Bandes die Prinzipien der Wissenskonstruktion im Vordergrund, so ergänzt Nikola Roßbach die Perspektive der Rezeption. Ihrem Beitrag geht es vor allem um die Frage, inwieweit Böcklers projektiertes »besseres Begreiffen« des Wissens eine Popularisierung zugunsten auch außerhöfischer Kreise nach sich zog. Allgemein ist unstrittig,

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Siehe dazu den Beitrag von Christian Meierhofer.

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dass die immer wieder reproduzierten Maschinenabbildungen aus Böcklers »erfolgreichen Standardwerken« in das frühneuzeitliche Bildgedächtnis eingingen. Und zunächst teilt vor allem die Architectura Curiosa Nova die Grundlinien der Buntschriftstellerei – denn auch dem »Panorama hydrotechnischer Lustbarkeiten in Text und Bild« geht es in der Inszenierung barocker Wasserspiele vor allem um das Vergnügen am leicht fasslichen Wissen. Zudem flankiert Böckler seine ›Vergnügungsmaschinen‹ mit Beschreibungen, die er aus zahlreichen Reiseberichten und Weltchroniken kompilierte. Angesichts eines mitgelieferten Registers lag ein »selektiv-konsultatives Lektüreverhalten« nahe, das dem Lesemodus der meisten buntschriftstellerischen Kompilationen ähnelte. Nicht zuletzt waren technische Kompilationen durch eine fehlende Fachterminologie auch für Laien verständlich – und doch setzt Böckler »ambivalente Signale« hinsichtlich des Popularisierungsanspruchs. So zeigt Roßbach, dass die Maschinenbücher in ihrem changierenden Charakter zwischen »repräsentativem Schaubuch« und »praktischer Anleitung für Baufachleute« die Frage nach der primären Adressierung erschweren. Gegenüber der bisherigen Forschung wird ein mehrschrittiges Rezeptionsmodell vorgeschlagen: Demnach waren Böcklers Werke nicht nur ungelesene Schaubücher für die soziale Elite, sondern ebenso sehr Medien eines »hierarchisch-prozessualen« Wissenstransfers vom Baumeister zum praktischen Werkmeister. Dennoch: der bestimmende Faktor für Böcklers Wissensverbreitung – und auch ihre ökonomische Funktion – blieb der »Funktionskontext des Höfischen« und die durch ihn erzeugten Abhängigkeitsverhältnisse. Auch der Beitrag von Stefan Laube (Berlin) über »Text und Rede zwischen Pflicht und Muße. Freiherr von Seckendorffs Praktiken der Wissenserzeugung« konzentriert sich auf einen Gelehrten, dessen Wissensproduktion durch den fürstlich-höfischen Bedingungskontext determiniert blieb. Weniger ein barocker Vielwisser denn ein von »Pragmatismus und Zielsetzung« geleiteter staatsmännischer Gelehrter, verkörpert Veit Ludwig von Seckendorff (1626–1696) zunächst eine Kontrastfolie zu jenen Autoren, die kein Herrschaftswissen, sondern ein allgemeines Überblickswissen der Epoche produzierten. Der Staatsmann, Kompilator, Gesetzgeber, Historiker und Pädagoge Seckendorff war Polyhistor in einem ganz speziellen Sinn. Und doch lassen sich, wie Laube darlegt, in den »polyhistorischen Dimensionen des Seckendorff’schen Wissens« wiederum generalisierbare Muster ausmachen. Der Beitrag schaut der textuellen Praxis Seckendorffs »quasi über die Schulter« und zeigt, wie eng diese an die drei wesentlichen biographischen Stationen gekoppelt war: Ein erster Punkt untersucht die Rolle Seckendorffs als junger ›Wissensmanager‹ im Dienste des Gothaischen Hofes. Bereits als 19-Jähriger rückte er hier in die Rolle des Aufsehers über die beträchtliche Fürstenbibliothek auf, die er nicht nur neu ordnete und katalogisierte. Gegenüber der nur schwer zu beherrschenden Wissensmasse kam ihm zudem eine Art Filterfunktion zu. Seckendorff hatte die gesammelten Bücherwelten »auf das einzugrenzen, was für das Funktionieren eines reformorientierten Staatsgebildes von Bedeutung war«. Insofern war er bereits als Bibliothekar der Motor einer »Wissenserzeugung, die aus gesetzten Interessen

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schöpfte«. In einem zweiten Punkt geht Laube der Frage nach, wie Seckendorffs verschiedene politische Funktionen und seine Werke in Abhängigkeit von seiner Wissenspraxis als Bibliothekar zu denken sind. Anknüpfungspunkte zu anderen Beiträgen des vorliegenden Bandes zeigen sich in Seckendorffs berühmtem Fürsten-Staat (1656), eine enzyklopädische, »leicht abrufbare Wissensform«. In gewisser Weise popularisierend war der Fürsten-Staat überdies durch Seckendorffs Eintreten für die Verwendung deutscher Sprache. Ein besonders markantes Moment sieht Laube im Medium der Reden. »[S]ie stellen ein zentrales Moment der Seckendorff’schen Wissensvermittlung dar«. So präsentiert Seckendorff in seinen Teutschen Reden (1686) Wissenswertes aus unterschiedlichen Sachgebieten in durchaus ›bunter‹ Form. Hier kamen nicht zuletzt die gleichen Wissenspartikel zur Sprache wie in buntschriftstellerischen Kompilationen. Der dritte Abschnitt verfolgt Seckendorffs Praxis als »Stubengelehrter«. Nach seinem Rückzug als Staatsmann erschloss sich Seckendorff neue Wissensgebiete, von der antiken Dichtung bis zur Reformationsgeschichte. Sein Christen-Staat (1685) zeigt einmal mehr, dass seine Wissensproduktion stets an konkret-legitimatorische Anlässe gebunden blieb. Abschließend bringt Laube die »polyhistorischen Dimensionen« in Seckensdorffs Oeuvre mit emblematischen, ganzheitlichen Denkmustern der Epoche in Verbindung. Vom Hof zur Universität: Anders als die Arbeit von Seckendorff stand das Wirken des renommierten Universalgelehrten und Sammlers Johann Daniel Major (1634–1693) vor allem in Abhängigkeit von dessen Medizinprofessur an der neu gegründeten Kieler Universität. Wie der Beitrag von Hole Rößler (Luzern) darlegt, markiert dessen fast vergessene wissenschaftstheoretische Konzeptschrift See-Farth nach der Neuen Welt/ ohne Schnitt und Segel (1670) einen ›utopischen‹ Gegenentwurf zum unflexiblen Fächerkanon an den zeitgenössischen Universitäten, die die Umbrüche vor allem in der methodischen Grundlegung der Naturphilosophie nur unzureichend auffingen (»Utopie der Bildung. Der Entwurf einer ›Polymathia experimentalis‹ in Johann Daniel Majors SeeFarth nach der Neuen Welt/ ohne Schnitt und Segel (1670)«): Majors Entwurf reagiert auf die empirisch-experimentelle Wende der wissenschaftlichen Revolution, deren radikale »Umstellung von Wort- auf Sach- bzw. Erfahrungswissen« wesentlich auch eine Autoritätskrise der schreibwütigen Büchergelehrsamkeit bedeutete, zumindest dann, wenn die Textpraxis nicht mehr an ein ausformuliertes, zielgerichtetes »Bildungskonzept« rückgebunden wurde. Dieses sieht Rößler in der See-Farth idealtypisch verwirklichten Polymathie, die er vom Polyhistorismus als überdisziplinärem »Wissenskonzept« heuristisch abgrenzt. Anders als der sich jeder Spezialisierung verweigernde Polyhistorismus zielte die Polymathie »auf Horizonterweiterung als Vorbereitung auf eine fachspezifische Ausbildung«. Major modelliert seinen polymathischen Inselstaat – das »Reich der Cosmophorum« – vor allem nach dem Vorbild Francis Bacons (1561–1626). Wie dieser favorisiert Major die Durchsetzung autoritätskritischen, experimentellen Erfahrungswissens in allen Disziplinen, besonders deutlich auch in dessen »Studii Experimentalis«, den Kollegien mit seinen Kieler Studenten. Bacon und seine Utopie New Atlantis (1624) ist für Rößler überdies

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konkreter Referenzpunkt in der vergleichenden Analyse von Wissensformen und Bildungsprogramm in Majors See-Farth, allerdings auch im Sinne der Differenzen: Während Bacon die Idee einer »zukunftsoffenen Forschung« vertritt, formuliert Major »das Modell einer Grundausbildung, die dieser Forschung notwendig voranzugehen hatte«. Auch führt Major seine gedachte Experimentalkultur theoretisch nur schwach aus, geht es ihm doch weniger um eine Vertiefung denn um die Vermittlung des zeitgenössischen Wissensstandes. Und für diesen verweist die See-Farth auch auf populäre Kompilatoren wie Erasmus Francisci. Rößler zeigt, wie Majors Wissenschaftsutopie im Ganzen einen »ideale[n] Mittelweg« zwischen den Polen eines selbstgenügsamen, ›nutzlosen‹ Lektürewissens einerseits und ›buchfernen‹ Erfahrungswissens andererseits projektiert. Wie sehr sich die Buntschriftsteller besonders seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zwischen den Genres und Medien bewegten und diese für die Zwecke breiter Wissensvermittlung inkorporierten, steht im Mittelpunkt der letzten drei Beiträge. Zunächst erörtert Wiebke Hemmerling (Greifswald) die Affinität der Buntschriftstellerei zum neuen periodischen Zeitschriftenmedium (»Von Nutz und Lust. Zum Verhältnis von Gelehrsamkeit und Curiosität in frühen deutschen Zeitschriften«). Die von Wilhelm Kühlmann betonte Strukturanalogie buntschriftstellerischer Reihenwerke zu »journalistisch-seriellen Formen« der Wissensvermittlung führt Hemmerling am Beispiel der »periodisch engmaschigeren Organisationsform« erster ›Unterhaltungszeitschriften‹ weiter. Da die frühen Periodika noch über kein genuines Gattungsprofil verfügten, waren Medienübergänge zwischen seriellen und periodischen Organisationsformen häufig. Was Zeitschriften und das polyhistorische Sammelschrifttum überdies teilten, war die Eroberung weiterer Leserkreise unter der Ägide der »Curiosität«. Die Befriedigung rein weltlicher Neugier als legitimer Anspruch des Medien- und Wissenskonsums umklammerte den gesamten Medienverbund. Nicht wenige Buntschriftsteller wurden daher auch zu frühen ›Journalisten‹, die von der Ausdifferenzierung des Mediensystems profitierten und sie zugleich beförderten. Dazu gehörte neben Philipp Balthasar Sinold von Schütz (1657– 1742) auch Wilhelm Ernst Tentzel (1659–1707), Johann Rist oder Eberhard Werner Happel. Die publizistische Programmatik früher Unterhaltungsperiodika untersucht Hemmerling exemplarisch an Michael Wiedemanns (1659–1719) Historisch-Poetischen Gefangenschafften (1689). Das monatliche Periodikum bot neben moralisierenden Geschichten ein breites Panorama an naturkundlichen Merkwürdigkeiten, geographischen Erläuterungen, Sitten und Gebräuchen außereuropäischer Kulturen, aber auch numismatische Besonderheiten und etymologische Einlassungen. Dabei bleib die Wissensunterhaltung letztlich wie in buntschriftstellerischen Kompilationen an ein diffuses Nützlichkeitspostulat gebunden, da Wiedemann seine Gefangenschafften als »Fundus für geistliche und weltliche Reden« konzipierte. Besonders deutlich zeigt sich die strukturelle Rückkoppelung an die Buntschriftstellerei in den Quellen – Francisci und Lauremberg sind maßgebliche Autoritäten Wiedemanns. Überdies zeigt Hemmerling, dass die Zeitschriftenproduktion zur »Institutionalisierung der Wissens-

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kommunikation« jenseits der Universitäten beitrug, indem sie Magazine für eine »galante Gelehrsamkeit« und deren Anspruch bereitstellte, zum richtigen Zeitpunkt in Konversationen mit »curieusem Wissen« glänzen zu können. Den barocken Roman als medialen Grenzfall untersucht Christian Meierhofer (Bonn) am Beispiel von Eberhard Werner Happel (»Allerhand Begebenheiten. Happels so genannte Europäische Geschicht-Romane als Wissensfundus«). Happel hatte sich in den 1680er Jahren in Hamburg nicht nur als früher ›Journalist‹ etabliert, sondern feierte auch große Erfolge mit seinen Serienromanen, die sich noch bis weit ins 18. Jahrhundert großer Beliebtheit erfreuten.50 Entlang einer Diskussion der poetologischen und rhetorischen Voraussetzungen rekonstruiert Meierhofer den originellen Beitrag Happels zur Romantheorie als »Sonderfall vormoderner Wissens- und Ereignisdarstellung«. Happels genuines Konzept einer »mediale[n] Hybridisierung« der noch kaum normierten Gattung wurzelt in einer geschickten Positionierung der Geschicht-Romane »im Grenzbereich« von zeitgeschichtlicher Chronistik und Nachrichtenwesen.51 Denn während Happel in der Sammlung »wissenswerter und glaubhaft zu machender Gegenstände« einerseits an die Tradition weit älterer Prosasammlungen anknüpft, erzeugt er die Fülle des in die Romanhandlung eingestreuten Wissens anderseits erstmalig durch den Rückgriff auf die Nachrichtenangebote der periodischen Zeitungen. Solcherart als ›Zeitungsroman‹ formatiert, bieten die Geschicht-Romane ein »Konzentrat des Vorgefallenen« und standen in komplementärer Funktion zu chronikalischen Geschichtswerken, mit denen sie nicht nur das Wissen, sondern auch die explizit neugierige Form der ›Weltaneignung‹ teilten. Da die geschichtliche Weltveränderung im Roman positiv erscheint, empfahl sich dieser nicht zuletzt als »Melancholievertreiber«. Meierhofer zeigt in der Rekonstruktion der Darstellungsprinzipien von Happels Romanen, dass die charakteristische und häufig wechselnde Integration historischer Stoffe vor allem im Kontext eines Ringens mit der schieren Wissensfülle zu sehen ist und die moraldidaktische Zweckbindung der ›historia‹ sukzessiv auflöste. An deren Stelle trat eine modern anmutende funktionale Dimension – in Anschluss an die zeitgenössische Gesprächsspielliteratur diente das Material vielmehr der Ausformung und dem Appell an die »Urteilsfähigkeit (iudicium) [...] des Lesers«. 50

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Konkrete Zahlen am Beispiel Wolfenbüttels: Albert Martino: Lektüre und Leser in Norddeutschland im 18. Jahrhundert: Zu der Veröffentlichung der Ausleihbücher der HerzogAugust-Bibliothek. Amsterdam 1993, S. 480. Dazu auch Lynne Tatlock: The Novel as Archive in New Times. In: Consuming News. Newspapers and Print Culture in Early Modern Europe (1500–1800). Hg. v. Gerhild Scholz Williams und William Layer. Amsterdam 2008 (Daphnis 37 Heft 1–2), S. 351–373; Gerhild Scholz Williams: Grenzgänger: Fiktive Begegnungen mit historischen Helden (Emmerich Töckely und Friedrich von Schomberg). In: Die Entstehung des Zeitungswesens im 17. Jahrhundert. Ein neues Medium und seine Folgen für das Kommunikationssystem der Frühen Neuzeit. Hg. v. Volker Bauer und Holger Böning. Bremen 2011 (Presse und Geschichte – Neue Beiträge 54), S. 269–281; Günther Dahlmann: Fakten und Fiktionen im Roman bei Eberhard Werner Happel. In: Hamburg. Eine Metropole zwischen Früher Neuzeit und Aufklärung. Hg. v. Johann Anselm Steiger und Sandra Richter. Berlin 2012, S. 461–475.

Wissensliteratur und ›Buntschriftstellerei‹ in der Frühen Neuzeit

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Happels spezifische Konzeption der Geschicht-Romane befriedigte jedoch nicht nur die »curieusen« Wissens- und Unterhaltungsbedürfnisse des Publikums; wie Karin Vorderstemann (Hamburg) darlegt, inspirierte sie als Modell auch den vielleicht erfolgreichsten höfisch-historischen Barockroman, Heinrich Anselm von Zigler und Kliphausens (1663–1696) Asiatische Banise52 (1689) (»Polyhistorismus, moralische Belehrung und literarische Unterhaltung: Ziglers Asiatische Banise«). Der Beitrag liefert eine detaillierte Untersuchung der literarischen Arbeitsweise Ziglers und der Montagetechnik seines exotischen Romans. Dieser verwebt kunstvoll polyhistorische, aber auch moralische Vermittlungsansprüche mit einer komplexen narrativen Binnenstruktur und ihrer fiktionalen Handlung. Entlang einer Analyse der Quellengrundlage arbeitet Vorderstemann heraus, dass Ziglers Asiatischen Banise in seiner Teilfunktion als enzyklopädisches Nachschlagewerk über asiatische Geschichte, Sitten und Gebräuche nicht nur in der Tradition vorangehender Wissensromane steht. Vielmehr fußte die Banise als ›intertextuelle Konstellation‹ überdies auf viel zitierten Werken der Buntschriftstellerei, so etwa auf Happels Relationes Curiosæ oder – noch deutlicher – Erasmus Franciscis ›ethnographischer‹ Kompilation Kunst- und SittenSpiegel ausländischer Völcker (1670). Wie Happel schmückt sich auch Zigler im Kompilationsprozess gerne mit »fremden Federn«, gibt also nicht selten Quellen an, die er gar nicht gelesen oder genutzt hat. Und doch ist es der spielerische wie geschickte Rekurs auf diverse Prätexte, historische Ereignisse und literarische Versatzstücke, der wesentlich zum Reiz des Werks beiträgt. Im Unterschied zur Romananlage bei Happel kommt in der Asiatischen Banise jedoch nicht nur die unterhaltende, sondern auch die moraldidaktisch-normative Dimension der Wissensvermittlung zum Tragen: In funktionaler Perspektive vergleicht Vorderstemann Ziglers Roman mit der zeitgenössischen Form des Fürstenspiegels, in dem eine Reflexion der absolutistischen Staatsform und die Verhandlung herrscherlicher Tugenden und Laster in die problemlose, weil exotische Ferne verlegt werden. Das Ende der Buntschriftstellerei korrespondiert zeitlich mit dem allmählichen Niedergang des Polyhistorismus in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts – »Die Polyhistorey ist eine Sache, darauf man sich nicht zu legen«,53 so die resignierte Mahnung in Zedlers Universal-Lexicon angesichts einer unüberschaubare gewordenen Wissensfülle auf allen Gebieten. Die Beiträge des vorliegenden Bandes vermessen die Buntschriftstellerei, ihr Wissen und ihr Publikum in ersten Grundlinien und verstehen sich als Impulse zur weiteren Arbeit. Viel wäre erreicht, wenn ein weiter fortbestehendes Missverhältnis aufgebrochen würde: Denn die Geschichte der Enzyklopädien und ihres Wissens wird von der Forschung weiter einseitig als rein akademisches Phänomen wahrgenommen.54

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Der Roman wird aktuell im Rahmen eines DFG-Projektes erstmals editorisch erschlossen. Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal Lexicon aller Wissenschafften und Künste [...]. Leipzig, Halle 1732–1754, hier Bd. 28, 1741, Sp. 1319. Daran haben auch neuere Publikationen nichts geändert. So verweist Martin Schierbaum in einem aktuellen Tagungsband zu Typen der Enzyklopädistik zwischen 1550 und 1650

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Dabei war das enzyklopädische Feld der Epoche größer und die Schnittstellen zwischen gelehrter und ›halb-gelehrter‹ Wissenskultur und Wissensproduktion vielfältig.

zwar mehrfach auf die Buntschriftstellerei und die »Kommunikationsformen jenseits des gebildeten Diskurses« (S. X); kein Beitrag des Bandes geht diesen Formen jedoch näher nach. Martin Schierbaum (Hg.): Enzyklopädistik 1550–1650: Typen und Transformationen von Wissensspeichern und Medialisierungen des Wissens. Münster 2009 (Pluralisierung & Autorität 18).

Wilhelm Kühlmann

Polyhistorie jenseits der Systeme Zur funktionellen Pragmatik und publizistischen Typologie frühneuzeitlicher ›Buntschriftstellerei‹

Wie kam Wissen unter die Leute, welches Wissen denn und von wem hervorgebracht, von wem vermittelt, von wem legitimiert und von welchen Interessen gefiltert und gesteuert? Wo verliefen bzw. verwischten sich zwischen Spätmittelalter und Aufklärung die publizistischen und konzeptionellen Grenzen von Wissensbeständen und Wissensformen? Wie wurde Wissen organisiert und weitergegeben, das Informationsbedürfnisse befriedigte, Verhaltensprobleme und Urteilskonflikte zur Sprache brachte oder gar Neugier, Sensationslust und Unterhaltungsbedarf ansprach? In welchem Verhältnis stand dieses Wissen zu den systematisch und axiomatisch konzipierten Theoriegebäuden und ›Wissensspeichern‹, wie sie in Teilen des Fachschrifttums und im Strom der philosophisch-›apriorisch‹, teilweise ramistisch oder auch pansophisch konstruierten Enzyklopädien1 vorlagen? Gab es schon in der Frühen Neuzeit konkurrierende Verständigungsmodelle und Autorbilder des Wissensvermittlers, darin einbezogen die Vorgänger des modernen Wissenschaftsjournalisten, des Ratgebers und des populären Sachbuchverfassers? Welche publizistischen Möglichkeiten der 1

Den Bereich der systematischen Enzyklopädien spare ich im folgenden aus und verweise nur auf den Sammelband von Franz Eybl, Wolfgang Harms, Hans-Hendrick Krummacher, Werner Welzig (Hgg.): Enzyklopädien der Frühen Neuzeit. Beiträge zu ihrer Erforschung. Tübingen 1995. Dazu die Rezension von Wilhelm Kühlmann. In: Scientia Poetica 3 (1999), S. 210–216; zum programmatischen Komplex der Pansophie siehe die Zusammenfassung von Wilhelm Kühlmann: Pansophie. In: Theologische Realenzyklopädie. Hg. v. Gerhard Krause und Gerhard Müller. Bd. 25. Berlin 1995, S. 624–627. Wichtig jedoch Arno Seifert: Der enzyklopädische Gedanke von der Renaissance bis zu Leibniz. In: Leibniz et la Renaissance. Hg. v. Albert Heinekamp. Wiesbaden 1983. S. 113–124; hier für mein Thema im Blick auf die höchst diffusen Abgrenzungsprozesse und terminologischen Überschneidungen bes. die Bemerkung (S. 119): »Das Vorwort des Zedler von 1731 zitiert eine bunte Liste von ›Theatra, Thesauri, Poliantheae, Bibliothecae, Musea [...], Pandectae, Specula, Polymathiae‹ usw. usf.; und wenn man den Stammbaum ansieht, den Leibniz selbst für das enzyklopädische Genre entwarf, so reicht er von Werken wie der plinianischen Naturgeschichte und Martian Capellas Hochzeit des Merkur über Boethius zum großen Speculum des Vincenz von Beauvais und weiter zur Margarita philosophiae des Gregor Reisch, bevor das Verzeichnis der Renaissanceautoren dann vollends disparat wirkt, – die wenigsten von denen, die Leibniz als Enzyklopädisten betrachtete, wird man in Enzyklopädiegeschichten wiederfinden«.

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Wissensvermittlung antworteten in welcher Ausdifferenzierung auf welche Fragen und Bedürfnisse welcher Leser? Wie gingen die Wissenden um mit Leerstellen des Wissens, mit den Lockungen des Neuen, des Unerhörten, des noch nicht Vorgedachten und autoritativ Abgesicherten? Wie sortierten sich literarische Antworten in der Differenzierung der Wissensfunktionen: zwischen Orientierungs-, Handlungs-, Verhaltens- und Herstellungswissen, zwischen Buchwissen als multipler Fremderfahrung und Erfahrungswissen des alltagsweltlichen Nahbereichs, zwischen dem literarischen Transfer der wissenschaftlichen Disziplinen und Praktiken und den rezeptiven Erwartungen einer diffusen Leserschaft in der Spannung von Theorie und Empirie, zwischen dem kanonisch Wissenswerten und dem eventuell Tabuisierten? Dies sind Leitfragen unseres Themas. Sie können hier nur ausschnittsweise behandelt werden. Jedoch führen sie dazu, die Aufmerksamkeit auf jenen literarisch noch recht dunklen, selbst elementar-bibliographisch ungenügend erschlossenen Sektor zu lenken, der von den zeitgenössischen Bibliographen im weitesten Sinne den »locorum communium scriptoribus«2 zugeordnet wurde und typologisch nach zwei Seiten hin zu begrenzen ist: – einerseits von den wie auch immer organisierten Universal- oder Fachenzyklopädien, die sich punktuell schon im 17. Jahrhundert, vorgeprägt von den alphabetischen Registern der Sachliteratur,3 dem alphabetischen Ordnungsprinzip annäherten, – andererseits von der Fülle latein- und volkssprachlicher, thematisch konzentrierter, meist auch methodisch reflektierter Lehrbücher und Anweisungen aller artes, aller akademischen Disziplinen und auch der außerakademischen Wissensdomänen (von den Verhaltensratgebern etwa in Form der Höflichkeitslehren und den Leitfäden des angehenden Politicus bis hin zum weitesten Spektrum der »Ökonomie« oder der Medizin und Naturkunde), dabei in allen Bereichen nicht selten zu handbuchartigen Thesauri oder pädagogisch gemeinten Introduktionen erweitert.4

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So die Überschrift des entsprechenden Kapitels (I, 21) bei Daniel Georg Morhof: Polyhistor literarius, philosophicus et practicus. Lübeck 1714, S. 236–258; den Versuch eines Überblicks, für die deutschen Verhältnisse besonders unzulänglich, bietet Ann Moss: Printed Commonplace-Books and the Structuring of Renaissance Thought. Oxford 1996. Dazu Wilhelm Kühlmann: Lektüre für den Bürger: Eigenart und Vermittlungsfunktion der polyhistorischen Reihenwerke Martin Zeillers. In: Literatur und Volk im 17. Jahrhundert. Probleme populärer Kultur in Deutschland. Bd. 2. Hg v. Wolfgang Brückner, Peter Blickle und Dieter Breuer. Wiesbaden 1985 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 13/14), S. 917–934, spez. S. 926. Zu Textfunktionen und zur Texttypologie siehe im Überblick mit Literatur- und Quellenhinweisen Wilhelm Kühlmann: Pädagogische Konzeptionen, in: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. 1: 15. bis 17. Jahrhundert. Von der Renaissance und der Reformation bis zum Ende Glaubenskämpfe. Hg. v. Notker Hammerstein. München 1996, S. 153–196.

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Zwischen diesen Grenzen spannte sich ein literarisches Feld bewusst ungeordneter, dem Prinzip der »varietas« gehorchender, jedenfalls nur andeutungsweise systematisierter, jedenfalls polyhistorisch gemeinter, d. h. den aristotelischen Empiriebegriff5 der »historia naturalis« und der »historia civilis« im Sinne einer »cognitio singularium« voraussetzender Kompilationsliteratur, die oft nur durch einen allegorischen Titelrahmen (Schatzhaus, Theater, Spiegel, Museum, Blütenlese und dgl.) oder durch Stichworte wie »Nebenstunden« oder »Merckwürdigkeiten« (Memorabilia) zusammengehalten wurde und in dem der Lesereiz des Heterogenen kultiviert wurde.6 Es ist dies das literarische Feld, das ich mit dem Titel der »Buntschriftstellerei« bezeichne. Es geht um Präsentationsformen eklektischen Wissens, die konzeptionell und arbeitstechnisch an die ältere handschriftliche Kompilationspraxis7 und Florilegienliteratur anzuschließen sind, die aber die schon im 17. Jahrhundert auf journalistisch-serielle Formen der Wissensvermittlung mit unterhaltsamem Anspruch zuliefen. Grundsätzlich waren hier ein unabschließbarer, jedenfalls akkumulativer, manchmal schon ins historische Offene weisender Wissensbegriff und dementsprechende Formen der Wissensvermittlung vorausgesetzt. Zu Werken dieser Art gehörten, blickt man auf das 17. Jahrhundert, etwa Johann Rists Monatsgespräche (1663–1668),8 die Fortsetzungswerke Georg Philipp Harsdörffers,9 Erasmus Franciscis10 oder 5 6

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Maßgeblich: Arno Seifert: Cognitio Historica. Die Geschichte als Namengeberin der frühneuzeitlichen Empirie. Berlin 1976 (Historische Forschungen 11). Lesenswert die Zusammenstellung und Diskussion der Termini für die Varietäten der Kompilationsliteratur (etwa bei Alstedt unter dem Lemma »Florilegium philosophiae practicae«) und der Überblick über das internationale Autorenspektrum bei Wolfgang Brückner (Hg.): Volkserzählung und Reformation. Ein Handbuch zur Tradierung und Funktion von Erzählstoffen und Erzählliteratur im Protestantismus. Berlin 1974, S. 82–110. Zur mittelalterlichen Kompilationspraxis und ihrer Bewertung siehe Alastair J. Minnis: Late Medieval Discussions of Compilatio and the Role of the Compilator. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 101 (1979), S. 385–421; die Linien zur frühneuzeitlichen Exzerpierlehre zieht Florian Neumann: Jeremias Drexels Aurifodina und die Ars excerpendi bei den Jesuiten. In: Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Helmut Zedelmaier und Martin Mulsow. Tübingen 2001 (Frühe Neuzeit 64), S. 51–62. Eine Brücke von der spätantiken, im Mittelalter erfolgreichen Kompilationsliteratur (C. Iulius Solinus: Collectanea rerum memorabilium) zu Morhofs Polyhistor ohne Rekurs auf das hier behandelte Textfeld schlägt Helmut Zedelmaier: Von den Wundermännern des Gedächtnisses. Begriffsgeschichtliche Anmerkungen zu ›Polyhistor‹ und ›Polyhistorie‹. In: Die Enzyklopädie im Wandel vom Hochmittalter bis zur Frühen Neuzeit. Hg. v. Christel Meier. München 2002, S. 421–450. Vgl. zu Johann Rist (1607–1667) die Werkbibliographie mit Literaturhinweisen bei Gerhard Dünnhaupt: Personalbibliographien zu den Drucken des Barock. Zweite, verbesserte und wesentlich vermehrte Auflage [...]. Bd./Tl. V. Stuttgart 1991, S. 3374– 3432, spez. S. 3424–3427; die Serie wurde nach Rists Tod von Erasmus Francisci (zu ihm s. u.) fortgesetzt; siehe ebd., S. 3427. Zu dem Nürnberger Großschriftsteller Georg Philipp Harsdörffer (1607–1658) und seinem weitläufigen Oeuvre siehe samt den Literaturhinweisen Dünnhaupt (wie Anm. 8), Bd./Tl. III, S. 1969–2031 sowie Italo Michele Battafarano (Hg.): Georg Philipp Harsdörffer. Ein deutscher Dichter und Gelehrter. Bern 1991 (Iris 1); zu beachten sind in unserem Zusam-

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Eberhard Wener Happels,11 auch zum Beispiel die Historischen Bilderhäuser und Confect-Taffeln eines Jacob Daniel Ernst (1640–1707),12 der Philosophische Feyerabend eines Christian Franz Paullini (1643–1712)13 oder die Produktion des Ulmer Polyhistors Martin Zeiller, auf die ich im Folgenden exemplarisch eingehe. Trotz mancher funktionaler wie auch quellenspezifischer Interferenzen ist dieser Sektor der »Buntschriftstellerei« von dem weiten literarischen Kontinent jener Kompilationsliteratur zu unterscheiden, die in ein publizistisch-

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menhang nicht nur die Frauenzimmer-Gesprächspiele (8 Bde, 1644–1649; dazu Wilhelm Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters. Tübingen 1982 [Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 3], S. 382–393), sondern auch Harsdörffers mehrteilige Ars Apophthegmatica (2 Bde, 1655–1656), seine Deliciae Physico-mathematicae (3 Bde, 1636 bzw. 1651–1653, Ndr. hg. v. Jörg Jochen Berns. Frankfurt a. M. 1991) oder seine penibel durchnumerierte, im thematischen Spektrum ungemein aufschlussreiche Prosasammlung (keine Versdichtung, wie der Untertitel anzudeuten scheint!) Nathan und Jotham (2 Bde., 1659, Ndr. Hg. v. Guillaume von Gemert. Frankfurt a. M. 1991). Zum umfangreichen Werk des Erasmus Francisci (1627–1694), eines der ersten deutschen Berufsschriftsteller – mit Wirkungen bis in die Goethezeit, siehe Dünnhaupt (wie Anm. 8), Bd./Tl. II, S. 1514–1549; dazu die Aufsätze von Gerhard Dünnhaupt: Erasmus Francisci, ein Nürnberger Polyhistor des siebzehnten Jahrhunderts. Biographie und Bibliographie. In: Philobiblon 19 (1975), S. 272–303; sowie Ina Timmermann: »Löbliche Conversation« als ›Einübung ins Räsonnement‹. Das Gespräch als Ziel und Funktion barocker Erzählsammlungen am Beispiel der Lustigen Schau=Bühne von allerhand Curiositäten des Erasmus Francisci (1627–1694). In: Simpliciana XXI (1999), S. 15–40. Zu Eberhard Werner Happel (1647–1690), Verfasser zahlreicher historisch-curiöser Romane, Journalist und Autor der noch von Eichendorff benutzten Größten Denkwürdigkeiten der Welt oder Sogenannten Relationes Curiosæ (Neudruck Berlin 1990; nach Happels Tod von Bartold Feind, 1707 ff., fortgesetzt) siehe Dünnhaupt (wie Anm. 8), Bd./Tl. III, S. 1952–1968; dort Hinweise auf die spärliche Literatur zu ergänzen durch die Beschreibung in Jörg Jochen Berns (Hg.): Frühneuzeitliche Erzählliteratur aus den Beständen der Universitätsbibliothek Marburg. Ein Katalog. Marburg 1993 (Schriften der Universitätsbibliothek Marburg 67), S. 163: »Der Themenvielfalt ist keine Grenze gesetzt. Von den ›Relationes Curiosæ‹ erschienen zwischen 1683 und 1690 fünf Bände in jährlich fünfzig Lieferungen zu je vier Bögen«. Wichtig ist das Autorenprofil des eng an Verlage gebundenen Berufsschriftstellers (bisher für das 17. Jahrhundert viel zu wenig erforscht) an der Grenze zum Journalismus, ein typischer Werdegang, der mit dem freiwilligen oder erzwungenen Ausscheren aus der akademischen Laufbahn und dem entsprechenden Ämterspektrum (ähnlich Ens: s. hier Anm. 47!) beginnt; dazu nun betr. Happel lesenswert Gert Meyer: Vom Lehr=reichen Marburgischen Parnasso in die Welt=bekandte Stadt Hamburg: Die Studien- und Wanderjahre des Polygraphen Eberhard Werner Happel (1647–1690). In: Marburg-Bilder. Eine Ansichtssache. Bd. I. Hg. v. Jörg Jochen Berns. Marburg 1995 (Marburger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur 52), S. 265–292. Zu Leben und Werk dieses sächsischen Pfarrers und Konsistorialassessors siehe Rehermann in Brückner (wie Anm. 6), S. 622f. und 641–644 im Zusammenhang einer Aufstellung von »Exempelsammlungen des 16. und 17. Jahrhunderts«. Zu ihm siehe das zusammenfassende Porträt von Wilhelm Kühlmann: Paullini, Christian Franz. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschen Kulturraums. 2., vollständig überarbeitete Auflage. Hg. v. Wilhelm Kühlmann. Bd. 1–12. Berlin 2008–2011, hier Bd. 9 (2010), S. 115–117.

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funktionales Informationsschema inseriert war (Kalender), literarisches Material unter einem übergreifenden Thema sammelte14 oder typologisch recht genau fixierbare literarische Genera nach expliziten oder latenten anthologischen Auswahlkriterien15 zusammenstellte: etwa Sammlungen von Adagia, Apophthegmata,16 Sprichwörtern (ggf. mit Kommentaren),17 Aphorismen oder versifizierten Kleinformen (Epigramme z.B.), aber auch die eher geistlichen oder eher weltlichen Exempel- und Erzählkollektionen, oft in mehreren ergänzten Auflagen fortgeführt bzw. zu Fortsetzungswerken erweitert.18 Der Begriff »Buntschriftstellerei« gibt im Deutschen bekanntlich den griechischen Terminus der Poikile Historia wieder, damit aber eine griechischlateinische Literaturtradition, die stichworthaft mit den Namen und Werken eines Aelian,19 Athenaios, Macrobius und Gellius assoziiert werden muss.20 Gellius machte in seiner Vorrede (§ 6–9) an einer Fülle von oft metaphorischen Titelbeispielen darauf aufmerksam, dass sich bereits sein Werk, sozusagen selbstreflexiv, in ein weites Feld der auf Sammel- und Varietätsprinzipien grün-

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Die Art solcher Sammlungen illustriert an Beispielen aus der Feder von Heinrich Kornmann die Studie von Klaus Haberkamm: Kornmanns collectanea Mons Veneris (1614) und De Miraculis Mortvorum (1610). Kurioses von stoffgeschichtlicher und hermeneutischer Relevanz. In: Simpliciana XXI (1999), S. 161–176. Einen Überblick bietet Conrad Wiedemann: Vorspiel der Anthologie. Konstruktivistische, repräsentative und anthologische Sammelformen in der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts. In: Die deutschsprachige Anthologie. Bd. 2: Studien zu ihrer Geschichte und Wirkungsform. Hg v. Joachim Bark und Dietger Pforte. Frankfurt a. M. 1969 (Studien zur Philosophie und Literatur des neunzehnten Jahrhunderts 2/2), S. 1–47. Nach wie vor grundlegend ist Theodor Verweyen: Apophthegma und Scherzrede. Die Geschichte einer einfachen Gattung und ihrer Entfaltung im 17. Jahrhundert. Bad Homburg v. d. H. 1970 (Linguistica et Litteraria 5); vgl. auch den Nachdruck von Harsdörffers Ars Apophthegmatica (wie Anm. 9). Dazu exemplarisch Wilhelm Kühlmann: Auslegungsinteresse und Auslegungsverfahren in der Sprichwortsammlung Sebastian Francks (1541). In: Kleinstformen der Literatur. Hg. v. Walter Haug und Burghart Wachinger. Tübingen 1994 (Fortuna Vitrea 14), S. 117–131. Den besten neuen Überblick über barocke Erzählsammlungen bietet nun Dieter Breuer (Hg.): Simpliciana. XXI. Jahrgang (1999) [Themenband Barocke Erzählsammlungen]; hier exemplarisch auch der Aufsatz von Ralf Georg Czapla (S. 141–160) mit Studien zu Peter Laurembergs immer neu aufgelegter und erweiterter Acerra philologica; einen hervorragenden Einblick in das Quellenmaterial bietet der von Berns hg. Katalog (wie Anm. 11); hier bes. Kap. V, S. 144–169, das Lemma: »Lust- und lehrreiche Geschichten, Novellen und Buntschreiberei«. Hingewiesen sei nun auf die nützliche deutsche Übersetzung: Älian. Bunte Geschichten. Übers. und hg. v. Hadwig Helms. Leipzig 1990. Zur antiken Wort-, Begriffs- und Gattungsgeschichte siehe die Zusammenfassung in dem Artikel »Buntschriftstellerei« von Ewen Bowie und Helmut Krasser: Buntschriftstellerei. In: Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike [...]. Hg. v. Hubert Cancik und Helmuth Schneider. Reihe Altertum. Bd. 2. Stuttgart, Weimar 1997, Sp. 850–853; zu Gellius auch Leofranc Holford-Strevens: Aulus Gellius. London 1988.

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denden lehrreichen ›Mischliteratur‹ beruft.21 Unabhängig von den hier außer Betracht bleibenden Kompilations- und Rezeptionsformen des Mittelalters haben wir es – gleichsam spiegelbildlich – in der kaiserzeitlichen Antike wie in der frühen Moderne zu tun mit einer spätzeitlichen, bewusst rezeptiven Derivatliteratur, mit offenen, ausdrücklich so konzipierten Kompilationen, die vorliegende Textbestände ausschrieben und auswerteten, verschüttete Traditionen erklärten und absicherten, dabei auch, oft in bewusst unterhaltsamer Kontraststrategie und im punktuellen Prätextbezug zu antiquarisch-gelehrten Erörterungen naheliegender oder auch ›kurioser‹, bisweilen erstaunlich entlegener Probleme ausholten, mit einem Wort, nach der trefflichen Bestimmung des Gellius (in: Vorrede der Noctes Atticae) also um Darbietungen einer »varia et miscella et quasi confusanea doctrina«. Dieser Varietäts-, ja manchmal sogar demonstrative Kontrastcharakter der Themen bzw. Gegenstände und der oft dominierende Prätextbezug charakterisierten auch die manchmal dialogisch, also quasi fiktivmündlich inszenierte Textfunktion der Wissensvermittlung über den historischen Abstand oder die sachliche Fremdheit der Kompilationsvorlagen hinweg. In der Frühen Neuzeit lassen sich nach Art, Genese und Funktion dieser Buntschriftstellerei zwei funktionale und literaturhistorische Parameter der Herkunft und Differenzierung unterscheiden: 1. die Ableitung und Entwicklung aus Geist und Art der humanistischen Kommentartradition in der Synthese einer Erläuterung von res und verba, und zwar in der Ablösung vom editorisch gebundenen Autorenkommentar und in der Zuwendung zu explizierenden philologischen Sammelwerken von zunächst textkritischen, bald kontextuell und historisch erweiterten Adversaria, Problemata, Collectanea, Miscellanea und diskursiv, manchmal fast ausgesprochen essayistisch ausholenden Quaestionen und Exkursen – nicht selten in Transparenz noch zur mündlich-akademischen Kommentierungspraxis, jedoch mehr und mehr ausdifferenziert in eine nur topologisch gereihte, unter ›Gemeinplätze‹ (loci communes) subsumierte, in der Hierarchie des Wissenswerten aber nicht mehr eindeutig klassifizierte oder systematisch begründete Präsentation von Nachrichten und Informationen diversen (auch narrativ vermittelten) Zuschnitts;22

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Gellius, in der Übersetzung von Fritz Weiss: Gellius, Aulus: Die Attischen Nächte. Zum ersten Male vollständig übersetzt und mit Anmerkungen versehen. 2 Bde. Nachdr. der Ausgabe Leipzig 1875/76. Darmstadt 1992, S. (2), nennt unter anderem Titel wie: Die Musen, Wälder, das Füllhorn, Waben, Wiesen, Lesefrüchte, Blütenlese, Erfindungen, Fackeln, Teppiche, Saiteninstrument, Probleme, Handbücher, Dolche, Denkwürdigkeiten, Hauptsächliches, Nebensächliches, Wissenswertes, Fruchtallerlei, Beweisstellen (»Topoi«), Briefe, Untersuchungen. Zur Rolle und zum literatur- wie mentalitätsgeschichtlichen Indizwert topologischer Wissenspräsentation, hier nicht weiter diskutiert, setze ich die weiter ausgreifenden Arbeiten voraus von Lothar Bornscheuer: Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft. Frankfurt a. M. 1976; Wilhelm Schmidt-Biggemann: Topica universalis. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft. Hamburg 1983 (Paradeigmata

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2. (damit zusammenhängend:) die Ausbildung einer regen Nachfrage nach Konversationsliteratur, hier nicht also nur nach Konversationsanleitungen, sondern nach einem Schrifttum der Wissensvermittlung, etwa in der formalen Zweckbestimmung von Tischgesprächen, die dem Leser die möglichst aktive, die informierte Teilhabe an intellektuellen Diskursen im Grenzbereich zwischen gelehrten, ggf. auch ästhetischen und politisch-mondänen, vor allem historischmoralischen Themen, Fragen, Urteilsanforderungen und Relevanzbereichen erlauben sollte. Werke wie die Gesprächsspiele Harsdörffers, aber auch Harsdörffers Kunstquellen erfüllten dabei sowohl die Zwecke der Wissensvermittlung als auch der kommunikativen, ja sogar metakommunikativen Anleitung.23 Dass sich im Übrigen die Variante der bewusst polymathisch-topologischen Konversationsliteratur ebenfalls von literarischen Modellen der Antike legitimieren ließ, ergibt sich – dies nur am Rande – allein schon aus der Erinnerung an die Deipnosophistai (»Gelehrte beim Gastmahl«) eines Athenaios oder die Quaestiones convivales eines Plutarch.24

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13); Wolfgang Neuber: Topik und Intertextualität. In: Intertexualität in der Frühen Neuzeit. Studien zu ihren theoretischen und praktischen Perspektiven. Hg. v. Wilhelm Kühlmann und Wolfgang Neuber. Bern usw. 1994, S. 253–278 und Helmut Zedelmaier: Bibliotheca Universalis und Bibliotheca Selecta. Das Problem der Ordnung des gelehrten Wissens in der frühen Neuzeit. Köln usw. 1992 (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 33), bes. S. 75–98 zur »Topik als gelehrte Praxis«; hier auch S. 96f. zur Tradition der »Buntschriftstellerei« und der »Lectiones antiquae«. Wer sich in die Verweiszone der bekannteren Werke begibt, stößt sofort auf Lektüreempfehlungen, die in wenig begangenes Terrain führen; so etwa die Bemerkung Harsdörffers (Frauenzimmer-Gesprächspiele, Erster Teil 1644, Nachdruck 1968 [wie Anm. 9], S. 270f. der alten Seitenzählung): »Es sind auch sonsten sehr viel teutsche Scribenten/ welche zu den Gesprächspielen dienen können/ als Christoff Lehmanns Politische Blumengarten/ 2. Theil/ Seidelins Lieb- Tugend- und Ehrenspiegel/ Thomai Weltgärtlein/ Wilhel. Kirchhofs Wend-Vnmuth/ deß von Dulkens Kunstbüchlein Politischer Sitten/ etc. Messerschmids Historischer Blumgarten/ Gebhards Fürstliche Tischreden/ Georg Lauterbecks Regentenbuch/ A. Poli Christlicher Fürst/ Tim. Poli lustiger Schawplatz/ Egid. Albertini/ der Welt Schau- und Tummelplatz/ und noch viel andere/ welche in allen Buchläden meistentheils wolfeil/ und feil Kauffer erwarten«. Bis auf die Antike greift ein polyhistorischer Traktat (zuerst 1582) des Züricher Professors Johannes Guilielmus Stuckius (Stucki) zurück, der alle Arten von Gastmählern, Konversationsanlässen und Konversationsstoffen mit unüberbietbarer Kompilationskraft registriert und mit philologischen, auch textkritischen, sowie moralisch-sozialkritischen Kommentaren behandelt. Ich zitiere den sprechenden Titel nach der zweiten Auflage, Zürich 1597: Antiquitatum Convivialium Libri III. In quibus Hebraeorum, Graecorum, Romanorum aliarumque nationum antiqua conviviorum genera, mores, consuetudines, ritus ceremoniaeque conviviales atque etiam alia explicantur; & cum ijs, quae hodie cum apud Christianos, tum apud alias gentes, a Christiano nomine alienas, in usu sunt, conferuntur: multa Grammatica, Medica, Ethica, Oeconomica, Politica, Philosophica denique atque Historica cognitu jucunda simul & utilia tractantur: plurima sacrorum prophanorumque Auctorum veterum loca obscura illustrantur, corrupta emendantur: denique desperatus deploratusque nostrum temporum luxus atque luxuria gravi censura damnatur. – Öfter aufgelegt in lateinischer und deutscher Fassung wurden im späteren 17. Jahrhundert die Konversations-

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Der Begriff der humanistisch-exegetischen ›Polymathie‹ setzte einen bereits in Gestalt von Angelo Polizianos (1454–1494) Miscellanea (Erstdruck 1489),25 aber auch in seiner Lamia (Praelectio in Priora Aristotelis Analitica, 1492–93) philosophisch überhöhten und im späteren 16. Jahrhundert auch in Deutschland propagierten Begriff der Grammatik und des Grammatikers voraus. Musterhaft wurde er in dem 1603 erschienenen, im folgenden Jahr und auch später noch nachgedruckten Traktat De Polymathia des in Hamburg gebürtigen Johannes Woverus/Wower (1574 oder 1575–1612) entwickelt und penibel nach ramistischem Muster systematisiert. Polymathie ist nach Wower »grammatica historica«, ist disziplinübergreifende Realienkunde, Informationssammlung und kompilatorisch-curieuse Buchgelehrsamkeit, ein wiedererstandener Alexandrismus, wie der Autor selbst mit einem Verweis auf Eratosthenes nahelegt: Unter der vollendeten Polymathie verstehe ich die Kenntnis der verschiedenen Sachen, gesammelt aus jeder Art von Studium, sich sehr weit ausbreitend. Sie schweift nämlich in freiem und ungezügelten Lauf durch alle Gefilde der Disziplinen, soweit diese der menschliche Geist mit unermüdlichem Fleiß erreichen kann.26

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anleitungen (verbunden mit »curiösem« Excerptmaterial) des Adam Weber: Ars discurrendi de qualibet materia ad centum fontes reducta. Nürnberg 1671; ders.: Ars conversandi certis regulis comprehensa [...]. Salzburg 1682; ders.: Curiose und Fruchtbringende Discursen/ Also und dergestalt zur Erleuchtung aller Menschlichen Wissenschafften eingerichtet [aus dem Lateinischen]. Nürnberg 1678. Dazu im Einzelnen Aldo Scaglione: The Humanist as Scholar and Politian’s Conception of the Grammaticus. In: Studies in the Renaissance VIII (1961), S. 49–70; Antony Grafton: On the scholarship of Politian and its context. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 40 (1977), S. 150–188; Alfons Waschbüsch: Polizian. Ein Beitrag zur Philosophie des Humanismus. München 1972 (Humanistische Bibliothek III, 1), passim, bes. S. 148f.; Peter Godman: From Poliziano to Machiavelli. Florentine Humanism in the High Renaissance. Princeton, New Jersey 1998, S. 80–133; zu gemeinsamen Bemühung um verba und res vgl. auch Kühlmann 1982 (wie Anm. 9), bes. S. 293; die Kombination von »verba« und »res« hält sich bis weit ins 17. Jahrhundert, ablesbar etwa in Michael Pexenfelder: Apparatus eruditionis tam rerum quam verborum per omnes artes et scientias. Nürnberg 1670 (mehr als tausend Seiten!). Das folgende Zitat aus De Polymathia (benutzt in der Ausgabe Leipzig 1665), S. 19, hier gleich in deutscher Übersetzung nach Kühlmann 1982 (wie Anm. 9), S. 290 (dort auch der lateinische Text sowie die folgenden Zitate mit weiteren Hinweisen). Zu Wower siehe das Referat bei Zedelmaier 1992 (wie Anm. 22), S. 286–293, sowie (grundlegend) Luc Deitz: Ioannes Wower of Hamburg, Philologist and Polymath. A Preliminary Sketch of his Life and Works. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 58 (1995), S. 132–151, mit weiteren Literaturhinweisen, der einsichtigen Würdigung des Traktats De Polymathia als Vorgriff auf F. A. Wolffs »Altertumswissenschaft« (S. 142–150) und mit der Wiedergabe der ramistischen Tafel der Aufgliederung von ›Polymathia‹ in diverse Teildisziplinen; beachtenswert auch der Hinweis auf nachfolgende analoge Entwürfe zur Begründung von ›Polymathie‹ (J. Laurentius, J. Jonston, S. Lintrup). – Zur weiteren Entwicklung des Philologiebegriffs und der philologischen Praxis siehe den Sammelband von Ralph Häfner (Hg.): Philologie und Erkenntnis. Beiträge zu Begriff und Problem frühneuzeitlicher ›Philologie‹. Tübingen 2001 (Frühe Neuzeit 61), mit der Studie von Deitz, hier bes. S. 23–29

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Ein deutscher Traktatist definierte schon im Jahre 1578 Philologie im Sinne eines universalen Kommentations- und Explikationsprogramms: Philologie ist also jene Erforschung und Betrachtung der Wörter sowie denk- und wissenswürdiger Sachen bei den Autoren sowie besonders die Kenntnis des Altertums. Außerdem ist die Erläuterung von Sentenzen, die Kommentierung von Gedichten, Apophthegmen, Sprichwörtern, Historien, Exempeln, die Befassung mit Chronologie, der Geschichte, mit berühmten Kriegen, bedeutenden Menschen, der Natur der Lebewesen, mit dem Münzwesen und dergleichen mehr. Dann auch die Beschreibung von Sachen, Flüssen, Bergen, Landschaften, Städten und was dort in rühmlicher Kunde überantwortet ist. Darauf beziehen sich auch die Einrichtungen, die Sitten, die Kultur der Völker und Stämme, die Gewohnheiten des Altertums, die Behörden, Gerichtsformen, religiöse Rituale, die Dinge des Landbaus, der Stadt, des Hauses, des öffentlichen Lebens: dies alles aus den guten Autoren zu vermerken ist die Aufgabe des Philologen.27

Für Wower tendiert die Philologie als Polymathie zur Philosophie, weil sie das Ganze des Sachwissens zum Ruhme des menschlichen Geistes umfasst und reproduziert. Der Lipsianische Anspruch, Philologie zur Philosophie zu machen, findet ein zeittypisches Echo. Der Polyhistor »medius est inter philosophantem, et illum qui philosophari non audet«. Polymathie »immigrat ad Philosophiam sive eruditionis sive animi caussa, ut etiam philosophari videatur«. Von dem so gekennzeichneten Zuständigkeitsanspruch aus lassen sich die Kompilationen des Heidelberger Professors und Bibliotheksdirektors Janus Gruter (1560–1627) und anderer Zeitgenossen28 ableiten, mehrbändige, bislang kaum gesichtete Werke, deren Titel Verfahren wie auch Benutzerinteressen andeuten und die gewiss vor allem mit Hilfe der Indices ausgewertet wurden. Genannt sei nur Gruters Lampas, sive fax artium liberalium, hoc est, thesaurus criticus, in quo infinitis locis theologorum, jurisconsultorum, medicorum, philosophorum, oratorum, historicorum, poetarum, grammaticorum, scripta supplen-

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zu Wower (im Vergleich zu Vossius’ De Philologia) und zu den gegen Wower erhobenen Plagiatsvorwürfen. Caspar Hofmann: De Barbarie imminente, zit. nach der Ausgabe Nürnberg 1726, S. 212; hier gleich in deutscher Übersetzung; der lateinische Text bei Kühlmann 1982 (wie Anm. 9), S. 289. Zu Leben und Werk Gruters siehe Gottfried Smend: Jan Gruter. Sein Leben und Wirken. Ein Niederländer auf deutschen Hochschulen [...]. Bonn 1939; eine komplette und kommentierte Edition liegt vor in: Wilhelm Kühlmann, Volker Hartmann, Susann El Kholi (Hgg.): Die deutschen Humanisten. Dokumente zur Überlieferung der antiken und mittelalterlichen Literatur in der Frühen Neuzeit. Abt. I, Bd. I/2: Janus Gruter. Turnhout 2005. Noch von Jean Paul wurde benutzt ein Werk von Johannes Wolf (Bergzaberner Jurist): Lectionum memorabilium et reconditarum centenarii XVI. 2 Bde. Lauingen 1600 (mehr als 2000 Seiten), gefolgt von einem Register aus der Feder Johannes Jacobus Linsius, »cognomen Hagendorn« (Lauingen 1608). – Enzyklopädisch ausgerichtet (manches z. B. auch zur Naturkunde und zur Musik), aber doch im Kern historisch orientiert (mit vielen Kurzbiographien z. B. von Erasmus, Georg und Rudolf Agricola) waren die Adversaria historica des in Basel und Mömpelgard lebenden französischen Glaubensflüchtlings Richard Dinoth (Basel 1581).

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tur, corriguntur, illustrantur, notatur (Bd. 1–6 Frankfurt a. M. 1602–1607). Auch hier fehlt nicht die autoritative Berufung auf Varro, Gellius und die Riege antiker Grammatiker (Widmungsvorrede zu Bd. 3, 1604). Noch spektakulärer wirkt das unvergleichliche, das monumentale, bis ins 18. Jahrhundert (etwa von Lessing) gesuchte und berühmt-berüchtigte Werk der Adversaria (dreitausend enggedruckte Foliospalten, nur Teildruck der Bücher I bis LX, Frankfurt a. M. 1624; nachgedruckt 1648; Fragmente der Bücher LXI–CLXXX in andere Werke inseriert) des Caspar von Barth (1587–1658),29 der sich damit typologisch unter anderem an die Miscellaneorum Centuria Prima des Polizian, direkt aber an die dreißig Bücher Adversarien des französischen Gelehrten Adrianus Tur-

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Die Leservorrede nennt als Gegenstand die »universa res Litteraria, Scriptoribus Priscis et Semipriscis debita«, diese zu erhellen habe sich Barth seit früher Jugend bemüht. Mit einer militärischen Metapher wird das Heterogene des Werkes auch mit dem Entstehungsprozess begründet (ich übersetzte gleich): »Wenn auch in diesem Teil [der schon auf Jugendarbeiten zurückgeht – W.K.] Leichtgewichtigeres unterkommt, sollst du wissen, dass wir bewusst, wie um den Raum für ein Lager zu vermessen, diese Leichtbewaffneten und Schildträger vorausgeschickt haben. Auch wenn die Soldaten, die dann folgen, nicht gerade altgediente Veteranen sind, werden sie doch gewiss bereitwillig genug den gesamten militärischen Bereich behandeln. Hier sind recht jugendliche Abhandlungen und wissbegierige Überprüfungen von Lesarten untermischt; die übrigen werden reicher an durchdringender Gelehrsamkeit sein und in den tiefen Zonen der Antike manches Dunkle und zu wenig Verstandene erforschen«. Besonders sei ihm daran gelegen, die ältere literarische Kirchengeschichte (»res Ecclesiastica«) in vieler Hinsicht zu erhellen. – Zu Barth siehe Johannes Hoffmeister: Kaspar von Barths Leben, Werke und sein Deutscher Phönix. Heidelberg 1931 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte XIX), spez. zu den Adversaria S. 29–35, hier S. 30f. die Charakterisierung im Sinne der philologischen ›Buntschriftstellerei‹: »Der Foliant zeigt dem unbefangenen Leser einen immer rüstigen, problemfreudigen Philologen, der uns im gesamten Altertum von Platon bis Claudian, von den christlichen Dichtern bis zu den großen Humanisten des 15. und 16. Jahrhunderts mit außerordentlicher Lebendigkeit herumjagt. Wir wissen nie, wohin Barth uns führen wird, wenn wir ein Kapitel zu lesen beginnen. Überall weiß er zu fesseln; man ermüdet kaum, weil er nie einseitig bei der Wortbedeutung oder der Lesart bleibt, sondern – wenn auch oft ohne Notwendigkeit – von ihnen aus nach weitesten geschichtlichen und gedanklichen Zusammenhängen strebt, ohne doch die philologische Rücksicherung – sei sie auch noch so flach oder schwach – jemals aufzugeben. Durch dieses launische Hin und Her, durch diesen Geistreichtum im guten und schlechten Sinne ist die Vielseitigkeit möglich, die allerdings oft genug nichts als ein wunderlicher Wirrwarr ist«. – Wichtig und eindringlich nun zur Konzeption und komplizierten Überlieferungsgeschichte des nur fragmentarisch erhaltenen Gesamtwerkes Étienne Wolff: Les Adversaria de Caspar von Barth (1587–1658): histoire, dessein et influence de l’oeuvre. In: Latomus. Revue d’Études Latines 56 (1997), S. 40–53; zum Autor zusammenfassend der Artikel von Wilhelm Kühlmann: Barth, Caspar von. In: Killy/Kühlmann (wie Anm. 13), Bd. 1, sowie die Auszüge seines lyrischen Schaffens mit Bio-Bibliographie und Kommentar in: Wilhelm Kühlmann, Robert Seidel, Hermann Wiegand (Hgg.): Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts. Lateinisch deutsch. Frankfurt a. M. 1997 (Bibliothek deutscher Klassiker 146. Bibliothek der frühen Neuzeit 1,5), S. 863–903; 1484–1527; ferner Dünnhaupt (wie Anm. 8), Bd./Tl. I, S. 401–421.

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nebus (Basel 1580, Straßburg 1600)30 anschloss. Es war kein Geringerer als Paul Fleming, der Barths gelehrtes Monstrum mit folgenden Versen rühmte: Quaerit in omnigenos scriptorum Barthia census cura, potens genio, dexteritate potens. Explicat, illustrat, confert, defendit, abarcet, adjicit, observat, corrigit, apta ponit. Crescit ab adversis virtus. Sibi quaesitat hostem, sumit et a magno grande labore decus. Sol liber est tantas removens tot noctibus umbras: quo magis hae tenebrant, hoc magis ille micat.31

Trotz aller gesuchten Digressionen blieb bei Barth die Bindung an überlieferte oder zur Edition präparierte Texte (darunter auffälligerweise bevorzugt die Autoren des Mittelalters) grundsätzlich ebenso erhalten wie in der Gruppe jener sich dem neuzeitlichen Essay annähernden Miscellaneenliteratur, die – etwa zu Straßburg im Umkreis Matthias Berneggers – als Sprossform des akademischen Autorenkommentars gepflegt wurde und die sich auf die politisch-moralische, oft aktualisierende Exegese vor allem der antiken Historiker konzentrierte.32 Das in solcher Form gesammelte Material, oft auch als Quaestionenanhang systematischer, auch aristotelischer Lehrbücher publiziert (etwa bei Bartholomäus Keckermann) ging dann nicht selten im Rekurs auf einen weiten europäischen Autoritätenfundus über in prototypische Sammlungen, in denen der präzise auktoriale Rückbezug genauso wie die systematische Ordnung endgültig

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Zu Turnebus und zur Charakterisierung seiner Adversaria siehe. John Lewis: Adrien Turnebe (1512–1565). A Humanist Observed. Genève 1998, spez. S. 197–204; dort auch Stimmen der zeitgenössischen Rezeption (Pasquier, Muret und andere). Zitiert nach Fleming (Lateinische Gedichte), Hg. v. Johann Martin Lappenberg. Stuttgart 1863 (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart LXXIII), Epigramme XI, 10, S. 460. Vgl. Carl Bünger: Matthias Bernegger. Ein Bild aus dem geistigen Lebens Straßburgs zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Straßburg 1893, nach wie vor unentbehrlich, passim, bes. S. 306–315 zu den »historisch-politischen Disputationen und Observationen« (darunter den aus dem akademischen Unterricht hervorgegangenen Observationes miscellae, postum 1669); dazu auch Kühlmann 1982 (wie Anm. 9), passim, sowie im Zusammenhang der politischen Tacitusexegese (Bernegger und seine Schüler, auch Gruter) Wilhelm Kühlmann: Formen der politischen Reflexion im deutschen »Tacitismus« des 17. Jahrhunderts. In: Respublica litteraria. Die Institutionen der Gelehrsamkeit in der frühen Neuzeit. Hg. v. Sebastian Neumeister und Conrad Wiedemann. Bd. 1. Wiesbaden 1987 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 14), S. 325–348. Die Vorrede Berneggers zu den Observationes miscellae akzentuiert die Prinzipien der lustbringenden Varietät anstelle des mühevollen systematischen Studiums: »[...] statui deinceps, omissis prolixis in prolixos Autores commentariis, eam profitendi rationem inire, quae si non rerum tractandarum praestantia, quam polliceri mea tenuitas non sinit, saltem varietatis iucunditate studium auditorum qualitercunque retentura videatur. [...] Eam ad rem, si quae alia, mea cumprimis, idonea professio est; cum ex illo laetissimo latissimoque campo, totam complexo rerum universitatem, subinde depromere liceat, quae marcentem satietate stomachum expugnare, novaque vescendi cupiditate, novis ferculis appositis excitare queant«.

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aufgegeben wurde. Für den deutschen Bereich ist hier vor allem zu nennen ein prominentes Werk des aus berühmter Familie stammenden Nürnberger Juristen, Ratskonsulenten und Prokanzlers der Altdorfer Universität Philipp Camerarius (1537–1624), Signal für die Ausstrahlung des hier in Rede stehenden Kompilationsgenus auf außerakademische Autoren und auf Zielgruppen eines Publikums, das die regimentale Führungsschicht in Stadt und Territorium ebenso umfasste wie – zumal dann bei den deutschsprachigen Transformationen – die unterhaltungs- und orientierungsbedürftige urbane Mittelschicht. Camerarius’ zuletzt in drei Centurien erscheinende und ins Deutsche (Historischer Lustgarten, 1625–1631), Englische (The Living bzw. Walking Library, 1621 bzw. 1625) und Französische (Méditations historiques, 1608 bzw. 1610) übersetzte Operae Horarum Subcisivarum sive Meditationes Historicae (Erste Centurie: Altdorf 1591 u. ö.; die Gesamtausgabe Frankfurt a. M. 1602–1609, dann noch mindestens drei Nachdrucke bis 1658)33 bieten in den Leservorreden, mehr noch in den vorangestellten Briefen namhafter gelehrter Freunde (unter ihnen auch der Polyhistor Michael Goldast, vor der dritten Centurie) eine fast komplette Begründungs- und Verwendungstopik der Buntschriftstellerei. Typologische Vorbilder von Athenaios bis Varro und Polizian sind ebenso präsent wie naheliegende Schreibmetaphern (das Bild der honigsammelnden Biene)34 oder der Rückblick auf die aktualisierende Meditationsliteratur nach Muster der von

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Zu Philipp Camerarius siehe Jöcher (sub verbo), Zedler (sub verbo), Steffenhagen: Camerarius, Philipp. In: Allgemeine Deutsche Biographie 3 (1876), S. 726; Details der komplexen Entstehungs- und Druckgeschichte des Gesamtwerks sind hier nicht zu entfalten, bedürften auch weiterer intensiver Forschungen; einen ersten Überblick, zumal über die Übersetzungen, bieten die einschlägigen Bibliothekskataloge (bes. NUC, BLC), jeweils sub verbo. Die deutsche Fassung stammt von Georg Maier aus Schwabach; vgl. dazu mit der Analyse von Kap. I, 28 (der lateinischen Version: De morte Thomae Mori. et quare Anglia lupis careat. nec non de vallo Pictico mirabilia) Harold Jantz: The Renaissance Essays of Philipp Camerarius. In: Virtus et Fortuna. Zur Deutschen Literatur zwischen 1420 und 1720. Festschrift für Hans-Gert Roloff zu seinem 50. Geburtstag. Hg. v. Joseph P. Strelka und Jörg Jungmayr. Bern usw. 1983, S. 315–327: mit Abdruck der deutschen Übersetzung. Musterbildend für die Bienenmetapher die Vorrede von Macrobius, spez. Sat., praef. 5; so dann gleich auch in der Leservorrede zur ersten Centurie bei Camerarius (S. 3f.): »[...] quemadmodum Pabulo quodam, reficere, ex iis iucunda, memorabilia, et utilia decerpere, atque sicut apiculae flores in alvearium suum, aggerere, et comportare: tum ea, quae ex aliis audivit, vel ipse vidit, cum veteribus et vicissim antiquiora cum recentioribus, non absque peculiari animi voluptate, conferre solitus sit [...]«. Ähnlich in Vorrede zur zweiten Centurie. Entsprechend dann (Leservorrede des Autors zur dritten Centurie) das Bekenntnis zu einer Verbindung von Historie und Philosophie sowie zum kritischen Urteil über den Wahrheitsgehalt der angezogenen Autoren und die Erinnerung an Angelo Poliziano; hier auch in einem vorgedruckten Brief (wahrscheinlich von 1608: Datierung des folgenden Begleitgedichts) von Rittershusius der Verweis auf die französische Übersetzung (des Genfers Simon Goulart) und die Reihe der Vorgänger: Plinius, Solinus, Valerius Maximus, Petrarca, Aeneas Sylvius, Theodor Zwinger, dazu Gellius, Macrobius, Varro und Athenaios.

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Machiavelli vorgelegten Liviuskommentare.35 Querverbindungen eröffnen sich zu den Raccolta Breve (1599) des Guido Panciroli, übersetzt von dem Amberger Advokaten Heinrich Salmuth (1560–1634), der wiederum in Kontakt zu Joachim Camerarius d. J. stand.36 Konrad Rittershusius/Rittershausen, der bekannte Altdorfer Jurist, assoziierte das Werk des befreundeten Philipp Camerarius nicht nur mit Macrobius, sondern auch mit den offenbar gern gelesenen Geniales Dies (Rom 1522, Nachdruck z. B. Paris 1575) des neapolitanischen Rechtsgelehrten Allessandro d’Allessandro (Alexander ab Alexandri). In dieser Deszendenz erblickte Rittershusius in Philipp Camerarius einen neuen Gellius und in seinem Opus – nicht nur analog zu den Noctes Atticae des Gellius, sondern auch zu den Noctes Parisinae des Henricus Stephanus – geradezu die mit Athen und Paris wetteifernden Noctes Noricae.37 Die Interessen des avisierten Publikums werden von Camerarius als ausgesprochen historisch, nicht philologisch bestimmt. Dabei soll die Kompilationsmethode dem Lektüreprinzip der Authentizität (»ad fontes«) gerade nicht widersprechen. Gedacht ist nämlich an verschiedene Lesergruppen: Leser, die sich über Zweifelhaftes anhand verschiedener Autoren informieren wollen; Leser, die – durch anderweitige Geschäfte verhindert – nicht zur Autorenlektüre kommen, schließlich Leser, die diese Autoren nicht besitzen, sie jedenfalls aus irgendwelchen Gründen »entbehren« müssen.38 Einzelheiten der Quellenverarbeitung, der Implikation von Leserinteressen und eine diskursgeschichtliche Synopse der Themen (Fragen also, die generell an Werke solcher Art zu richten sind), müssen hier außer Betracht bleiben. Stattdessen gehe ich über zu dem wohl bedeutendsten deutschsprachigen Kompilationsautor und Wissensvermittler der Jahrhundertmitte, dem Ulmer Schulmann, de facto aber freien Schriftsteller Martin Zeiller (1589–1661). Zur Vita und zum umfangreichen Oeuvre insgesamt sollen hier keine Details ausgebreitet werden,39 vielmehr ein mehrteiliges, quasi-serielles Werk in den Mittelpunkt 35 36

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Der Hinweis auf Macchiavelli in dem Briefe eines sich als L.B.F.M.O. verrätselnden Verfassers im Vorspann zur ersten Centurie, S. 12. Näheres, hier zusammengefasst, bei Emilio Bonfatti: Noctes noricae. Joachim Camerarius d.J. und Guido Pancirolis Raccolta Breve (1599). In: Nürnberg und Italien. Begegnungen, Einflüsse und Ideen. Hg. v. Volker Kapp und Frank-Rutger Hausmann. Tübingen 1991 (Erlanger Romanistische Dokumente und Arbeiten 6), S. 195–211. Im Rekurs auf den oben erwähnten Rittershusius-Brief referiert auch von Bonfatti (wie Anm. 36). So in Leservorrede zur ersten Centurie (S. 7f.): »Ex quibus [dem Verfahren der Kompilation, W. K.] non postrema ratio haec est, ut hoc modo non tam suspicacibus, qui dubitarent de fide historiarum, omne dubium allegatis auctoribus eximeretur, quam cupiditati illorum, qui auctores citatos, vel peregrinando in promptu non haberent, vel obstantibus negocijs gravioribus eos legere impedirentur, denique illis, qui iis omnino carerent, et nihilominus ex fontibus nativis res gestas et actiones inter legendum simul haurire et cognoscere satagerent, breviori compendio subveniretur«. Dafür verweise ich auf meine eine Studie (wie Anm. 3), deren Ergebnisse im Folgenden – mit wörtlichen Rückgriffen – knapp rekapituliert werden und in der die komplette ältere

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rücken, das von Camerarius’ »Nebenstunden«-Produkt wahrscheinlich direkt angeregt wurde, sich nun aber – kontrastiv zu Zeillers späteren in Quaestionenoder in Dialogform eingekleideten Publikationen – der Briefform bediente. Zeillers polyhistorische Kompendien bilden einen literarischen Komplex, der sich aus der Fortführung und Ausweitung der 1640–1647 zunächst in sechs Einzelbänden erschienen Episteln oder Sendschreiben Von allerhand Politischen Historischen und anderen Sachen (revidierter Neudruck in zwei Teilen: Ulm 1656) entwickelt hat – eines Werkes übrigens, von dem Happel später schrieb: »Dieses Buch [...] liebe ich als ein güldenes Kleinod, und finde ich so viel herrlicher Materien darinn, dass ich die jenige vor einfältig halte, die solches Buch nicht unter ihren Büchern haben«.40 Einige Passagen legen die Vermutung nahe, dass wirkliche Briefe, Exzerptsammlungen oder rhetorische Progymnasmata aus Zeillers Hauslehrertätigkeit den Grundbestand bildeten. Gegenüber den lateinischen Vorläufern entspricht Zeillers Wendung zur Muttersprache einer Ausfächerung und Entgrenzung des literarischen Einzugsbereichs. Sein Werk öffnet sich damit der kulturellen Praedisposition einer bildungsmäßig unspezifischen, jedenfalls auch ungelehrten Leserschaft. Die Vermittlungsfunktion des Kompendiums besteht zunächst in der Überwindung von literarischen Exklusivität (aus der Vorrede zu: Centuria Variarum Quaestionum): Weilen die Bücher/ daraus sie [die behandelten Fragen und Sachen – W.K.] genommen/ den meisten theil nit in teutscher Sprach geschrieben/ und ob gleich theils in selbiger vorhanden/ sie jedoch nit Jedermanns kauff/ auch nit aller Orten zu bekommen seyn: und aber dem Vatterland/ und dessen Inwohnern/ so etwan zu solchen Sachen wegen ihrer Nutzbar: und Ergötzlichkeit/ in ihrer angebornen Teutschen Sprach/ davon berichtet zu werden/ Lust haben/ billich hierinn zu dienen.

Die Titel der Zeillerschen Publikationen zeigen, dass eine Kombination von Wissensvermittlung, Erbauung und Zerstreuung angestrebt ist. Angesichts dieser pragmatischen Intentionen, des kompilatorischen Charakters und des mangelhaften auktorialen Profils der diversen Zeillerschen »Schatzkammern« konnte eine nach Originalität fragende und nach werkästhetischen Normen urteilende Literaturwissenschaft in Zeiller nur den Inhaber einer »gelehrten Trödelbude« (von Waldberg) sehen, in der »Bildungsstoff« systemlos zusammengetragen war. Doch gerade diese Systemlosigkeit implizierte die Emanzipation von dem »schmalen und konzentrierten Themenbereich« (Wiedemann) der akademischen

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und neuere Literatur verarbeitet ist; ergänzend mittlerweile dazu – im Blick auf die hier nicht weiter interessierenden Erzähltraditionen – Rudolf Schenda: Jämmerliche Mordgeschichte. Harsdörffer, Huber, Zeiller und französische Tragica des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Volkskultur – Geschichte – Religion. Festschrift für Wolfgang Brückner zum 60. Geburtstag. Hg. v. Dieter Harmening und Erich Wimmer. Würzburg 1990, S. 530–551 (ertragreich für die gesamteuropäische Dimensionierung der narrativen Florilegien) und Battafarano (wie Anm. 9). Eberhard Werner Happel: Der spanische Quintana, Oder so genannter Europaeischer Geschicht-Roman [...]. 3. Teil. Ulm 1687, S. 291; hier zitiert nach Schenda (wie Anm. 39), S. 539.

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Literatur. Erst sie ermöglichte den Einbezug ›inoffizieller‹ Textsorten und populärer Erzähltraditionen sowie die breite Rücksichtnahme auf Fragen der Alltagswirklichkeit (kaufmännische Praxis, Gesundheitspflege usw.). Der inhaltlichen Entgrenzung korrespondiert dabei der methodische Sinn der offenen Form – in ähnlicher Weise jedenfalls, wie ihn Harsdörffer für seine gleichzeitig mit den Episteln veröffentlichten Gesprächsspiele in Anspruch nahm: »weil der Verstand dardurch alles Zwanges fürgeschriebener Lehre entbunden/ sich seiner eingeschaffnen Freyheit befindet nachzusinnen«.41 Dass sich Zeiller gerade unter dem Gesichtspunkt einer literarischen Emanzipation der ›illiterati‹ der Muttersprache zuwendet, äußert sich im mehrfachen Lob der nationalliterarischen Bemühungen u.a. der Fruchtbringenden Gesellschaft und der Vorstöße der Reformpädagogik. Zeiller zielt nicht zuletzt auf den im akademischen Bereich verfemten Typus des Autodidakten; seinen Informationsbedürfnissen entspricht die von Systemzwängen befreite und damit zugleich unterhaltsame Form der Wissenspräsentation. Auch in den biedermännischen Gesprächspartnern der Ein hundert Dialogi (1653) hat Zeiller sehr deutlich den gemeinen Mann als möglichen Rezipienten seiner Werke angesprochen. Zwar halten sich auch bei Zeiller noch auf weiten Strecken die moralisierende Auswertung von Exempelhäufungen (vor allem aus antiken und modernen Geschichtswerken, darunter vielen deutschsprachigen Chroniken entnommen) und die praezeptorale Funktionalisierung des Erzählmaterials, doch gegenüber der gelegentlichen Anlehnung an die Zehn Gebote dominiert die Grobgliederung nach topologischen Feldern in Bezugnahme auf wissenschaftliche Disziplinen oder die Themenbereiche des Hausbuchs. Es fehlt die begrifflichanalytische Durchdringung – etwa in der Art von Zwingers Theatrum vitae humanae42 – ebenso wie die didaktisch-katechetische Aufbereitung und Selektion der Zitatkonglomerationen. Grundsätzlich ist die Grenze vom moraldidaktischen Paradigma zum curiosen Faktum dort überschritten, wo, wie nicht selten bei Zeiller zu beobachten, die angeführten Mirabilia und Memorabilia nur noch einem sentimental-emotionalen Interesse (Verwundern, Mitleid) antworten oder zur bloßen Nachricht werden. Weite Teile des Exzerptmaterials werden zur Datensammlung und entziehen sich handlungstheoretischer Abstraktion (Tugend-Laster-Schemata). Diesem Befund entspricht auch die Tatsache, dass »Wunderzeichen« und Merkwürdigkeiten nur noch selten auf spekulative Sinn41 42

Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 9). Zuschrift des VIII. Teils, Nachdr. 1969, S. 9. Zu Zwinger (von mir hier ausgespart) hervorragend Carlos Gilly: Zwischen Erfahrung und Spekulation. Theodor Zwinger und die religiöse und kulturelle Krise seiner Zeit. In: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 77 (1977), S. 57–137; 79 (1979), S. 125– 223, ferner Zedelmaier 1992 (wie Anm. 22), S. 176–179, 228–241 und passim, sowie JanDirk Müller: Universalbibliothek und Gedächtnis. Aporien frühneuzeitlicher Wissenskodifikation bei Conrad Gessner (Mit einem Ausblick auf Antonio Possevino, Theodor Zwinger und Johann Fischart). In: Erkennen und Erinnern in Kunst und Literatur [...]. In Verbindung mit Wolfgang Frühwald. Hg. v. Dietmar Peil u. a. Tübingen 1998, S. 285–309.

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zusammenhänge verweisen. Zeillers Leistung ist jedoch nicht an mancherlei buntscheckigem Zitatengeröll zu bemessen, vielmehr zeigen sich Absicht, Zweck, Gebrauchswert und Vermittlungscharakter seiner Werke vor allem im Vordringen der aus der akademischen Kommentationspraxis stammenden Quaestionenform. Vielfach verleihen erst sie den Allegationen den übergeordneten topologischen Gesichtspunkt. Einzelne Lemmata vieler Episteln wie auch späterer Kompendien insgesamt wollen Fragen beantworten. Diese betreffen den Gesamtbereich von res und verba, im letzteren Fall – symptomatisch für den Adressatenkreis – auch die propädeutisch-eisagogische Erläuterung politischer und akademischer Terminologie. Signifikanter als diese Informationsebene ist das Offenlegen von Meinungen und Ansichten zu Fragen vor allem der Lebensführung und gesellschaftlichen Ordnung (nach dem Schema: »Was von ... zu halten sei«). Zeiller und sein Publikum stellen sich der Tatsache, dass offenbar in vielen Fällen der Religion und Politik autoritative Antworten nicht mehr überzeugen und dass empirische Erfahrung bzw. konkurrierende Informationen verschiedene Urteile, Schlüsse und Begründungen zulassen. Die referierende Neutralität des Sammlers weist nicht nur auf einen methodischen Grundsatz, sondern lässt sich, trotz des Hinweises auf deklamatorische Unverbindlichkeit, verstehen als Resultat latenter Ordnungsschwierigkeiten: Zwar die Antwort/ auf die erwehnte Fragen/ vielleicht nicht allerseits Jedermann begnügen möchten: Wie dann in solchen Sachen/ die sich unterschiedlich erörtern lassen/ und übungsweise vorgegeben werden/ man nicht einen Richterlichen Ausspruch thut; auch etwas eine andere Antwort/ als vielleicht Einer in andern seinen Schrifften/ gegeben/ den Dingen mehrers nachzudencken: erfolget; so man sich nicht irren lassen solle; sonderlich/ weil der/ so diese Fragen/ mit ihrer Antwort also zusammen getragen/ sie nicht selber erdacht/ sondern/ wie vermelt/ aus anderer Leute Schrifften genommen/ und daher dieselben anzufechten seyn. Dann Er/ der Collector sich in solchen Streit nicht legen wird.43

Dem Zurücktreten umfassender Ordnungskategorien entspricht auch die auffällige Nivellierung von Gegenstandsbereichen. So wird z.B. unter dem Titel »Schöpfung« nicht nur eine Reihe von theologischen und kosmologischen Fragen abgehandelt, sondern – im Blick auf den Menschen und sein Elend – auch das Problemarsenal trivialer Alltagswirklichkeit (Zahnweh, Zipperlein, Podagra, Traurigkeit usw.). Vor allem die Episteln bemühen sich häufig – wie auch immer schematisch – um eine Verknüpfung des Zitatmaterials mit den individuellen Lebenswirklichkeiten gedachter Adressaten: eines Mannes, der aufs Land ziehen will (Ep. VIII), der schlechte Erfahrungen bei Hof macht (Ep. VI), der sich der »Poeterei« oder der Alchemie ergeben will (Ep. XCIV bzw. IX), der an Melancholie laboriert (Ep. II) oder graue Haare bekommt (Ep. XVII), auch einer Frau, die mit »Hauskreuz« zu kämpfen hat (Ep. IV). Geschichte wird hier für den sonst kaum ernstgenommenen privaten Bereich fruchtbar gemacht. 43

Aus der Vorrede zu: Centuria Variarum Quaestionum; für weitere Belege zu den hier zusammengefassten Thesen verweise ich auf meinen bereits genannten Aufsatz Kühlmann 1985 (wie Anm. 3).

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Exempel verlängern erfahrene Lebenspraxis, freilich noch kaum mit dem Ziel einer kritischen Revision. Die tendenzielle Abblendung von übergeordneten Sinnzusammenhängen, der Gestus »unvorgreifflicher« Registrierung trägt Züge der Resignation gegenüber der nicht mehr zu systematisierenden Wirklichkeit. Der hilflose Empirismus Zeillers markiert die zeitgenössische rapide Ausweitung des Wissens, zugleich aber die Tatsache, dass die topologische Methode humanistischen Zuschnitts in Aporien mündet, die erst in der Frühaufklärung überwunden werden. Die unermüdliche Registrierung von »multiplizierter Fremderfahrung« (Kosellek) heterogener Art gehört dabei zweifellos zu einer stadtbürgerlicharchivalischen Mentalität.44 In den Kollektaneen organisiert sich eine Wendung zur Geschichte, die den eher engen Bezirk stadtbürgerlicher Chronistik überschreitet und zur Welterfahrung wird, im Hinblick auf die gleichbleibende Menschennatur jeder Applikation offen. Zeiller publizierte, was, wie die handschriftlichen Nachlässe oberdeutscher Bibliotheken belegen, andernorts nur für den privaten Gebrauch gesammelt wurde.45 Stadtbürgerliche Traditionsgebundenheit, die in der fortschreitenden Entmächtigung und politischen Verunsicherung Vergangenheit zu konsultieren gewohnt war, reagierte in der Zwanglosigkeit des dogmatisch nicht vorbelasteten topologischen Verfahrens zugleich auf die Erfahrung des ›Neuen‹ in der Politik, den Wissenschaften, der Geographie und Naturkunde vor allem. Die Notation erwächst nicht selten aus dem historischen Vergleich oder zielt auf diesen hin, den Vergleich, in dem der Wandel der Verhältnisse und Verhaltensweisen registriert wird. Dabei stößt das Bestreben, Neues in der Vergangenheit zu analogisieren, dort an eine Grenze, wo – zumal durch Autopsie beglaubigt – Unerhörtes sich der Einordnung entzieht: so vermerkt Zeiller z.B. ratlos eine neue Art der Hinrichtung, das Füsilieren durch ein Erschießungskommando (»solches hab ich am ersten zu Lintz Anno 1623 gesehen« – Ep. XX, S. 59). Der singuläre Fall versagt sich dem Konsultationsmechanismus und markiert genau die ambivalente Faszination, die in der gleichzeitigen Suche nach geschichtlicher Präzedenz und erregter Rezeption der Novitäten besteht. Die Stadt als Zentrum des Presse- und Zeitungswesens, als Sammelbecken aktueller Nachrichten, steht so im Hintergrund von Zeillers Erkenntnis, die er 44

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Dazu Erich Kleinschmidt: Stadt und Literatur in der Frühen Neuzeit. Voraussetzungen und Entfaltung im südwestdeutschen, elsässischen und schweizerischen Städteraum. Köln 1982 (Literatur und Leben N. F 22), bes. S. 150ff.; ferner Leonhard Lenk: Augsburger Bürgertum im Späthumanismus und Frühbarock (1580–1700). Augsburg 1968 (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 17), bes. S. 184ff. Der oben erwähnte Brief des Rittershusius an Camerarius im Vorspann der dritten Centurie interpretiert die Publikation des privaten Collectaneen-Archivs als Akt gemeinnütziger Großzügigkeit: »Neque vero [...] sibi soli per invidiam quandam reservat (ut multi), sed cum aliis liberaliter communicat: itaque praestat & efficit, ut ad aliorum commoda, nec magno ipsorum labore, & exiguo sumtu parabilia permanent, ac proferantur ea, quae ipsi magno labore ac sumtu, constiterunt«.

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im Hinblick auf andauernde philosophische Kontroversen (Kopernikanisches Weltbild, Aristoteliker gegen Ramisten) und auf die Überwindung eingewurzelter Irrtümer (Päpstin Johanna, Einhorn, Schwanengesang) formuliert (aus der Vorrede zu: Miscellanea, S. 10f.): Dann jmmer etwas neues erfunden; auch alte Sachen besser/ und deutlicher erkläret. Zweiffelhaftige aber/ aber mit mehrern Gründen erörtert werden [...] Und was dergleichen Fragen mehr seyn; auch sonsten im gemeinen Leben/ in allerley Ständen sich zuträgt/ da stäts neue/ und wunderliche Fäll sich begeben/ davon man zu disputiren hat; und hierauß erscheinet/ daß man nie auslehrnen kan/ sondern jmmer etwas mehrers zu erfahren/ zu lehrnen/ und sonderlich in der Historia (quae longè latèque sese propagans infinita res, & quae humani Ingenii vim excedit) auffzuzeichnen hat. Und kommen auch sonsten stätigs neue Schrifften herfür.

Die Anerkennung eines prinzipiell offenen, als Herausforderung verstandenen Wissenshorizontes enthält die Anerkennung des Zweifels als erfahrungsadäquater Welthaltung und präludiert der anthropologisch reflektierten Aufwertung des Kuriosen als Gegenstand eines legitimen Affektes (so bei Christian Weise) und der Anerkennung des von Zeiller gern zitierten aristotelischen Satzes von der natürlichen Wissbegierde des Menschen. Zeillers Anerkennung des Neuen reagiert auf die Zwänge einer Informationsflut, die ohne privaten oder öffentlichen Schaden nicht mehr missachtet werden kann. Überdies erweist sich das Publikum der Episteln offensichtlich auch als das der Avisen und Zeitungen. An diesen sich zu orientieren wird nicht mehr verstanden als missliebige Abweichung von der Konzentration auf eigene Berufs- und Standespflichten. Indem der Zeitungen »Lust und Nutz« (Stieler) verteidigt wird, kommt es zu einer Apologie »curioser« Welthaltung aus Gründen der Lebenspraxis, zur Rechtfertigung eines »Prudentismus«, der informationsbedürftigen »Vorsicht« (hier »Vorsehung«) auch des »gemeinen Mannes«. Die verwirrende Koexistenz des Alten und Neuen fordert die Urteilsfähigkeit des einzelnen Menschen heraus. Dies gilt auch für die Vermittlung von Geschichte, deren Wahrheit fraglich geworden ist. Deshalb fordert Zeiller seine Leser auch in längeren Rezensionen von Geschichtsbüchern zu einer kritischen Lesung der Historiker auf. Die Aufnahme des Neuen, der Appell an die Urteilskompetenz des Publikums, der Hinweis auf die Korrektur autoritativer Überlieferung, die Veröffentlichung sonst nur akademisch-esoterischer Kontroversen – all dies darf als protoaufklärerische Intention verstanden werden. Indem Zeiller seine Schriften durch häufige Nachträge zu früheren Episteln oder Werken stets auf dem neuesten Stand der Literatur zu halten bemüht ist, öffnet sich die antiquarische Polyhistorie dem zeitgenössischen Journalismus. Zeiller, der sich stolz als Bürger von Ulm unterschrieb, bestimmte sein Werk als Dienst am »Vaterland«, durchaus verstanden im Blick auf den stadtbürgerlichen Lebenskreis. Dementsprechend widmet er sein Augenmerk auch Fragen der Wirtschaft und des Handels – etwa im Hinblick auf die ökonomischen Erfolge der Holländer – und scheut sich nicht, den Wert der Arbeit, auch der Handarbeit, herauszustellen. Dass der Mensch im Schweiß des Angesichts sein Brot verdienen solle, wird genauso

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expliziert wie das latente Unbehagen an der sich verfestigenden patrizischaristokratischen Regiments- und Lebensführung. Grundsätzlich gilt, dass Faktenvermittlung und Erörterungswert, nicht aber ästhetische Geschlossenheit, formale Brillianz oder ästhetischer (etwa erzählerischer) Anspruch Eigenart, Beliebtheit und Verbreitung der Zeillerschen Kompendien bestimmten. Allzu leicht wird vergessen, dass der Werktypus, den er vertritt (eben den der »Buntschriftstellerei«), in der frühen Neuzeit nicht diskreditiert war. Wenn Zeiller überdies manche seiner Episteln als Zusammenfassung von Tischgesprächen konstruiert, erinnert an die benachbarte Gattung der »colloquia« und »sermones convivales«, deren lateinische und deutsche Ausprägung noch weitgehend unerforscht ist, und die sich in Anlage und Themenkreis ebenfalls am Typus des »discursus historico-politicus« orientieren, d.h. die Fragen der »philosophia practica« in den Mittelpunkt stellen. Bedarfsgerechte Titel markieren hier zwar den publizistischen Gruppencharakter, geben jedoch wenig Auskunft über die jeweiligen Kollektions- und Anordnungsprinzipien einschlägiger Werke – wie etwa: – von Johann Werner Gebhart (Pseudonym: s. u.): Fürstliche Tischreden, Frankfurt 1598, auf Bitten des Verlegers bearbeitet und auf zwei Teile erweitert von dem bekannten Bibliographen Georg Draudius (Frankfurt bzw. Basel mindestens 1614, 1620, 1622, 1626, 1641, 1642, 1645, 1720);46 – von Johannes Lassenius (1636–1692): Adeliche Tisch-Reden. Nürnberg 1661;47 – im katholischen Bereich in lateinischer Form von Matthaeus Tympius: Mensae Theophilosophicae. Pars prima-Pars altera. Münster/W. 1629;48 46 47

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Von mir benutzt die Ausgaben von 1598 und 1620; die anderen Erscheinungsdaten nach bibliographischen Recherchen, nicht also durch Autopsie gesichert. Eine Lebensskizze und eine Werkbibliographie dieses literarisch fruchtbaren, zuletzt in Kopenhagen wirkenden Geistlichen bei Dünnhaupt (wie Anm. 8), Bd./Tl. IV, S. 2479– 2511, hier spez. Nr. 13; Hinweise zum Inhalt bei Kühlmann 1982 (wie Anm. 9), S. 348, sowie Philip M. Mitchell: Johann Lassenius und seine ›Tisch-Reden‹. In: Virtus und Fortuna. Zur Deutschen Literatur zwischen 1400 und 1720. Festschrift für Hans-Gert Roloff zum 50. Geburtstag. Hg. v. Joseph P. Strelka und Jörg Jungmayr. Bern usw. 1983, S. 544– 556. Vgl. zu Tympius den Artikel von Guillaume van Gemert. In: Killy/Kühlmann (wie Anm. 13), Bd. 11 (2011), S. 652f., sowie ders.: Die Werke des Aegidius Albertinus (1560–1620). Ein Beitrag zur Erforschung des deutschsprachigen Schrifttums der katholischen Reformbewegung in Bayern um 1620 und seiner Quellen. Amsterdam 1979 (Sonderband in der Reihe: Geistliche Literatur der Barockzeit). Tympius’ Werk signiert das Bestreben vor allem auf katholischer Seite, der eher säkularen Konversationsliteratur geistliche Alternativen an die Seite zu stellen (etwa von Jacob Pontanus S.J.: dazu Barbara Bauer: Jacob Pontanus SJ, ein oberdeutscher Lipsius. Ein Augsburger Schulmann zwischen italienischer Renaissancegelehrsamkeit und jesuitischer Dichtungstradition. In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 47 (1984), S. 77–120); dies zu verfolgen wäre ein eigenes, sehr weitläufiges Thema; Zugänge zur katholischen Kompilationspublizistik bietet vor allem das Werk des Münchener Schriftstellers Aegidius Albertinus, bestens erschlossen durch die meisterliche Monographie von van Gemert (1979).

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– oder von Gaspar Ens (1569 – mindestens 1642; dem ungeheuer fruchtbaren, auch unter mehreren Pseudonymen schreibenden Kölner Journalisten, Kompilator, Fach und Berufsschriftsteller): Apparatus Convivialis. Köln 1615.49 Bei näherer Sicht lässt sich erkennen, dass diese Sparte der Buntschriftstellerei nicht nur einen im Titel erkennbaren Publikationstypus ausbildete, sondern sich auch nicht selten in Handbüchern in Form längerer Inserate verbarg, in Handbüchern, die vor allem dem modernen Politicus Grundfragen des situationsgerechten Verhaltens wie auch die zeitgenössischen Diskussion um Herrschaftspraktiken des Fürstenstaates im Horizont auch der sozialen Konflikte und mentalen Verschiebungen nahebringen sollten. Angesichts dieses modernen Zielpublikums ist es kein Wunder, dass sich unter den einschlägigen Autoren nicht nur Geistliche und Gelehrte in ihrem literarischen Nebenberuf fanden, sondern auch prominente Juristen und hochgestellte Beamte. Unter dem Namen des erwähnten Johann Werner Gebhart verbarg sich kein Geringerer als der pfälzische Oberrat und Hofrichter (seit 1593) Hippolytus a Collibus/ Ippolito de‘ Colli (1561–1612)50 aus italienischem Exulantengeschlecht, vorher Syndicus und Rechtsprofessor in Basel, und was er im Rahmen des »discursus-historicopoliticus« mitzuteilen und in historischen Allegationen zu beleuchten hatte, 49

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Zu Ens, dem Prototyp des keinesfalls erst im 18. Jahrhundert auftretenden »freien«, d. h. für einen offenen Markt produzierenden Berufsschriftstellers, siehe vorerst den Artikel von Wilhelm Kühlmann: Ens, Caspar. In: Killy/Kühlmann (wie Anm. 13), Bd. 3 (2008), S. 285f.; Achtung: Alle älteren Personalartikel (die Jöcher ausschreiben) sind unbrauchbar, weil die Person verwechselt wird und die Pseudonyme teilweise nicht erkannt sind. Beim Apparatus Convivialis, in Ens’ Oeuvre von ähnlichen Werken flankiert (darunter einer deutschen Übersetzung von Lodovico Guicciardinis L’Hore di recreatione. Köln 1622), handelt es sich um eine kompilatorische Erzähl-, Schwank- und Apophthegmensammlung, durchsetzt mit Kapiteln einer eher antiquarischen Wissensdarbietung. Die Druck- und Publikationsgeschichte dieser offenbar gern gekauften Werke (eine Bio-Bibliographie bereite ich seit mehr als zehn Jahren vor) ist sehr kompliziert: immer neue, teils umgearbeitete Auflagen, dabei ältere Werke in neue Reihen unter teilweise veränderten Titeln bzw. Untertiteln zusammengestellt. Zu Colli, auch zu den Tischreden, siehe Klaus Conermann: Hippolytus a Collibus. Zur Ars politica et aulica im Heidelberger Gelehrtenkreis. In: Europäische Hofkultur im 16. und 17. Jahrhundert [...]. Bd. 3. Hg. v. August Buck u. a. Hamburg 1981 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 8–10), S. 693–700; ergänzend Bruno Singer: Die Fürstenspiegel in Deutschland im Zeitalter des Humanismus und der Reformation. München 1981 (mit druckgeschichtlicher Bibliographie von Collis Princeps, zuerst 1593), S. 133–136; zu Colli siehe Wilhelm Kühlmann. In: Killy/Kühlmann (wie Anm. 13), Bd. 2 (2008), S. 464f. Einzuarbeiten wären die Daten der amtlichen Tätigkeit (dazu etwa Volker Press: Calvinismus und Territorialstaat. Regierung und Zentralbehörden der Kurpfalz 1559–1619. Stuttgart 1970 (Kieler Historische Studien 7), passim; siehe Register) sowie eine Fülle von literarischen Zeugnissen nicht nur aus seiner Feder, sondern auch – gerade im pfälzischen Gelehrtenmilieu – von Kasualpoemen und dgl., die an ihn gerichtet sind. – Draudius betätigte sich meinen Notizen nach nicht nur als Fortsetzer der Tischreden von Colli, sondern auch als Fortsetzer der Dies caniculares (Köln 1608) von Simone Maiolus (bin dem nicht weiter nachgegangen).

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präsentiert sich als eine dem Fürsten- und Regimentsspiegel nahestehende Essaysammlung mit antikisierendem oder rinascimentalem Kolorit, zugleich aber mit aktuellen Referenzen auf die Ermordung Heinrichs IV. von Frankreich oder die Hinrichtung der Maria Stuart – Akzente, die in der Bearbeitung und Fortsetzung durch den protestantischen Pfarrer Georg Draudius zugunsten moralischer Praezepte verlorengingen. Gerade an Werken solchen Zuschnitts wird wie schon im Fall Zeillers klar, welche publizistische Lücken gerade die historisch-politische Buntschriftstellerei im fluktuierendem, viele literarische Kanäle benutzenden Wissenstransfer ausfüllte. Sie überwand in ihrem Bildungs-, Informations- und Unterhaltungsanspruch den Abstand zur akademischen oder gar enzyklopädischen Systematik der voluminösen Handbücher, erweiterte und aktualisierte ohne methodische Skrupel den Problemkanon und trug dazu bei, dass sich bald auch in deutscher Sprache eine literarische Öffentlichkeit herstellte, die das Gespräch über Probleme einschloss, die im Erfahrungskonsens als relevant betrachtet wurden und so auch topologisch aufzubereiten waren. Im offenen oder latenten Aktualitätsbezug besonders des Textsektors der politisch-historischen Diskurse ist auch ein markanter Unterschied zu Teilen der eher antiquarisch-philologischen Polymathie, demgemäß auch zu Vorformen der antiken Buntschriftstellerei zu sehen. Beide Spielarten dieses Schrifttums, die eher antiquarisch-kuriose wie auch die eher problemorientierte, vor allem politisch-historische Ausprägung, zielte nicht auf die einsame, die mühsam lernende und die fortlaufende Lektüre, sondern auf die rasche Konsultation, die Lektüreauswahl anhand der Register, die Nebenstunden-Unterhaltung und die Präparation für die Anforderungen eines mehr oder weniger anspruchsvollen Gesprächs im Horizont der durch andere Anleitungsliteratur gesteuerten Konversationskultur, mithin auf Lesebedürfnisse, Lesetechniken, Informations- und Verwendungsinteressen eines den gelehrten Elukubrationen sonst eher entfremdeten Publikums. In dieser Form hatte die Buntschriftstellerei (gerade um 1700 noch einmal in breiter Front und geradezu ›seriell‹ in Periodika aufblühend)51 noch eine Zukunft vor sich: auch in publika-

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Schlaglichter: In mindestens »18 Gängen« erschienen 1721–1722 von Poliander (Pseudonym): Analecta historico-litterario-curiosa. Oder vermischte und gesammelte Anmerkungen aus der Historie Litteratur, und curiousen Wissenschaften welche als anmuthige und zeitkürzende Quellen publiciret werden. – In Augsburg erschienen von 1695 bis 1700 in mindestens zwölf Teilen/Lieferungen die Nutzliche und Sehr Gelehrte Zeitvertreibung (deutsche Fassung der Trattenimenti eruditi) des Giovanni Stefano Menochio, gefolgt von einem darauf bezogenen separaten Gesamtregister (Augsburg 1708). – Zeitungsähnlich etwa im Wochenrhythmus erscheinend: Dethlev Clüver: Nova Crisis temporum, oder Curiöser Philosophischer Zeit-Vertreiber. Hamburg 1700–1703; später von Clüver unter anderem Titel fortgesetzt. – Aus der Feder eines gewissen Paulus Ludolphus Berckenmeyer erschien 1738 zu Hamburg in sechster Auflage ein Neuvermehrter Curieuser Antiqarius: das ist Allerhand auserlesene Geographische und Historische Merckwürdigkeiten [...]; 8. Auflage 1746, die Fortsetzung 1752 (u.ö.): Erstdruck der Erstfassung wohl Hamburg 1708; – in drei Bänden auch ins Französische

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Wilhelm Kühlmann

tionstypologischen Übergängen zum Rezensionsschrifttum (unter Einschluss der sog. Büchergespräche von Christian Thomasius z. B.).52 Dabei hat es den Anschein, dass gegen Ende des 17. Jahrhundert das etho-politische Themenspektrum allmählich zugunsten realkundlicher, vor allem geographischhistorischer und naturwissenschaftlicher Informationen zurückgedrängt wurde. Dies in einem noch weithin unwegsamen kulturwissenschaftlichen Gelände zu erkunden bleibt ebenso eine Zukunftsaufgabe wie die Einwirkungen neuer wissenschaftlicher Paradigmen (Kritik des Polyhistorismus)53 und die Neugliederungen eines allmählich breiter gefächerten Journalismus54 im einzelnen zu beleuchten.

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übersetzt (Leiden 1729). Wer nach den Wissensquellen der bürgerlichen Normalleser fragt, hat derlei Werke zu studieren; die betreffenden Register ersetzten einstweilen die alphabetische Enzyklopädie! Zum Stand der Thomasius-Forschung mit neuen Untersuchungen nun der Sammelband von Friedrich Vollhardt (Hg.): Christian Thomasius (1655–1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung. Tübingen 1997 (Frühe Neuzeit 37), sowie spez. zu Formen der literarischen Kritik – auch im Übergang zur »Buntschriftstellerei« – Herbert Jaumann: Critica. Untersuchungen zur Geschichte der Literaturkritik zwischen Quintilian und Thomasius. Leiden 1995 (Brill’s Studies in Intellectual History 62), bes. S. 289–303. Neben Kühlmann 1982 (wie Anm. 9) viel zitiert der Aufsatz von Wiedemann (wie Anm. 15); sich die satirische Verabschiedung des Polyhistorismus allzu leicht zu eigen zu machen liegt ja nahe, angesichts der genrespezifischen Einschüchterung und der Lesemühen, führt aber unweigerlich dazu, große Bereiche der deutschen, ja der europäischen Literatur ins Dunkel problematischer Lächerlichkeit zu rücken. Zu kompilatorischen Verfahren, auch zur eklektischen Distribution und Popularisierung von Wissen in den Periodika, aber auch den Lexika des 18. Jahrhunderts siehe Martin Gierl: Kompilation und die Produktion von Wissen im 18. Jahrhundert. In: Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Helmut Zedelmaier und Martin Mulsow. Tübingen 2001 (Frühe Neuzeit 64), S. 63–94.

Paul Michel

Das Vergnügen von Hund, Jungfer, Ochs und Storch Von der Dienlichkeit der ›Buntschriftstellerei‹

»Lists of miscellaneous information should be avoided. Please relocate any relevant information into appropriate sections or articles«. (Wikipedia Guideline) »Es ist nicht möglich, dass der göttliche Strahl in uns hereinleuchte, es sei denn durch die Buntheit der heiligen Umhüllungen [...] verdeckt und in väterlicher Fürsorge unseren Verhältnissen naturgemäß angepasst«. (Dionysius Areopagita: Himmlische Hierarchie, I, 2)

Die intendierten Funktionen der buntschriftstellerischen Texte können (a) aufgrund ihrer Paratexte1 rekonstruiert werden, d.h.: (oft metaphorische)2 Titel, Titelblätter (vgl. die Bibliographie), Frontispizien, Vorreden, metasprachliche Passagen, Registerhilfen. Funktionen werden (b) auch erkennbar in Reflexen der Texte, die sie rezipieren oder erwähnen: autobiographischen Notizen, Dichtungen, Predigten usw. 1

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Gérard Genette: Paratexte. Frankfurt a. M. 1989; Vgl. Helga Unger: Vorreden deutscher Sachliteratur des Mittelalters als Ausdruck literarischen Bewusstseins. In: Werk – Typ – Situation. Studien zu poetologischen Bedingungen in der älteren deutschen Literatur. Hugo Kuhn zum 60. Geburtstag. Hg. v. Ingeborg Glier. Stuttgart 1969, S. 215–251; Bärbel Schwitzgebel: Noch nicht genug der Vorrede. Zur Vorrede volkssprachiger Sammlungen von Exempeln, Fabeln, Sprichwörtern und Schwänken des 16. Jahrhunderts. Tübingen 1996 (Frühe Neuzeit 28). Ich nenne einige in bunter Reihenfolge: Teppiche, Stickereien, Schimpf und Ernst, Wendunmut, Silva, Promptuarium, Schau-Platz, Gemisch Gemasch, Welt-Spiegel, Amphitéâtre, Confect-Taffel, Schatz-Cammer, Gemüths-Ergetzligkeiten, Schau-Bühne, Acerra, Piazza universale, Florilegium, Unlust Vertreiber, Hundstägige Erquickstund, Denckwürdige Curiositäten, Philosophischer Feyerabend, Zufällige Andachten, Magazin, Schatzkästlein [...]. Bereits Aulus Gellius nennt in seiner »Praefatio« 30 Büchertitel von Buntschriftstellern; Flemming Schock, Ariane Koller, Oswald Bauer und metaphorik.de (Hgg.): Dimensionen der Theatrum-Metapher in der Frühen Neuzeit. Ordnung und Repräsentation von Wissen. Hannover 2008 [http://www.metaphorik.de/14/].

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Paul Michel

Diese auf Quellenstudien basierende Untersuchung beruht auf Stichproben. Insofern als die Aussagen in Vorreden und dergleichen topisch sind, ist Vollständigkeit der Materialbasis auch nicht dringend notwendig. Die Materialien breite ich hier unsystematisch und ohne auf den sozialgeschichtlichen Kontext3 einzugehen aus. Die Frontispizien lasse ich außer Betracht.4 Aussagen zum Topos ›Historia magistra vitae‹ u.ä. habe ich wegen ihrer Allgemeinheit nicht berücksichtigt, ebenso Entschuldigungen der Verfasser und Herausstreichen der Notwendigkeit ihres Buchs angesichts der grassierenden Bücherflut, Beschwörung allfälliger Kritiker (Momos-Topos), und dergleichen. Naturgemäß findet man bei den (a) Buntschriftstellern, die ja für ihre Werke Reklame machen, mehr für unsere Fragestellung ergiebige Belegstellen als bei den (b) aufnehmenden Texten; denn ein Autor, der etwas auf sich hält, etwa ein Prediger, wird sich gerne mit Original-Zitaten z.B. antiker Autoren schmücken und dabei camouflieren, dass er diese aus einem Florileg bezogen hat.

Varietät als Abbild der Schöpfung Die lesenswerte Vorrede zu Mexías Sylva5 (Nürnberg 1669) argumentiert physikotheologisch:6 Unter so vielen Stücken/ um welcher willen dieses Weltgebäu ein Wunderbau heisen mag/ ist wohl das geringste nit/ daß solche eine herrliche Varietät darinnen sich befinde/ und so viel/ so unterschiedliche Geschöpfe zu sehen sind/ die wieder so viel und unterschiedliche Wirckungen haben/ daß man wohl sagen muß: GOtt selbst habe eine Special-Beliebung und Lust gehabt nicht an einerley; sondern an vielerley. Nun man aber wol fragen und suchen darf/ warum es GOtt also gemachet hätte/ liesse sich auch [...] sagen: Einmal sey den Augen damit gedienet/ die durch so viel hunderterley Farben-Schattirung/ recht erfrischet werden/ mit welchem diß und jenes Geschöpf begabet ist [...] daß man nur sagen kan/ was der Prediger Salomon sagt: Das Aug siehet sich nimmer satt im 1.c.8.v [...] Item: das muß ein grosser HERR seyn/ der sie gemacht hat/ so rund/ so bund/ daß je länger mans ansihet/ je immer was neues daran in acht nimmt [...]. Solche Er3

4 5

6

Hierzu grundlegend: Wilhelm Kühlmann: Lektüre für den Bürger: Eigenart und Vermittlungsfunktion der polyhistorischen Reihenwerke Martin Zeillers. In: Literatur und Volk im 17. Jahrhundert. Probleme populärer Kultur in Deutschland. Bd. 2. Hg. v. Wolfgang Brückner u. a. Wiesbaden 1985 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 13/14), S. 917–934. In der Ausgabe von Mexías Sylva bei Endter 1669 gibt es zum Frontispiz auch eine Kupffer-Tituls-Erklärung in 36 Alexandrinern. Petrus Mexía: Sylva variarum lectionum: Das ist: Historischer Geschicht-, Natur- und Wunder-Wald, allerhand merckwürdiger Erzehlungen, sonderbarer und seltzamer Begebenheiten, Auflösung unterschiedlicher, dunckler und subtiler Fragen [...]. Nürnberg 1669; dazu: Rosmarie Zeller: Wunderbares, Ingeniöses und Historien. Zu Pedro Mexías ›Geschicht- Natur- und Wunderwald‹. In: Simpliciana XXI (1999), S. 67–92. Paul Michel: Physikotheologie. Ursprünge, Leistung und Niedergang einer Denkform. Zürich 2008 (Neujahrsblatt auf das Jahr 2008. Hg. v. der Gelehrten Gesellschaft in Zürich).

Das Vergnügen von Hund, Jungfer, Ochs und Storch

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götzlichkeit ist dem Aug gemachet durch diese Wundervolle Varietät/ die GOtt in seinen sichtbaren Geschöpfen gefallen hat.7

So habe Gott auch vielerlei Speise geschaffen, damit es die Menschen nicht verdrießt wie die Israeliten in der Wüste. Die Anwendung auf den Bereich des Verstandes: Um den Verdruss des Erkenntnisvermögens zu vermeiden, habe Gott auch »unterscheidliche Objecta und Dinge«8 dem menschlichen Geist zur Erforschung vorgestellt, und wenn der Mensch »dahinder kommen wäre/ eine rechte Vergnüglichkeit in seinem herzen haben möge/ eine rechte Freude/ daß er wissen sollen/ wie GOTT ein und anderes gemacht«.9 So dient die Vielfalt der Exempla dem Leser zum Nutzen.10 Dass die kreatürliche und historische Welt gänzlich durchwaltet ist von Gottes Vorsehung und sich mithin der Fromme bei der Wahl eines zu exegesierenden Geschöpfs, Artefakts oder Ereignisses auf den Zufall verlassen kann, wird bei Christian Scriver zum Prinzip der ›Andacht bei Gelegenheit‹ und findet seinen Niederschlag in der wahllosen Darbietung von Gotholds »Zufälligen Andachten«.11

Herleitung aus der menschlichen Sprachbegabung Eine seltsame Begründung der Vielfalt liefert Erasmus Francisci in der Vorrede seiner Lustigen Schau-Bühne von allerhand Curiositäten12 (1663): Der Mensch habe in seinem Mund keinen Knochen, die Zunge sei beweglich; die Anatomie gibt den allegorischen Vergleichspunkt ab:

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Mexía (wie Anm. 5), Vorrede, unpag. Weil Vorreden in der Regel nicht paginiert, aber überschaubar sind, werden in diesem Aufsatz keine Seitenzahlen angegeben. Mexía (wie Anm. 5), Vorrede, unpag. Ebd. Kollege Stefan Sonderegger (Postkarte aus Straubing, 20.4.2010) macht mich aufmerksam auf Eph 3,10 (meist übersetzt als:) »damit jetzt kundwerde die vielgestaltige Weisheit Gottes« (πολυποκιλος σοφα το θεο); in der gotischen Bibel: »so filu-faiho handugei gudis«, wobei got. »faihs«, ahd. »fêh« wurzelverwandt ist mit gr. »poikílos« (bunt). Christian Scriver: Gottholds Zufällige Andachten/ Bey Betrachtung mancherley Dinge der Kunst und Natur in unterschiednen Veranlassungen Zur Ehre Gottes/ Besserung deß Gemüths/ und Ubung der Gottseligkeit geschöpffet/ Auffgefasset und entworffen [...]/ von M. Christian Scriver/ Pfarrern bey der S. Jacobs-Kirch in der Alten Stadt Magdeburg [...] auch jetzo von neuen übersehen/ [...] verbessert/ mit dem vierdten Hundert vermehret/ und zum andern mahl außgefertiget. Leipzig 1671 [1663 waren die ersten Zweihundert erschienen]. Erasmus Francisci: Die lustige Schau-Bühne von allerhand Curiositäten: darauf viel nachdenckliche Sachen, sonderbare Erfindungen, merckwürdige Geschichte, Sinn- und Lehr-reiche discursen, auch zuweilen anmuthige Schertz Reden und Erzählungen, fürgestellet werden Bey freundlicher Sprachhaltung aufgerichtet und erbauet, amtlichen vertrauten guten Freunden: und beschrieben durch E. F. Samt beygefügten Register. Nürnberg 1663.

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Paul Michel Im freundlichen Conversiren ist die Bewegung der Zunge nicht einerley, sondern den Sachen/ Personen und Zeiten nach/ unterschieden. Denn sie tröstet die Traurigen; warnet die Sichern; leistet den Frölichen Gesellschafft/ und verdoppelt ihre Freuden: ist also gleichsam ein spielendes musicalisches Kunst-Uhr/ das zwar mancherley Thöne gibt/ und durch alle Clavier menschlicher Affecten geschicklich zu lauffen weiß; jedoch aber allemal/ von einem Künstler/ nemlich einem aufrichtigen Gemüth gestimmet wird. Ein solches ZungenInstrument spielten die Alten in ihren Gelagen [...].13

Erkenntnisgewinn des Unsystematischen Rudolph Huber entwickelt in der Zuschrift zu seinem Florilegium Historicum (1665) ausführlich die Garten- und Pflanzenmetaphorik, die er auf sein Werk bezieht.14 Er lädt die Leser ein, in sein Buch einzutreten, wenn die wirklichen Gärten ihre Anmuth und Zierde verlohren [haben] oder bei Hitze und Regenwetter. Es ist dieser mein Historischer Lust- und Blumen-Garten/ in viel Absätz und Bettlein/ in underschiedliche Titel und Lehrsätze von allerhand Materien auß- und eingetheilet/ und mit Historischen Blumen/ schönen Reden/ und anmuthigen Gleichnussen ausgezieret: Das Ihr also/ ohne verdruß/ in demselben mit Ewren gedanken herumspazieren könnet. Findet Ihr in und bej einem oder dem andern Garten-Bettlein/ Titel und Lehrsaz/ nicht Ewer genügen und ergezung/ so müst Ihr Eüch da nicht lang mit verdruß aufhalten/ Ihr könnet Ewren Fuß alsobald weiters sezen: Bej dem folgenden werdet Ihr etwann antreffen/ was Ihr bej dem vorgehenden nicht gefunden.

Johann Friedrich Justin Bertuch rechtfertigt in seinem Bilderbuch für Kinder15 (1792/1830) die unsystematische Darbietung des Stoffs mit pädagogischen Gründen: 8) Es muß, bey aller anscheinenden Regellosigkeit der Anordnung, dennoch eine gewisse versteckte Ordnung in der Folge der Gegenstände darinn herrschen, welche der Lehrer alsdann, wenn das Kind reifer wird, benutzen, und es dadurch auf ein systematisches Arrangement führen kann. [...] Dass die Kupfer ohne alles anscheinende System und Ordnung mit möglichster Abwechslung und Mannigfaltigkeit, und so wie sie die Natur in der Welt selbst gewöhnlich dem Auge darbietet, auf einander folgen, ist durchaus nöthig. Ein Kind, das so bald über einerley Gegenstände ermüdet, Minuten-schnell in seinen Vergnügungen wechselt, äusserst lebhaft ist, immer was neues und anderes sehen will, kann unmöglich eine systematische Folge von vielen Platten mit einerley oder sich doch sehr ähnlichen Ge13

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Ebd., Vorrede, unpag. Evtl. eine Anspielung auf die Deipnon-Literatur; vgl. den einschlägigen Artikel von Josef Martin in: Reallexikon für Antike und Christentum. Bd. 3 (1957), Sp. 658–666. Vgl. Randall L. Anderson: Metaphors of the Book as Garden in the English Renaissance. In: The Yearbook of English Studies. Vol. 33: Medieval and Early Modern Miscellanies and Anthologies (2003), S. 248–261. Johann Friedrich Justin Bertuch: Bilderbuch für Kinder: enthaltend eine angenehme Sammlung von Thieren, Pflanzen, Blumen, Früchten, Mineralien, Trachten und allerhand andern unterrichtenden Gegenständen aus dem Reiche der Natur, der Künste und Wissenschaften [...]. Weimar 1792.

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genständen, z. E. lauter Fische, Vögel, Insecten, menschliche Trachten u.s.w. aushalten, ohne zu ermüden und das Vergnügen verliehren. Daher habe ich die krellste und bunteste Mischung der Gegenstände gemacht, und bitte nur immer, wenn man mich desshalb tadeln wollte, zu bedenken, dass ich es mit Kindern zu thun habe, die ich blos amüsiren will.16

Bertuch bietet aber eine Registerhilfe, wo »die mit einander verwandten Gegenstände [...] unter Suiten gebracht sind«.17 Ein praktizierender Polemiker gegen alles Systemhafte ist Montaigne – den man in gewisser Weise auch unter die Buntschriftsteller einreihen darf und der aus Miszellen- und Florilegienliteratur schöpfte.18 In seinen Essais (1580) hat er das in der damaligen Schulrhetorik dozierte Prinzip einer exakten Komposition preisgegeben, was seine Auffassung der Veränderlichkeit der Welt und der Erkenntnis der Welt spiegelt. »Mes fantasies se suyvent, mais par fois c’est de loing, et se regardent, mais d’une veue oblique (III,9). J’ayme l’alleure poetique, à sauts et à gambades«19 (›herumhüpfen‹ a.a.O.) Die »bigarrure« (etwa: ›Buntheit‹) der Themen entspricht der Methode des Offenlassens aller endgültigen Aussagen und des stets möglichen Perspektivenwechsels des Beobachters. Freilich erhebt sich Montaigne weit über die gewöhnlichen Buntschriftsteller, insofern als sein Schreiben der Konstruktion seines Ich dient.

Wer vielen etwas bringt … Die Buntheit soll es ermöglichen, verschiedene Leserschaften zu bedienen.20 Gotthard Heidegger setzt als Motto aufs Titelblatt: In eodem prato bos herbam quærit, canis leporem, ciconia lacertam (Auf derselben Wiese sucht das Vieh Gras, der Hund den Hasen, der Storch eine Eidechse; aus Seneca, ep. 108,29). Etwas abgeändert finden wir den Topos wieder in der Vorrede zu Paullinis Philosophischen Lust-Stunden21 (Zweyter Theil 1707): Ich sagte ehemals aus dem Seneca, ein Buch gemahnet mich recht wie eine Wiese/ worauff der Hund/ Jungfer/ Ochs und Storch seyn Vergnügen suchet und auch findet. Also wirst du

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Ebd., Vorwort zum ersten Band, unpag. Ebd. Hugo Friedrich: Montaigne. Bern 1949; Kapitel VIII. Montaigne: Œuvres complètes, textes établis par Albert Thibaudet et Maurice Rat. Paris 1962 (Bibliothèque de la Pléiade 14), S. 973. »Wer vielen etwas bringt, wird manchem etwas bringen« sagt bekanntlich der Theaterdirektor im Vorspiel zu Goethes Faust I. Christian Franz Paullini: Philosophischer Lust-Stunden, Oder/ Allerhand schöner, anmutiger, rarer, so nützlich- als erbaulicher, Politischer, Physicalischer, Historischer, u. d. Geistund Weltlicher Curiositäten. Zweyter Theil/ Männiglich zur beliebigen Ergetzung wohlmeinend mitgetheilt [...]. Frankfurt a. M., Leipzig 1707.

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Paul Michel hoffentlich auch etwas finden/ daß dein Verlangen sättigen könne. Nimm was dir anständig ist.22

Erasmus Francisci fasst den Gedanken in Anlehnung an seine Titelmetapher Acerra23 (›Rauchfass‹; 1673) in der »Vorbegrüßung des freundtlichen Lesers« so: »Der Eine reucht gern Rosen; der Andre lieber Lilien; der dritte Näglein; der vierdte weiß nicht was. Mich begnügt/ wenn dieser historische Weihrauch auch/ wo nicht Allen/ welches ohne das gar schwer fällt/ doch nur Etlichen angenehm ist«.24 Jacob Daniel Ernst textet im »Vor-Bericht an den Leser« seine Titelmetapher Confect-Taffel25 (1681) aus: Wie auff einer Confect-Taffel mancherley Kunst-Arten/ so an Gestalt/ Geschmack/ Farbe und Bild-Werck unterschieden/ auffgesetzet werden/ damit der jenige/ dem dieses nicht beliebet/ zu den andern greiffen könne; Also zeige auch diese Papierne mancherley und unterschiedliche Fälle/ theil sind süsse und anmuthig/ theils auch etwas bitter und säuerlich/ etliche schwartz/ etliche weiß/ andere roth/ Himmelfarbig/ und dergleichen/ das ist: die Erzehlungen/ so darauff zu befinden/ sind bald lustig/ bald traurig/ bald blutig/ bald friedlich/ bald geist= bald weltlich. Wie bey einer Confecttafel nicht nur solche Schaalen auffgesetzet werden/ so der Zunge schmeicheln/ sondern auch mit Behutsemkeit genossen/ der Gesundheit dienen; Also wird mein geliebter Leser allhier beydes/ geziemende Lust/ und auch sonderbaren Nutzen finden.26

Eberhard Werner Happel schreibt in der Vorrede der Relationes Curiosæ27 (1683): Wann wir aber gnugsahm erkennen/ die grosse Verschiedenheit der menschlichen Gemüther/ welche nicht alle an einem oder vielmehr einerley Dinge/ ihre Vergnügung finden/ als werden wir uns bemühen/ in unsern Relationen von den grösten Denckwürdigkeiten der ganzten Welt/ jedesmahl verschiedene Sorten von Materien einzuführen/ nehmlich bald Physicalische/ oder natürliche/ bald Historische/ bald Mathematische oder Künstliche/ bald einige Wunder-Gebäue verschiedener Nationen/ bald andere annehmliche Dinge/ daß es nicht anders seyn kan/ der Leser wird an einem oder andern/ worzu nehmlich sein Gemüth geneigt/ ziemliches Vergnügen schöpffen.28

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Ebd., Vorrede, unpag. Erasmus Francisci: Acerra Exoticorum: Oder Historisches Rauchfaß: Darinnen Mancherley fremde Fälle und Geschichte/ nebens andern Erzehlungen/ als etlicher Kunst- und NaturWunder/ so wol als anderer anmercklicher Sachen außheimischer Völcker an Weihrauchs statt gestreuet [...]. Anderer Theil. Frankfurt a. M. 1673. Ebd., »Vorbegrüßung des freundtlichen Lesers«, unpag. Jacob Daniel Ernst: Die Neu-zugerichtete Historische Confect-Taffel/ Worauff in einhundert anmuthigen Schaalen, viel und mancherley außerlesene, sehr denckwürdige, und meistentheils neue Trauer- Lust- und Lehr-Geschichte also auffgesetzet worden [...]. [hier verwendete Ausgabe:] Altenburg 1681. Ebd., »Vor-Bericht an den Leser«, unpag. Eberhard Werner Happel: E. G. Happelii gröste Denckwürdigkeiten dieser Welt: Oder so genannte Relationes curiosæ. Worinn dargestellet, und Nach dem Probier-Stein der Vernunfft examiniret werden/ die vornehmsten Physicalische/ Mathematische/ Historische und andere merckwürdige Seltzahmkeiten [...]. Der erste Theil. Hamburg 1683. Ebd., Vorrede, unpag.

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Melancoliam darmit zuo vertreiben Dass die buntschriftstellerischen Werke dem Zeitvertreib, der Ergetzung, dienen, ist trivial; sie versprechen auf Titeln gerne Lust und Nutz-reiche ZeitKürtzung (Francisci) oder vortheilhafftigen Abbruch verdrießlicher Langweil (Paullini). Erasmus Francisci würde sich »glückselig schätzen/ wenn es [das Buch] dem Leser seinen Umut/ als wie man durch Weihrauch einen bösen Gestanck vertreibt/ benehmen/ oder auffs wenigste lindern wird«.29 – Johannes Pauli ist Psychologe genug um zu wissen, dass man nicht stetsfort gestreng ernst bleiben kann. In der Vorrede seines Schimpf und Ernst30 (1522) schreibt er: Und ist dis Bůch getaufft und im der Nam uffgesetzt Schimpff und Ernst. Wan vil schimpfflicher, kurtzweiliger und lecherlicher Exempel darin sein, damit die geistlichen Kinder in den beschloßnen Klöstern etwa zů lesen haben, darin sie zů Zeiten iren Geist mögen erlüstigen und růwen, wan man nit alwegen in einer Strenckeit bleiben mag, und auch die uff den Schlössern und Bergen wonen und geil sein, erschrockenliche und ernstliche Ding finden, davon sie gebessert werden, auch das die Predicanten Exempel haben, die schlefferlichen Menschen zů erwecken und lüstig zů hören machen, auch das sie Osterspil haben zů Ostern [...].31

Gravierender ist die Funktion der Lektüre lustiger Sachen als Therapie gegen Melancholie.32 Im Widmungsschreiben seines Wendunmuth33 (1562) formuliert Hans Wilhelm Kirchhof: Item solche gleichnus und fabeln [...] seyn auch nutz und nottwendig einem der mit vielen geschefften, schweren, ja auch bisweilen unntzen gedancken, zorn und trawrigkeit, beladen, gleich wie seinem unwillenden magen ein guote und seltzame speiß, also sein gemüt [...] erquicken und zurecht bringen.34

Die Absicht erhellt sich auch aus folgenden Titeln: Hundstägige Erquickstund: Das ist/ Schöne/ Lustige Moralische und Historische Discurß und Abbildungen: Von wunderbahrlichen geheimen und offnen Sachen/ der Natur/ und Verlauff der jetzigen Welt/ und Zustand deß Römischen Reichs/ und anderer Königreichen; Das schwäre Gemüht der Menschen zuerfrischen/ die Melancholeyen zuvertreiben/ und in

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Francisci 1673 (wie Anm. 23), Vorrede, unpag. Johannes Pauli: Schimpf und Ernst (Erstdruck 1522). Hg. v. Hermann Oesterley. Bd. 1: Text. Stuttgart 1866 (Bibliothek des litterarischen Vereins 85); Bd. 2: Fortsetzer und Erläuterungen, 1924. Ebd., Vorrede, unpag. Vgl. Heinz-Günter Schmitz: Physiologie des Scherzes, Bedeutung und Rechtfertigung der Ars Iocandi im 16. Jahrhundert. Hildesheim 1972 (Deutsche Volksbücher in Faksimiledrucken Reihe B 2). Hans Wilhelm Kirchhof: Wendvnmuth: Darinnen fünffhundert vnd fünfftzig höflicher, züchtiger vnd lustiger Historien, Schimpffreden, vnd Gleichnüssen begriffen vnd gezogen seyn auß alten vnd jetzigen Scribenten [...]. Frankfurt a. M. 1563. Moderne Ausgabe: Hans Wilhelm Kirchhof, Wendunmuth, Hg. v. Hermann Oesterley, 5 Teile. Stuttgart 1869 (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart Bd. 95–99). Ebd., unpag.

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Paul Michel Weltweisen Sachen/ sonderlich/ das Regiment betreffend/ zuunterrichten. Darinnen Neben Erzehlung wunderbaren/ geheimen/ natürlichen und unnatürlichen Händeln/ Historien und Bedencken: Auch sonderlich/ die grosse Verenderung und Metamorphosis deß Teutschen/ und anderer Königreichen/ als in einer Idea vor Augen gestellet wird. Franckfurt 1650. Ergötzlicher Aber Lehr- Ehr- und Sittsammer/ auch von allerhand Unsauberkeiten/ und überlästigen Infamien rein bewahrter Burger-Lust. Bestehend in sehr lustigen Begebenheiten/ wol possierlichen Historien/ gar schimpfflichen Gesprächen und Erzehlungen: Mit vielen merckwürdigen Sprüchen/ new üblichen Gedichten/ scharpffsinnigen/ artigen Schertzfragen und Antworten/ etc. In drey Theil abgetheilt. Dediciert Allen eines Melancholischen/ langweiligen/ und unfrölichen Gemüts behafften/ wie dann auch den Aderläßneren/ Podagränischen/ oder auff was weiß sie Patienten/ ihre Zeit hierdurch zuverkürtzen etc. 1664. Exilium Melancholiae, Das ist Unlust Vertreiber: Oder Zwey Tausend Lehrreiche/ scharffsinnige/ kluge Sprüche/ geschwinde Außschläg/ artige Hofreden/ denckwürdige Schertz/ Fragen/ antworten/ Gleichnussen/ vnd was dem allem gleich förmig/ sonsten Apophtegmata genannt. Dabey schöne kurtze/ lustige Historien/ Exempel [...] Auß Ludovici Caron Frantzösischem tractat, La Chasse Ennuy [...]; Alles vnter gewisse Titul der Materien/ nach Ordnung deß Alphabeths gebracht [...] Straßburg 1669 [Louis Garon (1574–1635), Chasse-ennuy erschien 1628–1631; die dt. Übersetzung wird Christoph Lehmann zugeschrieben]. Hilarius Salustius [?]: Melancholini wohl-aufgeraumter Weeg-Gefärth/ Vorbringend Lächerliche/ anbey kluge Fabeln/ nutzliche Fragen/ denckwürdige Geschichten/ wundersame Würckungen der Natur/ auch ersprießliche Sitten-Lehren. Allen mit der Miltz-Kranckheit und Unmuth beladenen Scorbuticis, zur nutzlichen Ergötzung ans Taglicht gegeben [ohne Ort] 1717.

›Edutainment‹ Beim Wort Acerra handelt es sich um einen metaphorischen Buchtitel; das Wort bedeutet ›Kästchen, worin der Weihrauch aufbehalten wird‹. Gotthard Heidegger erläutert im Vorbericht die Metapher und liefert damit einen Hinweis für den Gebrauch des Buches: Es sei im Altertum Brauch gewesen, zur Mahlzeit den Gästen mit anmutigen Gerüchen aufzuwarten. Das dazu verwendete Rauchwerk hat man »in einem Trühlein/ oder in einer Schale und Gefäß, das man ACERRA nannte« vorgesetzt. Wenn der Leser sein Gemüt (im normalen Schulunterricht) mit solider Nahrung gesättigt habe, so wird ihm in diesem Buch »gleich als zu einer unschuldigen Kurtzweil und ergetzlichem Rauchwerk auch die Philologische Studia, ich wil sagen eine etwelche Wissenschaft der heydnischen Antiquitæten/ Fablen/ Geschichten/ Spitzfündigkeiten/ Irrthümern/ Disputationen etc. aufgesetzet«.35 35

Gotthard Heidegger: Acerra philologica nova, repurgata, aucta, das ist, Sieben Hundert merckwürdige Historien und Discursen: Theils auss den vorigen Editionen der so genannten Acerra philol. und ihren Zusätzen aussgelesen, verbessert, mit vilfältigen Anmerckungen bereichert [...]. Zürich 1708.

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Aufgrund des Titels der Laurembergschen Sammlung würden wir so ein Unternehmen heute als ›Edutainment‹ bezeichnen; da heißt es programmatisch: Nützliche/ lustige und denckwürdige/ Historien und Discursen/ Aus den berühmtesten Griechischen und Lateinischen Scribenten zusammen getragen [...] Allen Liebhabern der Historien zur Ergetzung/ insonderheit der studierenden Jugend zu mercklicher Ubung und Wissenschafft beförderlich. Die berühmte Stelle »Omne tulit punctum, qui miscuit utile dulci«36 erörtert hinsichtlich der beiden Komponenten Belustigung und Nutzbarkeit, die für sich genommen unerquicklich sind, umständlich in seiner Vorrede Adam Weber (1676).37 Eberhard Werner Happel möchte den »curieusen«38 Liebhaber nicht nur unterhalten. In den Relationes Curiosæ (1683) heißt es: Im übrigen versichere ich mir auch/ daß mancher subtiler Kopff/ wann er die mannichfaltigen Materien dieser Relationen ansichtig wird/ Anlaß und Gelegenheit nehmen wird/ seinen Verstand über diesen oder jenen Discurs und Abhandlung [...] ferner zu exerciren.39

Konversations-Stoffe Buntschriftsteller speisen die Konversation.40 So heißt es in einem Ratgeber für junge Adlige (Julius Bernhard von Rohr, Einleitung zur CeremonielWissenschafft):41

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Horaz: Ars Poetica 343. Johann Adam Weber: Hundert Quellen der von allerhand Materien handlenden Unterredungs-Kunst/ darinnen so wol nützlich-curiose als nachdenckliche und zu des Lesers sonderbarer Belustigung gereichende Exempeln enthalten/ Anfangs in lateinischer Sprache verfertiget von Johanne Adamo Webero [...] anitzo aber ins Teutsche übersetzet [...] von J.C.B. [d. i. Johann Christoph Beer, 1638–1712]. Nürnberg 1676. curieus hier: ›begierig, etwas Neues zu hören und erforschen‹. Happel 1683 (wie Anm. 27), Vorrede, unpag. Siehe: Burghart Wachinger: Convivium fabulosum, Erzählen bei Tisch im 15. und 16. Jahrhundert, besonders in der »Mensa philosophica« und bei Erasmus und Luther. In: Kleinere Erzählformen des 15. und 16. Jahrhunderts. Hg. v. Walter Haug und Burghart Wachinger. Tübingen 1993 (Fortuna vitrea 8), S. 256–286; Rüdiger Schnell (Hg.): Konversationskultur in der Vormoderne, Geschlechter im geselligen Gespräch. Köln 2008; Peter von Moos beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit der Verwendung von Dicta, Exempla, Anekdoten, Bonmots, Fazetien in Dialogen, Disputationen und in der Konversation der Vormoderne; auf die aufschlussreichen Aufsätze dieses ›projet de longue haleine‹ sei pauschal verweisen. Julius Bernhard von Rohr: Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschafft der Privat-Personen: Welche Die allgemeinen Regeln, die bey der Mode, den Titulaturen, dem Range, den Complimens, den Geberden, und bey Höfen überhaupt, als auch bey den geistl. Handlungen, in der Conversation, bey der Correspondenz, bey Visiten, Assembleen, Spielen, Umgang mit Dames, Gastereyen, Divertissemens, Ausmeublirung der Zimmer, Kleidung, Equipage u.s.w.; Insonderheit von einem jungen teutschen Cavalier in Obacht zu nehmen,

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Paul Michel Da er [sc. der junge Hof-Mann] weiß, daß ein nothwendig Stück eines Hof-Manns sey, einen vernünfftigen und manierlichen Discours zu führen, um sich bey der Herrschafft, bey den Dames, bey den Ministres, und allenthalben gefällig zu erweisen, so befleißiget er sich solcher Erzehlungen, Curiositæten und Merckwürdigkeiten, die entweder neu, oder doch sonst anmuthig und sonderbahr sind. Zu dem Ende unterhält er, daferne es seine Umstände erstatten wollten, einige Correspondence, er lieset unterschiedene in der teutschen oder ausländischen Sprache geschriebene Memoires, Journalen, Reisebeschreibungen, Poesien, u.s.w. damit er bey Gelegenheit in seiner Conversation eines und das andere mit anbringen kan, und nicht nöthig habe, bloß von Hunden, von Pferden, neuen Moden, l’hombreSpielen zu reden, oder sich über andre Leute aufzuhalten, oder über einen und andern Punct, so er in den Zeitungen gelesen, einige abgeschmackte Glossen zu machen. Es wäre eine gar nützliche Arbeit, wenn Hofmeister und Väter [...] junge Leute von Jugend auf anführten, daß sie aus der Acerra Philologica, oder einem anderen historischen Buch eine etwas weitläuffige Geschichte in guter Ordnung und ohne Anstoß her erzehlen lernten.42

Montesquieu fingiert in seinen Lettres Persanes (1721) ein belauschtes Gespräch zweier Höflinge zum Thema der Konversation, in dem der Gedanke aufkommt, man müsse Bücher kaufen, die ganze Sammlungen von Bonmots enthalten, welche zum rechten Gebrauch für diejenigen gemacht sind, welche keinen Geist haben, aber solchen vortäuschen wollen. Harsdörffer stellt seine Ars Apophthegmatica, das ist: Kunstquellen denckwürdiger Lehrsprüche und ergötzlicher Hofreden43 (1655) in den Dienst der Konversation. Er widmet sein Buch dem »Hoch-Wolgeborenen Chr. Carl von Schlippenbach« und begründet seine Zueignung in der »Zuschrifft« damit, dass dieser ein Freund guter »Hofreden« sei. Er vergleicht sein Buch mit Salzquellen; er bringt etliche Schriftstellen zur Bedeutung des Salzes in der Rede bei: Kol 4,6: »Euer Wort sei allezeit in Gnade, mit Salz gewürzt, um zu wissen, wie ihr jedem einzelnen antworten sollt« und Markus 9,50: »Habt Salz in euch selbst und seid in Frieden untereinander«.44 Mit Salz gewürzte Reden schicken sich insbesondere für Tischgespräche. In § 8 zitiert er dann Bacon, wonach Apophthegmata die Äxte und Schwerter der Wörter seien, deren Schärfe die Knoten der Dinge (»rerum et negotiorum«) durchschneide. Johann Adam Weber publiziert 1676 Hundert Quellen [...] der Unterredungskunst. In der Vorrede schreibt er:

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vorträgt, Einige Fehler entdecket und verbessert, und sie hin und wieder mit einigen moralischen und historischen Anmerckungen begleitet. Berlin 1728. – I. Theil, 8. Capitul = S. 232f.; ders. im Kapitel Von der Conversation II, 2 = S. 288. Ebd., Vorrede, unpag. Georg Philipp Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, Das ist: Kunstquellen denckwürdiger Lehrsprüche und ergötzlicher Hofreden, wie solche nachsinnig zu suchen [...] in Drey Tausend Exempeln, aus Hebräischen, Syrischen, Arabischen, Persischen, Griechischen, Lateinischen [...] Scribenten angewiesen und mit Dreissig Schertz-Schreiben als einer besonderen Beylage vermehret/ durch Quirinum Pegeum. Nürnberg 1662 [Reprint hg. u. eingel. v. Georg Braungart] Frankfurt a. M. 1990 (Texte der Frühen Neuzeit 2). Ebd., »Zuschrifft«, unpag.

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Ohne grosse Kunst lehre ich in diesem Buch eine grosse Kunst/ indem ich [...] den Leser durch einen kurtzen und lieblichen Weeg curioser Exemplen führe/ und ihme die leichte und übliche Art und Weise zeige/ wie er von einem jeden Dinge anmuthige und den gelehrten Ohren höchstgefällige Unterredungen anstellen möge/ indem selbst die Curiosität der Exempel dieser Kunst eine Geneigtheit zu wegen bringet.45

Und der Übersetzer doppelt in seiner »Erinnerung an den günstigen Leser« nach: Hundert Quellen werden ihme/ Günstiger Leser/ gezeiget/ woraus er die hochpreißliche Unterredungs-Kunst mit gar leichter Mühe schöpfen/ sein Gedächtniß damit stärcken/ u. seine Seele trefflich auspoliren kan. Schlimm stehet es ja wahrhafftig in Conversationen (wozu doch der Mensch als ein geselliges Thier/ wie er von dem Aristotele genennt wird/ geboren worden) als ein Stummer zu sitzen/und wann andere/ vermittels kluger Unterredungen/ eine Kunst nach der andern aus dem Gedächtnüß durch den Mund hervorquellen lassen/ nichts vorzubringen wissen.46

Gotthard Heidegger sieht den Nutzen der Acerra ebenfalls so: »daraus mancher ein wenig discurriren lehrnen kan/ damit er nicht als ein Stein auf Stein/ oder Holtz auf Holtz/ in den Conversationen sitzen müsse«.47 Werke von Buntschriftstellern dienen in ›Debattier-Klubs‹ dazu, Themen zu finden. Ein hübsches Beispiel findet sich just in der Stadt Zürich. Hier gab es das »Kollegium der Wohlgesinnten«, eine frühaufklärerische Sozietät, ein herrschaftsfreier Raum, in dem man verschiedene Dinge diskutierte.48 Da wurde am 15. Februar 1698 unter anderem darüber diskutiert, »Ob Christus an der hochzeit zu Cana daß wasser in weißen oder rothen wein verwandlet habe«.49 Das tönt originell, entspringt aber der Acerra: Was für Wein Christus aus Wasser gemachet/ zu Cana auf der Hochzeit? – Daß es rother/ und nicht weisser Wein gewesen/ könte man aus vielen Gründen beweisen. Zwar habe ich niemals bey keinem davon etwas gelesen/ wil doch anzeigen/ was mir hierüber wol für diesem eingefallen?50

Das Konversationslexikon des 19. Jahrhunderts übernimmt dann diese Aufgabe: Um in der Gesellschaft mitreden zu können bedarf der Mann von gutem Ton dringend zweier Werke: ein Fremdwörterbuch und ein gutes Conversationslexikon. Freilich ist die Anschaffung etwas theuer. [...] Sobald irgend ein neues Schlagwort oder Citat auf der BildFläche der Tagesunterhaltung auftaucht, sei es durch eine große politische Rede, durch den Titel eines neuen Theaterstücks, durch eine sensationelle Erfindung oder originelle Mode, suche man alsbald in obigem Werke Klarheit zu schaffen, was jene Worte oder Bezeich-

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Weber (wie Anm. 37), Vorrede, unpag. Ebd. Heidegger 1708 (wie Anm. 35), Vorbericht, unpag. Michael Kempe, Thomas Maissen: Die Collegia der Insulaner, Vertraulichen und Wohlgesinnten in Zürich 1679–1709. Zürich 2002. Ebd., S. 385. Heidegger 1708 (wie Anm. 35), S. 68.

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Paul Michel nung bedeuten und woher sie stammen, damit man, in Gesellschaft darüber befragt, die Antwort in Bereitschaft habe.51

Dass diese Praxis auch tatsächlich ausgeübt wurde, zeigt die Bemerkung des Hans Freiherrn von Campenhausen: »Meine Frau hat mir nachträglich gestanden, daß sie sich oft in einem Konversationslexikon ›präpariert‹ habe, um für die Unterhaltung mit mir ›passende‹ Themen zu finden«.52

Lesestoffe für Kinder Buntschriftsteller sind in bürgerlichen Familien die ersten Lesestoffe für Kinder. Karl Philipp Moritz schreibt im Anton Reiser (1785): Nun aber bekam er selbst mit Bewilligung des Herrn von F[leischbein] ein Buch in die Hand, das ihn wieder in eine ganz andre und neue Welt führte. Es war die Acerra philologica. Hier las er nun die Geschichte von Troja, vom Ulysses, von der Circe, vom Tartarus und Elysium und war sehr bald mit allen Göttern und Göttinnen des Heidentums bekannt. Bald darauf gab man ihm auch den Telemach ebenfalls mit Bewilligung des Herrn von F[leischbein] zu lesen, viel leicht weil der Verfasser desselben, Herr von Fénelon, mit der Madam Guion Umgang hatte. Die Acerra philologica war ihm zur Lektüre des Telemach eine schöne Vorbereitung gewesen, weil er dadurch mit der Götterlehre ziemlich bekannt geworden war und sich schon für die meisten Helden interessierte, die er im Telemach wiederfand.53

Goethe schreibt in Dichtung und Wahrheit, 1. Teil, Buch 1: Man hatte zu der Zeit noch keine Bibliotheken für Kinder veranstaltet. Die Alten hatten selbst noch kindliche Gesinnungen und fanden es bequem, ihre eigene Bildung der Nachkommenschaft mitzuteilen. Außer dem »Orbis pictus« des Amos Comenius kam uns kein Buch dieser Art in die Hände; aber die große Foliobibel, mit Kupfern von Merian, ward häufig von uns durchblättert, Gottfrieds »Chronik«, mit Kupfern desselben Meisters, belehrte uns von den merkwürdigsten Fällen der Weltgeschichte; die »Acerra philologica« tat noch allerlei Fabeln, Mythologien und Seltsamkeiten hinzu; und da ich gar bald die Ovidschen »Verwandlungen« gewahr wurde und besonders die ersten Bücher fleißig studierte, so war mein junges Gehirn schnell genug mit einer Masse von Bildern und Begebenheiten, von bedeutenden und wunderbaren Gestalten und Ereignissen angefüllt, und ich konnte niemals lange Weile haben, indem ich mich immerfort beschäftigte, diesen Erwerb zu verarbeiten, zu wiederholen, wieder hervorzubringen.54

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»Lehrbuch der guten Lebensart« vom Jahre 1888; zitiert bei Angelika Linke: Sprachkultur und Bürgertum. Zur Mentalitätsgeschichte des 19. Jahrhunderts. Stuttgart 1996, S. 202. Ruth Slenczka (Hg.): Die ›Murren‹ des Hans Freiherr von Campenhausen – Erinnerungen, dicht wie ein Schneegestöber. II. Jugend 1919–1922. Books on Demand GmbH 2005, S. 62. Karl Philipp Moritz: »Anton Reiser« (1785). Ausgabe von Wolfgang Martens. Stuttgart 1972 (Reclams Universalbibliothek 4813), S. 26. Johann Wolfgang von Goethe: Werke. Hamburger Ausgabe. Band IX (1955), S. 35.

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Gute Schriften Ein vehementer Gegner der sittenverderbenden Romane war Gotthard Heidegger (vgl. seine Mythoscopia Romantica).55 In der Acerra möchte er bessere Lesestoffe anbieten. In der Vorrede heißt es: Ich lebe in der Hoffnung/ es werde weit nützlicher seyn/ daß unsre junge Leut/ Studiosi, Politici, geistreiches Frauenzimmer/ daß/ sage ich solche Leut (dann den Gelehrten schreibet man hier nichts/ sie wissen vorher alles besser:) an solchen Sachen ihren Zeitvertreib suchen/ als aber sich mit den geistlosen schädlichen Romans; oder Leffler Historien schleppen.56 [Löffler = verliebter Narr; sich mit etw. schleppen = liederlichen Umgang haben mit etw.]

Auch der Katholik Dominicus Wenz schreibt sein Lehrreiches Exempel-Buch57 (1757) gegen die sittenverderbende Literatur: Demnach wann ein Buch handlet von Liebs Händlen, (als da seynd die sogenannte Romans) wann darinn erzählt werden unzüchtige Possen; O wie begierig ist die Jugend darnach! wie schädlich ist ihr aber ein solches Buch? Wie manche unschuldige Seel ist schon dardurch verführt worden wo nicht gleich im Anfang, wenigst mit heranruckenden Jahren? Dann da melden sich nachgehends wiederum an jene Bildnussen, und Gestalten der LiebsHändlen, unzüchtiger Possen, so man vor diesem gelesen, und mithin in der Gedächtnuß zuruck geblieben: mit diesen aber wird die Einbildungs-Kraft angefüllt, die Sinnlichkeit bewegt, das Gemüth angefochten, und gleichsam angeflammet; also daß man jetzt erst lernet, was man vor diesem nicht besorget hat. Mithin suchet man durch die theils lehrreiche Fabeln, theils curieuse Begebenheiten den Schaden der Kinder der ihnen aus dem Lesen der Liebs-Büchern erwachsen könte, zu verhindern und abzuwenden.58

Die Abwehr dessen, was man später Schundliteratur nannte, ist noch im 18. Jahrhundert Aufgabe der Buntschriftstellerei. Bei Gottlieb Conrad Pfeffel (1736–1809) finden sich im Vorbericht zum Historischen Magazin für Verstand und Herz59 (Straßburg 1764, und weitere Auflagen) Sätze wie: [Das Magazin] liefert eine Reihe ausgesuchter Anekdoten, Züge von Tugenden und Lastern, witziger Einfälle und seltener Begebenheiten aus der älteren und neueren Geschichte aller Völker, welche die Aufmerksamkeit beider Geschlechter reizen, dieselben von der albernen und zum Theil gefährlichen Lectüre der Romane und Gespenstergeschichten abzie-

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Gotthard Heidegger: Mythoscopia Romantica: oder Discours von den so benannten Romans, Das ist/ Erdichteten Liebes- Helden- und Hirten-Geschichten: Von dero Uhrsprung/ Einrisse/ Verschiedenheit/ Nütz- oder Schädlichkeit: Samt Beantwortung aller Einwürffen/ und vilen besondern Historischen/ und anderen anmüthigen Remarques [...]. Zürich 1698. Heidegger 1708 (wie Anm. 35), Vorrede, unpag. Dominicus Wenz: Lehrreiches Exempel-Buch Das ist: Auserlesene von theils frommen, theils ungerathenen, theils gebesserten Kindern, nicht weniger, zur Marianischen Andacht bewegende, und andere merckwürdige Begebenheiten, sinnreiche Reden unterschiedlicher Personen, lehrreiche Fabeln, zur Aufmunterung Christ-Catholischer Jugend, wie auch denen Erwachsenen zu ihrer Seelen Heil, ein nutzlicher Zeitvertreib als ein Haus- und LesBuch. Augsburg 1757. Ebd., Vorrede, unpag. Gottlieb Conrad Pfeffel: Vorbericht zum Historischen Magazin für Verstand und Herz; mir war nur die 8. Auflage von 1823 zugänglich.

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Paul Michel hen und ihr Gedächtniß mit einer Anzahl wahrer Geschichten anfüllen. Eine Lectüre dieser Art bildet und verfeinert unmerklich den Geschmack, indem sie den Geist belustigt, sie gibt [...] den Eltern oder Lehrern Gelegenheit zu nützlichen Erklärungen, befördert dadurch das Studium der Geschichte, der Chronologie und der Geographie, und befestigt hauptsächlich in den herzen der zarten unverdorbenen Jugend den Grund von Sittlichkeit und allen gesellschaftlichen Tugenden durch die ausgesuchtesten Beyspiele der Vorwelt.60

Progymnasmata Um einen Vorrat an Synonymen, Redewendungen und Sentenzen zu häufen, empfahl Erasmus von Rotterdam in der Ratio (1518) dem Theologiestudenten, alles, was er lese, gleichsam in Nestern (velut in nidulos) zu sammeln.61 Angeregt worden ist Erasmus womöglich durch eine Stelle bei Quintilian (Inst. or. X, i, 5) wo es heißt, der Redner müsse sich feste Rücklagen und Stützen beschaffen, derer er sich bei Bedarf bedienen kann; und diese bestehen aus Sachkenntnissen und Worten: Eae constant copia rerum ac verborum. Erasmus’ Schrift De duplici copia rerum ac verborum (Paris 1512)62 führt die Methode vor. Im Rhetorikunterricht63 wurde zur Invention und bei der Amplifikation der Chrien64 Material gebraucht; namentlich der locus a comparatione, der locus ab exemplo, und der a testimonio basieren auf Kenntnissen von Fällen. Ich nehme an, dass man zu diesem Behufe im Unterricht buntschriftstellerische Sammlungen beigezogen hat. Während diese gerne ihren Nutzen für Redner herausstreichen, habe ich in den Rhetoriklehrbüchern (Christian Weise, Erdmann Uhse, Balthasar Kindermann) bislang keinen Reflex für einen solchen Rückgriff gefunden. Vielleicht stößt einmal jemand auf Schulordnungen, in denen Anweisungen zur Verwendung solcher Schriften stehen.

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Ebd., Vorbericht, unpag. Erasmus von Rotterdam: Ratio seu Methodus compendio perveniendi ad veram Theologiam. Übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Gerhard B. Winkler. Darmstadt 1967 (Erasmus, Ausgewählte Schriften. Hg. v. W. Welzig, Bd. 3), S. 452f. Erasmus: On Copia of Words and Ideas. Translated by Donald B. King and H. David Rix. Milwaukee 1963; Collected works of Erasmus (Bd. 24 des Gesamtwerkes): De copia, de ratione studii. Ed. by Craig R. Thompson. Toronto 1978 [mit engl. Übersetzung]; In dieser Tradition noch: Christoph Lehmann: Florilegium Politicum: Politischer Blumen Garten/ Darinn Außerlesene Sentenz/ Lehren/ Regulen und Sprüchwörter [...] in locos communes zusammen getragen. Lübeck 1639 [Reprint Bern: Peter Lang 1968]. Manfred Kraus: Progymnasmata, Gymnasmata. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 7. Hg. v. Gert Ueding (2005), Sp. 159–191. Chrie: Ausfaltung einer These und deren schematische Disposition im Schulaufsatz; vgl. Wilfried Barner: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen 1970, insbes. S. 285ff.

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Jacob Daniel Ernst beklagt in der Vorrede zum 4. Teil der Neu-auffgerichteten Schatz-Kammer65 (1704), dass in den kostspieligen grossen Theatra des »Laurentii Beyerlincks, Theodori Zwingeri und anderer dergleichen Scribenten kaum etwas zu finden sei; hat aber ein fleißiger Student sich selbst etwas rechtes zusammengetragen/ so kan er sich dessen/ allezeit nützlich bedienen«.66 Seine Sammlung unterstützt dieses Bemühen: Weil aber gute Excerpta sich zu colligiren/ ein Werck von grosser Mühe/ Fleiß/ Verstande/ Geschickligkeit und Bücher-vorrathe ist/ als habe ich derer jenigen Fleiß jederzeit gerühmet/ welche sichs nicht haben verdrießen lassen/ denen jungen Studiosis damit an die Hand zu gehen/ habe auch selbst mit meinen schlechten Schrifften [...] etwas beytragen wollen.67

Surrogat Die von den Buntschriftstellern dargebotenen Exzerpte dienen Leuten, die durch Berufsgeschäfte in Anspruch genommen sind, wenigstens den Vorwurf schimpflicher, roher Unwissenheit zurückzuweisen; (»[...] homines aliis iam vitae negotiis occupatos a turpi certe agrestique rerum atque verborum imperitia vindicarent«)68 schreibt schon Aulus Gellius (2. Jh. n. Chr.). Jacob Daniel Ernst schildert in der »Zuschrifft« seiner Neu zugerichteten Confect-Tafel (1681) ausführlich die adligen Lustbarkeiten, bei denen immer auch tödliche Unfälle passieren, was er mit vielen Beispielen belegt und dann zusammenfasst: »So findet man auch/ daß bey Balletten/ Lust-Täntzen/ Lantzenbrechen/ Rennspielen/ Panqueten/ Comödien/ und dergleichen andern fürstlichen Ergetzligkeiten/ grosse und vielfältige Gefahr mit eingeschlichen und auch viele die kurtze Lust mit dem Leben bezahlen müssen«.69 Nach vielen weiteren Exempeln bringt er dann den Turnaround: Nach meinem wenigen Erachten aber/ haben diejenigen Printzen sehr klug und weißlich gehandelt/ welche die Zeit/ so ihnen nach den Ubungen der Gottseligkeit und AmptsGeschäfften übrig gewesen/ führnehmlich auff die Lesung guter und nützlicher Historien gewendet/ und sich daraus/ sonder alle Gefahr/ Mühe und schwehre Uncosten/ einen solchen edlen Schatz gesamlet/ dessen Gebrauch ihnen/ und ihrem gantzen Lande/ zu großer Wohlfahrt und höchstem Auffnehmen gereichet.

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Jacob Daniel Ernst: Der neu-auffgerichteten Schatz-Kammer: welcher also eingerichtet dass die darinne in grosse Menge fürkommenden lieblichen Historien [...] Vierdter Theil. Altenburg 1704. Ebd., Vorrede, unpag. Ebd. Vorrede zu den Noctes Atticae, § 12. Ernst 1681 (wie Anm. 25), »Zuschrifft«, unpag.

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Paul Michel Ein Printz/ der in denen längst und neulichst verflossenen Geschichten sich wohl umbgesehen/ kan bey sich in seinem Zimmer haben einen heilsamen und unerschöpflichen Brunnqvell aller politischen Klugheit und Geschickligkeit. usw.70

Die Bescheidenheit verlangt zu sagen, dass Fürstl. Durchlaucht71 dergleichen Bücher nicht benötigt. In der Vorrede zum 2. Teil der Neuauffgerichteten Schatz-Kammer72 (1699) recommandiert Ernst den Kaiser Augustus, welcher nach Suetons Vita Exzerpte aus historischen Schriften machte. Weil aber nicht ein jedweder Zeit/ Gelegenheit/ Mittel/ wie auch Geschickligkeit hat/ solches für sich auszüführen/ als verdienen sich meines Erachtens/ diejenigen umb andere nicht wenig/ welche die Nützligkeiten/ so sie aus ihren Büchereyen mit sonderbaren fleiß gesamlet/ durch den öffentlichen Druck auch andern mittheilen.73

In der Vorrede zum Neu auffgerichteten Bilderhaus74 (1703) – selbst eine Anthologie von Stellen zum Lob der Büchergelehrsamkeit – schreibt Ernst: Weil aber unser Menschliches Leben in unterschiedlichen Ständen bestehet/ und nicht jedermannes Vermögen ist/ kostbare Autores an sich zu erkauffen/ viel weniger fremde Sprachen zu erlernen; So haben viel hochgelehrte Leute in unserm ruhmwürdigen Vaterlande/ sichs nicht verdriessen lassen/ dasjenige was bey ausländischen Scribenten gefunden/ ihren Lands-Leuten zum besten in Teutscher Zunge außzureden/ und sie durch solches Mittel ihrer verborgenen Ergetzlichkeit theilhafftig zu machen.75

Gelegentlich kommt die Idee auf, die Sammelwerke sollten auf die Quellen selbst hinführen. So schreibt Heidegger in der Vorrede zu seiner Acerra: »So ist auch zuhoffen/ es werde etwan einer oder andere/ der diese abgeleitete Brünnelein gekostet/ den Lust gewinnen sich an die Quellen selbst/ an die so herrliche Authores des scharffsinnigen Alterthums/ zumachen«.76

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Ebd. Wenn Christian II., Herzog zu Sachsen, Jülich, Cleve etc., 1653–1694 gemeint ist: Er war beim Erscheinen der Erstausgabe 24 Jahre alt. Jacob Daniel Ernst: Der Neu-auffgerichteten Schatz-Kammer/ Vieler hundert anmuthiger und sonderbahrer Erfindungen/ Gedancken und Erzehlungen Zweyter Theil [...]. Altenburg 1699. Ebd., Vorrede, unpag. Johann Daniel Ernst: Des Neu-aufgerichteten Historischen Bilderhauses Anderer Theil/ In dessen Zweyen Gemächern als dem Tugend- und Lust-Zimmer ein ansehnlicher Vorrath außerlesener Geschichte/ nachdencklicher Reden und Lob-blühender Thaten; Wie auch viel sonderbare Gebräuche/ Indianische Raritäten/ Europäische Schauwürdigkeiten/ und viele andere seltzame Fälle/ theils zu rühmlicher Nachfolge/ theils anmuthiger Verwunderung; theils zu geziemender Gemüths-Vergnügung fürgestellet werden. Aus fleißiger/ so wohl alter als neuer Geschicht-Schreiber Durchlesung erbauet; mit Beyfügung vieler Sinnreichen Erfindungen/ ersprießlicher Lehr-Sätze/ wie auch anmuthiger Schluß-reimen/ außgeziehret/ und denen Historien-liebenden Gemüthern/ nebenst einem außführlichen Register zu Lust und Nutz eröffnet [...]. Altenburg 1703. Ebd., Vorrede, unpag. Heidegger 1708 (wie Anm. 35), Vorrede, unpag.

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Material für Prediger Die Sammlungen liefern Predigern Stoff.77 Jacob Daniel Ernst schreibt in der Vorrede seiner Auserlesenen Denckwürdigkeiten78 (1693): Was mein Absehen diesem Wercke sey/ kan ein Verständiger leicht begreiffen. Ich ziehle fürnehmlich darauff/ wie eine ziemliche Anzahl Bieblischer Sprüche/ mit anmuthigen Gleichnüssen/ feinen Allegorien/ beweglichen Exempeln/ und dergleichen einem Prediger und andern Redner anständigen Sachen/ mögen beleuchtet werden. Woraus denn gute Erfindung/ bequeme Eingänge/ zierliche Amplificationes oder Erweiterungen/ erwachsen/ welches der kluge und fürsichtige Gebrauch gnugsam bestätigen wird.79

Johann Samuel Adami versteht sein Werk Misanders Theatrum Tragicum (1695) als Materiallieferung für Prediger, die seine Historien in einem Exordio, Predigt oder Abdankung brauchen können, vgl. im Titel: Von Priestern vornehmlich in und bey allerhand Fällen und Begebenheiten in ihrem Ampte, entweder in Exordiis, oder Abdanckungen gantz nützlich zu gebrauchen, massen sie einen grossen Vorrath hierinnen antreffen werden. Adami rechnet damit, dass die Prediger, angestoßen durch diese Geschichten, die Sache nach dem Prinzip Adde aliqvid de tuo weiter ausführen können. Er gibt einen schönen Einblick in die Exzerpiertechnik, wenn er vom Prediger berichtet, dass dieser »dasjenige/ was er lieset/ und ihm dünket/ sich etwan einmahl/ und auff begebenden Falle/ zu der oder jener Sache schicken und nöthig seyn möchte/ alsbald in seine locos communes eintragen oder sonst auff ein besonder Papier werffen werde«.80 (Er grenzt dieses rhetorische Verständnis der ›loci communes‹ ab vom theologischen im Sinne Melanchthons.) Er polemisiert gegen Prediger, die sich »mit einer superficial- oder proletarischen Wissenschaft begnügen: da werden die gemeinsten Dicta oder Sprüche zu Leich-Predigten genommen/ die man auswendig kan (z.B. die Kürze des menschlichen Lebens)«. Der gute Pre77

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Elfriede Moser-Rath: Predigtmärlein der Barockzeit. Exempel, Sage, Schwank und Fabel in geistlichen Quellen des oberdeutschen Raumes. Berlin 1964 (Fabula Supplement-Serie 5). Jacob Daniel Ernst: Auserlesene Denckwürdigkeiten, in Vierhundert Abtheilungen verfasset, Darinnen die, aus denen berühmtesten Scribenten [...] gezogene, Philologische, Historische, Ethische, Politische, Natür- und geistliche Sachen, fürgetragen, daß nicht nur viel herrliche Exempel, Sitten-Lehren und wohlersonnene Gleichnüsse, mit eingebracht, sondern auch die meisten zur Beleuchtung gewisser Biblischen Sprüche angewendet werden. Männiglich zur Erbauung, mit Nützlichen Registern und Einer kurtzen Anweisung über die Sonntäglichen Evangelia heraus gegeben. Leipzig 1693. Ebd., Vorrede, unpag. Johann Samuel Adami: Misanders Theatrum tragicum, oder Eröffnete Schau-Bühne allerhand sonder- und wunderbarer Trauer- und Todes-Fälle, die sich dann und wann, nahe und ferne, begeben haben und auff 369. Titul sich erstrecken, dabey iedem ein sonderbarer Eingang und Anhang gemachet und mit vielen Sinn-Bildern, Historien und Gleichnüssen ausgearbeitet worden. Von Priestern vornehmlich in und bey allerhand Fällen und Begebenheiten in ihrem Ampte, entweder in Exordiis, oder Abdanckungen gantz nützlich zu gebrauchen, massen sie einen grossen Vorrath hierinnen antreffen werden. Dresden 1695, Vorrede, unpag.

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diger hat eine »schöne panopliam, Rüst-Kammer oder Zeug-Haus«, woraus er sich bedienen kann. Im Besonderen beschränkt er sich auf einen Fall pro Todesart, auch wenn er – zum Beispiel für »im Bergwercke umbkommen« oder »vom Rohre oder Gewehre erschossen« – viele aufführen könnte. Adami sagt, es gebe zwar viele Bücher mit Abdankungen, doch enthielten diese auch gleich die »Applicationes«; seines zeichne sich dadurch aus, dass es nur die »Invention« liefere. Die Worte und Anwendung auf den konkreten Fall könne jeder selber machen. Es gibt Zeugnisse, in denen der Beizug von Florilegien für die Ausschmückung von Predigten kritisiert wird. So schreibt Georg Rollenhagen in der Vorrede zum Froschmeuseler: Vnd kompt itzt das seculum vnd zeit wider/ das man des Himlischen Manna auch vberdrüssig/ vnd nach Egyptischen zwibeln vnd knoblauch lüstern wil/ vnd fast keine Predigt hören/ keine Postill lesen wil/ die nicht aus dem Theatro vitæ humanæ [Theodor Zwinger], Promptuario exemplorum [Andreas Hondorff], vnd dergleichen stückwerk/ mit wunderlichen Historien/ visierlichen Fabulen/ und vnerhörten gleichnussen/ wie ein Betlermantel verpletzet ist.81

Selbstverständlich wären hier viele Predigthandbücher anzuführen.82

… und für Dichter Dichter des 17. Jahrhunderts bedienen sich der Stoffe der Buntschriftsteller, ein berühmtes Beispiel ist Grimmelshausen.83 Heinrich Anshelm von Zigler und 81

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Georg Rollenhagen: Froschmeuseler. Der Frösch und Meuse wunderbare Hoffhaltunge; Der frölichen und zur Weyßheit und Regimenten erzogenen Jugend, zur anmutigen, aber sehr nützlichen Lehr aus den alten Poeten und Reymdichtern, und insonderheit aus der Naturkündiger, von vieler zahmer und wilder Thiere Natur und eigenschafft, bericht; In dreyen Büchern auffs newe, mit fleiß beschrieben. 1595. Hg. v. Dietmar Peil. Frankfurt a. M. 1989, Vorrede, S. 24. – »Betlermantel« ist eine Übersetzung der lat. Bezeichnung ›cento‹ für aus vorgefundenen Textteilen zusammengeflickte Texte. Andreas Hondorff: Promptuarivm Exemplorvm. Historienn vnd Exempelbuch [...] Aus Heiliger Schrifft, unnd vielen andern [...] Schrifften gezogen [...] Durch Andream Hondorff. Zum Spiegel der warhafftigen christlichen Buß/ jedermenniglichen zu diesen letzten vnd gefehrlichen zeiten für die Augen gestelt. Leipzig 1568; weitere Drucke 1570 bis 1598 fast jährlich; zuletzt 1687. Vgl. Heidemarie Schade: Andreas Hondorffs »Promptuarium Exemplorum«. In: Volkserzählung und Reformation. Ein Handbuch zur Tradierung und Funktion von Erzählstoffen und Erzählliteratur im Protestantismus. Hg. v. Wolfgang Brückner. Berlin 1974, S. 647–703. Überdies: Antoine d’Averoult S.J.: Les Fleurs des exemples ou Catechisme historial. Douai 1603; lateinisch: Flores exemplorum, auctore Antonio Davroultio. Sive Catechismus historialis. 1614 u.ö.; deutsch: Historischer Catechismus Darinnen auserlesne Exempel, Historien und Wunderzaichen zu bestettigung deß wahren Catholischen Glaubens begryffen seynd. Auß heiliger Schrifft [...] erstlich durch [...] Antonivm Daverovltivm [...] zusammen gezogen vnd in Latein beschriben. Anjetzt [...] in die Teutsche Sprach vbersetzt. München 1629.

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Kliphausen hat als Stoffgrundlage für seine Asiatische Banise84 (Erstausgabe 1689) Werke des Erasmus Francisci benutzt.85 Schiller hat den Stoff zur Ballade Die Bürgschaft (1798) bei Lauremberg (I, 52) lesen können: Exempel einer wahren getreuen Freundschaft zwischen Damon und Pythias. Der Stoff zu Die Kraniche des Ibycus (1798) findet sich ebenfalls bei Lauremberg (II, 42). Überhaupt stößt man beim Schmökern (und das ist ja wohl der angebrachte Lese-Habitus) oft auf Motive der sog. Hoch-Literatur: etwa Das Marmorbild in Paullinis Lust-Stunden.86 Man würde noch mehr finden.

Umschlagplatz von Wissen Buntschriftsteller beziehen ihre Texte von überall her; seltsamerweise nennen viele ihre Quellen recht genau; dies nicht nur, um die Geschichten glaubwürdig zu machen, sondern auch aus Stolz über ihre Polymathie. Unter den Quellen sind selbst wieder ›bunte‹ Bücher, Florilegien, Enzyklopädien und dergleichen. Beispielsweise stellt Jacob Daniel Ernst in Ehrenholds zufällige Gedancken87 (1688) die zitierten Autoren auf 18 Oktav-Seiten im »Zweyten Register«88 zusammen. Auffällig ist die Menge an Verweisen aus »Laur. Beyerlinck« (19 Zitate),89 »G. Phil. Harsdorfferus« (11 Zitate), »Mart. Zeilerus« (30 Zitate),90 »Theod. Zvvingerus« (12 Zitate aus dem Theatrum Humanae Vitae).

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Gunther Weydt: Nachahmung und Schöpfung im Barock. Studien um Grimmelshausen. Bern 1968. Vgl. den Beitrag von Karin Vorderstemann in diesem Band. Ebd.; weiterhin das Nachwort von Wolfgang Pfeiffer-Belli zum Neudruck München 1968, S. 475. Christian Franz Paullini: Philosophischer Lust-Stunden, Oder, Allerhand schöner, anmutiger, rarer, so nützlich- als erbaulicher, Politischer, Physicalischer, Historischer, u. d. Geistund Weltlicher Curiositäten. Zweyter Theil/ Männiglich zur beliebigen Ergetzung wohlmeinend mitgetheilt [...]. Franckfurt a. M., Leipzig 1707, hier 2. Teil, Nr. XIV, bes. S. 114. Jacob Daniel Ernst: Des Gott- und Tugendliebenden Ehrenholds Zufällige/ darneben aber nutz- und erbauliche Gedancken/ Reden und Andachten/ Von allerhand guten und sonderbaren Materien. Bey mancherley Gelegenheiten und Veranlassungen/ zu Erweiterung der Göttlichen Ehre/ sein selbst und des Nechsten guter Erbauung geschöpffet/ hernach auffgemercket/ in Zweyhundert Abtheilungen verfasset [...]. Helmstedt 1688. Ebd., unpag. Aufgrund von Stichproben lässt sich feststellen, dass er die Ausgabe Magnvm Theatrvm Vitae Hvmanae, [...] Avctore Lavrentio Beyerlinck (Köln 1631) verwendet. Die Zitierungen sind recht genau, z.B. findet sich die Angabe bei Ernst Nummer XIX »Der schädliche Aderlaß« tatsächlich bei Martin Zeiller: Ein Hundert Dialogi, oder Gespräch, Von unterschiedlichen Sachen, zu erbaulicher Nachricht, auch Nutzlichem Gebrauch, und Belustigung. Auß Vornehmer und berühmter Leute Schrifften, und sonderlich etlichen Neuen Historischen Büchern [...]. Ulm 1653, S. 366 (allerdings stimmt die Nummer des Dialogs nicht genau).

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Man erkennt hier, wie Sammlungen ihrerseits wieder ausgeschrieben wurden. Im Vorbericht der Confect-Taffel schreibt Ernst: An den Confect-Tafeln vergnügt man sich nicht nur vor seine Person/ sondern man nimmt auch etwas mit hinweg/ davon man hernach andern außzutheilen pfleget: Also werden auff dieser auch solche Erzehlungen angetroffen/ die nicht nur dem Leser zur Ergötzung/ sondern auch zu anderm Gebrauch/ in Discursen/ Ehren- Trauer- und Freudenreden/ auch wohl gar/ nach Gelegenheit/ in denen Predigten dienen könten. 91

Adami (1695) nennt unter seinen Quellen: Zwingers Theatrum, Daniel Ernst, eine handschriftliche Chronik und – erstaunlich – »es haben meine Herren Vicini, als vielgeliebte Ampts-Brüdere aus ihren Kirchen- oder Toden-Büchern mir was communiciret«.92 Er bedauert, dass er nicht eine viel weitere »Correspondenz« geführt hat. Und ein guter Buntschriftsteller denkt auch schon an die Fortsetzung: »Weil ich aber auff den andern Theil dieses Theatri Tragici dencke/ [...] so bitte ich den vielgeliebten Leser/ daß er so gütig seyn/ und mir was communiciren wolle/ es soll seiner in allen Ehren bey der Welt gedacht werden [...]«. Die Leser schreiben das Buch als Blog weiter, Web 2.0 vorweggenommen! Er empfiehlt den Lesern, sich ein durchschossenes Exemplar dieses Buches machen zu lassen, »da man denn gar leichte/ aus anderen Büchern/ oder aus der Erfahrung/ mehr Exempel unter iedweden Titul herzu tragen kan/ so wird der Vorrath immer grösser werden«. Eberhard Werner Happel wendet sich in der Vorrede zu den Relationes Curiosæ (1683) an die Gelehrten und bittet um Mithilfe: wo sie auch sind/ ersuchen wir [sie] sampt und sonders/ dafern etwa einer in ein und anderm etwas sonderliches und merckwürdiges elaboriret, oder außgefunden/ uns damit an die Hand zu gehen/ solche Inventiones großgünstig mitzutheilen/ damit dergleichen löbliche Sachen nicht verdunckelt und in einer privaten Studier-Stuben verborgen bleiben/ sondern denen Lehr- und Lebens-Begierigen Gemüthern/ ja in der gantzen ehrbaren Welt zu Beförderung der löblichen Wissenschaften mitgetheilet werden.93

In der Vorrede zum Italiänischen Spinelli94 (1685), in dem abgesehen von den politischen Ereignissen noch »viele andere Materien und Discursen mit unter lauffen, und der jedes Quartal fortgesetzt werden soll«,95 bittet Happel seine Leserschaft:

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Ernst 1681 (wie Anm. 25), Vor-Bericht an den Leser, unpag., Bog. )(jv. Adami (wie Anm. 80), Vorrede, unpag., S. 4. Happel 1683 (wie Anm. 27), Vorrede, unpag. Ders.: Der Italiänische Spinelli, Oder so genanter Europäischer Geschicht=Roman, Auff das 1685. Jahr. Worinnen man die fürnehmsten Geschichten/ von Wundern/ Krieg/ EstatsSachen/ Glück- und Unglücks-Fällen/ und was sonsten merckwürdiges in Europa und angräntzenden Ländern in diesem 1685. Jahr passiret/ in siner Ordnung zu vernehmen hat/ nebst andern curieusen und erbaulichen Politischen/ Historischen und Physicalischen Materien/ in einer zierlich-erfundenen und wolgesetzten Liebes- und Helden-Geschichte anmüthig fürgestellet [...]. Ulm 1685. Happel hat dieses Unternehmen bis in sein Todesjahr 1690 Jahr für Jahr fortgeführt.

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Solte sich nun jemand finden/ der da Lust hätte/ eine oder andere Materie gerne in unserm Geschicht-Roman angeführet und abgehandelt zu wissen/ der hat mich alle mal zu seinen bereitwilligen Diensten/ und kan sothane Materie entweder an mich/ allhier nach Hamburg/ oder nach Ulm an den Verleger senden/ so soll der Sache schon geschehen/ was recht ist/ ohne daß wir uns vorbehalten/ in keine Partheylichkeiten einiger massen eingeflochten zu werden.96

Rechtfertigung des Kompilatorischen Rudolph Huber bringt auf dem Titelblatt seines Florilegium Historicum97 (1665) den Satz von Seneca98 an: »Nos apes debemus imitari, & quæcunque ex diversa lectione congessimus, separare: melius enim distincta servantur«. Damit ruft er eine lange Tradition dieses Gleichnisses auf.99 Schon Georg Philipp Harsdörffer schreibt 1653 in seinem Poetischen Trichter: Wir sollen den Bienen nachahmen/ und was wir in unterschiednen Büchern gelesen/ unterschiedlich bemerken; nachmals aber mit verständigem Fleiß zusammen mischen/ daß ob man gleich wissen kan/ woher es genommen/ jedoch etwas anders daraus gemachet worden/ als es gewesen.100

Erasmus hatte formuliert: Sammeln etwa die Bienen die Substanz für den Honig von einem einzigen Blütenstrauch? Fliegen sie nicht vielmehr mit staunenswerter Emsigkeit von Blüte zu Blüte, von Pflanze

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Happel 1685 (wie Anm. 94), Vorrede, unpag. Rudolph Huber: Florilegium historicum, oder historischer Lust- und Blumen-Garten: darinnen zu finden viel schöne, liebliche und nutzliche Blumen merkwürdiger Geschichten, Scharffsinniger Reden, und wolerfundener Gleichnussen: auß underschiedlichen glaubwürdigen und berühmten, meistentheils neuen Authoren [...]. Schaffhausen 1665. Im Zusammenhang: »3. Die Bienen, so heisst es, müssen wir nachahmen, die umherfliegen und die zur Honiggewinnung geeigneten Blüten aussaugen, sodann, was sie eingebracht haben, ordnen, auf die Waben verteilen und, wie unser Vergil sagt: »flüssigen Honig anhäufen und mit süßem Nektar füllen die Zellen«. [...] 5. Wir müssen diese Bienen nachahmen und, was immer wir aus verschiedener Lektüre zusammengetragen haben, trennen – besser nämlich lässt es sich gesondert aufbewahren – sodann Sorgfalt und Einfallsreichtum unseres Verstandes (ingenium) anwenden und das, was wir an Verschiedenartigem gekostet haben (libamenta), in ein einziges Bouquet (sapor) zusammenmischen; dadurch wird es – auch wenn es deutlich ist, woher es stammt, dennoch offenkundig etwas anderes sein als das, woher es genommen ist. [...] 7. Machen wir es zu unserem Eigentum, damit eine Art von Einheit entstehe aus der Vielheit, [...]. Das soll unsere Seele tun: alles, wovon sie Hilfe erfahren hat, verberge sie, gerade nur das zeige sie, was sie selbst geleistet hat«; Seneca: Ad Lucilium epistulae morales. Ed. François Préchac, übers. Manfred Rosenbach. Darmstadt 1987; Ep. LXXXIV, 5. Jürgen von Stackelberg: Das Bienengleichnis. Ein Beitrag zur Geschichte der literarischen Imitatio. In: Romanische Forschungen 68 (1956), S. 271–293. Georg Philipp Harsdörffer: Poetischer Trichter. Die Teutsche Dicht- und Reimkunst/ ohne Behuf der Lateinischen Sprache/ in VI. Stunden einzugiessen [...]. Nürnberg 1648–1653 [Reprint: Wiss. Buchgesellschaft Darmstadt 1969], Dritter Theil, S. 54.

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Paul Michel zu Pflanze, von Strauch zu Strauch, holen sie nicht oft von weit her, was sie in ihre Bienenstöcke einbringen? Und was sie herbeitragen, ist noch kein Honig; sondern sie bereiten den Honigseim mit ihrem Mund und ihren Verdauungsorganen auf, wandeln ihn zu etwas Eigenem um, und [...] so erkennt man daran nicht mehr den Geschmack oder Geruch der Blüte oder Pflanze, von der er stammt, sondern das aus diesen allen zusammengesetzte, besondere Produkt der Biene.101

Montaigne sagt: La verité et la raison sont communes à un chacun, et ne sont non plus à qui les a dites premierement, qu’à qui les dit apres. [...] Les abeilles pillotent deçà delà les fleurs, mais elles en font apres le miel, qui est tout leur; ce n’est plus thin, ny marjolaine: Ainsi les pieces empruntees d’autruy, il les transformera et confondra, pour en faire un ouvrage tout sien: à sçavoir son jugement.102

Findmittel Auch wenn sie sich gegen den scholastischen Ordnungsfimmel wehrten und sich das ›Browsen‹ als Lektüremodus vorstellten, wollten die Miscellaneen publizierenden Autoren der Leserschaft doch mitunter (casuell, bei »Gelegenheit«) Zugriff auf bestimmte Lektürestücke gewähren. Hilfe leisteten Inhaltsverzeichnisse, Marginal-Glossen, Register: »Blat-Zeiger aller denckwürdigsten Materien und Sachen« [...], »Blat-Weiser über die fürnehmsten Historien und Lehr-Erinnerungen« [...]. Scrivers Andachten ist ein nach den Sonntagen des Kirchenjahrs geordnetes Register beigegeben, eine »Nützliche Anweisung/ Wie Gottholds zufällige Andachten in diesem Buche bey denen sowohl Sonntags- als Fest-Episteln und Evangeliis entweder zu anmuthigen exordiis oder auch zur Ausführung des Texts und derer drausfolgenden Lehren/ nach Gelegenheit können angewendet werden«.103 Dazu kommt ein alphabetisches »Verzeichniß der denckwürdigsten Sachen«. Auch Ernsts (von Scriver angeregte) Auserlesene Denckwürdigkeiten (1693) enthalten ein solches Register »darinnen Anweisung geschicht/ wie unterschiedene Historien der Erläuterung etlicher Evangelien/ wie auch zum Beweiß ungezwungen gebraucht werden können«. Johann Adam Weber versucht, seine Hundert Quellen der Unterredungskunst (1676) mindestens nach einem assoziativen Prinzip zu gliedern, beispielsweise gibt es Sequenzen von Kapiteln:104 »Nothwendigkeit« – »Nutzbarkeit« – »Schädlichkeit« – »Gebrauch« – »Mißbrauch«.

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Erasmus, Ciceronianus (1528). In: Erasmus von Rotterdam. Ausgewählte Schriften. Band 7. Übersetzt von Theresia Payr. Darmstadt 1972, S. 199. Montaigne: Essays, I, 26, bereits in der ersten Ausgabe 1580. Scriver 1671 (wie Anm. 11), unpag. Weber (wie Anm. 37), S. XXXV ff.

Das Vergnügen von Hund, Jungfer, Ochs und Storch

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Adami (1695) verweist auf das (taxonomisch105 durchorganisierte Werk) von Zwinger, in dessen Register man eine schöne Ordnung findet, was allerhand Todesfälle betrifft, während sich dann bei der Lektüre der Stellen selber erweise, dass »alles ziemlich untereinander lieget/ und eine Sache auf unterschiedenen Blättern offters wiederkommet/ die doch zusammen gehöret hätten«.106 Die Exempelsammlung Hondorffs ist nach den Zehn Geboten geordnet, was bei einem Werk von 400 Folioblättern wenig hilft. Der Jesuit d’Averoult organisiert seine Sammlung feinteiliger nach dem Katechismus. Andere Techniken der Aufmachung sind kaum dienlich. So etwa die Ausgestaltung der Materien in Briefen oder Dialogen (Zeiller) oder in Form eines Romans (Happel) oder die alphabetische Anordnung nach Stichwort-Titeln (Caron / Lehmann: Exilium Melancholiae).

Und so weiter Supplemente und verbesserte Neuauflagen kennen wir bei den Schriftstellern der ›hohen Literatur‹ selten; Rabelais / Fischart, die beiden Fassungen des Carolus Stuardus durch Andreas Gryphius, Jean Pauls Hesperus sind eher Ausnahmen. Dagegen hat die Buntschriftstellerei kein natürliches Ende, was sie mit dem Enzyklopädismus verbindet. Das liegt natürlich daran, dass diese Sammlungen keine festgefügte Struktur haben (wollen), es gehört aber auch zur Mentalität der Sammler, nicht aufhören zu können.107 Die Werke werden ständig in Neuauflagen erweitert. Man sehe sich die Druckgeschichte von Laurembergs Acerra an.108 Harsdörffer hat – nach dem Erfolg der Lust- und Lehrreichen Geschichte, der Jämmerlichen Mordgeschichte und dem Heraclit und Democrit – »Anlaß genommen/ unter einem anderen Titel dergleichen mehr zu samlen«.109 Zeiller, einer der notorischen Buntschreiber, bedauert in der Vorrede zu 105

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Vgl. Paul Michel: Verzweigungen, geschweifte Klammern, Dezimalstellen. Potenz und Grenzen des taxonomischen Ordnungssystems von Platon über Theodor Zwinger bis Melvil Dewey. In: Allgemeinwissen und Gesellschaft. Hg. v. Paul Michel, Madeleine Herren und Martin Rüesch. Aachen 2007, S. 105–144. Adami (wie Anm. 80), Vorrede, unpag. Philipp Blom: Sammelwunder, Sammelwahn. Szenen aus der Geschichte einer Leidenschaft. Frankfurt a. M. 2004. Peter Lauremberg: Acerra philologica: Das ist: Zwey hundert außerlesene, nützliche, lustige und denckwürdige Historien und Discursen, zusammen gebracht auß den berühmsten griechischen und lateinischen Scribenten. Rostock 1633 [und Erweiterungen in Neuauflagen]. Vgl. Thomas Bürger: Die ›Acerra Philologica‹ des Peter Lauremberg. Zur Geschichte, Verbreitung und Überlieferung eines deutschen Schulbuchs des 17. Jahrhunderts. In: Wolfenbütteler Notizen zur Buchgeschichte 12 (1987), S. 1–24 Georg Philipp Harsdörffer: Der Geschichtspiegel: Vorweisend Hundert Denckwürdige Begebenheiten/ Mit Seltnen Sinnbildern/ nutzlichen Lehren/ zierlichen Gleichnissen/ und nachsinnigen Fragen aus der Sitten-Lehre und der Naturkündigung [...] An das Liecht ge-

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Paul Michel

den Hundert Dialogi: »Es weren zwar noch mehrere Sachen einzubringen gewesen; Weiln aber die Schrifften mir erst zu handen gekommen/ nachdem ich die Gespräch allbereit an gehörige Orth gelieffert hatte«:110 [...] habe er diese Ergänzungen nicht mehr einfügen können. Dies holt er nun in der Vorrede auf 50 Sedez-Seiten nach. Und Paullini (Lust-Stunden, Zweyter Theil 1707) vermerkt: »Zwar ich hätte diesen Theil um ein merckliches vergrössern können/ und wollen/ wann nicht eine unverhofft dazwischen gekommene Schwachheit mich daran verhindert hätte [...]«.111

Hinweis auf eine Bibliographie von Quellen: http://elbanet.ethz.ch/wikifarm/karidol/index.php?n=Main.Buntschriftstellerei

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setzt/ Durch Ein Mitglied der hochlöblichen Fruchtbringenden Gesellschafft. Nürnberg 1654, Vorrede, unpag. Zeiller (wie Anm. 90), Vorrede, unpag. Für eine weitere Betrachtung erweist sich als hilfreich: Christian Meierhofer: Alles neu unter der Sonne. Transformationen im Sammelschrifttum der Frühen Neuzeit. Würzburg 2010 (Epistemata Literaturwissenschaft 702).

Stefanie Stockhorst

Wissensvermittlung im Dialog Literarische Pflanzenkunde und christliche Weltdeutung in den Rahmenstücken von Johann Rists Monatsgesprächen und ihrer Fortsetzung durch Erasmus Francisci

1. Die Monatsgespräche zwischen Buntschriftstellerei und Kosmologie Die literaturwissenschaftliche Bedeutung Johann Rists (1607–67) gründet vor allem auf seiner Leistung als protestantischer Kirchenlieddichter des Barock,1 als Verfasser weltlicher Lyrik und Dramatik2 sowie als Sprach- und Dichtungs-

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Vgl. neuerdings die Beiträge in Johann Anselm Steiger (Hg.): »Ewigkeit, Zeit ohne Zeit«. Gedenkschrift zum 400. Geburtstag des Dichters und Theologen Johann Rist. Neuendettelsau 2007 (Testes et testimonia veritatis 5); sowie Hans-Henrik Krummacher: Lehr- und trostreiche Lieder. Johann Rists geistliche Dichtung und die Predigt- und Erbauungsliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Vox Sermo Res. Beiträge zur Sprachreflexion, Literatur- und Sprachgeschichte vom Mittelalter bis zur Neuzeit. FS Uwe Ruberg. Hg. v. Wolfgang Haubrichs, Wolfgang Kleiber und Rudolf Voß. Stuttgart 2001, S. 143–168; W. Gordon Marigold: Aspekte des geistlichen Liedes im 17. Jahrhundert. Johann Rist, Hinrich Elmenhorst, Christian Knorr von Rosenroth. In: Morgen-Glantz 6 (1996), S. 81–98; Donald Lee Madill: Johann Rist as Hymnwriter. A Study of his Life and Works with Particular Emphasis on his ›Himmlische Lieder‹ und ›Sonderbahres Buch‹. Kansas 1985; Irmgard Scheitler: Das geistliche Lied im deutschen Barock. Berlin 1982 (Schriften zur Literaturwissenschaft), S. 230–271; Leif Ludwig Albertsen: Strophische Gedichte, die von einem Kollektiv gesungen werden. Das Zersingen, analysiert am Schicksal einiger Lieder von Johann Rist. In: DVjs 50 (1976), S. 84–102. Vgl. z. B. Thomas Rahn: Krieg als Störfall der Rhetorik. Die Friedensspiele von Johann Rist und Justus Georg Schottelius. In: Krieg und Rhetorik. Hg. v. Thomas Rahn. Tübingen 2003 (Rhetorik 22), S. 43–57; Ingrid Schiewek: Theater zwischen Tradition und Neubeginn. Die Zwischenspiele des Johann Rist. In: Studien zur deutschen Literatur im 17. Jahrhundert. Hg. v. Werner Lenk. Berlin 1984, S. 145–251; Klaus Garber: Pétrarquisme pastoral et bourgeoisie protestante: La Poésie pastorale de Johann Rist et Jakob Schwieger. Übers. v. Danielle Laforge. In: Le genre pastoral en Europe du XVe au XVIIe siècle. Hg. v. Claude Longeon. Saint-Etienne 1980, S. 269–297, bes. S. 273–290; Irmgard C. Taylor: Untersuchungen zum Stil der Dramen Johann Rists. In: Korrespondenzblatt des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung 79 (1972), H. 3, S. 33–36; Eberhard Mannack: Johann Rists ›Perseus‹ und das Drama des Barock. In: Daphnis 1 (1972), S. 141–149; Ulrich Moerke: Die Anfänge der weltlichen Barocklyrik in Schleswig-Holstein. Hudemann, Rist, Lund. Neumünster 1972 (Kieler Studien zur Deutschen Literaturgeschichte Bd. 8), S. 88– 132; Rudolf Mews: Johann Rists Gesellschaftslyrik und ihre Beziehung zur zeitgenössischen Poetik. Diss. Univ. Hamburg 1969; Otto Heins: Johann Rist und das deutsche Drama des 17. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur deutschen Literaturgeschichte. Marburg 1930 (Bei-

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theoretiker. Insbesondere machte er mit seiner kulturpatriotischen Rettung der Edlen Teutschen Hauptsprache (1642), die sich für den reinen Gebrauch der Muttersprache einsetzt,3 sowie mit den poetologischen Vorreden zur Musa Teutonica (1634) und zum Neüen Teütschen Parnass (1652) ebenso planvoll wie streitlustig seinen »Anspruch auf die Statthalterschaft des Opitzianismus im nördlichen Deutschland«4 geltend. Sowohl mit seinen programmatischen Stellungnahmen als auch durch eine entsprechende Widmungspolitik suchte er nicht zuletzt den Anschluss an die Gelehrtennetzwerke der überregionalen literarischen Sozietäten. Der Erfolg spricht für sich: Die Pegnitz-Schäfer nahmen ihn 1645 unter dem Namen ›Daphnis aus Cimbrien‹ auf, und die Fruchtbringende Gesellschaft führte ihn seit 1647 als ›der Rüstige‹ in ihren Mitgliederlisten. Er selbst gründete im Jahr 1658 den Hamburger Elbschwanenorden, dem er als ›Palatin‹ bis zu seinem Tod vorstand.5 Ungleich weniger bekannt ist Rist hingegen als Kenner der Naturwissenschaften,6 obwohl der spätere Wedeler Pastor während seiner Rostocker Studienzeit in den Jahren 1626–29 neben theologischen auch mathematische, medizinische und pharmazeutische Vorlesungen hörte, die progressive Forscher wie Peter Lauremberg, Joachim Jungius oder Angelo Sala auf empirischer Basis abhielten.7 Nicht von ungefähr wiesen ihm die Fruchtbringer den in Südamerika

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träge zur deutschen Literaturwissenschaft 38) [Reprint New York 1968]; Oskar Kern: Johann Rist als weltlicher Lyriker. Marburg 1919 (Beiträge zur deutschen Literaturwissenschaft 15); Karl Theodor Gaedertz: Johann Rist als niederdeutscher Dramatiker. In: Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung 7 (1881), S. 101–172; sowie ders.: Johann Rist als niederdeutscher Dramatiker. Leipzig 1882. Vgl. zum sprachpolitischen Entstehungskontext Thomas Mast: Patriotism and the Promotion of German Language and Culture. Johann Rist’s ›Rettung der Edlen Teutschen Hauptsprache‹ (1642) and the Language Movement of the Seventeenth Century. In: Daphnis 30 (2001), S. 71–96, bes. S. 71–80; Theodor Hansen: Johann Rist und seine Zeit. Aus den Quellen dargestellt. Reprint Leipzig 1973 [EA 1872], S. 53–57. Günter Dammann: Johann Rist als Statthalter des Opitzianismus in Holstein. Aspekte seiner literaturpolitischen Strategie anhand der Widmungsbriefe und Vorreden. In: Literaten in der Provinz – provinzielle Literatur? Schriftsteller einer norddeutschen Region. Hg. v. Alexander Ritter. Heide/Holstein 1991 (Steinburger Studien 6), S. 47–66, hier S. 50; vgl. auch Eberhard Mannack: Opitz und seine kritischen Verehrer. In: Martin Opitz (1597– 1639). Nachahmungspoetik und Lebenswelt. Hg. v. Thomas Borgstedt und Walter Schmitz. Tübingen 2002 (Frühe Neuzeit 63), S. 272–279; sowie Ulrich Moerke: Die Anfänge der weltlichen Barocklyrik in Schleswig-Holstein. Hudemann, Rist, Lund. Neumünster 1972 (Kieler Studien zur deutschen Literaturgeschichte 8), S. 88–94. Vgl. [Conrad von Höveln]: Candorins Deutscher Zimber Swan. Darin Des Hochlöbl. ädelen Swan-Ordens Anfang/ Zunämen/ Bewandnis/ Gebräuche/ Satsungen/ Ordensgesätse/ samt der Hoch-ansähel. Geselschafter Ordens-Namen entworfen. Lübeck 1667. Vgl. jedoch den Überblick (mit Schwerpunkten im Bereich der artes mechanicae und der Alchemie) bei Ferdinand van Ingen: Johann Rist und die Naturwissenschaften seiner Zeit. Anmerkungen zu seiner intellektuellen Biographie anlässlich des 400. Geburtstags am 8.3.2007. In: Daphnis 36 (2007), H. 3/4, S. 487–510. Vgl. Klaus Conermann: Die Mitglieder der Fruchtbringenden Gesellschaft 1617–1650. 527 Biographien. Transkriptionen aller handschriftlichen Eintragungen und Kommentare zu den Abbildungen und Texten im Köthener Gesellschaftsbuch. Weinheim, Deerfield Beach 1985 (Fruchtbringende Gesellschaft 3), S. 567; sowie Dieter Lohmeier, Klaus Reichelt: Jo-

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beheimateten Guajakbaum (Guajacum officinale L.) als persönliches Emblem zu,8 der zwar völlig außerhalb der konventionellen Sinnbildkunst steht, dafür aber zu den bekanntesten Arzneipflanzen der Frühen Neuzeit gehört. Dem sog. lignum sanctum wurde eine Heilwirkung vor allem gegen die Syphilis, aber auch gegen die Pocken (›Pockholz‹) zugeschrieben. Rists Spezialkenntnisse auf dem Gebiet der Pflanzenkunde qualifizierten ihn nicht nur für eine nebenamtliche Tätigkeit als Apotheker, sondern flossen auch in seine Monatsgespräche (1663–68) ein, die noch bis 1703 in mehreren Neuauflagen erschienen.9 Allerdings werden diese Prosadialoge in der Forschung vorrangig in ihrer literaturgeschichtlichen Schwellenposition zwischen den Frauenzimmer Gesprechspielen (1644–49) von Georg Philipp Harsdörffer und den Monats-Gesprächen (1688/89) von Christian Thomasius zur Kenntnis genommen.10 Denn Rists Texte greifen, obwohl in narrativer Prosa verfasst, in ihrer dialogischen Struktur einerseits den intellektuell-unterhaltsamen Konversationsgestus des barocken Gesprächsspiels auf,11 während sie andererseits als Vorstufe zur literaturkritischen Publizistik bei Thomasius gelten, weil zu ihren vielfältigen Sujets auch Fragen des literarischen Werturteils gehören.12 Die Themen in Rists Monatsgesprächen umfassen neben Gegenständen aus den artes liberales und den artes mechanicae auch zahlreiche curiosa, was an den enzyklopädischen, oftmals literarästhetisch weniger anspruchsvollen Charakter der Buntschriftstellerei gemahnt. Daher attestierte Alfred Jericke diesem Werk im Jahr 1928 einen

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hann Rist. In: Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts. Das Leben und Werk. Hg. v. Harald Steinhagen und Benno von Wiese. Berlin 1984, S. 347–364, bes. S. 348. Vgl. Conermann (wie Anm. 7), S. 570f. Aufgrund von Streitigkeiten um das Lokalkolorit des Hintergrundes wurde das Emblem nicht vollendet (vgl. ebd.). – Ein Abdruck des Weimarer Fragments befindet sich in Klaus Conermann: Die Fruchtbringende Gesellschaft und ihr Köthener Gesellschaftsbuch. Eine Einleitung/Günther Hoppe: Fürst Ludwig I. von Anhalt-Köthen. Bilddokumentation. Das Köthener Gesellschaftsbuch. Wappen des zweiten und dritten Bandes. Die Weimarer Gemälde der Fruchtbringenden Kräuter. Weinheim, Deerfield Beach 1985 (Fruchtbringende Gesellschaft 2), Abbildungsteil, Nr. 467 [ohne Paginierung]. Vgl. im Einzelnen die bibliographischen Nachweise bei Alfred Jericke: Johann Rists ›Monatsgespräche‹. Berlin, Leipzig 1928 (Studien zur Sprache und Kultur 2), S. 202ff. Vgl. Sylvia Heudecker: Modelle literaturkritischen Schreibens. Dialog, Apologie, Satire vom späten 17. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2005 (Studien zur deutschen Literatur 179), S. 53–67. Vgl. Rosmarie Zeller: Spiel und Konversation im Barock. Untersuchungen zu Harsdörffers ›Gesprächsspielen‹. Berlin, New York 1974 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker; NF 58 [177]), bes. S. 51–76. Vgl. dazu Ralf Georg Bogner: Die Formationsphase der deutschsprachigen Literaturkritik. In: Literaturkritik. Geschichte – Theorie – Praxis. Hg. v. Thomas Anz und Rainer Baasner. München 2004, S. 14–22, bes. S. 17ff.; sowie speziell zur Stellung von Thomasius Herbert Jaumann: Bücher und Fragen. Zur Genrespezifik der ›Monatsgespräche‹. In: Christian Thomasius (1655–1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung. Hg. v. Friedrich Vollhardt. Tübingen 1997 (Frühe Neuzeit 37), S. 395–404.

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»seltsamen Mischcharakter«,13 für den bislang keine plausible Erklärung gefunden wurde.14 Zum Verständnis der vordergründig überaus heterogenen Anlage des Gesprächszyklus können, so meine These, die Rahmenerzählungen substantielle Hinweise bieten, denn gerade Rist erweist sich immer wieder als ein Autor, bei dem es sich lohnt, auch das vermeintliche Beiwerk seiner literarischen Texte ernst zu nehmen. So nutzte er etwa seine Vorreden einerseits für poetologische Reflexionen, andererseits jedoch auch für polemische Ausfälle gegen missliebige Kritiker, für persönliche Bekenntnisse sowie zum Plaudern und Aufschneiden.15 Einen gelehrten Konversationston anderer Art hingegen schlägt er in den Monatsgesprächen an, von denen jedes mit einer Unterhaltung der Figuren im Garten beginnt, welche die im jeweiligen Monat blühenden Pflanzen zum Gegenstand hat. Diese Partien lassen sich vordergründig als unterhaltsame Zugaben, als formale Bildungsbeweise oder auch als autobiographisch fundierte Realien verstehen. So wird der Gastgeber der Gesprächsrunden als ›der Rüstige‹ eingeführt, der – ganz wie der historische Rist – auf einem Kirchengrundstück an der Unterelbe einen kleinen Südergarten mit Zierpflanzen und einen etwas größeren Nordergarten mit Obst, Gemüse und Heilpflanzen bestellt. Allerdings gibt sich Rist nicht nur als Mitglied einer renommierten Sprachgesellschaft und Botaniker zu erkennen, sondern vor allem als Theologe, der nicht nur »im Namen der Heiligen Dreifaltigkeit«16 seine Kanzel betritt, sondern auch über die Absicht seiner Monatsgespräche reimt: »Den Büchern/ welch’ ich schreib’ allein// zu GOttes Ehren// Den auch/ das Christenthum zu bessern/ und vermehren [...]«.17 Mit den folgenden Überlegungen möchte ich daher gerade vor die-

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Jericke (wie Anm. 9), S. 192. Als wenig erhellend und zumal kategorial fragwürdig erweist sich insbesondere die Ausgrenzung der Monatsgespräche als »Unterhaltungsliteratur« aus dem übrigen Œuvre Rists, welches sonst »fast nur Arbeiten, die den Anspruch erheben durften, Kunstdichtung zu sein«, umfasse (Lohmeier, Reichelt [wie Anm. 7], S. 351). Vgl. Stefanie Stockhorst: Dichtungsprogrammatik zwischen rhetorischer Konvention und autobiographischer Anekdote. Die funktionale Vielfalt barocker Paratexte im Zeichen der Reformpoetik am Beispiel Johann Rists. In: Die Pluralisierung des Paratextes in der Frühen Neuzeit. Theorie, Formen, Funktionen. Hg. v. Frieder von Ammon und Herfried Vögel. Münster 2008 (Pluralisierung & Autorität 15), S. 353–374; sowie Richard E. Schade: Baroque Biography. Johann Rist’s Self-Concept. In: German Quarterly 51 (1978), S. 338– 345. Johann Rist: Das AllerEdelste Nass der gantzen Welt/ Vermittelst eines anmuhtigen und erbaulichen Gespräches/ Welches ist diser Ahrt die Erste/ und zwahr Eine JännersUnterredung/ Beschriben und fürgestellet [1663]. In: ders.: Sämtliche Werke. Hg. v. Eberhard Mannack. Bd. 4: Epische Dichtungen (Das alleredelste Naß, Das alleredelste Leben). Berlin, New York 1972 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts), S. 1–120, hier S. 23. Johann Rist: WolEdler/ Gestrenger und Vester/ sonders Hochgeehrter Herr/ und als Sohn/ treugelibter Freund/ WolEhrenveste/ Grosachtbahre/ Wolgelehrte und Wolführnehme/ sonders grosgünstige Herren und vielgeehrte Freunde [Widmungsvorrede zu Das AllerEdelste Nass der gantzen Welt; 1663]. In: ders.: Sämtliche Werke. Hg. v. Eberhard Mannack. Bd. 4: Epische Dichtungen (Das alleredelste Naß, Das alleredelste Leben). Berlin,

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sem theologisch motivierten Hintergrund zeigen, inwiefern Rists botanische Streifzüge erstens einer historisch verbürgten Methodik der Wissensvermittlung folgen und zweitens einen kosmologisch-allegorischen Resonanzraum aufspannen, dessen transzendentale Sinnangebote als übergreifende Verstehensanweisung für die Monatsgespräche insgesamt fungieren.

2. Zur Gattungsfrage der Monatsgespräche Historisch gesehen, stehen die Monatsgespräche in der Tradition der Dialogliteratur, einem didaktischen Genre, dessen Ursprünge völlig zu Recht bis auf Cicero sowie auf das Modell der sokratischen Lehrgespräche bei Platon zurückgeführt werden,18 auch wenn insbesondere durch die rinaszimentale Literatur eine erhebliche funktionale Differenzierung stattgefunden hat.19 Aus systematischer Perspektive weisen solche literarischen Dialoge einen eigenwilligen Hybridcharakter auf.20 Nach dem Redekriterium müssten sie unter die dramatica gezählt werden, da wesentliche Anteile der Texte auf die gesprochene Figurenrede entfallen, die sowohl direkt als auch vermittelt durch eine extradiegetische Instanz in indirekter oder erzählter, teils auch geraffter Rede wiedergegeben werden kann. In den Monatsgesprächen verwendet Rist alle drei Modi im Wechsel. Im Gegensatz zum Drama bildet Dialogliteratur jedoch meist nur ein rudimentäres Binnenhandlungsgeschehen ab, während das Hauptaugenmerk dem argumentativen Verlauf einer Wechselrede zwischen zwei oder mehr Figuren gilt.21 Die deutschsprachige Dichtungslehre des 17. Jahrhunderts reagiert auf

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New York 1972 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts), S. 5–12, hier S. 7. Vgl. z. B. Otto F. Best: Der Dialog. In: Prosakunst ohne Erzählen. Die Gattungen der nicht-fiktionalen Kunstprosa. Hg. v. Klaus Weissenberger. Tübingen 1985 (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 34), S. 89–104, bes. S. 97f. Vgl. die freilich immer mit thematischen, formalen oder funktionalen Überschneidungen verbundenen Typologisierungen bei Gerhard Bauer: Zur Poetik des Dialogs. Leistung und Formen der Gesprächsführung in der neueren deutschen Literatur. Darmstadt 1969, S. 11– 22; sowie speziell zur frühneuzeitlichen Dialogliteratur unter Ausschluss dramatischer Formen bei Heudecker (wie Anm. 10), S. 41–52. Vgl. zur Genrespezifik den kenntnisreichen Überblick bei Bernd Häsner: Der Dialog: Strukturelemente einer Gattung zwischen Fiktion und Theoriebildung. In: Poetik des Dialogs. Aktuelle Theorie und rinascimentales Selbstverständnis. Hg. v. Klaus W. Hempfer. Stuttgart 2004 (Text und Kontext. Romanische Literaturen und Allgemeine Literaturwissenschaft 21), S. 13–65; sowie Ernest W. B. Hess-Lüttich: Zur Rhetorik des Dialogs. Eine multidisziplinäre Forschungsübersicht in sechs Perspektiven. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 18 (1992), S. 218–241, bes. S. 224–228. Eine dahingehende Unterscheidung findet sich bereits bei Aristoteles, der den Dialog unter der Bezeichnung lógos im Gegensatz zum dramatischen mimus zur Sprache bringt. Für den lógos nennt er als konstitutive Elemente das Frage- und Antwort-Schema, eine politischphilosophische Orientierung, die hinlängliche Figurenzeichnung und die stilistische Angemessenheit der Rede (vgl. Aristoteles: Poetik, 1, 1447 b 11).

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diesen Problemfall mit weitgehendem Stillschweigen.22 Erst in dem schmalen Poetik-Brevier, das Christian Thomasius in seine juristischen Cautelen (1713) aufnimmt, erfährt man, dass sich Dialogliteratur an ein nicht-ästhetisches Regelsystem, nämlich das der Logik und Disputationskunst anlehne.23 Obwohl Dialogliteratur häufig in erzählerischer Form dargeboten wird, erweist sie sich in der Tat weit weniger als narrativ denn als diskursiv. Infolgedessen hat sich derzeit in der Literaturwissenschaft die behelfsmäßige Einordnung als ›Prosakunst ohne Erzählen‹ nach Klaus Weissenberger etabliert. Eine weitergehende Klassifikation als ›nicht-fiktionale Kunstprosa‹24 erscheint freilich durchaus prekär, denn gerade die »Illusion der Wirklichkeitsnähe« bildet seit der Antike ein konstituierendes Merkmal der Dialogliteratur.25 Auch Rist erzeugt eine schillernde Gemengelage von facta und ficta, so dass sich kaum abschätzen lässt, inwieweit seinen Monatsgesprächen tatsächliche gesellige Zusammenkünfte zugrunde liegen, wenn darin stets eine Viererkonstellation auftritt, die sich aus dem ›Rüstigen‹ sowie aus je drei weiteren, unter ihren Gesellschaftsnamen eingeführten Mitgliedern des Elbschwanenordens zusammensetzt.26 Eine weitere Eigentümlichkeit des Genres besteht in der Polyphonie seiner Darbietungsweise, die es erlaubt, den zur Rede stehenden Gegenstand scheinbar 22

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Selbständige, jedoch in der deutschsprachigen Barockpoetik nicht rezipierte Theorien bieten Carlo Sigonios De dialogo liber (1562), Sperone Speronis Apologia dei dialoghi (1584) oder Giambattista Mansos Trattato del dialogo (1628). – Vgl. Jon R. Snyder: Writing the Scene of Speaking. Theories of Dialogue in the Late Italian Renaissance. Stanford 1989; sowie Virginia Cox: The Renaissance Dialogue. Literary Dialogue in its Social and Political Contexts, Castiglione to Galileo. Cambridge 1992 (Cambridge Studies in Renaissance Literature and Culture 2); sowie Bodo Guthmüller: Zur Theorie des Dialogs im späteren Cinquecento: die ›Apologie dei Dialogi‹ des Sperone Speroni (1574). In: ders., Wolfgang G. Müller: Dialog und Gesprächskultur in der Renaissance. Wiesbaden 2004 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Renaissanceforschung 22), S. 165–181. Vgl. Christian Thomasius: Höchstnöthige Cautelen Welche ein Studiosus Juris, Der sich zu Erlernung der Rechts-Gelahrheit [!] Auff eine kluge und geschickte Weise vorbereiten will/ zu beobachten hat. Halle 1713, S. 156f., das Zitat S. 156. – Knappe Erwähnungen der Dialogliteratur begegnen kurz zuvor bei Magnus Daniel Omeis: Gründliche Anleitung zur Teutschen accuraten Reim- und Dichtkunst/ durch richtige Lehr-Art/ deutliche Reguln und reine Exempel vorgestellet. Nürnberg 1704, S. 123; sowie bei Christian Friedrich Hunold, Erdmann Neumeister: Die Allerneueste Art/ Zur Reinen und Galanten Poesie zu gelangen. Allen Edlen und dieser Wissenschaft geneigten Gemühtern/ Zum Volkommenen Unterricht/ Mit überaus deutlichen Regeln/ und angenehmen Exempeln ans Licht gestellet von Menantes. Hamburg 1707, S. 255. – Vgl. zum Einfluss der Disputationskunst auf die Dialogliteratur auch Markus Fauser: Das Gespräch im 18. Jahrhundert. Rhetorik und Geselligkeit. Stuttgart 1991, S. 190. Vgl. den Sammelband dieses Titels von Klaus Weissenberger (Hg.): Prosakunst ohne Erzählen. Die Gattungen der nicht-fiktionalen Kunstprosa. Tübingen 1985 (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 34). Roger Bauer: »Ein Sohn der Philosophie«. Über den Dialog als literarische Gattung. In: Jahrbuch der deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 23 (1976), S. 29–48, hier S. 34. Bemerkenswert und durchaus typisch für Rist erscheint hier die distinktive Positionierung in der res publica litteraria über den Namensgebrauch, denn er selbst nennt sich nicht ›Palatin‹ wie im von ihm gegründeten, regionalen Elbschwanenorden, sondern ›der Rüstige‹ wie im überregionalen und weitaus prestigeträchtigeren Palmenorden.

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Wissensvermittlung im Dialog

undogmatisch aus verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten.27 Dabei erfolgt im Verlauf einer zumindest vordergründig ergebnisoffenen Konversation der Figuren über ihre Erfahrungen und Ansichten zu einem gemeinsamen Thema ein dynamischer Prozess der Wahrheitsfindung. Dieser wird freilich nach einem kompositorischen Plan lanciert, etwa durch das geschickte Ausspielen von unterschiedlich starken Argumenten, die, wie auch die Länge der Redeanteile und das Privileg des letzten Wortes den Sprechern textstrategisch im Hinblick darauf zugewiesen werden, eine von vornherein feststehende Position am Ende obsiegen zu lassen.28 So überrascht es kaum, wenn in den Streitfragen, die in den jeweils mit einem Gartengespräch gerahmten Hauptteilen der Monatsgespräche erörtert werden, nach Abwägung verschiedener Optionen stets die Ansicht des Gastgebers oder eine damit vereinbare Meinung favorisiert wird. Monat Januar

Gesprächsgegenstand das alleredelste Naß

Februar

das alleredelste Leben

März

die alleredelste Torheit

April

die alleredelste Belustigung kunst- und tugendliebender Gemüter die alleredelste Erfindung

Mai Juni

die alleredelste Zeitverkürzung

Ergebnis Tinte (vor Wein, Milch und Wasser) Landleben (vor Soldaten-, Stadt- und Hofleben) Suche nach dem Stein der Weisen (vor Astrologie, Astrologie, Erfindung des Perpetuum Mobile und Geldverschwendung für Blumen) Malerei (vor Dramatik, Musik und Poesie) Lese- und Schreibkunst (vor Mühlenkunst, Medizin und Magnet-Stein) Todesbetrachtung (vor erbaulichen Gesprächen, Lektüre geistlicher und weltlicher Geschichten und Herstellung natürlicher Kunststücke

Tab.: Übersicht der Streitfragen und ihrer Beantwortung in Rists Monatsgesprächen 27

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Auch bietet der Dialog die Möglichkeit, das zur Rede stehende Problem unvollständig oder ohne abschließendes Urteil zu behandeln (vgl. Jürgen Mittelstraß: Versuch über den Sokratischen Dialog. In: Das Gespräch. Hg. v. Karlheinz Stierle und Rainer Warning. München 1984 (Poetik und Hermeneutik 11), S. 11–27, bes. S. 23f.). – Zur ›Echtheit‹ der Stimmund Redevielfalt vgl. die Hinweise bei Gernot Michael Müller: Dialogliteratur. In: Enzyklopädie der Neuzeit. Im Auftrag des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen in Verb. mit den Fachwissenschaftlern hg. v. Friedrich Jaeger. Bd. 2: Beobachtung–Dürre. Stuttgart 2005, Sp. 976–980, bes. Sp. 977; sowie Alexandra Kleihues: Der Dialog als Form. Analysen zu Shaftesbury, Diderot, Madame d’Épinay und Voltaire. Würzburg 2002 (Epistemata 422), S. 25–28. Vgl. zur Struktur Jericke (wie Anm. 9), S. 148–191.

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Des Weiteren dient üblicherweise eine knapp angelegte Rahmenerzählung zur raum-zeitlichen Situierung literarischer Dialoge und ihrer Teilnehmer. Wie bei Rist werden dafür im neuzeitlichen Dialog häufig Orte mit ländlichem Gepräge bemüht, um den Gegensatz des Gesprächsrahmens zu den für Eitelkeit und Sittenverderbnis anfälligen Milieus von Stadt und Hof im Sinne des laus ruris zu aktualisieren.29 Allerdings verdient es besondere Aufmerksamkeit, wenn Rist in den Rahmenerzählungen seiner Monatsgespräche das Lokalkolorit des Gartens keineswegs bloß andeutet, sondern sie nutzt, um außergewöhnlich elaborierte naturkundliche Exkurse zu entfalten. Mit einer Länge von jeweils rund 50 bis 100 Oktavseiten erhalten sie, gerade auch im Vergleich mit den jeweils nur sehr wenige Seiten umfassenden frühneuzeitlichen Modellen für Rahmenerzählungen etwa im Decamerone (um 1350) Giovanni Boccaccios, in den Canterbury Tales (entst. ab 1387) oder im Heptaméron (1559) Margaretes von Navarra, allein schon quantitativ erhebliches Gewicht. Die Frage nach der Funktion der Rahmenerzählungen steht in engem Zusammenhang mit der Struktur der Monatsgespräche, die zwar formal eindeutig zur Dialogliteratur gehören, aber thematisch mit anderen Genres interferieren. Während Sylvia Heudecker an den zentralen Gesprächspartien sowie an der Fiktion einer monatlichen Erscheinungsweise die Vorläuferschaft zur literaturkritischen Zeitschrift festmacht, wertet sie die inhaltliche Ausrichtung der Rahmenstücke als »Indiz« dafür, dass sich Rist am »Vorbild der Hausväterliteratur« orientiere, zumal er sich mit seinem Adelichen Hausvatter (1650) zuvor bereits unverkennbar in diese Ratgebertradition eingeschrieben hatte.30 Diese gattungsgeschichtlich treffende Einordnung vermag indes nicht zu plausibilisieren, warum Rist selbst die Rahmenerzählungen keineswegs als schmückendes Beiwerk seiner Monatsgespräche exponiert, sondern vielmehr, wie die Vorrede zum Januar-Gespräch erkennen lässt, als deren Angelpunkt. So trägt er als Zielsetzung seines Projektes vor, nach den zwölf Monahten des Jahres/ auch zwölf Gespräche aufs Papir zu bringen/ in welchen allemahl von den fürnehmsten Bluhmen/ Kräutern und Gewächsen/ welche im selbigen Monaht blühen/ der Anfang gemachet/ und ferner darauf von allerhand merkwürdigen Dingen/ in der Natur/ ja schier von allen Sachen/ so unter dem Himmel befindlich/ solte gehandelt/ [...] werden.31

Damit gibt Rist zu verstehen, dass das Dispositionsschema nach dem Ablauf der Monate nicht nur als formale Gliederung der Dialogfolge eintreten soll, sondern regelrecht als ihr semantisches Rückgrat. Vor diesem Hintergrund lohnt es zu überprüfen, welche Inhalte im Einzelnen in den naturkundlichen Exkursen der

29 30 31

Vgl. Bauer (wie Anm. 19), S. 35. Vgl. Heudecker (wie Anm. 19), S. 55–60, das Zitat S. 57. Johann Rist [hier: Der Rüstige]: Vorbericht an den aufrichtigen Leser [Vorrede zu Das AllerEdelste Nass der gantzen Welt; 1663]. In: ders.: Sämtliche Werke. Hg. v. Eberhard Mannack. Bd. 4: Epische Dichtungen (Das alleredelste Naß, Das alleredelste Leben). Berlin, New York 1972 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts), S. 13–17, hier S. 15f.

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Rahmenerzählungen verhandelt werden und was sie in Verbindung mit dem kompositorischen Prinzip der Monatsgliederung austragen.

3. Der Garten als Mikrokosmos – Botanik und Phytomedizin In den Gartenszenen, die den eigentlichen Unterredungen der Monatsgespräche vorausgeschickt werden, steht die Figur des ›Rüstigen‹ im Mittelpunkt. Für sich allein oder im Gespräch mit Gärtnern und Gästen stellt er, ausgehend von Eindrücken und Beobachtungen aus seinem Pflanzenreich, vielschichtige Reflexionen über den Bereich der Natur- und Weltkunde an. Dabei tritt er mit einem dezidiert gelehrten Habitus auf, indem er seine Ausführungen durch ständige Referenz auf Namen und Werke anerkannter Fachleute untermauert. Vorzugsweise beruft er sich auf den Schweizer Anatomen und Botaniker Caspar Bauhinus mit seinem »niemahls genug gerühmtem [!] Pinax«32 – gemeint ist der Pinax theatri botanici (1623) – sowie auf den sienesischen Jesuiten Giovanni Battista Ferrari (1584–1655) mit seiner Flora, overo cultura di fiori (1638). Hinzu kommen Galen von Pergamon (129–216) mit seinem Liber de antidoto und Avicenna (980–1037) als Kronzeugen der traditionellen Säftelehre, ferner die neuzeitlichen Pharmakologen und Botaniker Theophrast von Hohenheim, gen. Paracelsus (1443–1541), Leonhardus Fuchsius (1501–1566), Pietro Andrea Mattioli (1501–1577), Valerius Cordus (1515–1544), Conrad Gesner (1516– 1565), Rembert Dodoens (1517–1585), Carolus Clusius (1526–1609), Joachim Camerarius d. J. (1534–1598), Matthias Lobelius (1538–1616), Hendrick Munting (1583–1658) mit seinem Katalog des botanischen Gartens in Gronigen, Hortus et universae materiae medicae gazophylacium (1646), Leonhardus Ursinus (1618–1664) sowie nicht zuletzt Rists Rostocker Lehrer Peter Lauremberg (1585–1639) mit seinem Apparatus plantarius (1632). Rists Autoritätenkatalog dokumentiert einen weiten Kenntnishorizont, der durchaus gegensätzliche Lehrgebäude wie die antike Humoralpathologie und die Iatrochemie ebenso selbstverständlich umspannt wie die akademische Botanik und Pharmakologie der Frühen Neuzeit. Dies führt keineswegs zu Widersprüchlichkeiten oder oberflächlichen Nivellierungen in Rists Argumentation. Vielmehr steht die Bewältigung einer solchen Quellenvielfalt im funktionalen Zusammenhang einer modellhaften Auseinandersetzung mit der gängigen Buchgelehrsamkeit sowohl auf dem Wege des docere als auch auf dem des probare: Die referierten Positionen werden, ebenso wie auch einige kolportierte

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Johann Rist: Die AllerEdelste Tohrheit Der gantzen Welt/ Vermittelst eines anmuhtigen und erbaulichen Gespräches/ Welches ist diser Ahrt Die Dritte/ und zwahr Eine MärtzensUnterredung/ Beschrieben und fürgestellet [1664]. In: ders.: Sämtliche Werke. Hg. v. Eberhard Mannack. Bd. 5: Epische Dichtungen (Die alleredelste Torheit, Die alleredelste Belustigung). Berlin, New York 1974 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts), S. 1–181, hier S. 38.

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Volksweisheiten, von Rist stets sorgfältig geprüft und letztlich nach Maßgabe der eigenen Erfahrung bestätigt oder verworfen.33 Mit dieser Herangehensweise stellt Rist neben seiner soliden Fachkompetenz vor allem auch ein unbestechliches iudicium unter Beweis, ein Urteilsvermögen, welches der Empirie allemal den Vorrang gibt vor der im Zuge der neuzeitlichen Revolution der Wissenschaften zwar oft kritisierten, aber bis weit ins 17. Jahrhundert hinein vollkommen üblichen Belegführung durch auctoritas-Argumente.34 In einem zumindest vordergründig leichten Plauderton, der thematische Sprünge und Digressionen nicht nur zulässt, sondern nachgerade zu suchen scheint, handeln die Rahmenerzählungen zwar im besten Sinne des Wortes von Gott und der Welt, aber der pflanzenkundliche Fokus bleibt stets gegenwärtig. Erörtert werden insgesamt rund 25 verschiedene Zier- und Nutzpflanzen, wobei der ›Rüstige‹ als Experte unter den Gesprächsteilnehmern bei mancher Pflanze, die gemeinhin nur für ihre Schönheit oder ihren Duft bekannt ist, auch arzneiliche Verwendungen anzugeben weiß. Beinahe schablonenartig gehen die botanischen Exkurse auf bestimmte Gesichtspunkte ein: Jedes Gewächs wird zunächst mit seinem lateinischen Namen sowie mit seinen verschiedenen muttersprachlichen Bezeichnungen genannt. Sodann beschreibt Rist die Morphologie von Blüten, Blättern und Wurzeln, geht auf Farb- und Formvarianten der Pflanzen sowie auf die Herkunft verschiedener Unterarten ein. In den meisten Fällen erläutert er auch, welche Teile der Pflanzen arzneilich verwertbar sind und wie man sie zubereitet, anwendet und lagert. Fernerhin enthalten die Gartengespräche ausführliche etymologische Einlassungen, die teils bis auf antike Mythen zurückgreifen – so etwa im Falle der Narzissen und Hyazinthen auf die entsprechenden Episoden in den Metamorphosen Ovids. Außerdem finden sich oftmals Auseinandersetzungen mit Pflanzen in Sprichwörtern und Redewendungen, mit populären Irrtümern in der Botanik sowie mit Streichen und Betrügereien, die mit Hilfe der Wirkung einiger Pflanzen anzustellen seien. Mutet dieses Darstellungsmuster auf den ersten Blick an wie ein loses Geflecht kurzweiliger, jedoch recht inhomogener Fakten, so verbirgt sich dahinter tatsächlich die literarische Adaption einer im naturwissenschaftlichen Diskurs etablierten Wissensordnung. Denn das von Rist gewählte Inventarisierungsverfahren entspricht bis ins Detail jenen Strukturprinzipien,35 die der griechische Arzt Pedanios Dioskurides (um 40–90 n. Chr.) seiner fünfbändigen Abhandlung De materia medica (gr. Peri hyles iatrikes) zugrunde gelegt hatte. Dieser Text, der als mit Abstand wirkungsmächtigster Referenztext der gesamten Pharma33

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Vgl. zur ›bürgerlichen Öffentlichkeit‹ (J. Habermas) als Bedingung für eine dahingehende Neuorientierung an der Wende zur Frühaufklärung z. B. Josef Kopperschmidt: Argumentationstheorie zur Einführung. Dresden 2002, S. 18f.; sowie ausführlicher Werner Faulstich: Geschichte der Medien. Bd. 4: Die bürgerliche Mediengesellschaft (1700–1830). Göttingen 2002. Vgl. im Überblick zu den wissenschaftsgeschichtlichen Neuerungen der Frühen Neuzeit Lisa Jardine: Ingenious Pursuits: Building the Scientific Revolution. London 1999. Vgl. zur Darstellungsweise bei Dioskurides im einzelnen John M. Riddle: Dioscurides on Pharmacy and Medicine. Austin 1985 (History of Science Series 3).

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ziegeschichte gelten darf,36 wird nicht zuletzt bei allen der von Rist konsultierten Autoritäten verwendet bzw. im Falle von Mattioli sogar mit reichem Kommentar übersetzt.37 Daher darf die produktive Rezeption dieser pharmakologischen Schreibtradition in den Rahmenerzählungen der Monatsgespräche als gesichert gelten, auch wenn Rist selbst nicht explizit auf Dioskurides rekurriert. Als typisches Beispiel, an dem sich Rists Vermittlungsschema botanischer Gelehrsamkeit stellvertretend illustrieren lässt, eignet sich die Auseinandersetzung mit der Tulpe im April-Gespräch. Die in seinem Garten gegen Monatsende fast schon verblühten Blumen erinnern den ›Rüstigen‹ zum einen an kunstvolle Collagen aus abgefallenen Blütenblättern, die er mehrfach gesehen habe und zum anderen an die Ansicht des niederländischen Theologen Petrus Hondius (1578–1621), die Tulpe sei aufgrund ihrer Farbenvielfalt durch die Malerei nicht zu imitieren. An diese anekdotische Eröffnung schließt eine Klage über den verringerten Tulpenbestand in seinem Südergarten an, die sich mit Hinweisen zum korrekten Anbau verbindet. Denn ein »Weib/ welches/ läßt es einen sehr guhten Gahrten-Verstand hatte fürgegeben«, hatte »gahr feisten Pferdemist« in solcher Menge in die Beete gegeben, dass die Zwiebeln »mit hauffen waren verfaulet«.38 Tatsächlich bedürften Tulpen einer »Erde/ die nicht gahr zu luk [d. i. locker]/ sondern etwas leimicht/ mit wenig Sand vermischet«39 sein sollte. Als sich der Gärtner nach der Bedeutung des Wortes ›Tulpe‹ erkundigt, führt der ›Rüstige‹ aus, dass »Tulipa ein Schlavonisches Wohrt sey/ welches einen Türkischen Huht oder Bund/ von den Türken Tulipant/ Dulpant/ Dulbende genandt/ bedeute/ zumahlen diese Bluhmen etlicher mahssen die Form oder Gestalt eines solchen Türkischen Huhtes haben«.40 Während es in der antiken Botanik keinen eindeutigen Beleg für die Tulpe gebe, sei sie neuzeitlich weit verbreitet: Von den Türken wird diese Bluhme genannt Cafa Lale, Ale, Zambul, wir Teütschen heissen sie Tulipen/ die Niederländer aber Tülpel/ welches Wohrt sonst bei den Teütschen/ einen groben ungeschliffenen Menschen bedeütet/ Herr Hondius nennet es Narrenkraut/ die-

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Vgl. zur Breite der Rezeptionsgeschichte die materialreiche Dokumentation bei César E. Dubler, Elías Terés: La ›Materia médica‹ de Dioscórides. Transmisión medieval y renacentista. 6 Bde. Barcelona 1952–59. Basierend auf der lateinischen Fassung Jean Ruels aus dem Jahr 1516 publizierte Pietro Andrea Mattioli seine in mehreren Folgeauflagen erweiterte, ab der vierten Auflage mit 563 Holzschnitten illustrierte italienische Ausgabe Di Pedacio Dioscoride Anazarbeo libri cinque della historia, & materia medicinale tradotti, die erstmals 1544 in Venedig erschien. Johann Rist: Die AllerEdelste Belustigung Kunst- und Tugendliebender Gemühter/ Vermittelst eines anmühtigen und erbaulichen Gespräches Welches ist dieser Ahrt/ Die Vierte/ und zwahr Eine Aprilens-Unterredung/ Beschrieben und fürgestellet [1666]. In: ders.: Sämtliche Werke. Hg. v. Eberhard Mannack. Bd. 5: Epische Dichtungen (Die alleredelste Torheit, Die alleredelste Belustigung). Berlin, New York 1974 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts), S. 183–411, hier S. 242. Ebd., S. 243. Ebd.

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Stefanie Stockhorst weil keine Bluhme unter der Sonnen wird gefunden/ in welcher Schönheit die MenschenKinder sich mehr vernarret/ als eben die Tulipen/ daher auch das Wohrt Tulipomania oder Tülpen-rosern kommen.41

Nach dieser Anspielung auf den europäischen Tulpenrausch, der im Frühling des Jahres 1637 mit exorbitanten Preisen für einzelne Zwiebeln kulminiert war,42 gibt der ›Rüstige‹ einen Überblick über das weltweite Vorkommen dieser Blume. Im Rückgriff auf Dodoens teilt er mit, dass man in Asien rote und gelbe Tulpen schätze, in Deutschland aber »die geflammede/ gestreiffelte/ gesprengelte/ geflügelte/ und die allerbunteste« bevorzuge, insbesondere, so setzt er mit feinem Spott hinzu, »wenn deroselben Besitzer ein guther Redner ist/ und den wehrt/ am meisten aber die Schönheit und herliches Ansehen solcher Blumen weiß heraus zu streichen«.43 Darauf folgt eine lange Aufzählung von Tulpenarten mit unterschiedlichen Blütezeiten, so etwa »unter den frühen Tulipen die gelbe mit ihren Verenderungen/ imgleichen die rohte/ weisse und purpurfarbe« sowie unter den späten die »grühnen/ doppelten Tulipen/ welche wie ein Bluhmenkohl sollen anzusehen seyn«.44 Die Liste heimischer und exotischer Sorten setzt sich über mehrere Druckseiten fort, bis der ›Rüstige‹ über den jahresweisen Wechsel von Farbe und Schönheit der Tulpen zu dem Streitpunkt kommt, ob es sie auch mit blauer oder schwarzer Blüte gebe. Während er das vermeintliche Schwarz als optisch sehr dunkle Nuance einer anderen Farbe deutet, bestreitet er die Existenz blauer Tulpen, und zwar gleichermaßen aus seinem Erfahrungs- und Buchwissen heraus: Jch bin aber in diesem Falle ein Thomist/ wann ich eine recht blaue Tulipen sehe/ so wil ich glauben/ daß sie blau sei/ unterdessen mit den hochberühmten Männern als dem Gesnero, Bauhino, Clusio, Hondio, und anderen/ welche öffentlich bekennen/ daß sie niemahlen eine blaue Tulipe gesehen/ dafürhalten/ daß sie gahr schwehrlich zu finden.45

Desgleichen nennt der ›Rüstige‹ Lauremberg als Gewährsmann für grüne Tulpen, kann aber deren Vorkommen auch aus der eigenen Gartenpraxis bestätigen. An späterer Stelle folgen Ausführungen zu einer neuen Tulpensorte aus Syrien, die rote Tulipa von Aleppo,46 deren Darstellung bei Leonhard Ursinus Rist kleinteilig referiert, nicht ohne zu erwähnen, dass sich dort auch ein vereinzelter Beleg für blaue Tulpen finde.

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Ebd. Vgl. im aktuellen Überblick z. B. die wirtschaftswissenschaftliche Skizze von Earl A. Thompson: The Tulipmania: Fact or Artifact? In: Public Choice 130 (2007), H. 1/2, S. 99– 114; sowie aus kulturhistorischer Sicht Anne Goldgar: Tulipomania. Money, Honor, and Knowledge in the Dutch Golden Age. Chicago 2007. Rist 1666 (wie Anm. 38), S. 245. Ebd. Ebd., S. 247. Wer Schwartzius mit seinem »Bluhmenbuche« ist, auf den sich Rist wegen der roten Farbe der Tulpe von Aleppo bezieht, ließ sich einstweilen nicht ermitteln. – Vgl. Rist 1666 (wie Anm. 38), S. 255.

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Auf die Frage des Gärtners, welche Tulpe die »schätzbahrste und allerbeste« sei, erwidert der ›Rüstige‹ unentschieden, er halte etliche »für absonderlich schön und kostbahr«,47 um neuerlich eine umfangreiche Liste nunmehr derjenigen Tulpensorten aufzustellen, die er selbst schon gepflanzt habe. Beeindruckt durch so viele »wunderliche Namen« bringt der Gärtner sein Erstaunen zum Ausdruck, wie man »selbige noch alle behalten« könne. Der ›Rüstige‹ hält ihm daraufhin lapidar entgegen, das könne man nachlesen in Bauhins Pinax sowie in Muntings Groninger Katalog, in dem »allein von Tulipen fast zweyhundert unterschiedliche Ahrten« verzeichnet seien.48 Schließlich nimmt der ›Rüstige‹ Stellung zu der umstrittenen Heilwirkung des Salzes, welches sich aus »Wurtzel/ Kraut und Bluhmen« der Tulpe gewinnen lasse. Seiner Auffassung nach helfe es bei »einer gar beschwerlichen Kranckheit«, die er allerdings »zu diesem mahle nicht nennen« wolle.49 Nach Lauremberg seien Tulpenzwiebeln außerdem hervorragend zum Verzehr geeignet, da sie »nicht allein dem Menschlichen Leibe ein guhte Nahrung mittheilen; Sondern auch den alten Venus-Rittern/ die sich bey ihren jungen/ schönen Weibern gerne wolten beliebet machen/ treflich wol sol [!] bekommen«.50 Zu diesem Zwecke könnten die Zwiebeln »entweder unter Asche gebrahten/ oder auch in Wasser gekocht/ mit Essig/ Oehl/ Saltz und Pfeffer zubereitet«51 werden. Wie üblich macht Rist auch hier auf eine kritische Stimme aufmerksam, würden doch »die jenige/ die solches thun/ von dem hocherfahrnen Pètro Hondio, als welcher die Tulipen-Zwiebel nicht das geringste mehr oder besser schätzet/ als eine Rübe/ womit man den Bauch füllet/ fein höflich bespottet und außgelachet« werden.52 Der Tulpen-Passus endet mit Überlegungen zur Wetterfühligkeit dieser Pflanze, die sich bei Sonnenschein weit öffne. »So bald aber die liebliche Sonnen-Strahlen/ von den Wolcken oder Regen zu rükke getrieben oder verhindert werden/ schliesset sie sich feste zu und ermattet gleichsahm/ als wenn sie über das Abwesen des allerherrlichsten Lichtes sich schmertzlich betrübte«.53 Für dieses Phänomen liefert Rist bezeichnenderweise keine botanische Deutung, sondern eine theologische, da er hinter dem Verhalten der Blume eine tiefergehende Sinnschicht annimmt, die sich auf dem Wege des frühneuzeitlichen Analogiedenkens erschließt und im Folgenden eine genauere Untersuchung verdient: Jch habe hierüber offtmahls meine (vielleicht unnütze) Gedancken gehabt/ indem die diese Bluhme/ wie das menschliche Hertz eines Gottergebenen Christen fürkommen/ welches/

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Ebd., S. 249. Ebd., S. 250. Ebd., S. 251. Ebd., S. 251f. Ebd., S. 252. Ebd. Ebd., S. 256.

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Stefanie Stockhorst wenn es von dem edelsten Glantze seines allersüssesten HErren Jesu wird bestrahlet/ sich für Freuden öffnet und gleichsahm von lauter rühmlichen Tugenden blühet.54

4. Allegoretische Blütenlese und Gotteserkenntnis aus der Natur Eine religiöse Projektion pflanzlicher Eigenschaften, wie sie im vorgängigen Zitat stattfindet, lässt erkennen, dass die Rahmenerzählungen der Monatsgespräche nicht allein auf die Botanik abzielen, sondern auch auf deren theologische Auslegung, denn, wie Eberhard Mannack beiläufig beobachtete, »Naturwissenschaftlich-gelehrte Neugier und traditionell-geistliches Weltverständnis vermochte der norddeutsche Pastor offensichtlich mühelos miteinander zu verbinden«.55 In der Tat zieht sich eine augenfällige, aber keineswegs ungewöhnliche Verquickung von Theologie und Naturkunde, die sich beispielsweise in Johann Arndts überaus wirkungsmächtigem Traktat mit dem programmatischen Titel Paradiesgärtlein voller christlicher Tugenden (1612 u. ö.) schon andeutet, bei Rist als roter Faden durch die Rahmenstücke. Diese sollen, wie es in einer Absichtserklärung im März-Gespräch heißt, »allerhand feine und nützliche Unterredunge/ nicht nur von Bluhmen/ Kräutern und Gewächsen/ sondern auch von höheren/ und unseren Christlichen Glauben und Wandel betreffenden Sachen«56 präsentieren. In seinem als Ort der Andacht ausgewiesenen Garten57 rekapituliert der ›Rüstige‹ denn auch im Januar-Gespräch einen soeben gehaltenen Neujahrsgottesdienst, in dem er den Mitgliedern seiner Gemeinde Blumen geschenkt habe, »sie dabei treuligst erinnernd/ welcher mahssen sie ihr Leben und Wandel/ mit rühmlichen Tugenden solten zieren/ gleich wie die Bluhmen/ mit ihrer schönen Gestalt/ edlen Geruch und fürtreflichen Würkungen herlich prangen«.58 Durch diesen Vergleich gerät die Blume zur res significans, zu einem Zeichen also, dessen Bedeutung nicht nur auf ein dingliches Objekt, 54 55

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Ebd. Eberhard Mannack: Grimmelshausens Rist-Lektüre und die Folgen. Jupiterepisoden und Friedensspiele. In: Barocker Lust-Spiegel. Studien zur Literatur des Barock. FS Blake Lee Spahr. Hg. v. Martin Bircher, Jörg-Ulrich Fechner und Gerd Hillen. Amsterdam 1984, S. 279–294, hier S. 282. Rist 1664 (wie Anm. 32), S. 33. Diese Bedeutungsgebung findet sich auch im Mai-Gespräch: »Kehre ich mich hin zu meinen Garten-Gewächsen/ nützlichen Kräutern und schönen/ wolriechenden Bluhmen/ so muß ich abermal meine Sinnen erheben/ und dem Schöpfer aller dieser Sachen/ auß dem innersten Grunde meiner Seelen dancken/ daß er solche Gewächse/ theils zu unser Nahrung und Erhaltung/ theils zu Wiederbringung unserer verlohrnen Gesundheit/ theils zu unserer sonderbahren Belustigung auß der Erde hat wollen herfür kommen lassen«. – Johann Rist: Die alleredelste Erfindung Der Gantzen Welt/ Vermittelst eines anmutigen und erbaulichen Gespräches/ welches ist dieser Art/ die Fünffte/ Und zwar eine Mäyens-Vnterrungungen/ Beschrieben und fürgestellet [1667]. In: ders.: Sämtliche Werke. Unter Mitwirkung von Helga Mannack. Hg. v. Eberhard Mannack. Bd. 6: Epische Dichtungen (Die Alleredelste Erfindung, Die Alleredelste Zeitverkürzung). Berlin, New York 1976, S. 1–240, hier S. 63. Rist 1663 (wie Anm. 16), S. 23.

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sondern auch auf dessen transzendentalen Sinn – in diesem Falle die Ermahnung zu einer christlichen Lebensführung – verweist. In der Verbindung von szientifischer und spiritueller Aneignung seiner Gartenpflanzen greift Rist nun allerdings auf eine Denkfigur zurück, die bei einem Pastor von zutiefst lutherischer Prägung zunächst womöglich etwas irritierend wirkt, wenngleich sie in der protestantischen Meditationskultur der Frühen Neuzeit durchaus gebräuchlich war. Es handelt sich dabei um die Allegorese,59 ein Verfahren, das auf dem Konzept des mundus significativus gründet oder, mit Hans Blumenberg, auf der ›Lesbarkeit der Welt‹.60 Gemeint ist damit die Annahme einer zeichenhaften Beschaffenheit des gesamten Kosmos, die es ermöglicht, aus den Erscheinungsformen der Natur die ihnen im Schöpfungsakt eingeschriebene göttliche Wahrheit abzulesen. Demnach kann und soll zusätzlich zum buchstäblichen Sinn der Dinge (sensus litteralis) noch eine weitere, verborgene Sinnschicht (sensus duplex) erkannt werden. Die Entschlüsselung des mehrfachen Schriftsinns, eben die Allegorese, diente bis zur Reformation als maßgebliches bibelhermeneutisches Verfahren, wurde jedoch von Luther mit seiner Forderung nach einer strikt wörtlichen Lektüre der Heiligen Schrift (sola scriptura) vehement zurückgewiesen. Gleichwohl blieb sie in säkularisierter Form selbst im protestantischen Milieu als Methode der ästhetischen Sinnstiftung noch bis zum ausgehenden 17. Jahrhundert ein Erfolgsmodell.61 In dieser Traditionslinie lassen sich auch die Gartengespräche verorten, in denen Rist mehrere Bedeutungsebenen der Pflanzenwelt nach dem sensus duplex auffächert. Zunächst einmal steht die literarische Pflanzenkunde bei Rist im Literalsinn für den ästhetischen Genuss sowie für die botanische und phytomedizinische Faktenvermittlung. Über diese offenkundige Ausdeutung der Natur hinausgehend, findet in den Texten außerdem eine theologisch motivierte Blütenlese statt, die, wie Rist in Anspielung auf das Matthäus-Evangelium (Mt 6, 28) mitteilt, von Gott nicht nur ermöglicht, sondern auch gewollt sei. So heißt es gleich im Januar-Gespräch: »Ja Er hat uns ausdrüklich befohlen/ das wir die Bluhmen und Feldlilien anschauen/ und in Betrachtung deroselben unvergleichlichen Schönheit/ uns der Göttlichen Barmhertzigkeit/ und getreusten Vorsorge/ in kindlicher Zuversicht/ sollen getrösten/ und versicheren«.62 In der Schönheit 59 60

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Vgl. grundlegend Friedrich Ohly: Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 89 (1958/59), S. 1–23. Vgl. die titelgebende Wendung bei Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt a. M. 1986; sowie die aktuelle Überblicksdarstellung bei Maximilian Bergengruen: Nachfolge Christi – Nachahmung der Natur. Himmlische und Natürliche Magie bei Paracelsus, im Paracelsismus und in der Barockliteratur (Scheffler, Zesen, Grimmelshausen). Hamburg 2007 (Paradeigmata), S. 160–172. Vgl. z. B. Klaus Haberkamm: »Sensus astrologicus«. Zum Verhältnis von Literatur und Astrologie in Renaissance und Barock. Bonn 1972 (Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft 124), bes. S. 117–124; sowie Bergengruen (wie Anm. 60), S. 178– 285. Rist 1663 (wie Anm. 16), S. 29f. – Wörtlich zitiert Rist aus diesem Passus im MaiGespräch: »Schauet die Lilien auff dem Felde/ wie sie wachsen [...]«. Rist (wie Anm. 5), S. 63.

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und Heilkraft der Pflanzen als ihren unmittelbar gegenwärtigen Eigenschaften manifestiert sich demnach die Güte Gottes, so dass der Anblick des Gartens auch Tröstung und Glaubensgewissheit zu bieten vermag. So, wie Rist bei anderer Gelegenheit einen am Elbufer gelegenen Hügel als seinen Parnass bezeichnete, um sich selbst als Hausherr im Sitz der Musen stilisieren zu können,63 haben auch seine beiden Gärten ein prominentes Vorbild, das ihm bei seiner Trostsuche – insbesondere angesichts des leidvollen Todes seiner Ehefrau Elisabeth, den er als Anstoß für die Monatsgespräche nennt64 – gleichsam im Sinne einer consolatio hortis zweifellos entgegen kam. Denn zwei Gärten finden sich auch in Justus Lipsius’ (1547–1606) Prosadialog De constantia (1584), wo sie nicht nur als Orte der Rekreation, sondern mit dem Werden und Vergehen der Pflanzen auch als Beweis für das Walten einer göttlichen Vorsehung begriffen werden.65 Im fiktiven Gespräch mit seinem Mentor Karl Langius staunt Lipsius über den Garten als Mikrokosmos: »Wie viele seltene und neue Gewächse, so dass es den Anschein hat, dass die Natur alles, was es in unserer und in der Neuen Welt gibt, in diesen kleinen Ort eingeschlossen hat«.66 Die theologische Ausdeutung dieser Naturschönheit zeugt von einer diskursgeschichtlichen Vorläuferschaft gegenüber den Monatsgesprächen, denn weiter heißt es bei Lipsius: Und so wie fast niemand den Himmel und die feurigen Sterne ohne heimliches Erschrecken und religiöses Empfinden ansehen kann, eben so ist es nicht recht möglich, daß derjenige, der diesen heiligen Schatz der Erde und diese schöne Zierde der untersten Welt ansieht, nicht still eine große Freude empfindet und insgeheim davon gekitzelt wird.67

Mit derselben argumentativen Stoßrichtung gelangt Rist auch über die Pharmazie oder, genauer gesagt, über die Allopathie zur Einsicht in die göttliche Providenz, sei doch nicht zuletzt aus den Wirkungen der Pflanzen »die große Gühte des Schöpfers zu verspühren/ welcher auch den allerschädlichsten Dingen ihr gewisses Gegengift hat verordnet«.68 In diesem Sinne gerät auch die Arzneimittelherstellung bei Rist unversehens zum Gottesdienst, wenn er seine »Chymische Verrichtunge« anspricht, mit denen er »manche liebe Stunde zubringe/ und die grosse Wercke GOttes mit höchster Belustigung [s]einer Seelen/ in dieser 63

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Vgl. die geschickte Rhetorik dieser Stilisierung bei Johann Rist [hier: Der Rüstige]: Nohtwendiger Vorbericht An Den Teütschen Leser. [Vorrede]. In: ders.: Neuer Teütscher Parnass/ Auff welchem befindlich Ehr’ und Lehr Schertz und Schmertz Leid und FreüdenGewächse/ Welche zu unterschiedlichen Zeiten gepflanzet/ nunmehr aber Allen/ der Teütschen Helden-Sprache und deroselben edlen Dichtkunst vernünfftigen Liebhaberen/ zu sonderbarem Gefallen zu hauffe gesamlet und in die offenbare Welt außgestreuet. Lüneburg 1652, [28 S. o. Paginierung], hier S. [1] u.[7]; sowie Stockhorst (wie Anm. 15), S. 364–368. Rist 1663 (wie Anm. 31), Vorbericht an den aufrichtigen Leser, S. 15. Vgl. Justus Lipsius: De constantia. Von der Standhaftigkeit. Lateinisch – Deutsch. Übers., kommentiert u. m. einem Nachwort versehen v. Florian Neumann. Mainz 1998 (excerpta classica 16), S. 173. Ebd., S. 177. Ebd., S. 181. Rist 1663 (wie Anm. 16), S. 51.

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edlen Wissenschafft betrachte«.69 Hinter den durchaus handwerklich geschilderten Labortätigkeiten des Apothekers scheinen hier womöglich Reflexe der hermetischen Naturphilosophie70 auf. Diese geht von dem Vorhandensein einer durch Emanation mehr oder weniger verdünnten göttlichen Ursubstanz (materia prima) in allen Elementen der Schöpfung aus. Damit bildet sie die Grundlage für die medico-pharmazeutische Alchemie, deren Ziel darin lag, die göttliche Ursubstanz – und mit ihr das Geheimnis des ewigen Lebens – mit Hilfe ausgeklügelter Destillationsverfahren zu gewinnen.71 Eine dahingehende Bezugnahme Rists erscheint in zweierlei Hinsicht plausibel. Zum einen trat er selbst als Verfasser eines kleinen Alchemietraktats mit dem Titel Philosophischer Phoenix (1638) an die Öffentlichkeit, das noch postum im Jahr 1682 seine vierte Auflage erreichte.72 Darin geht es um ein Verfahren zur Erlangung des »Philosophischen Steins/ welcher alles/ was unter der Sonnen lebet/ (nach deme er erstlich alle schädliche und gifftige Seuchen und Kranckheiten durch seine gleich himmlische Tugenden hat hinweg genomen) bey frischer Gesundheit und langen [!] glückseeligen Leben thut erhalten«.73 Zum anderen besteht seit dem im 13. Jahrhundert entstandenen, jedoch erst 1555 anonym in De Alchemia Opuscula gedruckten Rosarium Philosophorum des Arnaldus de Villanova (um 1235–1311) eine Verbindung zwischen der Alchemie und der Bildsphäre des Gartens, der wie die höheren Geheimnisse der Scheidekunst nur auserwählten Weisen zugänglich war.74 Das konsolatorische Moment, welches in den Monatsgesprächen aus der göttlichen Ordnung der Natur abgeleitet wird, beschränkt sich indes nicht allein auf das Diesseits, sondern verweist außerdem auf die Auferstehung und das ewige Leben. Rist vertritt die durchaus gängige Ansicht, dass der gesamte

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Rist 1667 (wie Anm. 57), S. 79. Vgl. Wilhelm Kühlmann: Der ›Hermetismus‹ als literarische Formation. Grundzüge seiner Rezeption in Deutschland. In: Scientia Poetica 3 (1999), S. 145–157; grundlegend ferner die Beiträge und Quellenabdrucke in Martin Mulsow (Hg.): Das Ende des Hermetismus. Historische Kritik und neue Naturphilosophie in der Spätrenaissance. Dokumentation und Analyse der Debatte um die Datierung der hermetischen Schriften von Genebrard bis Casaubon (1567–1614). Tübingen 2002 (Religion und Aufklärung 9); sowie immer noch Arthur O. Lovejoy: Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens. Übers. v. Dieter Turck. Frankfurt a. M. 1993 [amerik. EA 1936]. Vgl. z. B. Regula Fankhauser: Alchemistische Hermetik und emblematische Darstellung. In: Kodikas/Code. Ars Semeiotica 25 (2002), H. 1/2, S. 27–37; sowie Wolf-Dieter MüllerJahncie: Astrologisch-Magische Theorie und Praxis in der Heilkunde der Frühen Neuzeit. Stuttgart 1985 (Sudhoffs Archiv; Beihefte 25), zu den theoretischen Grundlangen bes. S. 33–134. Vgl. auch Karl Christoph Schmieder: Geschichte der Alchemie. Halle 1832, S. 377. Johann Rist [hier: J. R. H.]: Philosophischer Phoenix. Das ist: Kurtze jedoch gründliche und Sonnenklare Entdeckunge der waaren und eigentlichen Matery des Alleredelsten Steins der Weisen [...]. Nürnberg 1663 [weitere Drucke: 1638, 1668, 1675, 1682], S. 4. Vgl. entsprechende Belege bei Joachim Telle: ›Der Alchemist im Rosengarten‹. Ein Gedicht von Christoph von Hirschenberg für Landgraf Wilhelm IV. von Hessen-Kassel und Graf Wilhelm von Zimmern. In: Euphorion 71 (1977), H. 4, S. 283–305, hier S. 296–300.

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Heilsplan ebenso zuverlässig aus den Werken der Schöpfung abgelesen werden könne wie aus der Bibel: [D]en in disen Geschöpfen sehe ich nicht nur die herliche Würkungen der Natur/ sondern ich finde auch etwas übernatürliches darinn/ ja/ ich kan mich in fleissiger Betrachtung allerhand Kräuter und Bluhmen/ wie diselbe so gahr wunderbahrlich aus der Erde herfür kommen/ der Aufferstehung der Todten/ so festiglich versicheren/ das ich mich auch für dem sterben durchaus nicht fürchte/ sintemahl ich so wol aus dem Natur- als Schriftbuch nunmehr vollenkommen bin vergewißert/ das/ so wahr als GOtt unser Schöpfer lebet [...] auch wir/ sein Geschöpfe nach dem Tode widrum leben werden.75

Freilich wäre Rist bei aller Gottesfürchtigkeit nicht er selbst, ließe er sich nicht auch in diesem Kontext zu lustvollen Sottisen gegenüber seinen zahlreichen Neidern hinreißen,76 die ihn alsobald beschuldigen/ das dises Sachen weren/ die zu meiner Profession nicht gehöreten/ gerade als wen ein jedweder Christ nicht schuldig und gehalten were/ das er seinen GOtt und Schöpfer/ nach deme ihme von demselben verliehenen Verstande/ so wol aus der Natur/ als der heiligen Schrift recht lerne erkennen/ gerade/ als wen unsere Pflicht und Schuldigkeit nicht erforderte/ das wir unseren Negsten als uns selber liben/ und ihme in allen Gefährligkeiten Leibes und Lebens/ mit denen uns von oben herab verliehenen Gaben/ so viel uns nur immer menschlich und müglich/ solten zu hülffe kommen?77

Schließlich übernehmen die Blumen in den Gartengesprächen insofern eine zeichenhafte Funktion, als sie in ihrem raschen Werden und Vergehen die Unbeständigkeit des Irdischen (vanitas) vergegenwärtigen sollen. So arrangiert der ›Rüstige‹ gleichsam ein verblümtes memento mori, indem er seinen Gesprächspartnern im Juni mit den Worten »[m]emento, te esse florem« Blumenkränze aufsetzt, um sie zu ermahnen, dass »sie schwache und sterbliche Menschen wären«.78 Diese Orientierung wird zusätzlich unterstrichen durch ein lateinisches Epigramm über die Vergänglichkeit der Rose79 von dem italienischen

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Rist 1667 (wie Anm. 57), S. 31. – Ähnliches findet sich im Februar-Gespräch, wenn der ›Rüstige‹ in seinen Gartenpflanzen »nicht allein die grosse Almacht deß ewigen Schöpfers«, sondern auch die »algemeine Auferstehung der Todten« bestätigt findet. – Johann Rist: Das AllerEdelste Leben der gantzen Welt/ Vermittelst eines anmuhtigen und erbaulichen Gespräches/ Welches ist diser Ahrt Die Ander/ und zwahr Eine HornungsUnterredung/ Beschriben und fürgestellet [1663]. In: ders.: Sämtliche Werke. Hg. v. Eberhard Mannack. Bd. 4: Epische Dichtungen (Das alleredelste Naß, Das alleredelste Leben). Berlin, New York 1972 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts), S. 121–305, hier S. 183. Vgl. Stockhorst (wie Anm. 15), S. 354–359. Rist 1667 (wie Anm. 57), S. 46. Johann Rist: Die alleredelste Zeit-Verkürtzung Der Gantzen Welt/ Vermittelst eines anmuthigen und erbaulichen Gespräches/ Welches ist dieser Art die Sechste/ Und zwahr eine Brachmonats Unterredungen/ Beschrieben und fürgestellet [1668]. In: ders.: Sämtliche Werke. Unter Mitwirkung von Helga Mannack hg. v. Eberhard Mannack. Bd. 6: Epische Dichtungen (Die Alleredelste Erfindung, Die Alleredelste Zeitverkürzung). Berlin, New York 1976, S. 241–448, hier S. 300. Vgl. zur Tradition der vana rosa-Motivik Barbara Becker-Cantarino: »Die edlen Rosen leben so kurtze Zeit«: Zur Rosen-Metaphorik bei Gryphius, Góngora und den Quellen. In: Studien zur Literatur des 17. Jahrhunderts. Gedenkschrift für Gerhard Spellerberg (1937–

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Humanisten Hieronymus Angerianus (1475–1535), das Rists Ausführungen auf intertextueller Ebene allerdings eine durchaus frivole Note verleiht. Denn der vordergründig harmlose Text stammt aus der für ihre explizite Sinnlichkeit berüchtigten Sammlung Erotopaegnion (1512): Pulchra brevi durat Rosa Tempore, forma brevique Tempore, hic formæ par Rosa Tempus habes.80

In Rists eigener Übersetzung, die an gleicher Stelle mitgeliefert wird, lautet der Text in erweiterter Fassung ohne jeden zweifelhaften Hintersinn: Es blühet eine kurtze Zeit Die Roß’ im Feld’ und Garten/ So muß des Leibes Lieblichkeit Sich wie die Rosen arten/ Dan/ wie dieselb’ in kurtzer Frist Wird welck und muß vergehen; So kan der Mensch/ wie schön er ist/ Nicht lang’ auch hie bestehen.81

5. Von der Kosmologie zur Kompilatorik – Franciscis Fortsetzung Vor dem Hintergrund der christlichen Weltdeutung, wie sie in den Rahmenerzählungen programmatisch angelegt ist, gewinnt die Monatsgliederung der Gespräche eine Relevanz, die weit über die etwaige Absicht einer periodischen Erscheinungsweise der Monatsgespräche nach Art einer Zeitschrift hinausgeht.82 Wenn die sechs der ursprünglich geplanten zwölf Teile höchst sporadisch über rund sechs Jahre erschienen, schließt das eine Zuordnung der Monatsgespräche zum beginnenden Zeitschriftenwesen zwar nicht aus, erfordert sie aber auch nicht zwingend, zumal sich jenseits der Titelgebung keine Anhaltspunkte für eine dahingehende Absicht feststellen lassen. Demgegenüber stellt Rist nicht nur in der eingangs zitierten Januar-Vorrede den Jahreszyklus als semantische Klammer seiner Gespräche heraus, sondern leitet auch konsequent aus den Besonderheiten der einzelnen Monate die kosmologischen Kerngedanken der Rahmenerzählungen her. Somit handelt es sich bei der Monatsfolge in erster Linie um ein ästhetisches Kompositionsprinzip mit gezielter Signalwirkung, welches, wollte man es einer Zeitschrift zugrundelegen, deren

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1996). Hg. v. Hans Feger. Amsterdam, Atlanta 1997 (Chloe. Beihefte zum Daphnis 27), S. 11–33. Rist 1668 (wie Anm. 78), S. 256. – Im originalen Wortlaut leicht abweichend: »Pulchra brevi duras rosa tempore, forma brevique// Tempore. sic formae par, rosa, tempus habes«. (Girolamo Angeriano: The Erotopaegnion. A Trifling Book of Love. Hg., übers. u. komm. v. Allan M. Wilson. Nieuwkoop 1995 (Bibliotheca Humanistica & Reformatorica 53), S. 69 (Nr. X)). Ebd., S. 256f. Vgl. so bei Heudecker (wie Anm. 19), S. 55.

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Einstellung nach dem zwölften Teil erfordert hätte. Erschwert wird die strukturelle Einschätzung der Monatsgespräche indes dadurch, dass sich das von Rist noch in der Mai-Vorrede erbost dementierte Gerücht, er sei über der Abfassung der Textfolge verstorben,83 bereits vor dem Erscheinen des Juni-Gespräches bewahrheiten sollte. Zum einen ist Rist möglicherweise bereits selbst von seinem ursprünglichen Konzept abgewichen, um die Monatsgespräche wenigstens provisorisch abzuschließen. Dafür spräche das von ihm klar artikulierte Wissen um sein bevorstehendes Ableben in Verbindung mit einer elaborierten Todesbetrachtung im Juni-Gespräch, die thematisch doch besser als Endpunkt in den Dezember gepasst hätte. Zum anderen wurde das Werk von fremder Hand, namentlich durch Erasmus Francisci (1627–1694), um die Monate von Juli bis Dezember ergänzt. Als namhafter Buntschriftsteller trat Francisci eben doch mit ganz anderen Kenntnissen und Interessen auf als der naturkundlich versierte Theologe,84 zumal er die noch fehlenden Texte im Auftrag des Verlegers Johann Georg Schiele schrieb, dem es darum ging, fortgesetzten Profit aus Rists Erfolg zu ziehen.85 In der Vorrede zur Wintermonats-Unterredung (1670) bekennt Francisci rundheraus, dass er sich nur widerstrebend an das von seinem Vorgänger begonnene Schema gehalten habe: Wenn, bey diesen Monat-Gesprächen, die Weise und Ordnung allemal, in meiner eigenen Willkühr, beruhete: hätte ich die Frage: Welches das edelste Pferd sey? gleich anfangs auff die Bahn geführt, und abgehandelt. Weil aber der hochgelehrte Herr Johannes Rist sel. als erster Urheber dieser Unterredungen, in allen denselbigen, diesen Methodum, diese Discurs-Ordnung, geführt, daß er die Auffgabe, durch unterschiedliche Meynungen, und zwar mehrentheils durch die Oerter rednerischer Erfindungen, weitläufftig lauffen lassen: habe ich, ohnangesehen solche Manier bey allen Unterredungen, meines Erachtens, nicht mit gleichmässiger Annehmlichkeit zu practisiren stehet, dennoch auch dieses mal nicht gern die Fußstapffen meines Herrn Vorgängers gäntzlich quitiren, sondern mich etlichermassen darnach bequemen sollen.86

Immerhin bemüht sich Francisci, eine zumindest oberflächliche Kontinuität herzustellen, indem er die Monatsgliederung, die Zweiteilung der Texte in Rahmen- und Kerngespräche und die grobe Figurenkonstellation übernimmt. Auch verfolgt er wie Rist ein informativ-kritisches Konzept, wobei jedoch seine Disputationen zum einen punktuell in die thematische Banalität abgleiten, wenn 83

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Johann Rist: Teutsch-gesinnter und Kunst-libender Leser [Widmungsvorrede zu Die alleredelste Erfindung Der Gantzen Welt; 1667]. In: ders.: Sämtliche Werke. Unter Mitwirkung von Helga Mannack. Hg. v. Eberhard Mannack. Bd. 6: Epische Dichtungen (Die Alleredelste Erfindung, Die Alleredelste Zeitverkürzung). Berlin, New York 1976, S. 16– 33, bes. S. 7 u. S. 18. Vgl. zum Konzept des Polyhistorismus Herbert Jaumann: Was ist ein Polyhistor? Gehversuche auf einem verlassenen Terrain. In: Studia Leibnitiana 22 (1990), H. 1, S. 76–89. Vgl. Erasmus Francisci: Die aller-Edelste Rache Der aller-Edelsten Gemüther/ Vermittels eines anmuthigen und erbawlichen Gesprächs/ Welches ist/ dieser Art die Siebende/ Und zwar eine Heumonats-Vnterredung. Zur Nachfolge der vorhergehenden/ und vom Herrn Johannes Rist Seel. angefangenen Monat-Gesprächen/ geschrieben und fortgestellet Durch Erasmum Francisci. Frankfurt a. M. 1668, fol. ivv. Ders.: Vorbericht. In: ders.: Das alleredelste Pferd der gantzen Welt. Frankfurt a. M. 1670, S. 3f.

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es z. B. im November ohne jeden Hintersinn um die Frage danach geht, welches des beste Pferd sei. Zum anderen erscheinen sie argumentativ ungleich weniger stringent organisiert, wobei wiederum das Novembergespräch insofern regelrecht verworrene Züge annimmt, als passagenweise unklar ist, ob kategorial von verschiedenen Reittieren oder doch nur von verschiedenen Pferderassen die Rede ist. Während Rist in seinen Gesprächsrunden grundsätzlich vier mögliche Optionen verhandeln lässt, bietet Francisci jeweils fünf bis sechs, wobei offen bleibt, ob hierbei ein rhetorischer Überbietungswille im Sinne der aemulatio, das Streben des Polyhistors nach Abwechslung und Vielfalt oder lediglich eine formale Nachlässigkeit zugrunde liegt. Monat Juli

Gesprächsgegenstand die aller-Edelste Rache

August

die Aller-Edelste List

September

die Aller-Edelste Kunst

Oktober

das Alleredelste Ungluk

November

das Alleredelste Pferd

Dezember

die AllerEdelste Verändrung

Ergebnis wolthätige Rache (vor Blumen-Rache, GerichtsRache, Privat-Rache und Rache durch Wohlverhalten wider den Neider) Staats-List (vor mathematischer List, KunstList, Frauen-List, Kriegs-List und Hof-List) Kunst zu schweigen (vor Wasserkunst, Schifffahrt, Ticht-Kunst und Kunst des Sauffens) unschuldiges Leid (vor Kinderlosigkeit, schönem Weibs-Bild, Erlangung königlicher Hoheit und Übel, aus dem Gutes erwächst) wolzugerittenes, schneeweißes persisches Pferd (vor Esel und Elephant) Bekehrung (vor Veränderung der Gewächse, Gesteine, Tiere Menschen und Lebensverlängerung durch Bluttransfusion)

Tab.: Übersicht der Streitfragen und ihrer Beantwortung in Erasmus Franciscis Fortsetzung der Monatsgespräche

Weitere Abweichungen bestehen in der Lokalisierung der Gespräche, da Francisci, obwohl selbst gebürtiger Lübecker, sie aus Norddeutschland in einen Garten vor den Toren der Stadt Nürnberg versetzt, wo er selbst hauptsächlich

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wirkte.87 Dementsprechend rekrutiert sich auch das Personal seiner Gespräche nicht mehr aus dem Elbschwanenorden, sondern aus der Sozietät der PegnitzSchäfer. Als Gastgeber führt er nunmehr die Figur des ›Feliciano‹ ein, hinter dem sich der historische Georg Christoph Führer verbirgt, der Francisci als Gönner für die Monatsgespräche »von seiner schönen Flora dieses Orts/ mir einen freundlichen Winck nach dem andern/ und alle beförderliche Gunst/ hierzu versprochen«88 habe. Seine Gesprächspartner heißen Bibulus (was sich möglicherweise auf Johann Klaj bezieht), Philanto, Fontano und Politian. Die bei Rist so leichtfüßig anmutenden Gartengespräche erhalten bei ihm einen eher schleppenden Duktus, wobei einzelne Pflanzen bestenfalls noch genannt, aber nicht mehr funktional in den Text integriert werden. Inhaltliche Ausführungen zur Botanik entfallen gänzlich, aber Francisci versucht, wenn schon nicht die Pflanzen selbst, so doch wenigstens das Sprechen über sie Thema werden zu lassen. So liest man im Juli-Gespräch: »Anlaß/ sprach Philanthos/ und Trieb gibt er mir zwar genug/ aber nit die Zeit und Gelegenheit/ daz ich hierin mich selbsten/ auß den Naturkündigern und Botanicis oder Kräutlern/ solte genugsam können unterrichten«.89 Als Antwort erhält er folgenden Ratschlag: Wan es daran mangelt (erwiederte Polydor) warumb besucht mein Herr denn nicht den Herrn Feliciano? Welcher/ wie jhm nicht unbewußt seyn kann/ nicht allein ein fürtrefflicher Liebhaber sondern auch Besitzer seltener Pflantzen ist/ und einen Garten hat/ darinn sich die Jndianische/ Jtaliänische/ Niederländische und Teutsche Flora gar anmuthig küssen; Auch/ unter solchen seinen Blumen/ eine sonderbare höffliche Leutseeligkeit blühen läst/ den jenigen/ mit freundlicher Unterweisung/ zu begünstigen der von der Zucht/ Art/ und Tugend edler Gewächse/ einen Discurs zu hören verlangt.90

Da spätestens an dieser Stelle einschlägige Inhalte folgen müssen, auf die sich Francisci allerdings in diesem Zusammenhang nur rudimentär einlässt,91 findet der Anschluss hilfsweise durch den expliziten Rückverweis auf Rists Einlassungen statt: »Schaw dort! sprach Francade zum Philanthos/ stehet die Anthora oder Antithora, welche der Herr/ von dem edlem Rüstigen weitläufftig findet beschrieben«.92 Die von Rist deutlich markierte theologische Ausrichtung der Rahmenstücke schließlich tritt bei Francisci vollends in den Hintergrund. So verblassen bei ihm nicht nur Botanik und Phytomedizin zum bloßen Zitat, sondern es kommt in seiner Fortsetzung der Monatsgespräche eine tragende Textfunktion abhanden. 87 88 89 90 91

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Vgl. den Überblick bei Gerhard Dünnhaupt: Das Oeuvre des Erasmus Francisci (1627– 1694) und sein Einfluss auf die deutsche Literatur. In: Daphnis 6 (1977), S. 359–364. Francisci 1668 (wie Anm. 85), fol. vr. Ebd., S. 12. Ebd., S. 13. Dass er auf diesem Gebiet durchaus mehr zu leisten imstande war, zeigt am Beispiel des Ost- und West-Indischen wie auch Sinesischen Lust- und Statsgartens (1668) Roswitha Kramer: Gespräch und Spiel im ›Lustgarten‹. Literatur und Geselligkeit im Werk von Erasmus Francisci. In: Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter. Hg. v. Wolfgang Adam. Wiesbaden 1997 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 28/1), S. 505–530, bes. S. 520–525. Francisci 1668 (wie Anm. 85), S. 54.

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Bei Rist hingegen zeitigt die theologische Pointierung der rahmenden Gartengespräche durchaus gravierende Konsequenzen für den formalen und inhaltlichen Gesamtzusammenhang der Monatsgespräche, den es abschließend zu klären gilt. Der »Kunst- und Tugendliebenden Jugend«, an die sich Rist erklärtermaßen wendet, verspricht er, seine Texte würden »nicht nur anmuthig und lustig/ sondern auch sehr nützlich [...] sein zu lesen und zugebrauchen«, enthielten sie doch etliche Gegenstände, »derogleichen ihnen sonst wenig fürkommen/ demnach selbige nicht so viel aus den Bücheren/ als aus eigener Erfahrung der rechten und wahren Lehrmeisterinn aller Dinge sind genommen«.93 Um sich die behandelten Sujets möglichst gut einprägen zu können, empfiehlt er, seine Texte nicht nur zu lesen, sondern sie am besten auch noch ins Lateinische zu übersetzen.94 Die erklärten Zielsetzungen der Monatsgespräche liegen somit zunächst einmal in der unterhaltsamen und abwechslungsreichen Belehrung im Sinne des horazischen prodesse aut delectare sowie in der Gedächtnisübung einer rhetorischen memoria, die Markus Völkel auch als Grundzug der nichtfiktionalen Gelehrtenkonversation nachgewiesen hat.95 Die Analyse der Rahmenerzählungen zeigt darüber hinaus, dass es hier mitnichten allein um die literarische Demonstration und Vermittlung von botanischem Wissen geht, sondern mindestens ebenso sehr auch um die spirituelle Erbauung an der göttlichen Durchwirkung der Welt. Denn im Mikrokosmos des Gartens werden zwar Botanik, Phytomedizin und Allopathie zunächst einmal um ihres theoretischen und praktischen Nutzens willen nach dem szientifischen Beschreibungsmuster des Dioskurides referiert. In einem zweiten Schritt kommt jedoch das Verfahren der Allegorese zum Tragen, mit dessen Hilfe die exemplarische Erkenntnis eines höheren Waltens im Makrokosmos aus der Natur ermöglicht wird. Auf dieser Folie ist auch das Arbeitszimmer zu verstehen, das im Juni-Gespräch als Apotheke, Bibliothek und Raritätenkammer96 beschrieben wird. Bei selbstdestilliertem Aquavit zeigt der ›Rüstige‹ seinen Gästen neben wissenschaftlichen Instrumenten auch archäologische Funde aus der Region, Medaillen, Münzen, Mineralien, Perlen, Magnete, Kunstgegenstände sowie zahlreiche weitere Kuriositäten,97 die als Ensemble die Analogievorstellung des macrocosmos in microcosmo repräsentieren.98 Spätestens in diesem Licht er93 94 95

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Rist 1663 (wie Anm. 31), Vorbericht an den aufrichtigen Leser, S. 15f. Vgl. ebd., S. 16f. Vgl. Markus Völkel: Zwischen médisance und critique. Spielerische Varianten gelehrter Konversation im 17. Jahrhundert. In: Adam (wie Anm. 91), Teil 2, S. 673–678, bes. S. 677f. Vgl. zu dieser frühneuzeitlichen Form der Kuriositätensammlung z. B. Robert Felfe, Angelika Lozar (Hgg.): Frühneuzeitliche Sammlungspraxis und Literatur. Berlin 2006; Patrick Mauriès: Das Kuriositätenkabinett. Köln 2003; Oliver Impey (Hg.): The Origins of Museums. The Cabinet of Curiosities in 16th and 17th Century Europe. Oxford 1985. Vgl. Rist 1668 (wie Anm. 78), S. 289–298. Vgl. Jan C. Westerhoff: A World of Signs. Baroque Pansemioticism, the Polyhistor and the Early Modern Wunderkammer. In: Journal for the History of Ideas 62 (2001), S. 633–650; sowie Andreas Grothe (Hg.): Macrocosmos in Microcosmo. Die Welt in der Stube. Zur Geschichte des Sammelns 1450 bis 1800. Opladen 1994.

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scheinen die Monatsgespräche in ihrer vordergründig irritierenden Themenfülle nicht mehr als farbenfrohes Sammelsurium, sondern als Trostbuch mit kosmologisch geordneter Gesamtkomposition, das zunächst einmal der naturkundlichen Wissensvermittlung dient, vor allem aber einen göttlichen Heilsplan im wechselseitigen Abbildungsverhältnis der großen und kleinen Schöpfungswerke ästhetisch inszeniert.

Rosmarie Zeller

Vom Wunder zur Kuriosität Wunderbücher und ihre Rezeption in Deutschland

Zu den erfolgreichsten Miscellanea-Sammlungen, die ihrerseits weitere Sammlungen speisten, gehören die sogenannten Wunderbücher, die in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts aufkamen. Sie sind einerseits im Zusammenhang mit dem besonders im Luthertum aktuellen Endzeitglauben zu sehen,1 andererseits aber auch im Zusammenhang mit der Entdeckung neuer Welten und damit neuer Pflanzen und Tiere sowie einer Neubewertung der Curiositas, die nicht mehr wie im Mittelalter nur negativ gesehen wurde. Die Wunderbücher befinden sich an der Kreuzung zwischen dem neu erwachten Interesse an historischem und naturkundlichem Wissen und dem Bedürfnis nach nicht nur belehrender sondern auch unterhaltender und die Neugier befriedigender Literatur. Die vielfache Funktionalität dieser Art von Sammlungen mag ihre Langlebigkeit, aber auch die Langlebigkeit einzelner Geschichten, die in den verschiedensten Kontexten und Medien während dem ganzen 17. Jahrhundert wieder auftauchen, erklären.2 Es bestehen Wechselbeziehungen von Wunderbüchern zu Literatur mit einem eher wissenschaftlichen Anspruch wie z. B. medizinischen Berichten über Monstren, astronomischen Berichten über Kometen und andere Himmelserscheinungen, Reiseberichten, Naturgeschichten, aber auch Flugblätter. Die Fakten aus dieser Sachliteratur gelangen in die Wunderbücher wie sich umgekehrt diese Art Literatur auch wiederum auf Wunderbücher stützen kann.3 Als Wunder gelten in der Frühen Neuzeit alle Erscheinungen, die vom normalen Gang der Natur abweichen,4 das heißt Naturkatastrophen wie Erdbeben, Überschwemmungen, Springfluten, Bergstürze und ähnliches, Himmelserscheinungen wie Kometen, Sonnen- und Mondfinsternisse und alle Arten von Spiegelungen, Supernovas usw., dann Missbildungen aller Art, die unter dem Na1

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Vgl. dazu Heinz Schilling: Job Fincel und die Zeichen der Endzeit. In: Volkserzählung und Reformation. Zur Tradition und Funktion von Erzählstoffen und Erzählliteratur im Protestantismus. Hg. v. Wolfgang Brückner. Berlin 1974, S. 326–392. Siehe dazu: Rosmarie Zeller: Naturwunder, Wunderbücher und ihre Rolle in Grimmelshausens Werk. In: Simpliciana XXVI (2004), S. 77–103. Zur politischen Instrumentalisierung siehe William E. Burns: An Age of wonders. Prodigies, politics, and providence in England, 1657–1727. Manchester 2002. So zitiert zum Beispiel Ambroise Paré in seinem Buch über Monstren (Des monstres et prodiges. Paris 1573) ausgiebig Pierre Boaistuaus Histoires prodigieuses (1560). Siehe die Formulierung im Titel von Lycosthenes’ Prodigiorum ac ostentorum chronicon (1557) »quae praeter naturae ordinem, motum et operationem [...] acciderunt«.

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Rosmarie Zeller

men der Monstren zusammengefasst werden, sodann Abweichungen auf moralischem Gebiet wie außerordentlich grausame Verbrechen, außerordentliche Tapferkeit usw.5 Als Wunder / mirabilia gelten auch seltene Pflanzen, Tiere oder Menschen, die irgendwo weit weg am Rande der Welt vorkommen. Zu den potentiellen Stoff-Lieferanten von Wundern gehört ferner das weite Feld der Magia naturalis, welche Phänomene beschreibt, die durchaus natürlichen Ursprungs sind, deren Ursache man aber nicht kennt. Alle diese Phänomene gehen in wechselnden Kombinationen in die Wunderbücher ein, die die Anfänge der Wissenschaftlichen Revolution überlebten, ja teilweise bei ihren Vertretern auf neues Interesse stießen.6 Was in den Wunderbüchern des 16. Jahrhunderts noch nebeneinander stand, differenzierte sich teilweise in eigene Gattungen aus. Die außerordentlichen Verbrechen werden zum Gegenstand der Histoires tragiques. Nicht zufällig hat der Erfinder der Histoires prodigieuses (1560), Pierre Boaistuau (1520–1566), auch die ersten Histoires tragiques publiziert, ebenso wie sein Fortsetzer François de Belleforest (1530–1588). Diese wurden dann von Autoren wie François de Rosset (1571–1619) oder Pierre Camus (1584–1652) fortgesetzt und schließlich von Martin Zeiller (1589–1661) und Georg Philipp Harsdörffer (1607–1658) in Deutschland eingeführt. Die Berichte von außerordentlichen Tugenden oder Laster werden von Sammlungen wie Pierre Camus’ ebenfalls von Harsdörffer übersetztem Pentagone historique (1652) aufgenommen, während Phänomene der Magia naturalis in unterhaltende Werke wie Harsdörffers Mathematische Erquickstunden (1636) oder Caspar Schotts Technica curiosa sive mirabilia artis (1664) Eingang finden. Die komplexen intertextuellen Beziehungen solcher Art Literatur sind bei weitem nicht erforscht. Eine solche Untersuchung würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen, es soll hier vielmehr nur darum gehen, aus dem breiten Strom von Literatur, aus dem sich auch die Autoren der sogenannten Hochliteratur bedienten, einigen Werke herauszugreifen, welche eine besonders intensive Rezeption erlebten und an ihnen Charakteristika des Typus Wunderbücher herauszuarbeiten. Es soll dabei nicht auf die für Werke der Buntschreiberei typischen Merkmale der Varietät, der Abwechslung, der nicht erschöpfenden Behandlung eines Themas, der Verweise auf weitere Literatur eingegangen werden, sondern es soll primär um den Umgang mit Wundern und deren Kontextualisierung gehen. Den Grundstein zu den Wunderbüchern des 16. und frühen 17. Jahrhunderts hat der aus dem Elsass stammende Basler Gelehrte und Pfarrer Conrad Wolffhardt (1518–1561), der seinen Namen zu Lycosthenes gräzisierte, mit seinem Prodigiorum ac ostentorum chronicon (1557) gelegt. Zwar ist dieses kostbare Buch nicht sehr weit verbreitet, aber es ist außerordentlich wichtig als Quelle weiterer Wunderbücher, insbesondere der Histoires prodigieuses des Pierre

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Ausführlich dazu Lorraine Daston, Katharine Park: Wunder und die Ordnung der Natur 1150–1750. Berlin 1998, zum Wunderbegriff besonders S. 16ff., Jean Céard: La nature et les prodiges. L’insolite au 16e siècle. Genf 21998; sowie der schöne und informative Band von Joy Kenseth (Hg.): The Age of the Marvelous. Hanover, New Hamshire 1991. Siehe dazu Daston, Park (wie Anm. 5), S. 253–300.

Vom Wunder zur Kuriosität

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Boaistuau. Dieser schreibt, er sei Lycosthenes in besonderer Weise verpflichtet, da dieser alle seine Vorgänger an Fleiß und Eifer übertroffen habe.7 Lycosthenes Prodigiorum ac ostentorum chronicum erschien 1557 in Basel bei dem renommierten Drucker Petri als Prachtband und wurde noch in demselben Jahr von Johann Herold ins Deutsche übersetzt und so einem nicht lateinkundigen Publikum zugänglich gemacht.8 In Folio-Format und kostbar mit Holzschnitten ausgestattet, ist es allerdings kein Buch für das breite Publikum. Lycosthenes will, wie er im Vorwort schreibt, Wunder verzeichnen, welche »sich außerhalb der Ordnung, Bewegung und Wirkweise der Natur« ereignet haben und zwar werden diese als Zeichen der Strenge und des Zorns Gottes und als Warnungen aufgefasst, ohne dass Lycosthenes der komplizierten Klassifikation der Wunder, die er erwähnt, noch Rechnung trüge.9 Gott hat, wie es im deutschen Titel heißt, »zu gewiser anmahnung seiner Herrlichkeit/ zu abschröckung sündlichen lebens« diese Wunderwerke getan. Lycosthenes verzeichnet in seiner Chronik alle Wunder, welche sich seit dem Sündenfall im Jahre 3939 vor Christus bis in die Gegenwart ereignet haben, wobei die letzten sieben Jahre (1550–1557) ungefähr einen Zehntel der Sammlung ausmachen, das heißt, es ist eine ungeheure Zunahme von Wundern in der jüngsten Zeit festzustellen. Dies wird bestätigt durch die vom Zürcher Chorherr Johann Jakob Wick (1522–1588) nur drei Jahre nach dem Erscheinen von Lycosthenes’ Chronik begonnene ProdigienSammlung, die allerdings nur im Manuskript überliefert ist, was ihre Wirkung einschränkt. Sie ist aber nichtsdestotrotz sehr interessant, weil sich an ihr das Sammeln von Wundern in der Gegenwart nachvollziehen lässt. Die Sammlung umfasst 13000 handschriftliche Seiten und mehr als 900 Flugblätter.10 Im Un7

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»lesquels [Camerarius, Virgilius, Obsequens, Cardanus] ont tous doctement traicté en Latin ceste mesme matiere: mais sur tous autres je suis grandement redeuable a Conradus Lycosthenes Rubeaquensis, lequel outre la doctrine qui lui est commune auec les autres, encores a il surpassé tous ceux qui l’ont precedé, en labeur & diligence.« (Advertissement av lectevr, unpag.) Ich zitiere die Ausgabe Histoires prodigieuses et memorables extraictes de plusieurs fameux Autheurs Grecs & Latins, sacrez & prophanes, divisez en six livres. Le premier composé par P. Boaistuau [...]. Paris 1598. (Reprint: Histoires prodigieuses. Préface de Gisèle Mathieu-Castellani. Paris 1997.) Nach Abschluss der vorliegenden Untersuchung erschienen: Pierre Boaistuau: Histoires prodigieuses (edition de 1561). Edition critique. Introduction de Stephen Bamforth. Text établi par Stephen Bamforth et annoté par Jean Céard. Genève 2010. Conrad (Wolffhardt) Lycosthenes: Prodigiorum ac ostentorum chronicon [...]. Basel 1557. Conrad Lycosthenes, Johann Herold: Wunderwerck Oder Gottes vnergründliches vorbilden [...]. Auss Herrn Conrad Lycosthenis Lateinisch zusammen getragener beschreybung mit grossem fleiss durch Johann Herold uffs treuwlichst in vier Bücher gezogen vnnd verteütscht. Basel 1557. Der Band ist jetzt als Reprint zugänglich: Conrad Lycosthenes: Wunderwerck. Nachdruck der Ausgabe Basel 1557 mit einem Nachwort. Hg. v. Pia Holenstein und Paul Michel. Zürich 2007. Zum Kontext, in dem diese Bücher zu sehen sind und über weitere Wunderbücher, siehe Rudolf Schenda: Die deutschen Prodigiensammlungen des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Archiv für die Geschichte des Buchwesens 4 (1963), Sp. 637– 710. Siehe die Untersuchung zum Wortgebrauch bei Céard (wie Anm. 5), S. 189ff. Die Sammlung befindet sich auf in Zentralbibliothek Zürich. Leider wurde sie einmal auseinandergerissen und die Flugblätter separat abgelegt, so dass der ursprüngliche Zu-

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terschied zu Lycosthenes sammelte Wick aber ausschließlich zeitgenössische Beispiele von Wundern wie Naturkatastrophen (Überschwemmungen, Blitzeinschläge, Erdrutsche, Erdbeben usw.), kosmische Wunderzeichen (Blutregen, Kometen und andere Himmelserscheinungen), Geburten von Monstren und ähnliches. Die Hauptlieferanten für Wicks Sammlung waren die Chorherren des Großmünsters in Zürich, das heißt die Pfarrer und andere geistliche Würdenträger, allen voran der Leiter des Stifts, der Nachfolger Zwinglis, Heinrich Bullinger, der ca. 40% der Dokumente zur Sammlung beigetragen hat.11 Abgesehen davon, dass man lesen und schreiben können muss, um überhaupt an solche Nachrichten zu kommen, garantieren die Pfarrer auch die Wahrheit der unglaublichen, vom Gang der Natur abweichenden Ereignisse. Die Nachrichten betreffen nicht nur die Schweiz, sondern ganz Europa. Wick hat die Nachrichten häufig illustrieren lassen, was die Wichtigkeit, die er der Sammlung beimaß, belegt. Das Bild dient dabei zugleich als Beglaubigung, hat aber auch einen gewissen Unterhaltungswert. Wicks Kollege, der Pfarrer Johann Rudolf Bullinger, der auch ein wichtiger Informant Wicks war, fordert ihn auf, mit seiner Sammlung fortzufahren, weil dies »nitt allein zuo vil ergezlichkeit dess menschen dienstlich, sonder auch zuo enderung undt besserung dess sündlichen läbens der welt nutzlich«.12 Interessant an der Formulierung des Pfarrers ist, dass er die »ergetzlichkeit« an erster Stelle nennt und erst dann den moralischen Nutzen, obwohl solche Prodigiensammlungen vor allem des moralischen Nutzens wegen angelegt wurden. Schon bei Lycosthenes lässt sich ein gewisses Interesse an Kuriositäten feststellen, denen man schwerlich einen Zeichencharakter zuschreiben kann, wie zum Beispiel, wenn er seine eigene Katze, die einen seltsam geringelten Schwanz hat, beschreibt und abbildet.13 Das erste Werk, das als eine Art Vulgarisierung des Werks von Lycosthenes gesehen werden kann, ist, wie erwähnt, zweifellos Pierre Boaistuaus (1520–

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sammenhang der Sammlung nicht mehr erhalten ist. Die Flugblätter werden in der von Wolfgang Harms (u.a.) herausgegebenen Serie der Deutschen Illustrierten Flugschriften publiziert. Handschriftliche Dokumente wurden teilweise von Matthias Senn publiziert (Die Wickiana. Johann Jakob Wicks Nachrichtensammlung aus dem 16. Jahrhundert. Hg. v. Matthias Senn. Zürich 1975), der aber den Wunderbuch-Charakter nicht erkannt hat. Neustens zur Sammlung: Franz Matthias Mauelshagen: Wunderkammer auf Papier. Die Wickiana zwischen Reformation und Volksglauben. Diss. Zürich 2008. Mauelshagen erkennt zwar den Wunderbuchcharakter der Sammlung, ordnet ihn aber als »Volksglauben« falsch ein, denn die Sammlung von Wundern, ihre Kategorisierung und ihre Deutung war in erster Linie eine Angelegenheit von Gelehrten. Dass die Sammlung von den Zeitgenossen als Wunderbuch aufgefasst wurde, zeigt die Bemerkung Johann Rudolf Bullingers, der Wick Dokumente aus dem Nachlass seines Vaters, dem Reformator Heinrich Bullinger, sandte: »Diewyl ich wol weiss, dass si ü. Erw. zuo üwerem fürnemmen undt merung der wunderbücher dienstlich sindt, gunne ich sie niemands bas dann üch«. (Siehe Vorwort [wie Anm. 10], S. 15). Siehe dazu: Franz Mauelshagen: »…die portneta et ostenta mines lieben Herren vnsers säligen…«. Nachlassstücke Bullingers im 13. Buch der Wickiana. In: Zwingliana 28 (2001) S. 73–117. Zit. nach Senn: Vorwort zu Die Wickiana (wie Anm. 10), S. 17. Lycosthenes (wie Anm. 8), S. 543. Lycosthenes gibt zum Beispiel bei der Beschreibung der abweichenden Phänomene häufig keine Hinweise mehr auf deren Zeichencharakter.

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1566) Sammlung der Histoires prodigieuses, die erstmals 1560 erschien. Die Sammlung wurde von Boiastuau zu seinen Lebzeiten schon um einige Texte erweitert, nach seinem Tod (1566) übernahm der im Zusammenhang der Buntschreiberei ebenfalls wichtige François de Belleforest (1530–1583) die Aufgabe, die Sammlung weiter auszubauen. 1598 erschien ein Band, in dem die Sammlung von Boaistuau um nicht weniger als fünf Bände erweitert wurde.14 Die Sammlung wurde im Gegensatz zum Théâtre du monde desselben Autors nie auf Deutsch übersetzt, wohl aber auf Spanisch und Englisch.15 Boaistuau nennt als seine Hauptquellen die klassischen Vertreter der Prodigienliteratur: Joachim Camerarius, Polydorus Virgilius, Hieronymus Cardanus, Caspar Peucer, Julius Obsequens, Jacob Rueff und Conrad Lycosthenes. Boaistuaus Beispiele sind dann ihrerseits wieder in die Spezial-Literatur eingegangen, so zitiert Ambroise Paré in seinem Buch über die Monstren häufig Boaistuau.16 Boaistuau hat die Absicht, »de telz accidens estranges, & prodigieux euenemens, desquels toutes les prouinces du monde ont esté espouventées depuis la natiuité de Iesus Christ iusques à nostre siecles« in seinem Werk zu versammeln.17 Es werden Phänomene aufgenommen, die selten, fremdartig, bewundernswert sind, die vom normalen Gang der Natur abweichen, so dass die Natur sich in ihnen als verkehrt und verunstaltet zeigt.18 Sie sind daher oft Zeichen von Gottes Zorn, auf jeden Fall aber Zeichen seiner Allmacht. Die Elemente werden von Gott als Boten, aber auch als Ausführende der göttlichen Gerech14

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Das Verhältnis dieser Ausgaben zueinander ist nicht untersucht. Mehrere Ausgaben sind digitalisiert im Netz (Google Books und Gallica) zugänglich. Rudolf Schenda gibt in seiner damals verdienstvollen, heute durch die Arbeit von Céard (wie Anm. 5) überholten Dissertation (Die französischen Prodigiensammlungen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. München 1961) nur pauschal darüber Auskunft. Certaine Secrete wonders of nature, containing a description of sundry strange things, seeming monstrous in our eyes and iudgment, bicause we are not priuie to the reason of them. [...] By E. Fenton. London 1569. Historias prodigiosas y maravillosas de diversos sucessos acaecidos en el mundo, escritas en lengua francesa por Pedro Bouiastuau, Claudio Tesserant y Francisco Belleforest, traduzidas en romance castellano por Andrea Pescioni. Madrid 1603 Paré 1573 (wie Anm. 3). »solche seltsame Unfälle und wunderbare Ereignisse, durch welche alle Gegenden der Welt seit der Geburt Christi bis in unser Jahrhundert erschreckt wurden«. (Boaistuau [wie Anm. 7], Vorrede unpag.) »Entre toutes les choses qui se peuuent contempler soubz la concavités des cieulx, il ne se voyt rien qui plus eueille l’esprit humain, qui rauissent plus les sens qui plus espouante, qui engendre plus grande admiration, ou terreur aux creatures que les monstres, prodiges et abhominations esquels nous voyons les oeuures de Nature non seulement préposterées, renversées, mutilées et troquées mais (qui plus est) nous y decouurons le plus-souuent vn secret iugemens & fleau de l’ire de Dieu« (Unter allen Dingen, die man unter der Wölbung des Himmels betrachten kann, gibt es nichts, was bei den Kreaturen mehr den Geist aufweckt, mehr die Sinne gefangen nimmt und mehr erschreckt, was mehr Bewunderung oder Schrecken erweckt als die Monstren, Prodigien und Ungeheuerlichkeiten, in welchen wir die Werke der Natur nicht nur verkehrt, auf den Kopf gestellt, beschädigt und verstümmelt sehen, sondern auch was noch mehr ist, wir entdecken in ihnen häufig ein heimliches Urteil und eine Strafe Gottes). Boaistuau wie (Anm. 7), Widmungs-Vorrede, unpag.

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tigkeit verwendet,19 aber auch Heuschreckenplagen oder die Geburt von Monstren können diese Funktion übernehmen. Dass sich Boaistuaus Projekt zunächst in den Endzeit-Diskurs einschreibt, zeigt sich daran, dass er auf die in diesem Zusammenhang häufig zitierten Beispiele und Bibelstellen anspielt, nämlich auf die Sintflut, welche das erste Beispiel einer Naturkatastrophe mit mahnendem Charakter ist, und auf Kap. 5, 4–8 des apokryphen Buch Esra. Dort weissagt der Engel Uriel den Fall Babylons, welcher unter anderem durch folgende Zeichen angekündigt wird: die Sonne wird in der Nacht scheinen, der Mond dreimal am Tag, Blut wird aus den Bäumen tropfen, die Steine werden sprechen und die Frauen werden Monstren gebären. An einer anderen Stelle wird geweissagt, dass Frühgeburten am Leben bleiben und umherspringen werden (Esra 8, 21). Diese Endzeitperspektive tritt aber im Text hinter der Freude an Kuriositäten und Wundern aller Art zurück, welche, wie Boaistuau einmal schreibt, Zeugnis der Gegenwart Gottes in der Welt sind.20 Boaistuaus Interesse geht aber von Anfang an über diese moralisch-religiöse Perspektive hinaus, denn er will vor allem auch erzählen, und mit seinen Erzählungen durchaus auch einen ästhetischen Effekt erzielen. Schon in der Vorrede schreibt er, es gebe nichts unter dem Himmel, was den menschlichen Geist mehr erwecke, die Sinne mehr beraube, mehr erschrecke, mehr Bewunderung und Schrecken erzeuge als Monstren, Prodigien und andere Schrecklichkeiten. Boaistuau beschreibt die Wirkung der Erzählung über solche abweichenden Erscheinungen mit denselben Ausdrücken, mit denen die zeitgenössische Poetik die Wirkung der Tragödie beschreibt. Der große Erfolg solcher Sammlungen hat Boaistuaus Einschätzung der Leserwirkung recht gegeben. Die Ausdrücke »terreur, estonnemet«, »epouvantable« kommen immer wieder vor. Die noch zu erzählenden Wunder seien »pas moins espouuentable que les precedents«21 oder er habe »un grand nombre d’exemples memorables des prodiges de la mer« erwähnt, aber das folgende übertreffe alle vorherigen und keines habe jenen, die nach den tiefsten Geheimnissen des Meers gesucht haben »plus grande terreur ou estonnement« inspirieren können.22 Die tatsächliche Betrachtung eines Monsters kann denselben Effekt haben wie die Erzählung davon. Die tote Sirene, die der Erzherzog von Österreich, dritter Sohn Kaiser Ferdinands,23 1548 geschenkt bekommen hat, habe »un grand ebahissement« erzeugt, so dass die meisten Gelehrten Italiens diesen »spectacle« besucht und betrachtet hätten.24 Das Theater der Natur erzeugt dieselben Affekte wie das literarische Theater.

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»que quelquefois les Elemens ont esté Heraux, Trompettes, ministres & executeurs de la iustice de Dieu«. Boaistuau (wie Anm. 7), Widmungs-Vorrede, unpag. »Le Seigneur est esmerueillables en toutes ses oeuures«. Boaistuau (wie Anm. 7), S. 212. Es handelt sich um ein Kapitel, in dem Pflanzen beschrieben werden. Boiastuau (wie Anm. 7), S. 126. Ebd., S. 130. Es handelt wahrscheinlich um Ferdinand II. von Österreich-Tirol (1529–1595), der die Ambraser Wunderkammer begründet hat, obwohl dieser der zweite und nicht der dritte Sohn Ferdinands I. war. Boaistuau (wie Anm. 7), S. 140f.

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Die tote Sirene weist zugleich auf das im Zusammenhang von Wunderbüchern immer aktuelle Problem der Beglaubigung hin. Dieses ist auch Boaistuau bewusst, indem er gleich im ersten Kapitel, welches unter dem Titel Prodiges de Sathan unter anderem einen Brahmanen-Kult beschreibt, festhält, dass die erzählte Geschichte von Autoren, die es nicht einfach gehört oder gelesen, sondern selbst gesehen hätten, in ihren Indien-Berichten bezeugt sei. Und im übrigen stellt er ein für allemal (»ceste fois pour toutes«) fest: »que ie ne raconteray aucune histoire en tout ce traicté des prodiges que ie ne confirme par authorité de quelque fameux autheurs Grec ou Latin, sacré ou prophanes«.25 Neben den Schriftstellern können auch Autoritätspersonen Zeugen sein, häufig sind es Ärzte oder Juristen. So führt er im Zusammenhang mit einem seltenen Fisch einen Arzt an, der ihm versichert habe, an einem Festessen einen fliegenden Fisch gesehen zu haben. Im 35. Kapitel ist von einem Paradiesvogel die Rede, dessen Existenz durch den »tresnoble et tres-docte personnage Conradus Peutingerus« bezeugt sei,26 der einen toten gesehen habe, wie er Conrad Gessner mitgeteilt habe. Man habe ihm auch eine Karte mit einer Abbildung des Vogels geschickt, welche in Nürnberg gedruckt worden sei.27 Das Bild figuriert auch im Buch als weiteres Mittel der Beglaubigung, wie alle Illustrationen in diesem Werk, wo fast in jedem Kapitel ein Monstrum abgebildet ist. Im 29. Kapitel berichtet er von einem Hundemonster, welches durch die Kreuzung von einer Dogge mit einem Bären entstanden sei, und das er in England selbst gesehen hatte. Es wurde einem französischen Adligen zum Geschenk gemacht, der es abzeichnen ließ, so dass dem Leser nun ein Abbild zu Beginn des Kapitels präsentiert werden kann. Die Zeichnung und die Angaben des Besitzers scheinen ihm nicht zu genügen, er führt noch zusätzlich ähnliche Phänomene an, die sich bei antiken Schriftstellern finden. Direktes Zeugnis und damit direkte Beobachtung, Nachrichten von glaubwürdigen Personen und die Schriften der Alten haben denselben Stellenwert der Beglaubigung. Eine Gefahr solcher Vorkommnisse besteht darin, dass die Zeugen kein Wunder, sondern nur eine Vorspiegelung des Teufels gesehen haben. Dem kann begegnet werden, indem der Zeuge selbst sich der Gefahr bewusst ist. So wird ausführlich erzählt, dass man in den Annalen über Konstantinopel den Bericht über zwei Meerwesen finde, die nach Auffassung der Gelehrten gar nicht existieren können, weil auf der Erde nur der Mensch leben könne. Diese Meerwesen, ein Mann und eine Frau, zeigten sich eines Morgens bei aufgehender Sonne, als ein Präfekt am Nil entlang spazierte. Der Prevost ruft das Wesen mit männlichem Oberkörper an, es solle sich im Namen Gottes zurückziehen, wenn es ein böser Geist sei, dass es aber da bleiben solle, wenn es eines der Wesen sei, welche geschaffen worden seien für den Ruhm von Gottes Namen (»pour la

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Ebd., S. 8f. (»dass ich in dieser ganzen Abhandlung keine Geschichte erzähle, die nicht durch die Autorität eines griechischen, lateinischen, geistlichen oder profanen Autors beglaubigt ist«). Konrad Peutinger (1465–1547). Boaistuau (wie Anm. 7), S. 341.

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gloire de son nom«).28 Das Wesen blieb lange da und wurde später durch ein zweites weibliches Wesen ergänzt. Am Abend sind beide verschwunden und nie mehr gesehen worden. Der Beglaubigung dient letztlich auch der Versuch, die Wunder zu erklären, was Boaistuau in der Vorrede an den Leser als weitere Qualität seines Buches hervorhebt: »mesme ay rendu la raison des Prodiges, ce que ie n’ay encores obserué auoir esté faict d’aucun auant moy«.29 Das bedeutet zugleich, dass die Wunder aus dem Bereich des reinen Staunens herausgenommen werden und in den Bereich der Wissenschaft eindringen, ohne dass sie deshalb weniger wunderbar sind.30 Der englische Übersetzer von Boaistuaus Histoires prodigieuses, Edward Fenton, hat diesen Aspekt noch unterstrichen, indem im Titel keine Rede mehr ist von Prodigien, sondern nur noch von den geheimen Wundern der Natur, die uns zum Teil monströs vorkommen, weil wir ihre Ursachen nicht kennen.31 So werden diese Wunderbücher mehr und mehr zu Büchern, die über die Geheimnisse der Natur berichten, was sie selbst noch für die Wissenschaftler der Scientific Revolution interessant macht. Das dürfte auch der Grund dafür sein, dass sie in den Sechzigerjahren des 17. Jahrhunderts nochmals aufleben. Die Varietät und Seltenheit der in diesen Geschichten beschriebenen Phänomene nähern solche Sammlungen dem Konzept der Wunderkammer an. Dies zeigt sich insbesondere in jenen Kapiteln, wo es um die Beschreibung fremdartiger Lebewesen oder Pflanzen geht oder wo die Eigenschaften von Edelsteinen beschrieben werden. Gerade solche Fälle lassen sich kaum mehr als Zeichen von Gottes Zorn interpretieren, sondern sie sind allein noch Zeichen seiner immensen Schöpferkraft. So gewinnt das Interesse an der Kuriosität die Oberhand wie in den Wunderkammern. Der Zusammenhang wird auch in den Widmungen dieser Wunderbücher deutlich. Boaistuau widmet seine Histoires prodigieuses Jean de Rieux, Signeur d’Asserac, welcher eine Wunderkammer besitzt. Boaistuau erklärt im schon erwähnten 18. Kapitel über die wunderbaren Lebewesen im Meer, dass er das ganze Kapitel geschrieben habe, weil er bei Jean de Rieux den fliegenden Fisch gesehen habe. Dieser Adlige, der sich durch eine große Kunstfertigkeit in Waffen auszeichnet, habe auch eine besondere Vorliebe für die Literatur und fördere sie, zudem sei er sehr neugierig, alte und fremdartige Sachen zu entdecken, mit denen er sein Kabinett schmücke, wie eben den seltsamen fliegenden Fisch. Die in diesem Kabinett versammelten Dinge »apportent un merveilleux contentement à ceux qui les contemplent«,

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Boaistuau (wie Anm. 7), S. 136. Advertissement au lectevr, unpag. (Lectevr [»auch habe ich die Gründe für die Wunder angeführt, was ich noch von keinem vor mir beobachtet habe«]). Siehe dazu Céard, (wie Anm. 5), S. 437ff. Ein kurioses Beispiel dieser Art von Argumentation findet sich in dem noch zu besprechenden Text von Rudolf Rebmann (1566–1605), der zunächst erklärt, wie Vulkane funktionieren und dann daraus ableitet, dass das ewige Feuer in der Hölle auf dieselbe Weise möglich sei. (Beleg in meinem Aufsatz). Boaistuau (wie Anm. 15). Siehe zu diesem Unterschied auch William Eamon: Science and the secrets of nature. Books of secrets in medieval and early modern culture. Princeton (N.J.) 1994, S. 276.

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schreibt er, was eine ähnliche Wirkung ist, wie sie seine Sammlung auch erwecken will.32 Johann Beat Grass widmet seine Übersetzung des ersten Buchs von Pedro Mexías Silva (1668), auf die noch zurückzukommen sein wird, ebenfalls jenem Ferdinand II., der die Wunderkammer in Ambras begründete. Dieser Wunderkammer-Aspekt wird auch deutlich in jenen Werken, die im Titel das Wort »Tresor« »Schatzkammer« in Verbindung mit »wunderbar« enthalten.33 Dies ist der Fall für eine Art Nachfolger von Boaistuaus und Belleforests Sammlung der Histoires prodigieuses, den Thresor d’histoire admirables et mémorables de notre temps des in Genf wirkenden Pastors Simon Goulart, der sehr schnell auch auf Deutsch übersetzt und unter dem Titel Schatzkammer/ Uber Natürlicher/ Wunderbarer vnd Woldenckwürdiger geschichten und fällen/ so sich inner abgeloffener hundert järigen/ avch vnserer zeit/ begeben vnd zugetragen im Jahr 1613 publiziert wurde.34 Goulart hat seine Texte, welche – wie der Titel sagt – nur etwa ein Jahrhundert zurückreichen, aus vielen verschiedenen Quellen (historischen Darstellungen, Reisebeschreibungen und Medizinbüchern) zusammengetragen, die er am Ende der Geschichte jeweils angibt. Sein Auswahlkriterium ist offensichtlich, dass die Geschichten »admirable« sein müssen, was der deutsche Übersetzer sinngemäß mit »übernatürlich« übersetzt. »Ie les appelle Admirables, a cause que les raisons d’vne grand’ part d’icelles sont fort eslongnees de mon apprehension, & qu’il y a du miracle, ce me semble«.35 Das Wunderbare scheint für Goulart nur noch darin zu bestehen, dass etwas vorfällt, was wider die Natur oder nicht erklärbar ist.36 Seine Absicht ist nicht mehr einen Beitrag zu der langen Reihe von Wundern im Sinne von Prodigien zu liefern, die das Werk von Boaistuau und Belleforest animiert hatten. Goulart lehnt es sogar explizit ab, Phänomene als Prodigien zu interpretieren,37 obwohl er zahlreiche Texte aus Job Fincels Wunderzeychen (1557) über-

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Boaistuau (wie Anm. 7), S. 124. Diese Verbindung ist nötig, weil ›Schatzkammer‹ allein häufig in Titeln von Buntschreiberei vorkommt. Simon Goulart: Histoires admirables et memorables de nostre temps. Genève 1620 (11606). Dt: Schatzkammer/ Uber Natürlicher/ Wunderbarer und Woldenckwürdiger geschichten und fällen. [...] Jtzt aber gemeinem Nutz zum besten/ männiglich zur Warnung: Lehr vnd besserung. Jn unser Theutsche sprach übergesetzt [...]. Straßburg 1613. Auf dem Titelblatt wird auf die Psalmen 46 und 111 verwiesen. Bereits 1607 erschien eine englische Übersetzung: Admirable and memorable Histories containing the wonders of our time [...]. 1607. Auf die Unterschiede der Übersetzungen kann hier nicht eingegangen werden. Ein Hauptunterschied besteht darin, dass Goulart seine Geschichten alphabetisch anordnet, was der deutsche Übersetzer nicht beibehalten hat, da er der Anordnung des Originals folgt. Goulart ist auch eine Quelle für Harsdörffers Mordgeschichten. Die Vorrede fehlt in der deutschen Übersetzung. (»Ich nenne sie ›wunderbar‹, weil die Gründe für sie sehr weit von meinem Verständnis entfernt sind und weil es darin ›Mirakel‹ gibt«). Siehe Céard (wie Anm. 5), S. 469. Nachdem er eine Reihe von seltsamen Himmelserscheinungen wie Kometen und Blutregen beschrieben hat, deren Quelle offenbar Lycosthenes ist, schreibt er: »Quant aux significations de toutes ces aparitions susmentionnees, ie n’y entre point«. (Goulart 1606 [wie Anm.

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nimmt und auch die von ihm ausgewählten Phänomene dieselben sind wie diejenigen der Prodigienliteratur im engeren Sinne, wie zum Beispiel Mehrlingsgeburten, Gespenstererscheinungen, vom Teufel provozierte Illusionen, außerordentliche Morde, seltsame Himmelserscheinungen, Naturkatastrophen und ähnliches. Er scheint im Übrigen eine große Vorliebe für medizinische Fälle zu haben wie besondere Fälle von Melancholie, von Schlafwandeln, von besonderen Arten der Schwangerschaften, wie er sie bei Hieronymous Cardanus, Jacob Rueff und Theodor Zwinger finden konnte, die er ausführlich zitiert. Bei Goulart zeigt sich noch deutlicher als bei Boaistuau, dass das Wunderbare immer mehr in Richtung des Seltenen, des Ereignisses im Sinn der Abweichung vom normalen Gang der Dinge verstanden wird und sein Zeichencharakter kaum mehr eine Rolle spielt bzw. auf die moralische Aufforderung, Gottes Gebote zu halten, beschränkt wird: »Le but de ce recueil & des suiuants sera, Craignez Dieu, gardez ses commandemens«.38 Allerdings kann man sich fragen, was der seltsame Appetit schwangerer Frauen mit dem Einhalten der zehn Gebote zu tun hat. Alle diese Phänomene verweisen nur noch in einem sehr allgemeinen Sinn auf Gott etwa in der Art, dass sie, wenn sie nicht Teufelswerk sind, eben von Gottes Allmacht und Schöpferkraft zeugen, der alle diese Seltsamkeiten ebenso produziert wie den normalen Gang der Natur. Das zeigt sich noch deutlicher in der Vorrede des Buchhändlers an Johann Georg von Sebach in der deutschen Ausgabe. Er schreibt, dass ihm das Interesse des Widmungsempfängers an »Historien vnd frembden geschichten/ sonderlich die da selten gehört und gesehen worden/ vnndt zum theil übernatürlicher/ wunderbarer/ vnverhoffter/ vnversehener weise/ vorgangen« bekannt sei. Ja, er habe Europa bereist, um die Stätten, wo sich diese wunderseltsamen Geschichten begeben hätten, zu besuchen. In der Vorrede an den Leser hebt der Verleger indes den Exempelcharakter der Sammlung hervor. Goularts Sammlung wunderbarer Geschichte unterscheidet sich in nichts mehr von Büchern, die der Erzählung der Historie dienen. Sein Verdienst besteht, wie das anderer Historienschreiber, darin, dass er für diejenigen, die nicht die großen Bücher kaufen oder sie ganz lesen können, einen Auszug gemacht hat. Wie andere Historien enthalten auch diese Wundergeschichten Beispiele zur Nachahmung oder Abschreckung. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Miscellanea-Sammlungen, die zunächst nicht als Wunderbücher konzipiert waren, später im deutschen Sprachraum als solche rezipiert wurden, obwohl die Histoires prodigieuses des Boaistuau keine deutsche Übersetzung erlebten. Dies gilt zum Beispiel für das in Knittelversen abgefasste Gastmal und Gespräch zweier Berge (1606) des Berner Pfarrers Johann Rudolf Rebmann.39 Das Gespräch zwischen dem Berg

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34], 1. T., S. 63) »Was die Bedeutungen sein/ aller diser jetzt eingeführten Erscheinungen/ da laß ich mich nicht ein«. (Goulart 1606 [wie Anm. 34], Bd. 1, S.144). Goulart 1606 (wie Anm. 34), Avertissement. (»Der Zweck dieser Sammlung und der folgenden ist, fürchtet Gott und haltet seine Gebote«). Eine genaue Beschreibung des Werkes findet sich in meinem Aufsatz: Rebmanns »Gastmal und Gespräch zweier Berge«. In: Scientiae et artes. Die Vermittlung alten und

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Niesen und dem Berg Stockhorn ist eine Weltbeschreibung, eine Physica, Chorographica vnd Ethica descriptio der gantzen Welt in gemein Vnd sonderlich von Bergen/ vnnd Bergleuten, wie der Untertitel heißt. Rebmann durchforstet seine unzähligen antiken und modernen Quellen auf Informationen über die Berge. Ihn interessieren nicht einfach alle Nachrichten über die Welt; insofern entspricht sein Werk nicht den Regeln einer Weltbeschreibung. Darum werden von Rebmann zum Beispiel nicht alle wichtigen Gewässer eines Landes oder Kontinents beschrieben, wie es eine geographische Beschreibung tun würde, sondern vor allem jene, welche besondere Eigenschaften haben, sei es, dass sie nur zu gewissen Zeiten Wasser führen, sei es, dass das Wasser besondere Eigenschaften hat. Selbst wenn er die ihm bekannte Gegend bzw. Fauna und Flora des Berner Oberlands beschreibt, werden die außerordentlichen Eigenschaften betont. So wird beim Steinbock hervorgehoben, dass er so wunderbar springen könne, dass ihm keine Wand zu hoch sei.40 Die Gletscher, die ins Tal wachsen und sich verändern, werden ebenso wunderbar genannt wie die Lawinen.41 Wenn der Niesen und das Stockhorn sich gegenseitig ihren Reichtum, ihre Pracht und Macht beschreiben, so hat dieser Reichtum, – die Vielfalt von Bäumen, Kräutern und Blumen wird über Dutzende von Versen beschrieben – ebenfalls den Charakter des Wunderbaren,42 umso mehr als diese Bergwelt für das gebildete Publikum wohl noch ebenso fremd war wie weiter entfernte exotische Welten. Dass die exotischen Länder voller Wunder sind, versteht sich von selbst, so braucht Rebmann zur Beschreibung des exotischen Mexiko gehäuft Ausdrücke wie »seltsam« und »wunder«: Viel seltzam vögel in den lüfften/ Viel seltzam thier in berg/ und klüfften/ Als löuwen/ wölff/ vnd thigerthier/ Mancherley katzen sind ihr zier/ Einöugig Menschen/ vnd mehr wunder/ Jhr Speiß ist menschen fleisch besonder/ Ein wildbrät wirts bey ihnen geacht/.43

Von Peru berichtet er, die Berge seien so hoch, dass die Vögel kaum hinüberkämen und es gebe überhaupt viele Wunder. Obwohl Rebmann ein Geistlicher war, ist der theologisch-moralische Aspekt der Wunder fast ganz verschwun-

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neuen Wissens in Literatur, Kunst und Musik. Hg. v. Barbara Mahlmann-Bauer. Wiesbaden 2004, S. 979–996. »Mit seinem springen wunderbar«. Rebmann: Einn Lustig vnnd Ernsthafft Poetisch Gastmal/ vnd Gespräch zweyer Bergen/ in der Loblichen Eydgnoßschafft vnd im Berner Gebiet gelegen: Nemlich deß Niesens/ vnnd Stockhorns/ als zweyer alter Nachbawren: Welches Innhalt Ein Physicam Chrorographicam vnd Ethicam descriptionem von der gantzen Welt in gemein und sonderlich von Bergen vnnd Bergleuten. Sonneten weiß gestellt durch [...] H. Hans Rudolph Räbmann/ Dienern deß Worts Gottes [...]. Bern 1620, S. 140. »Ein schrund hart an dem andern leit/| Der bleibt nicht also jederzeit/| Bald er vermachet jhn behend/| Wirfft andern auff an anderm end/| vnd ungleich tieff gantz wunderbar/| Also wachßt er fürbas all Jahr«. Rebmann (wie Anm. 40), S. 488, zur Lawine, S. 152. Ebd., S. 132 (Bäume) und S. 149 (Kräuter). Ebd., S. 169.

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den. So erstaunt es nicht, dass das Gespräch zweier Berge 1620 einerseits unter dem Titel Ein lustig und ernsthafft poetisch Gastmahl erschien und auf der andern Seite unter dem Titel NATURAE MAGNALIA. Außführliche beschreibung der Natur/ Wundergeschöpffen/ sampt derselben Eygenschafften/ vnd denckwürdigen Sachen durch die gantze Welt. Mit diesem Titel wurde das Werk in den Kontext der Wunderbücher gestellt und es ist in diesem Zusammenhang durchaus konsequent, dass Wolfgang Hildebrand mehrere Passagen aus Rebmann in seine Magia naturalis (1611) aufgenommen hat. Ein ähnliches Schicksal hat eines der berühmtesten und weit verbreitetsten Werke der Buntschriftstellerei Pedro Mexías (1497–1551) Silva de varia lección, welche 1540 zum ersten Mal erschienen, in Deutschland erlitten. Das Werk enthält eine bunte Mischung von historischen Erzählungen und kuriosen Naturerscheinungen. Bemerkenswert und für den Inhalt typisch ist, dass Plinius’ Naturgeschichte der weitaus am häufigsten zitierte Text ist, gefolgt von der Bibel, Aristoteles und Plutarch.44 Die Silva wurde zwar bereits 1564 ein erstes Mal und 1570 ein zweites Mal in stark gekürzter Fassung auf Deutsch publiziert.45 Diese erschienen als Folio-Bände, kostbar ausgestattet und zielten von vornherein auf ein adliges Publikum, was ihre Verbreitung stark einschränkte.46 Die Titel der beiden Übersetzungen Petri Messiae von Sibilia vilvaltige beschreibung Christenlicher unnd Heidnischer Keyseren, Künigen, weltweiser Männeren gedächtnuss wirdige Historien bzw. Schöne Historie/ Exempel und Underweisungen verweisen eher auf ein Geschichtsbuch als auf ein Buch, in welchem Naturwunder einen wichtigen Bestandteil ausmachen. Erst in zweiter Linie wird in der Übersetzung von 1570 »Auch viler natürlicher Dingen Vrsachen« versprochen. Umso interessanter ist, dass auf dem Titelblatt der späten deutschen Übersetzung von 1668 das Wort »Wunder« erscheint: Sylva Variarum lectionum. Das ist: Historischer Geschicht- Natur- und Wunder-Wald. Die 44

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Zum Inhalt und den Übersetzungen des Werks siehe meinen Aufsatz: Wunderbares, Ingeniöses und Historien. Zu Pedro Mexías »Geschicht- Natur und Wunderwald«. In: Simpliciana 20 (1999) S. 67–92. Wie verbreitet auch die fremdsprachigen Übersetzungen des Werks waren, zeigen die über 70 Einträge im Katalog der Bayerischen Staatsbibliothek. Pedro Mexía: Petri Messiae Von Sibilia vilualtige beschreibung/ Christenlicher vnnd Heidnischer Keyseren/ Künigen/ weltweiser Männeren gedächtnuß wirdige Historien/ löbliche geschicht/ auch manicher Philosophen leben vnd sprüch/ zweyfelhafftiger dingen natürliche außlegungen/ nit alleyn kurtzweylig/ sonder jedem tugendliebhabenden menschen nutzlich vnd lustig zu lesen/ Vnd Jetz neüwlich auff daß fleissigest verteütscht. Basel 1564; sowie: Schöne Historie, Exempel, Vnderweisungen/ Auch viler natürlicher dingen Vrsachen/ Herrlicher Philosophen Sententz/ Disputationes vnd Argumenta/ Durch Petrum Messiam Siuilianischen Edelman erstlich zusamen gelesen. Jetzunder aber Aus Tuscanischer/ vnt etlichs aus Castilianischer sprach ins Deutsch gebracht/ [...]. Straßburg 1570. Von der Übersetzung Zolekhofers sind im VD 16 (VD16 M 5070) 11 Exemplare in Deutschland und eines in Budapest nachgewiesen. Die Übersetzung von Graß ist in 5 Bibliotheken nachgewiesen (VD16 M 5071), dies ist zu vergleichen mit den hunderten von Exemplaren der französischen und italienischen Übersetzungen, die sich in deutschen Bibliotheken befinden. Die Ausgabe von 1668 befindet sich auf 5 Bibliotheken (VD17 3:308107G), die Ausgabe von 1669 auf 9 Bibliotheken (VD17 39:122844Z), ein Bestseller war also auch diese deutsche Übersetzung offenbar nicht.

Vom Wunder zur Kuriosität

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Erklärung des Titelkupfers in der Ausgabe von 1669 betont denn auch den Wunder-Charakter und beginnt bezeichnenderweise mit der Aufzählung der Naturphänomene, die im Buch beschrieben werden, wobei sogar der Wald wörtlich genommen wird: Der Wald ein Vorrath ist von Thieren/ Kräutern/ Blumen/ So findestu auch hier beysamm in einer Summen Was zu erdencken ist: Der Thiere Eigenschafft Der Kräuter-Stein-Gewächs-Natur- und Wunder-Kraft; Der Sternen Influentz; die Wunder-Werck der Erden/ Was auf und unter ihr auch mag gefunden werden; Was zu betrachten ist/ im Wasser/ Feuer/ Lufft; Und was entdecket hat/ manch Höhl und Wunder-Krufft.47

Die Tugend- und Lasterhelden, von denen die Silva auch handelt, werden erst in zweiter Linie genannt, die Wertung ist also gegenüber der des 16. Jahrhunderts geradezu umgekehrt. Die Naturwunder, die in dieser späten Übersetzung hervorgehoben werden, sind wohl überhaupt der Grund dafür, dass die Silva nochmals übersetzt wurde, wobei der Übersetzer die früheren Übersetzungen nicht kannte und deshalb seine Übersetzung wohl für die erste hielt. Ein ähnliches Phänomen lässt sich für andere derartige Werke in Deutschland beobachten, so hat etwa Christian Knorr von Rosenroth Della Portas Magia naturalis noch 1680 in einer neuen Übersetzung auf den Markt gebracht, zu einer Zeit, als in Frankreich und Italien das Interesse an diesem Werk stark zurückgegangen war – wie übrigens auch an Mexías Silva. Mexías Silva berichtet in der Tat von Wundern im Sinne von Mirabilia, also im Sinne von Phänomenen, die, sei es, weil sie selten sind oder weil sie Unbekanntes betreffen, wunderbar sind, wie aus jenen Stellen hervorgeht, wo Mexía seine Auswahl der Episoden und Stoffe begründet. Zwar ist die Schöpfung an sich wunderbar, aber das genügt offensichtlich nicht, wie Mexía am Anfang des Kapitels, das den »vielen raren und wunderbahren Sachen/ so hin und wider gefunden worden« gewidmet ist, erklärt: Ein jedweder Werck der Natur ist wunderbar/ und zeiget die Allmacht seines Schöpffers/ diejenigen Dinge aber so bereits gemein/ und von den Weisen und Gelehrten Leuten erkant und erlernet worden/ verursachen keine sonderliche Verwunderung; Als da ist/ so man siehet wie wunderbarlich die Menschen zur Welt geboren werden/ wie auch die Thiere/ Gewächs und derselben Früchte hervor kommen auch alle andere natürliche/ und den ordentlichen Lauff nach/ uns bekante Dinge mehr.48

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Pedro Mexía: Sylva Variarum Lectionum Das ist: Historischer Geschicht- Natur- und Wunder-Wald/ allerhand merckwürdiger Erzehlungen/ sonderbarer und seltzamer Begebenheiten/ Auflösung unterschiedlicher/ dunckler und subtiler Fragen/ &. Anfangs Jn Jtaliänischer Sprach beschrieben [...]. Teil 2. Nürnberg 1669, S. 43. Mexía 1669 (wie Anm. 47), Teil 2, S. 43. Mexía braucht den Ausdruck »cosas muy estrañas«. Pedro Mexía »Silva de varia lección«. Edición de Antonio Castro. Bd. 1. Madrid 1989, S. 606. Vgl. die mit dieser Auffassung übereinstimmende Beschreibung von Céard von einem frühen anonymen Werk über die Wunder der Natur: »Tout le savoir de l’auteur du Secret de lhystoire naturelle apparaît comme débarrassé de tout ce qui n’est pas occa-

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Rosmarie Zeller

Das heißt also, jene Dinge, die alltäglich sind und für die man eine Erklärung hat, gehören nicht zum Wunderbaren, das Mexía für darstellungswürdig hält. Er will jene Erscheinungen beschreiben, die Verwunderung erwecken, weil sie »dem gemeinen Lauff und Ordnung entgegen zu seyn« scheinen. Zu diesen Mirabilia gehören Erscheinungen wie jene des Pilatus-Sees, welcher über die Ufer tritt, wenn man einen Stein hineinwirft, oder jene merkwürdigen Begebenheiten, die sich an einem Ort zweimal zu verschiedenen Zeiten zugetragen haben, wie z.B., dass der erste und der letzte Kaiser von Konstantinopel Konstantin geheißen hat und beider Mütter Helena, oder dass Simson und Herkules, welche beide einen Löwen überwunden haben, schließlich von einer Frau überwunden wurden. Mexía schließt dieses Kapitel mit der Bemerkung ab: »Dies alles nun sind Sachen/ die uns wunderbar vorkommen/ sintemal wir deren Ursach/ ungeachtet wir derselben Reguln und rationes haben/ nicht wissen/ als welche allein Gott/ der also füget/ bekant ist«.49 Die Geschichte der Päpstin Johanna wird als eine von den wunderbarsten Begebenheiten »so sich iemals auff der Welt mögen zugetragen haben« bezeichnet und wird deshalb in die Silva aufgenommen, insbesondere, weil die Leser vielleicht zwar davon gehört hätten, aber nicht wüssten, wie es dazu gekommen sei.50 Die Rezeption der Silva des Mexía und der geänderte Titel von Rebmanns Gastmal zeigt, dass diese Werke, welche zunächst nicht als Wunderbücher konzipiert waren, auch wenn sie unter anderem von Naturwundern berichteten, unter veränderten Vorzeichen als solche wahrgenommen werden konnten. Schon gegen Ende des 16. Jahrhunderts weicht sich der Begriff des Wunders offensichtlich auf. So sieht sich der anonyme Verfasser des 6. Bandes der Histoires prodigieuses veranlasst, das Wort ›Prodigium‹ neu zu deuten. Neben der üblichen Bedeutung ›Vorhersage‹, bedeute das Wort »que la Nature en la production de telle chose se deborde & excede sa mesure & reigle ordinaire«.51 Immer mehr werden so alle Arten von Kuriositäten unter dem Oberbegriff des Wunders erfasst. Die Tendenz geht dahin, alles als Wunder aufzufassen, was eine »grande admiration« erzeugt.52 Dieser Begriff der Bewunderung und Verwunderung, des Staunens scheint der gemeinsame Nenner dieser Art von Büchern zu sein, die das Wissen über Wunder vulgarisieren, es zum Gegenstand von geselliger Unterhaltung machen. Noch bleiben aber im 17. Jahrhundert die Wunder auf Gottes Schöpferkraft zurückbezogen; erst als dies nicht mehr der Fall ist, werden sie zur Kuriosität, zum Faits divers, als welches sie bis heute in

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sion de s’émerveiller; ce qui est commun ou ordinaire lui semble négligeable; ce qui est exceptionnel ou singulier le retient au contraire«. Céard (wie Anm. 5), S. 62. Mexía 1669 (wie Anm. 47), Teil 1, S. 162. Ebd., S. 29. Mexía braucht hier den Ausdruck »uno de los admirables casos que han passado el mundo«. Spanische Ausgabe (wie Anm. 48), Bd. 1, S. 238. Boaistuau (wie Anm. 7), Buch VI, S. 1112. »De toutes lesquelles choses [i. e. Monstren, Eingriffen des Teufels, naturmagischen Effekten usw.] neansmoins a esté et sera encore traicté sous le nom de Prodigieuses, c’est a dire non ordinaire, & lesquelles advenues ont causé grande admiration aux personnes«. Boaistuau (wie Anm. 7), Buch VI, S. 1112.

Vom Wunder zur Kuriosität

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den Zeitungen weiterleben: besonders große Fische, Pilze, weiße Elefanten, Mehrlingsgeburten oder siamesische Zwillinge sind immer noch eine Zeitungsnachricht wert.

Udo Roth

»Männiglichen zur Erlustigung und erlaubeter Ergetzlichkeit« Samuel Gerlachs Eutrapeliæ im Spannungsfeld von Unterhaltung und Belehrung

Nürnberg, Sommer 1632. In der schwedisch besetzten, von Wallensteins Truppen belagerten Stadt wütet unter den ausgehungerten Einwohnern, den zahlreichen Flüchtlingen und meist deutschen Soldaten der Royal-Armee Gustav Adolfs die ›Ungarische Krankheit‹, der Flecktyphus. Auch der Feldprediger des unter dem Befehl des Obristen Adam von Pfuel (1604–1659) stehenden Altgrünen Regiments zu Fuß, Samuel Gerlach, erkrankt im August an der Seuche. Doch »fast wunderlich« kommt er zur Behandlung nicht in eines der zahlreichen überfüllten Lazarette der Stadt, sondern in das Spital des Schwedenkönigs, darin er etliche Wochen (die Zeit biß auf annum 1634 weißt er nicht mehr, weil er um solchen Jahrs Calender gekommen) gelegen, biß er durch Gottes sonderbare Gnad und der Ärzte getreue Hülfe, auch der wohledlen Frau N. Volckmerin, regierenden und ältesten Herrn Bürgermeisters Haußehre, sonderbare fast tägliche Pflage und Wartung vilfältig in eigener Person, theils auch ihrer Dienerin, endlich wider guten Theils restituiret.1

In der Zwischenzeit hat sich die von den Kaiserlichen bedrängte Armee Gustav Adolfs südwärts an die Donau zurückgezogen. Halbwegs wiederhergestellt, folgt Gerlach seinem Regiment nach Augsburg. Hier kommt es zwischen ihm und Adam von Pfuel nun immer häufiger zu Differenzen, der Lutheraner Gerlach legt »wegen eben dises starck calvinisirenden Obersten«2 sein Amt im Altgrünen Regiment nieder und wechselt als Feldprediger ins Leibregiment zu Pferd des schwedischen Generalfeldmarschalls Gustaf Horn (1592–1657), dessen Feldzüge er fortan begleitet. Der sich hier als überaus strenger, ja schon dogmatischer Anhänger der lutherischen Lehre zu erkennen gebende Gerlach wird am 13. Januar 1609 im

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Nachschrift der verlorengegangenen autobiographischen Aufzeichnungen im Stammbuch Samuel Gerlachs: Cursus Vitae M. Samuelis Gerlachii, Superintendentis quondam Wildbadensis, post Groeningensis, et tandem Abbatis San-Georgiani. Von ihm selbst aufgesetzt zu Gröningen 1671, abgedruckt in: Samuel Gerlach. Feldprediger, Hofprediger, Prälat (1609–1683). Ein schwäbischer Pfarrer zwischen Mecklenburg, Holstein, Danzig und Württemberg. Bearb. v. Bernd Authenrieth. Stuttgart 2000 (Lebendige Vergangenheit. Zeugnisse und Dokumente. Schriftenreihe des Württembergischen Geschichts- und Altertumsvereins 21), S. 15–22, hier S. 17; das Original des Stammbuchs befindet sich in Privatbesitz, eine Mikroverfilmung im Universitätsarchiv Tübingen, S 36/15,1. Gerlach 1671 (wie Anm. 1), S. 18.

»Männiglichen zur Erlustigung und erlaubeter Ergetzlichkeit«

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württembergischen Göppingen geboren, wo der Vater als Diakon tätig ist.3 Von Kindesbeinen an für eine geistliche Laufbahn bestimmt, immatrikuliert er sich im November 1623 an der Universität Tübingen, wo er 1627 zum Magister der Philosophie promoviert wird. Theologische Studien folgen.4 Da es an der Universität keine theologischen Abschlussprüfungen gibt, verdingt sich Gerlach 1629 auf Schloss Bläsiberg bei Tübingen als Hauslehrer der Familie Johann Friedrichs von Closen (1598–1686), um die nötigen Voraussetzungen für den Pfarrdienst zu erbringen. Ende 1631 tritt Gerlach – durch die Kriegslasten ruiniert, kann von Closen ihn als Hauslehrer nicht mehr halten – als Feldprediger zunächst in das Regiment zu Fuß des Obristen Friedrich Ludwig Chanovski von Langendorff († 1645) ein, es folgen – unterbrochen nur durch eine kurze zivile Tätigkeit als Pfarrer in Dahenfeld zwischen Mai und November 1634 – fast vier Jahre Kriegsdienst, zuletzt im Mecklenburgischen Regiment zu Pferd in der Armee des Herzogs Bernhard von Sachsen-Weimar (1604–1639). Ende August 1635 nimmt Gerlach endgültig seinen Abschied als Feldprediger und reist über Lübeck, wo er längere Zeit Gast im Hause des lutherischen Theologen Nikolaus Hunnius (1585–1643) ist, ins Mecklenburgische, da er sich hier – als ehemaliger Angehöriger eines Mecklenburgischen Regiments – Hoffnungen auf eine Pfarrstelle macht. Doch alle Mühen bleiben vergebens, weder in Stralsund noch Stettin, weder in Greifswald noch Rostock, ja, noch in ganz Mecklenburg und Vorpommern lässt sich eine Gerlach genehme Pfarre finden. Resigniert begibt sich dieser Anfang Mai 1636 abermals nach Greifswald. Hier war ihm bei seinem ersten Aufenthalt im April im Hause des Bürgermeisters Christian Schwarz (1581–1648) dessen 15jährige Tochter Sibylla (1621– 1638) vorgestellt worden, die schon als Dreizehnjährige mit ihren Gedichten für Aufsehen gesorgt hatte5 und später als ›pommersche Sappho‹ in aller Munde sein wird.6 Für Sibylla, so wurde ihm hinter vorgehaltener Hand zu verstehen gegeben, suche ihr Vater händeringend einen geeigneten Hauslehrer – doch Gerlach schlug das Angebot aus, er hoffte noch auf eine Pfarre. Jetzt verdingt er sich bei Bürgermeister Schwarz und fördert den Frühling und Sommer 1636 über das Talent Sibyllas, macht sie mit der zeitgenössischen Dichtung bekannt 3 4

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Der biographische Überblick folgt neben dem Cursus Vitae M. Samuelis Gerlachii der Darstellung von Bernd Authenrieth in Gerlach 1671 (wie Anm. 1), S. 23–70. In der Abschrift von Gerlachs Cursus Vitae fehlen Aufzeichnungen für die Jahre um 1620 bis 1629, was vmtl. auf das Fehlen der den entsprechenden Zeitraum darstellenden Seiten in der Vorlage zurückzuführen ist, womit Aussagen zu Gerlachs Studien- und Magisterzeit nur rudimentär getroffen werden können; vgl. Authenrieth (wie Anm. 1), S. 16. Im September 1634 zur Begrüßung des Herzogs Ernst von Croy und Arschott (1610– 1648), des Neffen des letzten pommerschen Herzogs Bogislaws XIV. (1580–1637), als Student der Greifswalder Universität. Zu Sibylla (auch Sibylle) Schwarz vgl. u.a. Helmut W. Ziefle: Sibylle Schwarz. Leben und Werke. Bonn 1975; Petra Ganzenmueller: Wider die Ges(ch)ichtslosigkeit der Frau. Weibliche Selbstbewußtwerdung zu Anfang des 17. Jahrhunderts am Beispiel der Sibylle Schwarz. Ann Arbor 2001; vgl. auch Barbara Becker-Cantarino: Der lange Weg zur Mündigkeit. Frau und Literatur (1500–1800). Stuttgart 1987, S. 232–246.

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Udo Roth

und vertieft ihre Kenntnis der Poetik. Den Winter 1636/37 und die erste Jahreshälfte 1637 verbringt Gerlach wieder in Lübeck im Hause des Theologen Hunnius. In dieser Zeit entsteht vermutlich seine Sammlung [a]llerhand Politische[r]/ nützliche[r] vernünfftige[r]/ theils auch kurtzweilige[r] Historien/ Discursen Apophthegmata, Denckwürdige[r] Reden/ scharffsinnige[r] Sprichwörter und feine[r] Lehren von guten Sitten, die 1639 unter dem Titel Eutrapeliæ historico-philologico-politicæ publiziert wird. Nachdem er sich im Sommer 1637 nochmals als Hauslehrer auf dem holsteinischen Gut Brodau der Familie von Rantzau verdingt hat, beruft ihn im Mai 1638 endlich der Lübecker Fürstbischof Herzog Johann von Schleswig-Holstein-Gottorf (1606–1655) als Hofprediger nach Eutin. In seinem Amt zerrissen – die 1640 geschlossene Ehe Johanns mit der psychisch kranken Herzogin Julia Felicitas von Württemberg-Weiltigen (1619–1661) nimmt immer groteskere Züge an,7 vergebens sucht Gerlach zwischen den Eheleuten zu vermitteln – quittiert er im Januar 1644 nach der Besetzung Eutins durch die Schweden beinahe erleichtert den Dienst und reist mit seiner Familie über Lübeck nach Danzig, wo er bei der Familie des Danziger Patriziers Gabriel Borgmann (1599–1668) auf Schloss (Herren-)Grebin wieder eine Stelle als Hauslehrer antritt. 1647 kehrt Gerlach in den Pfarrdienst zurück, er übernimmt die Pfarre im ehemals lutherischen, jetzt kalvinistisch ›indoktrinierten‹ Osterwick in der Danziger Niederung. Doch schon 1652 legt er das Amt aufgrund der in Danzig immer heftiger um sich greifenden Streitigkeiten zwischen Lutheranern und Reformierten, die seine seelsorgerische Tätigkeit massiv behindern und in die er publizistisch einzugreifen sucht, wieder nieder. Noch im selben Jahr kehrt er ins Württembergische zurück, wo er bis zu seinem ›Ruhestand‹ 1680 sein Amt als Pfarrer und Superintendent (in Biberach, Wildbad und zuletzt in Markgröningen) versieht. Im November 1678 zudem zum Abt des Klosters St. Georgen bei Villingen ernannt, bemüht sich Gerlach nun um die dortige Ausbildung des evangelischen Pfarrernachwuchses, doch schon zwei Jahre später zieht er zu seinem Schwiegersohn, dem Pfarrer Johann Gerhard Ramsler (1635–1703)8 nach Freudenstadt, wo er am 7. März 1683 stirbt. Der sich in diesen wenigen biographischen Daten bereits abzeichnende Typus eines Mannes von barocker Gelehrsamkeit und protestantischer Religiosität schlägt sich auch in seinen Publikationen nieder. Während seiner Predigerzeit in Eutin widmet er sich einer Übersetzung und Kommentierung von Hugo Grotius’ Vraag en antwoord over de doop, wohl 1643 tritt er mit einem Prognostican7

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Julia Felicitas soll in aller Öffentlichkeit und bei jeder Gelegenheit ihren Mann verspottet und beschimpft, seine Gemächer verwüstet und ständig getobt haben. Vgl. dazu Jens Jensen: Die Ehescheidung des Bischofs Hans von Lübeck von Prinzessin Julia Felicitas von Württemberg-Weiltingen AD 1648–1653. Ein Beitrag zum protestantischen Ehescheidungsrecht im Zeitalter des beginnenden Absolutismus. Frankfurt a. M. 1984 (Rechtshistorische Reihe 35). Vgl. die Autobiographie: Lebens- und Leidensweg des M. Johann Gerhard Ramsler, Specials zu Freudenstadt. Die Lebenserinnerungen eines württembergischen Pfarrers. Bearb. v. Uwe Jens Wandel. Stuttgart 1993.

»Männiglichen zur Erlustigung und erlaubeter Ergetzlichkeit«

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ten=Schlüssel auf,9 der alphabetisch die »verblümbten Worte vnd duncklen Namen/ welcher sich die Kalender=Schreiber« bedienen erläutert und um einige Aspekte vermehrt Eingang findet in den wappenbuchähnlichen Procerum Mundi Index Insignium,10 wo er »Erklär= und Bemerckungen« gibt zu I. Der Calender=Schreiber/ Prognosticanten/ und Post=Reuter/ verblümten Wörter/ und tunckelen Namen; Darunter sie große Herren/ Länder und Städte verstehen. II: Welche Himmlischen Zeichen/ eine und die andre Länder und Städte unterworffen seyn. III. Was bey einem jedwedern Aspect der Planeten/ mit dem Monde/ zu thun/ oder zu lassen. Item/ Eine Tabell/ darinnen genau zu sehen/ was für ein Planet/ wann/ und wie lange ein/ und die ander Stunde/ ein und der ander refieret: So zu vielen Sachen/ und zu rechter brechung der Wündschel=Rutte/ auff jedes Metall annötig.

Insbesondere aber während seiner Zeit als Pfarrer im Danziger Werder entstehen lutherischen Streitschriften gegen den Kalvinismus wie die Heuchel=Christen Keine Christen11 oder den Bellum Intestinum, Sive: Discordia Concors Calvinistarum,12 ebenso lutherische Ratgeber wie der Katechismus=Schlüssel.13 Auch editorisch betätigt sich Gerlach, neben den poetischen 9

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Samuel Gerlach: Prognosticanten=Schlüssel: Das ist: Eine Erklährung/ Der verblümbten Worte vnd duncklen Namen/ welcher sich die Kalender=Schreiber etc. in ihren Kalendern/ Prognostiren/ Postreytern etc. gebrauchen/ vnd dardurch gewisse Ländern/ Städte und Personen verstehen. Auß dem grossen Atlante M. Casper Schwartzen im verwiechenen 1642. Jahr außgegangenen Prognostico, vnd einem also genanten Postillion zusammen getragen. Mit verzeichnüß der Königreichen/ Länder vnd Städten/ so den Zwölff Himmlischen Zeichen vnterworffen sind. s.l., s.a. [wohl 1643]. Ders.: Procerum Mundi Index Insignium. Das ist: Eine Anzeige vnd Aufflösung aller in= vnd außländischen Potentaten/ Herrschafften vnd Stände Wapen/ deren sich die Calenderschreiber/ Prognosticanten vnd Post=Reuter verblümbter Wörter vnd Namen/ in Beschreibung der großen Jahr=Bücher bedienen. Auß vielen Stammbüchern/ Historien vnd Welt=Beschreibungen/ vnd sonderlich auß den dreyen Theilen des illuminirten grossen Atlantis, auch etliches aus etc. Herrn Schwartzen im 1642. Jahr außgegangenem Prognostico, einem/ also genannten Postillon genommen/ vnd in diese Ordnung gebracht. s.l. 1659. Ders.: Heuchel=Christen Keine Christen. Das ist: Eine erörterte Frage. Ob die falschen Christen/ die Heuchel=Christen/ die Maul=Christen/ die Zeit=Christen/ die Rohr=Christen/ die Neu=politischen=Hooff=Christen/ Welche Sich eintweder dehr Päpstler/ oder deht also genannten/ Reformierten so treulich annehmen/ [...]/ Unter die Zahl dehr wahren und guten Christen zu zehlen seyn? An stat eines Vohrläuffers grössern Werks auff das Papyr gesezet. Riga 1651 [Verlag und Druck Gerhard Schröder (nachweisbar 1625–1657)]. Ders.: Bellum Intestinum, Sive: Discordia Concors Calvinistarum. Das ist Inheimischer Krieg/ Oder: Einhellige Unhelligkeit Dehren/ also vohn sich selbs genannten/ Reformierten Lerer/ in den GlaubensArtikeln und gemeinen Kirchengebrauch. Dehrgestalt In Frag und Antwohrt eingeteilet/ daß in den Fragen dehr Reformierten/ teils/ grobe/ Irrtum und Fehler/ mit richtiger Benennung dehren/ die solche begehen/ eingeführet/ in den Antwohrten aber die Gegenlere/ und eben das/ so die genannten Luterischen leren und halten/ vohn auch lauter Reformierten Lerern/ mit ihren eignen Wohrten/ dahrgegen gebillichet/ und ihre eigne Reformierte Lere umgestoßen/ ja vihlmahl ihnen selbsten/ durch sich selbsten/ widersprochen wird. Nach Anleitung des kleinen Katechismi Seel. Herrn D. Martin Luters/ zu Papyr gebracht/ und mit vier nützlichen Registern versehen. Riga 1651 [Verlag und Druck Gerhard Schröder (nachweisbar 1625–1657)]. Samuel Gerlach: Katechismus=Schlüssel. Das ist: Einfältige Anweisung/ Wie Ein Einfältiger Christ/ der seinen Katechismus und die angehengte Fragstükke/ dem Buchstaben nach/

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Werken der Schwarzin, die er nach deren Tod herausgibt,14 ediert er das Reisetagebuch seines Großvaters Stephan Gerlach (1546–1612),15 der zwischen 1573 bis 1578 als Prediger den kaiserlichen Gesandten David von Ungnad von Weissenwolff (1530–1600) an den Hof des osmanischen Sultans begleitete und später als Theologieprofessor in Tübingen wirkte. Neben dem Index Insignium, der bis 1697 zahlreiche Neuauflagen erfuhr, ist es jedoch ein völlig unsystematisches Werk, das Gerlachs Ruf als Autor weit über die Grenzen des innerkonfessionellen Disputs hinaus festigt: Die Eutrapeliæ historico-philologico-politicæ, die enzyklopädisch aufbereitete geistreiche Wortgewandtheit, die 1639 von Heinrich Schernwebel (nachweisbar 1636– 1651) verlegt und bei Valentin Schmalhertz (nachweisbar 1626–1654) in Lübeck gedruckt wird und bis 1681 zahlreiche ergänzte Ausgaben unter variierender Titelei erfährt. Der vollständige Titel der ersten Ausgabe lautet: EUTRAPELIÆ | HISTORICO-PHILOLOGICO- | POLITICÆ. | Das ist | Allerhand Politische/ nützliche | vernünfftige/ theils auch kurtz= | weilige Historien/ | DISCURSEN | APOPHTHEGMATA, Denck= | würdigen Reden/ scharffsinnige Sprichwörter/ | feine Lehren von guten Sitten/ aus der fürnembsten | Scribenten Historien/ auff das kürtzeste | zusammen gezogen/ | Und | Männiglichen zur Unterwei= | sung vnd Erlustigung/ insonderheit aber | der studirenden Jugend zur nützlichen Ubung | vnd besonderen Lust ins Hochteutsch | vbergesetzt.

1647 erscheint, ebenfalls verlegt von Schernwebel, gedruckt aber bei Gottfried Jeger (auch Jäger, Venator; nachweisbar 1645–1664) eine auf das doppelte erweiterte Ausgabe unter dem Titel EVTRAPELIÆ | Philologico-Historico-Ethico- | Politico-Theologicæ, | Oder | Zwey Tausent schöne/ | Nützliche/ Naachdenckliche/ | Vernünfftige/ Sinn/ Lehr/ Geist= | reiche/ und anmuhtige/ auch | theils lustige | Geschichten und Reden/ | Männiglichen zuhr Erlustigung und Er= | götzlichkeit/ auch der lernenden Jugend zu nütz= | licher übung/ so wohl yn der reinen Deutschen/ als auch | mit übersetzen yn der Lateinischen/ Spraachen/ aus un= | terschiedenen Büchern mit fleiß zusammen | gelesen und herausgegeben | Durch | M. S. G.

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verständlich zu erzehlen weiß/ dieselben ihm auch nuz machen/ und nach Anleitung seiner Beicht/ ihren Verstand in etwas erraichen möge. Riga 1651 [Verlag und Druck Gerhard Schröder (nachweisbar 1625–1657)]. Sibyllen Schwarzin/ Vohn Greiffswald aus Pommern/ Deutsche Poëtische Gedichte/ Nuhn Zum ersten mahl/ auß ihren eignen Handschrifften heraus gegeben und verleget Durch M. Samuel Gerlach. 2 Tle. Danzig 1650; vgl. dazu unten, S. 131. Stephan Gerlachs deß Aeltern Tage=Buch/ Der von zween Glorwürdigsten Römischen Kaysern/ Maximiliano und Rudolpho, Beyderseits den Andern dieses Nahmens/ Höchstseeligster Gedächtnuß/ An die Ottomannische Pforte zu Constantinopel Abgefertigten/ Und durch den Wohlgebohrnen Herrn Hn. David Vngnad/ Freyherrn zu Sonnegk und Preyburg etc. Römisch=Käyserl. Raht/ Mit würcklicher Erhalt= und Verlängerung deß Friedens/ zwischen dem Ottomannischen und Römischen Käyserthum und derselben angehörigen Landen und Königreichen etc Glücklichst=vollbrachter Gesandtschafft: Auß denen Gerlachischen/ Zeit Seiner hierbei bedienten Hoff=Prediger=Ampts=Stelle/ eygenhändig auffgesezten und nachgelassenen Schrifften/ Herfür gegeben durch Seinen Enckel M. Samuelem Gerlachium. Frankfurt a. M. 1674 [verlegt von Johann David Zunner (nachweisbar 1653?–1705), gedruckt bei Heinrich Friese (nachweisbar 1663–1683?)].

»Männiglichen zur Erlustigung und erlaubeter Ergetzlichkeit«

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der 1656 eine abermals erweiterte, von dem Leipzig Verleger Tobias Riese († 1671) besorgte und bei Christoph Cellarius († 1663) gedruckte, vielfach wieder aufgelegte Ausgabe folgt: EUTRAPELIARUM | Philologico-Historico-Ethico- | Politico-Theologicarum | LIBRI III. | Das ist: | Drey Tausend schöner/ nütz= | licher/ nachdencklicher/ vernünffti= | ger/ sinn= lehr= geistreicher und anmuhti= | ger/ Theils auch lust= und | frölicher | Historien | Oder | Geschicht und Reden/ | Männiglichen zur Erlustigung und | erlaubeter Ergetzlichkeit/ auch der lernenden | Jugend zu nützlicher Vbung/ sowohl in der reinen | Deutschen/ als auch mit Vbersetzen in der Lateinischen/ Sprach auß unterschiedenen Büchern und eigener An= | merckung mit Fleiß zusammen gelesen | und heraußgegeben: | Auch mit einem zweyfachen darzu nütz= | lichen Register vermehret | Durch | M. S. G.

Die letzte Ausgabe, verlegt durch Johann Christoph Tarnovius (nachgewiesen 1671–1704) und gedruckt bei Christian Michaelis (nachgewiesen 1656–1684), erscheint 1681: NOVA | GNOMOTHECA | Philologico-Historico-Ethico-Po- | litico-Theologica = | Drey=Tausend nützliche/ nachdenckliche/ | Sinn= Lehr= Geistreich= und anmuthige/ | theils auch sonderlich Lust= und | fröliche | Historien/ Oder | Geschicht und Reden/ | Jedermänniglich zur Erlustigung | und zugelassener Ergötzligkeit/ auch der lernen= | den Jugend zu nützlicher Ubung aus unterschiedenen | bewährten Scribenten und eigener Anmerckung | mit sonderbaren Fleiß zusammen gelesen | und herauß gegeben | durch | S. G. M. | Benebenst einen zweyfachen beygefügten Register.

Gerlach findet das Material für seine Kompilation in antiken Quellen, vieles wohl über Laurembergs Acerra Philologica,16 alttestamentlichen und arabischen17 Quellen ebenso wie in der Renaissance-18 und der zeitgenössischen deutschsprachigen Florilegienliteratur, so etwa in Bebels Geschwenk,19 Besolds Antwortt oder Reden,20 Lehmanns Florilegium Politicum,21 Zincgrefs Scharffsinniger kluger Sprüch22 oder Federmanns Erquickstunden.23 Bei der Zusammenstellung aber hat er

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Peter Lauremberg: Acerra Philologica Das ist/ Zwey hundert außerlesene/ nützliche/ lustige/ vnd denckwürdige Historien vnd Discursen, zusammen gebracht aus den berühmsten Griechischen und Lateinischen Scribenten. Rostock 1633. Vgl. etwa Samuel Gerlach: Eutrapeliæ Philologico-Historico-Ethico-Politico-Theologicæ. 2 Tle. Lübeck 1647, Tl. 1, Nr. 950–[1006], S. 183–190. Etwa Gian-Francesco Poggio Bracciolini: Facetiarum liber absolutus. Venedig 1500, oder Erasmus von Rotterdam: Apohthegmatvm Opvs Cvm Primis Frvgifervm. Basel 1532. Heinrich Bebel: Die Geschwenk. Jn drey bücher getheilet/ gebessert vnnd vermehrt. s.l. 1558. Christoph Besold: Sechs Hundert/ ALlerhand Vernünfftig und Kurtzeweiliger: auch Eyfferig vnnd Gottseeliger Antwortt oder Reden. So zuvor in der Teutschen Sprach nie ahn den Tag kommen. s.l. 1621. Christoph Lehmann: Florilegium Politicum. Politischer Blumengarten. Darinn außerlesene Politische Sententz/ Lehren/ Reguln/ vnd Sprüchwörter auß Theologie, Jurisconsultis, Politicis, Historicis, Philosophis, Poëten, vnd eygener erfahrung. s.l. 1630. Julius Wilhelm Zincgref: Der Teutschen Scharpfsinnige kluge Sprüch. Straßburg 1626. Daniel Federmann: Erquickstunden. Von allerley Kurtzweiligen Historien/ Philosophischen vnd Poetischen Sprüchen/ Lehrreichen Fabeln/ vnnd schipfflichen Bossen [...]. Erstlich durch den Edlen Herrn Ludwig Guiccardin beschrieben [...]. Basel 1574.

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mit fleis keine Ordnung hierinnen halten wollen/ sundern [ist] ohne unterschied/ wie eines und dahs ander zu handen kommen/ damit fortgefahren/ daß es dem Leser/ sunderlich dehr lernenden Jugend/ von einer Sachche so vihl auff einmahl zu lesen oder über zu setzen/ nicht Verdruß bringe/ sundern ehr/ wenn ihn bald von diesem/ bald von einem andern etwas auffstosset/ desto lustiger bleibe.24

Mit dieser Absage an jegliche Anordnungsprinzipien25 zugunsten eines Abwechslungsreichtums zur Steigerung der Leselust löst sich Gerlach von den meisten Florilegiensammlungen seiner Zeit.26 Zur Steigerung dieses Unterhaltungswertes bedient er sich nicht nur fast aller Stoff-, sondern auch fast aller Formtraditionen, die Eutrapeliæ beinhalten ein Sammelsurium epischer Kleinformen, die das Werk »in die äußerste Nähe der ›Polyanthea universalis‹« geraten lassen.27 Zwar tendieren viele der Geschichten in ihrer Kürze zum Apophthegma, doch werden nur wenige der gültigen zeitgenössischen Definition gerecht: Das Apophthegma bestimmen die Gelehrten als kurz und gedankenreich Geäußertes, oder, was auf dasselbe hinausläuft, als einen in wenigen Worten gefaßten Denkspruch. Dieser Bestimmung muß meines Erachtens hinzugefügt werden: anläßlich einer bestimmten Situation geprägt. Freilich hat es dadurch den Charakter des Historischen oder meistens den des Aufgewiesenen.28

Und doch stellt Tobias Riese 1656 in seiner Vorrede zu den Eutrapeliarum libri III – eine Vorrede Gerlachs fehlt hier – diese in eine Reihe mit Plutarchs

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Gerlach 1647 (wie Anm. 17), I, fol. [axj ]–[axij ]; gleichwohl versucht Gerlach, an einigen Stellen zumindest grob zu systematisieren, so etwa bei der Sammlung arabischer Sprichworte (ebd., II, S. 183ff.) oder etwa im Zyklus über den burgundischen Edelmann Goulard (ebd., I, S. 65ff.); vgl. Etienne Tabouret: Les Apophthègmes du Sieur Gaulard, Gentilhomme de la Franche-Comté bourguignotte. Paris 1586, übernommen in Louis Garon: Le Chasse Ennvy, Ov L’honneste entretien des bonnes Compagnies. Diuisé en V. Centuries. Lyon 1628; übersetzt und erweitert von Christoph Lehmann: Exilium Melancholiæ, Das ist/ Vnlust Vertreiber: Oder Zwey Tausend Lehrreiche/ scharffsinnige/ kluge Sprüche/ geschwinde Außschläg/ artige Hofreden/ denckwürdige Schertz/ Fragen/ antworten/ Gleichnussen/ vnd was dem allem gleichförmig/ sonsten Apophthegmata genannt. Straßburg 1643; vgl. hierzu Elfriede Moser-Rath: Anekdotenwanderungen in der deutschen Schwankliteratur. In: Volksüberlieferung. Festschrift für Kurt Ranke zur Vollendung des 60. Lebensjahres. Hg. v. Friedrich Harkort. Göttingen 1968, S. 233–247 mit Anm. 88–90, auch dies.: »Lustige Gesellschaft«. Schwank und Witz des 17. und 18. Jahrhunderts in kultur- und sozialgeschichtlichem Kontext. Stuttgart 1984, S. 64f. Hondorff etwa breitet auf allein über 500 Seiten »allerley schöne[] Tugenden vnd schandliche[] Laster[]« aus. Vgl. dazu Elfriede Moser-Rath: ›Burger-Lust‹. Unterhaltende Gebrauchsliteratur im 17. Jahrhundert. In: Literatur und Volk im 17. Jahrhundert. Probleme populärer Kultur in Deutschland. Bd. 2. Hg. v. Wolfgang Brückner, Peter Blickle und Dieter Breuer. Wiesbaden 1985 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 13), S. 881–898. Vgl. Theodor Verweyen: Apophthegma und Scherzrede. Die Geschichte einer einfachen Gattung und ihrer Entfaltung im 17. Jahrhundert. Bad Homburg v.d.H., Berlin, Zürich 1970, S. 132. Jacobus Pontanus: Attica Bellaria, Sev Literatorvm Secvndae Mensae. Bd. 1. Augsburg, München 1616–1620, S. 236; hier in der Übersetzung von Theodor Verweyen, vgl. Verweyen (wie Anm. 27), S. 21.

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Apophthegmensammlungen und der von Antonio Beccadelli (1394–1471) in seiner Biographie Alfonsos V. von Aragon (1396–1458, als Alfonso I. auch König von Neapel und Sizilien) zusammengetragenen Aus- und Denksprüche (De dictis et factis Alphonsi regis, 1455) ebenso wie mit Erasmus’ Apophthegmatum opus (1532), Conradus Lycosthenes’ Apophthegmata (1555) und nicht zuletzt Zincgrefs Der Teutschen Scharpfsinnige kluge Sprüch (1626), von Johan Leonhard Weidner in seiner erweiterten Ausgabe 1653–1655 Teutsche Apophthegmata getitelt.29 Grundlage hierzu bietet die Verschiebung in der Wahrnehmung der Gattungsgrenzen. Noch Zincgref verweist mit Bezug auf Pontanus darauf, dass die Griechen dergleichen sinnreiche kurtz= vnd klug gespitzte reden/ da mehr verstanden/ als gesagt wird/ αποφθέγματα [...] genennet [hätten]/ so die Lateiner hernach von jenem entlehnet/ vnd in jhrer Sprach ebenmessig Apophthegmata, darneben auch Dicteria, acumina, scitè & vafrè dicta, breviter, sententiosè & ex occasione quapiam pronunciata [...] das ist/ scharpffsinnige veranlaßte Wortgriff oder spruchreden,30

womit die Gattungsverbindlichkeiten dargelegt werden: »eine Situation und der aus ihr hervorgehende Spruch«.31 In seiner patriotischen Sammlung aber legt Zincgref »Teutscher Nation Klug=außgesprochne Weißheit« aus dem Munde »jedes stands wolbenahmter personen« vor, als da sind Lehrreiche Sprüch/ geschwinde außschläg/ artige Hoffreden/ denckwürdige Schertzfragen/ antworten/ gleichnussen/ vnd was dem allem gleichförmig/ von Griechen Apophthegma genant ist.32

Die Gattungsform verliert also schon in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts ihre eindeutige Kontur, auch wenn die strengen Gattungsgrenzen noch bekannt sind. Der Schulkamerad und spätere Biograph Zincgrefs, Johann Leonhard Weidner (1588–1655), titelt denn auch 1644 seine Neuausgabe und Fortsetzung des Zincgrefschen Sammlung: Teutscher Nation Apopohthegmatvm, Das ist/ Deren in Teutschen Landen/ Wehr=Lehr=Nehr=Weiberstandts Personen/ Hof= vnd Schalcksnarren/ Beywörter/ sambt anhang etlicher Außländischer Herren/ Gelährter vnd anderer/ auch Auß= vnd Jnländischer Märtyrer/ Lehrreiche Sprüch/ Anschläg/ Fragen/ Gleichnüssen/ vnd waß dem Anhängig vnd Gleichförmig.33

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Vgl. Samuel Gerlach: Eutrapeliarum Philologico-Historico-Ethico-Politico-Theologicarum v v Libri III. 3 Tle. Leipzig 1656, Tl. 1, fol. av –[avj ]. Julius Wilhelm Zincgref: Der Teutschen Scharpfsinnige kluge Sprüch. Straßburg 1626, fol. v r a6 –a7 . Verweyen (wie Anm. 27), S. 21. Zincgref (wie Anm. 30), ausgeführter zweiter Titel. Die Scharpfsinnigen klugen Sprüch bilden den 1. und 2. Teil, Teil 3 von Weidner mit dem Eigentitel Auß allerhand Schrifften/ Mittheilungen anderer Leute/ Täglicher anhör= vnd anmerckungen zusammen getragen. Leiden 1644; in die Teile 4 und 5 (Amsterdam 1655) werden darüber hinaus auch – neben »[a]lte[n] Hieroglyphische[n] Gemählde[n]« – »Vmb= vnd Vffschrifften/ Denkwürdiger Gülden- vnd Silbermüntzen Teutscher Potentaten vnd Herren« und »[l]ehrreiche Reim[] der alten Teutschen« aufgenommen.

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Auch um die Jahrhundertmitte bleibt die verbindliche Definition des Apophthegmas im Blick, doch weichen die Grenzen mehr und mehr auf. Harsdörffer weist in seiner Ars Apophthegmatica darauf hin, dass »mit dem Griechischen Wort Apophthegmata genennet werden« »unverblumte Lehrsprüche (γνώμαι sive sententiæ)« oder »kluge/ kurtze/ scharff= und nachsinnige Hofreden/ und merckwürdige Sprüche«, ohne Unterschied, »ob sie gleich nicht durch gewisse Begebenheiten/ (welches die eigentliche Art der Apophthegmatum ist) anfänglich veranlasst worden«.34 Er selbst nimmt in sein Florilegium denn auch die verschiedensten epischen Kleinformen auf, von der Anekdote über die Gnome und das Sprichwort bis hin zur »ergötzlichen Hofrede«. Doch weist er diesen allen, und damit auch dem Apophthegma, eine spezifische Funktion zu: Die Kompilation dient dazu, »solche Nachsinnig zu suchen/ erfreulich zu finden/ anständig zugebrauchen und schicklich zu beantworten«, also als eine Materialsammlung für eine individuelle Ausgestaltung in der geselligen Kommunikation.35 Harsdörffer folgt zu diesem Zweck nicht denen, die ihre Werke nach Personen, inhaltlichen Aspekten, Sprachen und Völkern oder gar nicht systematisiert haben,36 sondern er hat von den Oratioribus Anlaß genommen/ die gantze Kunst in ihre fontes oder Quell=Bronnen [...] einzutheilen/ und solche mit ihren über=reichen Flüssen/ zu mehrerm Nachsinnen/ wolmeinend anzuweisen.37

Gemäß des klassisch-humanistischen Rhetorikmodells bietet die Ars Apophthegmatica so das Material für die inventio, systematisiert nach »besondern Tituln« oder »Loci Topici Apophthegmatum«, derer Harsdörffer bereits im 110. der Frauenzimmergesprächspiele fünf aufgeführt hatte, die die formale Kategorien für die »Erzehlung« darstellen.38 In der Ars Apophthegmatica entwickelt Harsdörffer mithilfe von zwölf »fontes« oder »Kunstquellen« eine auf die argutia bezogene Topik, wobei die topischen Schemata allererst aus dem vorliegenden Material erschlossen werden. Von diesen Quellen aus entfaltet Harsdörffer dem Leser nun sein Material neu (nach dem Schema ›locus topicus‹ – ›Stichwort‹ – ›Erzählung‹), dies aber mit dem oben genannten Zweck, denn wie 34

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Georg Philipp Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, Das ist: Kunstquellen Denckwürdiger Lehrsprüche und Ergötzlicher Hofreden; Wie solche Nachsinnig zu suchen/ erfreulich zu finden/ anständig zugebrauchen und schicklich zu beantworten. Bd. 1. Nürnberg 1655, Vorrede, § 37f., S. 16f. Vgl. dazu Georg Braungart: Ein Ferment der Geselligkeit. Zur Poetik des Apophthegmas. In: Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter. Bd. 1. Hg. v. Wolfgang Adam u.a. Wiesbaden 1997 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 28), S. 463–472. r v Vgl. Harsdörffer 1655 (wie Anm. 34), Bd. 1, Vorrede, § 9, fol. [):(viij ]–[):(viij ]. v Ebd., § 10, fol. [):(viij ]. Vgl. Georg Philipp Harsdörffer: Frawen=Zimmer Gespräch=Spiel. So bey Ehrliebenden Gesellschafften zu nützlicher Ergetzlichkeit beliebet werden mögen. 8 Tle. Nürnberg 1641–1649, Tl. 3 (1643), S. 61–75; vgl. Verweyen (wie Anm. 29), S. 139–144, ebenso Braungart (wie Anm. 35), S. 467f.; zu den Gesprächspielen vgl. generell Rosmarie Zeller: Spiel und Konversation im Barock. Untersuchungen zur Harsdörffers »Geschrächsspielen«. Berlin u.a. 1974.

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aber das Brunnen= und Röhrenwasser keinen Nutzen bringet/ man gebrauche dann solches auf unterschiedene weise/ sonderlich aber zu Speise und Getranck: Also soll man dieses alles nicht nur mit müssigen Gedancken lesen/ sondern in Reden und Schreiben zu Wercke bringen lernen.39

Im Kontext und unter Voraussetzung der in den Frauenzimmergesprächspielen vorgestellten Topik steht innerhalb dieser Doppelformel ›Reden und Schreiben‹ nun aber eindeutig das ›Reden‹, und damit das (höfische) Modell der geselligen Konversation, im Vordergrund. Eben diesen Aspekt hebt auch Erasmus Francisci in der Verteidigung seiner Schaubühne gegen Kritiker der Kompilationsliteratur40 wie Rist hervor: Im übrigen wird ein jeder ersucht/ diese Schau=Bühne mit höflichen Augen zu beschauen/ und uns des Rechts genießen zu lassen/ daß bey freundlichen Lust=Versammlungen pflegt zu seyn: nemlich nicht alles aufs genaueste zu untersuchen/ was etwa offenhertziger als zierlicher und fürsichtiger daselbst geredet. Worinnen Bescheidene und Freundliche leicht willfahren werden; in Betrachtung/ daß nichts vollkommen/ und derjenige kein Lehensmann/ sondern gar ein Eigenherr deß Glücks/ oder vielleicht der Weisheit selbsten/ welcher keiner Verzeihung bedarff. Grobe oder Spitzfindige aber/ so jedes Buch/ wie einen Türcken=Kopff zum Ziel ihrer Verachtung und Tadlens stecken; mögen wissen/ mir sey fast lieber/ es gefalle ihnen diese Schau=Bühne gar nicht/ weder daß man ihres Lobens oder Lästerns halben/ ein Wort verlieren solte.41

Auch Gerlachs Kollektaneen dürfen in diesem Zusammenhang gelesen werden. Gerlach legt eine Kompilation vor zur »nützlichen Ubung vnd besonderen Lust«, zur »Erlustigung und Ergötzlichkeit«. Hierbei liegt der Fokus aber nicht, wie es Gerlachs biographischer Hintergrund vermuten lassen könnte, auf einer theologisch-moralischen Didaxe im Sinne protestantischer Prodigienliteratur wie etwa Hondorffs in zahlreichen deutschen und lateinischen Neuauflagen erschienenes Promptuarium Exemplorum42 oder Meigers nicht weniger verbrei-

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Harsdörffer 1655 (wie Anm. 34), Bd. 1, Vorrede, § 100, S. 43. So etwa Johann Rist, der die Inhalte als »Narrenpossen« tituliert, oder Conrad von Hoeveln, Mitglied der Deutschgesinnten Genossenschaft und des Elbschwanenordens, der den durch die »Schand Historien« ausgelösten Verfall der Kultur beklagt, da in »diser unordentlichen Verwirrten Neu=heutigen Welt leider Die lustige Gesellschaft, Eulenspiegel, Wurmbumdibum, Wurstologia, Hanreistutser, Hurenkupferbilder und dgl. bässer und eher als Johan Arends, Stegmans, Taulerus, und derer mere Geistl. Selenheilsame Sachen abgehen« (zitiert nach Moser-Rath [wie Anm. 26], S. 883). Erasmus Francisci: Die lustige Schau=Bühne von allerhand Curiositäten: darauf Viel nachdenckliche Sachen/ sonderbare Erfindungen/ merckwürdige Geschichte/ Sinn= und Lehrreiche Discursen/ auch zuweilen anmuthige Scherz=Reden und Erzählungen/ fürger v stellet werden. Bd. 1. Nürnberg 1674, fol. ):( 6 –):( 6 . Andreas Hondorff: Promptvarium Exemplorvm. Das ist: Historienn vnd Exempelbuch. Aus Heiliger Schrifft/ vnd vielen andern vnd beglaubten Geistlichen und Weltlichen Büchern vnd Schriften gezogen. Zum Spiegel der warhafftigen Christlichen Buss/ jedermenniglichen zu diesen letzten vnd gefehrlichen zeiten für Augen gestelt. Leipzig 1568; Frankfurt a. M. 1625; zu Hondorff vgl. Heidemarie Schade: Andreas Hondorffs ›Promptuarium Exemplorum‹. In: Volkserzählung und Reformation. Zur Tradition und Funktion von Erzählstoffen und Erzählliteratur im Protestantismus. Hg. v. Wolfgang Brückner. Berlin 1974.

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teter Nucleus Historiarum.43 Es geht Gerlach in erster Linie um die Vorbereitung auf die kultivierte Unterhaltung, denn sind »fein von Jugend auff solche hüpsche/ kurtze Geschichten/ und Lehrreiche/ auch wohl zugelassen kurtzweilige Reden« dem Leser geläufig, so sind sie vorzüglich geeignet, »heut oder morgen bey ehrlichen Gesellschafften und Zusammenkunfften sich darmit selber beliebet [zu] machchen/ andern aber kurtzweil und Ergötzligkeit [zu] veruhrsachchen«.44 Gerlachs Eutrapliæ dienen also nicht mehr primär einem Aufweisen von Exempeln und Präzedenzfällen zur Reflektion auf den eigenen Lebenswandel und damit zu dessen Steuerung, sie wenden sich, ganz im Sinne ihrer Aristotelischen Definition,45 an ein Publikum, das sich über die Aneignung von individuellem Wissen hinaus der Lektüre als Präparation auf die gesellige Konversation zu bedienen bereit ist. Dabei sieht Gerlach das ihm vorliegende Florilegienmaterial keineswegs als invariable Größe, es ist ebenso wenig ein fertiges Produkt wie das eigene Werk. Seine Quellen bieten einen Fundus, den man »ändern/ teils kürzer zusammen ziehen/ teils verständlicher und ordentlicher setzen« könne,46 »bey etlichen Geschichten oder Reden« seien die »Lehren/ wo man sie gefunden/ teils stehen bliben/ teils/ wo sie zu lang gewesen/ hynwegk getahn«.47 Als Beispiel hierfür möge eine Facetie aus Bebels Geschwenk dienen: Ein schimpflicher Spruch wider ein fahrenden Schüler. Man findet unterweilen Schüler, die, obwohl sie gar kein nütz sind, nicht studieren, auch nicht arbeiten wollen, hin und wieder dem Betteln nachlaufen und die armen, einfältigen Bauern betrügen mit Büberei und Schalkheit ihrer seltsamen Künsten und allerlei Beschisserei; sie sagen, sie seien in, ich weiß nicht welchem, Fraun Venus Berg gewesen, wo sie alerlei Kunst und Zauberei gelernet hätten und verheißen wunderbarliche Ding. Und von diesen Schülern hab ich viel geschrieben in meinem Büchlein Triumpho Vemeris. Aus ihrer Zahl kam einer auf eine Zeit gen Justingen zu einem Wagner, der von diesen Gesellen oft und dick war betrogen worden, und begehret ein Almosen, dann er ein Meister der sieben freien Künst und einer von denen wär, die einmal im Venus Berg gewesen seind und beim gemeinen Mann fahrende Schüler heißen. Darauf sagt der Wagner: »Bist Du nicht das verschienen Jahr auch hier gewesen?« Und da der ander verneinet, saget er weiter: »So geh und komm forthin nimmer, dann ich wird Dir nichts geben«. Der Fahrende fraget unwillig, aus was Grund er ihn, der doch ein Meister der sieben Künst und ein Magus wär, nicht ihrzet (dann die Teutschen habens also im Brauch, daß sie nur entweders Freund und Bekannte oder schlecht und unachtbar Menschen duzen). Antwortet der Wagner: »Ich kann viel mehr denn Du: dann mit meinem einigen Handwerk ernähr ich mich, mein Weib und sieben Kinder, Du aber kannst Dich allein mit sieben Künsten nicht ernähren und gehst

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Samuel Meiger: Nucleus Historiarum Oder Ausserlesene liebliche/ denckwürdige vnd warhafftige Historien/ aus den den glaubwürdigsten/ alten vnd newen Geschichtsschreibern/ in gewisse Classes vnd Locos Communes zusammen gezogen. 3 Tle. Hamburg 1598/99; Ulm 1649. r v Gerlach 1647 (wie Anm. 17), I, fol. avj –avj . Als εύτραπελíα bezeichnet Aristoteles die im geselligen Umgang die Mitte zwischen Flegelhaftigkeit (άγροικíα) und Possenhaftigkeit (βωμολοχíα) einnehmende Tugend, vgl. Nikomachische Ethik IV, 14, 1128a. v Gerlach 1647 (wie Anm. 17), I, fol. av . v Ebd., I, fol. axj .

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betteln. Daher sollst Du mich ihrzen, nicht ich Dich«. Also zoge der Schüler fein verspottet ab. Und billig ergehets also denen, die sich allein des Titels rühmen, aber keines der Ding leisten, die sie vorgeben, trotzdem aber viel hoffärtiger, stolzer und übermütiger sind denn die, die so viel studiert haben und wissen.48

Gerlachs Version komprimiert nicht nur das vorgefundene Material auf eine Pointe hin, auch eben jene lehrhaft-moralische Formel am Ende fällt weg, da der Text ihrer nicht mehr bedarf: Als auff eine Zeit einer/ dehr sich für einen Maister dehr siben freihen Künsten ausgab/ bey einem Handwerksmann üm einen Zehrpfennig baht/ spraach dehr zu ihm: Gehestu mit siben Künsten behteln/ so byn ich geschikter als du/ denn ich mit meinem einen Handwerk mich/ und mein Weib und Kind ernehren kahn.49

Ein weiteres Beispiel für Gerlachs produktiven Umgang mit den Quellen sei genannt, aus den Eutrapeliarum libri III, die das genannte Konzept aufgrund der Fülle und Vielfältigkeit der Nummern noch deutlicher hervortreten lassen. Darüber hinaus unterstützt das, wie das Titelblatt ausweist, »zweyfache[] darzu nützliche[]« – zur »Ergetzlichkeit« und »Ubung« – diese These: Nach jedem der tausend Nummern umfassenden Teile folgt auf das Register der »vornhemsten Personen/ Länder und Städten/ welche in diesem [...] Tausend entweder selber geredet/ oder von denen etwas gesaget/ oder auch nur sonsten ihrer gedacht wird« das der »in diesem [...] Tausend begriffenen Sachen nach der Geschichten und Reden Zahl gerichtet«. Es handelt sich um eine Anekdote aus Lehmanns Florilegium Politicum: Der fürtreffliche Mann Iovianus Pontanus hat zur Malzeit sich nur mit einer Speiß gesättigt vnd gesagt er thus darumb/ daß er nicht den Medicis in die Cur komme. Quia diversitate ciborum nil est nocentius.50

In Gerlachs Version fehlt auch hier der moralische Zeigefinger, der mit dem Inhalt nur wenig zu tun hat; gleichwohl wird Lehmanns Anekdote so variiert, dass gerade die aus ihr zu ziehende Lehre deutlich hervorsticht: Als der vortreffliche Mann Jovinianus Pontanus gefragt wurde: Worüm er doch so gar mäßig und nüchtern lebe? Gab er zur Antwort: Daß ich den Aertzten nicht in die Hände gerahte.51

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Heinrich Bebel: Schwänke. Zum ersten Mal in vollständiger Übertragung. Bd. 1. Hg. v. Albert Wesselski. München, Leipzig 1907, Nr. 6, S. 7, zitiert nach Verweyen (wie Anm. 27), Anhang S. 133f.; die nachfolgenden Beispiele orientieren sich an diesem Anhang, in dem Verweyen, in Fortsetzung des Kapitels »Beobachtungen zur Wirkungsgeschichte der Apophthegmatik« am Beispiel Grimmelshausens in diesem Anhang (ebd., S. 187–239) die Quellenabhängigkeit für Grimmelshausens simplicianische Scherzreden aus den Calendern und den Astrologischen Jahrbüchern skizziert, ohne aber auf Varietäten dieser Quellen untereinander einzugehen. Gerlach 1647 (wie Anm. 17), I, Nr. 699, S. 209; vgl. Gerlach 1656 (wie Anm. 29), II, Nr. 699, S. 204. Lehmann (wie Anm. 21), Nr. 24, S. 49f. Gerlach 1656 (wie Anm. 29), II, Nr. 786, S. 223.

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Darüber hinaus variiert Gerlach das Material aber auch dahingehend, dass eine historische, räumliche oder auch genuin situative Einordnung nicht mehr möglich ist. Über Kilian, den Hofnarren Markgraf Albrechts, heißt es bei Zincgref: Als er gefragt wurd/ warumb er sich wie einen Narren stellete/ da er doch witzig were? Antwortet er: Ach wie vnglücklich bin ich doch/ je närrischer ich mich stelle/ je vor witziger hält man mich: hingegen meinen Sohn/ der sich witzig bedunckt/ hält jederman für einen Narren.52

Bei Gerlach fehlt nicht nur jedweder Hinweis auf die Identität des Protagonisten, die Geschichte wird den raum-zeitlichen Grenzen enthoben und so variabel anwendbar: Ein Fuchsschwänzer/ gefraget: Wohrüm er sich doch närrisch anstelle/ da er doch klüger seye/ als die/ so sich sehr klug dünken lassen? Gab zuhr Antwort: Das Glük spielt in disem Stük sehr widersinnig mit mir: Je mehr ich mich töhricht erzeige/ ie verständiger man mich hält: hergegen ie weiser mein Sohn zu seyn sich einbildet/ je närrischer wird er vohn iedermann geachtet.53

Nicht mehr von dem einen oder auch den Hofnarren ist hier die Rede, allgemein ist sie es von Heuchlern, Blendern, Schmeichlern etc.54 Eine solche Verallgemeinerung und damit Ausweitung auf andere Lebensbereiche und -situationen begegnen auch in folgendem Beispiel, wiederum auf Zincgref zurückgehend: Ein vertribener Evangelischer Pfarrer gieng vor einen Catholischen Priester vorvber/ zoge den Hut nit vor jhm ab/ der Priester sprach/ Du magst mir wohl ein stoltzer Gesell seyn/ daß du niemand ehrest/ der ander antwortete/ Wann du nicht stöltzer werest als ich/ würdestu es nicht an mich begeren.55

Dieser konfessionelle Rahmen fehlt in Gerlachs Version völlig: Jener sagte zu einem/ der den Hut nicht vor ihm abgenommen: Jhr müst ein grober Gesell seyn/ daß ihr nicht vor mir abziehet. Höhrt aber zur Gegenantwort: Jhr mußt ein stolzer Mann seyn/ daß ihr begehret/ man sol vor euch abziehen.56

Statt des katholischen Priesters ist es nun ›jener‹, der sich in seiner Ehre gekränkt fühlt. Wer dies ist, scheint sich zunächst aus dem Zusammenhang der weiteren Geschichten, in den das vorliegende Beispiel eingebettet ist, zu erschließen: In der unmittelbar vorhergehenden Nummer ist von einem »einfältige[n] Edelmann« die Rede, der lamentiert, er könne das große Paris »vohr den Häusern nicht sehen«, unmittelbar an schließt sich eine Erzählung, in der »[j]ener« berichtet, er sei im Traum auf einen Nagel getreten, woraufhin er den Rat erhält, »zuhr andern Zeit nicht mehr barfuß« zu schlafen.57 In der dieser 52

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Julius Wilhelm Zincgref: Der Teutschen Scharpfsinnige kluge Sprüch/ Apophthegmata genant. Bd. 1. (Bd. 2 u.d.T.: Teutscher Nation Denckwürdiger Reden Apophthegmata genant/ Anderer Theil) Straßburg 1628/1631, S. 389. Gerlach 1656 (wie Anm. 29), I, Nr. 951, S. 249. Zur Wortbedeutung in der Frühen Neuzeit vgl. Grimms Deutsches Wörterbuch. Bd. 4, Sp. 355. Zincgref (wie Anm. 52), Bd. 2, S. 95. Gerlach 1656 (wie Anm. 29), I, Nr. 590, S. 134. Vgl. ebd., I, Nr. 589 u. 591, S. 134.

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letzteren Nummer folgenden Geschichte ist dann aber unvermittelt von einem Priester die Rede: Jener Priester predigte: Gleich wie eine alte Schweinsmutter ihre jungen Ferklein liebet: also liebet die Oberkeit uns ihre Untertahnen. Wie aber viel solcher Schweinsmütter ihre junge Ferklein selber fressen: also viel Oberkeiten ihre eigne Untertahnen. Das lezte gieng hin/ aber das ander Gleichnis tauget wohl nicht viel.58

Eindeutig schließen lässt sich aus dem Kontext also nicht auf den in seiner Ehre gekränkten Edelmann als Adressaten der Antwort. Darüber hinaus – oder gerade daher – nutzt Gerlach häufig die Eingangswendung: »Jener ... «, wie auch Zincgref (unter der Rubrik »Anonymi Oder vngenante Personen«)59 und Harsdörffer sich der Formel »Einer ... « bedienen, um sich der strengen Pontanuschen Definition des Apophthegmas als neben einer Situationsbedingtheit durch den »Charakter des Historischen oder meistens den des Aufgewiesenen«60 gekennzeichneten zu entziehen – sie sind Zeichen einer Variabilität. Aber nicht nur fehlt Gerlachs Version der rein situative, in Raum und Zeit zu verortende Kontext völlig, aufgrund der semantischen Variabilität des ›abziehen‹61 erhält diese Geschichte eine Spitzfindigkeit, die sie in Harsdörffers ›Kunstquellen‹System durchaus im »Quell=Bronnen« des Gegensatzes zu liegen kommen könnte.62 Es bedarf also eines Priesters, eines Edelmannes gar nicht, um die Spitzfindigkeit zu verdeutlichen. Ein letztes Beispiel aus dem ersten Tausend der Eutrapeliarum libri III möge abschließend noch einmal zeigen, wie das vorgefundene Material als variables Element am Beginn eines Prozesses zu verorten ist, das diesen allererst initiiert und zum individuellen Produkt, dem ›Text‹ führt. Es setzt sich mit dem geizigen Kaufmann Galeottus Malvolutus auseinander:63 Galeottus war so geitzig/ daß er keinen Wein anzapffete oder trank/ er wäre denn zuvohr saur: Als nu sein Diener einmahl gefragt wurde: Was sein Herr zu Hause mache? Sprach er: Er sitzet und wartet bis der Wein sauer werde.64

Gerlach greift das Motiv im dritten Tausend erneut auf, variiert es aber erneut: Galeottus Malvolutus war ein schändlicher Geitzhals/ daß er auch sich selber nichts gutes that/ und keinen Wein anzapffte/ er fienge dann zuvor an sauer zu werden/ dahero als sein

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Ebd., I, Nr. 592, S. 134f. Zincgref (wie Anm. 52), Bd. 2, S. 67ff. Jacobus Pontanus: Attica Bellaria, Sev Literatorvm Secvndae Mensae. Bd. 1. Augsburg, München 1616–1620, S. 236; hier in der Übersetzung von Theodor Verweyen, vgl. Verweyen (wie Anm. 27), S. 21. Zum ersten Mal bei Gerlach, vgl. Verweyen (wie Anm. 27), Anhang, S. 219. Harsdörffer übernimmt Gerlachs Version denn auch, vgl. Harsdörffer 1655 (wie Anm. 34), Bd. 2, Nr. 3645, S. 129; vgl. Verweyen (wie Anm. 27), Anhang, S. 219. Das Motiv zuerst bei Erasmus (wie Anm. 18), der Name bei Federmann (wie Anm. 23), vgl. Verweyen (wie Anm. 27), Anhang, S. 201. Gerlach 1656 (wie Anm. 29), I, Nr. 517, S. 110.

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Diener gefragt wurde: Was sein Herr mache? Er zur Antwort gab: Er wartet/ biß der Wein sauer werde.65

Das Stichwort ›Geiz‹ ist hier weitaus deutlicher pointiert. Wie weit die Wahrnehmung der Apophthegmensammlungen als Materialfundus für eine vornehmlich mündliche Kommunikation reicht, zeigt der Titel der letzten Ausgabe der Gerlachschen Kompilation: Gnomotheca, der, wenn man es so übersetzen möchte, ›Denkspruchladen‹.66 In dieser Ausgabe aber wird ein Aspekt gegenüber den Eutrapeliæ ebenso ausgeblendet wie bereits in den Eutrapeliarum libri III: Gerlach geht es nicht nur um die Schaffung von Grundlagen zur gepflegten Konversation, die Eutrapeliæ sollen nicht nur »fein von Jugend auff« für die gesellige Konversation präparieren.67 Diese Kompilation hat ein doppeltes Telos: Sie soll auch dazu dienen, die Jugend »so wohl yn reinem deutschem Schreiben [...] als auch ym ubersetzen/ bässer fortkommen« zu lassen.68 Neben die Rezeption als Grundlage einer geselligen Konversation tritt eine solche als Grundlage einer schriftlichen Produktion. Gerlach hat dabei, »und zwahr/ um dehr lieben Jugend willen«,69 insbesondere die »Wieder=erneuerung unserer so uhralten Häupt=Mutter=Spraach« im Blick.70 War die erste Ausgabe der Eutrapeliæ 1639 aufgrund der unautorisierten Publikation71 und der Eingriffe des Verlegers ein »elende[s] und mit Latein vermischte[s] Werk«, so liege mit der Ausgabe von 1647 nun nach »nicht geringer Beschwärligkeit/ und Versäumnis mancher lieben Stunde« eine Überarbeitung vor, die eine »dehr deutschen Spraache Natuhr gemässere Schreibens=ahrt« biete.72 Der Grund für die Über- bzw. Neubearbeitung sei letztlich der, dass die deutsche Sprache aus vihlen dehrgleichen Büchern/ die ihnen von ihren Lehrmaistern/ selbe yn andere Spraachen über zu setzen/ vorgeleget werden/ mehr verderbet und verbösert/ als verbässert/ und weder recht Deutsch noch recht Lateinisch zu schreiben dahrauß können noch mögen ahngewehnet werden/ yn Ansehung/ daß bey vihlen gahr Elend/ ohnverständlich/ und mit halb Latein/ Frantzösisch und Welschen Wörtern verderbtes Deutsch sich befindet.73

Im Vordergrund der Sprachreinigungsversuche Gerlachs steht jedoch nicht so sehr die Eliminierung von vor allem Latinizismen und Französismen oder von Fremdwörtern generell – in der deutschen Sprache etablierte Wörter wie »Dok-

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Ebd., III, Nr. 385, S. 64f. In diesem Zusammenhang interessant und eine eigene Untersuchung wert sind die über die Ausgaben hin sich verändernden Frontispize: Enthalten diese wie auch die Kupfertitel zunächst allegorische Darstellungen, so zeigt das Frontispiz der letzten Ausgabe von 1681 eine barocke Gartenlandschaft, in deren Vordergrund ein galanter Herr in der bekannten Haltung des französischen Sonnenkönigs posiert. r Vgl. Gerlach 1647 (wie Anm. 17), I, fol. avj . Ebd. v Ebd., I, fol. av . Ebd. Vgl. dazu unten, S. 126. v Gerlach 1647 (wie Anm. 17), I, fol. av . v r Ebd., I, fol. av –avj .

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tor/ Author/ [...] Purgieren/ Pater/ Prior/ [...] Studieren/ udg.« behält er bei bzw. gibt bei weniger gebräuchlichen die deutsche Entsprechung74 – er bemüht sich um eine neue, eine »eigentüml. Orthographie«,75 die auf der Wahrnehmung der Aussprache aufbaut: Versuuch eß und nimm einen Welschen/ Frantzosen/ einen einfältigen Deutschen Bauersmann/ auch eine Weibspehrsohn oder 7. 8. Jährigen Knaben/ dehr bloß seine Buuchstaben zu mahlen gelernet hat/ und lasse sie dihr Deutsch schreiben/ so wirstu befinden/ wie ahrtlich sie die Aussprache des Wortes yn acht nehmen.76

In der »Vohrrede/ ahn den Deutschen vnd Deutsch=liebenden Leser« stellt Gerlach dem Leser »etliche Worte/ nach allen Buuchstaben/ vor Augen« und benennt die Gründe, warum er sie »solcher Gestalt/ und nicht mehr naach dehr gemeinen Weise geschriben« habe.77 Ins Auge fällt zunächst Gerlachs Versuch – Philipp von Zesen wird dies wenige Jahre später ebenfalls propagieren78 – einer Ausmerzung ›nichtdeutscher‹ Buchstaben aus deutschen Texten: C. ist kein Deutscher Buuchstab/ hab ihn also gahr nicht gebraucht/ weil dessen man wohl missen und ahn seine stat dahs k. oder z. nehmen kahn/ als: Kresus/ Kreutz/ Zizero/ Lazedemonier udg. Dahs Ch. Aber ist ein nohtwendiger Deutscher Buuchstab/ dessen man nicht mangeln kahn/ als: A c h/ i c h udg.79 F a l e r e u s/ F i l i p p udg. mit einem F. und nicht Ph/ als welches wiederüm kein Deutscher Buuchstab ist/ kahn also gahr wohl vermisset und dahs F. yn allen dehrgleichen Worten ahn seine stelle gebracht werden.80 Q. ist kein Deutscher Buuchstab oder kahn zuhm wenigsten gahr wohl gemisset und ahn seine stelle dahs K. gebrauchet werden/ als K w a h l/ K w e l l e/ K w i t t e n udg.81

Das Y hingegen komme zu stehen »ahn statt des einfachchen i. wo die Silbe lang seyn sol/ als y m/ y n/ b y n/ w e y s udg«.82 Diesem Eliminierungsversuch fällt natürlich auch das ck zum Opfer:

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r

v

Ebd., I, fol. [axj ]–[axj ]. Elfriede Moser-Rath und Reimund B. Sdzuj: Samuel Gerlach. In: Killy Literaturlexikon. 2., vollständig überarbeitete Auflage. Hg. v. Wilhelm Kühlmann. Bd. 1–12. Berlin 2008– 2011, hier Bd. 4 (2009), S. 183f., hier S. 184. v Gerlach 1647 (wie Anm. 17), I, fol. [aviij ]. r Ebd., I, fol. [aviij ]. Vgl. Philipp von Zesen: Rosen=mând: das ist in ein und dreißig gesprächen Eröfnete Wunderschacht zum unerschätzlichen Steine der Weisen. Hamburg 1651 (Sämtliche Werke. Hg. v. Ferdinand van Ingen. Bd. X. Berlin, New York 1974), S. 81: »[F]ürnehmlich drei [Buchstaben]/ als c, q, y« seinen es, »die man von den Lateinern entlehnet/ [...] aber sie seind in unserer schrift eben so viel nütze als das fünfte rad am wagen«; zu den Buchstaben des Alphabets vgl. ebd., S. 81–105; zum Rosen=mând vgl. Rosmarie Zeller: Zesens Sprachschriften im Kontext der Konversationsliteratur. In: Philipp von Zesen. Wissen – Sprache – Literatur. Hg. v. Maximilian Bergengruen und Dieter Martin. Tübingen 2008 (Frühe Neuzeit 130), S. 207–221. v Gerlach 1647 (wie Anm. 17), I, fol. b . v Ebd., I, fol. bij ; vgl. dazu Zesen (wie Anm. 78), S. 97. r Gerlach 1647 (wie Anm. 17), I, fol. bvj . v Ebd., I, fol. bvij .

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S a k / yn dehr einzelnen/ (singulari) S ä k k e aber yn der mährern Zahl (plurali) weil dahs c. dahrbey nichts nutzet/ und dahs k. hart genug klinget yn dehr einzelen Zahl/ bey dehr mährern aber teils wegen des langen doppellautes ä. teils wenn beyde Silben S ä k=k e geteilet und gebrochchen werden müßen/ dahs gedoppelte kk. Nohtwendig erfordert wird. Und also vohr allen dehrgleichen Worten.83

Erhalten bleibt das c hingegen im ch, doch wird letzteres aufgrund der Aussprache auf kurze Vokale folgend verdoppelt: L a c h c h e n/ weil ein jede Silbe nohtwendig ihre c h bedarff/ wie eß ym Aussprechchen genugsam gemerket wird/ sunsten müßte eß auch langsam geredet oder gelesen werden/ wie ym s p r a a c h e n oder s p r a c h e n. Also yn allen dehrgleichen Worten: S a c h c h e n/ r a c h c h e n/ s p r e c h c h e n udg.84

Ebenso verfährt Gerlach beim sch: »Waschschen üm gleicher Uhrsachche willen/ gleich wie oben bey dem Lachchen/ also auch Aschschen/ Bischschoff/ Leschschen/ naschschen udg«.85 Vornehmlich aber ist es die mündliche Sprachpraxis, die Länge der ausgesprochenen Vokale, die Gerlach zu seiner Reform der Orthographie, gekennzeichnet durch das stumme h nach Vokalen, ermutigt: »Byn oder bihn/ Sum, dieweil eß lang ist und nicht so kurtz wie ym binden«, »Dahs/ hoc, daß ut , quò, quòd, quin«, »Dihr und nicht dir/ dieweil eß lang/ auch nicht dier/ dieweil eß zwischschen Tier/ und Tühr Animal & Janua gleichsam ein gemitteltes ist«,86 »Ehr/ ille, und nicht er/ dieweil eß lang ist«,87 »Ihm illi, ihn illum, ihr udg. zuhm Unterscheid des ym/ yn in«.88 Und so ist auch »Ahn/ Ahm/ als: ahm Tage/ Ahnschlag/ ugd. [zu schreiben,] weil es lang und nicht wie Anna/ Amber/ udg. ausgesprochchen wird«89 und »Atem/ oder Ahtem/ und nicht Athem/ weil die ehrste/ und nicht die letzte Silbe lang« ist – außerdem ist »dahs th kein deutscher Buuchstab/ über dahs nach dem t. dahs h. nichts nütz ist/ und ym Aussprechchen gahr nicht gemerket wird«.90 Aber auch die Kennzeichnung semantischer Unterschiede beinhaltet die Reform. So ist »Naach oder Nach/ nach dehm eß ausgesprochchen wird/ als naachgehends/ naachfolgen udg. nach dehm nach dem dehr Mann ist udg«,91 »Weg/ via« im Unterschied zu »Wegk/ als hynwegk/ wegk gehe/ Wek/ als wekken« zu schreiben.92 Dass die Bedeutungsebene aber auch in der alltäglichen mündlichen Kommunikation eine große Rolle spielen kann, verdeutlicht Gerlach an der »Jungfer zuhm Unterschied des Junge Frau«: Man könne den Bedeutungsunterschied nämlich »sunsten so leichtlich nicht merken [...] wegen

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r

Ebd., I, fol. bvij . r Ebd., I, fol. bv . r v Ebd., I, fol. [bvij ]–[bvij ]. v Ebd., I, fol. b . r Ebd., I, fol. bij . v Ebd., I, fol. biiij . r Ebd., I, fol. [axij ]. v Ebd., I, fol. [avij ]. v Ebd., I, fol. bv . v Ebd., I, fol. [bvij ].

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des geringen [lautlichen] Unterschieds zwischen Jungfrau und Junge Frau« – mit durchaus unangenehmen Folgen. Gerlach lässt hier eine Anekdote folgen, die dem ganzen Lemma, vielleicht etwas abgewandelt, eigentlich die Aufnahme in seine Eutrapeliæ geebnet haben sollte: Er habe »selber yn einer vohrnehmen Stadt gehöret/ daß ein Prediger/ durch übersehen des Schreibers/ auff dehr Kantzel für eine schwangere Jungfrau gebehtet hat«.93 Die Orthographiereform orientiert sich vornehmlich an der im ›einfachen Volk‹ gesprochenen Sprache, deren Verschriftlichung nicht oder noch nicht durch Eingriffe eines gelehrten Umfeldes »verderbet« worden ist. Aber auch Autoritäten werden zur Bestätigung oder Verifikation bestimmter grammatikalischer oder orthographischer Besonderheiten herangezogen. So werde etwa Reichtum »yn heiliger Schrifft/ wie auch bey andern bald mit dem Mannlichen dehr/ bald mit dem Weiblichen die/ auch mit dem ohnbenahmten Vohrword dahs gefunden/ also hab [er]’s auch unterschiedlich gebrauchet«.94 Es werde »Buuch/ Liber« geschrieben, weil eß langsamer als Geruch/ Olfactus, aus gesprochchen wird. Oder beliebt dihr dahs h. als Buhch/ gehet eß meines erachtens nicht allenthalben ahn/ sundern nuhr yn denen Silben/ da noch kein h. fürhanden/ als Strahl/ Stuhl/ Ruhr/ Curatio, Mohr udg. Wo aber/ sunderlich yn den einsilbigen Worten/ dahs h. alberait zu gegen ist/ will eß sich nicht so wohl schikken/ daß mans gedoppelt setze/ als hier ym Buhch/ Rahch udg.95

Demgegenüber müsse man aber »Bücher/ und nicht Buücher oder Bühcher« schreiben, »weil dehr doppelt/ oder kleinlaut/ Tonus subtilioris pronunciationis seu vocis, wie ihn dehr Suchende/ Hr. Schottel/ ü. [ihm] die ehrste Silbe ohne dahs lang machchet«.96 Diese »ohnbekante weise zu schreiben« habe er, so Gerlach, bereits als Feldprediger gepflegt,97 sich aber aufgrund vieler, auch »fürnehmer gelehrter/ Leute« anzüglicher Worte hierüber »fast gahr abschrökken« lassen. Da nun auch andere, insbesondere Philipp von Zesen sich ihrer vohn so vihl ohndenklichen Jahren här verwittibte und verwaisete deutsche Mutter erbarmet/ und dieselbe wieder zu Ehren zu bringen/ und daß fast gahr verloschschene Liecht ihr wieder ahnzustekken/ aussersten fleisses sich bemü[h]et,98

habe er sich entschlossen, seine Normierungsversuche an die Öffentlichkeit zu bringen. Obwohl er aber von Zesen zu lernen bereit, ja begierig ist, übt er gleichzeitig deutliche Kritik an den Sprachreinigungsversuchen Zesens.99 Dieser habe in seiner Schuz=räde an die unüberwündlichste Deutschinne zwar gefor-

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v

Ebd., I, fol. biiij . v Ebd., I, fol. bvij . r Ebd., I, fol. b . Ebd. r Vgl. ebd., I, fol. [bx ]. v Ebd., I, fol. [bx ]. v v Vgl. ebd., I, fol. [bx ]–[bxj ].

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dert, man solle das Deutsche so schreiben, wie man es spreche,100 sei selbst aber im Ibrahim dieser Forderung nicht nachgekommen. Seiner, Gerlachs, Meinung nach existiere eine extreme Uneinheitlichkeit in der Orthographie der Schriftsprache Zesens, für die er eine Reihe von Beispielen anführt. Doch nimmt er die Kritik unmittelbar etwas zurück, habe Zesen doch in der Schuz=räde die Gründe für diese Uneinheitlichkeit nicht angeführt und man wisse daher nicht, »wohrinn man ihm naachfolgen sol« – es sei daher zu hoffen, dass er dies in seinem in Aussicht gestellten Rosen=mând alsbald nachholen werde.101 Scharf angeprangert werden auch die Versuche Zesens, »sunsten gahr alte Worte« wie »Fenster« oder »Natuhr« aus der deutschen Sprache zu eliminieren und sie durch solche zu ersetzen, die »auch offt ein Gelehrter kaum errahten/ oder ohne langes Naachdenken/ verstehen« könne102 – so das ›Fenster‹ ja bekanntlich durch den »Tage=leuchter«, die ›Natur‹ etwa durch die »Nähr= oder Zeuge=mutter«.103 Aber auch hier relativiert Gerlach seine Kritik, es sei nicht »ohnrecht getahn«, allein Zesen hätte besser »die alten bishär gebräuchliche Worte so lang sollen dahrbey stehen lassen/ bis die seinigen bässer bekannt worden und yn mehrern Gebrauch kommen wären«.104 Gerlachs ambivalentes Lob Zesens deutet indes auch auf einen anderen Zweck dieser »Vohrrede/ ahn den Deutschen vnd Deutsch=liebenden Leser« hin. Man kann sich nämlich des Eindrucks nicht erwehren, als wolle Gerlach mit dieser Vorrede wenn nicht seinen Beitrag, so doch seine Involvierung in die Sprachdebatte der ›Fruchtbringenden Gesellschaft‹ in den 1640er Jahren105 hervorheben. Er habe nämlich im Ibrahim »vihl guhtes/ un[d] yn dehr Deutschen Spraache zu wissen nöthiges gefunden«, könne aber, da sein »Werklein/ welches alberait gantz fertig« sei, dieses nicht mehr berücksichtigen, denn die Zeit erlaube es nicht.106 Der Leser solle sich aber nicht wundern, daß dahs Andere Tausend nicht yn allen dem Ehrsten gleich geschrieben ist/ denn dis kommet dahär/ weil jenes alberait vohr drey Jahren fertig da gelägen/ und eben yn dessen/ daß mihr dehr Verleger dahs ehrste Tausend/ solches nu zuhm andern mahl wider zu übersehen/ zu schikte/ ihm zu gesendet worden/ solches aber nu wider abzu fordern und nach disem auch zu verbässern/ wil die härzu nahende Leipziger Messe/ so

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Vgl. Philipp von Zesen: Schuz=räde An die unüberwündlichste Deutschinne. In: Ders.: Ibrahims Oder Des Durchleuchtigen Bassa und Der Beständigen Isabellen Wunder=Geschichte. Amsterdam 1645 (Sämtliche Werke. Hg. v. Ferdinand van Ingen. Bd. V. Berlin, New York 1977, Bd. V/1), S. 5*–15*. v Vgl. Gerlach 1647 (wie Anm. 17), I, fol. [bxj ]: »Wäre also hoochnöthig daß seine versprochene 31. Gespräche hiervohn bald möchten häraus kommen«; vgl. dazu Zesen (wie Anm. 78), wo dieser Hoffnung ja weitestgehend entsprochen wird. v Gerlach 1647 (wie Anm. 17), I, fol. [bxj ]. Zesen 1645 (wie Anm. 100), S. 13*f. u. 11*; die vielzitierte Ersetzung von ›Nase‹ durch den ›Gesichtserker‹ stammt hingegen nicht von Zesen, sondern ist eine ›Erfindung‹ seiner Gegner zur Verspottung der Reinigungssucht. v Gerlach 1647 (wie Anm. 17), I, fol. [bxj ]. Vgl. dazu überblicksartig Andreas Herz: Philipp von Zesen und die Fruchtbringende Gesellschaft. In: Bergengruen, Martin (wie Anm. 78), S. 181–208, v.a. S. 197ff. v Gerlach 1647 (wie Anm. 17), I, fol. [bx ].

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wol auch dehr über die 80. Meilwegs entlegene Ort/ da mans zuhm Druck befürdert/ nu gahr nicht leiden.107

Gleichwohl unterscheidet sich die Orthographie beider Teile nicht wesentlich, sie wird auch in besagtem, nicht verbesserten Teil mehren teils dem Regelwerk Gerlachs gerecht. Diese letzte der ›Anweisungen‹ zur Lektüre der Eutrapeliæ indes bestätigt den oben genannten Eindruck. Denn wenn der zweite Teil der Kompilation bereits drei Jahre vor der Publikation in eben dieser publizierten Form vorlag, so wäre Gerlachs der Aussprache angepasste Orthographie und seine Spracherneuerung nicht durch Zesens 1645 publizierten Ibrahim initiiert worden, sondern ein eigenständiger Beitrag zur Sprachdebatte. Aber Gerlach geht noch weiter. In seiner »Vohrrede« der Eutrapeliæ von 1647 weist er den Leser eindrücklich darauf hin, dass er mit dieser »ohnbekante[n] weise zu schreiben [...] alberait vohr mehr als 8. Jahren«, als er mit der Royal-Armee Gustaf Adolfs vor Nürnberg lag, »umgegangen« sei.108 Dies würde in die späten 1630er Jahre deuten – vor bzw. in Nürnberg lag Gerlachs Regiment aber im Sommer 1632. In seinem – nach dem Januar 1674 verfaßten – Cursus vitae gibt Gerlach in Parenthese zwar an, über die Zeit zwischen Sommer 1632 »biß auf annum 1634« nichts mehr zu wissen, da »er um solchen Jahrs Calender gekommen« sei,109 auch könne »wegen 2jährigen Calenderverlusts fast keine Benahmsung weder der Personen noch der Zeit angezeiget werden«,110 doch habe er sich als Feldprediger bei dem Hornschen Regiment »aufgehalten biß 1634«.111 Es ist daher kaum anzunehmen, dass sich Gerlach in seinem Lebenslauf derart irrt und sich an seine – noch nicht lange zurückliegende und von Einschnitten geprägte – Militärzeit zeitlich so falsch erinnerte. Letztlich ist die genaue Datierung seiner Feldpredigerzeit aber völlig irrelevant. Denn die hier in Frage stehenden »mehr als 8. Jahre[]« lassen ihn ein ganz anderes, seine Verdienste hervorhebendes Bild zeichnen: Sie stellen seine Bemühungen um die deutsche Sprache in eine Zeit vor Zesens Ibrahim und auch noch vor Schottels Teutsche Sprachkunst112 und überhaupt die Sprachdebatte in der ›Fruchtbringenden Gesellschaft‹. Unterstützt wird diese Stilisierung des Innovators durch verschiedene, dem Werk beigegebene Panegyrica: So folgt der auf den 14. September 1646 datierten Dedikation an die Patrizierfamilie Borgmann ein ›Aufruf‹ des ansonsten unbekannten Petrus Faber, Pastor aus dem badischen Zähringen, an die die deutsche Sprache studierende zarte Jugend: Gerlach habe in diesem kleinen Büchlein (»[i]n parvo [...] libello«) ihrem Wunsch entsprochen, die Regeln der 107 108 109 110 111 112

r

Ebd., I, fol. [bxij ]. r Ebd., I, fol. [bx ]. Gerlach 1671 (wie Anm. 1), S. 17. Ebd., S. 18. Ebd. Justus Georg Schottelius: Teutsche Sprachkunst/ Darinn die Allerwortreichste/ Prächtigste/ reinlichste/ vollkommene/ Uhralte Hauptsprache der Teutschen auß ihren Gründen erhoben/ dero Eigenschafften und Kunststücke völliglich entdeckt/ und also in eine richtige Form der Kunst zum ersten mahle gebracht worden. Braunschweig 1641.

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deutschen Sprache darzulegen,113 nach seinem zweiten, der eigentlichen Vorrede folgenden Gedicht gebühre dem hochgelehrten Gerlach das löbliche Verdienst, die Regeln der deutschen Sprache im ganzen Erdenrund bekannt gemacht zu haben.114 Der ihm bereits aus seiner Holsteiner Zeit 1637 bis 1644 bekannte Volc[k]marus Fran[t]zius, Pastor im ostholsteinischen Lehnsan,115 ehrt Gerlachs Bemühen um die deutsche Sprache in ähnlich lobenden Worten,116 und der ebenfalls nur hier in Erscheinung tretende Jacobus Hildebrand aus dem hessischen Kronberg stellt Gerlach gar in eine Reihe mit Zesen, Opitz, Schottelius und Harsdörffer.117 Zumindest die beiden letztgenannten Texte sind erst in Gerlachs Zeit auf (Herren-)Grebin, das heißt seit dem März 1644 entstanden, da Fran[t]zius’ Lobpreis an Gerlach als dortigem Pastor gerichtet ist (»Ad Reverendum ac Doctiss. Virum, Samuelem Gerlachium, Ecclesiæ Grebihnensis Pastorem«)118 und Gerlach erst im Frühjahr 1646, so lässt es sein Stammbuch vermuten,119 mit Hildebrandt bekannt wurde. Fabers Texte dürften ebenfalls erst im unmittelbaren zeitlichen Umfeld der Arbeiten an der zweiten Ausgabe entstanden sein. Auch seine Rolle als Kompilator und Autor konstruiert Gerlach sehr geflissentlich. So distanziert er sich in der Dedikation an die Familie Borgmann der Eutrapeliæ 1647 vehement von der ersten, 1639 erschienenen Ausgabe als einer völlig unautorisierten. Diese Kompilation sei gar nicht für den Druck bestimmt gewesen, doch »dehr Verleger« habe wegen [ihrer] beyder alter Freundschafft/ ohne [s]ein wissen/ sich dieser Kühnheit gebraucht/ und dis Ehrste Tausend unter [s]einem und noch eines bekanten guhten Freundes Nahmen/ doch nuhr mit dehroselben/ ehrsten Buuchstaben/ häraus gegeben.120

Anfangs habe er davon gar nichts gewusst, erst nachdem »nu solches/ daß es von [ihm] sunderlich herkäme/ lautbar worden/ auch endlich nach zimlich=geraumer Zeit [ihm] selber zu Ohren kommen«, wollte Gerlach »den Schimpff/ bey solchem elenden und mit Latein vermischtem Werk/ nicht auf [sich] ligen lassen« – »mit nicht geringer Beschwärligkeit/ und Versäumnis mancher lieben Stunde« habe er das Werk dann umgearbeitet.121 Eben diesen Fall scheint er im ersten Teil seiner Edition der Gedichte von Sibylle Schwarz

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v

Vgl. Gerlach 1647 (wie Anm. 17), I, fol. [aviij ]. v Vgl. ebd., I, fol. [bxij ]. Vgl. den Stammbucheintrag vom 3. Februar 1638. In: Gerlach 1671 (wie Anm. 1), Nr. 95, S. 79. r v Vgl. Gerlach 1647 (wie Anm. 17), fol. [bxij ]–[bxij ]. r v v Ebd., I, fol. [aiiij ]–[aiiij ], hier fol. [aiiij ]: »Multos multa juvant: Sed Te præclare Magister/ Teutonicam lingvam condocuisse juvat: / Condocuisse juvat, quam multi hac ante favente/ Nomine divino, Cæsius, Opitius,/ Schottel & Harsdörffer, quorum quoque nomina tecta/ Nos alias fugiunt, ex tenebris rapiunt«. r Ebd., I, fol. [bxij ]. Vgl. den Stammbucheintrag vom 7. April 1646. In: Gerlach 1671 (wie Anm. 1), Nr. 132, S. 82. r Gerlach 1647 (wie Anm. 17), I, fol. av ; der ›bekannte gute Freund‹ ist nicht nachgewiesen. v Ebd., I, fol. av .

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wieder aufzugreifen. In einer an den Leser gerichteten »Nachschrift« lamentiert Gerlach, es gehe ihm »in disem/ wie in andern [s]einen außgelassenen Werklein« – der eine achte nicht auf den korrekten Satz des Manuskriptes, der ander will dagegen seine eigne Kunst und Weißheit alzuvihl dabey stehen lassen/ nach deren er alles zu ändern und zu verbässern/ oder vihlmehr zu verbösern sich unterstehet/ und/ wegen guhter Vertrauligkeit mit dem Verfasser oder Außfertiger/ dessen guhten Fug zu haben vermeynet/ dahero dan dieser oftmahls sein eigen Werk fast nicht mehr für das seinige erkennen kann.122

Dem Lübecker Verleger Schernwebel scheint damit – in einem von ihm selbst verlegten Band – die Schuld an der schlechten Qualität der ersten EutrapeliæAusgabe zugespielt zu werden. Der Verleger der Eutrapeliarum libri III, Tobias Riese, hingegen entwirft in seiner »Vorrede an den günstigen Leser« zu der Neuausgabe von 1656 ein ganz anderes Bild des Kompilators Gerlach. Dieser habe nämlich zunächst »zu seiner Ergetzlichkeit« Sinn- und Denksprüche gesammelt, diese dann aber »auf guter Freunde Begehren in öffentlichen Druck« gegeben. Und dieweil er vermercket/ daß solches dem guthertzigen Leser nicht unangenehm/ hat er solche hin und wieder befindliche artige Reden nicht nur mit dem dritten Tausend vermehret/ sondern auch bey seiner Durchreise mir [Riese] von neuem drucken zu lassen übergeben.123

Gerlach sucht in den Vorreden also ein Bild seiner selbst zu konstruieren, das einerseits dem innovativen Spracherneuerer, andererseits dem ebenso innovativen Bearbeiter bereits vorliegenden Materials entspricht. Denn mag Riesens Bericht auch zutreffen und Gerlach tatsächlich zunächst einzig und allein Material für den Eigenbedarf gesammelt haben, so bleibt doch wenig glaubhaft, dass Schernwebel, der in den späten 1630er Jahren im Hause Hunnius’ als dessen Verleger wohl ein- und ausging, Gerlachs Manuskripte ohne dessen Wissen in den Druck gab. Einer spezifischen Inszenierung von Autorschaft bedient sich Gerlach auch in seiner Edition der Gedichte der Sibylle Schwarz. Auch nach Aufgabe seiner Hauslehrerstelle im Herbst 1636 hielt er den Kontakt zu Sibylla aufrecht und bemüht sich um die Publikation ihrer Werke (neben Gedichten auch Dramatisches und eine Erzählung Faunus), die Sibylla auch vorbereitet und gedruckt sehen wollte. Ihr früher Tod an der Ruhr 1638 machte die Pläne zunichte, Gerlach aber ließ 1650 deren dichterisches Werk, ergänzt durch Briefe und Übersetzungen, mit der finanziellen Unterstützung der Brüder Sibyllas in den Danziger Typis Rhetianis (Georg Rhete d. Jg., Witwe und Erben, in Danzig nach-

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r

Schwarz (wie Anm. 14), I, »Nachschrift. An den Leser«, fol. ):( ; der erste Teil der Ausgabe ist mit Ausnahme der Paratexte fortlaufend mit römischen Ziffern paginiert, der 2. Teil weist nur eine Blattsignatur auf. r Gerlach 1656 (wie Anm. 29), I, fol. [avij ].

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weisbar 1647–1658) drucken.124 Die Gedichte seien, so der Editor in seiner Vorrede, auß ihren eignen Handschrifften/ vohn Worte zu Worte/ ja fast vohn Buchstaben zu Buchstaben/ ohne/ was etwan in eile/ oder sonsten vohn dem Schriftsetzer mag versehen seyn/ genommen/ und auch das geringste darinnen nicht verändert worden.125

Dem aber widerspricht Christoph Hagens gedruckte Leichenpredigt auf Sibylle, die auch zwei ihrer Gedichte als Beigabe enthält, wohl die erste Publikation von Texten der Schwarzin.126 Es handelt sich hierbei um das in der Ausgabe Gerlachs Ein Buß=Lied. Im Thon: In deinem großen Zoren/ etc.127 getitelte Gedicht sowie um Ein Christliches Sterbelied.128 Während bei ersterem nur der Titel leicht variiert – in der Hagenschen Fassung heißt es Ein Geistliches Bußlied – und die Orthographie geändert wurde,129 sind es bei letzterem neben orthographischen Eingriffen die letzten drei Strophen, die in beiden Texten nicht nur variieren, sondern sich gänzlich unterscheiden.130 Lassen sich die Texteingriffe auch nicht eindeutig Gerlach zuweisen – das Sterbelied kann durchaus von Hagen oder einem unbekannten Dritten inhaltlich der Leichenpredigt angepasst worden sein131 –, so bleiben aber dennoch Zweifel, ob bei der Drucklegung »auch das geringste darinnen nicht verändert worden« sei.132 Insofern lässt sich die These Erika Grebers von einem »konzeptionelle[n] Verzicht auf editorische Eingriffe« zur Konstruktion weiblicher Autorschaft kaum halten.133 Vielmehr deuten gerade Gerlachs wiederholte Hinweise auf die Authentizität des Materials auf eine ganz besondere Autorkonzeption hin. Die in der Forschung akzeptierte autobiographische Lesart der Texte134 speist sich einzig und

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Vgl. zu dieser in nur noch wenigen Exemplaren erhaltenen Ausgabe Sibylla Schwarz: Deutsche Poetische Gedichte. Faksimile nach der ersten Ausgabe Danzig 1650. Hg. u. mit einem Nachwort v. Helmut W. Ziefle. Bern u.a. 1980. v Vgl. Schwarz (wie Anm. 14), I, »Vohrrede an den Ehrengeneigten Leser«, fol. [aiiij ]. Christoph Hagen: Himmlische HochzeitPredigt/ Auff der Seligen und frölichen Heimfahrt/ Der gläubigen Seele/ und liebwerthen Braut/ Der weiland Ehrbaren/ Viel Ehr= und Tugentreichen Jungfrawen Sibyllae Schwartzen. Greifswald 1638. Schwarz (wie Anm. 14), I, S. liv–lv. Ebd., I, S. li–lii. Vgl. Hagen (wie Anm. 126), S. 32–34. Vgl. ebd., S. 35f. Vgl. Dirk Niefanger: Zwei philologische Entdeckungen zum Werk von Sibylle Schwarz. In: Wolfenbütteler Barocknachrichten 22/1 (1995), S. 15–19, hier S. 18. v Vgl. Schwarz (wie Anm. 14), I, »Vohrrede an den Ehrengeneigten Leser«, fol. [aiiij ]. Vgl. Erika Greber: Text und Paratext als Paartext. Sibylle Schwarz und ihr Herausgeber. In: Die Pluralisierung des Paratextes in der Frühen Neuzeit. Theorie, Formen, Funktionen. Hg. v. Frieder von Ammon und Herfried Vögel. Berlin 2008 (Pluralisierung & Autorität 15), S. 19–43, hier S. 41; es bleibt zu hoffen, dass die von Greber angekündigte Edition des einzigen bisher bekannten, im Stammbuch Gerlachs enthaltenen Autographen Sibyllens (vgl. ebd., S. 32, Fn. 26) die Eingriffe des Editors in angemessener Weise berücksichtigt. Die auf der Grundlage etwa von Sibyllens Sonetten bis hin zu einer Proklamation lesbischer Liebeslyrik reicht, vgl. neben Greber (wie Anm. 133) dies.: Petrarkismus als Geschlechtercamouflage? Die Liebeslyrik der Barockdichterin Sibylle Schwarz. In: Bündnis und Begehren. Ein Symposium über die Liebe. Hg. v. Andreas Kraß und Alexandra Ti-

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allein aus zwei Quellen, aus Hagens Leichenpredigt und Gerlachs Edition von 1650. Wie Dirk Niefanger gezeigt hat,135 zeichnen beide das Bild einer christlichen und tugendhaften Jungfrau. Doch dieses Bild ist eindeutig erotisch konnotiert, bei Hagen eher auf einer körperlichen Ebene (so etwa die »[e]heliche Beywohnung in einem Fleisch«),136 bei Gerlach eher auf einer geistigen Ebene, die erotische Ausstrahlung, die von ihrer geistigen bzw. seelischen Schönheit ausgehe, in den Blick nehmend.137 Demgegenüber betont aber Gerlach, die Verse der Schwarzin entsprächen weder in moralischer noch in ästhetischer Hinsicht dem Zeitgeschmack. In der Tat setzen einige der Gedichte allzu erotische Akzente, die sich mit dem gezeichneten Bild der tugendhaften Jungfrau kaum in Einklang bringen lassen.138 Weitaus rigoroser aber geht er mit den scheinbar ästhetischen Missgriffen der Schwarzin um. Sollten nämlich dem Leser »die Verse an sich zu schlecht/ zu unverständlich/ zu unordentlich/ oder ohn einige richtige Schreibart gesezet« sein, solle er »Jhre Jugend unnd Geschlecht/ wie auch Jhres Vaterlands Außsprache« bedenken.139 Dieser Rekurs auf den biographischen Hintergrund aber wird umgehend relativiert, denn »sonderlich« solle der Leser darauf achten, »daß zu Jhrer Zeit/ vohr 12. 16. 18. und mehr Jahren/ weder die Deutsche Poësy/ noch ihre Schreibrichtigkeit so volkommen/ als nuhn/ gewesen sey«.140 Auch wenn Sibylle vermutlich bereits vor 1634, dem Jahr, in dem sie erstmals mit einem Gedicht an die Öffentlichkeit trat, Lyrisches verfasste, bleiben Zweifel an eben diesem Legitimationsversuch. Mehrfach wird nämlich ein

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schel. Berlin 2002 (Geschlechterdifferenz & Literatur 14), S. 142–168, sowie dies.: Der (un)weibliche Petrarkismus im deutschen Barock: Sibylle Schwarz’ Sonettzyklus. In: Francesco Petrarca in Deutschland. Seine Wirkung in Literatur, Kunst und Musik. Hg. v. Achim Aurnhammer. Tübingen 2006 (Frühe Neuzeit 118), S. 223–242; auch Gerlach werden in diesem Zusammenhang homosexuelle Veranlagungen zugesprochen, unterstützt mit dem Hinweis, dieser habe »mit dem für einen Geistlichen damals erforderlichen Heiraten und Kinderzeugen bis zum Äußersten gewartet« und sei auch »nur die üblichen Zweckehen« eingegangen (Greber [wie Anm. 133], S. 32). Vgl. Dirk Niefanger: ›Die Fretowische Fröligkeit‹. Die laus ruris-Dichtung von Sibylle Schwarz. In: Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter. Hg. v. Wolfgang Adam u.a. Bd. 1. Wiesbaden 1997 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 28), S. 411–425, hier v.a. S. 415–418. Hagen (wie Anm. 126), S. 18; Hagen, dessen Predigt die – irdische – Hochzeit von Sibyllens Schwester Dorothea mit Sibyllens Tod und damit der himmlischen Hochzeit parallel setzt, bedient sich mehrfach der in der Braut- und Christusmystik des 16. und 17. Jahrhunderts bekannten Vereinigungsphantasien. So heißt es im Frontispiz zum zweiten Teil der Edition: »Was mir der Himmel hat an Schönheit nicht gegeben/ Das hat ersetzt Verstand und Tugend in meinem Leben«. Vgl. etwa die Beschreibung Daphnes im gleichnamigen Gedicht, die so »zierlicht« war, »das ein Stock/ ein Klotz/ ein Stahl und Stein/ Ihr muste Unterthan/ und hart verpflichtet sein« und in Phöbus anfing »ein Feur zu machen/ / Ein angenehmes Feur/ der Leffzen süßes Safft/ Entzoch dem Phöbus bald im Ansehn seine Krafft« (Schwarz [wie Anm. 14], I, S. xciv–cv, hier S. xcviij). Gerlachs »Vohrrede« zum zweiten Teil der Deutschen Poëtischen Gedichte (wie Anm. 14), v II, fol. ):( iij . v r Ebd., II, fol. ):( iij –[):( iiij ].

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Udo Roth

etwaiges Missfallen der Verse mit »teils Jhren noch sehr Jungen und schwachen Jahren/ teils Jhrem Weiblichen Geschlecht« entschuldigt.141 Der mögliche ästhetische Nonkonformismus der Verse sei aber auch den »lustigen Einfällen/ und der/ Poëtischen Geistern zimlich=zugelassenen/ Freiheit« geschuldet.142 Fast scheint es, als wolle sich Gerlach in der »Vohrrede« zum zweiten Teil der Edition unter Verweis auf Alter und Geschlecht der Schwarzin einer negativen Beurteilung seiner selbst als Editor entziehen – er habe doch nur die »auf gebührlich Ansuchen/ überschikten Handschriften/ getreulich abgeschriben/ und dem Druk untergeben«.143 Gleichzeitig aber hebt er mit dem Verweis auf die dichterische Freiheit Sibyllens innovative Leistung hervor, die sogar darüber hinweg blicken lasse, dass »wol an einem paar Orten der Verstand nicht eigentlich könne[] gefast werden«.144 Diesem Bild einer innovativen, sich den Regeln entziehenden Dichterin entsprechen auch die huldigenden Worte Gerlachs, der »ein Werklein« ankündigt, »dergleichen du vohn einer Weibspersohn zu unser Zeit/ in unserm Vaterland/ und deutscher Mutter=Sprache/ vihlleicht wenig/ auch wohl gahr nicht gesehen hast«.145 Und die Panegyrica des Danziger Professors Johann Peter Titz (1619– 1689), der als ›Tityrus‹ im Königsberger Dichterkreis bekannt war, und der Pastoren Michael Albinus (1610–1653) und Erasmus Rothmaler (1599–1662), letzterer poeta laureatus, im ersten Teil sowie die der Professoren Joachim Pastorius (1611–1681) und Johannes Mochinger (1603–1652; unter dem Anagram »Johan Reginchom«)146 im zweiten Teil der Edition unterstreichen dies. Vor allem Mochinger hebt Sibyllens Talent – im Einklang mit dem von Hagen und Gerlach gezeichneten Bild – hervor, Albinus lässt die Opitz »nachsinge[nde]« Sibylle auf dem »deutschen Helikon« zu stehen kommen und von Sappho den Dichterlorbeer empfangen,147 Pastorius lässt die ›Erdengöttin‹ Sibylle gar den Helikon regieren.148 Albinus aber schließt in seinen Lobgesang auch den Editor Gerlach ein,149 ebenso Mochinger in seinen Schlußversen, Pastorius’ Panegyricon stilisiert gar den Herausgeber als denjenigen, der der elften Sibylle nach ihrem Tode das Leben zurückgegeben habe.150 Und auch Gerlach selbst insze-

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v

Ebd., II, fol. ):( iij . Ebd. Ebd. r Ebd., I, fol. [aiiij ]. Ebd. Nicht Reginchon, wie bei Niefanger (wie Anm. 135), S. 415, Fn. 15; Mochinger nutzt in seinen lateinischen Schriften sowohl das Pseudonym »Nehanius Reginchomus« als auch »Johannes Reginchomus«, letzteres u.a. in einem dem Astronomen Johannes Hevelius (1611–1687) gewidmeten Lyrikbändchen Gedani Gloria. Danzig 1651. Vgl. Michael Albinus: »Nahmens=Wechsel. Ist zwar’n Lybes=Licht«. In: Schwarz (wie r r v Anm. 14), I, fol. b –[bij ], hier fol. b . v Vgl. ebd., II, fol. [):( iiij ]. r Albinus (wie Anm. 147), fol. [bij ]: »Wo man höret ihren Klang/ / Da wird man/ mit wolbehagen/ / Auch von Eurem Nahmen sagen«. Vgl. Pastorius’ Zehnzeiler: »Hæc [manus] nunc Undecimæ vitam post fata Sibyllæ/ Reddit r [...] Virgo reviviscit«; Schwarz (wie Anm. 14), I, fol. b .

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niert sich als solchen: »[J]ezund kann Sie durch dis Werk sich der Welt erst kündtlich machen; / [...] weil ich’s nunmehr/ ihr zu Ehren/ an das Licht gestellet hab«.151 Damit inszeniert sich Gerlach aber zugleich als den ›Schöpfer‹ der Autorin Sibylle Schwarz. Inständige Bitten Sibyllens um Wahrung der Anonymität – die Gedichte sollten unter dem Namen »Sibyllen Wachsesternin vohn Wildesfragen« gedruckt werden152 – übergeht Gerlach geflissentlich mit dem Hinweis, er habe »kein bedenkens mehr getragen«, da die selige Jungfrau nun allen Neid und alle ihre Feinde »frölich verlachet« habe.153 Inwiefern er dabei »quasi die rohe, unverstellte, unverbesserte Gestalt der Texte«154 ans Licht stellte, bleibt noch zu beantworten. Zweifel aber sind, berücksichtigt man die Paratexte des Herausgebers, gegeben. Insbesondere für Gerlachs Schriften scheint deshalb der Hinweis zuzutreffen, den »[d]ahs Buuch [die Eutrapeliæ 1647] ahn seinen Leser« richtet: HOr Leser/ lys mich nicht/ du lesest den zuvohr Die Vohrred offt und wohl/ sunst bist gewiß ein Thor/ Du spannest deine Pferd’ umsunst ahn hintern Wagen/ Und tadlest mich ohn recht; dis wolt’ ich dihr ehrst sagen.155

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Vgl. das »Klinggedicht«, ebd., II, fol. ):( iij . v Vgl. Gerlachs »Vohrrede« in Schwarz (wie Anm. 14), I, fol. [aiiij ]; auch sollten die Gedichte »dergestalt verendert/ undt alle bekandte Nahmen verdecket werden/ daß Niemand/ er sey wer er wolle/ wißen möge/ von welchem Baume sie gefallen seyn«, vgl. Sybillens r »dritte[s] Schreiben vohm 18 Mertz. des 1638. Jahrs«, ebd., I, , fol. Aij . v Vgl. Gerlachs »Vohrrede«, ebd., I, fol. [aiiij ]. Niefanger (wie Anm. 135), S. 414. r Gerlach 1647 (wie Anm. 19), I, fol. [ax ].

Gerhild Scholz Williams

Gathering Information – Constructing Order Johannes Praetorius’ Architecture of Knowledge

There are very few areas of knowledge, superstition, rumors, and prejudices known to his age which Johannes Praetorius (1630–1680) did not gather, reorganize, quote, or make otherwise part of his voluminous body of writings.1 His vast output in print begins and ends with his self-assigned task of informing, teaching, cajoling, and amusing his readership. To manage the immense assemblage of information and make it palatable for his readers, he constructs endless lists using acrostics, the alphabet (Rübezahl, Antopodemus Platonic, tracts about comets), and he frequently itemizes his news using either Roman or Arabic numerals (Wunder=Chronik). Moreover, while publishing most of his works in German, several of his tracts mix Latin and German (De Coscinomantia, DulcAmarus Ancilleriolus). In all these efforts at gathering, structuring, and systematizing, we detect a writer who, like many of his age, strives to develop an ordering system that would help make information not only accessible and digestible but, just as important, affordable and available to his literate though not necessarily learned audience. In fact, in his Adunatus Cometologus (1665), Praetorius announces that his tracts are much more user-friendly than, for example, the hefty and expensive volumes of Matthaeus Merian’s Theatrum Europaeum, each of which is luxuriously illustrated combining several years of information in one tome.2 Of equally modest dimensions and reader friendly presentation as the Adunatus are his Zodiacus-chronicles (1666–68). Printed in the manageable cheaper quarto size (ca. 200 pages per volume) and each containing reports of

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Johannes Praetorius (1630–1680) was born in Zethlingen to a prosperous family. Before Praetorius enrolled at the University of Leipzig at the age of twenty-two, he attended the Lutheran Gymnasium in Halle. In 1659, Praetorius was named Imperial poet laureate, a distinction that allowed him to identify himself as such in all his publications. In the same year, Praetorius married Barbara Vater, from Saalfeld, and the couple made their home in the Leipzig Paulinum, a residence hall for students and faculty at the university. They had two daughters, one of whom died at the age of twelve of the plague. Praetorius’s efforts at securing a teaching position at Leipzig University seem to have been unsuccessful. Nevertheless, he never gave up his residence at the Paulinum remaining in close association with the university, its faculty, its students, and presumably its library resources. In 1680, Praetorius died at the Paulinum of the plague. See Gerhild Scholz Williams: Ways of Knowing in Early Modern Germany: Johannes Praetorius as a Witness to his Time, Literary and Scientific Cultures of Early Modernity. Aldershot 2006, S. 6. Ebd., S. 116–117.

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only one year, these texts look like notebooks alongside the ca. 1200-foliopages of the Theatrum. However, in order to preempt any readerly doubts about the substantive information offered in his volumes, Praetorius reassures his reader that his tracts, here in reference to the Adunatus, provide news and reliable information and, ever mindful if his readers’ pocketbooks, for far less money than more hefty publications.3 Endeavoring to put a massive store of information gleaned from countless current and not so current sources into reader-friendly print arrangements, Praetorius did not seem to be driven by the desire to construct an all-encompassing, over-arching, unified edifice of knowledge. Instead, wonders, the occult, the emerging scientific way of thinking and inventing, facts and fictions, are recurrent themes as are women, family, and social mores, each fittingly arranged for the prospective reader. Praetorius’s »ways of knowing«,4 his methods of ordering types of reality and experiences, led him to produce prodigious compendia on everything knowable or believable. His process of inquiry and authentication, therefore, also impacted his »ways of telling«, his desire to make events, observations, reports, and facts, however implausible, decipherable.5 In the past, I have investigated Praetorius’s »ways of knowing« and his »ways of telling« in considerable detail.6 Here, I propose to add to my previous observations by focusing primarily on three texts, the Dulc-Amarus Ancillariolus (1663), Himmlischer Comet-Stern (1677), and De Coscinomantia (1677) and by addressing the following three queries: 1. What types of knowledge does Praetorius present?

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»[D]u wirst leichtlich vermuthen/ [...] was für eine kostbare Menge der Tractaten heraußgekommen sey/ von denen neulichsten Feuer-Ruthen: als davon nunmehr alle Buchladen angefüllet seynd/ und ihre Käuffer erwarten: welche aber wegen der grossen Curiosität kaum alles an einem Ort antreffen: oder wenn sie es jo angetroffen haben/ schwerlich bezahlen können: [...] Sintemal die Anzahl der Stücke leichtlich ein par ziembliche Quart/ Bünde machen/ und schier etliche Wochen zum durchlesen erfordern solten. Aber wo ist die patientz darzu? Ich halte viel von der concentration, und Sumerischen Berichte eines weitschweiffenden Wercks«. [You will easily guess what a large number of precious tracts has been published on the most recent comets: all bookstores are now full of them awaiting their buyers, who, however, on account of the importance and strangeness of the news, can hardly find all the information in the same place, or, if they find them, they will be unable to pay for them. Especially since the number of volumes come to a huge number and in quarto format, and would take weeks to read; but who would have the patience for that. I think much of concentration, of summary reports of lengthy tomes]. Johannes Praetorius: Adunatus cometologus; Oder ein Geographischer Cometen Extract/ Aus allen und jeden Scribenten/ dereb bey 60. heraus seyn/ (vide finem hujus opellae im Register:) Wegen alle eintzelne [...] Landschafften auff Erden: Drinnen diese Frage eroertert wird: Wie sich bey solchem Cometischen Paare befinden/ oder was davon zu empfinden haben [...]. Leipzig 1665. Taken from the title of John V. Pickstone: Ways of Knowing: A New History of Science, Technology, and Medicine. Chicago 2001. Andrew Barnaby, Lisa J. Schnell: Introduction. In: Dies.: Literate Experience: The Work of Knowing in Seventeenth-Century English Writing. New York 2002, S. 1–13. Scholz Williams (wie Anm. 1).

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Gerhild Scholz Williams

2. What kind of ›architecture of knowledge‹ can we identify in his writings? 3. Where does Praetorius fit in among poly-historical writers of the seventeenth century?

1. What types of knowledge does Praetorius present? Early modern authors delighted in turning out endless series of novels and tracts. They collected, reordered, and organized knowledge in vast compilations variously called Theatra, Universalbibliotheken, Pandecten, or commonplace books. In a parallel move, responding to their collecting passions, they arranged countless specimens of natural wonders on the shelves of their chambers of wonders (Wunderkammern), large and small.7 This impulse to collect, hoard even, as well as to exhibit items in chambers and on shelves must be understood as analogous to the impulse to provide, in writing, a mental space for such collecting activity.8 Along with this expansive impulse grew the need to develop structures and invent organizing principles to make it possible to arrange materials rationally in linguistic order as well as in real spaces. The order and structure of information presented in books was meant to convey the order of the information they contained.9 As I have previously discussed, Praetorius delights in using various methods of structuring a huge body of materials which were always in danger of escaping his authorial control. He favored acrostics, alphabetical, and numerical lists, or a combination of all three which he frequently employed. The magic of the alphabet proved especially irresistible to him and his contemporaries, early modern linguists who thrilled to the twenty-three letters of the alphabet that 7

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Jan-Dirk Müller: Universalbibliothek und Gedächtnis: Aporien frühneuzeitlicher Wissenskodifikation bei Conrad Gesner (Mit einem Ausblick auf Antonio Possevino, Theodor Zwinger und Johann Fischart). In: Erkennen und Erinnern in Kunst und Literatur: Kolloquium Reisensburg, 4.–7. Januar 1996. Hg. v. Dietmar Peil, Michael Schilling und Peter Strohschneider. Tübingen 1998, S. 285–309, hier S. 285; see also Helmut Zedelmaier: Bibliotheca universalis und Bibliotheca selecta: Das Problem der Ordnung des gelehrten Wissens in der frühen Neuzeit. Köln 1992. The inveterate writer of Baroque novels Eberhard Werner Happel authored a book whose title beautifully captures this impulse: Thesaurus Exoticorum oder eine mit Außländischen Raritäten und Geschichten Wohlversehene Schatz-Kammer [...]. Hamburg 1688. The same can be said of Martin Zeiller’s Reihenwerke: Wilhelm Kühlmann: Lektüre für den Bürger: Eigenart und Vermittlungsfunktion der polyhistorischen Reihenwerke Martin Zeillers. In: Literatur und Volk im 17. Jahrhundert: Probleme populärer Kultur in Deutschland. Bd. 2. Hg. v. Wolfgang Brückner, Peter Blickle und Dieter Breuer. Wiesbaden 1985, S. 917–35. Kühlmann (S. 917) points to Zeiller’s Topographiae Germaniae (1642ff.), his travelogues, and his Episteln oder Sendschreiben von allerhand politischen historischen und anderen Sachen (1640–1647). Ann Blair: The Practices of Erudition according to Morhof. In Mapping the World of Learning: The Polyhistor of Daniel Georg Morhof. Hg. v. Françoise Waquet. Wiesbaden 2000 (Wolfenbütteler Forschungen 91), S. 59–74, hier S. 65.

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could be (re)assembled in endless words and works.10 The logic of these indices allowed him to bring together disparate elements of knowledge that could be arranged and rearranged at will. Indices and cross-references were favorites; »vide« (»go see«) is one of Praetorius’s most frequent directions to his readers. Self-citations provided user-friendliness adding to the reader’s enjoyment even as s/he was confronted with huge volumes of often unconnected information. In this way, the writer constructed repositories of knowledge (Datenspeicher) that, as a part of an endless chain of information, reached back into the past, and, with the writer’s help, pointed forward, into the future.11 As he gathers his materials, Praetorius attempts to understand and to clarify for his audience the political and the social, the whimsical and the peculiar. All of this, he offers with the same serious or occasionally mock-serious demeanor of a teacher who earnestly and diligently brings knowledge to his students. In the face of diverse interpretive authorities and of the varieties of structures of knowledge that interacted and conflicted with each other in the early modern public arena as did, for example, magic and the evolving ideas about science as different from magic, he does not tire of exerting earnest efforts at ordering and pleasingly rearranging his oeuvre for a readership whom he courts as his customers.12 Moreover, Praetorius observed with great acuity and sensitivity the political and military conflicts, the economic and social forces of his time to help decipher the workings of forces who, in ever-changing alliances, pitted the great European powers against one-another. Because of this political, social, and religious turmoil, he and his contemporaries believed that the seventeenth century, more than any previous one, was marked by the appearance of prodigies and wonders, visitations of comets and other celestial portents.13 Either predicative or explicative, these comets and wonders accompanied the course of world events like an endless, if confusing, conversation between mankind and the divine, assiduously elucidated in print for all who wanted to understand.14 Since 10

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»Wer wolte sich wol einbilden können/ daß sich die 23. Buchstaben durch die Versetz- imd Verwechslung so unumschrenckt austheilen lassen/ gestalt so viele tausend Bücher aus unterschiedlicher Zusammensetzung der Buchstaben im ABC. gemacht werden«. [Who could possibly imagine that 23 letters, by being changed around and rearranged, would make it possible that thousands of books would be written making use of various applications of the letters of the ABC]. Proteus Stanislaus Mink von Weinhausen: Das ist eine unglaubliche Nutznützliche Lehrart [...]. Oldenburg 1657, S. 18. Cited in Stefan Rieger: Speichern/Merken: Die künstlichen Intelligenzen des Barock. München 1997, S. 13. Rieger (wie Anm. 10), S. 97. Barnaby, Schnell (wie Anm. 5), S. 12. Rains of blood, crosses, grain, and other substances were frequently recorded and subject to much interpreting. Sara J. Schechner: Comets, Popular Culture, and the Birth of Modern Cosmology. Princeton 1997; Christina Hofmann-Randall: Monster, Wunder und Kometen: Sensationsberichte aus Flugblättern des 16. bis 17. Jahrhunderts. Erlangen 1999; Franz Mauelshagen: Illustrierte Kometenflugblätter in wahrnehmungsgeschichtlicher Perspektive. In: Das illustrierte Flugblatt in der Kultur der Frühen Neuzeit. Wolfenbütteler Arbeitsgespräche

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Gerhild Scholz Williams

comets were an early modern pan-European preoccupation, obsession even, Praetorius mentions the comets of 1618 several times, specifically in his Adunatus Cometologus (1665). In his chronicle of 1666 he notes that the English court of King James I was also much disquieted by this celestial phenomenon, believing the death of Queen Anne had been foretold by one of the comets.15 Diverse interests, as well, are topics of his two most famous works, the witch tract Des Blockes-Berges Verrichtung [Tales about the Blocksberg] and the three-volume Daemonologia Rubizalii [Rübezahl demonology] on the famous Silesian giant Rübezahl. These books are huge compendia of early modern knowledge, of geographies, natural and occult histories which elsewhere I have called »geo-demonologies«. Moreover, these tomes offer rich collections of superstitions and popular tales.16 His voluminous Anthropodemus plutonic17 [Tales about strange and wondrous people] can be considered an early modern ethnography, and his observations about the Turk, whom he and his contemporaries feared as the arch-enemy of early modern Christianity, signal that he also did cast an observing eye toward the East where the Empire and the Sublime Porte struggled for hegemony over Hungary and adjacent lands. It is, however, worth mentioning that, at a time where the Turk is literally »ante portas« and Hungary ablaze with the struggle for self-determination that pitched Hungarian rebels and their Turkish allies against the German Emperor Leopold I, Praetorius’s Turk remains aloof and strangely generic. None of his writings mention anything specific about the contemporary political realities as they evolved at this time in Eastern Europe and the Near East. His casually prejudiced and equally generic interest in Jews and Gypsies also surfaces in many of his tracts.18

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1997. Hg. v. Wolfgang Harms und Michael Schilling. Frankfurt a. M. 1998 (Mikrokosmos: Beiträge zur Literaturwissenschaft und Bedeutungsforschung 50), S. 101–35. Thomas Klingebiel: Apocalyptik, Prodigienglaube und Prophetismus im Alten Reich: Einführung. In: Im Zeichen der Krise: Religiosität im Europa des 17. Jahrhunderts. Hg. v. Hartmut Lehmann und Anne Charlotte Trepp. Göttingen 1999 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 152), S. 17–32, hier S. 18; Schechner (wie Anm. 14), S. 83. Heidemarie Schade: Andreas Hondorfs ›Prompturarium Exemplorum‹. In: Volkserzählung und Reformation. Ein Handbuch zur Tradierung und Funktion von Erzählstoffen und Erzählliteratur im Protestantismus. Hg. v. Wolfgang Brückner. Berlin 1974, S. 647–703, hier S. 330, 335, 414, 521; Rudolf Schenda: Deutsche Prodigiensammlungen des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Archiv für die Geschichte des Buchwesens 4 (1961/63), S. 637–710. This includes a recent doctoral dissertation: Marie Elizabeth Pohl: Cold-Blooded Tales of Women with Tails in the Works of Johannes Praetorius (1630–1680). University of Pennsylvania 1996. This interest is particularly notable when he reports on the excitement generated by the appearance and eventual apostasy of Sabbatai Sevy, the purported Jewish messiah, who emerged from Smyrna and vigorously engaged the European consciousness during 1665 and 1666. The second volume of the Anthropodemus plutonic and the Zodiacus mercurialis of 1666 devote significant attention to the explanation and interpretation of this episode in European and Jewish history.

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The many editions printed during his lifetime and still very much present in the rare book rooms of most modern libraries, point to Praetorius’s popularity with his readers making his works treasure troves for studies of seventeenth-century literature and culture. A keen yet skeptical observer of early modern scientific developments, Praetorius reported on inventions of wondrous machines such as the telescope and the microscope that opened horizons outward and inward. He mentions dissections, specifically of wondrous or misshapen births assuming that science would, eventually, demystify wonder. The study of human physiology, as well, was leading to a better understanding of the workings of the body, and research in chemical processes was creating more efficacious medicines. Praetorius and his contemporaries were convinced that their century, with its spirit of invention and exploration, would be the envy of ensuing generations. As I have previously shown, the new science coexisted without any apparent conflict in the same (re)searching mind alongside traditional and occult beliefs. The fear and fascination with the strange and the wondrous lived alongside the confidence that with the help of the appropriate tools, knowledge could be gathered, ordered, and brought under the control of the (re)searcher and inventor, Athanasius Kircher (1602–1680) one of the most distinguished among them.19 These efforts at knowledge production have gained the respect of succeeding generations of scholars, and historians of science now realize that this wealth of printed information represents an ideal of depth and breadth of knowing which goes far beyond our more narrowly focused areas of specialization.20 Praetorius is, of course, not alone in his pursuit of the knowable. Among the seventeenth-century authors who also wrote extensively and in a similar manner we group Martin Zeiller (1589–1661), Erasmus Francisci (1627–1694), Georg Harsdörffer (1607–1658), Eberhard Werner Happel (1647–1690) and many others whose writings he frequently exploits as sources for his compendia. However, as encyclopedic as his writings were, Praetorius never embedded facts and information into fictions, as did Happel whose vast novels (GeschichtRomane) made frequent use not only the same sources as Praetorius, like newspapers, occasionally, he even draws information from Praetorius’s very own oeuvre. Making a distinction between what was »fictional«, that is, »not true« and factual, »true« in the modern sense of the word, apparently was not recognized as such by Praetorius. Rather, the fantastic or wondrous were facts that had not yet been explicated, such as the wonders he describes in the Anthropodemus, and his conjectures about witchcraft and magic.21 He shared with his public what he saw, heard, and read without ever transferring his information into »Romanisierungen«, as did Happel or without passing judgment on any of 19 20

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Klingebiel (wie Anm. 15). Zedelmaier (wie Anm. 7); Ders.: Von den Wundermännern des Gedächtnisses: Begriffsgeschichtliche Anmerkungen zu ›Polyhistor‹ und ›Polyhistorie‹: In: Die Enzyklopädie im Wandel vom Hochmittelalter bis zur Frühen Neuzeit. Hg. v. Christel Meier-Staubach. München 2002, S. 421–45; Ann Blair: The Theater of Nature: Jean Bodin and Renaissance Science. Princeton 1997, S. 4–5. Scholz Williams (wie Anm. 1), S. 143–144.

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them. This he leaves to his readers.22 Still, the generic multiversity, chaos even, of Praetorius’s »ways of telling«, is as varied and challenging to the modern reader as his expansive »ways of knowing« must have been to his contemporary audience who was not learned in any specialized way. His audience whom he frequently addresses as »unpartheyische Leser«, consisted of educated men and of women whose ability to read he championed, even praised. Praetorius was extremely well situated for his work. During the seventeenth century, Leipzig, the city where he lived and died, had become an important hub in the transfer of national and international news transfer and print communication. Aside from having a university that attracted young men and their teachers whose intellectual and instructional needs encouraged book production and consumption, the city offered the additional advantage of being located on a communications axis connecting the city with important printing centers all over Europe, especially Frankfurt, Nuremberg, Strasbourg, Prague, Vienna, and Paris. Moreover, contemporaries ascribed great importance to Leipzig’s biannual book fairs which ensured the regular supply of new publications, as well as to the biennially published reports on current events, the Messrelationen.23 In addition to the books available at the university, those that he could borrow from other people’s libraries, and the Messrelationen, it emerges from the way he arranges his information that Praetorius also made extensive use of daily, weekly, monthly, and annual news publications, such as Zeytungen, local and international Relationen, Diarien, and Avisen that had become widely available by the middle of the century.24 To these must be added the publications of various national and international learned societies which also began to appear in Leipzig and other important cities during the second half of the century.25 These

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»Der günstige Leser halte davon/ was er will/ ich erzehle es nur/ wie ich’s gesehen und gehöret«. Johannes Praetorius: De Coscinomantia, Oder vom Sieb-Lauffe/ Diatribe Curiosa: Indagans eius exsecrandae Superstitionis, vel Magiae Plutonicae, circa explorationem Furum praestigiatoriam, Incunabula, Analoga, & Anathema; ex variis scriptoribus consarcinata, ad profligandam Desidaemoniam, & excolendam Eusebien [...]. Jena 1677, fol. 3. Erich Straßner: Zeitung. Tübingen 1997 (Grundlagen der Medienkommunikation 2), S. 1– 4. Messrelationen had been printed in book form since 1580; in October 1605 they began to appear regularly with the Relation produced by the Strasbourg printer Johann Carolus (1574–1634); Wolfgang Behringer: Veränderung der Raum-Zeit-Relation: Zur Bedeutung des Zeitungs- und Nachrichtenwesens während der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. In: Zwischen Alltag und Katastrophe: Der Dreißigjährige Krieg aus der Nähe. Hg. v. Benigna von Krusenstjern und Hans Medick. Göttingen 1999 (Veröffentlichungen des Max-PlanckInstituts für Geschichte 148), S. 39–83. Karl Schottenloher: Flugblatt und Zeitung: Ein Wegweiser durch das gedruckte Schrifttum. Bd. 1. München 1985, S. 225–50; Johannes Weber: Avisen, Relationen, Gazetten: Der Beginn des europäischen Zeitungswesens. In: Bibliotheksgesellschaft Oldenburg. Vorträge – Reden – Berichte. Nr. 20. Hg. v. Helga Brandes und Werner Kramer. Oldenburg 1997; Straßner (wie Anm. 23) lists more than 31 names for the new print medium. Philosophical Transactions of the Royal Society (from 1665); Journal de Sçavans (Paris, 1665–1938); Bibliotheca de scriptoribus et scriptis Hebraicis (1675–1693); see Friedhilde Krause (Hg.): Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland. Bd. 18. Hildesheim 1996, S. 88f.

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publications opened windows to the world by providing reports on important events, on politics, wars, social concerns, demographic changes; as well as on strange natural phenomena, monster births, and crimes. In addition, Praetorius used information gleaned from collections of books available to him from collectors, learned colleagues, and the university library. It would be impossible to list all the authors, past and present, on whom he drew for his tracts. Unlike some of his contemporaries, again Happel comes to mind who tended not to identify his many sources, Praetorius cites the authors of his materials carefully and in great detail frequently noting the title, chapter, and page numbers of the citations employed. In fact, the reader familiar with even a fraction of seventeenth-century poly-historical writings finds himself wading through what appears to be an endless list of citation kept in check only by Praetorius’s amazing ability to order his information. What is more, Praetorius was also a critical reader who did, on occasion, engage his source in a discussion. This happened, for example, when he argues for and against Paracelsian theories of the alchemical production of a human being, the homunculus, an argument he picks up in several of his tracts.26 Reading Praetorius makes clear that, though he traveled little during his adult life and certainly not for any distance from Leipzig, Praetorius surveyed a vast terrain with the help of information delivered to him in books, tracts, and the products of the quickly expanding periodical market.27 From his vantage point in Leipzig, Praetorius surveyed Saxony and the vast expanse of the German Empire. His acute awareness of the importance of the Netherlands, France, England, Sweden, Denmark, and Spain for the German States makes those powers loom large in his writings. He comments in somewhat lesser detail on Northern and Eastern Europe and even less, if ever, on the New World, the Far East, and Africa. The latter continued to figure mainly as a source of slaves for the plantations of the emergent colonial powers of England, the Netherlands, and France, and as galley slaves indispensible for the maritime war efforts of European and non-European powers alike.28 It is difficult to conjecture why he remains so diffident, uninterested even, about these distant lands though a rich travel literature was available to him. Again, in this he differs significantly from fellow writers as Happel whose fictional heroes roam far and wide across lands and seas and who tend to make direct use of the many travel reports available. Praetorius’s seeming disinterest also seems to contradict what we had identified as his intense engagement with the wondrous, with astrology and astronomy and with the occult. However, even if an inveterate stay-at-home, in his writings, as 26 27

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Johannes Praetorius: Antropodemus Plutonicus, Das ist, eine Neue Welt-Beschreibung von allerley wunderbahren Menschen [...]. Teil 1. Magdeburg 1666, S. 140–142. »The basis for all knowledge in the 16th century is language; knowledge is memoria preserved and transmitted in writing« [»Wissen ist in Texten überlieferte memoria«], says Müller (wie Anm. 7), S. 297. David Brion Davis: Inuman Bondage. The Rise and Fall of Slaverey in the New World. New York 2006; Robert C. Davis: Cristian Slaves, Muslim Masters: White Slavery in the Mediterranean, the Barbary Coast, and Italy, 1500–1800. London 2004.

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in those of many of his contemporaries – Happel comes to mind, once again – we can observe a nascent European consciousness spurred on by the panEuropean wars that moved huge transnational armies across the continent in the service of complex power politics. Geopolitical developments of the times, the frequently changing national and international alliances demanded reliable and frequent reporting along communication networks whose efficacy evolved with dizzying speed. Geographic distances and national and regional borders were conquered by the rapidity with which news traveled. This communication revolution increasingly shaped the actions of the professionals and entrepreneurs who made decisions about who delivered what kind of news at what price to which location to ensure the uninterrupted flow of information.29

2. What kind of »architecture of knowledge« can we identify in his writings? Most of Praetorius’s tracts are written in German, some in Latin, and, as noted, occasionally he mixes both languages. An example of this early modern form of code switching, as amusing as it is enlightening, is his discussion in the Blockes-Berges Verrichtung of the purported ability of witches to make weather, which he juxtaposes with a scientific tract (in Latin and quoted in full) by his contemporary Athanasius Kircher about lightning and thunder, magnetism and meteors.30 While, in this instance, Praetorius is placing the full Latin text next to the German translation, in other texts, he also mixes the two languages in paragraphs and even in the same sentence, as he does in his amusing, though somewhat challenging Latin/German De Conscinomantia of 1677, a tract about the magical arts. It begins, as we have come to expect, with the acrostic of the title which is further organized in Roman numerals (I-XIII) indicating the individual chapters which are to follow: 29

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See Georg Witkowski: Geschichte des literarischen Lebens in Leipzig (Nachdruck München 1994). Leipzig 1909. About Happel’s relationship to his publishers and sources in Hamburg, see the Augsburg dissertation by Flemming Schock: Die Text-Kunstkammer. Populäre Wissenssammlungen des Barock am Beispiel der »Relationes Curiosæ« (1681– 1691) von E.W. Happel. Köln, Weimar, Wien 2011 (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 68). Johannes Praetorius: Blockes-Berges Verrichtung/ Oder Ausführlicher Geographischer Bericht/ von den hohen trefflich alt- und berühmten Blockes-Berge: ingleichen von der Hexenfahrt/ und Zauber-Sabbathe [...]. Leipzig 1668, S. 156–189. The relationship of German to Latin in his tracts is variable; even his German writings often contain a fair number of Latin quotes and paraphrases. Occasionally, it also works the other way, that is, a Latin text is interspersed with German. Such is the case in his De Coscinomantia (wie Anm. 22). Aside from a few interesting comments, mostly in German, about gypsies (Zigeuner), and his take on the theory of pre-Adamite people, this tract also refers to many of his publications. It contains a note about having worked with Jakob Thomasius, the father of Christian, on a version of Castore & Polluce (unpag.).

Gathering Information – Constructing Order I. II. III. IV. V. VI.

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C/ acodaemonis similis aliuas offucias damnandas O/ riginem Diabolicam. S/ acro-Sancti Verbi abusum C/ reaturae elevationem supra Sphaeram activitatis I/ mposturam & malefidam N/ uminis oboediendi improbationem in Pandectis religiosis

This continues until the last item XIII.

A/ rbitrium infortunii & temeritatem incuriae.

The thirteen chapters undergo additional systematizing: Chapter I (Judicium Primum) is further divided into twenty two (22.) subheadings identified by Arabic numerals. These subheadings present a detailed and carefully arranged list of various magical processes each supported by the appropriate sources. For example, chapter (13.) deals with Necromantia, the sources cited are Balduin. P. 770. M. Sim. Frid. Frenzellius de preasens. Natur. C.I. §. 6.31 Anyone who has ever written anything on magic seems to make an appearance in Latin/German »Mischmasch« (his designation) of this tract. Equally vigorous code-switching characterizes the disquisition Himmlische(r) Comet=Stern, also 1677, which begins with a historical reflection on the sighting of such a comet in the year 2018 »nach der Erschaffung der Welt«, when Abraham was seventy years old.32 Upon the comet’s passing there followed a great »Theuerung in Lande Canaan« forcing Abraham to flee to Egypt, »Hungers halben«.33 Tracking such celestial apparitions through history to his present days, Praetorius cites many authorities who have written about comets throughout the centuries. He interjects not only Latin, but also Greek and Hebrew sources, most of which are arranged chronologically. About two-thirds into the text, he stops and announces that he will present »in Synopsi die vollständige Kunst (of astronomy) liefere und zeige«.34 This is followed by Hebrew words subscribed by the Latin Andromedae cingulo sub Cometa followed by a long quote from the works of Schickardus35 followed by Grotius, Cardanus, and many more. Several pages later, again a Hebrew quote underwritten in Latin announces the description of the Jewish exodus at the time of the Roman occupation36 followed by a, for Praetorius, typical neologism, »Anjetzo mystisire (GSW) ich hierüber folgender massen [...]«.37 The tract concludes with an acrostic on the letters of the word COMETOLOGIA reminding the reader how much is contained not only in the comets’ appearance but in the very word of this science: 31 32 33 34 35 36 37

Praetorius 1677 (wie Anm. 22). Ders.: Himmlischer Comet=Stern, welchen der erzürnete höchste Gesamt=Richter [...] in diesem Vor=Jahre Anno 1677 [...] verhänget hat. Halle 1677. Ebd., unpag. Ebd., fol. C3v. Wilhelm Schickard (1592–1635), known for having built one of the first calculating machines in 1623. Praetorius 1677 (wie Anm. 32), fol. Dv. Ebd.

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C atholicismus O b religionem persecutions. M ariam Scotiae Reginam E xtremum diem: Filii Hominis T urciae apostasiam O ccupationem Belgii L iberatoruem Germaniae, Regem Sveciae Gustavum O mnes protestantes G alliam I berim vel Hispanum A d fidem convertendos Judaeos. Nagelio

Switching from Latin to German, he closes the tract with the self-deprecating admission: So wenig Gewißheit du nun aus dergleichen Mischmasch (emphasis GSW) zu nehmen hast/ so wenig strecket sich ein Naturalist nach daß vorgesteckte Ziel theils der Natur selbst/ [...] wann jener die Schwantz-Sterne (comets) seiner Laßdünckeley (sic) nach/ wil aus natürlichen Uhrsachen zusammen kleistern mit Gehirns=Leim (GSW) etwan aus Sonnen=Makeln [...] im vorigen Anno 1676.38

Mischmasch, indeed, but enjoyable to read, he must have assumed. The same ordering principle guides, once again, the Adunatus. The very title page of this cometological tract from the year 1669 introduces the reader to the topics to be presented. S/he will be informed about places around the world that, in the past, had been threatened by the bad influences of comets passing across the night skies.39 While lacking illustrations, the frontispiece of the Adunatus appeals to the reader’s geographical and political acuity listing in alphabetical order the places that had been visited by comets, starting with »[A]ssyrien« and ending with »[Z]weitzer=land«. At the end of this modest tract, Praetorius presents the sixty sources on which his tract is based – again in alphabetical order – not simply for purposes of authentication but in order to signal the instructional value of the booklet. The list begins with twenty anonyma identified by place of origin, and it ends with »Johann M. Eberhardi Welperi, Junioris, observation«. published Strassburg. The information supplied in each title is augmented by either the place where it was printed or the title of the volume with which it was bound. The Adunatus is divided into a short theoretical (seven pages) and a lengthy practical part (ninety-pages). Once again, Praetorius employs the familiar acrostics, again using versions of the word »comet«, cometa, cometologia, and cometologus. Praetorius begins with the double acrostic cometologus, starting with C for Catholici, oder das Welschland, and ending with Slavonia, Illyrium, Dalmatia, etc.40 He reviews a comet’s appearance, specifically the shape and direction of its tail; the comet’s size and material composition; its movement and distance

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Ebd., fol. E4. Johannes Praetorius: Adanatus Cometologus, Oder ein Geographischer CometenExtract: Aus allen und jeden Schribenten [...]. Leipzig 1665. Ebd., S. 8.

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from the earth, and the relationship between comets and prognostication.41 The brevity of this part signals its relative lack of importance to Praetorius’s main mission, namely to describe what a comet’s appearance means and why comets matter to his readers showing himself well informed about the current state of astronomical knowledge. In the very brief section devoted to prognostication, he mentions several well-known scholars who had hypothesized about contemporary astronomers’ ability to predict a comet’s course. In the same way, this formal »architecture of knowledge« takes pride of place in the demonology Blocksberges Verrichtung where Praetorius makes frequent use of acrostics exploring the geo-demonology of the Harz Mountains. The chapters of this lengthy tome contain a wealth of geographic, historical, cultural, and demonological information, most of which arranged around and compressed in the variant spellings of the word Gespenst oder Blocksberg: §. 1. G riechenland §. 2. E lvezien oder Schweitzerland §. 3. S chlesien §. 4. P rovintz Cassuben §. 5. O berPfalz §. 6. N ursiner Gegend in Italien §. 7. S icilien §. 8. T hüringen §. 9. H artz42

Another variation of geographic acrostic »Brocksberga« is presented much later in the tract: (1.) B elgium (2.) L otharingen (3.) O berdeutschland (4.) K urland (5.) S panien (6.) B oetien (7.) E eland (8.) R ömisch- oder Welschland (9.) G allien oder Franckreich (10.) A fricka43

By now, the reader understands that these mnemonic devices contain and liberate Praetorius’s narrative energies in equal measure. They are contained, kept under control, by the amazing energies which Praetorius deployed as he collects and narrates his tales. In other words, they are kept under control by the way he 41 42

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Ebd., S. 4–6. Johannes Praetorius: Blockes-Berges Verrichtung/ Oder Ausführlicher Geographischer Bericht/ von den hohen trefflich alt- und berühmtn Blockes-Berge: ingleichen von der Hexenfahrt/ und Zauber-Sabbathe/ so auff solchen Berge die Unholden aus gantz Teutschland [...] anstellen sollen [...]. Leipzig 1668, S. 1. Ebd., S. 257; Greece; Switzerland; Silesia; Kashubia; Upper Palatine; parts of Italy; Sicily; Thuringia; Harz; followed by Belgium; Lotharingia; Upper (South) Germany; Brandenburg; Spain; Boeotia; Estonia; Italy; Gallia or France; Africa.

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structures his topics. This control also liberates him from having to devise a process of narrative congruity and logic which would be inimical to his progress through his sources, to his wanting to present as much as he possibly using the categories he outlined. A few pages later, Praetorius organizes his description of the Blocksberg according to yet another acrostic: §. 1. B enennung §. 2. R echtschreibung §. 3. O rte §. 4. Conterfait §. 5. K räuter und Bäume §. 6. S ilber und ander Bergwerck §. 7. B äche §. 8. E igene Thiere §. 9. R egen Deutung §. 10. G asterey der Hexen44

After listing the more than sixty demonologies that served as his sources,45 Praetorius constructs another acrostic describing the alleged witches’ deeds and actions [»Thaten and Wirckungen«]: Brogsberg: (1) B ezauberung oder Einzauberung (2) R aubung der Güter, Milch, etc. (3) O hnfruchtbarkeit. (4) G eschlechtes Veränderung. (5) S chönheit und Annehmligkeit. (6) B estien Formirung (7) E rtödtung und Lebendigmachung (8) R egen oder Wettermachung (9) G esundmachung46

Whether or not Praetorius believed in witches cannot be determined with any kind of certainty. He does, however provide all the science and witch lore he can muster. In the end, the reader has to make up his/her own mind. In an extraordinarily effective narrative gesture, Praetorius moves from citing Ludwig Milichius’s Zauberteufel (1563) in support of the belief that the devil and his powers are real, to a lengthy disquisition about magnetism, meteors, and the nature of the elements. The formality of the structuring acrostics offer the reader both, a quick cursory overview over what is to be discussed. They also provide directions where, in the succeeding chapters, more elaborate information about his topic is to be found. Finally, this method of structuring his »telling« allows

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»Names; orthography; place; appearance; herbs and trees; silver and other mining; creeks, indigenous animals; meaning of rain; witches’ party«; ebd. S. 31–32. Ebd., S. 143–145. »Bewitchment; stealing of goods, milk, etc; infertility; sex changes; beauty and comfort; creation of animals; killing and bringing to life; rain or weather making; healing«; ebd. S. 146.

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Praetorius to employ a narrative tone that remains informative without becoming partisan without taking sides in an argument over what is »real« and what is not in matters of magic and witchcraft. In another instance, Praetorius brings together practical knowledge with social criticism and entertainment all the while showing a sense of humor as he is frequently want to do. In the Dulc-Amarus Ancillariolus (1663), we find inserted into a lengthy and knowledgeable disquisition on Mägde (maids) and Jungfern (damsels) a long poem about the virtues of straw, the substance in the heads of Jungfern as well the very useful by-product of grain cultivation.47 Referencing the arch-fool of German early modern literature, Eulenspiegel, he moves into a rhymed diatribe extending across many pages on the theme of »Zu wem ists Stroh gut?«48 (What is straw good for?) and about the vagaries of rural life. Responding to his question and mocking his own undertaking, he assures his readers that he had informed himself in detail about the »vielfältigen Nutzen des Strohs [...] und in anderhalb hundert Reimen darauf gemacht«.49 Divided into 160 sections of rhyming lines across circa eighty pages, the poem explores many of the serious and not so serious uses and aspects of straw in house and barn, for animals and humans. The lengthy tongue-in-cheek disquisition offers much peasant lore and sexual innuendos, »wie Ich dann solches [...] Kurtzweil halber/ Traurigkeit und Melancholey zu vertreiben/ unter Handen genommen«.50 In other words, Praetorius’s »architecture of knowledge« is not only limited to serious subjects and concerns but, under Praetorius’s pen, it includes many not so serious aspects of early modern life including the peasant wife’s taste for beer.51 In the end, straw seems to provide Praetorius with a metaphor for life. The newborn baby’s life begins on the bed of straw, and there it ends in death:

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Johannes Praetorius: Dulc-amarus ancillariolus: Das ist, Der süß-wurtzligte und saur ampferigte Mägde-Tröster/ erzwingend, Daß die Mägde bessere Thiere seyn, als die so genanten Jungfern: Item, Daß sie einen angenehmlichern Nahmen führen [...] denn eine jedwede Jungfer will doch gerne eine Magd hinter sich her-gezottelt haben. o.O. 1663, S. 161–247. Ebd., S. 162. Ebd., S. 163. Ebd., S. 166. (96.) »d’Bäurin [...] hat ihr genug gearbeit schier/ wird durstig/ trünck gar gern ein Bier/ Man gibt ihr keins/ der Baur ist karg/ Die Kellnerin ist wol so arg/ Daß sie isch stillt in Keller hin/ Und findet in ihrem geschalckten Sinn/ Ein Weiber=Pößlein arger List/ Weils Bier noch nicht angestochen ist/ Daß sie zium Spund raus trincken müg/ (97.) Durch einen Strohalm (GSW) thuts zwölff Züg/ Biß sie ihr trincken eben genug« (198–9); »The peasant woman after working hard, became thirsty; she would love to drink a beer. But they don’t give her any, her husband is a miser. The waitress is so mean that she (the peasant woman) sneaks into the cellar and, employing her her female wiles, comes upon a trick. Because the beer barrel has not yet been unsealred, she drinks directly from the faucet/bung through a straw, twelve mighty draughts, until she has had her fill«.

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Sein (the peasant’s) frommen Geist muß Er aufgebn / [...] Am Todten-Reyen muß Er auch / Doch/ weil Ers Stroh fast han im Brauch / Durchaus das gantze Leben sein/ Trägt man ihn noch zur letzt hinein.52

3. Where does Praetorius fit among poly-historical writers of the seventeenth century? Like Happel, Praetorius eked out a living as an independent author writing about topics that he judged newsworthy. He discussed comets and monstrous births, preternatural beings, and the political machinations of the powerful. Often employing an ironic, even sardonic tone, he indicted the suffering brought about by the century’s scourge, its incessant wars which brought with it disease, hunger, death, and social upheaval. In his Wonderbook and his tracts about women, he eloquently deplores the war induced disorder, the decline in moral, social, and civic values. Reflecting the nascent nationalist sentiment, he praises his homeland, the Holy Roman Empire, with patriotic fervor even as he chastises the deterioration of religious practices and beliefs and lack of Christian charity. Praetorius was not an agent of change who brought about the vast transformations in the science and politics that characterized his and subsequent generations. He did, however, as did his fellow poly-historians, record and comment on the findings and writings of his century’s great thinkers and on its historymaking events. He was, what we would today call a popularizer of knowledge. He diligently noted the phenomena associated with what came to be called the Scientific Revolution which continues to account for much of the seventeenth century’s allure.53 Rather than creating new knowledge or altering the ways how his contemporaries understood the movements of heavenly bodies that they observed through the telescope, or the worlds made perceptible through the microscope, Praetorius told them about new ways to investigate phenomena. He gathered, reported, commented on what went on in his vicinity and in places far away mediating between people’s lives and the phenomena and events they experienced and which often terrified them. He was aware of the new explanatory models, but this awareness did not significantly alter his beliefs or, I presume, the beliefs of his readers. For example, in his tract on comets, the Adunatus Cometologus (1665), Praetorius disparages Johann Hevelius (1611–1687), one of the most famous astronomers of his day. Hevelius had discovered the regular and consequently predictable appearance of comets. Praetorius does not deny the validity of this hypothesis, but he is not prepared to surrender pride of

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Ebd., S. 220; »He has to give up his devout soul [...] and join the dance of death [...] but, because he has straw in his belly, he is, in the end, laid out on straw (=buried)«. Steven Shapin: The Scientific Revolution. Chicago 1996; Lisa Jardine: Ingenious Pursuits: Building the Scientific Revolution. New York 1999, S. 1–11.

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place to other ways of interpreting such signs. There was still, he points out, another kind of knowledge to be gleaned from such observations, namely knowledge of what God intended for his people.54 The established »ways of knowing« continued to exert influence alongside the excitement generated by all manner of new scientific, geographical, and astronomical discoveries, all of which strained against the linguistic, rhetorical, and categorical controls as they vied for readers’ and scholars’ attention for dominance in the public consciousness, and in the publishing market place.55 As is apparent in Praetorius’s oeuvre, new discoveries in all areas of knowledge did not consign past »ways of knowing« to oblivion just yet. Whether worked out by scholars or surmised by the laity, the concept of the world as a system of signs that carried many, often conflicting, meanings was captured in an explosion of writing energy that encouraged, even demanded the simultaneous beholding and understanding of dissimilar explanatory models. Even when predictions based on signs were not borne out by events, the assumption persisted that signs did carry meaning.56 Like many of his contemporaries, Praetorius believed that the physical state of the world could be compared to the moral history of mankind. Thus, cosmology, history, theology, and all the science of the day conjoined in imparting information about the human condition to the observant mind. Praetorius’s life was spent sharing this information with his readers.57 His oeuvre explodes with the exuberance of linguistic and generic hybridization that makes his »way of telling« a hallmark of the literary energies of his age. Praetorius wrote copiously on many and disparate subjects which earned him and many of his contemporaries the title Polyhistor. This describes a scholar with »fachübergreifender Kompetenz« [competency across disciplinary boundaries],58 whose work is characterized by universality and inclusiveness.59 The model for such a scholar is

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»Havelius will erwiesen haben/ wie alle Cometen ihre richtige revolutiones wissen/ und ein jeder in künfftigen das eine auch davon wissen könne [...] Ist dir das ein neues?« [Hevelius says that he has shown how all comets know their right revolutions, and that in future everyone would know about it. Is this news to you?]. Praetorius 1665 (wie Anm. 39), S. 59. More on Hevelius’s discovery and a mention of his wife, an accomplished astronomer in her own right, who energetically supported her husband’s work, see Jardine (wie Anm. 53), S. 28–30. John Henry: The Scientific Revolution and the Origin of Modern Science. Studies in European History. London 1997; a second edition is now available (London 2001). Along with much helpful information about seventeenth-century science and culture, Henry provides a useful review of the debate among historians of the last thirty years about how revolutionary the Scientific Revolution really was. Hermann Wellenreuther: Gedanken zum Zusammenhang von Kommunikation und Wissen im 17. Jahrhundert. In: Im Zeichen der Krise: Religiosität im Europa des 17. Jahrhunderts. Hg. v. Hartmut Lehman und Anne-Charlott Trepp. Göttingen 1999, S. 315–18, hier S. 314; Klingebiel (wie Anm. 15). Schechner (wie Anm. 14), S. 149–52, hier S. 150. Zedelmaier 1992 (wie Anm. 7), S. 425. Herbert Jaumann: Was ist ein Polyhistor? Gehversuche auf einem verlassenen Terrain. In: Studia Leibnitiana 22 (1) (1990), S. 83: »Der Versuch, Wissenschaft als Erfahrung der gesamten Historie zu beschreiben«.

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Praetorius’s contemporary Daniel Georg Morhof (1639–1691), whose magnum opus is the Polyhistor sive De notitia et rerum commentarii (1688) and its continuation (1708).60 Because of their very expansiveness and inclusiveness, polyhistorical writings are often considered superficial, the work of scholars dealing with too much information to meet high standards of scientific discipline and informational depth.61 A more positive early modern evaluation saw the Polyhistor as well versed in languages and literary history, employing his knowledge for the amelioration of his reader’s moral character. While this term has been ascribed to Praetorius by more recent scholarship, he does, however, frequently cite Zeiller, Harsdörffer, Fincel, Gesner, and other encyclopedists who are variously called Polyhistor. As a result, readers tended to group him under the same category.62 If compiling and rearranging exemplary information from countless sources for the improvement of knowledge, morals, and manners makes one a Polyhistor then Praetorius can, indeed, claim this title. He represents the type of Polyhistor that gathers and rearranges before publication as opposed to others like Morhof, whose goal is completeness that allows access to all learning and knowledge.63 Praetorius produced an oeuvre that is less learned and scholarly than it is entertaining and informative, and, to some extent, a personal assessment of the world in which he lived. For the student and scholar of the seventeenth century, Praetorius provides a wealth of cultural, literary, and historical materials that reflect his century as much as it explains him as a writer of his time.

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About Morhof and his Polyhistor see Waquet (wie Anm. 9). Zedelmaier 2002 (wie Anm. 20), S. 419. Helmut M. Waibler: Johannes Praetorius, P.L.C bio-bibliograph. Studien zu einem Kompilator curieuser Materien im 17. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1979 (Europäische Hochschulschriften: Reihe 19, Ethnologie/Kulturanthropologie: Abteilung A, Volkskunde: Europäische Hochschulschriften), S. 9; ders.: Johannes Praetorius (1630–1680): ein Barockautor und seine Werke. Frankfurt a. M. 1979, S. 963; Christoph Daxelmüller: Disputationes curiosæ: Zum ›volkskundlichen‹ Polyhistorismus an den Universitäten des 17. und 18. Jahrhunderts. Würzburg 1979 (Veröffentlichungen zur Volkskunde und Kulturgeschichte 5), 50–51; Zedelmaier 2002 (wie Anm. 20). »[D]er Magister [bleibt] ganz dem gelehrten Kosmos verhaftet und verweist auf solche ›examplarische‹ Gelehrte, die sich vor allem durch ihre ›polyhistorische‹, das heißt historische- philologisch orientierte Gelehrsamkeit auszeichnen« (emphasis added) [The scholar remains very much caught in the learned cosmos; he points to such exemplary scholars who are distinguished by their polyhistorical, that is their philologically oriented learnedness]. Zedelmaier 2002 (wie Anm. 20), S. 441.

Nikola Roßbach

»Zu besserer Begreiffung aller Materien« Wissensorganisation und -vermittlung bei Georg Andreas Böckler, Architect & Ingenieur

Im Jahr 1699 erscheint ein voluminöser Ratgeber mit dem Titel Nützliche Hauß- und Feld-Schule, Teil 2. Der Titel kündet umfassende agrarökonomische Informationen an; Illustrationen und Register dienen dabei »Zu besserer Begreiffung aller Materien«. Diese Formel, die didaktischen und universalen Anspruch der Wissensvermittlung verbindet, könnte als Motto über dem schriftstellerischen Werk des Architekten und Ingenieurs, Erfinders, Zeichners und Kupferstechers Georg Andreas Böckler (1617/um 1620–1687) stehen, der das stattliche Hausvaterbuch (Bd. 1, 1678: 1300 Seiten; Bd. 2, postum 1699: 1600 Seiten) verfasste.

1. Georg Andreas Böckler Böckler wurde in einem protestantischen Pfarrhaus im fränkischen Cronberg geboren. Im Lauf seines Lebens sind weitere Aufenthaltsorte nachweisbar: Straßburg, Koblenz, Breisach, Frankfurt am Main, Idstein im Taunus, Regensburg, Stuttgart, Heidelberg, Durlach, Ansbach. Als Architekt und Ingenieur wirkte Böckler an verschiedenen territorialstaatlichen Fürstenhöfen des alten Reichs; ab 1678 hielt er sich als bautechnischer Berater und Prinzenerzieher am Hof des Markgrafen Johann Friedrich von Brandenburg-Ansbach auf. Bis zu seinem Tod lebte Böckler dort als so genannter Hofschutzbeamter in kargen Verhältnissen, ohne je den Status eines Hofbaumeisters zu erlangen. 1 1

Vgl. Bernd Vollmar: Die deutsche Palladio-Ausgabe des Georg Andreas Böckler, Nürnberg 1698. Ein Beitrag zur Architekturtheorie des 17. Jahrhunderts. Ansbach 1983, S. 5, 12, 229; zur Vita ausführlich Anhang A 1–11. Die Forschungssituation zu Böckler ist übersichtlich, vgl. Werner Bürger: Georg Andreas Böckler – Architekt, Ingenieur und hochfürstlicher Baumeister. In: Ansbach, gestern und heute 13/14 (1978), S. 314–321, 328–333; Werner Fleischhauer: Barock im Herzogtum Württemberg. Stuttgart 1958; Friedrich H. Hofmann: Die Kunst am Hofe des Markgrafen von Brandenburg. Fränkische Linie. Straßburg 1901, S. 98–101, 104; Hans Rott: Kunst und Künstler am Baden-Durlacher Hof. Karlsruhe 1917; Gunter Schweikhart: L’Edizione Tedesca des Trattato Palladiano (Bollettino XII, 1970, S. 273–291). Weitere knappe lexikographische Informationen bei v. L.: Böckler, Georg Andreas. In: Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. 2. Leipzig 1875, S.

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Es ist kein Zeugnis erhalten von Böcklers praktischen Arbeiten, die sich in der Regel auf Bauerhaltungsmaßnahmen von Fortifikationsanlagen beschränkten.2 Bernd Vollmar, der in seiner Dissertation mit dem allzu bescheidenen Titel Die deutsche Palladio-Ausgabe des Georg Andreas Böckler wertvolle Grundlagenforschung zu Leben und Werk leistet, schätzt Böcklers architekturgeschichtlichen Rang gering ein. Er habe »der Architekturgeschichte keine nachhaltig wirkenden Impulse« gegeben.3 Die bleibende Bedeutung des barocken Gelehrten besteht zweifellos in seiner schriftstellerischen Tätigkeit. Vierzehn Schriften erschienen unter Böcklers Namen, die mehrfach wiederaufgelegt wurden und verschiedene Themen besetzen: Architektur und Maschinentechnik, Ökonomie und Hausväterliteratur, Druckgraphik, Heraldik und Militärwesen. Bei den meisten Bänden handelt es sich um Kompilationen, die Böckler – zum Teil als Auftragsarbeiten für Verlage – zusammenstellte. Darüber hinaus verfertigte er Übersetzungen – die Vorlage der Schrift Kunstbüchlein handelt Von der Radier- und Etzkunst (1652) ist Abraham Bosses Traicté Des Manières De Graver En Taille Douce Sur L’Airin (1645) – und fungierte als Herausgeber: 1667 gab er eine mathematische Abhandlung von 1618, M. Daniel Schwenters Geometriae Practicae Novae et Auctae Libri IV, neu heraus. Der Schwerpunkt seiner Publikationen liegt berufsgemäß auf der Profanarchitektur, der militärischen und der zivilen, die Böckler in jeweils vier Schriften behandelt. Zum Bereich der architectura civilis gehören 1. das Compendium Architecturae Civilis (1648), eine freie, um weitere Säulenlehren4 ergänzte Übersetzung des ersten Buchs von Palladios Quattro Libri dell’ Architettura (1570), 2. die eng an Hans Blums so genanntes Züricher Säulenbuch (Ein kunstrych Büch von allerley antiquiteten/ so zum verstand der fünff Seülen der Architectur gehörend, 1627) angelehnte Architectura Civilis Nova & Antiqua (1663, Neuausgabe u.d.T. Neues Und zuvor nie also eingerichtetes vollkommenes Seulen-Buch, 1684), 3. die Architectura Curiosa Nova (1664) sowie 4. die kommentierte Palladius-Übersetzung Die Baumeisterin Pallas (postum 1698).

2

3 4

787f.; Christian Gottlieb Jöcher: Allgemeines Gelehrten-Lexicon [...]. Bd. 1. Leipzig 1750/51, Sp. 1165; Carl Graf von Klinckowstroem: Böckler, Georg Andreas. In: Neue Deutsche Biographie. Bd. 2. Berlin 1955, S. 371. Vgl. Vollmar (wie Anm. 1), S. 22; vgl. auch ders.: Die deutsche Palladio-Ausgabe des Georg Andreas Böckler und die Bauaufgabe Land-Wohnung in der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts. In: Georg Andreas Böckler: Die Baumeisterin Pallas/ oder der in Teutschland erstandene Palladius. Kommentierte und illustrierte Übersetzung der ersten zwei Bücher von Andrea Palladios I Quattro Libri Dell’Architettura. Faksimile-Neudruck der Ausgabe Nürnberg 1698. Mit einer Einführung von Bernd Vollmar. Nördlingen 1991, S. 5–18, hier S. 6. Vollmar (wie Anm. 1), S. 229. Zu den zahlreichen Säulenlehren der deutschsprachigen Architekturliteratur des 17. und 18. Jahrhunderts vgl. Hanno-Walter Kruft: Geschichte der Architekturtheorie von der Antike bis zur Gegenwart. München 21986, S. 193–217. Vollmar bezeichnet die Säulenlehre als »ein Hauptanliegen der Architekturliteratur«, »die Säule als Hauptvokabel der Architektursprache« (Vollmar 1991 [wie Anm. 2], S. 9).

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Zur architectura militaris gehören 1. Böcklers Erstling, das Manuale Architecturae Militaris (3 Bde., 1645–1647), 2. die den »KriegsOfficirern und Ingenieurs« gewidmete Arithmetica Nova Militaris (1661), 3. M. Daniel Schwenters Geometriae Practicae Novae et Auctae Libri IV (1667) und 4. eine allgemeine »Kriegs-Schule« »Von den nothwendigsten Sachen/ die zum Krieg gehören«: die Schola Militaris Moderna (1668). Eng mit der Architektur verbunden – sowohl in Böcklers praktischer als auch in seiner schriftstellerischen Tätigkeit –, ist der Bereich der Maschinentechnik. Der erfahrene Architekt und Ingenieur erkannte die Bedeutung des Mühlen- bzw. Maschinenbaus seiner Zeit und förderte literarisch diesen Zweig der Baukunst.5 Hierher gehören seine bekanntesten Werke: das Theatrum Machinarum Novum (1661) und die genannte Architectura Curiosa Nova (1664). Weitere Schriften Böcklers sind entweder der Erbauungs- und Moralliteratur zuzurechnen wie die Warhafftige Relation Oder Eigentlicher Bericht/ von der Hoch- und Weit-berühmten Vestung der so genannten Inclination und dersoselben Merckwürdigen Belägerung/ Einnahm und Eroberung (1679) oder der Ökonomie- bzw. Hausväterliteratur, zu der außer der Nützlichen Hauß- und Feld-Schule (1678/1699) auch die kleine Schrift Furnologia Oder: Haushältliche Oefen-Kunst (1666) zählt. Im Todesjahr erschien postum ein heraldisches Traktat, die Ars Heraldica (1687).

2. Produktion und Rezeption Es erstaunt nicht, dass das Werk eines Polyhistors, den die Neue Deutsche Biographie als »für seine Zeit typisch und durch seine populären Bücher [...] von Einfluss«6 charakterisiert, ebenso vielseitig wie unoriginell ist – wobei letzteres eine ahistorische Bewertung darstellt: Böckler sucht weder Singularität noch Innovation. Sein Werk steht prototypisch für die polyhistorische und buntschriftstellerische Literatur des Barock, deren primäre Funktion nicht in der Generierung neuen Wissens, sondern in der Speicherung, Organisation und Vermittlung bestehenden Wissens besteht. Die auctoritas des erreichten Kenntnisstandes wird durch respektvolle Reproduktion bestätigt. Zwar wird tradiertes Wissen nicht eins zu eins wiedergegeben: Böcklers eigene Zugaben, die er oft durch das Signalwort »Nota« hervorhebt und abgrenzt, stellen einen bemerkenswert selbstbewussten, theoretisch reflektierten und durch umfangreiches Quellenstudium abgesicherten Autorkommentar dar. Doch selbst wenn der

5 6

Vgl. Edgar Finsterbusch, Werner Thiele: Vom Steinbeil zum Sägegatter. Ein Streifzug durch die Geschichte der Holzbearbeitung. Leipzig 1987, S. 132. Klinckowstroem (wie Anm. 1) S. 371. Vgl. dazu auch Andreas Beyer: »Bis hieher Palladius«. Zur Palladio-Übertragung des Georg Andreas Böckler. In: Architekt und Ingenieur. Baumeister in Krieg und Frieden. Ausstellungskatalog Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Bearb. v. Ulrich Schütte. Wolfenbüttel 1984, S. 39–42.

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Verfasser das ›colligirte‹ Wissen gelehrt kommentiert, ergänzt und variiert, ist er weit entfernt von einer kritisch-skeptischen Durchdringung und Infragestellung tradierter Wissensbestände, wie frühaufklärerische Denker sie im ausgehenden 17. Jahrhundert, also in durchaus bestehender Nähe zu Böcklers Lebenszeit, zu fordern begannen. Im Folgenden geht es weniger um den Aspekt der Produktion – um das barocke Textgeneratormodell des Kompilatorischen – als um das Rezeptionsmodell frühneuzeitlicher Wissensliteratur. Es gilt exemplarisch zu untersuchen, welche intendierten Leser Böcklers Texte ansprachen, an wen Wissen vermittelt werden sollte und wer die dargestellten Materien eigentlich ›besser begreiffen‹ sollte: die gelehrten Fachkollegen, das interessierte Laienpublikum bei Hofe oder gar die ungebildeten Schichten: Handwerker, die aus Technikbüchern ihr Metier erlernen sollten, Bauern, die mit ökonomischen Ratgebern professionelles Know how erwerben sollten? Sämtliche Bücher Böcklers sind in der Volkssprache verfasst und sollen, wie bereits der erste Buchtitel verkündet, »so wol in Praxi, als Theoria nutzlich zu gebrauchen« (Manuale Architecturae Militaris, Bd. 1, 1645) sein. Sie signalisieren deutlich eine Öffnung der elitären Gelehrtenkultur – ob allerdings im Sinne einer aufklärerisch intendierten Wissenspopularisierung zugunsten der unteren Schichten, ist kritisch zu prüfen. An die Frage nach dem intendierten Leser kann sich – wenn auch nicht in dem hier eng abgesteckten Rahmen – die Frage nach dem realen Leser anschließen, die sich durch empirisch-historische Rezeptionsforschung wahrscheinlich höchstens in Ansätzen beantworten ließe. Im vorliegenden Beitrag werden lediglich mit Plausibilitätsargumenten Schlüsse vom impliziten Rezeptionsmodell auf den realen Leser gezogen.

3. Architect & Ingenieur Georg Andreas Böckler bezeichnet sich selbst immer wieder stolz als »Architect & Ingenieur«. Die erste Berufsbezeichnung bezieht sich in der Frühen Neuzeit auf die Zivilbaukunst, die zweite auf das Kriegsbauwesen. Beide zu den artes mechanicae gehörenden Professionen wurden üblicherweise in der Personalunion des Baumeisters vereint.7 Böckler, der vermutlich eine Ingenieursausbildung durchlief8 und dessen Haupttätigkeitsfeld militärische Anlagen waren, nennt sich erst seit 1661 auch Architekt: Im Titel des Theatrum Machinarum Novum

7

8

Ulrich Schütte beschreibt die vielfältigen Bauaufgaben von Architekten und Ingenieuren vom 16. bis 18. Jahrhundert, die sowohl Zivil- als auch Kriegsbaukunst umfasst hätten – in der Praxis hätten sich Baumeister stets in beiden Sparten bewährt; vgl. Ulrich Schütte: Einleitung. In: Architekt und Ingenieur. Baumeister in Krieg und Frieden. Ausstellungskatalog Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Bearb. von Ulrich Schütte. Wolfenbüttel 1984, S. 9–16; ders.: Architekt und Ingenieur. In: Ebd., S. 18–31. Vgl. Vollmar (wie Anm. 1), S. 144.

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steht als Namenszusatz des Verfassers erstmals die seitdem häufig verwendete Doppelformel »Architect. & Ingenieur«. Unter die Verantwortung eines Baumeisters gehörten neben Aufgaben des Hoch-, Tief- und Wasserbaus auch Maschinenbauprojekte: In der Frühen Neuzeit existiert keine klare Trennung zwischen diesen Disziplinen, was zweifellos dem mächtigen Einfluss Vitruvs geschuldet war. In seiner Schrift De Architectura (1. Jh. v. Chr.), neben den pseudoaristotelischen Quaestiones Mechanicae (4. Jh. v. Chr.) die architekturtheoretische Instanz der Renaissance und des Barock schlechthin, subsumiert Vitruv Baukunst und Maschinentechnik gleichermaßen unter die architectura. Am Ende des 16. Jahrhunderts werden die Maschinenbücher allmählich aus dem vitruvianischen Korpus ausgegliedert.9

4. Georg Andreas Böcklers Maschinenbücher Georg Andreas Böcklers Maschinenbücher, das Theatrum Machinarum Novum10 und die Architectura Curiosa Nova, werden im Folgenden näher betrachtet. Das 17. und frühe 18. Jahrhundert rezipierte sie wie auch die Nützliche Hauß- und Feld-Schule als erfolgreiche Standardwerke. THEATRUM MACHINARUM NOVUM, Das ist: Neu=vermehrter Schauplatz der Mechanischen Künsten/ Handelt von Allerhand= Wasser= Wind= Roß= Gewicht= und Hand=Mühlen/ Wie dieselbige zu dem Frucht=Mahlen/ Papyr= Pulver= Stampff= Segen= Bohren= Walcken= Mangen/ und dergleichen anzuordnen. Beneben Nützlichen Wasserkünsten Als da seynd Schöpff= Pomppen= Druck= Kugel= Kästen= Blaß= Wirbel= Schnecken Feuer=Sprützen und Bronnen=Wercken. Damit das Wasser hoch zuheben/ zuleiten und fortzuführen/ auch andern Sachen/ so hierzu dienlich und nützlich zugebrauchen/ Alles mit grosser Mühe und sonderbahrem Fleiß/ auch meisten Theil auß eigner Erfahrung/ dem Liebhaber dieser Künste zusammen getragen und colligirt Durch Georg: Andream Böcklern, Architect. & Ingenieur. Nürnberg/ In Verlegung Paulus Fürsten/ Kunsthändlers. Gedruckt bey Christoff Gerhard. [1661] (Sigle TMN)

Der Titel knüpft an die Theatrum Machinarum-Literatur11 des 16. und 17. Jahrhunderts an, speziell an Heinrich Zeisings/Hieronymus Megisers erstes 9 10

11

Vgl. Schütte (wie Anm. 7), S. 20. Vgl. ausführlich dazu Verf.: Georg Andreas Böckler: Theatrum Machinarum Novum. In: Welt und Wissen auf der Bühne. Die Theatrum-Literatur der Frühen Neuzeit. Repertorium. Hg. v. Nikola Roßbach, Thomas Stäcker, unter Mitarbeit von Flemming Schock, Constanze Baum, Imke Harjes und Sabine Kalff. Wolfenbüttel. Herzog August Bibliothek 2011. Vgl. die im Rahmen des in Anm. 10 erwähnten DFG-Projekts von mir publizierten Repertoriumsbeiträge zu Jacques Besson, Heinrich Zeising/Hieronymus Megiser, Georg Andreas Böckler, Jan van Zyl, Tileman van der Horst/Jacob Polley, Hans Georg Hertel, Vittorio Zonca und Jacob Leupold. Zu Leupold sind weitere Repertoriumsbeiträge im Rahmen eines studentischen Projekts entstanden und ebenfalls unter www.theatra.de abrufbar. – Relevante Forschungsliteratur stammt aus dem Bereich der Technik-, Kunst- und Theatergeschichte: Jutta Bacher: Das Theatrum machinarum. Eine Schaubühne zwischen Nutzen und Vergnügen. In: Erkenntnis – Erfindung – Konstruktion. Studien zur Bildgeschichte von Naturwissenschaft und Technik vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. Hg. v. Hans Holländer.

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deutschsprachiges Theatrum Machinarum (6 Bde., 1607–1614). Böcklers Maschinenbuch, das 154 Kupferstiche und 68 Seiten Bildkommentar enthält, wurde bald nach seinem Erscheinen bei Paul Fürst in Nürnberg ins Lateinische übersetzt und über mehrere Jahrzehnte immer wieder aufgelegt bzw. neu publiziert. Leibniz schätzte es; womöglich ließ er sich durch das bekannte Frontispiz zu seiner wissenschaftstheoretischen Verwendung der Theatermetapher (›theatrum naturae et artis‹) anregen:12 ›Inszeniert‹ wird ein Panorama von Maschinenhäusern, das von einem Theatervorhang eingefasst ist. Böcklers einbändiges Werk, bei dem es sich höchstwahrscheinlich um eine Auftragsarbeit für den Verleger Fürst handelt, ist genretypisch zweigeteilt: Zum Textteil gehören der Kommentar zu den Maschinenzeichnungen, die aus Heinrich Zeisings Theatrum Machinarum-Band 3 übernommene sächsische Mühlordnung, Widmung, Vorrede und Register. Der Abbildungsteil ist eine Zusammenstellung von Kupferstichen, die realistische Arbeitsmaschinen neben solchen mit unglaubwürdigem bzw. utopisch-phantastischem Energiehaushalt zeigen. 48 der Stiche sind Jacobus Stradas Kunstliche Abriß/ allerhand Wasser= Wind= Roß= und Handt Mühlen (1617/1618) entnommen und werden – abgesehen von einigen Buchstabenbeschriftungen, auf die Böckler sich im Begleitkommentar bezieht, sowie von einer anderen Nummerierung – unverändert nachgedruckt. Eine solche Übernahme ist nicht außergewöhnlich, sondern geradezu gängig in frühneuzeitlichen Wissenskompilationen. Moon nimmt die immer wieder reproduzierten Maschinenabbildungen der Theatrum Machinarum-Literatur als »part of a universal topological language of kinematic mechanisms« wahr; er bezeichnet frühneuzeitliche Maschinenmodelle gar als »icons«, die zu einer bestimmten Zeit in das »lexicon of machine designers« einträten.13

12 13

Berlin 2000, S. 509–518; Theodor Beck: Beiträge zur Geschichte des Maschinenbaus. Berlin 1899; Helmut Hiltz: Theatrum Machinarum. Das technische Schaubuch der frühen Neuzeit. München 2008; Karlheinz Jakob: Maschine. Mentales Modell und Metapher. Studien zur Semantik und Geschichte der Techniksprache. Tübingen 1991; Alexander Gustav Keller: A Theatre of Machines. New York 1965; Jan Lazardzig: Theatermaschine und Festungsbau. Paradoxien der Wissensproduktion im 17. Jahrhundert. Berlin 2007; Uta Lindgren (Hg.): Europäische Technik im Mittelalter 800–1400. Tradition und Innovation. Ein Handbuch. Berlin 42001; Marcus Popplow: Neu, nützlich und erfindungsreich. Die Idealisierung von Technik in der frühen Neuzeit. Münster 1998; Verf.: Maschinenräume. Technik und Theater in der Frühen Neuzeit. In: Die Erschließung des Raumes. Konstruktion, Imagination und Darstellung von Räumen und Grenzen im Barockzeitalter. Kongress in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, 26.–29.8.2009 [im Druck]; Ansgar Stöcklein: Leitbilder der Technik. Biblische Tradition und technischer Fortschritt (1550–1750). München 1969. Vgl. Horst Bredekamp: Die Fenster der Monade. Gottfried Wilhelm Leibniz’ Theater der Natur und Kunst. Berlin 2004, S. 38. Francis C. Moon: The Machines of Leonardo da Vinci and Franz Reuleaux. Kinematics of Machines from the Renaissance to the 20th Century. Dordrecht 2007, S. 146, 152. Vgl. zu konkreten Nachdrucken in frühneuzeitlichen Maschinenbüchern Ladislao Reti: Francesco di Giorgio Martini’s Treatise on Engeneering and its Plagariarists. In: Technology and Culture 4 (1963), 3, S. 287–298.

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ARCHITECTURA CURIOSA NOVA, Das ist: Neue/ Ergötzliche/ Sinn= und Kunstreiche/ auch nützliche Bau= und Wasser=Kunst/ Vorstellend 1. Das Fundament und die Eigenschaft des Wassers/ wie dasselbe durch den Luft hochsteigend zu machen. 2. Mancherley lustige Wasserspiel/ wie auch schöne Auffsätze. 3. Allerley zierliche Bronnen/ Fonteynen und Wasserkünste/ so hin und wieder in Italien/ Franckreich/ Engel= und Teutschland/ [et]c. mit grossem Unkosten/ erbauet/ und zu sehen sind. 4. Vielerley kostbare Grotten/ Lusthäuser/ Gärten/ Fürstl. Paläst und Residenzen/ vornehme Clöster und Schlösser in Europa befindlichen. 5. Neben beygefügten schönen Abtheilungen der Gartenländer/ von Zugwercken/ auch zu Decken/ oben in den Gemächern/ zu gebrauchen/ samt schönen Irrgärten. Alles in 200. wolausgearbeiteten Kupffern/ so meistentheils nach dem Leben gezeichnet/ den verständigen Liebhabern und Künstlern zum besten deutlich erkläret und beschrieben/ Durch GEORG ANDREAM BÖCKLERN, Archit. & Ingenieur. Mit Röm. Kayserl. Majest. besonderer Gnad und Freyheit. Mürnberg/ In Verlegung Paul Fürstens/ Kunst= und Buchhändlers/ Seel. Wittib und Erben. Gedruckt daselbst bey Christoff Gerhard. [1664] (Sigle ACN)

Auch das zweite Maschinenbuch Böcklers ist eine Auftragsarbeit für den Nürnberger Verleger Fürst, der noch im gleichen Jahr eine lateinischsprachige Ausgabe herausbrachte; um 1670 legte er die deutschsprachige Ausgabe erneut auf. Während Böcklers erstes Maschinenbuch vor allem nützliche Arbeitsmaschinen, aber auch der höfischen Lustbarkeit dienende ›Vergnügungsmaschinen‹ vorstellte, präsentiert die Architectura Curiosa Nova nun ausschließlich Unterhaltungstechnik, speziell Hydrotechnik für Barockgärten: Wasserkünste und Brunnen aus »Italien/ Franckreich/ Engel= und Teutschland/ [et]c.« sollen Modellfunktion erlangen. Die Forschung geht mit Böcklers wohl bekanntestem Werk kritisch ins Gericht, bemängelt die flüchtige und wahllose Zusammenstellung der zum Großteil als Nachstiche identifizierten Kupfer, tadelt die dürftigen und fehlerhaften Textteile, bei denen es sich größtenteils um Ausschreibungen zeitgenössischer Reiseberichte und Weltchroniken, nicht um Böcklers eigenen Augenzeugenbericht handelt.14 Kruft urteilt: »Der theoretische und künstlerische Provinzialismus solcher Werke, obwohl sie sich so international gebärden, ist unübersehbar«.15 Er kritisiert das Fehlen eines eigenen architekturtheoretischen Standortes, den Mangel an Originalität, den Böckler allerdings mit der deutschsprachigen Architekturtheorie des 17. Jahrhunderts – Joseph Furttenbach, Johann Wilhelm u.a. – teile. Diese gebe lediglich Anregungen aus der modellbildenden italienischen Renaissance weiter und leiste keine theoretische Neuorientierung. Nichtsdestoweniger räumt Böckler der theoretischen Auseinandersetzung einen beträchtlichen Stellenwert ein: den gesamten ersten Band seiner Architectura Curiosa Nova. Der von der Antike bis dato währende polyphone Gelehrtenstreit über das Vakuum wird referiert und um die eigene Stimme bereichert, es folgen Ausführungen zu Anziehung (›attraction‹) und Austreibung (›expulsion‹) von Wasser. Böcklers vormoderne Argumentation basiert nicht auf empirisch

14

15

Vgl. Renate Wagner-Rieger: Einleitung. In: Georg Andreas Böckler: Architectura Curiosa Nova. Nachdruck der Ausgabe Nürnberg 1664. Leipzig 1968; Vollmar (wie Anm. 1), S. 176. Kruft (wie Anm. 4), S. 197f.

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bewiesenen Naturgesetzen und ist doch mehr als eine Reproduktion antiker Lehrmeinungen. Selbstbewusst korrigiert der Gelehrte die Autoritäten des tradierten Wissens: »Irrthum des Aristotelis wider voriges Axioma« (ACN, Kap. X).

5. Kunstliebende, freundliche, kunstverständige, günstige Leser: Die Frage nach dem Zielpublikum Wie muss man sich das Zielpublikum der Böckler’schen Maschinenbücher vorstellen? Beide Werke ermöglichen durch paginierte oder auf Kapitel verweisende Register ein selektiv-konsultatives Lektüreverhalten, wie es Enzyklopädie, Lexikon oder Handbuch erfordern. Dazu im Widerspruch stehen allerdings die wiederholten intratextuellen Bezugnahmen auf frühere Textpassagen, die eine Ganztextlektüre im Sinne eines Lehrbuchs praktischer Mechanik nahelegen.16 Doch wer soll überhaupt lesen? Aufschluss können Paratexte wie Widmungen und Vorreden geben: Die Widmung des Theatrum Machinarum Novum gilt »Carl Ludwig, Pfaltzgrav bey Rhein«, Böcklers damaligem Arbeitgeber, dessen Bemühungen um die Reparatur kriegsgeschädigter Mühlen und die Errichtung neuer Gebäude gelobt werden. Die stereotype Vorrede ist unspezifisch »An den Kunstliebenden Leser« gerichtet, der aber keineswegs mit dem fürstlichen Vorgesetzten zu identifizieren ist. Böckler bleibt auch sonst recht allgemein bei der Bestimmung seines Zielpublikums, wenn er lediglich verständige und unverständige Leser unterscheidet: Lernet nun jemand etwas gutes aus diesem Tractat, so erkenne er solches mit Danck. Hat er es aber zuvor gewust/ so darff ers nicht lernen/ verachte es aber deßwegen nicht/ sondern gedencke/ daß ihrer vielleicht noch viel seynd/ die solche/ oder dergleichen Sachen nicht wissen. (TMN, Vorrede, unpag. [2])

Kritik der Unverständigen verbittet er sich, eigenständiges Weiterdenken gestattet er den redlichen Verständigen, die »mit gutem Grund« (TMN, Vorrede, unpag. [2]) umstoßen und bessern könnten: Angesprochen dürften sich hier vor allem die fachlichen Experten fühlen: als Baumeister tätige Architekteningenieure oder auch, wie noch zu sehen sein wird, ihre praxiserfahrenen Mitarbeiter, die Werkmeister. Zu den Paratexten der Architectura Curiosa Nova: Das europäische Panorama hydrotechnischer Lustbarkeiten in Text und Bild dient laut Titel der Lektüre des ›verständigen Liebhabers‹ – des kenntnisreichen, interessierten Laien –, sowie des ›Künstlers‹, mithin des mit hydrotechnischen Bauaufgaben betrauten 16

Eine lexikographische, etwa mit Pfeilen arbeitende Verweisstruktur, die beide Lektüreweisen nebeneinander ermöglichen würde, weist erst die enzyklopädische Literatur des 18. Jahrhunderts auf. Ephraim Chambers Cyclopaedia (1728) gilt als die erste Enzyklopädie überhaupt, die mit Querverweisen arbeitet.

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Architekteningenieurs. Unüblicherweise verzichtet Böcklers Werk auf Widmungen. Die Vorreden der vier Teilbände richten sich nacheinander an den kunstliebenden, freundlichen, kunstverständigen und günstigen Leser: wiederum nicht signifikante Stereotype. Verleger Fürst bedient sich in der ersten Vorrede eines ebenso gängigen Topos, wenn er behauptet, von interessierten Bekannten zur Veröffentlichung gedrängt worden zu sein; seine Herausgeberleistung deutet er als ehrerbietige Dienstleistung an »curiöse Liebhaber und vornehme Herren«. (ACN I, 1. Vorrede, unpag. [1]) Demnach unterschiedliche vornehme Herren und hohe Standspersonen von mir in Erfahrung gebracht/ daß ich/ mit gegenwärtigem Werke occupirt und beschäftiget wäre/ als haben dieselbige theils schrift= theils mündlich an mich gelangen lassen/ und sich erbotten/ wann ich dero Residenzien, Schlösser/ Lustgärten/ Lusthäuser/ Fonteynen und andere dergleichen Kunstgebäude/ gleicher massen in Verlag zu nehmen/ belieben würde/ wolten sie deren Abrisse/ und darzu gehörige Beschreibunge/ auf ihren eigenen Kosten/ durch künstliche Mahler/ oder Werkleute/ verfertigen lassen/ und mir dieselbige zu Handen schicken. (ACN I, 1. Vorrede, unpag. [1])

5.1. Nach Belieben von Künstler und Werck-Meister Aufschluss über das Zielpublikum Georg Andreas Böcklers geben nicht nur die explizite Nennung von Adressaten in Paratexten wie Titel, Widmung und Vorrede, sondern auch sein Schreibstil und seine Adressatenorientierung. Erklärungen zu Arbeitsweise, Funktion, Nutzen und Einsatzbereich der Maschinen im Theatrum Machinarum Novum sind detailliert, deutlich und für Laien verständlich. Wie in der frühneuzeitlichen Technikliteratur generell existieren weder Fachterminologie noch systematische Klassifizierung: »Sämtliche vorgestellten Maschinen werden ohne jegliche Typisierung als singuläre Originale mit fast individuellen Zügen beschrieben«.17 Die Erläuterungen wollen, so heißt es stereotyp, keinen überflüssigen ›fernern Bericht‹ oder ›ferner Meldung‹ zu den Abbildungen geben – und erscheinen doch oft redundant. Das ist ebenfalls typisch für die barocke Theatrum Machinarum-Literatur, deren deskriptive und argumentative Textteile trotz des Anscheins einer Konstruktionsanleitung häufig keine über das Bild hinausgehende Mehrinformation bieten. Charakteristisch für den gelehrten Kommentar des Polyhistors sind – nicht nur in den Maschinenbüchern – zum einen seine analytische Distanz zum Gegenstand, zum anderen seine Dialogizität: Böckler nimmt Kontakt auf. So kann er beispielsweise die »Intention des Erfinders« eines »Schöpff=Wercks« nicht erkennen und spekuliert stattdessen über dessen technisches Funktionieren, ohne damit »andern Verständigen« vorgreifen zu wollen. Zwischen Skepsis und Offenheit changierend schließt er mit der Aufforderung an den Leser als einen mitdenkenden Fachkollegen: »Was hierunter verborgen/ wollen andere verständige Künstler/ zu entdecken hiemit freundlich gebeten seyn«. (TMN, S. 34) Im

17

Jakob (wie Anm. 11), S. 126.

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Zweifelsfall, in dem der Verfasser Skepsis gegenüber der Tauglichkeit einer abgebildeten Maschine hegt, verbietet er sich vorschnelle Kritik und verweist auf die Notwendigkeit praktischer Umsetzung zur Überprüfung der Funktionsfähigkeit – »die Warheit wird sich im Werck finden«. (TMN, S. 57) Böcklers Schriften profilieren die praktische Mechanik als gelehrte Wissenschaft18 und stehen damit wie die gesamte Theatrum Machinarum-Literatur im Funktionskontext der frühneuzeitlichen Aufwertung der artes mechanicae. Selbst wenn ihn eine Erfindung gar nicht überzeugt, bleibt Böckler zurückhaltend und fordert den Leser umso nachdrücklicher zum Dialog auf: Bei einem »Schöpf=Werck mit Kästen« (Abb. 1) etwa hält er es für »nicht rath sam dem Inventori dieser Machinæ zu folgen«, macht Alternativvorschläge und überlässt die Entscheidung schließlich »dem verständigen Werck-Meister« – »solte von jemand anders etwas bessers vorgebracht werden/ verlangen wir es zuvernehmen«. (TMN, S. 50)

Abb. 1: Georg Andreas Böckler: Theatrum Machinarum Novum (1661), Kupfer 129

18

Vgl. die Legitimation der Mechanik und ihre Abgrenzung vom einfachen Handwerk in der Vorrede des TMN.

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In der Architectura Curiosa Nova verfährt Böckler nach bewährtem, dialogorientiertem Muster. Der Kommentarteil wendet sich einerseits an den ›geübten Künstler‹, das heißt den Architekteningenieur als kreativen Kopf, der in der Funktion des Baumeisters das Projekt plant, ausführt und kontrolliert – andererseits an den so bezeichneten ›Meister‹ bzw. ›Werck-Meister‹, der als dessen direkter Mitarbeiter die praktische Ausführung mit Hilfe von Handwerkern verantwortet.19 Beide sollen die Tauglichkeit der abgebildeten Maschinen überprüfen und nach ihrem fachmännischen ›Belieben‹ Lücken oder Ungenauigkeiten der papiernen Darstellung ›ergänzen‹ und die Maschine angemessen ›anordnen‹ und ›anrichten‹. Von beiden Praktikern wird eine souveräne, situativ angemessene und in diesen Grenzen relativ freie Anwendung ihres als tacit knowledge vorausgesetzten Erfahrungswissens erwartet: Nota. Es muß dieser Aufsatz sehr starck treibendes Wasser haben/ und solle man die Hauptröhr oder Fuß dieses Wasserspiels nach den neun über sich treibenden Röhren proportioniren/ damit solche Wasser genug durch gedachte Fußröhre haben möge/ welches dann die Erfahrung jeden Künstler selbst lehren/ und an die Hand geben wird. (ACN II, 8)

Freiheit in der Ausgestaltung – nach des Künstlers ›Belieben‹, ›Gefallen‹, ›Gutachten‹, ›Gutdüncken‹ – wird besonders beim Zierrat gestattet: Vorgestellter Aufsatz erfordert zimlich viel starck treibendes Wasser/ ist auch lieblich anzuschauen/ kan mitten auf einen Bronn in einem Garten/ Grotta/ oder dergleichen/ angestellet/ auch nach des Künstlers Belieben ausgezieret werden. [...] Man kan die obern Röhrlein mit Zieraten verdecken/ damit sie nicht gesehen werden mögen/ welches dem Wasserkünstler hiemit frey gestellet wird. [...] DIeses ist ein schöner Aufsatz/ hat vier starcke flache Wasser/ solle gerad gegen das Gesicht gewendet oder gesetzt werden/ die runde Wasser müssen durch Röhrlein treiben/ welche in der Figur aussen gelassen worden/ und kan diß Wasserspiel nach des Künstlers Gutachten ausgeziert werden. (ACN II, 10)

Böckler tritt augenscheinlich in Dialog mit Bau- und Werkmeistern. Nicht angesprochen wird dagegen die Schicht der Handwerker, die in der Hierarchie unter den Werkmeistern anzusiedeln sind – anders übrigens als bei Heinrich Zeising: Sein Vorgängerwerk Theatrum Machinarum wollte »verstendlich« sein und ausdrücklich »Handwercksleute/ furnemlich die Steinmetzen/ Meurer/ Tischer/ Zimmerleute vnd dergleichen«20 zu weiterem Nachdenken und Kreativität anregen. Ob Zeising das erklärte Ziel tatsächlich erreicht hat, mittels eines relativ kostengünstigen Lehrbuchs in handlichem Format dem ›einfachen Handwerker‹ die Maschinentechnik näher zu bringen, muss dahingestellt bleiben. Gleiches gilt für ein weiteres barockes Maschinentheater, das aufgrund seines engen Bezugs zur realhistorischen Praxis gerne als eines der wichtigsten

19 20

Vgl. zu diesen frühneuzeitlichen Berufsbezeichnungen genauer Vollmar (wie Anm. 1), Anhang VIII. Heinrich Zeising: Theatri Machinarum Erster Theill [...]. Leipzig 1607, Vorrede, unpag. [4].

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frühneuzeitlichen Maschinenbücher überhaupt bewertet wird:21 1607, im gleichen Jahr wie der erste Band des Zeising’schen Theatrum Machinarum, erscheint in Padua das Novo Teatro Di Machine Et Edificii des Architekten Vittorio Zonca. Der Herausgeber eines aktuellen Reprints, Carlo Poni, vertritt die These, Zoncas Novo Teatro habe seine Funktion erst im Kontext des Erfahrungswissens der Praktiker – der Handwerksmeister – erhalten können; jene seien die intendierten Leser.22

5.2. Nach Gelegenheit des Bauherren Handelt es sich also um eine praktische Anleitung für Baufachleute – oder doch vielmehr um ein repräsentatives Schaubuch für die fürstliche Hofbibliothek? Die Frage stellt sich nicht nur bei Vittorio Zonca, sondern auch bei Georg Andreas Böckler. Die Forschung votiert übereinstimmend für die zweite Variante. Sie sieht gebildete, aber nicht fachmännische Aristokraten als primäres Zielpublikum der frühneuzeitlichen Technikschaubücher an, und zwar vor allem finanzkräftige potenzielle Auftraggeber, die die Werke als symbolisches Kapital erwarben. »Primär für diese Käuferschicht, der es mehr um den Besitz und um die Betrachtung bildlich anschaulich gemachter Texte als um deren mögliche Gebrauchsanweisung ging, waren vorwiegend die Maschinenbücher gedacht«.23 Es spricht in der Tat einiges dafür, dass die Theatra Machinarum entgegen dem vordergründigen Anschein, den die ausdrückliche Adressierung an ›Künstler‹ und ›Werck-Meister‹ hervorruft, weniger praktische als soziale und ästhetische Funktionen24 erfüllen – im Sinne einer »publikumswirksamen Darstellung der Ingenieurstechnik vor einem illustren Lesepublikum«.25 Womöglich dient die Popularisierung gelehrter Kenntnisse doch nicht primär einer maschinentechnischen Ausbildung der Praktiker, erst recht nicht einer Hebung des allgemeinen Bildungsstandes, sondern in erster Linie ökonomischen Zwecken – indem etwa ein fürstlicher Auftraggeber für ein Bauprojekt interessiert wird. Der fürstliche Bauherr als intendierter Leser: Für diese These spricht nicht zuletzt, dass die Abbildungen im Theatrum Machinarum Novum wie diejenigen in der Technikliteratur der Renaissance und des Barock allgemein ohne Maßangaben auskommen. Was sollte aber ein Praktiker – als intendierter Leser – mit Maschinenbüchern anfangen, die mechanisches Funktionieren nicht nur zeigen,

21

22 23 24 25

So von Keller (wie Anm. 11), S. 8; und Carlo Poni: Introduzione. In: Vittorio Zonca: Novo Teatro Di Machine Et Edificii 1607. A cura di Carlo Poni. Mailand 1985, S. VII–LIII; engl. Zusammenfassung S. LV–LVIII, hier S. LV. Vgl. Poni (wie Anm. 21), S. LVIII. Akos Paulinyi, Ulrich Troitzsch: Mechanisierung und Maschinisierung 1600 bis 1840. Berlin 1991, S. 257. Vgl. Bacher (wie Anm. 11), S. 510; Finsterbusch, Thiele (wie Anm. 5), S. 125. Popplow (wie Anm. 11), S. 97.

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sondern auch verschweigen,26 und die keinen konkreten Nachbau zu ermöglichen scheinen? Diese skeptische Frage stellt die Forschung, der, sicherlich unter dem Eindruck der Qualität moderner Präzisionstechnik im Maschinenbau, eine Konstruktionszeichnung ohne genaue Maßangaben praxisungeeignet erscheint. Wolfgang Lefèvres kenntnisreiche Ausführungen zu Maschinenzeichnungen der Renaissance kommen indessen zu einem anderen Ergebnis. Er stellt dar, wie Werkstattzeichnungen (die von reinen Präsentationszeichnungen allerdings zu unterscheiden sind) als Kommunikationsmittel in einem Planungsprozess technischer Projekte fungierten, in dem das Weglassen von Maßangaben und anderen Details durchaus produktiv war: »Für die Entwicklung erster Ideen im Entwurfsprozess dürften rohe Skizzen für die Renaissanceingenieure eine ähnliche Rolle gespielt haben wie für heutige Ingenieure. Der weitere Designprozess wie vor allem auch der Fertigungsprozess scheinen aber, das legen die erhaltenen Zeichnungen nahe, nicht von exakten Plänen geleitet gewesen zu sein, wie das heute der Fall ist«.27 Lefèvre folgert daraus, »dass sich ein Renaissanceingenieur darauf beschränken konnte, den für die Fertigung verantwortlichen Handwerkern die im gegebenen Fall besonderen oder vom Üblichen abweichenden Einzelheiten anzugeben und ansonsten die konkrete Gestaltung der Maschine und ihrer Teile ihnen zu überlassen«.28 Das Fehlen von Maßangaben bedeutet also keineswegs immer notwendig Praxisferne, ist also kein unhintergehbares Argument für den fürstlichen Bauherrn als Leser. Böckler rechtfertigt seinen Verzicht auf Maßangaben interessanterweise damit, dass sie für Gelehrte wie Ungelehrte überflüssig seien. Die ersten erführen nichts Neues, den zweiten mache man den Wissenserwerb sonst zu einfach: Solte sich aber/ wider Verhoffen/ jemand finden/ dieses zu tadeln [die Abhandlung, N.R.], mit Vorwenden/ daß man die eigentliche Proportion und Austheilung aller gedachten Mühl= und Wasser=Wercker hierinnen durch den Circkel und Maß=Stab hette vorstellen/ und weitläufftiger erklären sollen; Als ist hierauff zu wissen/ Daß aus sonderbaren Ursachen dieses mit Fleiß übergangen/ dann es heißt/ nach dem alten Sprichwort: Den Gelährten ist gut Predigen; Und muß man den Kindern den Brey nicht gar ins Maul streichen. (TMN, Vorrede, unpag. [2])

Böckler setzt durchaus ambivalente Signale hinsichtlich der Popularisierung von Wissen, wenn er einerseits eine tacit knowledge – in erster Linie das Anwendungs- und Erfahrungswissen der praktischen Mechanik – exklusiv voraussetzt und andererseits dieses Wissen als etwas definiert, das man sich, zumindest als einigermaßen ›Fortgeschrittener‹, selbstständig erarbeiten kann und soll. Noch exklusiver erscheint der Transfer technischen Wissens in Böcklers zweitem Maschinenbuch, das ebenfalls den Verzicht auf Maßangaben erklärt. 26 27

28

Vgl. dazu Verf.: Maschinenräume (wie Anm. 11) [im Druck]. Wolfgang Lefèvre: Maschinenzeichnungen der Renaissance. In: Spuren der Avantgarde. Theatrum Machinarum. Frühe Neuzeit und Moderne im Kulturvergleich. Hg. v. Helmar Schramm, Ludger Schwarte und Jan Lazardzig. Berlin 2008, S. 28–49, hier S. 38f. Ebd.

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Die »Vorrede des Andern Theils/ An den freundlichen Leser« der Architectura Curiosa Nova will »dem Liebhaber und angehenden Künstler« Wasserspiele »zu fernerm Nachdencken« vor Augen stellen, wobei ein Geübter und Erfahrner dieser Sachen ein mehrers hinzuthun/ zu vermehren und zu verbessern wissen wird; worbey insonderheit zu wissen/ daß die Profil oder Durchschnitte vorgestellter Wasserspiele aus gewissen Ursachen/ mit Fleiß übergangen und ausgelassen worden/ damit man den Meister von den Stimplern/ deren anjetzo die Welt voll laufft/ erkennen möge. (ACN II, Vorrede, unpag. [1])

Der Kenner weiß also auch ohne Maßangaben, wie es geht, und für den Unwissenden werden die fehlenden Angaben zur Nagelprobe, bei der er sich zwangsläufig blamiert. Immerhin lässt sich der Herr Architekt und Ingenieur großzügig zu den ›Stimplern‹ herab, indem er Nachhilfe in Aussicht stellt: Solte nun jemand sich in etliche diese Wasserspiele nicht richten können/ wie dieselbige inwendig beschaffen seyn müssen/ ist man erbietig respectivè einem jeden discreten Künstler/ so darum ansuchen wird/ communication darvon zu geben/ und fideliter mitzutheilen/ wie solche Wasserspiele in etwas zum theil zu verstehen/ [...]. (ACN II, Vorrede, unpag. [1])

Ob der Kompilator Böckler auf Anfrage tatsächlich präzisere Daten zu seiner zum Teil äußerst dürftig kommentierten Kollektion hätte nachliefern können, ist allerdings fraglich. Bezeichnend ist in jedem Fall sein Versprechen, etwas ›zum theil zu verstehen‹ zu geben. Es geht um Anregungen, um Andeutungen: [...] es werden dem Kunstliebenden etliche vornehme Gebäu/ so hin und wieder in Europa befindlich/ zur Recreation und Nachdenckung vorgestellet/ und so viel immer müglich gewesen/ von derselben Structur, Proportion, Ein= und Abtheilung/ auch was vornehmlich darbey zu sehen und in acht zunehmen/ mit wenigem angedeutet/ und einem jeden/ so eine bessere Recognition dieser Sachen erlangen mögte/ solches zu erweitern und zu verbessern hiemit frey gestellet wird. (ACN IV, Vorrede, unpag. [1])

Der absichtliche Mangel an Präzision dürfte den Maschinennachbau trotz der tacit knowledge eines Praktikers so gut wie unmöglich gemacht haben (Lefèvres Gegenargumente beziehen sich wohlgemerkt auf frühneuzeitliche Werkstatt-, nicht auf Präsentationszeichnungen). Zweifel an der primär intendierten Adressierung des barocken Technikschaubuchs an die Praktiker müssen also bleiben – und werden verstärkt durch die kostspielige Gestaltung und Illustration des Opus, die es zu einem wertvollen Besitzgegenstand machten. Hinzu kommen deutliche Hinweise auf einen weiteren Adressaten. Die wiederholten Aufforderungen zu künstlerisch-kreativer Problemlösungskompetenz bei der Durchführung von Bauvorhaben sind nicht nur an Architekteningenieure oder Werkmeister gerichtet, sondern zugleich an deren Auftraggeber. Wenn Böckler betont, ein 1626 vom kaiserlichen Ingenieur Gervasio Mattmüller angefertigter und von Kaiser Ferdinand 1644 dem türkischen Kaiser verehrter Brunnen (Abb. 2) könne durch »vielerley Aufsätze« und verschiedene Aufstellmöglichkeiten »in einem Saal/ Gemach oder Garten setzen/ wohin man will« (ACN

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III, S.7) beliebig abgewandelt werden, wendet er sich zweifellos an den entscheidungsmächtigen Bauherren selbst.

Abb. 2: Georg Andreas Böckler: Architectura Curiosa Nova. Teil 3 (1664), Kupfer 19

Ein kostbarer römischer Brunnen, heißt es an anderer Stelle, könne in Garten oder Grotte aufgerichtet werden, wobei es hinsichtlich »Structur und Beschaffenheit« »dem Künstler frey stehen« werde, »darvon oder darzu zu thun/ je nach Gelegenheit des Orts oder Bauherrens« bzw. »Gelegenheit des Orts/ der Personen und Zeit« (ACN III, S. 7, 19). Niemand anders als ein potenzieller Financier hydrotechnischer Bauvorhaben ist der Adressat von Botschaften wie: »DIeser Bronn schicket sich sehr wohl in einen Hof einer Königlichen oder Fürstlichen Residentz [...]« oder »schicket sich gar wohl in einen grossen Fürstlichen Lust=Garten/ gleich wie zu Heidelberg/ Stuttgarten/ Schlacowerth in Böhmen/ und andern Orten mehr zu sehen ist« (ACN III, S. 9, 12).

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6. Mehrschrittiges Rezeptionsmodell Wer soll nun lesen? Die Frage nach dem Leser der Böckler’schen Werke, dem intendierten und erst recht dem realhistorischen, kann nicht abschließend geklärt werden. Die überzeugendste Antwort bietet meines Erachtens das Konzept einer Mehrfachadressierung und eines entsprechenden mehrschrittigen Rezeptionsmodells. 1. Das Primärziel Böcklers und seines geschäftstüchtigen Verlegers war sicherlich, mit den kostbaren Kupferstichwerken die höfischen Bibliotheken der Widmungsempfänger und anderer hoher Herren zu bestücken. Optimalerweise entnahmen die Buchbesitzer als Leser den Werken Anregungen für Bauprojekte. In der Widmung des Theatrum Machinarum Novum fordert Böckler seinen fürstlichen Dienstherrn dazu auf, die Schrifft »in gewohnlichen Gnaden anzunehmen/ und gegenwärtigen Tractat ein Oertlein oder Stell in dero kostbaren und Courieusen Bibliotheca zu vergönnen« (TMN, Widmung, unpag. [2]). Ohne Zweifel sollte auch die Architectura Curiosa Nova von interessierten Adligen erworben werden – zum einen von den stolzen Eigentümern der abgebildeten Lustgärten und Wasserspiele, zum anderen aber auch von finanzkräftigen Herrschaften, die sich durch die Kupferstichsammlung zu eigenen, in der europäischen Hofgesellschaft ›konkurrenzfähigen‹ hydrotechnischen Anlagen inspirieren lassen konnten. 2. Die zweite Zielgruppe Böcklers ist das verständige Fachpublikum, das – im Sinne der durch Vitruv inspirierten Aufwertung der frühneuzeitlichen Mechanik – praktisches Können mit theoretischer Gelehrtheit verbindet: die Architekteningenieure, die in ihrer Funktion als Baumeister Projekte leiten und durchführen. Diese Lesergruppe ist ständehierarchisch unter der ersten anzusiedeln; analog ist der mit ihr verbundene zweite Rezeptionsschritt dem ersten chronologisch nachgeordnet. Ermöglicht wird er erst durch einen Transfer von kulturellem Kapital, von Buch und Wissen: Der Buchbesitzer übergibt als potenzieller oder tatsächlicher Erstleser – so das hypothetische Rezeptionsmodell – seinem Baumeister, der sich als Zweitleser weiterbilden oder inspirieren lassen soll und eventuell dabei bereits mit Entwurf, Ausarbeitung oder Durchführung eines Bauprojekts beauftragt ist. 3. Entsprechend einer dritten, ausdrücklich angesprochenen Zielgruppe – nicht nur auf die Praxiserfahrung und Kompetenz des ›Künstlers‹, sondern auch auf diejenige des ›Meisters‹ rekurrieren die Maschinenbücher immer wieder – ist ein weiterer Rezeptionsschritt anzusetzen. Buch und technisches Wissen werden ein weiteres Mal weitergegeben, wobei die hierarchische Abwärtsbewegung erneut an eine unumkehrbare Chronologie gekoppelt ist. Man kann sich natürlich fragen, ob tatsächlich ein solcher Buchtransfer stattfand, wie ihn die vielschichtige Adressatenorientierung der Werke nahelegt. Reichte der Baumeister seinem Werkmeister die Kupferstichsammlung weiter? Oder beugten sich womöglich beide gemeinsam über die Maschinenzeichnungen, um sie auf der Basis ihres praktischen Erfahrungswissens konstruktiv zu diskutieren? In der Tat ist anzunehmen, dass das Theatrum Machinarum Novum und die Architec-

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tura Curiosa Nova funktionierende Kommunikationsmedien zwischen verschiedenen Beteiligten an einem höfischen Bauprojekt sein sollten oder auch waren und dass sie daher in einen mehrschrittigen Rezeptionsprozess eingebettet waren.

7. Exkurs in die Hausväterliteratur Die These eines hierarchisch-prozessualen Wissenstransfers – gekoppelt an das Modell einer intendierten und eventuell auch realisierten mehrschrittigen Rezeption – wird gestützt durch ein weiteres bereits erwähntes Standardwerk Georg Andreas Böcklers, das exkursartig in den Blick genommen wird: Nützliche Hauß= und Feld=Schule/ Das ist: Wie man ein Land=Feld=Guth und Meyerey mit aller Zugehöre; Als da seynd die nothwendige Gebäu/ vollkommene Haußhaltung/ allerley Viehzucht/ Ackerbau/ Wiesen/ Gärten/ Fischereyen/ Waldungen und dergleichen mit Nutzen anordnen solle: Worbey dann auch zugleich eine zur Haushaltung auf dem Lande nützliche Hauß=Artzney für Menschen und Vieh/ sampt einem Immerwährenden Calender/ und allerhand nützlichen Hauß=Künsten/ mit sonderbarem Fleiß colligirt, und mehrentheils auß eigener Erfahrung/ auf die Mitte des Teutschlandes gerichtet/ dergleichen zuvor niemahls gesehen/ und zum erstenmahl mit darzu gehörigen Figuren an den Tag gegeben Durch Georg Andream Böckler, Architect. & Ingenieur. Mit Röm. Käys. May: und Churfürstl. Sächs. allergnädigsten Privilegiis nicht nach zu drucken. Nürnberg/ In Verlegung Paul Fürstens/ Kunst= und Buchhändl. Seel: Wittib und Erben. Gedruckt daselbst bey Christoff Gerhard. Anno M. DC. LXXVIII. (Sigle HFS)29

Das voluminöse 1300-Seiten-Opus, das 1683 erneut aufgelegt und nach Böcklers Tod 1699 um einen zweiten Teil mit weiteren 1600 Seiten ergänzt wurde, stellt einen Beitrag sowohl zur Hausväterliteratur30 als auch zur Architekturtheorie des 17. Jahrhunderts dar. Innerhalb einer praxisorientierten »Sittenlehre zur Gründung und Führung eines meist protestantisch-christlichen Hausstandes« handelt Böckler – vollständiger und umfassender als etwa sein Vorgänger Joseph Furttenbach (Mayer-Hoffs-Gebäw, 1649) – die ›Bauaufgabe Landgut‹ ab.31 An wen richtet sich die Schrift? Ausdrücklich spricht Böckler »eine gehobene, beziehungsweise adelige Auftraggeberschaft, eine Zielgruppe mit Landbesitz«32 an, landsässige Grundherrn ebenso wie nichtlandsässige Stadt- und Hof29 30

31 32

Im Folgenden zit. nach der Ausgabe von 1683. Vgl. zur Hausväterliteratur u.a. Julius Hoffmann: Die »Hausväterliteratur« und die »Predigten über den christlichen Hausstand«. Lehre vom Haus und Bildung für das häusliche Leben im 16., 17. und 18. Jahrhundert. Weinheim 1959; Helga Brandes: Frühneuzeitliche Ökonomieliteratur. In: Die Literatur des 17. Jahrhunderts. Bd. 2. Hg. v. Albert Meier. München 1999, S. 470–484; Paul Münch: Hausväterliteratur. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 2. Berlin, New York 2000, S. 14–17. Vollmar 1991 (wie Anm. 2), S. 11f. Ebd.

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adelsangehörige. Das Landgut ist keinesfalls als idyllischer Erholungsort für aristokratische Mußestunden konzipiert, sondern als Existenzgrundlage des landsässigen Adels bzw. als agrarischer Nebenverdienst des Stadtadels. Wie es gemäß einem von Böckler häufig verwendeten Topos heißt, ist der Verfasser »von vornehmen Standes=Personen/ auch andern Liebhabern und guten verständigen Haußhaltern« (HFS, »Zuschrifft«, unpag. [2]) zur Veröffentlichung gedrängt worden. Nur diese Statusgruppe hat das ökonomische Potenzial zu Bucherwerb und Finanzierung des vorgestellten Bauprojekts. Doch sollen die vornehmen Herren den dicken Wälzer auch lesen? Die ersten fünf Kapitel zweifellos – der große Wurf der Planung und Anlage eines idealen Landsitzes – »einer vollkommenen Meyerey und Land=Gutes/ mit aller Zugehör« (HFS, »Zuschrifft«, unpag. [2]) – ist unmissverständlich auf sie zugeschnitten. Genretypisch idealisiert Böckler einen Gutsherrn in spe, der als »ehrlicher/ frommer/ bescheidener Haußhalter und Hauß=Vatter« (HFS, »Zuschrifft«, unpag. [2]) seinen Besitz als Gottesgeschenk annehmen und mit emsigem Fleiß, Sorgfalt und Verstand bewirtschaften soll. Fachmännische Unterstützung findet er durch die Lektüre der ersten Kapitel der Nützlichen Hauß= und Feld=Schule, die Rat zu folgenden Themen geben: (1) örtliche Gegebenheiten des Bauvorhabens, (2) Materialien, (3) Einteilung, Aufbau und Zubehör des Meierhofs, speziell des Wohnhauses, (4) Nebengebäude wie Stallungen, Waschküche und ›Badhäuslein‹ und (5) Brunnen (HFS, bis S. 58). Auf die baulichen Arbeiten folgt das Personalmanagement: NAchdeme wir nun den Bauplatz mit allen seinen Umständen in etwas entworffen und betrachtet/ als ist für allen Dingen nöthig/ diesen Meyerhof mit darzu erforderten Personen zu besetzen/ und nach einem guten Meyer oder Haußhalter sich umzusehen. (HFS, S. 58)

Classis VI. handelt »Von den Qualitäten/ Beschaffenheit/ Amt und Gebühr eines guten Haußhalters dieses Meyerhofs«. Skrupulös werden die notwendigen Eigenschaften eines idealen Gutsverwalters aufgelistet – von Frömmigkeit und Fleiß bis hin zu Selbstdisziplin (etwa beim Thema Alkohol) und Führungskompetenz. Der Abschnitt schließt mit dem Appell: Was er endlich noch zu wissen vonnöthen/ und wie er sich in Verwaltung dieses Meyerhofs zu verhalten/ hat er in nachfolgenden Classen ein und andere Nachrichtung zur Genüge umständig zu ersehen und zu erlernen. (HFS, S. 62)

Hier kündigt sich offensichtlich ein Adressatenwechsel an. Das sechste Kapitel ist deutbar als Szenario eines Wissenstransfers vom ersten intendierten Leser an den nächsten: vom Gutsherrn, der nach dem Kriterienkatalog einen Verwalter aussucht, an den – inzwischen! – eingestellten Verwalter. Ihm wird das Buch zur eigenen Lektüre und damit zur gemeinsamen Verständigung über das ›Jobprofil‹ weitergereicht. Die folgenden ebenso umfassenden wie minutiösen Informationen zu allen Aspekten des häuslichen Kosmos richten sich konsequent an den Gutsverwalter. Ihm soll die Nützliche Hauß= und Feld=Schule als arbeitsbegleitendes Nachschlagewerk dienen, um in Haus und Küche, auf dem Feld und im Garten, im Umgang mit Frau und Kind, Magd und Knecht moralisch-religiös korrekt,

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ökonomisch und sozial erfolgreich zu wirtschaften – und das Landgut zu einem funktionierenden Selbstversorgungsunternehmen zu machen. Vollmar, der übrigens auch ein dem meinen vergleichbares Rezeptionsmodell mit Buchtransfer vom Herrn zum Untertanen verfolgt, sieht Böcklers Schrift sogar ganz »auf den Pächter oder Verwalter einer ›Meyerey‹ zugeschnitten«33 und erklärt die einleitende Ansprache von Adel und Patriziat allein mit deren Kaufkraft. Der Land- und Buchbesitzer gibt Wissen weiter: Kulturelles Kapital, zusammenwirkend mit symbolischem Kapital, soll ökonomisches Kapital vermehren.

8. Der Funktionskontext des Höfischen Am Anfang stand die Frage, ob das polyhistorische Modell der Wissensorganisation und -vermittlung bei Georg Andreas Böckler eine Öffnung der barocken Gelehrtenkultur impliziert. Die Antwort muss differenziert ausfallen. In der Tat sollen die volkssprachlichen und allgemein verständlichen Werke nicht nur von gelehrten Fachkollegen verstanden werden – und doch bedeutet die Popularisierung gelehrter Kenntnisse, die ›bessere Begreiffung aller Materien‹, keine Demokratisierung des Wissens im Sinne der Aufklärung Ungebildeter. Das vorherrschende Ziel des Polyhistors ist die ökonomisch verwertbare Popularisierung von Wissen im Kontext höfisch-absolutistischer Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse, sekundäres Ziel ist die Wissensvermittlung an Praktiker der Architektur, Maschinentechnik und Ökonomie. Dementsprechend basieren Böcklers Werke meiner These nach auf einem hierarchisch-prozessualen Modell des Wissenstransfers. Ihr Popularisierungsschub überschreitet den Funktionskontext des Höfischen nicht.

Bildnachweis Abb. 1: Georg Andreas Böckler: Theatrum Machinarum Novum (1661), Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Sign. A: 20.2 Geom. 2° [http://diglib.hab.de/drucke/n-169-2f-helmst-3s/start.htm?image=00311]. Abb. 2: Georg Andreas Böckler: Architectura Curiosa Nova. Teil 3 (1664), Sächsische Landesbibliothek, Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, Sign. Archit.116, misc.3 [http://digital.slub-dresden.de/id275739023].

33

Vollmar (wie Anm. 1), S. 157.

Stefan Laube

Text und Rede zwischen Pflicht und Muße Freiherr von Seckendorffs Praktiken der Wissenserzeugung

1. Seckendorff aus wissensbiographischer Sicht Veit Ludwig von Seckendorff (1626–1692) avancierte durch seinen FürstenStaat (1656), seinen Christen-stat (1685) sowie seine große Geschichte des Luthertums (vollendet 1692) zu einer wissenschaftlichen Autorität. Ein Biograph aus dem 18. Jahrhundert hielt ihn für einen der gelehrtesten Männer seiner Zeit. Er besaß zuerst diejenige Kenntniß vollkommen, durch welche ein Staatsmann gebildet wird: die Rechtsgelehrsamkeit in ihrem ganzen Umfange, die Politik, die Verfassung der Europäischen Länder, und sonderlich des deutschen Reichs, vornehmlich aber auch die Geschichte, diese vortreffliche Lehrerin der Klugheit für alle Stände der Menschen. Er hatte dabey die gelehrten und die meisten europäischen Sprachen gelernet. Die Schriftsteller des Alterthums waren ihm so bekannt als die neueren. Er dichtete sogar [...] Nichts aber macht ihm mehr Ehre, als seine theologische Gelehrsamkeit, von der man mit der strengsten Wahrheit sagen kann, daß sie der Person eines Gottesgelehrten würdig sey.1

Freiherr von Seckendorff verkörpert den Typus des gelehrten protestantischen »politicus practicus« zwischen dem Dreißigjährigen Krieg und dem Zeitalter der Aufklärung.2 Seckendorff war in einer Person Staatsmann und Schöngeist, Kompilator und Gesetzgeber, Historiker und Pädagoge. Theorie erwuchs bei ihm aus Praxisverbundenheit.3 Zeit seines Lebens klagte er darüber, von Pflichten absorbiert zu sein und nicht genügend Zeit für seine vielfältigen Interessen erübrigen zu können (Abb. 1). Seine Praktiken der Wissenserzeugung sind nicht zu trennen von den jeweiligen Rollen, die er im Laufe seines Lebens einnahm. Von 1646 bis 1652 war Seckendorff in Gotha als herzoglicher Bibliothekar tätig, von 1652 bis 1682 fungierte er als erster Minister zunächst in Gotha für Ernst den Frommen, ab 1664 in Zeitz für Herzog Moritz.

1 2 3

Johann Matthias Schröckh: Abbildungen und Lebensbeschreibungen berühmter Gelehrten. Bd. I, 3. Sammlung. Leipzig 1765, S. 292f. Michael Stolleis: Veit Ludwig von Seckendorff. In: Staatsdenker in der frühen Neuzeit. Hg. v. Michael Stolleis. München 1995, S.148–172, hier S. 148f. Walther Hubatsch hat hervorgehoben, dass die Gemeinsamkeit von Seckendorffs FürstenStaat mit Machiavellis Il principe und den »Politischen Testamenten« der zeitgenössischen Herrscher darin besteht, »daß es nicht Theorien bringt, sondern praxisbezogen geschrieben ist«. Nach: Horst Kraemer: Der deutsche Kleinstaat des 17. Jahrhunderts im Spiegel von Seckendorffs »Teutschem Fürstenstaat«. Darmstadt 1974 (Reprint, zuerst 1919), S. VII.

Text und Rede zwischen Pflicht und Muße

Abb. 1: Veit Ludwig von Seckendorff (1626–1696)

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Stefan Laube

Ab 1682 verbrachte er seinen Lebensabend als zurückgezogener Gelehrter auf seinem Gut Meuselwitz bei Altenburg. Wissensbiographisch bedeutet dies: 1) Als Kompilator für die Elite hatte er in der Bibliothek Gelegenheit, sein Wissen zu vertiefen und zu erweitern. Aus zahlreichen Büchern exzerpierte er das, was ihm wichtig erschien, um es in Vorträgen an Fürst und Hofstaat zu vermitteln. 2) Als Kanzler musste er in der Aneignung von Herrschafts- und Überblickswissen Generalist sein. Bezugspunkt ist dabei stets das Territorium, für das er zuständig war, bis 1664 Sachsen-Gotha, danach Sachsen-Zeitz. Dabei erschöpften sich seine Ausführungen nie im Einzelfall, vielmehr verstand es Seckendorff, im Teil das Ganze zu sehen. Schon der Titel Teutscher Fürsten-Staat legt sein weit über Sachsen-Gotha hinausgehendes typologisches Gespür frei. 3) Als Stubengelehrter auf dem Gut Meuselwitz bei Altenberg verwandelte sich Seckendorff in einen Philologen und fulminanten Kirchenhistoriker. 1692 erschien die auf authentischem Quellenmaterial beruhende, 3000-seitige Folioabhandlung, Commentarius historicus et apolegeticus de Lutheranismo (1714 in deutscher Übersetzung), nachdem er sich hunderte von Aktenpaketen der umliegenden Archive aus Weimar, Eisenach, Gotha, Altenburg und Dresden nach Meuselwitz hatte schicken lassen. In der letzten Lebensphase hatte er zudem Zeit, die Reden, die er im Laufe seiner politischen Karriere gehalten hatte und von denen viele alles andere als trockene Themen der Staatsverwaltung behandeln, zu veröffentlichen.4 Aus jedem der drei Phasen sollen nun Quellen in den Vordergrund gestellt werden, in denen sich polyhistorische Dimensionen des Seckendorff’schen Wissens abzeichnen, wobei es methodisch darauf ankommt, dem Polyhistor quasi über die Schulter zu schauen, einen möglichst unverstellten Blick auf den geistigen Kosmos seines Schreibtischs, in die Gedankenwerkstatt eines vielfältigen Autors zu werfen, der zugleich Staatsmann gewesen ist. Wie kann seine schriftstellerische Praxis genauer beschrieben werden, aus welchen Quellen schöpfte sie?

2. Seckendorff als herzoglicher Bibliothekar Seckendorff – mitten im Dreißigjährigen Krieg geboren und von Kriegsereignissen direkt betroffen5 – besuchte von 1640 bis 1642 das Gothaer Gymnasium, das sich unter der Ägide von Andreas Reyher in besonderem Maße der Realienbildung öffnete. Nach dem Studium an der Universität in Straßburg, deren im Jahr 1634 eingeführte Statuten von Praxisorientierung geprägt waren, die zu-

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Wie bei jeder Typologie sind die einzelnen Komponenten nicht trennscharf auseinander zu halten, d.h. Seckendorff war stets auch in Phase 2 und 3 als Bibliothekar tätig, in Phase 1 und 3 als Politiker sowie in Phase 1 und 2 als Gelehrter. Sein Vater, Joachim Ludwig v. Seckendorff, war 1642 als Oberst unter dem Verdacht verräterischer Beziehungen zu den Kaiserlichen in Salzwedel enthauptet worden.

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gleich eine Abwendung vom orthodoxen Schul-Aristotelismus bedeuteten,6 wurde Seckendorff bereits als Neunzehnjährigem eine Position am Gothaer Hof offeriert. Herzog Ernst, der als »der Fromme« in die Geschichte einging und der Seckendorffs Begabung früh erkannte, ernannte ihn zum Aufseher seiner ansehnlichen Bibliothek. Für Seckendorff bedeutete dies, nun Literaturstudien zu betreiben und Exzerpte anzufertigen, um sie dem Herzog vorzutragen. Auf eine fundierte Bildung als Voraussetzung konnte Veit Ludwig, Spross eines weit verzweigten fränkischen Adelshauses, verweisen. Schon als Fünfjähriger hatte er Schreiben und Lesen gelernt, wenig später auch Griechisch, Hebräisch, Französisch, Mathematik und Rhetorik; mit elf Jahren verfasste er lateinische Oratiunculas per omnia genera. Es hieß, dass die »Fähigkeit seines kopfes« damals »bey jedermann große Verwunderung, auch bey Herrn Herzog Ernst von Sachsen/ [...] damals in Weymar« erweckte.7 Die Bibliothek in der neu errichteten Residenz Schloss Friedenstein war für Herzog Ernst den Frommen, erster Regent des 1640 entstandenen Staatswesens Sachsen-Gotha, weitaus mehr als eine persönliche Liebhaberei, vielmehr steckte in ihr ein schier unerschöpfliches Potenzial von Kenntnissen und Erfahrungen, auf deren Grundlage es möglich war, einen Kleinstaat, dem eine eigenständige Außenpolitik verwehrt blieb, auf Augenhöhe mit größeren Staaten zu bringen. Seit 1647 vervollständigte Herzog Ernst durch kontinuierlichen Ankauf von Neuerscheinungen auf den damals wichtigsten Messe- und Verlagsplätzen den Bücherbestand.8 Untergebracht war die Bibliothek im Residenzschloss Friedenstein, das Herzog Ernst zwischen 1643 und 1655 in gewaltigen Ausmaßen auf dem wüsten Burgberg oberhalb der Stadt errichten ließ. Es war nicht nur Wohnsitz der fürstlichen Familie, ausgestattet mit allen für eine Hofhaltung notwendigen Räumlichkeiten, sondern vereinte unter einem Dach auch sämtliche für eine Residenz erforderlichen Einrichtungen, von den Lokalitäten für die Landesverwaltung bis hin zum Zeug- und Reithaus, vom Theater, der Kunst- und Wunderkammer bis zur Bibliothek. In seiner Konzeption deutet Schloss Friedenstein die Umsetzung der Utopie an, wie sie Johan Valentin Andreae (1586– 1654) in seiner Christianapolis ein halbes Jahrhundert zuvor entworfen hatte (Abb. 2).

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Stolleis (wie Anm. 2), S. 150. »Personalia« in den Klage- und Traurerreden (Zeitz 1693, S. 158), nach: Kurt Wöhe: Veit Ludwig von Seckendorff. Ein Staatsmann und Gelehrter des 17. Jahrhunderts. Zeitz 1957, S. 6. Juliane Ricarda Brandsch: Die Friedensteinische Kunstkammer Herzog Ernst I. des Frommen von Sachsen-Gotha und Altenburg (1601–1675). In: Ernst der Fromme (1601– 1675). Bauherr und Sammler. Katalog zum 400. Geburtstag Herzog Ernsts I. von SachsenGotha und Altenburg. Hg. v. Gotha Kultur. Bucha bei Jena 2001, S. 21–29, hier S. 23.

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Abb. 2: Johann Valentin Andreae: Reipublicae Christianapolitanae descriptio (1619)

Die Sammlungsräume von Kunst- und Wunderkammer und Bibliothek befanden sich in den oberen Geschossen des Westturms (Abb. 3a/3b) und damit in unmittelbarer Nachbarschaft, ohne tatsächlich eine räumliche Einheit zu bilden.9 Hier ordnete und katalogisierte Seckendorff den Buchbestand neu, indem er ihn bestimmten Wissensgebieten zuordnete.10 Die Wissensfelder waren aufgeteilt in

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Marc Rohrmüller: Schloss Friedenstein: Architektur – Distribution – Ausstattung. In: Ernst der Fromme (1601–1675) (wie Anm. 8), S. 11–19, hier S. 11; Jörg-Ulrich Fechner: Die Einheit von Bibliothek und Kunstkammer im 17. und 18. Jahrhundert, dargestellt an Hand zeitgenössischer Berichte. In: Öffentliche und private Bibliotheken im 17. und 18. Jahrhundert. Hg. v. Paul Raabe. Bremen 1977, S. 11–31. Als Seckendorff in die Rolle eines Kompilators für die Elite schlüpfte, war die Kunstkammer noch nicht eingerichtet. Nach den überlieferten Inventaren ist von ihr erstmals 1643/54 die Rede. Dietrich Blaufuß: Seckendorff, Veit Ludwig von (1626–1692). In: Theologische Realenzyklopädie 30 (1999), S. 719–727, hier S. 720.

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a) Bibeln, Kirchenväterliteratur, b) Theologische, auch papistische und kalvinistische Schriften, c) Historische Schriften, d) philosophische sowie e) politische, juristische und medizinische Schriften. Geordnet wurde also nach den Sachgebieten des damaligen Wissenschaftsverständnisses (Theologie, Jurisprudenz, Historie, Philosophie und Medizin). Eine handschriftliche Aufstellung von Veit Ludwig von Seckendorff aus dem Jahr 1657, der als erster Standortkatalog bezeichnet werden kann, zeigt im tabellarischen Aufriss die einzelnen Regalgefache (Abb. 4).11 Noch in der Anlage gibt er die Einrichtung der Bibliothek wieder: der Raum im oberen Geschoss des Westturms (erst seit 1687 befindet sich die Bibliothek im Ostturm) war raumhoch mit Regalen ausgestattet, welche dreifach vertikal unterteilt waren.

Abb. 3a: Grundrissplan des Schlosses Friedensstein, Erstes Stockwerk (1667)

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Thüringisches Staatsarchiv Gotha, Geheimes Archiv MMM III 2–7, nach: Ernst der Fromme. (1601–1675). Staatsmann und Reformer. Wissenschaftliche Beiträge und Katalog zur Ausstellung. Hg. v. Roswitha Jacobsen und Hans-Jörg Ruge. Bucha bei Jena 2002, S. 402; vgl. zur Quellengattung Paul Raabe: Bibliothekskataloge als buchgeschichtliche Quellen. Bemerkungen über gedruckte Kataloge öffentlicher Bibliotheken in der frühen Neuzeit. In: Bücherkataloge als buchgeschichtliche Quellen in der frühen Neuzeit. Hg. v. Reinhard Wittmann. Wiesbaden 1984, S. 275–299.

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Abb. 3b: Grundrissplan des Schlosses Friedensstein, Ausschnitt

Abb. 4: Der erste Bibliothekskatalog, Blatt mit tabellarischem Aufriss der einzelnen Regalgefache, Veit Ludwig von Seckendorff (1657)

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Die Regalsegmente verfügten jeweils über fünfzehn Gefache, die in ihrem Abstand variierten, da die Bücher nach ihrer Größe aufgestellt wurden. Das tabellarische Verzeichnis ist in 45 (3x15) Felder eingeteilt, wobei man in jedes Kästchen jene Titel eintrug, die sich im dazugehörigen Regalfach befanden. Leere Fächer oder solche, in denen rohe Materialien oder Manuskripte lagen, wurden entsprechend gekennzeichnet. Die Hauptaufgabe Seckendorffs bestand nun darin, aus bestimmten Büchern für Fürst und Hofstaat »das Nützliche und Interessanteste«12 herauszufiltern; eine kaum zu überbietende Gelegenheit also, sich ebenso intensiv wie interdisziplinär fortzubilden. Dementsprechend beschäftigte er sich mit Staatswissenschaft, Geschichte, Geographie, Mathematik und neueren Sprachen, erweiterte sein Wissen in Genealogie, Geographie und Mathematik und eignete sich nun vom Griechischen, Französischen, Hebräischen und Lateinischen ausgehend auch das Spanische, Italienische, Dänische und Schwedische an. Ernst der Fromme ließ also den jungen Seckendorff studieren, aber nicht mehr unter dem Dach der Universität, sondern an seinem Hof und damit unter seiner Kontrolle. Für den jungen Seckendorff stand das außergewöhnliche Privileg, fast wie ein Privatgelehrter forschen zu können, unter dem Vorbehalt, sich den Interessen des Herzogs unterwerfen zu müssen. Jenseits weltfremder Schulgelehrsamkeit weckte der Herzog in Seckendorff eine Wissenserzeugung, die aus gesetzten Interessen schöpfte und deren wichtigstes Kriterium wohl darin bestand, auch umgesetzt werden zu können.13 Auch die Lesefrüchte, die Seckendorff in sonntäglichen Mußestunden oder auf Reisen dem Fürsten zum Besten gab, waren Resultat seiner raschen Auffassungsgabe und seiner Fähigkeit, das Wichtige vom Unwichtigen zu scheiden. Für Seckendorff ging es darum, die Welten des Wissens auszuloten und auf das einzugrenzen, was für das Funktionieren eines reformorientierten Staatsgebildes von Bedeutung war. Der pejorative Begriff eines Polyhistors als Bezeichnung eines vielwissenden Gelehrten, für den die Bibliothek zum Selbstzweck geworden ist,14 kann somit nicht auf Seckendorff angewandt werden. Den Bücherregalen näherte er sich wohl nie ohne vorgängige Relevanzvorstellungen, stellte er sich doch vornehmlich die Aufgabe, das für ein Gemeinwesen Nützliche zu exzerpieren. Dennoch bestand für Seckendorff in seiner Vortragstätigkeit für den Herzog hin und wieder auch die Möglichkeit, sich einen Spielraum zweckfreien Wissens zu erobern. So konnte er in einem 1649 entstandenen, erst 1702 veröffentlichten Gelegenheitsgedicht seine ausgeprägte Naturwahrnehmung zum Thema machen. Aus Anlass der Einrichtung einer Unterkunft auf dem Inselsberg im Thüringer Wald hatte Veit Ludwig Verse verfasst, in denen er den beschwerlichen, aber lohnenden Aufstieg auf 12 13 14

Theodor Kolde: Seckendorff, Veit Ludwig von. In: Allgemeine Deutsche Biographie 33 (1891), S. 520. Roswitha Jacobsen: Die Brüder Seckendorff und ihre Beziehungen zu Sachsen-Gotha. In: Ernst der Fromme (1601–1675) (wie Anm. 11), S. 95–121, hier S. 97f. Zu Polymathie und Polyhistorie des Bibliothekars: Helmut Zedelmaier: Bibliotheca universalis und Bibliotheca selecta. Das Problem der Ordnung des gelehrten Wissens in der frühen Neuzeit. Köln, Weimar, Wien 1992, S. 286–309.

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den Berg, der »mit der schönen Spitz biss an die Wolcken langen« kann, ebenso schildert wie die schönen Ausblicke auf Täler und auf Höhen, die sich dem Wanderer auf dem Rennsteig eröffnen.15

3. Seckendorff als Staatsmann und Politiker Seckendorff hätte keine Karriere machen können, wenn er sich nicht zuvor Wissen im Dienste der Bedürfnisse eines jungen Staatswesens angeeignet hätte. Auf dieser Grundlage verschaffte er sich – zum Landschaftsdirektor aufgestiegen – einen kompetenten Überblick über das gesamte Steuer- und Verwaltungssystem des Herzogtums. Zudem verfasste er bald über politische, kirchliche und schulische Angelegenheiten wichtige Verordnungen und Gesetze. Auch in seinen Reden sowie in seinen öffentlichen Schriften glänzt er mit Herrschaftsund Ordnungswissen. Sein 1656 erstmals in Frankfurt am Main publizierter Teutscher FürstenStaat sollte in den Territorien des Reiches schon bald zum Standardwerk der Verwaltungslehre aufsteigen, eine – wie Christian Thomasius später sagte – »kurz gefaßte wohl gegründete Lehre, wie die Götter dieser Welt und ihre Rathgeber das Regiment klug und weislich, zu ihrer selbst eigenen Ruhe und zum Vergnügen ihrer Unterthanen fuhren sollen«.16 Das Buch erschien bis 1754 nicht weniger als in zwölf Auflagen. Nach dem Urteil Rankes war der FürstenStaat »das zur Zeit des Großen Kurfürsten beliebteste Handbuch der deutschen Politik«.17 Seckendorffs Idealbild bestand in einer maßvollen Herrschaft auf Grundlage des christlichen Konsenses,18 da ihm »in allen sachen, die mittelstraße am besten«19 erschien. Mit dem Fürsten-Staat präsentierte Seckendorff ein Format zwischen Fürstenspiegel und Handbuch, das für die Praxis zu vermitteln sucht.20 Das mit der Zeit auf gut 1100 Oktavseiten angewachsene, seit der dritten Auflage durch »Additiones« vermehrte Lehrbuch beruht dem Titel nach auf einer juristisch-politologischen Verallgemeinerung. Aber diese Abstraktion war Folge eines gesättigten Blicks auf die politische Realität. Die Entstehung dieses Werkes fällt in die Zeit, in der das Ratskollegium, dem Seckendorff angehörte, 15 16

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Nach Wöhe (wie Anm. 7), S. 24. Christian Thomasius: Klag- und Trauerrede, welche, als der Cörper des Cantzlers von Seckendorff nach Meuselwitz am 29. Decembris 1692 abgefuhret wurde, öffentlich gehalten. Halle 1693. In: Ders.: Allerhand bissher publicirte Kleine Teutsche Schriften etc. Halle 1701, S. 498ff. Leopold von Ranke: Neun Bücher Preußischer Geschichte. Bd. 1. Berlin 1847, S. 54. Stolleis (wie Anm. 2), S. 155. Veit Ludwig von Seckendorff: Teutscher Fürsten Stat: oder, gründliche und kurtze Beschreibung, welcher Gestalt Fürstenthümer, Graff- und Herrschafften im H. Römischen Reich Teutscher Nation, welche Landes-fürstliche unnd hohe obrigkeitliche Regalia haben von Rechts unnd löblicher Gewonheit wegen beschaffen zu seyn [...]. Hanau 1654, Vorrede. Stolleis (wie Anm. 2), S. 152f.

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die große Landesordnung von Sachsen-Gotha ausarbeitete. Was dort praktisch zu ermitteln und zu regeln war, nämlich die herrschaftliche Durchdringung und Organisation eines kleinen Staates, wird im Fürsten-Staat abstrahiert und systematisiert, eben repräsentativ zur Darstellung gebracht.21 Landesordnung und Fürsten-Staat verhalten sich somit wenigstens partiell wie Praxis und Theorie. Das gesamte Wissen, das zur Erstellung der Landesordnung über historische Entstehung, Bevölkerung, Wirtschaftsverhältnisse, Verwaltung, Gesetzgebung und Justiz von Sachsen-Gotha gesammelt werden musste, ist im Fürsten-Staat in eine leicht abrufbare Wissensform gegossen. Sachsen-Gotha war das wichtigste der drei ernestinischen Herzogtümer und galt vor allem im Kirchen- und Schulwesen22 als ein Vorbild für alle anderen Kleinstaaten lutherischer Konfession. So bezeichnete Seckendorff sein Werk einleitend als »unverfängliches Modell«, als »bericht«, der sich »auf alle, oder die meisten teutscher Fürstenthümer und herrschaften schickte und bequemte«.23 Und in der Vorrede hebt er hervor: Das absehen oder gleichsam das Muster eines Fürstenthums, hab ich weder allzuhoch und weitläuffig, noch allzugering unnd enge nehmen wollen, [...] Gleichwol vermeine ich ohnschwer zu seyn, die Verenderung oder Apllication auff ein größers und oder kleiners zu machen [...].24

Seckendorff begann seine Abhandlung mit einem deskriptiven Teil, worin er ganz konkret aus der Bestandsaufnahme durch die Landesordnung schöpfte. Es erschien ihm selbstverständlich, vor der Erörterung über die Art und Weise jeder Regierungstätigkeit Informationen über den status quo von Land und Leuten, Wirtschaft und Finanzen zu vermitteln. Das Bedürfnis, nach den Verwerfungen des Krieges zunächst einmal Bilanz zu ziehen, war damals stark ausgeprägt. Der Mittelteil des Fürsten-Staates ist der eigentlichen Regierungstätigkeit in seinen beiden hoheitlichen Funktionen – weltlich und geistlich – gewidmet. Im abschließenden dritten Teil wird das monetäre Fundament des Ganzen behandelt.25 In drei ungleichen Teilen geht es also um die Beschreibung des Landes, um Regierung und Verfassung sowie um die Finanzierung. Der Fürst agiert wie ein Hausvater in einem überschaubaren Gemeinwesen, wobei große wirtschaftliche Unternehmungen skeptisch beurteilt werden, da sie nur ein unruhiges Gewissen verursachen. Die christliche Moral gilt auch in der Politik unbedingt, Zugeständnisse um der Staatsräson willen soll es nicht geben. Eine

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Jens Wilhelm Stahlschmidt: Policey und Fürstenstaat. Die gothaische Policeygesetzgebung unter Herzog Ernst dem Frommen im Spiegel der verfassungsrechtlichen und policeywissenschaftlichen Anschauungen Veit Ludwig von Seckendorffs. Bochum 1999, S. 16f. 1642 wurde die allgemeine Schulpflicht eingeführt; Andreas Braem: Der gothaische Schulmethodus. Eine kritische Untersuchung über die ersten Spuren des Pietismus in der Pädagogik des 17. Jahrhunderts. Berlin 1897. Seckendorff 1654 (wie Anm. 19), S. 5. Ebd., Vorrede. Michael Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Bd. 1. München 1988, S. 352.

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Trennung von Politik und Ethik, wie sie Niccolò Machiavelli vorschlug, kommt für Seckendorff nicht in Frage.26 Bereits in seinem Fürsten-Staat tritt Seckendorff mit besonderem Nachdruck für die Verwendung der deutschen Sprache ein: »Sehr gerne hette ich mich auch etlicher lateinischer Worte massigen, und alles Teutsch geben wollen«. (Vorrede). Auch in seinen Teutschen Reden (1686), einer Sammlung von öffentlichen Reden, die er als Politiker hielt, wird deutlich, dass es Seckendorff ein Anliegen ist, mit der Muttersprache stilsicher umzugehen. »Euere Rede sey allezeit lieblich, und mit Saltz gewürtzet«, so lautete das aus der Bibel überlieferte Motto seiner Schrift (Kol 4,6), die 58 Reden versammelte. Reden vor Publikum stellen ein zentrales Moment der Seckendorff’schen Wissensvermittlung dar. Das öffentlich gesprochene Wort war im Barock unerlässlicher Bestandteil inszenierter Politik.27 Wenn auch Seckendorffs Distanz zu Zeremonien und höfischer Prachtentfaltung bekannt ist, bleiben dessen Reden in zeremonialen Kontexten eingebettet.28 Im Reden hatte sich Seckendorff schon üben können, als er seinem Dienstherrn neue Buchinhalte zu memorieren hatte. Seckendorffs Reden dienen weder der Selbstinszenierung des Redners noch der rhetorischen Prachtentfaltung. Vielmehr verfolgt der »Natürliche Einfalt«29 einfordernde Freiherr die Absicht, über das schlicht ausgesprochene Wort politisch-ethische Ziele transparent zu machen, indem er z.B. über das rechte Handeln der Fürsten und Räte reflektiert. Die Reden – durchaus mit Predigten vergleichbar30 – gehen über Marginalien weit hinaus. Wie in Fürstenspiegeln und Beamtenethiken steht das Harmonie-Ideal, das gute Einvernehmen zwischen Fürst und Landständen im Zentrum. Um dieses Ziel zu erreichen, verstand Seckendorff es durchaus, polyhistorisch zu agieren. In gewisser Weise bediente er sich mit diesen Reden einer oralen Buntschriftstellerei, die Wissenswertes aus unterschiedlichen Sachgebieten in ›bunter‹ Form dem Zuhörer präsentiert. Über Hieroglyphen31 und die vermeintliche Göttlichkeit Alexander des Großen32 sprach er ebenso wie zur Frage, ob 26 27

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Stolleis (wie Anm. 2), S. 157f. Miloš Vec: Nachwort. In: Veit Ludwig von Seckendorff, Teutsche Reden und Entwurff von dem allgemeinen oder natürlichen Recht nach Anleitung der Bücher Hugo Grotius’ (1691). Hg. v. Miloš Vec. Tübingen 2006, S. 1–82, hier S. 42–63; Georg Braungart: Studien zur Praxis höfisch-politischer Rede im deutschen Territorialabsolutismus. Tübingen 1988; vgl. zur Quellengattung Ulrich Baumgärtner: Rede als historische Quelle. Anmerkungen zu neueren Publikationen zur politischen Rede und zum historiographischen Umgang mit rhetorischen Texten. In: Historisches Jahrbuch 122 (2002), S. 557–595. In seiner Sammlung begegnen dem Leser mehr als ein Dutzend Neujahrsansprachen, mehrere Reden an die Stände, zahlreiche Reden, wenn neue Amtsträger verpflichtet wurden, hinzugezählt müssen noch Brautwerbungen und Huldigungen. Vec (wie Anm. 27), S. 54. Ebd., S. 53. Neu Jahrs-Wunsch 1668, aus: Veit Ludwig von Seckendorff, Teutsche Reden: Welche er Von An. 1660. biss 1685. in Fürstl. Sächs. respective Geheimen Raths- und CantzlarsDiensten theils zu Gotha, mehrenteils aber zu Zeitz oder als Landschaffts-Director zu Altenburg [...] abgelegt [...]. Leipzig 21691, S. 23ff. 25. April 1671, Brautwerbung, aus: Seckendorff (wie Anm. 27), S. 339.

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Bienenhonig in toten Körpern wirkt.33 In der Neujahrsansprache 1672 trug Seckendorff über den von Caesar reformierten Kalender vor,34 acht Jahre später über die Jahreszählung nach Christi Geburt.35 Zudem setzte er sich mit einem Mönch namens Fazellus auseinander, der die Existenz von Riesen propagierte.36 Mehrmals machte er die alten Ägypter zum Thema.37 Auch die Frage, warum Eisen von den Indianern höher eingeschätzt werde als Gold, behandelte Seckendorff in einer seiner Reden.38 Dabei entwickelte er eine Findigkeit, aus Naturphänomenen Metaphern der Staatskunst abzuleiten. Zum Jahresbeginn 1666 sprach der Kanzler darüber, was die »Naturkundigen« über den Vogel Phönix zu berichten wissen.39 Die prächtigen Federn des Fabelwesens deutete Seckendorff als den hohen Stand und die Tugend, zudem als die »ersprießliche Hoffund Haushaltung« des Fürsten.40 Die Neujahrsansprache für 1669 macht das Licht zum Thema, mit der Quintessenz, dass die Obrigkeit als politische »Sonne« fungiere. Selbst die absonderlichsten Erscheinungen aus der Natur wusste Seckendorff auf die Regierungspraxis eines Fürsten zu beziehen. So trügen die wunderlichsten menschlichen Gestalten, wie bei Sebastian Münster und anderen überliefert,41 einen Kopf auf ihrem Haupt, »also wäre ein Politischer Leib ohne Haupt ein Ungeheuer«.42

4. Seckendorff als Stubengelehrter Das letzte Jahrzehnt – 1682–1692 – verbrachte Seckendorff auf seinem Gut in Meuselwitz, das er wenige Jahre zuvor erworben hatte. Dort, wo er kurz zuvor ein Schloss errichten ließ, war er erstmals befreit von aufreibenden Amtspflichten, wenn er auch weiterhin altenburgischer Landschafts- und Steuerdirektor blieb. Wie die in dieser Zeit erschienenen drei Werke Christenstaat, Teutsche Reden und Commentarius historicus et apologeticus de Lutheranismo belegen,

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20.10.1686, Leichenbegängnnis, Fürst Johann Georg, Herzog von Sachsen, aus: Seckendorff (wie Anm. 27), S. 505f. Ebd., S. 59f. Ebd., S. 132ff Ebd., S. 112ff. Was wollen sie mit dem Bild des Phönix aussagen, wie verfahren sie mit den Leichnamen ihrer Könige? Seckendorff (wie Anm. 27), S. 18, S. 119. 26.11.1671: Rede, vor der Publication des Stiffts-Tags Abschieds zu Moritzburg an der Elster, aus: Seckendorff (wie Anm. 27), S. 160. Ebd., S. 18ff. Braungart (wie Anm. 27), S. 277f. »Sie sagen von Riesen und Zwergen, von Leuten, die Hunds-Köpffe gehabt, von andern, die nur ein Auge mitten in der Stirn oder den Kopff und Angesicht zwischen den Achseln gehabt. Aber so ungereimt hat keiner getichtet, daß Menschen ohne Kopf wären«. Seckendorff (wie Anm. 27), S. 156. Ebd.

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erwies sich diese Phase trotz seiner angegriffenen Gesundheit – er wurde von Nierenleiden geplagt – wissenschaftlich und literarisch als überaus fruchtbar.43 Seckendorff war nicht nur Vollblutpolitiker,44 in ihm steckte von Anfang an auch die Dimension eines Forschers. Michael Stolleis hat sein »intellektuelles Ungenügen an der Praxis, das ihn ständig zur Wissenschaft drängte«, betont.45 In Meuselwitz konnte er sich nun neue Gebiete erschließen, von der Reformationsgeschichte bis zur antiken Dichtung. Hier übersetzte und kommentierte er Gedichte von Lucanus.46 Zudem veröffentlichte er seine Reden, die er in Amt und Würden gehalten hatte und betätigte sich als eifriger Rezensent für die 1682 in Leipzig gegründeten Acta eruditorum. Aber im Zentrum stand seine Entpuppung zu einem der bedeutendsten Kirchenhistoriker seiner Zeit. Auf 3000 FolioSeiten behandelte er die Reformationsgeschichte am Leitfaden des Lebens Martin Luthers. Vorrangiges Medium der Wissensgenerierung auf dem abgeschiedenen Gut war der Briefwechsel. Mit den bedeutendsten Männern seiner Zeit korrespondierte er, so mit Pufendorf, Leibniz, Spener, Francke, Cellarius: »Aller gelehrten und vornehmen Hoffleute augen waren auf ihn gerichtet, so gar, daß viele, um nur diesen großen Mann zu sehen, eine reise dahin thaten«.47 Bis in seine Jugend habe seine Vorliebe für die »sacra studia« zurückgereicht, so Seckendorff im Jahr 1684 gegenüber dem berühmten Wittenberger Theologen Abraham Calov. Während seiner höfischen Verpflichtungen habe er dieses Interesse dann nur noch sporadisch – meist über seinen Briefwechsel – pflegen können.48 Von Überdruss erfüllt und »exhaustus« – ausgelaugt – durch seinen mehr als dreißigjährigen Hofdienst, wolle er sich im Alter daher mit wichtigeren und würdigeren – »potius et dignius« – Fragen beschäftigen.49 Zunächst legte er, angeregt durch Leibniz sowie durch Pascals Pensées sur la religion (1670), mit dem Christenstaat eine religiös fundierte Sozial- und Staatsethik vor. Das in enger Zusammenarbeit mit Philipp Jakob Spener entstandene, 1685 in Leipzig erschienene Werk ist von einer scharfen Kritik an kirchlichen und kirchenrechtlichen Gegebenheiten bestimmt. Seckendorffs Ausgangspunkt ist das Ideal eines praktischen Christentums, das Vorstellungen des Pietismus vorwegnimmt, wenn auch das von ihm geforderte staatlich korrigierende Eingreifen von pietistischen Theologen nicht geteilt werden sollte.50 43 44

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Blaufuß (wie Anm. 10), S. 721. Detlef Döring: Untersuchungen zur Entstehung des »Christenstaates« von Veit Ludwig Seckendorff. In: Europa in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Günter Mühlpfordt. Bd. 1. Hg. v. Erich Donnert. Weimar, Köln, Wien 1997, S. 477–500, hier S. 478. Stolleis (wie Anm. 2), S. 168f. Das dazugehörige Buch erschien erst 1695. Johann C. Dreyhaupt: Ausführliche Diplomatische historische Beschreibung des Saalcreyses. Bd. 2. Halle 1750, S. 6ff.; nach Wöhe (wie Anm. 7), S. 8. Brief an Abraham Calov, 3.3.1684, Thüringisches Staatsarchiv Altenburg, Seckendorff’sches Familienarchiv, Nr. 1062, Bl. 2456, Entwurf, nach: Döring (wie Anm. 44), S. 479, Anm. 16. Brief an den Leipziger Theologen August Pfeiffer, 4.10.1682, Thüringisches Staatsarchiv Altenburg, Seckendorff’sches Familienarchiv, Nr. 1062, Bl. 231, Entwurf. Döring (wie Anm. 44).

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Wie ist der Commentarius historicus et apologeticus de Lutheranismo entstanden? Ursprünglich sollte dieses kapitale Werk nichts anderes darstellen als eine Widerlegung der antiprotestantischen Streitschrift Histoire du Luthéranisme (1680) des französischen Jesuiten Louis Maimbourg. Diese Schrift war für Seckendorff der Impuls, eine derartige Fülle urkundlicher Materialien zu versammeln, dass man, »so lange man Reformationsgeschichte schreiben wird, den Namen seines Verfassers immer mit Ehren nennen wird« (Theodor Kolde).51 Die Notwendigkeit, die Histoire du Luthéranisme zu widerlegen, erkannte Seckendorff sofort, doch sah er darin nicht eine Aufgabe für sich selber, sondern für Theologen.52 Als er sich zu Beginn des Jahres 1682 auf sein Gut Meuselwitz zurückzog, musste er aber zur Kenntnis nehmen, dass sich noch kein Theologe dieser Sache angenommen hatte. Ende 1681, mit dem Tod des Herzogs Moritz von Sachsen-Zeitz, war endlich die Situation gegeben, diese Lücke selbst zu füllen und eine systematische Widerlegung in Angriff zu nehmen. Tatsächlich hielt keine Geringerer als Leibniz dafür niemanden für so geeignet als den Staatsmann Seckendorff. Als der Freiherr verkündete, dass er diese Aufgabe nur auf sich nehme, da niemand ihn davon abhalte und da Dogmatisches kaum berührt werde, ermutigte ihn Leibniz zu dieser Arbeit, denn: Luther zu verteidigen, sei eher Sache eines Politikers als eines Theologen; zudem sei er davon überzeugt, Seckendorff besitze neben seiner Gelehrsamkeit »auctoritate et fide apud exteros etiam superiori«,53 was man Theologen nicht unbedingt nachsagen könne.54 Seckendorff hatte also ursprünglich keine eigene, abgerundete Reformationsgeschichte im Sinn, vielmehr ging es ihm darum, Irrtümer einer schon bestehenden Abhandlung zurückzuweisen. Seine Motivation schöpfte nicht zuletzt aus dem Impetus, das Bild der sächsischen Kurfürsten aus der Kampfzone verzerrender Polemik in sachliches Fahrwasser zu lenken. Im Zentrum des Werks steht historische Beweisführung, d.h. archivalische Grundlagenforschung, der Maxime entsprechend, dass die Auswertung von Urkunden und vergleichbaren Dokumenten eine möglichst objektive Geschichtsschreibung gewährleiste.55 51

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Realenzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche. Bd. 14. Leipzig 21884, S. 12; vgl. auch Solveig Strauch: Veit Ludwig von Seckendorff (1626–1692). Reformationsgeschichtsschreibung – Reformation des Lebens – Selbstbestimmung zwischen lutherischer Orthodoxie, Pietismus und Frühaufklärung. Münster 2005, S. 11–15; Dietrich Blaufuß: Der fränkische Edelmann Veit Ludwig von Seckendorff (1626–1692) als Reformationshistoriker. In: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 36 (1976), S. 81–91. Seckendorff an Gottfried Wilhelm Leibniz, 21. Januar 1684, nach: Gottfried Wilhelm Leibniz. Akademie-Ausgabe. Allgemeiner politischer und historischer Briefwechsel. Bd. 4. Berlin 1950, S. 456. Ebd., S. 461. Gottfried Wilhelm Leibniz an Seckendorff, Anfang April 1684, nach: Leibniz (wie Anm. 52), S. 461; zur Korrespondenz mit Leibniz siehe auch Dietrich Blaufuß: Veit Ludwig v. Seckendorfs »Commentarius de Lutheranismo« und der Beitrag des Augsburger Seniors Gottlieb Spizel. In: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 39 (1970), S. 138–164, 269–276, hier S. 144–147. Ausführlich darüber Anneliese Wolf: Die Historiographie Veit Ludwigs von Seckendorff nach feinem »Commentarius Historicus et Apologeticus de Luteranismo«. Leipzig 1926

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Noch Franz Schnabel sollte die Authentizität von Seckendorffs Quellenbasis hervorheben: An Stellen dieser Art heftet sich das Gegenwartsinteresse, das wir noch heute für Seckendorff haben. Denn die Erörterungen über die Lehre [...] sind heute längst überholt oder durch moderne wissenschaftliche Kontroversen vertieft; aber das authentische Material, das Seckendorff zur äußeren und politischen Geschichte der Zeit mitteilt, ist im Weimarer Archiv heute vielfach nicht mehr zu finden, so daß wir in solchen Fällen veranlaßt sind, immer wieder auf Seckendorff zurückzugreifen.56

Hunderte von Aktenpaketen ließ Seckendorff sich von einem extra beauftragten Fuhrunternehmen aus den Archiven in Weimar, Eisenach, Gotha, Altenburg und Dresden nach Meuselwitz schicken.57 Der Respekt vor seiner Leistung wird noch größer, wenn man bedenkt, dass er über keinen Assistenten verfügte. Er hätte auch niemanden gebrauchen können, da er selbst entscheiden musste, was aus den Akten für seine Arbeit zu verwenden war.58 Die Arbeit für den Commentarius historicus et apolegeticus de Lutheranismo erstreckte sich über ein Jahrzehnt. Heraus kam ein gewissenhaftes Werk ohne Voreingenommenheit. Nicht ohne Grund empfahl Leibniz das Werk auch Katholiken zur Lektüre.59 Mit Begeisterung reagierte der Universalphilosoph, als Seckendorff sein Werk fertig gestellt hatte – es war für 4 Taler zu haben, allein in Zeitz lagen 79 Bestellungen vor.60 Er bedauerte nur, dass er sich in seiner Gliederung vom eher mediokren Maimbourg hat leiten lassen. Seckendorff schöpfte sein Reformationswissen nicht nur aus Akten, sondern auch aus einer umfangreichen gelehrten Korrespondenz.61 Sie stellte das Medium dar, auch in Details seiner Darstellung größtmögliche Präzision zu erreichen.62 Zum Netz seiner Briefpartner gehörten Professoren und Pfarrer ebenso

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(Diss. M.-Schr.). Seckendorff hatte den Umgang mit Quellen und Geschichtsschreibung bereits in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges von seinem Lehrer Johann Heinrich Boecler an der Universität Straßburg erlernt, der vom französisch-niederländischen Späthumanismus geprägt war. Für seinen Schüler war es deshalb selbstverständlich, dass Geschichtsschreibung beweisbar sein, d.h. auf Quellen beruhen müsse. Franz Schnabel: Deutschlands geschichtliche Quellen und Darstellungen in der Neuzeit. 1. Teil. Leipzig 1931, S. 284. Wolf (wie Anm. 55), Anhang 4, Nr. 5, S. 23; Blaufuß (wie Anm. 54), S. 140f. Hin und wieder schrieb sein zwölfjähriger Neffe Heinrich einige Seiten für ihn ab. Leibniz an den Landgraf Ernst von Hessen-Rheinfels, 27.11.1691, nach: Gottfried Wilhelm Leibniz. Akademie-Ausgabe. Allgemeiner politischer und historischer Briefwechsel. Bd. 7. Berlin 1964, S. 203. Leibniz an Seckendorff, 27.12.1691, nach: Leibniz (wie Anm. 59), S. 495–499. »Die Kritiken [...] waren ebenfalls im Brief enthalten. So war eine weitreichende Korrespondenz für den damaligen Gelehrten ungleich wichtiger als heutzutage«. Georg Steinhausen: Geschichte des deutschen Briefes. Dublin 1968, S. 174; siehe auch: Monika Ammermann: Gelehrten-Briefe des 17. und frühen 18. Jahrhunderts. In: Gelehrte Bücher vom Humanismus bis zur Gegenwart. Hg. v. Bernhard Fabian und Paul Raabe. Wiesbaden 1983, S. 81–96. Strauch (wie Anm. 51), S. 11–15. Die Korrespondenz zum Commentarius de Lutheranismo ist in einem Aktenband gesammelt, Thüringisches Staatsarchiv Altenburg, Seckendorff’sches Familienarchiv, Nr. 1068, Bl. 27r–323r, (1683–1692).

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wie Archivare und Bibliothekare. Seckendorff stellte in seinen Briefen den Korrespondenzpartnern konkrete Fragen, die in Verbindung zu seinem Buch standen und äußerte sich zu Kritiken, die an ihn gerichtet wurden.63 Seine Briefpartner ermutigten ihn zu seinem Vorhaben und versahen ihn mit den gewünschten Materialien oder berichteten, welche Quellen sie zu der Reformationsgeschichte entdeckt hatten. Am Briefwechsel Seckendorffs wird auch seine aversive Einstellung gegen Spiritualismus und Philosophie deutlich, gegen Schwärmertum und Mystizismus sowie den Rationalismus; weder mit René Descartes noch mit Jakob Böhme konnte Seckendorff viel anfangen.64 Da nur wenige Theologen der französischen Sprache mächtig waren, musste Maimbourgs Buch übersetzt werden, sollte es gründlich und nachvollziehbar widerlegt werden. Obwohl gleich zu Beginn von Seckendorffs Arbeit am Commentarius Stimmen laut wurden, die vorschlugen, er solle sein Werk lieber ins Deutsche als ins Lateinische übertragen, erschien erst 1714 eine von Elias Frick herausgegebene Übersetzung unter dem Titel Ausführliche Historie des Lutherthums, Und der heilsamen Reformation, Welche der theure Martin Luther binnen dreyßig Jahren glücklich ausgeführet, wodurch Seckendorffs Opus in deutschen Landen einem größeren Leserkreis zugänglich gemacht werden konnte.65 Seckendorff selber entschied sich mit dem Lateinischen hingegen für die angestammte Sprache der Wissenschaft, denn er wollte im Ausland, insbesondere auch in Frankreich, rezipiert werden. Vielleicht empfand er das Lateinische auch als angemessener, wissenschaftliche Fakten auf nüchterne Weise – ohne sprachlichen Dekor – zu vermitteln. Inhaltlich war es Seckendorff ein Anliegen, Luthers Handeln begreiflich zu machen.66 Das Leben und Wirken des deutschen Reformators ist der Leitfaden, an dem sich das Reformationsgeschehen kristallisiert.67 Dramaturgisch erschien die Reformation somit als eine durch das Handeln des Reformators strukturierte Phase der Vergangenheit.68 Dabei ist Seckendorffs Gespür für eine aus vergangenen Zeiten ausstrahlende Andersartigkeit bemerkenswert. So weist er darauf hin, dass man nicht aus dem Blickwinkel seiner Zeit, in der sich Sprache und Sitten verfeinert hätten, die grobe Ausdrucksweise Luthers verurteilen dürfe.69 Aber nicht nur hier, auch in der von ihm geforderten Verpflichtung des Historikers, sich seines subjektiven Blickwinkels auf die von ihm beschriebenen Ereignisse bewusst zu sein, erweist sich Seckendorff als Pionier der sich aus anek-

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Brief an den Leipziger Theologen August Pfeiffer, 4.10.1682, Thüringisches Staatsarchiv Altenburg, Seckendorff’sches Familienarchiv 1062, Bl. 231, Entwurf. Döring (wie Anm. 44), S. 482f. Zum Bicentenaire von Luthers Thesenanschlag gab Wilhelm Ernst Tentzel seinen Historischen Bericht vom Anfang und ersten Fortgang der Reformatioin Lutheri zur Erläuterung des Hn v. Seckendorff Historie des Lutherthums mit großem Fleiß erstattet. Leipzig 1718. Strauch (wie Anm. 51), S. 15ff. Für jedes Jahr des beschriebenen Zeitraums führt er die wichtigsten Schriften des Wittenberger Theologen an, mit dem Tod Luthers endet seine Darstellung. Strauch (wie Anm. 51), S. 138. Ebd., S. 139, Anm. 7.

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todischen Kontexten emanzipierenden frühen Geschichtswissenschaft. Bereits im Vorwort des Commentarius brachte Seckendorff deutlich zum Ausdruck, dass sein Werk eine Mischung zwischen Historie und Apologie sei.70 Er machte keinen Hehl daraus, dass seine Darstellung, so sehr er sein Urteil auch zurückzuhalten bemüht war, davon gefärbt sein würde, dass er als Protestant dem Augsburgischen Bekenntnis anhing. Das Buch muss vorrangig als das betrachtet werden, was es auf dem Titelblatt zu sein angibt: als Kommentar einer Geschichte der Reformation. Wenn auch die Empörung über Maimbourgs Werk ihn dazu veranlasste, zur Feder zu greifen, hält er sich nicht damit auf, die Verleumdungen einfach zu retournieren. Stattdessen reagierte er mit einer minutiösen Rekonstruktion der Ereignisse des vorausgegangenen Jahrhunderts. Es ging ihm also in erster Linie gar nicht darum, Maimbourg zu bekämpfen, sondern die Wahrheit über die Reformation und ihren Verlauf zu Tage zu fördern. Es sollte nicht länger Polemik gegen Polemik stehen, sondern die sachlich vorgetragene Wahrheit aus den Quellen erwiesen werden. Dass er sein Buch zu großen Teilen mit wörtlichen Zitaten füllte, ist dieser Wahrheitssuche geschuldet. Was oberflächlich betrachtet wie eine Stoffanhäufung wirkt, ist Ausdruck der Idee, dem einzelnen Leser zu einem angemessenen Bild der Reformation zu verhelfen. Seckendorff, der im Text auch die Gegner der Reformation zu Wort kommen ließ, traute dem Leser als Vernunftwesen ein abgewogenes Urteil über Luther und die Reformation zu. Wenn auch von einer Annäherung der Konfessionen dabei nicht ausdrücklich die Rede ist, legt dieser Zugang den ökumenisch-säkularen Charakter des Textes offen.71 Auf seinem Gut Meuselwitz profilierte sich Seckendorff auch als Rezensent:72 Er war als regelmäßiger Mitarbeiter der Acta eruditorum, der ersten wissenschaftlichen Zeitschrift auf deutschem Boden Multiplikator der beginnenden Aufklärung.73 Als eine Monatsschrift nach dem Vorbild des Journal des Sçavans gestaltet, verstand sie sich als Periodikum der neuen Zeit; sie bündelte die zuvor verstreute Gelehrsamkeit und machte sie vielen zugänglich.74 Zwi-

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»Sic mixtum aliquod scripti genus enatum est, inter Historicum & Apologeticum«, Praeloquium, Bl. b3 r. Ernst Walter Zeeden: Der ökumenische Gedanke in Veit Ludwig von Seckendorffs »Historia Lutheranissimi«. In: Ders.: Konfessionsbildung. Studien zu Reformation, Gegenreformation und katholischer Reform. Stuttgart 1985, S. 9–24, hier S. 14. Strauch (wie Anm. 51), S. 125–131. Augustinus H. Laeven: The »Acta Eruditorum« under the editorship of Otto Mencke (1644–1707). The History of an International Learned Journal between 1682 and 1707. Amsterdam 1990, S. 13. Pierre Bayle erklärte 1684 im Vorwort zur ersten Ausgabe seiner Nouvelles de la république des lettres, die Acta eruditorum seien sein Vorbild, er bewundere die Urteilsfähigkeit, die Genauigkeit und die Vielfalt der dortigen Beiträge. Zitiert nach: Georg Witkowski: Geschichte des literarischen Lebens. München 1994, S. 187. Ihr Herausgeber Otto Mencke hatte 1680 Reisen in die Niederlande und nach England unternommen, um Kontakte zu knüpfen, da er sich vorgenommen hatte, die neueste Literatur des europäischen Auslandes der deutschen Gelehrtenwelt vorzustellen; zur Kommunikationsform des Zeitschriftenwesens in der damaligen Zeit: Martin Gierl: Pietismus und

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schen Januar 1683 und Dezember 1692 erschienen beinahe monatlich Besprechungen aus Seckendorffs Feder, die sich häufig mit Büchern zur Geschichte oder mit theologischen und philosophischen Werken befassten; viele waren von französischen Autoren geschrieben. Von den 235 Werken, die er sich vornahm, waren nur zwölf nicht in französischer Sprache abgefasst beziehungsweise ins Französische übersetzt.75 Seckendorffs lateinische Rezensionen verschafften der deutschen Gelehrtenwelt Zugang zum Denken des französischsprachigen Auslands, er leistete somit einen gewichtigen Beitrag zur Wissenschaftskommunikation. Zwar handelte es sich bei der Mehrzahl der von Seckendorff besprochenen Bücher um Schriften zur Theologie und Kirchengeschichte,76 doch kam er auch dem allgemeinen Wissensdurst der Epoche entgegen. Dass die Kultivierung des Menschen ein Interessenschwerpunkt auch der beginnenden Aufklärung war, lässt sich an seinen zwölf Besprechungen über Abhandlungen zu Sitten und Erziehung ablesen. Fünfzehn vorgestellte Bücher gehören der Gattung der Kritik an, unter anderem bespricht er Pierre Bayles Projet et Fragments d’un Dictionnaire critique von 1692.77 Auch legt er zwei Dutzend Rezensionen von Reiseberichten und Beschreibungen fremder Länder vor. Im Berufsalltag war Seckendorff als Redner aktiv, zeit seines Lebens schrieb er Gedichte. Aber erst in Meuselwitz hatte er Muße, sich mit theoretischen Dimensionen der Poesie und Redekunst auseinanderzusetzen. Hier übersetzte und kommentierte er Lucanus, einen römischen Dichter aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert.78 Sprachgeschichtlich wie politisch interessant ist diese kommentierte Übersetzung schon allein deswegen, weil sie den französischen Übertragungen eine deutsche entgegensetzte; auch die anti-caesarische Tendenz dieses stoizistischen Epos musste ihm gefallen. Wie im Titel zum Ausdruck gebracht, waren die Verse »auf eine sonderbare neue manier ins deutsche gebracht, und dem lateinischen auf iedes blatt gegen über gesetzt«. Im Deutschen wollte Seckendorff antike Dichtung ohne Reime, aber dennoch in angemessener Form wiedergeben. Also transformierte er die lateinischen Hexameter in ungereimte deutsche Alexandriner. Als »deutschen Blankalexandriner Seckendorffs« sollte Friedrich Gundolf im 20. Jahrhundert diese metrische Neuerung bezeichnen.79

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Aufklärung. Theologische Polemik und die Kommunikationsreform der Wissenschaft am Ende des 17. Jahrhunderts. Göttingen 1997, S. 530–532. Strauch (wie Anm. 51), S. 125. Döring (wie Anm. 44), S. 479f. Besprochen in Acta eruditorum (1692), Heft Oktober, S. 474. Seckendorffs Buch erschien allerdings erst postum, im Jahre 1695 unter dem Titel Politische und Moralische Discurse über M. Annaei Lucani dreyhundert auserlesene lehrreiche sprüche, und dessen heroische gedichte genannt Pharsalia, auf eine sonderbare neue manier ins deutsche gebracht, und dem lateinischen auf iedes blatt gegenüber gesetzt; nebst beygefügter erklärung derer dunckeln und schweren redens-arten, auch nötigem register. Leipzig 1695. Friedrich Gundolf: Seckendorffs »Lucan«. Heidelberg 1930 (Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Sitzungsberichte der Philosophisch-Historischen Klasse 1930/31, 2), S. 4.

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Sein Sinn für sprachliche Ästhetik kommt auch in seinen Deutschen Reden zum Ausdruck, einer Mustersammlung von Reden, die er bei allen möglichen Gelegenheiten gehalten hat. »Seckendorff ist im 17. Jahrhundert der einzige adlige Praktiker von Hof und Politik, der einen Teil seiner eigenen Reden noch zu Lebzeiten in Buchform veröffentlichte und darüber hinaus noch einen theoretischen Überbau zu dieser Praxis entwarf«.80 Es ist schon hervorgehoben worden: Die öffentliche Rede stellte für Seckendorff eine zentrale Komponente dar, Wissen zu vermitteln. Im Widmungstext bemerkt Seckendorff: »Man vermercket aber den Wachsthum des Verstandes bey allen Menschen, am meisten an der Rede«.81 Allein durch Hören und Sprechen könne man die Muttersprache erlernen, nicht durch Grammatik. In einem 39-seitigen vorangestellten Discurs an statt einer Vorrede, von der Art, Beschaffenheit und Nutzen der Reden legt er die Konvention dieses Genres so weit aus, dass auch Improvisationen erlaubt waren.82 Wer also meine Rede nach den legibus Rhetoricis examinieren wollte, der würde vergebliche Arbeit haben, oder Defecten genug zu verzeichnen finden. Ich bin aus der Schul-Kunst wieder auf die natürliche Einfalt gefallen, und wast ich eine Sentenz, oder eine Geschicht in geist- oder weltlichen Büchern, in ungefehren eilsamen Aufschlagen gefunden, oder mich deren erinnert, habe ich mich derselben, und was ich füglich dazu ziehen könne, ohne grosse Wahl und Kopfzerbrechen gebraucht, und damit die Rede ergrösset, und in die Form gerichtet, wie sie mir eingefallen.83

In der Abgeschiedenheit eines Gelehrtenrefugiums zeichnete sich Seckendorffs Arbeitsweise durch einen systematischen Zugang aus. So hat sich im Seckendorff’schen Familienarchiv auch ein voluminöser Quartband mit annalistischen Aufzeichnungen zur europäischen Geschichte überliefert, der wahrscheinlich in Meuselwitz entstanden ist.84 Gegliedert ist er nach Ländern, wie z.B. »Res anglicae« (Bl. 3–46); »Res Scoticae« (Bl. 47–79); »Res Hispanicae« (Bl. 80–92), »Res Africae« (Bl. 223–224). Behandelt wird vornehmlich die damalige Zeitgeschichte, d.h. das 16. Jahrhundert sowie die ersten Jahrzehnte des 17. Jahrhunderts. Auf jeweils einer Seite wird in der Regel ein Jahr abgehandelt, sie besteht aus zwei Spalten, so dass leicht Ergänzungen eingetragen werden können. Die Doppelseite besteht also aus vier Spalten, wobei die inneren Spalten beschrieben sind, die äußeren Belegen vorbehalten sind. Ähnlich aufgebaut ist ein lateinisches Wörterverzeichnis, dass sich ebenfalls als Manuskript im Seckendorff’schen Archiv erhalten hat.85 Jede Seite verfügt über vier Spalten und zwei waagerechten Linien, so dass acht Felder entstehen, die alphabetisch gekennzeichnet sind. Darunter sind dazugehörige lateinische Worte aufgelistet, so z.B. 80 81 82 83 84 85

Vec (wie Anm. 27), S. 5; Braungart (wie Anm. 27), S. 255, S. 288; Wilfried Barner: Barockrhetorik. Tübingen 1970, S. 88. Meuselwitz, 25. März 1686 an Johann Wilhelm, Herzog von Sachsen, aus: Seckendorff (wie Anm. 31), 1691, S. 1–26, Zuschrift, S. 5. Seckendorff 1668 (wie Anm. 31), 1691, S. 29–68. Seckendorff 1695 (wie Anm. 78), S. 61. Thüringisches Staatsarchiv Altenburg, Seckendorff’sches Familienarchiv, 1072. Ebd., 1073.

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»Invidia« unter »In« einschließlich der Textpassagen aus der klassischen Literatur, in denen dieses Wort vorkommt.

5. Polyhistorische Dimensionen Das 17. Jahrhundert ist die große Zeit der Polyhistoren, des auf zahlreichen Gebieten bewanderten Gelehrten, wobei tatsächlich universal gebildete Köpfe gewiss weitaus seltener vorkamen als barocke Vielwisser. Anthony Grafton hat mit Humanismus und Enzyklopädismus die Pole benannt, zwischen denen sich der Polyhistor im 17. Jahrhundert zu bewegen hatte: The scholar had to know the structure and relations of all disciplines, the titles and contents of all books, the character traits and oddities of all significant earlier scholars. Given the proliferation of books since 1450 and of new knowledge since the Renaissance the ideal had become desperately hard to realize by the time that Morhof gave it an appropriately ambitious name and an appropriately chaotic handbook with his Polyhistor of 1697.86

Wie kann nun Seckendorff im Rahmen immer intensiverer Wissensproduktion eingeordnet werden?87 Wenn er wohl auch nicht danach strebte, sich riesige Quantitäten von Wissen aus den verschiedensten Disziplinen einzuverleiben, ist ihm das Etikett »Polyhistor« keineswegs abzusprechen und zwar in einem ganz bestimmten Sinne. Statt von mußevoller, vagabundierender Zerstreuung war Seckendorffs Einstellung zum Wissen von Pragmatismus und Zielorientierung geprägt. Er habe »von Jugend auff ein extemporareus seyn müssen«.88 Seckendorffs Werke sind meist situativ, d.h. als Resultat konkreter Anlässe entstanden. Dem Teutschen Fürsten-Staat (1656) gingen intensive, dem Wiederaufbau dienende Untersuchungen im Herzogtum Ernsts des Frommen voraus, die zur Großen Landordnung von 1653 führten. Seine pädagogischen Beiträge sind Antworten auf drängende Desiderate im Schulwesen. Der Commentarius und der Christen-Staat haben ihren konkreten Anlass, die Reformation zu rechtfertigen sowie die Kurfürsten im christlichen Licht erscheinen zu lassen. Seckendorff war mit Leib und Seele Lutheraner und damit Protagonist eines Glaubens, der aus dem Schriftprinzip (»sola scriptura«) sein Selbstverständnis schöpft. Dementsprechend stellte Seckendorff das geschriebene und gesprochene Wort in den Mittelpunkt seiner Bildung, was aber keineswegs bedeutete, dass visuelle Praktiken in seinem Wissen keinen Platz gehabt hätten. Vielmehr

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Anthony Grafton: The World of the Polyhistors: Humanism and Encyclopedism. In: Central European History 18 (1985), S. 31–47, hier S. 37; siehe auch: Herbert Jaumann: Was ist ein Polyhistor? Gehversuche auf einem verlassenen Terrain. In: Studia Leibnitiana 22 (1990), S. 76–89. Roswitha Jacobsen: Polyhistor, Politiker und politischer Schriftsteller zum 300. Todestag von Veit Ludwig von Seckendorff. In: Palmbaum (1993), S.106–108. Seckendorff an Karl von Friesen, 10.5.1684, nach: Döring (wie Anm. 44), S. 498; Blaufuß (wie Anm. 10), S. 721f.

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war Seckendorffs polyhistorischer Zugang von emblematischen Mustern geprägt. Embleme waren in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts allgegenwärtig, nicht nur auf Fahnen, Medaillen, Stammalben, Tapeten, Tassen, Flaschen, Gefäßen, wie Georg Philipp Harsdörffer in seiner Sammlung von hundert Emblemen hervorhebt,89 sondern auch als anschauliches Stilmittel in Text und Rede. Nicht zuletzt diese metaphorisch-verdichtende Annäherung bewahrte Seckendorff davor, sich zu verzetteln und buchstäblich alles wissen zu müssen. Jede spezialisierte Herangehensweise abweisend, betrachtete er Phänomene der Natur nicht isoliert, sondern als Verknüpfungspunkt in einem Netz aufeinander verweisender Bedeutungen. Um einen bestimmten Vogel zu kennen, reichte es nicht nur aus zu wissen, wie er aussieht oder was sein Name in den Hauptsprachen bedeutet. Darüber hinaus galt es, seine symbolische Bedeutung in paganen sowie in christlichen Kulturen zu begreifen, sich von Assoziationen aus Sprichwörtern, die den Vogel behandeln, inspirieren zu lassen, sowie seine Verbindungen zu den Sternen, Pflanzen, Mineralien oder auch Münzen zu erfassen.90 Seckendorff vermochte die Welt zu überblicken, weil er emblematisch dachte.91 Wohl nicht zufällig haben sich im Seckendorff’schen Familienarchiv Zeichnungen von Emblemen erhalten, die von Seckendorff selbst stammen dürften (Abb. 5).92 Die Bilddarstellungen sind kreisförmig eingefasst, deutlich ist ein Hammer mit Amboss mit dem Untertitel »patiendo« zu erkennen, ein Kompass, dessen Nadel dem Magneten folgt mit der Unterschrift »immutabilis«, ein von himmlischer Kraft angetriebenes Schiff mit dem Wort »perite« sowie ein Adler, der gegen die Sonne fliegt. Im Zeitalter der totalen Signifikanz hatte jedes Gefüge aus Kunst, Technik, Natur und Alltag eine ihre Gegenständlichkeit transzendierende Bedeutung. Jedes Objekt bedeutete weniger es selbst, als eine Tugend oder Eigenschaft, die es verkörpert bzw. visualisiert. Im Einklang mit der Natur der Dinge kam es darauf an, Analogien zu erkennen, aus denen eine moralische Bedeutung abgeleitet wurde.

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Georg Philipp Harsdörffer: Neue Zugabe: bestehend in C. Sinnbildern, aus: Der Grosse Schauplatz jämmerlicher Mord-Geschichte [...]. Hamburg 1656 (Ndr. Hildesheim 1975) [Appendix]. Jan C. Westerhoff: Baroque Pansemioticism, the Polyhistor and the Early Modern Wunderkammer. In: Journal of the History of Ideas 62 (2001), S. 633–650, hier S. 641; siehe auch: Cornelia Kemp: Angewandte Emblematik in süddeutschen Barockkirchen. München 1981, S. 22–27. Albrecht Schöne: Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock. München 1964, S. 48. Thüringisches Staatsarchiv Altenburg, Seckendorff’sches Familienarchiv, 1055, Varia 1672–1680, Bl. 274–276.

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Abb. 5: Verschiedene gezeichnete emblematische Darstellungen

Bildnachweis Abb. 1: Veit Ludwig von Seckendorff. Frontispiz aus: Commentarius historicus et apologeticus de Lutheranismo. Aus: Ernst der Fromme (1601–1675). Bauherr und Sammler. Katalog zum 400. Geburtstag Herzog Ernsts I. von Sachsen-Gotha und Altenburg. Bucha bei Jena 2001, S. 96.

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Abb. 2: Johann Valentin Andreae: Reipublicae Christianapolitanae descriptio (1619). Aus: Ernst der Fromme (1601–1675). Bauherr und Sammler. Katalog zum 400. Geburtstag Herzog Ernsts I. von Sachsen-Gotha und Altenburg. Bucha bei Jena 2001, S. 347. Abb. 3a/3b: Grundrissplan des Schlosses, Erstes Stockwerk (1667). Aus: Ernst der Fromme (1601–1675). Bauherr und Sammler. Katalog zum 400. Geburtstag Herzog Ernsts I. von Sachsen-Gotha und Altenburg. Bucha bei Jena 2001, S. 313, Ausschnitt: Der Westturm mit der Bibliothek. Abb. 4: Der erste Bibliothekskatalog, Blatt mit tabellarischen Aufriss der einzelnen Regalgefache, Veit Ludwig von Seckendorff (1657). Aus: Ernst der Fromme (1601–1675). Bauherr und Sammler. Katalog zum 400. Geburtstag Herzog Ernsts I. von Sachsen-Gotha und Altenburg. Bucha bei Jena 2001, S. 401f. Abb. 5: Verschiedene gezeichnete emblematische Darstellungen. Aus: Thüringisches Staatsarchiv Altenburg, Seckendorff’sches Familienarchiv 1072, Bl. 276r.

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Utopie der Bildung Der Entwurf einer »Polymathia experimentalis« in Johann Daniel Majors See-Farth nach der Neuen Welt/ ohne Schiff und Segel (1670)

Mit dem Relevantwerden empirischen Wissens für die Naturphilosophie und dessen rasanter Zunahme verlor die Zweckmäßigkeit polyhistorischer Wissensverarbeitung seit der Mitte des 17. Jahrhundert zusehends an Glaubwürdigkeit. Sowohl die schiere Menge an Beobachtungsdaten als auch die wissenschaftstheoretischen Zweifel an der vorausgesetzten Isomorphie menschlicher Ordnungsvorstellungen und natürlicher Ordnungsgegebenheiten bescherten den Konzepten einer vollständigen und systematischen Erfassung alles Wissbaren eine ebenso tiefe wie endgültige Legitimationskrise.1 Manch ein massiger Foliant erscheint da gar als trotzige Antwort auf die absehbare Vergeblichkeit, die sich nicht zuletzt in der Unabgeschlossenheit und dem Scheitern etlicher enzyklopädischer Projekte manifestierte. In immer neuen Anläufen versuchten Gelehrte, die unaufhaltsam sich auftürmenden membra disiecta des naturhistorischen Wissens nach dem etablierten Muster universaltopischer Systematiken zu organisieren. Die furchtlose Bereitwilligkeit, mit der sie dabei die Methoden humanistischer Datenverarbeitung auf naturhistorische Wissensbestände anwandten, und die dadurch erzwungenen Kompromisse und Experimente in deren Darstellung lösen, wie Anthony Grafton bemerkte, bei heutigen Lesern bisweilen mehr Verwirrung als Bewunderung aus.2 Eine Folge dieser Verwirrungen ist die häufig nur unscharf getroffene oder gar übersehene Differenz von Polyhistorie und Polymathie.3 Bereits die Gelehrten des 17. und 18. Jahrhunderts benutzten beide Begriffe bisweilen synonym, so dass in der Forschung die wissenschaftshistorische Episode der Polymathie in ihrer Bedeutung als Derivat und Transformation der Polyhistorie bislang nur 1

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Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Topica Universalis. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft. Hamburg 1983, bes. S. 212–238; Herbert Jaumann: Was ist ein Polyhistor? Gehversuche auf einem verlassenen Terrain. In: Studia Leibnitiana 22 (1990), S. 76–89, hier S. 77; Christoph Meinel: Enzyklopädie der Welt und Verzettelung des Wissens. Aporien der Empirie bei Joachim Jungius. In: Enzyklopädien der Frühen Neuzeit. Beiträge zu ihrer Erforschung. Hg. v. Franz M. Eybl. Tübingen 1995, S. 162–187, hier S. 162f. Anthony Grafton: Humanism and Science in Rudolphine Prague. Kepler in Context. In: Literary Culture in the Holy Roman Empire, 1555–1720. Hg. v. James A. Parente, Richard Erich Schade und George C. Schoolfield. Chapel Hill 1991, S. 19–45, hier S. 25. Vgl. Schmidt-Biggemann (wie Anm. 1), S. XIII u. 1.

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randständig behandelt wurde.4 Eine wenngleich nur idealtypisch zu treffende Unterscheidung der Begriffe ist allerdings wichtig, da eine leichtfertige Gleichsetzung die Aktualität und die Intention polymathischer Konzepte hat übersehen lassen und eine Reihe historiographischer Missverständnisse hervorbrachte. Der wesentliche Unterschied zwischen Polyhistorie und Polymathie besteht – kurz gesagt – darin, dass jenes ein Wissenskonzept bezeichnete und dieses ein Bildungskonzept. Mit Verweis auf Cicero und Quintilian aber auch auf Vitruv forderten Humanisten des 16. und 17. Jahrhunderts eine vielseitige Bildung als Grundlage für die anschließende Ausbildung in einem besonderen Fach.5 Hatten sich aus dem antiken Ideal einer propädeutischen Universalbildung zunächst die obligatorischen septem artes entwickelt, so wurde die Idee eines Erwerbs von universellen Kenntnissen im Späthumanismus erneut aufgegriffen, um unter den Bedingungen von Wissenswandel und Wissenszuwachs ein noch umfassenderes Erziehungsideal zu formulieren.6 Gerade am Verhältnis zur unabwendbaren Ausdifferenzierung der Wissensfelder und Disziplinenbildung wird der Unterschied deutlich sichtbar: Wo sich die Polyhistorie in ihrem aus den Anforderungen humanistischer Textkritik erwachsenen Anspruch auf überdisziplinäre Universalität der Spezialisierung gerade verweigerte, zielte die Polymathie auf Horizonterweiterung als Vorbereitung auf eine fachspezifische Ausbildung.7 Der enge Zusammenhang von Polymathie und Polyhistorie, der zu ihrer häufigen Verwechslung führte, ist dabei offensichtlich: Die Polyhistorie – in ihrer literarischen Konkretisierung als Enzyklopädie – lieferte den Stoff, aus dem sich die polymathische Bildung speiste. Polymathie wiederum konnte Polyhistorie werden, wenn sie nicht den Weg in die fachliche Spezialisierung nahm.8 War das erneute Aufgreifen des polymathischen Bildungskonzepts zunächst den Anforderungen der humanistischen Philologie, d.h. der Notwendigkeit breiter Sachkenntnisse zum Verständnis der antiken Literatur geschuldet,9 fiel 4

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Paradigmatisch für diese Gleichsetzung stehen die (kritischen) Artikel zu »Polyhistorie« und »Polymathie« in Johann Heinrich Zedler (Hg.): Grosses vollständiges Universal Lexicon Aller Wissenschaften und Künste [...]. 68 Bde. Halle, Leipzig 1732–1754, Bd. 28, Sp. 1319f. Vgl. Helmut Zedelmaier: Bibliotheca universalis und bibliotheca selecta. Das Problem der Ordnung des gelehrten Wissens in der frühen Neuzeit. Köln 1992, S. 286–307. Eine gute Einführung in das Problemfeld liefert außerdem die leider abgelegene Arbeit von Werner Müller: Johann von Wouwer und die Geltungsbereiche der Polymathie im XVII. Jahrhundert. Diss. (masch.). Universität Leipzig, 1924 [Universitätsbibliothek Leipzig, Sign. Phil.Ms.Müller.Werner.1924]. Vgl. Wilhelm Kühlmann: Pädagogische Konzeptionen. In: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. 1. Hg. v. Christa Berg. München 1987, S. 153–196, hier S. 168–172. Zum Verhältnis von Polyhistorie und Disziplinenbildung siehe auch Helmut Zedelmaier: Von den Wundermännern des Gedächtnisses. Begriffsgeschichtliche Anmerkungen zu ›Polyhistor‹ und ›Polyhistorie‹. In: Die Enzyklopädie im Wandel vom Hochmittelalter bis zur frühen Neuzeit. Hg. v. Christel Meier. München 2002, S. 421–450, hier S. 422 u. passim. Auch aus diesem Grund stellte Morhof das einleitende Kapitel zur »Polymathia« an den Anfang seines Polyhistor. Daniel Georg Morhof: Polyhistor Sive De Notitia Auctorum Et Rerum Commentarii. Lübeck 1688, I, 1, S. 1–8. Vgl. Zedelmaier (wie Anm. 5), S. 286ff.

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es doch zeitlich zusammen mit dem Wandel in den theoretischen und methodischen Grundlagen der Naturphilosophie ab dem 16. Jahrhundert. Die einsetzende systematisch-empirische Erforschung natürlicher Phänomene ließ nicht nur antike Lehrmeinungen allmählich zweifelhaft erscheinen, sondern stellte das Sachwissen und mit ihm die Autopsie als geeignetem Mittel zu seiner Gewinnung als zunehmend gleichberechtigt neben das tradierte Wortwissen. Bereits im einflussreichen Traktat De polymathia (1603) des Hamburger Gelehrten Johannes Wower (1574?–1612) sind alle genannten Merkmale des polymathischen Bildungskonzepts präsent, wenngleich sie aufgrund des fragmentarischen Charakters des Werkes nicht in vollständig ausgearbeiteter Form vorliegen.10 Folgenreich für die weitere Entwicklung der Polymathie war insbesondere Wowers Einbezug der außerhalb der Freien Künste stehenden Wissensgebiete bzw. Disziplinen in den Kanon der Polymathie. Wower unterscheidet zwischen einer Polymathia »minus perfecta, & proprie Grammatice« und einer Polymathia »perfecta, & Philosophiae proxima«.11 Ersteres umfasst im Wesentlichen die artes liberales als unerlässlicher Vorbedingung – doctrina – aller weiteren Studien. Letztere besteht – unter dem Namen scientia – in einer »notitiam variarum rerum, ex omni genere studiorum collectam«, wozu etwa auch die Historia »naturalis et animalium curiosum« gehört.12 Wie selbstverständlich stellt Wower in diesem Zusammenhang den Dialog mit anderen Gelehrten und die Autopsie der Gegenstände als Mittel des Wissenserwerbs neben die Lektüre von Büchern.13 Eine solche aus doctrina und scientia bestehende Polymathie bildet für Wower die Bildungsgrundlage des Philosophus, die diesem das Werkzeug an die Hand gibt, um in die arcana naturae einzudringen.14 Wower hat sich in seinen Ausführungen auf die Darstellung der zur doctrina gehörigen Fächer, deren Inhalte und Struktur beschränkt und sich bezüglich der scientia trotz ihrer Höherbewertung als »Polymathia perfecta« nur sehr allgemein geäußert. Diese Gewichtung der artes liberales gegenüber den ›scientistischen‹ Fächern musste freilich zum Zeitpunkt des Erstdrucks des Traktats nicht unangenehm sein, war doch ein besonderes Interesse an genuin naturhistorischem u.ä. Sachwissen in Wowers humanistischer Leserschaft keineswegs vorauszusetzen.

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Zu Wower und seinem Traktat siehe Zedelmaier (wie Anm. 5), S. 286–294; Müller (wie Anm. 5), sowie Luc Deitz: Ioannes Wower of Hamburg, Philologist and Polymath. A Preliminary Sketch of His Life and Works. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 58 (1995), S. 132–151. Johannes Wower: De Polymathia Tractatio: Integri Operis De Studiis Veterum Apospasmation. Hg. v. Jakob Thomasius. Leipzig 1665, II, S. 17. Ebd., II, S. 19f. Ebd., XXVIII, S. 332–336. Wilhelm Kühlmann hat darauf hingewiesen, dass Wowers v.a. auf das Reisen bezogener Autopsiebegriff freilich noch nicht als Ausdruck Bacon’scher Empirie gewertet werden kann. Wilhelm Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters. Tübingen 1982, S. 290, Anm. 8. Wower (wie Anm. 11), II, S. 22f.

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Diese Situation hatte sich gut 60 Jahre später, zu der Zeit, als Jakob Thomasius (1622–1684) Wowers De polymathia erneut herausgab, grundlegend geändert. Unterdessen war die Umstellung von Wort- auf Sach- bzw. Erfahrungswissen in der Naturphilosophie insbesondere unter dem Eindruck der Schriften Francis Bacons (1561–1626) vorangeschritten. Mit der Zentralstellung der Natur und unter der Voraussetzung ihrer nicht mit menschlichen Ordnungsvorstellungen erfassbaren Eigengesetzlichkeit hatte sich allmählich die Überzeugung ausgebreitet, dass Wissen nicht mehr durch Logik, sondern primär durch sinnliche Erfahrung zu gewinnen sei.15 Von dieser Entwicklung blieb auch die Idee einer polymathischen Allgemeinbildung nicht unberührt. 1670 erschien in Kiel ein Quartband mit dem Titel See-Farth nach der Neuen Welt/ ohne Schiff und Segel, der einen Modellfall der deutschen Polymathie und Bacon-Rezeption im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts und damit ein bemerkenswertes Vorspiel zum Daniel Georg Morhofs (1639–1691) Polyhistor und besonders dessen naturphilosophischen Teilen darstellt.16 Der Verfasser des unpaginierten Bandes war Johann Daniel Major (1634–1693), seit 1665 Professor für theoretische Medizin an der noch jungen Kieler Universität und – einem späteren Biographen zufolge – ein »vir Πολυμαθέςατος« (›polymathischer‹, kenntnisreicher Mann).17 Der in Breslau geborene Major hatte in Wittenberg und Leipzig Medizin und Naturkunde studiert und sich 1660 an der renommierten Medizinischen Fakultät der Universität zu Padua promoviert.18 Kurzzeitig arbeitete er in Hamburg als Pestarzt, bevor er als Professor für theoretische Medizin (einschließlich Botanik und Anatomie) an die von Herzog Christian Albrecht von Schleswig-HolsteinGottorf gegründete Universität zu Kiel berufen wurde. Bereits 1664 war Major in die Academia Naturae Curiosorum aufgenommen worden, und sowohl seine zahlreichen Publikationen auf unterschiedlichsten Gebieten als auch sein Lehrangebot zeichnen ihn als Vertreter empirisch-experimentellen Forschungsansätze aus. So führte er schon wenige Monate nach Antritt seiner Professur, vom 31. Januar bis 5. Februar 1666 (st. v.) in einem eigens eingerichteten ›anatomischen

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Vgl. Schmidt-Biggemann (wie Anm. 1), S. 212ff. Siehe dazu aufschlussreich Barbara Bauer: Der ›Polyhistor physicus‹, ein Spiegel der naturwissenschaftlichen und wissenschaftstheoretischen Diskussionen auf der Schwelle zum Zeitalter Newtons. In: Mapping the World of Learning. The ›Polyhistor‹ of Daniel Georg Morhof. Hg. v. Françoise Waquet. Wiesbaden 2000, S. 179–220. [Jacob von Melle (Hg.)]: Nova Literaria Maris Balthici & Septentrionis. Lübeck 1698, S. 213. Zu Majors Biographie siehe Heinrich Schipperges: Geschichte der medizinischen Fakultät. Die Frühgeschichte 1665–1840. Kiel, Neumünster 1967 (Geschichte der ChristianAlbrechts-Universität Kiel 1665–1965, 4.1), S. 23–29; Christian Andree: Johann Daniel Major. Zur Biographie eines schlesischen Universalgelehrten am Beginn der neuzeitlichen Naturforschung. In: Schlesien. Kunst, Wissenschaft, Volkskunde 37,2 (1992), S. 109–114; W. Rudolph Reinbacher: Leben, Arbeit und Umwelt des Arztes Johann Daniel Major (1634–1693). Eine Biographie aus dem 17. Jahrhundert mit neuen Erkenntnissen. Linsengericht 1998.

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Theater‹ eine Schausektion durch und legte 1669 einen botanischen Garten zu Lehrzwecken an.19 Der Medizingeschichte ist Major schon lange als Wegbereiter der Infusionstherapie bekannt.20 Darüber hinaus wurde er in den vergangenen zwei Jahrzehnten aufgrund seiner museologischen und antiquarischen Arbeiten vor allem seitens der Sammlungsgeschichte21 sowie in jüngerer Zeit von der Archäologiegeschichte22 behandelt. Majors Konzept einer Polymathie im Geiste Bacons ist dabei bislang jedoch allenfalls am Rande berührt worden.23 Einen Grund für dieses Übersehen deutet sich in einer Bemerkung des Dichters Christian Wernicke (1661–1725) an, der in den 1680er Jahren in Kiel studiert hatte und Major wohl in dieser Zeit auch persönlich kennen gelernt hatte. Major sei, so Wernicke, ein »grundgelahrter/ aber dabey unbegreiflicher Mann/ der seine Wissenschafften durch viel [...] eigensinnige Gedancken lächerlich machte [...]«.24 Ähnlich beklagte auch der Litterärhistoriker Georg Jakob Schwindel (1684–1752), dass Major »seine schönen Gedancken öffters in einen gar affectirten und obscuren Vortrag eingewickelt, und nicht mit mehr Deutlichkeit vorgestellet« habe.25 Zu diesen Eigensinnigkeiten gehörte auch die SeeFarth, in der trotz einer erneuten Ausgabe im Jahr 1683 Majors Ansichten zu Gestalt und Zweck der Polymathie weitgehend unentdeckt geblieben sind.

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Vgl. Johann Daniel Major: Historia Anatomes: Kiloniensis Primae [...]. Kiel 1666; Johannes Reinke: Der erste botanische Garten Kiels. Urkundliche Darstellung der Begründung eines Universitäts-Instituts im siebzehnten Jahrhundert. Kiel 1912. Vgl. Harald Hünermann: Die ›Chirurgia infusoria‹ des Johann Daniel Major (1634–1693). Diss. Kiel 1966; Tibor J. Greenwalt: A Short History of Transfusion Medicine. In: Transfusion 37 (1997), S. 550–563. Vgl. Dagmar Unverhau: Johann Daniel Majors ›Museum Cimbricum‹ als Beispiel einer Gelehrtensammlung. In: Mare Balticum. Beiträge zur Geschichte des Ostseeraums in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift zum 65. Geburtstag von Erich Hoffmann. Hg. v. Werner Paravicini. Sigmaringen 1992, S. 245–260; Christoph Becker: Johann Daniel Major (1634– 1693). ›Sammlungstheoretiker‹? ›Doktor der Weltweisheit‹? In: Jahrbuch des Museums für Kunst und Gewerbe Hamburg N.F. 11/12 (1992/1993), S. 67–82; Cornelius Steckner: Das Museum Cimbricum von 1688 und die cartesianische ›Perfection des Gemüthes‹. Zur Museumswissenschaft des Kieler Universitätsprofessors Johann Daniel Major (1634–1693). In: Macrocosmos in Microcosmo. Die Welt in der Stube. Zur Geschichte des Sammelns 1450 bis 1800. Hg. v. Andreas Grote. Opladen 1994, S. 603–628; Stefan Kirschner: Vom privaten Naturalienkabinett zur öffentlichen Schausammlung. Johann Daniel Majors ›Museum Cimbricum‹ (1689). In: Die Popularisierung der Naturwissenschaften. Hg. v. Gudrun Wolfschmidt. Diepholz, Berlin 2002, S. 65–77. Vgl. Dietrich Hakelberg, Ingo Wiwjorra (Hgg.): Vorwelten und Vorzeiten. Archäologie als Spiegel historischen Bewusstseins in der Frühen Neuzeit. Wiesbaden 2010, passim. Auf den vermeintlich ›polyhistorischen‹ Charakter der See-Farth verwies immerhin schon Karin Unsicker: Weltliche Barockprosa in Schleswig-Holstein. Neumünster 1974, S. 191– 214. Christian Wernicke: Poetischer Versuch/ In einem Helden-Gedicht und etlichen SchäfferGedichten/ mehrentheils aber in Überschrifften bestehend [...]. Hamburg 1704, S. 134. Theophilus Sincerus: Bibliotheca historico-critica librorum opusculorumque variorum et rariorum [...]. Nürnberg 1736, S. 24.

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1. Architektonik des Wissens und Fortschritt der Erkenntnis Major bezeichnet die See-Farth als »Utopia eruditorum« und knüpft entsprechend an das seit Thomas Morus’ Utopia (1516) geläufige Narrativ von der zufälligen Entdeckung einer idealen Inselgesellschaft und der Aufzählung ihrer Institutionen an.26 Bei Major sind es indessen keine schiffbrüchigen Seeleute, die sich an fremde Gestade retten, sondern es ist die mythologische Figur des Dädalus, der als fliegender Gesandter Venedigs auf dem Luftweg zur Hohen Pforte in Istanbul durch einen Sturm abgetrieben wird und schließlich in das »Reich der Cosmosophorum« gelangt (Abb. 1).

Abb. 1: Johann Daniel Major: See-Farth nach der neuen Welt/ ohne Schiff und Segel [...]. Hamburg 1683

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Johann Daniel Major: See-Farth nach der Neuen Welt/ ohne Schiff und Segel [...]. Hamburg 1683, S. 242. Sofern nicht anderes angegeben, beziehen sich im Folgenden alle Verweise auf diese zweite Ausgabe. Eine kommentierte Neuausgabe des Textes wird vom Verfasser derzeit vorbereitet.

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Von verschiedenen Figuren werden ihm Anordnung, Gegenstand und Absicht der dortigen wissenschaftlichen Einrichtungen erläutert, die sich im zentralen »Kunst-Schloss der Welt-Weißheit« und dessen Nebengebäuden befinden. Bereits nach der Darstellung von 63 der insgesamt einhundert Disziplinen verlässt jedoch Dädalus die Insel wieder, so dass die Schilderung der nachfolgenden Wissenschaften über keinen narrativen Rahmen mehr verfügt. Die von Dädalus durchlaufene Architektur spielt eine zentrale Rolle für das in der See-Farth formulierte Bildungsprogramm, insofern in ihr die Organisation der Disziplinen wie auch die Vorstellung vom idealen Wissensbestand und dessen Gewinnung ausgedrückt ist. Gleich nach seiner Landung auf einem Altan des Schlosses wird Dädalus von der hinzukommenden Urania als der Repräsentantin der Astronomie das Einlassverfahren zum »Reich der Cosmosophorum« erörtert, das dieser aufgrund seiner fliegenden Anreise gleichsam übersprungen hatte: Neuankömmlinge müssten demnach zunächst die Pforte der Sprache (lingua) passieren; der weitere Weg zum Schloss führe sie dann zwischen dem Gebäude der Logik und Metaphysik und dem Gebäude der Rhetorik und Poesie hindurch. Durch mathematische Symbole auf der Wetterfahne des Schlosses sind darüber hinaus Geometrie, Arithmetik, Logistica (Rechnen mit Logarithmen) und Algebra – unterteilt in Cossica (numerische Algebra) und Algebra speciosa (symbolische Algebra) – repräsentiert.27 Unschwer lässt sich in diesem vorgelagerten Fächerkanon eine Adaption an die Tradition propädeutischer Disziplinen, die Wower’sche doctrina, erkennen. Ganz im Gegensatz zu Wower handelt Major diese Fächer in der denkbar knappsten Weise ab; er beschreibt keine Orte des Lernens, sondern der Prüfung und Erinnerung vorauszusetzender Kenntnisse. Das Herzstück des »Reichs der Cosmosophorum« bildet ein dreigeschossiges, unterkellertes Schlossgebäude mit einem aufgesetzten »SternguckerThürmlein«, das als »mathematisches Werck«, »mathematische Burg«, »Vestung« oder »Kunst-Schloss der Welt-Weißheit« bezeichnet wird.28 Daneben befinden sich als alleinstehende Bauten die »Asclepiadaeische Residentz« und das »Lust-Hauß der Natur«, in denen die medizinischen bzw. die naturhistorischen Fächer (Physica) untergebracht sind. Im Gegensatz etwa zu Bacons Utopie von New Atlantis (1627) zeichnen sich alle in diesen Gebäuden untergebrachten Disziplinen dadurch aus, dass es sich (mit der einzigen Ausnahme der zumindest als möglich beschriebenen »Fliegekunst« – Volatoria) um existieren-

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Ebd., S. 17–24. Ein mögliches Vorbild für das zentrale »Kunst-Schloss der Welt-Weißheit« ist in Tycho Brahes (1546–1601) Sternwarte Uraniborg auf der Insel Hven zu sehen, die Major nicht nur in der See-Farth als Beispiel lobenswerter Wissenschaftspatronage erwähnt, sondern auch im Collegium medico-curiosum als eine jener Einrichtungen aufführt, in denen die verstreuten Wissensgegenstände versammelt seien. Major 1683 (wie Anm. 26), S. 16. Vgl. Cornelius Steckner: Medico erudito aut necessarium. A Cartesian Utopia Erudita of 100 sciences, published by J. D. Major (1634–1693) in 1670, and its institutional background. In: Actes du XXXIIe Congrès International d’Histoire de la Médicine. Anvers, 3–7 Septembre 1990. Hg. v. Eric Fierens u.a. Brüssel 1991, S. 723–733, hier S. 725.

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de Disziplinen bzw. Wissensbereiche handelte, deren aktueller Wissensstand in bündiger, meist exemplarischer Form präsentiert wird. Die Architektur dient Major zur Darstellung eines strukturierten Wissenschaftssystems. Die Binnendifferenzierung in Haupt- und Nebengebäude, Stockwerke, Säle, Nebengemächer und Zimmer erlaubt eine anschauliche Darstellung der hierarchischen Organisation der Wissensgebiete, deren Relationen und Abhängigkeiten zudem durch die sukzessive Beschreibung der Räume im Narrativ des geleiteten Rundgangs deutlich gemacht werden.29 So befindet sich im Obergeschoss des »Kunst-Schlosses« der »astronomische Spatzier-Saal«, der über zwei Gewölbe mit den Sternen der nördlichen und südlichen Hemisphäre, Globen sowie Darstellungen der Weltsysteme nach Claudius Ptolemäus, Tycho Brahe und Nikolaus Kopernikus verfügt. An diesen Saal schließen zehn »Neben-Gemächer« mit astronomischen Einzeldisziplinen an, in denen das Wissen von der Sonne (Pyrographia), den Eigenschaften der Planeten im Allgemeinen (Planetographia), den sechs Planeten im Besonderen (Cronographia [Saturn], Diographia [Jupiter], Aerographia [Mars], Geographia [Erde], Aphroditographia [Venus], Hermetographia [Merkur]), dem Mond (Selenographia) und den Kometen (Cometographia) repräsentiert ist. Im Gemach der Geographia wiederum gibt es weitere »Zimmer«: drei kleine mit den Disziplinen Landesbeschreibung (Chorographia), Ortsbeschreibung (Topographia) und Windkunde (Anemologia) sowie ein »grosses Logiment« zur Gewässerkunde (Hydrographia).30 In dieser räumlichen Anordnung der Disziplinen fand eine Topik des Wissens ihre im Grunde naheliegendste Formulierung. Diese hatte bekanntlich ihre Herkunft in den Mnemotechniken der antiken Rhetoriklehren, die den zu erinnernden Wissensbeständen einen ›Platz‹ in Stadt oder Haus zuwies, um sie einem imaginären Abschreiten verfügbar zu halten.31 In Hinblick auf die jeweilige Kurzdarstellung der Disziplinen, ihre Inhalte und systematischen Relationen ist Majors architektonisch-topisch organisierte 29

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Die kritische Bemerkung, das Ordnungsprinzip der Disziplinen sei »im humanistischen Sinn – ganz ungelehrt, schlicht numerisch«, übergeht schlichtweg die architektonische Binnenstruktur und die durch sie geleistete Organisation der Wissensbereiche. Vgl. Georg Braungart, Wolfgang Braungart: Misslingende Utopie. Die Neuen Wissenschaften auf der Suche nach fürstlicher Patronage. Zu Johann Daniel Majors ›See=Farth nach der Neuen Welt‹ (1670). In: Res Publica Litteraria. Die Institutionen der Gelehrsamkeit in der frühen Neuzeit. Hg. v. Sebastian Neumeister und Conrad Wiedemann. Bd. 1. Wiesbaden 1987, S. 367–385, hier S. 370. Die Nummerierung der Disziplinen dient im Wesentlichen ihrer Auffindung mittels des Index auf den unpaginierten Blättern der Erstausgabe. Major 1683 (wie Anm. 26), S. 33–47. Vgl. dazu Wolfgang Neuber: Die vergessene Stadt. Zum Verschwinden des Urbanen in der ars memorativa der Frühen Neuzeit. In: Seelenmaschinen. Gattungstraditionen, Funktionen und Leistungsgrenzen der Mnemotechniken vom späten Mittelalter bis zum Beginn der Moderne. Hg. v. Jörg Jochen Berns und Wolfgang Neuber. Wien, Köln, Weimar 2000, S. 91–108. Für die Rolle der Architekturmetapher im Diskurs der Wissensorganisation siehe grundlegend Annarita Angelini: Encyclopedias and Architecture in the Sixteenth Century. In: The Power of Images in Early Modern Science. Hg. v. Wolfgang Lefèvre, Jürgen Renn und Urs Schoepflin. Basel, Boston, Berlin 2003, S. 265–288.

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Darstellung der Encyclopaedia Johann Heinrich Alsteds, vor allem aber den ›mathematischen‹ Enzyklopädien eines Johannes Faulhaber, Pierre Hérigone oder Caspar Schott verwandt, deren – von Autor zur Autor verschiedenen und nur selten kohärenten – disziplinäre Klassifikationen vor allem dazu dienten, Studenten mit den Namen, Gegenständen und Begrifflichkeiten der unterschiedlichen Fächer vertraut zu machen.32 Dass Major vom didaktischen Nutzen derartiger Gesamtdarstellungen überzeugt war, lässt sich an einem anderen Werk erkennen: 1677, vier Jahre nachdem Major seine Professur für theoretische Medizin gegen die für praktische Medizin eintauschen konnte, ließ er seine 27teilige Tabula Sciagraphica drucken, die im Schema ramistischer KlammerTabellen verfasst einen detaillierten Überblick über die Aufgabenbereiche der praktischen Medizin bot und die Major vom Wintersemester 1677/1678 bis zum Sommersemester 1689 seinen wöchentlichen Vorlesungen zugrunde legte.33 Im Bild der Architektur drückt sich indes nicht allein eine – didaktisch erforderliche – Ordnung des Wissens aus. Schon Wower hatte im Anschluss an Aristoteles die Philosophie als »disciplinarum αρχιτεκτονική« (Architektonik der Wissensgebiete) bezeichnet und damit den finalen Charakter polymathischer Bildung beschrieben.34 »Architektonisch« sind die zur Polymathie gehörigen Disziplinen nämlich im Sinne ihres Zusammenhangs und ihrer gemeinsamen Orientierung auf ein übergeordnetes Ziel. In der 1688 gedruckten Beschreibung seiner privaten Sammlung, dem »Museum Cimbricum«, in dem Major Experimentalkollegien für seine Studenten zum Zwecke einer polymathischen Bildung abhielt, kommt dieser Aspekt der Architekturmetaphorik deutlich zum Ausdruck, wenn er feststellt, dass alle unsere Welt-Weißheit/ so viel man bißanher (in diesem Experimental-Seculo sonderlich) darinn avanciren können/ keinem Dinge beqäumer verglichen werden kan/ als einem fürtrefflichen Gebäude/ dessen Materialien ebenfalles nicht alle von gleicher Kostbarkeit; allezusammen jedoch/ wo nicht gleich-nothwendig sind/ zum wehnigsten in diesem Stück mit einander überein treffen/ das sie auff diesen allgemeinen Zweck/ auf eine bequäme Wohnung/ gerichtet werden.35

Mit dem Bild der »bequäme[n] Wohnung«, d.h. der Verbesserung der menschlichen Lebensumstände mittels der Wissenschaft, gab sich Major als Anhänger

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Vgl. Eberhard Knobloch: Klassifikationen. In: Maß, Zahl und Gewicht. Mathematik als Schlüssel zu Weltverständnis und Weltbeherrschung. Hg. v. Menso Folkerts, Eberhard Knobloch und Karin Reich. Wiesbaden 2001, S. 5–32. Zum didaktischen Aspekt der frühen Enzyklopädien siehe auch Anthony Grafton: The World of the Polyhistors. Humanism and Encyclopedism. In: Central European History 18 (1985), S. 31–47, hier S. 38. Johann Daniel Major: Medicinae quam vocant practicae [...] in ordinem redactae, tabula sciagraphica [...]. Kiel 1677 (27 Tafeln in 9 Teilen). Vgl. Catalogus Lectionum in Academia Christiano-Albertina [...]. Kiel 1677/78 etc. Wower (wie Anm. 11), S. 282. Aristot. Nic. eth. I, 1, 1094a. Johann Daniel Major: Kurtzer Vorbericht/ betreffende D. Johann-Daniel Majors [...] Museum Cimbricum, oder insgemein so-genennte Kunst-Kammer/ mit darzu-gehörigem Cimbrischen Conferenz-Saal. Plön 1688, S. 52f.

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einer utilitaristischen Programmatik im Sinne Bacons zu erkennen.36 Aus dieser Orientierung auf die Anwendbarkeit folgte die Methodik: Alle »fruchtbare«, d.h. nutzbringende Philosophie, so Bacon in De augmentis scientiarum (1605/1623), verfüge über eine »doppelte Skala oder Leiter [...] aufsteigend und absteigend, aufsteigend von Experimenten zu Axiomen und absteigend von Axiomen zur Entdeckung neuer Experimente«.37 Bei Major klingt dieses Bild an, wenn er in der Vorrede zur See-Farth erklärt, er wolle ein Land beschreiben, darin die Menschen bey lebendigem Leibe gleichsam zu Irdischen Göttern werden/ und bey continuirlicher gesunder Frühlings-Lufft/ auf güldenen Kettenhaken gen Himmel steigende/ alles/ was zwischen Himmel und Erden ist/ alle offene und verborgene Schätze der Natur/ und innerste Klüffte derselben/ mit verklärten Luchs- und Argus-Augen besehen/ den Geschichten voriger Zeit/ ja allen Menschen und Künsten/ alle jemahls gehabt- und künfftig-folgenden Sinnreichen Erfindungen/ zur Ehre GOttes / ihr Maaß und Gesetze geben können.38

Der ›architektonische‹ Zusammenschluss der Disziplinen, d.h. die polymathische Bildung zielt demnach auf die Auffindung der Axiome bzw. von »Maaß und Gesetze[n]« durch Beobachtung, mit denen künftige Erfindungen ermöglicht und dem menschlichen Nutzen zugeführt werden sollen. Mit der in Aussicht gestellten ›Apotheose‹ wiederum bezieht sich der Mediziner Major auf die (Pseudo-)Hippokratische Schrift De decenti habitu, in der der durch Erfahrung – und nicht bloß theoretisch – geschulte Arzt als ισόθεος (Deo similis – gottähnlich) bezeichnet wird.39 Bereits Daniele Barbaro (1513–1570) hatte in seiner kommentierten Ausgabe von Virtruvs De architectura (1556) bemerkt, dass ein Verstehen der wahren Bedeutung der Architektur notwendig zum Verständnis des Kreises und der Verkettung der Disziplinen führe.40 Major unterstreicht den enzyklopädischen Charakter seiner Architektur durch die Hinzunahme des bereits angeklungenen Bildes der Kette: Wie Philalethes, der »Hauptmann« der »Vestung des Reichs der Cosmosophorum«, Dädalus umfänglich erklärt, sind die Türen aller Räume, sowohl des Hauptgebäudes wie auch der beiden Nebengebäude, durch eine goldene Kette dergestalt miteinander verbunden, dass »ohne eintzige hinderung im hindurchgehen/ wenn eine Thüre geöffnet wird/ die übrigen sich mitrühren/ und schliessen sich nicht zu/ sondern eröffnen sich vielmehr/ gleichsam aus Æmulation, daß eine jedwede ihren Lehrbegierigen Gast gern hindurch lassen 36

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Vgl. Francis Bacon: De dignitate et augmentis scientiarum. In: Works. Hg. v. James Spedding, Robert L. Ellis und Douglas D. Heath. Bd. 1. London 1858, S. 431–837, hier I, S. 462f. Ebd., III, 3, S. 547. Vgl. ebd., V, 2, S. 62f. Übs. n. Francis Bacon: Über die Würde und die Förderung der Wissenschaften. Übs. v. Jutta Schlösser. Hg. v. Hermann Klenner. Freiburg 2006, S. 173f. Major 1683 (wie Anm. 26), S. 12f. Major verwendete wohl die Ausgabe Straßburg 1654. Vgl. ebd., S. 229, Anm. w. Hipp., de Dec. Hab. III. Vgl. Johann Daniel Major [Präs.] u. Johannes Crusius [Resp.]: Disputatio Medica Quam de Aurea Catena Iovis Coelo demissa [...]. Kiel 1685, S. 8, §6. Daniele Barbaro: I Dieci Libri dell’Architettura di M Vitruvio [...]. Venedig 1556, I, 1, S. 16. Vgl. Angelini (wie Anm. 31), S. 266ff.

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wolte«.41 Als Grund für diese Konstruktion führt Philaletes an, dass »alle Weltliche Wissenschaften dergestalt beschaffen/ daß keine ohne Zuthuung der andern/ gründlich und wol verstanden/ gelehrt oder gelernet werden kan«.42 Die auf Quintilian, Cicero und Vitruv zurückgreifende, von der ursprünglichen Bedeutung gleichwohl abgerückte Vorstellung einer ›Kette der Disziplinen‹, die Major ins Bild einer mechanischen Schließanlage überführt, war schon lange ein Topos im Bildungsdiskurs, auf den sich jede frühneuzeitliche Encyclopaedia schon im Namen berief.43 Dabei hat es das Verständnis des Major’schen Wissenskonzepts sicher nicht erleichtert, dass er diese Figur des enzyklopädischen Fächerkanons mit dem Bild eines vertikalen Bandes kombinierte: Die beiden Enden der Kette, mit der alle drei Gebäude und alle in ihnen befindlichen Disziplinen verbunden sind, »verkoppeln sich da in einem Ring/ welchen eine andere/ etwas stärckere Kette fasset/ die allzeit im zehnden Glied einen stracken Hacken haltend (daran man auff und absteigen kan) biß über die Wolcken und Sterne langet«.44 Damit ruft Major das Bild der Catena aurea Jovis auf, weicht aber erheblich von dessen traditionell ontologischen Bedeutung als einer von Gott abhängigen Seinshierarchie zugunsten eines rationalistischen Fortschrittsgedankens ab.45 Denn es geht ihm hier ganz offensichtlich nicht darum, eine Kosmologie neuplatonischer Färbung anzudeuten, die andere Autoren seiner Zeit in dieser Metaphorik formulierten.46 Vielmehr bezeichnet die vertikale Kette den »Philosophische[n] Weg zum Himmel«, der »nebst der allerheiligsten Land-strasse der Geistlichen Offenbahrungen/ der nächst- und schönste Steig« zur Erkenntnis sei – eine Unterscheidung, die auch Bacon vollzogen hatte.47 Auf diesem Weg lernen »getreue Schühler der Natur« »das göldene/ ja unzehlbahre Diamenten-wehrte A. B. C.«, bis sie leichtlich Syllben machen/ und buchstabieren/ dann Worte und Zeilen zusammen setzen/ biß vollends einen gantzen Text selbsten lesen/ und unterschiedliche Blätter in dem grossen/ mit Himmels-Circuln zusammen gebundenen Buche der gantzen sichtbahren 41 42 43

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Major 1683 (wie Anm. 26), S. 138. Ebd., S. 139. Gleichlautend auch in Johann Daniel Major: Genius Errans Sive De Ingeniorum In Scientiis Abusu Dissertatio. Kiel 1677, s.p. [Bl. A2v]. Zur Herkunft und zum frühneuzeitlichen Bedeutungswandel der »encyclios disciplina« siehe Jürgen Henningsen: ›Enzyklopädie‹. Zur Sprach- und Bedeutungsgeschichte eines pädagogischen Begriffs. In: Archiv für Begriffsgeschichte 10 (1966), S. 271–362, bes. S. 304–309. Vgl. Wower (wie Anm. 11), XXIV, S. 275–282. Siehe auch Conrad Wiedemann: Polyhistors Glück und Ende. Von Daniel Georg Morhof zum jungen Lessing. In: Festschrift Gottfried Weber. Zu seinem 70. Geburtstag überreicht von Frankfurter Kollegen und Schülern. Hg. v. Heinz Otto Burger und Klaus von See. Bad Homburg, Berlin, Zürich 1967, S. 215–235, hier S. 224. Major 1683 (wie Anm. 26), S. 139. Zu den zwei grundsätzlichen Modellen siehe Christian Strub: Band, Kette. In: Wörterbuch der philosophischen Metaphern. Hg. v. Ralf Konersmann. Darmstadt 2007, S. 23–34. Siehe dazu Thomas Leinkauf: Mundus combinatus. Studien zur Struktur der barocken Universalwissenschaft am Beispiel Athanasius Kirchers SJ (1602–1680). Berlin 1993, S. 110–123. Major 1683 (wie Anm. 26), S. 140. Vgl. Bacon (Anm. 36), III, 1, S. 539–544.

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Welt/ ohne sonderbahren mühsamen Finger des Aristotelis, und seiner Dolmetscher/ besser als jemand vorhin/ verstehen können.48

Die schrittweise Erforschung der Natur vom Kleinsten bis zu den großen Zusammenhängen hatte vorbildlich schon der von Major geschätzte und vielfach zitierte René Descartes (1596–1650) formuliert: Jene langen Ketten ganz einfacher und leichter Begründungen, die die Geometer zu gebrauchen pflegen, um ihre schwierigsten Beweise durchzuführen, erwecken in mir die Vorstellung, daß alle Dinge, die menschlicher Erkenntnis zugänglich sind, einander auf dieselbe Weise folgen und daß, vorausgesetzt, man verzichtet nur darauf, irgend etwas für wahr zu halten, was es nicht ist, und man beobachtet immer nur die Ordnung, die zur Ableitung der einen aus den anderen notwendig ist, nichts so fern liege, daß man es nicht schließlich erreichte, und nichts so verborgen sein kann, daß man es nicht entdeckte.49

Dabei ist Majors Einschub, dass man auf dieser Kette »auff und absteigen kan«, schon deshalb wichtig, weil diese doppelte Bewegungsrichtung einmal mehr anzeigt, dass Major den Prozess der Erkenntnisgewinnung nicht nur als deduktives Fortschreiten, sondern als einen dynamischen Wechsel zwischen Empirie und Theorie im Sinne Bacons denkt.50 Die Kombination der horizontalen Kette der Disziplinen mit der vertikalen Kette des Erkenntniszuwachses ist als zeitlich aufeinander folgend zu verstehen: Die im polymathischen Curriculum zu durchlaufenden Disziplinen bilden die Grundlage einer anschließenden Naturforschung. Im Sinne der Topik stellt Polymathia das Material (historia) bereit, aus dem sich die Wissenschaft als Erfindungskunst bedient. Zugleich aber ist Majors zweigliedriges Modell der Kette als origineller Versuch zu werten, die ältere Auffassung von scientia als Akkumulation kanonischen »Wissens« mit dem neueren (cartesianischen) Konzept von »Erkenntnis« zu verbinden. Es gehört zu den vielleicht notwendigen Inkonsequenzen der von Major gewählten Darstellungsweise, dass sich die Funktion der Architektur in der SeeFarth nicht auf eine metaphorische Darstellung einer enzyklopädischen Wissensordnung beschränkt. Unter den obligatorischen individuellen und materiellen Voraussetzungen von Wissenschaft, die Major am Ende des Buches aufzählt, nennt er auch den »Locus Commodus, oder beqäume Behausung/ und 48 49

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Major 1683 (wie Anm. 26), S. 140. René Descartes: Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung. Übs. u. hg. v. Lüder Gäbe. Hamburg 1997, II, 11, S. 33. Ob Major den Discours de la méthode kannte, ist nicht mit Sicherheit zu sagen. Immerhin erwähnt er Descartes’ Leistungen in der Entwicklung der Analysis und verweist damit auf die zusammen mit dem Discours erschienene Géométrie. Major 1683 (wie Anm. 26), S. 24. An anderer Stelle erwähnt er Descartes’ autobiographischen Bericht von dessen Reisen und Militärzeit (ebd., I, 14, S. 17 u. II, 1, S. 19). In jedem Fall lagen Major die Principia philosophicae (1644) vor, in deren »Schreiben an den Übersetzer« (1647; in der lat. Ausg. ab 1650), die »Kette der Deduktionen« (la suite des deductions/deductionem series) eingehend behandelt wird. Vgl. Johann Daniel Major: Collegium Medico-Curiosum Hebdomadatim intra aedes privatas habendum intimat aequis Aestimatoribus Studii Experimentalis. Kiel o.J. [1670], s.p. [28. Aug., Specimen IV u. 10. Sept., Specimen VI]. Karin Unsicker sieht hingegen in der vertikalen Kette den »alten Gegensatz von Offenbarungs- und natürlicher Theologie« dagestellt. Unsicker (wie Anm. 23), S. 204.

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wol-aptirte Gemächer/ so wol zum Laboriren in allerhand Dingen/ als besonders hernach zur Demonstration«.51 Aus diesem Bewusstsein von der Bedeutung räumlicher Bedingungen für die auf sinnlicher Erfahrung beruhende Erforschung der Natur erklärt sich, warum Major neben abstrakten oder gänzlich unbeschriebenen Räumen zur Repräsentation einzelner Disziplinen auch konkrete Räume und deren Ausstattungen schildert: etwa den als astronomisches Observatorium dienenden Altan, eine begehbare Camera obscura zur Beobachtung von Sonnenflecken, ein anatomisches Theater mit Schautafeln und Präparaten, einen botanischen Garten und ein Conclave Opticum mit optischen Instrumenten und Spiegeln.52 Nur in dieser Hinsicht ist verständlich, dass der Mathematiker Samuel Reyher (1635–1714), ein weiterer Kieler Kollege Majors, die Wissenschaftsarchitektur im »Reich der Cosmosophorum« mit den Forschungseinrichtungen in Bacons New Atlantis vergleicht.53 Denn während Salomon’s House aus autonomen, auf bestimmte Gegenstände und Erfahrungsweisen spezialisierten Gebäuden besteht, die aufgrund von Bacons Ablehnung einer vorgängigen und rein rationalen Systematisierung des Wissens einer definitiven disziplinären Zuordnung gerade entbehren, entwirft Major ja ein zentralistisch organisiertes Architekturensemble. Die Unterschiede beider Architekturen sind jedoch nicht prinzipieller Natur, sondern beruhen auf den differenten Absichten beider Autoren: Bacon geht es in seiner Utopie um den Entwurf einer zukunftsoffenen Forschung, Major hingegen formuliert das Modell einer Grundausbildung, die dieser Forschung notwendig voranzugehen hatte.

2. Curriculum Studii Experimentalis Der Litterärhistoriker und Herausgeber der nachgelassenen Teile von Morhofs Polyhistor Johannes Moller (1661–1725) schrieb über Majors See-Farth, in ihr sei »im erzählerischen Gewand einer Reise des Dädalus in die neue Welt« eine »Polymathi[a] Medico-Physico-Mathematic[a] experimentalis hodiern[a]« entworfen.54 Tatsächlich betont Major durchgängig die vorrangige Bedeutung

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Major 1683 (wie Anm. 26), S. 248. Ausführlicher in Major 1670 (wie Anm. 49), s.p. [17. Sept., Prooemium]. Mit der Einrichtung seiner eigenen Sammlung von Naturalien, Münzen und archäologischen Fundstücken sowie eines temporären anatomischen Theaters (1666) und des Botanischen Gartens der Universität (1669) war Major ganz praktisch mit derartigen Räumen befasst. Vgl. Major 1683 (wie Anm. 26), S. 25, 66–68 u. 158–171. Samuel Reyher [Präs.]: De Rege Mathematico. Kiel [1670], s.p. [Cap. IV]. Erneut in ders.: Mathesis Regia [...]. Kiel 1693, S. 62. »sub schemate narrationis de itinere Daedali in orbem novum & hactenus incognitum mythologiae, delineatio sistitur Polymathiae Medico-Physico-Mathematicae experimentalis hodiernae«. Johannes Moller: Cimbria literata, sive scriptorum Ducatus utriusque Slesvicensis et Holstatici [...]. Bd. 2. Kopenhagen 1744, S. 516.

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des Experiments – wie auch der »Experience«, d.h. der Autopsie – für die Wissensgenese. In demonstrativer Abwandlung des berühmten Satz aus der Metaphysik des Aristoteles bringt Major seinen Wissensbegriff auf den Punkt: »Scire est rem ab experimento per causam cognoscere«.55 Trotz der zunehmenden Akzeptanz der experimentellen Methode unter den Gelehrten war deren Integration in die akademische Lehre keineswegs unproblematisch, da der universitäre Fächerkanon und die – zumindest formal bestehende – Verpflichtung zu einer dogmatisch-systematischen Naturlehre kaum in der Lage waren, die verschiedenen Gebiete des Erfahrungswissens mitsamt ihren Methoden aufzufangen. Die verschiedentlich – freilich privatim – durchgeführten Collegia curiosa können in dieser Hinsicht als Versuche verstanden werden, die institutionelle Beschränkung durch eine großzügige Auslegung des Zuständigkeitsbereichs seitens der Professoren zu kompensieren.56 Major selbst hat vom Sommersemester 1668 bis zum Wintersemester 1689/90 mindestens neun Experimentalkollegien in seinen privaten Räumlichkeiten durchgeführt.57 Rückblickend schrieb Major 1688, er habe »die studirende Jugend/ oder andere Kunst- und Tugend-liebende Personen [...] alle 4. oder 5. Wochen einmal/ [...] einen gantzen oder halben Tag lang/ zu ordentlicher demonstration, und auffrichtig-williger Erklärung/ so mancher betrachtungs-würdiger Zeugnüsse/ der wunderthätigen Hand Gottes« in seine Sammlung geladen. Ihnen sei dort vorgeführt worden, »was sie sonst gewiß auff den wenigsten Universitäten DeutschLandes/ noch zur Zeit/ antreffen werden«.58 In gewisser Weise schloss Majors Unterrichtskonzept an Wowers scientiaBegriff an, für den die Reise als Inbegriff der Autopsie zentral war.59 Zu den zahlreichen Hindernissen bei der Erlangung von »Experimentalwissen« (Expe55

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Major 1683 (wie Anm. 26), S. 223. Vgl. Arist. Met. I,3, 983a 25–26. Bei Bacon heißt es noch »Vere scire, esse per causas scire«. Francis Bacon: Novum Organon. In: Works. Hg. v. James Spedding, Robert L. Ellis und Douglas D. Heath. Bd. 1. London 1858, S. 119– 365, hier II, Aph. 2, S. 228. Neben Major sind als Veranstalter von Experimentalkollegien exemplarisch zu nennen: Friedrich Schrader in Helmstedt (Neil Kenny: The Uses of Curiosity in Early Modern France and Germany. Oxford 2004, S. 35), Johann Christoph Sturm in Altdorf oder Theodor Zwinger in Basel (Vgl. Heinrich Buess, Marie-Louise Portmann, Peter Molling: Theodor Zwinger III (1658–1724). Ein Basler Arzt und Kinderarzt der Barockzeit. Basel 1962, S. 75–93). Die Diskrepanz zwischen den universitären Vorlesungen zur dogmatischen Naturlehre und den experimentellen Privatkollegien, auf die Wiesenfeldt im Zusammenhang mit Sturm aufmerksam gemacht hat, war zweifellos symptomatisch, wenngleich nicht an allen Universitäten in gleicher Weise ausgeprägt. Vgl. Gerhard Wiesenfeldt: Leerer Raum in Minervas Haus. Experimentelle Naturlehre an der Universität Leiden, 1675–1715. Berlin, Diepholz 2002, S. 344ff. Vgl. Catalogus Lectionum (wie Anm. 33), 1668 etc. Vgl. Ilse Jahn: Sammlungen. Aneignung und Verfügbarkeit. In: Grote (wie Anm. 21), S. 475–500, hier S. 485. Major 1688 (wie Anm. 35), S. 22, §7. Wower (wie Anm. 11), XXVIII, S. 332–334. Zur Bedeutung des Reisens für die Entwicklung empirischer Methoden in der Frühen Neuzeit siehe Justin Stagl: Das Reisen als Kunst und als Wissenschaft (16.–18. Jahrhundert). In: Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien 111 (1981), S. 78–92; ders.: Eine Geschichte der Neugierde. Die Kunst des Reisens 1550–1800. Wien, Köln, Weimar 2002, S. 71–194.

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rimentalis Sapientia) gehöre nämlich, wie Major einleitend bemerkt, dass die zu ihr notwendigen Gegenstände entweder aus Geldmangel nicht zur Hand seien oder weil sie sich an weit entfernten Orten befänden, die nur durch beschwerliche Reisen zu erreichen seien. Abhilfe, so Major weiter, schaffe die auszugsweise Zusammenstellung (Epitome), d.h. die Sammlung dieser Gegenstände an einem Ort, in »Musea, Pinacothecae, Gozophylacia, & Conclavia Corporum Naturalium, Artificialiumque rariorum«, wie sie von Fürsten und Gelehrten – wie Major selbst – eingerichtet worden seien.60 Der Bezug von Majors Kollegien zur See-Farth war im Fall des Collegium Cosmosophorum (WS 1671/72) bereits durch die Namensgebung markiert. Im gedruckten Programm zum Collegium medico-curiosum, das vom 20. August bis 8. Oktober 1670 stattfand, verwies Major auf seine kürzlich erschienene »Utopia erudita«.61 Sowohl die in diesem Kollegium behandelten Gegenstände als auch die zwischen die praktischen Ausführungen eingeschobenen Bemerkungen zu Gestalt und Zweck einer polymathischen Bildung decken sich vielfach mit Aussagen in der See-Farth. Unübersehbar ist dabei der Einfluss der Bacon’schen Wissenschaftstheorie. So stellt Major zu Beginn der ersten Sitzung fest, dass das Ziel der »experimentellen Forschung« (Experimentale Studium) die Vervollkommnung des menschlichen Wissens durch sichere Beobachtung und nicht allein durch die eigene Vernunft oder im Vertrauen auf andere Autoritäten sei.62 In diesem Sinne heißt es auch in der See-Farth, dass ein Wissen von der wahren »Beschaffenheit der Dinge in der Natur« nur zu gewinnen sei, wenn die Beobachtung »vor den unparteylichen Richter-Stuel gesunder Vernunfft/ ohne S[c]lavisches ansehen der Persohnen derer/ die mit blossen Opinionen/ Præjudiciis, und menschlicher Autorität fechten«, gestellt werde.63 Zudem dürften »in Mathematicis und aller anderer Polymathiâ weder Kosten/ noch Müh« gescheut werden, um »alle menschliche Welt-Weißheit [...] gleichsam als auff zwey Crystalline/ mit Gold umbfaßte Wagschalen (reiffen Nachdenckens/ und genungsamer Observation) abgewogen/ in ein solch Modell zu giessen/ so mit

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Major 1670 (wie Anm. 49), s.p. [Vorrede]. Die Auffassung von Kunst- und Naturaliensammlungen als komprimierten Makrokosmos war freilich zu diesem Zeitpunkt schon ein Gemeinplatz und war etwa auch durch den von Major geschätzten Hofbibliothekar Adam Olearius (1603–1671) als Zweck der Gottorfer Kunstkammer genannt worden. Vgl. Adam Olearius: Gottorffische Kunst-Cammer/ Worinnen Allerhand ungemeine Sachen/ So theils die Natur/ theils künstliche Hände hervor gebracht und bereitet. [...]. Schleswig 1666, Bl. bv . Major 1670 (wie Anm. 49), s.p. [Lectoribus]. »Experimentale Studium est Venatio perfectionum in Sapientia humana, per Observationes certas, perceptas ope Sensuum, ne soli Rationi nostrae, vel fallibili etiam aliorum Autoritate credentes, moram patiamur in transitu ad Res, a Sensibus remotas«. Ebd., s.p. [20.8.1670]. Vgl. Bacon (wie Anm. 36), I, S. 460f. Das Motiv der »Jagd« (venatio) als Bild für die »gelehrte«, d.h. methodische, experimentelle Erfahrung (literata experientia) stammt ebenfalls von Bacon. Siehe ebd., V, 2, S. 623 u. passim. Major 1683 (wie Anm. 26), S. 125.

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dem holdseligen Nahmen des Studii oder Philosophiæ Experimentalis, bemerckt«.64 In Majors Vorstellung von Polymathie, das wird hier deutlich, erhält das Iudicium – im Sinne einer empirisch-experimentellen Überprüfung von Lehrmeinungen – besonderes Gewicht. Das Curriculum Studii Experimentalis, wie Major die Reihe der Disziplinen an einer Stelle der See-Farth nennt, und das er mit seinen Kollegien in die Praxis umsetzte, sollte demnach nicht allein dem Erwerb von Wissen dienen, sondern der Einübung einer methodischen Kritik als Mittel des Erkenntnisfortschritts.65 Die in der Dedikation der zweiten Ausgabe geäußerte Hoffnung, »als ob freye Künste dennoch einmal zu ihrer Experimental-glückseeligkeit gelangen möchten«, ist in diesem Sinne zu verstehen:66 Eine Etablierung der experimentellen Methode in allen Disziplinen der universitären Ausbildung mit dem Ziel ihrer Bereinigung von überkommenen und falschen Lehrmeinungen. Wie vielfältig, d.h. heterogen sich polymathische Bildung in der Praxis ausnahm, lässt sich aus dem Programm des Collegium medico-curiosum ersehen: In der ersten Sitzung vom 20. August 1670 demonstrierte Major seinen Studenten eine Wüstenrose (Rose von Jericho), einen Opal, ein »mineralisches Chamäeleon« (Metamorphosis Colorum) und eine Raupe. In den weiteren Sitzungen folgten u.a. ein Onyx, diverse Muscheln, ein Krokodil, ein Chamäleon, etliche Lektionen zur Anatomie des Auges, ein Stück Florentiner Bildermarmors, chemische Experimente, darunter die künstliche Erzeugung von Hitze und Kälte, sowie zehn Versuche zum Magnetismus. Thematische Schwerpunkte sind in dieser bunten Reihe allenfalls im Fall der Augenanatomie auszumachen. Aus der schlichten Abhängigkeit von dem verfügbaren Anschauungsmaterial folgte notwendig dessen Disparatheit in systematischer Hinsicht. Das entsprach zwar durchaus dem Bacon’schen Konzept einer sammelnden Tatsachenwissenschaft, gab aber noch keine Antwort auf die sich aufdrängende Frage, wie und wo die gewonnenen Beobachtungen bei zunehmender Quantität sinnvoll abzulegen wären, d.h. wie eine solche Wissenssammlung geordnet sein müsste. Die Lösung lieferte Major mit der topisch-enzyklopädischen Architektur in der SeeFarth. Gleichwohl ging es in den »Gemächern« des »Kunst-Schlosses der WeltWeißheit« ähnlich zu wie in Majors Kollegium, denn der Gegenstandsbereich der jeweiligen Disziplin wird überwiegend durch Exemplarisches veranschaulicht. So wird etwa im »Conclave OPTICUM«, dem »aller-realeste[n] unter allen Mittel-Gemächern der Mathematischen Burg«, zunächst auf die »Sinnreich- und herrliche[n] Observationes« in den Werken des Archimedes, Witelo, Alhazen, François d’Aguilon, Athanasius Kircher, Jean-François Niceron sowie Guidobaldo del Monte und Albrecht Dürer (letztere als Vertreter der Perspekti-

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Ebd., S. 125f. Ebd., S. 233. Ebd., s.p. [Bl. a6r].

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ve) verwiesen.67 Für die Dioptrik nennt Major »klar-vergrössernde Tubos und Ferngläser/ wundersam-färbende Glaß- und Wasser-Prismata« sowie Anamorphosen und Mikroskope. Im Raum der Katoptrik finden sich »theils gemein- theils betrügliche/ groß- und kleine/ platt- und krumme/ steiff- und flexible, hohle/ cylindrische/ Kägel- und Kugel-förmige/ verkehrend- vergrösserndverkleinernd- ja gantz ungewöhnliche Dinge vorstellende/ anzündend- und Farben-ausleschende/ Glaß- Metall- Wasser- und Lufft-Spiegel«. Schließlich nennt Major die Camera obscura und erörtert recht ausführlich, dass ein vor der Lochblende vorbeibewegtes Bild – »zum Exempel ein gemahltes Pferd« – zwar auch ein bewegte Projektionsbild erzeuge, allerdings nicht im Sinne, dass das Pferd selbst sich zu bewegen scheine. Die Aussage, man habe »in der Camerâ einen Reiter reiten sehen«, sei schlicht »nicht gut-opticè gesprochen«.68 Im Übrigen würden in dieser Camera obscura alle beliebigen Gegenstände perfect und in ihrer natürlichen Vivacität von Glied zu Gliede/ in merckwürdiger Varietät/ verstehe nicht nur allein auf gemeine verkehrte Manier/ sondern bald aufrecht/ bald verkehrt/ bald vergrössert/ bald verkleinert/ gar groß/ gar klein/ und am allerkleinsten/ durch ein Glaß/ durch mehrere/ auch ohne Gläser/ und vermittelst der blossen Lufft/ oder sonst was anders/ oder durch Gläser/ gantze und nicht gantze/ aus unterschieden-intendirter Section, ein- oder vielförmig-geschliffene/ vorwarts/ seiten-warts and Wänden/ oben an der Decke/ unten am Boden/ oder platt auf einer gedeckten Taffel/ und in medio Aëre, auff vielerley Distantien/ und auf einer Distanz so klar und scharff/ als auf der andern/ in naturälen Farben/ gedämpfft/ und Nebelfärbig/ beweglich/ unbeweglich/ unter stillem und flatternden Licht/ &c. vorgestellet: ja möglich ists/ eines Objecti sechs Abbildungen zugleich/ (nicht stückweiß durch Behülff eines Polyedri, sondern alle gantz) auf einer Taffel/ durch sonderlich-modificirte Direction der eingezwängt- und wiederumb bloß dahin zerstreuten/ Projectionum Luminis, zu præsentiren [...].69

Zugunsten einer fast atemlosen Anhäufung experimenteller Variationen sind Fragen nach der Natur und den Eigenschaften des Lichts gänzlich ausgeblendet. Es ist dies ein wesentlicher Zug der Major’schen Polymathie: Stets bleibt er in seinen Ausführungen auf der Ebene des Experiments und hält sich mit theoretischen Deutungen der Phänomene auffallend zurück. Im Curriculum Polymathiae Experimentalis geht es um die Vermittlung einer ungefähren Kenntnis des zeitgenössischen Wissensstandes, nicht um dessen Vertiefung.70 Und daher ist mit der Forderung nach »Disciplinarum Notitia, oder summarische besitzung der meisten und fürnehmsten Wissenschafften« das eigentliche Ziel der SeeFarth wie auch der Major’schen Experimentalkollegien genannt.71

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Vgl. ebd., S. 161f. Ebd., S. 161–165. Ebd., S. 167f. Es ist anzunehmen, dass sich Major auf die 1667 von Samuel Reyher zu Lehrzwecken eingerichtete begehbare Camera obscura im Universitätsgebäude bezog. Vgl. Charlotte Schmidt-Schönbeck: 300 Jahre Physik und Astronomie an der Kieler Universität. Kiel 1965, S. 23. »Curriculum Polymathiae Experimentalis« heißt es in Major 1677 (wie Anm. 42), XXXVII, s.p. [Bl. Mmv]. Major 1683 (wie Anm. 26), S. 244.

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Dass es sich bei der See-Farth um ein pädagogisches Konzept für eine polymathische Grundausbildung handelt und nicht um einen Akademieentwurf, wie in der Forschungsliteratur bisweilen zu lesen ist, zeigt sich nicht nur im Fehlen eines genuinen Forschungsprogramms, sondern in den zahlreichen Verweisen auf die einführende Fachliteratur.72 Major folgte auch hier Bacon, der in De augmentis explizit eine – nicht vollständige, sondern kritisch ausgewählte – Darstellung des gegenwärtigen Stands der wissenschaftlichen Literatur forderte.73 Mit der See-Farth legte Major gleichsam eine Historia litteraria der »Polymathia experimentalis« vor, indem er sowohl im Text als auch in mehr als 230 Fußnoten einen Kanon der für die jeweiligen Disziplinen relevanten Akteure und Werke – wie auch einen Überblick über die naturforschenden Gesellschaften und Akademien Europas – formulierte. Dass sich damit eine Lektüreaufforderung verbindet, ist erkennbar, wenn Major beiläufig die Existenz einer »Cosmosophischen Bibliothec« beim Leser voraussetzt bzw. erwartet.74 Das Ziel einer durch Buch und Anschauung zu erlangenden ›summarischen‹ Kenntnis der verschiedenen Wissensbereiche führte freilich dazu, dass Major zwar die Vertreter der europäischen Wissenschaftselite – bspw. Robert Hooke, Robert Boyle, Johannes Kepler, Galileo Galiei, Johannes Hevelius, Fabio Colonna oder Pierre Gassendi – nannte, in seinen Literaturverweisen aber häufig die Schriften von polyhistorischen Kompilatoren oder Popularisierern wie Athanasius Kircher, Caspar Schott, Daniel Schwenter, Georg Philipp Harsdörffer und Erasmus Francisci anführte und ganz überwiegend deren vergleichsweise unterkomplexen Experimenten den Vorzug gab. Bedingt durch Majors fachlichen Hintergrund und seine Lehrtätigkeit richtete sich die See-Farth vornehmlich an Studenten der Medizin.75 So ist das alphabetische Verzeichnis der behandelten Wissensgebiete am Ende des Buches als »Index Disciplinarum Medico Erudito utilium aut necessarium« bezeichnet.76 Damit sind zudem die Kategorien benannt, nach denen die Auswahl der Disziplinen erfolgte.77 Der Nutzen und die Notwendigkeit derselben werden an anderer Stelle genauer definiert: Kurz vor Abflug des Dädalus bemerken dessen

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Für einen Akademieentwurf halten es Braungart und Braungart (wie Anm. 29). Ebenso auch Becker (wie Anm. 21), S. 67–82, bes. S. 71f. Bacon (wie Anm. 36), II, 4, S. 503f. Siehe dazu Anette Syndikus: Die Anfänge der Historia literaria im 17. Jahrhundert. Programmatik und gelehrte Praxis. In: Historia literaria. Neuordnungen des Wissens im 17. und 18. Jahrhundert. Hg. v. Frank Grunert und Friedrich Vollhardt. Berlin 2007, S. 3–36, bes. S. 6–14. Major 1683 (wie Anm. 26), S. 78. In diesem Sinne auch Steckner (wie Anm. 21), S. 612; ders.: (wie Anm. 28), S. 723; Unsicker (wie Anm. 23), S. 199f.; Hartmut Freytag, Wolfgang Harms, Michael Schilling: Die Bunte Kammer in Ludwigsburg und ihre Embleme. Schlüssel zur Welt und höfisches Gesprächsspiel. In: Gesprächskultur des Barock. Die Embleme der Bunten Kammer im Herrenhaus Ludwigsburg bei Eckernförde. 2. überarb. Aufl. Kiel 2004, S. 8–29, hier S. 13. Major 1683 (wie Anm. 26), s.p. [nach S. 258]. So hatte auch schon Alstedt seine – sehr viel umfangreichere Auswahl – begründet. Vgl. Henningsen (wie Anm. 43), S. 291.

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Führer durch das »Reich der Cosmosophorum«, es sei ihre Aufgabe gewesen, ihm darzulegen, inwieweit erwehnte herrliche Wissenschafften/ und viel andre Mathematische mehr/ einem wackeren Medico zu wissen dienlich wären/ oder nicht/ so fern er für einen gelehrten Mann passiren/ und/ welches das principaliste/ sein Christlich Gewissen durch fundamentale Curen der Krancken/ unbefleckt behalten wollte [...].78

Die 100 Disziplinen der See-Farth, so heißt es ganz ähnlich noch in einer 1685 bei Major verfassten Dissertation, seien einem Mediziner »wenn auch nicht alle gleichermaßen nötig, so doch ehrenvoll und ungemein nützlich, um das Ansehen eines wahrhaft gelehrten Mannes zu erlangen«.79 Denn ohne Polymathie sei es einem Arzt nicht möglich, auch nur den kleinsten Teil der Behandlung mit gutem Gewissen auszuführen und diese zu einem glücklichen Ende zu bringen.80 Majors Forderung nach einer empirisch-experimentellen Grundausbildung ist v.a. deswegen bemerkenswert, weil er das Ideal des humanistisch gebildeten Arztes81 – was medicus eruditus ursprünglich meinte – einer weitreichenden Transformation unterzieht. Nicht mehr allein die Kenntnis der antiken Schriften zur Heilkunde allein, sondern in erster Linie methodisch erworbenes Erfahrungswissen sollte demnach die Dignität und den Erfolg der ärztlichen Kunst sichern. Wenn Major anmerkt, dass die vorgestellten Disziplinen »sonderlich einem Medico« dienlich seien, deutet sich damit jedoch auch an, dass seine Auffassung von der Nützlichkeit polymathischer Bildung durchaus über diese Zielgruppe hinausreichte.82 So entwirft er in seiner Abhandlung Genius errans sive de ingeniorum in scientiis abusu (1677) Polymathie als Gegenbild eines gleichermaßen freud- wie fruchtlosen Studiums einzelner Fächer.83 Und in diesem Sinne heißt es auch noch 1685, dass es ohne ein »Hineinschmecken« in die »Kette der Künste und Wissenschaften« unmöglich sei, »sich ernsthaft zu einem Arzt, Juristen, Theologen, Philosophen, oder sonstigen Gelehrten zu entwickeln«.84 78 79

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Ebd., S. 82. »enumerans ibidem plus quam 100. Scientias, quae juxta conditionem praesertim praesentis Seculi Experimentalis, Medico ad consequendum Viri solide Eruditi, Titulum, nisi aeque necessariae omnes, certissime tamen honorificae ad admodum utiles sunt«. Major u. Crusius (wie Anm. 39), S. 10, §11. Der Respondent dieser Dissertation, Johannes Crusius (1661–1712), wird in der Titelei explizit als »Autor« genannt. Dennoch orientiert sich insbesondere das erste Kapitel sehr eng an Schriften Majors. »[...] Polymathia: sine qua vero Medico impossibile est, Curationis partem vel minimam, salva Conscientia suscipere, aut feliciter eandem h. e. cum debita interna, & proprie Philosophia Delectatione Animi ad finem optatum perducere«. Ebd., S. 7, §5. Vgl. Richard Toellner: Der Arzt als Gelehrter. Anmerkungen zu einem späthumanistischen Bildungsideal. In: Acta historica Leopoldina 31 (2000), S. 39–59. Major 1683 (wie Anm. 26), S. 229. Vgl. Major 1677 (wie Anm. 42), s.p. [Bl. A2v]. »[...] Artium & Scientiarum Vinculum, utpote sine quorum perceptu ac degustatione aliqua impossibile est, evadere vel in Medicum, vel JCtum, vel Theologum, vel Philosophum, aut Literatum quemvis alium vere doctum«. Major und Crusius (wie Anm. 39), S. 11f., §13

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Die Nützlichkeit der von ihm zusammengestellten Disziplinen belegt Major an mehreren Stellen der See-Farth durch explizite Bezugnahmen auf medizinische Probleme. Die Astrologie etwa lehre die Wirkung der Planeten »in Erregung gewisser Kranckheiten und Artzney-gebrauch/ bey so wol Menschen als Vieh«; Hydraulica diene zum Verständnis der Bewegung der Flüssigkeiten in den Gefäßen des Körpers; Musica nütze der »Erforschung des Pulses an des Krancken Hand«; die Prinzipien der »Gewicht-Kunst« (Stathmica) ließen sich auf die Disposition der Organe im menschlichen Körper ebenso anwenden wie auf die richtige Dosierung von Heilmitteln; mit dem »Ballen-Spiel« könne die Gesundheit gefördert werden.85 Die Mechanik schließlich, die Major in enger Anlehnung an Descartes’ Bewegungs- und Kraftbegriff beschreibt, erhöhe das Verständnis der Funktionsweise der verschiedenen chirurgischen Instrumente und verbessere den praktischen Umgang mit diesen: »welcher Chirurgus und Medicus demnach die Virtutes Moventes am besten versteht/ der kan um so viel besser in operationibus Chirurgicis fortkommen/ zu unerforschlichen Handgreiffen gelangen/ und andern hernach in praxi ein Miracul werden«.86 Gleichwohl bleibt Major in vielen Fällen mögliche medizinische Anwendungsbereiche seiner Disziplinen schuldig. Das liegt zum einen daran, dass eine solche Anwendung schlicht nicht gegeben war – wie etwa im Fall der »TACTICA LUDRICAE«, der »Wissenschafft/ wol und ordentlich zu spielen«, in der umfänglich Brett- und Kartenspiele verhandelt werden und die wohl mehr der sozialen als der fachlichen Kompetenz angehender Mediziner dienlich sein sollte.87 Zum anderen bleiben Disziplinen, oder besser Techniken wie Drechseln (Toreutica), Glätten (Politura), Bildnerei (Plastica/Fusoria) oder Zeichnen (Graphica/Pictoria) aufgrund einer bisweilen zur bloßen, unerläuterten Nennung verknappten Darstellung funktional unbestimmt; erst aus anderen Schriften Majors geht hervor, dass deren Erlernung ihren Zweck etwa in der Konstruktion medizinischer Instrumente haben sollte.88

3. Gefährliches Wissen Major verdeutlicht die Vorzüge der experimentellen Polymathie durch die Kritik anderer Wissensformen, die bedingt durch die heterogene Textgestalt in sehr unterschiedlicher Weise formuliert ist. So wird Dädalus während seines Rundgangs die Geschichte eines Arztes erzählt, der wegen seiner mangelhaften The-

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Auch Bacon spricht von einer »degustiatio« der wichtigsten Werke aus Vergangenheit und Gegenwart. Bacon (wie Anm. 36), II, 4, S. 504. Major 1683 (wie Anm. 26), S. 48, 156f., 175, 177 u. 200. Ebd., S. 239. Majors großes Interesse an Descartes’ Mechanik zeigt sich auch daran, dass er eine lateinische Übersetzung von dessen Traité de la mecanique (1637/1668) vorgelegt hat: René Descartes: Explicatio Machinarum Vel Instrumentorum [...]. Kiel 1672. Major 1683 (wie Anm. 26), S. 207–218. Ebd., S. 241, 247, Nr. XX. Major 1677 (wie Anm. 49), s.p. [7. Sept.].

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rapieergebnisse Rat im »Reich der Cosmosophorum« gesucht habe. Diesem Anhänger der Hippokratischen Lehre, der seine Rezepte alten Büchern und eigener, teilweise astralmagischer Spekulation entnahm, habe man zum »LustHauß der Natur« geführt, in dem er durch eigene Anschauung die ihm fehlenden Kenntnisse über die natürlichen Dinge hätte erwerben sollen. Bereits an dessen Eingang aber, der mit der legendären Inschrift der Platonischen Akademie (»Kein der Geometrie Unkundiger soll eintreten«) sowie mit Personifikationen wissenschaftlicher Tugenden (Leidenschaft, Geist, Unvoreingenommenheit, Zweifel, Arbeitsamkeit, Genauigkeit, Beharrlichkeit, Urteilskraft, Sittsamkeit und Wohlwollen gegen die Nachwelt) und der von ihnen niedergerungenen Laster (Dummheit, Befangenheit, Widerspruchsgeist, Faulheit, Neuerungssucht, Eigenliebe, Pedanterie, Ehrsucht) versehen war, habe er sich »hinter den Ohren gekratzt/ [und] ehe man sichs versehen/ auß dem Staube gemacht«.89 Mit dieser launigen Anekdote hebt Major die zentrale Bedeutung der »PHYSICA« im »Lust-Hauß der Natur« für das gesamte Wissenssystem hervor, deren Darstellung – im Wesentlichen eine Aufzählung europäischer Naturaliensammlungen und Akademien – mit über fünfzig Seiten den mit Abstand längsten thematischen Abschnitt des Buches ausmacht. Vor allem aber dient die Figur des Mediziners als Exempel einer die Mühen methodisch-systematischer Empirie scheuenden und daher erfolglosen bzw. schadenbringenden PseudoWissenschaft. Eine solche Pseudo-Wissenschaft nimmt Major mit der Chiromantie explizit in den Kanon des polymathischen Studiums auf. Diese behaupte zwar den Besitz von Erfahrungswissen, das jedoch keinen wissenschaftlichen Wert habe, da sie keine rationale Begründung für den angeblichen Zeichencharakter der Handlinien und deren vermeintlichen Bedeutungen vorweisen könne. Dennoch sei für einen Mediziner die »summarische[] Erlernung der eitelen Chiromantie« nötig, »nicht Sie zu nutz zu machen/ sondern mit Andern/ die davon viel halten/ zu discutiren/ und selbige/ so viel möglich/ zur Ehre GOttes/ Ihnen aus dem Sinn zu reden«.90 Stehen der arbeitsscheue Arzt und die Chiromantie für ein allein auf Tradition und Spekulation gegründetes und daher die eigentlichen Ursachen verfehlendes Wissen, so wird dessen Gegenpol, bloßes Erfahrungswissen, als nicht minder problematisch dargestellt. In der Einleitung bemerkt Major, die freien Künste und Wissenschaften seien bislang »auff dem wüsten Meer dero von Jahr zu Jahr sich verändernden Zeiten herumb geschwommen umb/ an den Hafen der Vollkommenheit/ durch vieles Nachdencken und Müh/ ja würcklich durch unterschiedene herrlich curieus- und kostbare Experimente/ gleichsam als an ein Neues Indien/ zu gelangen«.91 Deren Leistung werde ersichtlich an den Erfindungen von Kompass, Schießpulver und Buchdruck, durch die, wie Major im Anschluss an Bacon schreibt, »die bißanherige Zeit wahrhafftig gantz ein ander 89 90 91

Major 1683 (wie Anm. 26), S. 86. Ebd., S. 229. Ebd., S. 4f.

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Aussehen bekommen/ als sie vor tausend Jahren gehabt«.92 Diese seit dem 16. Jahrhundert topische Trias von Erfindungen, mit der meist euphorisch der wissenschaftlich-technische Fortschritt der nachantiken Zeiten betont wurde, unterzieht Major allerdings einer kritischen Revision:93 So habe der Kompass nicht nur zur Entdeckung bislang unbekannter Länder geführt, die Seefahrt sicherer gemacht und den Handel mit exotischen Gütern ermöglicht, sondern auch die »Türcken und Heiden« in die Lage versetzt, »den Augen und Hertz/ ja dem Marck und Safft der werthen Christenheit/ immer näher und näher zu kommen«.94 Durch das Schießpulver, das im besten Fall ein »kräfftiges Mittel zu Hintertreibung des Erbfeindes« gewesen wäre, habe indes »mancher lausiger Kerl im Kriege/ die fürnehmsten wackersten Helden mit einer blossen Kugel von fernen zu Boden stürtzen« können.95 Der Buchdruck schließlich verdränge durch die massenhafte Produktion minderwertiger Schriften die guten Autoren und gefährde mit magischen, ketzerischen und unmoralischen Schriften die Gemüter, wie denn überhaupt die Verbreitung der Bücher außerhalb der gelehrten Elite die »Schwächung des Teutschen Reichs« verschuldet habe.96 Mit dieser Technikkritik stand Major keineswegs allein. Schon vor ihm hatten Johann Valentin Andreae (1586–1654) und Georg Philipp Harsdörffer (1607–1658) Bedenken angemeldet, ob nicht jede zu besten utilitaristischen Zwecken einsetzbare Erfindung mit dialektischer Notwendigkeit immer auch Möglichkeiten ihres Missbrauchs in sich trage.97 Von einer grundsätzlichen »Absage an technische Utopien«, die Wilhelm Kühlmann bei diesen beiden Autoren festgestellt hat, kann in der See-Farth angesichts der bisweilen mit geradezu prometheischem Stolz vorgetragenen Leistungsschau zeitgenössischer Wissenschaften und Künste jedoch keine Rede sein.98 Worum es Major vielmehr geht, ist eine Abkoppelung des technischen Fortschritts von der Zufälligkeit der Erfindungen, auf die auch Bacon schon hingewiesen hatte.99 Zwar liefert Major in der Konsequenz kein Konzept einer ars inveniendi, führt aber immerhin die Möglichkeit einer Schadensbegrenzung durch Technikfolgenabschätzung avant la lettre vor, indem er die Machbarkeit des Menschenflugs in

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Ebd., S. 5. Vgl. Bacon (wie Anm. 55), I, Aph. 129, S. 222. Vgl. Marcus Popplow: Neu, nützlich und erfindungsreich. Die Idealisierung von Technik in der frühen Neuzeit. Münster u.a. 1998, S. 177–186; ders.: Reproduzierbare Originalität. Zur Genese eines Konzeptes technischer Erfindungen in der frühen Neuzeit. In: Johann Beckmann und die Folgen. Erfindungen – Versuch der historischen, theoretischen und empirischen Annäherung an einen vielschichtigen Begriff. Hg. v. Gerhard Banse und HansPeter Müller. Münster 2001, S. 49–63, S. 55f. Major 1683 (wie Anm. 26), S. 6. Ebd., S. 7f. Ebd., S. 8. Vgl. Kühlmann 1982 (wie Anm. 13), S. 165–188. Vgl. auch Braungart und Braungart (wie Anm. 29, S. 368), die Majors exemplarische Konkretisierung technischen Missbrauchs unverständlicherweise als »platt« bezeichnen. Kühlmann 1982 (wie Anm. 13), S. 181. Bacon (wie Anm. 36), V, 2, S. 617f.

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Aussicht stellt, aber aufgrund der zu befürchtenden Folgen demonstrativ die Mittel zu dessen Realisierung verschweigt: was würde nicht vollends die Welt für ein Neu- und gefährliches Aussehen/ für eine abendtheuerliche/ ja abscheuliche Umbstaltung ihrer selbst/ bey aller Posterität gewinnen? Was für Verrätherey/ Diebstahl und Meuchelmord/ was für andre Sünd und Schanden würden umb so viel mehr sich häuffen? Da würden Städt und Schlösser/ da würden gantze Provincien und Königreiche/ vermuthlich bald genötiget werden/ entweder mit öffteren Canoniren in die Höh/ und Erregung auffsteigenden Rauchs zu erfüllen; oder mit grossen eisernen Gittern/ als Netzen/ sich umb und umb zu beschirmen/ und wo nicht für gäntzlichem Einfall/ jedoch für vielfältigem Einwurff Feuers und Steine/ gegen die fliegende Kriegsheere sich zu retten/ die als Lucianische Raubvögel aus den Ländern des Mondens gleichsam herab stürtzende/ sonst alles zu grund und boden werffen möchten. Von welchem handel allein die Welt tausendmahl heßlich- und zerrütteter ausehen würde/ als ingesamt von obberührtem Missbrauch des Compasses/ des Pulvers/ und der Buchdruckerey.100

Dädalus’ Fähigkeit zu fliegen wird durch diesen Passus als riskantes Wissen denunziert. Tatsächlich ist Dädalus ja Repräsentant der kritisierten Wissensform, galt er doch als mythischer Ahnherr der erfindungsreichen aber theoriefreien Handwerkskünste. In diesem Sinne hatte auch schon Bacon in De sapientia veterum (1609) die mythologische Erzählung von Dädalus als Darstellung der artes mechanicae und ihres ambivalenten Charakters gedeutet: Zweifellos verdankt ihnen das menschliche Leben sehr viel, denn aus ihrem Schatz stammen zahlreiche Gegenstände zur Ausschmückung der Religion, zur Zierde der bürgerlichen Gesellschaft wie zur Verschönerung des gesamten Lebens. Aus derselben Quelle entspringen aber auch Instrumente der Wollust und des Todes.101

Majors Vorbehalte gegenüber den mechanischen Künsten artikulieren sich in der betont begrenzten Fassungskraft des Dädalus, etwa wenn die Algebra als »zu subtil« für ihn bezeichnet wird oder wenn die ihm vorgetragene Schilderung der Gewässerkunde (Hydrographia) deswegen knapp ausfällt, weil er »mehr profession vom Fliegen/ als mit dem Gesicht und Gedancken/ sich an den Boden des Meers zu geben«.102 Somit lässt sich auch der irritierende Umstand, dass Major seine Hauptfigur scheinbar gegen jede poetologische Vernunft schon weit vor Ende des Textes abtreten lässt, als Ausdruck ihrer intellektuellen Überforderung und mangelnder patientia verstehen. Die betonte Gefahr, die von den technischen Künste und ihren unkontrollierten Innovationen ausgehe, ist vor allem als Gestus der Selbstbehauptung durch eine beschworene Überlegenheit der Theorie und der systematischen Wissensordnung gegenüber dem faktischen Vorsprung des Erfahrungswissens der Praktiker zu verstehen. Schon Descartes hatte in dieser Absicht mit der Géometrie und der Dioptrique (1637) Abhandlungen vorgelegt, die sich vorgeblich an

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Major 1683 (wie Anm. 26), S. 11f. Francis Bacon: De sapientia veterum. In: Works. Hg. v. James Spedding, Robert L. Ellis und Douglas D. Heath. Bd. 6. London 1856, S. 605–686, hier S. 660. Übs. n. ders.: Weisheit der Alten. Übs. v. Marina Münkler. Hg. v. Philipp Rippel. Frankfurt a. M. 1990, S. 50. Ebd., S. 24, 45. Für Steckners Ansicht, Dädalus agiere als ein »representative of the old Aristotelian world«, lässt sich kein Beleg finden. Vgl. Steckner (wie Anm. 28), S. 725.

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Techniker und Handwerker richteten und damit das Primat der (mathematischen) Wissenschaft behaupteten.103 Major konstruiert mit den Vertretern von reinem, d.h. unkritischem und nutzlosem Bücherwissen einerseits und bloßem, d.h. unreflektiertem und unsystematischem Erfahrungswissen andererseits zwei Extreme, zwischen denen er seine ebenso von Lektüre wie Experiment bestimmte Polymathie als idealem Mittelweg positioniert.

4. Wege der Rezeption Erläuterungsbedürftig ist, warum Major seinen Entwurf zu einem Curriculum Polymathiae experimentalis als utopische Erzählung gestaltete, da es ihm ja weder um die Darstellung eines idealen Gemeinwesens noch um den Plan einer Akademie ging.104 Abwegig ist Rudolph Reinbachers Ansicht, die See-Farth enthalte auch wegen der in ihr formulierten Präferenz des heliozentrischen Weltbildes »utopische Komponenten, weil es 1670 noch gefährlich war, entgegen kirchlicher Weisheit zu sprechen«.105 Zwar fand sich mit Caeso Gramm (1640–1673), seit 1665 Professor für Griechisch und Naturkunde in Kiel, ein Vertreter der geozentrischen Astronomie unter Majors Kollegen, doch hatte dies weder auf der Universität noch überhaupt im Herzogtum dogmatischen Charakter.106 Samuel Reyher konnte gänzlich unbehelligt kopernikanische Astronomie lehren und 1679 den biblischen Bericht von Josuas Stillstellung der Sonne (Jos 10,12), locus classicus des Geozentrismus, für ein sprachliches Missverständnis erklären und in Einklang mit dem kopernikanischen Weltbild bringen.107

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René Descartes: Explicatio Machinarum Vel Instrumentorum: Quorum beneficio parva Vi elevari vel moveri potest gravissimum Onus. Übs. v. Johann Daniel Major. Kiel 1672. Vgl. Hans Blumenberg: Geistesgeschichte der Technik. Frankfurt a. M. 2009, S. 57ff. Majors Verehrung zeigt sich darin, dass er Descartes »unvergleichlich« und »trefflich« nennt und zudem ein Porträt des Philosophen in seiner eigenen Sammlung aufgehängt hatte. Vgl. Major (wie Anm. 26), S. 24, 237; Major 1688 (wie Anm. 35), S. 7. Auf das Fehlen der gattungstypischen sozialutopischen Elemente in der See-Farth hat hingewiesen Ludwig Stockinger: Ficta Respublica. Gattungsgeschichtliche Untersuchungen zur utopischen Erzählung in der deutschen Literatur des frühen 18. Jahrhunderts. Tübingen 1981, S. 113–128. Reinbacher (wie Anm. 18), S. 60. Wegen seiner deutlichen Präferenz sowie aufgrund des religiösen und politischen Kontextes der See-Farth ist auch die Behauptung, Major habe »aus dem Fall Galilei gelernt«, ausgesprochen fragwürdig. Braungart und Braungart (wie Anm. 29), S. 376. Zur Astronomie in Kiel zur Zeit Majors siehe Schmidt-Schönbeck (wie Anm. 67), S. 16– 27. Vgl. Samuel Reyher: Mathesis Mosaica, sive Loca Pentateuchi Mathematica Mathematice explicata. Kiel 1679, S. 591–611, bes. S. 603f. Ebenso betont auch Majors sternenkundige Urania, dass die heliozentrische Lehre nur scheinbar den biblischen Angaben widerspricht. Major 1683 (wie Anm. 26), S. 27f.

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Wenige Jahre nach dem Erstdruck der See-Farth betonte Major den fiktionalen Charakter seiner Schrift: Platons Republik sei »prächtig erbaut/ aber keinen Menschen noch Hund davon zu sehn bekommen«, in Bacons New Atlatnis habe »biß dato noch niemand keinen Vogel singen hören« und ebenso sei in der SeeFarth »eine viel schönere Neue Welt [...] als Columbi America« beschrieben, doch sei diese »biß anhero in keiner Land- oder See-Charten mit dem geringsten Strich oder Punct angedeutet zu finden«.108 Anders aber als Bacon oder auch Campanella und Andreae trifft Major inhaltlich keine Vorhersagen über den zukünftigen, d.h. anzustrebenden Stand des Wissens, sondern gibt einen knappen thematischen, bibliographischen und exemplarischen Überblick über die aktuelle Forschungslage in den mathematischen, naturhistorischen, technischen und medizinischen Wissensfeldern. ›Utopisch‹, d.h. ideal und der Realisierung bedürftig ist vielmehr das Programm der polymathischen Bildung. Gegen Ende des Buches schreibt Major, dass derjenige, der »ein Bürger« des Regnum Cosmosophorum werden wolle, die dahin führende »Schiffarth/ welche gar wol ohne Seegel und Schiff geschehen kan/ in Gedancken anstellen« könne.109 Was damit gemeint ist, erschließt sich unmittelbar in Hinblick auf die bereits angedeutete Diskrepanz zwischen Majors universitären Lehrpflichten und seinen privaten Experimentalkollegien. Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass Major und seine akademischen Kollegen ihr Lehrangebot vergleichsweise frei gestalten konnten, blieb doch der überwiegende Teil dessen, was Major als nützlich und notwendig für Forschung und Beruf erachtete vom regulären Studium ausgeschlossen. Was ohne Schiff und Segel, d.h. ohne institutionelle Voraussetzungen zu befahren war, ist das ›Meer des Wissens‹, wofür die SeeFarth eine methodische Anleitung und die nötigen bibliographischen Informationen gab. Nur im eigenständigen Studium war polymathische Bildung zu erwerben.110 Wie nach ihm Morhof erkannte auch Major, dass mit der ohne äußeres Regulativ betriebenen Selbstbildung die Möglichkeit von Disziplinlosigkeit, Faulheit, Abirrung gegeben war.111 Genau aus diesem Grund beschränkte er den Kreis derjenigen, die für ein polymathisches Curriculum geeignet seien, mittels eines 28 Punkte umfassenden Katalogs von Anforderungen, mit dem das Buch schließt. Charaktereigenschaften und persönliche Tugenden wie Appetitus, Ingenium, Memoria, Judicum, Indifferentia, Admiratio, Dubitatio, Pietas, Constantia und Patientia in Labore sollten gewährleisten, dass der institutionell

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Johann Daniel Major: Unvorgreiffliches Bedencken von Kunst- und Naturalien-Kammern ins gemein. Kiel s.a. [1674], s.p. [VI, §1]. Major 1683 (wie Anm. 26), S. 242. Zum Konzept der Selbstbildung siehe grundlegend Hans Rudolf Velten: Die Autodidakten. Zum Aufkommen eines wissenschaftlichen Diskurses über Intellektuelle gegen Ende des 17. Jahrhunderts. In: Intellektuelle in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Jutta Held. München 2002, S. 55–81. Vgl. ebd., S. 64–67.

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ungebahnte Weg der Polymathia experimentalis letztlich zu einem Fortschritt der Wissenschaften führte.112 Wie sehr Major an der Rezeption seines Bildungskonzepts gelegen war, zeigt sich nicht nur an der von ihm besorgten zweiten Ausgabe der See-Farth, sondern vor allem an dem Umstand, dass er sein Werk auf Deutsch veröffentlicht hat. Major gehörte sicher nicht zu den Gelehrten, die noch vor Christian Thomasius für eine Verwendung der Landessprache im akademischen Kontext plädierten oder gar eine ›Popularisierung‹ der Wissenschaften anstrebten.113 Mit wenigen Ausnahmen, darunter seine sammlungstheoretischen Abhandlungen, schrieb er alle seine Werke auf Latein.114 Deutlich äußert sich Major einige Jahre vor Drucklegung der See-Farth zur Frage der Fachsprache, als er sich im Zuge des Prioritätenstreits um die Erfindung der Infusionstherapie gezwungen sah, eine auf Deutsch gegen ihn verfasste Streitschrift in derselben Sprache zu erwidern. Die fachlich notwendige Präzision, so Major, sei nur im Lateinischen zu erreichen und zudem steige die Gefahr von Irrtümern, wenn durch die fehlende Sprachbarriere »wenig bekümmerte Balbier- und Apothekerknaben« an der wissenschaftlichen Diskussion teilnehmen könnten.115 Dass Major demnach mit der deutschsprachigen See-Farth seinen fachlichen Anspruch unterschritt, ist – ebenso wie die gefällige Form einer Erzählung – eigentlich nur aus dem Wunsch nach einer möglichst breiten Wahrnehmung in studentischen, gelehrten und wohl auch höfischen Kreisen zu verstehen. Eine solche blieb Majors »Utopia eruditorum« allerdings weitgehend versagt. Beide Ausgaben der See-Farth finden sich zwar in den Katalogen der Leipziger und Frankfurter Buchmesse, doch darf man wohl davon ausgehen, dass insgesamt nur wenige hundert Exemplare im Umlauf waren.116 Die Rezep-

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Major 1683 (wie Anm. 26), S. 242–249. Der Katalog der Requisita findet sich verteilt über die Sitzungen auch in Major (wie Anm. 49), passim. Kirschner hält die See-Farth hingegen für »eine unter pragmatischen Gesichtspunkten abgefaßte kompendienhafte Werbeschrift für die mathematisch-naturwissenschaftlichtechnischen Disziplinen. Da diese Schrift in knapper und leicht verständlicher Form z.T. auch Ergebnisse naturwissenschaftlicher Forschung mitteilt, kann sie als ein weiterer Beitrag Majors zur Popularisierung der Naturwissenschaften gewertet werden«. Kirschner (wie Anm. 21), S. 68. Indessen hat Major zahlreiche Gelegenheitsschriften, darunter viele Lobgedichte und lyrische Glückwunschadressen in Dissertationen, auf Deutsch verfasst. Morhof bemerkt diesbezüglich, es seien aus »dessen gelehrten Feder selbst/ so viele schöne Gedichte geflossen/ womit er/ unter andern vielfältigen Schrifften/ den Ruhm seines Vaterlandes vermehret«. Daniel Georg Morhof: Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie [...]. Lübeck, Franckfurt 1700, S. 391. Johann Daniel Major: Occasus & Regressus Chirurgiae Infusoriae. Ab- und wiederAuffgang Der Neu-erfundenen Art zu curiren Durch Einsprützung in die Adern. Gotha 1667, s.p. [Bl. A2rf.]. Catalogus Universalis. Hoc est: Designatio omnium Librorum, qui hisce Nundinis Vernalibus Francofurtensibus & Lipsiensibus Anni 1671. vel novi, vel emendatiores & auctiores prodierunt. Leipzig 1671, s.p. [Teutsche Politische/ Historische/ Geographische und Philosophische Bücher]; Catalogus Universalis, Hoc est: Designatio omnium Librorum, qui hisce Nundinis Vernalibus Francofurtensibus & Lipsiensibus Anni 1683. vel novi, vel emen-

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tion des Werkes – auch wenn diese nur exemplarisch und unvollständig nachzuzeichnen ist – zeichnet das Bild einer ausgesprochen divergierenden Wahrnehmung, so dass als das eigentliche Hemmnis einer breiteren Aufnahme in der nicht unmittelbar erkennbaren Absicht des Werkes gesehen werden muss. Selbst einige von Majors Kieler Kollegen hatten offenbar Mühe, sich für das in der See-Farth formulierte Konzept von Polymathie zu interessieren, und beschränkten sich in ihren Bezugnahmen auf einzelne inhaltliche Aspekte. So findet Majors Werk erst in die zweite Ausgabe von Morhofs Polyhistor Eingang, wo sie aufgrund ihrer weitläufigen Aufzählung von Naturaliensammlungen lediglich als ein »Compendium« der »Musaeorum Historia generalis« erwähnt wird.117 Für Georg Pasch (1661–1707), seit 1689 als Professor für Ethik an der Kieler Universität, stellte die See-Farth hingegen ungeachtet ihrer narrativen Form und ihrer didaktischen Intention ein enzyklopädisches Verzeichnis der Leistungen der zeitgenössischen Wissenschaften dar.118 Einen Eindruck von der regionalen Verbreitung und der Käuferschaft der See-Farth vermitteln private Bücherverzeichnisse und Auktionskataloge des späten 17. und 18. Jahrhunderts.119 Die kategorialen Zuordnungen wie auch die inhaltliche Gemeinsamkeit der Schriften, denen die See-Farth beigebunden war, geben darüber hinaus Auskunft über das verhältnismäßig weite Spektrum der Beurteilung von Majors Werk. In der posthum katalogisierten Bibliothek des Diplomaten Christoph Gensch von Breitenau (1638–1732) in Kiel etwa findet sich die See-Farth zusammen mit Reiseberichten und Landesbeschreibungen unter der Rubrik »Orientalia, Asiatica, Africana, Americana«.120 Im Inventar der Büchersammlung des Gelehrten Christoph Gottlieb von Murr (1733–1811) ist sie in einem Sammelband mit astronomisch-astrologischen Schriften der Sach-

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datiores & auctiores prodierunt. Leipzig 1683, s.p. [Bl. D2v]. Vgl. Major (wie Anm. 26), s.p. [Bl. a3v]. Daniel Georg Morhof: Polyhistor, in tres tomos, literarium, [...] philosophicum et practicum [...]. Hg. v. Johannes Moller. Bd. 2. Lübeck 1708, S. 138. Es ist allerdings nicht unwahrscheinlich, dass Moller, der Major in seiner Cimbria literata umfänglich behandelt, der Verfasser dieser Passage ist. Zur Co-Autorschaft von Moller im Polyhistor siehe auch Bauer (wie Anm. 16). Vgl. Georg Pasch: Schediasma de curiosis huius seculi inventis [...]. Kiel 1695, s.p. [Praefatio]. Ganz ähnlich zählte auch Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) einem um 1686 entstandenen Entwurf zu einer scientia universalis die See-Farth zu den Werken, an denen sich der bislang erreichte Stand der Gelehrsamkeit und des menschlichen Wissens (status praesenti eruditionis, omnisque cognitionis humanae) ablesen ließe. Gottfried Wilhelm Leibniz: Guilielmi Pacidii plus ultra. Ad praefationem et partitionem. In: Sämtliche Schriften und Briefe. Hg. v. d. Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften u. der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. 6. Reihe. Bd. 4. Berlin 1999, Teil A, Nr. 159, S. 677–686, hier S. 681. Zu diesem Forschungsfeld siehe einführend Reinhard Wittmann (Hg.): Bücherkataloge als buchgeschichtliche Quellen in der frühen Neuzeit. Wiesbaden 1984. Johann Henrich von Seelen: Bibliotheca Breitenaviana, sive operum, librorum, scriptorum, ad omne literarum genus spectantium, editorum et ineditorum [...]. Bd. 2. Lübeck 1747, S. 633.

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gruppe »Mathesis, Astronomia, Philosophia« zugeordnet.121 Das Verzeichnis der Bücher im Besitz des polnischen Hofrats und Leibarztes Johann von Böckler (1737–1808) wiederum rechnet das Buch zur Gruppe »Mathematica et Physica«.122 Besonders offensichtlich manifestierte sich die Undeutlichkeit der programmatischen Absicht der See-Farth schließlich in der um die Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzenden Klassifizierung als Satire.123 Ob Majors Schrift angesichts einer derart bescheidenen und missdeutenden Rezeption irgendeinen Einfluss auf spätere pädagogisch-didaktische Programme wie etwa Ehrenfried Walther von Tschirnhaus’ (1651–1708) Gründliche Anleitung zu nützlichen Wissenschafften (1700) nehmen konnte, muss vorerst dahin gestellt bleiben. Wenigstens in einem Fall aber scheint sein Entwurf zumindest in formaler Hinsicht nicht ohne Wirkung geblieben zu sein: In seiner Historiae Helveticae Naturalis Prolegomena (1700), einem geographisch geordnetem Verzeichnis naturhistorischer Schriften, verweist der Zürcher Naturforscher Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733) in der Abteilung »Germania« auf die See-Farth als Beispiel für die notwendige Verteidigung der deutschen Autoren gegen den unberechtigten Generalvorwurf des Kompilierens und der »Schreibsucht« (cacoethes).124 Auf Scheuchzer, der wie Major Mitglied der Leopoldina war, wirkte dessen Buch möglicherweise inspirierend, darauf deutet jedenfalls ein Vortrag hin, den Scheuchzer wohl 1709 im Züricher »Kollegium der Wohlgesinnten« hielt.125 In diesem sogenannten »Utopia-Vortrag« schildert Scheuchzer eine 1693 – dem Gründungsjahr der »Wohlgesinnten« – einsetzende 121 122 123

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Johann Ferdinand Roth: Catalogus librorum quos V. C. Christophorus Theophilus de Murr [...] collegerat. Nürnberg 1811, S. 293, Nr. 4780. [Johann von Böckler]: Catalogus bibliothecae quoad maximam partem physico-medicae quam in proprios usus collegit Jo. de Boecler [...]. Hamburg 1806, S. 11, Nr. 130–133. Vgl. [Johann Christian Gottfried Jahn]: Verzeichnis der Bücher so gesamlet Johann Christian Gottfried Jahn [...]. 6 Tle. i. 3 Bdn. Frankfurt a. M., Leipzig 1754–1758, Bd. 2, S. 313, Nr. 3462; Johann Georg Theodor Grässe: Lehrbuch einer allgemeinen Literärgeschichte aller bekannten Völker der Welt, von der ältesten bis auf die neueste Zeit. 13 Tle. i. 4 Bdn. Dresden, Leipzig 1837–1859, Bd. 3, Abt. 2, S. 209; Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste [...]. 4. Bde. Leipzig 21792–1794, Bd. 4, S. 202. Johann Jakob Scheuchzer [Präs.] u. Johann Rudolf Lavater [Resp.]: ΣΥΝ ΘΕΩ. Historiae Helveticae Naturalis Prolegomena. Zürich 1700, S. 4f. Johann Jakob Scheuchzer: »Utopia-Vortrag«. Zentralbibliothek Zürich, Ms III 616, fol. 219r–226v. Rudolf Steiger datiert den Text ohne Nennung von Gründen auf 1725. Rudolf Steiger: Verzeichnis des wissenschaftlichen Nachlasses von Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733). Zürich 1933 (Beiblatt zur Vierteljahresschrift der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich Bd. 21), S. 42, Nr. 175. Michael Kempe und Thomas Maissen schlagen 1679 vor, wohl weil Scheuchzer in diesem Jahr sein Amt als Aktuar der »Wohlgesinnten« antrat. Michael Kempe, Thomas Maissen: Die Collegia der Insulaner, Vertraulichen und Wohlgesinnten in Zürich 1679–1709. Zürich: NZZ, 2002, S. 67–70. Aufgrund der abschließenden Frage Scheuchzers, »ob diese Reise wahrhaffte Geschichte, oder aber ein leerer Traum gewesen« (fol. 226v), erscheint jedoch die Datierung von Bernhard Milt auf 1709 durchaus plausibel. In diesem lösten sich die »Wohlgesinnten« auf, und Scheuchzer könnte mit seiner Frage darauf Bezug genommen haben. Bernhard Milt: Johann Jakob Scheuchzer und seine Reise ins Land Utopia. In: Vierteljahresschrift der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich 91 (1946), S. 143–146, hier S. 143.

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Schiffsreise, auf der vom Erzähler eine Insel entdeckt und besucht wird. Die nicht näher beschriebenen Bewohner zeigen ihm »ein schön gebautes, mit grosser anzahl Büchern, und Instrumenten versehenes Hauß, worinn man alles dasjenige finde, welches zu einer vollständigen Histori des Lands diente«. In diesem Haus sieht der Reisende »gelehrte Leuthe von großem fleiß und capacitet, deren jeder sein zimmer hatte, und ein besonderes Thema ausarbeitete. Alle aber waren so situirt, das sie gleichweit entfernt waren von der allgemeinen Bibliothec, Kunst- und Naturalienkammer«.126 Im Folgenden beschreibt Scheuchzer die Aufgabengebiete dieser zwölf Gelehrten, die von der Geschichte der Sprache über Geographie, Historiographie, Finanzwesen, Astronomie, Architektur, Archäologie und Heilpflanzenkunde bis zur Naturgeschichte alle Bereich einer nach Vollständigkeit strebenden Landeskunde umfassen.127 Bereits am architektonischen Zusammenhang der Forschungsbereiche, an der Zentralstellung von Bibliothek und Naturaliensammlung, am Fehlen gesellschaftspolitischer Aussagen sowie an den durch eine aptonymische Namengebung (Polyglossus, Geographus, Mathematicus, Antiquarius usw.) als Verkörperung der unterschiedlichen Forschungsbereiche dargestellten Gelehrten wird erkennbar, dass Scheuchzers »Utopia« keineswegs wie öfter behauptet nach dem Vorbild des Bacon’schen New Atlantis gestaltet ist.128 Vielmehr sind in diesen Motiven die Parallelen zur See-Farth offensichtlich. Während Bacon ein dezentrales Ensemble von unterschiedlichen Forschungsstätten beschreibt, drückt sich in Scheuchzers »Hauß« ebenso wie in Majors »Kunst-Schloss der Welt-Weißheit« die angestrebte ›Architektonik‹ des Wissens aus. Wo bei Major die Kette den Zusammenhang der Disziplinen sichert, deutet sich bei Scheuchzer durch die gleiche Entfernung der Gelehrtenstuben von den zentralen Sammlungen die Figur des Kreises an. Vor allem aber die herausgehobene Stellung von Buch und Naturobjekt als gleichberechtigte Wissensträger ist Majors Konzept eines ebenso literarisch wie empirisch fundierten Bildungsprogramms eng verwandt. Gleichwohl hatte Scheuchzer mit seiner Utopie die Gefilde der Polymathie längst verlassen. Er zeichnet nicht das Bild eines vielseitigen Bildungsganges, sondern einer arbeitsteiligen, nur in ihrer Gesamtheit noch polyhistorisch zu bezeichnenden Forschungsgemeinschaft. In gewisser Weise lieferte Scheuchzer damit die Fortsetzung der See-Farth, in der die Akademie als folgerichtige Überführung der propädeutisch-polymathischen »Studii oder Philosophiæ Experimentalis« in eine Institution spezialisierter Wissenschaftler vorgestellt wurde.129

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Scheuchzer (wie Anm. 125), fol 220v. Eine gute inhaltliche Zusammenfassung des Textes bietet Milt (wie Anm. 125). Vgl. Kempe und Maissen (wie Anm. 125), S. 68; Robert Felfe: Naturgeschichte als kunstvolle Synthese. Physikotheologie und Bildpraxis bei Johann Jakob Scheuchzer. Berlin 2003, S. 95–98. Major 1683 (wie Anm. 26), S. 125f.

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Bildnachweis Abb. 1: Johann Daniel Major: See-Farth nach der neuen Welt/ ohne Schiff und Segel [...]. Hamburg 1683, Frontispiz. Zentralbibliothek Zürich, Signatur: NM 805.

Wiebke Hemmerling

Von Nutz und Lust Zum Verhältnis von Gelehrsamkeit und Curiosität in den frühen deutschen Zeitschriften

Die Charakterisierung des eigenen Zeitalters als das »curieuse Seculum« findet sich in zahlreichen Texten des späten 17. Jahrhunderts. Während bis etwa 1660 kaum ein Buch Anleihen auf den Begriff der »Curiosität« in seinem Titel machte, können insbesondere für den Zeitraum zwischen 1680 und 1710 mehrere hundert Schriften – vorwiegend Romane, Kalender, Reisebeschreibungen, Anleitungen, periodisch und nicht periodisch organisierte Kompilationsliteratur – mit einem Hinweis auf die in ihnen enthaltenen »curieusen« Materien auf ihrer Titelseite ermittelt werden. Beliebt war die Zusammenstellung von historischen Anekdoten, ausgefallenen Charakterstudien, amourösen Abenteuern, Geschichten über Scharlatanerien aller Art, von Beiträgen zur Numismatik, Beschreibungen seltsamer Naturphänomene, geographischen und ethnographischen Schilderungen und politischen Berichten. Mit der Herausgabe von »Luststunden«, »Blumen-Lesen« und »Lustgärten«, »Schau-Bühnen« oder »Schau-Plätzen«, »Welt-Galerien« und »Liebes-Kabinetten« bedienten Autoren wie Erasmus Francisci, Jacob Daniel Ernst, Abraham à Sancta Clara, Christian Franz Paullini, Johann Michael Schwimmer und August Bohse eine an der Schwelle zum 18. Jahrhundert offenbar allgemein gewordene »Wiß- oder Erfahr-Lust«1 eines immer größer werdenden Lesepublikums.2

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Vgl. Erasmus Francisci: Der Höllische Proteus/ oder Tausendkünstige Versteller/ vermittelst Erzehlung der vielfältigen Bild-Verwechslungen [...]/ Werffender und poltrender Geister/ gespenstischer Vorzeichen der Todes-Fälle/ Wie auch Andrer abentheurlicher Händel/ arglistiger Possen/ und seltsamer Aufzüge dieses verdammten Schauspielers [...]. Nürnberg 1690, S. 928. Der Begriff der Wissbegierde konnte in zeitgenössischen Schriften synonym zum Begriff der Curiosität gebraucht werden. Als ein Indiz für neu eroberte Rezipientenkreise mag gelten, dass den Angaben der Messkataloge zufolge mit dem Jahr 1681 die Zahl der deutschsprachigen Publikationen erstmals die Zahl der lateinischen übersteigt (vgl. Gustav Schwetschke: Codex nundinarius Germaniae literatae bisecularis. Meß-Jahrbücher des deutschen Buchhandels von dem Erscheinen des 1. Meß-Kataloges im Jahre 1564 bis zu der Gründung des 1. Buchhändler-Vereins im Jahre 1765. Halle 1850, S. 153). Ab 1692 überragt sie sie dann dauerhaft. Während noch in den 70er Jahren des 17. Jahrhunderts im Durchschnitt 332 deutschsprachige Titel in den Messkatalogen verzeichnet sind, ist ihre Zahl im ersten Dezennium des 18. Jahrhunderts bereits mit durchschnittlich 682 Titeln pro Jahr zu beziffern. Damit hatte sich die zumindest durch die Messkataloge erfassbare Produktion in rund 30 Jahren verdoppelt.

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Dass diese kompilatorische Literatur auf einen gewissen Rückhalt in der Leserschaft zählen konnte, ist auch an den nicht selten vorkommenden mehrbändigen Ausgaben abzulesen.3 Die Beobachtung eines gelegentlichen Übertritts des polyhistorischen Sammelschrifttums zu der engmaschigeren periodischen Organisationsform der Zeitschriften kann daher wenig überraschen. Vielfach lassen sich derartige Reihenwerke hinsichtlich ihrer Genres nur mit Mühe von den mit dem ausgehenden 17. Jahrhundert in Deutschland entstehenden Zeitschriften abgrenzen.4 Über die Beweggründe einzelner Autoren, sich zu einer monatlichen oder wöchentlichen Herausgabe ihrer Schriften zu entschließen, kann in der Regel lediglich spekuliert werden. Möglicherweise war das Interesse der Buchdrucker, die offenbar in den neuen Zeitschriftenunternehmen ein profitables Geschäft vermuteten, für diese Entwicklung maßgeblich.5 Für das gesamte 17. Jahrhundert hat Joachim Kirchner in seiner altehrwürdigen Bibliografie das Vorkommen von etwa 70 Zeitschriften im deutschen Sprachgebiet nachweisen können, wovon etwa drei Viertel bereits in deutscher Sprache publiziert wurden.6 Ein Versuch der thematischen Einordnung der einzelnen journalistischen Unternehmungen in historisch-politische, allgemeinwissenschaftliche, vereinzelte fachwissenschaftliche und unterhaltende Zeitschriften muss sich unweigerlich mit der Gegebenheit konfrontiert sehen, dass das Medium die Grenzlinien seiner Form um 1700 erst auszubilden begann und daher die Übergänge zwischen den nachträglich festgelegten Genres mehr oder weniger fließend sind. Eine Kategorie wie die der Unterhaltungszeitschriften scheint dabei, wie auch der Begriff der »Buntschriftstellerei«, letztlich nur ein Ausdruck der Hilflosigkeit von Klassifizierungsbemühungen angesichts der dem varietas delectat-Grundsatz verpflichteten Schriften zu sein.

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Anführen lassen sich in diesem Zusammenhang beispielsweise Martin Zeiller: Ein Hundert Episteln/ oder Sendschreiben/ Von underschidlichen Politischen/ Historischen/ und andern Materien/ und Sachen. Ulm 1640–1651; oder auch Jacob Daniel Ernst: Die Neuzugerichtete Historische Confect-Taffel. Altenburg 1677–1682. Vgl. hierzu auch Herbert Jaumann: Historia literaria und Formen gelehrter Sammlungen, diesseits und jenseits von Periodizität. Eine Reihe von Überlegungen. In: Historia literaria. Neuordnungen des Wissens im 17. und 18. Jahrhundert. Hg. v. Friedrich Vollhardt und Frank Grunert. Berlin 2007. S. 103–112, hier S.103ff. Als ein solchermaßen grenzwertiger Fall werden häufig die von Johann Rist ins Leben gerufenen und von Erasmus Francisci fortgeführten sogenannten Monatsgespräche (1663–1668) betrachtet. Vgl. dazu den Beitrag von Stefanie Stockhorst in diesem Band. Vgl. Christian Thomasius: Weitere Erleuterung durch unterschiedene Exempel des ohnlängst gethanen Vorschlags wegen der neuen Wissenschafft/ Anderer Menschen Gemüther erkennen zu lernen/ Auf Anleitung der nöthigen und gründlichen Beantwortung derer vielfältigen und über drey Jahr hero continuirten Zunöthigungen Hr. M. W. E. Tentzels publiciret/ und S. T. Herrn D. Johann Friedrich Meyern/ weitberühmten Theologo [...]. Vierte Edition. Halle 1711, S. 3. Vgl. Joachim Kirchner: Die Zeitschriften des deutschen Sprachgebietes von den Anfängen bis 1830. Stuttgart 1969. Es ist unumstritten, dass die Zeitschriftenbibliografie Joachim Kirchners nicht als vollständig bezeichnet werden kann, doch in Ermangelung einer besseren pressegeschichtlichen gesamtdeutschen Bibliografie für das 17. Jahrhundert müssen Kirchners Ermittlungen im Folgenden als Richtwert dienen.

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Zu den produktivsten ›Journalisten‹ dieser Epoche können etwa Philipp Balthasar Sinold von Schütz, Gottfried Zenner, Eberhard Werner Happel, Wilhelm Ernst Tentzel, Michael Wiedemann, die bereits genannten Johann Michael Schwimmer und August Bohse sowie natürlich Christian Thomasius gerechnet werden. Überwiegend als Schulmänner oder in Hofämtern tätig, wendeten sich diese einer gleichen Generation angehörenden Autoren im Alter zwischen 30 und 40 Jahren dem Verfassen periodischer Schriften zu. Im Hinblick auf die von ihnen vertretenen Berufsstände mag es einleuchten, dass annähernd ein Drittel der Zeitschriften bis 1700 in Form von didaktischen wie auch kurzweiligen Erzählungen, Briefen oder Gesprächen gestaltet war und sich anscheinend vornehmlich an ein gebildetes Laienpublikum richtete. Ein gewisser Trend zur Gründung neuer Periodika zeichnete sich mit dem Erscheinen der von Christian Thomasius 1688 verfassten Schertz- und Ernsthafften/ Vernünfftigen und Einfältigen Gedancken/ über allerhand Lustige und nützliche Bücher und Fragen oder kurz der sogenannten Monatsgespräche ab. Allein innerhalb der darauf folgenden zwei Jahre wurden zehn neue Zeitschriften in ein meist nur kurzfristiges Leben gerufen. Unter diese Neuerscheinungen sind auch die von Michael Wiedemann mit dem Jahr 1689 in Leipzig herausgegebenen Historisch-Poetischen Gefangenschafften zu zählen, die im Folgenden als das Paradebeispiel einer Unterhaltungszeitschrift aus dem Dunstkreis der polyhistorischen Kompilationen angeführt werden sollen. Unumwunden macht Wiedemann im Vorbericht zu seinem Periodikum deutlich, dass es sich bei seinen »Historischen und Poetischen Tractätgen« um eine Sammlung bereits seit längerem verfertigter Geschichten handele, die er »theils guten Freunden zur Lust/ theils zur Anweisung/ theils auch nur zum Schertz und Zeitvertreib« geschrieben habe.7 Er könne nicht einmal genau sagen, was ihn veranlasst habe, sie nun monatlich heraus zu bringen.8 Beinahe ebenso überrascht von diesem Entschluss wie der Autor selbst zeigt sich auch der anonyme Verfasser des ersten Widmungsgedichtes, dessen Eingangsverse wie folgt lauten: Wie? will Er auch/ mein Freund/ auf teutsch Monaten schreiben/ Und bey der heutgen Welt ein neuer Momus seyn/ Der mit den spitzgen Kiel durchstichelt Groß und Klein? Wer von Gelehrten wird verschonet endlich bleiben?9

Diese Verse scheinen mir, was Wiedemanns Motiv einer Zeitschriftengründung anbetrifft, sehr aufschlussreich zu sein. Hier wird ganz direkt danach gefragt, in 7

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Michael Wiedemann: Historisch-Poetische Gefangenschafften/ bestehende In Erzehlung zwölff auserlesenen nach den zwölff Monaten eingetheilten Geschichten/ Also Daß denen gefangenen Personen nachdenckliche Poetische Reden angedichtet worden/ bey welchen allerhand anmuhtige und curieuse aus verschiedenen schönen Autoribus zusammen gelesene Anmerckungen Derer sich ein jeder/ insonderheit die Studierende/ in Ermangelung vieler Bücher/ mit grossen Nutzen gebrauchen können/ angefüget zu finden sind. Leipzig 1690, Sig. )(2v. Ebd., Sig. )(3r. Ebd., Sig. [)(5v].

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welcher Tradition er mit seinen Gefangenschafften eigentlich gesehen werden möchte, oder genauer, ob Wiedemann sein Periodikum den deutschsprachigen kritischen gelehrten Zeitschriften zugesellen will. Der Hinweis auf die antike mythologische Figur des »Momus«, der die Verkörperung des Tadels und der Krittelei darstellt, lässt dabei durchaus erahnen, was von derartigen Unternehmungen zu halten sei. Momus, der selbst an Venus noch auszusetzen hatte, ihre Pantoffeln würden zu laut klappern,10 und Zoilos, ein griechischer Redner zur Zeit des Sokrates, der sich vor allem als streitsüchtiger Kritiker des längst verstorbenen Homers den Titel eines »rhetorischen Hundes« erwarb, waren als Sinnbilder unberechtigter Kritik überaus beliebt.11 In ihre Reihe wurde zuweilen auch Pasquino aufgenommen, der Namenspatron der unbeliebten »Pasquillanten«, der gemeinsam mit seinem Freund Marforio insbesondere um 1700 in einigen Zeitschriften als pikareske Hauptfigur in Erscheinung tritt.12 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang ferner, dass es zum Zeitpunkt der Gründung der Wiedemannschen Gefangenschafften, also Anfang des Jahres 1689, genau genommen nur eine einzige Zeitschrift gab, die als kritische gelehrte Zeitschrift in deutscher Sprache gelten kann, und dies waren die Thomasischen Monatsgespräche. Obwohl sich innerhalb des Widmungsgedichtes in Wiedemanns Namen von Publikationen dieser Art ausdrücklich distanziert wird, darf in Erwägung gezogen werden, dass Wiedemanns Entschluss zu einem Periodikum nicht gänzlich unbeeindruckt von dem Erfolg der Monatsgespräche zustande gekommen war. Erwähnt sei bei dieser Gelegenheit, dass ohnehin eine persönliche Bekanntschaft mit Thomasius für durchaus wahrscheinlich gehalten werden kann, denn im Sommer 1682 hatte Wiedemann sich an der juristischen Fakultät der Universität Leipzig eingeschrieben, wo Thomasius seinerzeit als »doctor privatus« lehrte.13 Überdies weist auch ein anderer Umstand in Thomasius’ Richtung, denn bei dem Verfasser des zweiten Widmungsgedichtes zu den Gefangenschafften handelt es sich um niemand anderen als den Leipziger Universitätsbibliothekar, Professor der Poesie und unermüdlichen Beiträger der

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Vgl. Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschafften und Künste, Welche bishero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden [...]. Ein und Zwantzigster Band, Mi–Mt. Leipzig, Halle 1739, Sp. 978. Vgl. ebd. Drey und Sechzigster Band, Zk–Zul. Leipzig, Halle 1750, Sp. 154. Dazu gehören beispielsweise die Zeitschriften Des Träumenden Pasquini kluger StaatsPhantasien Uber den ietzigen verwirreten Zustand der Welt (1697), Des unermüdeten Pasquino Mit seinen getreuen Compagnon Marforio Nächtliche Unterredungen (1698–1699) oder auch Pasquini mit dem Marforio gehaltenes Gespräch über die sämtlichen polnischen Affairen (1707–1709). Die ersten deutschsprachigen Pasquinaden lassen sich ab etwa 1540 nachweisen und mehren sich im 17. Jahrhundert zusehends. Pasquino wie auch Marforio gehören zu den statue parlanti, den sechs sprechenden Statuen Roms. Vgl. Georg Erler: Die jüngere Matrikel der Universität Leipzig 1559–1809. II. Bd. Leipzig 1909, S. 496. Des Weiteren besteht die Möglichkeit, dass noch ein anderer früher Journalist, nämlich Johann Martin Kessler, unter den ehemaligen Studenten von Thomasius gewesen ist. Kessler gründete im Jahr 1689 unter dem Pseudonym »Ignatius Mensifack« die Zeitschrift Der Neue Monats-Schreiber in Königsberg.

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Acta Eruditorum, Joachim Feller, den Schwager von Christian Thomasius. Eine gewisse Übersicht über den bis dahin bestehenden Zeitschriftenmarkt sei Wiedemann mit Rücksicht auf diese Verbindungen unterstellt. Wenn Feller in seinem Sonnet An Den Gelehrten und Geehrten Leser Wiedemanns Kunst und Witz, poetisches Geschick und seine große Belesenheit lobt, dann ist auf diese Weise das Programm der Gefangenschafften gewissermaßen bereits angedeutet.14 Alle seine zwölf Monate eröffnet Wiedemann mit einer Erzählung, in der sich, meist verursacht durch einen moralischen Fehltritt, die Gefangenschaft der jeweiligen Hauptfigur ergibt.15 Unter ihnen sind sowohl Geistliche, reiche Bürger, Ärzte, türkische Sultane, adlige Schwerenöter und Studenten als auch gefallene Frauenzimmer, die sich nach ihrer Arretierung in einer langen, deutlich vom Text der Erzählung abgegrenzten Klage in Versform ergehen. Den größten Raum der zwischen etwa 50 und 120 Seiten umfassenden »Monate« beanspruchen die penibel zusammengetragenen Anmerkungen zu den Poemen. Sie bilden das Kernstück der Zeitschrift. Wiedemann hebt in seinem Vorbericht ihren konkreten Nutzen eigens hervor, indem er sie insbesondere einem jeden Studiosus Eloquentiae als einen Fundus für geistliche und weltliche Reden anempfiehlt.16 Über seinen Impuls, diese »lustige[n]/ anmuthige[n]/ curieuse[n]/ und nützliche[n] Anmerckungen« mit anzufügen,17 heißt es: Denn es hat mich vielmahl verdrossen/ wenn ich in gelehrter Leute Gedichten eine artige Materie kürtzlich berühret gefunden/ daß ich nicht ausführliche Nachricht davon oder zum wenigsten einen Autorem angeführt haben sollen/ wo man davon lesen könte.18

Unter den von Wiedemann genannten Autoren und Werken weisen auffällig viele Quellen in den Bereich der Buntschriftstellerei. Die Liste reicht von Aulus Gellius’ Noctes Atticae (um 170) über Martin Zeillers Theatrum Tragicum (1628), Peter Laurembergs Acerra Philologica (1633), Georg Philipp Harsdörffers Der Grosse Schau-Platz/ Lust- und Lehrreicher Geschichte (1651), Johann Rists sogenannte Monatsgespräche (1663–1669), Johannes Praetorius’ Anthropodemus Plutonicus (1666–1667), Erasmus Franciscis Ost- und West-Indischer wie auch Sinesischer Lust- und Stats-Garten (1668) und Neu-polirter Geschicht- Kunst- und Sitten-Spiegel ausländischer Völcker (1670) bis hin zu Jacob Daniel Ernsts Die Neu-zugerichtete Historische Confect-Taffel (1677) und Außerlesene Gemüths-Ergetzlichkeiten (1682). Die ihnen entnommenen Materien betreffen vornehmlich historische Vorkommnisse, Gestalten der Weltgeschichte und ihre Schicksale, ferner naturkundliche Merkwürdigkeiten, geografische Erläuterungen und technische Erfindungen, aber auch die Gebräuche 14 15 16

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Vgl. Wiedemann (wie Anm. 7), Sig. [)(6r-v]. Bemerkt sei hierbei, dass Wiedemann 1702 wegen der freimütigen Äußerungen über die katholische Kirche in seinen Gefangenschafften selbst in Gefangenschaft geriet. Auch Peter Lauremberg definiert den Nutzen seiner Acerra Philologica in dieser Weise. Vgl. Peter Lauremberg: Acerra Philologica. Das ist/ Zwey hundert außerlesene/ nützliche/ lustige/ und denckwürdige Historien und Discursen, Zusammen gebracht aus den berühmsten Griechischen und Lateinischen Scribenten [...]. Rostock 1638, Sig. Aijr–[Aiiijv]. Wiedemann (wie Anm. 7), Sig. )(2r-v. Ebd., Sig. )(4v.

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fremder Kulturen, modische Erscheinungen, etymologische Erklärungen, alchimistische Rezepturen und numismatische Besonderheiten. Hier erfährt der Leser, wie ein Komet entsteht, ob ein Salamander tatsächlich Feuer verträgt, wo die besten deutschen Weinanbaugebiete liegen, was für unterschiedliche Währungen in der Welt existieren, zu welchem Zweck amerikanische Kannibalen junge Knaben kastrieren, wie es um die Missionsbemühungen in Japan steht, was Herkules mit der Purpurschnecke zu tun hat, woher die Hugenotten ihren Namen haben, wie römische Folterinstrumente funktionieren, wer Hannibal war und wo über ihn berichtet wurde, oder auch warum die Priesterinnen der Insel Formosa bei schwangeren Frauen durch gezieltes Springen auf den Bauch Fehlgeburten auslösen. Bei der Vermittlung dieser und ähnlicher Informationen, die dem Verfassen von Reden dienlich sein sollen, greift Wiedemann auf Wissensbestände aus den traditionellen Bereichen der Litterae humaniores zurück. Unter den Litterae humaniores, Humaniora oder auch Humanitatis studia wurde eine um die Geschichte und die griechische Philologie erweiterte Version der freien Künste verstanden, welche überdies der Moralphilosophie und Rhetorik eine größere Bedeutung zumaß.19 Die Beschäftigung mit den humanistischen Studien war die Vorraussetzung für das Arrivieren an den höheren Fakultäten. In diesem Sinne wurde den Litterae humaniores der Charakter eines teils notwendigen, teils angenehmen und nützlichen Werkzeugs respektive einer »allgemeine[n] Instrumental-Gelehrsamkeit« zugesprochen.20 Folgt man zeitnahen Begriffsbestimmungen der »Gelehrsamkeit«, so wird sie bisweilen als eine »Erkänntnis der Wahrheiten« beschrieben, die es dem Menschen ermögliche, eine Unterscheidung zwischen »wahr« und »falsch« und gleichermaßen zwischen »gut« und »böse« zu treffen.21 Hinsichtlich dieses Zwecks wurde die Urteilsfähigkeit, das Iudicium, als unerlässliche Anforderung an einen Gelehrten jedweder »gründlichen« Wissenschaft betrachtet, denn der Mangel an Iudicium trennte eine gemeine von der gelehrten Erkenntnis. Am Scheideweg dieser zwei Kategorien der Erkenntnis kann die sogenannte »galante Gelehrsamkeit« verortet werden, über welche 1726 im Philosophischen Lexicon von Johann Georg Walch zu lesen ist: Die galante Gelehrsamkeit begreifft diejenigen Wissenschafften, die zu der Kunst den Leuten in Gesellschafft zu gefallen, erfordert werden. Man nennt dergleichen Wissenschafften

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Vgl. Walter Rüegg: Das Europa der Universitäten. Tradition – Brückenkopf – Liberale Modernisierung. In: Philosophie und Gestalt der Europäischen Universität. Hg. v. István M. Fehér und Peter L. Oesterreich. Stuttgart, Bad Cannstatt 2008 (Schellingiana 18), S. 33–62, hier S. 42. Vgl. Johann Georg Walch: Philosophisches Lexicon/ Darinnen Die in allen Theilen der Philosophie, als Logic, Metaphysic, Physic, Pneumatic, Ethic, natürlichen Theologie und Rechts-Gelehrsamkeit, wie auch Politic fürkommenden Materien und Kunst-Wörter erkläret und aus der Historie erläutert; die Streitigkeiten der ältern und neuern Philosophen erzehlet, die dahin gehörigen Bücher und Schrifften angeführet, und alles nach Alphabetischer Ordnung vorgestellet werden. Leipzig 1726, Sp. 1485. Vgl. ebd., 1726, Sp. 1156.

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auch sonst curieuse Wissenschafften, weil man dadurch die Curiosität der Leute vergnügen kan. Der Grund einer solchen Gelehrsamkeit ist nicht die Gründlichkeit, sondern die Mode, und zwar nicht so wohl die Mode gemeiner Leute, als vielmehr derjenigen, die sich an Wissenschafften distinguieren. Doch muß auch zuweilen was gründliches mit dabey seyn, weil der galanten Welt dann und wann ein und andere gründliche Wissenschafften wohlgefallen, doch werden dergleichen Dinge in der galanten Gelehrsamkeit nur als Sachen, die artig sind, und der Welt wohlgefallen, betrachtet.22

Wie aus Walchs Ausführungen zu ersehen ist, hatte diese Form der Gelehrsamkeit ihren eigentlichen Platz nicht an den Universitäten, sondern in der »galanten Welt«. Das Talent, zum richtigen Zeitpunkt »curieuses« Wissen in Konversationen anbringen zu können und damit Weltgewandtheit zu demonstrieren, schien ein Schlüssel des Erfolgs für den gesellschaftlichen Aufstieg zu sein. Zu diesem Schluss jedenfalls gelangte der spanische Jesuit und angesehene homo politicus Baltasar Gracián bereits 1647 in seiner Aphorismensammlung Oráculo manual y arte de prudencia, worin die nachstehende, hier nach der im Jahr 1715 in Leipzig herausgegebenen deutschen Übersetzung August Friedrich Müllers zitierte Einschätzung zu finden ist: Mancher vortrag ist in einem sinnreichen schertze weit glücklicher anbracht worden als wenn man es auch mit der ansehnlichsten gravität hätte versuchen wollen. Wissenschaft und erfahrenheit in solchen dingen, die beliebt in conversation machen, hat manchem mehr geholffen, als jene Artes alle sieben, so Liberales sie auch seyn mögen.23

Für all diejenigen, die durch ihre Ämter an derartigen galanten Konversationen teilhatten, dürften die polyhistorischen Kompilationen und Unterhaltungszeitschriften ein willkommener Lesestoff gewesen sein. Mit der Aufgabe, auf die Anforderungen, die an einen galant homme gestellt wurden, einzugehen, war die Grenze der Möglichkeiten universitärer Wissensvermittlung indes meist überschritten. Nicht zufällig ist gegen Ende des 17. Jahrhunderts eine Gründungswelle neuer Ritterakademien zu verzeichnen. Ebenso ließ sich der Ruf nach Realien und praxisorientierten Wissenschaften zu Beginn des 18. Jahrhunderts kaum mehr überhören.24 Das Phänomen des vermehrten Aufkommens von Zeitschriften in Deutschland um 1700 kann vor diesem Hintergrund als einer unter vielen neu gesuchten Wegen verstanden werden, die Wissenskommunikation über den institutionellen Rahmen der Universität hinaus zu erweitern und dem von Zeitgenossen so empfundenen ungeheuren Zuwachs an Wissen jeglicher Art zu begegnen. Dementsprechend zeugen einige Zeitschriftenvorreden von einem verbreiteten Fortschrittsoptimismus, wie er etwa in dem 1692 von Gottfried Zenner herausgegebenen Frühlings-Parnaß anklingt:

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Walch (wie Anm. 20), Sp. 1159f. Balthasar Gracián y Morales: Balthasar Gracians Oracul, Das man mit sich führen, und stets bey der hand haben kan [...]. Leipzig 1715, S. 135f. Vgl. Laetitia Böhm: Die deutschen Universitäten im Sozialgefüge des absolutistischen Fürstenstaates. Zwischen scholastischer Tradition, normativer Wissenschaftsorganisation, adeligen und bürgerlichen Bildungsansprüchen. In: Tradition, Norm, Innovation. Soziales und literarisches Traditionsverhalten in der Frühzeit der deutschen Aufklärung. Hg. v. Wilfried Barner. München 1989, S. 251–273, hier S. 271.

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Es sind nemlich in diesem Seculo alle Künste und Wissenschafften/ ja was nur in menschlicher Möglichkeit bestanden/ also gewachsen/ daß man gegen die alten Zeiten zu rechnen/ die vorige Welt vor der jetzigen nicht kennen/ und jene in dieser nicht finden würde. Und will ich nicht sagen/ ob aus aller Künste so herrlichem Flor die Curiosität der Leute entsprossen/ oder ob diese jener Mutter und würckende Ursache gewesen ist.25

Beflügelte also die Wissbegier die Wissenschaft? Und war das Wissen der »alten Zeiten« in Anbetracht der Novitäten noch wissenswert? Zenner sah mit seinem Zeitschriftenprojekt »eine Academie aufgerichtet«, in der neben der Verbreitung von Neuigkeiten »auch mit voriger Zeit artigen Begegebenheiten ein neuer Nutz und Lust geschaffet werde«, und welche auf »polymathische Art« der »curiösen Welt mit unzehlig artigen u. nützlichen Sachen« dienen konnte.26 Doch wurde die Nützlichkeit der Beschäftigung mit den »curieusen Materien« nicht selten in Zweifel gezogen. Die Skepsis galt der Vielseitigkeit der Gegenstände, die eine gründliche und zielgerichtete Auseinandersetzung mit einzelnen Problemen verhindere und auf diese Weise zu einer Zerstreuung des Verstandes beitrage. Damit aber wurde der Curiosus für das gelehrte Geschäft unbrauchbar, denn wie sollte »was solides auf einen sandigen Grund« gebaut werden?27 Zwischen einer für die Wissenschaft förderlichen »Curiosität« und einer bedenklichen »curiösen Wollust« verlief offenbar nur ein schmaler Grat. Die »curiöse Wollust« eines Menschen äußerte sich nun hauptsächlich darin, dass dieser »nach solchen Dingen eine Begierde hat, welche in Ansehung des Verstandes das Gemüth belustigen; aber zur Untersuchung der Wahrheit nichts beytragen«.28 Signifikant war demgemäß das Interessenspektrum eines solchen Curiosus: Ein solcher Wollüstiger hat z. e. sein eintziges Vergnügen an Romanen, Comödien, Opern und andern ingenieusen Schrifften, und ist ihm sehr verdrieslich, wenn er was ernsthafftes und tieffsinniges lesen, oder über eine Sache meditiren soll. Da sagt man: es ist ein sehr curieuser Mann, er lieset alle Zeitungen, bekümmert sich um die Neuigkeiten, und wenn etwas von curiösen Sachen gedruckt wird, darinnen sonderlich eine angenehme und lustige Schreib-Art ist, das muß er haben. Man bleibt nicht allein bey den Schrifften; sondern fällt auch auf andere curiöse Sachen mit seiner Wollust, als auf Naturalien-Cammern, MüntzCabbineten, Schildereyen, Bibliothequen, daß wenn solche Wollüstige sich Bücher anschaffen, so thun sie dieses nicht zu dem Ende, daß sie daraus gelehrt und weise werden, und GOtt und dem Nächsten dienen wollen; sondern sie haben daran nur ihre Lust, wenn sie die Bücher äusserlich in schöner Ordnung ansehen können. Diese Art der Wollust hat in der Natur des Menschen den Grund, daß uns GOtt einen Trieb der Wahrheit eingepflantzet, welchem Trieb etwas zu erkennen, diese Wollüstige zwar nachgehen, aber nicht zu dem Ende, daß sie durch die Erkenntniß der Wahrheit andern dienen mögen; sondern sie suchen nur ihre eigene sinnliche Vergnügung.29

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Gottfried Zenner: Frühlings-Parnaß/ Oder Abhandlung Von viertzig galant-gelehrten Curiositäten [...]. Frankfurt a. M., Leipzig 1692, Sig. A2r–v. Ebd., Sig. A3r–v. [I.H.]: Kurtze Und gründliche Anleitung/ Wie man die Journal- Quartal- und AnnualSchrifften [...] mit grossen Nutzen lesen kann [...]. o. O. 1716, S. 10. Walch (wie Anm. 20), Sp. 2943. Ebd.

Von Lust und Nutz

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Das Bemerkenswerte an diesen Ausführungen, in denen die »curiöse Wollust« gewissermaßen als verkümmerte Veranlagung zur Wissenschaft gedeutet wird, ist der hergestellte Zusammenhang zwischen Romanen, Komödien, Opern, allgemeiner Unterhaltungsliteratur, Zeitungen, Naturalienkammern, Münzkabinetten, Gemäldesammlungen und Bibliotheken. Als Medien und Tummelplätze einer »sinnlichen Vergnügung« trugen sie zweifellos auch einem beträchtlichen Bildungsbedürfnis jenseits der klassischen gelehrten Institutionen Rechnung. Diesem Bedürfnis in Form von gelehrten und gleichermaßen unterhaltenden Periodika nachzukommen, erwies sich als ein überaus einträglicher Schachzug in der Geschichte der Publizistik.

Christian Meierhofer

Allerhand Begebenheiten Happels so genannte Europæische Geschicht-Romane als Wissensfundus

Als 1645 Philipp von Zesens deutsche Übersetzung von Georges und Madeleine de Scudérys Ibrahim erscheint, begründet er dieses Unternehmen in seiner Vorrede damit, dass die »zier- und allezeit wohlfüglich’ erzählende[n] Vermischungen und rächtmäßige[n] Ahrten zu räden« der Franzosen ihm »höchlich gefallen«1 haben. Zwei Jahre später ist es die Liebes-Geschichte der »mit allen schönheiten und tugenden mildiglich-begahbte[n] Sofonisbe« und ihres »treubeständigen Kleomedes«2 von Gerzan, die Zesen ins Deutsche überträgt. Solche Übersetzungen fremdsprachiger Vorlagen zeigen einerseits eine gewisse Abhängigkeit der noch wenig etablierten deutschen Romanprosa im 17. Jahrhundert, andererseits wird mit den Übertragungen auch ein theoretisches Paradigma eingezogen, das die Schreibintentionen der deutschen Texte in ihrer Entwicklung konturiert. Zesens erklärte Absicht ist es, sowohl eine rhetorische Kunstübung im Sinne des decorum und des aptus zu vollführen als auch ein didaktisches Tugendexempel im Sinne der constantia zu statuieren. Beide Absichten gehen einher mit der Vermischung von wahren, beglaubigten und wahrscheinlichen, fiktionalen Begebenheiten. Denn Wahrscheinlichkeit und Wahrheitsähnlichkeit der Darstellung sind für die Romanprosa das Kriterium schlechthin, wie die Scudérys im ersten Band ihres Ibrahim (1641) gleich zu Beginn hervorheben: Mais entre toutes les regles qu’il faut obseruer en la composition de ces Ouurages, celle de la vray-semblance est sans doute la plus necessaire. Elle est comme la pierre fondamentale de ce bastiment; & ce n’est que sur elle qu’il subsiste. Sans elle rien ne peut toucher; sans elle rien ne sçauroit plaire; Et si cette charmante trompeuse ne deçoit l’esprit dans les Romans, cette espece de lecture le dégouste, au lieu de le diuertir.3

Und in der Vorrede des Artamène (1649–53) heißt es dazu weiter: »Vouz pourrez, dis-ie, voir qu’encore qu’vne Fable ne soit pas vne Histoire, & qu’il suffise à celuy qui la compose de s’attacher au vray-semblable, sans s’attacher 1 2 3

Philipp von Zesen: Sämtliche Werke: Ibrahim. Hg. v. Ferdinand van Ingen. Bd. V/1. Berlin, New York 1977, Vorrede, S. 9. Ders.: Sämtliche Werke: Die Afrikanische Sofonisbe. Hg. v. Ferdinand van Ingen. Bd. VI. Berlin, New York 1972, Widmung S. 5. Georges und Madeleine de Scudéry: Ibrahim Ov L’Illvstre Bassa. Dedié a Mademoiselle de Rohan. Premiere Partie. Paris 1644, Vorrede, o.S.

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toujours au vray«.4 Dieses Wahrheits- und Wahrscheinlichkeitspostulat findet sich in den romantheoretischen Überlegungen der barocken Rhetorik und Poetik immer wieder. Mit ihm gelangt die Historizität des Erzählten zum Maßstab für das Darstellungsverfahren des Romans, mit der Konsequenz, dass die Mehrung wissenswerter und glaubhaft zu machender Gegenstände nahezu exhaustiv betrieben wird. Die bisher nur wenig beachteten so genannten Europæischen Geschicht-Romane des Hamburger Kompilators und Polyhistors Eberhard Werner Happel (1647–1690) stehen am Ende dieser Entwicklung, verleihen ihr aber nochmals eine entscheidende Wendung. Happels Texte positionieren sich gezielt an der Schnittstelle von chronikalischer Geschichtsschreibung, periodischer Nachrichtenprosa und unterhaltsamer Buntschriftstellerei und markieren damit durchaus einen Sonderfall vormoderner Wissens- und Ereignisdarstellung.

1. Poetologische und rhetorische Voraussetzungen Was die Einflussnahme auf die Strategien und Absichten des Romans im 17. Jahrhunderts anbelangt, ist freilich Martin Opitz’ Übersetzung von Barclays Argenis (1626) der entscheidende Impulsgeber. Dabei bezieht der Roman – wie auch die Prosa der Frühen Neuzeit insgesamt – sein theoretisches, gattungskonstitutives Fundament weit weniger aus den zahlreichen Regelpoetiken als aus der Rhetorik. Der Verleger David Müller unterstreicht in seiner Widmung darum zuallererst die rhetorische Qualität der lateinischen Vorlage, die zwei Jahrzehnte später für Zesen offensichtlich ebenso noch ein wichtiger Orientierungspunkt ist: Dann von der Zierligkeit der Rede/ wie auch von der schönen außbündigen Ordnung/ so hierinnen vom Autore in Acht genommen vnd gebraucht worden: geliebter kürtze halben nichts zumelden/ so ist darüber zum allerhöchsten zuverwundern/ wie er/ Barclaius, so art: vnd anmutig alle vnd jede Stücke der weltlichen Weißheit ineinander fasset/ vnd vermischet/ daß der fleissige Leser nicht allein vnter dem Schein deß Gedichtes die Wahrheit der Geschichte/ ob schon vnwissentlich zu ergreiffen/ sondern auch die Tugendt vnd Vntugend hoher vnd niedriger Personen/ ohne Abbruch dero zustehenden Vorgeltung/ nebenst deutlicher Einführung eines jeden Obliegen vnd Gebür/ so wol was sonsten zu jederzeit vnd allenthalben den jenigen zuwissen nothwendig/ nutzlich vnd ergetzlich/ welche in der Welt von Gott hoch gesetzet seyn/ dardurch zu erkennen je mehr vnd mehr Lust vnd Begierd bekommet.5

Neben der Zierlichkeit (decorum), Anordnung (dispositio) und Kürze (brevitas) des Dargestellten ist es die Wahrscheinlichkeit, das verisimile, dem hier Bedeu4 5

Madeleine de Scudéry: Artamène Ou Le Grand Cyrus. Bd. 1. Nachdruck d. Ausg. Paris 1656. Genf 1972, Vorrede, S. 3. Martin Opitz: Gesammelte Werke. Die Übersetzung von John Barclays Argenis. 1. Teil. Krit. Ausg. Hg. v. George Schulz-Behrend. Bd. III. Stuttgart 1970, Widmung S. 3f.

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Christian Meierhofer

tung zukommt. Denn als exemplum ist der Roman mit der Funktion begabt, dem Leser durch Zusammenstellung (collectio) Weißheit (sapientia), aber auch Wissenswertes zu vermitteln und den Unterschied zwischen Tugend und Laster zu verdeutlichen. Der Text muss jedoch, um diese Zwecke zu erfüllen, nicht die wahre Geschichte (vera narratio) präsentieren, sondern kann durchaus erfunden sein. Insofern ruft Barclays Text zugleich den langwierigen Konflikt um die Notwendigkeit wahrer und historisch beglaubigter Darstellungsgegenstände auf und das damit verbundene Verdikt gegen die lügenhaften Prosaromane, das noch am Ende des Jahrhunderts, nämlich in Heideggers Mythoscopia Romantica (1698), ausgesprochen wird. Barclay selbst bezeichnet sein Verfahren als eine »newe Art zu schreiben/ die man zweifels ohne bey den Lateinern niemals zuvor gesehen hat«.6 Ausgehend von dieser Einschätzung prosaischer Schreibweisen erweist sich, bis zum Erscheinen von Zesens Adriatischer Rosemund (1645) zunächst durch Übersetzungen, auch der deutsche Roman als sprachlicher und semantischer Explorations- und Bezugsraum. Er konturiert sich abseits strenger normativer und dichtungstheoretischer Vorgaben und wird allenfalls – etwa in Daniel Richters Thesaurus oratorius novus (1660) – in die Nähe der ›niederen‹ Genres Satire und Komödie gerückt.7 Eine erste wegweisende poetologische Erörterung des Romans findet in Deutschland kurz vor der Jahrhundertmitte statt, und zwar im ersten Band von Harsdörffers wirkungsmächtigen Frauenzimmer Gesprechspielen (1644). Im Abschnitt »Das Verlangen« diskutieren die Gesprächsteilnehmer über gattungsspezifische Funktionen und Darstellungsweisen8 und kommen dabei zunächst auf das Verhältnis von gebundener und ungebundener Rede zu sprechen. Doch entgegen der üblichen Koppelung von Versifikation und Poetizität wird hier der Prosa ein ungewöhnlich großer Stellenwert zugemessen: Vielweniger kan der Reimenzwang den Wol- und Zierstand der Sprachen erhöhen/ und vermehren/ in Betrachtung/ die ungebundener Art zu reden/ solches viel leichter und füglicher ins Werk zu setzen vermag/ ja mit vielen gebräuchlichern und besserklingenden Worten/ als mit absonderlichen/ und der Poeterey allein zuständigen Redarten.9

Gerade die unpreziöse Verständlichkeit und Angemessenheit des Ausdrucks verschafft der Prosa offenbar einen Vorteil gegenüber der Dichtkunst. Unmit-

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8 9

Ebd., Widmung S. 5. Vgl. Dieter Kimpel, Conrad Wiedemann (Hgg.): Theorie und Technik des Romans im 17. und 18. Jahrhundert. Bd. 1: Barock und Aufklärung. Tübingen 1970, S. 8f.; sowie Wilhelm Kühlmann: Happels »Academischer Roman« und die Krise der späthumanistischen Gelehrtenkultur. In: Stadt, Schule, Universität, Buchwesen und die deutsche Literatur im 17. Jahrhundert. Vorlagen und Diskussionen eines Barock-Symposions der Deutschen Forschungsgemeinschaft 1974 in Wolfenbüttel. Hg. v. Albrecht Schöne. München 1976, S. 383–395, hier S. 394. Vgl. auch Wilhelm Voßkamp: Romantheorie in Deutschland. Von Martin Opitz bis Friedrich von Blanckenburg. Stuttgart 1973, S. 60–63. Georg Philipp Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele. Hg. v. Irmgard Böttcher. 1. Teil. Tübingen 1968, S. 257f. Zitiert wird die Paginierung des Neudrucks.

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telbar darauf folgt jedoch eine eindringliche Warnung vor der unwahrscheinlichen, nicht wahrheitsgetreuen ungebundenen Rede: Betreffend ferners die ohne Reimgesetze in ungebundener Rede verfaste Lust- und Liebsgedichte/ wollen solche einen sonderlichen Lehrnutzen erfreulich einwenden: Aber es ist ein süsser Gifft und tieffverborgene Gefahr/ bey welcher ein so beliebtes Verderben waltet. Die vorgebildete Helden zu Fuß/ die fleissigen Schäfer ohne Schaafe/ die schöne Schäferin ohne Stabe und Staub/ die grossen Könige in niemands Land/ die tapferen Ritter ohne Pferde/ das überschöne Frauenzimmer/ u.d.g. sind alle verliebet/ alle beständig/ voller Tugend/ und bedörffen des Geldes so wenig/ als die Christen des Alcorans. Diese Büchergrillen erregen dergestalt unsere Gedanken/ daß wir mit ihnen weinen/ lachen/ trauren/ Verlangen tragen/ und allen ihren Begierden gleichsam würcklich beypflichten/ ob sie woln nur erdichtet/ und niemals gewesen/ noch seyn werden. Was Nutzen haben wir aber darvon? Wir ersehen […] gewisse Lastermahl/ so unseren Sinnen auch wider unsern Willen […] mit angeboren werden/ und wie die Zuneigung zum Bösen mächtig/ werden unreiffe Gedanken an diesem Fabelwerk auferzogen/ und erwachsen wie das Efeu an einem holen Rohrstab sich erhöhet […].10

Der durchaus löblichen Verschränkung des Horazschen aut prodesse aut delectare wird die ciceronianische Trias von historia, argumentum und fabula kritisch entgegengesetzt. Denn das negativ besetze Fabel- und Blendwerk entbehrt, so die Argumentation hier, zum einen jedweder substantiellen historischen Grundlage des Erzählten und zum anderen wichtiger gattungsspezifischer Merkmale, etwa der Bipolarität von Tugend und Laster. Der Mangel an geschichtlicher Authentifizierung wird gleichgesetzt mit einem Mangel an dargestellter Wahrheit, woraus sich letztlich der Vorwurf der Lügenhaftigkeit an die fiktionalen Texte ergibt. Daneben allerdings – und das ist ein wesentliches Qualitätsmerkmal der auf Kontroversen angelegten Kolloquia – etabliert sich im weiteren Verlauf des Gesprächs ein zweiter Wahrheitsbegriff, der nicht die ontologische Objektwelt oder das historisch Bezeugte kennzeichnet, sondern das moralisch, theologisch oder philosophisch Richtige und Notwendige. Und mit diesem zweiten, komplementär gedachten Wahrheitsbegriff ist die Funktion der bloß erfundenen Erzählgegenstände und insbesondere der fabula geradezu unabdingbar: Die Geschichte haben ihr beschrenkt Gebiet/ über welches sie nicht schreiten sollen ohne ihrer Scribent ewige Beschimpfung/ und die Gedichte hingegen sind Ziegelfrey/ ungebunden und zwangloß; erstrecken sich über alles/ was Geistlich und Weltlich heist/ sie verfasset das/ was ist/ und auch das/ was nicht ist/ wie es seyn könte. Weil also durch den Namen der Fabel nicht die mißgestelte schand- und schändliche Lügen/ sondern die nutzbare versüsste und hochwehrte Wahrheit ausgebildet wird/ ist ferners Wort deßwegen zu verliehren nicht nöhtig.11

Vor allem die Darstellung nicht denkmöglicher oder unwahrscheinlicher Gegenstände, wie sie durch die fabula erbracht wird, erlaubt eine Wahrheitsver-

10 11

Ebd., S. 258f. Ebd., S. 275f.

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mittlung im ahistorischen, aber dafür im überzeitlichen Sinne. Für den Roman bedeutet das insofern eine Aufwertung, als die bei Zesen positiv hervorgehobene Vermischung von vorgefallenen und erfundenen Begebenheiten auch theoretische Wertschätzung findet. Anderthalb Jahrzehnte nach Harsdörffer argumentiert Sigmund von Birken (1626–1681) in seiner Vorrede zu Anton Ulrichs Aramena (1669) in ebendiese Richtung. Bei der dort vorgenommenen Trennung von allgemeinen Geschichtsschriften, »welche man Annales oder Jahrbücher zu nennen pfleget«, Gedichtgeschichten, bei denen die »warhafte Historie mit ihrem haupt-umständen«12 mit anderem vermengt und in ihrer Ordnung geändert wird, und Geschichtgedichten, die »entweder eine warhaftige Geschicht unter dem fürhang erdichteter Namen verborgen« tragen oder »ganz-erdichtete Historien«13 sind, spielt die historische Echtheit des Geschehens überhaupt keine Rolle. Birken kommt es nämlich allein darauf an, »durch lehr-hafte beispiele/ von lastern ab- und zur Tugend anzumahnen«. Besonders die Geschichtgedichte eignen sich für dieses Vorhaben, »dann sie haben die freiheit/ unter der decke die warheit zu reden/ und alles mit-einzufüren/ was zu des Dichters gutem absehen und zur erbauung dienet«.14 Ob die erzählten Beispiele beglaubigt und tatsächlich vorgefallen sind oder nicht, ist für die moralisatio und die persuasio als rhetorische Ziele der Texte irrelevant. Dementsprechend schlussfolgert Birken: »Jst derhalben torheit, solche Geschichtgedichte darum verwerfen wollen/ weil sie nicht beschreiben/ was sich in der that begeben hat«.15 Auf der anderen Seite gerät die historia zur Namensgeberin für alle möglichen Genres, für chronikalische Berichte, Reisebeschreibungen, kurze Prosa aller Art und Romane, auch wenn die nicht unbedingt geschichtlich Verbürgtes präsentieren. Die zunehmende Durchlässigkeit von Gattungsdifferenzen ergibt sich aus einer übergreifenden Funktionszuweisung der delectatio. Die Historien sollen zuallererst für Kurzweil sorgen, mit dem sich dann auch das Nützlichkeitspostulat verbindet. In Rists alleredelster Zeit-Verkürtzung (1668) etwa, einer Gesprächssammlung in der Folge des Harsdörfferschen Vorbilds, ist diese Verbindung das identitätsstiftende Moment von historia: Jch weiß mich zu bescheiden/ daß der fürtreffliche Geschichtschreiber Thucydices, der weiseste unter allen Historicis, für seine Historien diese Erinnerung setzet: Daß nemlich die Historien nicht nur eine Erzehlung zu Erlustigung sondern vielmehr ein guter und angenehmer Schatz des gantzen menschlichen Lebens sind/ mercket dieses wohl/ er nennet es einen angenehmen Schatz des menschlichen Lebens.

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13 14 15

Anton Ulrich: Die Durchleuchtige Syrerinn Aramena. Der erste Teil. Faksimiledruck nach d. Ausg. v. 1669. Hg. u. mit einem Nachwort vers. v. Blake Lee Spahr. Bern, Frankfurt a. M. 1975, Vorrede, S. iij v. Ebd., S. iiij v. Ebd. Ebd. Vgl. auch Stephan Kraft: Geschlossenheit und Offenheit der »Römischen Octavia« von Herzog Anton Ulrich. »der roman macht ahn die ewigkeit gedencken, den er nimbt kein endt«. Würzburg 2004, S. 36–38.

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Dieser Schatz kan in Weltlichen Berathschlagungen/ heilsam und mit grossem Nutzen jederzeit gebrauchet werden/ umb welcher Ursachen die Historien/ für eine Meisterin der Weißheit und Tugend von Vernünfftigen gehalten/ und gar geschicklich genennet werden.16

Der Zweck der Historien bezieht sich demgemäß sowohl auf die unterhaltsame, kurzweilige Darbietung des geschichtlich Beglaubigten als auch auf dessen situative Anwendbarkeit und Exemplarizität. In diesem Sinne erfüllt die historia eine Funktion als magistra vitae, als Lehrmeisterin des Lebens, und es ist gerade die kumulative Vielzahl der Texte, die kurzweilige Abwechslung einerseits und variantenreiche Handlungs- und Lehrmöglichkeiten andererseits gewährleistet. Von großer Wirkung auf die deutsche Romantradition ist schließlich Huets Traitté de l’Origine des Romans (1671), den Happel übersetzt und in seinen Jnsulanischen Mandorell (1682) aufnimmt. Happel reagiert damit ganz bewusst auf die mangelnde theoretische Auseinandersetzung mit der sich ausbreitenden Gattung des Romans: Weil sonsten die so genannten Romanen nunmehro auch in Teutschland sich gewaltig mehren/ und aber biß dato meines wissens noch niemand in unserr [!] Mutter-Sprache von dem Uhrsprung und unterschied der Satyrischen/ Fabelhafften/ Historischen/ und Romanischen Schrifften geschrieben/ alß habe mir insonderheit angelegen seyn lassen/ des Frantzösischen H. Huets Brieff/ darin Er die Materie vom Uhrsprung der Romanen gar artlich abhandelt/ in verschiedenen Capitteln des dritten Buches einzuführen/ welches dem Leser hoffentlich nicht Unangenehm seyn wird.17

Die Übersetzung gelangt 1688 sogar in die Vollständige Deutsche Poesie Albrecht Christian Rotths, der »des Hr. Happelii discours [...] Wort zu Wort hieher setzen will«.18 Der Roman und die Prosa insgesamt erhalten hierdurch und parallel zu Happels eigener Produktion einen poetologischen Stellenwert. Rotth ist sich ohnehin sicher, dass man »schwerlich einen finden wird/ dem die Dichtkunst bekannt/ oder der da wissen solte/ daß Prosa und Ligata ein Unterscheid ist«.19 Und schon Huet ist von der Nützlichkeit und Funktionalität des Romans überzeugt. Während die Liebesthematik, die den Romanen gewissermaßen als Gattungskriterium eignet, angeblich die Sittenlosigkeit und Affekte junger 16

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18

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Johann Rist: Die alleredelste Zeit-Verkürtzung Der Gantzen Welt/ Vermittelst eines anmuthigen und erbaulichen Gespräches/ Welches ist dieser Art die Sechste/ Und zwar eine Brachmonats Unterredungen/ Beschrieben und fürgestellet Von Dem Rüstigen. In: Sämtliche Werke. Hg. v. Eberhard Mannack. Bd. VI. Berlin, New York 1976, S. 241–448, hier S. 342. Eberhard Werner Happel: Der Jnsulanische Mandorell, Jst eine Geographische Historhische und Politische Beschreibung Allen und jeder Insulen Auff dem gantzen Erd-Boden/ Vorgestellet Jn einer anmüthigen und wohlerfundenen Liebes- und Helden Geschichte [...]. Hamburg, Frankfurt a. M. 1682, Vorrede, o.S. Albrecht Christian Rotth: Vollständige Deutsche Poesie. 2. Teilbd. Nachdruck d. Ausg. 1688. Hg. v. Rosmarie Zeller. Tübingen 2000, S. 1112. Zitiert wird die Paginierung des Neudrucks. Ebd., S. 1140.

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Leser befördert und darum als »dangereuse passion« verurteilt wird, betont Huet lieber den Belehrungs- und Instruktionscharakter der Texte: Ajoutez à cela que rien ne déroüille tant l’esprit, ne sert tant à le façonner & le rendre propre au monde, que la lecture des bons Romans. Ce sont des precepteurs muets, qui succedent à ceux du College, & qui apprennent à parler & à vivre d’une methode bien plus instructive, & bien plus persuasive que la leur, & de qui on peut dire ce qu’Horace disoit de l’Iliade d’Homere, qu’elle enseigne la Morale plus fortement & mieux que les Philosophes les plus habiles.20

Gerade diese Absichten werden in Happels Romanen jedoch mehr und mehr aufgegeben, weil die Expansion des in den Romanen aufgebotenen Wissens zu groß ist, als dass die moraldidaktische Anweisung sie noch in einen übergeordneten Sinnzusammenhang bringen könnte. Die Bedingungen dieser Wissensformationen sind in früheren Untersuchungen offenbar nicht erkannt und anerkannt worden: »Der Roman wurde hier mit einem mageren Handlungsgerüst zum Vehikel eines Wusts von totem Wissenskram, den Happels Zeit für nützlich und wissenswert erachtete«.21 Damit bleibt allerdings eine wesentliche Leistung Happels außer Acht, nämlich die Situierung des Romans innerhalb des medialen Verbunds von chronikalischer Geschichtsschreibung, dem beginnenden Nachrichtenwesen und populärer Wissenschaft.

2. Happels Schreibintentionen Als überaus produktiver Kompilator und Zeitungsschreiber ist Happel verantwortlich für eine Vielzahl von Chroniken, Kosmographien, Relationen, Historien- und Kuriositätensammlungen, die allesamt seine Romanproduktion beeinflussen.22 Dabei ist die Fülle des gesammelten Materials ausschlaggebend für

20

21 22

Pierre Daniel Huet: Lettre de Monsieur Hvet a Monsieur de Segrais. De l’Origine des Romans. In: Jean Regnault de Segrais: Zayde, Histoire Espangnole, par Monsieur de Segrais. Avec un Traitté de l’Origine des Romans, par Monsier Huet. Paris 1671, S. 5–67, hier S. 65. Vgl. ausführlich hierzu Camille Esmein: Poétiques du roman. Scudéry, Huet, Du Plaisir et autres textes théoretiques et critiques du XVIIe siècle sur le genre romanesque. Paris 2004, S. 359–446. Hans Wagener: Eberhard Werner Happel – Vernunft und Aberglaube im Spätbarock. In: Hessische Blätter für Volkskunde 59 (1968), S. 45–55, hier S. 47. Vgl. Lynne Tatlock: Thesaurus Novorum. Periodicity and the rhetoric of fact in Eberhard Werner Happel’s Prose. In: Daphnis 19 (1990), S. 105–134; sowie: The Novel as Archive in New Times. In: Consuming News: Newspapers and Print Culture in Early Modern Europe (1500–1800). Hg. v. Gerhild Scholz Williams und William Layher. Daphnis 37, H. 1/2 (2008), S. 351–373, hier S. 363f. Besonders informativ ist die Studie von Günter Dammann: ›... guts Neues von den Europäischen Sachen‹. Zeitungen im Geschicht-Roman von Eberhard Werner Happel. In: Die Entstehung des Zeitungswesens im 17. Jahrhundert. Ein neues Medium und seine Folgen für das Kommunikationssystem der Frühen Neuzeit. Hg. v. Volker Bauer und Holger Böning. Bremen 2011, S. 235–268.

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die Unterhaltung des Publikums. Das Kompilieren und die Expansion der so offerierten wissens- oder erzählenswerten Gegenstände ist freilich nicht neu, sondern hat seinen Angang mit den Sammlungen kurzer Prosa seit dem späten 15. Jahrhundert. Mit der sich etablierenden collectio abwechslungsreicher und kurzweiliger Geschichten werden die Texte sukzessive aus ihrer traditionellen moraldidaktischen Zweckbindung herausgelöst. Das Neben- und Durcheinander der vielen sonderbaren, erinnerungs- und eben merkwürdigen Historien avanciert im 17. Jahrhundert vollends zur Wahrnehmungs- und Bewertungsgrundlage von Welt, die die Kompilatoren zumeist deutlich in Anspruch nehmen: Es ist aber in diesen Centuriis von mir keine gewisse Ordnung gehalten worden: Sondern wie sie mir vorkommen und beliebet/ hab ich sie nach einander gesetzet: Die Ordnung aber kan das Register erstatten: Sintemahl nach meinem Bedüncken/ in solchen colligirten Historien/ gleich wie in einem Lustgarten/ die Varietas (mancherley Art) mehr als die Conformitas (einerley Art) erlustiget.23

Gleichwohl gibt es immer wieder Versuche, das wachsende Bedürfnis nach den zahllosen Vorfällen in einen heilsgeschichtlichen Sinnhorizont zu integrieren, häufig um dem moraltheologischen Vorwurf der zweckfreien, selbstbezüglichen Neugierde (curiositas) zu entgehen. Darum wird innerhalb der chronikalischen Geschichtsschreibung schon früh die Schreibkunst deklariert als »ein lustiges vnnd wonsames lieblichs Spiel der gedechtnis«,24 das letztlich dazu dient, durch das Sammeln und Archivieren von Historien einen problembasierten Erfahrungsaufbau zu betreiben: Durch diese jtztbemelte Gabe/ zeiget Gott an/ das er dem Menschen die Buchstaben vnnd Schreibekunst/ zu keinem andern ende geoffenbaret vnnd gegeben habe/ dann das man damit den Nachkomen beide Geistliche vnnd Weltliche gedenckwirdige Sachen/ zu Leibs vnd Seelen wolfarth zu gemüth führen/ vnnd sich derselben offtmahls erinnern sol/ damit der alten ankunfft/ Geschicht/ Hendel vnd Thaten/ gebreuch vnnd gewonheit/ glück vnnd vnglück/ verenderung vnd vorthganck/ nicht in ewiger vergessenheit/ sondern in frischer vnnd gesunder gedechtnis bleiben möchten [...].25

Happels Sammlungen und Romane bilden in diesem Zusammenhang keine Ausnahme. Eher scheinen sie das Konzept der varietas bis an seine Grenzen zu treiben, auch weil die Begebenheiten selbst ungeordnet und verworren daherkommen. Insofern braucht es häufig gar keinen künstlichen, antitopischen Strukturverzicht, um Abwechslung zu erzeugen. Je geschehensintensiver und

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24

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Christoph Richter: Spectaculum Historicum. Historisches Schau-spiel/ So auf dem SchauPlatz dieser Welt von Gott/ von der Natur/ von guten und bösen Engeln/ von Frommen und Gottlosen Menschen/ in natürlichen Dingen und Politischen Welthändeln/ meistentheils in dem XVI. Seculo nach Christi Geburt/ ist gespielet worden/ Dargestellet in Vierhundert Gesamleten Wunder-Historien Von einem Liebhaber der Welt-Geschichte. Jena 1661, Vorrede, o.S. Johann Letzner: Corbeische Chronica Von Ankunfft/ Zunemung/ Gelegenheit/ zu sampt den Gedenkwirdigsten Geschichten/ des Keyserlichen freyen Stiffts Corbey [...]. Hamburg 1590, S. ij v. Ebd., S. ij v u. 3 r.

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ereignisreicher der zu beschreibende Zeitabschnitt ausfällt, desto mehr ist eine summarische Übersicht vonnöten, die dann sogar als Verkaufsargument stark gemacht werden kann. Zu Beginn seines Christlichen Potentaten KriegsRomans (1681) verfolgt Happel ebendiese Strategie, aus der sich eine Affinität des Romans zur Chronik ergibt: Es ist also der Mühe wol werth/ daß man die Beschreibung dieses Kriegs von Orth zu Orthe/ und vom Anfang biß zum ende genau erlerne/ massen man daraus so viel ersehen wird/ alß auß hundert andern nutzbahren Beschreibungen/ und solches billich umb vnserer Nachkommenen Willen/ sintemal wir von unsern Vorfahren dergleichen Dinge gleichfals auffgezeichnet vor uns finden. Wann es aber sehr schwer ist/ alle in diesem Kriege vorgefallene merckwürdige Actiones der gebührlichen Folge nach/ genau zu behalten/ als ist dieser Tractat denen Liebhabern zum besten an das Licht kommen/ welcher uns diesen achtjährigen/ sehr verworrenen Krieg/ in einem zierlichen Roman vorstellet/ also/ daß ein jeder/ der die Zusammenfügung des Romans (welche leicht ist) wol behält/ von diesem Kriege nicht anders wird reden können/ als wann er selber allemahl mit dabey gewesen wäre.26

Der Roman soll gewissermaßen als Zusammenfassung, als Konzentrat des Vorgefallenen fungieren, nicht zuletzt um weiteren Lektüreaufwand zu ersparen. Der Kürze der Darstellung wird allerdings ein weiteres zentrales Merkmal beigeordnet, das Happel schon in seinem ersten veröffentlichten Roman und seiner ersten Publikation überhaupt, dem Asiatischen Onogambo von 1673, aufruft. Happel begreift den Roman nämlich nicht als singuläres Resultat ingeniöser Schaffenskraft, sondern verortet ihn im Textkosmos der gelehrten Wissensdiskurse seiner Zeit, um das Präsentierte glaubhaft zu machen und durch Quellenbelege abzusichern: ES ist allen Verständigen bekandt/ wie unverständig die Unverständige urtheilen/ welche meinen/ es wäre ein Schelmstück oder doch unredlich/ wann man auß einem andern Buch etwas in ein neues abschreiben/ da uns doch nicht allein unmüglich ist/ alles auß dem Kopffe zu erdichten/ und wann man solches gleich thäte/ so würde man [...] vielmehr sagen: dieses oder jenes ist nichts werth/ dieweil es der Mensch auß seinem eigenen Kopff gesetzet/ und mit keinem Authore oder textu beweisen kan/ wann einer Theologica oder Juridica schreibet/ und wolte die Biblische Sprüche/ die Kirchen-Vätter/ die leges corporis und was dergleichen ist/ wer wolte ihm glauben? also ists auch mit der Chronologia, Geographia und Historia beschaffen/ wann einer auß seiner eigenen Wissenschafft oder Erfahrung non juvantibus aliis eines von jetztgemeldten Stücken componiren wolte/ so muste er von Anfang der Welt gelebet/ und die gantze Erdkugel allen halben durchgesegelt und durchwandert haben [...].27

Für Happel ist der Roman dasjenige Genre, in dem unterschiedlichste Texte durch Kompilation eingezogen werden können, so dass sich ein Fundus aus 26

27

Eberhard Werner Happel: E.G.H. so genanten Christlicher Potentaten Kriegs-Romans Erster Theil Vorstellend Eine genaue Beschreibung aller blutigen Feldschlachten/ Bestürmungen/ Massacren [...] etc. so vor Anno 72. biß 75. inclusivè in der Christenheit unter den kriegenden Partheyen vorgegangen [...]. o.O. 1681, Vorrede, o.S. Ders.: Der Asiatische Onogambo Darin Der jetzt-regierende grosse Sinesische Käyser Xunchius. Als ein umbschweiffender Ritter vorgestellet/ nächst dessen und anderer Asiatischer Printzen Liebes-Geschichten und ritterlichen Thaten [...] kürtzlich mit eingeführet werden [...]. Hamburg 1673, Vorrede, S. )oooo( r.

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chronikalischem, geographischem, geschichtlichem und damit polyhistorischem Wissen ergibt.28 Eine rhetorische oder formale Ausgestaltung wird der Vermittlung und Popularisierung dieses Wissens hintangestellt. Happels Romane offerieren eine Kenntnis von Welt, die zuallererst eine Kenntnis von Texten ist. In diesem Zusammenhang klingt die noch in Daniel Georg Morhofs Polyhistor (1688) beliebte Metapher vom Wissensozean an, der hier durchsegelt und verbaliter erfahren werden kann, ohne dass dazu eine räumliche Bewegung nötig wäre. Die Romane präsentieren jedoch nicht die immer gleichen philosophischen oder theologischen Wahrheiten, sondern gewissermaßen den letzten Stand der Dinge. Bereits in der Vorrede des Onogambo weist Happel auf »die Türckische[n] Käyser« hin, von denen er »geliebts Gott mit nächstem in meinem Europeischen Toroan«29 handeln will, und damit auf sein nächstes Romanprojekt. Die Unbeständigkeit geschichtlicher Verläufe, aus der durch den Wegfall von Kategorien zunächst eine bewusstseinsgeschichtliche Krise entsteht, wird bei Happel geradezu ein Argument für das Immerneusein von Welt und insofern für kommende Textunternehmen. Dementsprechend fällt die Mitteilung an den Leser in der Vorrede zum Europæischen Toroan (1676) aus: Bey einem jeden Reich hastu die Landschafften so darzu gehören/ auch die Regenten mit ihrer kurtzen Beschreibung/ so viel ich in den bewerthesten Scribenten/ womit mir der Herr Verleger löblich an die Hand gangen/ habe finden können. Im übrigen/ weil ich dir die letzte Beschaffenheit unsers Europa vorstellen wollen/ so wisse/ daß es sich/ Zeithero/ daß ich den Toroan beschlossen/ noch viel geändert [...].30

Die permanente Veränderung von Welt erzeugt keinerlei Resignation, sondern wird positiv gewendet. Wo sich alles stets verändert, lässt sich auch viel Neues berichten. Der Roman dient durch diesen Vermittlungscharakter den Lesern und Happel selbst als regelrechter Melancholievertreiber. So erklärt Happel mit Blick auf die Entstehung seines zweibändigen Afrikanischen Tarnolast (1689), den er parallel zu seinen Studienarbeiten in Norddeutschland verfasst hat: Als ich hieher gleichsam relegiret ward/ war eben die traurige Herbst-Zeit Anno 1666. angetretten/ dannenhero/ meine Melancholische Gedancken zu vertreiben/ ich/ nachdem ich meine Academische Scripta und Lectiones repitiret/ die übrige Zeit auf eine andere Weise zu versüssen gedachte. Nemlich/ meine Gedancken und Sinnen applicirten sich/ da ich kaum das neunzehende Jahr meines Alters überschritten/ zu einem ROMAN, und solchen nach habe ich damahlen diesen TARNOLAST begonnen [...].31

28 29 30 31

Vgl. Lynne Tatlock: Thesaurus Novorum. Periodicity and the rhetoric of fact in Eberhard Werner Happel’s Prose. In: Daphnis 19 (1990), S. 105–134. Happel 1673 (wie Anm. 27), Vorrede, S. )oooo( r. Eberhard Werner Happel: Der Europæische Toroan, Jst Eine kurtz-gefassete Beschreibung alle Königreiche und Länder in gantz Europa [...]. Hamburg 1676, Vorrede, S. jv v. Ders.: Der Afrikanische Tarnolast. Nach d. Ausg. v. 1689. Bd. 1. Hg. v. John D. Lindberg. Stuttgart 1982, Vorrede, S. III.

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In der Ausgabe von 1710 wird dieser biographischen Notiz noch ein Vermerk vom Verleger an den Leser zugesetzt, der auf die unterhaltsame Vermischung von vorgefallenen und erfundenen Begebenheiten hindeutet: »Die Erfindung und darinnen befindliche Realia werden dich vergnügen/ und zwar um so viel mehr/ weil das Buch einen sehr jungen Scribenten zum Autore aufzuweisen hat«.32 Der Topos der Melancholievertreibung wiederum hat ebenfalls seit den Kurzprosasammlungen des 16. Jahrhunderts Bestand, deren Entwicklung mit Kirchhofs siebenbändigem Wendunmuth (1563–1602/03) ihren Abschluss und Höhepunkt findet. Der Leser widmet sich solchen Texten, um »seiner und ander melancoliam darmit zuovertreiben«.33 Happels Tarnolast hingegen bildet, auch wenn er weit nach seiner Abfassung publiziert wird, nur den Auftakt zu einer ersten Serie von Romanen, mit denen eine regelmäßige unterhaltsame Wissensvermittlung gewährleistet werden soll. Der Jnsulanische Mandorell steht dementsprechend in der Folge von Happels »Liebes[-] und Helden-Geschichten«,34 also des Afrikanischen Tarnolast, des Asiatischen Onogambo und des Europäischen Toroan. Happel konzentriert sich hier auf Inseln, weil »die vier Theile der Welt nicht gnug zu Beschreibung der gantzen Erd-Kugel« sind. Allerdings beschränkt er sich nur auf bestimmte geographische Bezirke, in denen auch Erzählenswertes vorfällt: Wann aber der Jnsuln eine solche Menge/ die fast nicht zu zehlen/ über dem auch etliche sehr klein/ und so gar nichts Merckwürdiges von ihnen zu berichten/ alß habe nur die jenigen beschrieben/ die dann Merckwürdig und von curieusen Leuten observiret werden; die Geographische Materie ist genommen auß den besten Reyse-Beschreibungen und genauesten Erd-Beschreibern [...].35

Doch Happel richtet sich nicht nur nach der curiositas des Publikums, sondern kann je nach Genre auch traditionelle Darbietungsschemata bedienen. Die Straff und Unglücks Chronick (1682) etwa funktioniert – zumindest dem Titel und der Vorrede nach – mitunter als Exempelsammlung nach altem Muster und zeigt wie Gott in der Lage ist, »mit kleinen und absonderlichen Fluthen die Menschen umb ihrer Sünden und bösen Wandels willen zu straffen«.36 Dennoch ergibt sich nicht zwangsläufig ein Widerspruch zwischen diesen Intentionen. Denn die Ausforschung und Kenntnisnahme weltlicher Begebenheiten desavouiert nicht den göttlichen ordo, sie ist geradewegs ein Beleg für ihn. Den seit Tertullian und Augustinus bestehenden Vorwurf zweckfreier Neugierde gegenüber den 32

33 34 35 36

Eberhard Werner Happel: Everh. Gvern. Happelii, Portugalische Clara, und Affricanischer Tarnolast, Jn einer anmuthigen Liebs- und Helden-Geschicht/ Der galanten Welt vorgestellt. Ulm 1710, Vorrede, o.S. Hans Wilhelm Kirchhof: Wendunmuth. Nachdruck d. Ausg. Stuttgart u. Tübingen 1869. Bd. 1. Hg. v. Hermann Oesterley. Hildesheim, New York 1980, Vorrede, S. 4. Happel 1682 (wie Anm. 17), Vorrede, o.S. Ebd. Eberhard Werner Happel: E.H.W. Straff und Unglücks Chronick: Jn welcher nachrichtlich und bey ihren Jahrs-Zeiten angeführt werden/ die gröste Land-Straffen/ so man in der Welt erlebet hat [...]. Hamburg 1682, Vorrede, S. 3.

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unzähligen verwunderungswürdigen Vorfällen kann Happel, wie die Kompilationsliteratur insgesamt, entkräften mit dem Argument, dass all diese Vorfälle sich innerhalb von Gottes Schöpfung ergeben. Die Kenntnis von Welt ist immer auch eine Kenntnis von Gott, weswegen die curiositas und das Rezipieren entsprechender Angebote legitimiert werden können. Diesen Schachzug macht sich Happel zunutze: DEr grosse Erd-Kreisz ist alsz ein augenscheinliches Wunder-Geschöpfe des allweisen Schöpfers/ nicht allein in diesem Wundersam/ daß er sich zu den Jahres-Zeiten/ welche der Sonnen Auff- und Absteigen in den zwölff Himmlischen Zeichen unterscheidet/ so mercklich verändert/ daß ein jeder Monat der Erden eine neue Gestalt zu geben scheinet/ sondern auch/ daß ein jeder Theil der Welt/ jedes Clima, ja ein jedes Königreich und Land seine besondere Eigenschafften und Ahrt/ an Menschen und Thieren/ an Gewächsen und allen Bequähmligkeiten hat/ daß die Curiosität des Menschen eyferigst dahin trachtet/ wie sie die Beschaffenheit der Welt/ und eines jeden Theils derselben sich möge bekant machen.37

Das so abgesicherte Neuigkeitsbedürfnis gehört dabei zu den Entstehungsbedingungen frühneuzeitlicher Nachrichtenangebote, wie sie Happel mit seinen wöchentlich erscheinenden Relationes Curiosæ (1682–90) parallel zu seinen Chroniken und Romanen in periodischer Form liefert.38 In der Vorrede zum ersten Jahresband ist er vom Erfolg seines Unternehmens durchaus überzeugt, eben weil er publikumswirksame Inhalte darbietet: »Kein Zweiffel ist bey uns/ es werde jederman ein gutes Contentement in Durchlesung dieser Relationen schöpffen/ und weder Alt noch Jung/ Gelehrt noch Ungelehrt/ gereuen/ eine Viertel Stunde Zeit darauff spendiret zu haben«.39 Als Happel 1685 mit dem Jtaliänischen Spinelli den ersten der so genannten Europæischen Geschicht-Romane veröffentlicht, hält er an ebendieser Vermittlungsabsicht fest und plant eine weitere Reihe von Texten, die sogar im Quartalsrhythmus erscheinen sollen: ICh beginne/ mit GOttes Hülffe/ anjetzo den Europæischen Geschicht-Roman, wovon der erste Theil zu diesem lauffenden 1685. Jahr den Anfang machet/ und gehet mein Concept 37

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39

Eberhard Werner Happel: Thesaurus Exoticorum Oder eine mit Außländischen Raritäten und Geschichten Wohlversehene Schatz-Kammer Fürstellend Die Asiatische, Africanische und Americanische Nationes [...]. Hamburg 1688, Vorrede, o.S. Vgl. Uta Egenhoff: Berufsschriftstellertum und Journalismus in der Frühen Neuzeit. Eberhard Werner Happels Relationes Curiosæ im Medienverbund des 17. Jahrhunderts. Bremen 2008, S. 30–36; Christian Meierhofer: Alles neu unter der Sonne. Das Sammelschrifttum der Frühen Neuzeit und die Entstehung der Nachricht. Würzburg 2010, S. 279–303; sowie Flemming Schock: Die Text-Kunstkammer. Populäre Wissenssammlungen des Barock am Beispiel der »Relationes Curiosæ« von E.W. Happel. Köln, Wien, Weimar 2011, S. 111– 166. Eberhard Werner Happel: Gröste Denckwürdigkeiten der Welt Oder so-genannte Relationes Curiosæ. Worin dargestellet/ und Nach dem Probier-Stein der Vernunfft examiniret werden/ Alle so Physicalische/ alß Mathematische/ Historische und andere merckwürdige Seltzamkeiten/ Welche an unserm sichtbahren Himmel/ in und unter der Erden/ und im Meer jemahlen zu finden oder zu sehen gewesen/ und sich begeben haben. Einem jeden curieusen Liebhaber zu gut auffgesetzet/ in Druck verfertiget und mit vielen Figuren erläutert. Bd. 1. Hamburg 1683, Vorrede, o.S.

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dahin/ daß/ dafern mir GOtt gesundheit und Leben gönnet/ alle Quartal oder Viertel-Jahr ein Theil davon in dieser Grösse herauß soll gegeben werden. Jch titulire den Roman dieses Jahrs den Jtaliänischen SPINELLI, weil ich darinn meist über lauter Jtaliänische Sachen romanisire/ und gleichwie in den vier Theilen dieses Jahrs die Landschafft Jtalien/ also soll mit GOttes Beystand jedes Jahr von den folgenden eine andere Landschafft oder Königreich nach seinem Estaat/ Historisch/ Geographisch und Politisch beschrieben und abgehandelt/ dabeneben aber auch zwar fürnehmlich die remarquablesten Geschichten eines jeden Jahrs/ davon der Roman tractiret/ eingeführet werden/ also gleichwol/ daß darinn niemand zu nahe wird geredet und geschrieben werden. […] Es lauffen sonsten noch viele andere Materien und Discursen mit unter/ daß der Leser auß dem Roman selber meine Art zu schreiben/ unter welcher Gestalt man continuiren wird/ genugsam soll zu ersehen haben. Alle und jede geringe Actiones und Geschichten mit weitläuffigen Umständen anzuführen/ überlassen wir denen/ so die Historie eines jeden Jahrs ex professo schreiben/ und vergnügen uns mit sothanen Begebenheiten und Dingen/ welche nicht von der geringsten Consideration sind.40

Gewissermaßen als Komplement zur chronikalischen Geschichtsschreibung konzipiert Happel seine Geschicht-Romane. Während die Chroniken nämlich minuziös und in zeitlicher Abfolge jedweden Vorfall aufarbeiten müssen, weil »dem Leser mit einer unvollkommenen und gebrochen Historie wenig bedient seyn würde«,41 können die Romane auch scheinbar Marginales in den Mittelpunkt rücken und sich jedes Jahr auf einen anderen europäischen Schauplatz konzentrieren. Die Vermischung von historischen und erfundenen Erzählanteilen ist dabei problemlos möglich, auch weil Happel nicht an seiner differenzierten Darstellungsweise und an der Unterscheidungskompetenz des Lesers zweifelt: »Was Romanische Außzierungen/ und was warhaffte Geschichten und Erzehlungen sind/ wird auß dem Tractat selber zur Gnüge erhellen/ allermassen diese/ wo möglich/ mit gewissen Autoribus, oder mit ihrem dato und Tag durchgehends sollen bekräfftiget werden«.42 Die passenden Darstellungsmöglichkeiten für diese Gattungsanliegen der Romane bietet die historia. Sie trägt außerdem maßgeblich zur Konstitution nationaler und kultureller Identität bei: WAs die Historie vor ein nothwendiges Stück in der Welt/ weiß ein jeder Vernünfftiger bey Jhm selber zu erkennen. Ohne dieselbe tappen wir im Finstern/ und unsere Nachkömmlinge würde über fünffzig oder sechzig Jahr nicht mehr wissen/ ob sie von Türcken/ Heyden/ Juden oder Christen erzeuget worden.43

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Eberhard Werner Happel: Der Jtaliänische Spinelli, Oder So genanter Europæischer Geschicht-Roman, Auff Das 1685. Jahr [...] 1. Teil. Ulm 1685/86, Vorrede, o.S. Theatri Europæi Continuati Zwölffter Theil/ Das ist: Abermalige Außführliche Fortsetzung Denck- und Merckwürdigster Geschichten/ Welche/ ihrer gewöhnlichen Eintheilung nach/ an verschiedenen Orten durch Europa, Wie auch in denen übrigen Welt-Theilen/ vom Jahr 1679. an bis 1687. sich begeben und zugetragen [...]. Frankfurt a. M. 1691, Vorrede, o.S. Happel 1685 (wie Anm. 40), Vorrede, o.S. Vgl. auch Gerhild Scholz Williams: A Novel Form of News. Facts and Fiction in Happel’s Geschicht-Romane (Der Teutsche Carl – Der Engelländische Eduard – Der Bäyerische Max [1690–1692]). In: Daphnis 37, H. 3/4 (2008), S. 523–545, hier S. 524f. Eberhard Werner Happel: Der Frantzösische Cormantin, Oder so genannter Europæischer Geschicht-Roman, Auf das 1687. Jahr [...]. Ulm 1687, 1. Teil, Vorrede, o.S.

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Dieses Vorhaben, den Roman im Grenzbereich chronikalischer und geographischer Darstellungsverfahren zu verorten, hat zweifelsohne Erfolg. Es entstehen in den folgenden Jahren Der spanische Quintana (1686/87), Der Frantzösische Cormantin (1687/88), Der Ottomanische Bajazet (1688/89) und Der Teutsche Carl (1690). Daneben gibt es zahlreiche andere historiographische Romane, die sich an dieses Erfolgsmodell anlehnen und noch nach Happels Tod unter dessen Namen veröffentlicht werden, wie etwa Der Engelländische Eduard (1691), Der Bäyerische Max (1692), Der Sächsische Witekind (1693) und Der Schwäbische Ariovist (1694). Noch einmal bemühen diese Texte am Ausgang des 17. Jahrhunderts die Metapher vom theatrum mundi, mit der auf die nun legitime curiositas des Lesers und seine Wollust der Augen (concupiscentia oculorum) gezielt wird: DJe Welt ist und bleibet ein Allgemeines Theatrum und Schauplatz aller Welt-Händeln/ auf welchem Jahr auß/ Jahr ein/ den Aufmercksamen und Wissens-Begierigen das Jenige/ was da und dorten sich zuträget/ und zwar vielfaltig/ was schon zu andern Zeiten sich ereignet/ von Neuem/ nur mit diesem Unterscheid vorgestellet wird/ daß zwar die Sache an sich selbsten/ biß an wenige Umstände/ fast die Vorige/ und nur von andern Personen/ oder in andern Ländern außgeübet/ und Menschlicher Beurtheil- und Anschauung vor Augen gestellet wird.44

Die biblische Wendung, dass nicht Neues unter der Sonne vorfällt – nihil novi sub sole (Pred. 1,9) –, ist mit Blick auf die Romanproduktion kein Hindernis. Sie ist vielmehr ein unabweisbarer Anlass, um »auf die vorige und bißher gewohnte Weise« fortzufahren und »das Jenige vorzubringen/ was in dem abgewichenen 1690. Jahr Denck- und Merck-würdiges/ vornemlich in Europa, sich zugetragen«.45 Der Wiederholungscharakter und die Ähnlichkeit geschichtlicher Verläufe bietet – so das marktstrategische Argument hier – eine verlässliche Grundlage dafür, dass auch die künftigen Romane nicht lang-, sondern eben kurzweilig und variantenreich bleiben.

3. Darstellungsweisen und Darstellungsvarianten der Geschicht-Romane Happels Romane erzählen häufig eine Liebesgeschichte, bei der die Trennung des Paares einerseits eine Bewährungsprobe darstellt, auch im Sinne des docere und einer Erprobung tugendhafter constantia, und sich andererseits durch die 44

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Eberhard Werner Happel: Der Engelländische Eduard, Oder so genannter Europæischer Geschicht-Roman Auf Das 1690. Jahr [...]. Ulm 1691, Vorrede, o.S. Vgl. auch Gerhild Scholz Williams: Staging News: The Theater of Politics and Passions in Eberhard Happel’s Deß Engelländischen Eduards (1690/91). In: Dimensionen der Theatrum-Metapher in der Frühen Neuzeit. Ordnung und Repräsentation von Wissen. Hg. v. Flemming Schock, Ariane Koller, Oswald Bauer und metaphorik.de. Metaphorik.de 14 (2008), S. 361–378, hier S. 361–363. [Online unter www.metaphorik.de/14/Williams.pdf]. Happel 1691 (wie Anm. 45), Vorrede, o.S.

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zahlreichen Unternehmungen des ausgezogenen Helden eine extensive Geschehensmehrung vollzieht. Damit wird einem Erzählmuster gefolgt, wie es in Heliodors Aethiopica Historia vorgebildet ist, die 1559 ins Deutsche übertragen wird und bis weit ins 17. Jahrhundert eine entsprechende Wirkung auf den Roman entfaltet. Happels Jtaliänischer Spinelli beginnt hierauf medias in res mit seiner verzweifelten Hauptfigur, die sich wegen der Trennung sogleich das Leben nehmen will: HJmmel und Erden sind mir lange Zeit gnug zu wider gewesen! alle Elementen haben sich wider mich verbunden/ und es ist keine Creatur/ die meinen Untergang nicht mit Lust anschauen möchte/ darumb/ O unglückseeligster Spinelli! schicke dich nur selber zu einem behertzten Tode. Deine Liebe wird dir ja doch allzusehr versaltzen/ und deine schlechte Person steiget noch lange nicht an solche Verdienste/ daß du dir einbilden köntest/ dermahleins ein würdiger Gemahl der holdseeligsten Abelonda zu werden. Also redete der halb verzweiffelte Ritter Spinelli, da er sich gantz allein in dem Walde vor Florentz befand/ und nachdem er dieses gesagt/ zückete er seinen Degen/ mit welchem er manchem Feinde das Leben genommen/ auß der Scheide/ setzete die Spitze an seine Brust/ und wolte sich selber entleiben. Jn demselben Augenblick begriff er sich aber wieder/ hub den Degen auff/ küssete das Gefäß/ und sprach: Nicht also! nicht also! Spinelli du must dieses Gewehr noch ferner führen/ dich deiner Abelonda würdig zu machen/ und die jenigen abzustraffen/ welche sich erkühnen/ deinem Ehrlichen Vorsatz einen Rigel vorzuschieben.46

Die vermeintlich aussichtslose Situation des hier eingeführten Spinelli muss freilich ebenso abrupt wieder wechseln, damit die Handlung überhaupt in Gang gesetzt und Spinellis Bewährungs- und Reisezeit beschrieben werden kann. Happels Figur weiß gewissermaßen schon um das tradierte Erzählmuster, dem sie trotz Suizidgedanken zu folgen hat. Im Zuge dessen erweist sich der Diener Horuch als ein kundiger Weggefährte, der über das Verhältnis zu seinem Herrn urteilt: [...] die Welt ist ihm manchmahl zu klein/ daß es scheinet/ er wolle den Himmel stürmen/ er laufft aber darüber manchmahl eine solche blaue Stirn/ daß es einen Stein erbarmen möchte/ und er stünde in Lebens-Gefahr/ wann meine Wissenschafft/ meine Erfahrung/ meine Klugheit/ meine Behändigkeit/ mein Witz und Verstand/ mein Salbe/ mein Pulver/ mein Clystir/ mein Schröpf-Eysen/ meine Lancette/ mein Scheer-Messer/ meine kleine und grosse Scheere/ mein Balsam/ meine Tinctur/ mein Oel/ und meine andere siebenhundert fünff und zwantzig Sachen ihm nicht augenblicklich zu Hülffe kämen.47

Solche Aufzählung (enumeratio) von Qualitäten eröffnet einen satirischen Blick sowohl auf die scheinbare Lebensuntauglichkeit des sich weltgewandt gebenden Spinellis als auch auf die Prahlerei des ihm Untergebenen. Der wiederum bewährt sich tatsächlich gleich bei der ersten Komplikation, als er nämlich vier Räuber, die zuvor dem Kavalier Montalban im Wald aufgelauert haben, in dessen Kleidern durch eine Lügengeschichte in einer Herberge überführt: »Also will ich ins Hauß gehen/ und sagen/ ich habe euch erschlagen/ was gilts/ es soll 46 47

Happel 1685 (wie Anm. 40), S. 1f. Ebd., S. 5.

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uns gelingen? vor das übrige lasset mich nur sorgen«.48 Die damit vorgeführte Klugheit (prudentia) kommt in gewisser Weise auf einem amoralischen Weg zu einem moralischen Ziel. Horuch begibt sich nämlich auch noch »nach Florentz/ um der Justiz anzudeuten/ was sich begeben«.49 Die Delinquenten werden schließlich überführt, wobei »der Hauß-Wirth die grösseste Schuld hätte«.50 Es kommt zu einem Resümee des Erzählten am Ende des ersten Kapitels, das die Konsequenzen dieses lasterhaften Verhaltens detailliert nachhält: Jm Nachsuchen wurden 20. Beutel gefunden/ welche allesamt mit Krohnen und Ducaten angefüllet waren/ diese hatte der Wirth innerhalb 10. Jahren durch Hülffe seiner/ wiewol andere Cammeraden/ manchen reisenden Personen abgenommen/ und belieffen sich diese Gelder auff eine Summa von 7000. Ducaten. Nachdem man den Wirth/ als einen grausamen und gottlosen Strassen-Rauber examinirt/ und hingerichtet hatte/ wurden die Freunde der jenigen Personen nach Florentz citiret/ welchen das Geld nach und nach rauberischer Weise war abgenommen worden/ und solcher Gestalt kam das meiste wieder zu rechte. Der Wirth hatte bey einem Goldschmiede in Florentz einen Sohn/ welcher die Execution seines bösen Vatters mit ansehen muste. Weil er selber aber noch nicht den geringsten Theil an dessen Verbrechen gehabt/ wiederfuhr ihm nichts: Aber die zween von den RauberCammeraden dancketen GOtt/ daß sie dem gefährlichen Todes-Tantz annoch entsprungen.51

Obgleich Happel keinen direkten Hinweis auf eine spezifische Textvorlage oder auf einen bzw. diesen historischen Vorfall liefert, wird hier im Stile einer Zeitungsmeldung das Geschehen referiert. Für den weiteren Verlauf des Romans hat die Begebenheit jedoch nur noch darum Relevanz, weil einer der Räuber Reue zeigt und von Montalban »alsobald vor ein Leib-Diener angenommen«52 wird. Und auch wenn der Text hier die Bestrafung des Haupttäters nachdrücklich aufweist, eine didaktische Verhaltensregel wird daraus nicht explizit abgeleitet. Wichtiger scheint hingegen, das Funktionieren juristischer Ordnungsmechanismen zu beschreiben. Der Vorfall deutet sich nur noch an als Reminiszenz an die traditionelle Beispielgeschichte, präsentiert sich als Exempel ohne Lehre. Für Happels Spinelli wie auch für seine anderen Romane ist hingegen das Wechseln und die Häufung der Erzählgegenstände zentral. Beides erfüllt sich mit den rhetorisch begründeten Strategien der digressio und amplificatio und wird erzählerisch durch die zurückgelegte Reiseroute umgesetzt. Sie signalisiert ganz wortgemäß Welterfahrung, ohne dass eine übergeordnete Regel aus dem Erlebten formuliert würde. Das Erzählte ist mitunter nur noch über umfängliche Register strukturiert und im Einzelnen beziehbar. Dem Roman kommt die Gebrauchsfunktion eines enzyklopädischen Nachschlagewerks zu, wie sie mit Lohensteins Arminius (1689/90) ihr prominentestes Beispiel findet.53 48 49 50 51 52 53

Ebd., S. 8. Ebd., S. 15. Ebd., S. 14. Ebd., S. 15. Ebd., S. 14. Vgl. Thomas Borgstedt: Reichsidee und Liebesethik. Eine Rekonstruktion des Lohensteinschen Arminiusromans. Tübingen 1992, S. 279–331.

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Die dargebotenen Vorfälle selbst sind oft genug einfach nur verwunderungswürdig und kurios, wie etwa die Gespenstergeschichte im elften Kapitel, die Happel schon im dritten Band seiner Relationes unter dem Titel »Die seltzahme Lucenser-Gespenst« publiziert hat. Hier wird ein junger Adliger, den – wie Happel schreibt – »wir Alessandro nennen wollen«54 und der im Roman schlichtweg durch Spinelli ersetzt wird, von einer Dame in einem Schloss des Herrn Donati herumgeführt, um »etliche sehr köst- und künstlich gemachte Schränke«55 zu besichtigen. Das Gesehene lässt ihn schließlich an seiner Realitätswahrnehmung zweifeln: Spinelli wuste nicht ob er wachte/ oder schlieffe/ nimmermehr/ gedachte er in seinem Hertzen/ ist diese Dame mit Recht zu diesen unschätzbahren Kostbarkeiten kommen. Der Groß-Hertzog von Florentz hat auch herrliche Cabinetten von raren und köstlichen Sachen/ aber wer darff dieselbe mit dem vergleichen/ was ietzo [!] vor meinen Augen sehe? darum schlaffe ich? träume ich? oder wie geschicht mir? gleichwol erkenne ich/ daß meine Augen nicht bezaubert sind.56

Die Führung endet an einem Schrank, »worinn allerhand Sceleta oder TodtenGerippe von Menschen zusehen waren«, von denen »jeder ein kurtzes Messer in der Hand« führt. Spinelli flieht vor diesen »Teuffels-Verblendungen«57 und erfährt tags darauf die Zusammenhänge, nämlich, daß einsmahls ein Gastgeber in Luca gewesen/ welcher sehr viel fremde Leuthe in der Nacht ermordet/ biß seine Schelm-Stücke an den Tag kommen/ worüber man ihn zur Straffe gezogen/ und das Hauß eingerissen hette/ hernach habe man vielfältige Anfechtungen von Gespenstern auff demselben Platz gehabt/ darauff sich bißweilen ein Dame manchmahl auch zween ansehnliche Cavalliers præsentirten/ und die Vorbeygehenden in einen dem Auge vorgestellten/ aber erdichteten/ herrlichen Pallast führeten/ worinn sie ihnen allerhand köstliche Sachen zeigeten/ es nähme aber allemahl einen schlechten Außgang/ und wuste man wohl 4. Personen/ die vor Schrecken drüber gestorben/ was aber den Donati/ und die andern außgegebene Jtalianer belangete/ die ihn/ als er in die Stadt kommen/ angeredet/ muste man selbige gleichfalls vor keine natürliche Menschen achten/ sintemahl deß Teuffels Betrug sehr groß sey.58

Der Text ist ganz entschieden darum bemüht, dem hier gebotenen »seltzsamen Zufall«59 eine Kausalstruktur einzuziehen, die auch Happels Relationes eignet. Denn »der menschliche Fleiß [ist] heut zu Tage in so weit durchgedrungen/ daß keine oder doch gar wenige natürliche Dinge vorkommen/ darüber man nicht eine gründliche/ oder zum wenigsten warscheinliche Ursache geben könne«.60 Mit dieser Absicht ist Happel nicht allein. Sie ist grundlegende Praxis der Kompilationsliteratur, die im Übergang vom Barock zur Frühaufklärung den abstrusen Geschehnissen sowohl mit Neugierde als auch mit verstandesorientierten 54 55 56 57 58 59 60

Happel 1687 (wie Anm. 39), Bd. 3, S. 510. Happel 1685 (wie Anm. 40), S. 113. Ebd. Ebd., S. 114f. Ebd., S. 120. Ebd., S. 111. Happel 1687 (wie Anm. 39), Bd. 1, Vorrede, o.S.

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Erklärungsversuchen begegnet. Franciscis Vorrede zum zeitnah erscheinenden Höllischen Proteus (1690) stellt in diesem Zusammenhang den Versuch dar, das Phänomen der Gespenster und Sinnestäuschungen ausführlich und systematisch zu beschreiben. Die Existenz von Gespenstern wird dabei nicht in Abrede gestellt, sondern als Konsequenz lasterhaften Handelns verstanden: Es regieren aber die Gespenster gemeinlich gern/ an solchen Oertern/ da Mord und Todschlag geschehen/ da ein grosses Blut-Bad vorgegangen/ oder noch obhanden ist; oder da etwan verzweifelte Leute sich selbst umgebracht; oder wo sonst grosse Sünden/ als Unrecht/ und andere grobe Laster/ häuffig verübt worden.61

Francisci wertet gespenstische Erscheinungen als Strafe Gottes, die der Teufel vollführt, um »die Menschen zu äffen/ und auch/ wann es der Allmächtige verhengt/ zu beschädigen«.62 Das ist letztlich aber eine Möglichkeit, die Inkommensurabilität solcher kuriosen Geschehnisse aufzulösen, selbst wenn sie allein über religiöse Sinngebungsmuster zustande kommt. Bei Happel hingegen kommt es auf eine moralische Auswertung der Begebenheit nicht weiter an. Es genügt hier völlig die Erklärung, dass die Gespenster ein Resultat teuflischen Betrugs sind, obwohl gar keine Sünde Spinellis vorliegt, die zu bestrafen wäre. Die Geschichte verfügt aber offenbar über ein hohes Merkwürdigkeitspotential, und das macht sie erzählenswert. Während Franciscis Proteus viele Historien unter dem Rubrum Gespenstergeschichten zusammenstellt und ihnen einen gewissen didaktischen Wert zuweist, präsentiert Happels Spinelli vor allem ein Neben- und Nacheinander unvergleichlicher Begebenheiten, mit denen sich die Hauptfigur konfrontiert sieht, von denen sie aber auch ebenso gut wieder ablassen kann. Nach Aufklärung des Vorfalls gibt es für Spinelli und Horuch keinen Grund, ihre Reise noch länger hinauszuzögern: »Sie zahleten ihren Wirth ab/ und hatten keinen Lust/ länger an diesem Orth zu bleiben/ sondern erhuben sich noch denselben Tag auß Luca«.63 Die Fülle der noch zu erwartenden Kuriositäten treibt Figuren und Leser zum nächsten Gegenstand, so dass Kurzweiligkeit und Kürze der Darstellung, delectatio und brevitas, unweigerlich aufeinander bezogen sind. Gleichzeitig impliziert dieses Ende der Geschichte ein Votum gegen die pedantische, weil langweilige und langwierige Auseinandersetzung mit den Erscheinungen und insofern gegen ein Prinzip wissenschaftlicher Gelehrsamkeit. Happels Romane und Sammlungen bedienen lieber ein auf die Diskontinuität und die Eigenständigkeit der Geschehnisse gehendes Wahrnehmungsbedürfnis. Seine Relationes hingegen 61

62 63

Erasmus Francisci: Der Höllische Proteus/ oder Tausendkünstige Versteller/ vermittelst Erzehlung der vielfältigen Bild-Verwechslungen Erscheinender Gespenster/ Werffender und poltrender Geister/ gespenstischer Vorzeichen der Todes-Fälle/ Wie auch Andrer abentheurlicher Händel/ arglistiger Possen/ und seltsamer Aufzüge dieses verdammten Schauspielers/ und/ Von theils Gelehrten/ für den menschlichen Lebens-Geist irrig-angesehenen Betriegers/ (nebenst vorberichtlichem Grund-Beweis der Gewißheit/ daß es würcklich Gespenster gebe) [...]. Nürnberg 1690, Vorrede, o.S. Ebd. Happel 1685 (wie Anm. 40), S. 121.

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verfahren anders. Hier wird eine ganze Reihe von Gespenstergeschichten angehäuft, von denen nur jene eine in den Roman übergeht. Die Relationes verfolgen aber auch ein anderes Darstellungsinteresse. Happel möchte sich hier nämlich »vorher in Generalibus [...] ein wenig auffhalten/ und hernach den curieusen Leser mit Specialibus divertiren«.64 Dazu unterscheidet er ähnlich wie Francisci verschiedene Arten der Gespenster voneinander, »entweder eine nur durch den Verstand verspührte/ oder durch die Einbildungen/ oder auch durch leibliche Augen empfundene und gesehene«.65 Die Begründung für dieses deduktive Vorgehen kommt dann in ihren Begrifflichkeiten einer frühaufklärerischen Argumentation bereits sehr nahe: Jch sage demnach/ wan es eine Ober-Ursache aller Dinge hat/ die ihrem Wesen nach ein lauter alles erkennender Verstand ist/ so muß es auch zur Vollkommenheit dieses grossen Welt-Gebäuws Geschöpffe haben/ so nur ein blosser Verstand seynd und in diesem der ersten und Ober-Ursachen/ von der sie herkommen/ gleichen/ welches die Engel und vernünfftige Seelen seynd [...].66

Sowohl in den Relationes als auch im Spinelli ist das Divertissement des Lesers durch die Vielzahl der in ihren Ursachen zurückverfolgten Einzelfälle das zentrale Darstellungsanliegen. Während das Periodikum dazu auch auf eine Zusammenstellung thematisch ähnlicher Geschichten setzt, erzeugt der Roman Kontiguität, und zwar dadurch, dass seiner Hauptfigur alle erzählten Begebenheiten widerfahren. Beiden Genres eignet jedoch eine grundsätzliche Tendenz zur Kritik an Pedanterie und übermäßiger Konzentration auf nur einen Gegenstand. Damit stehen sie für eine veränderte Wahrnehmungs- und Beschreibungsweise, die maßgeblich vom Kompilationsschrifttum initiiert ist. Auch in anderen Sammlungen stößt das nicht weltfähige Pedantentum auf Ablehnung: Ein pedant sagte: Er studire nur zwey tage des jahres nicht gerne/ nehmlich den winter und den sommer. Auf befragen: Was er denn im frühling und herbst thue? Antwortete er: Das seynd meine nächte / und alsdenn schlaffe ich. Ein anderer sagte: Der winter ist zu kalt/ der sommer zu warm/ der herbst zu neblicht/ und der frühling zu feuchte zum studiren.67

Dem untätigen und interesselosen Pedanten setzen die Historiensammlungen, Periodika und Romane einen Fundus wissenswerten, polyhistorischen Materials entgegen, das Bezugswechsel statt spezialisierte Gelehrsamkeit favorisiert. Das sichert denn auch einen pragmatischen Umgang mit Problemsituationen. Bereits ein Kapitel nach der Gespenstergeschichte trifft Spinelli auf einen unglücklichen Ritter, »der seine Liebste verlohren hette«. Auf diese Trauer reagiert Spinelli mit einem spontanen Hinweis auf die Freiheit, die sich aus solchem Verlust ergibt: 64 65 66 67

Happel 1687 (wie Anm. 39), Bd. 3, S. 502. Ebd., S. 504. Ebd., S. 502. Anonym: Das Buch der Weisen und Narren/ oder kluge und einfältige reden und antworten/ welche von leuten aus allerhand nationen bey verschiedenen begebenheiten/ entweder im ernst oder aus schertz/ vorgebracht worden. Leipzig 1705, Nr. 465, S. 172.

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Jst dann die Freyheit nicht besser/ als die Sclaverey? wer eine Liebste hat/ ist nichts anders/ als ein Sclave; der aber damit nicht beladen ist/ hüte sich ja vor solchem schweren Joch. Ich liebe die edle Freyheit/ und weiß von keiner andern Liebe/ als die ich zu Reisen und Wissenschafften bey mir befinde.68

Diese Aussage widerspricht einerseits Spinellis eigener schmerzvoller Trennung von seiner Geliebten, andererseits findet so das Heliodorische Erzählschema eine triftige Begründung: Ohne den Austritt des Helden aus dem Ordnungsmodell ehelicher oder partnerschaftlicher Gemeinschaft kann die Kenntnisnahme von Welt nicht stattfinden. Spinellis Haltung eröffnet eine Reflexion auf das Darstellungsprinzip der Happelschen Geschicht-Romane insgesamt. Zur Wiedervereinigung zwischen Abelonda und Spinelli kommt es freilich dennoch. Im vierten Teil begegnet sich das Paar in einer nahe Neapel gelegenen Waldhütte des Einsiedlers Crescentio. Hier erzählt Abelonda »mit wenigem/ wie sie durch Anstifften ihrer Stieff-Mutter an die See-Räuber verhandelt worden«,69 wodurch sie nach Tunis, Syracus und Neapel gelangt ist. Abelondas ohnehin schon kurzer Bericht wird jedoch abgelöst durch »allerhand neue Zeitungen«, die »auß dem Post-Hause«70 bei der Gesellschaft eintreffen und daraufhin referiert werden. Solche Exkurse sind eher die Regel als die Ausnahme. Die Häufung und Fülle des Wissenswerten rückt Happels Romane unweigerlich in die Nähe der entstehenden Nachrichtenprosa, die explizit als Textfond im Handlungsverlauf aufgerufen wird. Die Figuren praktizieren ihren Wissensdrang ganz offen, auch am Beginn des zweiten Teils. Hier berichtet Horuch zunächst noch von seinem gescheiterten Versuch, die junge Witwe Leonora für sich zu gewinnen: »Hierauff begunte sie mich zu lästern und zu schelten/ daß sie halb ausser sich selber kam/ als ich aber bey meiner Beständigkeit verharrete/ brache sie ein Bein von einem Stuhl/ und wolte mir zu Leibe«, und »Spinelli lachete der Possen/ die sein Horuch inzwischen angesponnen hatte«.71 Unmittelbar darauf folgt jedoch ein Wahrnehmungswechsel. Denn: »Jnzwischen kam deß Klauers Diener vom Post-Hause/ und brachte allerhand geschriebene und gedruckte Zeitungen/ worinn sich folgende Materien unter andern funden«.72 Die im Anschluss eingefügten Zeitungsberichte nehmen ein gutes Dutzend Seiten in Anspruch, bieten ein Panorama jüngster Geschehnisse und führen die unverhohlene und mittlerweile selbstverständliche curiositas der Figuren vor. Mitunter greifen die Texte sogar das von Horuch angestoßene Thema der partnerschaftlichen Konflikte wieder auf, die für den Monsieur Klauer aber nicht von Interesse sind: Als Klauer so weit gelesen/ warff er die Briefe auff den Tisch/ und sagte: Wer das übrige lesen wil/ der thue es/ ich mag nicht hören von den närrischen Liebes-Händeln/ welche

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Happel 1685 (wie Anm. 40), 1. Teil, S. 122. Ebd., 4. Teil, S. 100. Ebd., S. 102. Ebd., 2. Teil, S. 2. Ebd.

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gemeiniglich einen ungewünschten Außgang gewinnen. Hierauff nahm Printz Trivultio die Schrifft zur Hand/ und laß folgendes darauß: Jm Außgang deß Januarii ist zu Helsignör in Dännemark ein sonderlicher Casus passirt. Ein Mägdlein von feinen Eltern/ ist von einem Officirer/ der ihr die ehe zugesagt/ geschwängert worden/ darauff fasset sie die Resolution, und überfället ihn bey der Gesellschaft mit einem Messer/ giebt ihm auch etliche Stiche/ daß er alsobald todt bleibet/ man glaubt der König werde sie perdonniren. [...] Als der Printz außgelesen hatte/ überreichte er Monsr. Klauer die Novellen wieder/ und bathe ihn weiter fort zulesen: Weil er in der Teutschen Sprache nicht gar fertig wäre.73

Hiermit wird nicht nur eine drastische Variante der von Horuch erzählten Liebesgeschichte geboten, sondern nebenbei auch der Rezeptionsvorgang der eingeholten Nachrichten geschildert. Nicht alle Berichte sprechen die Leser an, weswegen die Fülle, Variation und Herkunft der mehrsprachigen Meldungen entscheidend ist. Für jeden soll etwas Wissenswertes dabei sein. Vermuten lässt sich sogar, dass es sich bei den als Briefe bezeichneten Nachrichten um geschriebene, nicht um gedruckte Zeitungen handelt, die wegen des höheren Kaufpreises vornehmlich einem adeligen Publikum vorbehalten bleiben.74 In jedem Fall ist das mündliche Vortragen die offenbar übliche Verbreitungsweise der Zeitungen. Überhaupt formt der Gesprächscharakter den Roman zu einem Diskurs im Wortsinne, nämlich zu einem Hin und Her der verhandelten Gegenstände. Happel übernimmt dabei Präsentationsverfahren, wie sie in der Kolloquienliteratur seit Harsdörffer, Rist und Francisci vorgebildet sind. Sie sind für die beabsichtigte varietas überaus hilfreich, weil die Einbettung des Materials in einen Gesprächszusammenhang eine additive Reihung der Einzelgegenstände problemlos möglich macht: MJt diesem Discurs/ woran Spinelli ein grosses Vergnügen hatte/ legten sie ein grosses Stück des Tages hin/ und als man auff eine andere Materie kommen wolte/ sprang deß Klauers Diener/ Gottfried genandt/ mit einem Schreiben herein/ und überreichte es seinem Herrn/ mit dem Anfügen: daß darinn einige Novellen enthalten/ und habe er solche von dem Hauß-Wirth erhalten/ seinem Herrn zu zeigen. Monsr. Klauer sahe geschwinde hinein/ fand aber nichts Merckwürdigs/ ohne daß auß Königsberg in Preussen geschrieben ward/ welcher Gestalt nicht gar weit davon/ um die Stadt Tilsit und andere Orthe/ auff etliche Meile ein blutiger Schnee gefallen/ und so die Leuthe davon etwas in die warme Stuben gebracht/ habe er einen unleidlichen Gestanck von sich gegeben.75

Hierauf entspinnt sich eine Diskussion über die Echtheit des Erzählten, also darüber, ob man dieses Geschehnis »nicht alsobald vor ein Mährlein annehmen« müsse. Ganz im Sinne der Gesprächsspielliteratur wird so an die Urteilsfähig73 74

75

Ebd., S. 6f. u. 9. Vgl. dazu Ina Timmermann: »Nachdem unns an itzo abermahls beyliegende Zeitungen zue kommen«. Höfisches Nachrichtenwesen zwischen geschriebener und gedruckter Zeitung am Beispiel hessischer Landgrafen am Ende des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Dokumente aus dem hessischen Staatsarchiv Marburg. In: Zeitung, Zeitschrift, Intelligenzblatt und Kalender. Beiträge zur historischen Presseforschung. Hg. v. Astrid Blome. Bremen 2000, S. 85–159. Happel 1685 (wie Anm. 40), 1. Teil, S. 168.

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keit (iudicium) der Teilnehmer und des Lesers appelliert. Auf der anderen Seite gibt dieser Fall dem Monsieur Klauer Gelegenheit zur Vermittlung seines Erfahrungswissens. Zumindest für ihn steht nämlich fest, »daß ins gemein etwas Unglückliches darauff erfolget sey«76 und das Geschehen als traditionelles Prodigium zu bewerten ist. Außerdem »bezeugen verschiedene alte Scribenten«77 ähnliche Vorkommnisse, die im weiteren Verfolg des Kapitels aufgelistet werden. Mit der Häufung thematisch ähnlicher Beispiele kann dann auch deren Echtheit bezeugt werden. Auf zeitliche Nähe oder eine dichte Chronologie der Beispiele kommt es dagegen gar nicht an. Der Neuigkeitswert der Texte ergibt sich in erster Linie aus dem Grad ihrer Unbekanntheit und der Verschiedenartigkeit ihres Hergangs, nicht aus ihrer Aktualität: »Jm Jahr 1163. ist bey Rochelle in Franckreich dergleichen geschehen. Zu Rom regnete es Anno 1456. nicht allein Blut/ sondern auch Fleisch/ wie Palmerius in Callisto III. und Bonsinius Decade 3. lib. 8. bezeuget«.78 Die Begebenheiten und Textverweise – hier auf den Historiker Matthäus Palmerius und den Minoriten Antonius Bonsinius aus Florenz – können im Bericht Klauers unmittelbar aufeinander folgen, weil dies der Qualität romanesker Darbietungsstrategien entspricht. Der Roman erlaubt somit eine freie Kombination von heterogenen Themen und Gegenständen wie auch von unterschiedlichen Darstellungsweisen. Im Umfeld von chronikalischen, historiographischen, kolloquialen Sammlungen und der periodisch offerierten Nachrichtenprosa verschaffen sich insbesondere Happels Geschicht-Romane eine Funktion medialer Hybridisierung. In der Vorrede des letzten Spinelli-Teils wird dem Leser mit dem Spanischen Quintana dementsprechend schon das nächste Romanprojekt angekündigt. Happel zeigt sich auch hier schon wieder bemüht, »sothane Materien auf die Bahn zu bringen/ davon derselbe/ wo nicht allemal seine Erbaulichkeit/ doch wenigstens seine Ergötzlichkeit finden wird«.79 Statt der alten Moraldidaxe dominiert die Vielzahl und Buntheit der Dinge die Funktionsgebung der Romane. Sie erreichen damit eine legitime und marktstrategisch günstige Position im Angebotsspektrum vormoderner Weltdarbietung.

76 77 78 79

Ebd. Ebd., S. 169. Ebd. Ebd., 4. Teil, Vorrede, S. )( 2 r/v.

Karin Vorderstemann

Polyhistorismus, moralische Belehrung und literarische Unterhaltung Ziglers Asiatische Banise (1689)

Heinrich Anshelm von Ziglers Asiatische Banise (1689) ist in vieler Hinsicht die Quintessenz des heroischen Barockromans, wie er in der deutschen Literatur von Philipp von Zesen, Herzog Anton Ulrich von Braunschweig, Daniel Casper von Lohenstein und anderen Schriftstellern gepflegt wurde. Das im Vergleich zu deren Werken schmale Buch bildet den »Gipfel des höfisch-historischen Romans und zugleich den Übergang zum unterhaltenden Abenteuerroman«.1 Als solcher blieb die Asiatische Banise jahrzehntelang populär, wie neben zehn Folgeauflagen zahlreiche Rezeptionszeugnisse belegen.2 Allerdings ist sie weit mehr als ein spannend erzählter Roman, der in exotischer Ferne spielt. Wie Werner Frick in seiner Studie zur Schicksalssemantik im deutschen und europäischen Roman des 17. und 18. Jahrhunderts nachgewiesen hat, steht die Banise im Kontext der zeitgenössischen Machtdiskurse und ist damit ein politisch hochaktueller Kommentar zur absolutistischen Staatsform.3 Die asiatische Kolorierung erklärt sich nicht nur »aus dem pikanten Reiz und dem zeitbedingten Interesse am Exotischen«, sondern auch »aus dem literarischen Genre, denn ein Staatsroman des Absolutismus konnte sich [...] nur im chiffrierten Gewand ferner Zeiten und Gegenden in die literarische Öffentlichkeit wagen«.4 Dieses dient als bunte und attraktive Verkleidung für ein Werk, das mit der polyhistori1

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Gerhart Hoffmeister: Transformationen von Ziglers Asiatischer Banise: Zur Trivialisierung des höfisch-historischen Romans. In: The German Quarterly 49 H. 2 (1976), S. 181–190, hier S. 181. Zu den Folgeauflagen vgl. den Editionsbericht zur historisch-kritischen Edition der Asiatischen Banise (Heinrich Anshelm von Zigler und Kliphausen: Die Asiatische Banise. Historisch-kritische und kommentierte Ausgabe des Erstdrucks (1689). Hg. v. Werner Frick, Dieter Martin und Karin Vorderstemann. Berlin, New York 2010 (Frühe Neuzeit 152), S. 475–508) sowie das Internetportal zur Asiatischen Banise (URL: http://portal.unifreiburg.de/ndl/forschung/banise/banisehistorisch). Dort findet sich auch eine ausführliche Dokumentation der Rezeptionszeugnisse (URL: http://portal.uni-freiburg.de/ndl/forschung/banise/baniserezeption). Werner Frick: Providenz und Kontingenz. Untersuchungen zur Schicksalssemantik im deutschen und europäischen Roman des 17. und 18. Jahrhunderts. 1. Bd. Tübingen 1988 (Hermaea 55), S. 25–73. Hans-Gert Roloff: Heinrich Anshelm von Ziegler und Kliphausen. In: Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts. Hg. v. Harald Steinhagen und Benno von Wiese. Berlin 1984, S. 798–818, hier S. 803–804.

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schen Darstellung asiatischer Geschichte, Sitten und Gebräuche die Funktionen eines Fürstenspiegels verbindet. Wie die moralische und polyhistorische Belehrung des Lesers in den Roman integriert und mit der Handlung verknüpft wird, wird im Folgenden anhand ausgewählter Beispiele demonstriert. Die Romanhandlung, die hier kurz skizziert werden soll, beginnt, dem heliodorischen Schema entsprechend, in medias res mit dem berühmten und bis ins 19. Jahrhundert vielzitierten Monolog des Prinzen Balacin: Blitz/ Donner/ und Hagel/ als die rächenden Werckzeuge des gerechten Himmels/ zerschmettere den Pracht deiner Gold-bedeckten Thürme/ und die Rache der Götter verzehre alle Besitzer der Stadt [...].5

Nach einer auf diese Fluchrede folgenden blutigen Auseinandersetzung mit drei Räubern ist der im Kampf verwundete Held genötigt, sich auf dem Schloss eines Freundes zu erholen, wo er für die meisten Anwesenden inkognito bleibt. Während seiner mehrtägigen Rekonvaleszenz wird die Vorgeschichte des Romans in Binnenerzählungen nachgeholt. Den Auftakt macht sein Diener Scandor, der auf Bitte des Hauptmanns Abaxar zuerst die Lebensgeschichte Balacins und seiner Schwester Higvanama sowie anschließend die »Liebes- und LebensGeschichte des Printzen Balacin und der Princeßin Banisen« erzählt. Deren Beginn und weiterer Verlauf wird durch ein dem Leser und Protagonisten allerdings gleichermaßen unverständliches Orakel vorausgesagt. Eigentliches Movens der Handlung um den Prinzen und die beiden Prinzessinnen ist jedoch der Bösewicht Chaumigrem, der als Günstling von Balacins Vater Dacosem den Prinzen aus seinem Erbreich vertreibt und später als König von Brama das von Banises Vater Xemindo regierte Pegu bedroht. Balacin, der mittlerweile mit Banise verlobt ist, versucht vergeblich seinen Vater zu einem Bündnis mit Pegu zu bewegen und muss hilflos mit ansehen, wie das Reich von Chaumigrem erobert wird. Mit Ende des ersten und längsten Buches ist Balacins nachgeholte Vorgeschichte in der Handlungsgegenwart angekommen. Nachdem dessen Gastgeber Talemon zu Beginn des zweiten Buches noch die weitere Geschichte der Eroberung von Pegu durch Chaumigrem und der Hinrichtung des Kaisers beigesteuert hat, enden mit der überraschenden Verhaftung des Hauptmanns Abaxar die Binnenerzählungen und epischen Rückblenden. Im restlichen Verlauf des zweiten Buchs werden die Geschichten um Banise, die den Niedergang ihres Geschlechts als einzige überlebt hat, Balacin und das übrige fürstliche 5

[Heinrich Anselm von Zigler und Kliphausen:] Die Asiatische Banise/ Oder Das blutigdoch muthige Pegu/ Dessen hohe Reichs-Sonne bey geendigtem letztern Jahr-Hundert an dem Xemindo erbärmlichst unter- an dem Balacin aber erfreulichst wieder auffgehet. Welchem sich die merckwürdigen und erschrecklichen Veränderungen der benachbarten Reiche Ava, Aracan, Martabane, Siam und Prom, anmuthigst beygesellen. Alles in Historischer/ und mit dem Mantel einer annehmlichen Helden- und Liebes-Geschichte bedeckten Warheit beruhende. Diesem füget sich bey eine/ aus Jtalianischer in Deutsch-gebundene Mund-Art/ übersetzte Opera/ oder Theatralische Handlung/ benennet: Die listige Rache/ oder Der Tapffere HERACLIUS. Auffgesetzet von H. A. v. Z. U. K. Leipzig/ Verlegts Johann Friedrich Gleditsch/ ANNO M. DC. LXXXIX. Hier und im Folgenden zitiert nach der historisch-kritischen Ausgabe (wie Anm. 2), S. 11.

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Figurenpersonal weitergesponnen. Verbunden werden die einzelnen Episoden durch die Aktivitäten des machthungrigen Tyrannen Chaumigrem, der mehrere blutige Feldzüge gegen benachbarte Reiche führt. Indem im zweiten Buch alle Handlungen – bis auf die Geschichte der Prinzessin Banise – zu einem vorläufigen Ende gebracht werden, wird das Finale im dritten Buch vorbereitet. In diesem werden mit dem gleichzeitigen Zug der verschiedenen Herrscher – des zum König von Aracan gewählten Balacin, seiner Schwester, Königin Higvanama von Ava und deren Verlobten, König Nherandi von Siam – gegen das von Chaumigrem regierte Pegu sämtliche Handlungsstränge geographisch und erzählerisch zusammengeführt. Nach dem triumphalen Sieg Balacins und seiner Verbündeten über Chaumigrem und der Rettung der bereits todgeweihten Prinzessin Banise heiratet das Heldenpaar. Die Hochzeit wird mit der Aufführung einer Festoper gefeiert, deren Handlung die des Romans noch einmal spiegelt. Parallel zur Haupthandlung laufen in der Asiatischen Banise mehrere Nebenhandlungen, die sämtlich auf die Geschichte um Banise und Balacin bezogen und immer wieder mit ihr verknüpft sind. Das ideale Heldenpaar spiegelt sich in den gleichfalls heroischen fürstlichen Paaren Higvanama und Nherandi bzw. Fylane und Abaxar/Palekin, die gemeinsam mit Balacin den tyrannischen Chaumigrem zu Fall bringen und am Ende des Romans gleichfalls heiraten. Negative Gegenentwürfe bieten die Episoden um Prinz Xemin von Pegu, die Prinzessin von Savady und Prinz Zarang von Tangu, an deren Beispiel mangelnde Affektbeherrschung diskreditiert wird, sowie die burlesken Liebesgeschichten von Balacins Diener Scandor, die – analog zu entsprechenden Szenen in den Dramen William Shakespeares – für comic relief in der ausgesprochen blutigen Handlung sorgen. Dass die Asiatische Banise mehr als nur eine erfundene Geschichte ist, geht bereits aus dem ausführlichen Titel hervor, der die Handlung als auf »Historischer/ und mit dem Mantel einer annehmlichen Helden- und Liebes-Geschichte bedeckten Warheit beruhende« ankündigt. Welche historischen Ereignisse den Hintergrund des Romans bilden, wird ebenfalls im Untertitel mitgeteilt. Im Mittelpunkt steht die Geschichte um »Das blutig- doch muthige Pegu/ Dessen hohe Reichs-Sonne bey geendigtem letztern Jahr-Hundert an dem Xemindo erbärmlichst unter- an dem Balacin aber erfreulichst wieder auffgehet«. Flankiert werden diese Ereignisse durch Schilderungen der »merckwürdigen und erschrecklichen Veränderungen der benachbarten Reiche Ava, Aracan, Martabane, Siam und Prom«. Weitere Informationen zum historischen Fundament des Romans und dessen Quellen finden sich in der an den »Nach Standes-Gebühr geehrte[n] Leser« gerichteten Vorrede: Den Inhalt der wenigen Blätter belangende/ so sind es mehrentheils warhafftige Begebenheiten/ welche sich zu Ende des funffzehen hunderten Seculi6 bey der grausamen Verände-

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Dem im Untertitel enthaltenen Hinweis »bey geendigtem letztern Jahr-Hundert« nach meint Zigler das 16. Jahrhundert, allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, dass er das Geschehen zeitlich in größere Ferne verlagert. Die Datierung ist wahrscheinlich auf die 1605 aus dem Italienischen ins Deutsche übersetzte Reisebeschreibung des venezianischen

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rung des Königreichs Pegu/ und dessen angrentzenden Reichen zugetragen haben: Wobey zugleich ein wolgesinnter Leser die wundersamen Gewohnheiten und Gebräuche der Barbarischen Asiater/ bey Heyrathen/ Begräbnissen und Krönungen/ welche ich/ nebst der Historischen Warheit/ mit Fleiß aus denen gelehrten Schrifften des nie genug gepriesenen Francisci, Saarens/ Schultzens und Balby Reise-Beschreibungen/ Rogeri Heydenthum/ Rossens Religionen/ und andern curieusen Schriften colligiret/ verhoffentlich nicht sonder Anmuth bemercken wird.7

Während der Titel erkennen lässt, dass sich Zigler an den großen höfischhistorischen Romanen seiner Vorgänger orientiert,8 weist die oben zitierte Liste der als Referenzen herangezogenen Autoren den Roman als polyhistorisches Werk aus. Das Spektrum der genannten Schriften ist allerdings kleiner als es den Anschein hat. Zwar handelt es sich, wie von Zigler korrekt angegeben, um Reisebeschreibungen, die populären historiographischen Schriften des Erasmus Francisci sowie religionskundliche Werke, inhaltlich sind diese jedoch weniger scharf zu trennen als die oben genannten Kategorien vermuten lassen. Tatsächlich können nur die Reiseberichte als relativ geschlossene Textgruppe betrachtet werden, da es sich hier meist um inhaltlich unabhängige Berichte aus verschiedenen Epochen und Gegenden handelt. Allerdings stützten sich auch die Verfasser von Reiseberichten gelegentlich auf die Schilderungen anderer Reisender, um die Wahrhaftigkeit der von ihnen geschilderten Exotismen zu bestätigen. Im Original lagen Zigler folgende Werke vor: Die Reisebeschreibung des venezianischen Juweliers Gasparo Balbi (deutsch 1605), Johann Jacob Saars OstJndianische Funfzehen-Jährige Kriegs-Dienst (1662), Walter Schultze van Harlems Ost-Jndische Reyse (1676) sowie die in der Vorrede nicht genannten, von Francojs Caron und Joost Schouten verfassten Wahrhaftige[n] Beschreibungen zweyer mächtiger Königreiche/ JAPPAN und SIAM (1663). Den Reisebericht des Spaniers Fernaõ Mendez Pinto, »ein europäischer Bestseller der Reiseliteratur im 17. Jahrhundert«9 und eine der zentralen Quellen des Romans, hat Zigler dagegen nur indirekt rezipiert.10 Die Vermittlung der Zigler nicht zugänglichen Quellen erfolgte vor allem durch die Schriften des mit besonderem Lob erwähnten Erasmus Francisci, der unter anderem Pintos Reisebeschreibung ausgewertet hatte. Von den zahlreichen umfangreichen Werken dieses Autors hat Zigler vier herangezogen: Die

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Juweliers Gasparo Balbi zurückzuführen, der von 1579 bis 1588, also im ›Cinquecento‹, in Pegu und den umliegenden Königreichen unterwegs war. Balbis Reisebericht wurde von Zigler sowie von den Kompilatoren Erasmus Francisci und Eberhard Werner Happel ausgewertet und gehört zu den Hauptquellen des Romans. Vgl. auch den Stellenkommentar zu Zigler (wie Anm. 2), S. 565. Ebd., S. 10. Philipp von Zesen: Die afrikanische Sofonisbe (1646); Herzog Anton Ulrich von Braunschweig: Die Durchleuchtige Syrerinn Aramena (1669, 1673; 1678–80); Eberhard Werner Happel: Asiatischer Onogambo (1673). Roloff (wie Anm. 4), S. 804. Eine vollständige Liste der von Zigler konsultierten Quellen findet sich im Anhang. Vgl. außerdem die Ausführungen zu den Quellen und Prätexten im Nachwort zu Zigler (wie Anm. 2), S. 542–554

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lustige Schau-Bühne von allerhand Curiositäten (1663), den Hohen Traur-Saal, oder Steigen und Fallen grosser Herren (1665), den Ost- und West-Indischen wie auch Sinesischen Lust- und Stats-Garten (1668) und den Neu-polirten Geschicht- Kunst- und Sitten-Spiegel ausländischer Völcker (1670). Neben diesen hat Zigler auch auf die ersten Bände von Eberhard Werner Happels Relationes Curiosæ (Bd. I, 1, 1683; Bd. I, 2, 1684; Bd. II, 1685) zurückgegriffen. Anders als Franciscis Schriften, die außer in der Vorrede noch in diversen Fußnoten genannt werden, erwähnt Zigler Happels Relationes Curiosæ nur in einer einzigen Anmerkung.11 Die singuläre Referenz steht in keinem Verhältnis zu der Ausführlichkeit, mit der Zigler aus Happels Kompilationen zitiert. Weitere Schriften, die Zigler nur über die genannten Sammelwerke rezipiert hat, sind Aloysius Cadamustus’ Navigatio ad terras ignotas (1532) und Jan Huygen van Linschotens Navigatio in Orientem (1599). Anders als Pintos Reisebeschreibung, Ziglers Hauptquelle für die Geschichte der Reiche Martabane, Pegu und Prom, werden die lateinischen Reisebeschreibungen jedoch in den Fußnoten nachgewiesen.12 Obwohl Zigler in seiner Vorrede die religionskundlichen Schriften von Abraham Roger und Alexander Ross als gleichrangig präsentiert, war seine Hauptquelle für asiatische Religionen eindeutig Rogers Offne Thür zu dem verborgenen Heydenthum (deutsch 1663). Auch diese im Roman mehrfach zitierte Abhandlung kann als ein polyhistorisches Werk (mit deutlichem Schwerpunkt auf »heidnischen« Riten und Gebräuchen) betrachtet werden, denn Roger bedient sich bei der Darstellung von religiösen Praktiken wiederholt bei den Verfassern von Reiseberichten, namentlich Pinto, den er in der holländischen Übersetzung von 1652 benutzt.13 Auf Alexander Ross’ in Dialogform präsentierte Abhandlung Der ganzen Welt Religionen (deutsch 1668) greift Zigler nur ein einziges Mal zurück. Mit dem Verweis auf die umfänglich konsultierte Literatur präsentiert sich Zigler noch vor Beginn des Romans als Polyhistor und poeta doctus. Untermauert wird diese Selbstinszenierung durch die Fußnoten, die gleichzeitig die Authentizität des Geschilderten und die umfassende Bildung des Autors belegen. Letzteres tritt mitunter sogar in den Vordergrund. Beispiele dafür sind diejenigen Anmerkungen, in denen Zigler auf lateinische Texte wie die oben erwähnten Werke von Aloysius Cadamustus und Jan Huygen van Linschoten verweist. Dieser berichtet im dreizehnten Kapitel des zweiten Teils seiner Reisebeschreibung von einem Kraut mit berauschender Wirkung, das von den indischen Frauen verwendet wird, wenn sie unertappt ihre Ehemänner betrügen wollen: Incredibile dictu est quam lasciue & luxuriosæ sint mulieres, raro inuenias, quæ præter ma-

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Zigler (wie Anm. 2), S. 223. Auf die Fußnoten zu Zigler nur mittelbar bekannten Texten wird im Folgenden noch eingegangen. Diese Ausgabe verwendete neben Roger auch Erasmus Francisci für seine Schau-Bühne und den Traur-Saal. Vgl. Wolfgang Pfeiffer-Belli: Die Asiatische Banise. Studien zur Geschichte des höfisch-historischen Romans in Deutschland. Berlin 1940, S. 31.

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ritū nō alios duos alat adolescentulos cōcubinos: norunt mille artes, quibus noctu diuque clam per famulas & lenas eos admittant, per tecta domorum, per muros, per inuia, licet à maritis omni cura custodiantur: Habent praterea herbam quandam Dutroa vocatam, cuius seminis succum expressum viris propināt in cibo aut potu, quo sumpto vir insano similis, sopitur, nec intelligit quicquam, ridet perpetuo interdumque abdormit prostratus velut exanimis, qui cum hoc modo infatuatus est, uxor libere cum amasio Veneri indulget, viro præsente, & rerum omnium ignaro. Delirium hoc durat horis 24 at enim si pedes eius frigida laueris, redit ad sanam mentem, nihil mali suspicans, credit enim se somno oppressum iacuisse.14

Zigler greift auf »das in gantz Indien bekan[n]te Kraut Dutroa«15 zurück, als es darum geht, seiner gefangenen Heldin die Flucht vor dem sie bedrängenden Tyrannen Chaumigrem zu ermöglichen. Um den Verliebten außer Gefecht zu setzen, wendet Banise eine List an und bringt ihn dazu, das appetitlich zubereitete Betäubungsmittel zu trinken. Dieses wirkt unmittelbar: »Er sanck wieder zurücke/ lachte eine kurtze Zeit/ und gerieth endlich in einen solchen tieffen Schlaff/ daß er mehr todt als lebendig zu seyn schiene«.16 In einer Fußnote präzisiert der Autor, um was für ein Kraut es sich handelt und wie dieses angewendet wird: Dutroa wächst als ein gemeines Kraut in Ost-Indien auff dem Felde/ wann man dasselbe in Geträncke oder Speise einnimt/ so verändert sich der Mensch/ daß er entweder einschläfft/ oder sich närrisch stellt/ da er nichts sehen/ erkennen oder verstehen kan/ es geschehe auch in seiner Gegenwart/ was es wolle. Welches zwölff biß vier und zwantzig Stunden währt/ ehe der Mensch wieder zu sich selbst kömt/ es sey denn/ daß man ihm die Füsse bald mit kalten Wasser wasche. Dessen bedienen sich öffters die unkeuschen Weiber in Ost-Indien/ vermittelst dessen sie Angesichts ihrer Männer die unsichtbare Schmach pfropfen.17

Inhaltlich stimmt diese Passage mit der oben zitierten Beschreibung bei Linschoten überein. Im Roman findet sich allerdings ein weiteres Detail, das in der 14

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Jan Huygen van Linschoten: Iohan Hugonis Lintscotani Navigatio in Orientem, item regna, portus, flumina apparentiae, habitus moresque Indoru & Lusitanorum pariter in Oriente degentium accurate proponuntur. Addita sunt paßim D. Paludani Annotationes. Frankfurt a. M. 1599, S. 84–85 (II. PARS INDIÆ; CAPUT XXXIII. ARGUMENTUM. De moribus Vxorum Lusitanorum, Mesticorumque in India). Übersetzung: Unglaublich ist es zu sagen, wie zügellos und wollüstig die Frauen sind. Selten mag man eine finden, die außer ihrem Ehemann nicht noch zwei andere junge Männer als Beischläfer unterhielte. Sie kennen tausend Kniffe, wie sie ihnen bei Nacht und Tag mit Hilfe von Dienerinnen und Kupplerinnen heimlich Zutritt verschaffen, über die Dächer der Häuser, über die Mauern und selbst über unwegsames Gelände, mögen die Männer sie auch mit ganzer Sorgfalt bewachen. Außerdem haben sie ein gewisses Kraut, Dutroa mit Namen. Aus dessen Samen pressen sie einen Saft und mischen ihn den Männern in Speise und Trank. Hat der Mann ihn zu sich genommen, gleicht er einem Wahnsinnigen, wird unempfindlich, versteht nichts mehr, lacht unentwegt und schläft zuweilen ausgestreckt wie ein Toter. Da er solchermaßen betört ist, gibt sich die Gattin dreist mit ihrem Buhlen der Lust hin, während der Mann zwar anwesend ist, aber nichts von alledem merkt. Der Wahn hält 24 Stunden an. Wäscht man aber seine Füße mit kaltem Wasser, so kommt er wieder zu klarem Bewusstsein. Nichts Böses vermutend, glaubt er nämlich, dass er dem Schlaf erlegen sei. (Übersetzung: Ralf Georg Czapla) Zigler (wie Anm. 2), S. 254. Ebd., S. 254. Ebd.

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oben zitierten lateinischen Quelle nicht enthalten ist. Dort heißt es, dass Banise das Kraut »in Wein abgekocht«18 habe. Die Zubereitungsart und der anschließende inkorrekte Nachweis »Linschott. part. 4 c. 7.« weisen die angeblich aus Linschotens lateinischer Reisebeschreibung übernommene Information als Zitat aus Happels Relationes Curiosæ aus, in denen »Das mißbrauchte Kraut Dutroa« und seine Wirkung ausführlich geschildert und mit der oben zitierten bibliographischen Angabe nachgewiesen werden: Wan[n] man dieselbe in Wasser/ Wein/ oder ander Getränck eintrincket/ oder mit Reiß kochet/ oder in anderer Speise einnimmet/ so verändert sich derselbe Mensch alsobald/ daß er sich stellet/ alß wäre er närrisch/ und nichts thut/ alß Lachen/ ja er kan nichts sehen noch erkennen/ oder verstehen/ es sey auch was es wolle/ und wan[n] man es gleich in seiner Gegenwart treibet. Dieses Kraut machet die Leuthe bißweilen auch schlaffen/ alß ob sie todt wären/ welches dann ziemlich lange/ und manchmahl über 24 Stunden anhält; es sey dan[n]/ daß man demselben Mensche[n] die Füsse mit kalten Wasser wasche/ alßdann kompt er wieder zu ihm [s]elber/ ehe die 24 Stunden verlauffen sind.19

Auch sonst schmückt Zigler sich bei lateinischen Texten gerne mit fremden Federn: Die oben aufgeführte Reisebeschreibung des Aloysius Cadamustus, der von den Vorrechten der Priester gegenüber dem Herrscher von Calicut (Kalkutta) berichtet, hat Zigler ebenfalls nur auszugsweise und in deutscher Übersetzung gelesen, diesmal in Franciscis Lust- und Stats-Garten.20 Selbst die Referenz auf die Annalen des Tacitus, auf die er sich in seinem dem Roman vorangestellten Dedikationsgedicht beruft,21 ist kein originales Quellenzitat, obwohl Zigler des Lateinischen erwiesenermaßen mächtig war.22 Die Fußnote stammt aus der deutschen Übersetzung der Emblem-Sammlung des Diego Saavedra de Fajardo (1674), aus der Zigler wiederholt zitiert. Normalerweise beziehen sich die Fußnoten jedoch korrekt auf von Zigler tatsächlich konsultierte Werke. Allerdings steht die Zahl der Anmerkungen in 18 19

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Ebd. Eberhard Werner [Guerner] Happel: E. G. Happelli größte Denkwürdigkeiten der Welt oder sogenannte Relationes curiosæ [...]. Teil II. Hamburg 1685, S. 793. Dort folgt eine ausführliche Darstellung der ehebrecherischen Aktivitäten sowie auf S. 794 der Verweis auf »Linschoten part. 4 c. 7«. Ob Happel Linschoten übersetzt und nur mit einer inkorrekten bibliographischen Angabe versehen oder nach einer anderen, unbekannten Quelle zitiert hat, ist bislang nicht bekannt. Vgl. auch den Stellenkommentar zu Zigler (wie Anm. 2), S. 620–622. Erasmus Francisci: Ost- und West-Indischer wie auch Sinesischer Lust- und Stats-Garten: Mit einem Vorgespräch Von mancherley lustigen Discursen; In Drey Haupt-Theile unterschieden. Der Erste Theil Begreifft in sich die edelsten Blumen/ Kräuter/ Bäume/ MeelWasser- Wein- Artzney- und Gifft-gebende Wurtzeln/ Früchte/ Gewürtze/ und Specereyen/ in Ost-Indien/ Sina und America: Der Ander Theil Das Temperament der Lufft und Landschafften daselbst [...] Der Dritte Theil Das Stats-Wesen/ Policey-Ordnungen/ Hofstäte/ Paläste [...]. Nürnberg 1668, S. 1478a. Vgl. auch den Stellenkommentar zu Zigler (wie Anm. 2), S. 636–637. Ebd., S. 6. Von Zigler haben sich zwei lateinische Schulreden erhalten (vgl. die Bibliographie von Ziglers Werk in: Martin Pistorius: Heinrich Anshelm von Ziegler und Klipphausen. Sein Leben und seine Werke. Leipzig 1928), bis zum Tod seines Vaters studierte er zudem in Frankfurt an der Oder Jura und Geschichte.

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keinem Verhältnis zur Menge und zum Ausmaß der Zitate. Die meisten aus anderen Texten übernommenen Passagen sind nicht markiert. Von Plagiat im heutigen Sinne kann jedoch keine Rede sein und das nicht nur, weil Zigler in seiner Vorrede zumindest einen Teil seiner Quellen nennt. Seitenlange Zitate aus der zeitgenössischen »Fachliteratur« waren ein fester Bestandteil des höfisch-historischen Romans, der gleichermaßen als Unterhaltungslektüre und Nachschlagewerk diente und deswegen häufig sogar mit einem Register versehen wurde.23 Die Quellen wurden dabei in den seltensten Fällen angegeben. Was Ziglers Werk gegenüber früheren Werken wie dem Asiatischen Onogambo von Eberhard Werner Happel24 auszeichnet, ist jedoch das Geschick, mit dem der Autor seine heterogenen Materialien arrangiert. Diese werden durch die erfundenen Haupt- und Nebenhandlungen zu einem inhaltlich und stilistisch gleichermaßen überzeugenden neuen Text verbunden, in dem die Übergänge nur dort erkennbar sind, wo der Autor selbst darauf hinweist.25 Das intertextuelle Spiel mit den historiographischen und poetischen Prätexten, das in einem bunten Pastiche aus erfundener Handlung, historischen Ereignissen und literarischen Versatzstücken resultiert, trägt wesentlich zum Reiz des Romans bei. Die Karten bei diesem Spiel hält eindeutig der Autor in der Hand. Er legt und verwischt die Fährten, verweist auf die Prätexte oder verschweigt sie. Dabei geht er ausgesprochen planvoll vor. Fußnoten werden ausschließlich für punktuelle Referenzen auf historische oder exotische Details verwendet, die einer zusätzlichen Erläuterung bedürfen, wie z. B. das bereits erwähnte Kraut Dutroa, der in Indien besonders exotische Wundstein aus Peru, mit dem der weise Talemon den verletzten Prinzen behandelt,26 und die Anspielung auf die kannibalischen Batacchi in der ersten Rede des siegreichen Chaumigrems vor dem Rat des von ihm eroberten Pegu. Letztere ist die Parodie einer Thronrede und exponiert den Bösewicht als grausamen Tyrannen, der statt der topischen Herrscher23

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Der von Zigler geschätzte Arminius von Lohenstein enthält ein ausführliches, 79 Seiten umfassendes »Verzeichnüß der fürnehmsten in dem Arminius und der Thusnelda befindlichen Sachen und Personen«. In Happels Asiatischem Onogambo werden z. B. im Rahmen einer lehrreichen Binnenerzählung sämtliche persischen Könige aufgezählt (Eberhard Werner [Guerner] Happel: Der Asiatische Onogambo: Darin Der jetzt-regierende grosse Sinesische Käyser Xunchius. Als ein umbschweiffender Ritter vorgestellet/ nächst dessen und anderer Asiatischer Printzen Liebes-Geschichten und ritterlichen Thaten/ auch alle in Asien gelegene Königreiche und Länder [...] kürtzlich mit eingeführt werden [...]. Hamburg 1673, S. 80–96). Der nicht sonderlich geschickt in den Roman integrierte didaktische Diskurs bildet einen erkennbaren Fremdkörper, der die ohnehin verworrene Handlung unterbricht. Dies ist jedoch nur einmal im zweiten Buch der Asiatischen Banise der Fall. Dort wird die nach dem sechsten Buch von Franciscis Kunst- und Sitten-Spiegel zitierte Beisetzung einer siamischen Prinzessin folgendermaßen eingeleitet: »als wird der günstige Leser ein gedultiges Auge nachgesetzter Leich-Bestattung vergönnen/ und hieraus die Heydnischen Gebräuche der Asiatischen Indianer ersehen«. (Zigler [wie Anm. 2], S. 306). Die zugehörige Fußnote lautet: »Ist ein schwartzer Felß/ mit weissen Steinen untermenget/ in der Landschafft de los Conchucos: Welcher alle Wunden/ wenn er klein zerstossen gebrauchet wird/ an Menschen und Viehe heilet. Besiehe ferner hiervon Francisci Kunst- und Sitten-Spiegel p. 258«. (Zigler [wie Anm. 2], S. 21).

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tugenden Großmut und Gerechtigkeit die diesen entgegengesetzten Laster Grausamkeit und Rachsucht kultiviert. In seinem Machtstreben kennt er keine natürlichen oder moralischen Grenzen: Diese Staats-Regul hat uns der Himmel eingepflantzet/ daß man eine Crone zu erwerben/ oder einen Thron zu erhalten/ seine Zähne in das väterliche Hertze setzen/ und auch der mütterlichen Brust nicht verschonen müsse. Ja/ seine Hände in der Brüder Blut zu waschen/ sey eine ersprießliche Nothwendigkeit. Hier muß man die Barmhertzigkeit bey den Tygern suchen/ und die Gnade bey unsern Nachbarn/ den Batacchi, entlehnen.27

Mit dem Verweis auf das dem Leser unbekannte Nachbarvolk weist sich Chaumigrem als echter »Asiater«28 aus. Die notwendige Erläuterung folgt in einer Fußnote: Im Königreich Dacin sind Völcker/ Batacchi genennet/ welche Menschen-Fleisch fressen/ die ihre alte Eltern schlachten/ und nebst denen erbetenen Nachbarn verzehren. Der König braucht sie an statt der Hencker/ welche den armen Sünder todtschlagen/ Hände und Füsse abhauen/ mit Saltz und Pfeffer bestreuen/ und also auf fressen. Balby, pag. 97.29

Dass das »Mord-Kind«30 Chaumigrem bei seinen Eroberungen bereit ist, über Leichen zu gehen, wird im Roman immer wieder deutlich. Die gewaltigen Verluste, die er bei den Schlachten um Martabane, Prom und Siam hinnehmen muss, sind für den Tyrannen ein Ansporn zu neuen, immer perfideren Grausamkeiten. Diese sind jedoch keine Ausgeburten seiner Phantasie, wie auch Chaumigrem selbst keine Erfindung Ziglers ist. Anders als Banise und Balacin, die in den Quellen nur beiläufig erwähnt und erst im Roman mit Namen und Eigenschaften versehen werden,31 ist der tyrannische Chaumigrem eine historische Gestalt. Wie Wolfgang Pfeiffer-Belli in seiner Rekonstruktion der tatsäch27 28 29 30 31

Zigler (wie Anm. 2), S. 216. Ebd., S. 10. Ebd., S. 216. Ebd., S. 384. Balacin, dessen Name Zigler vermutlich von dem Ort Balatini abgeleitet hat (vgl. hierzu Pfeiffer-Belli (wie Anm. 13), S. 69 sowie den Stellenkommentar zu Zigler (wie Anm. 2), S. 568), ist das literarische Gegenstück des namenlosen »Printzen von Nautir, Sohn des Königs von Ava« (Francisci (wie Anm. 20), S. 1578b; Eberhard Werner [Guerner] Happel: E. G. Happelli größte Denkwürdigkeiten der Welt oder sogenannte Relationes curiosæ [...]. Teil I. Hamburg 1683, S. 163a; vgl. auch den Stellenkommentar zu Zigler (wie Anm. 2), S. 570), der den Quellen zufolge mit der von dem bramanischen Tyrannen ermordeten Prinzessin von Pegu verlobt war. Hierin erschöpft sich die Überlieferung. Banise, die mit dieser gleichfalls namenlosen peguanischen Prinzessin einige grausige Erlebnisse teilt, wird in letzter Minute durch den fiktiven Hauptmann Abaxar vor deren Schicksal bewahrt. Ihr Name ist nur scheinbar exotisch: Tatsächlich handelt es sich um ein Anagramm des Namens Sabine und damit um eine versteckte Huldigung des Autors an seine Ehefrau. Vgl. Wolfgang Pfeiffer-Belli: Nachwort zu: Heinrich Anshelm von Zigler und Kliphausen: Asiatische Banise. Vollständiger Text nach der Ausgabe von 1707 unter Berücksichtigung des Erstdrucks von 1689. München 1965, S. 473. Zu dem Anagramm inspiriert wurde Zigler vermutlich durch Happels Roman Der asiatische Onogambo, dessen Heldin Therragam ihren Namen Happels Verlobter Margaretha verdankt. Zu Happel siehe Theo Schuwirth: Eberhard Werner Happel (1647–1690). Ein Beitrag zur deutschen Literaturgeschichte des siebzehnten Jahrhunderts. Diss. Marburg 1908, S. 25 und 79.

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lichen Ereignisse in und um Pegu nachgewiesen hat, gab es tatsächlich einen Herrscher dieses Namens und auch die im Roman geschilderten Feldzüge gegen verschiedene hinterindische Reiche fanden statt. Das Szepter bzw. den Säbel schwang die meiste Zeit allerdings der König von Brama, ein Milchbruder des historischen Chaumigrem. Dieser übernahm erst nach dem gewaltsamen Tod des Königs die Regentschaft, führte weitere von Zigler in bunter Reihenfolge in die Romanhandlung integrierte Kriege32 und vererbte später das Reich seinem Sohn. Unter dessen Herrschaft ging das von seinen Vorgängern in blutigen Schlachten erweiterte Reich verloren und die bramanische Dynastie zu Ende.33 Zigler hat in der Asiatischen Banise »das historische Geschehen von über 50 Jahren auf eine kurze Zeitspanne zusammengedrängt« und »die beiden (oder eigentlich drei) Bramakönige zu dem einen Ungeheuer Chaumigrem verschmolzen«.34 Das Ergebnis ist ein groteskes Monster, das im Lieben und Hassen kein Maß mehr kennt.35 Letzteres manifestiert sich in den ungeheuerlichen Grausamkeiten, die im Roman auf Veranlassung des Tyrannen verübt werden. Diese finden sich zwar bis auf wenige für den Fortgang der Handlung modifizierte oder erfundene Details in den historiographischen Quellen. Dort verteilen sich die Untaten aber auf zwei Herrscher, den bramanischen König und seinen Milchbruder. Im Roman werden sie dagegen allein Chaumigrem zur Last gelegt, der sich in der bereits erwähnten Thronrede seiner Grausamkeit sogar noch rühmt: Denn euch/ O ihr Götter/ dancken wir billich/ daß ihr unser Hertze von Stahl/ und unsere Seele unempfindlich erschaffen habet. Gewiß/ die Bestraffung des Reiches Martabane/ die 32 33 34

35

Zur Umstellung der historischen Ereignisse vgl. die ungedruckte Dissertation von Eva Maria Schramek: Die Komposition der Asiatischen Banise. Wien 1971, S. 27. Pfeiffer-Belli (wie Anm. 13), S. 33–44. Ebd., S. 57. Schramek hat nachgewiesen, dass der »Gesamtumfang der im Roman erzählten Zeit in der Handlungsgegenwart [...] zirka 178 Tage« beträgt. Schramek (wie Anm. 32), S. 44. Auf den Liebhaber Chaumigrem wird im Rahmen dieses Beitrags nicht weiter eingegangen. Die Episoden um Chaumigrem und Higvanama bzw. Chaumigrem und Banise gehören zu den burlesken und erfundenen Passagen des Romans. In beiden Fällen ist der abgewiesene Verliebte entschlossen, sich zu rächen. Wie eine solche Rache aussehen kann, wird angesichts der Eroberung von Martabane deutlich, nach der Chaumigrem bzw. sein historisches Vorbild, der König von Brama, die königliche Familie sowie den gesamten Hofstaat ermorden lässt: »Unter diesem schändlich-erwürgeten Frauenzimmer sind drey Jungfern gewesen/ die das Mord-Kind vorhin zu heyrathen begehret gehabt; weil er aber damals noch in dem Gräfl. Stande von ihren Eltern abschlägige Antwort bekommen/ hat er seine grausame Liebe mit dem Stricke gerochen«. (Zigler [wie Anm. 2], S. 141); Quelle: Erasmus Francisci: Der Hohe Traur-Saal, oder Steigen und Fallen grosser Herren: Fürstellend, Aus allen vier Welt-Theilen, unterschiedlicher hoher Stands- Staats und GlücksPersonen wunderbare und traurige Verändrungen, so in den nechsten anderthalb hundert Jahren, und zum Theil bey heutigen unsren Läufften, sich gefüget. Deren etliche Aus andren Sprachen übersetzt; doch allhie, mit unsrer Teutschen Mutterzunge, etwas umständlicher, richtiger, lehrreicher und völliger, ausgesprochen und erzehlet: Etliche aber Vermittelst gantz eigner Ausarbeitung allein an das Licht gesetzt, Und mit zwiefachem, wiewol kurtzem, Register versehen/ durch Erasmus Francisci. Nürnberg 1665, S. 19; vgl. auch den Stellenkommentar zu Zigler (wie Anm. 2), S. 593.

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rechtmäßige Ausrottung des Peguanischen Stammes/ und die letztere Rache an der Stadt Prom ist uns die schönste Augen-Lust/ und das Wehklagen der Alten ein erfreulicher Spott gewesen.36

Die von dem Tyrannen hier erwähnten Feldzüge hat Zigler aus seinen polyhistorischen Quellen übernommen und nur gelegentlich überarbeitet. Gegenüber der Vorlage fast unverändert ist die Schilderung der Eroberung von Martabane und der Hinrichtung des gesamten Herrscherhauses, die aus dem ersten Teil von Franciscis Traur-Saal stammt. Die »Ausrottung des Peguanischen Stammes« und die ungeheuer grausame Eroberung von Prom zitiert er dagegen fast wortwörtlich aus dem ersten Teil von Happels Relationes Curiosæ. Allerdings entgeht bei Zigler die Prinzessin von Pegu dem über sie verhängten Todesurteil und auch in der Geschichte des Königshauses von Prom hat Zigler ein Detail in für ihn typischer Weise verändert. In der Quelle heißt es, daß der [...] König von Prom gestorben/ und seinen 13-jährigen Sohn zum Nachfolger im Reich hinterlassen/ darzu demselben seiner Gemahlin Schwester/ des Königs [v]on Ava Tochter/ zur Ehe gegeben hätte.37

Bei Zigler sind die Familienverhältnisse im Herrscherhaus von Prom weniger kompliziert: In selbtem Reiche herrschte eine Königin/ als Vormünderin ihres dreyzehen-jährigen Printzens/ nachdem ihr Herr/ der König/ verstorben/ und der älteste Cron-Printz verlohren war/ daß niemand noch diese Stunde weiß/ wo er hin kommen.38

Hier findet unübersehbar eine moralische Zensur bzw. Korrektur statt. Blutschande gibt es in der Asiatischen Banise ebenso wenig wie Notzucht.39 So ist Balacins erste Amtshandlung nach seiner feierlichen Krönung zum König von Aracan, deren Zeremoniell Zigler aus Schultzes Beschreibung der alle fünf Jahre stattfindenden rituellen Prozession des jungen aracanischen Königs übernimmt, nicht die historisch überlieferte Entlastung der unter hohen Abgaben seufzenden Bürger. Die Steuersenkung kommt erst an zweiter Stelle. Bevoraus hub er die zwey harten Gewohnheiten der regierenden Könige gäntzlich auf: Krafft deren sich ein König nur alle fünff Jahr einmahl von seinen Unterthanen durffte sehen lassen: ingleichen/ daß er seine Schwester ehlichen muste: Ursache/ weil Adams Sohn auch seine Schwester zum Weibe genommen habe.40

36 37 38 39

40

Zigler (wie Anm. 2), S. 216. Happel (wie Anm. 31), 2, S. 155. Vgl. auch den Stellenkommentar zu Zigler (wie Anm. 2), S. 609. Zigler (wie Anm. 2), S. 196. Zwar versucht der Rolim (Oberpriester), die Prinzessin Banise zu vergewaltigen, diese kann sich jedoch erfolgreich wehren. Ansonsten ist die Asiatische Banise trotz der großen Zahl negativer Figuren moralisch einwandfrei. Darin unterscheidet sich Zigler von dem von ihm verehrten Daniel Casper von Lohenstein, dessen Dramen zu den poetischen Prätexten des Romans gehören und in der Asiatischen Banise wiederholt zitiert werden. Auch bei diesen setzt Zigler daher den Rotstift an und unterbricht oder beendet seine intertextuelle Referenz dort, wo der Vorlagetext allzu deutlich wird. Zigler (wie Anm. 2), S. 271.

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Mit der Aufhebung dieses Gesetzes, das Zigler eigens aus der im gleichen Band wie Schultzes Reisebericht enthaltenen Beschreibung des Reichs Aracan von Frantz Janß. von der Heyde41 übernommen hat, wird Balacin als sittlich gefestigter, tugendhafter Herrscher präsentiert. Die Geschwisterehe verbietet sich aber auch aus handlungstechnischen Gründen. Schon aus dem Eingangsmonolog geht hervor, dass Balacin vor allem von dem Gedanken getrieben wird, Banise zu rächen und zu retten. Diese ist zudem, wie das Orakel im Tempel des Apalita und der glückliche Ausgang der Geschichte beweisen, die Balacin von den Göttern zugedachte Braut. Dass der Prinz neben sämtlichen anderen ihm zugedachten Verbindungen – der Verlobung mit der Prinzessin von Savady plant er durch die Abreise aus Pegu zu entgehen und der blind in ihn verliebten Lorangy schiebt er als Ehemann seinen Diener Scandor unter –, auch die Geschwisterehe ablehnt, ist daher nur konsequent. Innerhalb der Handlung logische Begründungen reichen Zigler jedoch nicht aus. Dies zeigt sich am deutlichsten am Beispiel der fiktiven Gestalt des Abaxar/Palekin. Dieser ist noch mehr als das in den Quellen nur beiläufig erwähnte Heldenpaar ein Geschöpf Ziglers; eine Spielfigur, die frei von historischen Zwängen da auftreten und eingreifen kann, wo ein deus ex machina vonnöten ist, um die Tragödie zu verhindern: Dank seinem Eingreifen entgeht Banise dem von Chaumigrem verhängten, in der historischen Quelle vollstreckten Todesurteil, wird Fylane von Siam entgegen der Vorlage nicht verbrannt und Banise in letzter Minute vor dem Opfertod gerettet. Obwohl sein Wesen und seine Taten voll und ganz durch die Handlung motiviert sind, versucht Zigler, auch diese Gestalt historisch zu verankern und damit dem von ihm selbst formulierten Anspruch gerecht zu werden, »mehrentheils warhafftige Begebenheiten« zu schildern.42 Wer er ist und warum er seinen wahren Namen verschweigt, gibt Abaxar, dessen fürstliche Abkunft schon früh vermutet wird,43 erst gegen Ende des Romans preis: Durchlauchtigste Gesellschafft! Sie [...] wissen/ daß ich nicht mehr Abaxar/ ein Bedienter eines unwürdigen Tyrannen/ sondern der unglückselige und verlohren-geschätzte Printz Palekin von Prom bin/ welchen das Unglück gezwungen hat/ unter einen Tyrannen mehr Liebe und Freundschafft/ als einer boßhafften Stieff-Mutter zu suchen [...]. Es ist ihnen ohne mein Erinnern bekandt/ wie mich der Haß meiner Stieff-Mutter/ Nhay Nivolan/ welche ihrem Sohne die Krone von Prom auffzusetzen bedacht war/ dermassen verfolgete/ daß ich 41

42 43

Frantz Janß. von der Heyde: Gefährlicher Schiff-bruch des Ost-Indischen Jagdt-schifs ter Schelling (Anhang zu: Walter Schultze van Harlem: Ost-Jndische Reyse: Worin erzehlt wird Viel gedenckwürdiges/ und ungemeine seltzame Sachen/ bluhtige See- und Feldschlachten/ wieder die Portugisen und Makasser; Belägerungen/ Bestürmungen/ und Eroberungen vieler fürnehmen Städte und Schlösser; Wie auch Eine eigendliche Beschreibung der fürnehmsten Ost-Indischen Landschaften/ Königreiche/ Jnseln und Städte; Jhre Gesetze/ Sitten/ Religion, Kleidung; [...]. Amsterdam 1676, S. 56b. Vgl. auch den Stellenkommentar zu Zigler (wie Anm. 2), S. 628–629. Ebd., S. 10. »Dieser Abaxar nun soll/ der heimlichen Sage nach/ etwas höhers/ als er sich ausgiebt/ und bey den Zerstörungen so vieler Reiche unbekandter Weise gefangen worden seyn/ sich aber klüglich verbergen/ und durch sein Wolverhalten in des Chaumigrems Gnade/ und zu dieser Ehrenstelle gelanget seyn«. (Zigler [wie Anm. 2], S. 26).

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meines Lebens nicht versichert war: Worzu noch dieses kam/ daß diesen Haß eine gewöhnliche Ungnade des Vaters begleitete/ welcher mich nicht wol mehr vor seinen Augen erdulden kunte. Weil ich mich nun täglich einer Gifft-Mischung besorgen muste/ so hielt ich mein Leben vor eine Beute/ welches zu erretten ich mein Vaterland gar verließ. Ich wandte mich hierauff nach Martabane/ allwo ich mich über fünff Jahre als ein Graff auffgehalten/ und in solcher Zeit solche verwunderliche Zufälle erfahren müssen/ welche zu erzehlen/ einige Tage Zeit darzu erfordert würden.44

Zu dieser Erzählung kommt es nicht, denn für die Romanhandlung ist Abaxars bzw. Palekins Aufenthalt in Martabane nur insofern interessant, als dadurch klar wird, wie dieser in Chaumigrems Dienste gelangte. Von größerer Bedeutung ist dagegen die Geschichte um die mörderische Königin, die ihrem Sohn den Thron sichern will. Hier greift Zigler auf einen bis dahin ausgesparten Teil der von Francisci im zweiten Teil seines Traur-Saals erzählten Geschichte des Reichs Siam zurück. Dort wird berichtet, dass die Königin gemeinsam mit ihrem Liebhaber den König vergiftet habe. Zum neuen König wurde dessen neunjähriger Sohn gekrönt. Die Regentschaft übernahmen seine Mutter und ihr Liebhaber, aus deren illegitimer Verbindung ein weiterer Sohn hervorging. Diß alles gab/ in ihren Gedancken/ Fug und Recht genug/ alle mütterliche Betrachtungen aus dem Hertzen zu schlagen/ und diesen Sohn aus dem Mittel zu heben/ welcher dem jungen Bastard/ der ihr lieber war/ doch nur gefährlich/ und vermuthlich sein Tod seyn würde: denn sie gedachte/ gleichwie die eheliche und Ehe-verletzende Liebe einander zuwidern; also könnte auch das/ was aus beyden erboren/ nicht anders/ als einander feindlich hassen: Wäre derowegen rathsam/ dieser stürbe; damit jener lebete. Solchem nach machte sie es/ mit dem Sohn/ wie mit dessen Vatter/ und nahm ihm/ durch heimliches Gifft/ das Leben.45

Abaxar/Palekin kommt davon, weil er für die Handlung des Romans noch gebraucht wird. Interessanter als dieses historisch unmotivierte Detail ist jedoch, wie Zigler hier die Geschichten von Siam und Prom verschmilzt, um die Verwerflichkeit von unmäßiger Liebe und unberechtigtem Machtstreben zu demonstrieren. Trotz der parallelen Situation – eine Königin regiert für ihren unmündigen Sohn – handelt es sich bei Abaxars Erzählung um die einzige Passage des Romans, in der ihm dies nicht restlos gelingt. So wird Nhay Nivolan, die Königin von Prom, in der ausführlichen Binnenerzählung des Talemon den Quellen entsprechend als tugendhafte Herrscherin und treue Sachwalterin ihres unmündigen Sohnes geschildert. Diese Darstellung wird dadurch begünstigt, dass der Autor Zigler seine zweite Quelle in gewohnter Manier zensiert: Ehebruch und Gattenmord sind in der Asiatischen Banise tabu. Damit erscheint der gewaltsame Tod der Königin trotz der unmittelbar auf den ersten Bericht folgenden ambivalenten Deutung durch Abaxar46 als Beweis für die unmenschliche Grau-

44 45 46

Ebd., S. 397. Francisci (wie Anm. 35), S. 217–218. Vgl. auch den Stellenkommentar zu Zigler (wie Anm. 2), S. 664. Abaxar kommentiert Talemons Bericht folgendermaßen: »Mein Herr Talemon! Ich/ nebst diesen werthen Frembdlingen/ erkennen uns verpflichtet/ vor die sonderbare Mühwaltung/ die er in trauriger Erzehlung dieser blutigen Begebenheiten angewendet/ indessen erkenne ich die sonder- und wunderbaren Gerichte der strengen Gottheit sattsam/ in Untergang des Königreichs Prom«. (Zigler [wie Anm. 2], S. 203).

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samkeit des Chaumigrem. Dass dieser hier nur »eine feurige Ruthe der Götter«47 ist und als solche die Restitution der prästabilisierten Ordnung vorantreibt, wird erst im Rückblick erkennbar. Deutlich gelungener ist die Vermischung der verschiedenen Quellen in der Geschichte der gleichfalls fiktiven Prinzessin Fylane von Siam, der Verlobten Abaxars bzw. Palekins. Diese wird schon relativ früh im ersten Buch als die intendierte Braut von Banises Bruder Prinz Xemin von Pegu eingeführt, der im Krieg gegen das von Chaumigrem regierte Brama fällt. Als Person tritt sie aber erst gegen Ende des zweiten Buchs in Erscheinung. Dort wird in aller Ausführlichkeit die Bestattung der jüngsten Prinzessin von Siam geschildert. Dem kostspieligen Zeremoniell, das Zigler fast unverändert aus dem sechsten Teil von Franciscis Kunst- und Sitten-Spiegel übernommen hat, folgt eine Episode, die bei Francisci nur kurz abgehandelt und von Zigler eigenständig ausgestaltet wird. Das historische Geschehen sei hier kurz skizziert: Da die Leiche der verstorbenen Prinzessin von Siam nicht vollständig verbrannt ist, hegt der König von Siam den unbestimmten Verdacht, dass seine Tochter ermordet worden sei. Daher lässt er alle diejenigen, die persönlichen Kontakt mit der Verstorbenen hatten, einer Feuerprobe unterziehen, um so die Schuldigen auszumachen. Nachdem diese Probe nicht den gewünschten Erfolg bringt, fällt der Verdacht auf die namenlose ältere Prinzessin von Siam, eine Tochter des vorigen Königs, die mittels der Feuerprobe überführt wird, die Tat gesteht und auf dem Scheiterhaufen verbrannt wird. Im Roman liest sich diese Geschichte deutlich anders. Eine erste Änderung nimmt Zigler schon bei den Familienverhältnissen vor. Fylane, die ältere Prinzessin von Siam, ist nicht die Tochter des verstorbenen Herrschers, sondern stammt ebenso wie Higvanamas Verlobter Prinz Nherandi aus der ersten Ehe des amtierenden Königs Higvero. Dieser zieht seinen Kindern jedoch seine zweite Frau und ihre gemeinsame Tochter vor – eben die Prinzessin, deren Leichenfeier auch im Roman mit großem Aufwand begangen wird und deren Todesursache er mit einer Feuerprobe zu ergründen sucht. Sein Fehlverhalten beschränkt sich jedoch nicht auf die »emotionale Maßlosigkeit«, mit der er auf »einen bloßen, durch nichts erhärteten Verdacht« reagiert.48 Anders als in der Quelle nimmt der König von Siam den Tod der Prinzessin zum Anlass für ein grausames Strafgericht gegenüber dem Adel. Während bei Francisci zwar »Dreyhundert Hofdamen und fürnehme Edelleute«49 durch das Feuer gehen müssen, dabei aber unverletzt bleiben und wegen erwiesener Unschuld freige47 48 49

Ebd., S. 219. Stefan Metzler: Feder und Schwert. Heinrich Anshelm von Ziegler und Kliphausens Asiatische Banise als Problem adliger Schreibtätigkeit. Wien 1999, S. 154 [masch.]. Erasmus Francisci: Neu-polirter Geschicht- Kunst- und Sitten-Spiegel ausländischer Völcker: fürnemlich Der Sineser, Japaner, Indostaner. Javaner, Malabaren, Peguaner, Siammer, Peruaner, Mexicaner, Brasilianer, Abyssiner, Guineer, Congianer, Asiatischer Tartern, Perser, Armenier, Türcken, Russen, und theils anderer Nationen mehr: welcher, in sechs Büchern, sechserley Gestalten weiset [...]. Nürnberg 1670, S. 1498b. Vgl. auch den Stellenkommentar zu Zigler (wie Anm. 2), S. 643–644.

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sprochen werden, müssen diese bei Zigler nicht nur deutlich mehr leiden, sondern sie bekommen auch noch Gesellschaft: Der König ließ unterschiedene Mandarynen und Herren/ unter dem Vorwand wichtiger Berathschlagung nach Hofe ruffen: als sie aber erschienen/ alle ins Gefängniß werffen/ wodurch viel unschuldige und meistens grosse Personen/ sowohl Männer als Frauen/ in die Hafft geriethen. In dem Schloß-Zwinger wurden hierauf etliche seichte Löcher zwantzig Fuß weit ins gevierdte gemacht/ und voll Holtz-Kohlen gelegt/ welche durch hierzu bestellete Soldaten angefeuert wurden. Die Beklagten führte man mit gebundenen Armen herbey/ welche man nicht eher loß machte/ biß sie in den verschlossenen Creyß der Soldaten eingetreten waren. Nach diesem setzte man ihre Schenckel in ein Gefäß heiß Wasser/ damit die Härte der Fußsohlen weich gemacht würde/ welches etliche Sclaven mit Messern abschaben musten. Wie nun dieses geschehen/ wurden sie von einigen Pfaffen zu einer freywilligen Bekäntniß angemahnet/ weil sie aber solches beständig läugneten/ wurden sie beschworen/ und den Soldaten übergeben. Diese zwungen nun die armen Menschen mit blossen/ und zuvor biß auffs Blut geschabten Füssen über die in voller Glut liegenden Kohlen zu lauffen: Nach welchem heissen Lauffe man iedwedem die Füsse besahe/ welche nun verletzt waren/ die wurden vor schuldig gehalten/ und wiederum gebunden. Es war aber kein einiger/ welcher unverletzt geblieben war/ ob gleich deren ein Theil mit verwunderlicher Geschwindigkeit durch das Feuer flohen. Etliche fielen gar darein/ kunten sie nun heraus kriechen/ so waren sie zwar vom Feuer/ nicht aber vom Tode errettet/ blieben sie aber liegen/ so mochten sie jämmerlich verderben: indem keinem/ bey hoher Straffe einige Handreichung zu thun/ erlaubet war: daß auff solche Weise unterschiedene lebendig braten und verbrennen musten.50

Die Berufung des Adels an den Hof hat Zigler aus Balbis Reisebericht bzw. dem ersten Teil von Franciscis Kunst- und Sitten-Spiegel übernommen, der auf Balbis Reisebeschreibung basiert. Dort bittet der König von Pegu angeblich zu Beratungen wegen des Kriegs gegen Ava den Adel zu sich, lässt die Frauen und Kinder seiner Würdenträger nachholen und alle gemeinsam lebendig verbrennen.51 Was in Pegu ein Strafgericht wegen Landesverrats ist, wird bei Zigler als Teil der Geschichte von Siam jedoch zu einem der im Roman häufigen Negativbeispiele für rücksichtsloses Machtstreben:52 Man hielte davor/ diese Tyranney des Königes wäre nicht so wohl auff die Gifft-Mischer/ als auff den Adel angesehen/ weil dem Pöbel ein grosser Gefallen geschahe/ und sich dadurch der König freyere Hand machte.53

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53

Zigler (wie Anm. 2), S. 309–310. Siebender Theil der Orientalischen Indien: darinnen zwo unterschiedliche Schiffarten begrieffen. Erstlich Eine Dreyjährige Reyse Georgij von Spielbergen Admirals [...] auß Seeland nach den Orientalischen [...]. Zum andern ein Neunjärige Reyse eines Venetianischen Jubilirers/ Casparus Balby genannt [...]. Frankfurt a. M. 1605, S. 78 und 83 (vgl. auch das zugehörige Kupfer Nr. XVII in Zigler [wie Anm. 2], S. 695); Francisci (wie Anm. 49), S. 157b. Welche der beiden Zigler zugänglichen Quellen die konkrete Vorlage war, lässt sich nicht nachweisen. Vgl. den Stellenkommentar zu Zigler (wie Anm. 2), S. 642–643. Weitere negative Exempel sind Balacins machthungriger Vater Dacosem, der bewusst den Krieg zwischen Ava und Pegu auslöst, sowie Chaumigrem, von dem es heißt, dass »gantz Pegu [...] dem weiten Rachen seines Land-Hungers kaum ein Frühstücke« war. (Zigler [wie Anm. 2], S. 274). Ebd., S. 311.

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Die nachfolgenden, von Zigler aus der Reisebeschreibung von Francojs Caron und Joost Schouten bzw. deren Wiedergabe im zweiten Teil von Franciscis Kunst- und Sittenspiegel entnommenen und in die Geschichte des Reichs Siam eingefügten Berichte über die Hinrichtungen der unglücklichen Adligen sind weitere negative Zeugnisse des absolut gesetzten Machtstrebens und der daraus resultierenden Gewaltbereitschaft des Königs: Unferne hiervon [dem Ort der Feuerprobe] stunden etliche Elephanten/ welche in Siam iederzeit des Henckers Stelle vertreten müssen. Welche nun/ und zwar alle/ vor schuldig erkennet wurden/ die band man an einen Pfahl/ und legte sie vor die Elephanten. Wenn nun der Elephant an einen dieser bedeutenden Missethäter angeführet ward/ gieng er etliche mal mit grausamen Brüllen umb ihn herum/ endlich fassete er ihn mit dem Rüssel/ warff ihn mit Gewalt in die Höhe/ und fieng ihn mit den scharffen Zähnen durch den Leib wieder auff/ von welchen er den Cörper schüttelte/ und mit den ungeheuren Tappen dermassen zertrat/ daß ihm das Eingeweide heraus sprang. Die zerschmetterten Cörper wurden nach einer grossen Gruben geschleiffet/ und da hinein geworffen. Weil sich nun die Zahl der so jämmerlich hingerichteten Personen mercklich vermehrete/ als wurde der Boden überal von dem häuffigen Menschen-Blute dermassen gefärbet und glatt gemachet/ daß auch die Henckermäßigen Elephanten keinen gewissen Tritt mehr thun kunten.54

Mit der grausamen Exekution der unschuldigen Adligen ist das blutige Nachspiel der Bestattungszeremonie jedoch noch nicht zu Ende. Analog zur Quelle gerät auch bei Zigler die ältere Prinzessin von Siam in Verdacht. Während ihr historisches Vorbild zugibt, diese, wenn auch irrtümlich, vergiftet zu haben, – das beabsichtige Opfer war der neue König von Siam55 – ist Fylane jedoch unschuldig. Dass sie als Mörderin hingerichtet werden soll, verdankt sie dem in sie verliebten Reichsrat Sabartibam, der so seine Abweisung rächen will, sowie ihrer sprichwörtlich bösen Stiefmutter, die den von Sabartibam geäußerten Verdacht bestätigt. Ihr in letzter Minute durch Abaxar abgewendetes Todesurteil ist das Ergebnis der fatalen Verbindung von Liebe und Rachsucht und ein weiteres Beispiel für Machtmissbrauch. Auch für den siamischen König Higvero kommt die gerechte Strafe jedoch in Gestalt des von »denen erzürneten Göttern [...] als eine züchtigende Ruthe«56 gebrauchten Chaumigrem. Während er den Tod seiner Tochter nutzt, um seine innenpolitischen Gegner auszuschalten, wird sein Reich von Chaumigrem erobert, der nach wochenlanger Belagerung die Hauptstadt in einem an Grausamkeit nicht zu übertreffendem Sturm einnimmt, übrigens der »einzige[n] Schilderung großer kriegerischer Auseinandersetzungen im Roman, die nicht wörtlich oder mit Abweichungen das vorhandene Quellenmaterial benützt«.57 Der fiktive Kampf des Bösen mit dem Bösen bereitet – ebenso wie bei der historisch verbürgten Eroberung von Prom – den Weg zum finalen Sieg des Guten.

54 55 56 57

Ebd., S. 310–311. Francisci (wie Anm. 49) S. 1499b. Vgl. auch den Stellenkommentar zu Zigler (wie Anm. 2), S. 645–646. Zigler (wie Anm. 2), S. 145. Schramek (wie Anm. 32), S. 28.

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Gut und Böse sind – anders als in Happels Asiatischem Onogambo, der zu den poetischen Prätexten des Romans gehört – in der Asiatischen Banise grundsätzlich unabhängig von der Religionszugehörigkeit der Protagonisten. Sie bleibt letztlich unklar. Entscheidend sind in der Banise nicht Glaubensinhalte, sondern eine demütige Haltung gegenüber dem Schicksal und ein unbedingtes Vertrauen in die häufig mit dem Attribut »gütig« versehenen Götter. Diese zeichnet vor allem die Prinzessinnen Banise und Fylane aus. Wer die immer wieder angerufenen Götter sind, ist nicht von Belang. Zwar werden einige von ihnen wie der Gott der Reisenden Apalita und die Kriegsgötter Qviay Novandel und Carcovita beim Namen genannt, diese sind jedoch nur zufällige, in den zitierten Quellen aufgeführte Beispiele. Ansonsten spielen religiöse Bräuche für die ethische Bewertung der Handlung keine Rolle. In den Roman integriert werden sie primär wegen des exotischen Kolorits. So heiratet Balacins Diener Scandor, nachdem er sich Lorangy als Bräutigam hat unterschieben lassen, nach indischem Ritus. Im Kontext der burlesken List-gegen-List-Komödie, die Zigler hier inszeniert, wirken die von zwei angetrunkenen Priestern durchgeführten Rituale, die Zigler aus Rogers Heydenthum übernimmt, in erster Linie komisch. Auch die nach einem strengen Zeremoniell ablaufenden Bestattungen der Herrscher Xemindo und Higvero sowie das Begräbnis des von Banise erstochenen lüsternen Rolim haben für das Romangeschehen als religiöse Handlungen keine Bedeutung. Dementsprechend verzichtet Zigler auf eine christliche Überformung der »heidnischen« Geschichte, obwohl sie sich im zweiten Buch geradezu anbietet. Dort wird der von Chaumigrem gestürzte peguanische Kaiser Xemindo auf eine Weise verspottet und zum Richtplatz geführt, die stark an die Passion Christi erinnert: Mitten unter diesen [Soldaten] erblickte man den betrübten Xemindo/ welcher auff einer magern/ nichts werthen/ verschmachteten Schindmehre saß/ und den Scharffrichter/ auff dessen Achseln sich seine Hände steuren musten/ hinter sich hatte. Dieser armselige Printz hatte ein so zerrissenes und zerlumpetes Bettel-Kleid an/ daß ihm allenthalben die Haut dadurch schien. Uberdas trug er zu grösserer Verspottung eine stroherne Crone/ welche auswendig mit Muschel-Schalen/ so auff einen blauen Faden gezogen/ wie auch das eiserne Halsband/ statt der Perlen/ besetzet war. Ob man ihn nun gleich in so schmählicher Gestalt darstellete/ und sein Gesichte fast keinem lebendigen Menschen mehr ähnlich sahe/ so leuchtete doch aus seinen Augen/ wen[n] er dieselben empor hub/ ein Majestätischer Blick herfür/ der von seiner Beschaffenheit und hohem Stande ein sattsames Zeugniß gab/ wie sehr ihm auch das Unglück und die Tyranney seines Feindes verstellet hatte: Und in seinen Blicken ließ sich eine besondere mit Majestät vermengte Sanfftmuth spühren/ welche alle diejenigen/ so ihn ansahen/ zum Weinen bewegte.58

»Die betrübte Außführung des Xemindo« findet sich im zweiten Teil von Happels Relationes Curiosæ, aus dem Zigler die Ereignisse im eroberten Pegu über mehrere Seiten hinweg zitiert. Ausgespart wird lediglich eine in der Quelle geschilderte Begebenheit auf dem Weg zum Richtplatz. Dort wird ausführlich ein Gespräch zwischen Xemindo und einem portugiesischen Soldaten beschrie58

Zigler (wie Anm. 2), S. 191–192.

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ben, der während der Regierungszeit Xemindos mit einer Klage gescheitert war und den gestürzten Kaiser nun verspottet, bis der Hauptmann der Portugiesen das Gespräch beendet. Der dankbare Xemindo erkennt daraufhin die christliche Religion als überlegen an. In der Asiatischen Banise fehlt diese Szene, aber nicht deren Pointe, das Bekenntnis des Xemindo zum Christentum. Dies ist umso auffälliger, weil Zigler »die Heydnischen Gebräuche der Asiatischen Indianer«59 sonst nicht kommentiert und die christliche Religion in der Banise keine Rolle spielt. Während Eberhard Werner Happels Onogambo unter seinem tatsächlichen Namen Xunchius zum ersten christlichen Kaiser von China avanciert, wird der Fast-Konvertit Xemindo den Quellen getreu nach peguanischem Ritus beigesetzt und der tugendhaften Prinz Balacin nach dem Sieg über Chaumigrem vom Oberpriester des Reichs in althergebrachter Weise gekrönt: Der neue Rolim brachte den Printzen Balacin/ nebst der Princessin Banisen auff eine hohe Schau-Bühne von Steinen auffgerichtet/ auff welche man über eine Brücke/ mit Aschenfarbnen Tuche bedecket/ gehen muste. Hierauff ruffte einer von denen Reichs-Räthen überlaut: Jetzo erfodere es die Noth/ und des Reichs bestes/ wiederum ein neues Haupt zu erwehlen. Dabey zeigte er dem Volcke eine grosse Keule mit drey gläntzenden Spitzen/ und hub solche empor/ das Volck aber hielt sich hierbey gantz stille. Darauff offenbarte er/ wer zu erwählen sey? und stellete ihnen zugleich den Printzen vor/ welcher auff einen Stein treten muste. Da denn erwehnter Reichs-Rath noch ferner dessen Rechtmäßigkeit zur Krone erklärte/ seine Tugenden nach Verdienst erhub/ und zugleich begehrte: Wer etwas dawider einzuwenden hätte/ der solle sich gestellen. Das Volck aber schrie hingegen: GOTT hat ihn gesegnet/ und zu unserm Käyser erkohren. Worauff sich eine ungemeine Stille bey einer Viertel Stunde lang ereignete/ um zu erwarten/ ob iemand etwas zu klagen habe. Nach dieser Stille fiengen alle Läger an mit Trompeten/ Paucken und Schalmeyen zu spielen. Worauff der Rolim dem Balacin eine bleyerne Krone auffsetzte/ ein Beil in die Hand gab/ und zugleich einen weissen Mantel/ welcher reichlich mit Gold und Perlen gestickt war/ umlegte.60

Die feierliche Krönungszeremonie, die zu diesem Zeitpunkt noch lange nicht beendet ist, hat Zigler bis auf ein kleines, aber typisches Detail aus Franciscis Lustiger Schau-Bühne übernommen. Dort tritt der namenlose Thronanwärter – nicht Prinz Balacin – »gantz nacket«61 vor das Volk und verharrt so eine Vier59 60 61

Ebd., S. 306. Ebd., S. 400. Erasmus Francisci: Die lustige Schau-Bühne von allerhand Curiositäten: darauf Viel nachdenckliche Sachen, sonderbare Erfindungen, merckwürdige Geschichte, Sinn- und Lehr-reiche Discursen, auch zuweilen anmuthige Schertz-Reden und Erzählungen, fürgestellet werden; Bey Freundlicher Sprachhaltung aufgerichtet und erbauet von Etlichen vertrauten guten Freunden; Samt beigefügtem Register [...]. Nürnberg 1663, S. 393. Vgl. auch den Stellenkommentar zu Zigler (wie Anm. 2), S. 613. Eine entsprechende Korrektur vorzunehmen hat Zigler bei der aus Happels Relationes Curiosæ übernommenen Darstellung der Eroberung von Prom offenbar übersehen, denn dort lässt er ebenso wie in der Quelle die Königin »nackend ausziehen/ durch die gantze Stadt führen/ biß aufs Blut geisseln/ und endlich durch allerhand Marter erbärmlich hinrichten«. (Zigler [wie Anm. 2], S. 202). Ansonsten ist dieses Prinzip aber so konsequent durchgehalten, dass selbst die unübersehbar an der entsprechenden Illustration in Rogers Heydenthum orientierte Darstellung der Opferszene im Tempel des Carcovita davon beeinflusst ist: Während in der Vorlage das Opfer nackt ist, ist Banise züchtig gekleidet (vgl. Abraham Roger: Offne Thür zu dem verborge-

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telstunde lang, während der die Anwesenden Gelegenheit haben, gegen den Erwählten Einwände zu erheben. Erst danach wird er mit einem weißen Hemd bekleidet. Balacin scheint dagegen zumindest ein solches zu tragen, denn ihm wird gleich der oben beschriebene weiße Mantel umgelegt. Nachdem dies geschehen ist, folgt die Thronrede des Oberpriesters. Diese wird in der Quelle recht lapidar abgehandelt: [Er] saget ihm dann/ wie er regieren müsse/ nach dem Exempel seiner Vorfahren; und daß die bleyerne Crone bedeute/ in allen Dingen Masse und Gewicht zutreffen; das Beil/ die Gerechtigkeit zu handhaben; und daß die Liebe seiner Unterthanen/ seine fürnehmste Macht sey.62

Bei Zigler ist die Rede ungleich länger. In der Erstausgabe nimmt sie über vier Oktavseiten ein. Anders als bei den übrigen im Roman enthaltenen Ansprachen – die Kriegsreden Balacins und Chaumigrems sowie die rhetorisch mustergültige »Trauer- und Abschieds-Rede der sterbenden Banise« – bedient sich Zigler hier großzügig aus einer weiteren gedruckten Vorlage: der 1674 erschienenen deutschen Übersetzung der Emblem-Sammlung Abris eines christlichpolitischen Printzens von Diego de Saavedra Fajardo, einer 101 Embleme mit Motti und Erläuterungen umfassenden handlichen Staatslehre. Um die von der Quelle versprochenen Hinweise nachzuliefern, wie der neue König zu regieren habe, greift Zigler vor allem auf das Inhaltsverzeichnis des aus zwei Bänden bestehenden Buches zurück und zitiert die sentenziösen Zusammenfassungen der Erläuterungen zu den verschiedenen Emblemen. Von den 101 Sinnsprüchen sind 46 in der Asiatischen Banise enthalten, dazu kommen noch weitere Ausführungen, die Zigler dem eigentlichen Text der Emblem-Sammlung entnahm. Die Rede ist damit ein gelungenes Cento, das wiederum in einen aus einem historiographischen Sammelwerk in den Roman übernommenen Text eingebettet ist. Hier wird einmal mehr sichtbar, wie Zigler die historiographischen Quellen für seine Auseinandersetzung mit der absolutistischen Staatslehre nutzt. Sein Verfahren ist »für die literarische Arbeitsweise der Zeit exemplarisch: das Material ist ihm nicht mehr als geschichtlich bezeugtes Argumentationsmaterial und literarisches Dekor, dessen Funktionalisierung in seinem Konzept gewisse Effekte beim Leser bewirken soll«.63 Mit der angeblich aus einer historischen Quelle übernommenen Ansprache des peguanischen Oberpriesters schlägt der Autor am Ende der historisch und geographisch entlegenen Romanhandlung

62 63

nen Heydenthum: oder warhaftige Vorweisung deß Lebens und Sittens, samt der Religion und Gottesdienst der Bramines auf der Cust Chormandel, und denen herumliegenden Ländern; Mit kurtzen Anmerkungen, Aus dem Niederländischen übersetzt. Samt Christoph Arnolds Auserlesenen Zugaben, Von dem Asiatischen, Africanischen, und Americanischen Religions-Sachen, so in XL. Capitel verfasst [...]. Nürnberg 1663, Kupfer zu S. 804, abgedruckt in Zigler (wie Anm. 2), S. 702 und sowie das darauf basierende Kupfer zu »pag. 764«, abgedruckt in Zigler (wie Anm. 2), S. 691). Francisci 1663 (wie Anm. 61), S. 393. Vgl. auch den Stellenkommentar zu Zigler (wie Anm. 2), S. 664–665. Roloff (wie Anm. 4), S. 804.

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den Bogen zur politischen Gegenwart des Kurfürstentums Sachsen. Als Bindeglied fungiert Saavedras Sammlung Abris eines christlich-politischen Printzens, die er bereits im Widmungsgedicht zitiert hatte, dort allerdings mit entsprechenden Nachweisen in den Fußnoten. Schon dort ist die Anspielung auf Saavedra »mehr als nur eine gelehrte Arabeske. Die Kombination von Fürstenlob und aufgelisteten absolutistischen Idealen intendiert, daß das Buch möglicherweise nicht ohne Einfluß auf das reale Verhalten des Fürsten bleiben sollte«.64 Dementsprechend ist das Bild, das Zigler in der Vorrede von seinem Gönner, dem späteren sächsischen Kurfürsten Johann Georg IV., entwirft, Schmeichelei und Programm in einem. Während im Widmungsgedicht die Aufforderung zu kluger, gerechter und milder Regentschaft durch die demütige Haltung des Sprechers aufgefangen wird, kann und soll der Roman als Fürstenspiegel verstanden werden, in dem Tugenden eines Herrschers vorgeführt und mit den ihnen entgegengesetzten Lastern kontrastiert werden. Am Ende dieser durch eine Vielzahl von Quellen autorisierten Beispielkette steht nicht zufällig eine Rede, die den Thronanwärter explizit zu gerechter und kluger Herrschaftsausübung auffordert. Die für den Fortgang der Handlung bedeutungslose Ansprache an Balacin ist ein unmissverständlicher Appell an den »regierenden Fürsten in spe«, seinerseits als ein christlich-politischer Prinz zu herrschen. Ob die Asiatische Banise von ihrem Widmungsträger und den zahlreichen begeisterten Lesern tatsächlich als »Exempelroman zum Themenkreis des absolutistischen Staatsprinzips europäischer Provenienz«65 verstanden wurde, ist allerdings fraglich. In dem bunten Strauß an Rezeptionszeugnissen finden sich vor allem Reaktionen auf die erfundene »Helden- und Liebes-Geschichte«, die aus aufgeklärter Perspektive stilistisch antiquiert und inhaltlich zunehmend lächerlich erscheint.66 Die Schilderungen der historischen Ereignisse sowie der exotischen Sitten und Gebräuche wurden aber noch im frühen 19. Jahrhundert als informativ und lehrreich gewürdigt.67

64 65 66

67

Ebd., S. 802. Ebd., S. 805. Vgl. hierzu die im Internetportal zur Asiatischen Banise hinterlegten literaturtheoretischen Schriften Gottscheds und anderer Autoren (URL: http://portal.uni-freiburg.de/ndl/forschung/banise/banisetheoretisch) sowie die brieflichen Zeugnisse verschiedener Schriftsteller des 18. Jahrhunderts (URL: http://portal.uni-freiburg.de/ndl/forschung/banise/banisebiographisch). Vgl. die »Vorerinnerung« zu: Die asiatische Banise. Skizze nach Heinrich Anshelm von Ziegler und Kliphausen, und Johann George Hamann. In: Bibliothek des Romantischen und Romanhaften aller Zeiten und Völker. Hg. v. einem Verein von Literatur-Freunden. Berlin 1829, S. 4.

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Anhang: Liste der von Zigler benutzten Quellen Reisebeschreibungen Siebender Theil der Orientalischen Indien: darinnen zwo unterschiedliche Schiffarten begrieffen. Erstlich Eine Dreyjährige Reyse Georgij von Spielbergen Admirals [...] welche An. 1601. auß Seeland nach den Orientalischen Indien abgefahren/ und [...] An. 1604. wider in Seelandt ankom[m]en/ darinnen seine gantze Reyse/ und was im für Abentheuer auff derselben begegnet/ wie dann auch die mächtige Königreich Matecalo unnd Candy, sampt ihren prächtigen Königen/ Sitten und Ceremonien/ verzeichnet und beschrieben. Zum andern ein Neunjärige Reyse eines Venetianischen Jubilirers/ Casparus Balby genannt/ sampt allem/ was ime auff derselben von 1579. biß in 1588. begegnet und widerfahren/ neben Anweisung aller Zöllen/ Gewichten/ Massen und Müntzen deren man sich von Alleppo auß biß ins Königreich Pegu zu gebrauchen [...]/ Auß Niederländischer und Italianischer Spraach beschrieben Durch M. Gotthardt Arthus und andere der Historien Liebhaber. Alles mit zierlichen Kupfferstücken gezieret und an Tag gegeben/ durch Johann Theodor und Johann Israel de Bry Gebrüder. Frankfurt a. M. 1605. Aloysius Cadamustus (Archangelo Madrignano interprete): Navigatio ad terras ignotas. In: Simon Grynaeus: Novus orbis regionum ac insularum veteribus incognitarum] Novvs Orbis Regionvm Ac Insvlarvm Veteribvs Incognitarvm, unà cum tabula cosmographica, & aliquot alijs consimilis argumenti libellis, quorum omnium catalogus sequenti patebit pagina. Basel 1532. Fr. Caron/ Jod. Schouten: Wahrhaftige Beschreibungen zweyer mächtiger Königreiche/ JAPPAN und SIAM. Benebenst noch vielen andern zu beeden Königreichen gehörigen/ Sachen; welche im Vorbericht zu finden. Alles aus dem Niederländischen übersetzt/ und mit Kupferblättern geziert. Denen noch beygefügt Johann Jacob Merckleins OstIndianische Reise/ welche er im Jahr 1644. löblich angenommen/ und im Jahr 1653. glücklich vollendet. Samt einem völligen Register. Nürnberg 1663. Jan Huygen van Linschoten: Iohan Hugonis Lintscotani Navigatio in Orientem, item regna, portus, flumina apparentiae, habitus moresque Indoru & Lusitanorum pariter in Oriente degentium accurate proponuntur. Addita sunt paßim D. Paludani Annotationes. Frankfurt a. M. 1599. Fernão Mendes Pinto: Wunderliche und merckwürdige Reisen Ferdinandi Mendez Pinto: welche er innerhalb ein und zwanzig Jahren durch Europa, Asia, und Africa, und deren Königreiche und Länder; als Abbyssina, China, Japon, Tartarey, Siam, Calaminham. Pegu, Martabane, Bengale, Brama, Ormus, Batas, Queda, Aru, Pan, Ainan, Calempluy, Cauchenchina und andere Oerter verrichtet; darinnen er beschreibet wie ihme zu Wasser und Land zugestossene grosse Noht und Gefahr; wie er nemblich sey dreyzehnmal gefangen genommen und siebenzehnmal verkaufft worden; auch vielfältigen Schiffbruch erlitten habe: dabey zugleich befindlich eine gar genaue Entwerffung der Wunder und Raritäten erwehnter Länder; der Gesetze, Sitten, und Gewonheiten derselben Völcker; und der grosse Macht und Heeres-Krafft der Einwohner. Nun erst ins Hochteutsche übersetzet und mit unterschiedlichen Kupferstükken gezieret. Amsterdam 1671. Johann Jacob Saar: Ost-Jndianische Funfzehen-Jährige Kriegs-Dienst, Und Wahrhaftige Beschreibung, was sich Zeit solcher funfzehen Jahr, von Anno Christo 1644. biß Anno Christi 1659. zur See und zu Land [...] begeben habe, am allermeinsten auf der [...] Insul Ceilon [...]. Nürnberg, Gedruckt bey Wolf Eberhard Felßecker, und zu finden, bey Johann Tauber, Buchhändlern [...]. 1662. Walter Schultze van Harlem: Ost-Jndische Reyse: Worin erzehlt wird Viel gedenckwürdiges/ und ungemeine seltzame Sachen/ bluhtige See- und Feld-schlachten/ wieder die Por-

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tugisen und Makasser; Belägerungen/ Bestürmungen/ und Eroberungen vieler fürnehmen Städte und Schlösser; Wie auch Eine eigendliche Beschreibung der fürnehmsten OstIndischen Landschaften/ Königreiche/ Jnseln und Städte; Jhre Gesetze/ Sitten/ Religion, Kleidung; Jtem: der Tiere/ Früchte und Gewächse/ &c.; zugleich Eine ausführliche Erzehlung/ was sich in der gefährlichen Zurückreise nach Holland/ zwischen den Ost-Indischen Retour-Schiffen/ und den Engelländern/ im Jahr 1665. in der Stadt Bergen in Norwegen/ wie auch in der Nord-See/ merckenswürdiges zugetragen hat/ Alles beschrieben durch Mster Walter Schultzen, von Harlem Nebenst noch Dem gefährlichen Schiffbruch des Jagtschifs/ ter Schelling genant; Von Frantz Janß. von der Heyde/ aufgezeichnet. Mit vielen kunstreichen Figuren geziert. Und aus dem Niederländischen ins Hochteutsche übergesetzet durch J. D. [...]. Amsterdam 1676. Historiographische Sammelwerke: Erasmus Francisci: Die lustige Schau-Bühne von allerhand Curiositäten: darauf Viel nachdenckliche Sachen, sonderbare Erfindungen, merckwürdige Geschichte, Sinn- und- Lehrreiche Discursen, auch zuweilen anmuthige Schertz-Reden und Erzählungen, fürgestellet werden; Bey Freundlicher Sprachhaltung aufgerichtet und erbauet von Etlichen vertrauten guten Freunden; Samt beigefügtem Register/ Beschrieben durch Erasmus Francisci. Nürnberg 1663. Erasmus Francisci: Der Hohe Traur-Saal, oder Steigen und Fallen grosser Herren: Fürstellend, Aus allen vier Welt-Theilen, unterschiedlicher hoher Stands- Staats und GlücksPersonen wunderbare und traurige Verändrungen, so in den nechsten anderthalb hundert Jahren, und zum Theil bey heutigen unsren Läufften, sich gefüget. Deren etliche Aus andren Sprachen übersetzt; doch allhie, mit unsrer Teutschen Mutterzunge, etwas umständlicher, richtiger, lehrreicher und völliger, ausgesprochen und erzehlet: Etliche aber Vermittelst gantz eigner Ausarbeitung allein an das Licht gesetzt, Und mit zwiefachem, wiewol kurtzem, Register versehen/ durch Erasmus Francisci. Nürnberg 1665. Erasmus Francisci: Ost- und West-Indischer wie auch Sinesischer Lust- und Stats-Garten: Mit einem Vorgespräch Von mancherley lustigen Discursen; In Drey Haupt-Theile unterschieden. Der Erste Theil Begreifft in sich die edelsten Blumen/ Kräuter/ Bäume/ MeelWasser- Wein- Artzney- und Gifft-gebende Wurtzeln/ Früchte/ Gewürtze/ und Specereyen/ in Ost-Indien/ Sina und America: Der Ander Theil Das Temperament der Lufft und Landschafften daselbst [...]. Der Dritte Theil Das Stats-Wesen/ Policey-Ordnungen/ Hofstäte/ Paläste [...]. Nürnberg 1668. Erasmus Francisci: Neu-polirter Geschicht- Kunst- und Sitten-Spiegel ausländischer Völcker: fürnemlich Der Sineser, Japaner, Indostaner. Javaner, Malabaren, Peguaner, Siammer, Peruaner, Mexicaner, Brasilianer, Abyssiner, Guineer, Congianer, Asiatischer Tartern, Perser, Armenier, Türcken, Russen, und theils anderer Nationen mehr: welcher, in sechs Büchern, sechserley Gestalten weiset [...]/ Dem Schau-begierigem Leser dargestellt von Erasmo Francisci. Nürnberg 1670. Eberhard Werner [Guerner] Happel: E. G. Happelli größte Denkwürdigkeiten der Welt oder sogenannte Relationes curiosae: worinnen dargestellet und nach dem Probier-Stein der Vernunft examiniret werden die vornehmsten physicalische, mathematische, historische und andere merckwürdige Seltsahmkeiten. Hamburg 1683f. Religionskundliche Schriften: Abraham Roger: Offne Thür zu dem verborgenen Heydenthum: oder warhaftige Vorweisung deß Lebens und Sittens, samt der Religion und Gottesdienst der Bramines auf der Cust Chormandel, und denen herumliegenden Ländern; Mit kurtzen Anmerkungen, Aus

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dem Niederländischen übersetzt. Samt Christoph Arnolds Auserlesenen Zugaben, Von dem Asiatischen, Africanischen, und Americanischen Religions-Sachen, so in XL. Capitel verfasst [...]. Nürnberg1663. Alexander Ross: Der ganzen Welt Religionen: Oder Beschreibung aller Gottes- und Götzendienste, wie auch Ketzereyen, in Asia, Africa, America und Europa, von Anfang der Welt, biß auff diese gegenwertige Zeit/ In Englischer Sprache beschrieben von [...] Alexandro Rossaeo. Und in die Hochdeutsche Sprache übergesetzt von Alberto Reimaro, Lubec. Durchgehents mit schönen Kupfferstücken verzieret. Amsterdam 1668. Embleme: Diego de Saavedra Fajardo: Abris eines christlich-politischen Printzens in CI Sinnbildern u. mercklichen symbolischen Sprüchen gestelt von A. Didaco Saavedra Faxardo, zuvor auss d. Span. ins Lat., nun ins Deutsch versetzt. Coloniae 1674.

Register

Adami, Johann Samuel 59f., 62, 65 Aelianus 5, 8, 25 Albertinus, Aegidius 39 Albinus, Michael 130 Albrecht, Christian, Herzog von Schleswig-Holstein-Gottorf 194 Alexander der Große 178 Alsted, Johann Heinrich 23, 199, 208 Andreae, Johann Valentin 171, 212, 215 Angerianus, Hieronymus 85 Aristoteles 23, 31, 38, 53, 71, 102, 116 156, 171, 199, 202, 204 Arndt, Johann 80 Athenaios 25, 27, 32 Bacon, Francis 16f., 52, 193ff., 197, 200, 203ff., 208, 210f., 213, 215, 219 Balbi, Gasparo 255, 266 Barbaro, Daniel 200 Barclay, John 231f. Barth, Caspar von 30f. Bauhin, Caspar 78f. Bayle, Pierre 184f. Beauvais, Vinzenz von 21 Bebel, Heinrich 111, 116f. Beccadelli, Antonio 113 Belleforest, François de 11, 92, 95, 99 Bernegger, Matthias 31 Bertuch, Johann Friedrich 46f. Besson, Jacques 153 Beyerlinck, Laurentius 57, 61 Birken, Sigismund von 234 Blum, Hans 150 Boaistuau, Pierre 11, 91, 93ff., 104 Boccaccio, Giovanni 74 Bosse, Abraham 150 Böckler, Georg Andreas 14f., 149ff. Brahe, Tycho 197f. Brandenburg-Ansbach, Johann Friedrich von 149 Braunschweig-Wolfenbüttel, Anton Ulrich von 234, 252, 255 Breitenau, Christoph Gensch von 217

Bullinger, Heinrich 94 Cadamustus, Aloysius 256, 258 Camerarius, Philipp 31ff., 37, 75, 93, 95 Camus, Pierre 92 Calov, Abraham 180 Cardanus, Hieronymus 93, 95, 100, 141 Caron, Francojs 255, 267 Cellarius, Christoph 180 Chamber, Ephraim 156 Cicero, Marcus Tullius 71, 192, 201, 233 Clusius, Carolus 75 Clüver, Dethlev 41 Collibus, Hippolytus a 40 Cordus, Valerius 75 D’Allessandro, Allessandro 33 De Fajardo, Diego Saavedra 258, 270 Della Porta, Giambattista 103 Descartes, René 182, 202, 210, 213f. Dinoth, Richard 29 Dioskurides, Pendanios 76f., 89 Dodoens, Rembert 75, 78 Draudius, Georg 39ff. Ens, Gaspar 40 Erasmus von Rotterdam 56, 63f., 113, 119 Ernst I., der Fromme 168, 171, 175 Ernst, Jacob Daniel 48, 57ff., 64, 221f., 225 Feind, Barthold 24 Ferrari, Giovanni Battista 75 Fincel, Job 99, 148 Fleming, Paul 31 Francisci, Erasmus 3, 5f., 10, 12f., 17, 19, 23f., 45, 48f., 61, 67, 85ff., 89, 115, 137, 208, 221f., 225, 247f., 250, 255f., 258f., 260ff., 269f. Francke, August Hermann 180 Frick, Elias 183 Fuchs, Leonhard 75 Furttenbach, Joseph 155, 165 Galenus, Claudius 75

276 Gebhart, Johann Werner 39f. Gesner, Conrad 75, 78f., 97, 148 Gerlach, Samuel 12f., 106ff. Goethe, Johann Wolfgang von 47, 54 Goldast, Michael 32 Goulart, Simon 32, 99f. Gracián, Balthasar 227 Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel von 60, 117 Grotius, Hugo 108, 141 Gruter, Janus 29, 31 Hagen, Christoph 128ff. Happel, Eberhard Werner 3, 5ff., 11ff. 17ff., 24, 34, 48, 51, 62f., 65, 134, 137, 139f., 146, 223, 230ff., 255f., 258f., 260, 262, 268f. Harsdörffer, Georg Philipp 2, 23ff., 27, 34f., 52, 61, 63, 65, 69, 92, 99, 114f., 119, 126, 137, 148, 188, 208, 212, 225, 232, 234, 250 Heidegger, Gotthard 47, 50, 53, 55, 58, 232 Hertel, Hans Georg 153 Hevelius, Johannes 130, 146f., 208 Hildebrand, Jacobus 126 Hildebrand, Wolfgang 102 Hondius, Petrus 77 Hondorff, Andreas 60, 65, 112, 115 Horaz 51, 89, 233 Horst, Tileman van der 153 Huber, Rudolph 46, 63 Huet, Daniel 235f. Jungius, Joachim 68 Keckermann, Bartholomäus 31 Kindermann, Balthasar 56 Kircher, Athanasius 137, 140, 206, 208 Kirchhof, Wilhelm 27, 49, 240 Knorr von Rosenroth, Christian 103 Kopernikus, Nikolaus 198 Kornmann, Heinrich 25 Lauremberg, Peter 4f., 12f., 17, 25, 51, 61, 65, 68, 75, 78f., 111, 225 Lauterbeck, Georg 27 Lehmann, Christoph 27, 50, 56, 56, 111f., 117 Leibniz, Gottfried Wilhelm 21, 154, 180ff., 217 Lessing, Gotthold Ephraim 30 Letzner, Johann 237 Leupold, Jacob 153 Linschoten, Jan Huygen van 256ff. Lipsius, Justus 29, 82 Lobelius, Matthias 75

Register Lohenstein, Daniel Casper von 245, 252, 259, 262 Luther, Martin 81, 91, 106ff., 168, 177, 180f., 183f., 187 Lycosthenes, Konrad 11, 91ff., 99, 113 Machiavelli, Niccolò 33, 168, 178 Macrobius, Ambrosius Theodosius 25, 32f. Maimbourg, Louis 181ff. Major, Johann Daniel 16f., 191ff. Mattioli, Pietro Andrea 75, 77 Megiser, Hieronymus 153 Meiger, Samuel 115f. Melanchthon, Philipp 59 Mencke, Otto 184 Menochio, Giovanni Stefano 41 Mexía, Petrus 44f., 99, 102ff. Milichius, Ludwig 144 Mochinger, Johannes 130 Moller, Johannes 203 Montaigne, Michel de 47, 64 Montesquieu, Charles de Secondat, Baron de 52 Morhof, Daniel Georg 22f., 148, 187, 192, 194, 203, 215ff., 239 Moritz, Karl Philipp 54 Morus, Thomas 196 Munting, Hendrick 75, 79 Münster, Sebastian 179 Murr, Christoph Gottlieb von 217f. Navarra, Margarete von 74 Obsequens, Julius 93, 95 Olearius, Adam 205 Opitz, Martin 68, 126, 130, 231 Ovid (Publius Ovidius Naso) 54, 76 Panciroli, Guido 33 Paracelsus (Theophrastus Bombastus von Hohenheim) 75 Paré, Ambroise 91, 95 Pascal, Blaise 180 Pasch, Georg 217 Pauli, Johannes 49 Paullini, Christian Franz 24, 47, 49, 61, 66, 221 Peucer, Caspar 95 Peutinger, Conrad 97 Pfeiffer, August 180, 183 Pfeffel, Gottlieb Conrad 55 Pinto, Fernão Mendes 255f. Platon 30, 71, 201, 211, 215 Plinius (Gaius Plinius Secundus Maior) 32, 102 Plutarch 27, 102, 112f.

Register Poliziano, Angelo 28, 32 Polley, Jacob 153 Pontanus, Jacob 39, 112f., 117, 119 Praetorius, Johannes 13f., 132ff., 225 Ptolemäus, Claudius 198 Pufendorf, Samuel von 180 Rebmann, Johann Rudolf 98, 100ff., 104 Reisch, Gregor 21 Reyher, Andreas 170 Reyher, Samuel 203, 207, 214 Richter, Christoph 237 Richter, Daniel 232 Rist, Johann 10, 17, 23, 67ff., 115, 222, 235, 250 Ritterhusius, Konrad 32f., 37 Roger, Abraham 255f., 268f. Rohr, Julius Bernhard von 51 Rollenhagen, Georg 60 Ross, Alexander 256 Rosset, François de 92 Rothmaler, Erasmus 130 Rotth, Christian 235 Rueff, Jacob 95, 100 Saar, Johann Jacob 255 Sala, Angelo 68 Salmuth, Heinrich 33 Schiller, Friedrich 61 Schott, Caspar 92, 199, 208 Schouten, Willem Cornelisz 255, 267 Schwenter, Daniel 150f., 208 Scriver, Christian 45, 64 Scudéry, George und Madeleine de 230f. Schickard, Wilhelm 141 Scheuchzer, Johann Jakob 218f. Schottelius, Justus Georg 125f. Schrader, Friedrich 204 Schultze, Walter 255, 262f. Schütz, Sinold von 17, 223

277 Schwarz, Sybille 107, 110, 126ff. Schwindel, Georg Jakob 195 Schwimmer, Johann Michael 221, 223 Seckendorff, Veit Ludwig von 15f., 168ff. Shakespeare, William 254 Solinus, Gaius Julius 23, 32 Spener, Philipp Jakob 180 Strada, Jacobus 154 Stuckius, Johannes 27 Sturm, Johann Christoph 204 Tschirnhaus, Ehrenfried Walther von 218 Tentzel, Wilhelm Ernst 17, 183, 222 Thomasius, Christian 42, 69, 72, 140, 176, 216, 222ff. Thomasius, Jakob 140, 193f. Turnebus, Adrianus 31 Tympius, Matthaeus 39 Uhse, Erdmann 56 Ursinus, Leonhardus 75 Villanova, Arnaldus de 83 Virgilius, Polydorus 95 Vitruv 153, 164, 192, 200f. Walch, Johann Georg 226ff. Weber, Johann Adam 28, 51ff., 64 Weidner, Johann Leonhard 113 Weise, Christian 38, 56 Wenz, Dominicus 55 Wernicke, Christian 195 Wick, Johann Jakob 93 Wiedemann, Michael 17, 223ff. Wilhelm, Johann 155 Wover, Johannes 28f., 193f., 197, 199, 201, 204 Zedler, Johann Heinrich 19, 21, 32, 192, 224, Zeiller, Martin 8, 11, 24, 33ff., 41, 61, 65f., 92, 134, 137, 148, 222, 225 Zeising, Heinrich 153f., 159f.