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German Pages [268] Year 2013
Theorien ästhetischer Praxis
Hans Zitko (Hg.)
Theorien ästhetischer Praxis Wissensformen in Kunst und Design
2014 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Gedruckt mit Unterstützung der Hochschule für Gestaltung Offenbach
Schriften der Hochschule für Gestaltung Offenbach
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Inhalt 7 Einleitung 19
Hans Ulrich Reck Theorie durch Theoriemangel – Episteme und Verfahren in Kunst und Design, auch zu verstehen als eine Erörterung ästhetischen Urteilens
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Manfred Faßler Sicht ohne Beweise
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Michael Erlhoff Design als genialischer Purzelbaum – Gedanken zum elastischen Zwischenraum von Theorie und Praktik –
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Martin Gessmann Welchen Einfluss hat die ästhetische Reflexion auf die künstlerische Gestaltung? Die Rückkehr des Analogen. Eine philosophische Betrachtung zur ästhetischen Gegenwart
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Hans Zitko Reflexion und ästhetische Wahrnehmung Zum schwierigen Verhältnis von Theorie und Praxis in der Kunst
115 Burghart Schmidt Fragen nach der Wissenschaftlichkeit des Forschens in den Künsten und im Gestalten überhaupt 129 Adam Jankowski Reflexion versus Inspiration. Über den Doppelcharakter der künstlerischen Arbeit 157 Manfred Clemenz Franz Marc und Paul Klee 1912–1916 Krieg und Kunst als Heilsgeschichte: Ein Beitrag zur ästhetischen Theorie der Avantgarde 185 Marc Ries Design und DeSign Inhalt
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197 Christian Janecke Shaped canvas und shaped performance Zur Tragweite der Form in der Kunst und über sie hinaus 225 Wolfgang Ullrich Kritik der warenästhetischen Erziehung 239 Kai Vöckler Ort der Gestaltung 253 Autorenverzeichnis
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Einleitung Über die Funktion und das Gewicht eines theoretisch-reflexiven Wissens in Prozessen der Produktion von Kunst- oder Designobjekten wird bis heute unterschiedlich geurteilt. Strittig ist bereits die Beantwortung der Frage, ob die Tätigkeit des Künstlers und Gestalters überhaupt der Unterstützung durch ein entsprechendes Wissen bedürfe oder nicht vielmehr frei und unbeeinflusst von solchen Kompetenzen betrieben werden müsse. Bekannt sind die vielfach anzutreffenden Vorstellungen, Theorie – oder was als solche zu gelten habe – sei entweder verzichtbar, weil sie der ästhetischen Arbeit nichts Entscheidendes hinzuzufügen habe, oder gar der kreativen Arbeit abträglich, weil sie das Subjekt vom rechten Weg des ästhetisch Gebotenen wegführe. Wer Werke schaffen möchte, so heißt es verschiedentlich, solle von rationalen Begriffen oder Verfahren Abstand nehmen und allein den Kräften der Intuition bzw. einer durch Denken unbefleckten inneren Natur Raum geben. Diese, wie auch die gemäßigten Spielarten einer Reflexionsabstinenz, bedürfen mehr denn je einer kritischen Betrachtung. Der Blick auf die entsprechenden Zusammenhänge lässt den Verdacht aufkeimen, dass es sich hier um zumindest verzerrte Bilder von der Logik ästhetischer Produktion handele. Dass zahlreiche Künstler ihre Arbeit expressis verbis jenseits theoretischer Diskurse platzieren, liefert nicht unbedingt einen Beweis in dieser Sache. Bereits die propagierte Vorstellung von einer theoriefrei zu betreibenden ästhetischen Praxis ist genau besehen von implizit theoretischer Natur, auch wenn deren Verfechtern die stützenden Argumente vielleicht nicht zur Verfügung stehen mögen. Wer die Theorie aus der Kunst mit Gründen ausschließen möchte, kann dies kaum ohne Anleihen bei den Instrumenten der geschmähten Gegner, denn die These vom Primat begriffsfremder Eingebung ist selbst nur ein Produkt des theoretischen Denkens, wenn auch ein problematisches. Die Entwicklung der Kunst in der frühen Neuzeit zeigt knapp skizziert folgendes Bild: Im Zeitalter der Renaissance beginnt ein Prozess der Aufwertung der Tätigkeit der Maler und Bildhauer, die in den Gesellschaften des Mittelalters als bloße Handwerker betrachtet und damit den unteren sozialen Ständen zugeordnet wurden. Die erkämpfte Herauslösung dieser Professionen aus den artes mechanicae und deren Annäherung an die artes liberales ist mit einer folgenreichen Veränderung im Selbstverständnis und in der sozialen Rolle des Künstlers verknüpft. Kunst produzierende Individuen erheben fortan den Anspruch einer Teilhabe am Stand der Gebildeten und Gelehrten, indem sie theoretisches Wissens verstärkt in ihre Arbeitsverfahren und Werke einbringen, was nicht heißen muss, dass zuvor Wissensbestände dieser Art keine Bedeutung bei der Produktion von Bildern und Skulpturen gehabt hätten; in jedem Fall wird nun die ästhetische Praxis planmäßig intellektualisiert und in sozialer Hinsicht aufgewertet. Die im 15. Jahrhundert von Künstlern entwickelte Zentralperspektive, die ein elaboriertes geometrisches Wissen erforderte, kann hier ebenso als Beispiel gelten, wie die in dieser Zeit in den Diskurs über Kunst aufgenommene Kategorie der maniera, die die persönliche Handschrift des Künstlers bezeichnet und entsprechende Debatten über die inEinleitung
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nere Logik von Werken und deren Beziehungen, Verwandtschaften und Unterschiede förderte. Kognitive Kompetenz im Sinne des Verfügens über Reflexionskraft und Wissen wird zu einem gesellschaftlich anerkannten und auch erwarteten Bestandteil ästhetischer Praxis. Die ungemein produktive Entwicklung der Kunst seit der frühen Neuzeit wäre ohne diese Öffnung und Erweiterung des künstlerischen Denkens nicht möglich gewesen. Will man hier im systemtheoretischen Sinne von der Ausdifferenzierung eines Systems der Kunst sprechen, so muss dieser Prozess zugleich als fortschreitende Interpenetration von rationalem Denken, Theoriebildung und sinnlich-ästhetischem Handeln beschrieben werden. Umso mehr erstaunt es, dass in späterer Zeit, namentlich seit dem 19. Jahrhundert, diese für die Kunst so produktive Allianz von Sinnlichkeit und Intellektualität vielfach mit Gleichgültigkeit oder Ablehnung betrachtet wurde. Ungeachtet dieser Skepsis sind theoretische Motive und Wissensbestände in der Kunstwelt allenthalben anzutreffen. Vor allem das 20. Jahrhundert zeigt ein immer wieder bemerktes Anwachsen kognitiver Bemühungen im Umgang mit ästhetischen Artefakten, die selbst dabei zuweilen in die Rolle illustrierender Exempel des theoretisch Gedachten herabsinken; fast schon im Sinne einer ausgleichenden Gerechtigkeit werden nun die Produktionsverfahren und Objekte durch die zuvor geächteten Theorien aufgefressen. Begriffe und Wissensbestände, die in die künstlerische Arbeit oder deren Interpretation einfließen, sind unterschiedlicher Art und Herkunft. Zunächst sind die von Theoretikern oder auch Künstlern in Form von Texten publizierten Vorstellungen und Theorien von Bedeutung, die durch Lektüre angeeignet oder auch durch Lehre, Vortrag oder Gespräch weitergegeben werden. Gedankengut aus diesen oder ähnlichen Quellen kann über sekundäre und tertiäre Vermittlungsprozesse Individuen erreichen, die selbst über keinerlei eigene Kenntnis dieser Quellen verfügen, aber dennoch ihr Denken und Handeln an diesem Gedankengut ausrichten. Motive der kantischen Ästhetik etwa sind nicht selten bei Personen anzutreffen, die keine philosophischen Bücher lesen und den Namen Kant womöglich noch nie gehört haben. Man hat es hier mit Produkten eines auch in anderen Kontexten möglichen Vorgangs der gesellschaftlichen Verbreitung und Diffusion von Wissensbeständen zu tun. Dass in diesem Räume und Zeiten überbrückenden Informationstransfer manches vereinfacht, popularisiert oder gar entstellt bei den Nachfahren der Ideenproduzenten ankommt, liegt fast schon in der Natur dieses Geschehens. Dies ändert nichts am möglichen Gewicht des Angeeigneten für die Wahrnehmung und Erfahrung des Einzelnen; auch die Karikaturen bahnbrechender Gedanken sind im Einzelfall wirkungsmächtig, ganz zu schweigen von den Irrtümern, die im Verlauf der Geschichte produziert werden. Dass Theorien und Begriffe als konstitutive Elemente der Kunst der Neuzeit gelten können, muss nicht heißen, dass Künstler oder Gestalter stets explizit auf diese Faktoren zurückgreifen, denn Wissen geht auch in Gestalt unbewusst mitgeführter Präsuppositionen in Produktions- und Rezeptionsprozesse ein; so können Ideen oder Theorien Spuren in Artefakten hinterlassen, ohne dass deren Hersteller ein Bewusstsein von der Theorieabhängigkeit derselben haben müssten. Dass der Einfluss von Wissen vielfach unbemerkt bleibt, hat offenbar der falschen Vorstellung Nahrung gegeben, dass 8 I Einleitung
Theorien in der Kunst überhaupt überflüssig und deshalb zu vernachlässigen seien. Bemerkenswerterweise hat die philosophische Ästhetik dieser Position Argumente geliefert, indem sie den Künstler als Akteur charakterisierte, der über die besondere Fähigkeit verfüge, seine Werke unabhängig von expliziten Regeln, gestützt auf eine Naturanlage, hervorzubringen. Macht die Theorie hier zu Recht auf die essentielle Bedeutung intuitiver Anteile im Verfertigen von Kunstwerken aufmerksam, so befördert sie dabei zugleich die Verdrängung der nicht weniger wichtigen kognitiven Momente. Unter dem Deckmantel dieser Verdrängung können dann die auf unterschiedlichem Wege angeeigneten Motive der Theorie umso leichter in den ästhetischen Prozess einfließen. Was heute in Werken der Kunst als Ausdruck begriffs- und reflexionsferner Eingebung angesehen wird, ist oftmals das Resultat blind mitgeführter Begriffe, die sich der Einbildungskraft des Subjekts bemächtigt haben. Wo sich die Kunst in dieser Weise von der Theorie abhängig macht, läuft sie Gefahr, reproduktiv zu agieren und damit qualitativ zu scheitern. Produktiv zu arbeiten heißt demgegenüber, Einsichten in die Eigenart und Struktur virulenter Begriffe zu entwickeln, um diesen nicht unbemerkt zum Opfer zu fallen. Theorieabstinenz, wie sie der Kunst von verschiedener Seite verordnet wird, fördert die Macht problematischer Abstraktionen. Oft ist in den ästhetischen Debatten über die Marginalisierung der Sinnlichkeit durch die Kräfte einer begrifflichen Rationalität gesprochen worden; über die Verleugnung des theoretischen Elements der Kunst wurde dagegen vielfach hinweggegangen. Ungeachtet dieser Situation haben Künstler und Gestalter die elementare Bedeutung des Mediums der Theorie für die Welt der Kunst immer wieder auch klar gesehen und in entsprechender Weise gehandelt. Zu erinnern ist hier nicht zuletzt auch an jene in Texten nicht niedergelegten Diskurse, die in Ateliers und Werkstätten bei der Ausbildung des Nachwuchses oder unter Kollegen geführt werden. Diese Diskurse sind in den historischen Darstellungen der Kunsttheorie fast schon zwangsläufig vernachlässigt worden, weil es hier in der Regel an zitierfähigem Quellenmaterial mangelt. Wenn diesen Diskursen vermutlich jener Grad an terminologischer Schärfe mangelt, der von Theorien gemeinhin erwartet wird, so wäre es dennoch unangemessen, dieselben zu vernachlässigen, denn in ihnen kommt ein artikuliertes Wissen zur Geltung, das für die Produktion und Beurteilung von Werken von Bedeutung ist. Die Theorie in die ästhetische Produktion einzubringen, heißt nicht notwendig, der Kunst formalisierbare Handlungsanweisungen zu verordnen und damit einer zu Recht antiquierten Regelästhetik auf die Beine zu helfen. Es ist ein verbreiteter Irrtum zu glauben, dass Theorien in der Kunst stets mit dem impliziten Anspruch versehen seien, den gesamten ästhetischen Prozess ins Medium rationaler Begriffe zu übersetzen und damit die Kunst in eine Filiale der Wissenschaft zu verwandeln. Eine Theorie, die mit diesem Anspruch auftreten würde, wäre mit Recht zurückzuweisen. Immer wieder hat die philosophische Ästhetik darauf aufmerksam gemacht, dass die Kunst das Subjekt mit Erfahrungen konfrontiert, die sich nicht mit den Mitteln begrifflicher Rationalität auflösen lassen. Doch diese Form der Erfahrung – hier hat unter anderem Th. W. Adorno klärende Worte gesprochen – öffnet sich nicht jenseits jeder Einleitung
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kognitiven Anstrengung, sondern nur im Kontext einer umfassenden Bewegung der Reflexion und des Denkens. So ist der hier ins Spiel tretende Typus des Diskurses nicht der Feind des den Begriffen entgleitenden Unbestimmbaren, sondern ein Instrument, das dem Subjekt den Zugang zu diesem Anderen der Vernunft allererst eröffnet. Das Verhältnis zwischen der im Werk sich zeigenden Heterogenität und den im Spiel befindlichen kognitiven Leistungen ist komplex; es verbietet sich hier, mit groben eindimensionalen Modellen zu arbeiten, die eine angeblich vor- oder außerbegriffliche Intuition gegen die Instanz des theoretischen Denkens ausspielen. Die hier entscheidenden Reflexionsakte bilden kein einfaches Exempel wissenschaftlicher Rationalität; ihr Ziel ist nicht, jede Inkommensurabilität und Unbestimmtheit im ästhetischen Prozess zu beseitigen; im Gegenteil: nur in Verbindung mit diesem spezifischen Modus der Erkenntnis kann sich die für die Kunst unverzichtbare Intuition in ein produktives Vermögen verwandeln; Reflexion stellt sich in den Dienst eines rational nicht beherrschbaren Anderen. Die Beschreibung der hier relevanten Zusammenhänge ist Aufgabe einer Theorie ästhetischer Produktion. Weil im Gegenstand dieser Theorie das Medium des Begriffs, ohne das Theorie nicht möglich wäre, stets selbst zur Disposition gestellt wird, ist nicht mit letzten, universell geltenden Einsichten zu rechnen; ebenso wie die Kunst ist auch die Theorie ihrer Herstellung ein offenes Verfahren, das heißt, sie muss von Künstlern, Kommentatoren und Theoretikern als eine unabschließbare, stets neu anzugehende Aufgabe begriffen werden. In den seit dem 19. Jahrhundert geführten Diskussionen um die so genannten angewandten Künste haben sich von den traditionellen Künsten unterschiedene Vorstellungen von der Logik der ästhetischen Produktion entwickelt. Nicht der ungebundene individuelle Ausdruck und ein von externen Zwecken unabhängiges Werk, sondern die profane Funktion der Artefakte sowie deren Herstellbarkeit durch technisch-industrielle Fertigungspraktiken rücken hier ins Zentrum der Überlegungen. Die etablierten Künste haben diese Entwicklung mit Skepsis verfolgt und die hervortretenden Disziplinen nicht selten als zweitrangige Spielarten ästhetischer Praxis behandelt. Man braucht hier nicht detailliert auf die innovative, auf Vermittlung angelegte Kunstpolitik des Bauhauses eingehen, um die Mängel in diesem Bild eines hierarchischen Verhältnisses zwischen funktions- und nicht funktionsbezogenen Formen der Gestaltung deutlich zu machen. Design oder Produktgestaltung in die zweite Reihe des kulturell Bedeutsamen zu befördern, wäre inadäquat, denn entsprechende Artefakte haben eine Präsenz und ein symbolisches Gewicht in der Lebenswelt des Subjekts, angesichts derer die Produkte der freien Künste fast schon als gesellschaftlich marginal erscheinen könnten. Doch die Relevanz des Designs ist nicht lediglich in der Tatsache seiner teils massenhaften Verbreitung begründet; sie hat vielmehr mit seiner Funktion bei der Konstruktion von Lebensräumen und den damit verbundenen Praktiken der Identitätsfindung und Selbstdarstellung der Individuen zu tun. Für das Design gelten eigene, metierspezifische Bedingungen und Kriterien; die Formen des Involviertseins von Wissensbeständen bei der Herstellung und Nutzung von Artefakten stellen sich dabei jedoch als ebenso komplex und implikationsreich dar wie in den freien Künsten. Gerade hier in diesem Be10 I Einleitung
reich, der für die Strukturierung der Alltagswelt von erheblicher Bedeutung ist, besteht ein verstärkter Erkenntnis- und Reflexionsbedarf. Dabei lässt sich erwarten, dass diese Disziplinen ein eher entspanntes Verhältnis zu Instrumenten des Wissens unterhalten, denn wo die Gestaltung in einer gleichsam säkularisierten Form betrieben wird, kann vermutlich auch der Faktor Theorie konfliktlos im Produktionsprozess zur Geltung gebracht werden. Die Beiträge des vorliegenden Bandes thematisieren ästhetische Prozesse unter besonderer Berücksichtigung der Frage, in welcher Weise hier theoretische Wissensbestände bzw. Reflexionsleistungen involviert sind. Während im ersten Teil des Bandes Untersuchungen vorgestellt werden, die das Thema unter einer eher generalisierenden Perspektive behandeln, liefert der zweite Teil des Bandes materialbezogene Betrachtungen, die sich mit bestimmten Zusammenhängen in der Kunst- und Designgeschichte beschäftigen. In diesem Kontext stellt sich auch die Frage, ob und auf welche Weise Kunst oder Design selbst Wissen zu produzieren und an das Publikum bzw. die Nutzer weiterzugeben vermag, eine Frage, die für die gegenwärtig geführten Diskussionen über die Möglichkeiten kunstspezifischer Forschung von Bedeutung ist. In welchem Verhältnis stehen entsprechende Artefakte, die diesem Programm verpflichtet sind, zu den etablierten Formen wissenschaftlicher Rationalität? Doch unabhängig von der Frage, ob die Kunst als Forschung Erkenntnis liefern könne oder solle, hat es jeder ästhetische Produktionsprozess, sofern Reflexion impliziert ist, mit Wahrheitsproblemen zu tun. Liefert diese Reflexion Einsichten von allgemeiner und intersubjektiver Geltung oder eröffnet sie lediglich perspektivisch gebundene Ansichten, die in Abhängigkeit von partikularen Interessen entwickelt sind? Hier ist nicht zuletzt auch das Problem möglicher Fehlwege zu erörtern, die in den Diskursen von Künstlern, Kommentatoren und Theoretikern beschritten werden. Fragen nach der Rolle der Theorie in der ästhetischen Praxis sind auch für die Seite der Adressaten von Bedeutung, denn bereits die Wahrnehmung oder Nutzung ästhetischer Artefakte setzt das Bestehen von Wissen voraus, so dass einem in diesem Sinne uninformierten Subjekt der Zugang zu den entscheidenden Strukturen der Gegenstände verwehrt bleibt. Mit Kunst- oder Designobjekten umzugehen, erfordert also stets die Bereitschaft, spezifische Kenntnisse zu erwerben und in den Wahrnehmungsund Handlungsprozess einzubringen. Die Beiträge dieses Bandes liefern Beobachtungen zu einer komplexen Aktivität, die dem erkennenden Intellekt zugeneigt ist, ohne sich seinen Imperativen auszuliefern. Dass diese Beiträge neben dem Interesse an begrifflichen Diskursen auch mehr oder minder rationalitätskritisch argumentieren, spricht für deren Sachhaltigkeit. Die Theorie vom Verhältnis von Theorie und sinnlichintuitivem Handeln in Kunst und Design nähert sich dabei selbst der Logik ästhetischer Erfahrung. Hans Ulrich Reck folgt in seinem Beitrag dem Interesse, die von ihm als produktiv begriffenen Beziehungen zwischen Theorie und Praxis in Kunst und Design zu verdeutlichen. Er macht zunächst auf die vielfach ignorierte Tatsache aufmerksam, dass Praktiken in diesen Feldern bereits intrinsisch theoriegeleitet seien; ebenso müssten die Einleitung
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in diesen Kontexten auftretenden Theorien immer auch selbst als Formen der Praxis verstanden werden. In der Einsicht, dass theoretische Diskurse nicht den Anspruch erheben können, die Verfahren ästhetischer Formung kognitiv zu steuern, um so der theoretischen Rationalität zu einseitiger Dominanz zu verhelfen, entwickelt er in einer meta-theoretischen Überlegung die Vorstellung von einer Theorie durch Theoriemangel. Mit dieser knappen Formel wird ein Mechanismus gestalterisch-spekulativer Theoriebildung akzentuiert, durch welchen sich die Prozesse der Gestaltung als mit dem Medium der Theorie in produktiver Weise verklammert zeigen, ohne sich demselben dabei unterwerfen zu müssen. Theorie entspringt hier in einem im Prozess der Produktion aufbrechenden Erkenntnismangel, der durch Diskurse wie etwa Hermeneutik, Semiotik oder Philosophie beantwortet und dabei dennoch in bestimmter Weise reproduziert oder radikalisiert wird; das Scheitern der sich perpetuierenden Theorie erscheint als Zeichen ihres Gelingens und zugleich als Anstoß weiterführender Erkenntnisbemühungen. Manfred Faßler hebt in seinem Beitrag die Einsicht hervor, dass es heute als antiquiert zu gelten habe, sinnliche Prozesse wie Hören, Sehen oder Tasten dem NichtSinnlichen des begrifflichen Denkens entgegenzustellen; ein solches Vorgehen verhindere eine substantielle Auseinandersetzung mit den konkreten Bedingungen des materiellen Lebens. Der Autor skizziert die Voraussetzungen und Implikationen eines weit gefassten Konzepts von Gestaltung, das unterschiedlichste Praktiken und Produkte wie urbane Situationen, Geschmacksrichtungen, musikalische oder theatrale Räume, Zeichensysteme oder auch Fingerfood umfasst. Gestalten wird dabei als ein komplexer, zwischenmenschlicher Prozess gedacht, der dem evolutionären Muster eines adaptiven und selektiven Verhaltens des instinktentlasteten Menschen folge. In diesem Prozess würden sich sinnliche Aktivitäten, Ideen, Abstraktionen, Entwürfe, Verabredungen und dergleichen zu synthetischen Komplexen zusammenschließen. Zentral für die Überlegungen ist die Produktivkraft eines Sehens, dass hier als ein denkendes Sehen begriffen wird, dem eine wissende Sichtbarkeit korrespondiert, die weit über die Sphäre der Bilder hinausgreife. Homo sapiens lebe und überlebe in erdachten Welten, heute vor allem im Kontext von Bio- und Nano-, Info- und Neurotechnologien; dies gäbe den Praktiken der Visualisierung einen bis dahin nicht gekannten Charakter; Visuelles würde zu einem Agenten von informationellen Infrastrukturen. Michael Erlhoff eröffnet seinen Beitrag zum Design mit der Forderung, die Leistungsfähigkeit theoretischer und begrifflicher Rationalität nicht zu überschätzen; endgültige und gesicherte Wahrheiten seien nicht zu gewinnen. Gleichwohl täuschten sich diejenigen, die glaubten, praktische Tätigkeiten seien unabhängig vom Medium der Theorie möglich, denn jeder Gestalter habe es – ob er darum wisse oder nicht – zwangsläufig auch mit theoretischen Wissensbeständen zu tun. Anders als im Bild wechselseitiger Ausschließung suggeriert, bestünde ein verzwicktes Verhältnis gegenseitiger Beeinflussung zwischen Theorie und Praxis. Theorie gewinnt bei Erlhoff ihre Funktion als unverzichtbares Moment eines komplexen Austausches zwischen diversen, am ästhetischen Prozess beteiligten Faktoren. Von besonderem Interesse für Design und Kunst 12 I Einleitung
seien die besonderen Augenblicke einer konzentrierten Dekonzentration oder einer unaufmerksamen Aufmerksamkeit, bei denen ästhetische Lösungen hervortreten könnten, die intentionalem Denken und Handeln nicht möglich seien. Als vorbildlich für diese Auffassung nennt der Autor Kants Vorstellungen vom Genie sowie die Idee der so genannten Fehlleistungen in der Psychoanalyse Sigmund Freuds. Doch weil in diesen intuitiv verfahrenden Praktiken immer auch Mittelmäßiges und Uninteressantes entstehe, bedürfe es eines kritischen Denkens, das über die Fähigkeit verfüge, Qualität zu erkennen; entscheidend sei das Ineinandergreifen von Erfahrung, Einsicht und spontanem Agieren, ein komplexer Prozess, der Reflexion impliziere. Martin Gessmann spannt einen weiten Argumentationsbogen von der subjekttheoretischen Ästhetik Kants bis hin zur Kunst und Medientheorie der Gegenwart. Im Zentrum seiner Überlegungen steht das Interesse an einer reflektierten ästhetischen Praxis bzw. einer Reflexionskunst, mit der die alten Konzepte ästhetischer Mimesis verabschiedet wurden. Reflexion meint hier die Thematisierung gestalterischer Mittel und Medien, deren Eigenlogik den bruchlosen Durchgriff des Artefakts auf die Welt selbst verhindert. Beobachtungen aktueller Entwicklungen in den technischen Medien und der entsprechenden Kunst lassen vermuten, dass in der Gegenwart eine für die Moderne charakteristische Entwicklung zu Ende gehe. Gessmann bemerkt, dass mit den digitalen Medien nicht lediglich eine neue, selbst noch überbietbare Stufe in der Evolution von Medien erreicht sei, in ihnen stoße die mediale Entwicklungslogik vielmehr an eine nicht mehr überschreitbare Grenze. Die Flexibilität und Leistungskraft dieser Medien impliziere die Möglichkeit eines in klassischen Nachahmungslehren unterstellten direkten Zugriffs auf das Reale. Mit der hier festzustellenden Wiederkehr der Mimesis im digitalen Raum kehrt auch das bereits totgesagte Analoge in die Bildwelten zurück. Doch das Versprechen einer Tilgung der Differenz zwischen Artefakt und Wirklichkeit impliziere nicht das Ende ästhetischer Reflexion, sondern schaffe die Bedingungen für die Entfaltung von Reflexionen höherer Stufe; auch die Kunst jenseits medialer Brechungen bleibe Reflexionskunst, allerdings in einem neuen, bisher nicht gekannten Sinne. Beispielgebend sei hier die Strategie des Fotografen Thomas Demand, der fotografierte Orte in Pappe nachbildet und dann mit erstaunlichen Resultaten wieder ablichtet. Der Beitrag von Hans Zitko fragt nach den Anteilen von Theorie und Reflexion in der Produktion und Rezeption von Kunst. Einen möglichen Weg zur Klärung der hier relevanten Zusammenhänge lieferten Kants Vorstellungen von der Struktur der ästhetischen Wahrnehmung. Mit seiner Idee einer reflektierenden Urteilskraft habe Kant in exemplarischer Weise deutlich gemacht, dass die ästhetische Aktivität an Leistungen der begrifflichen Rationalität gebunden sei, ohne dass diese Rationalität hier eine Vormachtstellung beanspruchen könne: Einbildungskraft und Verstand befänden sich, anders als im Falle der bestimmenden, für die wissenschaftliche Erkenntnis maßgebenden Urteile, in einer wechselseitigen subjektiven Übereinstimmung. Dieses Modell eines freien Spiels der Vermögen liefere ein Vorbild für die Klärung des Verhältnisses von Sinnlichkeit bzw. intuitivem Handeln und Theoriebildung bzw. Reflexion in der HerEinleitung
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stellung von Werken der Kunst. Deutlich werde in diesem Zusammenhang, dass die Qualität ästhetischer Artefakte an eine nicht abreißende Interaktion zwischen den beteiligten Faktoren gebunden sei; wo diese Interaktion stagniere oder sich in Richtung asymmetrischer Konstellationen auflöse, verliere die Kunst die ihr eigene Sprachkraft: Die Frage nach dem Verhältnis von Notwendigkeit und Kontingenz im ästhetischen Prozess könne nicht mehr in produktiver Weise beantwortet werden. Ein Beispiel böten hier Teile der Gegenwartskunst, in der theoretische Programme dominierten, die nicht mehr hinreichend mit den sinnlichen Aktivitäten des Subjekts vermittelt seien. Der Beitrag von Burghart Schmidt befasst sich mit dem heute viel diskutierten Verhältnis von Kunst und Forschung. Von der Erkenntnisrelevanz ästhetischer Erfahrung überzeugt, thematisiert der Autor die künstlerische Praxis als Medium einer möglichen Produktion von Wissen. Dieser Zusammenhang habe eine Tradition, die ins Mittelalter zurückreiche und bis heute nichts von ihrer Bedeutung verloren habe. Entscheidend für ein produktives Verhältnis von Kunst und Forschung sei allerdings, dass die Kunst die klassische wissenschaftliche Rationalität nicht einfach imitiere, sondern eine eigene Dynamik entwickele, die auch dort aktiv würde, wo die Wissenschaft nicht mehr weiter wisse: Kunst könne wissenschaftliches Arbeiten ergänzen und auch auf ihre Weise initiieren. Wenn auch Differenzen zur etablierten Wissenschaft zu bemerken seien, so habe man es hier dennoch mit einem vollwertigen Prozess der Wahrheitssuche zu tun. Fokus der Forschung sei vor allem die Sphäre des Individuellen, Singulären, Einzigartigen, das der Wissenschaft als einer verallgemeinernden Disziplin verschlossen bleibe, ferner das Unendliche, das Ewige oder Unbegreifliche. Der Autor spricht mit Blick auf den philosophischen Existentialismus von einer Bewegung in Richtung einer alternativen, ebenfalls auf Erkenntnis gerichteten Forschung. Ausgehend von diesen Überlegungen diskutiert er die Frage nach den Praktiken der Forschung im Rahmen des Designs selbst, das anders als die Kunst eher dem Allgemeinen als dem Singulären zuneige. Adam Jankowski gibt zunächst eine knappe Darstellung des seit dem ausgehenden Mittelalter ablaufenden Prozesses, in dem sich die Bildkünstler aus ihrer marginalen Rolle als bloße Handwerker herauslösten und in den Rang freier kreativer Subjekte aufstiegen. Ein entscheidender Faktor für diese Veränderung sei die zunehmende Bedeutung theoretischer Reflexion in der künstlerischen Praxis, fassbar etwa bei Giorgio Vasari und seiner einflussreichen Lehre vom disegno. Die mit A.G. Baumgarten einsetzende Entwicklung einer autonomen philosophischen Ästhetik bilde, wie es heißt, einen weiteren wichtigen Baustein für die Intellektualisierung der Kunst; seinen verdichteten Ausdruck finde dieser Prozess in der Figur des pictor doktus, des gelehrten Malers, der selbst Traktate und Lehrschriften verfasse. Besondere Aufmerksamkeit schenkt Jankowski dem französischen Maler Gustave Courbet, der intensiven Austausch mit Theoretikern pflegte und selbst über eine hohe Theoriekompetenz verfügte. In der Kunst des 20. Jahrhunderts setze sich dieses Interesse von Künstlern an theoretischen Diskursen fort; vom Futurismus über De Stijl und das Bauhaus bis hin zu Warhol und Beuys lasse sich ein erhebliches Interesse an Theorie und Reflexion – oft gepaart mit gesellschaftstheoretischen Ideen – auf Seiten der Kunstproduzenten beobachten. 14 I Einleitung
Eine Veränderung trete indessen mit der Entstehung des neuen Finanzkapitalismus ein; die reflexiven Anstrengungen der Künstler stellten sich hier nicht selten in den Dienst eines strategischen, auf ökonomischen Erfolg gerichteten Handelns. Die alte Frage nach den Möglichkeiten kritischer Reflexion und den utopischen Implikationen der Kunst ist für den Autor jedoch keineswegs erledigt, sondern besitzt für ihn nach wie vor eine zentrale Bedeutung. Manfred Clemenz befasst sich mit einem spezifischen Kapitel aus dem Feld von theoretischen Ideen und Konzepten früher Avantgardisten. Am Beispiel des Verhältnisses von Franz Marc und Paul Klee und deren ebenso verwandtem wie kontrastreichem Selbstverständnis macht er deutlich, dass sich in den für die Kunstproduktion essentiellen Diskursen immer auch Illusionen bzw. verhängnisvolle Irrtümer breitmachen können. Wie bei zahlreichen anderen Zeitgenossen auch, fänden sich bei den beiden prominenten Figuren Vorstellungen über Werk und Künstler, die einer philosophisch längst überlebten Metaphysik zuzurechnen seien. Was die hier vorliegenden Neigungen auch zu religiös-esoterischem Gedankengut vor allem problematisch werden lasse, seien deren politische und soziale Implikationen. Bei Marc, der zu Beginn des ersten Weltkrieges mit Begeisterung ins Feld zog, verbinde sich die metaphysische Gesinnung mit dem Glauben an ein politisch starkes und siegreiches Deutschland; der Künstler antizipiere zentrale Momente der Irrlehren des Nationalsozialismus. Der mit ihm befreundete Klee distanziere sich zwar von derartigen Perspektiven, zeige in seinem Bild von den höheren Fähigkeiten des Künstlers indessen selbst antidemokratische Züge. Diese von Kommentatoren gern übersehenen Vorstellungen bildeten, wie Clemenz feststellt, einen Teil gesellschaftlichen falschen Bewusstseins, einer Ideologie, die in der bürgerlichen Intelligenz des frühen 20. Jahrhunderts verbreitet gewesen sei. Die Künstler flüchteten aus der profanen Wirklichkeit und entwickelten fiktive Ideen, die die Einsicht sowohl in historische Entwicklungen als auch in die faktische Genese des Kunstwerks blockierten. Marc Ries konfrontiert in seinem Beitrag zwei unterschiedliche Akte, die ihm zufolge im Begriff Design angelegt seien: die Designation und die DeSignifikation. Als Beispiel der Ersteren diskutiert der Autor die in der portugiesischen Kultur gebräuchliche Praxis, Innen- und Außenräume von Gebäuden mit Serien von Ornamentfliesen zu dekorieren. In diesem Verfahren findet er eine über die bloße Formgebung hinausgehende Strategie, die der Architektur eine zweite Existenzschicht hinzufüge, die deutlich in den Vordergrund trete, sich in bestimmter Weise selbst bezeichne und dabei entsprechende Beiträge zur Konstruktion des sozialen Imaginären liefere. Das Design im Bereich neuer Kommunikationstechnologien entleerte dagegen die Erscheinung des Gegenstandes und betriebe eine gezielte Verdunklung seines technischen Innenlebens, dessen Funktionsweise dem Nutzer derartiger Apparate ohnehin unbekannt sei. Mit dieser auch in anderen Kontexten gebräuchlichen Strategie, die mit dem Begriff DeSignifikation oder DeSign belegt wird, würde die bei Aristoteles gedachte Einheit von Wissen, das in die Herstellung eines Objektes einfließe, und seinem Gebrauch durch den Menschen verabschiedet. Die Kenntnis über die Genese und Konstruktion des GegenEinleitung
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standes sei in diesem Sinne verloren gegangen bzw. für das Alltagssubjekt nicht mehr herstellbar. Programm sei hier reine Brauchbarkeit auf der Basis einer Entleerung der Erscheinungsformen des Verwendeten, über das im strengen Sinne nichts mehr erzählt oder berichtet werden könne. Der Beitrag von Christian Janecke zeigt, dass theoretisches Gedankengut oft auch in unbewusster Form, das heißt ohne ein explizites Wissen des Künstlers, am ästhetischen Produktionsprozess beteiligt sei. Präsuppositionen dieser Art spielten, so heißt es, eine erhebliche Rolle und könnten sich in standardisierten Formfindungen, Kunstgriffen oder Verfahrensweisen niederschlagen. Die Kunstwissenschaft habe sich auch diesen impliziten Faktoren in der Interpretation von Werken zuzuwenden und zu klären, in welcher Weise sich in ihnen etwa der Geist der Zeit des herstellenden Künstlers reproduziere. Janecke bleibt bei allgemeinen Überlegungen nicht stehen, sondern liefert ein Beispiel einer in die sinnlichen Formen von Werken selbst implementierten Theorie. Gegenstand seiner Beobachtungen ist das von dem amerikanischen Maler Frank Stella in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts propagierte Prinzip der Shaped Canvas, mit dem Bildwerke bezeichnet werden, deren Außenformen aus ihrer internen Flächenstruktur abgeleitet sind. Dieses in der Kunsttheorie im Hinblick auf den Übergang von der Malerei zum Objekt diskutierte Prinzip finde sich bereits in der Bühnenkunst des 20. Jahrhunderts vorbereitet; hier betreffe das formale Schema allerdings das durch die Architektur gestaltete Verhältnis zwischen Bühne und Publikumsraum und damit einen entsprechenden Rezeptionsmodus von Theaterinszenierungen. Später auch in der Performance Art wirksam, eigne sich das Prinzip allerdings nicht für generalisierende theoretische Überlegungen, sondern bilde den Gegenstand eines am und aus dem empirischen Material arbeitenden Denkens, das an typisierbaren ästhetischen Optionen interessiert sei. Wolfgang Ullrich eröffnet seinen Beitrag mit der Betrachtung von Diskursen zur modernen und aktuellen Konsumkultur. Gegenstand ist zunächst W. F. Haugs einflussreiche Kritik der Warenästhetik, in der die Überzeugung entwickelt wird, dass die ästhetisch gestaltete Ware im System des Kapitalismus die Konsumenten im Dienste ökonomischer Interessen oftmals manipuliere und täusche. Anerkannt würde in diesem Kontext dagegen ein ethisch geläuterter Funktionalismus, der auf allen ästhetischen Mehrwert Verzicht leiste. Ullrich kritisiert diese klassische Form der Kritik als selbst defizitär: Nicht jede Designstrategie sei verwerflich, die eine Fiktionalisierung der Produkte betreibe; ebenso gelte: Ein gestaltetes Produkt sei nicht schon deshalb zu würdigen, weil es Bedeutungen transportiere, die in seiner Funktion nicht aufgingen. Eine differenziertere Sicht besitze eine Theorie, die über die Fähigkeit verfüge, zwischen dem Schein im Sinne einer bloßen Täuschung und ästhetischen Fiktionen mit einem eigenen produktiven Wert zu unterscheiden. Der Autor fordert auf, jene Kommentare von Konsumenten auf entsprechenden Internetportalen in den Blick zu nehmen; hier, wo Produkte aus je eigenen Perspektiven beschrieben und bewertet würden, sei eine eigene Textgattung entstanden, die deutlich mache, dass sich komplexe Formen des Umgangs mit Produkten entwickelt haben, die man mit dem Lesen von Literatur vergleichen 16 I Einleitung
könne. Impliziert sei eine Kompetenz, eine Art Wissen, die den Konsumenten die Möglichkeit eröffne, selbstbewusster, reflektierter und spielerischer aufzutreten. Kai Vöckler verschiebt den Fokus der Betrachtung von der Theorie und Kunst auf den Ort, an dem sich beide vorzugsweise entwickeln. Zunächst verweist der Autor auf antike Vorstellungen zum Raum der Stadt. So habe etwa Aristoteles die Stadt als einen Ort begriffen, der ein gerechtes und freies Leben ermögliche, durch das sich Kunst und Wissenschaft entwickeln und zusammenfinden könnten. Auch in der Neuzeit seien entsprechende Ideen über die Rolle der Stadt verbreitet, wie anhand eines von Merian gestalteten Blattes zu erkennen sei, das den Stadtraum als einen Schauplatz definiere, auf dem sich alle Professionen einschließlich der Händler versammelten. Die hier lokalisierten Künste und Wissenschaften öffneten die Stadt zur Welt und liefern die Grundlagen zu deren Entdeckung. Von zentraler Bedeutung für die Entwicklung der Kunst und des Denkens seien spezifische Kräfte der Phantasie, die Kant unter dem Begriff der produktiven Einbildungskraft oder Castoriadis unter dem Begriff des Imaginären thematisierte. Die gebaute Stadt verliere bereits mit der Erfindung des Buchdrucks ihre integrierende Kraft; heute im Zeitalter der neuen Medien erschienen die Städte nur noch als Knotenpunkte in einem Netz transnationaler Räume, die die Frage nach einer Welt-Polis als Ideal einer politischen Gemeinschaft aufsteigen ließen. Für Strategien, die mit dem Ziel arbeiteten, neue Formen des Urbanen zu entwickeln, bliebe gleichwohl die Frage nach einem produktiven Verhältnis der Künste zu den Wissenschaften bedeutsam. Die Beiträge dieses Bandes entstanden im Anschluss an einen Zyklus der Ringvorlesung „Theorien der Gestaltung“ an der Hochschule für Gestaltung Offenbach. Einigen Texten liegen gehaltene Vorträge zugrunde, weitere zusätzlich aufgenommene Texte ergänzen und vertiefen die hier eröffneten Perspektiven. Die Ringvorlegung, die mit der Aufnahme der ersten Promovenden an der Hochschule eingerichtet wurde, dient unter anderem dem Zweck, die Theorie und Praxis im Bereich von Kunst und Design verstärkt einander anzunähern. Für Kunsthochschulen ist ein solches Projekt von besonderer Bedeutung, zumal hier dem Faktor Theorie unter anderem durch Promotionsprogramme für Künstler und Gestalter ein immer größeres Interesse entgegengebracht wird. Wenn auch theoretische Kompetenz allein keine gelungenen Werke in der Kunst oder im Design zu garantieren vermag, so bildet doch ein entsprechendes Wissen ein unverzichtbares Moment für die Erarbeitung tragfähiger, über den Moment hinausreichender ästhetischer Lösungen. Nicht zuletzt durch die Idee, Kunst könne sich neben der Wissenschaft als eigene Form der Forschung etablieren, ist ein Prozess in Gang gekommen, der die ästhetische Praxis zu verändern verspricht. Es ist zu früh, hier von einem Paradigmenwechsel zu sprechen; die Vorstellung von einem unbefleckt von jeder Theorie arbeitenden Künstler sollte gleichwohl der Vergangenheit angehören. Gedankt sei an dieser Stelle allen Beteiligten für die Unterstützung des Projektes. Hans Zitko
Offenbach, im April 2013
Einleitung
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Hans Ulrich Reck
Theorie durch Theoriemangel – Episteme und Verfahren in Kunst und Design, auch zu verstehen als eine Erörterung ästhetischen Urteilens Die eingeschliffenen Schwierigkeiten, Unstimmigkeiten, Verzerrungen und Missverständnisse zwischen dem so genannten ,Theoretischen‘ und dem so genannten ,Praktischen‘ in den ,freien und den angewandten Künsten‘, also, verkürzt: in ,Kunst und Design‘, werden von Hans Zitko in seinen ,Vorbereitenden Überlegungen‘ prononciert zusammengefasst.1 Es handelt sich um einen das gesamte neuzeitliche System der Künste bis in die Gegenwart hinein begleitenden Diskurs, der von einer Dichotomie ausgeht, die das System der Künste konturiert und modelliert. Die Dichotomie besteht in einer Abspaltung eines oft selbstgerechten und saturierten Praktischen von einem abgehobenen anmaßenden und ,abstrakten‘ Diskurs. Unersättliche Diskursivierung der Künste sei der verzerrte eine Pol, eine maßlose Apotheose des Sensualismus und fetischisierte Unmittelbarkeit der leiblich-leibhaftigen, nämlich eigenhändigen Kunstpraktik der andere. Zitko weist auf die Verluste hin, welche diese verfestigte Ritualisierung als eine kulturell codierte und organisierte Verengung mit sich bringt: Das implizite Wissen der Künste, gerade das um die je aktualisierenden Praktiken von findungsreichen Aufgaben, gehe zunehmend und zunehmend schnell verloren. Was Richard Sennett in ,Craftsmen‘ als Geheimnis kollektiver Kreativität beschreibt,2 erscheint dagegen als Implikation vielfältiger Kenntnisse, die spezifische theoretische Qualitäten haben, die auf diversen Ebenen angesiedelt sind, aber nicht verschriftlicht, nicht diskursiviert, nicht in eine allgemeine Publizistik übersetzt werden müssen.
Künste als implikative Theorien Wenn der traditionell und rituell theoriefeindliche Diskurs der Kunst – der aber nicht der Sache selbst, sondern eher einer bestimmten Mystifizierung und Stilisierung der Künstlerfigur entspringt3 – in Betracht gezogen wird, dann hofft das nicht auf eine subsidiäre oder zusätzliche Großzügigkeit von Seiten der ,Praktiker‘, sondern erinnert daran, dass solche restriktive Handhabung von Grenzen mitsamt Lagerbildungen zu beiden Seiten die wahre Produktivität der Beziehungen zwischen den historisch aufgespaltenen Opponenten verkennt. Es handelt sich um ein Selbstmissverständnis, vor allem aber um ein gravierendes Ignorieren der zahlreichen impliziten Formen von Theoriebildung in den poetischen Praktiken.4 Und vor allem missversteht diese EinstelTheorie durch Theoriemangel
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lung, dass, was vermeintlich praxisferne Theorie heißt, kein immateriell schwebendes Gebilde ist, sondern genuin eigene Praktiken entwickelt. So wie Praktiken intrinsisch theoriegeleitet sind, ob explizit oder implizit, artikuliert oder automatisiert, bewusst wahrgenommen oder nicht, so sind Theorien immer auch Praktiken, in und als die sie dynamisch prozessieren, weil sie sich sonst gar nicht artikulieren können. Davon zu unterscheiden sind natürlich die Formen der Erklärung, Begründung, der vor- wie der nachträglichen Artikulation konzeptuell angestrebter oder an Entäußerungen wahrgenommener theoretischer Qualitäten. Implizites Wissen kann explikativ werden mittels Rekonstruktion, aber auch, vorgreifend, mittels spekulativer Heuristik. In keinem Falle aber handelt es sich um ein instrumentelles Wissen, das als eine Art Rezeptur operativ nicht nur eine Werkgestalt ermöglicht, sondern diese auch vorbestimmt bewerten oder entsprechende Wertungen normativ beschreibbar machen würde. Gesetzte Praktik ist immer auch Theorie im Sinne eines vergegenständlichten oder wiederholenden Probehandelns: aktive Wiederholung eines passiv Erlebten als, nach Kris,5 Grundmodus von Kreativität: „to repeat actively, what one has experienced passively“. Bewusstes Handeln und reflektierendes Wissen durchdringen sich im Prozess stetig. Eben deshalb kann man Reflexion auch als ein denkerisch re-integrierendes Probehandeln beschreiben. ,Umwege in die Philosophie‘ verdeutlichen diese implizite Durchdringung in einer Weise, die selbstverständlich in geboten grundlegendem Sinne ,Geltung‘ von ,Genesis‘ unterscheidet. Auch wenn im Prozess sich die Dimensionen immer durchdringen, sind Ansprüche an Geltung stets auf konstruierende Epistemologie bezogen und werden erhellt nicht an oder durch die Genealogie. Die Entstehungsgeschichte der Künste wie des epistemologisch geleiteten Wissens sind historiographisch von Bedeutung für die Selbstwahrnehmung des poetisch konstruierenden Subjektes, bleiben aber vom Geltungsanspruch strikt unterschieden. Man muss sich allerdings immer gewahr bleiben, dass es sich bei einer reflektierenden Theorie um eine Metatheorie handelt, wie sie für die ästhetische Fundierung von Kunsttheorie generell typisch ist.6 Sie bezieht sich deshalb immer auch auf die anderen, mehr oder weniger implikativen Theorie-Ebenen wie: Fachtheorie, mediale Selbstkritik, kulturelle (politische, ideologische etc.) Reflexion. Spezifisch reflektierende Selbstkritik markiert demnach einen Typus philosophischer Reflexion, der von subjektiven Leistungen abhängig, aber nicht durch systemische Kriterien vorstrukturiert ist. Man kann das mit diesen immer einhergehende (kunstsoziologisch triviale) naturalistische Argument mit gutem Recht umkehren, demnach der Künstler eine Figur sei, für die eine besondere, ja gar exklusive Fähigkeit gegeben sei, sein Werk unabhängig von vorgesetzten Regeln zu entwickeln. Das mag man konventionellerweise als eine naturhafte Basis betrachten, die in der kulturellen Entwicklung zunehmend zu einer metatheoretischen Zäsur wird, nämlich ,irgendwann‘ nicht mehr als naturgegeben oder naiv erscheint, sondern nur noch funktioniert durch angestrengte, d. h. transformierende Theorieleistungen. Diese Zäsur ist zweifellos in der Mitte des 20. Jahrhunderts erreicht, und zwar unabhängig davon, ob die gestalterische Praktik weiter als ,arte povera‘ oder als ,conceptual art‘ zu differenzieren ist. Jedenfalls konstituiert sich diese philosophische 20 I Hans Ulrich Reck
Selbstreflexivität im Verbund mit autonomen, ja gar idiosynkratischen Neigungen zu einem selbstgesetzten wie fortgesetzten Experimentieren.
Experimentieren – zum Ersten Experimente und Künstlertheorien beschreiben diesen spezifischen Typus von Künstlerfigur und auch einer Theorie, die sich implikativ entwickelt. An jeweiligen Umbruchstellen wird sie explikativ zugänglich, ohne abstrakt als rekonstruierendes Theorem benannt werden zu können. Es geht also für die hier gewählte designtheoretische Untersuchungsanlage immer um Diskursverfahren, die über Kunsttheorie und Ästhetik hinausgehen. Mehr oder minder intuitiv von Künstlern entwickelt, geht es um den Austausch, der seit je in der Geschichte der Kunstakademien wesentlich war: Durchsetzung einer Semantik von ,Kunst‘ und Anerkennung eines gewandelten Künstlerverständnisses in der und durch die Gesellschaft ist das wesentliche Moment in den Anstrengungen von Giorgio Vasari und Federico Zuccari, nicht das, was am Kunstwerk evidenterweise für diesen Wandel sprechen würde. Das gewandelte Werk, der Eigensinn der Ästhetik, die Illusionskunst eines radikalisierten Naturalismus, die Verwissenschaftlichung der gestalterischen Produktion im 14. und vor allem 15. Jahrhundert, all dies bildet ein Funktionsgeflecht, in dessen Dynamik die historische Figur des Künstlers sich als ebenso gewandelt erweisen wird, nämlich nun als Teilhabender an den ,freien Künsten‘ mit wissenschaftlichem Anspruch, wie das Kunstwerk, das eine ästhetische Autonomie im politischen Raum beansprucht. Zu diesem Zwecke verlässt die Kunst neuzeitlich das Territorium des Sakralen und verbindet sich zunehmend mit einer Aneignung herrschaftspraktischer Technologien zum Zwecke der Gesamtumgestaltung des politischen Gemeinwesens im Sinne des bewaffneten Decorums.7 Dem Grundgedanken einer typenbildenden diskursiven Kunstausbildung an der Schwelle der neuzeitlichen Akademiegründungen ist der folgende Exkurs gewidmet.
Akademie: Diskurs, Kunstanspruch, soziale Reflexivität – mit und gegen die Instanz der Akademie Bereits im späten Mittelalter wurde das Modewort ,Akademie‘ für zahlreiche Arten von Zusammenschlüssen verwendet. Mit der Umgestaltung der mittelalterlichen ,studia generalia‘, einer Schöpfung der Humanisten, wurde das Wort ,Akademie‘, das an Antike erinnert, zum Synonym für ,Universität‘. Akademie und Universität gelten manchenorts bis heute als identisch. Seit 1540 legen Vereinigungen und Gesellschaften der verschiedensten Art Wert darauf, sich mit dem hochtönenden Titel ,Akademie‘ zu schmücken. Im zweiten Drittel des 16. Jahrhunderts explodiert die Zahl der Akademien vor allem in Italien. Die direktesten Abkömmlinge der Renaissance-Akademien waren Theorie durch Theoriemangel
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Zirkel, welche sich der Kunst des Schreibens widmeten, um Langeweile zu vertreiben und dem Müßiggang zu frönen. Jede höhere philanthropische oder allgemein ästhetische Neigung konnte zur Gründung einer Akademie führen. Debattierzirkel, die Inszenierung von Theaterstücken und das Abhalten von Vorlesungen an einer Universität oder auch außerhalb – alles konnte als Aktivität, Bestandteil, vor allem aber als Kennzeichen einer Akademie gelten. Die Akademien zur Zeit der Renaissance waren völlig unorganisiert und regellos, diejenigen des Manierismus besaßen in der Regel komplizierte und schematische Regeln. Die erste feste Satzung einer Akademie war die der Rozzi in Siena 1531. Es folgten die Floridi 1537 in Bologna, die Umidi 1540 in Florenz, die Sdegnati 1541 in Rom8. 1560 eröffnete Giovanni Battista della Porta in Neapel die ,Accademia dei Segreti‘ für die Forschung auf den Gebieten der Astronomie und der Experimentalphysik, aber auch eines imaginären Maschinenbaus. Es ging um unvoreingenommene Studien, die nicht durch Publizität beeinträchtigt werden sollten – deshalb die Benennung in ,Segreti‘. Die Zusammenkünfte wurden allerdings nach kurzer Zeit verboten, weil sie im Widerspruch zum Geist des Tridentinum standen. Erst im etablierten Barock, also nach dem Ende der militanten Gegenreformation, standen die Chancen für wissenschaftliche Forschungen und Vereinigungen wieder besser. Im Atelier des Künstlers Baccio Bandinelli wurde um 1540 eine ,Accademia‘ gegründet, die sich der gebildeten Abendunterhaltung widmete. Der Zweck dieser Zusammenkünfte in der Werkstatt des damals berühmten, allerdings eitlen und notorisch sich selbst überschätzenden römischen und später Florentiner Bildhauers bestand darin, sich in gesellschaftlichem Rahmen mit dem Zeichnen zu beschäftigen und Diskussionen über Theorie und Praxis der Kunst zu führen. Interessant daran ist, dass hier das Modell der Zusammenkunft von Amateuren und Humanisten in Zirkeln auf die bescheidene Werkstatt eines Bildhauers übertragen wurde, der davon einiges Aufheben machte. Wenig später wurde die Ungeregeltheit solcher Zusammenkünfte einem eigentlichen Programm unterworfen, das seinen Platz im Rahmen einer neuen Institution hatte. Aber auch später blieben zahlreiche private Bemühungen unter dem Titel der ,Akademie‘ möglich, sofern sie nur irgendeine plausible Beziehung zu den Kunstakademien und Kunstszenen der damaligen Zeit hatten. Die Mitglieder solcher Zirkel oder ,Akademien‘ kamen zusammen, um zu zeichnen, meist nach Modellen. Besonders gepflegt wurde der menschliche Akt. Das Zeichnen, zeichnerisches Modellieren nach dem Original und Vorbild ist seit der Renaissance das wesentlichste Ziel jeder Kunstausbildung gewesen. Solche Akademien versammelten sich entweder im Atelier eines Künstlers oder im Palast eines Gönners. In diesem Fall trug der Mäzen die Kosten, die in Studioakademien gelegentlich über das Entrichten von Eintrittsgeldern verteilt wurden. Bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts blieb eine solche, äußerst beliebte Form von Zeichenunterricht bestehen. Die wenigen offiziellen Akademien, die existierten – die bedeutendsten waren damals in Rom, Florenz, Perugia zu Hause –, änderten nichts an diesem überwiegend privaten Vergnügen einer kulturell positiv encodierten Selbstbildung, die mit der Attitüde eines guten Geschmacks und der Aura gesellschaftlich anerkannter Bildung belohnt wurden. 22 I Hans Ulrich Reck
Die offiziellen Akademien wurden langsam zu eigentlichen berufsorientierenden Zentren höherer, zeitgemäßer Ausbildung. Gerade wegen der absolutistisch kontrollierten Ästhetik und angesichts der autoritären kunstpolitischen Regulierungen, wie sie für das 18. Jahrhundert typisch waren, müssen die Akademien als klare – wenn auch von Land zu Land unterschiedlich funktionierende – Selektionsinstrumente einer äußerst genau beobachteten Künstlerqualifikation angesehen werden – und damit auch als wesentliche Faktoren auf dem Weg zu Ruhm und Auftrag. Die Lage der Künste und des Handwerks kann man dann mit Blick auf den Vorabend der französischen Revolution wie folgt charakterisieren: „Die Akademien halfen dem Künstler, einen lange ersehnten gesellschaftlichen Rang zu erlangen, und ermöglichten es dem Handwerker, sich gewisse Kenntnisse des klassischen Geschmacks anzueignen, der ihm so fern lag und doch überall verlangt wurde.“9 Später, im Zeichen des ,Pankreationismus‘ und einer Idolatrie künstlerischer Welterfindung und permanenter Innovation,10 wurde die Abneigung ritualisiert, ergab sich als neuer, ebenfalls typenprägender Habitus die Verachtung der Akademie, der Schulung und überhaupt jeder ,akademischen Haltung‘ oder Prägung, vor allem derjenigen, die als Stilistik naturalistischer Technik und allegorisierender Mystifikationen historisch penetrant, aber auch entschieden obsolet geworden war. Die Abneigung oder der Hass gegen die Akademien begleitet diese, allerdings mit wechselnden Argumenten, von Anbeginn an. Vital wird die Ablehnung im Zeitalter des Klassizismus und natürlich besonders von romantischer Seite. William Blake und Francisco de Goya lassen heftig und in tiefster Überzeugung nur gelten, was der eigenen Imagination entspringt und entspricht, den eigenen Werten zu genügen vermag. Akademien gelten ihnen als Zuchtstätten einer Dogmatik, die nichts weniger als kunstfeindlich sei. Goya ist wie Blake der Überzeugung, dass der einzelne Künstler sich selbst Regeln gibt und es nicht Aufgabe der Malerei als solcher sein könne, Regeln zu beanspruchen, zu begründen oder gar zu lehren – man ziehe hierzu in Betracht den berühmten Brief Goyas vom 14. Oktober 1792 an die Akademie der schönen Künste zu Madrid.11 Jeder Zwang wirke sich kontraproduktiv auf die Jungen aus. Goethe notiert in seiner Abhandlung ,Von deutscher Baukunst‘ lapidar, Schule und Prinzip fesselten alle Kraft der Erkenntnis und Tätigkeit.12 Blake notiert in einer Glosse zum ästhetischen Kanon (vorgelegt als ,Discourse‘) des damaligen Akademiepräsidenten, des Malers Joshua Reynolds, Geschmack und Genie seien nicht lehrbar. Zahlreiche weitere, ähnlich lautende Zitate und Stimmen lassen sich ohne weiteres beibringen – von Thomas Carlyle, John Ruskin, Eugène Viollet-le-Duc, Samuel Butler, William Morris und Weiteren. Fazit: Man hat vorneuzeitlich und auch später unter ,Akademie‘ sehr Unterschiedliches verstanden.
Idee, Linie, Entwurf, ,disegno‘ Blickt man auf die systemische Formulierung der emanzipativen Interessen der Künste in der frühen Neuzeit zurück, dann zeigt sich eine Einheit zwischen praktischen TheoTheorie durch Theoriemangel
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rien und theoretisch grundierten Praktiken in der Handhabung, den ,maniere‘ der Künste. Es erweist sich darin auch, dass Theorien wie Praktiken, freie wie angewandte Ausbildungen und Reflexionen in der Kunst des Entwerfens, im konzeptuellen und zugleich poetologischen Begriff des ,disegno‘ ihren Existenzgrund haben, ihre Berechtigung und zugleich ihre Leistungskraft finden.13 Giorgio Vasari beschrieb die Einheit der Kunst des Entwerfens als magische Technik der Handhabung der kreierenden Linie und konzentrierten Imagination. Er erblickte den schöpferischen Geist künstlerischer Erfindung gänzlich in dieser am Werk. Vasari resümiert zur emphatisch akzentuierten Magie der Linie als Kern jedes ,disegno‘: „Die Zeichnung (disegno), der Vater unserer drei Künste Architektur, Bildhauerei und Malerei, geht aus dem Intellekt hervor und schöpft aus vielen Dingen ein allgemeines Urteil, gleich einer Form oder Idee aller Dinge der Natur, die in ihren Maßen überaus regelmäßig ist. So kommt es, dass die Zeichnung nicht nur in den menschlichen und tierischen Körpern, sondern auch in den Pflanzen, Gebäuden, Skulpturen und Gemälden das Maßverhältnis des Ganzen in Bezug auf die Teile und das Maßverhältnis der Teile untereinander und zum Ganzen erkennt. Und da aus dieser Erkenntnis eine bestimmte Vorstellung (concetto) entspringt und ein Urteil, das im Geiste die später mit der Hand gestaltete und dann Zeichnung genannte Sache formt, so darf man schließen, dass diese Zeichnung nichts anderes sei als eine anschauliche Gestaltung und Klarlegung der Vorstellung, die man im Sinne hat, und von dem, was ein anderer sich im Geiste vorstellt und in der Idee hervorgebracht hat.“14 Auch der zweite Pionier der Umwandlung der alten Gilden und Zünfte in moderne Kunstakademien, die sich ganz der theoretischen Reflexion in Einheit mit den Techniken der kreierenden Linie, dem Konzept des kreativen ‚disegno‘ verschrieb,15 Federico Zuccari, entwickelte eine ausgefeilte Pädagogik der Formung künstlerischer Fähigkeiten, die Phantasie und Imagination als ,inneres disegno‘ mit der Bewältigung der Materialität der Medien, Plan, Skizze, Zeichnung, Entwurf, ,bozzetto‘ verband. In seiner Abhandlung von 1607 ‚Idea dei Pittori, Scultori ed Architetti‘ erläuterte Zuccari ausführlich diese Theorie des disegno mit folgenden Unterteilungen: disegno primo/interno/itelletivo; disegno secundo/esterno/pratica; das ,disegno esterno‘ ist unterteilt in: disegno naturale, disegno artificiale, disegno fantastico-artificiale. Dabei geht es eben keineswegs um eine reine Technik oder gar selbstgenügsame Praktik. Das Ganze ist zu verstehen als ein Natur und Kunst kohärent verbindender, ein mimetisch steuernder Schaffensprozess zum Zwecke der Herausbildung einer Zusammenbindung.16 Das geschieht mit diversen Experimenten und in stetiger Weiterentwicklung zahlreicher Ebenen theoretischer Anleitung und Reflexion – vom Fachwissen der handwerklichen Produktion über technische Innovation bis hin zu konzeptuellen und strategischen Erneuerungen der Kunstbehauptung im gewandelten öffentlichen Raum. Spätestens Letzteres markiert (und benötigt zugleich) eine Theorie der medial radikalisierten Selbstkritik und -reflexion, die immer auf der Ebene der Verbindungen, also einer zweiten oder Meta-Ordnung angesiedelt ist.
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Experiment – zum Zweiten Implizite Theorie, Fachwissen, prozessuale, während eines Experimentierens, also einer erweiterten Praktik gewonnene Einsichten und Theorie als Praktik entfalten diverse Reflexionstypen. Dabei muss der Begriff des Experimentierens nicht mystifiziert, sondern kann technisch betrachtet werden als Selbstmodifikation einer Versuchsanordnung, in welcher es um Theorieentfaltung geht, welche aus der Anpassung einer Praktik zwingend hervorgeht.17 Das sei kurz erläutert: Im verallgemeinerten Sinne beschreibt das Experiment einen Typ von Verhalten oder Aktion in kybernetischen Systemen. Ein Experiment schließt in jedem Falle einen Eingriff in die Wirklichkeit ein (einmalig, stochastisch oder gesetzmäßig). Für Experimente in der klassischen Physik ist charakteristisch, dass bei Wiederholung unter gleichen Bedingungen und identischen Ausgangszuständen auch identische Ergebnisse erzielt werden. Abweichungen von einem Mittelwert sind zulässig in ausgedehnten Serien, wenn damit Einsichten in die Genauigkeit der Reproduktionsbedingungen des Experimentes gewonnen werden können. Bekanntlich kann sich dies durch Beanspruchung statistischer Gesetze ändern, so dass bei Abweichung der Messdaten kein solcher Rückschluss auf die Solidität der Reproduktionsbedingungen vorgenommen werden kann. Und, wie ebenfalls bekannt, kommt in der Quantenmechanik dem Objekt kein von den experimentellen Bedingungen (der Untersuchung) unabhängiger Status mehr zu. Beobachtung und Definition einer Größe gehen ineinander über und bedingen sich komplementär. Die Geltung von Experimenten wird sichergestellt durch das Erfüllen bestimmter Kriterien: Kontrolle der Versuchsbedingungen, Reproduzierbarkeit des Experimentes, tatsächliche Überprüfung durch Wiederholung. Phänomene, die nur ein einziges Mal auftreten, gehören im strengen Sinne nicht, ja: niemals und auf keinen Fall, zu den Wissenschaften. Also können auch die Epiphanien oder Idiosynkrasien der Kunst nichts beanspruchen außer ihrem entschiedenen Willen zum Singulären – es gibt schlechterdings keine Objektivität für sie.18 Summarisch lässt sich sagen, dass Theorie und Experiment nicht in einem Gegensatz stehen. Experimente bedürfen der Theorie und bilden deren unverzichtbare Ergänzung. Experimente, hinter denen keine theoretische Bemühung steht, sind inhaltsleer.19 Der Prozess der Klärung ist vorrangig immer noch außerwissenschaftlich, kommunikativ konsensuell: Ausschlaggebend wirkt die Evolution der ,scientific community‘ oder irgendeiner anderen kollektiven, auf überindividuelle Klärung von Ansprüchen und Aussagen ausgerichteter Instanz. Die wissenschaftlichen Diskussionen entscheiden über die Anerkennung der Hypothesen, eventuell auch nur einzelner aus einem Gewirr oder Geflecht von Annahmen und Entwürfen. Kritischer Austausch und Prüfung der Behauptungen unterliegen in allen Momenten und Phasen dem Prozess des kritischen Rationalismus, welcher die Erkenntnisansprüche validiert im Sinne unvermeidlicher Vorläufigkeit. Sicherheit ist niemals zu gewinnen oder zu erreichen. Deshalb geht es in der Designtheorie nie um reine Epistemologie, sondern immer auch um die Kontexte je aktualisierender Designtheorie/n von Zuccari über WedgeTheorie durch Theoriemangel
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wood bis in die Gegenwart und ihre aktuellen Revokationen und Situierungen von Designtheorie in Gestalt von: Spektakel, Ästhetisierung, kritischer Theorie.20
Sensus communis. Begriffe und Konzepte von Lebenswelt und Intersubjektivität Da Kunsttheorien und theoretische Einbindungen künstlerischer Experimente und Praktiken in besonderem Ausmaß auf die intersubjektive Einbindung und Vermittlung epistemischer Prozesse, von Einsichten, Hypothesenbildungen, Vermutungen und dergleichen mehr angewiesen sind, markieren sie einen besonders zugespitzten Problemtypus bezüglich der Frage, wie denn überhaupt eine soziokulturelle Sphäre, eine symbolisch unter Identitätsaspekten zusammenfassbare Epoche, eine typisierende Mentalität etc. zu einem Konzept intersubjektiv geteilter Epistemologie, einem Bestand von als gesichert, demnach unverbrüchlich ,rational‘ (oder mythologisch ,wahr‘) geltenden Erkenntnissen kommt. Für die traditionelle westeuropäische Konzeption der Ästhetik besteht das epistemische Problem gerade nicht in der Wertung der Werke der Kunst (das überlässt man stets, auch besser, einer funktionsfähigen Kunstgeschichte), sondern in der Leistungsfähigkeit des Geschmacksurteils als eines allgemeinen. Begründbar ist es im individuellen Gefüge der Erkenntnisleistungen, aber als eine allen Menschen zugängliche Qualität geht dieses gerade nicht aus der individuellen Verfasstheit hervor, sondern folgt der Vermutung, dass nichts anderes übrig bleibt, als eine allgemeine Urteilsfähigkeit an zunehmen. Das ist gerade im Falle ästhetischer Gegenstände oder Erkenntnisformen ein Problem, weil dieses Urteil weder apriorisch-normativ-kategorial noch induktivsensuell sein kann. Es vollzieht sich kraft eines Allgemein- oder Gemeinsinns, der kontra-normativ ist, aber dennoch unbedingt eine allgemeine Anwendbarkeit von Empfind(ung)en auf einer kategorialen Ebene postuliert. Das allgemeine Geschmacksurteil als besonderer Anwendungsfall der ästhetischen oder reflektierenden Urteilskraft stellt einen speziellen Fall all derjenigen Urteilsformen dar, die von einem Einzelnen auf ein Allgemeines schließen lassen, ohne dass eine verstandesmäßige Deduktion oder eine allgemeine, empirisch motivierte Form vorliegt. Das allgemeine Geschmacksurteil ist demnach, so Kant in seiner klassischen Argumentation, nicht Anwendung eines Regelsystems, sondern eine Vitalkraft, eine Gabe kraft Natur, eine Naturanlage der ,höheren Art‘ also. Ein Urteil, das sich nur im subjektiven Gefühl des Einzelnen zeigt, wird mit dieser singulären Argumentation deshalb allgemein, weil der Mechanismus in allen Einzelnen je einzeln zwingend erlebbar und auch tatsächlich erlebt wird. Was aber macht die Qualität des Austausches zwischen diesen singulär empfindenden einzelnen Subjekten aus? Die Allgemeingültigkeit, die sich durch die einzelne Subjektivität hindurch realisiert, ist nicht von stofflicher oder argumentativer Allgemeinheit. Sie bleibt durch und durch Empfindung, also spezifisch, also auch borniert, egozentrisch. Was den Übergang vom einen zum anderen Subjekt möglich macht, ist 26 I Hans Ulrich Reck
nicht eine verallgemeinerbare Erfahrung oder ein allgemeines Urteil, sondern eine besondere Mitteilbarkeit dessen oder über das, was im Evidenzerleben des Gemeinsinns empirisch unabweisbar gegeben ist und erlebt wird. Das ästhetische Urteil, das Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebt, obwohl es kein epistemisches Urteil ist, wird eines, nämlich Urteil, durch Mittelbarkeit. Das ist eine Argumentationslinie, die sich auf dem Hintergrund von Kants Theorie-Architektur und seiner spezifischen Problematik, nämlich der von Einzelnen auf ein Allgemeingültiges reflektierenden Verbindung von theoretischer und praktischer Vernunft, in der Philosophie des Gemeinsinns, der Intersubjektivität und der allgemeinen Epistemologie des Urteilens durchhält – von Edmund Husserl über Rudolf Carnap bis zu Donald Davidson.21 Es sind die Bedingungen der in sich kommunikativ differenziell und systemisch vermittelten Gemeinschaft, in welcher die Urteile zum Geschmack sich verfestigen und ausbilden.22 Man könnte auch sagen: ,Geschmack‘ ist der Name für eine systemisch aufgelöste Kommunikation des Kommunikationslosen in einer Konstruktion, die wiederum nur dann notwendig ist, wenn sie Ausdruck eines Bedarfs an ,Habitus‘ ist, nämlich ein ästhetisches Kommentieren über ästhetische Objekte und Phänomene erzwingt. Es ergibt sich hier eine doppelte Ebene: die Erörterung von Phänomenen und die Beanspruchung von Kategorien. Die Verbindung beider Ebenen ist immer eine metatheoretische Unternehmung. Diese Metatheorie ist Kern der ästhetischen Theorie des empfindenden Urteilens. Also nicht Theorie, sondern Metatheorie macht aus, was Theorie im Bereich der Künste ist, zu denen hier, im Zeichen des schon erwähnten und auch teilweise beschriebenen Entwerfens, aber auch eines allgemeinen Formbegriffs, das Design gezählt wird – der Einfachheit halber und weil die Synthese von so genannten ,freien‘ und so genannten ,angewandten‘ Künsten eine empirische Tatsache, vor allem aber auch Ausdruck eines wohlverstandenen theoretischen Postulates ist. Dabei bedarf es aus heutiger Sicht nicht mehr der Behauptung einer reinen ästhetischen Urteilsform, die sich mit der subjektiven Allgemeingültigkeit kraft Natur rechtfertigen kann. Vielmehr reicht die Zuspitzung, dass ästhetisches Urteilen metatheoretische Selbstkritik der Zuschreibungen von Werturteilen und Qualitätszuschreibungen zu sein hat.23 Diese Explikation reflektiert auf die Bedingungen von systemischer Autonomie und systemischer Funktionalität einerseits – mitsamt allen Verschränkungen dazwischen –, Kriterien des Wohlgefallens, der Gelungenheit einer künstlerischen Form und ihrer kommunikativen Vermittlung im System der Kommunikation über Kunst, ihre Grenzen und Kontexte andererseits. Die Artifizialität von durch Künsten geschaffenen Kontexten bedürfen keineswegs der kommunikativen, vorab artikulierten Festsetzung. Es wäre ein Missverständnis und ein Fehler, meinte man mit der systemischen Kommunizierbarkeit des ,sensus communis‘ die Aufgabe, dass Kunsterzeugnisse sich erst dann produktiv entfalten, wenn sie in ästhetischer Extrapolation kommuniziert werden. Kommunikative, also erläuternde Vermittlung ist Kennzeichen allen Redens über jeweilige subsystemische Gegebenheiten. Das ist für Kunst nicht spezifisch. Für Künste und für Designleistungen spezifisch sind dagegen poetisch gewonnene Erzeugnisse, Theorie durch Theoriemangel
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durch welche sich in evidenter Weise die Allgemeingültigkeit des ästhetischen Urteils differenziell als Leistung wie als Problem erfahren lässt. Ohne solchen Anstoß durch – psychologisch gesprochen: stark motivierte – Evidenz-Suggestionen und die Herausbildung artifizieller Kontexte durch Werke wäre das Kommunizieren gerade kein Beleg des ästhetischen Gemeinsinns, sondern pädagogisch-diskursive Erläuterung der Gegebenheiten durch Fachleute für Laien.24 Aber just so funktioniert der Gemeinsinn nicht. Denn er ist singuläre Gegebenheit und allgemeine, ,quasi-natürliche‘ Erfahrung. Dass Gefühlsstimmungen dabei ,mitlaufen‘, ist ebenso selbstverständlich wie unspezifisch und demnach in nicht-spezifischer Weise bedeutungslos, da universal gegeben und niemals spezifisch bedeutend. Betrachten wir das Problem nochmals, angemessen kurz, im Lichte einer der stärksten – oder auch: ,gewaltigsten‘ – wissenschaftlichen Illusionen des 20. Jahrhunderts, Rudolf Carnaps Insistenz auf einer idealen Sprache als einer Architektur von Theorie, die deshalb Ansprüche auf angemessene objektive Epistemologie entwickeln kann, weil sie angeblich dem ,Bau der Welt‘ in idealer Weise entspricht. Auf dieser Kontrastfolie lässt sich in der Folge die Eigenheit einer Theorie durch Theoriemangel klarer konturieren. Das gilt besonders für den ästhetischen Eigensinn und die Eigenart des Ästhetischen im Sinne einer empirisch singulären, universal anspruchsvollen Form, die keinerlei idealtypische Reinigung ihrer Aussagen bedarf, sondern, umgekehrt, stark auf Kontamination angewiesen und ausgerichtet ist, nicht aber, wie noch zu begründen sein wird, auf Paradoxie.
Eine Erörterung zu Rudolf Carnap – Vom logischen Aufbau der Welt zur Kommunikation ästhetischer Inkommensurabilität In ,Der logische Aufbau der Welt‘ setzt Carnap 25 alles daran, Erkenntnisse auf die Basis einer gereinigten Idealsprache zu stellen und definitorische Klarheit, Ein-Eindeutigkeit, für alles zu gewinnen, was mit Erkenntnisbildung verbunden ist. Also eine strikt kontrollierte Sprache, ein perfekt ausgebildetes Symbolsystem für das, was auf wissenschaftlichem Wissen beruhen und jederzeit in der Lage sein muss, auf es zurückgeführt zu werden. Darin erschöpft sich aber das Vorhaben keineswegs, wie so oft mit Verweis auf den Ausdruck ,Idealsprache‘ unterstellt wird. Carnap lässt viele Weisen und Wege der Wissensbildung in allen möglichen Bereichen zu. Es geht ihm im Kern um ein philosophisches Problem, das von Aristoteles über René Descartes bis zu Ludwig Wittgenstein die entscheidende philosophische Erkenntnishandlung als Erörterung der Begründungen für kategoriale Systeme ausgebildet hat. Diese Begründungen sind ,clare et distincte‘, klar und deutlich, durchzuführen. Sie stellen die Hauptaufgabe einer wahrheitsfähigen philosophischen Argumentation dar. Das erkenntnistheoretische Problem einer deutlichen Definition fällt nicht in die Domäne der Sprache. Auch besteht es keineswegs nur in einer angemessenen Beherrschung der in ihr benutzten Ausdrücke. Die Definitionen markieren nämlich 28 I Hans Ulrich Reck
nicht nur eine Ordnung der Welt als Welt der Erfahrungen, sondern legen sie fest, konstruieren sie.26 Das Problem der Definitionen, wie wir zu angemessenen Begriffen und nicht nur zur Hypothese ihrer Objektivität kommen, führt unweigerlich in die Sortierung der Wege und Weisen der Wissenserzeugung und -begründung in den verschiedenen Feldern und Domänen der Einbildungskräfte. Welchen Zusammenhängen eignet eine Empirie, die als Erfahrungswissen ausreicht, welche Bereiche bedürfen einer universalistischen und nominalistischen oder nominellen Festlegung? – das ist die zunächst orientierende Frage. Die Definitionen sind nämlich immer mit Kontrollmethoden der Anwendung von wissenschaftstheoretisch generalisierbaren Verfahren verbunden. Im Gebiet der Mathematik beispielsweise besteht die Kontrolle in der Anwendung logischer Verfahren, in den empirischen Wissenschaften dagegen in einer Überprüfung der gemachten Beobachtungen und Experimente. Formallogische Kriterien sind niemals hinreichend für die Feststellung des Wahrheitswertes von Aussagen. Aus philosophischen Wirklichkeitsbehauptungen oder universalen ,Wahrheitswerten‘ lassen sich keine Voraussagen für die Zukunft ableiten, so dass auch empirische Kriterien halt- und gegenstandslos werden. Man kann generell sagen, dass der Wert der philosophischen Wahrheitsbehauptung nicht in der ontolo gischen Erhärtung von Existenzaussagen liegt, sondern in der durch skeptische Er fahrung motivierten Selbstbescheidung eines höchst spekulativen Tuns. In der Philosophie kann nämlich – mit guten Gründen – nicht zwischen Phantasievorstellungen und echten Erkenntnissen – prinzipiell und hinreichend – unterschieden werden.27 Die entscheidende epistemologische Frage ist, ob den in Definitionen verwendeten Kate gorien noch eine universale substanzielle Bedeutung zukommt. Wenn alles aus der Erfahrung herrührt, dann müsste die seit den Tagen von Hume und Locke unbefriedigende Definitionsarbeit des Sensualismus endlich entscheidend verbessert werden können. Schon Leibniz hatte gegen einen solchen und jeden Sensualismus eingewandt, dass gewiss alles aus der Sinnlichkeit komme – nur das Denken und der Verstand nicht. Der skeptische Einwand gegen die Tatsache, dass Philosophie für ihre Spekulationen keine epistemologisch stichhaltige Erhärtung beizubringen vermöge, hat eine lange Tradition, die man mit den Stichworten ,Agnostizismus‘, ,Relativismus‘ oder auch ,Sophismus‘ kennzeichnet. Aber erst der moderne Empirismus, so der bedeutende Wissenschaftstheoretiker Wolfgang Stegmüller, leugne nicht nur wie die bisherigen Einwände die objektive Kontrollierbarkeit der metaphysischen Aussagen, sondern kritisiere bereits die metaphysischen Begriffe und die von metaphysischen Positionen verwendeten Namen und Prädikate. Auch Rudolf Carnap ist ein Exponent der Auffassung, dass diese Positionen die üblicherweise gebotene intersubjektiv wirksame Bedeutung solcher Ausdrücke in hinreichender Klarheit anzugeben vermöchten. Das Postulat des modernen Empirismus kann demnach so formuliert werden: Wenn nicht formale Begriffe der Logik und Mathematik verwendet werden, müssen die in den Wissenschaften verwendeten Begriffe empirische Begriffe sein. Was nicht loTheorie durch Theoriemangel
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gisch begründbar ist, kann einen analogen Anspruch nur haben, wenn es sich erfahrungsmäßig bewährt. In diesem Falle sind logische Begründungen verzichtbar. Das Problem der hier verhandelten Substitution von idealer und Alltagssprache kann plastisch mit einer Passage aus dem postum erschienen Roman ,Die nabellose Welt‘ des Literaturwissenschaftlers, Komparatisten und Romanisten Werner Krauss exponiert werden. Es geht dabei um die Schilderung der Sprache einer exterrestrischen Kultur, die von den Bewohnern des Sternes Hasdrubal gesprochen wird, zwecks Unterscheidung von der menschlichen Sprache, um deren Eigenheiten es in unserem Zusammenhang geht: „Hasdrubalianisch war (...) eine durch und durch grammatikalisierte Sprache. Die ganze Reihe der reproduzierbaren Laute stand im Dienst einer bis ins letzte durchgearbeiteten Syntax. Offenbar war es möglich, in dieser Sprache die feinsten Untertöne des Gedankens zu notieren. Das System der Modi war besonders reich entwickelt. Durch dreimaliges scharfes Räuspern wurden Imperativsätze angespitzt. Das aus vollem Hals hervorgestoßene Keuchen und Ächzen diente der Verneinung der nachfolgenden Wort- und Satzgebilde (...) Diese Sprache war in scharfen und unverwischbaren Konturen gegen den ganzen Bereich des außer-sprachlichen Daseins abgegrenzt – im krassen Gegensatz zur Menschensprache, die ihr geöffnetes System in unwägbare Gebärden bis zur Ankündigung des Vomitierens und anderer physischer Prozesse fortsetzt. Während die Menschheitssprache sich in den letzten Jahrtausenden immer mehr verkürzte und zusammendrängte zu einem bloßen System von Anzeigen und Hinweisen, zur bloßen Instrumentierung von sachlich relevanten Situationen, verlief die Sprachbewegung der Hasdrubalianer in einem geistigen Raum, in dem die Gegenständlichkeit vollkommen reproduziert werden konnte. Diese Sprache bedurfte keiner Anlehnung an die besprochene Sachwelt. Im Gegensatz wiederum zur Menschensprache, die niemand richtig verstehen und erlernen kann, der an der menschlichen Praxis keinen Anteil besitzt.“28 Offensichtlich, wie sich noch deutlicher zeigen wird, ist Rudolf Carnap als ein Hasdrubalianer anzusehen: Als ein Fortschreiten auf der Stufenleiter des Fortschritts nach oben haben er und seine Gesinnungsgenossen die Entwicklung einer formalisierten Sprache in genau diesem Sinne sich immer vorgestellt. Rudolf Carnap gehörte also zu denjenigen Vertretern des modernen Empirismus, die der Auffassung waren, dass aus diesen Gründen die Sprache des Alltags durch formalisierte Sprachsysteme zu ersetzen sei. Die Alltagssprache sei hoffnungslos mit nichttrivialen Vagheiten, Mehrdeutigkeiten, Ambivalenzen dergestalt durchsetzt, dass logische und wissenschaftstheoretische Untersuchungen sowie definitorische Klärungen nicht an die gewöhnliche Sprache anknüpfen könnten, sondern nur an formalisierbare Sprachen. Diese Auffassung kann ein Künstler oder Designer, der in vielfältiger Weise auf seine Praktiken und Theoreme reflektiert, nicht teilen, auch und gerade für die philosophischen Möglichkeiten der Künste (wiederum: unter Einschluss von Design) nicht. So wie die Empiristen die Notwendigkeit einer klaren Trennung von Wissenschaft auf der einen, Kunst und Religion auf der anderen Seite für unverzichtbar hielten, so ist für 30 I Hans Ulrich Reck
Künste ein Verfahren typisch, das nicht an ableitbaren Aussagen zu messen ist. An die Stelle einer ,Privatheit‘ der metaphysischen Erlebnisse hat zu treten ein Ensemble von poetisch kommunizierenden Praktiken. Sie zeigen sich in Gestalt einer Irritation am Neuen, betreffen die Intuitivität des Erstaunens, lassen artifizielle Kontexte aufscheinen, deren Verstehen nicht auf Konventionalisierbarkeit beruhen. Die idealsprachliche Mystifikation von Wahrheit wird in ihrem eigenen System paradox und erweist sich als verunreinigt durch Alltagskultur. Das belegt das Scheitern der Carnapschen Idealutopie. Da Künste (und Design) eine intime Nähe zur Lebenswelt, zu Alltäglichkeit und diversen, undeutlichen oder verunreinigten ,Weisen des Sprechens‘ haben, erweisen sie sich als wesentliche Agenten einer metatheoretischen Einsicht in den bestimmenden Mechanismus gestalterisch-spekulativer Theoriebildung: der Konstruktion einer Theorie aus Theoriemangel, die ihren Bedarf an eigenem Tun oder eben den Mangel an Auflösung weiterhin perpetuiert. Theorie in Design und Kunst ist also stets abhängig von der Figur eines Mangels, der strukturell – und auch strukturalistisch – betrachtet werden kann. Deshalb bezieht jede Designtheorie immer Anleihen aus anderen Gebieten ein: Hermeneutik, Systemtheorie, kritische Theorie, Konstruktivismus, Semiotik, aber auch Philosophie generell. Weiter wäre insbesondere ihre Transformation in Psychoanalyse und Meta-Psychologie als eine Möglichkeit zu prüfen.29 Aber wie auch immer man die Sachlage, die Re-Integrationen systemischer Umgebungen – hier: externer Theoriemodelle von Hermeneutik bis Meta-Psychologie – in ein internes Modell und seine Struktur betrachtet: Die zentrale Eigenheit einer avancierten Theorie der Künste inklusive des Designs besteht in der Reflexion auf den spezifischen Mangel, den solche Theorie nicht nur als ihre Grundlage hat, sondern den sie gerade dann stetig und weiterhin erzeugt, wenn sie gelingt. Das ist eine Typik und Eigenheit dieser Sphäre: Gelingende Theorie vollzieht sich durch Mangel und radikalisiert diesen, setzt ihn in je anderer Weise und weiterhin frei. Man sollte das nicht vorschnell in die eingeschliffene Mechanik der Paradoxien (zurück-)übersetzen, um sie nach und nach zur entfalteten Inszenierung ihrer widerstreitenden und widerstrebenden Momente zu bewegen, sondern sollte sie intrinsisch bewahren als dieses Paradoxe am Paradoxen selbst – ohne Synthesen, Auflösungen und Beruhigungen durch inszenierte Erschöpfung der Antriebsdynamik. Der nachfolgende Exkurs zum Topos einer Theorie aus und durch Theoriemangel weitet die Argumentation in einer essayistischen Weise aus, um die Epistemologie der reflexiven Kritik durch die spekulativen Erfahrungen eines ,kontaminierten Sprechens und Wissens‘ zu ergänzen. Dabei ist hier, immer im Verweis auf unauflösliche Einheit, vorrangig von ,Design‘ die Rede. Stets sind hier aber auch die ,anderen Künste‘ mitgemeint. Mit der Selbstwahrnehmung eines solchen Sprechens verbunden ist das Zugeständnis der konstitutiven Rolle des Fiktionalen für den Prozess eines poetischen Entwerfens und damit eines konstruierenden praktischen Verstehens, das mit seiner radikalisierten Skepsis das Erbe der Utopie antritt – an deren genuinem Platz und ohne diese zu verraten (wobei die abstrakte Feier des Utopischen ebenfalls schon ein Verrat an der Utopie wäre). Theorie durch Theoriemangel
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Einige Aspekte zu ,Theorie durch Theoriemangel‘ – am Beispiel des Designs und seiner möglichen Theorie Gelingendes Design erscheint oft als Gegensatz, gar als Aufhebung des Reflektierens. Das, was gemeinhin ,stimmig‘ heißt, erfüllt vordergründig und wie selbstverständlich die Kriterien, die dem prozedierenden Modell erst Schritt für Schritt und in stetiger Prüfung seiner eigenen Ausdruckslogik zu entspringen hätten. Das Singuläre versteht sich, verzaubert im Gelingen, fixiert auf sein Versprechen, gerne als Modell, das seine Dichte über Exklusionen behauptet. Der Diskurs des Designs ist immer ein Traum vom Singulären, vom befreienden, evidenten Meisterwerk gewesen – und sei es eines für die Massen. Die Seltenheit dieses alle theoretischen Vorgaben einlösenden singulären Momentes kompensiert der Diskurs mit den Ritualen einer Pädagogik des Mittelmaßes, zu dessen geistiger Bewältigung man einen double-bind einbaut. Zulässig ist das Mittelmäßige nur als transitorischer Zustand, als ein vorläufig nicht zu überbietender Höhe- oder Endpunkt. Von unten betrachtet: eine stetige Verbesserung durch ständige Annäherung ans Ziel. Von oben betrachtet: ein Normkonflikt, weil der Theoriediskurs des Designs sich imprägniert hat gegen das Verwerfliche des ,nur‘ Schönen, den Reiz des Gefälligen, das Dekor der Oberfläche, die Halbheiten des schmeichelnden Nicht-Unbedingten. Aus dieser Sicht kann nur die Einlösung optimaler Werte als Gegenstand von Designtheorie generell gelten. Nun ist allerdings oft bloß historisch bedingte Schönheit entstanden, wo es um die Unbedingtheit des Wahren zunächst zu tun war. Wie kommt das? Immer wieder stößt der Traum von einer geordneten Welt an eine Divergenz von Moral und Technik, die den Traum erst in Gang bringt. Der Gestaltertraum z. B. von der unbedingten Wahrheit der Funktionen, die als unverfälscht geronnene Formen erscheinen, um dauerhaft und unbeirrt von dieser Wahrheit zu künden, verdankt sich dem Gefühl des Ungenügens, das die technischen Mittel wegen ihrer Abspaltung von einer Moralität an sich haben, welche die Welt als komplex, undurchschaubar, kontingent versteht. Der Verdacht, dass das Reale und seine symbolische Durchdringung weniger miteinander zu tun haben, als die Vision einer technisch-moralisch kontrollierten Welt verspricht, dieser Verdacht wendet sich deshalb mit Vehemenz gegen vermeintliche Defizite, zuletzt und insgesamt gegen das Ungenügen der Welt im Hinblick auf die höheren Funktionen einer geläuterten Moral. Denn nur so scheint er dem unerbittlichen Zwang zur Zustimmung zu einer chaotischen und unbändigbaren, unterstrukturierten und insignifikanten Welt entgehen zu können: als stetige Überbietung seiner selbst im Namen des Unbedingten. Diese Evidenzbehauptung verwandelt das noch in der Euphorie zuletzt technikskeptische Selbsterfahrungspotential des planenden Menschen in eine Waffe des moralisch aufgerüsteten Subjekts. Die Kluft schließt sich wieder, indem Moral aus solcher Sicht, die oft die Autorität des Lehrers reklamiert, zu einer Bewährprobe des Technischen gemacht wird. Jede Auslegung von Gedanken bedingt ihre Vergegenständlichung. Die gestalterische Reflexion beginnt bei der Beobachtung der genuin eigenen Formmuster. Undenk32 I Hans Ulrich Reck
bar, dass eine ausdrückliche Vorstellung nicht theoretische Implikationen hätte. Theorie ist deshalb ein Name für die Beförderung der Wahrnehmung der eigenen Stilismen und Tricks, jener Angewöhnung von Überzeugungen, die gerade wegen der Fixierung auf das Singuläre nichts wiedergeben als bildtechnisch aufgerüstete moralische Überzeugungen mit selbstmissionierendem Effekt. Theoretische Erkundungen im Feld der Künste sind, entgegen dem wohl unüberwindbaren historischen Missverständnis, keine apriorischen Philosophien, sondern entwickeln sich aus relativ pragmatischen Bearbeitungen praktisch erfahrener Stolpersteine. Das folgt einem Konzept von Theorie, das um die Komplexität des vermeintlich Nebensächlichen und die Einfachheit der großen, übergreifenden Konzepte weiß, die deshalb so einfach sind, weil in ihnen die Welt als das definiert wird, was sie dem Konzept gemäß zu sein hat. Wohlgemerkt: Das ist kein Plädoyer für methodologische Pragmatik oder gar das so genannte Konkrete, das sich ja meistens als das vom Abstrakten Diktierte, als vom Anderen Losgelöste herausstellt. Gestalterische Theorien bedingen die Durcharbeitung der Vermittlungsformen, in denen jedes Design überhaupt erst zu dem wird, was es verspricht, leisten zu können – wenn man es lässt. Dieser Zugriff ist dezidiert durch die kognitive Schematisierung erzwungen, welche ,Praxis‘ heißt. Im Unterschied zu einer Theorie, die moralische Ideologie meint, selbstbeweisende Geste subjektiver Weltverfügung, zwingt sich diese Theorie der Wahrnehmung der eigenen Praxis auf. Deshalb beginnt gestalterische Theorie immer wieder am Nullpunkt: Der erfahrene Theoriemangel ist das bewegende Moment der Theorie, die Nuancierung und Momentanisierung eines Vakuums, das sich der Theorie einschreibt. Designtheorie ist demnach unterschieden von rekonstruktiver Reflexion, aber auch von instrumenteller Durchsetzung moralisch festgesetzter ästhetischer Manipulationen. Es ist von einer geradezu erschlagenden Offensichtlichkeit, dass Designtheorie ihr bewegendes Moment in den die praktische Handlung anleitenden Modellen und nicht im Feld der ,Haltungen‘ hat. Theorie ist, da jene Modelle meist implizit wirken, ein Forum der Explikation. Da die Darstellungsmittel der Explikation naturgemäß mit denjenigen der impliziten Modelle verbunden sind, entspricht die gestalterische Reflexion vom Theorietypus her am ehesten einer medientheoretischen Kriterienerörterung, nicht aber dem weltbürgerlichen Philosophieren. Was immer man von einem solchen Support für ein so genanntes allgemeines Menschenbild erwarten mag: Das faktisch bewegende Moment der Theorie ist der durch Design selbst erzeugte Widerstand, ein Problem, das der mediale Prozess dem praktischen als Entzug jeweiliger Lösungs absichten aufzwingt. Es mag für jede von den Globalvisionen einer ethisch-ästhetischen Designutopie imprägnierte Künstler- und Gestalterseele schmerzhaft, gewiss aber narzisstisch kränkend sein, dass Design als Illusionen konfigurierende Singularität reinen Gelingens jede Theorie bereits eingelöst hat, weil der Problemwiderstand, die Reibungsfläche des Stofflichen verschwunden sind. Erst recht – dies ist nicht schwer zu verstehen – möchte der Theorie durch Theoriemangel
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habituell kanonisierte Stolz auf den Vorsprung des geschlossenen Stilrepertoires pochen, durch das eine vorab veredelt-veredelnde Sicht dem Nullpunkt auferzwungener Theorie zu entgehen vermöge. Designtheorie ist eine Theorie des Theoriemangels. Ihre wirkliche Notwendigkeit hat Theorie nämlich genau dann, wenn sie kein technisches Rüstzeug bereitzustellen hat. Wäre es nicht um die Durchdringung der Gründe, Motive und Effekte eines Ungenügens zu tun, Theorie wäre der reine Reflex einer vollkommen instrumentalisierten Welt. Die Identifikation eines Vagen steht am Anfang des Design-Theorie-Prozesses, der eine reflexive Dimension des Praktischen, Medium intensivierter Selbstbeobachtung ist. Die aus solcher Problembestimmung des Praktischen hervorgehende Selbstwahrnehmung der Widerstände bezeichnet präzise das Medium von Theorie als ein ästhetisches Vermögen. Ästhetisch ist die Bezugnahme auf eine Theorie des Theoriemangels gerade wegen des erfahrenen Zwangs zur Schärfung der Mittel, ein Problem zu durchdringen, um es zu transformieren. Erst in der Transformation wird ein Weg der Durchdringung eröffnet. Nur am vitalen, intensiven und brisanten Material der Vergegenständlichung eigener Bilder und Symbole erweist sich die Theorie als das Medium des Notwendigen, als ein Dazwischen-Stehen des Unvermeidlichen im Möglichen, das Design schlechthin als Entwurf auszeichnet. Was existiert, unterliegt dem Zwang zur Existenzbehauptung auf der Ebene der Begriffe. Die Sprache selber ist das wesentliche Verdinglichungsmedium, das aus der qualitativen Bestimmung des So-Seins eine Existenzbehauptung im Sinne einer Ontologie des Da-Seins macht. Ästhetische Theorie hat es vorwiegend mit eingrenzbaren Phänomenen des Fiktionalen zu tun. Kann etwas Nicht-Existierendes doch existieren, wie ist der Modus seines Existierens zu denken? Ist das festgestellte ,nicht‘– Ausdruck eines Nicht-Da-Seins, das anderes ist als das Dasein eines ,Nichts‘ – doch ein bedeutungstragendes Etwas, mindestens eine Spur des Gegebenen im Entwurf mentaler Objekte? Kann man sich mentale Gegenstände denken, deren Wirkliches einzig ihre Bezeichnung ist, was gewiss beim Feststellen eines Fiktiven ganz ohne Schwierigkeiten zur Anerkennung dessen führt, was da sein muss, damit die Feststellung einer Bezeichnung des Fiktiven, dessen also, was nicht da ist, Sinn ergibt oder allenfalls auch erzeugt? Verhält es sich vielleicht nicht eher so, dass ,Welt‘ ein Gefäß ist für die Bezeichnung von Relationen, nicht eine Sammlung von Objekten, Dingen, Stoffen? Wer beispielsweise wirkliche Menschen im Unterschied zu fiktiven für wirklich hält, der wird wohl unter Existenz nichts anderes verstehen als Konsistenz, d. h. eine eindeutig zuschreibbare, spekulative und im Übrigen eine angesichts lebenspraktischer Verwicklungen, die aus dergleichen Annahmen hervorzugehen pflegen, äußerst riskante Fiktion. Über solche Beispiele hinaus bleibt, genereller, zu vermuten, dass für das Subjekt einer Erkenntnis zwischen dem ontologischen Druck allgemein akzeptierter Bedeutungen und dem wirklichen Gehalt der Repräsentation eines Etwas im mentalen Apparat nicht strikt unterschieden werden kann. Dann aber ist nicht allein jeder kognitive Prozess auf die Herausbildung eines Kommunikationsmediums angewiesen, sondern jede
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vermeintlich evidente Wahrheit erweist sich als Realitätsbehauptung innerhalb einer der Kommunikation ausgesetzten Kette von Interpretationen. Vielleicht, ja wahrscheinlich gibt es mehr Dinge, die nicht existieren, als Dinge, die existieren. In jedem Bezeichnen, das sich nicht aus Konditionierungen ergibt, beinhaltet der Widerstand des Materials einen Überschuss des Möglichen über das Wirkliche. Was als Deutung durch Design erscheint, ist also mitnichten Praxis, sondern eine Metaphorisierung des Bezeichnens, eine virtualisierende Problemidentifikation. Ästhetik als Theorie des Theoriemangels bedeutet: Theoriemangel ist der fiktiv erschlossene Sachverhalt des Möglichen. Dieser Prozess einer realitätshaltigen Untersuchung des Virtuellen ist das genuine Arbeitsfeld künstlerischer und gestalterischer Theorie, einer spekulativen Heuristik, einer heuristischen Spekulation. Es gibt also niemals eine zweite, ,eigentliche‘ Welt hinter den Zeichen und Bildern. Denn deren Möglichkeiten haben es immer schon mit dem Realen von Wirklichkeiten zu tun.
Epilog: Gestaltung und Gemeinsinn Gestaltung hat aus sich heraus diese Fähigkeit zur Virtualisierung im Bewusstsein von der Notwendigkeit der Fiktionen zu beweisen. Das geht nur, wenn sie den konstruktiven Zwängen des Heterogenen und Lebensbezogenen gerecht wird. Gestaltung wie ihre Intention sind immer relational und deshalb, linguistisch formuliert, mit der Struktur von Kommunikation und dem, wie erörtert, problematisch Allgemeinen eines vitalen Gemeinsinns vergleichbar. Es ist nämlich trotz aller Generalisierungsbehauptung, besonders durch eine universalpragmatische Sprachdoktrin, nicht so, dass der Sinn einheitlich wäre oder seine Verschiedenartigkeit immer nur unterschiedliche Mentalitäten und nicht auch auseinanderfallende semantische Objekte bezeichnen. Der Sinn kann synonym oder homonym wirken. Und zwar sowohl auf sich selbst wie auch auf die Rezipienten, Autoren, mögliche ,Subjekte‘. Nur wenn man diese fließende Relationierung durch Aufforderungen einer je aktualen Pointierung von Gestaltung, ihrer Absicht, Wirkung, Gebrauchsweise und Objekte, überhöht und sie dem Dispersen zu entreißen trachtet, indem man sie einer Unbedingtheit oder Matrix einschreibt, entstehen die üblichen Verirrungen und Suggestionen: Das Sublime, das Schöne, der Sinn. Realismus, Subjektivismus, Ästhetizismus, Formalismus sind dann weniger Ausdruckskategorien als vielmehr Epiphänomene und Kompensationsfiguren einer wild wuchernden, ungezügelten und unfassbaren (ungeordneten, dispersen) Realität nicht mehr kategorisierbarer Gestaltungsvorgänge. Nach gestalterisch prozessual errungenem intimen Wissen sind deshalb die Intention auf Innovativität wie diese selbst nicht Kennzeichen von Gestaltung, sondern Produkte eines Prozesses, die sich ganz im Nebenbei ergeben und die weder eine strukturelle noch eine paradigmatische Erörterung verdienen. „Die Intention der permanenten Steigerung und Superlative verkennt die Funktion und Praxis von Gestaltung allemal und fundamental. Die Gestaltung ist ein pragmatischer Anlass. Das heißt andererseits Theorie durch Theoriemangel
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aber nicht, dass darin sich auch ihre Wesenheit erschöpft, sondern dass sich die Gestaltungsintention ihrer kommunikativen Essentialität bewusst sein muss und dort ihr Handeln begründet (...) Klar wird jetzt: Gestaltung ist ,Reden‘, nicht ,Grammatik‘; ihre Beschaffenheit vermittelt öffentliche Betreffnisse und nicht sich selbst. (...) Die Akte ihrer Wirklichkeit sind aber der individuellen Intention integral. Eben dort, in der einschlägigen Auseinandersetzung mit den lebensweltlichen Problemen und deren Vermittlung, findet diese Anlass, Intuition, Furor und Ergebnis.“30 Das bezeichnet den Kern einer Auffassung, die Kunst, visuelle Kommunikation und Bildrhetorik nicht mehr sektoriell qualifiziert oder in Code-Hierarchien gliedert, eben: spekulative Heuristik durch realisierte Theorie existenziell wahrgenommenen Theoriemangels.
Anmerkungen 1 Vgl. weiterführend: Hans Zitko: Kunstwelt. Mediale und systemische Konstellationen, Hamburg 2012. 2 Vgl. Richard Sennett: Handwerk, Berlin 2008. 3 Vgl. Hans Ulrich Reck: Index Kreativität, Köln 2007, S. 272–286, bes. S. 278 ff.; vgl. auch Felix Philipp Ingold: Der Autor am Werk. Versuche über literarische Kreativität, München/Wien 1992; ders.: Im Namen des Autors. Arbeiten für die Kunst und Literatur, München 2004. 4 Zur systematischen Entfaltung des Stellenwerts impliziter gestalterischer Theoriepotentiale, die den Praktiken und der Poetik der Kunst selber als Theorie innewohnen, sie weder konstituieren noch ,optimieren‘, vgl. Hans Ulrich Reck: Kunst als Medientheorie. Vom Zeichen zur Handlung, München 2003. 5 Vgl. Ernst Kris: Psychoanalytic Explorations in Art, New York 1967, S. 41 ff.; vgl. auch Hans Ulrich Reck: Index Kreativität, a. a. O. (Anm. 3), S. 154–189. 6 Vgl. Hans Ulrich Reck: Polylog über Ästhetik – Metatheorie, Eurozentrismus und zeitgenössischer Horizont, in: Ins Offene – Gegenwart: Ästhetik: Theorie, hrsg. v. Jörg Huber/Elke Bippus u. a., Magazin ’31. Das Magazin des Instituts für Theorie, Hochschule der Künste Zürich, Nº 18/19, Zürich 2012, S. 27–39. 7 Vgl. Heiner Mühlmann: Die Natur der Kulturen. Entwurf einer kulturgenetischen Theorie, Wien/ New York 1996; ders.: Aesthetische Theorie der Renaissance, Leon Battista Alberti, 2. überarb. Aufl., Bochum 2005. 8 Vgl. Nikolaus Pevsner: Die Geschichte der Kunstakademien, München 1986, S. 29 f. 9 Ebda. S. 184. 10 Vgl. Wladyslaw Tatarkiewicz: Das Schöpferische: Geschichte des Begriffs, in: ders., Geschichte der sechs Begriffe Kunst – Schönheit – Form – Kreativität – Mimesis – Ästhetisches Erleben, Frankfurt/M. 2003, S. 356–385, hier S. 378 f. 11 Vgl. hierzu Victor I. Stoichita/Anna Maria Coderch: Goya. Der letzte Karneval, München 2006, S. 91 f. 12 Vgl. die Belege und Ausführungen bei Nikolaus Pevsner: Die Geschichte der Kunstakademien, a. a. O. (s. Anm. 8), S. 17 ff. 13 Hans Ulrich Reck: Disegno und die Zeichen künstlerischer Kreativität. Kulturgeschichtliche Betrachtung zur europäischen Künstlerausbildung, in: Ders.: Spiel Form Künste. Zu einer Kunstgeschichte des Improvisierens, hrsg. v. Bernd Ternes, Hamburg 2010, S. 277–327; Wolfgang Kemp:
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„Disegno. Beiträge zur Geschichte des Begriffs zwischen 1547 und 1607“, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft, Bd. 19, Marburg (Lahn): Univ., Kunstgeschichtl. Seminar 1974. Giorgio Vasari: Le vite dei più eccellenti architetti, pittori et scultori italiani, da Cimabue insino a’ tempi nostri, neue kritische Gesamtausgabe hrsg. v. P. Della Pergola u. a., 9 Bde., Milano 1962– 1966, deutsche Ausgabe: Leben der ausgezeichnetsten Maler, Bildhauer und Baumeister von Cimabue bis zum Jahre 1567, neu hrsg., übers. u. eingel. von Julian Kliemann/Ludwig Schorn/ Ernst Förster, Nachdr. d. ersten dt. Gesamtausgabe Stuttgart u. Tübingen 1832–1849, Worms: Werner, 1983–1988, Bd. 1–6; zit. n. Hans Ulrich Reck: Disegno als Zeichen für künstlerische Kreativität, a. a. O. (s. Anm. 13), S. 290 f.; zur Rhetorik und künstlerischen Figur der kreierenden Linie an einem zeitgenössischen Fallbeispiel vgl. Hans Ulrich Reck: Singularität und Sittlichkeit. Die Kunst Aldo Walkers in bildrhetorischer und medienphilosophischer Perspektive, Würzburg 2004, S. 75–92. Das im Zeichen einer naturgegebenen, angeborenen, vor allem aber ,unverstellten‘ Genialität des souverän entwerfenden Künstlers und seiner perfekten Mimesis an das Unlernbare auf die mystifizierten Anfangsgründe des modernen Künstlergenies verweist, vgl. hierzu: Ernst Kris/Otto Kurz: Otto, Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch (1934), Frankfurt/M. 1980. Vgl. Gustav René Hocke: Die Welt als Labyrinth. Manierismus in der europäischen Kunst und Literatur, Reinbek 1987, S. 66 f. Vgl. den Eintrag zu ,Experiment und Beobachtung‘ in: Michel Serres/Nalya Farouki (Hrsg.): Thesaurus der exakten Wissenschaften, Frankfurt/M. 2001, S. 252–256.
18 Vgl. Hans Ulrich Reck: Singularität und Sittlichkeit, a. a. O. (s. Anm. 14), S. 92–124. Vgl. Michel Serres/Nalya Farouki (Hrsg.): Thesaurus der exakten Wissenschaften, a. a. O. (s. Anm. 17), S. 262 f. Vgl. Michael Erlhoff/Tim Marshall (Hrsg.): Wörterbuch Design. Begriffliche Perspektiven des Design, Basel 2007. Vgl. Hans Ulrich Reck: Singularität und Sittlichkeit, a. a. O. (s. Anm. 14). Ich vermerke hier dankend den einschlägigen Hinweis von Michael Erlhoff auf die 2010 an der philosophischen Fakultät der Universität Bonn eingereichte Magisterarbeit von Arne Willé zum Thema der intersubjektiven Dimension der Kritik der Urteilskraft. Zu diesem problemerörternden Kontext gehören auch Ludwig Jägers Überlegungen zur transkriptiven Semantik bei und nach Kant; vgl. als Vorarbeiten: Ludwig Jäger: Bezugnahmepraktiken. Skizze zur operativen Logik der Mediensemantik, in: Ludwig Jäger/Gisela Fehrmann/Meike Adam (Hrsg.): Medienbewegungen. Praktiken der Bezugnahme, München 2012, S. 13–41; ders.: Transkription – Überlegungen zu einem interdisziplinären Forschungskonzept, in: Rolf Kailuweit/Stefan Pfänder/Dirk Vetter (Hrsg.): Migration und Transkription – Frankreich, Europa, Lateinamerika, Berlin 2011, S. 15–36; ders.: Intermedialität – Intramedialität – Transkriptivität. Überlegungen zu einigen Prinzipien der kulturellen Semiosis, in: Arnulf Deppermann/Angelika Linke (Hrsg.): Sprache intermedial: Stimme und Schrift – Bild und Ton. Jahrbuch des Instituts für Deutsche Sprache 2009, Berlin/New York 2010, S. 301–324. Vgl. hierzu: Robert Trautwein: Geschichte der Kunstbetrachtung. Von der Norm zur Freiheit des Blicks, Köln 1997; Rainer Wick: Bauhaus-Pädagogik, Köln 1982. Vgl. Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt (1928), Frankfurt/M. 1979. Vgl. Nelson Goodman: Weisen der Welterzeugung, Frankfurt/M. 1984; ders.: Vom Denken und anderen Dingen, Frankfurt/M. 1987; ders./Catherine Z. Elgin: Revisionen. Philosophie und andere Künste und Wissenschaften, Frankfurt/M. 1989; ders./Willard V. Quine: Steps toward a Constructive Nominalism. in: Journal of Symbolic Logic 12/1947, S. 105 ff.; vgl. auch Thomas S. Kuhn: Die Entstehung des Neuen. Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt/M. 1976.
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27 So Wolfgang Stegmüller: Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie. Eine kritische Einführung, Bd. I, 6. Aufl., Stuttgart 1987, S. 353. Im Folgenden wird bei Paraphrasierungen von Stegmüllers Thesen aus dem genannten Buch auf Seitenverweise verzichtet. 28 Werner Krauss: Die nabellose Welt, hrsg. von Elisabeth Fillmann und Karlheinz Barck, Berlin 2001. 29 Was aus entsprechend adaptierenden Erörterungen zu Verschiebung, Verdichtung und kulturellen Symbolisierungen mittels der Traumtechniken allgemein zu gewinnen sein könnte; vgl. Hans Ulrich Reck: Traum. Enzyklopädie, München 2010, bes. S. 84 ff., 105 ff., 117 ff., 179 ff., 183 ff., 686 ff. 30 Aldo Walker: Innovation und Intuition, in: Euphorie und Elend. Visuelle Gestaltung, Verlag des Museums für Gestaltung Zürich 1992, S. 88; vgl. zur Physiognomik besonders des entfesselten ,ikarischen‘ Künstlertypus: Felix Philipp Ingold: Der Autor am Werk, a. a. O. (s. Anm. 3); ders.: Im Namen des Autors. Arbeiten für die Kunst und Literatur, München 2004.
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Manfred Faßler
Sicht ohne Beweise 1. Die Produktivkraft Sehen: entwerfen, beitragen, teilen 1.1. Die Pragmatik des Unsichtbaren Idee dieses Beitrags ist es, näher an komplex zusammengesetztes Gestalten heranzukommen. Wir kennen alle Vorhaben wie ‚digitales Entwerfen‘, ‚Objektplanung‘, ‚gegenständ liches Entwerfen‘ oder ‚gebrauchsorientierte Gestaltung‘. Keines steht für sich allein: In jedem Prozess hat man es mit Bleistift, Papier, guter oder schlechter Laune, guter Vorbereitung, langsamem CAD-Programm, schnellen Netzwerkverbindungen, Modellwerkstätten, Modelldenken, übersehener Konkurrenz, online-Büros zu tun. Das ist nicht alles, reicht aber, um nicht nur viele Sinne und viele Medien mitzudenken, sondern auch Multimodalität von Gestalten und Entwerfen anzusprechen. Innerhalb dieser Zusammensetzung des gestaltenden Tuns betrachte ich Sichtbares, das immer Sichtbargemachtes ist. Und auch hierfür gilt, dass es zusammengesetzt ist aus Wahrnehmung, Handwerk, Bewertung, visuellen Operationsketten, Konventionen, Markt und digitalen Programmen. Geläufig ist die Rede von immaterieller Arbeit, visuellem Wissen, Aufmerksamkeitsökonomien (G. Franke). Ergänzt wird dies von Konzepten digitaler Produkte, wie Texte, Bilder, Sounds, Videos – eingefasst in den verschiedensten Portalen. Visualisierung ist Arbeitsauftrag von Informatikern und Zauberwort des Marketings. Allerdings ist dies keine exklusive Berufsangelegenheit mehr. Tchibo-Ideas, die Dell-Plattform Idea Storm, der T-Shirt Vertreiber Spreadshirt mit Open Logo Contest und etliche mehr setzen auf Crowdsourcing. Die Idee ist, die Visualisierungsfähigkeiten von Konsumenten anzusprechen und sie in Fähigkeiten von Usern/Nutzern als Produkt- und Markenentwicklern zu verwandeln. Digitale Netze werden zu Zufallslandschaften für Gestaltungsentscheidungen. User Generated Visualization tritt in Konkurrenz zu Professionalisierung. Will man nicht an den digitalen Produkten hängen bleiben, so muss die Frage gestellt werden: Welche medien-kulturelle Fähigkeit ist durch digitale Medienentwicklung so stark geworden, dass Crowdsourcing zu einer produktiven Ressource hat werden können? Die Antwort, die ich hier vorschlage, lautet: (interaktives) kooperatives Sehen. Ökonomisch werden hierdurch die Sach-, Finanz- und Wissenskapitale durch visuelles Kapital erweitert. Wissenschaftlich stoßen Forschungen in allen Bereichen in die Welten des Unsichtbaren vor (Bio-, Info-, Nano-, Neuro-, Astro-) und erschaffen so einen neuen Wissenstyp: das visualisierte Wissen um die Pragmatik des Unsichtbaren. Medientechnologisch werden die zeitlichen und gegenständlichen Abstände zwischen Idee, Entwurf, materialer Rohfassung und Endmodell radikal verkürzt. Die ZirkulatiSicht ohne Beweise
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onszeiten von Entwurfs-, Korrektur- und Vorschlagshandeln werden in der Vernetzung von Echtzeitereignissen drastisch gesenkt. Mediengeschichtlich bedeuten diese verkürzten Zirkulationszeiten die Schwächung des Expressions-Gestus. Dieser hat viele Vertreter, ausgehend von Expression (E. Cassirer),1 dem Ausschwitzen bei A. LeroiGourhan,2 der Extension, der Exteriorisierung der Sinne (McLuhan) oder im DFGProjekt „Theatralität“ (M. Zenck, T. Becker, R. Woebs). In Medientheorien der letzten 30 Jahre wimmelt es von ‚ex‘-Ausdrücken. Begünstigt wurden diese seit 120 Jahren durch Sendeformate (Radio, Fernsehen) und technisch-apparative Projektionsformate (Cinemascope, Kino), worauf G. Deleuze ausführlich Bezug nahm.3 Die Schwächung des Expressionsgestus wird eingeleitet mit der digital-technologischen Fusion von kooperativer Echtzeit und pragmatischer Unsichtbarkeit. Die Geste, die etwas ‚außerhalb liegt‘, wird global widerrufen: In der Echtzeit der errechneten sichtbaren Welt entsteht eine Art ‚kollektiven Sehens‘, weil Sichtbarkeit für alle Nutzer sofort zugänglich ist. Es ist ubiquitäres Sehen, verbreitet, verstreut, überall technologisch möglich. Dennoch entsteht kein selbstverständliches ‚Innerhalb‘, kein Interiores. Vielmehr haben wir es ab jetzt mit der Zirkulation von Sichtbarem durch Unsichtbares zu tun. Und diese visuelle Zirkulation ist abhängig von Interaktion. „Was sich zeigt“, um einen Buchtitel von Dieter Mersch aus dem Jahr 2002 aufzugreifen, ist das, was in der Mischung verschiedenster technischer und kognitiver Generierungsprogramme sichtbar wird. Wir bekommen durch unser mediales Handeln Neues zu sehen und entwickeln ein neues Sehen. Dieses Bündel tiefgreifender Veränderungen kann ich hier nur andeuten. Aus ihm greife ich eine neue Anthropotechnik heraus: die mediale, anwendungsgebundene Gestaltung des Unsichtbaren.
1.2. Mediamorphes Sehen Dies mag erklären, warum ich mich auf die Produktivkraft Sehen beziehe. Oder klassischer formuliert: auf gestaltendes Sehen. Mir geht es dabei nicht um Bilder (weder um Nachbilder4 noch um Vorbilder5). Im Fokus meiner Betrachtungen steht die Frage: Wie ist interaktives Sehen zwischen Menschen innerhalb digitaler Mediennetze möglich? Und: Wie lässt sich dieses gestalten? Bei ca. 3 Milliarden Menschen, die täglich in diesen Netzen arbeiten, leben, sich bewegen, darstellen, zu Gruppenprozessen beitragen, ist dies keine unerhebliche Frage. Ich werde in den Abschnitten die Forschungsfragen beiseite lassen, die sich um die gesamte visuelle Nutzung digitaler Medien bemühen, also um rückbezügliche (antwortende) Imagination, um rasch veränderte physiologische Reizmuster, um programmierte Visualisierung und interaktive visuelle Steuerung. Ich fasse dies zur Vereinfachung zusammen in dem Terminus der visu-logischen Felder (analog der bio-, physio-, sozio- oder technologischen Zusammenhänge). 40 I Manfred Faßler
In zahlreichen Publikationen zu visueller Intelligenz (Donald D. Hoffman, 2000), zu Bildtheorien (M. Faßler), zum Visualistic Turn statt dem Iconic Turn (Klaus SachsHombach 2009), in Debatten und Arbeiten zu computergenerierten Visualisierungen und Animationen, zu „Total Interface“ (G. Buurman 2003) oder zum Verhältnis von Ästhetik, Handwerk und technogener Sichtbarkeit sind viele wertvolle Facetten zum Sehen vorgelegt worden. Mit dem Thema ‚Produktivkraft Sehen‘ spreche ich Sehen in spezieller Weise an: als komplex zusammengesetzte Fähigkeit, als Produkt, sozialisiertes und ökonomisiertes Wahrnehmungs-Repertoire, als selektive Interaktion, entwerfendes Denken und gestaltendes Handeln. Im ‚gestaltenden Handeln‘ wird schon erkennbar, dass ich Sehen mit ‚etwas sichtbar machen können‘ verbinde und damit keine einmalige und dauerhafte ‚Expression‘ meine, sondern ‚Sichtbares gestalten‘, also beitragendes, partizipierendes Sehen meine. Es wird nicht überraschen, dass ich dies im Zusammenhang mit Peer-toPeer-Entwicklungen in globalen Netzwerken, mit Sharing-Debatten oder Open-SourceProgrammen anspreche. Der Hinweis ist gleichwohl wichtig, um Leseerwartungen nicht in Richtung Kunst oder Ästhetik laufen zu lassen. Sehen ereignet sich, erzeugt sich, kommuniziert sich, lenkt ab, gestaltet u. v. a. m. Angesprochen ist damit denkendes, koordinierendes, gezielt suchendes, sortierendes, beruhigtes und aufgeregtes, kombinierendes, kooperierendes Sehen. Diese breite Aktivierung von Sehen bezieht sich nicht vorrangig auf die zeichenhaften, syntaktischen oder symbolischen Funktionen von Mode, Style, Wagentypen, Nutzungsstandards, ‚situationsentsprechender‘ Bekleidung, formal-ästhetischen architektonischen Details etc., wie sie von Jochen Gros (1983) und von ihm und Dagmar Steffen (2000) als „Offenbacher Ansatz“ formuliert wurden. Meine Arbeitsthese: Digital-mediale Programme haben zu einer weltweit selbstverständlichen Anthropotechnik geführt, die ich als ubiquitäres, echtzeitiges, interaktives Sehen anspreche. Abgelöst von Angesicht zu Angesicht, von visueller Kopplung zwischen Sinn und dinglichem Gegenstand, ist dieses multimodale Sehen Dimension des globalen Visuellen geworden. Dieses Sehen und Visuelle bringt eine neue Ding- und Produktionskategorie in die Welt. In den Design-Initiativen des 20. Jahrhunderts war es unumstritten, dass Gestaltung entweder bereits einen abgeschlossenen materialen Zustand, eine Form betraf, oder zumindest der Entwurf den Weg zur Formgebung beschritt. Die Bereiche der Displays und Screens, auf die ich meine Argumentation beziehe, befinden sich außerhalb dieses abgeschlossenen und gelisteten Funktions- und Formvorrates. Gestaltung nicht abschließbarer Informations-Zustände kommt den Dimensionen einer sich ständig ändernden „Mediamorphosis“ (R. Fidler)6 nahe. Sie löst den virtuellen Gegenstandsbereich von jeder Formkontinuität. Dies betrifft auch das Industrieund Bürokratieideal: die Funktion. Eine sich dauerhaft wiederholende (variationsfreie oder variationsarme) Funktionalität ist allenfalls für Maschinencodes noch zu benenSicht ohne Beweise
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nen. Die Funktionserwartung gegenüber Algorithmen ist die der sich ständig erweiternden Freiheitsgrade, der Variations- und Kooperationsmöglichkeiten, des Hackings. Schauen wir noch kurz etwas genauer auf Funktion, weil dieser Terminus für Design-Gespräche doch so wichtig ist. Funktion war in der Moderne auf ein strikt arbeitsteiliges Situations-, Maschinen-, Institutions- oder Gegenstandsgefüge bezogen. Wiederholung, Repetition, Serie, gleichverlaufende Handlungsabläufe bildeten die Rahmung. Gefestigt wurde dies durch gesetzlich, erzieherisch, symbolisch abgesicherte Symbol- und Zeichenvorräte. Sie machten Funktionsordnungen ‚glaubwürdig‘. Gerade dies wird nicht nur durch die soeben angesprochenen nicht abschließbaren Informationsströme (flows) unterlaufen. Die Vorräte an Abstraktions-, Reaktions- und Aktionsmöglichkeiten werden globalisiert; sie werden weltweit verstreute vorläufige geistige, ästhetische, begriffliche Zustände. Weder ihre Dynamiken noch ihre situativen Funktionen sind gesellschaftlich, kulturell oder professionell ‚einzubinden‘. Über Playstations, Videogames, Computerdisplays, ausgewähltes Screening, Visualisierungen aller Art werden mediamorphe Zustände an Sehen gekoppelt. Sehen erhält eine Universal- und Querschnitts‚funktion‘. Datentechnologische Prozesse ermöglichen es, Sehen überall, für jeden Themenbereich, einzusetzen, ob z. B. für sichtbare Gegenstände oder unsichtbare Dimensionen biochemischer Prozesse, ob für Hubble-Teleskope oder für Netzkontakt mit direkten Nachbarn: Sehen, Visualisierung, Sichtbarkeit werden zum Goldstandard ökonomischer, spielender, forschender, therapeutischer und entwerfender Praxis. Dies möchte ich mit zwei weiteren Thesen erläutern.
1.3. Von Funktion zu variationsreichen Zusammenhängen Die menschlichen Fähigkeiten, visuelle Codierungen zu entwickeln und einzusetzen, sind interaktiv entstanden. Sie gehören in die Bereiche der von Menschen geregelten Verständigung. Mit dem ersten Zeichen entsteht die zweite Welt. Sie ist nur im Zeichen und seiner Bedeutungstaufe sichtbar. Allerdings: Sie ist zweite Welt aus erster Hand, d. h. weder in göttlichem oder metaphysischem Jenseits gemacht. Sie sind weder auf sinnlich-physiologische oder genetische Bedingungen zu reduzieren, noch sind sie mit gestisch-mimischem Ausdruck zu verwechseln. Visuelle Codes werden in und für Zusammenhänge erfunden; es sind bio-kulturelle Codes. Sie reichen von Farbszenerien über Gegenstands-Design bis zu propagandistisch-manipulativen Fälschungen. Dazu gehörte traditionell, Sichtbarkeit symbolisch zu überhöhen. In dieser Ausnahmestellung kann sie herangezogen werden für die Funktionen der visuellen Erklärung, Begründung, der Legalisierung und Legitimierung. In diesen religiösen, politischen, philosophisch-ästhetischen Traditionen ist Visuelles eine Art Lieferant für zusätzliche Informationen, in einer Assistenzfunktion des Textes und der Empirie. 42 I Manfred Faßler
Derzeit wird die Struktur und Bedeutung visueller Codierungen grundlegend umgestaltet. Zunehmend sehen wir uns digital-technologischen Programmen gegenüber, die informationsgebende Verfahren sinnlich nicht erfassbarer Welten sind. Sie als bildgebende Verfahren zu verkaufen, verfälscht die enormen Anstrengungen, Heuristiken des Unsichtbaren zu entwickeln. Zu visualisieren heißt, eine komplexe Beweisfunktion für digitale Unsichtbarkeit zu begründen. Dies betrifft die Kernbereiche gegenwärtiger und vor allem zukünftiger Reproduktionszusammenhänge: also Bio/Info/Nano/Neuro/Astro – BINNA-Technologien. Mit diesen werden die Sinne neu kalibriert. Und die Gründe für neurophysiologische Belohnung verändern sich. Die koevolutionäre Notwendigkeit der Lust an der Erfindung verbindet sich zunehmend mit globalen Virtualisierungs- und Imaginationsbelohnungen. Ganz gleich, wie abstrakt uns das alles vorkommt, alle Dimensionen sind an zwei Erwartungen ausgerichtet: – Wo Unsichtbares und Sichtbares ist, soll visuelle Verständigung sein; – visuelle Verständigung über Unsichtbares soll Gruppenverhalten erzeugen und koordinieren. Im Zentrum der Fähigkeiten, visuelle Zeichen und Regeln ihrer Anwendung zu erzeugen, stehen die Anforderungen, zeiteinheitlich zu kooperieren oder raum-zeitlich versetzt Verhalten zu koordinieren. Darin der Schrift nicht unähnlich, sind mit visuellen Codierungen eigene Regeln von Glaubwürdigkeit, Verlässlichkeit und Erklärungsweisen verbunden – um nur einige Profile anzusprechen. Allerdings: Gemessen an der Zentralität des Gesichtssinns, der visuellen Verständigung und visuell-intelligenten Koordination sind die wissenschaftlichen Untersuchungen über die Koevolution des Vertrauens in Sichtbarkeit rar gesät. Mit dem Blick auf Koordination grenze ich mich von der Anthropologie der Expression ab, die Ernst Cassirer vorlegte und in manchen heutigen Aspekten visueller Anthropologie methodisch aufgenommen ist. Auch folge ich nicht der Bild-Anthropologie, wie sie Hans Belting vorstellte, unbeschadet der interessanten Annahmen.7 Bei diesen Vorgaben wird auch verständlich sein, dass mein Ansatz Distanz zum Bild als kunstgeschichtlichem Gegenstand hält.
1.4. Visualisierung hat mit Bildern wenig zu tun Bestimmend für visuelle Codierungen sind Wahrnehmungs-, Abstraktions- und koordinierende Darstellungsfähigkeiten. Sie stehen immer im Zusammenhang mit Informationsströmen. Visuelle Codes sind, wie angesprochen, Optionen auf kommendes Verhalten. Menschen investieren viel Energie in diese Rohfassungen, um Verlässlichkeit, Zuverlässigkeit, Vertrauen zu erzeugen, aber auch, um wissend miteinander umgehen zu können. Mit diesen visuellen Umgangsweisen setzen Menschen darauf, visuell auswähSicht ohne Beweise
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lende Wahrnehmung wiederholen und verändern zu können. Die Quelle der Koordination ist die Wahrscheinlichkeit, dass andere zumindest in ‚ähnlicher Weise die Dinge sehen‘ wie ich. Grundlage der Wahrscheinlichkeit ist die Erfahrung, dass Menschen sich häufig in bestimmten visuellen Matrizen bewegen, entscheiden, agieren. Diese Seh-Erfahrung ist immer auch Denken und auswählendes Bedenken. Im Zentrum kulturanthropologischer Erforschung visueller Codierungen steht demnach nicht die Singularität des Bildes, sondern die dynamische, koordinierende Wechselwirkung des Visuellen. Mithin muss man u. a. zwischen – physiologischer Wahrnehmungsfähigkeit, – entwickeltem und vorgefundenem Repertoire an visuellen Denk- und Bedeutungsarchiven und – Apparate- oder Sozio-Techniken nicht-visueller Sichtbeweise unterscheiden. Diese kurze Liste zeigt an, dass es eben nicht um die vermeintliche Singularität eines visuellen Gegenstandes geht (nenne man ihn Bild oder Gemälde). Einmalige Ereignisse codieren nichts. Sie sind vielleicht anamnetisch, narrativ oder traumatherapeutisch interessant oder dienen der individuellen Expression. Selbst wenn heute von individuellen sinnlichen Eindrücken gesprochen wird, entstehen diese in dichten visuellen Referenzgefügen von u. a. Fotos, Filmen, audiovisuellen Nachrichten, Zeitungs- und Fernsehmagazinen, digitalen Portalen, Röntgenaufnahmen, visualisierenden Ultraschall-Aufnahmen, CAD-Programmen oder Photoshop. Folglich sind die systemische Erzeugung des Visuellen und die Erzeugung von Systemen durch visuelle Zusammenhänge von Interesse. Und zur systemischen Erzeugung gehören Materie, Menschen, Maschinen und Modelle. Spreche ich von dynamisch koordinierenden Wechselwirkungen des Visuellen, so beziehe ich mich auf Veränderungen, die ich als Kulturevolution oder Ko-Evolution fasse. Beide Termini avancieren langsam zu Lieblingsbegriffen verschiedenster Ansätze und reichen von Niklas Luhmann über Michael Tomasello zu Karl Eibl. Die Theoriebezüge stelle ich hier zurück. Wichtig ist mir der Gedanke, dass es nicht um Evolution der Kultur oder einen heimlichen Fortschritt irgendeiner Kultur geht. Es sind Veränderungen der Selbstregulierungsweise von Zusammenhängen, die ich kulturanthropologisch als Gruppenzusammenhänge zu erforschen habe. Diese sind nicht festgelegt, sondern entstehen selbst erst, d. h., die Regeln entstehen erst in den Prozessen. Folglich handelt es sich um keinen genetisch-linearen Determinismus, sondern, in Anlehnung an Charles Lumsden, um (nach-)epigenetische Regeln. Hier mag genügen, – dass ich visuelle Codierungen vom Bild abgrenze, – sie in einen unauflösbaren Zusammenhang mit (auswählender, entwerfender) K oordination stelle.
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2. Ikonokratie – Herrschaft des Sichtbargemachten Gegenwärtig, am Beginn der digitalen Klassik, werden visuelle Speicherungen und visuell gesteuerte Kooperationen und Selektionen zum Informationsschwerpunkt von Konsumenten-Gruppen, Unternehmen, Wissenschaften und Ökonomien. Visuelle Darstellungsformate werden gemischt. In Online-Offline-Prozessen werden Zusammenhänge immer enger mit visuellen Aussage- und Entscheidungssystemen verbunden, ob in video-gestützten Operationsverläufen, Bio- und Medizininformatik, in Broker-Systemen oder in über 220.000 Applikationen. Das singuläre Sichtereignis ist überführt und umgewandelt in reproduzierbare visuelle Häufigkeiten. Die Koordinations- und Kooperationsfunktionen des Visuellen lösen sich dabei nicht nur vom Bild, sondern auch von den seriellen Kopien der Fotos und Filme. Visuelles ist Teil der Wahrscheinlichkeiten, der Muster und Modelle geworden. Es ist Agent von informationellen Infrastrukturen. In Arbeiten von Thomas Rossing/Christopher Chiaverina zu „Light Science. Physics and the Visual Arts“, Leonard Shlain, „Art and Physics. Paralell Visions in Space, Time and Light“ oder Sydney Perkowitz´ens „Empire of Light“ von 1996 ist dies gut dokumentiert – um hier nur wenige Autoren anzusprechen. Auf diese Agentenstruktur des Visuellen, bestimmt durch kompatible Software, Anwendbarkeit und informationelle Aussagendichte, müssen sich Gegenwarts-Menschen der Digitalen Klassik einlassen. Um dies zu erforschen, genügt es nicht, die technologischen Bedingungen von Partizipation, Präsenz (als Tele-Präsenz) oder Misch-Räumen (als Hybrid-Räume) aufzugreifen – obwohl dies ein wichtiger Schritt ist. Die kybernetische Wende der 1940er und 1950er Jahre brachte nicht nur den Rückbau schwer-industrieller Produktion, bürokratischer Verwaltung und typokratischer Vorherrschaft. Die Regeln ökonomischer Reproduktion, sozialen Selbsterhaltes und einzelmenschlicher Abhängigkeiten wurden von ihren Fundamenten her verändert. Es entstehen vernetzte Zusammenhänge, die über Visualisierungen koordiniert, relativ stabil und produktiv gehalten werden, die über visuelle Kooperationen legalisiert und legitimiert werden (Foren, Blogs, E-Democracy, E-State, E-Governance) und die Basis für eine Ikonokratie bilden. Diese Ikonokratie löst die Herrschaft der Buchstabenintelligenz und Buchstabennationalität ab. Nichts explodierte, nichts krachte zusammen, kein Kollaps à la Jared Diamond, zumindest nicht damals. In den ersten Jahrzehnten schienen Großrechenanlagen mit alten Großtechnologien zu fusionieren. Alles schien beim Alten (der Moderne) zu bleiben. Aber die Haarrisse im anthropotechnischen Fundament wurden mit dem World Wide Web nicht nur offensichtlich, sondern zu sich explosiv entwickelnden Netzwerken. Man war weder auf Individualisierung im Zeitalter ihrer digitalen Produzierbarkeit vorbereitet noch auf solche Vernetzungs-Kohorten wie Interesse-, Projekt- oder Zufallsethnien. Die Metaphern der „scapes“ (A. Appadurai) und „spaces“ (E. W. Soja)8 Sicht ohne Beweise
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versuchten, die Lokalisierung des Einzelnen zu retten. Andere weiteten Raum- zur Geo-Semantik aus, wie Marc Redepenning. Es geht zunehmend mehr um visuelle Märkte und Märkte des Visuellen, ob für den unterhaltenden Konsum oder die videogestützte Herzoperation. Sichtbarkeit ist ein Produkt und eine Produktivkraft geworden – und die Design-Debatten sind dem zuund nachgeordnet. Innerhalb dieser Märkte des Visuellen breiten sich nicht nur Bild-Monopole aus, wie dies Microsoft, Google und andere versuchen. Es entsteht eine visuelle Marktzensur. Sie hat die fälschende Retusche, die politisch motivierte Photomontage als Zensur hinter sich gelassen. Bei über 2 Milliarden Netz-Nutzern und über 40.000 lokalen Netzwerken wäre dies auch kurios. Die visuelle Zensur erfolgt über Marker, Rankings, Taggings – über Beherrschung der Aufmerksamkeit. Gleichzeitig erzeugen die Märkte des Visuellen individuelle, gruppenspezifische, cyber-lokale, globale Smartness.
3. Gestalten: Poiesis und Egoismus Wenden wir uns kurz einigen anthropologischen und medialen Erklärungen zu. Weder Zeichen, Worte noch Bilder sind (‚selbstverständliche‘) reale Attribute der Dinge oder Undinge ‚vor der Wahrnehmung‘. Sie sind Anderes, Gemachtes, in einem emphatischen Sinne: geistige Produkte. Anthropologisch betrachtet ist der Mensch ein neuropoietisches und neuropoetisches Wesen: poietisch im Sinne des Zusammenführens und Organisierens neurophysiologischen Erinnerns; poetisch im Sinne der erfindenden und gestalterischen Auswahl von Unterschieden. Ohne das abstrahierende Erinnern, das erst selbstorganisierte, auswählende, beschränkende, zusammengesetzte Weltteile möglich macht, wären keine Repräsentation, kein Zeichen, kein Symbol je erfunden worden. Ohne die Poesie und poetische Praxis wäre kein Mensch in der Lage, sich ändernden Lebensbedingungen anzupassen, diese zu ändern. Beides sind evolutionäre Dimensionen menschlichen L ebens. Ich gehe also von evolutionär-erfinderischen Lebensbedingungen aus. Sie entstehen als umgebungsbedingte Anpassungen. Und sie beeinflussen biologisch-individuelles Leben als verändernde Weitergabe von Bedeutungen, Funktionen, Gefühlswelten, Material- und Prozesskenntnissen als Übernahme ehemaliger Adaptionen oder Entwurf neuer Varianten. Keine Lebensbedingung ist förmlich stabil, funktional symmetrisch, zeitlich kontinuierlich (I. Prigogine, I. Stengers), nicht einmal die Gene, denen so beharrlich exklusiver Determinismus zugewiesen wurde und wird. Gestalten ist Erfinden, ist Erhalten; Erhalten ist Anpassen; Anpassen ist Variieren; Gestalten ist Verändern. Mit jeder Erfindung, jeder absichtlich auswählenden oder unabsichtlich reagierenden Unterscheidung entsteht ein Zustand (ein Phasenraum), der die rivalisierenden, konkurrierenden oder zufälligen Variationen von Lebensbedingungen in Situationen 46 I Manfred Faßler
übersetzt. Menschen ziehen herum und irgendwo ein, richten ‚sich‘ ein, lernen, richten ‚ein‘ und ‚aus‘, suchen Arbeit, Freunde, Partner, planen ein Haus, viele Häuser, eine Stadt, planen eine Idee, viele Ideen, eine Theorie, lernen Material kennen und erfinden solches, bauen und bauen zusammen.
3.1. Gestalten verändert die eigenen Ursachen Gestalten ist die Zeit variierenden, auswählenden Tuns. Menschen gestalten urbane Zustände, architektonische Situationen, Geschmacksrichtungen, Zeichensysteme, musikalische und theatralische Räume, Medientechniken, Denkpflichten und Konkurrenzen. Es sind kultur-evolutionäre Nischen, Reproduktionspools, in denen alle Voraussetzungen (Determinanten) für weitere Anpassungen versammelt sind. Jede Erfindung ändert den Raum ihrer Entstehung. Wirkung verändert ihre Ursachen. ‚Alle Voraussetzungen‘ heißt auch: alle Widersprüche, alle nicht reichenden Anpassungen, oder, wie es in der Soziologie heißt: unzählbare Kontingenz. Die Widersprüche, Gegensätze, Berührungs- und Abstoßbewegungen von Material, Verhalten, Gefühlen, Kalkülen schwächen jede (analytisch) vermutete Determination. Sie wird übersetzbar in Egoismus und Altruismus, in eine Zusammenhangsgröße. In Zusammenhängen werden Determinanten ‚relativiert‘, wird das Material ‚beherrscht‘, werden Prozesse ‚kontrolliert‘, wird Statik ‚berechnet‘, Farbe ‚verändert‘, Deutung ‚neu erfunden‘, werden Gesetze ‚angepasst‘, Gene ‚synthetisiert‘ und Zustände der ‚Entwicklung‘ überlassen. Gestalten ist ein koevolutionäres Muster, das dem Menschen durch seine neurophysiologische Ausstattung eigen ist. Die Art Homo sapiens sapiens kann nicht anders – und jeder einzelne Artvertreter meint, dass er es besser könnte als der andere. Gestalten als evolutionäres Muster ist Quelle aller möglichen Varianten, Nischen zu bilden: über Kollaboration, Konkurrenz, Krieg, Kunst, Kirchen, Nachbarschaft, Nationbuilding, Kulturgrenzen, Verbannung, Regeln, Gesetze, Zensur, Verfolgung, Ökonomisierung, Markt. Der Homo sapiens sapiens lebt, erlebt sich und überlebt in erdachten Welten (M. Faßler 2005).9 Ich vermute, dass wir wissenschaftlich noch einige Zeit benötigen, um diese ‚korrespondierenden‘ Gesetzmäßigkeiten von Unterschieden, Gestaltung und Zusammenhängen erklären zu können. Bislang fehlt es an einer evolutionär aufgestellten Forschung zu Unterscheidung, Abstraktion, Analyse, Gestaltung und Entwurf. Wie Menschen die Repertoires und Variationen ihrer ‚Selbstgestaltung‘ hervorbringen, ist also nicht nur eine Frage professioneller Design-Theorien. Grundlagenforschungen sind erforderlich.
4. Gestalten im Zeitalter hilfreicher Unsichtbarkeit Die wenigen Einstiegsbemerkungen weisen darauf hin, dass kein überzeitliches Formoder Zustandsideal angesetzt werden kann. Sicht ohne Beweise
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Der Mensch ist, so verstanden, nur deshalb gestaltungsfähig, weil ihm seine Biologie keine Instinkt-Nische lässt, sondern ihn evolutionär freistellt von zwingenden organischen Lebenswelten und freistellt für variationsreiche Erfindungen, seien dies Zelte, Siedlungen, Hütten, Hochhäuser, Flughäfen, Autos, Fingerfood oder Neuroenhancement. Gestalten ist – wie schon gesagt – anpassen, variieren, neu zusammensetzen, sägen, leimen, programmieren, streichen, pressen und kleben. Im Entwurfsgeschehen ist also ‚viel los‘. Oder anders gesagt: Ohne Erfindungen würde uns die Welt nicht nur keinen Spaß machen. Wir könnten ohne Erfindungen nicht leben, weder auf der Ebene von Stoffströmen noch der von Informationen, Affekten, Emotionen.
4.1. Adaptive Veränderung Gestalten verwende ich deshalb als Konzept komplexer, zwischenmenschlicher, abstrakt-sozialer oder technologischer Selbstorganisation. Pragmatisch gedacht, kommt Gestaltung hohe Verantwortung zu. Evolutionstheoretisch gedacht, reagiert Gestaltung auf den jeweiligen Variationspool menschlicher Lebensweisen, und formuliert eine mögliche Richtung von adaptiver Veränderung (vgl. W. Menninghaus 2011).10 Zu berücksichtigen ist dabei, dass dies eben nicht nur die „Expressionen“ betrifft, auf denen von E. Cassirer bis M. McLuhan Forschungen beharrten. Adaptive Selektion fügt Dinge und Ideen, Sinne und Abstraktionen, Entwürfe und Verwürfe, Verabredungen und Verrat in ein und denselben Zusammenhang: den Test der reproduktiven Tauglichkeit. Kann ich in der Hütte leben, ist der Pflug stabil genug, um Erde zu brechen, sind die Zeichen geschickt zusammengesetzt, um mit allen Anstrengungen erfundener Bedeutungen zurechtzukommen, ist die Gestalt der Dinge, Zeichen, Gedanken tauglich? Gestalten ist evolutionäre Praxis. Es ist koevolutionäres Austesten der Tauglichkeit jener Formate, die wir vorfinden, kopieren, jeden Tag verwenden. Mal sind die Frage-Formate religiöse Malerei, zivilreligiöse oder politische Architektur, mal sind es AEG-Industrie-Design des frühen 20. Jahrhunderts, emanzipatorisch und volkshygienisch gemeinte Stadtarchitektur von Licht-Luft-Sonne oder Corbusiers Wohnmaschinen, Google-Design oder einfach ökologische Drei-Felder-Wirtschaft. Obwohl es reizvoll ist, sich diesen oder anderen Beispielen zu widmen, werde ich mich hier nicht auf so genannte Qualitätsdebatten zwischen Design-Büros oder Design-Schulen einlassen. Das sollen andere machen. Etwas anderes ist mir wichtig, und dies schon seit einigen Jahren: Wie gestalten Menschen die erdweit verstreuten und hochgradig vernetzten Informationswelten? In welchen Erzeugnissen (Displays, Monitorwänden, iPads/Phones, Tabletts, Apps, elektronischen Kiosken, smart houses, Robotern, elektronischen Zeitungen, Netzcommunities) machen sie sich dieses Universum erfundener und gestalteter Unsichtbarkeit sinnlich (sichtbar, hörbar, bedenkbar)? Wie wird Unsichtbarkeit gestaltet, um zu ‚gegebenen Anlässen‘ verwendbar zu sein? 48 I Manfred Faßler
4.2. Streit um das Unsichtbare Darin kündigt sich ein Konflikt an, dessen Umrisse bislang noch undeutlich sind. Kern dieses Konfliktes ist die ökonomische, kommunikative, kognitive Macht des Unsichtbaren. Das technisch, mathematisch, operativ Unsichtbare der Datenströme stellt den überlieferten philosophischen Rettungsversuchen, ein Jenseits des geschriebenen Wortes zu finden und zu bedenken, die einfache Frage: Wozu ist das evolutionär, koevolutionär tauglich? Dabei geht es nicht um: „Gibt es eine Sprache vor der Sprache?“, wie S. Krämer titelte, oder: „Gibt es eine Sprache nach der Sprache?“, wie vielleicht noch paradiesisch erhofft wird. Die Frage ist: In welchem Spektrum von Sichtbarkeit, Denk- und Machbarkeit sind alle Zahlen-, Bild-, Schrift- und Bewegungssprachen kooperationsfähig? Oder einfach gefragt: Ist Schriftsprache kooperationsfähig? Sind die schriftgewaltigen Gatekeeper bereit, sich dem Konkurrenzkampf um die Weltanteile zu stellen, die als unsichtbare erfunden und anthropo-technologisch in Bewegung gesetzt wurden? Sind sie bereit, nicht nur Schriftsprache in Schriftsprache zu übersetzen? Bliebe es dabei, wäre es geläufige Praxis. Allerdings geschieht bereits etwas völlig anderes: Die digitalen Codes, die weder Bild noch Schrift noch Farbe, Ton oder Geschmack sind, ermöglichen Kollaborationsund Kooperationsströme, die ständige und sofortige Übergänge von Unsichtbarem und Sichtbarem zu verändertem Unsichtbaren erzeugen. Es sind radikale, unumkehrbare Wechselwirkungen zwischen den Sprachen. Mit jedem neuen gelungenen digitalen Projekt, mit jedem tauglichen Anwendungsverfahren werden die Alt-Monopole auf das Unsichtbare daten-technisch, d. h. kooperativ geschwächt. Dies erzeugt die zunehmende Fremdheit zwischen hoch-intelligenten medien-kooperativen Entwicklungen und der Deutungs- und Bedeutungsabsicht protegierter Texte von z. B. von Kant, Aristoteles, Hegel, Platon. Solange gesagt wird, man müsse sie ‚nur richtig übersetzen‘ bleiben diese Textwelten konter-evolutionär, kooperationsfeindlich.
5. Bio-technisch zusammengesetztes Sehen Menschen richten schon lange ihr Leben in abstrakten, mechanischen, technischen Referenzen der Sinne ein. Sie richten sie zunehmend danach aus. Früh übten Menschen mit zerbrochenen Tontäfelchen die ‚symbolische Ordnung des Wiedererkennens‘, erfanden und nutzten Bild- und Keilschriften, Hieroglyphen, trennten Bedeutung und Zeichen im Verlauf der Alphabetisierung. Dies will ich nicht weiter erzählen. In diesen Fähigkeiten ist schon jene Eigenlogik der anwendbaren Unterscheidung enthalten, die uns heute zu schaffen macht. Nicht als Logik des einzelnen Unterschieds, sondern als Datenströme, als Informationsströme, als netztechnische „social overdose“. Uns fehlen die erlernten Fähigkeiten, den Milliarden Unterschieden, die heute in MilliSicht ohne Beweise
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und Femtosekunden verarbeitet werden, ‚nachvollziehbare‘, ‚glaubwürdige‘, ‚praktische‘ Zusammenhänge zuzuweisen. Die Milliarden Unterschiede sind anwesend, aber nicht sichtbar; sie strukturieren Zusammenhänge, aber nicht sichtbar; sie erzeugen weltweit neue Sozialstrukturen, aber nicht sichtbar. Diese Prozesse, mit Bild-, Zahlen- und Schriftzeichen ‚Unsichtbares‘ zu transportieren, gehören schon seit mindestens 6.000 Jahren zur Menschheit. Auf diese Weise sind bewundernswerte Künste der Anwesenheit und Abwesenheit, der Gegenstände, der Dinge, Künste des Symbolischen und Diabolischen entstanden. Jeder Entwurf ist seit der Erfindung der Zeichen Entwurf unter den Bedingungen reduzierter Sinnlichkeit und sich ausweitender Imagination. Zugleich werden über die Abstraktionsfähigkeiten des Menschen nicht sinnlich ‚auffindbare‘ (kulturelle, ökonomische, religiöse, politische) Zusammenhänge erfunden, die – trotz ihrer sinnlichen Unfassbarkeit – begeistern, beeindrucken, erschrecken, betören. Mit Elektrizität, Morsezeichen, Telegraphie, Telekommunikation, Fotografie, Film etc. erhält die künstliche Sinnlichkeit neue Verbindungs-Körper: maschinentechnische Programme von Anwesenheit verbunden mit neuen Wahrnehmungs- und Entwurfsrepertoires. Inzwischen sind diese biotechnischen Programme, wie wir wissen, überlagert von digitalisierten, cybertechnologischen Systemen. Geblieben ist das Prinzip: Anwesenheit durch Programm. In diesen Programmen erhält das analytische, abstrahierende und synthetische Sehen eine herausragende Bedeutung. Wir werden geschult, der Pragmatik des Unsichtbaren zu trauen, es zu konsumieren und zu kommunizieren.
5.1. Info-Aestethics Ich setze demnach weder auf Bild noch auf Kommunikation. Mir geht es um „information aesthetics: where form follows data“, wie der Werbespruch von infosthetics lautet. Mein Thema bündelt sich in der Frage: Wie erfinden Menschen die konventionalisierten Techniken, um Gedanken, ferne Ereignisse, unsichtbare Zustände, ungegenständliche Planungen, erdachte Welten sichtbar zu machen? Sichtbarkeit ist also mein Thema, denkende und wissende Sichtbarkeit. Haben visuelle Codierungen mit den Reproduktionserfolgen von menschlichen Gruppen zu tun, lassen sich Fragen stellen: – Durch welche Programme und Praxen gelingen Kooperationen? – Wie nutzen Menschen die informationelle Plastizität der Netze? Oder: – Was hat das alles mit Sichtbarkeit zu tun? Vorschnell ließe sich antworten: „Screens, Displays, Monitore sind doch Belege dafür, dass es immer noch um Bilder geht.“ Zieht man Hirn- und Wahrnehmungsforscher, Programmierer, Künstlerinnen und Experimentalpsychologinnen hinzu, verliert sich dieser klassische Ordnungsgestus des 50 I Manfred Faßler
Bildes. Es geht nicht um die spezielle Gegenstandsgruppe ‚Bilder‘, sondern um visuelle Codierungen, um das Re-engineering visuell-pragmatischer Reproduktionsbedingungen – um eine transklassische Programmatik. Von Visual Literacy und Visual Rhetorics ist die Rede, von bildähnlichen Graphen und visuellen Notationen. Damit stehen wir mitten in mehreren Kontroversen, denen ich hier nicht ausführlich folgen werde. Dennoch möchte ich meine wissenschaftliche Distanz zum Bild kurz erläutern. Eine Kontroverse liegt in der Annäherung von Wissenschaft und Kunst über visuelle Ästhetik. Mancher erliegt dabei der Versuchung, z. B. Visualisierungen im Bereich der Hybrid Medical Animation jenseits der „highly informative graphics“ anzusiedeln, wie dies Ed Bell, Artdirector von Scientific American tut: „they (die Animationen, mafa) enter the realm of high art, achieving a combination of Truth and Beauty“. Ein anderer Strang knüpft sich über Psychologie und Philosophie. Howard Gardner argumentiert für eine andere Intelligenz, die mit Visualisierung entstehe, und trifft sich mit Benjamin Whorf, der der Meinung ist, ‚imaginary language‘ erfordere eine neue Erkenntnislehre. Im Gegenüber findet man Nelson Goodman und Willard von Orman Quine,11 die der Meinung sind, Visualisierung sei eine Sprache im philosophischen Sinne. Ich gehe von dem Grundgedanken aus, – dass die geschriebene, zu lesende Sichtbarkeit (vulgo: Text) – und die gezeichnete, die technologisch erzeugte bildnerische Sichtbarkeit (vulgo: Icon) – dem bio-imaginären Abstraktionsvermögen folgen, aber verschiedene Ausführungslogiken (Modell-Logiken) sind. Die sprachlich-symbolischen Welten berufen sich auf andere Modelle und dichte Darstellungen (Module), als dies Zeichnungen, Bilder, Visualisierungen vermögen. Einen qualitativen Unterschied kann ich darin allerdings nicht erkennen. Es sind verschiedene Produkte, mitunter auch Formate, zunehmend differenzierterer bio-technischer (= Infrastrukturen, Apparate, Maschinen, Geräte, Architekturen, Medientechnologien) Abstraktionsökonomien. Paradox ist allerdings, dass die zunehmende Zahl an Unterschieden keine uneinholbare Divergenz mit sich bringt, sondern Konvergenzen. Und diese Konvergenzen digitaler Visualisierungen von Material, Funktionen, Zuständen, Materie, Orten, Zusammenhängen, Adressen und Akteuren erfordern neue Konzepte des Designs, des Gestaltens. Die Anforderung ist: Entwerft eine neue Imaginationsökonomie.
6. Was beschreibt Imaginationsökonomie? Sie ist eng mit Abstraktionen gekoppelt, beschreibt die Art, in der sich das Gehirn Informationen selbst plausibel macht. Über die Abstraktionen versorgen sich Menschen mit ihrer möglichen Informations-Realität. Insofern wird in diesen Abstraktionswirbeln geSicht ohne Beweise
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prüft und entschieden, welcher Reproduktionsvorteil welcher Abstraktion und welchem Format zukommt. Die gegenwärtige Karriere visueller Codierungen und visueller Handlungsräume deutet an, dass Texte keine ausreichenden Reproduktionshilfen mehr darstellen, weder wissenstechnisch noch ökonomisch, spielerisch, solidarisch und politisch. Und so entsteht Visualitäts-Streit. Gründe waren anfänglich die erheblichen Eingriffe digitaler medientechnischer Systeme in das Repertoire der Sichtbarkeit. Inzwischen verliert die Frage nach so genannter realistischer und symbolischer visueller Darstellung an Terrain. Die Plätze werden besetzt von programmierter, variationsreicher Online-Visualität, Screens, skopischen Systemen in der Finanzwelt (K. Knorr-Cetina), in allen Entwurfs- und Kontrollkontexten, als E-Learning, Ludic Interfaces (G. Russegger).12 Hinweise auf eine solche Entwicklung gab es viele und schon sehr früh. In den 1960er Jahren scherten ehemalige Programmierer für Interkontinentalraketen (so genannte C3-Programmierer) wie Frieder Nake aus der Militärwirtschaft aus und wandten sich der Visualisierung unsichtbarer Datenströme zu. Auf internationalem Niveau entstanden Ausstellungen zu Computerkunst (1965 und mit großem Erfolg 1968: Cybernetic Serenpidity). Ihre Nachricht lautete: Image follows data. Visuelles aus den Schaltungszuständen, aus den mathematisch-physikalischen Codes entstehen zu lassen, war eine Provokation der kulturellen Gemäldefraktionen. Sie bestand nicht in der Konkurrenz zu picture. Die heftigen Reaktionen bezogen sich auf die Abstraktions-, Sichtbarkeits- und Deutungskonkurrenzen, die nach 2.000 Jahre Ruhe auftraten. Die Weigerung, symbolische bildliche Repräsentation zu erzeugen, und damit die Weigerung, das gesamte Paket von Tradition, Ordnung, vordigitaler Welt mitkaufen zu müssen, war ein Affront. Da half der Verweis auch nicht, dass die mathematischen Codes geistige Erzeugnisse waren. Altkulturell motivierte Kritik regte sich dagegen, einfach das Monopol der bildnerischen Selbstgespräche zu brechen – und damit auch das religiöse und ästhetisierende Monopol über das Unsichtbare – und Virtuelles und Visuelles dem offenen Nutzungszusammenhang digitaler Entscheidung zu überlassen. Der Ausweg schien darin zu liegen, ‚das Bild‘ zu retten, gegen den Datenfluss und milliardenfache visuelle Mediengestaltungen. Gestützt wurde die Kritik an der Massenvisualisierung durch geschulte Kulturkämpfer, also die Vertreter der Massenmedientheorien. Netz, Netzwerke, Communities, virtuelle Anwesenheit und Aktionalität, visuelles Handeln verschwanden in Unterhaltung, Verflachung, Verblödung – fern jeglichen Nutzungs- und Interaktionsverständnisses.
6.1. Ungerichteter Reichtum visueller Gestaltung W. J. T. Mitchell lenkte die Forschungen auf das Denken in Bildern über Bilder. Er wollte provozieren mit der Frage, „ob es Dimensionen von Kultur gibt, die jenseits oder außerhalb der Sprache liegen, ob etwa Bilder Vehikel von Erfahrungen und Bedeutungen sind, die sich der Übersetzung in Sprache verweigern“.13 Provokant ist dies aller52 I Manfred Faßler
dings nur gegenüber einer hochmütigen Verkürzung von Sprache auf alphabetische Schriftsprache, auf den Lehrtext. Anerkennt man, dass Zeichnen eine Sprache ist und alphanumerische Codes Zeichnungen errechnen, normalisiert sich der vermeintlich sensationelle Umstand rasch. Grammatiker werden einwenden, dass weder eine strikt formalisierte Grammatik noch eine Universalgrammatik mit Zeichnungen möglich ist. Nun, das muss auch nicht sein, da Zeichnen auf kognitive Kooperation aufbaut, auf assoziatives Wiedererkennen, auf Ausweitung der Zonen der Sichtbarkeit und des Unsichtbaren. Und Spracheuphoriker wie der schon erwähnte Williard v. O. Quine und Sprachstrukturalisten (in Nachfolge J. Lacan) werden einwenden, dass das Bild ebenso zu lesen sei, wie die Schrift. Mag sein, dass man visuelle Zeichen so in die lineare Matrix einfügen kann, dass die Sichtfläche wie eine Textfläche wirkt, oder so, dass Sehen über zu sehende Bedeutung und Geltung funktioniert. Dies ist, wie das Wort schon sagt, eine Sehfunktion, die textkulturell erzwungen ist. Dass sie lange tauglich war für die Reproduktion verschiedenster Ökonomien, Staatsformen oder Darstellungsgattungen, gibt keine Auskunft über Zeichnung, Zeichnen, Sehen, Anschauung, Voraussicht, Imagination, Einbildungskraft, Nachsicht durch das Auge. Man sollte sehr bedächtig mit dem Schriftsprachen-Argument umgehen, da es monopolistische Typokratien rechtfertigt und eine zentrale Quelle des Denkens verdammt: den sichtbar gemachten und sichtbar wiederholten Unterschied. Der Ausweg aus der selbst gewählten Falle besteht nicht darin, die Psyche und ihre Analysierbarkeit anzurufen, oder der Rezeption nachzujagen, in der doch wieder nur die Codierungen von Sehfunktionen und die dabei möglichen Gefühle entdeckt werden, wenn überhaupt. Der Ausweg besteht darin, die visuelle Freistellung des Denkens zu erforschen, begreifen zu lernen, wie der menschliche Körper visuelle Eindrücke in visuelles Denken, in Zeichen und Zeichnungen umwandelt, wie visuelle Intelligenz entsteht und deren eigene Wissensweisen in massiven und blutigen Kriegen in die Über lebens-Bescheidenheit des Schriftassistenten oder der Kunst gezwungen wurden. Es ist also keineswegs hilfreich, vom Bild zu reden. Im Bild/Gemälde siegt die Funktion des zugelassenen Sehens über den ungerichteten Reichtum der visuellen Wahrnehmung. Wir müssen neue Freiheitsgrade des Sehens feststellen oder erfinden.
7. ‚Missing link‘ in der Bildrhetorik Ein Umbruch im Aufbau und der Nutzung des Visuellen ist weltweit im Gange: Bilder ‚repräsentierten‘ verpflichtende Zusammenhänge, waren, wie James Paul Gee nennt: „content-driven“. Sie hatten Sammlungs- und Versammlungs-Funktionen, waren symbolisch inszeniert, standen für Ausdrucks- und Darstellungs-Identität von Kultur. Dies schloss nicht aus, sie publizistisch zu aktivieren. Mona Lisa mag hier genügen. Und damit waren sie Teil der öffentlichen Bekanntmachungen, gerade auch für MuSicht ohne Beweise
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seen. Das ist die Repräsentationserstarrung, gegen die sich Rheinberger wehrte. Fotografie und Cinemascope durchbrachen diese Bildmauer nicht. Mit digitalen Visualisierungsprogrammen und vor allem mit interpersonalen, interlokalen und globalen Vernetzungsprozessen wechseln Bilder ins Fach der Simulation, der virtuellen Arbeits-, Entwurfs-, Experimentier- und Spiel-Realitäten, ins Fach interaktiver Sichtbarkeit. Sie sollen und werden Probleme der Beobachtung und Erkenntnis darstellen, Programm-Lösungen anbieten, und von Menschen rasch ausgewählt, angenommen, verworfen werden. Nochmals J. P. Gee: Visualisierung wechsle von „content driven“ zu „is driven by choice and problem solving“. Der Bildrhetorik ist also ein ‚missing link‘ eigen: Es fehlt das Wissen um die interaktive, pragmatische, kommunikative visuelle Codierung – also das Wissen um die visuelle Codierung des Wissens. Beharrlich verschwiegen wird dieses ‚missing link‘ in der klassischen Versöhnungs- und Aufklärungserwartung, die bis in die moderne Ästhetik mit dem künstlerischen Bild verbunden wird.
7.1. Von Bildtheorien zu Sehtheorien Um gegenwärtig Sehen erklären und verstehen zu können, müssen Bildtheorien durch Sehtheorien ersetzt werden (durch Forschungen zu selektiver visueller Wahrnehmung, visueller Selbstprogrammierung der Wahrnehmung, komplexer visueller Argumentation etc.). Kulturanthropologisch werden Sehprogramme statt Bildmodelle zu erforschen sein. So kommen wir den Transformationen des denkenden Auges und des sehenden Denkens näher. Es wird dabei nötig sein, die „evolution of reading brain“ (Maryanne Wolf) mit der des unterscheidend sehenden und rechnenden Gehirns zu verbinden, diese Hirnentwicklungen in (asymmetrischer und diachroner) Wechselwirkung denken zu lernen. In sekündlich sich verändernden visuellen Kontexten von Konsum, Präsenz, Beteiligung und Wissen wird es wichtig, die Verbindungen von Visualität, Optionen und informationellem Vertrauen verstehen zu können. Dafür müssen wir die Programme hinter den Bildern beobachten, erklären und verstehen lernen. Fachlich heißt dies, sich auf die Suche nach den kulturanthropologischen und pragmatischen ‚missing links‘ zu machen. Vermutlich liegen diese in den tiefgreifend veränderten Gesten, etwas sichtbar, anschaulich, offensichtlich zu machen. Die Forschungsarbeiten beginnen damit, die Idee von der Ideen-Evolution mit der Idee von der Imaginations-Evolution zu verbinden.
8. Pragmatik, Mythos, Funktion, Magie Jede Gesellschaft, jede Ökonomie hat ihre eigenen Produktions-, Zusammenhangsund Dingmythen. Unsere heutigen reichen von Bio- zu Nano-, von Info- zu Neurotech54 I Manfred Faßler
nologien, von lokal sesshaften Biobauern zur Vermarktung von Weltallflügen, oder auch von multimedialer Wahrnehmung zu intelligentem Konsum, Shared Augmented Spaces oder zu Sensory Marketing. In sehr vielen Entwurfs- und Gestaltungsprozessen verschwindet die sichtbare, fassbare, riechbare Materialität in Simulationen und Animationen. In komplexen Programmierungen werden direkte sinnliche Erfahrungen und Referenzen ‚aufgeschoben‘, allerdings nicht außer Kraft gesetzt. Die Erfahrungs- und Erlebensmodellierungen verändern sich. Künstliches wird in derselben Weise realitätsmächtig wie Gegenständliches – es wird zum Gegenstand. Materialität wird anders bespielt, erscheint auf der Codeebene, als Formversprechen, als Formerwartung. Und Form wird als Format, als machbar, variierbar angeboten. Open Design ist eines der Ergebnisse dieser unfassbaren, aber wahrnehmbaren, unterscheidbaren Dinge und Prozesse. Die Magie und Nützlichkeit des Gegenstandsversprechens verschmelzen mit der Magie der simulierten Fassbarkeit. Allerdings sind es keine formlosen Informations-Flüsse, keine endlosen BilderStröme, in denen wir oder die anderen zu ertrinken scheinen, kein FLUXUS, keine allgegenwärtige Verflüssigung von allem und jedem. Denn einesteils sind die Programme des Unsichtbaren mathematisch eineindeutig und physikalisch testbar. Andererseits sind die physikalisch-technologischen Echtzeiten mit Lebenszeiten verbunden, bilden Habitate, biotechnische Welten. Sie fallen ins Gewicht, obwohl sie zur schwerelosen Ökonomie gehören; sie sind sachliches Gegenüber, Interfaces, Displays, Programme, und in jeder Nutzungssekunde eine interaktive Hinterlassenschaft des Online-Portals Ihrer Sparkasse, des Blogs, des Forums zur Hotelbewertung, der Community. In den vernetzten Netzwerken zählt nicht die Eigenschaft eines Gegenstandes, sondern die von Räumen: Es zählt die Performance von Programmen und der Zeitaufwand, ihre Nutzung zu lernen. Umgekehrt ist das Werkstoffverhalten von Nano-Partikeln auf Autolack, Windschutzscheiben, in den Membranen zwischen Blutkreislauf und Gehirn gesundheitlich wichtig und für den Einsatz von Nano-Strukturen im Oberflächendesign entscheidend. Oder für die Entwicklung von mentalen Interfaces sind die biopolitischen Dimensionen der Hirnforschung mit zu bedenken.
8.1. „Das ist ja ein Unding“ Ob Interfaces, Habitate, Geschmacksverstärker, schmutzabweisende oder hautschmeichelnde Oberflächen entworfen werden, ob der Gebrauch der Dinge vom Körper oder von einer imaginären Funktion aus gedacht wird: Design ist Akteur in hochtechnologischen Gestaltungsnetzwerken. Bemerkenswert ist dabei, dass Material-, Gegenstands- und Nutzungsentscheidungen zunehmend in kleinen Netzwerken getroffen werden, die durch ihre Außenvernetzungen eine große, oft auch globale Streuung haben. Die drei Cs von Computer – ComSicht ohne Beweise
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munication – Container beschreiben die Infrastrukturen dieser Zustände. Begleitet werden sie von Content Industries, die in der privatwirtschaftlichen Anhäufung von Daten aggressiv und in deren Vermarktung informationssensibel sind, so dass sie annähernd in Echtzeit auf Veränderungen von Nutzungsmöglichkeiten und Nutzungserwartungen reagieren können. Design als Akteur zu bestimmen, hat vor allem mit diesen Kopplungen von Echtzeit – Lebenszeit zu tun. Dabei geht es keineswegs um den Altgegensatz von Ding gegen Gesellschaft, Warenästhetik gegen selbstgestrickten Pullover. In vernetzten Zusammenhängen ist Gebrauch nur möglich als visuell auswählende Interpretation, auswählende Erwartung. Design ist, so gesehen, irritierend nahe an klassische Bedeutungswelten und deren professionelle Verteidigung herangerückt. Es ist eine Konkurrenz um Simulation, um die Spielregeln der sachdienlichen Täuschungen, der Glaubwürdigkeit, der Vorwegnahmen, der Optionen. Design-Forschung müsste Forschung über wechselseitig adaptive Systeme sein. Nicht nur Dinge und Funktionen sind angesprochen, sondern Zusammenhänge, Wahrnehmung, Informationsströme, selektive Interaktion.
9. Scoping Systems, Screens, Displays Medientechnologische Entwicklungen haben regionalkulturelle, fachliche und weltweite Frage- und Forschungswellen darüber hervorgerufen, was wir wie und wodurch zu sehen bekommen. Die Antworten hierauf sind nicht leicht. Wir Gegenwartsmenschen erleben und praktizieren eine radikale Neujustierung des Sehens und des Sichtbaren. Über digitale Technologien wird eine beispiellose Typologie des Sichtbaren eingeführt: In den Screens, Displays und Scoping Systems werden tiefe Oberflächen erzeugt, die den Status der programmierten, errechneten dinglichen Referenz einnehmen. Diese Sichtbarkeit wird zur autarken Oberfläche, in der der Unterschied zwischen Original und Dokument w eggerechnet ist. Wir kennen dies, wenn wir den Stand unseres Giro-Kontos abfragen, und, je nach Zahlenauskunft, uns ob der Verschmelzung von Geldausdruck, sicheren Buchungsverläufen bei E-Banking oder EC-Zahlung, der digitalen Portal- Programme der Bank und dem funktionierenden Display unseres Computers ‚freuen‘ oder ‚ärgern‘. Paradoxien oder Lernerfolge? Etwas sehen zu können wird zum Ereignis nicht wahrnehmbarer Programme. Dabei verändern sich die kognitiven Dimensionen und die Morphologie des Sehens. Die kognitiven Dimensionen des Sehens ändern sich, weil die Komplexität von Zusammenhängen in einen Bildschirm hinein übersetzt wird und der Seher, mit Zusatzprogrammen visueller Glaubwürdigkeit ausgestattet, sich klar machen muss, dass er nie ‚dahinter‘ kommen wird. Er kann es mit Milliarden Links versuchen, landet aber stets auf dem Display. 56 I Manfred Faßler
Die Morphologie des Sehens ändert sich, weil das zu Sehende nie die Umrisse oder Tiefenschichten eines dreidimensionalen Gegenstandes noch eines gesamtkörperlich zu betretenden XYZ-Raumes liefert. Mehr als die ins Sichtbare transferierten digitalen Programme bekommt man nicht ‚zu sehen‘. Nicht das errechnete Visuelle erzeugt die Erwartung, mit dem Sichtbaren arbeiten, agieren, interagieren zu können. Es ist die Dingerwartung und das Dingversprechen, das dem Sehen und dem Sichtbaren eine gemeinsame Körperlichkeit gibt. Dies lässt sich mit herkömmlichen Kunstideen nicht so leicht vereinbaren, wie es mancherorts gedacht wird. Die digitalen Sichtbarkeits-Ökonomien lassen sich weder auf gegenständliche noch auf ungegenständliche, so genannte abstrakte Kunst beziehen. Sie bilden eine neue Typologie, oder richtig: eine Topologie des Sehens aus. Diese kann in Echtzeit überall auf der Welt gleichzeitig verwendet werden. Ihre Grundlage sind Programme, die ich im Terminus des kollaborativen Sehens zusammenführe. Diese unterscheiden sich vom egoistischen Sehen und Gesehenwerden. Kollaboratives Sehen wird zum weltweiten Leitprogramm medientechnologischer Präsenz. Es wirkt wie ein ‚strange attractor‘, wie ein neues Schwerkraftzentrum, das Interaktivität, Aktivität, Handlungen, Unterscheidungs- und Anwesenheitsregeln ebenso bindet, wie Produkt- und Konkurrenzerwartungen.
9.1. Zusammengesetzte Sichtbarkeit Welt erscheint nicht (mehr) als Text; sie ist zusammengesetzte Sichtbarkeit. Das oben erwähnte Beispiel des Giro-Kontos ist nur ein wichtiger Vorläufer dessen, was ich tiefes Sehen nenne. Ich meine damit ein Sehen, dessen Pflichtenhefte, Programme und physikalische Regelwerke bis in jedes mögliche Nano-Detail durchdacht sind. Dass dies nicht von einem einzelnen Menschen geleistet wird und werden kann, ist bekannt. Kollaboration und Kooperation sind demnach zentrale Dimensionen bei der Erfindung medientechnischer Grundlagen des tiefen Sehens. Aktiviert wird es über affektive Bindungen an Abstraktionen und Imaginationen, über Schulungen und Praxis, sich innerhalb stoß- und berührungsfreier (also sinnlich reduzierter) Räume zu bewegen. Nun lässt sich hier als Einspruch einflechten, dass eine solche Kulturtechnik, mit Immersions-Anforderungen umzugehen, bereits mit Bibel und Literatur verbunden war. Dem stimme ich zu. Dies lässt sich noch erweitern. Das Giro-Konto ist ein hochkomplexes virtuelles Produkt, das ohne die Erfindung eines abstrakten Tauschwertes, eines Tauschmusters und Tauschverlaufes, also des Geldes, weder im „schwarzen“ noch „im roten Bereich“ sein könnte. Geld ist eine gestaltete Sichteinlage, Ausdruck und Verfahren, auf ewig unsichtbar bleibende Vergleichsgrößen zu einer körperlichen Realität zu machen. Diese kann ich dann sehen, fassen, verbrennen, fälschen. Mit Aktien als Papierformaten für Produktivitätsanteile weitet sich dies aus; in online-Strömen von Finanzkapitalen verschwindet diese Gegenstands- und Sichtbarkeitsreferenz völlig in Kurven, Diagrammen, Zahlenkolonnen, in aufgeteilten Screens aus Videofenstern, Sicht ohne Beweise
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Daten-Bändern am Bildrand, Nachrichtenanteilen etc., Screens als Geldausdruck, als aktuelles Aktienformat. Auch wenn dies unpassend wirkt: Geldschein und Börsenscreen bedienen dieselbe menschliche Fähigkeit, Unsichtbares in Aktion zu versetzen, und zwar so, dass es umfangreich in die Materialität, Gegenständlichkeit, Dinglichkeit und in den Körper der Menschen eingreifen kann.
9.2. Unfassbar, aber erreichbar: imaginierte Sinnlichkeit Die Anthropotechnik des ‚tiefen Sehens‘ knüpft evolutionär am Buch-Raum an, an den gedankenversunkenen Leser, an die im Text versunkene Leserin. Diese ImmersionsTechnik wurde beim Buch als kulturell wichtig, wertvoll, erzieherisch betrachtet. Was hindert uns, diese erzeugten Fähigkeiten auch für andere mediale Organisationsformen zu verwenden? Liegt es daran, dass dieses Eintauchen in Wahrnehmungs-Welten nicht mehr als individuelles oder egoistisches Lesen erfolgt, sondern als kollaterales, kooperatives Sehen? Oder liegt es daran, dass das, was zu sehen ist, viel näher an Anwendungsprogrammen siedelt, als dies selbst Lehrbücher tun? Das digital programmierte Sehen versetzt die sinnlich-unerreichbare Welt in eine Welt multisensorischer Erreichbarkeit. Diese muss nicht berührbar sein, wie Untersuchungen zu Liebeserklärungen per SMS, Scheidungserklärungen per Facebook, Online-Sucht und Ähnlichem belegen. Sinnlichkeit wird im programmierten Sehen vielfältig emuliert. Netztechnologien erzeugen keine sensorische Verkümmerung, wie oft als ‚selbstverständlich‘ behauptet. Vielmehr werden neue Operations- und Kooperationsketten von Sinnlichkeit und Abstraktion hervorgebracht. In den Gruppen, Communities und Habitaten der Netz-Generationen entsteht für Bedarf nach Nähe, Gegenständlichkeit, empfundener Wärme, geglaubter Zuverlässigkeit, gespürten Vertrauens eine Fülle neuer „affektiver Marker“ (A. Damasio). Diese Marker beziehen sich auf den Datenkörper der Agenten, nicht auf die Körperdaten eines direkt anwesenden Menschen.
9.3. Datenkörper – Datending Man mag diese (emulierende) Umlenkung sinnlicher Informationsströme kritisieren, vermeintlich niedrige sexuelle Aktivität bei jüngeren User-Generationen feststellen, die niedrige Haptik, das Fehlen von Gerüchen und Geräuschen anmerken. Bedenkt man, dass jede Wahrnehmung zusammengesetzt ist, so müsste man mehr über eine ‚humane‘, ‚aufklärerische‘, ‚sinnvolle‘ Zusammensetzung von Wahrnehmung wissen, bevor idealistische Menschenbilder aktiviert werden. Von der Einschätzung möglicher Produktivität spezifischer Zusammensetzungen menschlicher Wahrnehmung sind wissenschaftliche Disziplinen aber weit entfernt. Nun will ich mich darüber nicht mokieren. 58 I Manfred Faßler
Wichtig ist mir etwas anderes, das ich in die kurze These fasse: Die digitalen Medienprogramme verbinden Sichtbarkeit mit Handlung, Gestaltung und Produktivität. In dieser Weise interaktiv erzeugte Sichtbarkeit wird zum ‚Körper des Geschehens‘. In den Arbeiten zur Performance als hilfreiche Kategorie ist dieser Daten-Körper des interaktiven Geschehens mit gedacht. Digital sichtbar Gemachtes ist Körper und Ding zugleich, Datenkörper und Datending. Gleichwohl sind sie nicht identisch, sondern befinden sich, in Anlehnung an systemtheoretische Argumentation, in loser Kopplung. Die Ding-, Körper- und Zustandseigenschaft des Visuellen, die wir in allen Bereichen nutzen – von Banking bis zu diagnostischen Systemen, von Fernkommunikation bis zu netzbasierten stereotaktischen Operationen – zerlegt die symbolische und ästhetische Überschätzung des Imaginären in Bestandteile der medientechnischen Biopolitik des Sehens. Konzepte von digitaler Visualisierung, bildgebenden Verfahren, Imaginationsroutinen, die in diesen Verfahren ‚explizit programmiert‘ sind, rücken das Bild aus den Sphären glaubwürdigen, zivilreligiösen, versöhnenden Geistes. Die „Repertoires von Sichtbarkeit“ (M. Faßler),14 von denen ich vor einigen Jahren sprach, sind somit (zu) Ding-, Körper-, Zustandsrepertoires (geworden).
10. Schau es dir an, mach was draus Sehen ist also nie allein, ist ein sinnlich, symbolisch, pragmatisch, kinetisch, medial zusammengesetzter Zustand. Es bleibt allerdings: Wer gestalten will, muss sehen. Was mit ‚Sehen‘ angesprochen wird, welche physiologischen, welche symbolischkulturellen, medialen, mathematischen, figürlichen, abstrakten, welche biografischen Dimensionen ‚Sehen‘ umfasst, ist spätestens mit den Forschungen zu visueller Intelligenz, zum „denkenden Auge“ (Bettina Heintz, Jörg Huber),15 bildgebenden Verfahren bei z. B. funktionaler Magnetresonanztomografie (fMRT) oder generativer Gestaltung auf verschiedenen Schreibtischen deutlich. Das sehende Auge hinterlässt nicht nur iterative, durch Wiederholung und Häufigkeit entstehende neurologische Muster. Das Sichtgedächtnis modelliert aus Beobachtung heraus, gestaltet, wenn es mit Absicht, mit Bedacht, mit Wissen, mit Entwurf, Erfindung, Skizze verbunden wird. Ein wenig zögernd schreibe ich: Sehen ist Eingriff, wissend, dass dieses Sehen nicht handgreiflich ist, kein direktes Greifen umfasst. Und unter digitalen Bedingungen ist ‚etwas sehen können‘ ein augenblicklicher Zustand mathematisch-physikalisch erzeugter Farb- und Helligkeitsunterschiede. Hände bleiben im Spiel, als Koordinierungstechnik; sie erschaffen nicht. Allerdings ist mit den ‚berührungssensiblen Oberflächen‘, den Touchscreens und den Größenvariationen durch Fingerbewegungen auf Screens eine Kopplung von Abstraktion, Sehen und Hand hergestellt. Sehend greifen wir in der Wiederholung von Mustern, im Testen und Anpassen von Modellen, mit Perspektive oder ‚einfach so‘ in Welt Sicht ohne Beweise
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ein, werden von Visualisierungsprogrammen absorbiert, angezogen – von multi-visuellen Agenten therapiert, zur nervösen Aufmerksamkeit erzogen, zu allen möglichen Links verleitet und geleitet. Das wir nicht nur sehen, sondern gesehen, beobachtet, identifiziert werden, ist vielfach diskutiert. Mir geht es hier nicht um Kontroll- und Überwachungstechniken, sondern um die Kopplung von Sehen und Gestalten.
10.1. Nanoskopische Linsen Eine solche Kopplung erfolgt heute über digitale Programme des Sichtbarmachens, des errechneten Bild-Raumes, Gegenstandes, der errechneten Kinetik. Diese Programme sind ‚in sich‘ die betrachteten Bereiche; es gibt keine Sichtbarkeit außerhalb ihrer rechnenden Blickwinkel, Reichweiten, außerhalb ihres ‚Skopus‘. Wir verwenden dieses Wort für ‚betrachteten, ausgewählten, fokussierten Bereich‘ in Mikro- und Teleskop. Allerdings ändert sich mit digitaler Technologie der ‚Skopus‘ von einem Millionstel zu einem Milliardstel Millimeter. Der digital ‚betrachtete Bereich‘ entzieht sich restlos den menschlichen Sinnen. Deshalb nenne ich den Computer eine nanoskopische „Linse“ (M. Medea) und eine sich selbst nanoskopisch errechnende Weltsicht. Elektronische Operationsketten sind Garanten nano- und femtoskopischer Sichtbarkeit, ohne die gegenwärtige Ökonomien und Kulturen weder entstanden noch reproduktionsfähig wären. „Skopische Systeme“ (K. Knorr-Cetina) sind entstanden. In ihnen erzeugen nicht nur Broker und Trader ihre Börsengeschäfte in Echtzeit und schließen sie ab. Jede Variante ‚zeitnaher‘ Kooperation macht sich abhängig von sichtbarer Nano-Anwesenheit, ob zwischen zwei Büros im selben Gebäude oder zwischen Akteuren, die 15.000 km voneinander entfernt im selben Space online sind. Nimmt man nur diese Beispiele, so lässt sich eine abstrahierende Einsicht formulieren: Die digitalen Nanotechnologien des Sehens beschäftigen sich ausschließlich mit sinnlich Unsichtbarem. Es sind hoch professionelle Programme, Kalküle, gestützt auf Netzwerke und deren Debugging-Kompetenzen. Sie sind dazu programmiert, sich in der Übersetzung des Unsichtbaren ins Sichtbare zu bewähren. Unbeabsichtigt sind die damit einhergehenden Denkprozesse zu mächtigen Kultur-Konkurrenten der Schriftwelt geworden. Das Leitprogramm lautet, biotechnische, nanoskopische Systeme durchzusetzen. In diesen bilden Screens, Displays, Monitore, Visualisierungsprogramme zusammen den Körper des Unsichtbaren. Mit ihm werden neue Materialien, neue genetische Kombinationen, synthetische Stoffe, experimentelle Entwürfe, Wahrnehmungskonventionen, Denkweisen, Deutungsverläufe und Interpretationshorizonte möglich. Und mit ihnen wird ein schon etwas älterer Konflikt um den Realitätsgestus des Unsichtbaren aufgenommen und verschärft: der zwischen technischem, rechnenden Sehen und religiöser, philosophischer, kultursymbolischer Deutung des Unsichtbaren. 60 I Manfred Faßler
Martin Jay hatte in seinen Untersuchungen der skopischen Ordnung der Moderne und seinen neueren Arbeiten zur Aufmerksamkeit dargestellt, welche Karriere das Sehen technisch, ökonomisch, regulativ im 19. Jahrhundert machte. M. Foucault untersuchte vorrangig das verengte, strategische, kontrollierende, beobachtende Sehen. Der Konflikt um den gestalterischen Nutzen des technisch sichtbar gemachten Unsichtbaren reicht zurück in die Jahre der Renaissance, also des 15. und 16. Jahrhunderts. Bereits die Mikroskopie (H. Jansen 1590; J. Faber 1625) eröffnete eine Weltsicht, die dem Detail, das sich dem Auge entzog, das Teuflische nahm, und es zur lebensdienlichen Miniatur verwandelte. Teleskopie (Holländisches und Galileisches Fernrohr 1609 ff.) entriss die Ferne dem Unendlichen, verkleinerte das Unsichtbare ins Sichtbare. Seit dieser Zeit, der Renaissance, weiß der Mensch, dass die Augen nicht genügen, um dem fragwürdigen Überschuss an spekulativer Bedeutung die Welt empirischer Informationen entgegenzustellen. Sehen brauchte optische Verstärkung; keine Brille aus Sehschwäche, sondern Linsen, Linsensysteme, Berechnungen, Apparate, die den Gedanken, Hypothesen, Entwürfen die Kanäle schufen, um aus den Beobachtungsschwächen herauszukommen. Diese Mechaniken und Optiken bewährten sich als Quelle von Skepsis gegenüber sprachlichen Überschüssen altgedienter Menschen- und Weltwahrheiten bis in das 19. Jahrhundert. Allerdings waren sie nicht stark genug, um ihnen die Stirn zu bieten. Philosophien wähnten sich in ihren semantischen Gewölben sicher und geschützt vor den skopischen Systemen, die zwar die Sicht zu erhöhen schienen, aber nicht auf die Details der Aufklärung schauen sollten. Fotoapparate, mit denen bewiesen werden konnte, dass Pferde fliegen können, Elektrononen-Mikroskope mit ihrem beweiskräftigen Zugang zu atomaren, subatomaren, molekularen Dimensionen oder Nebelkammern als Beobachtungslinsen für atomare Strahlungen schienen für einen Moment die Sprachspiele zu zwingen, genauer hinzusehen. Trickreich, mit immer neuen Verweisen auf die behauptete Divergenz, ja Fremdheit und Feindlichkeit von Mensch und Technik, blieben als Themen Film, Kino und diagnostische Röntgenstrahlen-Bilder übrig. Mit den nanoskopischen Displays und Screens wird das Unsichtbare zum Programm. Und damit entsteht für Gestaltungs-Denken eine neue Anforderung.
11. Zum Schluss Sinnlichkeit, insbesondere Hören, Sehen, Tasten, cartesianisch der vermeintlichen Nicht-Sinnlichkeit des begrifflichen Denkens entgegenzustellen, Körperkultur der Hochkultur unterzuordnen, ist nicht nur Old School. Es verhindert, sich mit den zeitlichen Bedingungen materialen Lebens auseinanderzusetzen. Dies zu tun heißt, sich auf die Entwicklungsverläufe von Abstraktionen und Synthesen einzustellen (N. Elias),16 die immer abhängig bleiben von den physiologischen Bedingungen des menschlichen Lebens und den materialen Bedingungen der erfundenen praktischen Welt. Gegenwärtig führt eine solche Aufforderung in die Welt der Nano-, Bio-, Neuro-, Cyber-Skopischen Systeme. Sicht ohne Beweise
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Die neu begonnenen Kontroversen zwischen Wissenschaft und Kunst ranken sich nicht mehr um Vernunft und Ästhetik. Sie beziehen sich auf die Darstellungen und Deutungen des Unsichtbaren. Die wissenschaftlich-technologische Pragmatik des Unsichtbaren, die als Cybertechnologie und als „order from noise“ (H. v. Foerster) bekannt ist und bis zu iPad, Post-PC-Era, Broadband Society und hochtechnologischer Virtualität geführt hat, greift nach dem Paradies der Künste und der Semantikschulen: dem wohlgeordneten Monopol des glaubwürdigen, ästhetisierten Unsichtbaren. Das interaktive Sehen, für manche unangenehm pragmatisch, entzaubert die Eintracht von Mensch und höherer Bedeutung sowie die Zwietracht von Mensch und Technik. Dadurch wächst dem gestalterischen, unterscheidenden, interaktiven, echtzeitigen Sehen der Job zu, nicht verschiedenartigen Funktionen und deren sicher wirkenden Hierarchien nachzugehen. Auf der Tagesordnung steht die Gestaltung veränderungsintensiver, unsichtbarer Nutzungs-, Verwendungs-, Deutungszusammenhänge. Nicht erst in 10–100 Jahren, sondern online, vernetzt und interaktiv in Echtzeit wird sich partizipatorisches, veränderungssensitives Gestalten herausbilden müssen.
Anmerkungen 1 Cassirer, E.: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, hrsg. v. J. M. Krois, Ham-
burg 1995.
2 Leroi-Gourhan, A.: Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Frankfurt/M. 1988/1995. 3 Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt/M. 1997; Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt/M. 1997. 4 Busch, W./Meister, C.: Nachbilder. Das Gedächtnis des Auges in Kunst und Wissenschaft, Zürich 2011. 5 Macho, Thomas: Vorbilder, München 2011. 6 Fidler, R.: Mediamorphosis. Understanding New Media, London 1997. 7 Belting, H.: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001. 8 Soja, Edward W.: Thirdspace, London/New York 1996. 9 Faßler, M.: Erdachte Welten. Die mediale Evolution globaler Kulturen, Wien 2005. 10 Menninghaus, W.: Wozu Kunst? Ästhetik nach Darwin, Frankfurt 2011. 11 Quine, Willard v. O.: Grundzüge der Logik, Frankfurt/M. 1974. 12 Russegger, Georg: Vom Subjekt zum Smartjekt, Wien 2009. 13 Mitchell, W. J. T.: Bildtheorie, Frankfurt 2008, S. 241. 14 Faßler, M.: Bildlichkeit. Navigationen durch das Repertoire der Sichtbarkeit, Wien/Köln/Weimar 2002. 15 Heintz, B./Huber, J.: Mit dem Auge denken. Strategien der Sichtbarmachung in wissenschaftlichen und virtuellen Welten, Wien/New York 2001. 16 Elias, Norbert: Über die Zeit, Frankfurt/M. 1984.
62 I Manfred Faßler
Literatur Bauer, J.,: Prinzip Menschlichkeit. Warum wir von Natur aus kooperieren, Hamburg 2006 Belting, H.: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001 Bothe, Thorsten/Suter, Robert (Hrsg.): Prekäre Bilder, München 2010 Cassirer, E.: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, hrsg. v. J. M. Krois, Hamburg 1995 Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt/M. 1. Aufl. dtsch. 1997 / 2. Aufl. 1998 Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt/M. 1. Aufl. 1997, 2. Aufl. 1999 Elias, Norbert: Über die Zeit, Frankfurt/M. 1984 Faßler, M.: Bildlichkeit. Navigationen durch das Repertoire der Sichtbarkeit, Wien/Köln/Weimar 2002 Faßler, M.: Erdachte Welten. Die mediale Evolution globaler Kulturen, Wien 2005 Fidler, R.: Mediamorphosis. Understanding New Media, London 1997 Heintz, B./Huber, J.: Mit dem Auge denken. Strategien der Sichtbarmachung in wissenschaftlichen und virtuellen Welten, Wien/New York 2001 Hüther, Gerald: Die Macht der inneren Bilder. Wie Visionen das Gehirn, den Menschen und die Welt verändern, Göttingen 2005 Leroi-Gourhan, A.: Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Frankfurt/M. 1988/1995 Macho, Thomas: Vorbilder, München 2011 Menninghaus, W.: Wozu Kunst? Ästhetik nach Darwin, Frankfurt/M. 2011 Mersch, D.: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, München 2002 Mühlmann, H.: Die Natur der Kulturen, München 2011 Russegger, Georg: Vom Subjekt zum Smartjekt, Wien 2009 Quine, Willard v. O.: Grundzüge der Logik, Frankfurt/M. 1974 Schulz, Martin: Die Ordnungen der Bilder, München 2005 Schurz, G.: Evolution in Natur und Kultur, Heidelberg 2011 Soja, Edward W.: Thirdspace, London/New York 1996 Wolf, Herta: Paradigma Fotografie, Frankfurt/M. 2002
Sicht ohne Beweise
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Michael Erlhoff
Design als genialischer Purzelbaum – Gedanken zum elastischen Zwischenraum von Theorie und Praktik – „So viel ist gewiss: wer einmal Kritik gekostet hat, den ekelt auf immer alles dogmatische Gewäsche, womit er vorher aus Not vorlieb nahm, weil seine Vernunft etwas bedurfte, und nichts Besseres zu ihrer Unterhaltung finden konnte. Die Kritik verhält sich zur gewöhnlichen Schulmetaphysik gerade wie Chemie zur Alchemie oder wie Astronomie zur wahrsagenden Astrologie.“ (Immanuel Kant)
1. Eine Voraussetzung für ein gründliches und damit offenes Nachdenken über die Beziehung von Theorie und Praktik verlangt, in den geisteswissenschaftlichen und kulturwissenschaftlichen Diskursen ebenso wie in denen über Design, nicht länger der Fiktion hinterherzulaufen, es gäbe irgendeine endgültige oder gesicherte Wahrheit. Tatsächlich aber blicken jene Wissenschaften merkwürdig gebannt immer noch auf die Naturwissenschaften, suchen sie, diesen durch diverse akademische Rituale wahnhaft nachzueifern, auf dass deren vermeintliche Objektivität erreicht werde. Das glaubt man dann als Wissenschaft. Doch mindestens zwei Hinweise sollten diese Verblendung ad acta legen: Zum einen nämlich beschreibt Wissenschaft nicht mehr als einen selbstgenügsamen circulus vitiosus, da Wissenschaft nicht Wissen schafft, vielmehr nur zurichtet (wie bei „Landschaft“ und dessen sprachliche Nähe zu dem englischen Wort „landscape“, wobei das „scape“ „to shape“ artikuliert, also die Gestaltung). – Zum anderen konnte man mittlerweile doch allzu häufig erfahren, wie oft von Naturwissenschaften behauptete objektive Wahrheit lediglich Fantasieprodukte waren oder ausdrückliche Lügen oder Ergebnis von bloßen Missverständnissen (die allerdings gelegentlich auch zu überraschend neuen Einsichten führen). Der Beispiele dafür sind viele; eines der schönsten bewegte die Menschen bis in die sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts hinein, denn so lange rätselte man, gegründet auf der Wahrnehmung von Kanälen auf dem Mars, ob auf diesem Leben existiere. Was bloß an einem Übersetzungsfehler lag: Der italienische Astronom Schiaparelli hatte 1877 durch ein neues Fernrohr auf den Mars geschaut und dabei auf diesem erstmals Kanäle beobachtet; dies publizierte er, aufgrund der Sen sation der Beobachtung wurde dies sogleich in die englische Sprache übersetzt – nur entstand dabei ein Übersetzungsfehler. In der englischen Sprache nämlich gibt es für Design als genialischer Purzelbaum
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„Kanal“ zwei Übersetzungen: je nachdem, ob es sich um natürlich entstandene oder menschlich erbaute handelt, heißt es „canal“ oder „channel“. So entstand die Idee, auf dem Mars existierten Kanäle als Artefakte und müsse es demgemäß menschenähnliche Wesen geben. Es brauchte immerhin fast sechzig Jahre, bis dies aufgelöst wurde. Was andererseits gar nicht weiter tragisch war, beflügelte doch dieses Missverständnis viele Gedanken, Comics und etliche Literatur. Auffällig ist zudem, wie sehr etwa in der Mathematik das System zwar stets stimmig erscheint, doch diese Stimmigkeit allein dadurch gewinnt, dass es ohnehin stets selbstreferenziell denkt und agiert. Eklatant sichtbar wird dies zum Beispiel in Rudolf Carnaps bemerkenswerter Formel, die die Möglichkeit mathematisch beschreibt, dass ein Streichholz, wenn es für gewisse Zeit sich im Wasser befindet, sich auflösen kann. Diese mathematische Darstellung des Konjunktivs funktioniert ganz einfach dadurch, dass ein neues Zeichen durch ihn eingeführt wird und somit die Gleichung unweigerlich stimmt: Ein Streichholz, wenn es denn für gewisse Zeit im Wasser liegt, könnte sich auflösen. Bei Carnap war dies nicht als Scherz gemeint, war er doch Mitglied jenes „Wiener Kreis“, in dem gesucht wurde, jegliche Einsicht zu formalisieren. Aber in den Naturwissenschaften selber (zählen wir Mathematik einfach mal dazu) existiert schon seit längerer Zeit ein solches Selbstbewusstsein, dass klügere Vertreter derselben, wie Albert Einstein oder Niels Bohr, beizeiten solchen Glauben an eine schlichte Objektivität und an lineare Logik verlachten. Und betrachtet man mal genauer die reale Spielkompetenz etwa der Naturwissenschaftlerinnen und Naturwissenschaftler, die heutzutage mit teuersten Instrumenten einfach so in der Gegend herum forschen und dabei jeweils darauf hoffen, etwas zu finden. Und manchmal entdecken sie zumindest vorübergehend etwas, das neu wirkt oder gar wegweisend ist. Abgesehen also von sowieso vielen Fälschungen in den Wissenschaften, wird auch sonst sehr vieles bekanntlich als ewige Wahrheit verkündet und gilt doch nur, wenn überhaupt, als zeitlich begrenzt. Solche Einsicht führt zugleich zum Zweifel an insgesamt allen Modellen linearer Logik, also dem Glauben, aus einem Prinzip heraus wäre alles andere ableitbar. Ohnehin verlangt solche Logik die Existenz eines Anfangs, eben Prinzips, und zudem, dass daraus zwangsläufig Weiteres sich ergäbe. Da mag man sogleich Gadamer zustimmen: „Logik ist das herkömmliche Instrument, mit dem die Menschen aneinander vorbeireden“.
2. Stellt man nun die Ordnung des Denkens oder wenigstens die gewöhnliche Ordnung des Denkens infrage, dann drängt sich eilig das Problem auf, in welcher Form es denn dann stattfindet. Denn: Dass wir denken, scheint doch plausibel. Mithin ist genauer zu betrachten und zu erläutern, was das Handeln – dass wir doch gern als Ergebnis des 66 I Michael Erlhoff
Denkens ausgeben – bedingt. Also erörtern wir das Dazwischen von Theorie und Praktik; wobei Theorie hier das Gemenge von Erkenntnisinteresse, Nachdenklichkeit, Sammlung von Daten und deren Analysen, die vorläufigen Schlüsse daraus, gedachte Handlungsanleitungen, mittendrin merkwürdige Assoziationen und Selbstkritik umfasst und Praktik somit als Komplex diverser Handlungsformen zu verstehen ist. Was nun die Theorie betrifft, so darf man vorübergehend annehmen, dass diese auf Praktik angewiesen ist, also auf Handlungen und deren Ergebnisse, eben auf die Existenz von Gegenständen, Bildern, Tönen, Aktionen und anderen beobachtbaren Prozessen. Denn die Theorie braucht ein Gegenüber, Objekte, an denen sie sich reiben und entfalten kann, also als Orte der Betrachtung und Erörterung. Eigentlich lebt die Theorie davon, was zugegebenermaßen etwas parasitär wirkt. Zwei Einschränkungen allerdings müssen gleich benannt werden: Zum einen mag sich Theorie selber gelegentlich als unmittelbar praktisch verstehen und sich darauf berufen, dass ab und an die theoretische Aussage gesellschaftliche Veränderungen hervorgerufen habe. Das ist schwer nachzuprüfen, zumal reale Veränderungen hier immer nur durch Aktionen veranstaltet werden – und sei es, dass diese wiederum Ergebnis von Theorie sind. Insofern könnte Theorie lediglich mittelbar verändernd eingreifen. Komplizierter ist, dass – man könnte schreiben: resignativ – Theorie oftmals auf die Reflexionen der außer ihr selber liegenden Handlungsweisen und empirischen Wirklichkeiten schlicht verzichtet und sich ausschließlich mit sich selbst beschäftigt, eben als Meta-Theorie. Sie beginnt, sich selbst zu genügen, oder verliert sich in den eigenen Verästelungen und hält sich selbst für das eigentliche Zentrum des Lebendigen (hier verquicken sich womöglich jene, die die Theorie als praktisch verstehen wollen, und diejenigen, die auf den Bezug zu empirischer Wirklichkeit pfeifen). Dies geschah historisch immer wieder und ist den theoretischen Diskursen durchaus immanent. Denn immer, wenn es um die Interpretation von Handlungen und von gesellschaftlichen Prozessen geht, sieht man sich notwendig zugleich konfrontiert mit schon anderen Interpretationen, deren Grundlagen man dann vorab oder nebenbei kritisieren und partiell verwerfen muss, wenn man eine andere Perspektive begründen möchte. Etwas trostlos allerdings wirkt, wenn es bei der Auseinandersetzung der Interpretationen verbleibt und dabei der Blick auf jene Handlungen und gesellschaftlichen Prozesse unterbleibt, zumal der Bezug dann fehlt und damit auch der Grund für die Auseinandersetzung. Tatsächlich herrscht auch heute im akademischen Betrieb solch theoretische Abstraktion, was unter anderem darin kenntlich wird, dass vielerorts mehr die Methode (oft wird zum Beispiel bei Dissertationen, noch bevor nach dem Thema gefragt wird, eingefordert, man müsse erst einmal die Methode angeben, mit der man arbeiten wolle) und die Einhaltung akademischer Rituale als die Relevanz des Themas und die Qualität der Analyse bewertet werden. Manchmal besteht das so genannte primäre Material solcher theoretischen Arbeiten selbst ausschließlich aus theoretischen Texten. Unterstellen wir nun aus guten Gründen, Theorie habe mit dem zu tun, was wir Praktik und was wir lebendige gesellschaftliche Realität nennen – dann fragt sich noch, was nun die Praxis mit der Theorie anfängt. Einsichtig erscheint hier, dass die Theorie Kontexte aufzeigt, in Design als genialischer Purzelbaum
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deren Rahmen gehandelt wurde und wird, dass sie der Praxis Daten aus empirischen Erhebungen anbietet sowie Erläuterungen zu Prozessen des Handelns, der Kommunikation und Kritik, verschiedentlich auch Selbstvergewisserung oder sogar Selbstbewusstsein. Das wäre eine ganze Menge. Dennoch – so beschrieb dies schon sehr überzeugend Michel de Certeau in „Die Kunst des Handelns“ – existieren gelegentlich in der Praxis tiefe Vorbehalte gegen die Theorie. Was aus mehreren Perspektiven erklärbar ist: Sicherlich erscheinen denen, die praktisch arbeiten, häufig die Ergebnisse ihrer Arbeit als völlig unabhängig von theoretischer Reflexion; was einerseits völlig falsch ist, da jede und jeder immer auch denkt, irgendwie eben zwangsläufig mit Theorie zu tun hat und von Theorien geprägt ist (ob man nun darum weiß oder nicht – wobei Letzteres höchst problematisch ist); andererseits hat dieses Vertrauen in das einfache Handeln ein gewisses Recht auf seiner Seite, geschehen doch so viele Prozesse im Verlauf von Handlungen, die im traditionellen Sinn nicht als Theorie fassbar sind. Mithin braucht es eine andere Vorstellung von Theorie, um daraus auch eine andere von Praktik zu ermöglichen. – Ein anderer Vorbehalt der Praktik gegenüber der Theorie ist einfacher erklärbar. Offenkundig existiert in unserem Kulturkreis das eigenartige Paradoxon, einerseits gegründet auf dem einst antifeudalistischen Anspruch des Bürgertums auf Bildung und einer Hochachtung vor der Theorie, andererseits in einer (auch an Honoraren beschreibbaren) Selbstüberschätzung der Praktiker als eben der Macher, verknüpft mit der Abwehr der Theorie als kritischer Aktivität, die jeden Erfolg verdirbt. Ist also an und für sich die Theorie höchst neugierig darauf, was da so geschieht, so möchte die Praxis die Theorie in die Gelehrtenstube abschieben. So gilt die Theorie der Praxis oft als arrogant und Letztere handelt genau deshalb selber arrogant gegen die Theorie. Klar, auflösen lässt sich dieses verzwickte Verhältnis kaum, aber man kann so viel gegenseitige Beeinflussung und Überlappung nachweisen, dass der Widerspruch zwischen beiden sich partiell egalisiert. Spannend ist deshalb, den Raum und die Zeit zwischen beiden, eben das Dazwischen zu erläutern.
3. Beginnen wir erneut mit Beispielen: So ist wohl allen Menschen bekannt, dass sie, wenn ihnen zum Beispiel ein Name nicht einfällt, an etwas anderes denken sollten, denn dann tritt das Vergessene wie zufällig zu Tage. Hier wie so oft hilft Dekonzentration, also nicht zwanghaftes Nachdenken oder der Versuch linearer Ableitungen. Offenkundig nämlich ist der Kopf gelegentlich klüger, als man denkt. Doch auch das Gegenteil existiert, denn der Kopf – oder schreiben wir besser: das neuronale System und vorbewusste Erfahrungen oder auch Wünsche und Sehnsüchte oder Ängste – verführt den Menschen zu Fehlschlüssen. Ein bekanntes Beispiel dafür ist jene Einsicht, die schon vor etwa 160 Jahren der Physiker Helmholtz formulierte: Parallele Linien und rechte Winkel sind für unsere Augen nicht sichtbar, dennoch se68 I Michael Erlhoff
hen wir sie. Selbstverständlich meinen wir nur, sie zu sehen. Offenbar betrügen uns dabei vorbewusste Ängste oder ein neuronales System, das effizient und keinesfalls panisch reagieren möchte, und bilden uns ein, wir würden parallele Linien und rechte Winkel sehen, auf dass wir uns damit zufrieden geben. Mithin, aber so überraschend ist das nicht, sausen im Denken selber wie in der Wahrnehmung und deren Verarbeitung und in dem Prozess zwischen Denken und Handeln unzählige flüchtige Teilchen herum, das Denken zu lenken, die Wahrnehmung zu gestalten und die Handlung zu leiten. Dabei spielen sowohl die unzähligen Wahrnehmungen eine Rolle, die stattfinden, während wir denken, träumen, reden, schreiben und in anderer Form agieren, als auch die Handlungen und damit ebenso Auseinandersetzungen mit der Außenwelt, die sich als Material dem Denken anbieten und in dieses eingreifen; zugleich stimulieren Erinnerungen, mitsamt daraus resultierenden Wünschen und Ängsten, die Verhältnisse dessen, wie alles sich im Kopf und im restlichen Körper zusammensetzt. Selbstverständlich kann als Theorie erst bezeichnet werden, was versucht, dieses alles zu verstehen und zu vermitteln, und als Praktik nur das, was darin handelt.
4. Ein weiteres Beispiel, diesmal aus der Theorie. Immanuel Kant stieß in seiner dritten Kritik, der „Kritik der Urteilskraft“, auf ein denkwürdiges Problem: Da er alles zu begründen und präzise zu beschreiben suchte, eben auch die Urteilskraft und damit verbunden das, was in der Produktion und Rezeption von Artefakten als gelungen zu beurteilen wäre, eröffnete sich ihm unausweichlich das weite Feld der Erläuterung künstlerischer Aktivitäten. Er schaffte es einfach nicht, trotz aller Bemühungen, auch diese kategorial und damit verstandesgemäß zu fassen, vielmehr wich er an dieser Stelle aus und erfand – zugegeben, im Rückgriff auf ein schon Formuliertes – das Genie und das Bild des Genialischen. So richtig beschreiben oder gar verorten konnte er das nicht, gleichwohl half es ihm, die Prozesse im künstlerischen Dasein und Sosein wenn nicht zu verstehen, so doch sehr brauchbar zu erörtern – und en passant propagierte er diese Dimension so überzeugend, dass sie zu Beginn und dann erneut am Ende des 19. Jahrhunderts von Kollegen, der Literatur, den bildenden Künsten und schließlich auch der Öffentlichkeit begeistert aufgenommen wurde. Gewiss hat jeder Mensch deshalb sogleich eine Vorstellung vom Genie, ohne dies präzisieren zu können. Und jeder Versuch solch einer Beschreibung ist etwas hilflos. Aber wir könnten diese Dimension oder Perspektive vom Genie tentativ auf das zuvor in diesem Text Geschriebene beziehen, nämlich auf jene Kompetenz einer konzentrierten Dekonzentration oder unaufmerksamen Aufmerksamkeit oder aufmerksamen Unaufmerksamkeit, denn nur diesen gelingt, mit den assoziativen Dimensionen wirklicher, eben wilder Ordnung des Denkens umzugehen. – Versuchshalber: Was geschieht, wenn wir eine Treppe hinunter gehen. Wir haben im Kopf die Erinnerung, also das Design als genialischer Purzelbaum
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Bild, von Treppe und wissen, dass diese hinauf- oder hinunterführt und über entsprechende Stufen verfügt; gehen wir eine Treppe hinunter, so stellt sich dieses Bild sofort ein, verknüpft sich mit dem des Nach-Unten-Schreitens – und nach voraussichtlich sechs bis acht Stufen wissen wir über die Höhe der Stufen und über deren Ablauf, also auch über die von uns zu liefernden Bewegungen Bescheid und können nun vergnügt in die Welt schauen, während wir auf der Treppe weitergehen. Blöd nur, wenn zum Beispiel die drittletzte Stufe vom System abweicht, denn dann stürzen wir. Aber stürzen tun nur diejenigen, die an das System glauben, eben meinen, man könne aus einer Vorgabe alles andere ableiten; Gewinner sind auch in diesem Fall die anderen, nämlich die, die vergnügt mit in die Weite gerichtetem Blick sich auf der Treppe bewegen, dabei jedoch in jedem Moment zugleich sich vergegenwärtigen, dass das System Fehler haben könnte. Das wäre jene unaufmerksame Aufmerksamkeit oder konzentrierte Dekonzentration. Nun ist die Formulierung vom Genie sicherlich nur eine Hilfskonstruktion, die Komplexität dieses Problems und dieser Möglichkeiten in einem Wort festzulegen. Aber es half und führte sogar am Ende des 19. Jahrhunderts zu der Erfindung eines völlig neuen Berufs gemeinsam mit einer neuen Wissenschaft und der Vorstellung einer neuen Kompetenz. Bedenkenswert ist dabei, dass um 1880 die Texte von Immanuel Kant eine Wiederauferstehung erlebten und womöglich erstmalig richtig gelesen wurden. Der Grund dafür war einerseits, dass die gesellschaftlichen Konditionen unübersichtlich geworden waren (die sozio-ökonomischen Verstrickungen, die unzähligen Erfindungen mit Veränderungen von Arbeit und Leben, der Kolonialismus und dann Imperialismus mit vielen neuen Einflüssen, politische Konfusionen etc.); andererseits zerstörte die fortschreitende Arbeitsteilung, die Spezialisierung von Berufen und Denkformen (eben auch in den Universitäten und Akademien) die Möglichkeit, die Gegenwart und deren Perspektiven zu verstehen und die Unübersichtlichkeit zu durchleuchten. Man hoffte auf eine neue Kompetenz, die alles erneut zusammenführen und zusammendenken könnte. So erfand man den Ingenieur als Beruf, als Studium und als Denkweise. Gewissermaßen im Rückgriff auf das Universitäre, auf die Fähigkeit, alles noch ineinander denken zu können, sollte der Ingenieur dies nun neu formulieren. Dabei ist evident, dass die als „Ingenieur“ Bezeichneten „in genium“ sich befänden, also Genies seien. Von diesen erhoffte man, dass sie wieder zusammenführen könnten, was da nun nur noch zerteilt und zergliedert, aufgespalten und zusammenhangslos das Leben bestimmte und formierte. Immerhin gab es zu derselben Zeit auch jene vielen Versuche und Untersuchungen zur Synästhesie, ebenso die Kontextualität zu begreifen und zu gestalten. Das Konzept Genie half, dafür Ansporn und Begründung vorübergehend zu liefern. – Langfristig jedoch, das ist offensichtlich, hat das nichts genützt, denn das Ingenieurwesen zerfiel wie andere Berufszweige und Studiengänge in unzählige Spezialisierungen allgemeiner Arbeitsteilungen, obwohl oder weil doch Buckminster Fullers Satz „specialists are slaves“ so berechtigt ist. In unserer Zeit, da seit einigen Jahren die Diskussion über Meta- und Transdiszi plinarität intelligente Diskurse verlebendigt (während in den meisten universitären 70 I Michael Erlhoff
Betrieben immer noch Disziplin gepredigt wird), hat erneut die Suche angehoben, wer denn und mit welchen Gründen die Zusammenhänge wieder untersuchen, beurteilen und auch gestalten könnte. Nicht unversehens ist dafür als Möglichkeit das Design am Horizont erschienen und kann man dies mit einiger Hoffnung als exemplarisch für neue kontextuelle Perspektiven begreifen.
5. Wir kommen der Sache näher, jenen Zwischenraum von Theorie und Praktik zu erläutern. Einer der dafür sicherlich klügsten Theoretiker, der sich selber durchaus als Naturwissenschaftler und vor allem als Empiriker verstand, war Sigmund Freud. Denn er mühte sich, allerorten die verwinkelten Pfade und die verzwickten Implikationen aufzuspüren, die Denken und Handeln beeinflussen. Unter anderem entdeckte er dabei, was zuvor lediglich in den bildenden Künsten und in Musik und Literatur implizit genutzt und artikuliert wurde, nämlich die Relevanz von Störungen und untergründigen Strömungen psychischer Konstellationen für Denkweisen und Handlungsformen. Im Rahmen unseres Themas sind zwei seiner Bücher relevant, eben „Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten“ und die „Psychopathologie des Alltagslebens“. Denn in beiden Schriften analysiert er Herkunft und Qualität von Fehlleistungen, die, so erläutert er an vielen Beispielen, häufig wahrhaftiger in Wort und Aktion formulieren, was hintergründig gedacht und auch gewollt wurde, als dies die erkennbaren Absichten von Wort und Aktion offerieren. – Wir alle kennen jene Versprecher in Politik, Medien und andernorts, die so viele Einsichten in das eigentliche Denken der Redenden eröffnen und uns auch noch sehr viel Vergnügen bereiten. Letzteres entspricht klugen Witzen, die gerade auf dem Doppelsinn von Wörtern oder auf Missverständnissen beruhen. Wenn Sigmund Freud dies womöglich als eine Quelle seiner empirischen Forschungen und für entsprechende Therapie aufführt, so kann man, wenn man dies erst einmal zur Kenntnis genommen hat, davon ausgehen, dass das Potenzial solcher Fehlleistungen und Versprecher mitsamt der schier unendlichen Menge möglicher Variationen derselben in den Künsten und auch im Design oder sogar insgesamt, wenn auch dann unbewusst oder zumindest unbedacht, in vielen Aktionsfeldern als Konstruktionsprinzip genutzt worden ist als Substanz der Artikulation. Das schafft Lebendigkeit in der alltäglichen Kommunikation und wurde häufig genutzt: etwa in der Literatur in den Aphorismen von Lichtenberg oder Jean Paul, in Gedichten von Goethe und Heinrich Heine, in den Phantasmagorien der Hauptfigur in Poes „The Man in the Crowd“; Dada und die Surrealisten arbeiteten damit, sowie all jene, die mit Anagrammen und Palindromen dichten, ebenso oder selbstverständlich ein Ernst Jandl („Kennen sie mich Herren“). In der bildenden Kunst gibt es ebenso unzählige Beispiele, eklatant wurde es etwa bei Marcel Duchamp und dann im Nouveau Réalisme und bei Fluxus, außerdem in vielen Spielfilmen und dergleichen. In solchen Formen gerieten die Fehlleistungen und damit verbundene Möglichkeiten gewissermaDesign als genialischer Purzelbaum
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ßen zu Wunschmaschinen und zum kristallinen Generierungs-Prinzip künstlerischer Produktion. Ein anderes bekanntes Beispiel dafür ist der Jazz: Man stelle sich nur vor, da verspielt sich einer, und das Publikum ist über diesen Ton oder diese Sequenz völlig begeistert. Nun beginnt das Problem, dass man sicherlich vergleichbar in anderen Künsten kennt, nämlich die Not, den Fehler zu rekonstruieren, ihm also auf die Schliche zu kommen, um ihn umgehend reproduzieren zu können. Wozu aber immer auch und vor allem die außergewöhnliche Kompetenz gehört, den Fehler oder die Fehlleistung zu erkennen, in ihrer Qualität zu begreifen – und letztlich nur die Fehler zu nutzen, die dafür taugen und aufregende Implikationen und Provokationen in sich bergen und äußern; denn nicht jede Fehlleistung ist aufregend und birgt Neues und Anregungen. Womit wir allerdings fast wieder beim Genie sind, eben die Qualität von Fehlern zu spüren.
6. In diesem Blickwinkel scheint ein weiterer Aspekt auf, das verwickelte Verhältnis von Theorie und Praktik weiter aufzuklären. Robert Musil, damals offenbar noch beeindruckt von der Entdeckung des Ingenieurs, beschrieb dies sehr plausibel: „Der Ingenieur unterscheidet sich oft dadurch vom Theoretiker, dass er das Denken an irgendeinem Punkt abbrechen lässt und seine Konstruktion mit einer Annahme, einem Abkürzungsverfahren, das ein Sprung durchs Unbeweisbare ist, macht und dieses sich durch den Erfolg bestätigen lässt“. Während nämlich die Theorie fortwährend weiter theoretisiert und nie ein Ergebnis finden wird, liegt die Kompetenz von Praktik genau darin, den Moment zu begreifen, in dem Aktion nun ausreicht oder genügend analytisches Material vorfindet, um aussichtsreich tätig zu werden. Man kann es sehr gut auch vergleichen (und dieser Prozess ist übrigens dem Design sehr ähnlich) mit dem medizinischen Phänomen eines ständigen Streits zwischen Diagnose und Therapie. Diagnose nämlich versucht, die Gründe für eine Krankheit oder ein Unwohlsein herauszufinden, unternimmt vielfältige Untersuchungen mit allen nur denkbaren Methoden, und würde am liebsten den zu diagnostizierenden Menschen schließlich als Leiche aufschlitzen, um endlich das zu finden oder auch nicht zu finden, was man suchte. Therapie stört dabei selbstverständlich, da sie die Bedingungen von Diagnose ruiniert. – Therapie steckt in der Klemme, unbedingt helfen zu wollen und insofern die Diagnose berücksichtigen zu müssen, aber jenes schreckliche Ende von Diagnose nicht abwarten zu können. Kompliziert ist eben, den Zeitpunkt genau zu bestimmen, an dem sie die Diagnose verlassen soll, um hilfreich zu handeln. Klar, manchmal tut sie dies zu früh und handelt dann gegebenenfalls (allerdings nicht immer) falsch, also tödlich, und manchmal handelt sie zu spät, mit denselben letalen Folgen. Das ist sehr verschachtelt und beschreibt genau die Möglichkeiten und Notwendigkeiten von Handlung und ihr Dilemma. Ideal widerfährt dabei der Handlung ein merk72 I Michael Erlhoff
würdiges Ineinander von Erfahrung, Einsicht, Empathie und plötzlichem Handlungsstrang, der eigenartig unreflektiert dennoch auf Reflexion irgendwie basiert. Verwunschen läuft dies ab, allemal unscharf. Wahrscheinlich ist dies vergleichbar dem, was in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts Shannon für den Prozess von Kommunikation erläuterte. Man kann sich vorstellen, wie zwei Menschen miteinander zu reden versuchen: Der oder die eine spricht, die oder der andere hört zu. Dabei gehen beide unausgesprochen gar nicht davon aus, die andere oder den anderen präzise zu verstehen, vielmehr achten die Redenden auf Zeichen, die ihnen verheißen, die oder der andere hätten etwas verstanden, und die Zuhörenden spannen gewissermaßen einen großen Schirm auf, sämtliche Informationen von den Redenden zu empfangen (also auch die Gesten, die Mimik, die Blicke, Stimmlage und Betonungen und dergleichen), und in dem Augenblick, da sie auch nur das Gefühl haben oder meinen, etwas zu verstehen oder verstanden zu haben, senden sie Zeichen des Verständnisses zurück, auf dass nun endlich sie selber zum Reden kommen – und die andere Seite daraufhin ebenso verfährt beim Zuhören. Anregend ist dieses Modell, da es erläutert, dass es in solchen Gesprächsverläufen gar nicht darauf ankommt, etwas präzise zu verstehen, vielmehr wichtig ist zu glauben und der anderen Seite mitzuteilen, man habe verstanden. Zweifellos, doch dies beweist uns täglich das Leben, kommt es dabei zu etlichen Missverständnissen; nur schaden diese häufig gar nicht oder sind sogar für das Gespräch und für die Entwicklung der eigenen Gedanken äußerst produktiv. – Beschrieben wird hier die Qualität von Unschärfe als eine notwendige Kompetenz für die Entwicklung von Theorie und Praktik oder ebenso als eine mögliche Vermittlung zwischen beiden. Ergänzend könnte übrigens Walter Benjamin mit seinem Anspruch zitiert werden, man solle „prismatisch denken“, da dies die Verquickungen, Unschärfen sowie heterogenen Perspektiven einleuchtend und adäquat darstelle.
7. Nun ausdrücklich zum Design, dessen vermittelnde und integrative oder trans-disziplinäre Fähigkeit zuvor schon erwähnt wurde. Begründen lässt sich das daraus, dass das Design sowohl eine sehr junge Denk- und Handlungsform ist, und so sich den üblichen Disziplinierungen grundsätzlich entziehen konnte (was nicht allen innerhalb von Design gefällt, gleichwohl einfach so ist), demgemäß stets als Vernetzung unterschiedlichster Fertigkeiten und Fähigkeiten aufgetreten ist, als auch unabdingbar aus der tiefsten Verknüpfung von Denken und Handeln entsteht und ohnehin sich permanent inmitten sämtlicher gesellschaftlicher Widersprüche bewähren, sich mit sich und den anderen auseinandersetzen muss. Design ist deshalb unweigerlich offen und braucht den offenen Diskurs. Deshalb war völlig angemessen, als vor etwa zehn Jahren Teilnehmer und Teilnehmerinnen des „St. Moritz Design Summit“ (der insgesamt siebenmal stattfand mit jeDesign als genialischer Purzelbaum
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weils etwa dreißig Eingeladenen) eine Deklaration entwarfen, in der sie die grundsätzliche schöpferische Kompetenz von Missverständnissen, Fehlern und des Missbrauchs von Objekten und Zeichen formulierten. Ja, man ging damals so weit, sogar zu schreiben, dass womöglich gerade diese drei Dimensionen wesentliche Innovationen zu entwickeln in der Lage sind. Wobei, das versteht sich von selbst, alle zuvor in diesem Text beschriebenen Verwicklungen, Konflikte und Probleme mitbedacht wurden. Dabei bezieht sich dieser Gedanke ebenso auf die Bedingungen der Produktion von Entwürfen und von Theorie-Bildung wie auf die Notwendigkeit beider, sich unter denselben Perspektiven um die Wahrnehmung empirischer Wirklichkeit zu kümmern, um genau daraus gar als Provokation neue Anregungen für Theorie und Praktik zu holen.
8. Denn die Beachtung von Missverständnissen, Fehlern und dem so genannten Missbrauch, also dem Gebrauch, der sich nicht an die Intentionen der Herstellung und deren Regelwerk hält, geschieht nicht allein in der Produktion, sondern mindestens ebenso in der Rezeption, die eben als produktive Rezeption jederzeit zu verstehen ist. Der Gebrauch selber ist zumal dann, wenn er einfach so stattfindet, mit dem Verständnis und den Notwendigkeiten derer, die da gebrauchen, schöpferisch, schafft neue Vorstellungen und Möglichkeiten von Nutzung. Da reichen einfache Beispiele, etwa der Gebrauch von Stühlen, die dafür niemals gestaltet und hergestellt wurden, als Leitern und als Garderoben, der Gebrauch von Zeitungen oder Zeitschriften als Sonnenschutz und als Instrument, Insekten zu töten, alte Kühlschränke als Bücherregale, Bierdeckel, um wackelnde Tische zu richten, Marmeladengläser als Bleistifthalter und so schier unendlich vieles andere. Zusammengefasst wurde alles dies unter der Kategorie „Non Intentional Design/NID“ (klar, NID ist zugleich und pragmatisch die Umdrehung von der Deutschen Industrie-Norm). Jedoch gilt auch in diesem Kontext, dass nicht alles, was da missverständlich, missbräuchlich oder fehlerhaft gebraucht und umgenutzt wird, wunderbar ist und neue Perspektiven belebt. Nur liegt dies oft auch daran, dass den Menschen als denen, die all das gestaltete und hergestellte Zeug benutzen sollen und gegebenenfalls wollen, zu wenig Möglichkeiten eingeräumt werden, ihre eigenen Kompetenzen auch als Gestaltungskompetenz zu verstehen. Doch dies wäre wiederum Aufgabe von Theorie, wenn diese denn in der Lage wäre, sich selbst im Rahmen von Praktik besser zu verstehen, und die von Praktik, wenn sie bereit wäre, undogmatisch zu handeln.
74 I Michael Erlhoff
Martin Gessmann
Welchen Einfluss hat die ästhetische Reflexion auf die künstlerische Gestaltung? Die Rückkehr des Analogen. Eine philosophische Betrachtung zur ästhetischen Gegenwart Einleitung Die Freunde Niklas Luhmanns waren sich einig darin, dass die kurze Abhandlung über Liebe als Passion wohl sein schönstes Buch ist; sie waren sich auch einig darüber, dass er in dem Buch einen wissenschaftlichen Fauxpas begangen habe. Der bestand darin, dass er sich bei der Wahl seiner Quellen beinahe ausschließlich auf Popularliteratur ver lassen hatte. Freilich wäre Luhmanns Botschaft nicht so eindringlich und anschaulich geworden ohne jene populären Quellen. Wo wir die Dinge in den Niederungen der Alltagskultur präsentiert bekommen, gibt es kein Vertun, weil die Botschaft schon so formuliert sein muss, dass sie zuletzt wirklich jeder versteht. So sei es nun erlaubt, ebenfalls zu Beginn der akademischen Betrachtung mit einem solchen Beispiel aus der Massenkultur zu beginnen, aus dem schlichten Grunde, weil es den (ästhetischen) Fehler wie den (philosophischen) Vorteil hat, überdeutlich zu sein. Wer sich in der neuesten und zugleich Jubiläums-Bond-Verfilmung Skyfall1 auf die traditionelle Sequenz mit dem Quartiermeister Q freute, wurde herb enttäuscht. Nicht nur wurde die Rolle nicht mehr besetzt mit einer Figur vom Zuschnitt eines Desmond Llewelyn oder John Cleese, es handelte sich bei Q überhaupt nicht mehr um eine Persönlichkeit, die man aus anderen schauspielerischen Zusammenhängen kennt. Die Rolle des Herrenagentenausstatters übernimmt vielmehr ein Nerd, und seine Waffenkammer ist das World Wide Web. Der neue Q setzt bei der Wahl der technischen Gadgets dementsprechend auf technischen wie gestalterischen Minimalismus. Wo zuvor Uhren, Autos und Füllfederhalter Erstaunliches zuwege brachten (und bei ihrer Präsentation mindestens für Aufsehen, wenn nicht für skurriles Amusement sorgen konnten), wird heute nur noch schmucklos die Grundausstattung von vorgestern präsentiert, eine beinahe handelsübliche Pistole und ein handelsüblicher Sender. Die avancierte Technik zumindest erscheint nicht mehr auf der Seite der Guten. Wo sie im Film eine überragende Rolle spielt, hat immer schon der Gegner seine Hände im Spiel. So darf die Szene mit dem jugendlichen Quartermaster auch zugleich als Schlüssel für das Verständnis des ganzen Films herhalten. Von der Technik selbst und ihrer Inszenierung geht offenbar keine Faszination mehr aus, der künstlerische Effekt muss sich vielmehr in einer Rückbesinnung auf vergangene Urformen des Genres einstellen. Der klassische Kampf Die Rückkehr des Analogen
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des 20. Jahrhunderts um einen alles entscheidenden Vorsprung durch Technik ist entschieden, Cyber-Attacken auf das Auge des Betrachters sind nichts anderes als reizlos geworden. Effekte lassen sich nun nur noch umgekehrt gedacht erzielen und damit an der Stelle, an der zu der langweilig gewordenen technischen Perfektion wieder ein Charakter mit all seinen Schwächen tritt. Sobald also die technische und mediale Ausstattung keinen darstellbaren Unterschied mehr macht, kehren die menschlichen Formen der Befindlichkeit zurück in den Vordergrund der Gestaltung. Wir sind damit an dem Punkt angelangt, an dem nicht mehr die Thematisierung und Brechung (bzw. schlichter die bloße Zerstörung) der technischen Zurüstung am Ende noch einmal Raum für geordnete menschliche Verhältnisse schaffen kann, vielmehr bildet ein technisch abgerüsteter Gestaltungsraum schon von Beginn an die Bühne, auf der sich die menschlichen Eigenschaften der Akteure wieder als durchsetzungsfähig und damit zuletzt als alles entscheidend erweisen dürfen. Erstaunlich darf das besonders im Zusammenhang mit den Bond-Verfilmungen gelten, war es doch das Grundmotiv schon der Bond-Romane gewesen, die Welt vor einer Verbindung von genialer Technik und abgründiger Schurkerei zu retten. Ian Flemings Bond war so gesehen immer der britische Gentleman geblieben, der die zerstörerischen Auswüchse des 20. Jahrhunderts nur als eine kontinentale Schrulle verstehen und zugleich abtun konnte. Außerhalb der englischen Clubatmosphäre war von keiner nachvollziehbaren Menschlichkeit mehr auszugehen, und das Vorbild für den Ruhestörer war der „geniale Neurotiker“, den Fleming vornehmlich in „brillanten Nazis“ wiederfand.2 Brillant war an den Gegnern des Agenten freilich nur, dass sie ein zwanghaft übersteigertes Geltungsbedürfnis mit technischen Einfällen und Finessen in Verbindung brachten, die in der Lage waren, zuletzt die halbe Welt zu vernichten.3 So gesehen waren also die Bond-Stories in ihrem Wesen alle Abrüstungsromane. Und die Filme waren Inszenierungen davon, wie man die Technikneurose des 20. Jahrhunderts immer und immer wieder neu kurieren musste. Die Botschaft, die Sam Mendes als aktueller Regisseur mit seiner Verfilmung von Skyfall zum Ausdruck bringen will, ist dagegen eine ganz andere geworden. Nach 50 Jahren Dauereinsatz ist die ursprüngliche Mission offenbar beendet. Es gilt nicht mehr, in heroischem Einsatz einem überspannt auftretenden Gegner seine technische Zurüstung aus der Hand zu nehmen. Das macht der Bösewicht am Ende schon ganz von selbst. Der Gegner ist (mehr oder weniger) auch ein englischer Gentleman, er stammt aus den eigenen Reihen, und ist aus (mehr oder weniger) nachvollziehbaren Gründen ein wenig verwirrt. Seine Technik ist jene, die wir im Alltag auch immer vor uns haben, der fragwürdig blondierte Schauspieler (Javier Bardem) tritt mit dieser Engelsverkleidung offenbar als ein Double von Julian Assange auf. Bonds Gegner ist demnach auch beinahe schon in der Anonymität seiner Netzverbindungen aufgegangen. Und mit dieser Rücknahme des Technikgeschehens in die Sphäre des Virtuellen und Innerlichen ist zuletzt auch der Charakter der Auseinandersetzung ein anderer geworden. Es ist nun nicht mehr der Kampf gegen den technischen Fortschritt in den immer falschen Händen, gegen Technik als Neurose und damit zuletzt gegen eine neurotische 76 I Martin Gessmann
Technik an sich. Vielmehr ist die Abrüstung soweit gelungen, dass es am Ende nur noch ein Kampf der beteiligten Charaktere ist, Charaktere, die sich als solche auch wieder gegenseitig verstehen wollen. Die Technik und vor allem ihre Verbindung zum menschlichen Charakter tritt in den Hintergrund, in den Vordergrund tritt wieder das Charakterliche, verstanden als das Menschliche selbst, das heißt, ohne dass die Technik die Prothese des Schurken ist oder der Schurke umgekehrt die Prothese der Technik. Jene technische Abrüstung in Sachen Weltanschauung darf jedoch nicht mit einer Rückkehr von Romantik verwechselt werden, schon gar nicht ästhetisch. Es ist nicht einfach so, dass nun die Technik im Film wie auch die technische Aufrüstung des Films selbst verschwindet. Im Gegenteil lebt sowohl der Inhalt der Film-Aktion von den Folgen einer total erscheinenden Digitalisierung unserer Nachrichtenwege, wie auch die Filmproduktion selbst ohne die vollkommene Digitalisierung der Action-Szenen, auch für jeden Zuschauer einsehbar, nicht mehr machbar wäre. Wenn man so will, wird das Genre einer Reflexionskunst, die sich am Thema der Technik abarbeitet, also nicht verlassen. Jedoch ist die strategische Ausrichtung dieser Reflexion grundsätzlich eine andere geworden. Bisher ging es immer darum, kulturkritisch gedacht, im finalen Zerbrechen und Unterlaufen der technischen Gestaltungsmittel noch einmal einen rettenden Durchblick auf die Welt zu bekommen, wie sie emphatisch verstanden noch ‚wirklich‘ ist. Noch jede kritische Theorie im Verlauf des 20. Jahrhunderts hätte das so gewollt. Nun hat aber offenbar die technische Zurüstung unserer modernen Kunst ihre traditionellen Ecken und Kanten verloren, sie ist selbst so reflexiv und alles umspannend geworden, dass sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts längst schon alles in ihr und durch sie hindurch bewegt – so sehr, dass eine Vorstellung vom Herumkommen um die Technik so naiv wie auch überflüssig erscheint. Und so kommt es darauf an, zu einer Technik, die sich im Zuge ihrer Perfektion selbst erledigt, nun wieder Charaktere zu bilden, die durch sie hindurch abgebildet werden. Wesentlich ist gestalterisch, dass sich nicht mehr das Analoge (und alles damit noch menschlich Verstandene) wie bisher im Digitalen und Technischen auflöst, sondern das Digitale am Ende einer langen technischen Entwicklung schließlich ins Analoge rück-übersetzt wird. Die Gefahr einer Auflösung des Analogen im Digitalen, wie sie sinnbildlich für die Geschichte der Moderne und Postmoderne seit 1850 im Schwange ist, scheint damit erst einmal gebannt; und die Aufgabe der zeitgenössischen Kunst erscheint umgekehrt als eine solche, nach der Auflösung des Analogen im Digitalen das Digitale wieder mit einem analogen Gesicht zu versehen. Die Rückkehr des Analogen bedeutet demnach eine neue Reflexion auf das Verhältnis von Kunst und Leben, in dem die Kunst das bislang verschüttet geglaubte Leben in ihr auf ganz neue Weise wiederentdeckt. Die Rückkehr des Analogen meint so zuletzt einen Akzentwechsel in der modernen wie auch postmodernen Reflexionskunst, in der eine langanhaltende Phase der ständig gesteigerten Technifizierung der Kunst nun wieder umgepolt wird in eine menschlich zu verstehende Verlebendigung jener technischen Gestaltungsformen. Dass im Zuge einer solchen Umpolung mancherlei menschliche Motive eines Wiederfindens längst verlorengeglaubter Dinge zum Vorschein kommen, macht dann womöglich die besondere Ausrichtung mancher Gegenwartskunst aus – Die Rückkehr des Analogen
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und gibt ihr menschlich eine melancholische Grundtönung und methodisch eine archäologische Grundanlage. Es herrscht die Vorstellung, dass die alten Formen, die man zurückließ im Aufbruch und Gefolge der Avantgarden, nun grau und alt geworden sind, und das Erste, was es nun zu tun gibt, das Aufarbeiten und Abschließen jener verschütteten Konflikte sein muss. Die zeitgenössische Kunst mag demnach dazu neigen, lauter alte Geschichten zu erzählen. Die folgenden Ausführungen sollen jedoch dazu beitragen zu verstehen, warum jene alten Geschichten gerade das Neue an der Kunst sind. Das Neue liegt in der Form, gerade dann, wenn die Helden nun so scheinen, als seien sie von gestern. James Bond ist grau geworden – und das ist offenbar gut so. In drei Schritten möchte ich vorgehen: I. geht es darum, den philosophischen Hintergrund für das Aufkommen der Reflexionskunst in der künstlerischen Moderne nachzuskizzieren, II. geht es darum, jene künstlerische Reflexionshaltung zu aktualisieren anhand eines neuen Mimesis-Begriffs in der Gegenwartkunst, III. soll am Beispiel von Gegenwartskunst gezeigt werden, wie neue Formen von Mimesis das bisherige Verhältnis von Kunst und Welt reflexiv auf den Kopf stellen.
I. Das gebrochene Verhältnis von Kunst und Welt in der Moderne und Postmoderne Der Beginn einer reflexiven Haltung in der Kunst lässt sich grundsätzlich mit Immanuel Kant nachvollziehen. Kant hatte in seiner dritten Kritik, der Kritik der Urteilskraft4 von 1790, bekanntlich die Abkehr von den bisherigen Weltbezügen der Kunst zu einem Konzept gemacht. Die Kriterien der Kunst, die sich klassischerweise noch in den Kennzeichnungen ‚schön‘ und ‚erhaben‘ erschöpfen, sind demnach keine solchen mehr, die sich objektiv verstehen ließen – so als ob es die Gegenstände sind, die selbst schön sind oder auch erhaben. Vielmehr liegt die Wahrheit solcher Zuschreibungen für Kant erstmals im Geiste des Betrachters. Den grundlegenden Perspektivenwechsel der Ästhetik vom Gegenstand zum Betrachter erklärt Kant in § 35 der KdU genauer. Schönheit war nach Ansicht der Empiristen auf ein Gefühl zurückzuführen, das durch Berührung oder Betrachtung eines Gegenstandes hervorgerufen wurde. Hume oder Burke bspw. machen das Wohlgefühl des Schönen fest an den zierlichen Formen der Gegenstände, die sich wie die damaligen Bibelots auch in die Hand nehmen ließen und dabei einen schmeichelhaften Eindruck hinterließen. Kant definiert jenes Wohlgefallen jedoch um, als ein Gefühl nämlich, das nicht mehr aus dem Verhältnis von Subjekt und Objekt hervorgeht, sondern im Subjekt selbst entsteht, genauer: durch das Verhältnis der Erkenntnisvermögen, die sonst für die objektive Beurteilung der Gegenstände zuständig sind: „so muß das Geschmacksurteil auf einer bloßen Empfindung der sich wechselseitig belebenden Einbildungskraft in ihrer Freiheit, und des Verstandes in seiner Gesetzmäßigkeit, also auf dem Gefühle beruhen, das den Gegenstand nach der Zweckmäßigkeit der Vorstellung (wodurch ein 78 I Martin Gessmann
Gegenstand gegeben wird) auf die Beförderung des Erkenntnisvermögens in ihrem freien Spiele beurteilen läßt“.5 Im Normalfall einer Erkenntnis geht es darum, eine, wie Kant sagt, gegebene Anschauung unter Begriffe zu bringen. Das bedeutet, eine nachvollziehbare Verbindung herzustellen zwischen dem, was die Welt uns an äußeren Eindrücken verschafft, und dem Ordnungsgefüge, das wir selbst als vernünftige Wesen – und damit spontan und aus uns heraus – mittels unserer Begriffe in die Welt bringen. Die noch ungeordnet erscheinenden äußeren Eindrücke müssen so aufgefasst werden, dass sie einer Gesetzmäßigkeit des Verstandes entsprechen, umgekehrt muss die Einbildungskraft mögliche Anschauung so aus freien Stücken anordnen können, dass sie einer Gesetzmäßigkeit zuallererst entsprechen kann. Nur dort, wo der Abgleich zwischen einer Subsumtion der Anschauung unter Begriffe und einer Projektion der Begriffe auf eine mögliche Anschauung gelingt und sich Vorstellung und Anschauung im Erfahrungsfalle treffen, entsteht ein objektives Urteil. Die Urteilskraft, um deren Analyse es Kant in dem oben zitierten Abschnitt geht, ist schließlich jenes Vermögen, das die fragliche Übereinstimmung von Innen und Außen, Begriff und Anschauung, Projektion und Reflexion herstellen oder feststellen muss. Anders als im Normalfall der Erkenntnis verhält es sich bei der ästhetischen Erfahrung. Hier geht es nicht mehr darum, wie noch im Verstandesurteil, eine begriffliche Ordnung in gegebenes Anschauungsmaterial zuallererst hineinzubringen. Es geht vielmehr darum, eine solche für die Erkenntnis des Gegenstandes notwendige Ordnung in der Anschauung schon als gegeben vorauszusetzen. Nicht den besonderen Zweck des Gegenstandes, verstanden als den Bezug seiner Anschauungsordnung auf einen Begriff und damit auch seine mögliche praktische Bewandtnis und Verwendung, gilt es festzustellen, sondern nur noch seine abstrakte „Zweckmäßigkeit“. Jene Zweckmäßigkeit als die, wie Kant sagt, „der Vorstellung (...) auf die Beförderung des Erkenntnisvermögens“, bedeutet nur soviel, dass die von der Urteilskraft sonst zu leistende Erkenntnisarbeit leicht genommen werden kann, weil der Bezug von Anschauung auf Begriff im Grunde schon geleistet ist. Das ästhetische Gefühl des Schönen stellt sich demnach ein durch einen Akt einer funktionellen Freistellung der Urteilskraft, indem sie von ihrer sonstigen Erkenntnismühe entbunden wird, was die Verbindung von Anschauung und Begriff betrifft. Die Welt der schönen Dinge bietet uns damit, freier formuliert, einen Überschuss an Bedeutung an, der uns nicht mehr zwingt, eine Ordnung in der Welt zu suchen, weil es vielmehr evident ist, dass uns diese Ordnung schon im Kunstwerk als solche gegeben ist und uns damit von sich aus entgegenkommt. Die Welt erscheint uns somit prinzipiell immer schon geordnet und ist in ihrem tieferen Wesen bereits verstanden, zumindest intuitiv. Die Aufmerksamkeit, die wir sonst (im Rahmen unserer Erkenntnismühen) der Welt gegenüber aufbringen, kann in der Kunstbetrachtung zurückgelenkt werden auf die besondere Art und Weise, wie sich das Ordnungsgefüge der Welt in unserer Betrachtung zuallererst herstellt. Weil die Erkenntnismühle, um im Bildfeld Kants zu bleiben,6 leerläuft, sobald wir mit Gegenständen echter Schönheit konfrontiert sind (denn da gibt es ganz grundsätzlich nichts mehr zu ordnen), können wir Abstand nehmen und uns dem ‚freien Spiel der Einbildungskräfte‘ als solchem widDie Rückkehr des Analogen
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men. Das will die Kritik der Urteilskraft zuletzt leisten: Sie will uns einen epistemo logisch schrägen Blick auf die eingespielten Schematismen der Urteilskraft bieten, wenn diese Urteilskraft einmal von ihrem Erkenntnisgeschäft befreit ist und uns in solchem Zustande nur noch vorführt, wie überhaupt von unserer Seite Sinn und ein letzter Zweck in die Welt kommen kann, so, wie sie eben uns als vernünftigen Wesen nur als sinnvoll erscheinen kann. Im kurzen Fazit wäre hier der gedankliche Ursprung moderner Ästhetik anzusetzen. Die ausgezeichneten Weltverhältnisse werden nicht mehr durch Abbildung sichtbar und einsehbar, sondern nur durch die Rückwendung, wie Kant sagt, auf ihre ‚Bedingungen der Möglichkeit‘. Jene Bedingungen der Möglichkeit finden sich demnach nicht mehr im schönen Gegenstand selbst, sondern im Zusammenpassen von Stoff und Form, für Kant also dem Stoff der Anschauung und der Form des verständigen Begriffs. Das Wohlgefühl bei der Betrachtung schöner Gegenstände ergibt sich zuletzt durch die Entlastung, die unser subjektiver Urteilsapparat durch einen bereits urteilstechnisch vorgeordneten Input erfährt. Das Spiel der Einbildungskräfte erscheint zuletzt frei, weil die sonst zu lösende Aufgabe begrifflicher Weltbewältigung schon von der (schönen) Welt selbst auf sich genommen wurde. Das freie Spiel der Einbildungskräfte wird so zum Kriterium, das eine Wertung des angeschauten Gegenstandes als schön erlaubt. Im Folgenden wird es darum gehen, das mit Kant aufgebrochene Verhältnis von Kunst und Welt weiterzuverfolgen im Ausblick auf die daraus entstehende Reflexionskunst der Moderne. Leitfrage wird sein, wie Kants ursprünglich erkenntnistheoretische Überlegungen zu künstlerischen Reaktionen führten und wie jene künstlerischen Reaktionen damit zugleich auf den Weg gebracht wurden, die eine Thematisierung der Form und damit der Gestaltungsmedien privilegieren – vor der Gestaltung der Inhalte. Auf die Kantische Wendung der Ästhetik gibt es seit dem beginnenden 19. Jahrhundert im Wesentlichen zwei Formen der Reaktion. Zum einen wird ein Weltverlust beklagt, zum anderen ein Weltgewinn festgestellt. Je nachdem, wie sehr sich die Kunst nach ‚außen‘ oder ‚innen‘ orientiert, ist die Geste einer ‚Entzauberung‘ der Welt maßgeblich oder aber auch jene einer möglichen ‚Verzauberung‘. Die Literatur bildet für beide mögliche Gesten den Vorreiter. Die Linie der Entzauberung beginnt bei einer allgemeingehaltenen Klage des Weltverlustes, die in der Folge immer mehr konkrete Anhaltspunkte findet und damit selbst immer konkreter wird, weil sie immer mehr Weltumstände beklagenswert findet. Diesem Schema folgend dachte Kleist in seiner ‚Kant-Krise‘ den Umstand der Entzauberung noch radikal ontologisch, so dass die ganze Welt zugleich sinnentleert scheint. Die russischen Großromane von Dostojewski über Tolstoj bis Turgenjew arbeiten sich vor allem an religiösen und feudalen Verlusterfahrungen ab, der deutschsprachige Realismus von Fontane über Raabe bis Stifter klärt gerne moralische Ansprüche, die französischen Großromanwerke von Balzac über Dumas, Flaubert, Stendhal bis Zola deklinieren den Substanzverlust der Gesellschaft ökonomisch, zuletzt auch physiologisch aus. Die literarische Romantik vollzieht eine vergleichbare ‚Abwärtsbewegung‘ in der Konkretisierung ihrer Grundeinsicht, sobald sie damit beginnt, den äußeren Weltver80 I Martin Gessmann
lust zum inneren Weltgewinn umzubuchen. Hier reicht eine Linie von den nationalen Märchenkulturen bis zu den ‚paradis artificiels‘ der Dekadenz, die das Kantische Reich der Einbildungskraft zuletzt auf chemischem Wege reproduzierbar erscheinen lassen. Die letzte Ursache der Verzauberung wird jedenfalls im Dandytum aller Literaturen zuletzt profan und banal. Die für die weitere Entwicklung wesentliche Umstellung erfolgt bekanntlich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, indem der romantische und realistische Künstler zugleich zum findigen Unternehmer wird und damit der Kultur nicht mehr melancholisch nacharbeitet, sondern selbstbewusst vorarbeitet. Es wird damit neu gewertet und neu gerechnet: Die strenge Alternative von Weltverlust und Weltgewinn, das Pendeln zwischen Romantik und Realismus wird aufgegeben. Es gibt kein Entweder/Oder mehr, vielmehr meint Weltverlust zugleich Weltgewinn und umgekehrt. Trauer über den Verlust des Gewohnten und Feier über die Erschließung des Neuen gehen jetzt Hand in Hand. Die künstlerischen Avantgarden gestalten und reflektieren jene paradoxe Vorstellung bereits an der Schwelle zum 20. Jh. Dabei wird von einem Daueraufbruch in eine Fremde ausgegangen, die für den Künstler zugleich die neue Heimat ist. Die Achse der künstlerischen Welt-Betrachtung hat sich somit vom Vertikalen ins Horizontale gedreht. Die künstlichen entzauberten und verzauberten Welten sind nicht mehr ‚worlds apart‘, sie bilden kein Oben und Unten, keinen Himmel und keine Hölle im Kontrast von innen und außen. Sie erscheinen nun vielmehr auf einer Ebene der theoretischen Betrachtung zu liegen. Wer der Vorhut der Avantgarden folgt, der rechnet künftig immer schon damit, dass er einer Bewegung des Aufbruchs folgt, die niemals wirklich ankommt. Der Künstler, anders als der romantische Heilssucher, ist immer nur Gast in dem von ihm eroberten neuen Gefilde der Gestaltung. Er weiß, dass die Faszination des Neuen nur eine kurzzeitige Verkleidung der Langeweile sein kann, die ihn am Alten eben noch verzweifeln ließ, wie es stilbildend schon in Baudelaires Poem Le voyage heißt. Sein Programm will es, dass sich auch die Feststellung eines Weltgewinnes nur der spekulativen Umbuchung einer bisherigen Weltgewissheit verdankt – einer Buchung, deren Wert nur so lange Bestand hat, wie sich die erste Faszination am Neuen aufrechterhalten lässt. Wie wir heute wissen und erfahren haben, hat zuletzt die Postmoderne jene künstlerische Buchungsbewegung auf ein Rekordniveau steigern können. Es scheint so, als habe die Mobilisierung und die zunehmende Virtualisierung der Kunst zugleich auf den ihr angeschlossenen Kunstmärkten zu einer Art Computerhandel geführt, was Frequenz und Umsätze der immer anstehenden Neuerungen betrifft. Die Ursache für jene Drehung der Betrachterachse vom Vertikalen zum Horizontalen lässt sich erst einmal medientheoretisch motivieren. So gesehen war die vertikale Sicht der Kunst-Dinge noch davon ausgegangen, dass unsere besondere Art der Weltsicht nicht verhandelbar ist. Vielmehr musste sie uns, in welcher Form auch immer, als gottgegeben oder vernunftnotwendig erscheinen. Nur so konnte das Staunen über die Sinnlosigkeit der Welt mit soviel echter Verzweiflung und die Flucht in phantastische Welten mit unbändiger Sehnsucht begleitet werden. Es gab ja grundsätzlich keine Alternative der künstlerischen Betrachtung. Je mehr jedoch der skeptische Weltverdruss und Die Rückkehr des Analogen
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der phantastische Weltverschleiß künstlerisch ausgestaltet wurden, umso mehr wurde einsehbar, dass die zugrundeliegenden Prinzipien selbst als gestaltbar oder auch manipulierbar erschienen, zuletzt sogar als frei verfügbar. So ist nicht mehr von den exklusiven Schematismen auszugehen, die mit Kant noch auf feststehende Geiststrukturen der Welt schließen lassen und folglich nur ein Für oder Gegen als künstlerische Position zulassen; vielmehr ist mit der Verweltlichung jener Geiststrukturen und ihrem Auftreten als Medien zugleich ein Bewusstsein entstanden von ihrer historischen Veränderlichkeit, künstlerischen Gestaltbarkeit und zuletzt auch der Möglichkeit ihrer freien Erfindung. Der Aufbruch der Avantgarden in die neuen Sinnwelten des 20. Jahrhunderts verdankt sich so gesehen der Einsicht in eine mediale Reproduzierbarkeit der Effekte, die man zuvor als alternativlos und zwangsläufig angesehen hatte. Es folgt eine lange Phase dessen, was man nüchtern und technisch gesprochen eine ‚Ausdifferenzierung‘ des Künstlerprozesses und seiner Medien nennt. Jene Ausdifferenzierung haben die Programme der Kunstbewegung jeweils verschieden ausformuliert und akzentuiert, so lange, bis schließlich der Eindruck entstand, dass trotz aller Verschiedenheit der Ansätze und der grundsätzlichen Divergenz der Gattungen zuletzt ein einheitliches Muster der Kunstkonzeption und ihrer Entwicklung entstand. Mitte des 20. Jahrhunderts war ein solcher Konvergenzpunkt gefunden. Arnold Gehlen hat in seiner anthropologischen Studie über die „Seele im technischen Zeitalter“7 mit seiner vereinheitlichenden Vorstellung von einer ‚Superstruktur‘ in unserer Modernekultur einen solchen Versuch gemacht. Gegenwärtig erscheint in der Theorie ein günstiger Moment zu sein, um den Gedanken einer solchen ‚Superstruktur‘ erneut zu motivieren; Andreas Reckwitz jedenfalls schließt daran an mit seiner grundsätzlichen Feststellung eines allgegenwärtigen Kreativitäts-Dispositivs.8 Beiden Ansätzen gemeinsam ist die Vorstellung, dass die Bewegung einer Ausdifferenzierung zwar in sehr verschiedenen Bahnen und Sektoren unseres Kulturlebens verläuft, jedoch aufs Ganze gesehen einer einzigen Motivation folgt, die ihr überall und gleichermaßen zugrunde liegt. Und jene Motivation ist eine durchgängig zu denkende Ästhetisierung aller unserer Kulturverhältnisse. Jene modernen und zuletzt postmodernen Kulturverhältnisse sind in dem gegebenen Zusammenhang so weitgehend wie möglich zu denken. Gehlen geht davon aus, dass die gesamte Innovationskraft des Kapitals, des Fortschritts in Wissenschaft und Technik zuletzt nur ein Ausdruck einer tief verletzten Kunstseele des modernen Menschen ist, die im desperaten Kampf um die Erhaltung ihrer Kreativität immer neue und immer erstaunlichere Institutionen schafft. Der besondere Motivations-Dreh in der Gehlenschen Analyse ist es, dass jene innovativen Institutionen ursprünglich dazu gedacht sind, dem Menschen einen Freiraum für seine künstlerische Entfaltung zu verschaffen. Ihrer Eigenlogik als Institutionen folgend jedoch haben sie immer die Tendenz, sich zu verhärten und somit den Menschen zu beengen an dem Punkt, an dem er sich und seiner künstlerischen Entfaltung – paradoxerweise eben durch die Schaffung solcher Institutionen – hätte freie Bahn verschaffen müssen. Gehlens Grundgedanke nimmt in seinem Verhängnischarakter damit Max Webers Rede von der Moderne als einem ‚stahlharten Gehäuse‘ wieder auf. Einst war es 82 I Martin Gessmann
schon nach Max Weber noch ein ‚schützender Mantel‘, den sich der religiös gestimmte Calvinist mit seinem kreativen Gottesdienst der Reichtumsvermehrung schuf, bevor dieser schließlich zu einem geistlosen Selbstlauf des Kapitals verkam und damit das Geldvermehren zum dominanten Dispositiv der Moderne wurde (so der Grundgedanke der Entwicklung in: „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“.9) Gehlen geht über Max Weber im Grunde nur an dem Punkt hinaus, an dem nun jene Metamorphose von geistiger (und auch geistlicher) Kreativität zur profansten Zwangsmaßnahme auch die Bereiche des akademischen Wissens wie der ihr angeschlossenen Ingenieurstechnik erfasst hat. ‚Superstruktur‘ ist damit nur ein Superlativ, um die nun erreichte Ausweglosigkeit zu dokumentieren: Wo Weber noch eine Fluchtmöglichkeit des Kreativen in die „Wissenschaft als Beruf “10 sehen konnte, herrscht jetzt ein vollkommen gewordener Generalzwang. Reckwitz verlängert und komplettiert jene Linie, zeitlich wie entwicklungslogisch. Michel Foucault nahm den Faden der vorangegangenen Betrachtungen in den 1960er Jahren wieder auf und ging dementsprechend erneut von einem Grundgegensatz unserer Modernekultur aus. Jener Grundgegensatz wollte es, dass die Gehlensche ‚Superstruktur‘ im nun angebrochenen Zeitalter des Strukturalismus noch einmal überboten schien. Denn so, wie sich die Maschinencodes und Computerprogramme über die ganze Welt hermachten, war nochmals ein neuer Grad der Unterdrückung und Verknechtung der modernen Seele festzustellen – solange man eben davon ausging, dass es der Grundzug jener modernen Seele ist, menschlich und kreativ zu sein, und das Wesen der Strukturen, ein anonymes und unmenschliches Eigenleben zu führen. Kybernetik ist so gesehen die maschinelle Kunst, nur sich selbst zu steuern, und alle Divergenzen von solchen Maschinationen ontologisch für nichtig zu erklären. So war es von Foucault konsequent gedacht, dass sich die Kreativität nun ganz an die Ränder der Gesellschaft exilieren lassen musste, in die Delinquenz oder in das selbstbewusste Delirieren. Künstler-Sein und Verbrecher-Leben waren die paradigmatischen Spielarten, sich dem Gruppenzwang der Maschinen in der Kultur entgegenzustellen, um den Preis der mentalen wie auch bürgerlichen Selbstaufgabe. Reckwitz vollzieht an der Schraube des so konzipierten Kulturverhängnisses nun eine letzte und, wie es scheinen will, auch finale Drehung, indem er auch noch die Grundopposition zwischen Kreativität und Institution aufgeben will – aufgeben zugunsten der Institution, versteht sich. Wenn also von Max Weber über Gehlen bis zu Foucault immer noch eine unterdrückte Moderne-Seele nach Entfaltung rief, und ihre kulturkritische Klage deren theoretisches Überlebenszeichen war, so enttarnt Reckwitz nun die zuvor unterdrückt gedachte Kreativität als den eigentlichen Motor des Gesamtgeschehens. Wo zuvor mit Foucault die Dispositive die Machtentfaltung der anonymen Strukturen vollzogen, wird nun Kreativität selbst zum Dispositiv. Die Ästhetisierung, das ist Reckwitzens These, war demnach nicht das immer weiter an den Rand der Gesellschaft gedrängte Phänomen, das den letztverbliebenen Hort der Menschlichkeit anzeigte, sie war vielmehr von Anfang an – so will es jede Modernetheorie, die etwas auf sich hält – der heimliche Herr des Verfahrens. Nun ist sie zum offenen Machtgehabe Die Rückkehr des Analogen
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übergegangen, nachdem alle Bereiche unseres gesellschaftlichen, ökonomischen und besonders auch kulturellen Tuns dem Dauerimperativ permanenter Innovation und rastloser Veränderung folgen. Wenn man so will, zieht Reckwitz hier die Konsequenz aus einem vergangenen halben Jahrhundert, das sich im Zeichen der Postmoderne nach 1968 als Befreiung verstand, zugleich aber in die dialektische Falle einer Abhängigkeit von ihrem Gegner lief. Hat doch, wie es Reckwitz darstellt, die Postmoderne schließlich nur vermocht, die künstlerische Freiheit selbst noch in den Rang eines Zwangs zu erheben. Rüdiger Bubner hatte in den 1980er Jahren die Rede von einer ‚Ästhetisierung der Lebenswelt‘ geprägt, und sie sollte das neue Markenzeichen einer unkritisch gewordenen Kritischen Theorie sein. Mit Reckwitz ist sie das Markenzeichen einer zwanghaft gewordenen Kritischen Theorie geworden. Die erste Frankfurter Schule meldet sich hier zurück. Reckwitz leistet erneut Aufklärung über eine Dialektik der Aufklärung.
II. Die Rückkehr der Mimesis in der Gegenwartkunst Was ist das Fazit aus jener Ausdifferenzierung der Kunst im Zeichen der Moderne und der Postmoderne, wie sie die vergangenen 150 Jahre durchzieht? Sie stellt, wenn man so will, die Uhren der Theorie wieder auf null. Die Kunst hatte die Abkehr von der künstlerischen Mimesis vollzogen, nachdem mit Kant und nach Kant die Medien unserer Darstellung zu auffällig wurden, als dass man ihnen noch hätte trauen können. Nun kommt die Mimesis mit Macht zurück. Hinter dieser bloßen Feststellung steht der kritische Befund, der mit Reckwitz gemacht wird an der Stelle, an der selbst der beste kritische Ansatz einer kritischen Theorie absurd zu werden scheint: Dort nämlich, wo im Laufe einer fast 200-jährigen Theoriegeschichte die Instanz der unterdrückten Sinngebung, das kreative Subjekt, mit den Instanzen der unterdrückenden Techniken und ihrer Medien, das ist die Welt anonymer Codes und Strukturen, schließlich zusammenfällt. Kritik versagt notwendig, sobald selbst im Rücken des kritisch gesinnten Subjektes noch die Objekte der Verstellung agieren, und an dieser Stelle entsteht zuerst einmal nur wieder, frei nach Adorno, unkritische Gegenwartskunst. Diese gut mögliche Klage soll hier jedoch nicht weiterverfolgt werden, es ließen sich ohne Probleme die Flut und vor allem der Erfolg von Fiktionalliteratur wie bspw. die amerikanischen Vampirromane, wie auch die Flut und der ebenso kränkende Erfolg von Realliteratur nach dem Muster viel zu oft erzählter Kriminalgeschichten anführen. Starke Tendenzen zur Trivialkunst wie zum waschechten Kitsch ergänzen jene literarische Tendenz um ihre piktoralen und skulpturalen Verwandten. Im Bereich der Musik lagen die Dinge ja schon länger anders. Dass die E-Musik gegenüber der U-Musik eigene Wege ging, ist nicht erst seit Adorno Gegenstand einer ganz eigenen Diskussion. Worauf es im Folgenden ankommt, ist vielmehr die Frage, wie sich die Rückkehr der Mimesis auf die Reflexionskunst selbst auswirkt und wie die Reflexionskunst, sozusa84 I Martin Gessmann
gen zwangsläufig, gar nicht umhin kann, jene Rückkehr auf dem geistesgeschichtlichen Niveau der Gegenwart zu denken. Maßgeblich für ein solches Nachdenken noch in der Kunst um die Belange der Kunst ist der Umstand, dass sie immer noch ihre Botschaft und künstlerische Geisteshaltung in die besondere Ausgestaltung ihrer Medien legen muss. Dieses reflexive Erbe lässt sich nicht ohne Selbstverleugnung wegschenken, so sehr es die erwähnten Tendenzen zur Trivialkunst nahelegen. Denn am Umgang mit den Medien hatte sich ja in den vergangenen 200 Jahren erst konkretisiert, wie genau man seitens des progressiven wie des konservativen Künstlers befand, dass uns die Moderne nicht mehr zu den Sachen selbst vordringen lässt. Geht man davon aus, dass Reckwitzens These vom Kreativitäts-Dispositiv die Zielhaltung des kritischen Künstlers heute markiert, gilt es nun also noch, zu dieser subjektiven Haltung die passenden objektiven Veränderungen zu finden. So muss die veränderte Geisteshaltung des Künstlers durch den Nachweis einer veränderten Weise der Gestaltung der Kunstgegenstände ergänzt werden. Was soziologisch und geistespolitisch bereits einsehbar ist, soll demnach auch medientheoretisch nachvollziehbar werden. Oder nochmals anders gesagt: Nur wenn sich beide Stränge der Theorie ergänzen, auf subjektiver wie auch objektiver Seite, mit Blick auf den Intellekt wie die Medien des Künstlers, ist erreicht, was hier erreicht werden soll – nämlich die Rückkehr des Ana logen auf eine ihr angemessene Weise reflexiv einzuholen. Ausgangspunkt der medientheoretischen Überlegung war die Feststellung gewesen, dass wir nicht mehr einfach von der Kunst und ihrer Schönheit angezeigt bekommen, dass wir, wie es noch der vorkritische Kant sagt, „in die Welt passen“. Vielmehr stellen sich zwischen uns und die Welt die Medien künstlerischer Gestaltung, die wie Schirme zwischen Subjekt und Objekt aufgespannt erscheinen und ab einem bestimmten Zeitpunkt der Entwicklung, spätestens im 20. Jahrhundert, uns zu verstehen geben, dass sie alleine es sind, die autonom über Sinn und Unsinn der Welt befinden. Medien sind demnach wie Filter zu verstehen, die etwas passieren lassen, aber auch immer etwas zurückhalten. Sie ermöglichen wohl, dass wir mit der Welt in Berührung kommen, aber eben auch nur, weil sie anderes, das wir prinzipiell auch wahrnehmen können sollten, uns verbergen. Sie schirmen uns ab, um uns etwas zu zeigen, und so sind wir so grundsätzlich im Falschen, wie es nach Adorno darin nichts Wahres geben kann. Sucht man zu diesem Ausgangspunkt der Überlegung einen passenden Endpunkt, so muss an diesem Endpunkt unserer Geschichte die ursprüngliche Klage vom Weltverlust aufhören, evident zu sein. Der wesentliche Punkt an der Endgestalt der künstlerischen Medien wäre es dann, dass die Urintention des Künstlersubjektes – und mit ihm seines Wunsches nach einem unverstellten Zugehen oder sogar Aufgehen in der Welt – nicht mehr von den Mitteln seiner Realisierung ignoriert, teilrealisiert oder gar verunmöglicht wird. Vielmehr muss es so sein, dass die Mittel künstlerischer Darstellung vollkommen in der Lage sind, der Urintention des künstlerischen Subjektes zu folgen und ihr angemessen zu sein, also grundsätzlich keine Wünsche der Darstellbarkeit offenlassen, an der Stelle zumindest, wo es um den rein technischen Part der Erfüllung Die Rückkehr des Analogen
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geht. Was das Künstlersubjekt in Wahrheit will (und als Wahrheit will), darf sich in nichts mehr unterscheiden von dem, was seine Gestaltungsmittel an Möglichkeiten der Realisierung aufbieten können. Sollte es sich dann herausstellen, dass die Urintention des Künstlers mit seinem Wunsch nach unverstellten Weltzugängen und Weltzusammenhängen selbst gar nicht echt war, sondern nochmals mit Reckwitz gesprochen nur eine „Erfindung der Kreativität“, dann muss man sagen, ‚so much the worse for the artist‘. Umgekehrt kann man aus einer solchen Feststellung schließen, dass auch der Erfolgsfall der Abbildung einer Urintention im Werk selbst im allerbesten Falle zuerst einmal nur unspektakulär sein kann. War es doch gerade die Spannung zwischen einer unerfüllbar scheinenden Vorstellung von Weltganzheit und Weltsinnbegabung und unserem medial getrübten Blick auf deren Wahrnehmung, die zu den bekannten Gesten und Überbietungen der Modernekunst geführt haben. Fällt jene Spannung einmal weg, folgt noch gar nichts mehr, als dass der Spannungsabfall im Künstlerischen womöglich nur das Banale und Naheliegendste wieder zu Tage fördert. Das Ende der Avantgardebewegung muss zwar nicht Stillstand bedeuten, es legt aber so viel nahe, dass eben nun nicht mehr in der gleichen Weise wie bisher vorangegangen wird. Sollte man diesen Vorüberlegungen noch mit dem Vorschuss der Neugier begegnen dürfen, wie stellt sich dann systematisch und schematisch der Weg von A nach B dar, also der Weg vom Anfangs- zum Endpunkt der dazwischen liegenden medialen Entwicklung? Man kann sich dem Phänomen ein letztes Mal äußerlich nähern und einfach im Sinne einer Modeerscheinung bemerken, dass uns die Postmoderne mit einer solchen Ausdifferenzierung von medialen und subjektiven Gestaltungskosmen konfrontiert hat, dass nun einfach eine Konjunkturbewegung in die entgegengesetzte Richtung einsetzen muss. Die entgegengesetzte Richtung wäre in dem Zusammenhang dann die Sehnsucht nach einem nachhaltigen Weltbezug und Weltzusammenhang – im Unterschied zur flüchtigen künstlerischen Eigenphantasie. Man kann versuchen, sich die Dinge zusätzlich einmal quantitativ zurechtzulegen und dementsprechend mutmaßen, dass die Ausdifferenzierung von Medien und dazugehörigen Subjektivismen natürlicherweise an ein mögliches Ende kommt. Jenes mögliche Ende wäre dort anzusetzen, wo die Vermehrung der Medien nicht mehr der exponentiellen Vermehrungskurve folgt, wie sie noch eine jede Avantgarde voraussetzen musste, um sich selbst geistesgeschichtlich durchzusetzen. Irgendwann, das wäre das Argument, sind die Nischen der Genres im Wesentlichen besetzt, die Brechung der Medien an einen Endpunkt gekommen, an dem die Elemente der Medien mehr oder weniger im Rohzustand vor uns liegen und nicht noch einmal weiter destruiert oder auch dekonstruiert werden können. Zur Ausdifferenzierung in die Breite der Genres und in die Tiefe der Materialien käme in diesem Koordinatenkreuz noch die Höhe der Subjektkonstitution hinzu. Auch hier ließe sich ein Endpunkt supponieren, wo die selbsterdachten Unterschiede zum Nachbarkünstlersubjekt naturgemäß zu fein werden müssen, als dass sie noch stilbildend wirken könnten. Und selbst wenn die Künstler selbst noch genug künstlerische Raffinesse besäßen, um ihre haarfein gewordenen Un86 I Martin Gessmann
terschiede wahrzunehmen, ließen doch die Kunstmärkte, und an sie angeschlossen das breitere Publikum, den dazu nötigen Scharfsinn nicht mehr erkennen. Kurz, wir hätten es schließlich und endlich mit einer Sättigung des Kunstbetriebes zu tun, subjektiv wie objektiv an der Stelle, an der sich Wesen und Ausrichtung des Betriebes nicht mehr entscheidend neu konzipieren lassen. Eine halbe Wahrheit ist in jener Betriebsanalyse bereits enthalten, jedoch nur, wenn sie vor systematischem Hintergrund betrieben wird. Zu diesem Zweck schließe ich an Überlegungen an, wie sie zuletzt von Stefan Münker11 und Bernard Stiegler12 vorgebracht wurden. Allen gemeinsam ist die Fragestellung, wie die Entwicklung der medialen Sphäre im Zuge ihrer Ausdifferenzierung zu denken ist. Genauer noch, wie sie vor allem zu denken ist im Hinblick auf ihr mögliches Ende. Und hierbei kommt es im Nachvollzug jener Ausdifferenzierung zu einer entscheidenden Wende der bisherigen Betrachtung, insofern diese offenbar, den Autoren folgend, nun tatsächlich vor einem Ende steht. Jene Wende der Betrachtung kommt ins Spiel durch eine ganz banale und zuerst einmal nur technisch zu verstehende Überlegung. Demnach sind wir nun in der neuen Lage zu verstehen, dass anders als bisher nicht mehr nur ein gradueller Unterschied zwischen einem technischen Medium und einem anderen gemacht werden muss, sondern ein prinzipieller. Graduelle Unterschiede, das hat Friedrich Kittler schon herausgestellt, entstehen, wenn ein Medium von einem anderen abgelöst wird und das Folgemedium die mediale Begrenztheit des Vorgängermediums an den Tag bringt. So klärt bspw. der Tonfilm den Stummfilm über das Fehlen der Tonspur auf, der Farbfilm den Schwarz-weiß-Film über das Fehlen der Farbe, der 3D-Film den 2D-Film über das Fehlen einer räumlichen Dimension. Der kulturgeschichtliche Clou in der Entwicklung der Medien war es bislang, immer noch nach Kittler, dass wir es hier scheinbar mit einer ins Unendliche reichenden Entwicklung zu tun haben. Klärt doch jedes Folgemedium wieder über Beschränkungen auf, die als solche noch gar nicht auffällig und augenfällig wurden, solange man mit einem bestimmten Medium wie selbstverständlich umging. Wer hätte auf der Höhe des 2D-Filmschaffens nach dem 3D-Kino gerufen? Vermutlich nicht jene, die nach der Einführung des 3D-Kinos sich nicht mehr vorstellen können, wie man wirklich erstaunliche Filme auch ohne 3D-Technik drehen konnte. So zumindest versteht sich der Gedanke idealerweise. Die Einsicht der neueren Theoretiker – es sei jedoch gleich nachgereicht, dass auch schon Kittler ganz in der Nähe des folgenden Gedankens war – ist es nun, dass jene Fort- und Weiterentwicklung der Medien nicht im Sinne eines immer möglichen plus ultra zu denken ist, vielmehr erscheint es so, dass diese Entwicklung zumindest im Sinne eines dimensionalen Fortschrittes endlich ist. Das dazugehörige Umdenken wird unumgänglich, wenn man die bisherige Entwicklung der Medien als eine Entwicklung analoger Techniken betrachtet, zu der nun die Möglichkeit ihrer Digitalisierung hinzutritt. Analoge Abbildungstechniken sind demnach grundsätzlich so konzipiert, dass sie nur eine Form der Abbildung ermöglichen, dies analog zu einer schon bestehenden Form der Wahrnehmung. Das digitale Medium zeichnet sich demgegenüber dadurch aus, dass es über die analoge Wiedergabe wie auch über die mit ihr verbundenen BeDie Rückkehr des Analogen
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schränkungen hinausgeht. Das Digitale ist nämlich gar nichts mehr als die Rückführung eines jeden analogen Mediums in seine digitalen Komponenten. Das digitale Medium selbst ist durch die elementare Form der Codierung im Code der Nullen und Einsen kein Medium im üblichen Sinne mehr, sondern das Medium aller Medien, oder auch das Null-Medium. Es ist, wie Münker nicht müde wird zu betonen, somit die technische Voraussetzung von Medien überhaupt. Selbst hat es keinen medialen Zuschnitt mehr, der als solcher für uns einsehbar oder auch nur wahrnehmbar sein könnte. Das Argument für diesen Stopp im Regress zu immer mächtigeren Medien ist es, dass ein Medium, das technisch noch mächtiger wäre als jenes des Digitalen, schlichtweg undenkbar erscheint, haben wir doch das Denken mit dem grundsätzlichen Setzen von Unterschieden verbunden. So könnte es demnach schon so sein, dass Außerirdische nochmals mächtigere Medien voraussetzen, aber weder können wir ein solches Medium sinnvoll denken, noch können wir uns sinnvoll Außerirdische vorstellen, die von einem solchen Medium ausgehen. Denn beides ist – nun schon per definitionem – undenkbar. Dem mit der Digitalisierung verbundenen Gedanken einer nun unmöglich gewordenen Überbietung im Zuge medialen Fortschrittes begegnen wir jedoch nicht nur auf der abstrakten Ebene der bloßen Gedankenführung. Auch mit Blick auf die Medien der Wahrnehmung befinden wir uns bereits in einer vergleichbaren Lage. Beispiele für die Beendigung des bislang üblichen Überbietungsregresses finden sich zuhauf bereits in der Werbung. So preist bspw. Apple seine neuesten Produkte als ausgestattet mit einem Retina-Display. Retina-Display will sagen, dass die Dichte der Bildpunkte auf dem Bildschirm so groß ist, dass sie (reproduziert durch die Optik unseres Auges) der Dichte der Abtastpunkte unserer Sehnerven auf der Netzhaut entspricht. Bilder, die der Bildschirm darstellt, sind damit im besten Falle ebenso pixeldicht wie die Bilder, die wir aus der nichtmedial getrübten Sicht auf die Dinge immer schon vor uns haben. Ein Retina-Display kann demnach an möglicher Schärfe der Einstellung nicht überboten werden, weil wir sonst schärfere Augen bräuchten, um jenen Zuwachs an Schärfe als solchen überhaupt registrieren zu können. Zwar, könnte man nun sagen, können wir uns durchaus vorstellen, mit den sprichwörtlichen Adleraugen ausgestattet zu sein, mit deren Hilfe dann ein weiterer Gewinn an Sehschärfe wieder denkbar wäre. Aber, nochmals übertragen auf unsere Denkleistungen, haben wir eine prinzipielle Grenze erreicht, sobald wir auch noch über das hinausgehen wollen, was wir gerade eben noch denken können. Wo neuerdings selbst unser Gehirn als biologisches Organ seiner informationellen Dekodierung prinzipiell offensteht, scheint es schwer, nochmals die Grenze alles Denkbaren und Fühlbaren ins Unermessliche zu verschieben. Eine Welt, wie wir sie uns nicht denken können, erscheint entweder unsinnig oder aber witzlos. Und so hatte schon Hegel gegen Kants Rede von einem ‚Ding an sich‘ jenseits unseres Erkenntniszugriffs eingewandt, eine Grenze im Denken zu ziehen bedeute immer auch, sie schon zu überschreiten. Denke ich ein Ding ‚an sich‘, dann ist es im Zuge solchen Denkens und Registrierens längst schon wieder auch ‚für mich‘, also für mich ‚an sich‘ und damit nicht mehr wahrhaft ‚an sich‘, sondern zuletzt eben doch ‚für mich‘. 88 I Martin Gessmann
Im Fazit: Geistesgeschichte und Mediengeschichte ergänzen sich an dem Punkt, an dem das alte Schema von Subjekt und Objekt und den Medien als dem trennenden oder/und verbindenden Element zwischen beiden so nicht mehr weiterbesteht. Die Weltbezüge des Subjekts sind nicht mehr prinzipiell anders zu denken als durch Medien, sobald die Medien selbst mindestens so mächtig gedacht sind wie eine jede Form subjektiven Zugriffs auf die Welt selbst. Wenn sich die Intuition des Subjektes hinsichtlich einer unverfälschten Sicht auf die Dinge nicht mehr von der medialen Vermittlung der Dinge unterscheidet, und zwar so nicht unterscheidet, dass es auch nur denkbar wäre, alles könnte auch ganz anders sein; dann wird es philosophisch sinnlos und künstlerisch reizlos, eine Kluft zwischen medialem Dauerschein und intuitivem Seinsverständnis noch weiter auszubuchstabieren oder ausmalen zu wollen. Im Zuge einer langanhaltenden Ausdifferenzierung der Medien ist dann zugleich die Dichte der Medien in ihrer Weltbeschreibung quantitativ so angestiegen, dass zuletzt mit der möglichen Digitalisierung aller Medien auch eine qualitative Grenze überschritten wurde. Jenseits dieser Grenze lösen sich die alten Mutmaßungen von Entzauberung der Welt oder ihrer Verzauberung in dem Wohlgefallen einer ganz unromantischen Langeweile auf, wobei eine Rede von Langeweile jedoch nur den theoretischen Teil der alten Herausforderung betrifft. Wie es um den praktischen Teil der Umsetzung steht, mit der Einsicht in die neue mediale Weltsicht, soll nun abschließend skizziert werden. Dies freilich in der Hoffnung, auch bereits eine erste Aussicht darauf geben zu können, inwiefern der Verlust einer theoretischen oder auch erkenntnistheoretischen Spannung nicht eo ipso auch zugleich zur künstlerischen Langeweile führen muss.
III. Konsequenzen für die künstlerische Gestaltung oder wie die Rückkehr des Analogen in der Kunst reflektiert wird Was folgt also zuletzt aus der neuen theoretischen Situation für die Deutung der Gegenwartskunst, wenn diese nicht vorschnell zu unkritischen Formen von Mimesis führt, verstanden als Abbild naiv-erträumter Phantasie-Welten oder kriminell gewordener Realwelten (oder einer Mischung aus beidem)? Aus der neuen theoretischen Situation folgt so viel, dass man davon ausgehen darf, dass auch sie wiederum Eingang findet in die anspruchsvolle künstlerische Gestaltung, und zwar genau an dem Punkt, an dem auch schon die Reflexionskunst einsetzte. Während jedoch die Reflexionskunst der vergangenen 200 Jahre Moderne und Postmoderne an der konsequenten Thematisierung (Brechung, Feier, Dekonstruktion) der gestalterischen Mittel und Medien ansetzte, so wird nun, das ist meine These, die neue Rolle der gestalterischen Mittel und Medien thematisiert. Und jene neue Rolle bringt es mit sich, dass die Kunst-Mittel und Medien der Gestaltung nicht mehr und ausschließlich als ein Moment der Trennung von Subjekt und Objekt der Kreation wie der Betrachtung verstanden werden, sondern im gleichen Atemzug auch als ein Moment des Durchgriffs auf die Welt. So sehr die klassisch moderne Kunstproduktion wie auch noch die Postmoderne mit dem Finger auf die Die Rückkehr des Analogen
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verhindernde Funktion der Medien deutete, so sehr deutet nun die Gegenwartskunst zugleich auf die ermöglichende Funktion der Medien. In der lange geübten und gut eingespielten Thematisierung der Mittel und Medien der Gestaltung scheint nun wieder der Anspruch durch, mit diesen Mitteln und Medien zugleich auch wieder eine Welt durchscheinen zu lassen, die bis dato immer nur jenseits der Sphäre echter Darstellbarkeit lag. Die Thematisierung der Gestaltungsmittel findet also weiter statt, sie steht auch weiterhin im Vordergrund der Gestaltung. Jedoch wird ihr künstlerischer Status neu verhandelt. Anstatt als ein Instrument prinzipieller Verhinderung von Weltverstehen zu erscheinen, werden sie nun als eines verstanden, dem tatsächlich auch wieder zugetraut werden kann, uns einen künstlerischen Zugang zur Welt zu eröffnen. Bei einer solchen Charakterisierung könnte sich sogleich ein Missverständnis einstellen. Denn auch schon die klassische Moderne wie auch die Postmoderne hat ja, wenn man dies so pauschal noch einmal sagen darf, immer schon auf die Ambivalenz der künstlerischen Gestaltungsmittel abgehoben. Beide haben ja ausdrücklich betont und dargestellt, dass mit der Inszenierung der Gestaltung selbst einerseits zwar der Verlust der Inhalte und eine Privilegierung der Form gegeben ist, jene kunstvoll inszenierte Gestaltung und Form zugleich aber auch ihre eigenen Inhalte generiert. Zwar finden wir die Welt, wie wir sie lebensweltlich kennen, nicht mehr im Abbild der Kunst wieder, eben weil sie gar kein Abbild mehr sein will und sein kann. Dafür entstehen aber in der Inszenierung der Gestaltung selbst immer neue und immer unerhörtere Kunstwelten, die ein kunstvolles Exil für alle bieten, die sich mit der prinzipiellen Lüge moderner Weltbetrachtungen nicht abfinden wollen. Die Feier des Unwahrscheinlichen in der Kunst war das inhaltliche Stichwort, wenn es um die passenden Plausibilitäten der Weltakzeptanz ging. Keine Kunstwelt war demnach wirklich erwartbar oder auch nur sinnvollerweise wünschbar, geschweige denn realisierbar. Sie war am Rande eines Spektrums anzusiedeln, das nur im Unmöglichen eine Grenze fand, und der Künstler der Avantgarde war immer jener, wie Sloterdijk einmal den Spitzenathleten beschreibt, der an jener Grenze zum Unmöglichen es fertig bringt, noch einmal einen beherzten Schritt nach vorn zu gehen. Die neue Situation, in der wir uns heute kunsttheoretisch wie auch kunstpraktisch befinden, ist jedoch mit dieser Art von Grenzgängertum nicht mehr zu vergleichen. Die Welt, die generiert wird, wenn der Künstler auf die unerhörten Potenzen seiner Gestaltungsmittel dringt, ist eben keine mehr, die sich toto cœlo von der Welt unterscheidet, die wir alltäglich als zumeist kunstlose Lebenswelt erfahren. Sie ist keine, die beständig auf die Blamage unserer Gestaltungsmittel dringt, selbst oder gerade dann, wenn aus ihr vollkommen unerwartete und phantastisch-bizarre Kunstwelten abgeleitet werden. Umgekehrt ist die neue Ausgangslage vielmehr so zu verstehen, dass jenes inszenierte Misstrauen gegenüber den eigenen Ausdrucksmitteln nun umgepolt wird und einem Zutrauen Platz macht – einem Zutrauen jedoch, das sei ein weiteres Mal wiederholt, um nicht sogleich in die Falle einer Trivialkunst zu gehen, das nun ebenso reflexiv eingeholt wird wie zuvor das moderne Misstrauen in die Mittel der Gestaltung. Wir haben es also weiter mit einer entschiedenen Selbstinszenierung der Kunst zu tun, wenn Selbstinszenierung bedeutet, dass ihre formalen Mittel und Medien im Zentrum der Aufmerksam90 I Martin Gessmann
keit stehen und damit auch den Inhalt des Kunstwerkes bestimmen. Die Selbstinszenierung der Gegenwartskunst hat jedoch nicht mehr die vormalige paradoxe Aufgabe, aus der Ohnmacht des künstlerischen Weltverständnisses eine Ressource zu machen – eben indem diese Ohnmacht des Durchgriffs auf sinnvoll gedachte Weltstrukturen zum eigentlichen Thema der Kunst wird. Vielmehr ist es der Skopus der Gegenwartskunst, nun die künstlerische Lösung, oder besser noch die Selbstauflösung des bisherigen Gestaltungsparadoxes anzuzeigen. Das kunstvolle Gestaltungsmittel zitiert demnach nicht einfach nur weiter sein eigenes Versagen auf unendlich kunstvolle Weise an, es gibt nun vielmehr zu verstehen, dass dieses kunstvolle Versagen gar nicht notwendig ist und als solches gar nicht erscheinen muss. Die Reflexionskunst ist gegenwärtig demnach auf dem Wege einer Selbstrücknahme, einer Rücknahme jedoch, die eben auch nur selbstreflexiv gelingen kann. Noch ein letztes Mal wäre nun theoretisch einzuwenden, dass es in einem solchen Falle der Selbstrücknahme doch in Wahrheit gar nichts zurückzunehmen gäbe, wenn tatsächlich die Reflexion wieder nur von einer Reflexion begleitet wird und das Problem demnach nur verlängert wird, wo es die Vorgabe ist, es zu lösen. Es ist ein Paradox, wie es schon Wittgenstein mit seiner bildhaften Wendung im Auge hatte, es sei Aufgabe der Philosophie, der „Fliege den Ausgang aus dem Fliegenglas“ zu „zeigen“.13 Und daran anschließend wäre festzustellen, dass in der Tat nun alles darauf ankommt, dass die Kunst in ihrer neuen Schaffensform tatsächlich in actu und damit von alleine vollbringt, was die theoretische Anleitung nur abstrakterweise fordern kann. Bildhaft und nochmals mit Wittgenstein gewendet: Die Fliege muss den Weg alleine aus dem Fliegenglas finden, durch die Art und Weise, wie sie das tut, aber auch zugleich zu verstehen geben, dass das vormals unlösbare Paradox als solches nicht mehr besteht. Sie muss darstellen, dass das Problem nur als solches bestand, solange man in die falsche Richtung schaute und einen Ausgang an der Stelle suchte, an der es (nun) nachvollziehbar keinen Ausgang gibt. In einer solchen Reflexion muss sich zeigen, frei nach Wittgenstein, dass sich das Problem nun von alleine erledigt hat. Im Fazit wiederum: In der Reflexion, die das Kunstwerk auf seine Gestaltungsmittel neuerdings anstellt, muss sich darstellen, dass sich das bisherige, paradoxe Reflexionsproblem der Kunst als solches erledigt hat. Gegenwartskunst ist demnach dabei, das mögliche Liegenlassen eines Problems anzusprechen, indem es noch einmal darstellt, was das klassische Problem war, mit der vollkommen neuen Weise seiner Gestaltung aber auch zugleich darstellt, dass es nun nicht mehr virulent sein muss. So wird die in der Moderne längst klassisch gewordene Skepsis in die Aussagekraft der Kunst und ihrer Techniken mit Blick auf ihre Welthaltigkeit nicht etwa durch ein größeres Weltvertrauen überwunden, es wird nur dargestellt, dass die Skepsis von alleine an Kraft und Evidenz verliert.
IV. Beispiele der Gegenwartskunst Wie geschieht dies aber konkret? Ein letztes Mal ist von der medialen Analyse der Gegenwartslage auszugehen. Demnach erweist sich das vom Künstler gewählte GestalDie Rückkehr des Analogen
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tungsmittel als eines, das nicht mehr einzig auf sein Eigenrecht auf Weltgestaltung pocht. Das Gestaltungsmittel ist zugleich von der Art, dass es sich flexibel und polymorph genug zeigt, Weltzusammenhänge medial angemessen darzustellen, also in einer Art eins zu eins Abbildung dessen, was es sich abzubilden vornimmt. Das Medium der Gestaltung soll demnach nicht mehr alleine als ein analoges Medium verstanden werden, in dem durch jede Form von Nachahmung zugleich auch eine eigene Form von Welt generiert wird, die notwendigerweise den Sinn des thematisierten Gegenstandes – via einer medialen Umcodierung – auch vollkommen neu denotiert. Das Medium soll vielmehr den Charakter und die Leistungsfähigkeit digitaler Durchcodierung annehmen können, also einer Durchcodierung, in der prinzipiell alle Möglichkeiten der analogen Darstellung (und damit medialen Zurichtung) eines Sachverhaltes aufgehoben sind und überschaubar werden. Zusätzlich muss das Kunstwerk leisten, dass jener Rollenwechsel des Mediums von analog zu digital wiederum als ein solcher Rollenwechsel verstanden werden kann. Dazu ist es nötig, die bisherige Reflexionspraxis beizubehalten, also durch Kunstmittel der medialen Reproduktion die Aufmerksamkeit auf das Reproduzieren in der Kunst selbst zu lenken. Indem zuletzt jener Reproduktionscharakter in einer möglichen Mimesis von Inhalten noch einmal und zuletzt vordergründig wird, ist zugleich die Chance gegeben, die Veränderung des Reproduktionscharakters des Kunstwerkes in seiner Wende von analog zu digital selbst auf eine analoge Weise zu digitalisieren. In der Wiederholung der Reproduktion – das heißt also der künstlerischen Stufung einer Abbildung des Sachverhaltes und einer daran anschließenden Abbildung der Abbildung des Sachverhaltes – stellt sich auf einer zweiten Stufe des Kunstschaffens zugleich ein neues Reflexionsverhältnis ein. In diesem neuerlichen Reflexionsverhältnis erscheint das erste künstlerische (einstmals analoge, nun digitale) Reflexionsverhältnis als solches (nämlich als einstmals analoges, nun digitales) thematisiert. Im Zuge einer solchen Reflexion auf der zweiten Stufe des Schaffens muss sich zugleich ein künstlerischer Effekt einstellen, dem zufolge auch jede weitere Wiederholung (also eine dritte Stufe und so weiter) der Reflexionsverhältnisse dem gewünschten Ergebnis nichts Entscheidendes für das Verständnis mehr hinzubringen würde. Thomas Demand kann mit seinem Werkschaffen als ein Hauptvertreter jener neuen Kunst gelten, die in hervorragender Weise eine anschauliche Umsetzung der eben angestellten Reflexionen erlaubt.14 Auf Demands Bildern zu sehen sind (scheinbar) Orte, an denen sich eine Szene von besonderem historischen Interesse abgespielt hat. Thematisiert werden bspw. die Badewanne, in der der CDU-Politiker Barschel im Genfer Hotel Beau Rivage ums Leben gekommen ist, oder man ‚sieht‘ auf einem anderen Bild die Stasi-Zentrale in Ost-Berlin kurz nach der Erstürmung durch Demonstranten, oder wir werden scheinbar mit der farbigen Studiodekoration konfrontiert, in der einstmals Robert Lembke seine Rateshow ‚Was bin ich‘ in Schwarz-Weiß produzierte. Nur scheinbar und nicht wirklich sieht man auf den Bildern jene Orte, weil diese Orte nicht die Originale sind, und die Bilder auch nicht Abbilder von Originalfotografien. Demand geht vielmehr so vor, dass er die Originalschauplätze nachbildet in einer Szenerie, die voll92 I Martin Gessmann
ständig aus Pappe besteht. Jene Pappszenarien werden dann fotografiert und anschließend zerstört. Fügt man jenes Vorgehen in das Schema der soeben gemachten Reflexionen ein, ergeben sich folgende Parallelen. Der Nachbau der Szenerie in Pappe darf als eine Art und Weise gelten, den medialen Universalitätsanspruch digitaler Reproduktion künstlerisch handhabbar zu machen. So wie eine jede analoge Form der Darstellung digital reproduziert werden kann, so kann eine jede Form des analogen Nachbaus von Gegenständen in dem Null-Medium Pappe reproduziert werden. Jeder Gegenstand und jede Form von Gegenständlichkeit ist auf diesem Niveau der Gestaltung wiederzugeben. Freilich, und hier kommt die nächste Parallele ins Spiel, kann es nicht bei dem einfachen Effekt eines gelungenen Nachbaus bleiben. Es geht nicht darum, im Sinne eines barocken ‚trompe l’œil’ einfach eine künstlerische Scheinwelt zu generieren, die dem Original zum verwechseln ähnlich sieht. Nicht also wird die Pappszenerie als Kunstwerk ausgestellt. Vielmehr wird jene Szenerie noch einmal abgebildet, fotografisch. Diese fotografische Abbildung lenkt idealerweise als Abbildung die Aufmerksamkeit vom Gegenstand weg und wiederum hin zum pappgenerierten Abbildungsverhältnis. Jene Hinlenkung des Fokus vom Inhalt auf die Form der Darstellung geschieht wiederum fotografisch in der Art, dass nun die Fotografie erneut eine Form universeller Codierung darstellt. So wie nämlich die Pappe alle handhabbare Gegenständlichkeit nachbilden kann, so kann die Fotografie wiederum jede Form gegenständlicher Abbildung nachbilden. Damit handelt es sich nicht nur um eine künstlerische Verdopplung des Ursprungsmotivs, es handelt sich auch um eine künstlerische Verdopplung des Abbildungs- oder auch Mimesis-Verhältnisses. Das Verhältnis analog-digital wird zuerst auf plastischer Ebene durchgespielt, dann auf pikturaler Ebene wiederholt. Eine Fotografie der Fotografie brächte klarerweise nichts Anschauliches mehr zu dem Effekt hinzu, selbst wenn zuerst eine analoge Fotografie entstünde, die dann ihrerseits digitalisiert würde. Im Ergebnis erschienen sie schlechthin als dasselbe. Wenn man so will, sind wir damit auch theoretisch wieder am Ausgangspunkt der Betrachtung und damit bei Kant angelangt. Kants Einsicht war es gewesen, dass sich der Effekt der Kunst dem freien Spiel der Einbildungskraft verdankt, und die Bedeutung jenes freien Spiels kann im Rückblick der hier angestellten Betrachtungen nun auch gleich aktualisiert gedacht werden. Die Frage, was die Welt im Innersten zusammenhält, war für den Erkenntnistheoretiker Kant nur im Reich der reinen Spekulation zu beantworten. Einen Zugang zu den Dingen, wie sie ‚an sich‘ sind, ist uns nicht vergönnt. Für den Ästheten Kant war jedoch noch Hoffnung – genau dort, wo im Kunstwerk die Möglichkeit aufschien, dass Welt und Mensch sich im Kosmos von dessen Kunstbetrachtung noch einmal eins wähnen dürften. Das geschieht, indem die Anschauungsund Begriffsverhältnisse mit einem Male synchron verlaufen und sich somit unser (analoger) sinnlicher Zugang zu den Dingen seiner (digitalen) begrifflichen Codierung nicht mehr grundsätzlich widersetzt. Im Zuge einer solchen Synchronisierung gibt es dann auch keinen prinzipiellen Unterschied mehr zwischen dem, was wir durch eine analoge Abbildung der Sinne wahrnehmen, und dem, was wir daran anschließend uns überhaupt einbilden und verstehen können. Die Rückkehr des Analogen
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Die Tradition, wie eingangs dargestellt, hat sich entschieden, Kant als einen Modernen zu lesen und damit die Abgründigkeit seiner Kunstbetrachtung als die wahre Botschaft für die Späteren zu verstehen. Wenn Schönheit nur in der Selbstreflexion der Urteils- und Einbildungskraft zu verorten ist, dann scheint die Welt selbst als der Hort der Schönheit verloren. So kann man freilich auch bspw. Demand noch als einen Künstler verstehen, der die Reflexionsverhältnisse der Kunst nur exponiert, um uns eine medial bedingte Abgründigkeit unserer Weltbezüge vor Augen zu führen. Ebenso gut kann man aber, und darauf möchte ich hinaus, denselben Demand auch im Sinne Kants als einen Vorreiter dafür verstehen, einen Rückweg von der Reflexion in die Welt zu konzipieren. Dann wäre schon Kant nicht nur der metaphysische „Alleszermalmer“ gewesen, der uns auch noch ästhetisch die Welt hinter einem Schirm reizvoller Täuschungen verbirgt, sondern umgekehrt: jener Vordenker der Moderne, der zugleich auch die Bedingungen der Möglichkeit dafür angibt, dass eine Weltbetrachtung in einer entspannteren und gelassenen Form der Erfüllung enden kann. Und wenn die eben angestellten Überlegungen nicht ganz ins Leere laufen, dann wäre jetzt ein günstiger Zeitpunkt, um festzustellen, dass diese Bedingungen der Möglichkeit in der Kunst zumindest auch wieder als erfüllt angesehen werden dürfen – in der Theorie und einer sie konsequent umsetzenden Kunst-Praxis. Mag sein, dass jene Kunst-Praxis auf den ersten Blick unzeitgemäß erscheint. Nicht nur, weil das alte Abbildungsverhältnis von Kunst und Welt wieder in die Kunstproduktion zurückkehrt und Mimesis als ein Ausdruck künstlerischer Moderne gedacht werden muss. Unzeitgemäß erscheint die Kunst auch, weil sie alte Motive oder Motive des Alterns selbst wieder in den Vordergrund stellt. Eine Reflexionskunst von Schlage Demands kann gar nicht umhin, auf die Vergänglichkeit ihrer Motive abzuheben, darauf, dass die Szenerie schon längst als solche nicht mehr besteht, wenn sie als Kunst erscheint. Ihre historische Bedeutung liegt schon so lange zurück, dass sie eigentlich als vergangen gelten darf. Wo die Kunst ihr ‚Original‘ der Abbildung zerstört, um es als Kunst auszustellen, ist das Original der Urabbildung auch schon nur noch im Spiegel der Kunst als solches präsent zu machen. Mimesis und Melancholie scheinen verschwistert, sobald Kunst über ihren modernen Vergangenheitscharakter nachdenken muss. Und so erscheinen notwendig auch ihre Motive als immer schon vergangene und ihre kunstvolle Präsentation als das Ergebnis einer tiefschichtigen Grabungsarbeit. Sie werden in ihrer neuen Darstellung mit einer Bedeutung versehen, die durch die vielen medialen Abbildungen im Raster unserer Medien lange Zeit verunstaltet schien, in einem kunstvollen reverse-engineering nun aber wieder ans Licht kommen kann – auch wenn sie gedanklich nun schon aus einer grauen Vorzeit stammt. Wenn uns die Kunst damit eine grau gewordene Wirklichkeit präsentiert, ist dieses Grau jedoch von der Art, dass es in der Theorie zu einer erstaunlichen Blüte gebracht werden kann.
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Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 19 11 12 13 14
Regie Sam Mendes, England 2012. So in I. Fleming: Diamonds are forever, London 1956. So in I. Fleming: Moonraker, London 1955; ders.: Goldfinger, London 1959. Im Folgenden KdU abgekürzt. I. Kant: KdU, B 146/A 144. Vgl. KdU, § 59. A. Gehlen: Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft, Hamburg 1957. A. Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin 2012. M. Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, 3. Aufl., München 2010. Ders.: „Wissenschaft als Beruf “, in: W. J. Mommsen/W. Schluchter (Hrsg.): Wissenschaft als Beruf, 1917/1919 – Politik als Beruf, 1919, Tübingen 1992. St. Münker: Emergenz digitaler Öffentlichkeiten. Die Sozialen Medien im Web 2.0, Frankfurt am Main 2009. Vgl. B. Stiegler: États de choc. Bêtise et savoir au XXIè siècle, Paris, Mille et une nuits, 2012, besonders S. 337–350. L. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, in: ders., Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914–1916. Philosophische Untersuchungen, Frankfurt/M. 1969, § 309. Weitere Künstler, die ich in diesem Zusammenhang als Vorreiter ansehe, sind: Heide Hatry (New York), Aram Bartholl (Berlin), Nalini Malani (Bombay). Heide Hatry geht von einem vergleichbaren reflexiven Muster aus, wie es Demands Kunst aufzeigt. So bildet sie Kunstgegenstände oder naturschöne Dinge ab, indem sie diese nachbaut. Anders als Demand geschieht dieser künstlerische Nachbau jedoch nicht durch Pappe (als dem, in meiner Deutung, plastischen Null-Medium aller Abbildung), sondern durch Schlachtabfälle. Eine biologische Rohmasse ersetzt hier die papierene. Die Nachbildungen, bspw. von Blumen mit Hilfe von Geschlechtsorganen von Tieren, werden ihrerseits wieder abfotografiert. Die Fotografien geben dann inhaltlich zu denken, insofern sie eine Analogie zwischen tierischem Schlachtabfall und floristischer Schönheit nahelegen; sie regen aber eben auch auf formaler Ebene zum Nachdenken an. Denn die biologisch analoge Reproduktion durch die biologischen Reproduktionsorgane wird ihrerseits in ein Abbildungsverhältnis gebracht, das sich nur durch die Kunstfertigkeit der vollkommenen Geschlechts-Umwandlung des Abbildungscharakters selbst verstehen lässt. Wo sich im Ersteindruck beim Betrachter die Vermutung einer einfachen Mimesis einstellt – die schönen Blumen –, gibt der zweite Blick zu verstehen, dass nur durch die Kunst einer vollkommenen Täuschung jener Ersteindruck Bestand haben kann. Die Fotografien der Arbeiten erscheinen dann in der Art, als seien sie in der Ausdruckskraft ihrer Farben und bizarren Formen zuallererst mit Hilfe von Photoshop entstanden. Und die Enttäuschung über das Ausbleiben jener digitalen Täuschung, geschuldet dem Umstand, dass die ‚Blumen‘ ganz reale Objekte waren, kann dann wiederum zu einer Reflexion anregen, eben jenes Verhältnis von analog und digital neu zu bedenken. Geht es doch auch hier offenbar darum, die Rückkehr des Analogen noch im künstlerischen Anschein des Digitalen glaubhaft zu machen. Mit Aram Bartholl kann die Rückkehr des Analogen in die Gegenwartskunst noch einmal anders konzipiert werden. Während Demand und Hatry einen reflexiven Zugang zu dem Thema wählen, nähert sich Bartholl der verhandelten Sache auf symbolische Weise. Dabei denke ich besonders an Arbeiten wie ‚Map‘ (2006–2010), in denen Bartholl bspw. die von google-Maps allbekannten digitalen Tropfen zur Treffer-Anzeige einer Suchanfrage analog nachbildet und in die analoge Welt
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oder Wirklichkeit stellt. Das Digitale wird hier re-analogisiert. Der künstlerische Effekt muss als ein solcher verstanden werden, in dem das bisherige Verhältnis von analoger Wirklichkeit und digitaler Reproduktion neu gedacht wird, nämlich als ein solches, das prinzipiell auch in entgegengesetzter Reproduktionsrichtung konzipiert werden kann. Im Digitalen wären auch Potenzen zu sehen, zu einer Wirklichkeit Bezug zu nehmen, die sich nicht notwendig im Virtuellen verliert. Als digitale Symbole werden die google-Maps-Tropfen demnach resignifiziert und mit einer Entsprechung in der Welt analoger Verweise versehen. Die Kunst weist auch hier voraus, indem sie ihr autonomes Kunstschaffen auf mögliche Weltverhältnisse hin zurückdeutet. Eine erstaunliche und ganz andere Wendung der Formel von der Rückkehr des Analogen konnte auf der dOCUMENTA 13 bei dem Werk der indischen Künstlerin Nalini Malanis: ‚Lichtraum‘ nachvollzogen werden. Sie lässt durch fünf mannsgroße und sich drehende Folienzylinder Projektionen von sechs Beamern scheinen sowie indische Musik und Gedichtausschnitte ertönen. Alles zusammengenommen wirkt dies wie eine sich drehende Laterna magica, wie sie sich in Kinderzimmern findet. Auf den Folien sind märchenhafte Figuren zu sehen, speiende Drachen, hetzende Hunde und indische Gottgestalten. Die Beamer durchfluten jene Fabelgestalten mit Gewaltinhalten. Malani geht es um die Geschichte der Unterdrückung der Frau in Indien. Die Arbeit versucht, die Ursprungsmythen jener Jahrhunderte währenden Verzweiflungsgeschichte ans Licht zu bringen, daher der Titel der Installation: „In Search of the Vanished Blood“. Viele weitere Beispiele wären zu nennen und wenigstens anzusprechen, nicht nur in der bildenden Kunst, sondern auch in der Literatur; die Musik, nochmals betont, ist ein eigener Fall der Fortentwicklung. Jene Erweiterung der Beispiele muss aus Platzgründen an anderer Stelle erfolgen.
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Reflexion und ästhetische Wahrnehmung Zum schwierigen Verhältnis von Theorie und Praxis in der Kunst Die Entwicklung der Kunst der Neuzeit umfasst die Mobilisierung bzw. Herausbildung entsprechender Spielarten des Wissens, die in die Produktion und Rezeption von Werken eingehen. Begriffe, Theorien, Denk- und Reflexionsakte sind hier der sinnlichpraktischen Seite der Kunst nicht lediglich auf äußerliche Weise assoziiert – als könne man die ästhetischen Produkte auch abgelöst und frei von kognitiven Operationen wahrnehmen und verstehen –, sondern mit ihr in unauflösbarer Weise verkettet. Ohne die im späten Mittelalter anhebende Offensive in den Diskursen über den Charakter von Bildwerken hätte Kunst in unserem Verständnis nicht entstehen können. Maler und Bildhauer emanzipierten sich vom Metier des den Tätigkeiten der Gelehrten fernstehenden Handwerks vor allem über die Integration von Wissensbeständen und Reflexionsakten in die eigene Produktion. Begriffe und theoretische Modelle eröffnen Wahrnehmungs- und Handlungsräume, in denen entsprechende Kriterien, Imperative und Urteilsformen Gestalt annehmen können. Beispielhaft lässt sich dies am Begriff der maniera beobachten, mit dem in der Renaissance die Machart, d. h. die in den Artefakten sich dokumentierende Handschrift des Produzenten bezeichnet wird.1 Der aus der mittelalterlichen Hofliteratur entlehnte Begriff rückt Phänomene ins Licht der Aufmerksamkeit, die bis dahin eher dumpf und unbestimmt, wenn überhaupt wahrgenommen wurden.2 Durch die Diskursivierung des besonderen Gemachtseins von Werken konstituiert sich ein imaginärer Raum der Koexistenz von Objekten, in dem Beziehungen, Analogien und Differenzen zwischen denselben von Bedeutung sind; erst hier entsteht eine Sphäre der Kunst, die durch das übergreifende Problem der Findung ästhetischer Formen zusammengehalten wird.3 Begriffe wie der der maniera oder des Stils fungieren nicht als bloße Namen, die bereits bestehenden Dingen oder Phänomenen angeheftet werden; sie besitzen vielmehr die Kraft, sinnliche Strukturen und Verhältnisse ins Dasein treten zu lassen. Die Kunst, die an wahrnehmbaren Ereignissen Interesse nimmt, ist in jedem Fall an die Instanz der Reflexion und des Denkens gebunden, weil sie ihr Material nur im Horizont von Konzepten des Geistes finden und bearbeiten kann. Wo sie diese Abhängigkeit leugnet, stagniert sie auch in ihren sinnlichen Gestalten und fällt potentiell in bloßes Handwerk zurück. Verdeutlicht man sich diesen für die Entwicklung der Kunst wichtigen Zusammenhang, so ist man erstaunt über die Tatsache, dass die Instanzen des Begriffs und der Reflexion durch Künstler und Publikum bis heute vielfach gering geachtet oder gar als der Herstellung und Wahrnehmung von Kunst abträglich betrachtet werden; Theorie Reflexion und ästhetische Wahrnehmung
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steht im Verdacht, die Kreativität des Subjekts zu schädigen oder zumindest nicht zu unterstützen. Die Motive und Voraussetzungen für diesen Verdacht sind unterschiedliche: Zum einen speist er sich aus dem Geist der seit der Romantik virulenten Rationalitätskritik, die mit Recht auf destruktive Implikationen moderner aufgeklärter Wissenschaft und Technik aufmerksam macht. Zum anderen steht dieser Verdacht im Dienste einer Gesinnung, die von der ästhetischen Erfahrung Entlastung von den Anstrengungen des für die Alltagswelt unabdingbaren reflexionsgesteuerten Handelns erwartet. Schließlich lässt sich dem rationalitätskritischen Verdacht gegenüber der Theorie in der Kunst auch ein Stück Wahrheit entnehmen, denn das Verfügen über Begriffe oder die Fähigkeit zur Reflexion auf Seiten des Künstlers und seines Publikums liefern keineswegs schon die Garantie für das Gelingen ästhetischer Bemühungen; Theoriebildung kann den ästhetischen Produktions- und Rezeptionsakten auch feindlich sein. Die Skepsis gegenüber diskursiven Anweisungen im Umgang mit dem zu formenden Material besitzt ein unbestreitbares Recht. So haben Künstler und Theoretiker immer wieder Momente in der ästhetischen Praxis zur Geltung gebracht, die sich nicht mit einer nach explizierbaren Regeln verfahrenden Erzeugung von Artefakten vertragen. Werke entstünden nicht, so die hier entwickelte Vorstellung, die in der Neuzeit im Begriff des Genies kulminierte, unter Anwendung theoretisch formulierbarer Vorschriften, sondern in einer rein intuitiv operierenden Praxis.4 Dass dieses Modell die Potentiale der Intuition gegenüber den traditionellen Regelästhetiken aufwertet, ist zu begrüßen; dass in ihm die Verbindung der ästhetischen Produktion zum Medium der Theorie vielfach gekappt wird, muss indessen als Fehlweg betrachtet werden. Auf die Grenzen des Begriffs und der Reflexion hinzuweisen, ist eines, theoretische Anstrengungen zugunsten intuitiver Verfahren zu eliminieren, ein anderes. Angesichts verbreiteter defizitärer Vorstellungen in dieser Sache stellt sich die Aufgabe, die Produktion und Rezeption von Kunst unverkürzt – das heißt weder durch eine einseitige Hervorhebung der Sinnlichkeit noch der Theorie – in den Blick zu rücken. Einen möglichen Schlüssel liefert hier Immanuel Kant mit seinen Überlegungen zur Struktur der ästhetischen Wahrnehmung. Der Autor entwickelt an einer zentralen Stelle der Kritik der Urteilskraft die richtungsweisende Vorstellung, dass in der Wahrnehmung des Schönen die im Subjekt angelegten Vermögen der Einbildungskraft und des Verstandes in ein freies Spiel treten.5 Unmissverständlich ausgesprochen ist hier die Einsicht, dass in der ästhetischen Anschauung nicht nur die Potentiale der Sinnlichkeit und Phantasie, sondern auch die Kräfte der auf Kategorien gestützten Erkenntnis involviert sind. Kants Formel vom freien Spiel bzw. von einer wechselseitigen subjektiven Übereinstimmung der Vermögen, das auf dem Boden einer reflektierenden Urteilskraft realisiert wird, thematisiert in knapper, auslegungsbedürftiger Form eine für die Sphäre des Ästhetischen zentrale Konstellation. Wie der Autor feststellt, mündet das der ästhetischen Wahrnehmung entsprechende Geschmacksurteil nicht in eine rationale Erkenntnis des Angeschauten, weil der im Spiel befindliche Verstand durch sein hier vorliegendes Verhältnis zur Einbildungskraft von seinem Ziel, den Gegenstand einfach unter Begriffe zu subsumieren, abgelenkt wird. Wahrnehmungen bilden in diesem Fall 98 I Hans Zitko
also nicht die Unterlage für ein Gesetzeswissen über den Gegenstand, wie es in anderen Fällen von der bestimmenden Urteilskraft hervorgebracht würde; gleichwohl treten hier, wie es in programmatischer Weise heißt, die Gemütskräfte des Subjekts in ein Verhältnis, wie es zu einer Erkenntnis überhaupt erforderlich sei.6 Kant platziert die ästhetische Wahrnehmung jenseits der Leistungen der bestimmenden Urteilskraft, akzentuiert auf diese Weise, dass sich das Ästhetische den Ansprüchen rationaler Erkenntnis anhaltend widersetzt, und rückt diese Wahrnehmung dennoch in den übergreifenden Horizont eines begrifflich-rationalen Wissens. Obwohl die ästhetischen Phänomene an jeder Stelle den begrifflichen Interessen des Subjekts Widerstand leisten, besitzen sie dennoch eine innere Nähe und Affinität zu den Formen des erkennenden Denkens. Kants Theorie vom freien Spiel der Erkenntnisvermögen beschreibt zunächst die Struktur der ästhetischen Wahrnehmung bzw. die Leistungen der reflektierenden Urteilskraft. Dass er jedoch auch an die Bedingungen und Verfahren der Produktion von Kunstwerken gedacht hat, zeigen seine folgenden Überlegungen zu den Aktivitäten des Genies. Zwar beantwortet der Autor die Frage nach den Voraussetzungen der künstlerischen Schöpfung zunächst mit dem Hinweis auf eine rational nicht auszuleuchtende, in intuitiven Akten sich äußernde Naturanlage. Der Künstler sei jedoch gut beraten, darüber hinaus Geschmack und Urteilskraft zu entwickeln, denn Geschmack, „ist sowie die Urtheilskraft überhaupt die Disciplin (oder Zucht) des Genies, beschneidet diesem sehr die Flügel und macht es gesittet oder geschliffen“.7 Auch in den Produktionspraktiken der Kunst sind also nach Kant die Kräfte des Verstandes, sofern eben Geschmack und Urteilskraft im Spiel sind, mit von der Partie.8 Wenn auch die rein intuitiv sich äußernde Naturgabe des Subjekts der schönen Kunst die Regel zu geben habe, so impliziere doch alle schöne Kunst durchaus etwas Schulgerechtes und Mechanisches, ohne das ein Gelingen des Werks in diesem Feld nicht vorstellbar sei. Explizit weist der Autor diejenigen in die Schranken, die sich der Disziplin einer Erlernung von Fertigkeiten entziehen zu können glauben: „Da nun die Originalität des Talents ein (aber nicht das einzige) wesentliches Stück vom Charakter des Genies ausmacht: so glauben seichte Köpfe, daß sie nicht besser zeigen können, sie wären aufblühende Genies, als wenn sie sich vom Schulzwange aller Regeln lossagen, und glauben, man paradire besser auf einem kollerichten Pferde, als auf einem Schulpferde. Das Genie kann nur reichen Stoff zu Produkten der schönen Kunst hergeben; die Bearbeitung desselben und die Form erfordert ein durch die Schule gebildetes Talent, um einen Gebrauch davon zu machen, der vor der Urtheilskraft bestehen kann.“9 Das Genie als ‚angeborenes produktives Vermögen des Künstlers‘10 ist Kant zufolge also nur ein wenn auch essentieller Teil der Bedingungen der Herstellung von Werken, eben jener Teil, der den Stoff der Produktion zur Verfügung stellt, welcher durch das schulisch gebildete Talent und eine entsprechend entwickelte Urteilskraft zuallererst geformt werden muss. Wie immer man Kants Vorstellung, in der Intuition des Künstlers komme eine reine Naturanlage zur Geltung, beurteilen mag, seine Überlegungen zur Kunstproduktion sind hier deshalb von besonderer Bedeutung, weil in ihnen mit dem Geschmacksurteil zugleich Einbildungskraft und eben auch Verstand in den Prozess Reflexion und ästhetische Wahrnehmung
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der Erzeugung von Kunstwerken eingehen. Der Autor macht auf ein zentrales Phänomen aufmerksam, das nicht zuletzt für die hier diskutierte Frage nach der Rolle von Reflexion und Theorie in der Herstellung von Kunst entscheidend ist. Nichts hindert daran, die im Sinne Kants mit der Einbildungskraft in die ästhetische Praxis einfließenden Verstandeskräfte als Voraussetzung und Quelle produktionsimmanenter Begriffe, Theorien oder Diskurse anzusehen. Theoriebildung wäre in diesem Fall selbst noch Produkt oder Voraussetzung der Dynamik reflektierender Urteilskraft, die in der Produktion von Werken auf die Geltung von theoretischen Modellen und Begriffen setzen muss und doch zugleich sicherstellt, dass sich diese Begriffe nicht verselbständigen und so die sinnlich-intuitiven Potentiale zum Schweigen bringen. Wie ist die Interaktion zwischen den beteiligten Instanzen in diesem Fall zu denken? Bereits die Bemerkungen zum freien Spiel der Vermögen bleiben in der Kritik der Urteilskraft knapp und skizzenhaft und stellen sich in einem hohen Maße als kommentar- und auslegungsbedürftig dar. Man könnte fast vermuten, die Formel vom Spiel zwischen Einbildungskraft und Verstand sei im Sinne des Kantischen Modells selbst eine ästhetische Idee, die viel zu denken gäbe, ohne dass man bei ihr an ein Ende, das heißt zu einer abschließenden Erkenntnis kommen könne.11 Sicher ist in jedem Fall, dass in der ästhetischen Produktion die Wechselwirkung von Einbildungskraft und Verstand und in erweiterter Perspektive von sinnlich-intuitiven Impulsen und theoretisch-reflexivem Diskurs keinem begrifflich rekonstruierbaren Strukturplan folgt, sondern von Situation zu Situation immer neu Gestalt annehmen muss.12 Dabei gilt zugleich, dass das Gelingen ästhetischer Produktion mit der Fähigkeit des Künstlers zusammenhängt, sämtliche Momente dieser Konstellation ins Spiel zu bringen. Bereits unter diesem Gesichtspunkt stellt sich Kunst als ein aus heterogenen Momenten zusammengesetztes Medium dar, in dem Sinnlichkeit und Verstand, intuitives Handeln und theoretische Reflexion gleichermaßen beteiligt sind. Die Leistungs fähigkeit der einzelnen Momente hängt in essentieller Weise von den Prozessen der Wechselwirkung ab, die zwischen denselben im konkreten Produktions- und auch Rezeptionsprozess ablaufen. So ist die sinnliche Schicht der Kunst in elementarer Weise mit Begriffen, Reflexionsakten und theoretischen Diskursen verwoben, ohne die sie ihre Funktion als Baustein des ästhetischen Werks nicht erfüllen könnte. Dies gilt auch dort, wo die kognitiven Leistungen nicht ins Bewusstsein des Produzierenden oder Wahrnehmenden treten, sondern implizit und unbewusst in deren Handlungs- und Wahrnehmungsprozesse eingehen. Ebenso sind auch die involvierten Begriffe und Denkakte von sinnlichen Prozessen abhängig, denen sie ihre für die Kunst typische Form und Gestalt verdanken. Kognitive Schemata tragen bei zur Eröffnung von Wahrnehmungsperspektiven und Räumen eigener Art, in denen in besonderer Weise operiert und geurteilt werden kann. Andererseits wird der theoretische Diskurs in den geöffneten Räumen mit Problemen, Fragen und Unbestimmtheiten konfrontiert, die ihn selbst wiederum zu weiterführenden Denk- und Reflexionsanstrengungen antreiben. Dass der Diskurs mit Wahrnehmungen verkoppelt ist, heißt keineswegs, dass dieser Diskurs diese Wahrnehmungen analytisch vollständig durchdringen könnte. Im Gegen100 I Hans Zitko
teil: Jeder effiziente Reflexionsakt klärt zwar bestimmte Verhältnisse, produziert aber als Akt ästhetischer Reflexion zugleich neue Unbestimmtheiten, die weitere Reflexionsakte anstoßen. Das kognitiv durchsetzte Sinnliche fordert Denken, das selbst wiederum von Begriffen durchsetztes Sinnliches sichtbar werden lässt. Im Verlauf der historischen Entwicklung bilden sich analytisch kaum aufzulösende komplexe Gemengelagen zwischen Wahrnehmung, Einbildungskraft, gestaltendem Handeln, begriffsgeleitetem Schematisieren, theoretischem Denken und Reflexion. 13 Was in diesem Prozess einer Interpenetration der Vermögen und Aktivitäten produziert wird, sind Unterschiede sowohl in der Sphäre der wahrgenommenen Phänomene als auch im Raum der entsprechenden Diskurse. Das für die ästhetische Praxis essentielle Koppelungsverhältnis von Sinnlichkeit und Denken erzeugt fortgesetzt signifikante Differenzen, die den Denk- und Erfahrungsraum in der Kunst und darüber hinaus erweitern und strukturieren. Ein derartiger Prozess, in dem mit der fortschreitenden Interaktion der Vermögen die wahrnehmungsrelevanten Unterschiede stetig anwachsen, kann mit dem Begriff der Rationalisierung belegt werden. Rationalisierung meint hier evidenterweise nicht die einseitige Expansion eines nur kognitiv-instrumentellen Wissens, sondern ein Sich-Fortschreiben einer selbstreflexiven Ordnung, in der weder das bestimmende Denken noch die Einbildungskraft, sondern deren Verhältnis den Ton angeben. Nur in dieser Konstellation behalten die sinnlichen Prozesse sowie das Denken eine für die Kunst entscheidende Plastizität und Veränderbarkeit; wo der Interaktionsfaden reißt, stagnieren beide Seiten und damit das gesamte Praxisgefüge. Von besonderer Bedeutung für die Entwicklung der Kunst in der Neuzeit ist das Konzept des Stils. Auf dem Boden dieses Konzepts entsteht ein Wahrnehmungsraum, in dem die wechselnden Macharten der Artefakte, die je spezifischen Handschriften der Künstler ins Zentrum der Aufmerksamkeit treten und vergleichbar werden. Gefordert ist hier die Fähigkeit der Beteiligten, Unterschiede und Verwandtschaften im Feld der Werke wahrzunehmen und auch benennen zu können. Das Subjekt hat es in diesem Fall mit einer prinzipiell offenen Vielheit von Lösungen des übergreifenden Problems der Formfindung zu tun, mit dem jeder produzierende Künstler konfrontiert ist. Mit dem Begriff des Stils hält ein bestimmtes Kontingenzbewusstsein Einzug in die Welt der Kunst, die Gewissheit, dass die Werke keinem generell geltenden Gesetz der Herstellung unterliegen. Der Künstler arbeitet in einem Raum von Möglichkeiten, die er auf diese oder jene Weise, in jedem Fall in singulärer, unverwechselbarer Form nutzen muss, will er Werke hervorbringen, die besondere Beachtung beanspruchen können. Doch die sich ihm im Produktionsprozess eröffnenden Möglichkeiten, an denen seine gestalterische Freiheit festgemacht ist, bilden nur einen Moment komplexerer Verhältnisse. Mit ihnen etablieren sich zugleich unterschiedliche Formen des ästhetisch Notwendigen – Forderungen oder auch Zwänge, die nicht nur von außen an die Produktionsakte herangetragen werden, sondern in ihnen selbst verortet sind –, die der Künstler nicht ignorieren kann, will er das Risiko gering halten, unbeachtet zu bleiben. Zweifellos sind auch diese Verpflichtungen und Imperative kontingent, dennoch besitzen sie eine eigene Trägheit oder Beharrungskraft gegenüber Versuchen, deren Macht zu Reflexion und ästhetische Wahrnehmung
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schwächen oder auszuhebeln. Sobald ein Maler den Entschluss fasst, ein Bild zu verfertigen, entsprechende Ideen und Vorstellungen entwickelt und erste Schritte auf der Bildfläche ausführt, nimmt er Entscheidungsspielräume in Anspruch, die sich je nach Arbeitsphase an seinem Werk als weit und unüberschaubar oder auch als eng und restringiert darstellen können. Die Freiheit, die er als kreatives Subjekt genießt, konfrontiert ihn mit einem Handlungsfeld, das ihm ein Spektrum von Möglichkeiten bietet, in dem unter Umständen kleinste Nachlässigkeiten, ein momentanes Erlahmen der Artikulationskraft, die Wahl zweitrangiger Alternativen, ein Gelingen des Werks verhindern können. Unnachsichtig ist das ästhetische Urteil der Kenner, auch des über Urteilskraft verfügenden Künstlers selbst, der den Pinsel beiseite legt und sein Produkt aus kritischer Distanz betrachtet. So ist die Herstellung von Werken bekanntlich oftmals ein quälendes Exerzitium, das mit Strukturimperativen konfrontiert, die zwar nicht auf Begriffe zu bringen sind, also keiner explizierbaren Regel gehorchen, aber dennoch tyrannisch aufzutreten vermögen. Diese Spielart ästhetischer Notwendigkeit als Produkt einer angeborenen Anlage oder eines theorie- und reflexionsfernen Vermögens zu betrachten, das dem Künstler die gestaltenden Handlungsvollzüge einfach diktierte, wäre grundsätzlich verfehlt.14 Es handelt sich hier nicht um einen blinden, reflexionsfreien Determinismus, wie ihn entsprechende Genie- oder Kreativitätslehren in der Vergangenheit gern unterstellt haben. Was hier mit aller Vorsicht als immanente Logik des Produktionsprozesses zu bezeichnen wäre, muss als Resultat jener stetig sich reproduzierenden Interaktion zwischen den divergierenden Vermögen und Instanzen betrachtet werden; die jenseits methodischer Regeln sich etablierende Logik bildet das Produkt des Ineinandergreifens von sinnlicher Wahrnehmung, Einbildungskraft, Intuition, theoretischem Wissen und Reflexion. Diese Interaktion muss im Verlauf der Herstellung des Werks auf den je erreichten Stufen der Formfindung immer wieder mobilisiert werden. Die Konstellationen und Verhältnisse der beteiligten Instanzen werden dabei stetig neu justiert und damit den unablässig sich verändernden Bedingungen im Produktionsraum angepasst. Kein methodischer Bauplan, keine vorab gesetzte Regel der Formerzeugung kann den Verlauf dieses Prozesses steuern oder antizipieren; auch ein rückwärtsgewandter Blick vermag keine entsprechende Verfahrensanweisung aufzuspüren. Die Qualität eines Werks steht in jedem Fall in einer inneren Verbindung zur Leistungsfähigkeit einer aus heterogenen Momenten gebildeten Kompetenz, die die Möglichkeiten und Grenzen von theoretischer Rationalität und Sinnlichkeit immer neu verhandelt. Denken, wie immer man dies hier fassen mag, ist dabei eine unverzichtbare Bedingung der Erzeugung von ästhetisch relevanten Artefakten. Aufmerksame Künstler und Kommentatoren haben immer bemerkt, dass dort, wo eine geist- und urteilsferne Intuition den Ton angibt, in der Kunst kaum Brauchbares entsteht. Jede Herstellung von Kunstwerken erfordert einen kompetenten Umgang mit den Momenten der Notwendigkeit und Kontingenz im ästhetischen Prozess. Vorausgesetzt ist dabei, dass der Künstler erkennt, was in seiner Tätigkeit als kontingent und was als ästhetisch notwendig zu behandeln sei. Da diese Momente nicht als Seinscharaktere 102 I Hans Zitko
gelten können, die im bearbeiteten Material einfach vorzufinden sind, sondern sich in Deutungsprozessen konstituieren, die teils erhebliche Spielräume besitzen, ist die sich zeigende Verteilung von Notwendigkeit und Kontingenz selbst kontingent. Künstler können unterschiedliche Auffassungen darüber entwickeln, ob ein bestimmter Weg des Gestaltens unbedingt beschritten werden müsse oder als austauschbar zu betrachten sei; schließlich kann ein und derselbe Künstler seine wertende Sicht auf Probleme der Form im Verlauf seiner Arbeit oder seines Lebens verändern. Die Grenze zwischen kontingenten und notwendigen Faktoren wird also im ästhetischen Prozess immer wieder neu gezogen. Dies setzt eine nicht erlahmende, stetig fortzubildende Urteilskraft voraus, die eine mehr oder minder entwickelte Fähigkeit umfasst, einsehbare Gründe für eine hier und jetzt vorgenommene Grenzziehung zwischen den beteiligten Faktoren zu liefern. Urteilskraft, wie sie hier ins Spiel tritt, steht auf dem Boden einer diskursiven Rationalität, die die Möglichkeit eröffnet, sachhaltige Argumente zu den Voraussetzungen und Implikationen ästhetischer Entscheidungen auszutauschen. Ein ästhetischer Diskurs, der diese Voraussetzungen erfüllt, übersteigt notwendig die Sphäre privater Neigungen oder Affekte. In ihm spricht sich nicht lediglich ein diskursfremdes Empfinden aus, selbst wenn dieses Empfinden, wie bei Kant, als Medium eines im Ästhetischen sich durchsetzenden Gemeinsinns zu deuten wäre. Kants Position, die eine dem Spiel von Einbildungskraft und Verstand zugeordnete Lust als Grund des ästhetischen Urteils zur Geltung bringt, ist hier unzureichend.15 Zwar wird im ästhetischen Urteil, wie der Autor zu Recht feststellt, keine Erkenntnis über Objekte der Natur manifest, jenseits eines Raums rationaler Argumentation steht es dadurch indessen nicht notwendig. Über Probleme der ästhetischen Form lässt sich mit Gründen debattieren und streiten. Das heißt nicht, dass hier in jedem Fall Konsens über das Diskutierte erzielt werden müsste oder könnte. Voraussetzung ist die Schärfung einer begriffsaffinen Wahrnehmung, die Herausbildung entsprechender Denk- und Argumentationspraktiken einschließlich der Fähigkeit, die im Gegenstand sich zeigenden Strukturen und Probleme zu verbalisieren. Auf diese Weise zu arbeiten heißt nicht zwangläufig, die ästhetischen Phänomene in ein Korsett rationaler Begriffe zu zwingen oder einfach in Begriffe aufzulösen. Hier bedarf es einer genauen Unterscheidung, denn nicht wenige Akteure der Kunstwelt folgen jener Neigung, argumentative Diskurse über Werke der Kunst mit dem pauschalen Verdacht zurückzuweisen, in ihnen würde sich lediglich eine eindimensionale Rationalität Geltung verschaffen, die der inkommensurablen Natur des Werks unangemessen sei. Die Leistungen unterschiedlicher mit Kunst befasster Diskurse sprechen hier eine andere Sprache. Bereits die klassische, heute bedauerlicherweise geschwächte Kunstkritik hat in ihrer Geschichte immer wieder bewiesen, dass der argumentative Umgang mit Werken der Kunst sachhaltig begründet und für das Verständnis von Kunst sowie für deren Entwicklung förderlich sein kann.16 Rückwirkungen kritischer oder anerkennender Kommentare auf das Selbstverständnis und die Verfahrenspraktiken von Künstlern bilden keine Ausnahmen, sondern sind in der Kunstwelt eher die Regel. Daneben hat die moderne Kunstwissenschaft immer wieder ihre Fähigkeit unter Beweis gestellt, Form und Struktur von Werken mit begrifflichen Mitteln Reflexion und ästhetische Wahrnehmung
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aufzuschließen und so deren differenzierte Rezeption zu fördern.17 Von Interesse sind hier nicht zuletzt die vielfältigen Bemühungen der Künstler selbst, die ihre Vorstellungen über den Umgang mit den Problemen der Form in entsprechenden Schriften niederlegen.18 In diesen Kontext gehören auch die leider kaum dokumentierten Atelierdiskurse, die zwischen Meistern und Schülern oder auch Kollegen geführt werden und in der Geschichte der Herstellung von Kunstwerken wahrscheinlich eine erhebliche Rolle spielen. Kant präzisiert seine Vorstellungen zur Wahrnehmung des Schönen mittels eines Prinzips, dem in der Kritik der Urteilskraft eine a priorische Geltung im Prozess der Wahrnehmung zukommt: Im freien Spiel von Einbildungskraft und Verstand manifestiert sich eine für das Schöne kennzeichnende formale Zweckmäßigkeit (ohne Zweck).19 Gemeint ist mit dieser Zweckmäßigkeit ein Zusammenstimmen sämtlicher Momente des wahrgenommenen Gegenstandes zu einer harmonischen Einheit. Der Autor ist hier an traditionellen Vorstellungen von einem organisch verfassten, nahtlos integrierten Kunstwerk interessiert, das sich als Analogon lebender Organismen darstellt. Ganzheitsimperative dieser Art sind in der Moderne bekanntlich immer wieder polemisch zurückgewiesen worden. Hier gewinnen Vorstellungen an Bedeutung, wie sie eher in Kants Theorie des Erhabenen formuliert sind.20 Oft beschrieben ist das verstärkte Interesse der Avantgarden am Ungeglätteten, Formlosen, Brüchigen, nicht oder nur mangelhaft Integrierten. In diesen Zusammenhängen findet sich ein gegenüber der Ästhetik der geschlossenen Form verändertes Verhältnis von ästhetischer Notwendigkeit und Kontingenz, denn mit der Verweigerung synthetisierender Operationen werden die Spielräume des künstlerischen Handelns in bestimmter Hinsicht erweitert. Die organische Einheit des Werks zu zerbrechen, heißt dabei nicht zwangsläufig, jede mögliche Interaktion zwischen den nunmehr als heterogen auftretenden Elementen auszuschalten. Die auf dem Schauplatz des Werks sich öffnenden Brüche und Dissonanzen bilden zunächst nur den Boden für veränderte Formen der Vermittlung des Unterschiedenen im ästhetischen Prozess. Zwar werden die akzentuierten Strukturbrüche nicht in die Einheit einer nahtlos integrierten Form zurückgeholt, aufgrund des mobilisierten Spiels der Vermögen finden sie sich jedoch in den Raum einer vermittelnden ästhetischen Rationalität integriert, die sich gegenüber außerästhetischen Phänomenen des Bruchs abgrenzen muss. Die als Symptom erhöhter Kontingenz wahrgenommenen Dissonanzen behalten so ein mehr als nur zufälliges Verhältnis zur ebenfalls mitspielenden ästhetischen Notwendigkeit, ohne die diese Kontingenz als solche gar nicht bemerkbar wäre. Wo die Brüche und Dissonanzen allerdings beginnen, sich jedem wie immer auch gearteten Arrangement mit dem dem Werk inhärenten Notwendigen zu verweigern, dort operiert die Kunst unter für sie selbst bedrohlichen Bedingungen. Das für die ästhetische Erfahrung essentielle Spiel der beteiligten Gemütsvermögen und Aktivitäten – Sinnlichkeit und Reflexion – kann hier in problematischer Weise zusammenbrechen, denn von bestimmten Verhältnissen zwischen Notwendigkeit und Kontingenz hängt ab, ob ein Werk als Werk der Kunst auftreten kann und jene Komplexität erreicht, die für eine produktive ästhetische Erfahrung erforderlich ist. 104 I Hans Zitko
Gegen die traditionelle Kunst gerichtet, haben die Avantgarden des 20. Jahrhunderts Produktions- und Diskurspraktiken entwickelt, mit denen zugleich veränderte Kriterien des Gelingens und Scheiterns der künstlerischen Arbeit verbunden sind. Nahezu sämtliche Spielräume des ästhetischen Handelns werden über das bisher Mögliche hinaus programmatisch erweitert. Verfahren des Experimentierens mit alten oder bis dahin nicht gebräuchlichen Materialien, das Arbeiten mit unkalkulierbaren Ereignissen wie dem Zufall, der Einsatz nicht steuerbarer Impulse des psychischen Unbewussten bilden Momente einer Praxis, in der im buchstäblichen Sinne fast alles möglich wird.21 Die Verwendung des unbearbeiteten Alltagsobjekts als ready-made bildet nur eine der besonders einflussreichen Spielarten in diesem Programm einer fortschreitenden Multiplikation der Kontingenzen im künstlerischen Handeln. Es entsteht eine Situation wie bei der Entdeckung neuer Länder oder Kontinente: Die weißen Flecken auf den Landkarten schrumpfen, bis sie schließlich gänzlich verschwunden sind. Die Sprengung von Grenzen in der ästhetischen Praxis impliziert zugleich bis dahin unbekannte Risiken des Scheiterns künstlerischen Handelns, denn auch noch diese gegen Konventionen aufbegehrende Strategie besitzt Grenzen des Möglichen: Die Seite des Notwendigen wird zwar fortschreitend attackiert und immer wieder zur Disposition gestellt, verschwindet aber nicht, solange sich die Kunst als Kunst erhalten kann. Eine Grenze wird dort überschritten, wo die Kontingenzen den Rahmen der ästhetischen Rationalität verlassen: Disharmonie ist nicht gleich Disharmonie, Zufall ist nicht gleich Zufall. Das Fallenlassen von Papierschnipseln auf eine bereitgestellte Fläche, mit dem Hans Arp dem planenden Geist der Gestalter zu entkommen versuchte, ist eine wohl kalkulierte ästhetische Maßnahme. Einen unvorhergesehenen Einschlag eines Meteoriten, der den Künstler und sein Atelier bei diesem Experiment vernichtete, könnte nur ein Zyniker als Kunstwerk oder Teil eines solchen bezeichnen. Das Spektrum möglicher Zufälle bewegt sich zwischen derartigen Extremen, die für die Kunst von sehr unterschiedlicher Bedeutung sind. Eine in ihrem Verlauf durch den ausführenden Künstler nicht beabsichtigte Farbspur kann die Komposition eines Gemäldes auf ein höheres Niveau heben; eine unvorhergesehene Naturkatastrophe ist in den Kunstraum dagegen nicht integrierbar. Ebenso wenig kann der Angriff islamistischer Terroristen auf die New Yorker Twin-Towers als mögliches Kunstwerk betrachtet werden, wie ein bekannter Komponist der Neuen Musik irrlichternd behauptete. Der tödliche Anschlag, der im realen Raum als kontingent gelten muss, denn er hätte bei einer anderen Verkettung von Umständen auch scheitern können, würde im Kunstraum diese Eigenschaft kaum bewahren können. Hier in diesem artifiziellen Feld ästhetischer Praxis, in dem die Verteilung von Kontingenz und Notwendigkeit anderen Regeln gehorcht als in der Wirklichkeit, würde der Anschlag als ein Ereignis wahrgenommen werden, dem der Charakter ästhetischer Kontingenz wahrscheinlich fehlte. Die realisierte Möglichkeit einer realen Begebenheit kann auf dem Schauplatz der Kunst in eine Form von despotischer Notwendigkeit umschlagen. Kunst würde hier jene innere Beweglichkeit einbüßen, die sie zu optimieren suchte, als sie gegen die Traditionen gewendet die Spielräume des ästhetischen Handelns erweiterte. Eine mögliche Reflexion und ästhetische Wahrnehmung
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Konsequenz einer derartigen Praxis ist die Rückkehr des Subjekts zu einem kultischen Umgang mit Ereignissen, wie er etwa in Religion oder Politik beobachtet werden kann. Nicht alles ist im Raum der Kunst also möglich. Die Grenzen, die zu beachten sind, stehen dabei keineswegs im Belieben der beteiligten Akteure. In dem Maße, wie die Künstler ihre Bemühungen intensivieren, an den Grenzen des bis dahin Möglichen zu rütteln, laufen sie Gefahr, von einer nicht beherrschbaren Dialektik von Notwendigkeit und Kontingenz eingeholt zu werden. Ein Ereignis, das zunächst mit Recht als zufällig zu betrachten ist, kehrt im Einzelfall den Charakter einer alternativlosen Schicksalsfügung hervor. Wo die Kunst ihrem Expansionsdrang unreflektiert nachgibt, verliert sie sich selbst. Die spektakuläre Performance von Joseph Beuys, bei der ihm durch eine Person aus dem Publikum die Nase blutig geschlagen wurde – der verletzte Künstler hantierte mit einem Kruzifix –, steht bereits jenseits der Grenze; die Nähe des dokumentierten Ereignisses zu Strategien der Bildung einer Heiligenlegende ist kaum übersehbar.22 Eine ähnliche Skepsis ist gegenüber künstlerischen Akteuren angebracht, die sich in öffentlichen Darbietungen selbst Verletzungen beibringen, um so der Kunst die ungeschminkten Kräfte des Physisch-Realen zuzuführen. Eine unter Performancebedingungen erzeugte Wunde bleibt ein Phänomen, das den imaginären Raum der Kunst kollabieren lässt. Die Messerschnitte, mit denen Lucio Fontana seine Leinwände auftrennte, bewegen sich auf einer anderen Ebene als jene exhibitionistischen Attacken der Performance-Künstler auf die eigene Haut.23 Man braucht indessen nicht zu diesen Extremen künstlerischer Praxis zu greifen, um über immanente Probleme von Produktionspraktiken zu sprechen, die die Möglichkeit, Grenzen zu versetzen, überreizen. Bereits eher unspektakuläre Strategien, die sich einem Programm der vorurteilslosen Freilegung von Strukturen des Alltags oder auch psychischer, sozialer oder kultureller Identitäten verschreiben, können auf ihre Weise scheitern. Weit verbreitet ist heute der Wille in der Kunst, an Quellen einer unverfälschten, ästhetisch noch nicht transformierten Erfahrung anzuknüpfen, angesichts der jedes artifizielle Denken und Handeln als überflüssig zu gelten habe. Man möchte den Dingen die Maske herunterreißen. Hierher gehört vieles, was in der Kunst im Zuge ihrer Repolitisierung seit den frühen neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts hervorgetreten ist. Die Hoffnung, den Werken durch das offen gelegte Wirkliche neue Lebensgeister zuzuführen, kann sich schnell als Schimäre erweisen, denn unbearbeitet in die Kunst eingebracht, nehmen die angeeigneten Phänomene nicht selten den Charakter eines eindimensionalen, tautologischen oder platt selbstaffirmativen Geschehens an. Das Reale ungefiltert ins Werk zu integrieren, ist nicht nur für die Struktur des Werks, sondern auch für die Wahrnehmung des Realen selbst kontraproduktiv, weil hier nicht nur die Kunst, sondern auch das Reale hinter die in ihm gegebenen Möglichkeiten zurückfällt. Eine mehr als nur tautologische Verarbeitung konkreter Erfahrungen durch die Kunst fordert zunächst ästhetische Rationalität und das heißt ein entsprechendes Interaktionsgeschehen zwischen Sinnlichkeit und Reflexion, Theorie und Praxis. Erst auf dem Boden dieses Geschehens kann das Werk jene intrinsische Komplexität ent wickeln, die es zu einem nicht austauschbaren Gegenstand der Erfahrung werden lässt. 106 I Hans Zitko
War in der älteren Kunst die ästhetische Form selbst Schauplatz für die wechselseitige Durchdringung der Gemütsvermögen – das erkennende Reflektieren war ein essentielles Moment der Erscheinung –, so zerreißt in einer zwanghaft der nackten Wirklichkeit nachjagenden Kunst das Band zwischen den Instanzen. Vor allem das Denken zieht sich aus der sinnlichen Praxis zurück und überlässt diese ihrem vielfach trüben Schicksal. Die These vom Rückzug des Denkens aus der sinnlichen Praxis in den genannten Spielarten der Kunst mag Widerspruch provozieren, lässt sich doch in diesen Spielarten wie in der Kunst der neueren Zeit überhaupt eher ein Anwachsen denn ein Erlahmen theoretischer Anstrengungen beobachten. In der Tat wurde wohl kaum jemals zuvor so viel an entsprechender Literatur produziert wie in den letzten Jahrzehnten. Dies widerspricht indessen nicht zwangsläufig der Diagnose, um die es hier geht. Das Bild klärt sich, wenn man vom Bestehen differenter Diskurs- bzw. Reflexionsebenen ausgeht, auf denen unterschiedliche Entwicklungen ablaufen können: Während die Reflexion auf der einen Ebene prosperiert, kann sie auf der anderen Ebene Schrumpfungsprozesse zeigen; so ist es möglich, dass sich im Schatten einer spezifischen Theoriekonjunktur zugleich bestimmte Reflexionsdefizite ausbreiten. Die vorliegende Problemlage erinnert an Diskussionen, die in der Kunstwissenschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und darüber hinaus geführt wurden. Hatten Stilanalytiker wie Alois Riegl oder Heinrich Wölfflin den Weg einer strengen Formanalyse beschritten, so trat mit Erwin Panofsky ein Theoretiker auf den Plan, der gegenüber deren Interesse an der ästhetischen Form die Instrumente einer erweiterten Inhaltsanalyse zur Geltung brachte.24 Sein methodologischer Entwurf lieferte ein dreistufiges Modell, an dessen Basis die sinnlich-ästhetische Form, in dessen Mitte die klassische Ikonographie und an dessen Spitze die von ihm so genannte Ikonologie, die Untersuchung kultureller Symbole und „wesentlicher Tendenzen des menschlichen Geistes“ situiert ist.25 Steigt man diese Stufenfolge hinauf, so reichert sich die Kunstbetrachtung zunehmend mit unterschiedlichsten Bedeutungen an. Panofsky wollte die Formanalyse nicht unbedingt ausschalten, sein Blick richtete sich aber offenbar dennoch vorzugsweise auf die oberen Stufen seines Schemas.26 Die genannten Strategien der Kunst und ihre theoretische Reflexion jedenfalls scheinen sich auf der Panofskyschen Leiter eher nach oben bewegt und dabei die unteren Schichten des Ganzen ausgeblendet zu haben. Was sich in den genannten Positionen beobachten lässt, ist also nicht ein Verschwinden theoretischer Aktivitäten, sondern deren selektive Ausrichtung auf Fragen ikonographischer, ikonologischer, heute vor allem sozialer, kultureller oder politischer Art. Man kann hier auch von der Auflösung einer substantiellen Interpenetration von Sinnlichkeit und Denken zugunsten einer eher losen Verbindung dieser Instanzen sprechen. Die Wahrnehmung wird in bestimmter Weise von den Kräften des Denkens abgekoppelt, mit allen problematischen Konsequenzen, die diese Entkoppelung für die ästhetische Wahrnehmung mit sich bringt. Doch nicht nur die Wahrnehmung nimmt hier defizitäre Züge an, auch dem Medium der Theorie widerfährt ein vergleichbares Schicksal, denn die innere Vermittlung von Sinnlichkeit und Denken ist nicht nur die Reflexion und ästhetische Wahrnehmung
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Voraussetzung für die Produktivität der Wahrnehmung, sondern zugleich für die Beweglichkeit und Leistungsfähigkeit der Theorie der Kunst selbst. Diese defizitäre Praxis ist nicht durch ein rein theoretisches Manöver aufzulösen, sondern bedarf einer entsprechenden Veränderung der sinnlichen Praxis. Wenn auch die Ästhetische Theorie Adornos selbst in verschiedener Hinsicht korrekturbedürftig ist, so kann sie hier dennoch als vorbildlich auftreten, denn so manches kann man dem Autor vorwerfen, nur eines kaum: Dass er die Frage nach der inneren Verknüpfung der Probleme ästhetischer Form mit den übergreifenden Verhältnissen von Kultur und Gesellschaft vernachlässigt hätte. Entschieden geht er den Weg einer differenzierten Analyse der Formen und lässt dabei zugleich deutlich werden, dass diese Analyse nur als Teil einer übergreifenden Theorie der Gesellschaft tragfähig ist. Sicher muss man von Adornos hochgespannten Erwartungen an das utopische Potential der Kunst Abstand nehmen, gleichwohl kann man bei ihm ein Stück weit lernen, wie eine Theorie der Kunst und eine dementsprechende ästhetische Praxis aussehen könnte, die der möglichen Verbindung von Sinnlichkeit und Reflexion mit Blick auf die Realität des Sozialen gerecht wird. Als hätte Adorno Panofskys Gedanken zur Kenntnis genommen, versucht er, die hier skizzierte Stufenfolge in einer umfassenden, auf Probleme des Sozialen hin sich öffnenden Reflexionsbewegung zu durchlaufen, ohne dabei die Logik der Wahrnehmung aus den Augen zu verlieren. Als Gesellschaftstheoretiker mit makrologischen Interessen konnte er zugleich die mikrologischen Probleme der ästhetischen Form in den Blick nehmen. Ob Kants Vorstellung von einer gänzlichen Interesselosigkeit des ästhetischen Urteils hinreicht, die Stellung des begehrenden Subjekts zum ästhetischen Gegenstand verständlich zu machen, sei dahingestellt, eine bestimmte Form des Aufschubs und der Distanzierung von Impulsen des Begehrungsvermögens ist in jedem Fall eine Voraussetzung ästhetischer Praxis.27 Jeder Produktions- und Rezeptionsakt in der Kunst fordert die Bereitschaft, dem sich bildenden oder vorliegenden Phänomen eine wenn auch nur imaginäre Autonomie zuzugestehen. Auf dem Boden der Interaktion der beteiligten Gemütskräfte konstituiert sich ein Objekt, dem eine bestimmte Eigenmacht gegenüber den Impulsen der inneren Natur zukommt. Dennoch besitzt die Kunst die Fähigkeit zur Produktion und Modellierung von Befindlichkeiten, Existenzzuständen und Affekten. Die beim Hören von Musik etwa aufbrechenden Gefühlswerte sind nicht Ausdruck einer dem Werk vorausliegenden Innenwelt des Komponisten, sondern ein artifizielles Produkt seiner Tonsprache. Bei deren Entstehung spielen zwar konkrete Empfindungen eine mehr oder minder wichtige Rolle, ein Bestimmtsein der Form durch diese Impulse ist damit jedoch weder zwangläufig gegeben noch überhaupt anzustreben. Die Herstellung von Kunst bedarf einer essentiellen Transformation von Zuständen und Interessen des empirischen Subjekts. Dies erfordert ein distanzorientiertes, reflexionsgesättigtes Wahrnehmen und Handeln, das nicht zuletzt mit den Kräften ästhetischer Intuition selektiv umzugehen weiß, denn intuitive Verfahren können ebenso fehlgehen wie andere Praktiken auch. Erst das denkende und abwägende, sowohl die entstehende Form als auch sich selbst kritisch beobachtende Subjekt kann aus der Intu108 I Hans Zitko
ition eine fruchtbare Produktivkraft machen. In diesem Sinne ist die Hervorbringung von Kunst eine Aktivität unter Einschluss des nüchtern agierenden Geistes. Es bedarf also in der Kunst entsprechender Reflexionsanstrengungen, die sie vor einer ungefilterten Präsentation psychischer oder sozialer Phänomene sowie vor dem naiven Glauben an die Kräfte einer reflexionsfreien Spontaneität bewahrt. Erst unter diesen Bedingungen entstehen Werke, in denen sich mehr als nur Schrumpfungsprodukte des Realen wiederfinden. An dieser Fähigkeit mangelt es heute vielfach der gesellschaftskritisch und sozialreformerisch auftretenden Kunst, wie sie etwa in massierter Form auf der letzten Kasseler documenta 2012 zu sehen war. In politischer, sozialer oder ökologischer Hinsicht durchaus auf der Höhe der Zeit, blieben entsprechende Beiträge in ihrer ästhetischen Durchführung gleichwohl oftmals plakativ, eindimensional, lediglich an der Übermittlung griffiger Botschaften oder an der Erzeugung sozialer Betroffenheit interessiert; nur selten begegnete man Artefakten, die eine Anstrengung im Umgang mit den Problemen der ästhetischen Form verrieten. Umso gewichtiger erschien der konzeptionelle Rahmen der Veranstaltung, der sich auf ein breites Repertoire soziologischer, philosophischer oder kulturtheoretischer Diskurse stütze. Die in ästhetischer Hinsicht defizitären Exponate fügten sich widerstandslos in die Rolle illustrierender Exempel theoretisch entwickelter Perspektiven; die Disproportion zwischen ästhetischen Angeboten und kommentierenden Diskursen war jedenfalls eklatant. Nicht das Interesse an der Theorie ist hier das Problem, auch nicht der erklärte Wille zur Veränderung der Kultur und Gesellschaft, der ein unbestrittenes Recht besitzt, sondern die spezifische Gemengelage, die sich zwischen ästhetischer Praxis, theoretischem Wissen und Gesellschaftskritik herausgebildet hat. Die erklärte Strategie, die Gesellschaft mit den Mitteln der Kunst zu verändern, bleibt auf halbem Wege stehen, wenn sie die Möglichkeiten ästhetischer Wahrnehmung marginalisiert und sich auf die Vermittlung auch auf anderem Wege transportierbarer Botschaften beschränkt. Gefordert ist also ein kritischer Umgang mit in dieser Weise defizitären Formen der Vermittlung von Theorie und Praxis in der Kunst. Kritik hat dabei zweifellos mit Widerständen zu rechnen, denn die entsprechenden Diskurse folgen nicht nur reinen Erkenntnisinteressen, sie setzen nicht nur auf ein spezifisches Wissen, sondern sind zugleich mit ethisch-moralischen Motiven – Ideen von Freiheit, Gleichheit oder Gerechtigkeit – verknüpft, die die künstlerischen Bemühungen gegenüber Einwänden in bestimmter Weise imunisieren. Ein derart wertorientierter Diskurs in der Kunst ist nicht neu. Auch totalitäre politische Systeme sind in dieser Hinsicht aktiv geworden; die Politik des untergegangenen Ostblocks ist nur ein extremes Exempel unterschiedlicher Versuche, Kunst in den Dienst von Programmen der Gesellschaftsveränderung zu stellen. Wer sich mit der Rolle moralischer oder vergleichbarer Imperative in der Rezeption und Produktion von Kunst beschäftigt, muss diese Beispiele im Blick behalten. Nicht die Forderungen nach einem besseren und gerechteren Leben sind kritisch zu bewerten – Forderungen dieser Art sind legitim –, sondern eine kurzschlüssige Verschränkung von Kunst und Moral, die nicht nur für die Kunst, sondern offenbar auch für die Reflexion und ästhetische Wahrnehmung
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soziale Bedeutung moralischer Imperative kontraproduktiv ist. Eine in den Dienst derartiger Werte gestellte Kunstproduktion mindert ihre Chancen, dem Subjekt auf dem Wege ästhetischer Wahrnehmungen Erfahrungsräume zu öffnen, die für ein besseres Leben unter Umständen bedeutsam sind, in ethisch-moralische Standards indessen nicht umgerechnet werden können. Die in der Moderne entwickelte Idee, dass der entfalteten ästhetischen Rationalität als solcher die Kraft zukomme, der Gesellschaft den Weg in eine bessere Zukunft zu ebnen, ist eine realitätsferne Illusion; der mögliche Umkehrschluss, ästhetische Erfahrung sei für das Programm einer produktiven Veränderung des Sozialen ohne jede Bedeutung, wäre nicht weniger falsch. Ästhetische Erfahrung ist weder ein prädestiniertes Instrument der Gesellschaftsveränderung noch ein Schauplatz partikularer, folgenloser Erlebnisse. Sie bildet einen Erfahrungsmodus eigener Art, der auf andere Formen der Rationalität – seien sie moralischer oder kognitiver Natur – nicht reduzierbar ist und eigene Spielarten des Möglichen impliziert. Fatal für das Spektrum möglicher Erfahrungen wäre, wenn die Kunst durch politisch-soziale Programme instrumentalisiert und ihrer spezifischen Fähigkeiten, Erfahrungen besonderer Art zu vermitteln, beraubt würde. Die der Kunst essentielle Reflexion muss also im Blick behalten, was sich in den ästhetischen Prozessen durch rationale Begriffe, ästhetische Operationsregeln oder moralische Handlungsmaximen nicht domestizieren lässt. Dies ist keine leichte Aufgabe, denn zwischen den in diesem Sinne produktiven und kontraproduktiven, weil fremdbestimmten Möglichkeiten zu unterscheiden, erfordert Urteilskraft. Die Fehlwege im ästhetischen Prozess auszuschalten, impliziert entsprechende Interpretations- und Reflexionsleistungen, denn die hier relevanten Differenzen liegen nicht einfach für jeden wahrnehmbar an der Oberfläche der Phänomene, sondern müssen in einer deutenden Tätigkeit zuallererst sichtbar gemacht werden. Beim erfahrenen und entsprechend gebildeten Subjekt können intuitive Entscheidungen ins Spiel treten, in denen sich zuvor antrainierte Prozeduren ästhetischer Differenzierung habitualisiert haben. Der analytische Sinn derartiger Intuitionen kann, wenn Bedarf besteht, grundsätzlich auf die Ebene des Bewussteins und damit eines an Gründen interessierten Diskurses gehoben werden. In dieser den gesamten Produktionsprozess durchziehenden analytischen Arbeit taxiert die reflektierende Urteilskraft das Verhältnis von Notwendigkeit und Kontingenz immer wieder neu. Gefordert ist theoretisches Wissen, Urteilskraft, praktische Kompetenz und nicht zuletzt ein gewisses Maß an Bescheidenheit gegenüber einer Ordnung, die nicht alles zulässt, unter bestimmten Bedingungen aber Ungeahntes möglich werden lässt. Kunst gelingt im Grunde nur, wo ein vom Produzenten erhobener Anspruch, das Material dem eigenen Willen dienstbar zu machen, erfolgreich zurückgewiesen wird. In den künstlerischen Praktiken, die die Kontingenzspielräume der Kunst überreizen, lässt sich eine Variante jener Gesinnung erkennen, die vom Glauben an die allseitige Beherrschbarkeit der Dinge beseelt ist. Im Hintergrund eines künstlerischen Verfahrens, das die Handlungsfreiheit verabsolutiert und nur das selbst Gesetzte achtet, stehen Machtinteressen eines Subjekts, das die Kunst partikularen Interessen unterwirft. In diesem Sinne steht nicht Weniges in der Moderne, das den etablierten 110 I Hans Zitko
Herrschaftspraktiken – sei es über die Natur oder den Menschen – entgegentritt, selbst noch auf dem Boden des Kritisierten.
Anmerkungen 1 Der Begriff der maniera spielt bekanntlich in den Texten Vasaris eine zentrale Rolle und ist dem Konzept des disegno eng verbunden. Vgl. Giorgio Vasari: Kunstgeschichte und Kunsttheorie, Berlin 2004, S. 77–104; hier: auch das Stichwort maniera von Victoria Lorini im Glossar dieses Bandes, S. 267 ff. 2 Vgl. John Shearman: Manierismus. Das Künstliche in der Kunst, Frankfurt/M. 1988, S. 15. 3 Darauf weist auch Niklas Luhmann, dem zufolge der Begriff des Stils eine zentrale Bedeutung in den Prozessen der Ausdifferenzierung des sozialen Systems der Kunst in der Neuzeit spielt. Niklas Luhmann: Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst, in: H. U. Gumbrecht u. a. (Hrsg.): Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements, Frankfurt/M. 1986, S. 620–672. 4 Der in dieser Sache vorsichtige Kant beschrieb das Genie als „das Talent (Naturgabe), welches der Kunst die Regel giebt. Da das Talent als angeborenes produktives Vermögen des Künstlers selbst zur Natur gehört, so könnte man sich auch so ausdrücken: Genie ist die angeborene Gemüthsanlage (ingenium), durch welche die Natur der Kunst die Regel giebt.“ Kritik der Urteilskraft, in: Kants Werke, Akademie Textausgabe, Bd. V, Berlin 1968, S. 307. Folgend zitiert als K. d. U. 5 „Die subjektive allgemeine Mittheilbarkeit der Vorstellungsart in einem Geschmacksurtheile, da sie, ohne einen bestimmten Begriff vorauszusetzen, Statt finden soll, kann nichts anders als der Gemüthszustand in dem freien Spiele der Einbildungskraft und des Verstandes (sofern sie untereinander, wie es zu einem Erkenntnisse überhaupt erforderlich ist, zusammen stimmen) sein, indem wir uns bewußt sind, daß dieses zum Erkenntnis überhaupt schickliche subjektive Verhältnis eben so wohl für jedermann gelten und folglich allgemein mittheilbar sein müsse, als es eine jede bestimmte Erkenntnis ist, die doch immer auf jenem Verhältnis als subjektiver Bedinunge beruht.“ K. d. U., S. 217 f. 6 „Soll nun der Bestimmungsgrund des Urtheils über diese allgemeine Mittheilbarkeit der Vorstellung bloß subjektiv, nämlich ohne einen Begriff vom Gegenstande, gedacht werden, so kann er kein anderer als der Gemüthszustand sein, der im Verhältnisse der Vorstellungskräfte zu einander angetroffen wird, sofern sie eine gegebene Vorstellung auf Erkenntnis überhaupt beziehen.“ K. d. U., S. 217. 7 „Der Geschmack“, so Kant, „ist so wie die Urtheilskraft überhaupt, die Disciplin (oder Zucht) des Genies, beschneidet diesem sehr die Flügel und macht es gesittet oder geschliffen; zugleich giebt er diesem eine Leitung, worüber und bis wie weit es sich verbreiten soll, um zweckmäßig zu bleiben; und indem er Klarheit und Ordnung in die Gedankenfülle hineinbringt, macht er die Ideen haltbar, eines dauernden, zugleich auch allgemeinen Beifalls der Nachfolge anderer und einer immer fortschreitenden Kultur fähig.“ K.d.U., S. 319. 8 „Nach diesen Voraussetzungen ist Genie: die musterhafte Originalität der Naturgabe eines Subjekts im freien Gebrauche seiner Erkenntnisvermögen.“ K. d. U., S. 318. 9 K. d. U., S. 310. 10 K. d. U., S. 307. 11 „Mit einem Worte“, so Kant, „die ästhetische Idee ist eine einem gegebenen Begriffe beigesellte Vorstellung der Einbildungskraft, welche mit einer solchen Mannigfaltigkeit der Theilvorstellun-
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gen in dem freien Gebrauche derselben verbunden ist, dass für sie kein Ausdruck, der einen bestimmten Begriff bezeichnet, gefunden werden kann, die also zu einem Begriffe viel Unnennbares hinzudenken lässt, dessen Gefühl die Erkenntnisvermögen belebt und mit der Sprache, also bloßem Buchstaben, Geist verbindet.“ K. d. U., S. 316. Eine Bedingung gibt Kant allerdings im Hinblick auf das Spiel der Vermögen an: formale Zweckmäßigkeit. „Das Geschmacksurtheil hat nichts als die Form der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes (oder der Vorstellungsart desselben) zum ‚Grunde‘.“ K. d. U., S. 221. Von weiteren mitspielenden Faktoren wie etwa der Präsentation und der Geldökonomie wird hier abstrahiert. Sie dürfen aber für ein vollständiges Bild der Entwicklung nicht vernachlässigt werden. Vgl. dazu: Hans Zitko: Kunstwelt. Mediale und systemische Konstellationen, Hamburg 2012. Die Tradition hatte diesen Zusammenhang vielfach unter dem Begriff einer inneren Notwendigkeit thematisiert, den man z. B. bei Kandinsky findet. „Um zu unterscheiden, ob etwas schön sei oder nicht, beziehen wir die Vorstellung nicht durch den Verstand auf das Objekt zum Erkenntnisse, sondern durch die Einbildungskraft (vielleicht mit dem Verstande verbunden) auf das Subjekt und das Gefühl der Lust oder Unlust desselben. Das Geschmacksurtheil ist also kein Erkenntnisurtheil, mithin nicht logisch, sondern ästhetisch, worunter man dasjenige versteht, dessen Bestimmungsgrund nicht anders als subjektiv sein kann. Alle Beziehung der Vorstellungen, selbst die der Empfindungen aber kann objektiv sein (und da bedeutet sie das Reale einer empirischen Vorstellung); nur nicht die auf das Gefühl der Lust und Unlust, wodurch gar nichts im Objekt bezeichnet wird, sondern in der das Subjekt, wie es durch die Vorstellung afficirt wird, sich selbst fühlt.“ K. d. U., S. 203 f. Vgl. hier Albert Dresdner: Die Entstehung der Kunstkritik im Zusammenhang der Geschichte des europäischen Kunstlebens, München 1968. Repräsentativ sind hier etwa Heinrich Wölfflin, Theodor Hetzer oder Max Imdahl. Zu erinnern ist hier an entsprechende Schriften etwa von Kandinsky, Klee oder Itten. Vgl. dazu Rainer K. Wick: Bauhaus. Kunstschule der Moderne, Ostfildern-Ruit 2000. Vgl. K. d. U., S. 222. Im Erhabenen geht es nach Kant um Wahrnehmungen, die, wie es heißt „zweckwidrig für unsere Urtheilskraft, unangemessen unserm Darstellungsvermögen und gleichsam gewaltthätig für die Einbildungskraft erscheinen mag (...)“. K. d. U. S. 245. „Das Schöne der Natur“, so Kant, „betrifft die Form des Gegenstandes, die in der Begränzung besteht; das Erhabene ist dagegen auch an einem formlosen Gegenstande zu finden, sofern Unbegränztheit an ihm oder durch dessen Veranlassung vorgestellt und doch Totalität derselben hinzugedacht wird (...)“ K. d. U., S. 244. Vgl. Christian Janecke: Kunst und Zufall: Analyse und Bedeutung, Nürnberg 1995. Es handelt sich hier um die von Beuys am 20. Juli 1964 in der Technischen Hochschule in Aachen durchgeführte und in Photographien dokumentierte Aktion. Vgl. Götz Adriani/Winfried Konnertz/Karin Thomas: Joseph Beuys, Köln 1973, S. 66 f. Exemplarisch sind hier Aktionen von Maria Abramovic, vgl. Toni Stooss (Hrsg.): Marina Abramovic, Artist Body. Performances 1969–1997, Milano 1998. Vgl. Alois Riegl: Spätrömische Kunstindustrie, Darmstadt 1973 (erste Ausgabe 1901); Heinrich Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst, Basel 1970 (erste Ausgabe 1915); Erwin Panofsky: Ikonographie und Ikonologie. Eine Einführung in die Kunst der Renaissance, in: Sinn und Deutung in der Bildenden Kunst, Köln 1975, S. 36–67, bes. S. 50. Ebd. S. 50. Vgl. hier Lorenz Dittmann: Stil – Symbol – Struktur. Studien zu Kategorien der Kunstgeschichte, München 1967, S. 109–139.
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27 Kant nennt Interesselosigkeit bekanntlich als Bedingung der Wahrnehmung ästhetischer Phänomene: „Das Wohlgefallen, welches das Geschmacksurtheil bestimmt, ist ohne alles Interesse (...) Ein jeder muss eingestehen, daß dasjenige Urtheil über Schönheit, worin sich das mindeste Interesse mengt, sehr parteiisch und kein reines Geschmacksurteil sei. Man muss nicht im mindesten für die Existenz der Sache eingenommen sein, sondern in diesem Betracht ganz gleichgültig sein, um in Sachen des Geschmacks den Richter zu spielen.“ K. d. U., S. 204 und 205.
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Burghart Schmidt
Fragen nach der Wissenschaftlichkeit des Forschens in den Künsten und im Gestalten überhaupt Kunst und Forschung? – Einer allerersten Ansicht scheint das ein unüberwindbarer Widerspruch zu sein; kein Nebeneinander, kein Zusammen, kein Korrespondieren. Denn es spricht noch stark von Friedrich Schiller her mit, dass Kunst wesentlich etwas mit Spiel zu tun habe. Wenn auch Schiller, gleichsam in einer Wertanthropologie der Kultur die Kunst erhöhend, verkündet, dass der Mensch nur da ganz Mensch sei, wo er spielt, so schließt diese Höchst-Wertung trotzdem gerade aus, dass Kunst Forschungscharakter hätte, selbst um den Preis der notwendigen Konstatierung, dass der Mensch im Forschen nicht ganz Mensch sei und Forschung nach derartigen Wertgesichtspunkten der Kultur keinen so hohen Rang einnehme für den Sinn der menschlichen Existenz wie die Kunst. Forschung ist nachhaltig Ernstfall, auch wenn man davon spricht, dass es innerhalb des Forschens bisweilen Gedanken- und Experimentalspiele sind, die zu Problemlösungen führen. Dann hat nämlich das Spiel innerhalb der Ernsthaftigkeitsstrukturen des Forschens nur Mittelcharakter in Hinsicht auf Problemlösungen; während in Schillers Votum zugunsten des Spiels, wenn es um Kunst geht, das Spiel als Selbstwert und Selbstzweck auftritt und nicht als Entspannungsmittel für überraschende Einfälle. Der Spielcharakter, der damit für die Kunst gemeint ist, wirkt sich ja bis heute in den Repräsentationsweisen dessen aus, was die Kunst hervorbringt, was sie produziert. Die Ausstellungseröffnungen folgen einem Ritus, der sie entweder strukturell dem Gottesdienstlichen entsprechen lässt, besonders, wenn es feierlich wird, oder den Strukturen höherer anspruchsvoller Unterhaltung, wobei das Gottesdienstliche, so sehr es sich in Metaphysik vertiefte und verernstete und solches weiterhin betreibt, denn doch auch mit der Unterhaltung sich berührt. Es sollte entspannen vom Ernst der alltäglichen Arbeit, und sei es, dass Gottesdienstliches Derartiges erreichte durch Umspannen zu anderer Angespanntheit der metaphysischen Tiefen, die aber und allerdings überall auch ihre Carnevale vorleuchten, vortanzen ließen und das weiterhin tun. So ruhte Gott „am siebenten Tag von allen seinen Werken“. So oder so, in unterhaltender Weise werden die Produkte der Kunst repräsentiert und, wenn es angeht, präsentiert, dafür steht die gesamte Vernissagenkultur. Die Forschung aber führt ihre Produktion keineswegs auf unterhaltsame Weisen ein und vor. Der Forschungsbetrieb beruht auf internationaler oder globaler Ernsthaftigkeit. Allerdings gab es Denker, die gerade von der Kunst her diese Ernsthaftigkeit schon immer hatten aufbrechen wollen. Nicht zuletzt wohl unterschwellig und unbewusst ging es Fragen nach der Wissenschaftlichkeit des Forschens
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ihnen darum, jenen erwähnten Spielfaktor im Forschen, den der Forschungsbetrieb nur eingesetzt sieht als das Mittel zum Vermehren und Intensivieren der für Problemlösungen notwendigen Einfälle, sozusagen in Freiheit zu setzen, aus einem Mittel zum Selbstzweck und Wesen der Forschung zu machen. Schiller, darin ganz an Kant orientiert, sagte schon in einem seiner Schlüsselverse, nur durch das Morgentor des Schönen betrete man der Erkenntnis Land. Friedrich Nietzsche rang um eine Fröhlichkeit der Wissenschaften. Und dann gar Bertolt Brecht, als wäre er unterschwellig doch Nietzscheaner gewesen, wo er gegen dessen hohen Sprachton nur Spott kannte, machte sich zur Leitlinie, dass der Gewinn von Einsichten, das Wesensanliegen der Forschung also, einem der wichtigsten wie vergnüglichsten Unterhaltungsspiele des Menschen gleichkäme, ja dieses vergnüglichste Unterhaltungsspiel sei. Und Kunst, die das gerade im Auge habe, könne der Forschung dieses Unterhaltsame und Spielerische beibringen, wo sie selbst in ihrem Grundzug der Aufklärung verpflichtet sei. Über das Verhältnis von Kunst und Forschung wird heute viel diskutiert, berichtet, untersucht. Das hat seinen Grund unter anderem wohl in dem Umstand, gemäß dem heute eher ins Forschen als in die traditionellen Kulturwerte investiert wird, soweit es um die so genannte öffentliche Hand geht. Zu diesem Problem wurden in den letzten Jahren viele Untersuchungen veröffentlicht; es rauscht durch den Blätterwald. Wenn man sich auf die Lektüre dessen einlässt, erfährt man allerdings laufend von funktionalen Zusammenhängen: Das Künstlerische unterstütze wissenschaftliches Forschen, das Künstlerische sei ein Element der Forschungsprozesse, das Künstlerische mache Forschungseinsichten und Forschungswege vermittelbar, alles Abstrakte brauche Design, das Künstlerische beflügele die Forschungsphantasie, immerhin könne es ja auch Entspannung aus den Verspannungen innerhalb der angestrengten Forscherhaltung versprechen, wie oben angezeigt, und so viele andere Gesichtspunkte mehr, die alle die Kunst zur Frage stellen, nicht aber die Forschung etwa im Sinne eines „Die Forschung soll auch anders werden“. In der festzustellenden Einstellung drückt sich freilich das leitende Interesse dieser Zeiten aus. Weil Forschungsergebnisse wirtschaftliche Anwendbarkeiten gewährt haben und versprechen, während anderes Kulturelles zu wirtschaftlichen Sackgassen hin zu verlaufen scheint – man denke an die Reden von den „Orchideenfächern“, die wir uns nicht mehr recht leisten könnten, an die Reden von kulturellen Minderheitsinteressen, die diese Minderheiten sich selber bezahlen sollten, und so weiter –, so fließt derart immer mehr Geld in die Forschungskanäle, während es anderer kultureller Produktion entzogen wird. Es gilt ja für die Forschung selber, dass nur Anwendbarkeitsanzeige Mittelbeschaffung genügend leicht macht, damit man noch Zeit gewinnt für die eigentliche Forschungsarbeit, während Forschungsarbeit, die sich dem Verdacht der Nichtanwendbarkeit aussetzt, wie ein frevelhafter Luxus von Einsparung bedroht wird. Wenn Künste sich also in solcher Zeitgeistlichkeit dem eingerichteten Forschungsbetrieb anähneln und andienen wollen durch die Menge der Untersuchungen zu Kunst und Forschung, statt von andersartiger Forschung zu sprechen, dann geht 116 I Burghart Schmidt
es um die Aussicht auf die Fleischtöpfe der betrieblich abgesegneten Forschung, die immer schneller gefüllt werden, während in den Hirsebreitöpfen des Sichbemühens um andere Forschungsweisen als die betrieblich akkreditierten immer weniger vorhanden ist. Nahezu allein steht ein Buch mitten in den sprudelnden Mengen der Veröffentlichungen zu unserem Problem, das sich nicht auf den skizzierten Trend einlässt und nicht um die Zugänge zur Mittelbeschaffung buhlt, das vor wenigen Jahren erschienene Buch von Christian Reder, „Forschende Denkweisen. Essays zu künstlerischen Arbeiten“.1 Reder, sicher, er ist Österreicher und behandelt darum vor allem österreichische Künstler. Entlang von deren Arbeitsverläufen in paradigmatischen Phasen behandelt er aber das künstlerische Forschen mit künstlerischen Mitteln, nicht ein Sichanpassen der Künste an die Phänomenalitäten der eingerichteten Forschungsbetriebe. Was zunächst beim Sicheinlesen – an Beispielen etwa von Werkphasen der Bildhauer Bruno Gironcoli und Walter Pichler, des Malers Kurt Kocherscheidt, der Malerin Maria Lassnig – erkennbar wird, ist der Umstand, dass die Künste sich Probleme stellen, wie sie sich der eingerichtete Wissenschaftsbetrieb wegen seiner auf Akkreditierung und Evaluation angewiesenen Methodologien und seines in Verfahren äußerster Spezifikation sich durchsetzen müssenden Verallgemeinerns gar nicht zu stellen vermag. Und trotzdem werden diese Probleme bei Reder deutlich als solche, wie sie unsere forschende Wahrheitssuche nicht von sich abschütteln kann und nicht von sich abschütteln will, weit über die davon betroffenen Künstler hinaus. Nur mit diesem Buch, aufgrund seiner andersartigen Einstellung zum Thema, wird Folgendes zunächst einmal und ausführlicher diskutiert. Der Zusammenhang von Kunst und wissenschaftlicher Forschung hat in Europa eine lange Geschichte, und zwar sehr wohl als ein aktiver Zusammenhang von der Seite der Künste her, die hier keineswegs nur den abhängigen Faktor ausmachten. Man nehme einmal das Mittelalter Europas. Gewiss, die wissenschaftliche Forschung jener Zeit hat wenig zu tun mit der der Neuzeit. Es war die Theologie, die alle Wissens-WeltAnschauung von damals umfing wie durchzog. Aber das war eben die forschende Wissensweise der Zeit. Und zu der trugen die Künste erheblich bei bis zu jener Kritik der Kirchenreligion im Bild durch das Franz von Assisi gewidmete Werk Giottos oder bei dem spätgotisch-manieristischen Hieronymus Bosch, schon in Renaissance-Zeiten stehend. Und dann die Renaissance selber in ihrem aus der Klassik der Antike übernommenen Naturpathos während der loslegenden Naturwissenschaften. Die Renaissance begann ja gleichsam mit einer gestalthaften Geographie der Landschaften, zu der auch die Gesichtslandschaften des Porträts zu gehören scheinen. Ihre Künste trugen bei zu der sich entwickelnden Anatomie. Für die Optik gewannen sie, die Künste, die Einsichten in die Zentralperspektivität unseres Sehens auf qualitativ-darstellerische Weise. Aber den Renaissancekünsten ging es im Bezug auf Naturwissenschaft nicht nur um das Wissen, sondern auch um dessen technische Anwendbarkeiten in aller Anschaulichkeit, man denke an den Maschinenerfinder und Maschinenzeichner Leonardo da Vinci. Fragen nach der Wissenschaftlichkeit des Forschens
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Der Manierismus im Gefolge der Renaissance wiederum wirkte zusammen mit einer Optik, die nun neue Sehapparaturen zu erfinden begann und damit experimentierte. Durch den Manierismus wurde die Einsicht entwickelt und ins Bild gesetzt, dass wir nur in einem ganz kleinen Binnenfeld unseres Sehens korrekt zentralperspektivisch sehen; um dieses Feld herum setzt Beugung ein. Damit experimentierten die manieristischen Künstler gleich Wissenschaftlern ebenso wie mit Verzerrungen und Brechungen durch Sehapparaturen. Der Barock brachte die Dynamik zu ihrer illusionierenden Sichtbarkeit, nicht zuletzt durch Vervollkommnung und Überspannung der Zentralperspektive, die sich ja mit ihrem Fluchtpunkt rastlos zeigt, was bis zur Malerei des trompe-l’oeil führte, der 3D-Simulation sozusagen. Erst der Klassizismus reduzierte das Verhältnis der Künste zu den wissenschaftlichen Forschungen auf eine ideologische Entsprechung an Stelle direkten Zusammenwirkens: Übersicht übers Mannigfaltige und Durchsicht durchs Mannigfaltige, wenn auch eine noch so komplizierte, man denke an Denis Diderot zum Erhabenen, in dieser Zielintention begegneten sich Künste und systematisch werden wollende Wissenschaften. Dabei blieb direkte Bezogenheit nur auf die erwachende Archäologie beschränkt. Doch der Klassizismus war immerhin der Boden für den kritischen bürgerlichen Realismus der Künste, der sich nun auf das Zusammenwirken mit anderen im Entstehen begriffenen Wissenschaften richtete, den Geschichtswissenschaften, der Politologie, der Soziologie, der politischen Mythologie. Solches gilt weiterhin für den Naturalismus unter Abzug der politischen Mythologie durch forschendes Entmythologisieren, nun auch die religiöse Mythologie in die Entmythologisierung hereinholend. Der Impressionismus aber, in gewissem Sinn durchaus Frucht des Naturalismus, nahm wieder die Kooperation mit den Naturwissenschaften und ihrem gekommenen Positivismus auf, insbesondere mit der Optik, etwa durch die Einsichten, dass farbige Bilder durch ein Farbgemenge von Punkten oder Strichelungen zustande kommen, entgegen der Lokalfarbe als bloßer Sehabstraktion, Sehvereinfachung, verglichen mit dem tatsächlichen natürlichen Sehen. Das Ineinander von Kubismus und geometrischer Drehkörpertheorie ist so bekannt wie das von magischem Realismus sowie Surrealismus und der startenden Tiefenpsychologie Sigmund Freuds oder Carl Gustav Jungs. Und da ist auch die parallele Entfaltung von Konkreter Kunst und Gestalttheorie bei gegenseitiger Beeinflussung im Weiteren zu beobachten bis zum Entdecken der räumlichen Wirkungen der Farben selber jenseits der Zentralperspektive; man schaue auf die Bildwelt des niederländischen Neoplastizismus, der ja deswegen zu diesem Namen griff. Die politologisch-soziologischen Komponenten regen sich in der Entwicklung vom Jugendstil zum Bauhaus, besonders als angewandte Experimentfunktion der beiden Wissenschaften Soziologie und Politologie. So sehr gab es Zusammenhänge und parallele Entfaltungen zwischen den Künsten und den Wissenschaften, dass ideengeschichtlich immer wieder die Frage am Platz ist, wie oft die Künste den Wissenschaften voraus waren, Spezialfrage einiger Forschungen 118 I Burghart Schmidt
von Hans Holländer, dem mein gerade eben gezeichneter Abriss oder besser Anriss einiges verdankt, sowie eben Gert Ueding. In Christian Reders Buch nun findet man die Ahnung einer solchen Fragestellung später wieder, denn der Autor lässt der Beschreibung von künstlerischen Unternehmungen bisweilen zitierend-materialreiche Exkurse folgen, in denen er theoretische Problemstellungen beleuchtet in lauter Antworten auf die spezifischen Gehalte der angezeigten künstlerischen Unternehmungen, so als wäre in den künstlerischen Unternehmungen das dargestellt, was in Theoriediskursen diskutiert werden muss. Reder ergänzt die Darstellung der Arbeiten von Walter Pichler – in denen sich Archaisches zeigt und damit verbunden Darstellung von und für Ritualität, umgetrieben durch ein Verborgensein im Sinn von Gefängnis, Kammer, Gang, Tunnel, Grube – durch einen Einschubs-Exkurs über die Restaurierungen der „Heiligen Lanze“, jener Lanze, mit der der Legende nach in Jesu Leib gestochen wurde und die in der Schatzkammer der Wiener Hofburg aufbewahrt und inventarisiert ist. Dieser Exkurs hat nur insofern etwas mit Pichlers Arbeiten zu tun, als die Restaurierungsmontage der Lanze in ihrer Herstellungstechnik häufigen Vorgängen der Pichlerschen Produktionsweise entspricht. Und dann ist da die Motivik, geladen mit dem Erinnern von Ritualem in der Symbolik aus Herrschaft und Kontinuität, um sich herauszuwinden aus diesem Unterirdischen. Oder wo er davon spricht, dass Pichler hinter dem Religiösen in der Kunst selber, nicht in Kunst für Kult, her ist, schiebt Reder einen Exkurs über die Liebesphasen zu Russen ein, nicht aber geht es dabei um Lenin und Trotzki, sondern um den Austausch zwischen Dostojewski, Turgenjew und Bakunin, mit Bezügen zu Puschkin. Weiter: Pichler beschäftigt sich darstellerisch mit Zeitökonomie, Widerstandsmöglichkeiten gegen bestimmte Zeitweisen, um zur Zeit selber vorzustoßen, im Sinn einer Aufhebung von Zeitökonomie. Reder schiebt dazu eine theoretische Diskussion anarchistischer, dadaistischer, surrealistischer Kunst von Hugo Ball über Luis Bunuel bis zu Brancusi ein, möglicher, ja notwendiger Hintergrund zu Pichlers Arbeit in Sachen Zeitformenüberwindung, selbst wenn dies dem Künstler selbst unbewusst gewesen sein mag, und Ähnliches mehr bis zu einem Skelett von Wortreihungen, dessen Wörter alle etwas mit Pichlers Darstellungsmotiven zu tun haben. Erinnert fühlt man sich dabei an die Ästhetik des Denis Diderot aus dem 18. Jahrhundert, mit dem Reder in seinen Frankreichbezügen ohnehin sehr vertraut ist. Diderot hatte mitten im Entstehen der Geschmacksästhetik aus ästhetisch unmittelbaren Lustgefühlen oder Angesprochenseinsgefühlen oder Erregungsgefühlen das Schöne dargelegt als den Vielfältigkeitsgrad des Auslösens von Bedeutungsassoziationen, Interpretationsassoziationen im Betrachter. Die ästhetische Lust wurde ihm also eine Deutungs- oder Interpretationslust per Assoziation. Und so konnte er eben, wie oben schon angezeigt, auch das Erhabene mit dem Schönen vermitteln als Umwegsschönes, wobei Umweg ein Labyrinthisieren meinte, ein Erzeugen des Schönen durch Verschlingungen, aus deren Entschlingungen, Entwindungen erst die Einsicht folgt, die beim ersten Blick überrumpelt wurde, während man sonst damals im 18. Jahrhundert Schönheit und Erhabenheit als verschiedene Felder des Ästhetischen oder sogar als entgegengeFragen nach der Wissenschaftlichkeit des Forschens
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setzt im Ästhetischen darlegte, man denke an Immanuel Kant. Also an die Stelle des Angetanseins von Geschmack im Fühlen tritt der Deutungs- oder Interpretationsreichtum, der je und je ausgelöst wird, als Maß und Kriterium des Ästhetischen.2 Doch das alles bewegt sich immer noch auf Ebenen einer Funktion von Kunst für die Wissenschaften, nämlich etwa im Feld des Geschäfts der Hypothesenbildungen, der Hypothesenfindungen, erinnernd an den von Thomas S. Kuhn behaupteten Freispielraum einer Art künstlerischen Phantasierens während der Hypothesenbildung auch in der exaktesten Forschung selber, besonders für das Gewinnen von Leitbildern zu konkretem Forschen, von ihm eben Paradigmata genannt, was zu einem überall verwendeten Modewort wurde. Gemeint hat er solche Bilder wie Welle und Korpuskel oder die Leiterfigur der Doppelhelix als Molekülstruktur der DNS im Chromosom oder das Nils-Bohrsche Atommodell oder gar das zwischen Numerik und Gestalt oder Struktur Vermittelnde des Wortbilds Quantum. Eine wichtige Sache gewiss, auf der ich besonders heute immer wieder bestehe. Aber Reder geht es in viel Weiterem darum, dass, wo Wissenschaft und Theoriebildung nicht mehr weiter wissen, künstlerisches Forschen weitermachen kann, genau so wie es wissenschaftliche Diskussionen zu initiieren vermag, wobei es nicht um die wissenschaftliche Diskussion der Künste selber allein geht. Darüber hinaus und von dorther eröffnet Reder den Blick auf jenen anderen Rayon, in dem künstlerisches Forschen sich auf Problemfelder bezieht, denen die institutionalisierte Wissenschaftlichkeit sich entziehen muss, um nicht zu einem einzigen Versagen zu werden. Das sind aber durchaus Problemfelder unseres Triebs zur Wahrheitssuche (bleibender Kern wissenschaftlicher Einstellung), denen nur durch Verdrängung auszuweichen ist. Ludwig Wittgenstein sagte ja einmal so schön, dass die Wissenschaft Antworten auf so viele Fragen gibt, die uns eigentlich gar nicht interessieren. Nun die anderen Fragen, die uns wirklich interessieren? Reder weist einiges davon auf im Individuellen, im ganz Singulären, das solches nicht wäre, wenn es sich fassen ließe in der wissenschaftlichen Verallgemeinerung. Also das individuum ineffabile (Theodor W. Adorno). Dass es sich darum der Wissenschaft doch nicht ganz entzöge, hat der Sänger des individuum ineffabile, Adorno, ebenso gezeigt. Doch dazu müsse die Wissenschaft, so Adorno, eine Kehre machen, in der sie nicht mehr darauf aus ist, ihre Verallgemeinerungen zu bestätigen, zu bewähren, zu stabilisieren und so auf Anwendbarkeit zu trimmen, sondern sie müsse ihre Verallgemeinerungen daraufhin betrachten, was alles nicht unter deren Hüte passe. Das wäre aber gerade ein Heraus aus dem Wissenschaftsbetrieb zu anderer „wissenschaftlicher“ Forschung. Und darin täten sich weitere Problemfelder auf, die der Wissenschaftsbetrieb von sich weist oder bis zur Unkenntlichkeit zurüstet: Das Unendliche, das Ewige, das Unbegreifliche und das Symbolisieren, mitten im Kern unserer Existenz sich regend, dem Reder auf der Spur ist in den Unternehmen künstlerischen Forschens. So ungefähr, wie wenn man sich den Kopf zerbräche darüber, dass doch alles irgendwie abzählbar sei, nur die Zahl selber könne man nicht abzählen und nicht auszählen.3 Bei derartig verlaufenden Analysen und Destinationen fällt einem vielleicht ein, was man gelesen haben mag in Paul Virilios „Ästhetik des Verschwindens“, dort, wo es um 120 I Burghart Schmidt
die Unergründlichkeit des Einfalls geht, durch den wirklich neue Verbindungen hergestellt werden. Denn in der Tat, ein zentrales Thema bei Reder, das Neue, ist durch sein Wesen von nirgendwoher ableitbar. Wer hätte das stärker hervorgekehrt als Ernst Bloch durch sein ganzes Werk. Also versagt demgegenüber begründendes Wissen des Forschenwollens? Und sollte man sich solcher Problemsichten enthalten in einer effizienten Gesellschaft? Virilio betont demgegenüber, dass man dem Unfasslichen von seinen Rändern her sich zu nähern vermöchte und so ließe es sich umkreisen, ja man könnte es in Spiralisierungen einfassen, wenn diese Spiralisierungen in Bewegung blieben. Selbstverständlich steht hinter solchen Überlegungen die Konstatierung von Immanuel Kant, immerhin hätten wir zu Unbegreiflichem doch Begriffsbilder wie das Unendliche und demnach hätten wir doch irgendeinen Bezug dazu, der es vielleicht nicht begreif licher macht, aber es doch irgendwie angreift im Sinne von antastet, anrührt. Wir können also das Unendliche denken, also vorstellen, also darstellen. Mit derartigen Überlegungen hat der nüchterne Kant die Romantik befeuert und beflügelt; und die Romantik lässt uns ja nicht in Ruhe. Spätestens jüngst kehrte sie mit Richard Rorty, herkommend aus dem trockenen amerikanischen Pragmatismus, wieder ins Wissenwollen ein. Ein anderer Wissensdrang, den wir nicht loswerden, liegt in der Frage nach dem letzten Grund der Welt, der dann der letzte Grund unserer Existenz wäre. Man wird ja mit der Weltformelsucherei selbst aus der Physik heraus weltberühmt. Das steht für die Not der Frage. Jedoch naturwissenschaftliches Wissen löst sie nicht an dem Ort des Umschlags in unsere Existenz. Henri Bergsons Einspruch vom Ende des 19. Jahrhunderts bleibt bis zu unserem Heute gültig, dass die Darlegung physikalischer, chemischer, physiologischer, neurophysiologischer Prozesse nie den Umschlag zu den qualitativen Bildwelten des Menschen begreiflich machen könnte, in denen wir unsere Existenzgründe suchen. Hinzu treten Fragestellungen nach psychologischen, sozialethischen, individualethischen, therapeutischen Problemlagen individualisierender Art. In Reders Buch geht es um lauter Fallbeispiele des forschenden Arbeitens der Künstler in dieser verdrängten oder von Verdrängung wachsend bedrohten Fragewelt. Der Autor legt dar, wie sie, die Künstler, mit künstlerischen Verfahren die Fragen artikulieren, die zum großen Teil einstmals sehr wohl der Theorie angehörten und heute weiterhin dem unterschlagenen Theoriebedarf, und wie sie darstellerisch Antworten suchen, Antworten finden oder Beantwortbarkeiten ad absurdum führen bei bleibendem InteressiertheitsEngagement. Weiterungen zum Stärkeren eines Engagements für forschende Kunst im Sinne einer Entsprechung zur Wissenschaft, ohne dass sie in deren Funktionskreis sich auflöse: Wie steht es heute damit, wenn man dieses Mal das Heute als die letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts samt dem Beginn des 21. versteht? Das ist ja die eigentliche Zeit der ausgreifenden Verwissenschaftlichung als Ideologie euro-amerikanischer Gesellschaft. Und in diesem Prozess wurde aus dem Zusammenwirken von Kunst und wissenschaftlicher Forschung zunächst offensichtlich eine Abhängigkeit der Kunst von Wissenschaftstrends. Der Haupttrend der neuzeitlichen Wissenschaftlichkeit besteht aber in der Suche nach der Generalisierbarkeit von Aussagen über empirische PhänoFragen nach der Wissenschaftlichkeit des Forschens
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mene. Die Pop-Art hielt sich daran in ihrem Erforschen der Symbolisierungsprozesse einer über empirische Daten globalisierend-generalisierenden Konsumwelt. Ich will hier gar nicht den dennoch bleibenden Forschungscharakter bezweifeln, auch nicht den Wert solcher sich vom Grundcharakter der Verwissenschaftlichung ableitenden und bestimmen lassenden Kunsthaltungen und Kunstrichtungen mindern, zumal sie teilweise großen Spaß gemacht haben in einer Art von fröhlicher Wissenschaft. Denn ich stehe gegenüber Ästhetiken des 19. Jahrhunderts, extrem der Friedrich Nietzsches, auf dem Standpunkt, die Kunst habe viele Aufgaben, Perspektiven und Horizontmarken. Pluralismus ist nun einmal eine nicht mehr zurückzunehmende Realität unserer Gesellschaft, ob wir sie schätzen oder wenigstens akzeptieren oder beides nicht. So muss auch Pluralismus in den Künsten gelten, andernfalls würden sie sich aus unserer Realität anschlusslos entfernen und Religions-, vielmehr Sektencharakter annehmen. Experimente allerdings auf Letzteres gehören meiner Pluralismussicht nach auch zu den vielen Perspektiven und Facetten der Kunst, ohne freilich die anderen ausschalten zu dürfen. So spannt sich also der Bogen der vielen Perspektiven von der Illustration im Dienst der Wissenschaftlichkeit einer sich verwissenschaftlichenden Gesellschaft bis zur Kunstreligion. Kurz vor dieser liegt aber in der Pluralität der Kunstsinne ein Kunstsinn, der sich ausdrücken lässt als ein Forschen im Gegenlauf zum Grundtrend der Wissenschaftlichkeit hin auf Generalisieren. Damit geraten wir wieder zu Reders Buch. Demnach geht es also neben anderen Fragestellungen insbesondere um das Forschen nach dem Singulären, dem Einzigartigen. Dieser Perspektive möchte ich mich hier in Kürze vor allem widmen, nicht, weil ich doch die anderen Perspektiven ablehnen würde oder mindestens für von geringerem Wert hielte, sondern weil sie genügend schon von den Anderen debattiert werden, dies in einer Weise, dass der mir wichtige Kunstsinn dabei überflutet, untergebuttert, untergepflügt zu werden scheint. Allein dieser Umstand macht ihn mir zu einem Wert, für den ich mich mehr engagiere als für andere Werte. Meine Überlegungen gehen dabei aus von der Erinnerung an einen philosophischen Vorgang oder Ablauf. Seit dem 19. Jahrhundert wurde ein Gebiet nach dem anderen aus dem philosophischen Kanon herausgenommen oder herauspräpariert und zu einer Einzelwissenschaft verwandelt, schließlich gar die Psychologie durch die Tiefenpsychologie Sigmund Freuds und ihre Folgen. Das war der Grund zum Existenzialismus, wenn nicht Philosophie auf Wissenschaftstheorie und analytische Sprachtheorie reduziert werden sollte. Der Existenzialismus wollte nämlich die Individualexistenz verstehen, damit gewann er genau das Thema, das sich per se dem Generalisieren der aufs Exakte fixierten Wissenschaft von vornherein entzieht. Der Existenzialismus gewann den Gegenlauf des Forschens, den Gegenentwurf des Wissens zu den Verfahren schließlich doch generalisierender Wissenschaftlichkeit eben, meint das. Und so glaubte man auch, über die Wege des Existenzialismus die Philosophie eine Ideologiephase der generalisierenden Verwissenschaftlichung im Forschen überdauern, überwintern lassen zu können. Der Ansatz wurde noch einmal überrundet durch eine Philosophie der Kritik von politischer Ökonomie einerseits, durch Wissenschaftstheorie wie Sprachanalytik über122 I Burghart Schmidt
schreitende Systemtheorie anglophon andererseits und durch die französische Reobjektivierung des Philosophierens, die Strukturalismus heißt und Verwandtschaften zur Systemtheorie aufweist, mindestens in dem Grundsatz, dass das Ganze mehr sei als die Summe seiner Teile, immerhin. Alle drei Richtungen legten noch einmal auch die Philosophie auf das Generalisieren fest statt auf einen Gegenwurf, sehen wir von der Kritischen Theorie Horkheimers und Adornos hier einmal ab. Um diese Reobjektivierung aber haben sich die Künste der Zeit zu einem entscheidenden Teil nicht gekümmert. Mit so genannten „privaten Mythologien“, mit Aktionismen und Perfomances und auch durch die Entwicklungen in Malerei wie Bildhauerei bewahrten sie den Ansatz des Existenzialismus, diesen Weg also des Forschens zum Individualen und Singulären hin, mitten in Generalisierungsprozessen sondergleichen. So griffen sie vor auf die postmoderne Wende des Philosophierens, ich denke dabei an den Italiener Umberto Eco, den Franzosen Michel Foucault und den Amerikaner Richard Rorty. Die Wende hieß philosophisch allerdings nicht eine klare Rückkehr zum Existenzialismus. Der Existenzialismus ging vom Personal-Individualen aus („Sich-in-Existenzverstehen“), um so auf die Singularität der Situationen in ihrem Wechsel zu stoßen, durch die sich das Individual-Personale je und je anders realisieren muss contra Schicksal und Charakter. Die drei genannten Denker aber gehen von der Singularität der Situationalitäten aus, in denen das Personal-Individuale allerdings einen Faktor ausmacht, einen Faktor der Regelstörungen, Regelkorrekturen und Regelinnovationen von höchst vergänglichen Regeln, die nur für Momente gelten, insofern kein Rückgang auf den Existenzialismus („Sich-in-Existenz-verstehen“), sondern ein Sich-in-Situation-verstehen. Und doch müssen um des personal-individualen Faktors willen Einsichten des Existenzialismus wiederkehren. Daher die genuine Nähe aller drei Denker zur Kunst, aber in wirklicher Vertrautheit mit ihr, in Beschäftigung mit ihr, nicht wie alte philosophische Ästhetiker, die, weil Ästhetik/Kunst ein Gebiet der Philosophie sei, ihre Pflichtübungen machten und immer wieder Kant auflegten, etwa Nicolai Hartmann. Die gemeinten drei Denker zogen ihre Problemstellungen aus der Kunst ihrer Gegenwart. Und da sahen sie, dass auch in dieser Gegenwart der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Haupttrend der Kunst das Forschen nach der Singularität geblieben war, mindestens das Forschen nach den Bedingungen der Möglichkeit von Singularität mitten in der Generalisierung. Hier spürt man wieder enges Zusammenwirken zwischen Kunst und Forschung. Und dann noch das von der Kunst her motivierte Einsetzen des Dekonstruktivismus durch Jacques Derrida, das alle Generalisierung von Texten unterlaufen will durch jenen permanenten unbewussten Widerspruch des Menschen zu seinen Generalisationen, wie ihn Jacques Lacan gelehrt hatte. Doch Derrida bewährte noch einen anderen Hintergrund, jenen hier schon angedeuteten, der Theodor W. Adorno heißt. Dieser betonte nämlich, wovon oben schon die Rede war, in seiner Einleitung zum „Autori tären Charakter“, dass in einer Forschung gemäß der Wahrheitsintention Generalisa tionen nur den Wert hätten, die Abweichungen des als wirklich Erscheinenden vom Fragen nach der Wissenschaftlichkeit des Forschens
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Generalisat feststellen zu können, Adornos „Falsifikationstheorem“ gleichsam, sein antipopperianischer Popperianismus. Das wäre dann jener Wert, den für Derrida die Texte haben; ohne sie gibt es keine Ansatzmöglichkeit der Dekonstruktion. Es geht eben im Engagement für Gegenlauf-Forschung nicht um eine Parteinahme für Ignoranz im Namen des allerdings eben auch und gerade von Adorno ins Spiel gebrachten individuum ineffabile. Das wäre Esoterik, zu leicht einerseits durch Ignoranz, zu schwer andererseits durch ihr Erkenntnisziel des „ganz Anderen“, wo sie sich ernst nimmt und nicht bloß faul ist. Trotzdem bleibt an der Esoterik, so wenig sie selbst dazu beibringen kann, weil sie das Unerweisliche verallgemeinern will mit Murmeln über das tiefe Geheimnis und über ein pfuschend amalgamierendes „Alles ist Eines und Eines ist Alles“, zu ihr bleibt trotzdem ein Forschungsinteresse auch für den von mir hier angezeigten Gegenlauf, nämlich die Frage nach dem Bedarf an Esoterik in den und unter den Menschen. Und Esoterik bleibt so ohne Fixiertheit im Glauben also auch ein Forschungsinteresse der Kunst in ihrem Gegenlauf zum Generalisieren, ebenso eines der von Kunst inspirierten Philosophie. Der Gegenlauf muss aber, statt vorm wissenschaftlichen Generalisieren zu flüchten, sich genau auskennen in dem, wogegen er anläuft. Das meint so ungefähr das, was meines Erachtens den großen Unterschied macht zwischen europäischer Mystik und der Esoterik, bei Verwandtschaft durchaus. Die Mystik hat sich stets ausgekannt in dem, wogegen sie sich wandte, ob Meister Eckhart oder Bonaventura oder die Victoriner oder Andere. Und so meine ich das für die Kunst im Gegenlaufsforschen nach dem Singularen mittels des Generalisierens entgegen dem Generalisieren. Die im Skizzierten gemeinte Forschungsrichtung, die zum Wesen der Kunst gehört, bietet sich allerdings kaum den üblichen Anwendungen an im Sinn der ökonomischen Verwertbarkeiten, außer vielleicht für Psychotherapien oder Kreativitäts-Übungen (neudeutsch Trainings, Coachings etc.). Aber aus ihr müssten die Wertvorstellungen auftauchen für Budgets (Investitionen) und Bilanzen (Effizienzen bis ins Relative), wenn nicht reiner Ökonomismus alles zu Zahlentransformationen der Einsätze und Gewinn-Ausschüttungen verwandeln soll, wo für ihn ja der existierende Mensch nur einen Produktions- und Konsumtionsfaktor darstellt. Und der soll in seinem Dazwischen ausschließlich die quantifizierbaren Gewinne hochschnellen lassen. Letzteres wäre die infame Heiligkeit der Mathematik als die Metaphysik des Kapitalismus. Der verrechnete Mensch ist weggerechnet, bevor er stört, oder hinzugerechnet, sofern man mit ihm drohen und ihn dumpen kann (Reservearmee der Arbeitslosen). Die Forschung nach dem Singulären auslöschen wollen, weil nicht unmittelbar verwertbar, und damit der Kunst den ihr genuinen Forschungssinn nehmen, hieße ein Wiederhervorkehren heiliger Mathematik, in diesem Fall ohne Heiligkeit, vielmehr mit abstraktem Terror des Generalisationstriumphs. Ich habe mich auf fünf Denker berufen, die, weiß Gott!, als Wissenschaftler anerkannt wurden, doch fahrend in der anderen Forschungsperspektive. Das tat ich, um zu klären, ob die Kunst in ihrer wichtigsten Forschungsweise auf der Wissenschaftsseite ihre Partner habe. Von Thomas S. Kuhns hier schon notierter These über das Entspre124 I Burghart Schmidt
chen eines Gewinnens von findungspotenten Leitbildern in den großen Umbrüchen der Naturwissenschaften, ihren Revolutionen, zu dem Erfinden von Bildern in den Künsten durch Darstellen einmal abgesehen, also von dieser These, der Naturwissenschaftler arbeite bisweilen wie der Künstler. Trotzdem verleitet das nun doch über meine Überlegungen zum Retten des Singulären hinaus zu einer Aufstellung von möglichen Funktionen der Kunst im Verhältnis zu wissenschaftlicher Forschung. In Summe der Demonstration: Da ist einmal das Veranschaulichen abstrakter Gedankenverhältnisse durch Darstellen, da ist andererseits das Entwerfen von Hypothesen aus der Veranschaulichung heraus, da ist zum weiteren die anschauliche Korrektur von Veranschaulichungen auf beiden Ebenen, da ist schließlich der Entwurf von Hypothesen aus den visionären Darstellungen der Künste bis ins Science-fictionale und neuerlich dazu die künstlerische Korrektur. Und dann erst, doch last not least, das Zurückrufen der Generalisate durch die Kunst aufs Singuläre von Situation und auf Individualität in Situation. Komplex gewordene Wissenschaft kann ohne Cross-over mit den Künsten in deren Drang zum Singulären keinen Schritt mehr tun. Künste im Drang zum Singulären können am Generalisieren der Wissenschaften in ihrem Gegenlauf nicht vorbei, ohne in ignorante Esoterik zu verfallen; hier handelt es sich um ein Pendant-Verhältnis. Adorno behält recht, vom Verfahren und Sinn her. Und die Kunst hat stets auch in ihrem Forschen Ergebnisse, gewonnen durchs Generalisieren der Wissenschaften, beim Wort genommen und so auf den Menschen hin, nun aber in seiner singularen Situation, zu demonstrieren unternommen. Ohne das wäre die Welt blind und leer geworden durch Verabsolutierung des Verallgemeinerns ohne Gegenlauf. Mit dem bisher Diskutierten hängt, allerdings sehr mittelbar, noch ein nahes anderes Problemfeld von heute zusammen. Ein Wesenszug der bildenden Künste ist ja so oder so das Gestalten. Und gestalten, das tut der Mensch auch in so genannten Anwendungsbereichen, wie dem Gestalten von Produkten jeder Art, der Produktgestaltung also, und dem Design bis zum Design der corporate identity, der label und dem Interface-Design, ebenso dem Illustrieren und Schematisieren von Text- oder Theorie-Bestand. Das mit der Kunst Verknüpfende ist dabei eben das Gestalten. Als „angewandtes Gestalten“ ein Problem wurde, mit dem breiten Einsetzen von maschineller Industrieproduktion, wurden Kunst und angewandtes Gestalten als sehr eng verknüpft vorgestellt und gedacht, ob bei Arts and Crafts in England und Schottland oder gerade besonders in Jugendstil und Art nouveaux auf dem Kontinent, mit der Nachfolge von Werkbund, Wiener Werkstätten, Bauhaus, Konstruktivismus, Neoplastizismus und Futurismus. Es schien so, als ginge es darum, der Kunst auch viel Anwendung abzugewinnen. In solchem Sinne wäre dann, was die Kunst produziert, Bedingungsfeld angewandten Gestaltens. Wenn dann, besonders durch Otl Aicher, mit Beginn der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschland eine betonte Trennung von Kunst und Design auftrat, dann hatte das einen aufklärend einleuchtenden Hintergrund aus der deutschen Sondergeschichte.4 Die Nazis hatten ideologisch eine Verkunstung des Alltags betrieben, um alles ästheFragen nach der Wissenschaftlichkeit des Forschens
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tisch-quasi-religiös zu überhöhen bis zum Staat als Kunstwerk und der Militärparade als Triumph eines Kunstwerks aus dem Material der Menschenmassen (siehe Elias Canetti und Siegfried Krakauer zum „Ornament der Masse“). Davon befreiten eine Produktgestaltung und ein Design, die sich der Anforderungen der Künste in der Ansicht Aichers entschlugen. Hierin muss man Bernhard E. Bürdek schon zustimmen,5 der sich solchen Sinns auf Aicher beruft. Zudem lässt sich das auch von der anderen Seite her sehen, indem die Künste frei bleiben vom Druck durch die Anforderungen der Anwendbarkeit, was mit der von Adorno betonten Kunst-Autonomie zusammenklingt. Doch die ideologiekritisch einmal so notwendig gewesene Trennung von Kunst und Design wie in einer Gebetsmühle weiter aufzusagen, als wäre sie ein unhinterfragbares Axiom, unterschlägt den Tatbestand, dass bis heute Design wie Produktgestaltung sich überwiegend aus Imaginationen und Phantasien der Künste ableiteten und weiter speisen. In Letzteren arbeitet der Motor aller Anschaulichkeitsinnovationen, also auch für Design und Produktgestaltung. Ohne diesen Motor oder mit ihm im Pannenstillstand bliebe Design wie Produktgestaltung bloßes Variieren, das sich auf Rechner übertragen ließe. Schließlich, wenn Wolfgang Welsch, von Bürdek gern zitiert, sagt oder schreibt, das 21. Jahrhundert würde das des Designs, so hat er dem doch hinzugefügt, dazu müsse allerdings das Design ein anderes werden. Was wichtig ist: Bisher wurde das Verhältnis von Design und Kunst, sofern man es eng sah, immer vorgestellt als Fließübergang von Kunst zu Design, von Design zu Kunst, selbst noch beim mit Oswald Oberhuber und Donald Judd auftretenden Extrem eines Designs als Kunstwerk, weil für die Anwendung unbrauchbar. Dagegen hat Aichers ideologiekritisches Misstrauen, das Bürdek teilt, allerdings weiterhin Zugkraft. Aber das Verhältnis muss vielmehr als ein Übersetzungsverhältnis verstanden werden. Und in allem Übersetzen liegt ein Bruch vor, ein Stopp, ein Einhalt, kein Fluss. Es sind stets mehrere Übersetzungen möglich und triftig fürs jeweilige Original. Keine Übersetzung erschöpft das Original und das Original bleibt von allem Übersetzen genau genommen unberührt, bereit für weiteres Übersetzen. Nur so können wir das Verhältnis von Kunst und Design ganz eng denken, ohne dass Kunst-Autonomie in Frage gestellt würde. Selbstverständlich überträgt sich damit der Forschungscharakter der Kunst, mindestens die Probleme verbellende Frage danach, auf das Designgebiet. Allerdings werden zu solcher Angelegenheit nun erhebliche Unterschiede zwischen Design und Kunst sichtbar. Per Anwendung wenden sich Design wie Produktgestaltung von ihrem Wesen her an das Allgemeine der Vergesellschaftungsstrukturen, der Wirtschaftsstrukturen, an das Verallgemeinerbare im Psychischen und damit Psychologischen, auch wenn gerade Design und Produktgestaltung wiederum vorgeben, individualisieren zu wollen. Diese Vorgabe können sie nur in Schein und Illusion erreichen. Denn sie haben es nun einmal mit den Massengütern zu tun, mindestens beziehen sie sich aufs Multiple. Das Höchste, was sie in Sachen Individualisierung zu leisten vermögen, sind Kleinvarianzen, vergleichbar unserem Unterschriftenwesen, das ja eben aus der Anerkennung des Singulären einer Unterschrift lebt. 126 I Burghart Schmidt
Design hat also notwendig in sich jenen Verallgemeinerungszug, den auch unsere Wissenschaftlichkeit notwendig in sich trägt und austrägt, während Kunst in der Befreitheit von Anwendbarkeit sich dem immer wieder und wieder zu entwinden vermag. Daher ist auch der ihr wesentliche Forschungsdrang entscheidend auf das Singuläre richtbar. Design dagegen entwickelte, so in den Debatten verfolgbar, drei verschiedene Verhältnisse zu wissenschaftlicher Forschung, die sich als gegeneinander gleichwertig herausgestellt haben. Man findet sie umrissen und diskutiert gemäß den Designdebatten der letzten Jahrzehnte bei Dagmar Steffen6 und bei Bürdek, dessen Dissertation oben schon angegeben war. Einmal gibt es das voll legitime Erforschen von Design in seiner Entwicklungsgeschichte, entsprechend der Wissenschaft Kunstgeschichte; das wäre Forschung über Design, legitim auch dann, wenn die Praxis der Designer nichts davon haben sollte. Zum Zweiten zieht die Entwurfspraxis der Designer wegen des angerissenen Verallgemeinerungszugs sehr viel wissenschaftlich erzeugtes Wissen an sich heran; das wäre Forschung für Design. Und dann, zum Dritten und in einer am wenigsten identifizieren wollenden Entsprechung zur Kunst, kann die Entwurfsarbeit des Designs selber als Wissen erzeugendes Forschen sich ausrichten; das wäre Design als Forschung. Hierzu muss allerdings noch sehr viel mehr experimentiert werden, als bisher geschah, erfährt man bei Bürdek und Steffen. Aber warum nicht neue Bahnen einschlagen und auf ihnen Design also auch als „forschendes Denken“ im Sinne von Christian Reder verstehen? Doch ist zu betonen, das gelingt nur im Festhalten von wesentlichen Unterschieden zu dem forschenden Denken der Künste aufs Individuale hin, nämlich nur in einem Unterwegs zum Allgemeinen. Würde man allerdings forschendes Gestalten zum Komplex der Wissen erzeugenden Forschung nicht zulassen, dann würde sich Forschen mehr und mehr auf das baldigst ökonomisierbar Technologische verkürzen. Eine äußerst treffende Karikatur von Dieter Zehentmayr würde zum dystopischen Menetekel unserer Zeit: Albert Einstein kommt aus einer Tür, über der ganz groß geschrieben steht: „Jury für die Finanzierung von Forschungsprojekten“. Er tritt zu seiner Assistentin und sagt in einer Sprechblase: „Leider hat sich kein Jury-Mitglied finden lassen, das sich die wirtschaftliche Verwertbarkeit unseres Forschungsvorhabens hätte vorstellen können. Wir erhalten also keine finanziellen Mittel.“7
Anmerkungen 1 Christian Reder: Forschende Denkweisen. Essays zu künstlerischen Arbeiten, Wien/New York 2004. 2 Vgl. dazu das Diderot-Kapitel von Wilhelm Graeber in Julian Nida-Rümelin/Monika Betzler: Ästhetik und Kunstphilosophie von der Antike bis zur Gegenwart, Stuttgart 1998 und das DiderotKapitel in der Dissertation von Christos Vittoratos: Ornament alias Struktur, Universität für angewandte Kunst Wien, 2012.
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3 Vgl. Christian Reder: Wörter und Zahlen. Das Alphabet als Code, Wien/New York 2000, ein anderes Buch von ihm, das klärt, wie das Wesen der Zahl im Verhältnis zum Buchstaben sich nur künstlerischem Forschen eröffne. 4 Vgl. die Dissertation von Nadine Schreiner: Vom Erscheinungsbild zum „Corporate Design“, Bergische Universität Wuppertal, 2005. 5 Vgl. die Dissertation von Bernhard E. Bürdek: „Design – auf dem Weg zu einer Disziplin“, Universität für angewandte Kunst Wien, 2012. 6 Vgl. die Dissertation von Dagmar Steffen: „Praxisintegrierende Designforschung und Theorie bildung“, Bergische Universität Wuppertal, 2011. 7 Erste kurze Fassungen in „Gestalte/Create – Design, Medien, Kunst. 175 Jahre HfG Offenbach“, Offenbach 2007 und in „J. Knape/O. Kramer/P. Weit (Hrsg.): „Und es trieb die Rede mich an ..., Festschrift zum 65. Geburtstag von Gert Ueding“, Tübingen 2008. Erweiterte Fassung im „Wespennest“, Wien Nr. 158, Feb. 2010. Hier jetzt stark erweiterte, überarbeitete und veränderte Fassung, wie sie angestrebt war.
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Adam Jankowski
Reflexion versus Inspiration. Über den Doppelcharakter der künstlerischen Arbeit Jordan Crandall: „Sehen Sie sich im Spiegel an?“ Andy Warhol: „Nein. Es ist zu schwer, in den Spiegel zu schauen. Da ist nichts.“
In den folgenden Ausführungen geht es um die Dynamik des Verhältnisses, das Theorie und Praxis in der künstlerischen Arbeit untereinander eingehen. Genauer um die Frage: Ist Kunst ohne Reflexion und ohne Theorie überhaupt möglich?
Dualismus Theorie – Praxis Viele Kunstsachverständige sind offen von der Vorstellung geleitet, dass ein künstle rischer Schaffensprozess nur dann zu ernstzunehmenden bildnerischen Resultaten führen kann, wenn er unter dem absoluten Primat einer selbstreflexiven Theorie stattfindet – und sonst gar nicht. Es handelt sich hier um eine Vermutung, die wohl alle Theoretiker hegen, die sich auf rationalen und rationalisierenden Wegen mit der Kunst beschäftigen, und die das Phänomen Kunst aus der ihnen unzugänglichen fremden Sphäre des Rätselhaften und Unheimlichen in den gut überschaubaren und stabil beherrschbaren Raum der rationalen Vernunft überführen wollen. Den in der Sache tätigen bildenden Künstlern stellt sich der Sachverhalt meistens etwas anders dar. Spontan betrachtet, fungiert das Handwerkliche als der Gegenpol zur sinnenfernen, die Arbeit des Künstlers oft schwer belastenden Theorie. Was leitet aber dann die schöpferische Hand des Künstlers, wenn das intellektuelle Potential ausgeschaltet ist? Erste Assoziation: Es ist die Inspiration, also eine spontane Regung, die als durch und durch unreflektiert gilt. Gemeint ist hier wohl die Kraft, die wir „die Muse des Künstlers“ nennen, jenes launische und leichtfüßige Wesen, das durch seinen sprichwört lichen Kuss im Künstler den erlösenden schöpferischen Einfall zündet. Dieser Auffassung zufolge ereignet sich das Wunder der Kunst sozusagen aus einem libidinös grundierten Nichts. Als zweite Variante des Auf-die-Welt-Kommens eines Kunstwerks sei hier das Kleist’sche „Verfertigen der Gedanken beim Reden“ vorgestellt. Gemeint ist hier jener prozessuale Einstieg in das schöpferische Experiment, den wir auf der Grundlage des Vertrauens in höhere Mächte eingehen, dass alles schon sein gutes Ende finden werde, wenn man erst mit der künstlerischen Arbeit begonnen habe. In dieser Auffassung Reflexion versus Inspiration
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wurzelt die künstlerische Schöpfung in einem religiös angelegten Glauben an die Hilfe höherer Mächte und in gesundem Vertrauen in die eigene Routine. In der Kunst bezeichnet man die soeben beschriebene Methode der Kreativität als „evokativen Malprozess“. Dieser Prozess vollzieht sich etwa so: Zuerst beschmiert ein Maler die Leinwand, scheinbar ganz zufällig und ohne jeglichen bildgebenden Hintergedanken, um nach vollbrachter Tat in dem zufällig entstandenen informellen Allover energetische Anhaltspunkte für die Anregung der Phantasie ausfindig zu machen; am Ende der malerischen Kontemplation führen diese Assoziationen zu einer veritablen formalen und inhaltlichen Bildfindung. Ein solches Zustandekommen von künstlerischen Bildlichkeiten wird als Imagination bezeichnet. Von hier aus ist es nicht weit zu anderen irrational agierenden Methoden der Bildfindung, etwa zur Intuition, also einer Eingebung aus dem Äther der Vorahnungen; oder zum Instinkt, einem Reflex, der unser Handeln unbewusst ordnet und den wir unserer Vorexistenz als Primaten und Homi niden verdanken. Auch das Experimentieren mit Drogen zum Zwecke der Findung von unbekannten Bildwelten in einem auf diese Weise erweiterten Bewusstsein könnte man an dieser Stelle nennen, ebenso die Trunk 1 Joan Miro: „Personen in der Nacht“, 1949, vgl. Farb- sucht und andere exzessive Erfahrungen. abb. I. Theorie versus Handarbeit, Reflexion versus Kuss der Muse, Inspiration, Imagination, Intuition, Instinkt, Trunksucht, Irrsinn und Wahnsinn, das sind die Widersprüche und Phänomene, die am Ausgangspunkt der vorliegenden Überlegungen stehen. Man könnte auch, müsste eigentlich von „Vernunft versus Genie“ oder „Kopfkunst gegen Bauchkunst“ sprechen.
Lokale Bezüge und Theorien am Bauhaus Es hat aber schon seine guten Gründe – und auch eine innere Logik –, warum die Ini tiatoren dieses Zyklus unserer Ringvorlesungen mich um die Erörterung solcher Phänomene gebeten haben. Die HfG Offenbach geht ja bekanntlich auf Lehrinstitutionen wie das Bauhaus zurück, jene renommierte Hochschule für Gestaltung in der Weimarer Republik, weiterhin auf das New Bauhaus in Amerika und auf die spätere HfG in Ulm in den 1960er Jahren der Bundesrepublik. Es handelt sich bei den genannten historischen Anstalten um künstlerische Lehr- und Forschungsstätten, an denen Künstler und 130 I Adam Jankowski
Denker tätig waren, die sich dem reflexiven Nachdenken über die künstlerische Arbeit verpflichtet sahen und nach einer systematischen Darstellung der schöpferischen Prozesse trachteten. Die am Bauhaus tätigen Maler Wassily Kandinsky und Paul Klee etwa – beide in ihrem bildnerischen Werk scheinbar eher Protagonisten einer durch emotionale Inspiration angeregten poetischen, bzw. expressiven Bildlichkeit – suchten in ihren schriftlich gefassten Überlegungen zur Kunstpraxis nach systematischen Theo remen für die Produktion von künstlerischen Werken, von denen man sagen könnte, dass sie sich als Zeugnisse ihrer Zeit angemessen behaupten; sie trachteten bewusst und ausdrücklich danach, eine rationalisierende Systematik des künstlerischen Handelns zu entwickeln, die geeignet wäre, die Arbeitsweisen der modernen Künstler aus dem nebligen und diffusen Bereich des wundersamen Zauberns und 2 Max Bill, Skulptur „Endlose Treppe (Monument für geheimnisvollen Wundervollbringens – Ernst Bloch)“, 1991. eben des ungerichtet unbewussten Formens – hinauszuführen.1 Ähnlich handelte auch der Farbtheoretiker Johannes Itten, dessen ausgeklügelte Systematik farbiger Phänomene die akademische Didaktik moderner Kunst bis heute befeuert. An der HfG Ulm waren es Künstler und Kunstlehrer wie Max Bill, in Offenbach war es der Konstruktivist Klaus Staudt,2 die eine – aus ihrer Sicht – zeitgemäße Moderne auf der Basis einer konstruktivistischen Kunsttheorie zu begründen versuchten. Dazu muss man anmerken, dass ihre künstlerischen Unternehmungen von einer verabsolutierenden, schematischen Dogmatik des rechten Winkels geleitet wurden, die zu Ende gedacht in den sektiererischen Theoremen der berechenbaren Ästhetik eines Max Bense mündete. Womit wir wieder bei dem Wunderlichen angelangt sind. Ohne eine genauere Klärung der zentralen Begriffe Reflexion und Theorie kommen wir also 3 Klaus Staudt, Reliefobjekt „Variation“, 1970/99. nicht weiter. Reflexion versus Inspiration
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Begriffsklärung Reflexion (lat. reflectere: zurückbeugen, drehen) bezeichnet in der Physik das Zurückwerfen von Wellen (elektromagnetischen Wellen, Schallwellen etc.) an einer Grenzfläche, das heißt dort, wo sich der Wellenwiderstand (oder bei Lichtstrahlen die Brechungszahl) des Mediums ändert. Philosophisch definiert, bezieht sich der Begriff der Reflexion auf eine geistige Tätigkeit und bedeutet in der Umgangssprache so viel wie Nachdenken, Überlegen. In der Philosophie gibt es seit dem 17. Jahrhundert fachspezifische Verwendungen des Begriffs Reflexion, die sich mehr oder weniger an dem umgangssprachlichen Begriff orientieren und unterschiedliche Aspekte hervorheben. Im Zentrum steht dabei die Unterscheidung der auf äußere Objekte bezogenen Wahrnehmung von derjenigen geistigen Tätigkeit, die sich auf die Denk- und Vorstellungsakte selbst richtet; dies eben ist Reflexion, das Nachdenken über das Nachdenken, die „Erkenntnis der Erkenntnis“. Das Wort Theorie (griechisch θεωρείν theorein) bedeutet ursprünglich: beobachten, betrachten, [an]schauen; θεωρία theoría: Anschauung, Überlegung, Einsicht, wissenschaftliche Betrachtung; wörtlich: „Schau des Göttlichen“, (theos). Jeder Theorie liegen mehr oder weniger deutlich ausformulierte Annahmen zugrunde. Die Betrachtung oder Wahrnehmung des Schönen als moralische Kategorie bezeichnete ursprünglich die Betrachtung der Wahrheit durch reines Denken, unabhängig von ihrer Realisierung. Der Begriff wird alltagssprachlich auch unbestimmt als Gegenteil von Praxis (griechisch πρᾶξις: Handlung, Verrichtung, auch Vollendung) benutzt. Eine Theorie ist ein vereinfachtes Bild eines Ausschnitts der Realität, der mit diesem Bild beschrieben und erklärt werden soll, um auf dieser Grundlage möglicherweise Prognosen zu machen und Handlungsempfehlungen zu geben. Es ist also eine Anleitung zur Praxis und nicht ihr Gegenteil.3 In der Welt der Theorie lassen sich Alltagstheorien und wissenschaftliche Theorien unterscheiden. Wissenschaftliche Theorien zeichnen sich durch einen höheren Grad an Bewusstheit aus, durch ausdrückliche Formulierung, größeren Umfang und meist durch die Einbeziehung von systematischer Beobachtung, die der Überprüfung der Theorien durch eine empirische Untersuchung dient. In die Sphäre der Kunst übertragen, bedeuten die Begriffe Reflexion und Theoriebildung also etwa, den Sinn und Zweck der künstlerischen Arbeit samt der dafür notwendigen Inhalte und Formen zu analysieren und zu bestimmen.
Die historischen Anfänge der künstlerische Theorie Die schamanischen Künstler der Urzeiten reflektierten in ihren Höhlenmalereien die menschliche Existenz mit den Mitteln der magischen Beschwörung. Die Künstler der Antike reflektierten die Erfahrungen des Lebens durch den Mythos einer auf der Erinnerung beruhenden Erzählung, die alle Eventualitäten der menschlichen Existenz modellhaft vergegenwärtigte und die Menschen lehrte, dass das soziale Zusammenleben 132 I Adam Jankowski
nur auf der Plattform einer zivilisierten moralischen und politischen Kultur produktiv funktioniert. Als Beispiele für solche großen Erziehungsnarrationen seien Homers „Illias“ und „Odyssee“ genannt. Betrachten wir die künstlerischen Theorien, die das 4 Hieronymus Bosch: „Der Garten der Lüste“, um 1500, vgl. Farbabb. II. Mittelalter uns hinterlassen hat, so können wir sagen, dass die Kunstideologen des Mittelalters einer Reflexion über das Sein des Menschen verpflichtet waren, die wir als eine theologisch-metaphysische Reflexion bezeichnen müssen. Es war eine Reflexion, die – von religiösen Hysterien des Mittelalters getragen – in Form einer jenseitssüchtigen Mystik über das bloß faktische Wissen hinausgriff und mit den theologisch konstruierten Postulaten der Existenz Gottes, der von Gott gewollten Vorsehung und Weltordnung, des ewigen Höllenfeuers für Sünder, natürlich auch mit anderen fiktionalen Konstrukten über die Menschen herrschte, aber auch durch einen materialistisch motivierten, gewinnbringenden Ablasshandel. Viele der mittelalterlichen Künstler, ja die besten, entzogen sich der Grausamkeit der Lebensrealität durch das Sicheinrichten in einem illusionären Reich einer ehrlich empfundenen naiven Unschuld und Frömmigkeit; ihre Bildschöpfungen, seien sie – wie z. B. bei Lukas Cranach – arglose und heitere Schilderungen des höfischen Le- 5 Kapitelfiguren in der Abtei St. Benoit sur Loire, um 900. Reflexion versus Inspiration
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bens, seien sie tief empfundene Heiligenskulpturen anonymer Meister, erreichen und strahlen eine innere Entrücktheit aus, die uns selbst heute noch als ein Geheimnis höchster Ordnung betroffen und sprachlos macht. Insgesamt betrachtet ist die künstlerische Produktion des Mittelalters jedoch nicht minder widersprüchlich als Domenico Quaglio, „Die Kathedrale von Reims“, ca. 1800, vgl. Farbabb. III. die Kunst unserer Jetztzeit. Die unkalkulierbaren Gewalten der übermächtigen Natur, die Undurchschaubarkeit schicksalhafter Phänomene wie der Pest, der Pocken oder der Cholera, die stets anwesenden Hungersnöte, der beständig andauernde Terror der Feudalritter gegen ihre Untertanen und die willkürlichen irrationalen Wirklichkeitsdeutungen des scholastischen Klerus verwandelten die Welt des Mittelalters in eine Hölle auf Erden, zugleich erzeugten sie aber auf der anderen Seite eine alles antreibende Sehnsucht nach einem befreienden und erlösenden Jenseits. Die von mittelalterlichen Menschen tief empfundene Sehnsucht nach der Erlösung im „himmlischen Jerusalem“ und ihre fatalistische Ergebenheit vor den Zumutungen des Lebens im irdischen Jammertal machten in ihrem Zusammenspiel große ökonomische Unternehmungen möglich, so die Errichtung der steinernen, „überirdischen“ Wunderbauwerke, als die wir die großen gotischen Kathedralen noch heute empfinden. Diese Wunderkonstruktionen der sakralen Architektur verbinden die religiösen Phantasien ihrer Stifter mit dem Repräsentationsbedürfnis der politischen und ideologischen Herrscher ihrer Zeit; sie entstehen und werden getragen von der körperlichen und ökonomischen Anstrengung einer Bevölkerung, die – aus ahnungslosen Analphabeten bestehend – intellektuell völlig entmündigt ist. Konstruktiv sind die Kathedralen des Mittelalters – wie die Ritterburgen – mit den Instrumenten der antiken euklidischen Geometrie und der archimedischen Physik errichtet, die Architekten, Baumeister und Steinmetze der mittelalterlichen Bauhütten natürlich kannten und vortrefflich anzuwenden wussten.
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Die Septem artes liberales Den Bildkünstlern des Mittelalters war die Erkenntnis der wahren Zusammenhänge der menschlichen Existenz durch den Regelkanon der „Septem artes liberales“4 untersagt; ihre bildnerische Arbeit war in der Sphäre des bloßen Handwerks angesiedelt, die als minderwertig zu gelten hatte. Durch den Kodex der „Septem artes liberales“ wurden sie angehalten, ihre Schaffensprozesse an den Prinzipien und Strukturen solcher Kunstgattungen wie z. B. Rhethorik und Poetik zu orientieren.5 Das kreative Schema der Rhethorik wurde auf die bildenden Künste in Form eines Dreischritts übertragen: inventio – composio – elocutio. Innerhalb der Theorie der Rhethorik wurde die Invention, also die Erfindung eines Themas, am höchsten bewertet, da sich hier am stärksten die kreative Kraft und das Imaginationsvermögen eines Redners zu erweisen hatte, während die beiden weiteren Phasen der Anfertigung eines Kunstwerks weitgehend mit erlernbarem Handwerkszeug, ergo mit einem bloß technischen 7 Herrad von Landsberg: Die Septem artes liberales, ca. 1180, Können, zu bestreiten waren. vgl. Farbabb. IV.
Die Neuzeit Ab 1450 verbreitet sich langsam die Erkenntnis, dass der Mensch – und die ihn umgebende Welt – keine Produkte der religiösen Erregungen der Scholastiker sind, sondern eine Schöpfung der Natur. Es beginnt die Neuzeit: Die auf empirischen Erkenntnissen und Prinzipien einer kausalen rationalen Vernunft beruhenden Argumentationen der Aufklärer und Humanisten – Erasmus, Kopernikus, Galilei, Keppler, Brahe – und der Enzyklopädisten – Diderot, d’Alambert, um nur die Bekanntesten zu nennen –, lösten nach und nach die irrationalen, angstbestimmten Religionspsychosen des Mittelalters auf; ein moderner, rational aufgeklärter Weltbegriff beginnt sich zu entwickeln. Mit ihm entstehen, unter anderem, auch solche Aneignungs- und Darstellungsformen der Reflexion versus Inspiration
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8 Albrecht Dürer, „Underweysung“, 1525, Stich zur Perspektive.
Natur wie die Anatomie und die Perspektive, also zwei neue, empirisch relevante Disziplinen der Erkenntnis. Die Künstler der Neuzeit nähern sich also zunehmend einer theoretisierenden Reflektion ihres Tuns, die sich immer stärker einer rationalen Erkenntnis bedient. Mitte des 16. Jahrhunderts fasst der theoretisierende italienische Künstler Giorgio Vasari6 die drei bildnerischen Künste Malerei, Bildhauerei und Architektur unter dem Begriff „arti del disegnio“ zusammen – im Lateinischen bedeutet das etwa „bezeichnen, zeichnen, im Umriss darstellen“. Auf der Basis dieses Begriffs lassen sich die Bildkünste neu positionieren und organisieren, denn nun lässt sich erstens „die Inspiration des Künstlers im Medium der bildenden Kunst mit der Inspiration des Dichters vergleichen, „zweitens wird eine professionalisierte Form der Werkstattorganisation möglich, das heißt, viele Arbeitskräfte können an einem gemeinsamen Werk auf der Grundlage einer Zeichnung ihres Meisters arbeiten“, und drittens eignet sich das Disegnio „als Mittel der Kommunikation mit den Auftragsgebern, den Kardinälen und Fürsten“.7 Diese von Vasari intellektuell vorbereitete Aufwertung der Kunst kann nicht hoch genug eingeschätzt werden: Die künstlerische Produktion überwindet mit diesem Wechsel der theoretischen Paradigmen nicht nur die Herabsetzungen des Regelkanons der Septem artes liberales – sie gewinnt an Status und wird als eine neue Freie Kunst auch fähig zu einer eigenen Autonomie. Das bedeutet, die bildenden Künstler und Architekten werden nun in ihrer Kreativität unabhängig vom ideologischen Diktat ihrer Auftraggeber; sie müssen nicht mehr fremde Weltentwürfe illustrieren – sie dürfen jetzt eigene, eigensinnige Statements zur Welt formulieren und erfinden.
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Die Entstehung der Theorie des Ästhetischen Der Prozess der allgemeinen intellektuellen Emanzipation findet seine Entsprechung auch in der Sphäre der Kunstbetrachtung: 1750 veröffentlicht der deutschstämmige Theologe und Philosoph Alexander Gottlieb Baumgarten8 seine Schrift „Ästhetica“, eine Abhandlung, in der zum ersten Mal versucht wird, eine rationale, der Vernunft verpflichtete Systematik der ästhetischen Betrachtung zu formulieren. Baumgarten spaltet die Sphäre des Nachdenkens über ästhetische Fragen von den Bereichen der Theologie, der theologischen Metaphysik und der philosophischen Formallogik ab, mit denen sie im Mittelalter verklammert war. Dadurch ist jetzt eine historisch völlig neue Situation gegeben: Die künstlerischen Hervorbringungen werden von jetzt an von professionellen Wissenschaftlern überprüft und definiert, und zwar nach Denkformen der philosophischen Ästhetik – man könnte diesen Begriff auch als „wahrheitsliebende Schönheitslehre“ übersetzen. Die Aussagen dieser nun wissenschaftlich legitimierten Kunstdeuter und Kunstrichter strahlen natürlich auch auf die Denkvorstellungen der Künstler aus und tragen irreversible Modelle in die Welt des Künstlerselbstverständnisses hinein: Die Aussagen der wissenschaftlich verfassten Ästhetik werden von jetzt an auch für die Sphäre der eigentlichen Kunstproduktion bestimmend. „Die ersten Akademien, die, oft nur semi-institutionalisiert, im 16. Jhd. in Italien entstanden, forcierten ihrerseits eine Intellektualisierung und Verwissenschaftlichung der bildenden Kunst.“9 Erwünscht wurde jetzt, dass der Künstler sich zugleich als Theoretiker hervortat und als „pictor doctus“ – als ein gelehrter Maler – selbst Traktate und Lehrschriften verfasste. „Jener bedient sich der Kunst im zunehmenden Maße zu seiner Selbstdarstellung, dieser will sie in ihrem ästhetischen Selbstwert erleben. Damit tritt die künstlerische Schöpfung in den säkularen Bezugsraum, in dem sie noch heute steht. Dieser Begriff des Kunstwerks wird im Süden früher akzeptiert als im Norden, die schöpferische Einzelpersönlichkeit gelangt rascher zu Ehre und Ruhm. Durchaus folgerichtig entstehen als Begleitsymptome die Genieverehrung, die Kunstschulen, der Kunsthandel, die Kunstsammlungen und schließlich die Kunstwissenschaft und -kritik. Das sind die Koordinaten, an denen die Neuzeit die Stellung 9 Alexander Gottlieb Baumgarten: Erstausgabe der „Ästhetica“, 1750. von Kunst und Künstler fixieren wird.“10 Reflexion versus Inspiration
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Die heroische Moderne: 1848–1900
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Die Phase der heroischen Moderne setzt mit dem Zeitalter der ersten industriellen Revolution ein, die durch die Erfindung der Dampfmaschine ausgelöst wurde. Der erste Einsatz einer Dampfmaschine nach dem Prinzip von J. Watt fand 1776 in Schottland in der Fabrik von John Wilkinson zum Ausbohren von Kanonenläufen statt, der erste Einsatz einer Doppelhubdampfmaschine folgte 1782. Die Beschleunigung der Produktion durch den Dampfmaschinenantrieb hat in den Metropolen die Entstehung eines massenhaften Industrieproletariats zur Folge. Das eindrucksvollste Beispiel für die sich nun in dieser Epoche vollziehende Veränderung des Künstlerselbstverständnisses – und der aus dieser Veränderung folgenden Formen der Kunstproduktion – ist der französische Maler Gustav Courbet. Courbet entzieht sich dem Kunsthandelsmonopol des Pariser Salons durch Erfindung der Einzelausstellung. Nachdem 1852 seine Werke zum marktbeherrschenden Salon nicht zugelassen wurden, ist er sich nicht zu schade, diese Arbeiten zuerst in seinem Geburtsdorf Ornans, dann in den Provinzstädten Besançon und Dijon und schließlich in seinem Pariser Atelier öffentlich auszustellen. Aus diesem Anlass lässt Courbet Plakate drucken, die mit seinem Namen als Markenartikel für die Ausstellungen werben, und so mag er damit als Erfinder des Werbeplakats für eine personale Künstlereinzelausstellung gelten. Zwei Jahre später richtet er neben der Kunstgalerie der Weltausstellung von 1855 an der Av. Montaigne einen Ausstellungsraum für „REALISMUS“ ein, in dem er – gegen erhebliches EinGustave Courbet, Portrait von Etienne Carjat, nach trittsgeld – „40 Bilder und 4 Zeichnun1860. gen“ – darunter auch seine monumentalen Hauptwerke „Das Begräbnis von Ornans“ und „Das Atelier des Künstlers“ – „zur Ausstellung und zum Verkauf “ bringt. Courbets Nachname figuriert auch – hervorgehoben in Versalien – auf dem keineswegs bescheidenen Ausstellungspavillon, den er 1867 gegenüber dem Gelände der Pariser Weltausstellung errichten ließ. Von Courbet existieren viele Äußerungen zur Male138 I Adam Jankowski
rei seiner Zeit, die glänzend formuliert sind und die präzise belegen, dass dieser Maler genau wusste, was er tat, und warum er es auf diese Weise zu tun gedachte. „Herr Garcin nennt mich einen sozialistischen Maler; diese Bezeichnung nehme ich mit Freuden an: ich bin nicht nur Sozialist, sondern auch Demokrat und Republikaner; mit einem Wort, Anhänger der gesamten Revolution und vor allem Realist. (...) Realist sein bedeutet auch, ein ehrlicher Freund der vollen Wahrheit zu sein.“11
„Courbets Sonderstellung im französischen Realismus des 19. Jahrhunderts erklärt sich unter anderem daraus, dass er am konsequentesten die fünf genannten Gesichtspunkte: Natur, Geschichte, Gegenwart, Zukunft und die Reflexion der eigenen Person miteinander verklammert. Charakteristisch für seine mitunter verworrenen, nicht immer mit seiner Malerei übereinstimmenden Aus sagen ist, dass sie sehr häufig das Feld der Kunst verlassen. Seine antiklerikalen Bekundungen künden nicht nur von der Ablehnung der Kirchenmalerei. Seine antizivilisatorischen Äußer ungen verdeutlichen nicht nur die Abwendung von akademischer Feinmalerei. Vielmehr nennt sich der Maler „So11 Pavillon Courbet zur Weltausstellung 1867, Place de l’Alma, Paris. zialist, Demokrat, Republikaner, Anhänger der Revolution und vor allem Realist“.12 1855 veröffentlichte Gustave Courbet sein „Manifest des Realismus“, und schon die Form eines Manifestes lässt auf Vorbilder schließen, die nicht lange zurückliegen: 1848, also sieben Jahre früher, veröffentlichten die deutschen Sozialphilosophen Karl Marx und Friedrich Engels ihr Traktat „Das Kommunistische Manifest“, einen Text, der die wohl meist diskutierte sozialtheoretische Abhandlung der Epoche der Moderne werden sollte.13 Courbets „Manifest des Realismus“, das er 1855 in seinem Pavillon „Exposition Courbet“ als eine Broschüre für 80 Centimes zum Kauf anbot, mag als Beleg der hohen Theoriekompetenz des Malers Courbet dienen. Schon die ersten Zeilen machen Reflexion versus Inspiration
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bewusst, dass Courbet die Rolle der Theorie für die Praxis hinterfragt und problema tisiert: „Die Bezeichnung Realist wurde mir aufgezwungen, wie man den Männern von 1830 die Bezeichnung Romantiker aufzwang. Zu keiner Zeit jedoch haben Bezeichnungen eine richtige Vorstellung von den Dingen vermittelt: wenn dem anders wäre, wären die Werke überflüssig. Ohne weiter auf die Berechtigung einer Etikettierung einzugehen, die hoffentlich niemand genau zu verstehen braucht, werde ich mich hier mit einigen Worten der Erklärung begnügen, um etwaigen Missverständnissen vorzubeugen. Ich habe außerhalb jedes Systems und ohne jegliche Voreingenommenheit und außerhalb jeden systematischen Denkens die Kunst des Altertums und der Moderne studiert. Ich wollte weder die Eine noch die Andere nachahmen, mein Bestreben war auch nicht auf das unnütze Ziel von ‚l‘art pour l‘art‘ gerichtet. Nein! Ich wollte ganz einfach aus der umfassenden Kenntnis der Tradition das überlegte und unabhängige Gefühl meiner persönlichen Eigenheit schöpfen.“14
Courbet ist sich also bewusst, dass die beste Theorie nichts taugt, wenn die Werke, die aus ihr folgen, nicht überzeugen. Andererseits ist ihm aber die Unverzichtbarkeit der Theorie für die künstlerische Produktion auch klar, denn er formuliert in einem anderen Text: „Können setzt Wissen voraus, das war mein Gedanke. Im Stande sein, die Sitten, die Ideen, das Gesicht meiner Epoche nach meinem Empfinden auszudrücken, nicht nur ein Maler, sondern auch ein Mensch zu sein – mit einem Wort, lebendige Kunst zu machen, das ist mein Ziel.“15 Auch wenn der Courbet-Kenner Klaus Herding meint, dass es sich im Falle der Realismusäußerungen von Courbet nicht wirklich um eine Kunsttheorie handelt, muss festgestellt werden: Entscheidend für unsere Betrachtung ist die Erscheinung, dass Gustave Courbet sein Leben lang eng mit wichtigsten Intellektuellen und Theoretikern seiner Zeit – Max Buchon, Pierre-Joseph Proudhon, Champfleury, Emile Zola, Charles Baudelaire, auch mit seinen vielen Kritikern – einen regen intellektuellen Diskurs führte, was ihm dann schließlich den Status eines gelehrten Malers eingebracht hat. Gustave Courbet war aber primär Maler, und damit natürlich kein akademischer Theoretiker und kein Schriftgelehrter, wie seine intellektuellen Freunde. Der Maler Courbet publizierte keine analytisch erarbeiteten und systematischen Texte, er äußerte sich durch Briefe und wirkte durch überlieferte Worte. Es handelt sich bei seinen Ausführungen natürlich nicht um eine Theorie im engen natur-wissenschaftlichen Sinne, also nicht um Theoreme, die in der Folge durch empirische Experimente und logische Untersuchungen als richtig oder falsch dargestellt werden könnten. Das folgende Dokument zeigt aber, dass im Falle des Malers Courbet sogar seine Malerei als gemalte Theorie verstanden wurde.16 Das überrascht nicht weiter, handelt es sich bei Bildern wie „Das Atelier – eine Allégorie réelle meines Lebens ...“ um höchst komplex ausgeklügelte Programmbilder. 140 I Adam Jankowski
Courbets Textund Bildaussagen sind also insofern Künstlertheorie, als sie aus der subjek tiven sozialen und ästhetischen Erfahrung ihres Urhebers heraus eine Deutung des transitorischen Prozesses der Kulturgewinnung anstreben und darstellen. Hier greifen keine 12 Gustave Courbet, „Das Atelier des Malers – eine reale Allegorie ...“, 1855, vgl. objektiven Fakten, Farbabb. V. hier ist alles Subjektive Analyse und Prognose, die mit den Mitteln ihrer ästhetischen Ungewöhnlichkeit und ihrer historischen Zutrefflichkeit kunsthistorische Fakten etabliert und damit neue erkenntnistheoretische Anhaltspunkte im großen Netz der Kunst- und Kulturdiskussion schafft.
Die Manifeste der klassischen Moderne 1900–1945 Die Phase der klassischen Moderne umfasst etwa den Zeitraum von 1900–1945. In dieser Zeit des Übergangs wechseln große moderne Industriestaaten die Form ihrer politischen Verfassung: Aus den historisch tradierten aristokratischen Monarchien in Deutschland und K&K Österreich werden Bürgerrepubliken, die sich bald in faschistische Diktaturen verwandeln; aus dem zaristischen Russland wird die Diktatur der Sowjetrepublik ... Die Künstler der klassischen Moderne agieren in ihrer Zeit als Außenseiter der Gesellschaft, als Verstörte, in die Isolation ausgestoßene „Verirrte“ und „Irrsinnige“. Sie schließen sich aber immer häufiger zu programmatischen Interessengruppen zusammen: Impressio nisten, Postimpressionisten, Fauves, Expressionisten etc. Diese Gruppen umfassen nicht nur bildende Künstler, sondern auch Schriftsteller und andere Intellektuelle. Auch diese Kunstschaffenden artikulieren gern ihre künstlerische Programmatik in der von Courbet eingeführten Form des Manifestes, sicherlich auch mit der Absicht, damit ihr Theorie bewusstsein zu dokumentieren. Als prägnante Beispiele mögen hier zuerst die bekannten deutschen Künstler-Zusammenschlüsse „Die Brücke“ und „Der Sturm“ genannt werden. Ein weiteres prominentes Beispiel eines künstlerischen Thesenpapiers, das Künstlertheorien zu Fragen der Konstruktion der Welt explizit artikuliert, liefert das von dem italienischen Schriftsteller Marinetti verfasste Manifest des Futurismus von 1913.17 Relevant ist für uns die darin zum Vorschein kommende Technophilie der futuristischen Reflexion versus Inspiration
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Künstler, ihr enthusiastisches Bekenntnis zum vom Verbrennungsmotor befeuerten Maschinenkult und Maschinenglauben als den nun entscheidenden neuen Triebkräften der gesellschaftlichen Modernisierung.
13 Sonja Delaunay vor ihrem Citroen B12, 1923.
Filippo Tommaso Marinetti: Manifest des Futurismus, erschienen in: Le Figaro, Paris, 20 Februar 1909/art. 11: „Wir werden die großen Menschenmengen besingen, die die Arbeit, das Vergnügen oder der Aufruhr erregt; besingen werden wir die vielfarbige, vielstimmige Flut der Revolutionen in den modernen Hauptstädten; besingen werden wir die nächtliche, vibrierende Glut der Arsenale und Werften, die von grellen elektrischen Monden erleuchtet werden; die gefräßigen Bahnhöfe, die rauchende Schlangen verzehren; die Fabriken, die mit ihren sich hochwindenden Rauchfäden an den Wolken hängen; die Brücken, die wie gigantische Athleten Flüsse überspannen, die in der Sonne wie Messer aufblitzen; die abenteuersuchenden Dampfer, die den Horizont wittern; die breitbrüstigen Lokomotiven, die auf den Schienen wie riesige, mit Rohren gezäumte Stahlrosse einherstampfen, und den gleitenden Flug der Flugzeuge, deren Propeller wie eine Fahne im Winde knattert und Beifall zu klatschen scheint wie eine begeisterte Menge.“
Das Manifest von De Stijl, das von einigen niederländischen Künstlern und Architekten 1918 kurz vor dem Ende des ersten Weltkrieges formuliert und veröffentlicht wurde, ist ein weiteres Beispiel für Künstlertheoreme zu ihrer Zeit, ebenso wie die darauf etwas später folgenden Manifeste vieler anderer konstruktivistischer Künstler. Signifikant ist für diese Manifeste der formrevolutionären De Stijl-Künstler, dass sie nicht – wie man vermuten könnte – mit Aussagen zu Strategien der Bildformalisierung beginnen, sondern mit Stellungnahmen zu politischen Konflikten der Gesellschaft.
14 Francis Picabia am Steuer, 1915.
De Stijl „Manifest I“ von 1918: „1. Es gibt ein altes und ein neues Zeitbewusstsein. Das alte richtet sich auf das Individuelle. Das neue richtet sich auf das Universelle. Der Streit des Individuellen gegen das Universelle zeigt sich sowohl in dem Weltkriege wie in der heutigen Kunst. 142 I Adam Jankowski
15 Manifest De Stijl.
2. Der Krieg destruktiviert die alte Welt mit ihrem Inhalt: die individuelle Vorherrschaft auf jedem Gebiet. 3. Die neue Kunst hat das, was das neue Zeitbewusstsein enthält, ans Licht gebracht: gleichmäßiges Verhältnis des Universellen und des Individuellen. 4. Das neue Zeitbewusstsein ist bereit, sich in allem, auch im äußerlichen Leben, zu realisieren. 5. Tradition, Dogmen und die Vorherrschaft des Individuellen (des Natürlichen) stehen dieser Realisierung im Wege. 6. Deshalb rufen die Begründer der neuen Bildung alle, die an die Reform der Kunst und der Kultur glauben, auf, diese Hindernisse der Entwicklung zu vernichten, so wie sie in der neuen bildenden Kunst – indem sie die natürliche Form aufhoben – dasjenige ausgeschaltet haben, das dem reinen Kunstausdruck, der äußersten Konsequenz jeden Kunstbegriffs, im Wege steht. 7. Die Künstler der Gegenwart haben, getrieben durch ein und dasselbe Bewusstsein in der ganzen Welt, auf geistlichem [geistigem] Gebiet teilgenommen an dem Weltkrieg gegen die Vorherrschaft des Individualismus, der Willkür. Sie sympathisieren deshalb mit allen, die geistig oder materiell streiten für die Bildung einer internationalen Einheit in Leben, Kunst, Kultur. 8. Das Organ ‚Der Stil‘, zu diesem Zweck gegründet, trachtet dazu beizutragen, die neue Lebensauffassung in ein reines Licht zu stellen.
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9. Mitwirkung aller ist möglich durch: I. Als Beweis von Zustimmung, Einsendung (an die Redaktion) von Namen (genau), Adresse, Beruf. II. Beiträge im weitesten Sinne (kritische, philosophische, architektonische, wissenschaftliche, literarische, musikalische usw. sowie reproductive) für die Monatsschrift ‚Der Stil‘. III. Übersetzung in andere Sprachen und Verbreitung der Ansichten, die in ‚Der Stil‘ veröffentlicht werden. Unterschrift der Mitarbeiter: Antony Kok, Dichter; Theo van Doesburg, Maler; Piet Mondrian, Maler; Robt. van ’t Hoff, Architekt; G. Vantongerloo, Bildhauer; Vilmos Huszar, Maler; Jan Wils, Architekt“
16 G errit Rietveld: Haus Schröder, Utrecht/NL Entwurf 1918.
Die künstlerische Theorie in der amerikanisierten Moderne 1945–1985 Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges übernehmen die von den Amerikanern vom Faschismus befreiten westlich orientierten Industrienationen Europas und Asiens die amerikanischen Formen der politischen, sozialen und kulturellen Organisation der Gesellschaft. Auch in der bildenden Kunst organisiert sich das künstlerische Geschehen nun nach amerikanischen Mustern des modernisierten kommerziellen Kunstmarkts und der rasend anwachsenden Medien- und Unterhaltungsgesellschaft, in der Erlebniskauf und massenhafter Konsum immer mehr an Bedeutung gewinnt. Ein markantes Beispiel für das Auftreten der künstlerischen Theorie in dieser Epoche des Rock’n’Roll stellt Andy Warhol dar, nicht nur, weil er als Begründer der 144 I Adam Jankowski
Pop-Art international stilbildend gewirkt hat, sondern vor allem deswegen, weil von ihm ausführliche theoretische Aussagen in Form von Interviews und medialen Statements, aber auch in Form von Tagebüchern und umfangreichen Publikationen überliefert sind.18 „Ich sehe alles so, die Oberfläche der Dinge, eine Art geistige Blindenschrift, ich fahre mit der Hand über die Oberfläche der Dinge. Ich sehe mich selbst als amerikanischen Künstler. Mir gefällt es hier, ich finde es einfach großartig. Es ist fantastisch. Ich würde gern in Europa arbeiten, aber da würde ich nicht das Gleiche machen, ich würde andere Sachen machen. Ich habe das Gefühl, Amerika in meiner Kunst zu vertreten, aber ich übe keine Sozialkritik: Ich male die Gegenstände in meinen Bildern, weil dies Dinge sind, die ich am besten kenne. Ich versuche nicht, die USA zu kritisieren, nicht im Geringsten, ich will keine hässlichen Seiten aufzeigen; ich bin ein reiner Künstler, könnte ich sagen. Aber ich kann nicht sagen, ob ich mich als Künstler sehr ernst nehme. Darüber habe ich gar nicht nachgedacht. Ich weiß allerdings nicht, wie sie mich in dem, was über mich geschrieben wird, betrachten.“ 17 The Philosophy of Andy
„An meiner Arbeit gibt es nichts zu verstehen. Ich mache experiWarhol, 1975. mentelle Filme, und alle denken, dass das Filme sind, wo man versucht, möglichst viel Schmutz auf den Film zu bekommen, oder wo die Kamera beim Zoomen das falsche Gesicht zeigt oder dauernd wackelt. Dabei ist es so leicht, einen Film zu machen, man filmt drauf los, und jedes Bild gelingt. Ich wollte nicht mehr malen, und da dachte ich, eine Möglichkeit mit der Malerei aufzuhören, wäre ein Gemälde, das schwebt, also erfand ich die schwebenden silbernen Rechtecke, die ich mit Helium füllte und zum Fenster herausließ ... Ich mag Silber ... Und jetzt haben wir eine Band, The Velvet Underground, die zu der größten Diskothek der Welt gehören wird, wo Malerei und Musik und Skulpturen kombiniert werden können, und das mache ich jetzt.“
„Ich möchte am liebsten ein Geheimnis bleiben, ich erzähle nicht gern etwas über meine Vergangenheit, und außerdem erfinde ich sie jedes Mal neu, wenn ich gefragt werde. Das liegt nicht nur daran, dass es zu meinem Image gehört, nicht alles von mir zu erzählen, sondern auch daran, dass ich heute vergesse, was ich gestern gesagt habe, und dann muss ich alles neu erfinden.“ Andy Warhol über seine Theoriebildung / aus A. W. , „My True Story“, 1966
Andy Warhol ist in seinen Ausführungen bemüht, den Aspekt der subjektiven Intro spektion zu betonen und darzulegen, dass er sich in dem theoretischen Entwurf seines Künstlerselbstverständnisses um die politischen Aspekte der Kunstproduktion nicht kümmern möchte. Subjektiv entwirft er sich als unpolitischen Künstler. Die Frage des Reflexion versus Inspiration
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Zusammenhangs von Kunst und Gesellschaft fließt nach seiner Meinung nicht durch die Theorietiefe seiner Werkkonzeption in sein Werk hinein, sondern höchstens indirekt und scheinbar unbewusst.
Joseph Beuys: Soziale Plastik In den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts rückt aber gerade die Frage des bewussten politischen Engagements des Künstlers wieder ins Zentrum der Debatten um das theoretische Selbstverständnis der Kreativen. Ein markantes Beispiel ist in diesem Zusammenhang der deutsche Plastiker Joseph Beuys,19 der seit den 1960er Jahren sein Konzept der Skulptur nach und nach zum Konzept einer Sozialen Plastik erweitert. Dieses Konzept kulminiert beim späten Beuys z. B. im Rahmen der auf der documenta realisierten bildhauerischen Aktionsskulptur „Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung – 7.000 Eichen für Kassel“ und spitzt sich weiter zu in Form seiner Kandidatur für die Grünen, für die er sogar mit dem Popsong „Sonne statt Reagan“ wirbt. Die Differenz zwischen modernem Leben und moderner Kunst ist nun endgültig durch die Transformation des Ästhetischen in die Verbrauchsästhetik des Tagespolitischen aufgehoben.
Die künstlerische Theorie im Zeitalter des globalisierten Finanzkapitalismus von 1990 bis Damien Hirst Der kommerziell optimierte Kunstmärkte-Kunstbetrieb im Zeitalter des ungeregelten Finanzkapitalismus kennt nur ein Ritual, den Tanz um das Goldene Kalb. Bei diesem Schauspiel treten auf der Seite der Kunstproduktion einige Künstlerfürsten als Hauptprotagonisten auf; als Statisten fungieren Akteure aus dem beständig anwachsenden Künstlerprekariat. Auf der Seite des Kunstkonsums bestehen die Mitspieler aus den wirklichen Produzenten und Verbrauchern der Ware Kunst, die in verschiedensten Kostümierungen und Charaktermasken auftreten. Als Hauptdarsteller wären die eleganten, unnahbaren Major-Art-Dealer zu nennen, weiter die Spekulationssammler und Investoren aus dem Bereich der New-Economy-Milliardäre, schließlich die arabischen Ölscheichs, die russischen bzw. chinesischen Oligarchen, auch die mehr oder minder bildungsfernen Stars aus dem Showgeschäft oder des Sports, die zu viel Geld besitzen, aber über keinerlei vertieftes Kunstwissen verfügen. Eingebettet in eine „Neue Unübersichtlichkeit“ der Kunst und ihrer Begründungszusammenhänge kommen die großen Inszenierungen des rasenden Kunstmarktes, halb Komödie halb Tragödie, auf den Kunstmessen von Basel, London oder Miami zur Aufführung. Diese Unübersichtlichkeit des Geschehens20 wird durch das laute Hintergrundrauschen verstärkt, das die auf beiden Seiten Involvierten mit ihrem permanenten Kunstgeschwätz erzeugen; beteiligt sind dabei professionelle Kunstinterpreten, die die Ereignisse der Kunstmärkte mit ihren Publikationen begleiten und affirmativ aufbauschen. 146 I Adam Jankowski
In dieser Situation richten sich die reflexiven Anstrengungen der Künstler auf die Durchdringung und Instrumentalisierung der Spielregeln, die diesen ins Absurde beschleunigten Kunstbetrieb steuern. Oder anders ausgedrückt: Die heutigen Künstler sind dazu verurteilt, ihre Werkkonzeptionen strategisch nach dem Kriterium des Verkaufs auszurichten. Das ist 18 Damian Hirst in seiner Ausstellung 2008. das einzige und entscheidende Kriterium der postmodernen Kunstbetriebskunst. Die logische Folge dieser Haltung ist die Harmonisierung der Kunstproduktion mit den Erwartungen und Bedürfnissen der aktuell herrschenden Kunstinstanzen, seien dies herrschsüchtige Sammler, ehrgeizige Galeristen, angepasste Museumsleute, konformistische Kritiker und Ausstellungsmacher. Die für die Kunstproduktion entscheidende Frage – die Frage nach künstlerischen Formen und Inhalten, die historisch sinnvoll und gesellschaftlich sinnstiftend wären – rückt damit in den Hintergrund des Geschehens und findet höchstens in privaten Gesprächen statt, die Künstler in ihren verborgenen Rückzugsreservaten pflegen.
Kunstbetriebskunst oder Boulevardisierung der Kunst der Spätmoderne In dem heutigen spekulativ aufgeheizten Hochfinanzkunstbetrieb unseres spätmodernen Verschwendungskapitalismus ist der Verbrauch der ästhetischen Formen ebenso hoch wie die Vernichtung der natürlichen Lebensräume und der tradierten Lebensressourcen. Die Kunstproduktion läuft auf Hochtouren und die Künstler kommen ihrer Aufgabe kaum nach, den sich ständig beschleunigenden Bedarf der Mediengesellschaft nach ästhetischer Innovation zu decken. Die meisten kapitulieren vor der Aufgabe der Entwicklung innovativer Formen und Inhalte und greifen nach jedem ästhetischen Material, das sich als Kunst verwerten lässt, sei es kunsthistorisch Vorgekautes oder banale Sperrmüllmontage, Trash oder Flesh. Es ist gleichgültig, was hier künstlerisch verwursReflexion versus Inspiration
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tet wird, denn: „Je abgedrehter eine Arbeit, umso mehr reißen sich die Sammler drum“.21 Der zeitgenössische Kunstbetrieb vollzieht sich also aus der Sicht der Künstler als eine Lotterie und als ein Survival of the Fittest, vorgetragen vor Schlafzimmer eines amerikanischen Sammlers, vgl. Farbabb. VI. einem uninformierten, in Spaß und Fun infantilisierten Weltpublikum. Der Approach of the Most Advanced findet in diesem Sektor des Kunstbetriebs jedenfalls nicht statt. Eine clevere und marktkonforme Werkkonzeption verspricht heute, da kaum ein Mensch historisch sinnvolle von historisch irrelevanter Kunst zu unterscheiDaniel Richter, „Besuch der Wirklichkeit“, 2010, vgl. Farbabb. VII. den vermag, eher Erfolg als der individuelle Versuch einer sozialen Sinnstiftung durch Kunst, wie sie nach dem Beispiel der Theoriebildung in der heroischen, klassischen, ja selbst auch der amerikanisierten Moderne möglich war. Anstelle des politisierenden Dialogs, den die Modernisten der ersten Phase geführt haben, ist heute das monotone Geschwätz der Unterhaltungskünstler getreten, denn ab dem Ende des 20sten Jahrhunderts bestimmen die Einschaltquoten der Massenmedien nicht nur darüber, worüber geredet wird, sondern auch darüber, was überhaupt real oder historisch relevant ist. Im Bewusstsein der modernen Informationsgesellschaft existiert nur das, was wir von den Massenmedien vorgesetzt bekommen – alles andere hat nicht stattgefunden. 148 I Adam Jankowski
Die politisch zu einem industriellen Verblendungszusammenhang verfassten, digital aufgerüsteten Massenmedien, denen keiner entkommen kann, verlangen nach extremer Regressivität, wie dies die Programmangebote von RTL und anderen Privatsendern belegen. Es verwundert nicht weiter, dass der heutige Kunstbetrieb sich als Massenunterhaltung analog zu den Standards der Programme der privaten TV-Sender entfaltet und von der regressiven Ästhetik des Boulevards dominiert wird, also vom Gewöhnlichen und vom Kitsch, vom Vulgären, Abstrusen und Makabren. Stichwort Horror. Das voyeuristische Verlangen des nun massenhaften – aber in Sachen Kunst vollständig ahnungslosen – Kunsteventpublikums nach einem ihm vertrauten Alltäglichen und Unterhaltsamen erklärt auch die Vorherrschaft der Ästhetik des Banalen in der Kunstmarktkunst.
Zusammenfassung An den von Idealismus geprägten Manifesten der Künstler der heroischen und der klassischen Moderne fällt auf, dass die vortragenden Künstler ihre Reflexion zuerst auf den Zustand der Gesellschaft richten, um aus ihren Analysen und Postulaten zu eben diesen sozialen und politischen Zuständen Vorstellungen im Hinblick auf sinnvolle Formen und Inhalte der künstlerischen Praxis abzuleiten. Als Ziel und Zweck dieser künstlerischen Praxis ist hier ein Beitrag zur Konstruktion einer neuen, einer gerechteren sozialen Struktur und einer in Schönheit und Frieden verfassten Welt intendiert. Die idealistische philosophische Ästhetik Alexander Gottlieb Baumgartens definierte die künstlerisch gestaltete Schönheit als einen Modus der Wahrheit, in dem das positive Ideal aufscheint. Entsprechend erscheint in diesem Denksystem das Negative in Gestalt des Ungeformten und Gewöhnlichen, das es zu vermeiden gilt – die ungeschminkte Wahrheit zeigt die ganze Erbärmlichkeit des menschlichen Daseins, hier ist die Welt so, wie sie wirklich ist. Der idealistische Begriff des Ästhetischen ist natürlich stark von Aspekten der Ethik getragen, denn das anvisierte Ideal, das ist ja nicht die Welt, wie sie wirklich ist, sondern wie sie sein sollte. Spätestens seit den philosophischen Analysen von Schopenhauer und Nietzsche spüren wir aber, dass das Ideale sich nicht verwirklichen lässt. Nach dem endgültigen Untergang aller positiven Erlösungsutopien in Stahlgewittern und Massenmorden des 20. Jahrhunderts wurde dieses skeptische Grundgefühl bestätigt. Endgültige Gewissheit erlangte es nach der 1990 erfolgten Auflösung der politisch antagonistischen Blöcke von West und Ost, als der Monotheismus des Turbokapitalismus die Welt ergriff. Die Folge: In der Ernüchterungsatmoshäre des späten 20. Jahrhunderts wird die banale Ästhetik des ungestalteten Alltäglichen zum bevorzugten Gegenstand des zeitgenössischen künstlerischen Handelns. „Im ready-made sind die formalistischen Masken von der Wirklichkeit abgefallen, hat das ‚Ideal‘, das man ihr aufzwingen wollte, ausgedient. Die alltäglichen trivialen Dinge werden in ihrer ganzen kunstlosen Gewöhnlichkeit und Banalität mündig gesprochen. Es wäre billig, den
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Einfall Duchamps, ein Urinoir für eine Kunstausstellung einzureichen, als Bürgerschreck abzutun. Man kommt dem psychologischen Hintergrund dieser Idee wohl eher auf die Spur, wenn man sich eines Wortes von Nietzsche erinnert: ‚Wer endlich merkt, wie sehr und wie lange er genarrt worden ist, umarmt aus Trost selbst die hässlichste Wirklichkeit‘.“22
In unserer aktuellen Welt ist ja nirgendwo etwas von „Liberté, Égalité und Fraternité“ zu sehen. Stattdessen überall nur Zerfall der Formen und Strukturen, also liegt es nahe anzunehmen, dass eine positive Sinnstiftung der gesellschaftlichen Prozesse nur in Form einer negativen Ästhetik des Erschreckens und Wachrüttelns möglich ist, also durch die Widerspiegelung bzw. Verneinung des Bestehenden oder durch provokative Tabubrüche. „Süddeutsche Zeitung: Sie sagen das so fröhlich. Dabei sehen Ihre Bilder apokalyptisch aus. Man könnte meinen, Sie stellen in Ihren Bildnissen eine Gesellschaft am Abgrund dar. Daniel Richter: Ich denke, wir leben in einer utopielosen Zeit. Mich hat die Kritik am Bestehenden immer mehr interessiert als die Utopie. Das unentfremdete Leben von Karl Marx zum Beispiel: Ich habe davon gar keine Vorstellung. Ich habe aber eine von entfremdeter Arbeit, vom Bewusstsein, das durch das Primat der Ökonomie bestimmt wird. Das soziale Glück hat zu tun mit der Überwindung der Krankheit, mit dem Recht auf Sprache oder Konsum, mit dem Recht auf Intelligenz und der Abschaffung des Privatfernsehens. Ob der Geist jetzt gefickt oder gedemütigt werden will im Reich der Utopie, oder den ganzen Tag Zwölftonmusik hören will oder Luigi Nono, darüber weiß ich nichts. Für mich bekommt nur in repressiven Verhältnissen die Kunst auch eine Bedeutung.“23
Diesen Ansatz der modernen Kunst, die Welt, „die nicht weiß, warum sie da ist“, 24 durch eine desillusioniert verfasste Widerspiegelung der vorsätzlichen Verantwortungslosigkeit dieser Welt verändern zu wollen, führt Werner Hofmann in seiner Abhandlung „Von der Nachahmung bis zur Erfindung der Wirklichkeit / Die schöpferische Befreiung der Kunst 1890–1917“ auf den elementaren ästhetischen Dualismus zwischen den beiden Gesichtern der Kunst, „Der großen Realistik“ und „Der großen Abstraktion“, zurück. Die dialektische Polyfokalität der künstlerischen Arbeit ist zuerst von dem Wiener Kunsthistoriker Alois Riegl in seiner Abhandlung „Über die spätrömische Kunstindustrie“ 1901 ausgearbeitet worden.25 Werner Hofmann bemerkt dazu: „Riegl begnügt sich nicht damit, der spätrömischen Kunst ein selbständiges, auf strenge Symmetrie zielendes Kunstwollen26 zu bescheinigen. Seine hegelianische Weltanschauung ist bemüht, in diesem Kunstwollen die Dialektik von These und Antithese nachzuweisen. Dabei gelangt er zu einem Gegensatzpaar, das uns bereits aus der Technik der Kubisten vertraut ist: Wirklichkeitsferne und Wirklichkeitsnähe. Einerseits, meint Riegl, prägt sich dem Betrachter der konstantinischen Reliefs die Tendenz zu „höchster gesetzlicher Schönheit“ ein, andererseits stellt sich bei fernsichtiger Betrachtung der stereotypen Figuren150 I Adam Jankowski
reihen der Eindruck extremer Lebendigkeit ein. Daraus folgert Riegl, „dass in den konstantinischen Reliefs beide Zielpunkte alles bildenden Kunstschaffens – nämlich Schönheit und Lebenswahrheit – ebenso gut angestrebt und erreicht waren als in der klassischen Kunst des Römerreiches“. „Die große Abstraktion“ wäre demnach jener künstlerische Gestus der Suche nach „Schönheit und Lebenswahrheit“, der die Sinnproduktion nicht mehr bloß abbildend betreibt, sondern als ein Auffinden und Entwerfen von abstrakten Strukturen und Systemen von höherer allgemeiner Bedeutung. Dieses folgt aus der idealistischen Tradition der Kunst und zeigt sich am eindrucksvollsten in Mondrians Geometrismus der reinen Form. „Mondrians Geometrismus weist die fragmentarischen Wirklichkeitseinsprengsel zurück und systematisiert die ‚Urlinien‘ zu idealistischer Makellosigkeit, indes Marcel Duchamp radikalisiert, was mit den (von Braque und Picasso) willkürlich ausgeschnittenen Zeitungsfragmenten begann: das bloße Vorweisen, die absichtlich unkünstlerische Darbietung wirklicher Wirklichkeit. Man kann diese Situation auch mit den Begriffen Riegls charakterisieren: ‚gesetzliche Schönheit‘ und ‚Lebenswahrheit‘ grenzen sich in getrennten Sphären voneinander ab.“27
Ende der Vorstellung Die ästhetischen Ergebnisse aus dem Ansatz „der großen Abstraktion“ sind etwa mit den Aussagen der theoretischen Physik vergleichbar, die ja auch – durchaus nicht für jedermann sofort zugänglich – die Konstruktionsprobleme unserer Welt in der abstrakten Sprache der Mathematik darstellen, und nicht durch den Naturalismus ihrer Einzelelemente. Moderne und zeitgenössische Kunst ist also ähnlich wie die theoretische Physik theoriesüchtig und kommentarbedürftig. Ohne die Kenntnis des konzeptionellen, kunsthistorischen und sozialgeschichtlichen Kontextes eines Kunstwerks bleibt das bildnerische Werk nur eine ästhetische Folie, also letztlich unverständlich und missverstanden als Behübschung eines mehr oder minder absurden Alltags. Die theoretischen Äußerungen von Künstlern sind nicht Theorie im naturwissenschaftlichen Sinne, also Klärung jener Geheimnisse, die de facto die Welt zusammenhalten. Sie sind aber eben auch Theorie, und zwar im Sinne einer Anleitung zur Praxis. Es geht dabei um eine bildnerische Praxis, die einen Entwurf oder Vorschein einer anderen Welt hervorbringt, eines vielgestaltigen Kosmos, der im Reich der künstlerischen Phantasie angesiedelt ist. Die visuelle Vergegenständlichung dieser Gegenwelt produziert beim Betrachter Erkenntnis unserer real existierenden Welt und hilft uns auf diese Weise, die Modi unserer Existenz zu erkennen, was den ersten Schritt zur Freiheit und Veränderung bedeutet. Die Theorieangebote der Künstler wandeln sich historisch, da sie von den jeweils gegebenen politischen, gesellschaftlichen und technologischen Strukturen abhängig sind. Sie existieren also auch nicht aus sich heraus, sondern erfahren ihren Sinn nur im Bezug auf ein Etwas. Dieses Etwas nennt man allgemein „gesellschaftliche Erkenntnis“, Reflexion versus Inspiration
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und in der künstlerischen Produktion spricht man analog von „künstlerischer Erkenntnis“. Wie auch immer, Kunst schafft uns umgebende, uns prägende ästhetische Tatsachen, die unser Bewusstsein stören und ordnen, siehe die ägyptischen Pyramiden, die mittelalterlichen Kathedralen, die formpuristische Ästhetik des De Stijl ... Diese Tatsachen der Kunst kommen nie zu einer abschließenden Deutung, da sie von jeder neuen Generation immer neu interpretativ befragt werden. Die Kunst, das Künstlerische – ja selbst das Design, wenn es als künstlerische Innovation und nicht als kommerzialisiertes Technikgewerbe betrieben wird – lassen uns ab und zu in eine andere Welt schauen. In eine bessere Welt? Manchmal ja, meistens nein, aber solche Visionen begründen die Kunst/das metaphysisch-utopische Design28 als einen Faktor, der die Welt zu verändern vermag. Sie lassen sich ohne eine Werkkonzeption nicht formulieren, die sich als eine Theorie der Weltentwicklung begreift. Ich hoffe, mit diesen Ausführungen die Vermutung, dass Kunst ohne Reflexion ihrer historischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen nicht stattfinden kann, einer positiven Verifikation zugeführt zu haben. Diese Verifikation verweist indes auf das weitergehende Problemfeld einer positiven gesellschaftlichen Utopie, das von einem kompetenten Redner dargestellt werden müsste.
Kunst als Gegenentwurf Der Begriff entstammt dem Titel „De optimo rei publicae statu deque nova insula Utopia (Vom besten Zustand des Staates oder von der neuen Insel Utopia)“ des 1516 erschienenen Romans des englischen Staatsmanns Thomas Morus, der darin eine ideale Gesellschaft beschreibt, mit deren Hilfe er seinen Zeitgenossen einen kritischen Spiegel vorhält. Oft trifft man aber auch auf die vereinfachte Bezeichnung Utopia, welche eigentlich nur die Insel bezeichnet, auf der die Mitglieder der idealen Gesellschaft leben. Nach heutigem Sprachgebrauch dagegen liegt eine Utopie fast immer in der Zukunft und eher selten in der Vergangenheit oder der räumlichen Ferne. Charakteristisch ist in allen Fällen, dass in der Gegenwart bereits vorhandene Ansätze weitergedacht oder hinterfragt werden. Somit haben Utopien meist einen gesellschaftskritischen Charakter, entweder indem sie behaupten, eine bessere Gesellschaft sei möglich, oder umgekehrt, indem sie bestehende Ansätze gedanklich weiterbilden, in Dystopien, also pessimistische Negativutopien verkehren und somit scharf kritisieren (siehe Vision „1984“ von George Orwell). In diesem Sinne ist der Hauptinhalt einer Utopie häufig eine Gesellschaftsvision, in der Menschen ein alternatives Gesellschaftssystem praktisch leben. Über den Inhalt hinaus kann der Begriff Utopie außerdem auf die Präsentation bezogen werden, so dass er auch literarische oder filmische Werke bezeichnet, die eine solche utopisch bessere oder schlechtere Gesellschaft vorstellen. Eine Utopie kann in ihrem gesellschaftskritischen Aspekt durchaus gegenwärtig-praktisch ausgelegt werden und erlangt somit neben ihrer phantastischen Perspektive eine gegenwartsbezogen-kritische. Die Dichotomie 152 I Adam Jankowski
möglich/unmöglich ist dabei Gegenstand von Diskussionen: Befürworter sehen neue Möglichkeiten am Horizont heraufziehen. Gegner verneinen diese und warnen vor unerwünschten oder unbedachten möglichen Folgen.29
Anmerkungen 1 Wassily Kandinsky: Schriften: „Über die Formfrage. Der blaue Reiter,“ 1911, „Über das Geistige in der Kunst. Insbesondere in der Malerei“, Originalausgabe von 1912; „Punkt und Linie zu Fläche. Beitrag zur Analyse der malerischen Elemente“, Bern 2002. Paul Klee: Schriften: „Schöpferische Konfession“, in: „Tribüne der Kunst und der Zeit. Eine Schriftensammlung“, hrsg. v. Kasimir Edschmid, Berlin 1920; „Die Farbe als Wissenschaft“, in: „Das Werk. Mitteilungen des Deutschen Werkbundes“, Bd. 1, Berlin/München 1920; „Wege des Naturstudiums.“, in: „Staatliches Bauhaus 1919–23“, Weimar 1923; „Exakte Versuche im Bereich der Kunst“, in: „Bauhaus Zeitschritt für Gestaltung 1“, 1928; „Pädagogisches Skizzenbuch“, Erstausgabe als Bauhausbuch 2 im Jahr 1925. 2 Klaus Staudt übte als Vorgänger von Heiner Blum die Professur für Grundlagen der Gestaltung aus. 3 Entwickelt anhand von Wikipedia. 4 Die Sieben Freien Künste (lateinisch: septem artes liberales) sind ein in der Antike entstandener Kanon von sieben Studienfächern. Im mittelalterlichen Lehrwesen galten sie als Vorbereitung auf die Studienfächer Theologie, Jurisprudenz und Medizin. Die Freien Künste waren so bezeichnet, um sie gegenüber den praktischen Künsten (Artes mechanicae) als höherrangig zu bewerten. Seneca schreibt in seinem 88. Brief: „Du siehst, warum die freien Künste so genannt werden: weil sie eines freien Mannes würdig sind.“ Als freier Mann galt, wer nicht zum Broterwerb arbeiten musste. Somit konnten nur solche Beschäftigungen würdig sein, die keine Verbindung mit Erwerbstätigkeit hatten. 5 Septem artes liberales – die Sieben Freien Künste: Rhethorik, Grammatik und Dialektik als Grundlagendisziplinen, allesamt Argumentations-Fähigkeiten, weiterhin die mathematischen Wissenschaften Arithmetik, Geometrie, Astronomie samt Astrologie, und die Musiktheorie. Malerei und Bildhauerei wurden den mechanischen Künsten zugeordnet und galten als Handwerk, nicht als intellektuelle Tätigkeit. Seneca spricht den Bildenden Künsten den Status der Artes liberales ab und stellt sie auf eine Stufe mit Kochen oder gar den Ringkämpfen. Man unterschied bei den Freien Künsten das Trivium (Dreiweg) der sprachlich und logisch-argumentativ ausgerichteten Fächer, die die Voraussetzung für jede Beschäftigung mit der (lateinischen) Wissenschaft bilden, und das weiterführende Quadrivium (Vierweg) der mathematischen Fächer. 6 Von ihm stammt übrigens auch die Bezeichnung „Renaissance“. 7 Das „disegno“ ist der zentrale Begriff der bildenden Kunst der Renaissance in Italien und des Neoklassizismus und entwickelte sich zwischen dem Anfang des 15. und dem Ende des 16. Jahrhunderts zu einer eigenständigen Kategorie. Es wird mit dem heutigen Begriff der Zeichnung nicht sinnvoll übersetzt, da sich dieser auch ableiten lässt von Zeichen (Roland Barthes): Zeichnung – Zeichen – Strich, also eine Manifestation, ein performativer Akt des Körpers. Der Begriff des „disegno“ bezeichnet in der Renaissance kein beliebiges Zeichnen oder Entwerfen – die maßgebliche Kunsttheorie der Zeit sieht im disegno das herausragende Mittel, mit dem sich die Idee Gottes konkretisieren soll. Der Einfluss der Säkularisation reduziert den ursprünglich halb religiösen, halb wissenschaftlichen Renaissancebegriff des disegno auf die Qualität eines Hilfsmittels im Sinne eines Vorstudiums zu wirklichen Werken.
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8 Alexander Gottlieb Baumgarten (geb. 1714 in Berlin, gest. 1762 in Frankfurt (Oder), deutscher Philosoph in der Tradition der Leibniz-Wolff ‘schen Aufklärungsphilosophie. Er studierte Theologie, Philosophie und „schöne Wissenschaften“ (Rhetorik und Poetik) an der Universität Halle. Nach dem Magisterexamen arbeitete er als Dozent für Poetik und Logik an dem von ihm selbst besuchten Waiseninstitut. Mit seiner Dissertationsschrift, den „Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus“ (1735), begründete er die Ästhetik in Deutschland als eigenständige philosophische Disziplin – als Paralleldisziplin („Schwesternkunst“) zur Logik. Sein Buch „Metaphysica“ erschien 1739. 1740 erschien sein Buch „Ethica philosophica“. Der erste Band seiner groß angelegten Schrift „Aesthetica“, von der jedoch nur zwei Bände fertiggestellt wurden, erschien 1750. 9 Zitiert aus Wolfgang Ulrich: „Was war Kunst? Biographien eines Begriffs“, Frankfurt/M. 2005, S. 80. 10 Werner Hofmann: „Grundlagen der modernen Kunst“, Stuttgart 1966, S. 107. 11 Antwort Gustave Courbets an Herrn Garcin, der ihn als sozialistischen Maler bezeichnet, 1851. Zitiert nach Klaus Herding: „Realismus als Widerspruch“, Frankfurt/M. 1978, S. 23. 12 Klaus Herding: „Realismus als Widerspruch“, Frankfurt/M. 1978, S. 23. 13 Das Manifest der Kommunistischen Partei, auch „Das Kommunistische Manifest“ genannt, wurde von Karl Marx und Friedrich Engels um die Jahreswende 1847/48 im Auftrag des Bundes der Kommunisten verfasst. Es ist am 21. Februar 1848 in London erschienen, kurz vor der Februarrevolution in Frankreich und vor der Märzrevolution im Deutschen Bund, in den größten Staaten dieses Bundes Österreich und Preußen. Das Programm, in dem Marx und Engels bereits große Teile der später als „Marxismus“ bezeichneten Weltanschauung entwickeln, beginnt mit dem heute geflügelten Wort: „Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus“ und endet mit dem bekannten Aufruf: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ 14 Dieser Text wurde nach Klaus Herding möglicherweise von Champfleury oder Castagnary redigiert. Klaus Herding: „Realismus als Widerspruch“, Frankfurt/M. 1978, S. 27. 15 Zitiert nach Klaus Herding: „Realismus als Widerspruch“, Frankfurt/M. 1978, S. 27. 16 Matthias Winner: „Gemalte Kunsttheorie. Zu Gustave Courbets ‚Allégorie réelle‘ und der Tradition“, Jahrbuch der Berliner Museen, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, 1962. 17 Diese Proklamation wird gerne als „antimodern“ bezeichnet, weil der Autor Marinetti darin den Krieg verherrlichende und menschenverachtende Aussagen formuliert. Ob diese Sätze nun als Bekenntnis zum bald aufkommenden Faschismus zu verstehen sind oder bloß als eine Provokation, ist im Zusammenhang mit unseren Überlegungen erst mal unwichtig; mir scheinen sie hauptsächlich dem kriegslüsternen Habitus des – nicht nur italienischen – Monarchismus zu entspringen. 18 Andy Warhol: „The Philosophy of Andy Warhol (From A to B and Back Again)“, published 1975 by Hartcourt Brace Jovanovich; „Popism“, 1980; Kenneth Goldsmith: „Interviews mit Andy Warhol“, 2004. 19 Joseph Heinrich Beuys (geb. 12. Mai 1921 in Krefeld, gest. 23. Januar 1986 in Düsseldorf) war ein deutscher Aktionskünstler, Bildhauer, Zeichner, Kunsttheoretiker und Professor an der Kunstakademie Düsseldorf. Beuys setzte sich in seinem umfangreichen Werk mit Fragen des Humanismus, der Sozialphilosophie und Anthroposophie auseinander. Dies führte zu seiner spezifischen Erweiterung des Begriffs Plastik und zur Konzeption des sozialen Gesamtkunstwerks, in dem er Ende der 1970er Jahre ein kreatives Mitgestalten an der Gesellschaft und in der Politik forderte. Er gilt bis heute weltweit als einer der bedeutendsten Künstler des 20. Jahrhunderts und war ein „idealtypischer Gegenspieler“ zu Andy Warhol.
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20 Und die von Jürgen Habermas schon vor Jahren diagnostiziert und beschrieben worden ist: „Die neue Unübersichtlichkeit. Kleine Politische Schriften V“, Frankfurt/M. 1985. 21 Diagnostizierte kürzlich im SPIEGEL Online der Street-Art-Künstler Banksy aus seinem Versteck in der ihn beschützenden Anonymität. 22 Werner Hofmann: „Von der Nachahmung bis zur Erfindung der Wirklichkeit/Die schöpferische Befreiung der Kunst 1890–1917“, Köln 1967, S. 62. 23 Daniel Richter in dem Interview mit der Süddeutschen Zeitung vom 25. Juli 2008. 24 Werner Hofmann in seinem Vortrag über Courbet am 25. November 2010 im Hörsaal H der Goethe-Universität Frankfurt/M. 25 Diese These hat dann, vermittelt über Worringers vieldiskutierte Dissertation „Abstraktion und Einfühlung“ (1908), auch in Wassily Kandinskis theoretische Abhandlung „Über die Formfrage“ (1911) Eingang gefunden. Kandinski prognostiziert in seiner Schrift ein zunehmendes Auseinanderklaffen dieser beiden Modi der Kunst und behält mit seiner Prognose recht. S. a. Werner Hofmann: „Von der Nachahmung bis zur Erfindung der Wirklichkeit/Die schöpferische Befreiung der Kunst 1890–1917“, Köln 1967, S. 66. 26 Bis heute ist in der Kunstgeschichte ungeklärt, wieso es zu einem permanenten Stilwandel kommt. Gottfried Semper schlug drei Determinanten vor, die für den Stilwandel konstituierend sind: Zweck, Material und Technik. Etwa eine Generation später widerlegte Alois Riegl die Abhängigkeit des Stilwandels von diesen drei Determinanten, konnte aber selbst keine neue Regel aufstellen: So prägte er das Wort „Kunstwollen“ als Notbegriff. Literatur: Alois Riegl: „Stilfragen“, Berlin 1893; Erwin Panofsky: „Der Begriff des Kunstwollens“, in: „Zeitschrift für Ästhetik XIV“, 1920; Andrea Reichenberger: „Riegls „Kunstwollen“. Versuch einer Neubetrachtung“, 2003. 27 Werner Hofmann: „Von der Nachahmung bis zur Erfindung der Wirklichkeit/Die schöpferische Befreiung der Kunst 1890–1917“, Köln 1967, S. 67. 28 Diese Bezeichnung wurde von Burghart Schmidt in seinem Beitrag zum Katalog der Ausstellung „Design Wien“ des Museums für Angewandte Kunst Wien in die Design-Debatte eingebracht; „Design Wien“, Hrsg. MAK Wien 1989, S. 10. 29 Entwickelt anhand von Wikipedia.
Abbildungsnachweise Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3 Abb. 4 Abb. 5 Abb. 6 Abb. 7 Abb. 8
Joan Miro: „Personen in der Nacht“, 1949, Orginalölbild im Privatbesitz Basel. Hier Abbildung des Kunstdrucks auf Papier, 48 x 60 cm, aus dem Angebot von Amazon.de. Max Bill: „Endlose Treppe (Monument für Ernst Bloch)“, 1991. Skulptur im Zentrum der Stadt Ludwigshafen, Granit, Höhe 9,5 m. Abb. aus de.wikipedia.org. Klaus Staudt: „Variation“, 1970/99, Reliefobjekt, Holz/Pexiglas, 1970/99, 40 x 40 x 5 cm; Abb. aus Website heidrichkunsthandlung.de. Hieronymus Bosch: „Der Garten der Lüste“, um 1500, Öl auf Holz, Höhe 220 cm, Breite 390 cm, Prado Museum Madrid. Abb. aus Zentralen Medienarchiv Wikimedia Commons. Kapitelfiguren in der Abtei St. Benoit sur Loire, um 900; Foto Adam Jankowski. Domenico Quaglio: „Die Kathedrale von Reims“, 1839, Öl auf Leinwand, 74,5 x 94,5 cm, Museum der bildenden Künste Leipzig. Abb. aus de.wikipedia.org. Herrad von Landsberg, Schema der Septem artes liberales, ca. 1180. Abb. der Faksimilie von 1818, Zentrales Medienarchiv Wikimedia Commons. Albrecht Dürer: „Unterweysung der Messung“, 1525, Kupferstich zur Perspektive; Abb. aus Theodor Pavlopoulos, „The Geometry of Haloes“, in Website The Peacocks’s Tail, 2011.
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Abb. 9 Abb. 10 Abb. 11 Abb. 12 Abb. 13 Abb. 14 Abb. 15 Abb. 16 Abb. 17 Abb. 18 Abb. 19 Abb. 20
Alexander Gottlieb Baumgarten: Erstausgabe der „Ästhetica“, 1750; Abb. aus dem Zentralen Medienarchiv Wikimedia Commons. Etienne Carjat: Portrait Gustave Courbet, nach 1860, Paris Sammlung Druet-Vizzavona. Abb. aus Fabrice Masanès: „Courbet“, Taschen-Verlag Köln, 2006, S. 92. Pavillon Courbet zur Weltausstellung 1867, Place de l’Alma Paris, 1970; Abb. Aus Fabrice Masanès: „Courbet“, Taschen-Verlag Köln, 2006, S. 94. Gustave Courbet: „Das Atelier des Malers“, 1854/55, Öl auf Leinwand, 361 x 598 cm, Musee d’Orsay Paris. Abb. aus dem Zentralen Medienarchiv Wikimedia Commons. Sonia Delaunay vor ihrem Citroen B12, 1923. Abb. aus „Sonia Delaunay and Art Deco Design“ im Blog Fashion Signs Francis Picabia am Steuer, 1915. Abb. aus wikiartis.com Manifest von De Stijl; Reproduktion von „Manifest 1“ in De Stijl, Jg. 2/Nr. 1, November 1918, S. 4. 1918. Abb. aus commons.wikimedia.org. Gerrit Rietveld, „Haus Schröder“ in Utrecht/NL, Entwurf 1918. Abb. aus Zentralen Medienarchiv Wikimedia Commons. „The Philosophy of Andy Warhol“, 1975; Cover der amerikanischen Paperback-Ausgabe 1977. Abb. aus Privatarchiv des Verfassers. Damian Hirst in seiner Ausstellung 2008. Abb. aus „Entertainment-News“ 2008; Archiv des Verfassers. Schlafzimmer eines amerikanischen Sammlers; Abb. aus dem Internet-Archiv des Verfassers. Daniel Richter: „Besuch der Wirklichkeit“, 2010, Öl auf Leinwand, 200 x 300 cm. Abb. aus dawire.com/online platform for centemporary art.
Manfred Clemenz
Franz Marc und Paul Klee 1912–1916 Krieg und Kunst als Heilsgeschichte: Ein Beitrag zur ästhetischen Theorie der Avantgarde I. Klee, Marc und die Ambivalenz der Avantgarde Ein für die künstlerische Entwicklung Klees ab 1912 entscheidender Schritt war die Aneignung der Farbe und die Auseinandersetzung mit der Abstraktion. Dies war, neben den Begegnungen mit Kandinsky, Marc, Delaunay und Macke auch ein Kampf gegen den übermächtigen Einfluss Picassos. Die künstlerischen Anregungen, die Klee durch diese Künstler erhielt, gehen Klees triumphaler und geradezu symbiotischer Verschmelzung mit der Farbe während seiner Tunisreise (1914) voraus. „Abstraktion“ eignet sich Klee in ähnlicher Weise an wie die Farbe („ich und die Farbe sind eins“, 1914): er selbst ist nunmehr „abstrakt mit Erinnerungen“, 1915). „Abstraktion“ ist für Klee mehr als ein ästhetisches Prinzip: es ist eine geistige Haltung, ein metaphysisches Prinzip, das wir in ähnlicher Form auch bei Marc finden. „Abstraktion“ ist für Marc, wie er insbesondere in seinen Aphorismen (1915) ausführt, der Weg, um die „hässliche“ Oberfläche der Erscheinungswelt zu durchdringen und zum „wahren Sein“ zu gelangen. Bemerkenswert ist dabei, dass Klee angesichts dieser Übereinstimmung mit Marc – die beiden waren seit 1912 eng miteinander befreundet – nach Marcs Tod dessen ästhetisch-metaphysische Position geradezu in ihr Gegenteil verkehrt. Ähnliches gilt für den Einfluss von Delaunay und Macke: Beide Künstler werden von Klee nur am Rande erwähnt. Eine zumindest partielle Erklärung für die Skotomisierung dieser Künstlerfreunde1 kann darin gesehen werden, dass Klee sich als „Selbstlehrling“ der Kunst sah. Dieses Eingeständnis ist keineswegs bescheiden: Es ist vielmehr Ausdruck einer Selbstermächtigung als Künstler, der am Nullpunkt beginnt und seine Kunst aus sich selbst heraus schafft, sein eigener „Ursprung“ sein will, unbeeinflusst durch Tradition oder andere Künstler. Sein ex-nihilo-Konzept einer spezifisch Klee’schen Kunst notiert er bereits im Juni 1902 in seinem Tagebuch: „Es ist eine große Not und eine große Notwendigkeit, beim Kleinsten beginnen zu müssen. Wie neugeboren will ich sein, nichts wissen von Europa, gar nichts. Keine Dichter kennen, ganz schwunglos sein, fast Ursprung. Etwas Bescheidenes will ich dann tun, ein ganz kleines, ganz formales Motiv mir ausdenken.“ (Tgb 425)2 Als Klee und Marc sich 1912 im Umkreis des Blauen Reiters kennenlernten (vermittelt durch den mit Klee befreundeten Schweizer Maler Louis Moilliet), war Marc künstFranz Marc und Paul Klee 1912–1916
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lerisch weiterentwickelter, insbesondere was den Umgang mit der Farbe anbelangt, und zweifellos auch der weitaus Bekanntere. So mag es Klee geschmeichelt haben, dass Marc als prominentes Mitglied des Blauen Reiter geradezu um seine Freundschaft warb (wie u. a. der Briefwechsel und der Austausch gemalter und gezeichneter Postkartengrüße zeigen). Es gab wechselseitige Besuche der Ehepaare Klee und Marc, und Maria Marc nahm regelmäßig Klavierstunden bei Lily Klee. Zugleich gab es eine weitgehende Übereinstimmung in der spirituellen, geradezu mystisch-religiösen Orientierung beider Künstler.3 Auch nach 1914, als Marc bereits zum Militär eingezogen war, war Klee durch Marcs im Feld geschriebene Essays, seinen eigenen Briefwechsel mit Marc und durch den Briefwechsel zwischen Franz und Maria Marc detailliert über Marcs Gedanken informiert.4 Die geistige Übereinstimmung mit Marc hinderte Klee freilich nicht daran, Marc nach dessen Tod 1916 in seinen Tagebucheintragungen in einer Weise zu schildern, die geradezu eine Entwertung darstellt: Klee nimmt nunmehr den „Weltgedanken“ für sich in Anspruch, während er Marc auf den „Erdgedanken“ reduziert. Klees Hang zu Selbststilisierung war offenbar stärker als seine Freundschaft und Pietät. Dieser Zusammenhang ist von der Klee-Forschung m. E. bisher kaum beachtet worden. Auch am Beispiel seines Verhältnisses zu Marc lässt sich Klees Tendenz zur geradezu mythischen Selbstüberhöhung beobachten. Der Blick auf Klee und Marc liefert Einsichten in theoretische Positionen der künstlerischen Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Ebenso wie Klee Marcs okkultistische Phantasien, seine teilweise verworrene Rezeption der Naturwissenschaften und seine zumindest zu Kriegsbeginn nationalistisch-rassistischen Tendenzen weitgehend ignorierte, so interessierte sich Marc offenbar auch nicht sonderlich für die tendenziell elitär-antidemokratische Einstellung Klees, der mit der Revolution von 1918 die Herrschaft des Pöbels befürchtete. Mögliche Differenzen blieben hinter dem Nebel einer von beiden geteilten diffusen, „parareligiösen Metaphysik“ (Werckmeister) verborgen, die allerdings im Detail dann von beiden Künstlern sehr unterschiedlich interpretiert wurde. Lediglich an der Frage des Krieges – und damit an dem von Marc in den Jahren 1914–15 entwickelten missionarischen Kriegspathos – prallten die Meinungen der beiden Künstler aufeinander. Ernsthafte politische oder soziologische Reflexionen waren beiden Künstlern gleichermaßen fremd. Am Beispiel von Klee und Marc – Ähnliches gilt, wenn auch in abgeschwächter Form, für Kandinsky und Mondrian – lässt sich zeigen: Wichtige Repräsentanten der künstlerischen Avantgarde waren zumindest in der Zeit bis 1918 nicht in der Lage, den soziologischen Ort ihrer Künstlerexistenz, d. h. ihre Zugehörigkeit zu einem konservativ-bürgerlichen Milieu zu reflektieren bzw. zu transzendieren5. An die Stelle dieser Reflexion tritt vielmehr eine diffuse Metaphysik, mit der die bestehenden Klassenstrukturen und -konflikte kaschiert werden.6 Dies lässt sich am Beispiel von Marcs metaphysischer Überhöhung der nationalistischen „Ideen von 1914“ und Klees Metaphysik des „Jenseitigen“ zeigen, Phänomene, die zugleich eine Art parareligiöse Selbststilisierung beider Künstler implizierten.7 158 I Manfred Clemenz
Auf den geistesgeschichtlichen und habitustheoretischen Hintergrund dieser parareligiösen Selbststilisierung und Selbstcharismatisierung (als eine Art „magischer Praxis“) ist Zitko in seinen Überlegungen zur Kunstwelt (2012) eingegangen: „Die oft neoplatonisch argumentierende Kunstmetaphysik der klassischen Moderne dachte in eine ähnliche Richtung, indem sie den Künstler als ein Medium der Kundgabe höherer Wahrheiten behandelte. Dass sich die Kunst keineswegs bruchlos in die allgemeinen Prozesse der Säkularisierung sozialer Zusammenhänge einreihen lässt, wird schließlich nicht zuletzt am unübersehbaren Fortleben magischer Praktiken im Feld der Kunstrezeption deutlich [...] Die sukzessive Auflösung von Traditionsbindungen in den neuzeitlichen Gesellschaften, die die Entwicklungs- und Handlungsspielräume des Einzelnen erheblich erweitern, bringt indessen ein deutlich erhöhtes Maß an Irritabilität und Unsicherheit in den Persönlichkeitssystemen hervor ... Anders als in den Kulturen des Mittelalters, in denen der Lebensweg des Einzelnen durch gesellschaftliche Rollenbilder weitgehend vorgezeichnet war, sieht sich das Individuum zunehmend mit dem kaum je abzuarbeitenden Problem der Legitimation und Stabilisierung eigener Existenz konfrontiert. Diese Situation bildet eine Rahmenbedingung der Produktion und Erfahrung von Kunst insbesondere im Zeitalter der Moderne.“8 Klee hat versucht, sich diese Legitimation durch Selbststilisierung als „jenseitiger“, dem Kosmos und dem „Urgrund“ naher Künstler zu schaffen, eine Selbststilisierung, die – mit tatkräftiger Unterstützung durch Klee selbst – bereits 1920–1921 von seinen ersten Biographen Zahn und Hausenstein übernommen, von Klees Galeristen Goltz und Walden gefördert und später von Biographen wie Haftmann, Grohmann und Gidion-Welcker zur charismatischen Aura des weltentrückten, asketischen Künstlers ausgearbeitet wurde – ein Prozess der „Heiligsprechung“, wie spätere, kritischere Biographen süffisant anmerkten. Marc ist einen etwas anderen, aber durchaus ähnlichen Weg gegangen. Er blieb nicht bei einer „metaphysischen Erfahrung der Natur“ stehen. Marc hat vielmehr zunehmend (insbesondere in seinen letzten Lebensjahren 1914–1916) sein Leben, seine Kunst und seine Vorstellung einer Erneuerung Europas durch den Krieg religiös-metaphysisch interpretiert bis hin zu der Vorstellung, dass das „wahre Sein“ (Marc) erst mit der Loslösung von jeder Form von Materialität im Tode erreichbar ist. Eine derartige Vorstellung von Kunst und Leben ist mit profanen, d. h. säkularen Kriterien nicht kritisierbar. Es handelt sich um einen Prozess der Selbstlegitimierung und Selbstimmunisierung der Kunst gegenüber Kritik, wie wir ihn auch bei Klee finden werden. Die Freundschaft und das zugleich spannungsvolle Verhältnis von Klee und Marc werden nirgendwo deutlicher als in der Einstellung der beiden Freunde zum Krieg. In der Einstellung zum Krieg werden in komprimierter Form die theoretischen und religiös-metaphysischen Positionen der beiden Künstler erkennbar. Der Krieg geht Klee „innerlich“ nichts an, „Ich habe diesen Krieg in mir längst gehabt“ (Tgb 952), auch der „Staat“ „kümmert“ ihn nicht,9 er distanziert sich von beiden, rettet sich aus dem Diesseitigen ins Jenseitige.10 Für Marc hingegen ist der Krieg 1914–16 ein Weg zu einer Franz Marc und Paul Klee 1912–1916
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neuen Geistigkeit, er ist Teil seiner privaten „Heilsgeschichte“.11 Erst 1916 verändert sich Marcs Einstellung zum Krieg und weicht einer kritischeren Haltung, ohne dass freilich der Krieg selbst in Frage gestellt werden würde. Pointiert kann man sagen: In der Einstellung zum Krieg werden zwei unterschiedliche „Heilswege“ deutlich.
II. Franz Marc und die Erneuerung der Kunst durch den Krieg Marc hat diese Haltung zum Krieg nicht selbst „erfunden“. In den Grundzügen gleichen Marcs Gedanken den „Ideen von 1914“, einem Konglomerat von antidemokratischen und nationalistischen Vorstellungen, wie sie von zahlreichen deutschen Intellektuellen schon vor 1914 verbreitet wurden. Ein zentrales Konzept dieser „Ideen“ bestand darin, der deutschen „Kultur“ entwertend die romanische und englische „Zivilisation“ gegenüberzustellen. Den anti-englischen Affekt dieser „Ideen“ übernimmt, wie wir sehen werden, Marc praktisch unmodifiziert. Die „Ideen von 1914“ wurden später Teil des nationalsozialistischen Gedankenguts.12 In den Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) hat der junge Thomas Mann die antidemokratische und antizivilisatorische Tendenz dieser Gedanken auf den Punkt gebracht: „Der Unterschied von Geist und Politik enthält den von Kultur und Zivilisation, von Seele und Gesellschaft [...]. Deutschtum, das ist Kultur, Seele, Freiheit, Kunst und nicht Zivilisation, Gesellschaft, Stimmrecht, Literatur.“ (1956, S. 23). Ähnlich wie für Marc ist auch für Mann der Krieg eine „Veredelung“ des Menschen. In diesem Punkt stimmen beide mit der Agitation des von Hugenberg13 geförderten „Alldeutschen Verbandes“ überein, der in Deutschland am lautstärksten die Kriegspropaganda betrieb. Auch für den „Alldeutschen Verband“ war der Krieg der Motor für die „Höherentwicklung“ der Menschheit, insbesondere natürlich Deutschlands. Dass damit die imperialen Interessen des Deutschen Reichs, insbesondere der deutschen Industrie verschleiert wurden, war allen einigermaßen realistisch denkenden Zeitgenossen klar. Dass die Kriegsbegeisterung nicht nur eine Sache deutscher Politiker und Intellektueller, sondern auch in der europäischen Avantgarde vertreten war, zeigt Marinettis futuristisches Manifest (1909): „Wir wollen den Krieg verherrlichen – diese einzige Hygiene der Welt – den Militarismus, den Patriotismus [...] und die Verachtung des Weibes.“14 In Frankreich vertrat die Action Française 1914 ideologisch ähnliche Positionen wie die Alldeutschen, nur spiegelbildlich verkehrt. Sie war antidemokratisch, antisemitisch und chauvinistisch – eines ihrer Kriegsziele war die Zerschlagung des Deutschen Reichs. In einer Postkarte schreibt Marc zu Beginn des Krieges (16.11.1914) an Kandinsky: „... mein Herz ist dem Krieg nicht böse, sondern aus tiefem Herzen dankbar, es gab keinen anderen Durchgang zur Zeit des Geistes, der Stall des Augias, das alte Europa konnte nur so gereinigt werden, oder gibt es einen einzigen Menschen, der diesen Krieg ungeschehen wünscht.“15 Gleichsam als Antwort auf diese Position Marcs schreibt Klee an Marc mit vorsichtiger Kritik: 160 I Manfred Clemenz
„Eigentlich sind doch wir gerade gegenwärtig hart betroffen worden in unseren zartesten Hoffnungen. Sie aber ersetzen den Verlust durch die kühnsten Erwartungen.“16 Noch deutlicher äußert sich Klee in einem Brief an Hermann Rupf, einen Berner Freund, der beginnt, Werke Klees zu sammeln: „Was für ein Unglück für uns alle ist dieser Krieg und insbesondere für mich, der ich Paris so viel verdanke und geistige Freundschaft mit den dortigen Künstlern pflege. Wie wird man nachher sich gegenüberstehen. Welche Scham über die Vernichtung auf beiden Seiten.“17 Klee vermag zumindest die Folgen des Krieges einigermaßen realistisch einzuschätzen, sieht u. a. die (künstlerische) „Internationale“ bedroht.18 Marc dagegen sieht in ihm einen geistig-religiösen Heilsweg. Angesichts einer derart konträren Haltung dem Krieg gegenüber – Krieg als Unglück und Vernichtung (Klee), Krieg als Weg zur Vergeistigung (Marc) – ist es fast verwunderlich, dass beide Künstler lange eine intensive Freundschaft pflegten. Verwunderlich ist auch, dass diese Kontroversen nicht schon früher auftauchten, da Marc seine Gedanken schon 1912, wenn auch in abgeschwächter Form, als messianische Verkündigung einer neuen „geistigen“ Religion, in tendenziell aversiver Abgrenzung gegenüber der französischen Kunst, im Almanach Der Blaue Reiter vortrug – an prominenter Stelle.19 Marc verkündete gleichsam prophetisch die „Morgenröte“ einer „neuen Zeit“. Es ist unwahrscheinlich, dass Klee, für den die Aufnahme in den Kreis des Blauen Reiter gleichsam das Entrée in die künstlerische Avantgarde war und in dessen Almanach nicht nur sein Freund Kandinsky veröffentlichte, sondern auch er selbst mit der Federzeichnung Steinhauer vertreten war, das Almanach nicht gelesen hatte. Bereits im Almanach Der Blaue Reiter formuliert Marc mystisch-religiöse Gedanken, die sich zunächst nur auf die Kunst und Künstler beziehen (in Anspielung auf die „Fauves“ spricht er von den „Wilden“ Deutschlands, zu denen er die Dresdner „Brücke“, die Berliner „Neue Sezession“ und die Münchner „Neue Künstlervereinigung“ zählt), letztlich aber auf eine geistige Erneuerung zielen, auf eine „Neugeburt des Denkens“.20 „Die Mystik erwacht in ihren Seelen und mit ihr uralte Elemente der Kunst.“21 Ziel sei, neue „Symbole“ zu schaffen, die „auf die Altäre der kommenden geistigen Religion gehören“.22 Zwar sind die „jungen Franzosen und Russen“, die bei den „Wilden“ ausstellten, willkommen, gleichwohl ist eine Abgrenzung gegen Frankreich (d. h. gegen den Kubismus und indirekt auch gegen Delaunays „Orphismus“) deutlich: „Die schönsten prismatischen Farben und der berühmte Kubismus sind als Ziel diesen ‚Wilden‘ bedeutungslos geworden [...] Nicht alle ‚Wilden‘ in Deutschland und außerhalb träumen von dieser Kunst und diesen hohen Zielen. Um so schlimmer für sie. Sie mit ihren kubistischen und sonstigen Programmen werden nach schnellen Siegen an ihrer eigenen Äußerlichkeit zugrunde gehen.“23 Es bleibt in Marcs Almanach-Texten offen, worin die neue geistige Religion besteht. Der messianische Ton ist freilich deutlich.24 Parallelen zu Kandinsky (von dem Marc zweifellos beeinflusst war) und dessen neuer „Geistigkeit“, dem „Großen Geistigen“, Franz Marc und Paul Klee 1912–1916
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sind offensichtlich. Diese Parallelen haben möglicherweise bei Klee aber auch die Einsicht verhindert, dass die von Marc verkündete „Neugeburt des Denkens“ bereits 1912 unverkennbar nationalistische Tendenzen aufwies (die zumindest Kandinsky fremd waren). Nachdem Marc auf den schädlichen Einfluss der Wissenschaft (er wird später eine diametral entgegengesetzte Einstellung zur Wissenschaft einnehmen) auf die Religion hingewiesen hat, schreibt er: „Wohl fühlt man, dass eine neue Religion im Lande umgeht, die noch keinen Rufer hat, von niemand erkannt ... Es sind eigenwillige, feurige Zeichen einer neuen Zeit, die sich heute an allen Orten mehren. Dieses Buch soll ihr Brennpunkt werden, bis die Morgenröte kommt und mit ihrem natürlichen Lichte diesen Werken das gespenstige Aussehen nimmt.“25 In den Schriften aus dem Jahre 1914 versucht Marc zu präzisieren, was er unter der „neuen Zeit“ und der „neuen Religion“ versteht: es handelt sich um eine Frage des wahren, „unteilbaren“, „unirdischen“ oder „eigentliche(n) Seins jenseits aller Sinnestäuschungen“. In „Zur Kritik der Vergangenheit“ (1914) schreibt Marc und formuliert dabei in komprimierter Form den Zusammenhang seiner Kunst- und Lebens- (bzw. Todes-) Philosophie: „Die Sehnsucht nach dem unteilbaren Sein, nach Befreiung von den Sinnestäuschungen unseres ephemeren Lebens ist die Grundbestimmung aller Kunst. Ihr großes Ziel ist, das ganze System unsrer Teilempfindungen aufzulösen, ein unirdisches Sein zu zeigen, das hinter allem wohnt, die Spiegel des Lebens zu zerbrechen, dass wir in das Sein schauen. Es gibt keine soziologische oder physiologische Deutung der Kunst. Ihr Wirken ist durchaus metaphysisch.26 Hier stimmt Marc noch weitgehend mit Klee überein, der vom Diesseitigen ins Jenseitige hinüber „bauen“ wollte. Marc freilich radikalisiert – in direktem Zusammenhang zu dieser Formulierung – dieses „unirdische Sein“. „Der Tote kennt nicht Raum und Zeit und Farbe, oder nur soweit er in der Erinnerung der Lebenden noch ‚lebt‘. Mit dem Tode beginnt das eigentliche Sein, das wir Lebende unruhvoll umschwärmen wie der Falter das Licht“.27 Ohne diese Todesmetaphysik wäre Marc Haltung gegenüber dem Krieg kaum zu verstehen. Außerdem fällt an dieser Stelle eine Ähnlichkeit mit einer der bekanntesten Äußerungen Klees auf, die lange Zeit als eine Tagebucheintragung galt, in Wirklichkeit aber für den Katalog seiner ersten großen Ausstellung in der Galerie Goltz in München (1920) verfasst und anschließend in L. Zahns Klee-Biographie (1920) wiederholt wurde: „Diesseitig bin ich gar nicht fassbar. Denn ich wohne grad so gut bei den Toten, wie bei den Ungeborenen. Etwas näher am Herzen der Schöpfung als üblich. Aber noch nicht nahe genug. Geht Wärme von mir aus? Kühle??“28 Im Unterschied zu Marcs Diktum lässt sich diese Äußerung Klees nicht so verstehen, dass erst im Tode das eigentliche Sein beginnt, sondern dass er, Klee, bei den Toten und Ungeborenen „lebt“, also in der Vergangenheit und in der Zukunft nahe am „Herzen der Schöpfung“, das heißt, in einem Bereich, in der ihn mit den Lebenden wenig verbindet, er sich jenseits der menschlichen Triebe und Leidenschaften befindet. Marc 162 I Manfred Clemenz
dagegen hat aus ontologischer Perspektive das Verhältnis von Leben und Tod umgekehrt und sieht das eigentliche Sein im Tode, eine Art Todessehnsucht, die ihn von der pragmatisch motivierten Kriegsverherrlichung der „Alldeutschen“ unterschied. Wir werden später sehen, dass diese Vorstellung des Todes als eigentliches Sein den Hintergrund von Marcs Kriegsbegeisterung und Kriegsmetaphysik darstellt, obwohl er dies direkt nicht ausspricht und stattdessen die Idee einer notwendigen „Reinigung“ Europas auf dem Weg zu einem neuen geistigen Europa propagiert. Marc war sich offenbar bewusst, dass seine Verklärung des Krieges, seine „Ideen“ unscharf waren und dem Außenstehenden verworren erscheinen mussten. Er spricht deshalb auch von seinem für andere noch nicht zugänglichen „Geheimwissen“, was freilich den Charakter des Sektiererischen seiner „Ideen“ noch verstärkt. Kandinsky, dem er seine „Ideen“ anvertraute, war deshalb auch konsterniert und bemerkte lakonisch, dass mit einer „Idee“ eine „präzise Vorstellung“ verbunden sein müsse.29 Bemerkenswert in dem Aufsatz „Zur Kritik der Vergangenheit“ ist auch das von Marc hier formulierte Wissenschaftsverständnis, weil es von dem später von ihm propagierten Verständnis der „exakten Wissenschaft“ als zentralem Weg der Seinserhellung entscheidend abweicht. Hier sieht er den „erzieherische(n) Wert der Wissenschaft“ „(g)erade in der Irrationalität der Wissenschaft“. So verwundert es auch wenig, wenn Marc „das Geistige, das wir so feierlich prophezeiten“, anhand okkulter Phänomene erläutert. Es darf vermutet werden, dass Marc hier von den theosophischen Spekulationen Helena Blavatskys beeinflusst war, Spekulationen, die auch Kandinsky bekannt waren, wobei Kandinsky freilich, im Gegensatz zu Marc, eine skeptische Distanz zur Theosophie beibehielt30: „Alle okkultischen Phänomene haben in der Form, in der sie sich uns heute zeigen, ein äußerliches Analogon, das man die materialisierte Form immaterieller Ideen nennen könnte. Das mediumistische Durchdringen einer Materie können wir durch die X-Strahlen gewissermaßen experimentell ausführen, das Schweben, d. h. das Aufheben eines spezifischen Gewichtes durch magnetische Experimente belegen. Ist nicht unser Telegraphenapparat eine Mechanisierung der berühmten Klopftöne? Oder die drahtlose Telegraphie ein Exempel der Telepathie? Die Grammophonplatte scheint experimentell zu beweisen, dass die Verstorbenen noch zu uns reden können. Das Okkulte gewinnt heute infolge dieser experimentellen Analogien eine ganz neue Bedeutung, die man früher, in Religionszeiten noch nicht kannte. Wer sollte so blind sein, diese merkwürdigen Zusammenhänge der geistigen Idee mit dem physikalischen Experiment, des Innerlichen mit dem Äußerlichen zu leugnen“.31 Im Gegensatz zu seiner späteren Entwertung des Materiellen ist Marc hier offenbar noch von den theosophischen Spekulationen über die Identität von Geist und Materie (wie wir sie später etwa auch bei Mondrian finden) beeinflusst. In „Zur Kritik der Vergangenheit“, zum Zeitpunkt des Kriegsbeginns hat Marc seine Vorstellung von Kunst im System eines okkultistischen „Geheimwissens“ verortet, dessen Fluchtpunkt, die Idee eines „eigentlichen Seins“, jenseits des Lebens, das heißt im Tode liegt. Das Wirken der Kunst ist somit „durchaus metaphysisch“. Auch hier bewegt sich Marc innerhalb einer Franz Marc und Paul Klee 1912–1916
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weitverbreiteten esoterisch-okkultistischen Tendenz der Avantgarde, in der insbesondere die Lehren von Blavatsky und Steiner eine prominente Rolle spielten.32 In seinem folgenden Aufsatz „Im Fegefeuer des Krieges“ (Oktober 1914) wird der „sagenhafte Krieg“ in dem Europa sich befindet, buchstäblich mythisiert und mystifiziert, zugleich auch als Weg zu dem bisher unbestimmt Gebliebenen „Geistigen“, dem „Idealen“ stilisiert: „Der Artilleriekampf hat selbst für den Artilleristen oft etwas Mystisches, Mythisches. Wir sind Kinder zweier Welten. Wir Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts erfahren täglich, dass alle Sage, alle Mystik, aller Okkultismus einmal Wahrheit wird, also auch einmal Wahrheit gewesen ist. Was Homer von dem unsichtbaren, donner grollenden Zeus singt, dem fernhintreffenden, und von Mars mit seinen unsichtbaren Pfeilen, wir haben es zur Wahrheit gemacht .... Das Volk ahnt, dass es erst durch den großen Krieg gehen musste, um sich ein neues Leben und neue Ideale zu formen. Es behielt recht mit seinem Unwillen, in elfter Stunde neue Kunstideen aufzunehmen. Man sät nicht feinen Samen, wenn ein Sturm am Himmel steht“.33 Es darf bezweifelt werden, ob das „Volk“ deshalb unwillig war, „neue Kunstideen“ aufzunehmen, weil es erst ein „neues Leben“ und „neue Ideale“ durch den Krieg formen wollte. Die Bereitschaft für „neue Kunstideen“ war nach dem Krieg nicht höher als vorher, im Gegenteil. Wenn das „Volk“ nach dem Krieg für derartige Ideen offen war, dann gerade für solche, die – entgegen Marcs Vorstellung – das sinnlose Töten und Grauen des Kriegs anprangerten. Die Idee der „Reinigung“, auf die Marc später noch ausführlich zu sprechen kommt, war vorwiegend eine Idee des Bildungs- und Besitzbürgertums. Die Arbeiterklasse hatte andere Sorgen, obwohl auch hier die Kriegsbegeisterung weit verbreitet war. Die anfängliche – allerdings schnell verflogene – Kriegseuphorie war einerseits ein Ergebnis von kriegsvorbereitender Propaganda (einschließlich der von bürgerlichen Intellek tuellen verbreiteten „Ideen von 1914“), bei denen der Hugenberg-Konzern eine bedeutende Rolle spielte, andererseits ein Reflex auf den schnell und mit relativ geringen Opfern gewonnenen Krieg gegen Frankreich 1871. Dass der Krieg diesmal vier Jahre dauern würde, mit Millionen von Opfern, stellten sich 1914 nur wenige vor. Überlegungen dieser Art kommen bei Marc nicht vor – sie werden sogar explizit zurückgewiesen. Stattdessen projiziert er seine eigenen Vorstellungen auf die Gesellschaft, wenn er in seinem Brief an Kandinsky schreibt, dass es niemand gäbe, „der diesen Krieg ungeschehen wünscht“. Trotz aller Opfer und Gräuel, die auch Marc später konstatiert, ist der Krieg für ihn im Kern ein geistiges Phänomen, der Weg zu einem neuen und besseren „Europa“. Im Kampf um Europa soll Deutschland für Marc eine führende Rolle spielen. Deutschland nimmt geradezu das Opfer auf sich, den Kampf um das neue Europa zu führen. In seinem Aufsatz vom Oktober 1914 spricht Marc davon: „... heute besorgen wir das Letzte: diesen entsetzlichen Krieg. Wer ihn draußen miterlebt und das neue Leben ahnt, das wir uns mit ihm erobern, der denkt wohl, dass man neuen Wein nicht in alte Schläuche fasst. Wir werden das neue Jahrhundert mit unserem formbildnerischen Willen durchsetzen.“34 164 I Manfred Clemenz
Hier taucht erneut der Gedanke auf, den Marc bereits in seinen Aufsätzen im Blauen Reiter 1912 formuliert hatte: die Bedeutung der Kunst für die Erringung des neuen „Geistigen“, der neuen Religion. Hier wird sie nunmehr auf den Krieg selbst angewandt: Die formbildenden Kräfte der Künstler und aller „Geistigen“ prägen das neue Jahrhundert über den Weg des Krieges. Diese formenden Kräfte werden von Marc nationalistisch und zugleich rassistisch verstanden: Es wird zu einer „Wiedervereinigung der germanischen Rasse unter deutscher Führung kommen“. Der „kommende Typ des Europäers wird der Deutsche sein; aber zuvor muß der Deutsche ein guter Europäer werden“. Erneut bleibt offen, was ein „guter Europäer“ ist, außer dass er „Nietzsches Herrenmensch“ gleicht.35 Auch Klee war zeitweilig von Nietzsche beeinflusst. Auffällig ist jeFranz Marc und Paul Klee 1912–1916
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doch, dass es sich dabei um eine Rezeption weitgehend aus zweiter Hand handelt. Eine eingehendere Beschäftigung mit Nietzsche ist bei beiden Künstlern nicht erkennbar36. In dem folgenden Aufsatz „Das geheime Europa“ (November 1914) wird Marc ein Stück weit deutlicher: Es geht um „Reinigung“, um ein neues Europa, das nur dadurch erreicht werden kann, dass der „Stall des Augias“ gereinigt wird, dass der „unsichtbare(n) Feind des europäischen Geistes“ besiegt wird: „Um Reinigung wird der Krieg geführt und das kranke Blut vergossen.“37 Wir erfahren nicht, wer der Feind des europäischen Geistes ist, da er ja „unsichtbar“ ist, allenfalls dass es ein „innerer Feind“ ist. Und wessen „krankes Blut“ soll vergossen werden: das des Feindes oder auch der eigenen Landsleute, deren Blut möglicherweise ebenfalls „krank“ ist? Und wie erkennt man, wer krankes Blut besitzt? War man zunächst nur über das Okkultistisch-Mystische der Marc’schen Gedanken konsterniert, ähnlich wie es Kandinsky war, so kann man sich hier eines Schauders nicht erwehren. Marc greift hier Gedanken auf, eine Blutsmetaphysik, die Glorifizierung des „reinen“ arischen Blutes, die zum geistigen Repertoire des Faschismus gehören. Verglichen mit Marcs Anspruch, ein „gesamtes Deutungssystem“ entwickelt zu haben, das „Wesen der Dinge“ erkannt zu haben38 und zur „Welt‚durch‘schauung“ gelangt zu sein, bleiben seine „Ideen“, insbesondere die Vorstellung eines „inneren Feindes“, nach wie vor vage, ja verworren. In „Der neue Typus“ (1914/15) schreibt er: „Die Welt‚an‘schauung der alten Welt wird zur Welt‚durch‘schauung der neuen Welt. Zu diesem letzten freien Kampf müssen die schweren Ketten, die den europäischen Menschen an seine Vergangenheit schmieden, zerrissen werden. Dazu war der Krieg.“39 Andeutungsweise spricht Marc davon, dass das „neue Europa“ die „Erlösung vom Stoffglauben“ sei. Erneut taucht der Gedanke auf, dass nur jenseits des Materiellen, im Tod, der „vollkommene Geist“ herrscht.40 Gefangen in der Vagheit seiner Gedanken dämmert ihm allmählich die Erkenntnis: „Den tiefsten Sinn des Krieges kann kein Mensch erkennen“. Damit sind auch die von Marc konstatierten „bisher grausamsten Infanteriekämpfe“ dem „gewöhnlichen Verstand unerklärlich“.41 Damit stimmt überein, dass es letztlich weder Deutschland noch die Politiker sind, die diesen Krieg begonnen hätten bzw. führen: Es handelt sich vielmehr um den „stummen Willen des wahren Seins“ der in ihm zum Ausdruck kommt 42 – eine bemerkenswerte Theorie des Krieges. Damit ist Marc wieder beim „Geist“ (denn das „wahre Sein“ ist „Geist“) und seinem Fluchtpunkt, dem Tode, angelangt. Was das „wahre Sein“ bzw. der „Geist“ im Hinblick auf den Krieg sein sollen und warum sie gerade mittels des Krieges wirken, bleibt offen. Der Inhalt der Marcschen Gedanken, der nicht nur an den Faschismus, sondern auch an sektiererische Pamphlete erinnert, in denen das Reich des Fleisches, der Sünde und des Teufels – des „Unreinen“ im Marcschen Sinne – angeprangert und der rechte Weg zur bevorstehenden Rettung angepriesen wird, lässt sich m.E. nur verstehen, wenn man Marcs Gedanken der Erlösung durch den Tod ernst nimmt. Hier spricht aus Marc eine Todessehnsucht – einige Autoren haben sie auch der Hitlerclique und ihrer Sehn166 I Manfred Clemenz
sucht nach einer quasi Wagnerianischen Weltendämmerung zugeschrieben –, die vermutlich nicht nur aus philosophisch-metaphysischen Überlegungen resultiert, sondern in der Person Marcs verwurzelt sein dürften. Bekannt ist, dass Marc um 1906 eine schwere depressive Phase durchlief und seinem Leben jeglichen Sinn absprach. Projiziert auf den Krieg, die Rasse und das unreine „Blut“ entfalten diese Motive weniger ein Szenario der Errettung als vielmehr ein apokalyptisches Szenario des individuellen und kollektiven Todes. Im Brande von Walhall gehen die Götter unter. Das „neue Europa“ ist der Weg, der zu diesem Untergang führt. Es folgt eine Phase, in der für Marc die „Weltdurchdringung“ eine Sache der Naturwissenschaft, des „exakten Wissens“ wird. Zwischen Schein und Sein vermittelt nun nicht mehr die Kunst, sondern die Wissenschaft.43 Ich werde im Kontext der Marcschen Aphorismen darauf zurückkommen. Da Marc über keine genaueren naturwissenschaftlichen Kenntnisse verfügte (z. B. offenbar auch nicht mit den neueren Entwicklungen der Atom-Physik seiner Zeit vertraut war), blieb dies eher eine Episode, in der es weniger um ein Verständnis der Naturwissenschaften als vielmehr um deren Anthropomorphisierung ging. Umso wichtiger war, dass Marc nunmehr unter dem Einfluss seiner Frau (die wiederum von einem Bekannten, dem von Klee erwähnten Musiker und „Propheten“ Kaminsky, einem gläubigen Christen, beeinflusst wurde) allmählich Zweifel am tieferen Sinn des Krieges entwickelte. Krieg, so Maria Marc, sei eine Art „Hypnose“, die die Menschen benebelt. Dem „Bösen“ könne keine „reinigende Kraft“ innewohnen. Marc kehrte zur Metaphysik zurück, allerdings zu einer nunmehr radikal individualisierten. Er sucht nach Befreiung von der Welt, und findet dies vorrangig in der Kunst. Ähnlich wie für Klee ist für Marc nunmehr das „Abstrakte“ von besonderer Bedeutung: Abstraktion ist das Geistige, vom „sterblichen Leib Unabhängige“. Kunst, d. h. abstrakte Kunst, ist für Marc der Versuch, an einen Punkt zu gelangen, „der nur vor und nach dem Leben genau existiert“.44 Dies ist offensichtlich eine Formulierung, die der zitierten Selbstdarstellung Klees, er sei diesseitig „gar nicht fassbar“ und lebe „gerade so gut“ bei den Toten und Ungeborenen, nahekommt. Diese erneuerte metaphysische Position Marcs ist allerdings genau der Punkt, den ihm Klee später streitig machen sollte. Unter dem Eindruck seiner Kriegserfahrungen distanziert sich Marc nunmehr ein Stück weit vom Krieg. Der Vormarsch auf Verdun ist für ihn „das Entsetzlichste, das sich Menschengehirne ausdenken können“. Er hat „nicht mehr das geringste Interesse am Krieg“.45 Es kommt, wie Förster anmerkt, zu einer „Zweiteilung“ der Person Marcs: Er ist einerseits Soldat, andererseits ein Mensch nahe dem „eigentlichen Sein“. Die Kameraden, so Marc, könnten nicht sehen, „daß ich eigentlich gar nicht da bin“. Seine sektiererischen Gedanken über den Krieg behält er freilich bei: der Krieg als „Weltenbrand“ (eine deutliche Parallele zu Wagners Götterdämmerung) ist der Preis für ein „sündiges Leben“. Andererseits bleibt der Krieg letztlich ein „unlösbares Rätsel“.46 Zum Schluss wird Marcs Haltung immer fatalistischer, so als habe er seinen eigenen Tod geahnt – oder gar gewünscht: „Es kann mir nichts geschehen, was nicht geschehen muß.“47 Den Tod scheint Marc als eine Art Erlösung verstanden zu haben. Franz Marc und Paul Klee 1912–1916
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In seinen Aphorismen findet sich Marcs komprimierteste Darstellung seiner Gedanken zum Krieg, zu Europa, zur Wissenschaft und zur Kunst. Ähnlich wie in den früheren Äußerungen bleiben seine Ideen vage, widersprüchlich und häufig geradezu verworren. Da ich auf einige der wichtigsten Gedanken Marcs schon eingegangen bin, möchte ich mich auf die zentralen Aussagen der Aphorismen zu diesen Themen beschränken48: Krieg: Obwohl eine „kleinere Gruppe Einsichtiger und Vorfühlender“ die Unvermeidlichkeit des Krieges sah (Aphorismus Nr. 21), blieben die Gründe für den Krieg letztlich auch ihnen verborgen. Bewusst wollen die Europäer den Krieg eigentlich nicht: „Aber ein geheimes, ihrem Wissen und Willen fremdes Wollen rauscht in ihrem Blute und brach aus wider Willen“ (Aphorismus Nr. 9). „... wir zetteln blutige Kriege an und fühlen am äußersten Ende, weit hinter und über diesem Leben den stummen Willen des wahren Seins“ (Aphorismus Nr. 15). Im Gegensatz zu den Müden und Pessimisten49 scheint es gleichwohl eine nicht näher bestimmte Gruppe von Menschen zu geben, deren „heller Wille“ das Schicksal in die Hand nahm. Die „gewaltige Mine“ des Nietzscheanischen Willens zu Macht zündete so im Krieg. Aber auch die „Einsichtigen“ wissen nicht genau, weshalb der Krieg geführt wird; ein gleichsam blinder Wille zur Macht als Repräsentant des stummen Willens des „wahren Seins“ hat den Krieg ausgelöst. Dies steht in eigenartigem Kontrast zu einem der ersten Aphorismen, in denen Marc betont, dass die Frage nach dem „Warum“ geklärt sei und den Fragern nach dem Warum Unehrlichkeit vorwirft: „Dieses arrogante, pessimistische Warum ist keine ehrliche Frage, sondern ein Ausweichen vor der Wahrheit, wo sie dingfest und dringlich werden, in den Zeiten der Wende, in denen das Alte erkrankt und pessimistisch wird.“ (Aphorismus Nr. 3) Wir erfahren nicht, wo die Wahrheit „dingfest“ ist, sondern nur so viel, dass der Krieg eine reinigende, „regenerative“ Wirkung hat, der Europa von seinen „Sünden“ reinigt (Aphorismus Nr. 22).50 Der Gedanke der Reinheit zieht sich durch alle Aphorismen („Rein sein ist alles“, Aphorismus Nr. 86). Wir hatten bereits erfahren, dass der Krieg um „Reinigung“ geführt wurde (für die Nationalsozialisten war die „Reinheit“ des deutschen Volkes ein zentraler Topos). Sinngemäß handelt es sich für Marc dabei um die Reinigung vom Materiellen, Utilitaristischen, um die Orientierung am Geistigen, um die „Erlösung vom Stoffglauben“. Die „Sünde“ wäre also, pathetisch ausgedrückt, die Sünde wider den Geist. Europa: Der Krieg wird zu einer Wiedervereinigung der „germanischen Rasse unter deutscher Führung“ führen, wobei Marc an anderer Stelle durchaus mehrdeutig schreibt, dass die Deutschen nach Ende des Krieges die „Reichen“ sein werden. Allerdings entsteht durch die Aphorismen ein Widerspruch zwischen Marcs Gedanken zur germanischen Rasse einerseits, der Reinigung durch das Geistige andererseits. Die Repräsentanten des Utilitarismus und des „Nützlichkeitsgedanken“ (Aphorismus Nr. 58), d. h. die Feinde des Geistes, sind für Marc nämlich die Engländer (die auch für Marc der germanischen Rasse angehören), wobei er sich auf entsprechende Gedanken von Nietzsche bezieht. Ich möchte Marcs Gedanken etwas ausführlicher zitieren, weil hier das
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Marc – etwa von Lankheit – zugeschriebene idealistische Europäertum als Herrenmenschentum, als Verherrlichung des „deutschen Typs“ decouvriert wird: „Nietzsche sagte einmal: ‚Der Mensch strebt nicht nach Glück, nur der Engländer thut das.‘ Bei dieser besonderen Species Mensch, die der Engländer darstellt oder dargestellt hat, – der Krieg wird ihn manches gelehrt haben –, überwuchern die Glücksund Nützlichkeitsgedanken dergestalt jede Tiefe, daß die Kunst auf jenem ‚glücklichen‘ Eiland wirklich eines elenden Todes starb. (Aphorismus Nr. 58) ... Die Entwicklung eines neuen Europäertypus hat nur einen großen Widersacher, den Nietzsche genial erkannt und entlarvt hat: den Typus des Engländers. Sein Antipode ist der deutsche Typ, der allein berufen ist, den Engländer im Europäer zu ver nichten. Den Auftakt dieser Mission bildet dieser sagenhafte Krieg, dem noch viele blutige und unblutige folgen werden, bis die Gefahr der Verengländerung abgewendet ist.“ (Aphorismus Nr. 59) (kursiv MC) Dies ist eine der wenigen Stellen in den Aphorismen, in denen Krieg und Europäertum konkreter werden: Vernichtung des Engländertums, Triumph des „deutschen Typus“ als Verkörperung des Anti-Utilitarismus. Wissenschaft: Marcs Apotheose der Wissenschaft, die „exakte Wissenschaft“ und Glaube zugleich sein soll, schwankt zwischen einer Vorstellung von Wissenschaft als Erkenntnis des Absoluten und einem pragmatisch dem „Positivismus des Lebens“ verpflichteten Denken. Zugleich stilisiert Marc die Wissenschaft zur Verkörperung seiner Reinheitsphilosophie: „Unsere europäische Religion“ nimmt ihren Ausgangspunkt „von der Erkenntnis der weltunbefleckten Reinheit der Wissenschaft, der keuschen Majestät des Wissens“ (Aphorismus Nr. 66). „Die Reine Wissenschaft (ist) unser europäisches Gewissen“ (Aphorismus Nr. 65). Schließlich wird die „exakte Wissenschaft“ noch von einer gleichermaßen ontologischen wie anthropomorphen Deutung überlagert: „Schon Leibniz wollte erkannt haben, dass die Materie ‚auch‘ Geist ist. Aber was für eines langen Wegs [...] hat es bedurft, um zu erkennen, daß die Welt nur Geist, nur Psyche ist und die zaubervollen Naturgesetze nur unsere zweite, geistigere, tiefere Form und Formel für die Psyche, für unsere eigene Psyche bedeuten. Die Naturgesetze sind das Werkzeug unserer zweiten, besseren Einsicht, unseres zweiten Gesichts, mit dem wir das Weltgeschehen heute betrachten.“ (Aphorismus Nr. 44) An anderer Stelle fügt er, unter problematischer Berufung auf Kant, hinzu, dass die Gravitationsgesetze „nur reine Anschauungsform der Liebe“ sind (Aphorismus Nr. 76). Marcs Texte lassen erkennen, dass er sich wohl kaum ernsthaft mit der „exakten Wissenschaft“ und mit ihrem Stand zu Beginn des 20. Jahrhunderts auseinandergesetzt hat.51 Die Naturwissenschaften sind für Marc eine Projektionsfläche für einen ganzen Gedankenkomplex: Philosophie des Absoluten, Verkörperung des „Reinen“ („weltunbefleckte Reinheit der Wissenschaft“), neues Europäertum – und schließlich Werkzeug des „Zweiten Gesichts“ (so der Untertitel der Aphorismen). Marc kann sich nicht entscheiden, ob er unter „exaktem Wissen“ spekulative, metaphysische Philosophie oder Franz Marc und Paul Klee 1912–1916
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moderne Naturwissenschaft verstehen will, so dass er im selben Aphorismus das kritisch-naturwissenschaftliche Denken und Glauben gleichsetzt, um im selben Atemzug wiederum den „Glauben der Väter“ (ohne diesen Glauben präziser zu benennen) zu kritisieren: „Gewiß können wir das Wort auch wenden und sagen, daß unser Wissen unser neuer Glaube ist, das neue Gesicht.“ (Aphorismus Nr. 42) Auch wenn diese Aphorismen an der Front, „im Sattel“ (Aphorismus Nr. 57), geschrieben wurden, so fällt gerade bei Marcs Gedanken zur Wissenschaft ein hohes Maß an Inkongruenz, ja Verworrenheit auf. Gerade an Marc wird – deutlicher noch als an Klee – ein Merkmal der künstlerischen Avantgarde deutlich: Dass sie zur Legitimation ihrer Kunst häufig auf Philosophie und Wissenschaft aus zweiter Hand zurückgreift, ohne deren Implikationen wirklich zu reflektieren. Kunst: Die „Fluchtversuche der Deutschen in die Musik brachten nicht die Befreiung“, gleichwohl waren sie die „platonische Liebe der Deutschen“ zur Wahrheit, zum Absoluten. Es war gleichsam ein Traum – jetzt wird der „wahre Kampf “ um die Form, um die Wahrheit und das Absolute in anderer Weise, im Krieg, geführt: „Doch der wahre Kampf um das neue Europa und die neue Form wird auf einer anderen Walstatt geführt. Nicht in Träumen.“ (Aphorismus Nr. 5) „Der große Krieg hat dem hoffnungslosen Treiben ein Ende gesetzt und fuhr als deus ex machina reinigend über die europäische Bühne; wenigstens könnte man endlich erwarten, daß an die Stelle der Reform die Form tritt.“ (Aphorismus Nr. 6) Vor dem Hintergrund der Marcschen Überlegungen zum Krieg, zu Europa und zum Wissen wirken seine Gedanken zur Kunst vergleichsweise schlicht, gleichsam als Anhängsel der bereits vorgetragenen Gedanken. Zunächst werden die Gedanken zum „exakten Wissen“ als Glaubenssystem auch auf die Kunst übertragen. Kunst wird Ausdruck der neuen Religion: „Die kommende Kunst wird die Formwerdung unserer wissenschaftlichen Überzeugungen sein; sie ist unsere Religion, unser Schwerpunkt, unsere Wahrheit. Sie ist tief und schwer genug, um die größte Formgestaltung, Formumgestaltung zu bringen, die die Welt erlebte.“ (Aphorismus Nr. 37) Die bisherige Kunst zeigt dasselbe „Krankheitsbild“ wie Europa, wobei auch hier unklar bleibt, was Ursachen und Erscheinungsbilder dieser Krankheit sind. Klar bleibt lediglich, dass durch die langen Kriegsvorbereitungen für das „Kunstwollen“ „kein Raum“ war (Aphorismus Nr. 8), dass der Krieg der Weg zur neuen Form ist und – wie Marc gegen Ende seiner Aphorismen deutlich macht – die „Abstraktion“ die neue Kunstform sein wird. Ähnlich wie die Wissenschaft ermöglicht die Kunst das „zweite Gesicht“, d. h. die Fähigkeit zur Erkenntnis des wahren Seins. In der Abstraktion verbinden sich für Marc zwei zentrale Gedanken: 1. Das Abstrakte ist „rein“, d. h., es hat sich von der „hässlichen“ Oberfläche der Dinge abgewandt und dem eigentlichen Sein zugewandt: „Laßt uns im Rücken der Dinge leben; denn alle Dinge sind unfreudig, unwahr und hässlich.“ (Aphorismus Nr. 94) 170 I Manfred Clemenz
„Die Natur ist hässlich und unselig, ein bitteres Gefängnis des Geistes.“ (Aphorismus Nr. 96) 2. Die Abstraktion entspricht dem „natürlichen Sehen“ und verbannt zugleich das „Sentimentale“ als die „Reduktion unseres geistigen Sehvermögens“: „So erscheint dem späten Denken das Abstrakte wieder als das natürliche Sehen, als das primäre, intuitive Gesicht, das Sentimentale aber als hysterische Erkrankung und Reduktion unseres geistigen Sehvermögens. Der Europäer als Arzt und Wiederverkünder alter Wahrheit. (Aphorismus Nr. 89)52 Versteht man das Antinaturalistische und Antisentimentale der Abstraktion zugleich als deren „neuen Inhalt“ der Kunst, so ergibt sich ein Dilemma in Marcs Definition des Abstrakten. Einerseits ist Kunst für Marc Form („Kunst ist niemals etwas anderes als Wille zur Form“, Aphorismus Nr. 29), andererseits ist sie – ähnlich wie bei Kandinskys „Großem Geistigen“ – quasireligiöse Botschaft, „Mission“. In diesem Sinne war für Kandinsky die Form lediglich Mittel zum Zweck, um die „Seele“ der Menschen, letztlich auch die Gesellschaft einer höheren Geistigkeit zuzuführen. Marc ersetzt jedoch die Gesellschaft, durch das „Volk“ und sucht nach einer Form, die den „Volkswillen“ zum Ausdruck bringt. Die Form wird sekundär, ein vom Inhalt bedingtes P hänomen: „Die Neugierde des Lesers sucht in den Zeilen und zwischen den Zeilen nach der gewissen Formel der neuen Form. Aber noch immer hat das Volk selbst, – damit ist nicht die Menge gemeint –, der Kunst den Stil gegeben. Der Künstler ist nur Deuter und Erfüller des Volkswillens. Wenn aber das Volk nicht weiß, was es will, oder nichts will – der schlimmere Fall, den die Jahre vor dem Kriege lehrten – bleiben die Künstler, die triebhaft nach der Form suchen, isoliert und werden zu Märtyrern.“ (Aphorismus Nr. 61) „Das Volk hat sich in seinem Instinkt nie beirren lassen, ausschließlich nach dem Inhalt der Kunst zu fragen.“ (Aphorismus Nr. 67) Natürlich hat Marcs völkisch geprägte Apotheose der Abstraktion nichts mit der von den Nationalsozialisten propagierten „völkischen Kunst“ gemeinsam. Marcs religiös-geistige Kunst ist ebenso dem Verdikt einer „entarteten Kunst“ zum Opfer gefallen wie die Werke der meisten modernen Künstler. Strukturell jedoch gibt es eine Übereinstimmung der Argumentation. Auch für die Nationalsozialisten war das „Volk“ nicht die „Menge“, sondern ein ideologisches Phantasma. Damit konnten die (kultur-) politischen Machthaber zu Propagandazwecken relativ willkürlich definieren, was Kunst ist oder nicht. Unabhängig von der Frage, ob es tatsächlich eine empirisch nachweisbare Affinität zwischen bestimmten Kunstphänomen und einem wie immer zu definierendem „Volkempfinden“ gibt: Der Künstler kommt gemäß Marcs Gedanken ebenfalls in die Situation, mehr oder weniger willkürlich zu definieren, wie er sich die Erfüllung des „Volkswillens“ vorstellt. Anders gesagt: die Vorstellung des Künstlers als „Deuter und Erfüller des Volkswillens“ ist ein ideologisches Konstrukt, eine Chimäre, die zur Selbststilisierung ebenso wie zur Machterhaltung eingesetzt werden kann. Franz Marc und Paul Klee 1912–1916
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III. Paul Klee: „Diesseitig bin ich gar nicht fassbar“ Es war Marcs buchstäblich fatales Missverständnis, dass er den Krieg für die „Morgenröte“, für die Ankunft des neuen „Geistigen“ hielt und sich selbst als Freiwilliger meldete. Sieht man freilich Marcs Fluchtpunkt des Geistigen im Tode, also im Wunsch, sich vom Leib und vom Materiellen zu befreien, dann ist Marcs Weg in den Krieg und in den Tod konsequent. Erstaunlich ist, dass Klee diesen Weg und damit auch Marcs metaphysische Position posthum ignorierte und sich selbst zum „jenseitigen“ Künstler stilisierte. Klee thematisiert nach Marcs Tod im Jahre 1916 den Zusammenhang zwischen dessen Tod und seiner geistigen Orientierung ein und schreibt in seinem T agebuch: „In Marc steht der Erdgedanke vor dem Weltgedanken (ich sage nicht, dass er sich nicht hätte dahin entwickeln können, und doch, warum starb er dann)“. (Tgb 1008) Klee ordnet Marc dem „Erdgedanken“, also der Orientierung am Irdischen zu, während er für sich den „Weltgedanken“, den Gedanken also, der über das Irdische hinausführt, in Anspruch nimmt53 – eine Einschätzung, die Marcs metaphysische Position in ihr Gegenteil verkehrt. Klee ist, im angeblichen Gegensatz zu Marc, nicht mehr „Species“, erdverhaftet, sondern „Neutralgeschöpf “. Zwar spricht Klee seinem Freund großzügig die Möglichkeit zu, sich „entwickeln“ zu können, um dann zugleich implizit sein eigenes Überleben mit seiner eigenen höheren Entwicklung in Verbindung zu bringen. Selbst vor dem Hintergrund der notorischen Fehleinschätzungen vieler Künstler seitens ihrer Künstlerkollegen54 ist Klees Interpretation der geistigen Haltung Marcs ungewöhnlich verzerrt. Marc hat stets das Metaphysische, die Durchdringung des Scheins zugunsten des „Seins“, letztlich also das „Jenseitige“ und den Tod als Orientierungspunkt seines Denkens für sich in Anspruch genommen – bis hin zu seinen verworrenen Vorstellungen über den metaphysischen Sinn des Krieges und über das „neue Europa“. In krassem Widerspruch zu dieser Position ist für Klee Marcs Tod jedoch gerade die Vollendung seiner Verhaftung am „Erdgedanken“. Man kann Klees Einschätzung des Marcschen Schicksals kalt, überheblich oder zynisch nennen, jedenfalls erfolgt sie aus der großen Distanz eines „Neutralgeschöpfes“. Werckmeister bringt denn auch sein Befremden über diese Passage des Tagebuchs unmissverständlich zum Ausdruck: „Klee konnte so sein eigenes Überleben als eine nicht weniger notwendige Folge seiner diametral entgegengesetzten künstlerischen Konzeption verstehen. Wenn Klee sich dabei selbst als ‚Neutralgeschöpf ‘ ohne ‚leidenschaftliche Art der Menschlichkeit‘ charakterisiert, dann nahm er eine von Nietzsche abgeleitete Attitüde forcierter Kälte, Distanz und moralischer Gleichgültigkeit an.“55 Um Klees Distanzierung von Marc besser verstehen und beurteilen zu können, möchte ich die zentrale Passage aus Klees Tagebuch – in der Klee in komprimierter Form seine metaphysische Position skizziert – ausführlicher zitieren. Klee schreibt im Juli/August 1916, also unmittelbar nach Marcs Tod: „Wenn ich sage wer Franz Marc ist muss ich zugleich bekennen, wer ich bin, denn vieles woran ich teil nehme, gehört auch ihm. 172 I Manfred Clemenz
Menschlicher ist er, er liebt wärmer, ausgesprochener. Zu den Tieren neigt er sich menschlich, Er erhöht sie zu sich. Er löst nicht sich zuerst als zum Ganzen gehörig auf um sich dann nicht nur mit Tieren, sondern auch mit Pflanzen und Steinen auf einer gleichen Stufe zu sehen. Ich suche hierin einen entlegeneren, schöpfungsursprünglicheren Punkt, wo ich eine Art Formel ahne für Tier, Pflanze, Mensch, Erde, Feuer, Wasser, Luft und alle kreisenden Kräfte zugleich. In Marc steht der Erdgedanke vor dem Weltgedanken (ich sage nicht, dass er sich nicht hätte dahin entwickeln können, und doch: warum starb er dann?) Der Übergang der Zeit bedrückte ihn, die Menschen sollten mit ihm gehen. Weil er selbst noch Mensch war, und ein Rest von Ringen ihn fesselte. Der letzte Zustand, wo das Gute noch Gemeingut war, das bürgerliche Empire kam ihm beneidenswert vor. Ich suche mir bei Gott einen Platz für mich, und wenn ich zu Gott verwandt bin, will ich mir nicht einbilden, dass meine Brüder nicht auch zu mir verwandt seien, doch ist das ihre Sache. Ein frauenhafter Drang, jedem von seinem Reichtum mitteilen zu können war ihm eigen. Daß nicht alle folgten, erfüllte ihn mit Bedenken über seinen Weg. Oft ahnte ich bang, er würde sich nach der Gärung zurückwenden zu irdischer Schlichtheit. Nicht aus Totalitätsabsichten diese Welt mitberühren, sondern ganz in sie zurückkehren aus Menschenliebe. Meine Glut ist mehr von der Art der Toten und Ungeborenen [...]. Marc war noch Spezies, nicht Neutralgeschöpf. Ich erinnere mich seines Lächelns wenn meinem Auge irdische Momente entgingen.“ (Tgb 1008, kursiv MC)56 Bei aller freundschaftlichen Zuneigung zu Marc: Klees Tagebucheintragungen sind ein Dokument geradezu mythischer Selbststilisierung und Selbstüberhöhung, gleichsam Arbeit am eigenen Charisma, auf Kosten Marcs. Die Gegenüberstellung, dass Marc das „bürgerliche Empire“ als beneidenswert erachtet (der „Erdgedanke“ also), Klee dagegen einen „Platz bei Gott“ sucht, nicht mehr „Species“ ist (der „Weltgedanke“), ist schlicht abwegig und zeugt von einer gezielten Verkennung Marcs. Marc suchte das „neue Europa“, wenn auch auf nationalistische und tendenziell rassistische Weise, im Krieg gegen die utilitaristische „Verengländerung“ Europas. Das „bürgerliche Empire“ war ihm ein Gräuel, geprägt von Positivismus und Materialismus. Klee dagegen nimmt den „Weltgedanken“ – statt des profanen „Erdgedankens“ – für sich in Anspruch, er ist „Neutralgeschöpf “, das aus „Totalitätsabsichten diese Welt“ mitberührt, statt wie Marc in sie zurückzukehren57. Klee sucht für sich den „schöpfungsursprünglicheren Punkt“, während Marcs Menschlichkeit als „frauenhafter Drang“, von seinem Reichtum mitteilen zu können, entwertet wird. Von den zu Beginn des Zitats angekündigten Gemeinsamkeiten bleibt nichts übrig. Zwei wichtige Punkte sind bei dieser Selbststilisierung Klees zu berücksichtigen, Zum einen: Klee hatte sie nicht ad hoc formuliert, um Marc zu entwerten, sondern hatte bereits seit 1902 sein Selbstbild als „Neutralgeschöpf “ systematisch entwickelt. Seine ursprünglich hedonistische Orientierung wird seit dieser Zeit durch das Ideal der „Askese“ ersetzt. 1905 schreibt er in seinem Tagebuch, dass er eine „raffinierte ökonoFranz Marc und Paul Klee 1912–1916
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mische Taktik“ entwickelt und „das Innerste allerheiligst verschlossen“ habe, um sich vor den „Angriffe(n) den Schicksals“ zu schützen (Tgb. 605). Von nun an entwickelt Klee sein Selbstbild als asketischer, triebfeindlicher (und tendenziell frauenfeindlicher) Künstler, eine Selbststilisierung, die später von seinen Biographen aufgegriffen wird (wobei die misogynen Tendenzen zunächst ausgeklammert werden)58. Nur als gleichsam reiner apollinischer Logos glaubt Klee sich dem „Jenseitigen“, dem „Urgrund“ der Schöpfung nähern zu können und die „Genesis“ in seiner Kunst gleichsam nachvollziehen zu können. Einen Höhepunkt erreichte diese Selbsttransformation zu Beginn des Jahres 1915 in einer geradezu symbiotischen Verschmelzung mit dem Kristallinen und der Abstraktion. Klee sah sich selbst als den „kristallinischen Typus“ und damit als „abstrakt“. Mit einer Art magischer Beschwörung hielt er sich durch die Identifikation mit dem Kristallinischen für unsterblich („Kann ich denn sterben, Ich Kristall?“, Tgb. 951). Unsterblichkeit glaubt er somit durch die – metaphorische – Verwandlung ins Anorganische, durch die Inversion von Lebendigem und Toten, zu erreichen. Der andere Punkt betrifft ein kunstmarkstrategisches Problem, für das allerdings weniger Klee selbst als vielmehr sein Berliner Händler Walden (neben Goltz bis in die 1920er Jahre der wichtigste Händler Klees) verantwortlich war. Nach dem Tode von Macke und Marc und dem Exil Kandinskys hatte Walden wichtige Künstler verloren. So lag es nahe, Klee gleichsam als Nachfolger Marcs „aufzubauen“. Walden entwarf einen Nachruf auf Marc im Sinne eines angeblichen Marc’schen „Erdgedankens“, an dem sich Klee fast in allen Punkten orientierte59. Ob Klee selbst auf diese Idee kam oder ob er einfach Waldens Vorgabe übernahm, ist dabei letztlich unwichtig. Was den Erfolg Klees am Kunstmarkt anbelangt, war Waldens Kalkül erfolgreich. Im Vergleich zum Jahre 1915 stiegen die Verkäufe Klees im Jahre 1916, nach Marcs Tod, sprunghaft an: von 1.742 Mark (1914) und 870 Mark (1915) auf 3.320 Mark (1916), 11.585 Mark (1917) und 9.455 Mark (1918).60 Klees Bemerkungen über Marc waren für sein Selbstbild und seine öffentliche Präsentation als charismatischer, „weltentrückter“ Künstler von zentraler Bedeutung. Wir hatten am Beispiel der zitierten Marc-Texte gesehen, dass Marcs Einstellung ebenso spirituell-religiös war wie diejenige Klees. Auch Marc sucht eine neue Geistigkeit, eine neue Religion, sucht nach der „inneren Wahrheit der Dinge“, bis hin zu der für Klee abwegigen Vorstellung, die neue Geistigkeit mit Hilfe des Krieges in Europa zu realisieren. Vom Festhalten an einem „Erdgedanken“ kann keine Rede sein. Zutreffend mag freilich gewesen sein, dass Marcs Menschlichkeit „wärmer“ war als die distanzierte Neutralgeschöpfhaltung Klees. Marc bezahlte für seine Gleichsetzung der neuen Geistigkeit mit dem Krieg einen hohen Preis: seinen eigenen Tod, Klee seine Neutralgeschöpfpose mit menschlicher Isolierung, möglicherweise sogar mit seinem Tod durch die rheumatische Autoimmunerkrankung Sklerodermie. 61 Selbst seine „Freunde“, schreibt sein späterer Biograph und Freund Grohmann, wussten nicht wirklich, wer Klee war. Klees Frau Lily beklagt seine „geistige Einsamkeit“: „Er ist ja ein geistig so völlig einsamer Mensch und sein Leben ist einsam und entsagungsvoll.“62 174 I Manfred Clemenz
Vor diesem Hintergrund wird es verständlich, warum Maria Marc es ablehnte, dass Klee den Katalog-Text für die Marc-Gedächtnisausstellung im Jahre 1916 verfasste (er wurde schließlich von Hausenstein, einem rückhaltlosen Marc-Bewunderer, geschrieben). Maria Marc, die Klees schwierige Beziehung zu ihrem Mann vermutlich mehr ahnte, als dass sie genauere Kenntnisse darüber hatte, war Klee gegenüber ohnehin skeptisch eingestellt. Sie misstraute Klees Selbststilisierung als weltentrückter Künstler und sprach sogar von Klees „gänzliche(r) Gefühlslosigkeit“.63 Umgekehrt wird Maria Marc von Klee entwertet: Sie könne nicht auf „eigenen Beinen“ stehen. Klee und Marc schrieben sich in der Zeit von 1912–1914 zahlreiche künstlerisch gestaltete Postkarten.64 Anhand dieser gemalten oder gezeichneten Postkartengrüße lässt sich der Stand der künstlerischen Entwicklung von Klee und Marc aufzeigen. Schuster hat diesen künstlerischen Austausch minutiös untersucht und die These formuliert, dass er wesentlich zum Selbstverständnis Klees als Zeichner beitrug und ihm zugleich – im Vergleich zu Marc – noch einmal seine Defizite im Umgang mit der Farbe zeigten. Marcs Kartengrüße (etwa Pferde in Landschaft mit Häusern oder Sonatine für Geige und Klavier) seien für Klee gleichsam Lehrstücke gewesen, um das für den „Linienkünstler“ Klee noch fast unlösbare Problem zu illustrieren, Linie und Farbe zusammenzubringen. Marc konnte Klee zeigen, wie es gelingt, „die mit schwarzer Kontur linear gefassten Bildgegenstände durch unterlegte und ineinander geschobene Farbflächen mit freier Überspielung der Gegenstandskontur zu einer prachtvollen Farbarchitektur zu verbinden“.65 Diese These lässt sich gerade an Klees einziger farbiger Postkarte (Ohne Titel, 1913) belegen: Diffuse über die ganze Fläche verteilte Farb flecken erhalten nur dadurch eine Kontur – zwei Augenpaare –, indem ein Netz von Linien über die Farbflecken gelegt wird, die als solche – anders als bei Marc – keine Struktur haben. Auch in Klees Auseinandersetzung mit der Farbe wird Klees Tendenz zur Selbststilisierung deutlich. Hier – am schwierigsten Punkt seiner künstlerischen Entwicklung – tritt er erneut als „ex nihilo“-Künstler in Erscheinung, wobei auch hier eine Abgrenzung von dem Farbvirtuosen Marc eine Rolle gespielt haben dürfte. Anregungen, die Klee von Marc, aber auch von Delaunay und Macke erhielt, werden jedenfalls nur am Rande erwähnt. Sowohl in Klees Tagebüchern als auch in der ersten von Leopold Zahn verfassten Klee-Biographie (1920) wird die Entdeckung und Aneignung der Farbe während Klees Tunesien-Aufenthaltes 1914 als eine plötzlich hereinbrechende, außeralltägliche Erfahrung, eine unio mystica mit der Farbe, geschildert: „Ich lasse jetzt die Arbeit. Es dringt so tief und mild in mich hinein. Ich fühle das und werde so sicher, ohne Fleiss. Die Farbe hat mich. Ich brauche nicht nach ihr zu haschen. Sie hat mich für immer, ich weiss das. Das ist der glücklichsten Stunde Sinn: ich und die Farbe sind eins. Ich bin Maler.“ (Tgb. 929 o.) Hierzu bemerkt der Klee-Biograph Rümelin: „Das Ziel war dabei, die Nordafrikareise 1914 als einen plötzlichen Durchbruch darzustellen und nicht als einen Prozeß, dem eine lange Auseinandersetzung mit Tonalität und ein Ringen um die Farbigkeit vorausgegangen war. Die Unvorherseh Franz Marc und Paul Klee 1912–1916
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barkeit und Unmittelbarkeit des Ereignisses war dabei von besonderer Bedeutung. Die Zugehörigkeit zum Blauen Reiter war nicht ausreichend, ein Erscheinungsbild zu konstituieren, und deshalb bedurfte es einer anderen und unabhängigen Legitimation. Ein exotisches Reiseziel, wenn auch bei Künstlern seit dem 19. Jahrhundert populär, bot hierfür eine Möglichkeit. Klee konnte somit nicht nur die Aquarelle dieser Zeit als etwas Herausragendes bezeichnen, sondern die Plötzlichkeit des Durchbruchs als eine übernatürliche Gabe darstellen, die ihn in fast religiöser Weise der Welt enthob.“66 Klee hatte die Tunesienreise zusammen mit Macke und Moilliet angetreten: Sie reisten, lebten und malten zusammen („wir waren ja täglich und stündlich beisammen“, Tgb. 926 r.). Vergleicht man die während dieser Reise entstandenen Aquarelle, so fällt auf, dass sie stilistisch große Ähnlichkeiten aufweisen: Dies gilt insbesondere für die Aquarelle von Klee und Moilliet. Während über die Bedeutung Mackes für Klee in der Literatur ausführlich berichtet wurde, gilt dies nicht für das Verhältnis – und die mögliche wechselseitige Beeinflussung – von Klee und Moilliet. Generell wird Moilliet in der Literatur nur wenig beachtet.67 Schmalenbach hat jedoch zu Recht auf die Bedeutung von Moilliet als Aquarellmaler hingewiesen: [...] in der Geschichte des Aquarells seit Cézanne müssen wir diesem Künstler, bei europäischer Betrachtung, einen Platz freihalten. Seine leise, doch unvergleichlich musikalische Stimme darf – da es eine Hierarchie der künstlerischen Gattungen nicht gibt – in der an Stimmen reichen Kunst dieses Jahrhunderts nicht überhört w erden“.68 Eigenartig ist auch Klees Verhältnis zu Macke, zumal in der Literatur häufig die Freundschaft der beiden hervorgehoben wird, etwa bei Grohmann (1954) und in Felix Klees Erinnerungsbuch an seinen Vater (1960). Wie auch Moilliet taucht er in den Tunispassagen von Klees Tagebuch lediglich als herumtollender Junge mit einem Faible für das Bordellviertel von Tunis auf. Darüber hinaus gibt es in den Tagebüchern und Briefen nur lapidare Verweise auf Macke. Lediglich einmal, in den Tagebuchauszügen, die Klee seinem Biographen Hausenstein zur Verfügung gestellt hatte, gibt es einen knappen Verweis darauf, dass Klee sich von Macke beeinflusst fühlte: „Durch Moilliet lernte ich Macke und Kandinsky und Marc kennen und näherte mich ihren Bestrebungen. Die weiteren und internationalen Gesichtpunkte sagten mir zu.“ (Tgb, „Hausenstein I“, S. 501) Während Marc einen Nachruf auf Mackes frühen Tod am 16. September 1914 schrieb, finden wir keine Anmerkungen Klees zu Mackes Tod. Die Behauptung Grohmanns, Klee sei durch den Tod Mackes „erschüttert“ gewesen,69 findet somit zumindest in Klees Aufzeichnungen keine Bestätigung. Interessanterweise findet sich auch in den Erinnerungen von Elisabeth Erdmann-Macke (Mackes Ehefrau) kein Hinweis auf eine „Freundschaft“ von Macke und Klee,70 sieht man von einer lapidaren Bemerkung im Rahmen der gemeinsamen Tunesien-Reise ab.71. Realiter dürfte es so gewesen sein, dass Klee – angesichts seiner bis zur Tunesienreise unbefriedigenden Versuche der Aneignung der Farbe – durch den Farbkünstler 176 I Manfred Clemenz
Macke (der zudem acht Jahre jünger war) irritiert war und versuchte, dessen Einfluss zu bagatellisieren. Während Klee durch Impressionismus, Kubismus, Futurismus und den Delaunayschen „Orphismus“ bis dahin eher vage Anregungen erhalten hatte, war es Macke gelungen, das Form- und Farbrepertoire dieser Strebungen in eigenständige Meisterwerke zu transponieren. Hinzu kommt, dass Macke den metaphysischen Spekulationen Klees und Marcs distanziert gegenüberstand. Die Beispiele Marc, Macke und Moilliet zeigen, dass die menschenfreundliche Pose, mit der Klee von seinen früheren Biographen gern geschildert wird, wohl nur partiell der Realität entspricht. Sein Urteil über seine Malerfreunde war scharf, häufig herablassend (etwa gegenüber Delaunay, die Impressionisten bezeichnet er als „Bodengestrüpp“) und im Falle von Marc von einer Selbststilisierung auf Kosten Marcs geprägt. Ein weiterer, diesmal künstlerischer Eingriff Klees in das Werk Marcs ist erwähnenswert. In dem großformatigen Bild Tierschicksale (1913, 195 x 263,5) sind die komplizierten Beziehungslinien zwischen Marc und Klee wie in einem Brennglas verdichtet. Zunächst einmal hat Marc diesen Titel auf Vorschlag von Klee übernommen. In dem von Strahlen gleich durchbohrten und sich aufbäumenden Reh auf der linken Seite kann man eine Selbstdarstellung Marcs vermuten: Er war bereit, den „Tod für die Idee“ zu sterben. Nach dem Tode von Marc wurde dieses Bild, in dem Marcs leuchtende Farbigkeit und kristalline Abstraktion bei gleichzeitigem gegenständlichen Bezug auf eindrucksvolle Weise miteinander verbunden sind, durch einen Brand schwer beschädigt. Klee unternahm, gleichsam als Akt der Pietät für seinen gefallenen Freund, die Aufgabe der Restauration. Allerdings verwendete er dabei Farben die im Marcschen Original kaum vorkommen. Das gesamte rechte obere Drittel des Bildes ist in dunklen RotBraun-Tönen gemalt, es wirkt somit wie ein Fremdkörper.72 Ein weiteres Mal hatte Klee in das Werk von Marc eingegriffen. Ich möchte meine Überlegungen zu Paul Klee und Franz Marc, zweifellos zwei der bedeutendsten Vertreter der künstlerischen Moderne, zusammenfassen. Wo die Theorien der beiden Avantgardisten über den pragmatischen „Atelierdiskurs“ hinausgehen, sind sie primär Suche nach einem „wahren Sein“, nach einer metaphysischen Überhöhung ihrer Kunst. Marc hat diese Metaphysik in die Richtung einer nationalistisch gefärbten Erneuerung und „Reinigung“ der Kunst und Europas weiterentwickelt, ein Ziel, das sich für Marc nur über den europäischen Krieg erreichen lässt. Das Konzept einer zukünftigen Kunst bleibt bei Marc vage: Sie soll „rein“ und damit „abstrakt“ sein. Klee dagegen entwickelte eine gleichsam private Metaphysik des „Jenseitigen“, eine unio mystica mit der Farbe („ich und die Farbe sind eins“), dem „Kristall“ als Kunstsymbol des Abstrakten („Ich Kristall“), mit dem „Urgrund“ des Kosmos, die ihm ermöglichte, sich als weltentrückter charismatischer Künstler zu stilisieren. Klee braucht den Krieg nicht, weil er die „Genesis“ die Schöpfung durch seine Kunst nachvollziehen konnte. Die von Klee untersuchten bildnerischen „Gesetze“ – Variationen der Themen Linie, Tonalität und Farbe – sind für ihn nur Notbehelf. Über der „Konstruktion“ steht für ihn die „Intuition“ (Kunst im „obersten Kreis“, an der der Intellekt „kläglich“ scheitert) und diese ist wesensmäßig mit der Weltanschauung verbunden. „Das Formale muß mit der WeltFranz Marc und Paul Klee 1912–1916
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anschauung verschmelzen“ (Tgb. 1081). Bei der Weltanschauung wiederum geht es um die Frage des Diesseitigen oder Jenseitigen: „Auf welcher Seite der Ton liegt, ... daran erkennt man die jeweilige Weltanschauung. Und Weltanschauungskomplexe sind die höchsten Ordnungen, über allem stehend, während die spezifischen Stilgebiete sich unterordnen.“73 Einer derartigen transzendenten weltanschaulichen Programmatik waren beide, Klee und Marc, bis in den Kern ihres künstlerischen Schaffens hinein gleichermaßen verhaftet. Marcs und Klees Metaphysik kann als Flucht vor der profanen sozialen und politischen Realität, psychologisch gesehen als deren Verdrängung, verstanden werden. In Marxscher Terminologie würde es sich um gesellschaftlich notwendiges falsches Bewusstsein, um Ideologie in der ursprünglichen gesellschaftstheoretischen Bedeutung des Begriffs handeln. Es entspricht dem Bewusstsein und der Ideologie des Bürgertums zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Insbesondere bei Marc wird – ähnlich wie bei Thomas Mann – deutlich, wie das Interesse an einer materiellen Hegemonie in Europa in das Interesse an einer geistigen Hegemonie verwandelt wird. Dabei bleibt die Frage offen, weshalb zur Verwirklichung dieses Ziels Krieg erforderlich ist. Die politischen Apolo geten des Deutschen Reiches verschleierten den Krieg in der Regel als Verteidigungskrieg. Marc dagegen hat die geistige Hegemonie im Blick: Der Krieg wird um der „Reinigung“ willen geführt. Nur wenn Europa vom Geist des Materialismus und Utilitarismus, vom „kranken Blut“ gereinigt wird, wird sich in Europa die „Geistigkeit“ der germanischen Rasse unter deutscher Führung durchsetzen können. Will man bei Marc nicht einfach – in grober Verkürzung - tiefsitzendes chauvinistisches Ressen timent oder gar faschistoides Denken diagnostizieren, sondern eher eine wie immer problematische Anpassung an den Zeitgeist, so bleibt als unaufgelöster Rest noch immer ein stupend irrationales, teilweise verworrenes Gedankengebäude. Klee ist dieser Irrationalität weitgehend dadurch entgangen, dass er – Vielleser, der er war – sich ein halbwegs plausibles metaphysisches System zimmerte. Marc und Klee erscheinen so als zwei unterschiedliche Typen von Künstlern, die an der intellektuellen Auseinan dersetzung mit der Ideologie und Macht der gesellschaftlichen Verhältnisse s cheitern.
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Anmerkungen 1 Dies gilt nicht für Kandinsky, dessen Bedeutung Klee stets anerkannte. Dies mag damit zusammenhängen, dass beide Künstler eine jahrzehntelange Freundschaft verband und beide zusammen am Bauhaus, erst in Weimar, dann in Dessau tätig waren. Klee veröffentliche u. a. einen Beitrag zur Jubiläumsausstellung anlässlich des 60. Geburtstags von Kandinsky (1926). Neben der Kürze dieses Beitrags ist auffällig, dass Klee in ihm nicht auf das künstlerische Schaffen Kandinskys eingeht, sondern nur auf die „Zusammenhänge des Gefühls“ (in: Geelhaar 1976, S. 127–128). Ähnlich wird auch die Bedeutung Picassos von Klee anerkannt: Klee hält jedoch immer eine respektvoll-kritische Distanz zu dem „Spanier“ ein (vgl. hierzu Hopfengart 2010). 2 Klees Vorstellung, „Selbstlehrling“ zu sein, formuliert Klee in der Tagebucheintragung 425, in der er seinen Widerwillen gegen die „epigonische Zeit“ ausdrückt, in der er lebt. Generell ist bei Klees Tagebüchern zu beachten, dass sie von Klee nachträglich redigiert wurden, so dass die Zeitangaben nachträglich eingefügt sein können, sie also unzuverlässig sind. Zur nachträglichen Datierung der Kleeschen Tagebücher vgl. Geelhaar 1976. Denkbar ist somit, dass der Verweis Klees auf Europa, von dem er nichts wissen will, später eingefügt wurde und als Distanzierung von Marcs Europabegeisterung verstanden werden kann. 3 Werckmeister spricht bei Marc von einer „metaphysischen Erfahrung der Natur“, einer „mystischen Erkenntnis der Schöpfung“, bei Klee von einer „parareligiösen Metaphysik“ (Werckmeister 2008, S. 42 f.). 4 Angesichts der engen Beziehungen zwischen den Ehepaaren Klee und Marc ist anzunehmen, dass Klee Marcs Feldbriefe an seine Frau entweder selbst gelesen hat oder aber von Maria Marc über deren Inhalt informiert wurde. Marc selbst verweist auf diesen Zusammenhang, d. h. auf eine teilweise heftige Diskussion, die es offenbar zwischen Klee, seiner Frau Lily und Maria Marc gegeben hat. Am 10.5.1915 schreibt er an Klee. „Du, deine Frau und Maria, – Ihr scheint Euch ja in einem richtigen erbitterten Frontalkampf der Meinungen gegenüberzuliegen; ich kenne Maria ja gut: wenn sie einmal eine ideale Forderung aufstellt, da lässt sie nicht locker“ (zit. nach Meißner 1989, Nr. 254). Klee war, wie die Marc-Biographin Förster anmerkt, „ein scharfer Beobachter der Briefdiskussion des Ehepaares Marc an Ostern 1915, in die er ungewollt und entgegen seiner angeborenen Zurückhaltung hineingezogen wurde“ (Förster 2000, S. 291). Klee wiederum äußert sich ausgesprochen negativ über Maria Marc: „An Franz Marc musste ich ins Feld schreiben, länger und viel ernsthafter als mir liegt. Ich erklärte mein Bedauern, daß ich mich mit seiner Frau zu kunsttheoretischen Auseinandersetzungen herbeigelassen hatte ... Was war der Anlass zu solchen unnützen und für den im Feld stehenden pinsellosen Maler beunruhigenden Geschichten? Die
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Schwäche seiner Frau, die nicht auf eigenen Beinen stehen konnte, und der Einfluß eines Propheten Kaminski, der in der dortigen Gegend wirkt und einfließt“ (Tgb 961, Frühjahr 1915). Anders zunächst Emil Nolde: Vor seiner Selbststilisierung als „nordischer Künstler“ in den dreißiger Jahren übte Nolde – u. a. in Kontext seiner Südsee-Reise – scharfe und zutreffende Kritik an Kolonialismus und Imperialismus. Auch am Beispiel Noldes lässt sich die Tendenz der Avantgarde zur Irrationalität zeigen: in der NS-Zeit entwickelte Nolde eine rassistisch orientierte Theorie der „nordischen“ Kunst. v. Beyme spricht vom weitverbreiteten „Irrationalismus“ der Avantgarde, was eine „libertär-anarchoide“ Position nicht ausschloss (v. Beyme 2005). Liebhabern der Kunst Marcs und Klees mag meine Darstellung dieser beiden bedeutenden Künstler schroff, vielleicht sogar ungerecht erscheinen. Dies liegt nicht in meiner Absicht. Ich versuche vielmehr textkritisch die künstlerischen und theoretischen Positionen dieser beiden Künstler, zugleich auch ihre spannungsvolle freundschaftliche Beziehung in der Zeit zwischen 1912–1916 herauszuarbeiten, wobei auch das Problematische dieser Positionen deutlich wird. Ich wende mich damit auch gegen oberflächliche Hagiographien, die beiden Künstlern unkritisch eine positiv verstandene idealistische Einstellung zuschreiben. Wenn z. B. Lankheit den „sittlichen Ernst“ des „Europäers“ Marc lobt, so geht dies leider an der Realität vorbei. Marcs Texte zeigen klar, dass sein Europäertum nationalistisch und teilweise chauvinistisch gefärbt war. Zitko 2012, S. 28 ff. Brief von Paul Klee an Franz Marc, 3.2.1915 (Archiv Zentrum Paul Klee, Bern). In fast kränkender Weise fügt er hinzu: „Für mich ist ein Krieg eigentlich nicht mehr notwendig gewesen, aber vielleicht für die Anderen alle, die noch so zurück sind.“ „Man verlässt die diesseitige Gegend und baut dafür hinüber in eine jenseitige, die ganz ja sein darf “ (Klee, Tgb 951). Hünecke 2010, S. 125. Zur Bedeutung der ideologischen bzw. „phänomenologischen“ Dimension der Entstehung des Faschismus vgl. Clemenz (1974, 1976). Hugenberg war Chef eines äußerst einflussreichen Medienkonzerns („Hugenberg-Konzern“) und in der Weimarer Republik Vorsitzender der antidemokratischen Deutsch-Nationalen Volkspartei. Filippo Marinetti (1909/2013), Manifest des Futurismus.. Zit. nach Meißner 1989, Nr. 248. Zit. nach Hünecke 2010, S. 125. Zit. nach Ofzarek/Frey 2010, S. 212. Brief an Franz Marc, 3.2.1915, Paul-Klee-Zentrum Bern. Die drei einleitenden Artikel des Almanachs wurden von Marc verfasst. Klaus Lankheit (Hrsg.), Der Blaue Reiter 1912/1987, S. 30. Ebd. A.a.O., S. 31. Ebd., S. 31 f. Diese Bemerkungen von Marc sind aus zweierlei Gründen bemerkenswert. Einerseits waren Kandinsky, Kubin, Münter und Marc selbst 1911 aus der Neuen Künstlervereinigung München (NKVM) ausgetreten, um eine konsequenter avantgardistische Position zu verwirklichen. Andererseits waren in der zweiten Ausstellung des Blauen Reiter vom 12.2.–18.3.1912 gerade auch die gerügten „Kubisten“ vertreten, nämlich Braque und Picasso. Außerdem ist auch Delaunay mit einem Bild (Tour Eiffel) im Almanach vertreten. Zugleich sucht Marc in der Vorkriegszeit, zunächst durchaus vergleichbar mit Klee, nach der „inneren Wahrheit der Dinge“ und versucht eine Art pantheistischer Einfühlung in den kosmischen Gesamtzusammenhang zu finden: „Ich suche mein Empfinden für den organischen Rhythmus aller
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Dinge zu steigern, suche mich pantheistisch einzufühlen in das Zittern und Rinnen des Blutes in der Natur, in den Bäumen, in den Tieren, in der Luft ...“ (zit. nach Klingsöhr-Leroy 2010, S. 156, 165). Bekanntermaßen waren in der Vorkriegszeit die Tiere für Marc Sinnbild der von ihm angestrebten Harmonie der Welt. Wir werden sehen, dass Klee eine gewaltsame Uminterpretation Marcs versucht, indem er ihn als einen Künstler darstellt, der – angeblich im Gegensatz zu seiner eigenen transzendenten Orientierung – noch dem Irdischen verhaftet ist. In seinem Distanzierungsversuch gegenüber Marc schreibt Klee u. a., er, Klee, suche „einen entlegeneren, schöpfungsursprünglicheren Punkt, wo ich eine Formel ahne für Tiere, Pflanzen, Mensch, Erde, Feuer, Wasser, Luft und alle kreisenden Kräfte zugleich“ (Tgb. 1008). Diese offensichtliche Nähe zu Marc legt die Vermutung nahe, dass es gerade diese Nähe war, die Klee bewegte, die Differenz zu Marc zu betonen. Der Blaue Reiter 1912/1987, S. 34 f. Marc: Zur Kritik der Vergangenheit, zit. nach Meißner 1989, S. 260. A.a.O., S. 259, kursiv. MC. Zit. nach der Faksimile-Wiedergabe in Gidion-Welcker (1961/2007), S. 51. Zit. nach Förster 2000, S. 157. Seine reichlich dilettantischen soziologischen Spekulationen über die soziale „Pyramide“ dürfte Kandinsky indessen tatsächlich der Anthroposophie entlehnt haben. Zit. nach Meißner 1989, S. 262. Dass Helena Blavatskys spiritistische Experimente sich später als platter Schwindel erwiesen, dürfte Marc nicht mehr bekannt geworden sein. Zit. nach Lankheit 1978, S. 158 f. Zit. nach Lankheit 1978, S. 160. Zit. nach Lankheit 1978, S. 161, 166. Wahrscheinlich, wenn auch nicht direkt belegbar ist allerdings, dass Klee sich mit Nietzsches Zarathustra beschäftigte. Zit. nach Meißner 1989, S. 270, kursiv. Franz Marc. Zit. nach Förster 2000, S. 239. Zit. nach Meißner 1989, S. 272. Ebd. Zit. nach Förster 2000, S. 233. Zit. nach Lankheit 1978, S. 189. Noch 1912/13 übte Marc Kritik an der „plebejischen Wissenschaftsgläubigkeit“, die die Menschen vom Denken abhalte. Zit. nach Förster 2000, S. 267, 269. Förster 2000, S. 276. Ebd., S. 275. Ebd., S. 279. Im Folgenden zitiert nach Lankheit 1978. In diesem Zusammenhang findet sich eine zumindest implizite Spitze gegen Klee: „Aber die Eckensteher des europäischen Dramas haben nicht unsere Achtung und werden keinen Gewinn von ihrer Ruhe haben. Sie gaben ihren Leib nicht der Läuterung des Krieges preis; ihr Gemüt brannte nicht im Fegefeuer des Krieges ...“ (Aphorismus Nr. 22). Noch deutlicher wird er im Aphorismus Nr. 26: „Viele, die die innere Glut nicht haben, werden frieren und nichts fühlen als eine Kühle und in den Ruinen ihrer Erinnerungen wohnen.“ Hier fällt erneut die Nähe zu religiös-sektiererischen Positionen auf. Gemäß den Zeugen Jehovas wird nach Ankunft der „letzten Tage“ von Jesus ein „Endzeitkrieg“ geführt, in dem schließlich die Macht Satans gebrochen wird. Nach dem Krieg wird ein tausendjähriges Reich göttlicher Herr-
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schaft anbrechen. Die Nationalsozialisten, obwohl sie die Zeugen Jehovas verfolgten, hatten kein Problem, sich des Topos eines tausendjährigen Reiches zu bedienen. Dasselbe gilt auch für Klee. v. Beyme spricht von seiner „fatale(n) Liebe zur Wissenschaft“. Viele seiner wissenschaftlichen Begründungen seien nach Urteilen von Fachleuten „nicht nur falsch, sondern einfach unsinnig“ (v. Beyme 2009, S. 24). Hier wird deutlich, dass Marc sich – ähnlich wie auch Klee – fast wörtlich auf die Gedankengänge von Worringers Abstraktion und Einfühlung bezieht. Bemerkenswert ist an dieser Stelle, dass Marc sich deutlich von H. St. Chamberlain – ein zu Beginn des 20. Jahrhunderts vielgelesener nationalistischer A utor – unterscheidet. Chamberlain geht ähnlich wie Marc von der Überlegenheit des Germanentums aus und postuliert eine für dieses spezifische Kunstform. Ähnlich wie bei Marc steht die „Seelenwahrheit“ bei Chamberlain vor der Form. Anders als bei Marc allerdings muss für Chamberlain die germanische Kunst „naturalistisch“ sein: „echte germanische Kunst muss naturalistisch sein, wo sie es nicht ist, ist sie durch äußere Einflüsse aus ihren eigenen, geraden, in den Rassenanlagen deutlich vorgezeichneten Wegen hinausgedrängt worden“ (1899/o. J., S. 1180). Erkennbar ist, dass die Kunstideologie des Nationalsozialismus auf Chamberlain – der auch im Bayreuther Wagner-Zirkel einflussreich war – zurückgreift. Diese Dichotomie zwischen Erde und Welt wird später den Ausführungen Heideggers in Der Ursprung des Kunstwerks (1936/2008) zugrunde liegen. Sieht man einmal von den regelrechten Feindschaften zwischen Künstlern ab, so sind die Einschätzungen der Künstler untereinander erfreulicherweise häufig auch durch pointierten Witz charakterisiert. Bekannt ist etwa Chagalls Bemerkung über Picasso: Picasso sei zwar ein Genie, schade sei nur, dass er nicht malen könne. Werckmeister 1981, S. 39. Allerdings ist zumindest Klees theoretische Position derjenigen Marcs nicht „diametral entgegengesetzt“. Vielmehr nimmt Klee Marcs Position für sich in Anspruch. Unterschiede zwischen den beiden Positionen beziehen sich im Wesentlichen auf den Krieg, dem Klee mit der distanzierten Haltung des „Neutralgschöpfs“ entgegentritt.. Werckmeister weist darauf hin, dass Klee auch einen Nachruf auf Marc verfasste, der allerdings auf Betreiben von Marcs Witwe nicht veröffentlicht wurde (Werckmeister 1982).. Der „Weltgedanke“ umfasst bei Klee den Kosmos, die Schöpfung und den letztlich transzendenten „Urgrund“ der Dinge. Auf die misogynen Tendenzen Klees hat am nachdrücklichsten Werckmeister hingewiesen. Er bezeichnet z. B. Klees frühe Radierung Weib und Tier (1904) als „misogyne Travestie“ (2008, S. 28). Eine weitere frühe Radierung Weib, Unkraut säend (1903/4) zeigt – in Anlehnung an ein Motiv von Félicien Rops - die Frau als Verkörperung des Unheils in der Welt. Vgl. Werckmeister 1981, S. 37 f. Werckmeister merkt zutreffend an: „Klees Selbstklärung seines Verhältnisses zu Marc war so literarisch vorgeprägt, wie es ihre hochstilisierte Niederschrift vermuten lässt. Aber die Quellen waren nicht mehr Marcs Texte.“ (kursiv. MC, a. a. O., S. 38). Werckmeister 1981, S. 83. Die mögliche psychosomatische Dimension dieser noch immer rätselhaften und unheilbaren Erkrankung habe ich an anderer Stelle ausführlich dargestellt (Clemenz 2012). Generell wird bei Autoimmunerkrankungen mit psychischer Mitverursachung angenommen, die freilich im Falle Klees objektiv nicht nachweisbar ist. Zu Klees Erkrankung vgl. insbesondere Suter 2006. Brief an Grohmann, zit. nach Suter 2006, S. 95. Vgl. Werckmeister 1982, S. 78. Zumeist wurden die Postkarten von den Frauen der beiden Künstler abgesandt, während Klee und Marc jeweils die Illustrationen vornahmen. 17 der erhaltenen Karten wurden von Marc, 7 von Klee verschickt. Schuster 2010, S. 25.
Franz Marc und Paul Klee 1912–1916
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66 Rümelin 2004, S. 48, kursiv. MC. 67 In diesem Zusammenhang sei insbesondere auf die Moilliet-Monographie von Ammann 1972 hingewiesen. 68 Schmalenbach 1997, S. 152. 69 Grohmann 1954, S. 56. 70 Erdmann-Macke 1962/2009. 71 Ähnlich auch Güse 1986. 72 Eine Aquarellvorzeichnung zeigt, dass der rechte obere Teil des Bildes deutlich von Klees Version abweicht. 73 Bildnerische Mechanik, Vorlesung vom 2. Juli 1924, zit. nach Geelhaar 1972, S. 31.
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Marc Ries
Design und DeSign
1 vgl. Farbabb. VIII.
Zwei Akte, die im Begriff Design angelegt sind, sollen in diesem Text besprochen werden: Die Designation, die Bezeichnung von Gestaltung als ihr Eigensinn, und die DeSignifikation, die Entleerung von Bedeutung als ein zeitgenössischer Auftrag.
Design In Portugal ist an vielen Orten die Kulturtechnik der Fliese (Azulejo) in ihrer Anwendung auf Architektur zu sehen. Die islamische Kunst polychrom-glasierter Keramikfliesen in ihrer Erweiterung durch die italienisch-flämische Majolika-Technik wird im 16. Jahrhundert eingeführt. Im 19. Jahrhundert entwickelt sich die Fliesenproduktion zu einer industriellen Fertigungsweise an erstaunlich vielen Standorten, daher ist, so die Vermutung, auch auf der Seite des Gebrauchs von einem überindividuellen gesellschaftlichen Begehren nach der Verwendung der Fliesenmuster an privaten Orten auszugehen. Ab der Mitte des Jahrhunderts wird die Verkleidung der Fassaden und Innenwände von bürgerlichen, kommerziellen, kommunalen und städtischen Bauten im ganzen Lande umgesetzt. Fassaden, Treppenhäuser, Funktionsräume, Wohnräume, sie Design und DeSign
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alle werden mit Fliesen-tapetes ausgelegt. Das Bemerkenswerte an der zunehmenden Ausgestaltung der Häuser mit den vielfältigen, meist nicht-figurativen Mustern ist die gleichzeitige Anwendung der Farbfliesen für das Innen und das Außen. Es scheint, als ob alle sichtbaren Flächen und bewohnten Räume zugleich auch Träger für die von den Azulejos hervorgebrachte Ästhetik sein sollen. Im Wohnbau treten Azulejos niemals alleine oder als abgrenzbare Werkgruppe auf, sondern stets als repetitiv-serielle Musterstruktur.1 Ihr Prinzip folgt jener der manufakturiell, später industriell gewährleisteten, beliebigen Reproduzierbarkeit eines Musterbildes. In den Innenräumen wurde häufig ein Fliesenband an der Verbindung der Wand zum Boden aufgesetzt (Abb. 2). Hier wechseln sich oftmals nur zwei Motive in einer Reihe ab, verweisen jedoch stets aufeinander bzw. nehmen Kontakt auf mit Elementen, die an den Rändern oder Ecken der Fliesen angebracht sind. Diese beiden sich wiederholenden Motive im Band werden gerahmt von identischen Fliesen oben und unten, die sowohl zu den Motivfliesen, also zur Mitte hin, als auch zur ihrer Außengrenze zur Wand hin gemalte Rahmen aufweisen. Mit dieser ikonischen wie tatsächlichen Rahmung passiert eine Verstärkung der Bildhaftigkeit nach innen und ein Abschließen der Azulejo-Wirkung nach außen, also hin zur normalen Wand und zum Holzboden. Dieses Prinzip wird auch an den Fassaden angewandt. Hier jedoch dominiert zumeist ein Muster, das sich zuallererst in der gespiegelten Anwendung von zwei Motiven in einer Kombination aus vier Fliesen erschließt. Das heißt, die einzelne Fliese benötigt den Kontakt zu drei anderen (einer identischen und zwei spiegelverkehrten), um ihr eigenes partielles Bildprogramm zu einem Ganzen hin zu verwirklichen. Darüber hinaus ist natürlich auch der Bildplan mit den vier Fliesen nicht abgeschlossen, sondern alle vier gehen weitere Kombinationen mit den umliegenden Fliesen ein und bilden so stets neue Bildpläne bzw. Bildbündnisse aus, eine Azulejos-Gesellschaft (Abb. 3 und 4). Auch wenn bloß eine Fliese mit einem Motiv zur Gestaltung repetitiv eingesetzt wird, so ist diese so figuriert, dass ihre ikonische Vollständigkeit nur mit den sie umgrenzenden Fliesen möglich wird. An den Fassaden passiert die Rahmung der Azulejos meist durch die bereits vorhandene, jedoch starke Betonung der Gliederung der Fassade, durch die breiten Fensterrahmen, die Kennzeichnung der Stockwerke und die Abgrenzung hin zum Boden durch eine Art Podest (siehe Abb. 5). Diese Markierungen, deren Form sicherlich ihrer Funktion folgt, sind zumeist aus dem gleichen Stein gefertigt, weisen also im Gegensatz zur Rahmung der Innenräume keine ästhetische Fertigung auf, sind einfach nur neutrale, jedoch wirkintensive Rahmungen. Die raffinierte Maltechnik der Fliesen beschwört mit künstlichen Schatten und komplexen Verbindungen organisch-geometrischer Formen eine reliefartige Wirkung, verstärkt dadurch ihre Anwesenheit und Vielteiligkeit, so dass sie sich wie eigene Körper an der Wand vorfinden. Gerade die floralen körperlichen Motive gewinnen auf diese Weise eine Präsenz, die sie weniger zum verschönernden Dekor als zu Mitbewohnern werden lässt, vitalen Mitbewohnern, die in ihrer Versammlung ihren Zeichenkörpern einen stets kollektiven Sinn überantworten.2 Sieht man sie von weitem, wirken sie wie ein organisches Gewebe, das aus vielen Einzelgliedern eine komplexe, oftmals irri186 I Marc Ries
sierende visuelle Aussage trifft. Auch die Reduktion auf eine oder wenige Farben, blau, gelb, grün, rotbraun etwa, verstärkt die Lebendigkeit des Phänomens. Die Innenräume werden auf diese Weise belebt, sie eröffnen den Bewohnern, dass sich etwas Zusätz liches in ihnen eingerichtet hat. Gestaltung ist hier mehr als bloße Formgebung des Ungestalteten; sie ist die Hervorbringung einer zweiten Seinsebene, einer völlig auto nomen Anwesenheit plastischer Bildlichkeit, die sich dem Vorhandenen hinzugesellt, als „eigendynamisch“, „selbstzweckhaft“ auftritt, den vorhandenen Raum also gerade nicht umformt oder ausgestaltet, ja ihn – im Falle der Fassade mit der völligen Ver fliesung der Hauswand – gar zur Gänze überschreibt, ihn substituiert.3 Das FliesenDesign reduziert die Stofflichkeit der Wände zu einem Träger, designiert, ernennt sich selber zur unverfügbaren Gegenwart eines Designs, das den Alltag begleitet – ohne jedoch Autoren-Kunst sein zu wollen. Design meint also in diesem ersten Verständnis das E inrichten einer zweiten Existenzform, die in ihren Bildprogrammen eine Selbst bezeichnung vornimmt; sie bezeichnet sich selbst, komplementär zur ersten Gestaltung, als souveräne Parallel-Gestaltung. Die Fassaden sind in diesem Verständnis der Öffentlichkeit zugewendete Manifestation einer anderen Existenz, ästhetische Existenz eines Anderen, sie eröffnen „einen sozialen Raum, in dem sich ständig perzeptiv-affektive Relationen“ ausbilden.4 Dadurch, dass sehr viele Fliesen zu Mustern zusammengefügt werden, wirken die Flächen zugleich geschlossen und pulsierend. Sie verweigern jede stumpfe, einfache Aussage („wir sind Fassaden mit lieblichen Mustern“) zugunsten eines sozialen Angebots zur Teilnahme an ihrer „Lebendigkeit“ als Kollektiv, ihrer Unverfügbarkeit.5 Es geht nicht darum, der gefährdeten Identität der bürgerlichen Bewohner eine ästhetische Unterhaltung, also Ablenkung im Alltag beizufügen. Immer ist davon auszugehen, dass es zahllose Häuser sind, die innen und außen mit diesen „Bildakten“ und der Gemeinschaftsform der Fliesen ausgestattet sind, jedes anders als das andere, dennoch bilden sie alle gemeinsam ein „soziales Environment“, ja, eine Gesellschaft aus. Bei Sonnenlicht erstrahlen die verfliesten Wände, werfen das Licht großzügig zurück und ermöglichen dieserart eine Illumination des gesamten Stadtkörpers. Die Azulejos, ihre industrielle Produktion, ihre serielle Anwendung und ihr Eigensinn eignen sich gut, ein Verständnis von Design einzuführen, das dem der praktischen Formgebung entgegengesetzt ist. Da sie keine oder nur wenige praktische Bindung zu dem sie ermöglichenden, tragenden Material, den Wänden, dem Haus, haben, markieren sie sehr präzise ihre Unverfügbarkeit.6 “Much more important than the material in itself was the way in which it was applied. It transformed architecture by adapting to it, [...] not by modifiying the outline, but by altering the surfaces and the urban space. This was an apparent alteration, an optical illusion produced by the mirror of the glaze, which acted beyond the immediate level of decoration and influenced the structures themselves, imparting dynamism to large façades, to sun and humidity [...].“7 Formgebung im Artefaktischen ist eine praktisch-notwendige, voraussetzungsreiche Arbeit der Gestaltung, Einfügen einer Eigenlogik, eines Eigenlebens des Formaktes in der Gestaltung ist die am Gesellschaftlich-Imaginären teilhabende Arbeit des Designs. Design und DeSign
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2 Fliesenband in Innenraum, vgl. Farbabb. IX.
3 Zwei Fliesenmuster: das Glockenblumenmotiv hat zwar nur zwei Grundelemente, durch die Spiegelung und die Zusammenlegung von vier Fliesen wird eine Kombination sichtbar, die einen nunmehr sehr realen Innenraum entstehen lässt! Die neu hinzugefügten unteren Fliesen sind demgegenüber völlig redundant und bestätigen leider auch das Vorurteil diskomplexer Industrialisierung, eine Fliese genügt sich sozusagen selbst, wiederholt sich beliebig und hat banale Anschlussvarianten. Wichtig auch der abgebrochene, nicht in der Renovierung fortgeführte Rahmen, vgl Farbabb. X.
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4 Hier ist die blaue Rahmung des Musters prägnant. Der durch die heraus- gefallenen Fliesen nunmehr sichtbare Untergrund zeigt selber die Grundform der Fliesen an, als ob der Verputz oder die darunterliegende Hauswand sich immer schon in den Dienst der Fliesen hat stellen müssen, ja dies auch ihre einzige Aufgabe sei, vgl. Farbabb. XI.
5 Betonung der Gliederung der Fassade durch aus Stein geformte breite Fensterrahmen, die Kennzeichnung der Stockwerke und die Abgrenzung hin zum Boden durch ein Band aus Steinplatten, vgl. Farbabb. XII.
Design und DeSign
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DeSign An sehr vielen Orten wird heute von Design gesprochen, vieles wird zusätzlich zu den Artefakten als zu „designen“ empfohlen, ein Genom etwa, ein Projekt oder eine Landschaft. Die „Trajektorie der Artefaktualität“, wie sie Klaus Krippendorfer vorsieht, verlässt sehr schnell die gegenstandsbezogene Artefaktenwelt, um „zunehmend flüssige, unbestimmbare, immaterielle“ Zonen zu erschließen: Dienstleistungen, Markenidentitäten, Interfaces, Netzwerke, Projekte, Diskurse.8 Alle diese werden zu „neuen Artefakten“, für die nicht eine „Formgebung“ Maßgabe ist, sondern das Hervorrufen kommunikativ-bedeutungsvoller Austauschszenarien.9 Wenn wir davon ausgehen, dass Begriffe das, was sie begreifbar machen, stets auch selber mit hervorbringen, dann ist der Begriff Design eine aufschlussreiche Vokabel für bestimmte Zäsuren in Kultur und Gesellschaft. In dem mit den Azulejos aufgezeigten Design galt es, das Bezeichnen, Designieren einer eigenen Welt zusätzlich zu jener praktischen Gestaltung von Dingen zu markieren – als „transformative Adaptation“ eines Bestehenden. In der Warenwelt wird die Ware demgegenüber mit einem industriell verfertigten ästhetischen Supplement, einer added value in der Gestaltung besetzt, um ihren Ausstellungswert auf den Märkten zu steigern. Entwicklungen im zeitgenössischen Design hingegen scheinen in einer paradoxen Intervention gefangen, produzieren sie doch zusätzlich zu dieser added value eine Art reduced oder gar negative value. Zu diesem Verständnis bedarf es einer kleinen historischen Ausführung. Ein zentraler Begriff, der dem des Design vorausgeht, ihn stets begleitet hat, ist derjenige der poesis. In der aristotelischen Metaphysik wird poesis als „Hervorbringung“ verstanden.10 Ein bestimmtes Wissen – ein handwerkliches, technisches, mathematisches oder künstlerisch-gestalterisches Wissen – ermöglicht das Hervorbringen von etwas Neuem in Funktion und Form.11 Hier ist das Wissen eines der Schöpfung, man weiß, wie sich Welt anders hervorbringen und gestalten lässt, denn in ihren natürlichen Prozessen und in diesen Hervorbringungen verweist das Hervorgebrachte auf nichts anderes als auf sich selbst als artefaktische Wirklichkeit. Wichtigstes Kriterium der poesis ist ihre Verifikation im Gebrauch, das angewandte Wissen bestätigt sich in der Nützlichkeit der Produkte innerhalb der von ihnen auf diese Weise mitgestaltenen – ökonomischen, technischen, sozialen – Welten. Doch bekanntlich ist dieses Wissen um die Hervorbringung in einer auf Arbeitsteiligkeit gebauten Industriegesellschaft und ihren funktionalen Differenzierungen für einen Großteil der Beobachter und Benutzer „verloren“ gegangen, unnachvollziehbar geworden, ja angstbesetzt. Wir nutzen zwar diverse technische Artefakte in blinder Manier, doch eigentlich lassen die Dinge uns funktionieren, nicht wir sie. Diese Verlustgeschichte resultiert wesentlich aus dem Zusammenfallen artefaktischer Welten mit der Welt der Werkzeuge und Techniken, ursprünglich der mechanischen, dann der elektronischen und digitalen. Das Zusammenwirken von Herstellendem und Hergestelltem, ausgezeichnet zu beobachten an massenmedialen Produkten (etwa von Schaltkreisen und sinnlich vernehmbaren Tönen im/aus dem Radio), reduziert das Wissen auf die Bedienung und provoziert dieserart neue Design 190 I Marc Ries
aufgaben. Werkzeuge waren stets gestaltet, sie waren immer wieder auch mit einer extrovertierten added value ausgestattet, die auf externe Bedeutungskreise verwies. Die notwendige Form und die applizierte Semantik hatten jedoch keine oder wenig inhaltliche Verbindlichkeiten in ihrer Liaison, gut zu beobachten etwa an den Designvariationen für Automobile, der Ummantelung einer aufwendigen schweren Mechanik mit oftmals verspielter Eleganz. Ein bestimmtes Design der Gegenwart jedoch muss solche verbindliche Aufgaben für Artefakte übernehmen, die ihre Arbeitsweise gerade nicht „ausdrücken“, also etwa keine Räder haben und sich dennoch fortbewegen.12 Es fällt auf, dass beinahe überall dort, wo der Begriff Design in neue Kontexte gesetzt wird, ein bereits Vorliegendes, bereits Gestaltetes, Komplexes existiert, das nun über (s) ein erneutes Design-Werden, sein Re-Design also, in eine andere nicht nur Sichtbarkeit oder Anschaulichkeit und Sinnlichkeit, sondern Beherrschbarkeit, Verstehbarkeit, besser in eine Kohabitation zurückgeholt werden soll.13 Jemand, der in diesem Sinne designt, versucht – im Verbund mit seinen Stakeholdern –, die Dinge nach seinen Vorstellungen umzuformen. Die Strategie ist eine völlig andere. Design wird zur Triebkraft der Verdunkelung einer bestimmten Seinsform – der Technik – zugunsten einer Reduktion auf „Usability“ im Zusammenspiel mit einem Indifferentwerden ihrer Form. Design wird De-Sign, subvertiert die wilden Semantisierungen, die im vergangenen Jahrhundert das Design wie eine treue Gefährtin auf den Märkten begleiteten, und designifiziert oder entleert ihre Erscheinungsformen in einer Weise von Bedeutung, dass wir gar nicht mehr der Versuchung erliegen können, die dieserart umgeformten Dinge noch zu dechiffrieren, zu enträtseln, nachzuerzählen: Der neue Design-Signifikant hat die alten Signifikate entlassen und umgibt sich ... z. B. mit Interfaces, die ihm souveränen Umgang mit Daten in einer sinngeglätteten Verpackung versprechen. Man erwartet wohl, dass über und mit dem Design die vorausliegende Technik eine Wiederverfügbarkeit bekommen wird, also gestaltbar wird von den Akteuren selbst, eine Art Wiederermächtigung, die jedoch mit einer Zäsur einhergeht. Ein neuer Wert soll den Dingen zugesprochen werden. Wir bewegen uns mit dem Redesign in gewisser Weise im Reich der Modifikation, nicht der Produktion. Insofern ist Redesign stets auch eine Sache der Affektion. Das DeSign entwirft auf diese Weise apotropäische Qualitäten. Es dient einer gewissen Abwehr von Un- und Nicht-Wissen, von fremdem, allmächtigen Wissen. Es dient einer allgemeinen Befriedigung, einer Selbsttäuschung, der Sinnwert wird von einem Formwert abgelöst, der vorgibt, eine Beheimatung zu sein im Vergessen, im Depotenzieren des Sinns, im Designifizieren des Seins der Dinge, das sich nunmehr als in einem unerreichbaren, sich jedem Nachvollzug versperrenden „Innen“ der Apparate vorfindet. Man könnte das auch als Replatonisierung der Technik durch das Design bezeichnen, ihre „Ideen“ werden vom Design auf ihre Gebrauchserscheinungen reduziert. Zum einen das Apple-Design. Natürlich waren alle PC-Rechner immer schon gestaltet. Doch gerade in ihrer, wie es oftmals schien, hilflosen Umhüllung und Verschönerung der Schaltkreise machten sie die Intransparenz, damit die Unnachvollzieh barkeit des Geschehens innerhalb der Verpackung nur umso offensichtlicher. Das Design und DeSign
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Apple-Design hingegen schafft eine wunderbar-magische Mischung aus apotropäischer Schutzumhüllung – der solid body der einmaligen Ummantelung – und enormen Allmachtsphantasien, von maximaler Effizienz der Kommunikation oder Unterhaltung bis hin zu sozialem Statusgewinn. Ein Apple-User bedient die Gestaltung, hat perfekte Wirkungskreise und muss in keinem Moment über die komplexe Arbeit unterhalb der Oberfläche nachdenken. Diese Produkte sind erfolgreich darin, woanders hinzulenken, auf den puren Gebrauch, auf die Medien, Schrift, Bilder, Töne, die scheinbar unstofflich hervorgerufen werden können. Zum anderen will das Neue Design ja nicht nur Produkte, sondern auch Interfaces und vor allem Projekte gestalten. Möglicherweise lässt sich diese neue Aufgabe des Designs als DeSign ganz gut am Projekt I-Pod aufzeigen. Nicht nur, dass auch hier das wunderbar minimalistische Design nichts von der Musik erzählt, die es umschließt – nichts deutet auf Bewegung hin, die wohl erste Eigenschaft der zeitbasierten Kunst „Musik“; Platten, Kassetten, CDs, sie alle bewegten noch die Träger der Musik. Nun ist sie plötzlich einfach so da. Ihre komplexe Speicherung und Reproduktion ist von ihrer Erscheinung und Nutzung radikal abgetrennt. Die alltägliche Erfahrung mit Techniken dieser Art kann als eine Art „semantischer Designgap“ verstanden werden. Da es unmöglich geworden ist, die Arbeitsweise digitaler Techniken (und natürlich nicht nur dieser) ausdrücklich zu gestalten, wird diese in gewisser Weise deterritorialisiert. In Händen hält man ein flaches Ding, man versteht es nicht, man genießt nur. Das „Projekt“ I-Pod, also die – nach Krippendorffs Idealvorstellung – von einem Designer „sozial realisierte Organsisationsform“, die die Interessen und Motivationen aller Stakeholder, Ingenieure, Experten, User ..., koordiniert und innovative Vorschläge entwickelt, findet seine exemplarische Entsprechung in der Idee der Shuffle-Taste.14 Unmöglich, diese Funktion in analogen Medien vorzusehen, denn sie ist die Krönung digitalen DeSigns. Erst die vollendete Beherrschung des numerisch dekomponierten Klangmaterials vermag ein Phänomen zu initiieren, das, genau entgegengesetzt, der Unbeherrschbarkeit zuspricht: die Programmierung des Zufalls. Hier ist das Handlungsmoment wichtig. Die Aktivierung der designten Shuffle-Taste bedeutet aktiven Kontrollverlust, das Sich-Überlassen einer von niemandem steuerbaren, beliebigen Auswahl, bedeutet also Verzicht auf „sinnvolle“ Nutzung der eigenen Musik. Das Randomisieren eines womöglich gewaltigen und sehr heterogenen Musik-Archivs provoziert geradezu Bedeutungslosigkeit. Die Vermutung ist, dass die Shuffle-Taste zurückstrahlt auf das ProjektDesign schlechthin. „Projekt“ bedeutet immer auch Reduktion an Sicherheit, Konstanz und Zuschreibung. Denn es könnte ja auch alles anders sein. Projekte sind transitorisch in ihren Ergebnissen, wollen sich nicht festlegen, ein nächstes Projekt wird womöglich alles anders projektieren.15 Daher müssen Projekte die Semantik selber als Projekt begreifen, also stets als nur vorläufige Bedeutungszuschreibung, als instabile Semantik, als DeSign im Sinne eines Verzichts auf bestimmende Aussagen. Im Falle des I-Pod wird der „absichtsvolle Kontingenzgenuss“ als positives DeSign wahrgenommen.16 „Was verschwunden ist, ist Beherrschung – diese kuriose Idee einer Beherrschung, die sich weigerte, das Mysterium der nicht intendierten Folgen einzuschließen.“17 192 I Marc Ries
Und nun das Genetic-Design Projekt. Hier hat offensichtlich DeSign eine noch radikalere Mission. Es gilt, das Natürlich-Gestaltete, also die primäre Bedeutung, fallen zu lassen und Neue Körper im Bündnis mit Interessensgemeinschaften im Labor entstehen zu lassen, dabei aber nicht voraussehen zu können oder wollen, welche Auswirkungen und damit auch welche Bedeutungen diese Körper für die Gesellschaft haben werden. Das DeSign designifiziert also zunächst das Biofakt und entwirft artifizielle Artefakte, deren Semantik notwendig im Dunkeln bleiben muss. Wir gestalten die Biomasse um und designen neue Menschen, doch diese Demiurgie bricht zugleich radikal mit dem Sein, auf das sie sich zu beziehen vorgibt. Hervorgebracht wird nunmehr und ausschließlich DeSign. Dieses ist weder adaptiert an ein Zu-Gestaltendes, noch ist es eine zweite Wirklichkeit, die sich einem bereits Gestalteten eigenmächtig hinzufügt. Es ist als ein solches DeSign ein Versuch demiurgischer Verleugnung und zugleich Wiederermächtigung des Davor- oder Zugrundeliegenden, daher kann es sich im Hervorbringen auch nur mit einer negativen Semantik ausstatten. So wirken denn auch alle „Werbetexte“ im Zusammenhang etwa mit Präimplantationsdiagnostik wie leicht anachronistische Science-fiction-Scripts, auch deswegen, da das Ganze ja ein „Projekt“ ist, also einer ephemer-transitorischen Idealität aufsitzt, die mit den nächsten Forschungsgeldern, die wiederum etwas völlig anderes hypothetisch zu designen sich vornehmen, abgerufen werden kann. Dennoch bleibt auch hier die Frage nach dem Who des Designers. Verstehen sich alle an einem solchen Life-Science Projekt Beteiligten implizit als „Designer“, oder ist der Designer derjenige, der eine ästhetisch und affektiv modellierte Unternehmens- und Organisationsberatung für das Projekt vollzieht, um vor allem eine verstärkte Motivation und Identifikation der Projektmitglieder zu erreichen? Es hat den Anschein, als ob sich der Begriff Design mit den Proliferationen von DeSign-Prozessen sowohl von seiner Disziplin als auch von einem bestimmten Berufsbild entkoppelt hat, eine Universalisierung des Begriffs, der nunmehr auch rückwirkend argumentative Offenbarungen mit sich bringen soll.18 Ein semantisches Phantasma also, das sich allen möglichen Ein- und Zugriffsszenarien auf bereits designte Objektwelten andient, eine altmoderne autoritäre Wunschfigur, Neues und Besseres hervorzubringen und allem Vergangenen abzuschwören, zugleich eine Maske für all jene, die hinter diesem Label Geschäfte vorantreiben, die sehr alten Kapitallogiken f olgen.
Anmerkungen 1 Die in den Souvenirshops angebotenen einzelnen Fliesen wirken unvollständig, „allein gelassen“, es ist, als ob das einzelne Element ohne seine „Gemeinschaft“ völlig leblos wird. Im Folgenden liegen den Überlegungen mehrwöchige Beobachtungen, Recherchen und fotografische Analysen in Lissabon zu Grunde. Von Interesse waren dabei ausschließlich nicht-figurative, ornamentalabstrakte Azulejo-Muster. 2 Diese Überlegung übernimmt eine Denkfigur von Gilles Deleuze, die gemeinsamen Arbeiten mit Félix Guattari verpflichtet ist, aber auch im „Kinobuch“ eingesetzt wird. Hier legt Deleuze in seiner Analyse der „Intervallmontage“ von Dziga Vertov das agencement machinique des choses mit dem
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agencement machinique des images der filmischen Aufnahme und Montage zusammen, behauptet also, dass zuallererst das filmische Reproduktionsverfahren in der Lage ist, eine bestimmte Dingwirklichkeit, die sich selber „maschinenhaft“ verhält und auch als „universelle Variation“ bezeichnet wird, bildlich zum Ausdruck zu bringen. Doch ruft wiederum dieses Bildgefüge gleichfalls ein agencement d´énonciation collective hervor, also ein „kollektives Aussagegefüge“. „Die Bildermaschine ist von einem bestimmten Typus von Aussagen, einer im eigentlichen Sinn kinematographischen Äußerungsform nicht zu trennen, [...] es ist ein revolutionäres Bewusstsein, eine kommunistische Dechiffrierung der Realität.“ Analog zu diesem „Ideal“ möchte ich das industrielle Reproduktionsverfahren der Fliesen und ihrer seriellen Anordnung an ein von dieser Anordnung hervorgerufenes kollektives Aussagegefüge der Azulejos koppeln. Wichtig ist, dass sich dieser kollektive Sinn nun nicht aus einzelnen inszenatorischen Elementen der tapetes hin zu wiederum einzelnen – beschreibbaren – Bedeutungsaussagen übersetzen lässt, sondern empirisch übergeordnete, eben kollektive Sinngefüge meint, die ich vorsichtig mit allgemeinen gesellschaftlichen Begriffen – weit entfernt von einer „kommunistischen Dechiffrierung“ – anzudeuten versuche. Siehe Gilles Deleuze, Kino 1. Das Bewegungsbild, Frankfurt/M. 1989, S. 110. Zum „eigendynamisch-selbstzweckhaften“ von Ästhetik siehe Andreas Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozeß gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin 2012, S. 23 f. Ebda., S. 24. Zum Begriff der „Lebendigkeit“ der Bilder und ihrem „Bildakt“ siehe Horst Bredekamp: Theorie des Bildaktes, Berlin 2010. „Kachelverkleidete Häuser haben im Gegensatz zu Gebäuden mit Stein- oder Putzwänden ihr schmuckes Aussehen bewahrt [...].“ Hier missversteht der Baedeker die Aufgabe der Azulejos. Dass sie durch ihre Oberfläche schmutzabweisend sind, ist bloßer Nebeneffekt. Siehe Baedeker Lissabon, Ostfildern 1993, S. 21. Museu Nacional de Soares dos Reis (Hrsg.): Itinerary of Faience of Oport and Gaia, Lisboa 2002, S. 259 f. Siehe Klaus Krippendorff: Die semantische Wende. Eine neue Grundlage für Design, Basel 2013, S. 29 f. Es hat ein wenig den Anschein, als ob mit dem „semantic-turn“ das Design als „human-centered“, so wie es Krippendorff versteht, nun endlich messianisch wirksam werden kann, leider wirkt trotz großer, auch theoretisch beachtlicher Anstrengungen dieser Telos politisch und gerade angesichts aktueller ökonomischer Debakel wenig überzeugend. Sollte ausschließlich Bedeutungsschöpfung in der Interessensgemeinschaft der „Stakeholder“ – also aller Beteiligter auf allen Ebenen des Produktionsprozesses – in der Lage sein, uns aus dem Sumpf zu ziehen? Siehe zum Design in der Gegenwart als „Generaldisziplin der Kreativökonomie“ kritischer Andreas Reckwitz, a. a. O., S. 177 f. Aristoteles: Metaphysik, 1032a. Zu dieser Übersetzung der poesis als „Hervorbringung“ und ihrer Deutung siehe Ernesto Grassi: Die Theorie des Schönen in der Antike. Köln 1980, S. 159 f. Siehe für eine gegenteilige Aufgabe Krippendorff, a. a. O., S. 298. Krippendorff überspielt das hier skizzierte Problem, indem er euphemistisch das „Interface“ als Designobjekt feiert, das „die Benutzer [...] in die Lage (setzt), mit ihnen etwas zu erreichen, ohne deren Technologie gänzlich zu verstehen“, ebd. S. 31. Für Bruno Latour heißt designen „immer redesignen [...]. Design ist eine nachfolgende Aufgabe, um dieses Etwas lebendiger, kommerzieller, verwendbarer, benutzerfreundlicher, annehmbarer, nachhaltiger und so weiter zu machen [...]. Mit anderen Worten, es liegt im Design immer etwas Abhelfendes.“ Dem ist für das Warendesign und das nun auszuführende DeSign zuzustimmen,
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nicht jedoch für das im ersten Teil besprochene eigendynamische Design. Siehe Bruno Latour: Ein vorsichtiger Prometheus? Einige Schritte hin zu einer Philosophie des Designs, unter besonderer Berücksichtigung von Peter Sloterdijk, in: Marc Jongen/Sjoerd van Tuinen/Koenraad Hemelsoet (Hrsg.): Die Vermessung des Ungeheuren. Philosophie nach Peter Sloterdijk. München 2009, S. 362. Mit der Shuffle-Taste ist jener Algorithmus umschrieben, der es möglich macht, dass einzelne Musikstücke randomisiert, nach einem Zufallsprinzip abgespielt werden können. Mit diesem Verständnis von Projekt-Design müsste Steve Jobs Vorbild aller zukünftiger „Designer“ sein und nicht die zahl- und namenlosen Designer des Apple-Konzerns. Frage nur, welche Ausbildungsstätten denn ein Jobs-Curriculum anbieten? Siehe auch meinen Text „Vom Begehren nach Hören von Ich und Welt. Der Gebrauch von Mobiltelefon und iPod“, in: Ästhetik und Kommunikation Heft 135, Winter 2006, Thema: Mobil kommunizieren, S. 55–58. Bruno Latour, a. a. O., S. 364. Sichtbar etwa im Titel der im MoMA, New York, letztes Jahr eingerichteten Ausstellung „Century of the Child – Growing by Desing 1900–2000“, die im Wesentlichen die kulturelle Konstruktion der Kindheit anhand vielfältiger Artefakte und pädagogischer Programme thematisierte.
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Shaped canvas und shaped performance Zur Tragweite der Form in der Kunst und über sie hinaus Theorien über Gestaltung oder Kunst stammen in der Regel von Theoretikern, seltener von theoretisierenden Gestaltern oder Künstlern. Nicht stets folgen solche Theorien ihrem Gegenstand nach, als unausgesprochene theoretische Voreinstellungen können sie ihm auch vorausgehen. Nicht nur ist es wahrscheinlich, dass der Kopf des Künstlers bzw. Gestalters voller eigener oder von anderen übernommener Ideen steckte, als er sein Werk zuwege brachte, und ist es jedenfalls möglich, dass diese Ideen vielfältig sein Werk beeinflussen, ihm gar die Richtung weisen. Ebenso gut können solche Ideen, kann eine gewisse Denkweise im Sinne theoretischer Vorannahmen oder entsprechender Voreinstellungen ihre Wirkung entfachen, ohne dass dies dem Künstler zur Gänze bewusst sein, geschweige denn in ihm zu begrifflicher Klarheit gereift sein müsste. Obgleich die letztgenannte Möglichkeit auf den ersten Blick einleuchtet, wirft sie doch, zumal wo wir meinen, damit etwas besonders Originelles in Händen zu halten, wenigstens zwei herbe Probleme auf, mit denen ich mich nur kurz beschäftigen will, weil es mir eigentlich noch um etwas anderes geht. Erstens würde ich argumentieren, dass unbewusste Präsuppositionen gar kein zweifelhaftes Privileg der Kunst, sondern beinahe so etwas wie ein Allerweltsphänomen sind. Auch der Entwerfer eines Kinderröckchens, sofern er sich etwa für die Farbe Rosa entscheidet und naiverweise meint, damit bloß seinem Geschmack zu folgen, handelt unwissentlich theoriegeleitet – insofern er nämlich der historisch vergleichsweise jungen Vorstellung folgt, Rosa passe zu Mädchen, und vermutlich keine Ahnung davon hat, dass es noch zu wilhelminischen Zeiten anders war, da man Rosa als ein gleichsam aufgehelltes Rot den wackeren Buben, und Hellblau als genuin himmlische Farbe den Mädchen zuordnete. Kurzum, das als Berserker sich gebende, seine Kritiker und gar noch die ihm wohlgesonnenen Theoretiker verachtende, gleichviel eben darin theoretisch grundierte Malschwein müsste seine Spießgesellen durchaus nicht nur in der Kunst suchen, sondern es fände sie überall: im Religionsleugner, dem gewiefte Theologen heute ohne weiteres religiöse Sehnsucht, im übertriebenen Rationalisten, dem Philosophen just aufgrund seiner Haltung ein irrationales Moment, oder im vermeintlich partout nur ‚aus dem Bauch heraus‘ Tanzenden, dem Tanzwissenschaftler nahezu topische ästhetische Vorverständnisse (etwa eines ausschweifend ekstatisch zu denkenden Tanzes) nachweisen könnten. Zweitens bin ich der Auffassung, die Herausarbeitung gewisser, dem Künstler en gros nicht bewusster theoretischer Präsuppositionen sei doch je schon die Aufgabe Shaped canvas und shaped performance
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e iner jeden soliden Interpretation. Denn im Zuge einer solchen ist es doch immer auch der ‚Geist der Zeit‘ des betreffenden Künstlers, sind es die im Umfeld seines Schaffens mutmaßlich einflussreichen Ansichten und eben auch Denkdispositionen, welche ein Interpret aufzufinden und für eine Deutung fruchtbar zu machen hat. Wenigstens für die ambitionierten Interpreten von Kunst ist nicht nur interessant, was ein Werk ausdrückt, sondern ebenso, was es verrät, also etwa auch, von welchen impliziten Theoriehintergründen es gleichsam unfreiwillig kündet. Wie auch immer man das Ganze einschätzt, es sind dabei stets entweder die Künstler, über deren Werke die Betrachter, oder die Künstler, die über sich selbst aufgeklärt werden müssen – eine für die Theoretikerschaft so oder so schmeichelhafte Angelegenheit. Der legitime Wunsch, Theorien der Gestaltung zu entwickeln und hierbei neben den erstens interpretativ und nachträglich zum Einsatz kommenden Theorien zweitens auch künstlertheoretische Einlassungen und drittens verborgene, unterschwellige, der Werkgenese vorauslaufende Theorien bzw. theoretische Voreinstellungen einzubeziehen, sollte uns nicht vergessen lassen, dass es viertens noch eine weitere Herkunft, s agen wir dramatischer Brutstätte von Theorien und Theoretischem gibt: nämlich in gewissen künstlerischen oder gestalterischen Wirkweisen, Formfindungen, Kunstgriffen als solchen, also nicht in primär individuellen, speziellen künstlerischen Eigenheiten oder Einfällen, sondern in das einzelne Werk übersteigenden (freilich darin sich in Folge realisierenden und je neu konkretisierenden) typisierbaren Optionen künstlerisch-gestalterischen Schaffens. Solche Optionen führen dann eine Art Eigenleben und sind auch ablösbar von dem Bereich, dem sie entstammen. Henri Focillon1 und anders Aby Warburg2 haben sich Gedanken darüber gemacht, wie solche Formen bzw. Pathosformeln (sie dachten dabei nicht an die mir vorschwebenden Kniffe, Wirkweisen, Kunstgriffe) je nach Epoche, kultureller Mentalität und natürlich je nach Temperament und Anliegen des jeweiligen Künstlers sich wandeln und inhaltlich neu gefüllt werden konnten. Es ist nach meinem Dafürhalten eine anspruchsvolle Aufgabe heutiger Kunstwissenschaft, solche Formen, Kniffe, Wirkweisen, Kunstgriffe nun nicht allein hinsichtlich ihres Nachlebens innerhalb jener Bereiche zu sondieren, denen sie entstammen oder in denen sie sich zunächst entwickelten, sondern auch die Frage zu beantworten, ob sie, wenn nicht explizit, so doch implizit, in völlig anderen, unter Umständen auch kunst- bzw. gestaltungsexternen Feldern als Prinzip wirksam bleiben. Dabei wäre beispielsweise an gewisse Bildformate zu denken, oder vielleicht an eine Weise der dimensionalen Verringerung in der Darstellung, an Effekte der Tontrennung oder des Silhouettierens, an das Arbeiten mit farbigen Komplementärkontrasten, an die Errichtung eines ‚Ambients‘ in der Projektkunst oder an die Entscheidung für Isokephalie in Gruppenbildnissen usw. In der Herausbildung und Konkretisierung solch typisierbarer Optionen hat sich, wie ich meine, nicht nur theorierelevantes Potential, sondern, um hier wortspielerisch höher zu greifen, auch relevantes Theoriepotential akkumuliert – also eines, das besagten Formen, Wirkweisen, Kunstgriffen von sich aus innewohnt, nicht eines, das bloß hinter ihnen stünde oder für das sie nur Symptom, Beleg oder beredter Ausdruck wären. Man könnte zwar dagegenhalten, das Zugeständ198 I Christian Janecke
nis von Theoriepotential an entsprechende Formen, Wirkweisen oder Kunstgriffe in Kunst und Gestaltung entspringe nur einer schmeichelhaften facon de parler, die uns darüber hinwegzutäuschen suche, dass es dann doch letztlich die Köpfe der Theoretiker (darunter meinethalben auch die Köpfe einiger Künstler) seien, in denen Theorie gebildet und formuliert werde. Allerdings bin ich der Ansicht, es werde in entsprechenden künstlerisch-gestalterischen Strukturen mehr als nur Material für theoretisches Räsonnement geliefert. Der Einsatz meines Beitrages wird sich indessen nicht darin ergehen, geschweige denn erschöpfen, das Für und Wider solchen Theoriepotentials der Kunst bzw. Gestaltung abstrakt zu diskutieren. Vielmehr gilt es, selbst ein Beispiel zu geben. Für die typisierbaren, das Einzelwerk übersteigenden Formen, Wirkweisen, Kunstgriffe wähle ich jenes vornehmlich in den 1960er Jahren als Shaped Canvas diskutierte Format, das auf ein enges Verhältnis bildinnerer Gegebenheiten zur Bildaußenform hinausläuft. Im ersten Abschnitt wird es vorgestellt und als solches problematisiert. Der zweite und bei weitem größte Abschnitt wird der Übertragung gewisser Prinzipien dieses Formates auf den Theaterbau der Moderne, oder genauer auf die dort realisierten Verhältnisse von Bühnen- zu Zuschauerbereich, gewidmet sein. Denn mein Ehrgeiz ist ja, mit Bedacht nicht zum Bilderschaffen, ja nicht einmal zur bildenden Kunst engeren Sinnes zählende Bereiche zu wählen (für die in diesem Fall eher Architekturgeschichte und Theaterwissenschaft zuständig wären). Ein gewisser Leichtsinn hat mich überdies bewogen, mit dem Theaterbau der Moderne auch noch einen tendenziell vor die große Zeit der Shaped canvas datierenden Beispielbereich herauszugreifen. Dadurch wird meine Argumentation nicht vorneweg hinfällig, aber durchwegs schwierig – von dieser Schwierigkeit entschädigt wiederum der Umstand, dass die gleichsam ins Frühere hineingelesenen Effekte des Späteren allerorten darauf verpflichten, wirklich nur von einem Prinzip ‚Shaped canvas‘ auszugehen und nirgends davon, dass man auf eine Shaped canvas dem Wortsinne nach, also womöglich auf apokryphe Beispiele gleichsam vor ihrer Zeit3 gestoßen sei oder es auch nur danach zu fahnden gälte. (Und natürlich kann es gewisse Prinzipien beispielsweise des Kolbenmotors oder auch der Fotografie schon gegeben haben, d. h., sie können wirksam gewesen sein, bevor es Kolbenmotoren oder Fotografie gab!). Lesern, denen dennoch bereits an dieser Stelle arge Bedenken aufsteigen, sei beruhigend entgegengehalten, dass es nicht die schlechteste Praxis der Kunstgeschichte war und ist, das im jeweils Heutigen Explizite als das im Früheren Implizite nachzuweisen. Selbst wo eine solche Praxis den Kunsthistorikern sozusagen unmerklich unterläuft, wo sie befangen im Geiste oder in Maximen einer Kunstrichtung ihrer eigenen Zeit auf frühere Kunst blicken, ist ein Erkenntnisgewinn nicht zwangsläufig verwirkt. Ein Beispiel dafür gäben Imdahls Forschungen zu Giotto und natürlich das ganze Lebenswerk von Gombrich, um jetzt nur zwei Namen zu nennen. Ein dritter Abschnitt wird mit dem Ausblick auf vergleichbare Anwendungsmöglichkeiten im Bereich der Performance Art eine nochmalige Wendung vollziehen: Weil es dort nurmehr im Handeln und Verhalten einnehmbare Positionen bzw. Anordnungen von Akteuren und Publikum sind, die Thema werden. Und zwar werden sie Thema Shaped canvas und shaped performance
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unter Auspizien nun nicht länger eines Prinzips, sondern nurmehr eines bloßen Modells ‚Shaped Canvas‘. Womit in der Tat ein Bereich betreten werden soll, der das Spekulative nicht scheut. Als ‚spekulativ‘ wird das dort Verhandelte sich gegebenenfalls freilich nur aus Sicht der Kunstgeschichte erweisen, während es aus Sicht der für diesen Beispielbereich nicht minder zuständigen Disziplin der Theaterwissenschaft als triftig erscheinen mag. (Ein Modell aus dem Bereich des Sports, mit dem man gesellschaftliche Phänomene zu erläutern sucht, muss ja auch nicht den Sportwissenschaftler erfreuen, sondern es sollte den Soziologen überzeugen!) Um aber aufgrund dieser Problematik, über die man zumal aufseiten des kunstgeschichtlichen Lagers geteilter Meinung sein dürfte, nicht die gesamte Argumentation meines Beitrags der Gefahr einer Sippenhaft auszusetzen, will ich weiteren allgemeinen Überlegungen dazu nicht vorgreifen, sondern sie erst in besagtem dritten Abschnitt vertiefen. Mit einem Fazit wird mein Text schließen.
1. Shaped Canvas als Bildformat Der Ausdruck ‚Shaped Canvas‘ wäre wörtlich übersetzbar als ‚gestaltete/geformte Leinwand‘. Wenn die Kompositumbildung des seinen Begriffsbereich derart weit fassenden Terminus technicus allerdings nicht müßig sein soll, so kann man voraussetzen, dass damit eher unkonventionelle Bildverlaufs- bzw. Bildaußenformen gemeint sind. In der Tat wird seit dem Aufkommen des Begriffes in den 1960er Jahren meist genau dasjenige darunter gefasst, was in irgendeiner Weise abweicht von einschlägigen Formaten, also vom wie auch immer proportionierten rechtwinkligen Bild (welches nach wie vor in unseren Museen, übrigens auch in Museen moderner Kunst, dominiert), vom Tondo oder vom mehrteiligen Bild, etwa beim Retabel. Folglich ist an ein veritables Sammel surium zu denken, in dem allerhand Vielecke (so sie nicht ausgerechnet die klassischen vier Seiten aufweisen!), amorphe Bildaußenverläufe, schließlich Mischungen und Anstückungen einfacher oder komplexer geometrischer Ausgangsformen Platz finden, darunter auch mosaikartig an der Wand zu einem Werk zusammengesetzte Module aus L-Formen, Würfeln oder Ähnlichem, wie man es beispielsweise von Will Insley oder David Novros kennt.4 Unter einem derart lockeren Begriff der ‚Shaped canvas‘ firmiert darüber hinaus manches, das man eigentlich besser als Assemblage oder Wandrelief bezeichnen müsste, insofern es sich vielleicht einfach nur monströs aus einem Bildgrund herausstülpt und ihn dabei überformt, wie etwa die wuchtig maschinoiden Materialkrater von Lee Bontecou. Nach einem entschieden enger gefassten, sowohl seitens einiger namhafter Künstler als auch mancher Kunsthistoriker gepflegten Verständnis ist mit ‚Shaped Canvas‘ hingegen keine unkonventionelle Bildaußenform, sondern deren spezielles Verhältnis zu bestimmenden Setzungen im Bild selbst gemeint. Dabei ist nun nicht gedacht an jene Art sinnträchtiger Korrespondenz etwa zwischen der Komposition und einem ihr förderlichen Bildformat, wie man sie vielfach in der gesamten Geschichte der Malerei erwarten und vorfinden kann: Etwa wenn den Stifterfiguren auf einem Polyptychon 200 I Christian Janecke
kleinere Teilfelder zugeordnet sind, wenn die zentralisierende Wirkung eines Tondos unser Augenmerk immer wieder auf die genau mittig platzierte Figur lenkt, oder wenn die erzählfreudige Szenerie eines venezianischen Meisters auf stark querformatigem, nahezu panoramatischen Bildfeld sich ausbreiten darf. Und ebenso dürfte einleuchten, dass auch all jene Mitte der 1960er Jahre typischerweise oft mit bildintern umlaufenden Streifen begrenzten, häufig eckenabgerundeten Bilder5 oder Bildobjekte im Umkreis des Hard Edge, aber auch des Pop nicht vorneweg gemeint sein können – obgleich entsprechende Werke eines Georg Karl Pfahler oder in England eines Paul Feeley immerhin eine Affinität zu jener engeren Bestimmung aufweisen, der wir hier folgen wollen. Vielmehr ist gedacht an eine Übertragung bildbestimmender Binnenverlaufsfor- 1 Frank Stella: „Marquis de Portago“ (2. Version), men auf die letztliche Außenform, und zwar 1960 so, dass es mehrere, die Binnen- bzw. Ursprungsform in meist gleichem Abstand umlaufende, folglich expandierend gestaffelte Wiederholungen sind, als deren natürlicher Abschluss die Bildaußenform erscheint6 – so wie beispielsweise in Frank Stellas „Marquis de Portago“ (2. Version, 1960)7 [Abb. 1]. Dabei kann in seltenen Fällen, etwa wenn als bildinnere Ausgangsform ein gleichseitiges Dreieck8 gewählt wurde, auch nach beliebig vielen Formumrahmungen wieder die identische Ausgangsform, nur freilich in anderer Größe, resultieren. Des Weiteren, nämlich wenn als Ausgangsform womöglich eine sehr langgestreckte Form diente, kann die stete Umrahmung in sukzessiver Verschiebung des Verhältnisses von Länge zu Breite schließlich zu einem eher gedrungenen Limesbild führen (was sich aus dem Umstand erklärt, dass in Wahrheit die exakte Ausgangsform gar nicht vergrößert wiederholt, sondern eben nur in unverändertem Abstand zu sämtlichen ihrer Außenlinien umfahren wird, wodurch im Falle des länglichen Rechtecks die Dicke relativ mehr zunimmt als die Länge). Schließlich ist es sogar möglich, dass eine Ausgangsform, z. B. ein Kreuz aus kurzer und langer Linie, durch progrediente Umrahmung nicht allein hinsichtlich einzelner Parameter aus den Fugen gerät, sondern letztlich in einer qualitativ neuen Außenform mündet, in der die Besonderheiten der Ausgangsform nivelliert erscheinen. Wie nun diese Varianten zeigen, können sich paradoxerweise gerade nach dem dabei zugrunde gelegten engeren Verständnis der Shaped Canvas ausnahmsweise auch durchaus konventionelle Bildaußenformen wieder einschleichen, solange sie nur durch die beschriebene Prozedur extrapoliert wurden, beispielsweise Stellas „Tomlinson Court Park“ (2. Version, 1959) [Abb. 2] aus der Serie seiner Black Paintings. Shaped canvas und shaped performance
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Das bislang erläuterte ‚Regelwerk‘ ist freilich kontingent; nichts spricht dagegen, es zu variieren. Dementsprechend hat man etwa auch große, aus mehreren kleinen Shaped Canvases zusammengestückelte Gebilde wiederum als ‚Shaped Canvas‘ bezeichnet, obwohl es sich dabei genau genommen um etwas anderes handelt: Von Frank Stella gibt es, beispielsweiFrank Stella: „Tomlinson Court Park“ (2. Version), 1959 se bei „Quathlamba“ (1964) [Abb. 3], eine aus mehreren V-förmigen Shaped Canvases zusammengesetzte Gesamtform, die nun nicht direkt aus der jeweiligen Binnenstruktur abzuleiten, in Bezug auf diese jedoch auch nicht völlig willkürlich ist.9 Denn wie Frank Stella: „Quathlamba“, 1964 man allein schon bei der bloßen Betrachtung der vergleichsweise komplexen Silhouette bemerkt, fiele es außerordentlich schwer, sie korrekt erinnern, geschweige denn nachzeichnen zu können, wenn man versuchsweise ihr Zusammengesetztsein aus den stets einfachen Grundelementen nur einmal ausblenden wollte. Was die bislang verwendeten Beispiele weiterhin zeigen, ist die Tendenz zum Bildobjekt, zum Objekt überhaupt. Dazu sollte man sich vorab klarmachen, dass und warum dies normalerweise, also bei ganz konventionell formatierten Bildern, gerade nicht der Fall ist. Als Betrachter eines solch gewöhnlichen Bildes – und hier wird das Nachwirken der Alberti’schen Fenstermetapher bis weit über die Moderne hinaus deutlich! – haben wir nämlich bestens verinnerlicht, dass es sich bei moderat quer- oder hochfor202 I Christian Janecke
matiger Rechteckigkeit um ein Mittel zum Zweck handelt: den so einfachen wie würdigen Zweck, das im bzw. qua Bild Erscheinende auf endlicher Fläche darzubieten. Zwar gibt es auch klassische Querformate, die keine Shaped Canvases sind, aber dennoch außerkünstlerischen Gegenständen ähneln, ja sie beinahe ersetzen könnten und die uns daher objekthaft anmuten:10 So stimmen bei einigen der Flaggenbilder von Jasper Johns Dargestelltes (Flagge) und Bildträger (flache Leinwand) hinsichtlich wichtiger Parameter (Material/absolute Größe/überwiegende Zweidimensionalität) überein. Jedoch handelt es sich dabei um seltene, wahrscheinlich mit viel zu viel Diskussion bedachte Ausnahmefälle. Bei der weitaus überwiegenden Mehrzahl auch moderner und zeitgenössischer Bilder hat das zumeist moderat hoch- oder querformatige Bildgeviert hingegen entschieden instrumentellen Charakter, dient es doch allein der Darstellung. Mithin tritt es uns auch kaum in physischer Selbstbehauptung, also als jenes kofferförmig flache Ding an der Wand entgegen, welches es faktisch ja unabweisbar ist. Ganz anders nun bei der Shaped Canvas: Erstens erinnert uns die hier zur wechselseitigen Abhängigkeit gesteigerte Korrespondenz zwischen Binnenstruktur und Außenform weniger an Bilder, denn eher an Artefakte11 (man stelle sich dazu vergleichend nur die Schichten einer Praline im Verhältnis zu ihrem Kern vor) oder an Naturdinge (man denke beispielsweise an die Jahresringe eines Baumes im Verhältnis zu dessen von Rinde ummantelter Außenverlaufsform). Zweitens lässt uns auch die für eine Shaped Canvas charakteristische Kongruenz von Darstellungsgrenze und physischer Bildaußengrenze an eine für Dinge typische starke Differenz von Zugehörigem (das Ding) und Nichtzugehörigem (das Dingumfeld) denken. Dies gilt insbesondere dort, wo die Gesamtform des Bildträgers einer flachen Attrappe bzw. genauer einem so genannten Versatzstück gleichkommt.12 Rechnet man drittens noch hinzu, dass typischerweise monochrome Fläche oder repetitive Textur bzw. Struktur das Bildinnere auszeichnen, oder dass, mit den Worten Donald Judds, „einfach Ordnung, wie die der Kontinuität“ dominiert, „eine Sache nach der anderen“,13 so wird verständlich, warum hier ästhetischer Schein als bildtypisches Moment weitgehend suspendiert ist, eben zugunsten der nun hervortretenden Objektqualität.14 Wobei man präzisierend und wiederum einschränkend sagen könnte, dass diese Insistenz der Shaped Canvas auf ihrer Gegebenheit als einer Sache selbst doch wiederum noch qua bildlicher Anlage zustande kommt.15 Ende der 1960er Jahre wurden die frühen Black Paintings Stellas unter Auspizien der Minimal Art diskutiert, allerdings fielen sie nicht unter jenes von Michael Fried16 erlassene Verdikt einer ‚theatricality‘, welche sich, so die Argumentation, gerade aus der den Betrachter mitthematisierenden, ihm aufwartenden Situativität ergeben sollte. Denn Stellas Bilder konnten, wie Philip Leider17 gezeigt hat, sowohl in „abstraktionistischer“ als auch „literalistischer“ Hinsicht rezipiert werden. Obwohl also kein Maler es so wie Stella vermochte, über bloße Progression des Symmetrischen, über das via Streifen um Streifen sich gleichsam selbst Konstituierende der Bildfläche, den Weg vom Bild ins Objekthafte vorzuzeichnen, war es doch keine Kumpanei mit dem Betrachter, war es nicht ein der minimalistischen Skulptur attestierter Anthropomorphismus, den man wahrnahm. In der deutschen, man müsste präzisieren: in der Bochumer Rezeption Shaped canvas und shaped performance
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durch Max Imdahl, dann Gottfried Boehm et alteri seit Beginn der 1970er Jahre wurde vor allem im Unterschied zu einer auf Komposition verpflichteten europäischen Kunst das ‚Non-Relationale‘ betont. Das Fehlen sinnträchtig bildinterner Relationen und ihr Ersatz durch Struktur, durch eine Progression simpler Anfangssetzung und durch Symmetrie ermögliche es dem Betrachter, „sich zum Werk in derselben Direktheit wie zur Realität“ und – hier ganz Michael Fried folgend – „sich als selbst in demselben Raume befindlich wie dieses“18 zu erfahren – nur wie gesagt, ohne sich an Frieds despektierliche Lesart der Minimal Art anzuschließen. Angesichts von Werken wie „Quathlamba“ (s. o., Abb. 3) ging es Imdahl damals um die „vollends unhierarchische[n] Aneinanderpassung formal gleicher und gleichwertiger Elemente“, die natürlich „auf Anhieb als eben eine solche iterative Struktur rational erkannt werden“19 konnte. Ganz im sozialliberalen Geiste bundesrepublikanischer, noch durch das Unprätentiöse des Bochumer Reviers gefilterter Spätmoderne sah er in der Shaped Canvas ein Musterbeispiel für ‚vermittelte Evidenz‘,20 für das je nur anschaulich Erfahrbare, aber darin völlig Nachvollziehbare. Das uns zumal im Hinblick auf ein übertragbares Prinzip ‚Shaped Canvas‘ interessierende totalisierende Moment entging ihm vollends. Dass in der entscheidungsent lasteten, ja gleichsam nur exekutiv verfahrenden Progression eines Inneren gegen und in sein Äußeres Schließung und Bindung eher denn Offenheit und Freiheit manifest werden, ist freilich nichts, das sich ohne weiteres auf dem Feld der Bildenden Kunst allein erschließen würde. Aber es erschließt sich, wie ich zeigen möchte, beispielsweise mit Blick auf unerwartete Einlösungen eines Prinzips ‚Shaped Canvas‘ im Theaterbau der Moderne.
2. Shaped canvas als Prinzip – im Theaterbau der Moderne Man könnte in den Grundhaltungen zum Theaterbau21 zwei unterschwellig bereits seit Palladios Teatro Olimpico konkurrierende Paradigmen unterscheiden: Da gibt es einerseits ein höfisches, am Ende des 19. Jahrhunderts noch auf naturalistische Schilderung zielendes Ideal, welches stets an der Differenzierung und letztlichen Separierung der Sphären von Publikumsbereich und Bühne festhält. Illusion bleibt demzufolge Sache einer immer ausgefeilteren Bühnentechnik, hingegen das Sitzen und Beiwohnen im Auditorium wird zu einem technischen Problem der Akustik sowie des möglichst guten Sehens, aber eben auch der Repräsentationsbedürfnisse. Da gibt es andererseits die über eine klassizistische Rückanbindung an die Antike Bestätigung und Legitimation schöpfende Vorstellung eines geometrisch idealen, etwa an der halbrunden Cavea orientierten Bauens. Entspricht ihm anfangs zwar durchaus noch der abgetrennte Bühnen bereich samt seiner gestaffelten Kulissenkunst,22 so wird dieses Theater- bzw. Bühnen paradigma mit den Lebensreformbewegungen um 1900 Katalysator eines nun Akteure und Zuschauer (bzw. Bühne und Auditorium) programmatisch in sich schließenden Bauens.23 204 I Christian Janecke
Im Zuge dessen verkündet 1895 bereits Richard Dehmel, 24 ein sozialreformerischer Dichter, das Ideal des um eine Kreisbühne geschlossenen Zuschauerrunds; und Max Reinhardt25 gastiert vielbeachtet im Berliner Zirkus Schumann: Die zirzensische Bauform soll einem Massentheater Platz bieten. Länger zu verweilen lohnt es bei Peter Behrens’ nie realisiertem, nichtsdestotrotz prominenten und ganz im Geiste der Darmstädter Künstler kolonie stehenden Entwurf eines Festspiel-Theaters (1900) [Abb. 4], der auf einen bis dato untypischen, da kontinuierlichen Übergang vom Publikumsbereich zum Proszenium Wert legt. Dieses 4 Peter Behrens: Entwurf eines Festspiel-Theaters in Darmstadt Proszenium soll als „der wich(1900) tigste Teil unserer Bühne“ auch „im baulichen Gedanken vollkommen vereinigt mit dem Saal [sein]“. Mithin soll sich die Architektur des Innenraumes auf der Bühne fortsetzen,26 und entsprechend partizipationistisch soll Theater darin sich verwirklichen, nämlich durch Zuschauer, aus denen „Mitkünstler“ werden, „von der Schwelle an Teilnehmer an einer Offenbarung des Lebens“.27 Behrens’ Entwurf geht von der exzentrischen Platzierung des Bühnenkreises im seinerseits kreisrunden Gebäude aus, so dass sich bei weitgehend einheitlicher Sektorierung dann hinsichtlich ihrer Flächengröße dennoch äußerst unterschiedliche Sektoren ergeben. Indem nun von den kleineren dieser Sektoren auch noch Kompartimente für Arbeitsräume sowie Raum für freie Seitzugänge abgezweigt werden, wird die altgewohnte Asymmetrie einer eher überschaubaren Bühne bei verhältnismäßig ausgedehntem Zuschauerbereich in das augenscheinlich Neue hinübergerettet. Hinzu kommt, dass dieser Zuschauerbereich der Bühne in jener klassischen Weise gegenübersteht, die zu überwinden doch eigentlich Anliegen der Reformbühne ist. Bei aller Neuerung zeigt sich Behrens mithin zu erheblichen Konzessionen an eine fast herkömmliche Bespielbarkeit bereit. Immerhin kann man sagen, dass wenigstens die Programmatik kühn auf ein Umfangen des Publikums zielt: Exzentrisch lassen sich vom imaginären (da tatsächShaped canvas und shaped performance
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lich in terrassiertem Übergang sowie einer Aufteilung in Vorbühne, Bühne und Orchestra zu denkenden) Bühnenkreis weitere aufschwellende Kreise ziehen, welche nun jeweils die einzelnen Ränge durchlaufen, bis sie in der Außenform der Rotunde terminieren. Ein Prinzip, das auch bei Walter Gropius noch nachklingt, wenn er für sein Totaltheater-Projekt (1927) feststellt: „Der Theaterbau und seine Architektur ist das räumliche Gefäß der gesamten dramatischen Handlung; die Art seines Aufbaus kann nur aus den vielfältigen Bedingungen entwickelt werden, die das Bühnenkunstwerk selbst stellt“.28 Wohlgemerkt sind es nicht Bedingungen des Theaters als Ganzem, einschließlich der Bedürfnisse des Publikums, sondern allein die des Bühnenkunstwerkes, welche dem Theaterbau, dem „Gefäß“, die Form geben sollen. Gropius, kaum der Urtümelei oder der metaphysischen Ambitionen manch anderer Bauhäusler verdächtig, gibt in seiner Unterscheidung dreier Grundformen der Bühne – als deren Summe bzw. Konsequenz er sein eigenes ‚Totaltheater‘ entwirft – eine Charakterisierung der zentralen Rundbühne, die zwar theaterhistorischer Differenzierung nicht völlig standhält, aber das Verhältnis zum Zuschauer hellsichtig einschätzt. Demnach ist dieser Bühnentypus „konzentrisch von den Massen der Zuschauer auf den trichterförmigen Wandungen umgeben. Der Schauspieler wird hier zum handelnden Exponenten einer konzentrisch angeordneten Masse Mensch, mit der er eine Einheit bildet, unentrinnbar als ihr Gefangener wie der römische Gladiator oder als geistiger Sieger über die Masse als Priester, Volksredner oder Künstler.“29 Damit ist der (von Gropius selbst gemiedene) Weg skizziert, den Antonin Artaud einschlägt, ganz erfüllt von einer Retheatralisierung des Theaters: „Zwischen Zuschauer und Schauspiel, zwischen Schauspieler und Zuschauer wird wieder eine direkte Verbindung geschaffen werden, denn der im Zentrum der Handlung befindliche Zuschauer wird von ihr umhüllt und durchzogen. Diese Umhüllung rührt von der Gestalt des Zuschauerraums her.“30 Deutlicher geht es kaum: Die nach Artauds Schema [Abb. 5] in einer Art Ring befindlichen Zuschauer umschließen kreisförmig Akteure im Zentrum, werden aber ihrerseits kreisförmig von weiteren Akteuren umschlossen – „mit dem Ergebnis der zwingenden Teilhabe aller. Eine Distanziertheit scheint unmöglich“.31 Man könnte sagen, dass Artaud hier von den bezwingend von Ring zu Ring exzentrisch sich fortschreibenden, von innen nach außen und vice versa wirkenden Kreisformen Steigerung, Unverbrüchlichkeit, Komplizenschaft zwischen Akteuren und Zuschauern in einem theatralen Gesamterlebnis erhofft. Die Frage bleibt freilich, ob und inwiefern Artaud in der von ihm ersehnten Rekonstitution ursprünglich theatraler Zustände eigentlich auf die Ursprünge von Theater zielen kann, und nicht vielmehr auf die des Kults.32 Möglicherweise sitzt Artaud hier einem Vorurteil vom Ursprung des Theaters in der Kreisform auf, im Sinne einer anfänglich vermeintlich ungeschiedenen Sphäre aus Zuschauern und Akteur33 – einer unter Theatervisionären und Manifestemachern der Moderne notorischen Vorstellung, der der Umstand zupasskam, dass die frühesten überlieferten und zumal feststehenden, also gebauten Theater in der Tat eine dem Kreis entsprechende oder doch kreisähnliche und jedenfalls die Bühne gänzlich umschließende Form aufwiesen. 206 I Christian Janecke
Demgegenüber sei an den nicht minder ursprungssüchtig argumentierenden Oskar Schlemmer erinnert, dessen Überlegungen zur histo rischen Genese des Theaters bzw. genauer des in räumlicher Anordnung sich niederschlagenden Verhältnisses zwischen Akteuren, Zuschauer und Theaterbau indes einen anderen Weg nehmen. Die Schemazeichnungen seines 5 Antonin Artaud: Schema zum idealen Aufführungsort Unterrichtsmaterials 34 von 1928 verorten etwaige Ursprünge des Theaters nämlich zunächst gar nicht in gebauten Formen. Vielmehr sucht Schlemmer sie in der Ausgangskonstellation beieinander befindlicher Menschen, deren einer sich, den anderen etwas „vormachend“, hervortut. Nicht Einheit und Gemeinschaft, sondern Abspaltung und Asymmetrie kennzeichnen demzufolge den Ursprung von Theater. Aus dem „Andrang der rückwärts Stehenden, ihn anzusehen“, und dem „Andrang des Einzelnen, niemand hinter sich zu wissen“, leitet Schlemmer die „Urform des Theaters“ ab. In der für das Theater (und freilich nachgerade auch das prachtvoll gebaute, illusionistische große neuzeitliche Theater!) typischen Asymmetrie bzw. Zweiheit – aus wenigen Akteuren in räumlicher Separierung von (bzw. Konfrontation zu) vielen Zuschauenden – sieht Schlemmer also nichts Späteres, das es modernerweise wieder zu überwinden gälte, sondern eben den Ursprung von Theater. Treffend wird denn auch der im 7. Schema skizzierten „totale[n] Rundbühne“ attestiert, sie impliziere „eine Utopie (wenn Sprechbühne), da immer ein vorn:hinten“. Schlemmers Klarsinn erinnert uns an das später von Dagobert Frey hervorgehobene „Spannungsverhältnis zwischen der Lebensrealität des Zuschauers und der ästhetischen Realität des Schauspiels“.35 Schlemmers Bauhausbühne freilich hat sich, bezeichnend für die späten 1920er Jahre, von jenem expressionistischen Geist der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg gelöst, der für die Architekten und Visionäre der „Gläsernen Kette“36 noch maßgeblich und wie er für den frühen Gropius – ohnehin aktiv in dieser Verbindung –, aber auch für Peter Behrens37 prägend gewesen war. Shaped canvas und shaped performance
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„Zu Bauen gibt es heute“, wie Bruno Taut kurz vor Weihnachten 1919 in seinem mit „Farben- und Glasgrüßen“ beschlossenen Brief an die übrigen Mitglieder dieses geistigen Kreises schreibt, „fast nichts“.38 Umso mehr gibt es zu phantasieren hinsichtlich einer romantisch spekulativen Verbindung von Natur und Kunst im Kristall. Nicht zufällig beschwört der Prophet der Bewegung, ‚Prometh‘ (alias Hermann Finsterlin), die Gleichursprünglichkeit von Bauen und Zeugen bzw. Leben im Tierreich, wo die Läuse und Käfer „ihren Bruten Paläste bauen direkt aus dem Leibe lebendiger Pflanzen, grünschillernde, saftige Dome, in denen der Choros der Welt nicht minder schön erklingt als in den Säulenhallen eines Sonnensystems“.39 Der weihevoll angeBruno Taut: Im Großen Sterntempel sungene ‚Große Bau‘ würde das einzelne Subjekt, den einzelnen Entwerfer übergreifen, denn in ihm werden – gedacht nach dem Leitbild der Kristallisation – zwei Kräfte bzw. Motive wirksam: das (immer noch expressionistische!) Drängen von innen nach außen, wie es sich als formale Präferenz in zahlreichen Skizzen, Lichtpausen und Aquarellen zeigt, und das gleichsam sublimierte, vom leidenschaftlich Organischen Abgelöste, das reine Form eines künftigen Kultus sein will, darin bereits späteren ‚Kältelehren‘ zugewandt.40 Beides zusammen erklärt den Hang zu konzentrisch gestaffelten Formen, deren Inneres gleich einem Blütenkelch den Ton anschlägt auch für alles Umgebende, nur dass sich dieses organisch-naturhafte Vorbild transformiert, läutert ins Kristalline und daher in eine ornamental geometrische Formensprache. Diese Idee eines so genannten ‚Bauwachsens‘41 fügt sich – jedenfalls was die Kombination einer geometrischen Regel mit einem Prinzip des Anwachsens aus sich heraus betrifft – durchaus dem Prinzip ‚Shaped Canvas‘; zumal dort, wo der ornamental-dekorative Habitus im angewandten Bereich sich durchsetzt.42 In seinem „Großen Sterntempel“ [Abb. 6] gibt Bruno Taut implizit seine Maximen von Theater kund: Die Menge bilde dort eine Einheit, Zuschauer und Schauspieler seien nicht länger nötig. Vor allem sind es nun Choreografien licht- und farbentragender Akteure, allesamt ungeschieden von Partikeln der Architektur, ja mit Letzterer 208 I Christian Janecke
identisch, welche den Raum sternsymmetrisch bilden, wie sie auch umgekehrt von diesem als durchpulst gedacht werden. Es macht also „die Zeichnung keinen Unterschied in der Behandlung von menschlichen Figuren und architektonischen Elementen. Die Feiernden zeigen durch ihre Zeremonie eine an religiösen Kulten orientierte Nutzung von Architektur und schaffen zugleich selbst den Bau. Denn im Innenraum des großen Sterntempels stellt sich, durch die zur Sternform gestaltete Menschenmasse, seine Außenform her.“43 Bei dem seit den 1950er Jahren aufkommenden Typus des so genannten Arena theaters,44 einer meist kleineren, ringsum von Rängen umgebenen Zentralbühne, die bereits hinsichtlich ihrer architektonischen Anlage alles andere als geeignet ist für elaborierte Bühnentechnik und deren Verfechter allenfalls auf die schauspielerische Präsenz setzen können, lassen sich mitunter auffällige Bezüge zwischen Bühnenform und Zuschauerbereich feststellen. Hier gibt es, was alleine nicht sonderlich bemerkenswert wäre, runde Bühnen bzw. blanke Spielflächen, umgeben von kreisförmigen Rängen wie die Arena eines Zirkus. Sektoriell angelegte, für sich jeweils trapezförmige Kompartimente der Ränge können aber manchmal ebensolchen der Bühnenfläche entsprechen,45 wofür aus theatermacherischer Sicht zweifellos gar kein Grund besteht. Der französische Szenograph René Allio46 [Abb. 7] beispielsweise ersinnt eine sechseckige Bühnenform, deren Außenkanten durch parallel geführte Sitzreihen eine strukturierte Expansion beschert wird. Im Gegenzug ist es möglich, die leichte Unregel mäßigkeit des eher trichterartig und damit noch stärker konventionell vertieften Bühnensechsecks zur völligen Regelmäßigkeit gleichsam zu läutern, nämlich einfach indem man bedarfsweise den Platz für drei weitere Stuhlreihen von der Bühnenfläche abnimmt. Nach Art eines Nullsummenspieles und stets in den Verlaufsbahnen der Seiten des Sechsecks können auch 7 Schema des Verf. zu René Allio: Konzept eines flexiblen Theaters, hintere oder seitliche Teile der 1955 Bühne in Ränge verwandelt respektive aus diesen für die Bühne zurückgewonnen werden. Die überdies nur unwesentliche Absenkung der Bühnenfläche gegen die ersten Sitzreihen sowie die Wahl des jeweils gleichen Materials und der gleichen Farbe für das gesamte Innere tragen das ihre bei zur Flexibilität dieses theaterbaulichen „Instrumentes“. Nun könnte man dagegenhalten, statt des von mir implizit nahegelegten Prinzips ‚Shaped Canvas‘ handele es sich gerade im letztgenannten Fall doch eher um Effekte des Modularen. Tatsächlich gibt es hier Überschneidungen, die es zu sondieren gilt. Nehmen wir vergleichshalber ein ebenfalls vom Sechseck ausgehendes und jedenfalls programmatisch modulares Bauensemble, die auf Basis einer Wabenstruktur47 Shaped canvas und shaped performance
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errichtete Gehegeanlage des Anfang der 1970er Jahre ausgebauten Allwetterzoos Münster [Abb. 8]. Dass es sich hier um einen Zoo, dort um ein Theater handelt, ist in Hinsicht auf unser Problem unerheblich (obgleich die Verwandtschaft zwischen der Schaustruktur von Theatern und den gebauten Inszenierungen Zoologischer Allwetterzoo Münster, 1972 Gärten wenigstens erwähnt sei!). Was nun in Münster mittels einander kommensurabler Sektorformen, Terrassenverläufe, Dimensionierungen von Unterständen und sogar der Wegesysteme für die Besucher sichtbar wird, ist der Geist der Kombinatorik. Alles signalisiert Austauschbarkeit, Verschiebbarkeit, Erweiterbarkeit, obwohl man es doch offenkundig mit fest verbauten Betonelementen zu tun hat, weshalb es sich – wie bei den allermeisten Beispielen dieser Zeit – eher um einen Look des Modularen handelt. Ob Affe, Seerobbe oder Elefant im Freigehege, ein vorkragendes, Witterungsschutz gewährendes Dach knickt stets im gleichen Winkel ab. Es gibt dafür gar keinen mit dem Habitat, mit ethologischen oder auch nur ästhetischen Erwägungen zusammenhängenden Grund, sondern einzig das Interesse am Kohärenzerlebnis perpetuierter Wabenhaftigkeit. Insofern könnte man sagen, dass ein modularer Aufbau zwar gute Vorbedingungen schaffe für Erweiterungen, Ausdehnungen, die nach einem Prinzip ‚Shaped canvas‘ Werner Ruhnau/Harald Deilmann/Max von Hausen/Ortwin Rave: realisiert sein könnten, Nutzungsmöglichkeiten des Studios des Stadttheaters Münster, 1972 210 I Christian Janecke
ohne deshalb im Mindesten aus sich heraus dahin zu drängen. Modularität spielt übrigens auch im Theater der 1960er Jahre eine Rolle. Die Disponibilität so genannter Praktikabeln, die Verschieb barkeit nun gerade nicht etwaigen Kulissenwerks, welches ja der vermaledeiten Illusion dienen könnte, sondern Verschiebbarkeit sogleich der theaterbaulichen Zutaten selbst ist die Losung der Zeit, lässt sich doch mit verschiebbaren Rängen und modular erweiter- oder umfunktionierbaren Bühnenteilen ein instrumentelles, aufgeklärtes, tendenziell illusionsindifferentes Verständnis von Theater pflegen (oder doch wenigstens allegorisieren). Verwiesen sei diesbezüglich auf das 1972 fertiggestellte Studio für das Stadttheater in Münster [Abb. 9]: „In ein verlängertes Sechseck eingepasst, konnten mit Hilfe fahrbarer Portal- 10 Fritz Schäfer: Nutzungsvarianten des Podiums in Ulm, 1969 türme und Stuhlwagen, sowie einer in sechs länglichen Segmenten vertikal fahrbaren Podienpartie, von der Zweiraum-Anordnung bis zur Vollarena verschiedene Zuordnungen eingerichtet werden.“48 Ein treffliches Beispiel für solche Modularität, in Gestalt eines mittels jeweils individuell anhebbarer Teilpodien zerlegten Innenraums, realisierte Fritz Schäfer für den Ulmer Theaterneubau (1969) [Abb. 10] – nämlich als Einlösung einer von Werner Ruhnau unter Berufung auf die Vorkriegsavantgarde schon Ende der 1950er Jahre so formulierten Idee: „Das Theater ist als Raumklavier [als sog. ‚Podienklavier‘, CJ] gedacht, bei dem sich der Regisseur Abend für Abend den Raum selber bauen kann.“49 Auch hier wird deutlich, dass die Ausgangsbedingungen modularen Bauens bzw. hier modularer Innenraumgestaltung den uns interessierenden Beispielen ähneln, dann aber letztlich auf nahezu das Gegenteil zielen: auf völlige Disponibilität aller baulichen oder bühnentechnischen Elemente. Zu unterscheiden wäre das Shaped-Canvas-Prinzip auch von jener zumeist modular mobilen Architektur, für die es im Theater der ausgehenden 1960er und 1970er Jahre Beispiele und – angesichts der mehrheitlich nach wie vor konservativ oder doch nur moderat progressiv realisierten Theaterbauten – vor allem Visionen bzw. programmatische Forderungen gab. Solche mobilen Spielstätten,50 oftmals ausgestattet mit eingefalShaped canvas und shaped performance
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teten Bühnenteilen, Podesten und womöglich pneumatischen Außenhäuten, basierend auf sich verjüngenden Ringen, mussten bereits aus statischen und platztechnischen Gründen sowie zugunsten einer hoch im Kurs stehenden Wandelbarkeit und Anschlussfähigkeit an weitere Elemente modular oder stapelbar sein. Zusätzlich bedurfte der nun hinzutretende Mobilitätseffekt des Einsatzes teleskopartig ausziehbarer oder (ähnlich dem Fächerblitz älterer Fotokameras) rundum aufspreizbarer Strukturen [Abb. 11], die folglich in gestaffelter Größe zu konzipieren waren. Dies erklärt eine rein äußerliche und daher unfreiwillige Formnähe entsprechender Entwürfe an das uns interessierende Prinzip. Und daher sollte man die mitunter nahezu gegensätzliche Zielsetzung nicht unterschlagen – war Raumabschließende u. Flächenelemente für ein mobiles es doch die Emanzipation des selbstTheater, 1970 bewussten Rezipienten aus den Umklammerungen sowohl des bürgerlichen Theaters samt seiner nachwirkenden Bauten, als auch andererseits eines klassisch modern noch erträumten ‚totalen Theaters‘,51 die man sich neuerdings von nunmehr flexibel und transportabel in Leichtbauweise zu errichtenden, oftmals polyfokal ausgerichteten Spiel- bzw. Erlebnisflächen erhoffte. Im Unterschied zu solchen auf Modularität zielenden, bzw. mittels Modularität der theatralen Flexibilität oder gar Mobilität des gesamten Theaterbaus huldigenden Bestrebungen geht es bei den nach dem Muster des Shaped Canvas konstituierten Beispielen eben vor allem um die Transposition einer inneren auf eine äußere Form, wobei das Prinzip der verkröpfenden Umfassung eines Innern auch einer Übertragung der Werte, Gestimmtheiten oder Sphären auf das nun gleichgeartet Umgebende dient. Nicht für ein dem Publikum sich konfrontierendes, sondern für ein diese konfrontative Zweiheit suspendierendes Theatergeschehen wird hier gebaut, in dem die Publika ihrerseits umarmt, umfangen werden. Unter dem Anschein und offenkundig im sti listischen Habitus säkularer Modernität blickt dennoch Verhängnishaftes durch: Kein Sitzplatz, der es nicht ernst meinte mit dem Versuch, den Betrachter in den Bann zu schlagen. Dabei ist das von Gropius so genannte Gefäß des Theaterbaus eben nicht als Kessel eines bunten Treibens, einer totalen Immersion gedacht. Eher so wie Engel 212 I Christian Janecke
in akkuraten Sphären um Gott angeordnet sind und er durch sie von seiner Existenz kündet, hat auch die nach dem Shaped-Canvas-Prinzip aufgezogene Theaterarchitektur etwas beschwörend Archaisches. So wie die Engel in ihren Sphären nur von Gott her sind, sollen die Zuschauer nur vom Theatergeschehen her sein. Es ist 12 Mobiles Aktionsareal für Lindenfels (Odw.), 1970 dieser totalisierende, gar totalitäre Zug im modernen Theaterbau, den zu erkennen uns die Ausdeutung gewisser inhärenter Formrelationen ermöglicht. Dass auch hier einschränkend gilt, was gegenüber dem Modularen galt: Dass es sich oftmals einfach nur um eine Manie, eine Marotte handelt, so als habe der Entwerfende zeichnerisch gedankenlos und rhythmisch Außenkreis um Außenkreis gezogen, darin die Entlastung von weiterer Entscheidung über den Formverlauf genießend, nimmt dem Shaped-Canvas-Prinzip zwar etwas von seinem Bann, lässt die verbleibende Bindungskraft aber als eine gleichsam subjektlos willkürliche dastehen: So als sollte sich etwas grundlos, wie nach dem mathematischen Prinzip des Strahlensatzes oder anders der Spirale perpetuieren. Eine derartig profane, ja mutwillige Verwendung des Shaped-Canvas-Prinzips, bei der es sich genaugenommen gar nicht mehr um einen das Äußere bestimmenden Kern, sondern gewissermaßen nur noch um einander progredient folgende Außenformen um der schieren Progredienz willen handelt, findet sich in Entwürfen der 1970er Jahre verschiedentlich – nämlich als die Manier, eine in normierter Abwinkelung mäandernde (oder eine Rundung grob umschreibende) Form umlaufend zu verkröpfen. Ein Erbe diesen Geistes sind jene Linienpläne des öffentlichen Nahverkehrs, die dank genormter Abwinklungen und Parallelformation zwar außerordentlich kohärent wirken, dank ihrer unfreiwilligen Ornamentalität aber auch unübersichtlich wurden (und oftmals bis heute sind!). Oder man denke – um nun auf das Theatrale zurückzukommen – an jene mobilen „Mehrzweckanlagen“ der 1970er Jahre, die auf eine Mischnutzung ausgelegt waren und folglich die Ausbildung von architektonisch-temporären Hybriden auf den Plan riefen, beispielsweise bei den in Lindenfels (Odw.) für ein entsprechendes Areal eingepassten Rängen für eine so genannte „Aktion“ [Abb. 12]. Im seinerzeitigen EntShaped canvas und shaped performance
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wurf für die gesamte Anlage heißt es, es könnten „Theater, Musik, Diskussion [...] mit Darbietungen und Aktionen auf dem Platz verbunden werden“.52 Wie man an der Abbildung ersieht, lösen sich die Ränge aus der Umfassung einer wie auch immer geStudio 65: Sitzmöbel „Leonardo“, 1969 arteten Darbietung im weiteren Verlaufe gleichsam, um sich unvermittelt in veränderter Richtung fortzusetzen, nämlich eine platzartige Zugangssituation flankierend. Statt von einem herrschenden Prinzip ‚Shaped Canvas‘ wäre hier, nämlich bei einer derart beiläufig realisierten verkröpfenden Nutzung, angemessener von einer nun nach Belieben dosierbaren Eigenschaft zu sprechen, in der die erläuterten totalisierenden Wirkungen nurmehr nachklingend im fließenden Übergang sich finden zu einer rein modischen Manier: etwa auch für eine durch Jasper Johns’ Flag Paintings inspirierte, nach vorne tribünenartig S-förmig mäandernde Eckbank „Leonardo“ (1969) [Abb. 13] des Turiner Studio 65, bei der die roten und weißen ‚Stripes‘ nun willkommenes Motiv einer verkröpfenden Führung werden – und ganz allgemein für jene ornamental regenbogenfarbige Mehrfachkontur, die das Pop-affine Grafikdesign der späten 1960er und frühen 1970er Jahre so häufig auszeichnet.
3. Ausblick: Shaped Canvas als Modell Das Shaped-Canvas-Prinzip manifestierte sich großteils als Totalisierungstechnik, derzufolge die Ränge als striktes Formecho der Bühne einer Beschwörung des Publikums zuspielten, so als sollte es nur vom Bühnengeschehen her zu denken sein. Doch auch eine säkulare Programmatik modularer Disponibilität wurde sichtbar, schließlich sogar die ‚stylishe‘ und hedonistische Variante einer betont integrativ aufgemachten, Events, Spielplattformen, Plätze verkröpfenden Führung von Rängen – zu einer Zeit, da Hard Edge und Pop Art längst vermählt waren und als auf Schallplattencovern in psychedelischer Manier auch die Silhouette schöner Mädchen vielfach ornamental umrahmt wurde. Aus dieser Wandelbarkeit zu schließen, es gäbe gar kein Shaped-Canvas-Prinzip, wäre freilich verfehlt. Dass es sich mentalitär bzw. ideologisch je nach Kontext und Absicht der Nutzenden verschiebt, heißt nicht, dass kein relevant struktureller, d. i. formgestischer Kern dieses Prinzips auszumachen wäre. Doch wie steht es um ein Modell ‚Shaped Canvas‘? Modelle haben ja nicht notwendigerweise etwas mit der Sache gemein, die sie modellieren, und mitunter sollen sie es auch gar nicht. Beispielsweise könnte ein Sozialwissenschaftler mithilfe durch- und ge214 I Christian Janecke
geneinander rollender Billardkugeln die Begegnungen zwischen Passanten in einer öffentlichen Halle zu modellieren suchen. Dabei müsste er weder von insgeheimen Ähnlichkeiten zwischen Passanten und Billardkugeln ausgehen, noch auch nur von einem objektiv obwaltenden Prinzip besagter Begegnungen, das er diagnostizieren könnte. Stattdessen würde er sein Modell, bildlich ausgedrückt, selber mitbringen und es seinem Untersuchungsgegenstand probeweise oktroyieren. Ein Modell ‚Shaped Canvas‘ würde also weder implizieren, dass die betrachtete Angelegenheit kategorial unter das im ersten Abschnitt rekapitulierte Bildformat ‚Shaped Canvas‘ fiele, noch auch nur, dass sie nach dessen im zweiten Abschnitt untersuchten Prinzipien wirklich funktionieren würde bzw. strukturiert wäre. Stattdessen würde es völlig hinreichen, wenn ein solches Modell bestimmte Aspekte der infragestehenden Angelegenheit zu erhellen hilfreich wäre. Und nur kontingenterweise würde unser auf kunstnahe Dinge angewandtes Modell selbst der Kunst entstammen. Wie jedes andere Modell auch, wäre es ersetzbar durch ein u. U. treffenderes, sei es aus der Kunst oder aus ganz anderem Felde – und wie jedes andere Modell wäre es auch anwendbar auf kunstexterne Bereiche. Gerade hier liegen interessante Möglichkeiten für die Kunstwissenschaft bzw. genauer: für kunstwissenschaftlich Denkende. Dazu muss man sich freilich verkneifen, bloß umgekehrt immerzu kunstexterne, lieber aus der gut beleumundeten Welt der Naturwissenschaften oder Technik stammende Modelle (oder Gleichnisse oder auch nur Metaphern) zur Erhellung künstlerischer bzw. kultureller Probleme heranzuziehen – eine intellektuelle Manier, über die man sich ja zu Recht lustig gemacht hat.53 Warum also nicht auch einmal charakteristische Effekte, Funktionsweisen, Mechanismen, Kniffe der Kunst als Modell für Kunstexternes verwenden? Um zunächst ein erheiterndes, aber nicht albernes Beispiel zu geben: Die allgemein bekannten, landläufig ‚Matrjoschka‘ genannten, russischen Schachtelpuppen funktionieren augenscheinlich ja eher von außen nach innen. Den Nutzer erfreut das wiederholte Sich-selbst-Enthalten, sei es einer volkstümlich augestalteten Figur, oder in neuerem Gebrauche vielleicht einer Reihe prominenter Politiker. So enthält ein ‚Putin‘ einen ‚Jelzin‘, einen ‚Gorbatschow‘ und so weiter herunter bis zu Ivan dem Schrecklichen. Dieser sozusagen regierungsfreundlichen Nutzungsweise und Lesart zufolge wäre Putin als die weitaus größte Puppe einer, der die Macht und Leistung aller früheren Staatsoberhäupter in sich vereinen würde, sie buchstäblich inkorporiert hätte. In Anwendung eines Modells ‚Shaped Canvas‘ ließe sich nun aber genau umgekehrt argumentieren, dass ausgehend von der zwar kleinsten, aber irreduzibel im Kern der Verschachtelung steckenden Puppe des ‚Ivan‘ jede folgende, etwas größere stets nur eine weitere Verpackung, eine weitere Hülle bzw. Hülse wäre, gänzlich ohne eigenen Willen wie ein Popanz – was im Übrigen recht genau der in Russland bekannten Herstellungsweise der Schachtelpuppen entspräche, die tatsächlich von innen nach außen gearbeitet werden, bei denen sich also eine jede weitere nach der vorangegangenen kleineren Puppe richtet, wobei es gilt, durch akkurate Handarbeit möglichste dünne und mithin verblüffend viele Schichten zu erschaffen. In Zugrundelegung unseres Modells ‚Shaped Canvas‘ würde heutige russische Politik sich also decouvrieren als aus der blinden Anwendung Shaped canvas und shaped performance
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der Regel resultierend (nämlich der Regel eines sorgsamen Umgebens der nächstinneren Figur und d. i. der historisch vorausgegangenen Politik durch die jeweils folgende). Form und Größe des jüngsten und d. i. des derzeitigen Staatsoberhauptes wären dann nur Indizien einer Nachwirkung seiner machtvollen Vorgänger! Abschließend ein ernsthafteres und auch näher an der Kunst liegendes Beispiel: Mit dem Ziel, den ausstellungsinstitutionellen Kontexten sowohl der Bildenden Kunst als auch den baulichen und bühnenbildnerischen Verstetigungen des Theaters ein Schnippchen zu schlagen, wird in der Performance Art dem Publikum oft gar kein fester Platz, ja nicht einmal eine Position am Ort der Aufführung zugewiesen; im Falle einer Lokalisierung im öffentlichen Raum lässt man die potentiellen Zuschauer mitunter sogar im Unklaren darüber, dass es sich um Performance Art handelt, statt bloß um ungerahmtes Alltagsgeschehen. Die Theaterwissenschaften haben sich dazu, obgleich in den letzten Jahren verstärkt auch der Rolle des Zuschauers54 Augenmerk schenkend, meines Wissens noch nicht geäußert, ohnehin nicht die Kunstgeschichte. Zur Annäherung an die Frage, wie Zuschauer und Akteure bei einer Performance zusammenhängen, möchte ich vorneweg eine konzeptuelle Fotoarbeit von John Baldessari ins Spiel bringen. In „Two Crowds (with shape of reason missing)“ (1984)55 [Abb. 14] hat der Künstler Schwarzweißfotografien, einmal von einer Hochzeit aus einem historischen Film und einmal von der Ausrufung des Kriegszustandes in Berlin am 1. August 1914 verwendet und jeweils genau jenen Raum ausgeweißt, der sich zwischen Akteuren und Publikum gebildet hat. In seiner Beschäftigung mit dieser Arbeit hat nun John Tagg argumentiert, es seien nicht so sehr die Akteure hier wie dort, deren ‚Auftritte‘ die Masse zum Publikum forme, sondern vielmehr ermögliche umgekehrt die sich zum Publikum erhebende Masse überhaupt erst die Performance als Performance, ja autorisiere sie gleichsam: „Wenn die Menge von dem Ereignis hervorgerufen wird, so bildet sie gleichzeitig eine notwendige Bühne und einen ebenso verzichtbaren Hintergrund, indem sie – in mehr oder weniger gewalttätiger Passivität – ihre Zuschauerrolle als Bedingung eines spektakulären Ereignisses behauptet.“56 In Übertragung auf unsere Fragestellung könnte man folgern, es seien wohl auch die sich einfindenden Zuschauer, die, um einen Performer sich scharend, diesem erst eine Bühne verschafften und seinen Auftritt autorisierten – eine irgendwie unkonventionelle Sichtweise mit Strahlkraft (auch weil sie die in gewissen Diskurskreisen hoch im Kurs stehende Rolle eines vermeintlich konstitutiven Publikums nahezu buchstäblich illustriert). Ohne diese bestrickende Möglichkeit generell zu verwerfen, gälte es jedoch noch einmal genauer zu überprüfen, was an dieser Argumentation eigentlich triftig ist. Dazu schlage ich vor, die Publikumskonstellation sowohl der von Baldessari verwendeten Situation der Kriegsausrufung durch den Offizier als auch der Performance Art, sofern sie im o. g. ungesicherten Feld sich realisiert, mit aufführungsähnlichen Situationen ganz anderer Art zu vergleichen, nämlich mit spektakulären Alltagsereignissen wie z. B. Missgeschicken oder Unfällen: Wie jedermann schon erlebt haben wird, bringen sich bei solchem Anlass die ersten Schaulustigen und wohl auch einige Anteilnehmende gegenüber einem Verunglückten in eine Position der Betrachtung, und ein Publikum rekru216 I Christian Janecke
tiert sich peu à peu. Stehenbleibende Passanten wahren gegenüber dem Pechvogel, der ihre Neugier weckte, eine Distanz, die groß genug ist, um keine ungewollte persönliche Zugehörigkeit oder Involviertheit zu signalisieren, und die doch klein genug bleibt, um die Schaulust befriedigen oder, wo nötig, Anteilnahme zeigen zu können. Ganz wesentlich hängt die Distanz auch davon ab, wie viele Einzelne sich bemüßigt fühlen zu verweilen, wobei sich der Zuschauerring stets genau so lange ausdehnt, bis die anwachsende Distanz der Einzelnen die Ereignisbindung zu zerreißen droht – so dass ab diesem Zeitpunkt weitere Neugierige mit einer zweiten Reihe Vorlieb nehmen müssen und aus dem Kreis allmählich ein Pulk von Zuschauern wird. Auch der Zustand des Verunglückten bzw. die ‚Appettitlichkeit‘ des Ereignisses bestimmen die gewahrte Distanz mit. Schließlich wirken sich die Form und die räumliche Ausrichtung des Unfalls bzw. der Verunglückten auf die Art der Gruppierung der Umstehenden fast unmittelbar aus: Stark ansichtsseitige Ereignisse, etwa erbarmungswürdige Kreaturen vor oder an ei- 14 John Baldessari: „Two Crowds (with shape of reason missing)“, 1984 ner Häuserwand, werden kein Zuschauerrund, sondern ein eher tiefes Halbrund provozieren, bei dem es gute, obgleich vergleichsweise weit entfernte, sodann hintere Plätze und zuletzt auch nah dem Ereignis angesiedelte, dafür aber von ungünstigeren Einblickswinkeln behaftete Randpositionen gibt – eine Publikumsaufstellung, die nicht zufälligerweise jenem Kompromiss aus freier Orchestra mit umgebenden Rängen und gleichzeitiger Ausrichtung auf eine latent bildhafte Szenerie frappant ähnelt, wie er sich im Theaterbau seit der Spätantike manifestierte und insbesondere seit dem Barock noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein üblich blieb.57 Wenn nun aber die Publikumskonstellationen bei Baldessari und anders bei der Performance Art sich praktisch in nichts unterscheiden von denjenigen, die hier anlässlich eines zweifellos von niemandem beabsichtigten und jedenfalls nicht durch das Publikum ermunterten Unfalls sondiert wurden, dann verliert eine Argumentation an Überzeugungskraft, die von der Autorisierung, ja Konstituierung der Performance qua Publikumskonstellation ausgeht. Mag es daher zwar gewisse Konstellationen des Publikums geben, die einer Performance die Bühne erst bereiten, so sind diese Konstellationen doch in der Hauptsache charakterisierbar als eine wesentlich vom Ereignis gestiftete Gemengelage aus sozialer Interaktion, internalisierten Regeln des Respekts und einer zur Optimierung drängenden ÜberlageShaped canvas und shaped performance
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rung der Sehinteressen vieler Einzelner bei gleichzeitig gewahrter Bindung an eine vom Ereignis geschiedene, ihm sich konfrontierende Gruppe. Viele Performer sind sich, so meine Beobachtung, über diese Mechanismen, d. h. also ihre eigene Macht implizit im Klaren, jedenfalls kalkulieren sie die Publikumssituation mit ein. Und in Anwendung eines Modells ‚Shaped Canvas‘ würde ich sagen, dass es kein Zufall ist, dass ihnen überschaubar dimensionierte Räume mitunter lieber sind als große Säle. Denn die körperliche Anlage bzw. Inszenierungsweise ihrer Arbeit vor den Zuschauern, oder besser: inmitten des Publikums erlaubt es ihnen, dieses Publikum – Artaud lässt grüßen! – gleichsam zum Außenrand ihrer Arbeit zu machen. Eine bislang nicht angesprochene, aber ganz entscheidende Praxis in diesem Zusammenhang ist die Verwendung von Körperextensionen (Textilien, Prothesen, Stangen, aber auch das eigene Haar als langer Pinsel usw.), mit denen Performer gerne hantieren und mit denen sie nicht allein ihr Äußeres, gewissermaßen ihre eigene ‚Bildaußenform‘, markieren bzw. ausweiten, sondern die sie als Aktionsgrenze auch gerne vom Publikum besetzen lassen – und dies nicht nur, um sich, wie Marina Abramovicz in einer berüchtigten Arbeit, den Sadismen und Launen eines sie umringenden Publikums als Opfer auf eine gewisse Zeit auszusetzen. Ein Künstler wie Franz Erhard Walther, obgleich er seinerzeit ja eher publikumslos agierte, hatte diese Bedeutung der Ränder zum Publikum m. E. dennoch gut verstanden: Seine Stoffbahnen, gedacht als Instrumente, um Betrachter zu aktivieren und zu Nutzern zu machen, ermöglichten durch ihnen inhärente Radien bzw. materiale Grenzen von Aufspannbarkeit eine Verwendung, bei der die Nutzer gleichsam als Pole bzw. als die lebenden Ränder solcher Gebilde figurierten! Wie eingangs schon gesagt: Ein Modell ‚Shaped canvas‘ diagnostiziert weniger, als dass es dem zu Deutenden eher bloß oktroyiert wird, um es zu erhellen. Deshalb würde ich auch nicht so weit gehen, den Performern zu unterstellen, sie würden gezielt das Publikum auf eine Weise arrangieren, die dem Credo ihrer Performance Nachdruck verleiht. Indes erlaubt uns die Anwendung unseres Modells, klarer zu sehen, in welchem Maße Performance Art gerade und noch in der programmatischen Auflösung der als starr erachteten festen Sitzordnungen des Theaters einer Bemächtigung über das Publikum ganz anderer Art verhaftet bleiben kann: nämlich dessen Zurichtung zu Bezeugenden eher denn Zeugen, zu einer Gemeinde in einem Ring of fire um den Performer, um die Performance. Das Paradigma solch bündischen bis fanatischen Verhältnisses von Publikum zu Performer wäre dann nicht schlecht beschrieben durch den Vergleich mit der auf Sandro Botticellis Dresdner Zenobius-Tafel (1500–05) [Abb. 15] ganz rechts dargestellten Episode. Der hochbetagte, in seinem Leben durch allerhand Wundertaten hervorgetretene Bischof, nun auf dem Sterbebett liegend, spendet einen letzten Segen, während sich die Anwesenden, allesamt ehemals von ihm Geheilte oder Erweckte, inbrünstig an ihn, d. i. eigentlich an den dramatisch roten Stoff des ausge breiteten (und für diese Zeit merkwürdig altertümelnd in die Fläche geklappten) Betttuches klammern, ja die gleichsam rote Aura des Alten durch ihr in Kutten gehülltes Leben umsäumen: savonarolisch ergriffen,58 nur von Zenobius her und auf ihn hin anwesend. 218 I Christian Janecke
Ja, und jetzt käme es wohl darauf an, mit diesem Modell weiterzuarbeiten, zu schauen, ob es beispielsweise auch auf jene Situation in der Tate Modern anzuwenden wäre, da Tania Bruguera in „Tatlin’s Whisper“ (2008) die kunstinteressierte Menge durch zwei berittene Polizisten treiben, anweisen, sich teilen, sich wieder schließen und immer wieder sanft ausweichen lässt; ob diese beweglichen Grenzverläufe zwischen den von der Künstlerin bestallten Aggressoren und dem schwarmintelligenten (oder auch nur generv15 Sandro Botticelli: „Leben und Wundertaten des heiligen Zenobius“ ten) Publikum uns womög(1500–05), vgl. Farbabb. XIII. lich nur genau deshalb so emanzipativ und bedeutsam erscheinen, weil in ihnen die gemäß einem Modell ‚Shaped canvas‘ eklatanten, da durch die Berittenen von innen heraus erzwungenen Außenverläufe doch kongruieren mit den von außen durch die Menge verschobenen Innenverläufen. Aber das würde jetzt bereits Modifikationen unseres Modells voraussetzen und schon zu weit führen für den hier bloß unternommenen Ausblick.
4. Fazit Das Theoriepotential eines Denkens über Kunst nicht primär aus gewohnt kunsttheoretischer bzw. kunstwissenschaftlicher Warte, sondern gleichsam aus und mit typisierbaren Optionen, Kunstgriffen, Prinzipen der Kunst selbst, die nun ihrerseits Mittel, Kategorien, Instrumente der Untersuchung werden, eignet sich kaum für eine stolze Quintessenz. Denn dass ein Prinzip ‚Shaped Canvas‘ einigen Strukturen modernen Theaterbaus nachweisbar, dass ein Modell ‚Shaped Canvas‘ zur Erörterung gewisser Anordnungsverhältnisse zwischen Performance Art und ihrem Publikum anwendbar war, berechtigt uns noch keineswegs zu der Annahme einer weiteren Transponierbarkeit jenes Prinzips bzw. Modells. Wir wissen schlichtweg nicht, wo besagtes Prinzip noch weitere Geltung hätte und wo besagtes Modell noch weiterhin triftig wäre – solange wir es nicht an entsprechend neuer Stelle probiert hätten! Shaped canvas und shaped performance
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Im Unterschied zu jenem metallenen Theoriebesteck, welches intellektuelle Pro tagonisten gerne flächendeckend, und sei es mit mehr oder weniger Berechtigung und Geschick, im Kunst- oder Kulturbereich einsetzen, handelt es sich hier, um nun bei der Besteck-Metapher zu bleiben, eher um Holznadeln oder Holzhämmer für Hölzernes – wodurch, um es geradeheraus zu sagen, nicht nur die weitere Einsetzbarkeit, sondern nur schon die Tauglichkeit unseres Werkzeuges überhaupt in Frage steht! Nur wer einzuräumen bereit ist, dass es sich beim Gegenstandsbereich ‚moderner Theaterbau‘ um eine offen vielgestaltige Struktur und beim Theoriebesteck eines Prinzips bzw. Modells ‚Shaped Canvas‘ um eine charakteristisch verstetigte, eine typische Option, gleichsam einen topischen Kunstgriff handelte, wird dem hier Vorgelegten überhaupt genügend Theoretizität und mithin mehr attestieren als den einfältigen Versuch, bloß Kunst mit Kunst zu erhellen. Mithin konnte mein Beitrag auch keine wie hingegossen sich erstreckende Beispiellandschaft durchschreiten, sondern eher nur vorführen, wie eine solche allmählich zu erzeugen, d. i. dem schlummernd Unbemerkten abzugewinnen wäre. Erst wenn und indem Nachfolgende sich bequemen würden, den Ball aufzufangen, ihn weiter hin und her zu spielen, so könnte, wie es die Einleitung versprach, aus theorierelevantem Potential (welches vermutlich jedermann einem ‚Shaped Canvas-Prinzip‘ konzedieren würde) ein relevantes Theoriepotential sich ergeben dergestalt, dass es als wirklich verlässliches Theoriebesteck in den Werkzeuggürtel der Kunsthistorikerschaft gehören würde. Aus der Perspektive meines Ansatzes, das sei abschließend bemerkt, stellen sich manche jüngeren Aktivitäten des Faches Kunstgeschichte, etwa ihr bildversierter Blick auf den Film, als durchaus ermutigend dar, während anderes, darunter vieles, was in den letzten Jahren unter Begriffen wie ‚Bildwissenschaften‘ oder ‚Visual Culture‘ firmiert, eher nur einer überfälligen Ausweitung (oder Rückeroberung) des kunsthistorischen Gegenstandsbereiches gleichzukommen scheint. Was man dort, und ohnehin auf den angestammten und reichlich bestellten Feldern der Kunstgeschichte mit Fug vermissen darf, ist eine Verbesserung der Außenhandelsbilanz des Faches: dass die Kunstgeschichte die in der Kunst sich herauskristallisierenden oder längst herauskristallisierten Prinzipien, Modelle, theorieaffinen Figuren, statt sie immer nur pro domo zu entwickeln oder sie zu importieren, endlich auch exportiere.
Anmerkungen 1 Henri Focillon: Das Leben der Formen („La vie des formes“, 1934), Bern 1954, hier bes. die im 1. Kapitel („Die Welt der Formen“, S. 7–33) vertretene Auffassung einer eigenlogischen, heute würde man sagen: ‚emergenten‘, Entwicklung der Formen, die nicht zuallererst Form für etwas sind. 2 Vgl. hierzu Ernst H. Gombrich: Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie („Aby Warburg. An Intellectual Biography“ 1970), Hamburg 2012, hier bes. den Abschn. „Antikes Pathos und seine Gefahren“, S. 327 ff. 3 Wenngleich es möglich ist, in gewissen meist bildintern motiviert den konventionellen Außenrand durchstoßénden Beispielen der klassischen Moderne Vorläufer zu sondieren, erweisen sie sich
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doch sämtlich als nicht triftig bei Zugrundelegung einer engeren Definiton der Shaped canvas (siehe dazu meinen 2. Abschn.). Vgl. Bernhard Kerber: Vorläufer Frank Stellas. In Kat.: Frank Stella. Werke 1958–76, Kunsthalle Bielefeld (17.4.–29.5.1977)/Kunsthalle Tübingen (9.6.– 24.7.1977), S. 81–95. Vgl. zu diesen nebst weiteren im Zusammenhang mit der Shaped canvas erwähnten Künstlern Frances Colpitt: The Shape of Painting in the 1960s. In: Art Journal, Bd. 50, Heft 1, (Frühj.) 1991, S. 52–56. Vgl. Christian Janecke: Harte Schnitte – Vidal Sassoon und die späte Moderne. In: Annette Geiger (Hrsg.): Der schöne Körper: Mode und Kosmetik in Kunst und Gesellschaft. Köln/Wien/Weimar 2008, S. 183–202. Frank Stella zufolge, dem prominentesten Vertreter und gewissermaßen Initiator bzw. Stichwortgeber der Debatte um die Shaped canvas, muss weder zwangsläufig das Bildinnere die Außengestalt, noch umgekehrt diese jenes bestimmen, sondern beides soll sich als Entsprechungsverhältnis ergeben. Vgl. hierzu Kerber: Vorläufer Frank Stellas (Anm. 3), S. 83, sowie dort Anm. 7. Abb. in Kat. Frank Stella. Haus der Kunst München, 10.2.–21.4.1996, S. 164. Ein Beispiel gäbe Frank Stellas „Slieve Bawn“ (1974). Vgl. hierzu die langen Ausführungen zu „Quathlamba“ (1964) in der eigentlich einem späteren Bild von Frank Stella gewidmeten Werkmonographie von Max Imdahl: Frank Stella. Sanbornville II., Stuttgart 1970, hier S. 12. Das gilt auch für manche Werke Robert Rymans, bei denen es per Verschraubung des Bildes an der Wand freilich genau darum geht, eine Konizidenz von Bilderscheinung (Leinwand mit Schraubenköpfen) und Trägerfunktion zu initiieren, die das Herunterfallbare des Bildes als eines Dinges betont. So auch schon sinngemäß, nämlich die Affinität zu „dreidimensionalen Werken“ beschreibend, Donald Judd: Spezifische Objekte. („Specific Objects“, Arts Yearbook 8, 1965), Abdr. bei Gregor Stemmrich (Hrsg.): Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, 2. erw. Aufl. Dresden 1998, S. 59– 73, S. 67. Dies gilt etwa für jene zahlreichen Bilder Charles Hinmans, deren Außenform durch das Überden-Rand-Hinausreichen bildintern illusionierter Quader und dergleichen zustande kommt, oder für Sven Lukins ganz dem Pop-Geschmack ergebene Materialisierungen bildinterner Gesten gleichsam aus dem Bild heraus (so als würde das Bild seine Zunge herausstrecken), oder für die mit Raumillusion liebäugelnden geometrischen Behältnisse eines Ron Davis. Judd: Spezifische Objekte (Anm. 11), S. 67. Nicht zu verwechseln mit jener von Michael Fried den Werken der Minimal Art attestierten „Objecthood“, die sich im Unterschied zur Shaped Canvas ja gerade nicht auf ein Bündel werkinterner Merkmale bezieht, sondern auf die besondere Relation zum Betrachter, dem die minimalistischen Werke nach der Ansicht Frieds aufwarten, dessen Kopräsenz sie zu thematisieren scheinen. Vgl. Michael Fried: „Art and Objecthood“, 1967, hier nach dt. Übers. bei Stemmrich: Minimal Art (Anm. 11) S. 334–374. Dies anhand der Black Paintings Stellas herauszuarbeiten – „Malend geht Stella gegen die Malerei an – im Anschein der Malerei vollzieht sich die Dämmerung der traditionellen Bildidee“ – ist ein Anliegen Gottfried Boehms: Bild-Dinge. Stellas Konzeption der ‚black-paintings‘ und einige ihrer Folgen. In Kat.: Frank Stella. Werke 1958–76 (Anm. 3) S. 11–17, S. 15. Vgl. Fried: „Art and Objecthood“ (Anm. 14). Philip Leider: Literalismus und Abstraktion: Frank Stellas Retrospektive im MoMa (Erstm. engl. in: Artforum VIII., Nr. 8, April 1970, S. 44–51), hier nach der Übers. einer erw. Fassung bei Stemmrich: Minimal Art (Anm. 11), S. 407–417. Imdahl: Frank Stella (Anm. 9), S. 7.
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19 Ebd., S. 8. 20 Ebd., S. 16. 21 Vgl. Jochen Meyer: Theaterbautheorien zwischen Kunst und Wissenschaft. Die Diskussion über Theaterbau im deutschsprachigen Raum in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Studien und Texte zur Geschichte der Architekturtheorie, hrsg. v. Werner Oechslin), Zürich/Berlin 1998, hier der Abschnitt: „Die Suche nach der idealen Form des Auditoriums: Das Problem der Theaterform“, S. 73–109. 22 Beispielsweise die Dreiviertelkreisform allein für das Auditorium schloss diesen Bereich gegen die Spähre der Bühne ab (vgl. ebd. S. 82), zur antikisierenden Halbkreisform ebd. S. 92–97. 23 Vgl. dazu umfassend Silke Konneffke: Theater-Raum: Visionen und Projekte von Theaterleuten und Architekten zum anderen Aufführungsort; 1900–1980. Berlin 1999; zu den teils widersprüchlichen Vorstellungen vom Theater in der Reformzeit vgl. Jutta Boehe-Selle: Feste des Lebens und der Kunst. Die Reformbewegung und das Theater“, in Kat.: Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900 (Hrsg.: K. Buchholz/R. Latocha/H. Peckmann/K. Wolbert), Institut Mathildenhöhe Darmstadt, 1. Aufl. 2001, Bd. I., S. 325–328. 24 Konnefke (Anm. 23) S. 39–43. 25 Konnefke (Anm. 23) S. 57 ff., bes. S. 60 (siehe dort auch Anm. 51). 26 Peter Behrens: „Feste des Lebens und der Kunst“ (1901), hier nach Konnefke (Anm. 23), S. 26. 27 Peter Behrens: „Feste des Lebens und der Kunst“ (1901), hier nach Boehle-Selle (Anm. 23), S. 326. 28 Walter Gropius: „Theaterbau“ (Vortrag in Rom, 1934), abgedr. bei Manfred Brauneck: Theater im 20. Jahrhundert, Programmschriften, Stilperioden, Reformmodelle. 8. aktualisierte Ausg., Reinbek bei Hamburg 1998, S. 161–169, S. 161. 29 Ebd. S. 164. 30 Antonin Artaud: Erstes Manifest zum Theater der Grausamkeit (hier der Abschnitt „Die Bühne – Der Zuschauerraum“), in: Brauneck: Theater im 20. Jahrhundert (Anm. 28), S. 395–404, zit. S. 401. 31 Konnefke (Anm. 23), S. 192. 32 Vgl. hierzu allerdings die differenzierenden Einwände gegen jene Verächter Artauds, die ihm regressiven Ritualismus vorwerfen, bei Erika Fischer-Lichte: Die Entdeckung des Zuschauers. Paradigmenwechsel auf dem Theater des 20. Jahrhunderts. Tübingen/Basel 1997, hier Kap. 8 („Die Wirksamkeit theatraler Zeichen. Überlegungen zur Theaterkonzeption Antonin Artauds“), S. 189–203. 33 Vgl. kritisch zusammenfassend hierzu auch Klaus Lazarowicz: Die Rampe. Bemerkungen zum Problem der theatralen Partizipation, in: Wolfgang Frühwald/Günther Niggl (Hrsg.): Sprache und Bekenntnis. Festschrift Hermann Kunisch zum 70. Geburtstag 27.10.1971, Berlin 1971, S. 295– 314, hier S. 298 f. 34 Abdr. bei Dirk Scheper: Oskar Schlemmer – das triadische Ballett und die Bauhausbühne (Schriftenreihe der Akademie der Künste, Bd. 20), Berlin 1988, S. 264. 35 Dagobert Frey: Zuschauer und Bühne, in: ders.: Kunstwissenschaftliche Grundfragen, Wien 1946, S. 151–223, S. 167. 36 Vgl. Kat.: Der Hang zum Gesamtkunstwerk. Europäische Utopien seit 1800. Kunsthaus Zürich (11.2.–30.4.1983)/Städtische Kunsthalle und Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen Düsseldorf (19.5.–10.7.1983)/Museum Moderner Kunst, Museum des 20. Jahrhunderts Wien (10.9.– 13.11.1983), Hrsg.: Harald Szeemann, 2. Aufl. 1983, S. 343–368; Regine Prange: Das Kristalline als Kunstsymbol. Bruno Taut und Paul Klee. Zur Reflexion des Abstrakten in Kunst und Kunsttheorie der Moderne (Diss. FU Berlin 1990), Hildesheim/Zürich/New York 1991. 37 Vgl. Prange: Das Kristalline als Kunstsymbol (Anm. 36), S. 47 f.
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38 Abdruck des entsprechenden Briefes „Liebe Freunde im Werk“ in Kat. Der Hang zum Gesamtkunstwerk (Anm. 36), S. 346. 39 Ebd., S. 352. 40 Prange (Anm. 36, S. 50) beschreibt den Übergang vom anfänglichen Primat des organischVegetabilen (etwa bei Hablik) zu dem des Anorganischen als Parallele zum Epochenübergang vom Expressionismus zum Funktionalismus des Bauens, notorisch auch bei Tauts Wandel vom „Weltbaumeister“ zum Siedlungsarchitekten (vgl. ebd. S. 51–86). 41 Vgl. ebd. S. 48 ff. 42 Man vgl. nur Wenzel Habliks erst kürzlich wiederentdeckte Ausmalung des Kontorhauses Bölck in Bad Oldesloe. 43 Ebd. S. 154. 44 Vgl. Konnefke (Anm. 23), S. 272–289. 45 Etwa beim Mailänder Teatro Sant’Erasmo (1953) (Abb. bei Konnefke (Anm. 23), S. 280), oder bei Geoffrey H. Brooks Bolton Octagon (1967) in der gleichnamigen Stadt zwischen Liverpool und Manchester (Abb. ebd., S. 278). 46 Meine Beschreibung folgt der Darlegung bei Konnefke (Anm. 23, S. 282 f.), die an den hier zur Diskussion stehenden Formproblemen freilich gar nicht interessiert ist, ja die entsprechenden Implikationen nicht einmal bemerkt. 47 Seitens der Zoobetreiber wird hervorgehoben, die aus sechs gleichseitigen Dreiecken (à 5 m Seitenlänge) gebildete Grundform vermeide jene spitzen Winkel, die ethologisch gesehen bedenklich wären, und man entspreche so eher dem Naturvorbild: „Ein Wald oder ein See sind schließlich auch nicht viereckig.“ Vgl. „Tiere aus Eismeer, Steppe, Tropendschungel im Allwetterzoo Münster“, 1976, S. 90. 48 Konnefke (Anm. 23), S. 330. 49 Werner Ruhnau: „Innen und Außen im Thaterbau“ (1960), hier zit. nach Konnefke (Anm. 23), S. 326. 50 Karlheinz Braun/Nauricio Kagel/Charles Marowitz/Wilfried Minks: Mobiler Spielraum – Theater der Zukunft, Frankfurt/M. 1970. 51 Vgl. die Distanzierung davon ebd., S. 8 f. 52 Vgl. ebd., S. 78. 53 Vgl. Alan Sokal/Jean Bricmont: Eleganter Unsinn. Wie die Denker der Postmoderne die Wissenschaften missbrauchen, München 1999. 54 Vgl. Erika Fischer-Lichte: Die Entdeckung des Zuschauers (Anm. 32); Susan Bennett: Theatre Audiences: A Theory of Production and Reception, London 1997; Jan Deck/Angelika Sieburg (Hrsg.): Paradoxien des Zuschauens: Die Rolle des Publikums im zeitgenössischen Theater, Bielefeld 2008; unlängst noch Bettina Brandl-Risi: Genuss und Kritik. Partizipieren im Theaterpublikum, in: Dietmar Kammerer (Hrsg.): Vom Publicum. Das Öffentliche in der Kunst, Bielefeld 2012, S. 73– 90. 55 Vgl. zu dieser Serie Kat.: John Baldessari. A Different Kind of Order (Arbeiten 1962–1984), MUMOK Wien, 4.3.–3.7.2005, S. 292–305. 56 John Tagg: Ein Diskurs (dem die vernünftige Form fehlt), in: Christian Kravagna: Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur. Berlin 1997, S. 175–200, S. 180. 57 Nach wie vor überaus lesenswert ist die Ableitung diverser Bühnen- sowie Theaterformen aus den Ansprüchen des jeweiligen Typus von Aufführung (und vice versa), bei Friedrich Dieckmann: Ursprünge des Bühnenbilds, in: ders.: Theaterbilder. Studien und Berichte, Berlin (Ost) 1979, S. 29–38. 58 Die Frage, nicht ob, aber inwieweit Botticellis Spätwerk unter dem Einfluss Savonarolas bzw. von dessen Lehren steht, ist kontrovers diskutiert worden (und berührt natürlich auch Datierungsfra-
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gen). Vgl. dazu die zusammenfassende Darlegung bei Andreas Schumacher: Der Maler Sandro Botticelli. Eine Einführung in sein Werk. In Kat. Botticelli. Bildnis, Mythos, Andacht. Städel Museum Frankfurt/M., 13.11.2009–28.2.2010, S. 15–55, hier Abschn. VII. „Endzeitstimmungen eines pictor doctus: späte Werke“, S. 49 ff.
Abbildungsnachweise Abb. 1
Abb. 2
Abb. 3
Abb. 4 Abb. 5 Abb. 6
Abb. 7 Abb. 8 Abb. 9 Abb. 10 Abb. 11 Abb. 12 Abb. 13 Abb. 14
Abb. 15
Frank Stella: „Marquis de Portago“ (2. Version), 1960, Aluminiumfarbe auf Leinwand, 237,5 x 181,6 cm, Kawamura Memorial Museum of Art, Sakura, Japan; Abb. aus Kat. Stella. Haus der Kunst München, S. 164. Frank Stella: „Tomlinson Court Park“ (2. Version), 1959, Emailfarbe auf Leinwand, 213,4 x 276,9 cm, Kawamura Memorial Museum of Art, Sakura, Japan; Abb. aus Kat. Stella. Haus der Kunst München, S. 160. Frank Stella: „Quathlamba“, 1964, Metallpulver in Polymer-Emulsion auf Leinwand, 197,5 x 454,7 cm, Museum of Contemporary Art, Tokio; Abb. aus Kat. Stella. Haus der Kunst München, S. 178. Peter Behrens: Entwurf eines Festspiel-Theaters in Darmstadt (1900); Abb. aus Silke Konneffke: Theater-Raum, S. 25. Antonin Artaud: Schema zum idealen Aufführungsort; urspr. abgebildet in „Aujourd’hui“ 8, 1963, S. 138; Abb. aus Konneffke: Theater-Raum, S. 191. Bruno Taut: Im Großen Sterntempel; Blatt aus ders.: Die Auflösung der Städte. Die Erde oder eine gute Wohnung, oder auch: Der Weg zur Alpinen Architektur, Hagen 1920; Abb. aus Prange: Das Kristalline als Kunstsymbol, S. 471, Abb. 103. Schema des Verf. zu René Allio: Konzept eines flexiblen Theaters, 1955, Grundriss; auf Basis der Abb. aus Konneffke: Theater-Raum, S. 283. Allwetterzoo Münster, 1972, Fotoarchiv des Verfassers. Werner Ruhnau/Harald Deilmann/Max von Hausen/Ortwin Rave: Nutzungsmöglichkeiten des Studios des Stadttheaters Münster, 1972; Abb. aus Konneffke: Theater-Raum, S. 328. Fritz Schäfer: Nutzungsvarianten des Podiums in Ulm, 1969; Abb. aus Konneffke: TheaterRaum, S. 345. Raumabschließende u. Flächenelemente für ein mobiles Theater, 1970; Abb. aus Braun/Kagel/Marowitz/Minks: Mobiler Spielraum, S. 45. Mobiles Aktionsareal für Lindenfels (Odw.), 1970; Abb. aus Braun/Kagel/Marowitz/Minks: Mobiler Spielraum, S. 78. Studio 65: Sitzmöbel „Leonardo“, 1969, Vitra Design Museum, Weil am Rhein. John Baldessari: „Two Crowds (with shape of reason missing)“, 1984, Silbergelatinedruck, Cover einer Sondernummer von „Journal“, Herbst 1985, (hrsg. v. J. Gilbert Rolfe/J. Johnston); Abb. aus Tagg: Ein Diskurs (dem die vernünftige Form fehlt), S. 177. Sandro Botticelli: „Leben und Wundertaten des heiligen Zenobius“ (1500–05), 66 x 182 cm, Ausschnitt rechts, Dresden, Staatliche Kunstsammlungen, Gemäldegalerie Alte Meister, Inv.-Nr. 9, Abb. aus Kat. Botticelli. Frankfurt/M., Kat.-Nr. 65, S. 315 f.
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Wolfgang Ullrich
Kritik der warenästhetischen Erziehung Wer möchte heute schon gern in einer anderen Zeit leben und über eine andere arbeiten? Sich in der Gegenwart zu langweilen, erscheint nahezu unmöglich, und statt sich, wie Intellektuelle manch anderer Periode, in eine Vergangenheit oder Zukunft wegzuträumen, hat man mehr davon, wenn man unter den vielen aktuellen Phänomenen auswählt, die nach Deutung verlangen. Illusorisch ist jedoch, die zahlreichen parallelen Entwicklungen gleichermaßen identifizieren und theoretisch erfassen zu können. Vielmehr denkt der eigenen Zeit immer schon hinterher, wer über sie nachdenkt. Einer der Bereiche, die erst ungenügend begriffen wurden, ist die Konsumkultur. Dabei ist schon die Vokabel ‚Konsumkultur‘ unscharf. Zuerst signalisiert sie nur ein gewisses Wohlwollen: Produkte – von der Fertigpizza über die Hautcreme bis zum Toaster oder Automobil – werden nicht als an sich banal ausgegeben; vielmehr erkennt man sie als etwas an, das Bedeutungen schafft, Rituale hervorbringt und zum Selbstverständnis der Menschen beiträgt. Wer dem folgt, verhandelt ‚Konsumkultur‘ im Verhältnis zu Medien, Schule, Religion oder Kunst. Und wer als Grundlage aller Waren Gestaltung ansieht, erblickt im Konsum ein relevantes Feld der Ästhetik. Wollte man heute dem Konsum eine ähnliche Wichtigkeit zusprechen, wie Intellektuelle vor zwei Jahrhunderten sie der Kunst zu verschaffen versuchten, läge es also nahe, die Macht des Produktdesigns zu erörtern oder sich Gedanken über eine warenästhetische Erziehung des Menschen zu machen. Mit dieser Formulierung auf Friedrich Schiller und seine Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen anzuspielen, heißt jedoch nicht zwangsläufig, eine Analyse der Konsumwelt genauso parteiisch anzugehen wie jener seine Überlegungen zur Kunst. Etwas ernst zu nehmen und sich für etwas einzusetzen, ist vielmehr zweierlei. Und wer Ersteres vorhat, wird zuerst auf eine möglichst distanzierte Betrachtung achten, um die Chance zu nutzen, den Untersuchungsgegenstand von verschiedenen Seiten in den Blick zu nehmen und diversen Vergleichen zu unterziehen. Es geht dann um Unterscheidung und damit um Kritik in der ursprünglichen Bedeutung. Eine Kritik warenästhetischer Erziehung ist vor allem deshalb angebracht, weil Überlegungen zu einer Prägung der Menschen durch Produktgestaltung schon älter sind als die moderne Konsumwelt mit ihren Massenprodukten. So boten die meisten Designtheorien – von Gottfried Semper über den Deutschen Werkbund bis hin zur Ulmer Hochschule für Gestaltung – vor allem Paraphrasen auf die Idee der ‚guten Form‘. Sie alle suchten nach Wegen von der Ästhetik zur Ethik und hatten daher eine warenästhetische Erziehung im Blick. Und da sie durchwegs funktionalistisch orientiert waren, huldigten sie, oft kaschiert als Postulat einer Geschmacksbildung, einer Perfektionierung des Gebrauchswerts der Dinge. Die „entschiedene Hervorhebung des rein Kritik der warenästhetischen Erziehung
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Zweckmäßigen“, die „glatte, auf das Nützliche reduzierte Form“ sowie eine „Abstoßung alles nicht direkt zur Sache Gehörenden“ war das Ideal, wie es Hermann Muthesius, Mitgründer des Deutschen Werkbundes, zu Beginn des 20. Jahrhunderts formulierte. Schmuck und Überhöhung lehnten er und seine Mitstreiter in Theorie und Praxis hingegen ab, denn nur „das Kind schwelgt im Phantastischen“, also in Geschichten und Surrogaten.1 Was über den Funktionalismus hinausging, unterlag somit während der gesamten Moderne dem Verdacht der Täuschung, der durch tauschkritische Topoi linker Denktraditionen noch bestärkt wurde. Dann unterstellte man den Produzenten von Waren – und gerade von Alltagsprodukten – Manipulation, hielt ihnen falsche Gebrauchswertversprechen – Lügen – vor oder nahm gar groß angelegte Verschwörungen an. Der Konsument wurde als der Unterdrückte, Fremdbestimmte, Ausgebeutete und Betrogene gesehen. So etwa beim Philosophen Wolfgang Fritz Haug, der den Begriff der Warenästhetik 1963 in Fortschreibung marxistischer Denkfiguren einführte und sich seinerseits für die Methode der Kritik entschied, diese jedoch ausdrücklich als Erforschung der „Bedingung für die Wirkungsmöglichkeit der Manipulation“ verstand.2 Seine 1971 publizierte Kritik der Warenästhetik wurde zu einem Standardwerk mit internationaler Verbreitung; mehrere Generationen von Pädagogen bemühten sich fortan ihrerseits um Aufklärung, so dass Produktinszenierungen „durchschaut werden können als eine Form der Überwältigung“.3 Drei Jahrzehnte später liest man bei Naomi Klein – geboren im Jahr des Erscheinens von Haugs Buch – noch im selben Tonfall die Warnung vor Markenprodukten, die alles erobern, nicht nur den gesamten Lebensalltag des Menschen, sondern auch „metaphorischen Raum“, also seine Gedanken, seine Urteilskraft und sein Geschmacksempfinden: „Der Raumverlust findet im Innern des Individuums statt, und es wird kein realer, sondern mentaler Raum kolonialisiert.“ Dass einzelne Produkte, wenn sie mehr als nur Gebrauchswerterfüllung bieten, vielleicht auch positiv beeindrucken können oder gar Werte verkörpern und Sinn stiften, wird dabei ignoriert. So als gebe es am Grund der Seele ein wahres, authentisches Selbst, das man schützen müsse, gilt es vielmehr als Skandal, dass schon „weitgehend vorgeprägt“ werde, welche Identität die Menschen haben: „Die Suche nach ihrem Selbst war von Anfang an von der trügerischen Welt des Marketing bestimmt.“4 Äußerungen zufriedener und engagierter Konsumenten, die sich weniger überwältigt und kolonisiert als vielmehr orientiert fühlen, sich emotional zu einer Marke bekennen oder Kennerschaft hinsichtlich der Unterschiede von Produktvarianten entwickeln, werden dann ihrerseits einseitig als Zeichen totaler Entfremdung gedeutet. Doch ist wirklich nur verblendet und korrumpiert, wer bestimmte Produkte kauft, um sich für sich selbst oder gegenüber der Außenwelt zu definieren? Jemand wie Florian Illies, ebenfalls 1971, im Jahr der Publikation von Haugs Buch geboren, lieferte mit Generation Golf (2000) einen – seinerseits einseitigen – Gegenentwurf zu dieser Unterstellung: Für ihn sind Produkte emotionale Biografiemarker – oder sind dies zumindest geworden, seit viele von ihnen als Markenartikel aufwendig inszeniert werden und funktiona226 I Wolfgang Ullrich
listische Maßgaben ausdrücklich hinter sich gelassen haben. Durch die alltäglichsten Massenartikel – Nahrungsmittel, Kosmetik, technisches Zubehör – lässt sich eine Identität – für Gruppen wie für Individuen – aufbauen, in ihnen verdichtet sich Lebenserfahrung: „Der Kauf bestimmter Kleidungsstücke ist“, so Illies, „wie früher die Lektüre eines bestimmten Schriftstellers, eine Form der Weltanschauung geworden. In dem, was ich kaufe, drückt sich aus, was ich denke.“5 Viele herkömmliche Kritiker des Konsums mögen, bildungsbürgerlich konditioniert, eine solche Parallelisierung von Literatur und Konsumprodukten als frivol empfinden. Doch blenden sie voreilig aus, dass die meisten hochkulturellen Artefakte ebenfalls in kommerziellen Zusammenhängen entstanden und insofern – auch – Waren sind, zumindest aber an ein Publikum adressiert und daher dessen Erwartungen angepasst gestaltet werden. (Selbst der Gestus der Verweigerung oder Provokation, häufig zum Zeichen des Hochkulturellen und Autonomen erklärt, bleibt ‚ex negativo‘ sehr genau auf das Empfinden eines Publikums bezogen!) Umgekehrt haben viele Produkte heutzutage eben nicht nur eine Funktion, sondern auch ein Image, sie weisen als Teil eines Lebensstils oder Zeitgeists über sich hinaus, mit ihnen werden gezielt Assoziationen geweckt. Damit aber bieten sie Inszenierungen von Emotionen, Handlungen, Situationen und gehören in die Welt des Fiktionalen, die aus weit mehr besteht als aus kindlichen Phantasien: Sie sind – auf welchem Niveau auch immer – genauso eine Leistung der Einbildungskraft wie der Plot eines Films oder eine Romanfigur. Wie sehr im Fall der Konsumwelt abgelehnt wird, was bei Formen traditioneller Hochkultur Anerkennung findet, zeigt sich auch daran, dass kaum jemand einen generell negativen Begriff von Überwältigung hat. Vielmehr gehört es zu den festen Hoffnungen des Kunstpublikums, von Werken in den Bann gezogen zu werden. Es gibt eine Sehnsucht nach einer starken Wirkung der Kunst, der man sich gerne unterwirft. Um nur ein Beispiel zu nennen: Der Kunsthistoriker Max Imdahl äußerte 1971, also wiederum im selben Jahr, in dem Haugs Buch erschien, den Wunsch, der Kunst „unausweichlich ausgeliefert“ zu sein; als Betrachter wolle er „unmittelbar getroffen und überwältigt“ werden.6 Doch warum sollte man für die Kunst gutheißen, was für Konsumprodukte abgelehnt wird? Lässt sich wirklich so einfach zwischen positiven und negativen Formen der Überwältigung unterscheiden? Böte es sich nicht vielmehr an, in doppelter Weise Ideologiekritik zu betreiben: sowohl gegenüber den Liebhabern der Kunst als auch gegenüber den Verächtern des Konsums? Dann hätte man zu analysieren, inwiefern die einen eventuell zu unterwürfig und, aus einer diffusen Heilsbedürftigkeit heraus, zu unkritisch sind. Und man würde erörtern, ob die anderen, im Gegenteil, unter einem Übermaß an Misstrauen leiden. Dass sich Kunstwerke und Konsumprodukte jeweils in Kategorien des Fiktionalen und der Inszenierung beschreiben lassen, kann jedoch auch ein Anlass sein, sie miteinander zu vergleichen. Dabei geht es nicht darum, Parfüms, Elektrogeräte oder Küchenzubehör mit Architektur, Romanen und Theateraufführungen gleichzusetzen. Vielmehr genügt es, sie nicht gleich als Form von Betrug abzuqualifizieren, nur weil sie der MaKritik der warenästhetischen Erziehung
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xime ‚form follows function‘ widersprechen. Dafür würde man im Einzelfall untersuchen, mit welcher Absicht und Wirkung ein Produkt inszeniert ist und wie das sowohl unter ästhetischen wie unter gesellschaftspolitischen Gesichtspunkten eingeschätzt werden kann.
Wer erst einmal anfängt, Konsumprodukte auf diese Weise zu analy sieren, kann auch von der Kunstwissenschaft lernen. Immerhin werden in ihr Stühle, Lampen und Geschirr schon längst ähnlich gewissenhaft wie Gemälde und Skulpturen erforscht. Kunstinteressierte wissen zudem schon lange um das „merkwürdige Phänomen“, „dass auch ein Möbel und selbst ein schlichter Aschenbecher“ den Geist einer Zeit in sich enthalten kann und daher ernsthafte Betrachtung und Interpretation verdient.7 Doch während sich Kunsthistoriker den Werkstücken meist erst zuwandten, wenn sie schon Jahrhunderte alt waren, geht es bei der Einschätzung von Konsumprodukten vor allem um jeweils aktuelle Designs. Und während man sich bisher vornehmlich Einzelstücken oder den Werken von Autorendesignern widmete, haben mittlerweile industrielle Massenartikel eine so große Verbreitung und gesamt gesellschaftliche Relevanz erlangt, dass ihre Erforschung wichtiger und erhellender erscheint als die Beschäftigung mit einigen ästhetisch besonders ambitionierten Luxusprodukten wie Lampen, Stühlen oder Abendkleidern. Dennoch können gerade Interpretationen von Klassikern des Kunstgewerbes Anhaltspunkte dafür liefern, nach welchen Kriterien und mit welchen Ansprüchen auch aktuelle Konsumartikel zu beurteilen sind. So ist es etwa für das Verständnis heutiger Pfeffermühlen und Salzstreuer hilfreich, auf ein Stück wie die Saliera des Benvenuto Cellini zu blicken, das wohl berühmteste für Salz und Pfeffer angefertigte Gefäß, das in den 1540er Jahren am Hof von Franz I. in Fontainebleau entstand. Das Würzen von Speisen dürfte kaum einmal aufwendiger und fiktionalisierender inszeniert worden sein als hier, und nachdem Cellini seinen Entwurf vorgelegt hatte, bestanden sogar ernsthaft Zweifel, ob eine so differenziert-komplexe, kleinteilige Goldschmiedearbeit überhaupt ausführbar wäre.8 Entsprechend seiner Herkunft aus dem Meer wird das Salz in einem kleinen Schiff aufbewahrt, während für den Pfeffer ein Tempel vorgesehen ist. Ihm ist Tellus, die Göttin der Erde, zugeordnet, die Cellini in einem Tête-à-tête mit Neptun, dem Gott des Meeres, zeigt. Beide sind nackt; sie sitzen einander gegenüber, wobei Tellus die Aufmerksamkeit Neptuns mit ihrer Hand weckt, die gerade ihre linke Brust umfasst. Und man ahnt, dass sie den männlichen Gott im nächsten Moment mit ihrem rechten Fuß zart an der Wade berühren wird. So erhält das Würzen nicht nur eine mythologische Dimension, sondern gerät zum erotischen Akt. Es wird zum Symbol für eine Vermählung der Elemente und der Geschlechter. Zwar waren Gewürze im 16. Jahrhundert teuer und fungierten ähnlich wie Gold sogar als Währung, doch musste die Präsentation der Verwendung von Salz und Pfeffer als kosmisches Ereignis auch damals als Überhöhung empfunden werden. Neben den Göttern sind in der Sockelzone der Saliera zudem die Jahres- und Tageszeiten dargestellt: Die gesamte Ordnung von Welt und Natur ist aufgerufen, wenn es eigentlich nur darum geht, einer Speise etwas mehr Geschmack zu verleihen. 228 I Wolfgang Ullrich
Cellinis Saliera war ein Unikat, das andere Gerätschaften für Gewürze überbieten sollte, um die herausgehobene Stellung des Königs als ihres Auftraggebers und Besitzers zu manifestieren. Zugleich sollte durch die aufwendige Zelebrierung der Gewürze die Politik von Franz I. legitimiert werden, der gerade Salz besonders hoch besteuern ließ: Je wertvoller es erschien, desto eher wurde eine entsprechende Steuer auch akzeptiert.9 Der Pfeffer hingegen brachte eher imperiale Ansprüche zum Ausdruck, zeugte es doch von weitreichender Macht, wenn man ungehindert Zugang zu den Ländern hatte, in denen der Pfeffer wuchs – dies im 16. Jahrhundert keine Selbstverständlichkeit.10 Da heutige Konsumprodukte fast immer Massenartikel sind, können sie in der Inszenierung nicht im selben Grad individuelle Interessen bedienen wie das berühmte Vorbild. Aber auch hier wird mit verschiedenen Formen der Überhöhung und Fiktionalisierung versucht, das Würzen zu einem Ereignis zu machen oder den Konsumenten in eine schmeichelhafte Rolle zu versetzen. Ist eine Pfeffermühle elektrisch, gar noch mit einem Licht versehen, das die Speise auf dem Teller während des Würzens anstrahlt, so als müsste die Einflugschneise für den Körnerschrot ausgeleuchtet werden, zelebriert der Nutzer einen technoiden Präzisionsakt. Glatte, glänzende Materialien wie Metall und Glas steigern den Eindruck von Sauberkeit und Perfektion. Dagegen lässt eine manuell zu bedienende Mühle aus Holz das Pfeffern als redlichen Handwerksakt erscheinen. Das Geräusch, das beim Zerkleinern der Körner entsteht, bestätigt die vollbrachte Leistung. Ist die Mühle 60, gar 80 Zentimeter groß, gerät das Würzen erst recht zu einer eigenen Arbeit. Mit ihr wird die Speise vollendet und wie mit einer Signatur gewürdigt. So sehr sich die Nutzer der elektrischen und der manuellen Mühle als Profis fühlen dürfen, die keine Gleichgültigkeit zulassen und gewissenhaft vorgehen, so sehr läuft umgekehrt jemand, der lediglich einen einfachen Pfefferstreuer verwendet, Gefahr, als Banause zu erscheinen. Im Unterschied zu den ambitiösen Gerätschaften wird das Gewürz über dem Essen dann nur ausgeschüttelt, so als müsste man einen Mangel ungeduldig und etwas unwillig kompensieren. Auch heutige Hersteller lassen sich nicht entgehen, dass man Salz und Pfeffer als Kontrast oder Wechselspiel in Szene setzen kann. Nach wie vor sind die Pole ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ dabei beliebt. Anders als bei Cellini ist dann das Salz meist als weiße weibliche Figur verkörpert, der eine schwarze männliche Figur für den Pfeffer gegenübersteht. Das Schablonenhafte der Gestaltung ist der industriellen Produktion geschuldet, die in möglichst wenig Fertigungsschritten ablaufen soll. Subtilere Elemente – so feine Gesten wie bei der Saliera – sind daher nicht möglich. Cellini hatte es auch insofern leichter, als er sich nur nach einem Auftraggeber und dessen Geschmack sowie Selbstverständnis zu richten hatte, während ein heutiger Produzent, der darauf angewiesen ist, viele Konsumenten zu erreichen, Kompromisse eingehen muss, um unterschiedliche Erwartungen zugleich zu erfüllen. Statt sich wie Cellini darauf konzentrieren zu können, eine Idee virtuos und individuell zur Geltung zu bringen, muss sich der Massenproduzent zudem überlegen, mit welchen Effekten oder Versprechungen er überhaupt erst Interesse für seine Waren wecken kann. Vielleicht setzt er auf den ‚Point of Sale‘, also etwa darauf, mit einem Gag im Design zu einem Kritik der warenästhetischen Erziehung
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Spontankauf zu veranlassen. Oder er vermittelt dem Konsumenten die Fiktion, durch ein Produkt geadelt oder zu einem Kenner, Helden oder Sieger gemacht zu werden. Oder er verheißt eine erhöhte Funktionalität, eine besondere Wertigkeit des Materials, ein günstiges Preis-Leistungsverhältnis, eine gewisse Exklusivität, etwas Innovatives, ein Geheimnis. In marxistischer Argumentation geschehen all diese Maßnahmen nur mit Blick auf den Tauschwert. Ihn gilt es aus Herstellersicht zu erhöhen, um möglichst viel Gewinn machen zu können. In ihm drückt sich also der Warencharakter eines Produkts aus, das ganz daraufhin getrimmt wird, zu imponieren – zumindest so lange, bis es verkauft wurde. Täuschung ist, so wird unterstellt, bei der Bemühung um einen hohen Tauschwert schon angelegt; wichtiger als die Qualität des Produkts ist der Anschein, den es erweckt. Für jemand wie Wolfgang Fritz Haug sind Waren somit „Schein, auf den man hereinfällt“.11 Abgesehen davon, dass eine solche Behauptung unterschätzt, wie oft ein Hersteller oder Verkäufer den Kunden gar nicht betrügen könnte, ohne seine Chancen auf dem Markt einzubüßen, wird hier nicht bedacht, ob Eigenschaften, die dem Produkt zuerst nur mit Blick auf eine bessere Verkäuflichkeit verliehen wurden, nicht auch dauerhaft dessen Gesamtwert erhöhen können. Zumal in Angebotsmärkten einer Wohlstandsgesellschaft – die es zu Zeiten von Marx noch nicht gab –es unabdingbar für Produzenten ist, mehr als Mitbewerber zu offerieren. Ein Hochrüsten als positiv empfundener Eigenschaften ist zwangsläufig, und der auf Funktionalität beschränkte Gebrauchswert wird nach und nach um andere Dimensionen erweitert. Plötzlich ist ähnlich entscheidend wie die Tauglichkeit oder Haltbarkeit eines Produkts, welche Emotionen es auslösen kann, ob es zum Repräsentanten bestimmter Werte taugt oder wie stark die Identifikationsanreize sind, die es dem Konsumenten bietet. So sehr es jeweils darum gehen mag, das Produkt gegen Konkurrenz auf dem Markt durchzusetzen, so sehr verändern die zusätzlichen Features seinen Charakter. Weit über die Tauschsituation hinaus bleibt für Erfahrung und Umgang mit dem Produkt relevant, was ihm an Qualitäten hinzugefügt wurde. Daher ist es unangemessen, diese zusätzlichen Eigenschaften ausschließlich als negative Form von Schein – als etwas, worauf der Konsument hereinfällt – darzustellen. Allein die simple Tatsache, dass der Milliardenmarkt der Marktforschung nahezu ausschließlich der Analyse jener ergänzenden Aspekte dient, sollte Beleg genug sein, wie wenig es hier nur um kurzfristige Tauschwertinszenierungen gehen kann. Dafür würde man nicht so viel Geld ausgeben. Ergebnisse der Marktforschung fließen auch nicht erst in die Konzeption von Werbekampagnen ein, vielmehr sind sie Ausgangpunkt der Planung neuer Produkte. In den letzten Jahrzehnten stellt das Marketing nämlich nicht mehr die letzte, sondern vielfach die erste Stufe bei der Warenentwicklung dar: Ingenieure, Chemiker oder Logistiker müssen umsetzen, was Marketing und Marktforschung ihnen vorgeben, während es früher umgekehrt war. So sehr die Inszenierung zur Grundlage jeder Phase und Facette der Produktentwicklung geworden ist, so sehr haben sich die käuflichen Dinge zu Mehrzweckinstru230 I Wolfgang Ullrich
menten aufgeladen, die, oft in zahlreichen Varianten, heterogenen Erwartungen von Seiten der Konsumenten entsprechen. Und wie eine Pfeffermühle inzwischen auch gekauft wird, damit sich der Käufer (und Nutzer) als Profi fühlen oder gegenüber Gästen Eindruck machen kann, gibt es von Joghurt über Kosmetikcremes bis hin zu Tees oder Mineralwasser kaum noch etwas, das nicht auch Psychotherapie, Energie, Entspannung, Erfolg, Authentizität oder gutes Gewissen in Aussicht stellt. Diesen Versprechungen korrespondieren jeweils eigene Formen der Gestaltung. Im Produktdesign hat damit dieselbe Entwicklung stattgefunden, die man für die Architektur schon in den 1980er Jahren erkannt und analysiert hat. Damals war es vor allem Heinrich Klotz, der die Überwindung des modernen Paradigmas des Funktionalismus begrifflich fasste und dabei den Terminus ‚Postmoderne‘ stark machte. Darunter verstand er das Phänomen, dass „zur bloßen Nutzenerfüllung [...] ‚grenzüberschreitende‘ Inhalte hinzu[kommen]“, welche die Architektur „als Medium zur zweckübersteigenden Darstellung ‚erfundener Welten‘, also Mittel des Fiktiven nutzen“. So werde durch Gebäude postmoderner Architekten wie Robert Venturi oder Hans Hollein „im Sinne eines Illusionismus eine ‚schöne Welt des Scheins‘ kreier[t]“. Infolge eines Anspruchs „auf den fiktiven Charakter der Architektur“ pflege die Postmoderne einen Stilpluralismus, wobei die verschiedenen Stilelemente wie Teile eines Zeichensystems dazu dienten, bestimmte Assoziationen, Symbolisierungen und Narrative zu erzeugen. Architektur werde zum „Zeichenträger“ und gehöre damit im weitesten Sinn zur Poesie und „Welt der Phantasie“. Und für ihn gilt die Maxime: „Nicht nur Funktion, sondern auch Fiktion!“12 Wenn für das Produktdesign eine vergleichbare Untersuchung, wie Heinrich Klotz sie für die Architektur geleistet hat, bisher noch nicht stattfand, dürfte dies daran liegen, dass die Fiktionalisierung hier später an Bedeutung gewonnen hat. Nach und nach wurden alltägliche Produkttypen erst seit den 1990er Jahren von Metaphorisierungs- und Inszenierungswellen erfasst und einem grundsätzlichen Redesign unterzogen. Damit allerdings ist die Welt der Konsumprodukte mittlerweile auch wichtiger für die Fik tionsbedürfnisse des Menschen als die Architektur, sind die postmodernen Prinzipien doch auf relativ wenige repräsentative Bauten beschränkt geblieben und nicht massenhaft zur Anwendung gelangt. Dass der Stellenwert des Inszenatorischen und Scheinhaften für die Konsumprodukte dennoch so lange kaum eigens diskutiert wurde, ist wohl auch Folge jener funktionalistisch-linken Konsumkritik. Sie diskreditierte das Fik tionale so stark, dass es als eigener Gegenstand, gar als differenziert zu betrachtendes Phänomen nicht in Frage kam. Insofern jedoch für Konsumkritiker wie Wolfgang Fritz Haug jegliche Produktinszenierung ein moralisches Problem – eine Form von Täuschung und Lüge – ist, wird nicht nur der Modernismus von Institutionen wie dem Deutschen Werkbund radikalisiert, sondern zugleich eine Tradition fortgeschrieben, deren Ursprünge sogar bis Platon zurückreichen. Schon dieser setzte nämlich polemisch Fiktion und Lüge gleich, als er die Dichter und Künstler aus seinem idealen Staat ausschloss, weil ihre Werke „in großer Ferne von der Wahrheit“ und damit seinsschwach seien. Ihn störte, Kritik der warenästhetischen Erziehung
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dass sie dieselben Phänomene je nach Interesse anders – und damit pluralistisch – in Szene setzen, etwas also einmal schön und wichtig, ein anderes Mal hingegen hässlich und irrelevant darstellen können. Willkür und Irrationalismus seien damit unumgänglich, die Maßstäbe gingen verloren, schließlich gerieten die Menschen in eine „gereizte und wankelmütige Gemütsstimmung“ und würden von einem Dichter oder Künstler noch zusätzlich emotionalisiert, da dieser das Triebhafte eigens „nährt und begießt, das doch ausgetrocknet werden sollte“. Und so sei es auch nur eine „kindische und gemeine Liebe“, die Menschen gegenüber Dichtung und Kunst entwickeln könnten.13 Ganz ähnlich spricht Haug davon, die Warenästhetik würde „allgemein lüstern [...] machen“ und die Konsumenten zu „Triebunruhe“ führen.14 Andere Konsumkritiker erheben ebenfalls an Platon erinnernde Vorwürfe. So warnt der Politologe Benjamin Barber vor einer Willkür, die dadurch entstehe, dass die Konsumgüterindustrie behaupte, alles sei leicht und nicht schwierig, einfach und nicht kompliziert, schnell und nicht langsam. Bestätigt werde damit ein „infantiles Traum-Weltbild, wo man nur zu sagen braucht: ‚Ich will, dass es so ist‘, und schon ist es so“.15 Diagnostiziert Barber allenthalben eine durch konsumistische Fiktionalisierungen bedingte Infantilisierung der Gesellschaft – das Primat einer kindischen und gemeinen Liebe –, so beklagt der Soziologe Richard Sennett eine Verdummung: Konsumenten würden, verführt von Warenästhetik und Werbung, den „Sinn für Proportionen verlieren und etwa bei der Wertschätzung eines Objekts die Vergoldung mit dem Gegenstand verwechseln“.16 Wie Platon weigern sich heutige Konsumkritiker also, zwischen Schein als ästhetischer Fiktion mit eigenem Wert und Schein als Vortäuschung, Manipulation und Verhängnis zu unterscheiden. Für sie gibt es nur Letzteren, und auch für sie ist der Schein, obwohl ontologisch minderwertig und wegen eines „Seinsmangels“ schwach,17 gefährlich für die menschliche Psyche; man muss diese also schützen. Wer so argumentiert, verhindert jedoch von vornherein, andere Dimensionen von Kunst oder Konsumprodukten anzuerkennen. Inwieweit der ästhetische Schein auch spielerische, distanzierende, reflektierende, emanzipatorische, stimulierende, kompensatorische oder heilsame Wirkungen besitzen könnte, wird nicht diskutiert. In anderen Phasen der Geistesgeschichte waren Akteure des Imaginären ebenfalls immer wieder bedroht. Im Protestantismus etwa unterstellte man Romanautoren, die Leser auf Abwege zu führen, sie mit ihren „freyen Vorstellungen / feurigen Außdruckungen / und andren bunden Händeln in Sehnen / Unruh / Lüsternheit und Brunst“ zu versetzen, ja ihnen ein „Schwitzbad der Passionen“ zu bereiten. So ist es nachzulesen in einem 1698 veröffentlichten Traktat des Schweizer Theologen Gotthard Heidegger. Der Repräsentant der calvinistisch-reformierten Kirche hielt den damals zahlreicher werdenden Romanen vor, nur „Gauckeleyen“ zu sein. Auch für ihn war Fiktion also nichts anderes als Willkür und damit etwas, das in verwirrender – und damit gefähr licher – Beliebigkeit und Vielfalt erdichtet werden kann. „Wer Romans list / der list Lügen“, heißt es bei ihm, und er kann nicht verstehen, wieso jemand überhaupt etwas außer der Bibel ernst nimmt – die göttliche Offenbarung, die „den Menschen perfectionieren kann“.18 232 I Wolfgang Ullrich
So einig man sich heutzutage jedoch darüber ist, dass Platon polemisch agierte, als er Fiktion und Lüge in der Kunst gleichsetzte, und so sehr es auch längst Konsens ist, Romane als Form der Hochkultur vor christlich-monotheistischen Argumenten im Stil Gotthard Heideggers in Schutz zu nehmen und dafür die Kraft der Phantasie zu feiern, so selbstverständlich wiederholen Kritiker Vokabeln wie ‚Lüge‘, ‚Täuschung‘, ‚Verblendung‘, ‚Manipulation‘, sobald es um Konsumprodukte geht; manche – etwa Benjamin Barber – bekennen sich dabei auch noch ausdrücklich zum protestantischen Ethos. Da aber die Vorwürfe, die gegen den Konsumismus vorgebracht werden, ihrerseits auf der Gleichsetzung von Fiktion und Lüge beruhen, würde es nicht wundern, wenn das künftig einmal ähnliche Ablehnung hervorriefe wie heute der einstige Kampf gegen die Romanliteratur oder gegen die Kunst. Ist man auf die historische Parallele aufmerksam geworden, erscheint es aber umso berechtigter, Konsumgüter mit Romanen, Filmen, Fernsehserien und anderen Formen des Fiktionalen zu vergleichen. Man gelangt dann dazu, anzuerkennen, dass Fiktionen und Inszenierungen für die Käufer von Produkten ähnlichen Wert haben können wie traditionellere Formen und Gattungen der Unterhaltungs-, Trost- und Therapiebranchen. Wie es dauerte, bis akzeptiert wurde, dass sich auch eine gut erfundene Geschichte mit Gewinn lesen lässt, wird es künftig vielleicht einmal selbstverständlich sein, den Relaunch eines Produktdesigns breit und engagiert zu diskutieren. Und man wird es als absurd empfinden, sollte jemand die Ansicht vertreten, die Menschen würden durch die ästhetische Gestaltung eines Produkts immer nur hinters Licht geführt und entfremdet. Konsumenten selbst teilen als Laien-Rezensenten bereits millionenfach ihre Erwartungen und Erfahrungen mit und äußern sich dabei gerade auch über die Bedeutung, die Fiktionswerte bei Produkten für sie besitzen. Dies geschieht vornehmlich in Testberichten im Internet. Und so kritisch man diese Berichte lesen sollte, da sie nicht selten von beauftragten Agenturen stammen, die einem Hersteller zu zusätzlicher Werbung verhelfen sollen, so sehr haben engagierte Konsumenten mit ihnen doch eine eigene Textgattung entwickelt. Auf Verbraucherportalen wie ciao.de oder dooyoo.de existieren nicht selten sogar zehn, zwanzig, fünfzig zum Teil seitenlange Stellungnahmen verschiedener Konsumenten zum gleichen Produkt. Am ehesten scheint diese Prosa der Konsumkultur dabei verwandt dem, was früher oder sonst in Briefen und Tagebüchern seinen Ort hatte. Wären sie nicht so dilettantisch abgefasst, könnten zumindest einige Testberichte in der Akribie der Beschreibung und im Interesse am Detail an Texte von Adalbert Stifter oder Marcel Proust erinnern. So sind in ihnen die Empfindungen und Assoziationen vermerkt, die sich einem Konsumprodukt verdanken; innere Bilder werden beschrieben, Fiktionen verbalisiert. Ein paar Schlaglichter: Eine Testerin gesteht ein, dass sie sich „öfters dabei erwisch[t]“, fasziniert auf „die blinkende LED-Anzeige“ ihres Toasters zu blicken und sich „den ganzen Röstvorgang an[zu]schaue[n]“.19 Das technische Gerät führt dazu, dass seine Nutzerin sich Zeit nimmt und das Toasten als Schauspiel wahrnimmt; die Wartezeit wird nicht als lästig, sondern als Unterbrechung oder Überhöhung des AllKritik der warenästhetischen Erziehung
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tags empfunden. Jenseits seines Gebrauchswerts sorgt der Toaster so für mehr Bewusstheit; er schafft Raum für Kontemplation. Eine andere Testerin schwärmt von einem Bademittel mit Kokosduft und beschreibt minutiös, wie sie sich auf einen Badewannenabend vorbereitet, dann den Schaum genießt und „bei geschlossenen Augen wunderbar in der exotischen Wanne entspannt“. Sie fühle sich in ihrem „‚Milchbad‘ fast ein bisschen wie Cleopatra“ und werde zugleich „an einen Urlaub unter Palmen erinnert“. 20 Hier kommt der Fiktionswert des Produkts voll zur Geltung; die Badewanne wird zum Kino innerer Bilder, zum Gefährt virtueller Reisen. Die Konsumentin wähnt sich an einen anderen Ort oder in eine andere Zeit versetzt; sie taucht ab wie sonst nur bei der Lektüre eines Buchs. Andere Tester vergleichen den Gebrauch eines Produkts sogar ausdrücklich mit dem Lesen – und weisen darauf hin, dass ein Buch mit seinen Fiktionen keineswegs immer gegen die Imaginationen ankommt, die von einem starken Produkt ausgehen. So vermerkt die Benutzerin eines weiteren Bademittels, es durchsetze das Badewasser „leicht mit milchigen Wolken“ und dufte so stimulierend, dass sie „das Buch zur Seite lege“.21 Und ein weiterer Konsument ist von seinem Duschgel so begeistert, dass er in ihm, obwohl er „eigentlich am liebsten mit einem guten Buch in der heißen Badewanne lieg[t], [...] wirklich eine Alternative“ erblickt.22 Solche Berichte machen verständlicher, warum es von den meisten Produkttypen nicht nur eine enorme Vielfalt an Varianten gibt, sondern warum auch in jeder Saison neue Versionen mit jeweils nur leicht anderen Inszenierungen auf den Markt gelangen. Sofern es um Fiktionen geht und die Konsumenten unterhalten werden wollen, ist es bei Bademitteln und Fertiggerichten nicht anders als bei Büchern und Filmen: Man will nicht immer genau das Gleiche erleben, sondern einen Plot in verschiedenen Spielarten vermittelt bekommen. Damit aber lässt sich im Affekt vieler Konsumkritiker gegen die heutige Vielfalt an Produktvarianten auch einmal mehr die Neuauflage eines Ressentiments erkennen, das früher Romanautoren traf. So wollten viele lange Zeit nicht einsehen, warum jedes Jahr neue Bücher erscheinen müssen, die doch alle gleichermaßen keine Erkenntnis bringen. Die Zahl der Publikationen sei, so wieder Gotthard Heidegger, „ein ohnendlich Meer worden“, ja „wann ein Quartal verstreicht / da nicht einer oder mehr Romans auß / und in die Catalogos kommet / ist es so seltsam / als eine grosse Gesellschaft / da einer nicht Hanß hiesse“. Des Weiteren grollt er darüber, dass es „manchem [...] nicht an einem Wand-gestell voller Romans [ermanglet]“, mit denen er oder sie sich „Tag und Nacht“ beschäftige.23 Für Konsumkritiker stellen ganz ähnlich die zehn Duschgels, die sich auf einer Badezimmerkonsole angesammelt haben, einen Scheinpluralismus dar, und dass man aus vielen Varianten auswählen kann, wird nicht als Freiheit und Chance auf Differenzierung, sondern als sinnlose Verschwendung von Lebenszeit und Grund für Unzufriedenheit gewertet.24 Dass es für jemanden, der sich halbwegs auskennt, hingegen eher Lust als Anstrengung bedeutet, zwischen verschiedenen Varianten zu vergleichen und auf Nuancen in der Inszenierung zu achten, die mit einem Design lanciert werden, ent234 I Wolfgang Ullrich
geht den Kritikern. Sie ignorieren, dass Konsumieren genauso eine Kulturtechnik sein kann wie das Lesen, die Wahl der jeweils richtigen Pfeffermühle also genauso ein Ausweis von Geschmack und Urteilskraft ist wie die Entscheidung für die Lektüre eines bestimmten Buchs. Und so sehen sie erst recht nicht, dass sie genauso banausisch sind wie jemand, der wenig liest und sich in einer Bibliothek darüber mokiert, dass so viel geschrieben wird, ja sich schwer dabei tut, das für sich selbst Passende zu finden. Abwehr und Ressentiment sind also jeweils nichts anderes als Folge einer Überforderung: Ausdruck ungenügender Ausbildung im Umgang mit einem Zeichensystem. Publikationen wie der Ratgeber Die Kunst, Bücher zu lesen, den der Aufklärer Johann Adam Bergk 1799 veröffentlichte, waren noch Generationen nach den pauschalen Verurteilungen eines Gotthard Heidegger nötig, um einen differenzierteren und insgesamt positiveren Begriff des Lesens durchzusetzen. Auch Bergk äußert die Sorge, durch die Lektüre von Romanen gewöhne „der Geist sich an Regellosigkeit und wird sich selbst ein Fremdling“. Seine Verachtung gilt „dem großen Haufen unserer Romanenleser, die ein saft- und kraftloses Gericht nach dem Andern verschlingen“. Für ihn sind also weniger die Autoren als die Leser selbst schuld, wenn das Lesen negative Folgen zeitigt. Sie sind dann zu passiv, lassen sich billig unterhalten, statt reflektiert auf das Dargebotene einzugehen und ihrerseits Ansprüche zu stellen. Bergks Maxime lautet daher, ein Buch dürfe „uns nicht als Sklaven behandeln, sondern wir müssen als freies Wesen über seinen Inhalt herrschen“. Ein Leser soll so viel Engagement zeigen wie ein „Schauspieler, der Künstler ist“, soll also „dem Schriftsteller nachhelfen“ und „ihm vorund nachdenken“. Er hat sich auf den jeweiligen Stoff einzulassen, dabei aber so eigenständig zu bleiben, dass er frei urteilen kann und nicht vereinnahmt – oder überwältigt – wird.25 Übertragen auf das Feld des Konsums hieße das, den Blick zu wechseln und, statt immer nur die Manipulationsvorwürfe gegenüber den Produzenten zu wiederholen, von den Konsumenten zu verlangen, selbstbewusster und spielerischer, freier und reflektierter aufzutreten. Wenn sie – wie durchaus schon in vielen Testberichten – klarer artikulieren, was ihnen gefällt, wovon hingegen sie sich unter Niveau angegangen oder gar zynisch behandelt fühlen, besteht auch die Chance, dass sich die Qualität der Fiktionen und Inszenierungen verbessert. So wie es nicht abwegig ist, die Blütezeit des Romans ab dem 19. Jahrhundert als Folge eines emanzipiert und anspruchsvoll gewordenen Lesepublikums sowie einer erstarkten Literaturkritik anzusehen, könnte eine Konsumentenschaft, die gleichermaßen frei von Verschwörungstheorien wie von einer bloß passiven Hingabe an Produktinszenierungen ist, zu neuen Standards der Konsumkultur beitragen. Dann aber wäre einer herkömmlichen Konsumkritik endgültig der Boden entzogen. Und so wenig man die Argumente Gotthard Heideggers angesichts der Romane von Flaubert oder Stifter noch hätte verstehen können, so historisch wird der Standpunkt von Wolfgang Fritz Haug, Benjamin Barber und Naomi Klein vielleicht einer Zukunft erscheinen, in der das Produktdesign sich weiterentwickelt haben wird. Im späten 18. Jahrhundert war es nicht nur Johann Adam Bergk, der gegen eine Geringschätzung des ästhetischen Scheins antrat; erst recht spielte Friedrich Schiller Kritik der warenästhetischen Erziehung
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eine maßgebliche Rolle. So wandte er sich vehement gegen die Tradition einer Verwechslung – oder Gleichsetzung – von Fiktion und Lüge. Ausdrücklich befasste er sich mit calvinistischen Kunst-Skeptikern wie Jean-Jacques Rousseau, um das „Interesse am Schein“ im Gegenzug als „eine wahre Erweiterung der Menschheit und ein[en] entschieden[en] Schritt zur Kultur“ zu deklarieren. Und was andere als „Schwitzbad der Passionen“ oder „Triebunruhe“ schlechtreden, heißt bei ihm „schöne Kunst der Leidenschaft“. Folgt man Schiller, ist es Zeichen einer fortgeschrittenen Gesellschaft und, vor allem, Grundlage jeglicher ästhetischen Erziehung, wenn die Menschen einen Sinn – und Räume – für Fiktionales entwickeln. Nur solange ihre Kräfte noch vollständig dafür gebraucht werden, die täglichen Bedürfnisse zu befriedigen, „ist die Einbildungskraft mit strengen Fesseln an das Wirkliche gebunden“. Ist aber erst einmal „das Bedürfnis gestillt [...], entwickelt sie ihr ungebundenes Vermögen“.26 Das mochte schon für das Theater im antiken Griechenland, Wandmalereien in römischen Villen oder den Minnesang des Mittelalters gelten. Erst recht aber entwickelt eine Wohlstandsgesellschaft zahlreiche Ausdrucksformen für Phantasie und Wunschdenken. Nun erobern Fiktionswerte auch die sonst primär über Gebrauchswerte definierte materielle Dingwelt. Während Inszenierungen in ärmeren Zeiten nur dann vielen Menschen zukommen, wenn sie – wie öffentliche Theater – relativ unabhängig von materiellen Bedingungen sind, sonst aber – wie die Saliera – einen exklusiven Charakter besitzen und nur Reichen zur Verfügung stehen, können in einer Wohlstandszeit Konsumprodukte zu einem maßgeblichen Ort von Emotionen und Fiktionen für eine Mehrheit werden. Selbst und gerade alltägliche Güter wie Pfeffermühlen und Bademittel dienen dann dazu, Tätigkeiten, Situationen und Erfahrungen zu interpretieren, zu verklären oder umzudeuten. Sie werden zu Medien der Erziehung und Unterhaltung und gestalten das Leben der zu Konsumenten gewordenen Menschen. Vielleicht steckt die Konsumkultur sogar erst in ihren Anfängen: Gerade wurden die ersten Schritte unternommen, sich durchgängig vom Vorrang des Gebrauchswerts zu emanzipieren und, als Folge gewachsenen Wohlstands, von materiellen Produkten mehr zu erwarten als die Erfüllung materiell bestimmter Bedürfnisse. Sollte sich diese Entwicklung fortsetzen, könnte es bald Produkte geben, die raffinierter und vielschichtiger fiktionalisieren, origineller interpretieren und zukunftsfähiger verändern als heutzutage. Mit ihnen gelingt dann eine warenästhetische Erziehung des Menschen, die mindestens so relevant ist wie andere Formen von Sozialisierung. Diese Erziehung unterschiede sich markant von der, die Modernisten, also etwa den Vertretern des Deutschen Werkbunds und den Mitgliedern des Bauhauses, vor Augen stand. Wollten sie mit funktionalistischen Gebäuden und Produkten dazu beitragen, dass die Menschen insgesamt sachlicher, nüchterner, rationaler werden, so geht es diesmal darum, die verschiedenen Lebensbereiche differenziert zu gestalten und entsprechend genau wahrzunehmen. Produktinszenierungen werden zur Grundlage für eine Strukturierung des Alltags, die Konsumgüter werden als subtiles Zeichensystem eingesetzt. Und während in der Moderne eigens Kunstgewerbemuseen eingerichtet oder Fibeln mit Beispielen mustergültig funktionaler Produkte verbreitet wurden, um die 236 I Wolfgang Ullrich
Konsumenten vor Scheinhaftem zu schützen,27 hat es künftig darum zu gehen, die Stilmittel der Fiktionalisierung zu studieren, Methoden der Marktforschung zu vermitteln und zu zeigen, auf welche Weisen eine Gestaltung Zeichencharakter annehmen und damit zu einem Medium werden kann. Dabei deutet sich schon jetzt an, dass Bildungsbürger sich in Konsumbürger verwandeln. Sie befriedigen ihre Ansprüche auf Gestaltung und Sinn nicht mehr nur mit den traditionellen Gattungen der Hochkultur und deren Fiktionalisierungsangeboten, sondern erwarten genauso von Produkten eine ästhetische und inhaltliche Bereicherung ihres Lebens. Vielleicht sind einige von ihnen sogar von vielen Formen der Kunst enttäuscht: genervt von spröden Gemälden und verkrampften Theaterinszenierungen, gelangweilt von umständlichen Romanen und vorhersehbaren Filmen. Gerade weil sie gerne überwältigt würden, das von der Kunst aber kaum einmal geboten bekommen, ziehen sie mittlerweile ein Wellnesswochenende einem Museumsbesuch vor, und zur Steigerung ihres Selbstwertgefühls erscheint eine neue Sportausrüstung auf einmal ähnlich interessant wie ein Opernabonnement. Wenn Florian Illies, wie zitiert, bemerkt, „früher“ sei ein Schriftsteller wichtig für das Selbstverständnis ganzer Generationen gewesen, deutet er zugleich an, dass das heutzutage kaum noch der Fall ist, dafür mittlerweile aber eine Automarke und selbst eine gut inszenierte Schokolade Erlebnis und Identität zu vermitteln vermag. Je weniger jedoch die Kunst noch höhere Ansprüche auf schönen Schein erfüllt, desto größer ist zugleich die Wahrscheinlichkeit, dass die Qualität des Produktdesigns steigt: als der Ort, an dem ästhetische Satisfaktion gesucht wird. Kunst in ihren herkömmlichen Formen könnte daher künftig weitgehend überholt sein. Oder es kommt zu einer Annäherung zwischen Kunstwerken und Konsumprodukten. Dabei würden jene wieder stärker an den Wünschen des Publikums orientiert und sinnlicher, direkter, überwältigend in ihrer Fiktionsleistung, diese hingegen erlangten mehr Autorität durch eine individuellere, exklusivere oder geheimnisvollere Inszenierung. Und sofern Konsumprodukte überwältigen, wird man das nicht mehr als Manipulation abwehren, sondern genauso wie im Fall der Kunst als Kraft bewundern, etwas allein durch Inszenierung zu bewegen und zu verändern.
Anmerkungen 1 Hermann Muthesius: „Die moderne Umbildung unserer ästhetischen Anschauungen“, in: ders.: Kultur und Kunst, Jena 1909, S. 39–75, hier S. 46, 67, 68, 74. 2 Wolfgang Fritz Haug: Kritik der Warenästhetik, Frankfurt/Main 1971, S. 7. 3 Ders.: „Probleme der Vermittlung der Kritik der Warenästhetik“, in: Ders. (Hrsg.): Warenästhetik. Beiträge zur Diskussion, Weiterentwicklung und Vermittlung ihrer Kritik, Frankfurt/M. 1975, S. 263–277, hier S. 265. 4 Naomi Klein: No Logo! Der Kampf der Global Players um Marktmacht. Ein Spiel mit vielen Verlierern und wenigen Gewinnern, Pößneck 2001, S. 81 f. 5 Florian Illies: Generation Golf. Eine Inspektion, Berlin 2000, S. 145.
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6 Max Imdahl: „Barnett Newman. Who‘s afraid of red, yellow and blue III“ (1971), in: Ders.: Zur Kunst der Moderne, Gesammelte Schriften Bd. 1, Frankfurt/M. 1996, S. 245–251, hier S. 248. 7 Julius Meier-Graefe: „Autobiographische Skizze“, in: Ders.: Kunst ist nicht für die Kunstgeschichte da. Briefe und Dokumente, Göttingen 2001, S. 11–17, hier S. 15. 8 Vgl. Benvenuto Cellini: Leben des Benvenuto Cellini, florentinischen Goldschmieds und Bildhauers, Frankfurt/M. 1965, S. 285, 315. 9 Vgl. Marina Belozerskaya: „Cellini’s Saliera. The Salt of the Earth at the Table of the King“, in: Margaret A. Gallucci/Paolo L. Rossi (Hrsg.): Benvenuto Cellini. Sculptor, Goldsmith, Writer, Cambridge 2004, S. 71–96, hier S. 84 f. 10 Ebd., S. 85 ff. 11 Wolfgang Fritz Haug, a. a. O. (Anm. 2), S. 62. 12 Heinrich Klotz: Moderne und Postmoderne Architektur der Gegenwart 1960–1980, Braunschweig/ Wiesbaden 1984, S. 134, 136, 156, 423. 13 Platon: Politeia (ca. 387 v. Chr.), Werke in acht Bänden, Vierter Band, Darmstadt 1971, 603a–608a. 14 Wolfgang Fritz Haug, a. a. O. (Anm. 2), S. 111, 120. 15 Benjamin Barber: Consumed! Wie der Markt Kinder verführt, Erwachsene infantilisiert und die Demokratie untergräbt, München 2007, S. 93. 16 Richard Sennett: Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 2005, S. 124. 17 Wolfgang Fritz Haug: Kritik der Warenästhetik. Überarbeitete Neuausgabe. Gefolgt von Warenästhetik im High-Tech-Kapitalismus, Frankfurt/M. 2009, S. 283. 18 Gotthard Heidegger: Mythoscopia Romantica oder Discours von den Romanen, Zürich 1698, repr. Bad Homburg 1969, S. 70, 41 f., 13, 49. 19 http://www.dooyoo.de/toaster/siemens-tt-91100/1021231. 20 http://www.ciao.de/Yves_Rocher_Duschbad_mit_Kokos__Test_3003817. 21 http://www.ciao.de/Weleda_Citrus_Erfrischungsdusche__Test_3111508. 22 http://www.ciao.de/Duschdas_Snow_Star__Test_2143739. 23 Gotthard Heidegger, a. a. O. (Anm. 18), S. 81. 24 Vgl. Barry Schwartz: Anleitung zur Unzufriedenheit. Warum weniger glücklicher macht, Berlin 2004. 25 Johann Adam Bergk: Die Kunst, Bücher zu lesen, nebst Bemerkungen zu Schriften und Schriftstellern, Jena 1799, S. 65, 64, 63, 67. 26 Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795), in: Nationalausgabe, Bd. 20, hrsg. v. B. v. Wiese, Weimar 1962, S. 382, 399. 27 Vgl. Rainer Wick: „Der frühe Werkbund als ‚Volkserzieher“, in: 100 Jahre Deutscher Werkbund 1907 | 2007, Katalog Architekturmuseum der TU München in der Pinakothek der Moderne, München 2007, S. 51–56.
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Ort der Gestaltung Wo treffen die Kunst des Denkens, die Lebenskunst und die verschiedenen Künste und Kunstfertigkeiten (wie etwa Baukunst, Bildende Kunst, Gartenkunst, Angewandte Kunst, Dichtkunst, Schauspielkunst, Zeichenkunst, Druckkunst, Zauberkunst) aufeinander?1 In der Stadt, denn diese galt bereits in der griechischen Antike als der Ort, den der Mensch aus seiner Natur durch seine Kunst herstellt: „So liegt zutage, dass die Stadt von Natur und der Mensch von Natur das Wesen ist, das auf die Stadt verwiesen ist.“2 Erst in der Stadt kann aus aristotelischer Sicht der Mensch das, was er von Natur aus ist, verwirklichen. Er ist das „Stadtlebewesen“ (Hannes Böhringer).3 Die Stadt ist der Ort, wo sich das persönliche Glück erreichen lässt, aber auch das gerechte, freie Leben in der Gemeinschaft realisiert werden kann.4 Die Besonderheit des antiken griechischen Stadtbegriffs zeigt sich darin, dass für Aristoteles Babylon, die zu seiner Zeit vermutlich größte Stadt der Welt, eben keine Polis, sondern Ethnos, Stammesstaat, ist. Größe allein macht noch keine Polis.5 Die griechische Polis war „Stadtstaat“ (Jacob Burckhardt), ein Personenverband aus männlichen Grundeigentümern, der ab Ende des 6. Jahrhunderts v. Chr. mit Überwindung des aristokratischen Systems Teile der Bevölkerung (die Bevölkerung ohne Frauen, Metöken und Sklaven) als Bürger an der Polis teilhaben ließ, der sich militärisch organisierte und selbst regierte, eigene Institutionen wie die Volksversammlung und den Rat entwickelte und politisch unabhängig war. Die Polis als politisches Gemeinwesen stand für die „vollendete Gemeinschaft“ (Aristoteles).6 Die Stadt ist im antiken griechischen Verständnis der Raum gemeinsamen Handelns, der im Austausch der Meinungen gründet. Stadt steht hier für das politische Gemeinwesen, das idealerweise in Freiheit und gleichberechtigt über sich selbst bestimmt: Polis, später Civitas und Kommune.7 Die Stadt ist aber auch der Ort des Erkennens, wo das Wissen entsteht: „Ich bin eben lernbegierig, und Felder und Bäume wollen mich nichts lehren, wohl aber die Menschen in der Stadt“, wie Sokrates ausführt.8 Die Stadt ist ein von Menschen hervorgebrachtes Kunstwerk und Ort der Künste, der Raum, wo Theorie und Praxis zusammenfinden. Wie sich dieses Gefüge gestaltet, ist aber vorübergehend und durchaus veränderlich. An zwei Beispielen aus dem 17. und dem 20. Jahrhundert soll dies gezeigt werden, ohne hier zu einer Festlegung der Gestaltungsaufgabe kommen zu wollen.
Schauplatz aller Künste, 1659 Die Künste und die Wissenschaften stehen in einem besonderen Verhältnis zu dem öffentlichen Kommunikationsraum, den die Stadt bildet, wie das von Matthäus Merian 1659 gestaltete Titelblatt zu der deutschen Ausgabe von Tomaso Garzonis „Piazza Ort der Gestaltung
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niversale oder Allgemeiner SchawU platz aller Künst, Professionen und Handtwercken“ zeigt.9 [Abb. 1] Garzonis 1585 erstmals erschienenes Buch versucht enzyklopädisch alle Berufe und Tätigkeiten einer städtischen (europäischen) Gesellschaft der späten Renaissance zu erfassen. Das Buch wurde in vielen Editionen in italienischer, lateinischer und deutscher Sprache aufgelegt – Garzoni gilt als der meistgelesene Autor im Deutschland des 17. Jahrhunderts. Ziel seiner Ausführungen war die Popularisierung der gelehrten Bildung, was ihm vortrefflich gelang: Das Buch war ein Bestseller.10 Er entwirft ein Gesellschaftspanorama, das von „Notaris“ bis Alchemisten, von „Bücherschreibern“ bis Wahrsagern, von Prostituierten bis „Hurenhengsten“, von „Zinshebern“ bis „Müssiggängern“ reicht. Das Matthäus Merian d. Ä.: Titelblatt zu Tomaso Garzonis Besondere seiner Darstellung der „Piazza Universale“, Radierung, Frankfurt/M. 1659. gesellschaftlichen Verhältnisse ist, dass er die „unehrlichen“ und „unwürdigen“ Berufe als dem Schauplatz Stadt zugehörig betrachtet. So sind beispielsweise Huren oder Hexen, die eine eigene mündliche wie schriftliche Geschichte besitzen, Teil der „Piazza Universale“. Garzoni beschreibt die Entstehung der „Professionen“ seit der Antike und verweist für die Prostituierten sowohl auf deren mythologische Urahnin Venus (die Liebesgöttin) als auch auf die neutestamentarische Magdalena, um sie als nicht wegzudenkenden Teil der Gesellschaft mit darzustellen. Merian wiederum fasst dieses Allgemeingültigkeit beanspruchende Stadtporträt in einem Schaubild zusammen, das den Titel des Buches wörtlich nimmt. Es zeigt eine prototypische Piazza, einen italienischen Stadtplatz, gesäumt von Skulpturen und Monumenten, eingefasst von den Kirchenbauten und den Stadtpalästen der Herrschergeschlechter. In seiner Mitte paradiert ein Herrscher zu Pferd mit den Machtinsignien Krone und Zepter, eigentümlich wenig beachtet von der allgemeinen Öffentlichkeit. Man kann dies auch als versteckten Hinweis auf die Eigenständigkeit der Städte lesen: Mit der Gründung der italienischen Stadtrepubliken im 12. Jahrhundert und dem Entstehen der Hanse- und Reichsstädte (denen im Frieden zu Konstanz 1183 das Recht zugestanden wurde, ihre Magistrate 240 I Kai Vöckler
selber zu bilden und die Gerichtsbarkeit frei auszuüben) wurde das demokratische Prinzip einer verantwortlichen Mitwirkung der Bürger praktiziert. Die Interessen des städtischen Bürgertums gerieten aber in der Folge in Konflikt mit dem fürstlichen Machtanspruch, der sich letztendlich durchsetzen und aus dem dann der moderne Territorialstaat hervorgehen sollte. Aber Merian ist eben auch Bürger eines der ältesten Reichsstädte – zwar unterstand Frankfurt direkt der kaiserlichen Gewalt und hatte an den Kaiser Steuern abzuführen und diesen beim Waffengang zu unterstützen, verfügte aber ansonsten über eine hohe Autonomie und war gegenüber regionalen Herrschern unabhängig. Wichtig ist, dass die Stadt immer auch ein Symbol war, ein Träger von Bedeutungen. Die Verschmelzungen von Tempel und Palast, Altar und Zitadelle, die sich in den Städten des Altertums neben denen von Werkstatt, Markt und Wohnung finden lassen, zeugen von der besonderen Bedeutung der Städte als kultisch-religiöse wie auch politische Machtzentren – eine Bedeutung, die sie auch in der Gestalt des zentralen städtischen Platzes zum Ausdruck brachten. Im Laufe der Geschichte ist der zentrale öffentliche Platz immer umkämpfter Ort der Visualisierung der unterschiedlichen Machtansprüche, wie sie Adel, Klerus und Bürgertum formulierten. Die Ausbildung von Plätzen in den Städten der Renaissance mit den sie säumenden Gebäuden und Skulpturen war daher Teil eines rhetorischen Programms, welches bildhaft die kollektive Erinnerung bewahren sollte und zugleich die göttliche Sinnordnung, bzw. den herrschaftlichen Ordnungssinn zu vermitteln hatte. Der zentrale städtische Platz war Ort der Repräsentation, Schauplatz für Staatsakte, aber auch für Umstürze. Garzonis Gesellschaftsporträt markiert aber auch den Übergang von der oralen zur verschriftlichten kulturellen Überlieferung. Er legte in seiner Beschreibung großen Wert auf die Integration mündlich überlieferten Wissens. Mit der Erfindung des Buchdrucks in Europa Mitte des 15. Jahrhunderts (in Korea existierten bereits Druckverfahren mit beweglichen Lettern im 14. Jahrhundert, die aber in Europa nicht bekannt waren) rückte die symbolische Bedeutung der gebauten Form zunehmend in den Hintergrund, sie umfasst nicht mehr wie in Antike und Mittelalter die Gesamtheit kultureller und sozialer Verhaltensmuster. In ihrer Funktion sozialer Integration ist die gebaute Stadt durch neue Systeme wie den Buchdruck und später durch die Telekommunikation abgelöst worden.11 In diesem Sinne ist auch Merians Darstellung eines universalen Schauplatzes, der alle „Professionen der Welt“ (so Garzoni im Titel) umfasst, zu deuten. Getrennt von einer Balustrade, aber mit Blick auf den Stadtplatz finden sich auf einer säulenumrahmten Schaubühne die Personifikationen der „freien Künste“: Rechts steht die Grammatik (mit dem Schulstock), die den Schülerinnen Rechnen, Lesen und Schreiben beibringt, daneben die Geometrie, die den Erdglobus vermisst, und die Dialektik (mit dem Bücherstapel und der Schlange), die der ihr gegenübersitzenden Musik gerade etwas erläutert.12 Dem Stadtplatz zugewendet findet sich noch die Malerei, die diesen gerade zeichnet – Verweis auf die Perspektive, deren Erfindung die Malerei zum Leitmedium wissenschaftlicher Forschung in der Renaissance werden ließ und ihre Aufnahme in den Kanon der Artes liberales bewirkte. Und zuletzt findet sich noch die Astronomie Ort der Gestaltung
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mit dem Astrolabium. Merian präsentiert hier ein seit der Antike kanonisiertes Bildungsideal, die „freien Künste“, die für das allgemeine Wissen stehen. Entscheidend ist das Verhältnis dieser Figurengruppe, der Personifikationen der Künste und Wissenschaften zur Stadt und zur Welt – den Hinweis liefert der im Hintergrund stehende Merkur, der das Verbindungsglied zum städtischen Leben darstellt. Dieser ist „nicht nur Gott der Künste, aber auch Schutzherr der Kaufleute“ und scheint „mit seiner Boten-Funktion (...) die Erkenntnisse der artes liberales zur praktischen Verwendung weitervermitteln“ zu wollen.13 Es ist der Fernhandel, der in der Renaisssance das heute noch bestehende mitteleuropäische Städtesystem verband. Die ‚mercatores‘, die Großkaufleute und Fernhändler, die zuerst in den italienischen Stadtstaaten in Erscheinung traten und sich dann über ganz Europa ausbreiteten, bildeten eine wirtschaftliche Elite, deren Geld- und Handelsgeschäfte die Städte miteinander vernetzten. Die Beziehung des Handels zu den Künsten und Wissenschaften findet sich in Merians Radierung wieder – in der Bildmitte findet sich das Stadttor, an dessen Schwelle und Bildhorizont sich eine winzige Figur befindet, die gerade die Stadt betritt oder verlässt, die sich auf der Grenze der „Piazza Universale“, des universalen Schauplatzes Stadt befindet. Ihr korrespondiert die prominent im Bildvordergrund liegende Weltkugel, die gerade vermessen wird (mit dem seinerzeit weitgehend unbekannten Erdteil Afrika zum Betrachter hin ausgerichtet). Der Handel verbindet die Stadt mit den Städten der Welt. Die Künste und Wissenschaften dagegen öffnen die Stadt zur Welt – entdecken sie, indem sie die Grundlagen ihrer Erkundung schaffen. Aber sie entwerfen auch den Rahmen, indem diese Welt erfasst werden kann: Einen Hinweis liefert eben auch die „Pictura“, die gerade einen Entwurf der „Piazza Universale“ anfertigt (und dann auch für die Baukunst stehen würde). Die Künste und Wissenschaften, das allgemeine Wissen und Können bilden den Horizont ihrer Erkenntnis: Die städtische Welt ist Entwurf und Grenze des Denkens und Handelns. Der Philosoph Georg Picht schreibt: „Das Entwerfen ist jenes ursprüngliche Vermögen, welches den Menschen befähigt zu produzieren und zu planen, sich Häuser zu bauen, Städte zu gründen, Staaten zu bilden und jene künstliche Welt zu erzeugen, die ihm das Leben inmitten einer feindlichen Natur erst möglich macht. Das Entwerfen ist ein Grundvermögen der Kunst. Das Denken ist dann eine Kunst, wenn es im tiefsten Grunde ein Entwerfen ist.“14 Picht verweist auf das poietische Vermögen des Menschen, etwas hervorbringen, herstellen zu können, also etwas zu erschaffen, was es vorher nicht gab.15 Voraussetzung dafür ist die innere Anschauung, ein Entwurf dessen, was möglich ist. Die Imagination, die Einbildung, steht seit Aristoteles für eine Vorstellung, einen Bewusstseinsinhalt, dem keine Sinneswahrnehmung zugrunde liegt und die insofern immer mit dem Scheinhaften behaftet ist (Phantasie).16 Sie ist nicht gegenständlich, sondern vorgestellt, nicht nur als bereits Gesehenes und eingebildetes Erinnertes, sondern auch als noch nicht Geschautes und Mögliches. Bei diesem subjektiven Vermögen innerer Bildproduktion unterscheidet Immanuel Kant reproduktive und produktive Einbildungskraft. Letztere wurde für die theoretische Auseinandersetzung mit dem Imaginären grundlegend, da nach Kant die produktive Einbildungskraft nicht nur die Begriffe zu erweitern vermag, sondern auch „die 242 I Kai Vöckler
Urheberin willkürlicher Formen möglicher Anschauungen“ ist.17 Sie bildet erst die Voraussetzung jeglicher Erfahrung von Wirklichkeit und geht den Vorstellungen voraus.18 Was erfahren wird, ist zugleich produziert. Die produktive Einbildungskraft selbst aber ist vorgegenständlich, sprach- als auch bildlos und unvorstellbar. Die Unterscheidung von reproduktiver und produktiver Einbildungskraft wird maßgeblich für das Verständnis des Imaginären als einem subjektiven Vermögen und bestimmt in der Folge deren Reflexion.19 Der Sozialphilosoph und Psychoanalytiker Cornelius Castoriadis wird diese Konzeption des Imaginären radikalisieren. Er unterscheidet zwischen einem „aktualen“ und einem „radikalen“ Imaginären. Das „radikal Imaginäre“ ist sowohl auf individueller Ebene in der Psyche wirksam als auch im „Gesellschaftlich-Geschichtlichen“, wo es als „gesellschaftlich Imaginäres“ erst die Gesellschaft und ihre Institutionen hervorbringt.20 Das „aktual Imaginäre“ ist die Imagination, das subjektive „Vermögen, etwas als Bild auftauchen zu lassen, das weder ist noch war“.21 Das Imaginäre muss das Symbolische benutzen, um sich auszudrücken – Bilder, selbst Wahnvorstellungen, haben immer eine symbolische Funktion. Von den Imaginationen setzt Castoriadis das „radikal Imaginäre“ ab, das er als gemeinsame Wurzel des „aktualen Imaginären“ (der Imagination als Produkt) und des Symbolischen definiert. Das Imaginäre drückt sich in seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen durch ein beständiges „Anderswerden“ aus.22 Für Castoriadis steht das Imaginäre für den Schöpfungsprozess und nicht für die Formen der Welterschließung – diese sind bereits Produkte des Imaginären. Das, was Realität genannt wird, ist Schöpfung des Imaginären.
Weltschauplatz, 2004 Die Stadt ist durchzogen von imaginären Ansprüchen auf eine dauerhafte und sinnstiftende Stadtgestalt, in der die besondere Geschichte der europäischen Stadt präsent ist – auch das zeigt das Meriansche Titelbild.23 Und sie ist eine Schöpfung des Imaginären.24 Die Stadt steht auch heute noch im kollektiv Imaginären für die gleichzeitige Entstehung und Verschmelzung einer charakteristischen Stadtstruktur und Stadtform mit einem spezifischen System sozialer Beziehungen, einer stadtbürgerlichen Gesellschaft mit ihrer typischen Kultur: die „okzidentale Stadt“ (Max Weber).25 Genau diese in den geographischen Raum eingebettete, gegen die Zeitläufe widerständige Symbolik der Stadt ist es, welche die Brüche im Transformationsprozess des Städtischen verdeckt. Denn dieser Stadttypus hat sich stark verändert, wie die neu entstandenen globalisierten und regionalisierten Stadtformen zeigen. War es zu Zeiten Merians die Ausbildung der Territorialstaaten, die die Städte absorbierten und deren Freiheiten einschränkte, so ist heute mit der Globalisierung der Ökonomie, internationaler Migration und der Internationalisierung der Medien- und Kommunikationskreisläufe eine neuartige urbane Struktur entstanden, die sich über die Welt ausbreitet und die Grenzen der Nationalstaaten überschreitet. Mit Handel und Kolonialismus entstand seit dem 16. Jahrhundert ein weltweites Städtesystem, das dann im 19. Jahrhundert mit der IndustrialiOrt der Gestaltung
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sierung und dem Imperialismus sich zu einem eigenständigen „Weltsystem“ (Immanuel Wallerstein) mit Weltstädten entwickelte, die als Machtzentren Verwaltung, Handel und Produktion koordinierten.26 Dieses Gefüge erfuhr zum Ende des 20. Jahrhunderts eine bis dahin unbekannte globale Dynamik, die eng mit den Veränderungen der Weltwirtschaft zusammenhängt und bis heute andauert.27 Die Aufspaltung von Produktionsprozessen im weltweiten Maßstab, was durch eine verbesserte Informations- und Kommunikationstechnologie und die Weiterentwicklung des Transportwesens ermöglicht wurde, bewirkte zusammen mit der Ausweitung und der Internationalisierung der Finanzmärkte einen Strukturwandel des Städtewesens.28 Die Transnationalisierung der Wirtschaftsstruktur führte zur Entwicklung von Städtenetzwerken, in denen diese transnationalen Unternehmensnetzwerke koordiniert werden. Die Rekonfiguration des Städtischen in organisatorischen Knotenpunkten des Weltwirtschaftssystems, die wiederum weltweit vernetzt sind und einen eigenen globalen Akkumulationsraum mit einer dazugehörigen transnationalen Elite bilden, ist erst 1982 durch die „Weltstadthypothese“ des Raumplaners John Friedmann erfasst und in der Folge von der So-ziologin Saskia Sassen als System der „Global Cities“ analysiert worden.29 Kurz: Warenund Wissens-, Material- und Menschenströme werden in den großen Städten miteinander in Kontakt gesetzt, verdichtet und über die Welt verteilt. Die Städte urbanisieren nicht die Welt, sondern bilden im System der Weltstädte einen eigenen, globalisierten städtischen Raum. Dass die Städte mehr und mehr mit Realitäten konfrontiert werden, die weder etwas mit der Nachbarschaft noch mit dem Stadtteil noch mit dem umgebenden Nationalstaat zu tun haben, ist inzwischen ein Gemeinplatz. Was entsteht, sind besondere Orte, deren kulturelle, ökonomische und soziale Aktivitäten nicht mehr auf das Lokale beschränkt sind.30 Wie das Lokale vor dem Hintergrund zunehmender internationaler räumlicher Verflechtungsbeziehungen neu konstruiert wird, wie ein urbaner Alltag gelebt wird, der aus unterschiedlichen, sich überlagernden Räumen zusammengesetzt ist, diesen Fragen ist das Bauhaus Kolleg „Transnational Spaces“ 2004–2005 nachgegangen. [Abb. 2] Das internationale, interdisziplinäre Postgraduiertenkolleg der Stiftung Bauhaus Dessau wurde 2000 eingerichtet, um zu erforschen, wie sich angesichts einer fortschreitenden weltweiten Urbanisierung die Stadt neu konfiguriert. Der damalige Leiter der Akademie, der Soziologe Walter Prigge, definierte das Leitbild: Es ist nicht mehr der „gemeinsame Bau“, der die Künste vereinigt und den neuen Weltentwurf symbolisiert, wie es das historische Bauhaus 1918 programmatisch formulierte, sondern vielmehr die Stadt als der Ort, an dem die unterschiedlichen künstlerischen wie wissenschaftlichen Disziplinen zusammenfinden, den es zu erforschen und zu gestalten gilt. Architekten, Künstler, Kulturwissenschaftler, Ingenieure und Historiker, die im Bauhaus Kolleg „Transnational Spaces“ zusammenarbeiteten, waren mit der Aufgabe konfrontiert, Analysen und Konzepte zu entwickeln, wie man der identifizierten Qualität translokaler Realitäten in Berlin, Istanbul, Frankfurt und Kolkata eine Gestalt geben kann. Fokussiert wurden die Callcenter in Kolkata, die Dienstleistungen für die USA, Großbritannien und Australien anbieten. Über das digitale Netz werden nicht nur Beratungsgespräche geführt, 244 I Kai Vöckler
sondern auch imaginäre Vorstellungen vom Leben am anderen Ende der Telefonleitungen mitkommuniziert. Die CallcenterAgenten führen ein Leben in zwei Welten: Nachts in der Welt ihrer englisch sprechenden Kunden (da sie sich mit ihrer Arbeitszeit auf Grund der Zeitverschiebung den Tagesabläufen ihrer Kunden anpassen müssen), für die sie auch englische Namen und eine neue „Identität“ angenommen haben, und tags in ihrer jeweils eigenen lokalen. Diese imaginäre Verbindung zur Welt ihrer Kunden hat im städ tischen Alltag in Kolkata seine Spuren hinterlassen, denen nachgegangen wurde. Untersucht wurde auch der Textilhandel in Istanbuls Stadtteil Laleli, der aus den informellen Austauschbeziehungen von Waren 2 Wilfried Hackenbroich/Rainer Mühr/Kai Vöckler: Digitale Zeichnung für das Titelblatt von „Transnationale Räume“, („Kofferhandel“) zwischen rusEdition Bauhaus (Band 25), Berlin 2007. sischen Händlerinnen und türkischen Unternehmern entstanden ist. Der Stadtteil, dessen Ökonomie und urbane Kultur wesentlich auf persönlichen Netzwerken basiert, deren Reichweite nationale Grenzen überschreitet, zeigt, dass neben der Internationalisierung der Kapital- und Finanzmärkte auch eine Transnationalisierung der Zonen des kleinen Profits und des risikoreichen unternehmerischen Handelns zwischen Personen stattfindet. Das Gegenstück dazu ist der internationale Flughafen Frankfurt, der einen der Knotenpunkte globaler Mobilität darstellt. Dieser Raum wird durch politische und ökonomische Beziehungen sowie nationalstaatliche bzw. supranationale Abkommen reguliert. Daraus resultieren vielfältige Grenzen und Territorien innerhalb des Flughafens, in denen der Fluss der Reisenden kanalisiert wird. Während Flughäfen an der Oberfläche als geschlossene Einheit erscheinen, setzen sie sich aus einer Vielzahl von Territorien zusammen, die von der Art und Weise des Unterwegsseins rund um den Globus bestimmt sind. Der optimierte Verkehrsraum ist in der Realität vielfach hierarchisiert und fragmentiert. Ein weiterer Untersuchungsort waren Flüchtlingsräume in Berlin. Das Leben in Asylantenheimen und Auffanglagern an den Rändern der Stadt, die im Kontext der nationalstaatlichen Regulationen des Ort der Gestaltung
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Asylverfahrens entstanden sind, ist begleitet von der Suche nach Integration in die verästelten Netzwerke der Migrantenstadt Berlin. Dem staatlichen Kontrollanspruch steht die sehr dynamische, netzartige räumliche Praxis der Asylbewerber gegenüber, die einen eigenen „Schutzraum“ ausbildet, der zugleich über die neuen Kommunikationstechnologien mit den Heimatländern der Flüchtlinge in Austausch steht. Ziel des Programms war weniger, vorhandene Zusammenhänge zwischen Regionen, Menschen und Waren nachzuzeichnen, vielmehr ging es darum, die Dynamik gegenwärtiger Interaktionen und Austauschbeziehungen zu verstehen. Unterschiedliche Konzepte sind dabei entstanden: Performances, Zwischennutzungen, Szenarien und Kartierungen. Neben den auf Flughäfen, Märkten, in Callcentern und Flüchtlingsheimen zusammengetragenen Geschichten, Beobachtungen und Einsichten wurden auch Ideen zum Umgang mit der schwer greifbaren, aber doch materiellen Realität transnationaler Räume entwickelt. Letztlich verfolgten die Teilnehmer des Bauhaus Kollegs damit die Intention, Navigationshilfen zu erarbeiten, für unsichtbare, eher abstrakte Zusammenhänge globaler Realitäten und für dynamische Situationen, welche die Wirklichkeit heutiger Städte ausmachen. Die Vorgehensweise, gemeinsam an einem urbanistischen Thema zu arbeiten, zielte nicht darauf, die jeweiligen disziplinären Zugänge der Teilnehmer des Postgraduiertenkollegs aneinander anzugleichen und Bereiche, die sich historisch ausdifferenziert haben, wieder zusammenzufügen.31 Es wurde vielmehr an einem Thema eine Fragestellung entwickelt, die dann gemeinsam, aber mit den Mitteln der eigenen Disziplin untersucht und bearbeitet wurden. Die aus der Fragestellung sich ergebenden unterschiedlichen Problemlösungsstrategien wiederum können dann gemeinsam in Projekten gebündelt werden. Die Komplexität der Fragestellung erfordert daher zumeist eine Bündelung unterschiedlicher Strategien, die sich ergänzen können: von der künstlerischen Intervention über die Gestaltung von Kommunikationsräumen bis hin zu planerischen Eingriffen und einer kritischen Reflexion. Diese praxisorientierte Vorgehensweise versucht, den produktiven Charakter, der den Künsten wie den Wissenschaften eigen ist, zu nutzen – denn trotz aller historisch ausgebildeten Differenzen vermögen sie sich vortrefflich zu ergänzen, wenn das Ziel der interdisziplinären Zusammenarbeit klar umrissen ist. Auf diese Weise kann ein übergeordneter Gestaltungsanspruch entwickelt werden, ohne dass die einzelnen Disziplinen ihre Arbeitsweisen und Gestaltungsansprüche angleichen müssten. Und dann ist es auch nicht nötig, zwischen den Disziplinen abzugrenzen, also ständig zu verhandeln, was denn nun Kunst und was nicht Kunst ist, und wann was wissenschaftlich wird – das wissen die einzelnen Akteure für sich zu entscheiden. Was nicht heißt, dass man sich nicht über die jeweiligen Forschungsmethoden und Gestaltungsstrategien verständigen müsste – eben um ein gemeinsames Projekt entwickeln zu können, ist die Auseinandersetzung über die Methoden und Strategien wesentlich. Und diese Auseinandersetzung wird immer wieder neu geführt werden müssen. Der eigentliche Zweck aber, weswegen man zusammenfindet, ist gewissermaßen das realitätsstiftende Prinzip, dass die Künste wie die Wissenschaften in Beziehung mit der lebensweltlichen Wirklichkeit setzt. 246 I Kai Vöckler
Was bedeutet dies für die Stadt als Ort der Selbstbestimmung und gesellschaftlicher Selbstverständigung? Die Entwicklung der neuen Kommunikationstechnologien (Satellitentechnologie und Internet) zum Ende des 20. Jahrhunderts ermöglichte einen „permanenten Interaktions- und Kommunikationszusammenhang“ innerhalb des Weltstädtesystems.32 Öffentlichkeit ist nicht mehr alleine an den konkreten städtischen Raum gebunden, sondern entfaltet sich in (auch medial) vermittelten Teilöffentlichkeiten, die auf jeweils eigene Weise reale und virtuelle, lokale und globale Räume verknüpfen. Die Stadt organisiert zudem den gesellschaftlichen Raum auf andere Weise als der Nationalstaat.33 Sie ist der Ort ständiger Zirkulation von Menschen, Informationen und Waren, bewirkt ihr Zusammentreffen und den Austausch, ermöglicht auf diese Weise Differenz und schafft damit den Raum für soziale Interaktion über das Lokale und Nationale hinaus.34 Allerdings bleibt die Frage offen, wie sich in dem neuartigen Gefüge eines Weltstädtesystems ein politisches Gemeinwesen entwickeln kann, das seinen Ort in der Welt findet. Wie könnte sich eine „Welt-Polis“ als Ideal politischer Gemeinschaft, das auf dem Freiheits- und Selbstbestimmungsprinzip gründet, unter den Bedingungen einer entstehenden Weltgesellschaft in den Weltstädten formieren? Diese Frage kann hier nicht beantwortet werden, stellt aber angesichts der neuen Formierung des Städtischen im globalen Maßstab die eigentliche Herausforderung einer Neubestimmung des politischen Gemeinwesens als Weltgesellschaft dar.35 Es ist die Stadt als freie Schöpfung, die als Ort der Freiheit das Zusammentreffen, den Austausch, die Differenz und damit den Raum für den Prozess der gesellschaftlichen Selbstbestimmung erst ermöglicht. Sie ist der Ort, an dem die Zukunft möglich wird. Diese Zukunft muss entworfen werden – darauf verweist Merians Darstellung des universalen Schauplatzes Stadt.
Gestaltung des Politischen Dieses Grundvermögen, etwas hervorzubringen, was vorher nicht da war, eine Möglichkeit aufzuzeigen, etwas zu entwerfen, drückt sich nicht nur in künstlerischen Schöpfungs- und wissenschaftlichen Erkenntnisakten aus, sondern spielt in jedes Handeln hinein, wie Castoriadis festhält: „Ob es darum geht, ein Buch, ein Kind oder eine Revolution zu machen – ‚machen‘ heißt immer, sich auf eine künftige Situation hin entwerfen, die sich von allen Seiten dem Unbekannten öffnet und über die man also nicht vorab denkend verfügen kann.“36 Castoriadis hat immer wieder darauf hingewiesen, dass die Freiheit des Handelns, die Selbstbestimmung (Autonomie) selbst eine imaginäre Setzung ist – aber sie ist nicht naturwüchsig oder gottgewollt.37 Handeln heißt, sich mit anderen einen Raum des Miteinanders und der Auseinandersetzung zu schaffen, also einen öffentlichen Raum zu bilden. Die Philosophin Hannah Arendt hat dies als eigentliche Form des Politischen definiert: „Politik beruht auf der Tatsache der Pluralität von Menschen“, sie entsteht zwischen den Menschen, die nicht gleich, sondern verschieden sind und sich einen Raum gemeinsamen Handelns schaffen, sie „handelt von dem Zusammen- und Miteinander-Sein der Verschiedenen“.38 „Der Sinn von Politik ist Ort der Gestaltung
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Freiheit“, und diese Freiheit gründet darin, immer wieder neu anzufangen, etwas Neues beginnen zu können.39 Das Vermögen, etwas Neues zu entwerfen, eine Möglichkeit aufzuzeigen, das ist wesentliche Aufgabe der Künste und Wissenschaften. Dann gründet die Gestaltung und die Wissensproduktion im Handeln, setzt etwas in Gang. Ihr Ort ist das zu gestaltende Gemeinwesen, das, was Stadt in einem ursprünglichen Sinne meint: die Schaffung eines gemeinsamen Handlungsraums, einer öffentlichen Auseinandersetzung über die Perspektiven eines „guten Lebens“, das in der Verantwortung für das Ganze gründet. Dass dieses „Ganze“ heute fragmentiert ist, sich in unterschiedlichen Raumkonfigurationen lokal wie global entfaltet und nicht mehr in einer in sich geschlossenen Gemeinschaft wie der griechischen Polis formieren kann (und soll), stellt die Herausforderung für unsere Zeit dar. Auch die Verfassung der europäischen Kommunen wird den neuen Verhältnissen nicht gerecht – nicht nur, dass diese Teil des nationalstaatlichen Raums (und auch teilweise eines suprastaatlichen, wie der Europäischen Union) sind und damit eben nicht nur frei gewählte Selbstverwaltungsorgane, sondern auch weisungsgebundene Verwaltungsinstanzen darstellen, schließen sie beispielsweise in ihrer jetzigen Struktur einen großen Teil ihrer Bevölkerung von politischen Entscheidungsprozessen aus. Ein Beispiel dafür ist die Stadt Offenbach, die über 30 Prozent ausländische Mitbürger ohne Wahlrecht (und mit zumeist befristeter Aufenthalts genehmigung) als Einwohner hat. Dies kann als Hinweis genommen werden, über neue Formen translokaler politischer Willensbildung jenseits der Formen repräsentativer demokratischer Prozesse nachzudenken – und den Raum dafür zu gestalten. Sein Ort ist die Stadt als Welt.
Anmerkungen 1 Der vorliegende Text ist eine überarbeitete und erweiterte Fassung von Kai Vöckler: Schauplatz aller Künste, in: Susanne Märtens/Hannes Böhringer (Hrsg.): Vorsicht! Wagnis. Kunst und Wissenschaft – Kunst und Wissensproduktion. Nürnberg, vorauss. 2013. 2 Aristoteles: Pol. 1253a 2–3. Übersetzung: Joachim Ritter, Die große Stadt, in: Ders.: Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel, Frankfurt/M. 1969, S. 348. 3 Hannes Böhringer: Erbauung, in: Ders.: Begriffsfelder. Von der Philosophie zur Kunst, Berlin 1985, S. 45. 4 Aristoteles, NE 1097b 8ff. Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik, Stuttgart 2003, S. 15–16. 5 Aristoteles, Pol. VII, 1326b 1–5. „(...) ein Staat allerdings, der aus vielen Bürgern besteht, ist zwar in den lebensnotwendigen Bedingungen selbstgenügsam, wie ein Volksstamm, aber nicht wie ein Staat“. Aristoteles, Politik, Stuttgart 2003, S. 331 (Übersetzung Alois Dreizehnter). 6 Aristoteles, Pol. I, 1252b 28–30. „Ein staatlicher Verband ist aber die aus mehreren Dörfern gebildete vollendete Gemeinschaft, die die Grenze erreicht hat, bei der – wenn man so sagen darf – vollständige Autarkie besteht. Um des Überlebens willen ist er entstanden, er besteht aber um des vollkommenen Lebens willen.“ Aristoteles: Politik, Buch I. Berlin 1991, S. 13 (Übersetzung Eckart Schütrumpf). 7 Allerdings war immer nur ein Teil der männlichen Bevölkerung an den politischen Entscheidungsprozessen beteiligt, auch die Freiheit zur Selbstbestimmung zumeist eingeschränkt.
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8 Platon: Phaidros, 230 d-e, in: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 2. Symposion. Reinbek bei Hamburg 1994, S. 547 (Übersetzung Friedrich Schleiermacher). 9 Thomae Garzoni: Piazza Universale: Das ist: Allgemeiner Schawplatz, Marckt und Zusammenkunfft aller Professionen, Künsten, Geschäfften, Händeln unnd Handt-Wercken, [et]c. : Wann vnd von wem dieselbe erfunden: Wie sie von Tag zu Tag zugenommen: Sampt außführlicher Beschreibung alles dessen, so darzu gehörig: (...), Franckfurt am Mayn 1659. Als Download auf Google Books verfügbar: http://books.google.de/books?id=3q0iAAAAMAAJ&printsec=frontcover&hl= de&source=gbs_ge_summary_r&cad=0#v=onepage&q&f=false [Stand: 03.12.2012]. 10 Vgl. Italo Michele Battafarano (Hrsg.): Tomaso Garzoni. Polyhistorismus und Interkulturalität in der frühen Neuzeit, Bern/Frankfurt/M. 1991. Die Interkonfessionalität und Interkulturalität dieses frühneuzeitlichen Epos wird von dem Herausgeber als Herausforderung für eine noch weitgehend national orientierte Literaturgeschichtsschreibung bezeichnet. 11 Vgl. Francoise Choay: Semiotik und Urbanismus (frz. k. A.), in: Alessandro Carlini/Bernhard Schneider (Hrsg.): Die Stadt als Text, Tübingen 1976. 12 Vgl. zur Bildanalyse: Jutta Bacher: Artes Mechanicae, in: Hans Holländer (Hrsg.): Erkenntnis. Erfindung. Konstruktion. Studien zur Bildgeschichte von Naturwissenschaften und Technik vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, Berlin 2000. 13 Ebd., S. 47. 14 Georg Picht: Die Kunst des Denkens (1968), in: Ders.: Das richtige Maß finden. Der Weg des Menschen im 21. Jahrhundert, Freiburg/Basel/Wien 2001, S. 32. 15 Platon: Symposion, 205b-c: „Denn was nur für irgendetwas Ursache wird, aus dem Nichtsein in das Sein zu treten, ist insgesamt Dichtung [poiésis]. Daher liegt auch bei den Hervorbringungen aller Künste [techné] Dichtung zugrunde, und die Meister darin sind sämtlich Dichter.“ In: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 2. Symposion (Übersetzung Friedrich Schleiermacher), Reinbek bei Hamburg, 1994, S. 80. 16 Vgl. Aristoteles: De anima. Über die Seele. Stuttgart 2011. 17 KdU, V, 240. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft (1790), Darmstadt 1974, S. 83. 18 „Es kann aber nur die produktive Synthesis der Einbildungskraft a priori statt finden; denn die reproduktive beruht auf Bedingungen der Erfahrung. Also ist das Principium der notwendigen Einheit der reinen (produktiven) Synthesis der Einbildungskraft vor der Apperzeption der Grund der Möglichkeit aller Erkenntnis, besonders der Erfahrung.“ KrV, A 118. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (1781), Stuttgart 1982, S. 896. 19 Zur Begriffsgeschichte des Imaginären vgl. Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt/M. 1993, S. 292–411. 20 „Die alten Vorstellungen eines ‚göttlichen‘ Ursprungs der Institutionen waren da, unterhalb ihrer mythischen Verkleidung, der Wahrheit viel näher. Wenn Sophokles von göttlichen Gesetzen spricht, die stärker und dauerhafter sind als die von Menschen geschaffenen (nicht zufällig handelt es sich um das Inzestverbot, das Ödipus verletzt hat), so deutet er auf einen Ursprung der Institution jenseits des klaren Bewusstseins des menschlichen Gesetzgebers. (...) Jenseits der bewussten Tätigkeit der Institutionalisierung finden die Institutionen ihren Ursprung im gesellschaftlichen Imaginären.“ Cornelius Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie (frz. 1975), Frankfurt/M. 1990, S. 225. 21 Ebd., S. 218. 22 „Im Sein-Zu taucht das radikale Imaginäre als Andersheit und als beständiger Ursprung von Anderswerden auf.“ Ebd., S. 603. 23 Vgl. Walter Siebel: Strukturwandel der europäischen Stadt. Die emanzipative Kraft des Urbanen, in: Ernst Hubeli/Harald Saiko/Kai Vöckler (Hrsg.): 100% Stadt. Der Abschied vom Nicht-Städtischen, Graz 2003.
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24 „Die Menschen bilden eine Gemeinschaft mit Institutionen, d. h. Regeln, die gleichzeitig notwendig und beliebig sind, und die durch das, was ich ‚imaginäre Bedeutung‘ genannt habe, Leben entfalten. Gott ist beispielsweise eine imaginäre Bedeutung. (...) Die griechischen Götter sind eine imaginäre Bedeutung, aber auch die Polis. Ich kann ihnen weder eine Photographie der Polis, noch ihre chemische Formel geben.“ Cornelius Castoriadis im Gespräch mit Florian Rötzer, in: Florian Rötzer, Französische Philosophen im Gespräch, München 1987, S. 52. 25 Vgl. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlass. Teilband 5: Die Stadt (1921), Tübingen 2000. In Webers orientalokzidentalischem Zivilisationsvergleich kam es nur im Okzident zur Entstehung eines politisch autonomen Bürgertums, das später Träger der Entwicklung des modernen Kapitalismus wurde. 26 Vgl. Immanuel Wallerstein: Das Moderne Weltsystem I. Die Anfänge kapitalistischer Landwirtschaft und die europäische Weltökonomie im 16. Jahrhundert (engl. 1974), Wien 2004, S. 517–530; vgl. auch: Ders.: Das Moderne Weltsystem II – Der Merkantilismus. Europa zwischen 1600 und 1750 (engl. 1980), Wien 1998; Die große Expansion. Das moderne Weltsystem III. Die Konsolidierung der Weltwirtschaft im langen 18. Jahrhundert (engl. 1989), Wien 2004. 27 Vgl. Peter Feldbauer/Christof Parnreiter: Einleitung: Megastädte – Weltstädte – Global Cities, in: Peter Feldbauer/Karl Husa/Erich Pilz/Irene Stacher (Hrsg.): Mega-Cities. Die Metropolen des Südens zwischen Globalisierung und Fragmentierung, Frankfurt/M. 1997, S. 9–19. 28 Vgl. Wolfgang Schwentker: Die Megastadt als Problem der Geschichte, in: Ders. (Hrsg.): Megastädte im 20. Jahrhundert, Göttingen 2006, S. 7–26. 29 Vgl. John Friedmann/Wolff Goetz: World City Formation. An Agenda for Research and Action, International Journal of Urban and Regional Research, Bd. 6, 3/1982, S. 309–344; vgl. auch John Friedmann: Ein Jahrzehnt der World City Forschung, in: Hanruedi Hitz/Roger Keil/Ute Lehrer/ Klaus Ronneberger/Christian Schmid/Richard Wolff (Hrsg.): Capitales Fatales. Urbanisierung und Politik in den Finanzmetropolen Frankfurt und Zürich, Zürich 1995, S. 22–44. Dieser Ansatz wurde von der Soziologin Saskia Sassen fortgeführt, die als Voraussetzung für diese neue Form weltwirtschaftlicher Interdependenz ebenso ein transnationales Städtesystem sieht, in dem sich die Steuerungsfunktionen konzentrieren. Vgl. Saskia Sassen: Metropolen des Weltmarkts. Die neue Rolle der Global Cities (engl. 1994), Frankfurt/M./New York 1996. 30 Vgl. Regina Bittner/Wilfried Hackenbroich/Kai Vöckler (Hrsg.): Transnationale Räume. Edition Bauhaus, Bd. 25, Berlin 2007, S. 20–25. In der folgenden Beschreibung des Bauhaus-Kollegs „Transnationale Räume“ wird die Einleitung der Herausgeber auszugsweise ohne gesonderten Nachweis verwendet. 31 Das Curriculum des Bauhaus Kollegs wurde gemeinsam von der Kulturwissenschaftlerin Regina Bittner, dem Architekten Wilfried Hackenbroich und dem Verfasser als Adviser des Postgraduiertenkollegs in den Jahren 2003–2006 entwickelt und umgesetzt. 32 Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts (2009), München 2011, S. 386. 33 „Während Nationalstaaten Städtesysteme brauchten, waren umgekehrt Städte oft nicht auf einen funktionierenden nationalstaatlichen Rahmen angewiesen.“ Ebd., S. 382. 33 Vgl. Henri Lefèbvre: Die Revolution der Städte (frz. 1970), Frankfurt/M. 1990, S. 127 ff. 35 Eine Welt-Polis ist kein „Welt-Staat“. Der Weltstaat als eine einzige, die gesamte Welt umfassende Autorität, der sich alle anderen Autoritäten unterzuordnen haben, ist nicht zwangsläufig die einzige Form gesellschaftlicher Ordnung, die eine globale politische Willensbildung ermöglicht. Das globale Städtesystem bietet eine neuartige Perspektive, das Globale mit dem Lokalen zu verschränken. Vgl. Kai Vöckler: Politics of Architecture, in: Ders. (Hrsg.): SEE! Urban Transformation in Southeastern Europe, Wien 2013.
250 I Kai Vöckler
36 Cornelius Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie (frz. 1975), Frankfurt/M. 1990, S. 150. Vgl. Andreas Hetzel: Zwischen Poiesis und Praxis. Elemente einer kritischen Theorie der Kultur, Würzburg 2001, S. 222. 37 „Die Autonomie ist einwandfrei eine imaginäre Bedeutung. Sie ist eine menschliche Schöpfung, ebenso wie die Schönheit und die Wahrheit. (...) Warum ist die Autonomie also kein Mythos? In den mythischen Gesellschaften kann das instituierte Imaginäre nicht in Frage gestellt werden, wohl aber in den autonomen Gesellschaften. Die Autonomie ist zwar eine imaginäre Schöpfung, aber sie ist kein Mythos.“ Cornelius Castoriadis im Gespräch mit Florian Rötzer, a. a. O., S. 59 f. 38 Hannah Arendt: Was ist Politik? (Nachlass; 1993), München 2010, S. 9. 39 Ebd., S. 28. „Das Wunder der Freiheit liegt in diesem Anfangen-Können beschlossen, das seinerseits wiederum in dem Faktum beschlossen liegt, dass jeder Mensch, sofern er durch Geburt in die Welt gekommen ist, die vor ihm da war und nach ihm weitergeht, selber ein neuer Anfang ist.“ Ebd., S. 34.
Abbildungsnachweise Abb. 1
Abb. 2
Matthäus Merian d. Ä., Titelblatt zu Tomaso Garzonis „Piazza Universale“, Radierung, Frankfurt am Main 1659. Abb. aus: Hans Holländer (Hg.): Erkenntnis. Erfindung. Kon struktion. Studien zur Bildgeschichte von Naturwissenschaften und Technik vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. Berlin, 2000, S. 48. Wilfried Hackenbroich, Rainer Mühr, Kai Vöckler, Digitale Zeichnung für das Titelblatt von „Transnationale Räume“, Edition Bauhaus (Band 25), Berlin 2007.
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Autorenverzeichnis Prof. Dr. Manfred Clemenz lehrte Soziologie/Klinische Sozialpsychologie i. R. an der J. W. Goethe-Universität, Frankfurt/M., arbeitet derzeit als Psychotherapeut, Gruppenanalytiker (DAGG), Supervisor und Kunsthistoriker (MA). Neben eigenen Ausstellungen von Bildern und Objekten widmet er sich den Arbeitsschwerpunkten der Kunsttheorie und -psychologie, der Kreativitätsforschung und der Biographieforschung. Eine Auswahl neuerer Publikationen: Manfred Clemenz: Wir können nicht besser klagen. Ostdeutsche Lebensläufe im Umbruch, Berlin 2001; ders.: Freud und Leonardo. Eine Kritik psychoanalytischer Kunstinterpretation, Frankfurt/M. 2003; ders.: Affekt und Form. Ästhetische Erfahrung und künstlerische Kreativität, Gießen 2012; ders.: Eros und Thanatos. Bruchstücke einer KleeBiographie, in: Imago. Jahrbuch für Psychoanalyse und Ästhetik, Bd. 1, Gießen 2012; ders.: (Hrsg. u. a.): Imago. Jahrbuch für Psychoanalyse und Ästhetik, Bd. 2, Gießen 2013. Prof. Dr. Michael Erlhoff promovierte in Deutscher Literaturwissenschaft, Soziologie und Kunstgeschichte an der Universität Hannover, war dort mehrere Jahre wissenschaftlicher Assistent, dann freier Autor, Gast-Moderator beim Norddeutschen Rundfunk und Chefredakteur einer Kunstzeitschrift. Er war im Beirat der documenta 8, vier Jahre lang Geschäftsführer und fachlicher Leiter des „Rat für Formgebung/German Design Council“, dann Gründungsdekan des Fachbereichs Design in Köln (heute „Köln International School of Design/KISD“) und lehrte dort bis 2012 Designtheorie und -geschichte. Er hat etwa 30 Bücher geschrieben und herausgegeben, mehrere Ausstellungen, unter anderem im Sprengelmuseum Hannover und in der Bundeskunsthalle Bonn kuratiert und war Gastprofessor in Tokio, Taipei, Kairo, New York, Hangzhou Hongkong u. a. Prof. Dr. habil. Manfred Faßler, Soziologe und Anthropologe, lehrt am Institut für Kulturanthropologie (GD) der J. W. Goethe-Universität Frankfurt/M. Er ist Leiter des internationalen „Forschungsnetzwerkes Anthropologie des Medialen“ FAMe/Frankfurt-Wien-Sao Paolo-Kyoto (www.fame-frankfurt.de) sowie des internationalen Forschungsforums „Koevolution“ und Koordinator des Qualifikationsnetzwerkes für Doktoranden „Coded Cultures“. Seine Forschungs- und Lehrschwerpunkte richten sich auf Medienevolution, Anthropologie des Medialen, medienintegrierte Wissenskulturen und informationelle Globalisierung. Aktuelle Arbeitsschwerpunkte bilden die Biokulturelle Koevolution, künstlerische und wissenschaftliche Visualisierungsprogramme und nachgesellschaftliche Globalstrukturen. Aktuelle Veröffentlichungen sind unter anderem: Manfred Faßler: Der Infogene Mensch – Entwurf einer Anthropologie, München 2008; ders.: Nach der Gesellschaft, München 2009; ders.: Kampf der Habitate. Neuerfindungen des Lebens im 21. Jahrhundert, Wien/New York 2011. Zahlreiche Bücher und Artikel unter: www.uni-frankfurt.de/fb/fb09/kulturanthro/staff/fassler_ home.html. Autorenverzeichnis
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Prof. Dr. Martin Gessmann lehrt Kultur- und Techniktheorien und Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach/M. An der Eberhard-Karls-Universität in Tübingen studierte er Philosophie, Germanistik und Romanistik, Auslandsstudien in Nantes (Westfrankreich) und Washington D.C. folgten. In der Zeit von 1991–1996 war er Fernsehjournalist beim SWR. Seine akademischen Engagements begannen als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Martin-Luther-Universität in Halle (1993–95), anschließend in derselben Stellung an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg (1996–1997). Im Anschluss an ein Habilitationsstipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft (1998) war er wissenschaftlicher Assistent in Heidelberg (1999–2002), von 2003 bis 2008 Oberassistent und Fellow am Marsilius-Kolleg der Universität Heidelberg. Im SS 2009 vertrat er Prof. Dr. W. Neuser an der TU Kaiserslautern und wurde im Juni 2010 an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg zum Univ.-Prof. ernannt. Seit 2003 ist er Redakteur der Philosophischen Rundschau und seit 2007 Jury-Mitglied des Raymond-Aron Übersetzungspreises. Prof. Dr. habil. Christian Janecke lehrt Kunstgeschichte an der HfG Offenbach/M. Seiner Dissertation zu Zufall und Kunst (1993/95) folgten Bücher zur Modetheorie sowie zum Verhältnis von Kunst und Theater. Neben mehreren monographischen Schriften entstanden zahlreiche Aufsätze zur jüngeren Kunst, oft in systematischer Hinsicht, teils zu Wechselwirkungen mit Design und Wissenschaft. Eine Auswahl an bisher erschienenen Titeln: Christian Janecke: Maschen der Kunst, Springe 2011; ders.: Christiane Feser. Arbeiten/Works, Nürnberg 2008; ders. (Hrsg.): Gesichter auftragen. Argumente zum Schminken, Marburg 2006; ders. (Hrsg.): Haar tragen. Eine kulturwissen schaftliche Annäherung, Wien/Köln/Weimar 2004; ders. (Hrsg.): Performance und Bild/Performance als Bild, Berlin 2004; ders.: Tragbare Stürme. Von spurtenden Haaren und Windstoßfrisuren, Marburg 2003. Christian Janecke: Johan Lorbeer – Perfor mances und bildnerische Arbeiten, Nürnberg 1999. Weitere Angaben unter: www.hfgoffenbach.de/janecke. Prof. Adam Jankowski lehrte Malerei an der Hochschule für Gestaltung Offenbach/M. Nach einem Maschinenbau-Studium an der T.H. Wien (1966–68) folgte von 1968 bis 1970 ein Studium der Malerei, ebenfalls in Wien an der Kunstakademie. Nach einem Wechsel an die HfBK Hamburg (1970–76) folgte von 1976–80 ein Studium der Kunstgeschichte an der Universität Hamburg u. a. bei Klaus Herding und Horst Bredekamp. Eine Auswahl zahlreicher Ausstellungen Adam Jankowskis: 2002 „Afrikanische Reklame“ im Iwalewa-Haus Bayreuth und 2003 im Stadtmuseum München; 2002 „Im Wattenmeer“, Altonaer Museum, Hamburg; 2001 „Salzwasser & Süßwasser“, Kunstverein Glückstadt; 1997 „Malerei“, 1822-forum, Frankfurt/M., 1994 „Malerei in Frankfurt“, Frankfurter Kunstverein, Frankfurt/M.; 1972 „Erklärung einiger Dinge“, Kunsthalle Hamburg. Kataloge und Texte u. a.: Hans Zitko, Annemarie Freybourg (Hrsg.): Freie Sicht: Adam Jankowski und Künstler aus seiner Malerieklasse an der HfG Offenbach 1987–2013, Berlin 2013. Adam Jankowski/Robert Lettner/Burghart Schmidt (Hrsg.): 254 I Autorenverzeichnis
Philosophie der Landschaft, Berlin 2010. Adam Jankowski/Robert Lettner (Hrsg.): Kalte Strahlung. Museum Moderner Kunst, Wien 1990; Adam Jankowski/Dieter Glasmacher (Hrsg.): An Be No Do, Berlin 1983. Prof. Dr. habil. Ulrich Reck, Philosoph, Kunstwissenschaftler, Publizist und Kurator, ist seit 1995 Prof. für Kunstgeschichte im medialen Kontext an der Kunsthochschule für Medien in Köln. Nach einem Abschluss als M. A. (1976) promovierte er 1989 in Philosophie und habilitierte 1991 mit der venia legendi für ‚Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft‘. Von 1992–1995 war er als Prof. und Vorsteher der Lehrkanzel für Kommunikationstheorie an der Hochschule für angewandte Kunst in Wien und lehrte ebenfalls als Dozent in Basel und Zürich (1982–1995). Zuletzt erschienene Publikationen: Hans Ulrich Reck: Pier Paolo Pasolini – Poetisch Philosophisches Porträt erschienen als Tonträger (2 CDs), Berlin 2012 und in der Reihe directed by, Paderborn 2010; ders.: Spiel Form Künste. Zu einer Kunstgeschichte des Improvisierens, hrsg. v. Bernd Ternes, Hamburg 2010; ders.: Traum. Enzyklopädie, München 2010; ders.: Index Kreativität, Köln 2007; ders.: EIGENSINN DER BILDER. Bildtheorie oder Kunstphilo sophie?, München 2007; ders.: Das Bild zeigt das Bild selber als Abwesendes, Wien/ New York 2007; ders.: THE MYTH OF MEDIA ART. The Aesthetics of the Techno/ Imaginary and an Art Theory of Virtual Realities, Weimar 2007. Außerdem: audio lectures 03 zur Geschichte der Künste im medialen Kontext; Netzaufbereitung der Vorlesung zum Thema ‚Traum-Bilder, Imagination und Deutungen. Momente zu einer Kunst- und Kulturgeschichte des „Onirischen‘‘ (http://www.khm.de/audiolectures/ audiolectures03/). Prof. Dr. Marc Ries lehrt seit 2010 Prof. für Soziologie und Theorie der Medien an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach/M. und lebt und arbeitet in Wien und Offenbach/M. 1995 promovierte er am Institut für Philosophie der Universität Wien. In seinen Arbeits- und Forschungsschwerpunkten ausgehend von ontologischen, kulturtechnischen und ästhetischen Fragekomplexen entstehen Studien zu Massenmedien, Gesellschaft und Kunst. Zwischen 1998 und 2001 war Marc Ries Leiter des Kunst- und Kulturproviders „THE THING Vienna“ und übernahm von 2000 bis 2001 die Vertretungsprofessur für Medientheorie an der F.-Schiller-Universität Jena. Eine weitere Vertretung folgte von 2006 bis 2009 an der Hochschule für Graphik und Buchkunst Leipzig. 2005 erhielt er das Margarethe Schütte-Lihotzky Stipendium für das Projekt „Wohnen in Kontingenz. Situationen und Utopien des Wohnens im 21. Jahrhundert“. 2009 entwickelt er das Konzept der Ausstellung „talk.talk Das Interview als ästhetische Praxis“ in Leipzig, Graz, Salzburg und wirkt ebenfalls als Co-Kurator an dem Projekt mit. Ausgewählte Publikationen: Marc Ries: Medienkulturen, Wien 2002; ders. (Hrsg. u. a.): DATING.21 Liebesorganisation und Verabredungskulturen, Bielefeld 2007; ders.: »Schlummert ein, ihr matten Augen..«. Zu einer möglichen Assoziation von Todestrieb und ästhetischer Erziehung, in: Imago. Interdisziplinäres Jahrbuch für Psychoanalyse und Ästhetik, Band 1, Gießen 2012, S. 83–190. Autorenverzeichnis
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Prof. Dr. habil. Burghart Schmidt lehrte Sprache und Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung Offenbach/M., Hon.-Prof. der Universität Hannover, Gastprof. der Universität für angewandte Kunst Wien. Von 1962 bis 1970 studierte er Biologie, Chemie, Physik, dann Philosophie und Kunstgeschichte an der Universität Tübingen. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter von Ernst Bloch ist er beteiligt an der Herausgabe von dessen im Suhrkamp Verlag erschienener Gesamtausgabe (1968–1977). 1981 promovierte er an der Uni Tübingen, 1984 folgte die Habilitation an der Uni Hannover. Er lehrte an der Uni Wuppertal, der Uni Hannover, der Uni für angewandte Kunst Wien (1977–1997), der Akademie der bildenden Künste/Universität Wien, der Uni Klagenfurt, der TU Graz und dem ICCM Salzburg. Seit 1997 war er Prof. für Sprache und Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung Offenbach/M., von 2002–2011 ebenfalls deren Vizepräsident. Burghart Schmidt lebt in Wien, wo er seit 2001 ebenfalls als Gastprofessor an der Universität für angewandte Kunst lehrt. Einschlägige Publikationen: Burghart Schmidt: Postmoderne. Strategien des Vergessens, 4. Aufl., Frankfurt/M. 1994; ders.: Bild im Abwesen, 2. Aufl., Wien 1998; ders./Adam Jankowski/Robert Lettner (Hrsg.): Philosophie der Landschaft zwischen Denken und Bild, Berlin 2010. Prof. Dr. Wolfgang Ullrich lehrt Kunstwissenschaft und Medientheorie an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. Seine Arbeitsschwerpunkte richten sich auf die Geschichte und Kritik des Kunstbegriffs, zeitgenössische Bildwelten, kunstsoziologische Fragen und Konsumtheorie. Eine Auswahl aus zahlreichen Buchpublikationen: Wolfgang Ullrich: Uta von Naumburg. Eine deutsche Ikone, Berlin 1998; ders.: Mit dem Rücken zur Kunst. Die neuen Statussymbole der Macht, Berlin 2000; ders.: Die Geschichte der Unschärfe, Berlin 2002; ders.: Tiefer hängen. Über den Umgang mit der Kunst, Berlin 2003; ders.: Was war Kunst? Biographien eines Begriffs, Frankfurt/M. 2005; ders.: Bilder auf Weltreise. Eine Globalisierungskritik, Berlin 2006; ders.: Habenwollen. Wie funktioniert die Konsumkultur? Frankfurt/M. 2006; ders.: Gesucht: Kunst! Phantombild eines Jokers, Berlin 2007; ders.: Raffinierte Kunst. Übung vor Reproduktionen, Berlin 2009; ders.: Wohlstandsphänomene. Eine Beispielsammlung, Hamburg 2010; ders.: An die Kunst glauben, Berlin 2011; ders.: Alles nur Konsum. Kritik der warenästhetischen Erziehung, Berlin 2013. Prof. Dr. Kai Vöckler ist Stiftungsprof. für Kreativität im urbanen Kontext an der Hochschule für Gestaltung (HfG) und lebt in Offenbach/M. Nach einem Kunststudium an der Hochschule der Künste Berlin promovierte er in den Kunstwissenschaften über Raumbilder des Städtischen. Vöckler ist Mitgründer und Programmdirektor der Nichtregierungsorganisation „Archis Interventions“, die zusammen mit lokalen Partnern in urbane Transformationsprozesse interveniert. „Archis Interventions“ ist zurzeit im Kosovo, in Bosnien-Herzegowina, Rumänien, Zypern und im Südsudan aktiv. Eine Auswahl neuerer Publikationen: Kai Vöckler: Prishtina is Everywhere. Turbo-Urbanismus als Resultat einer Krise, Berlin 2008; ders./Regina Bittner/Wilfried Hackenbroich (Hrsg.): Transnationale Räume/Transnational Spaces, Berlin 2007; ders./Regina Bitt256 I Autorenverzeichnis
ner/Wilfried Hackenbroich (Hrsg.): UN-Urbanismus/UN Urbanism, Berlin 2010; ders.: (Hrsg.): SEE! Urban Transformation in Souheastern Europe, Wien 2013. Prof. Dr. Hans Zitko lehrt als Gastprof. für Wahrnehmungstheorie an der Hochschule für Gestaltung Offenbach/M. Nach einem Studium der Philosophie, Kunstgeschichte und Germanistik richteten sich seine Arbeitsgebiete primär auf die Ästhetik, die Theorie der Kunst und die Kunstsoziologie. Eine Auswahl an Publikationen: Hans Zitko: Nietzsches Philosophie als Logik der Ambivalenz, (Reihe: Nietzsche in der Diskussion), Würzburg 1991; ders.: Der Ritus der Wiederholung. Zur Logik der Serie in der Kunst der Moderne, in: Carola Hilmes/Dietrich Mathy (Hrsg.): Dasselbe noch einmal. Die Ästhetik der Wiederholung, Wiesbaden 1998; ders. (Hrsg.): Kunst und Gesellschaft. Beiträge zu einem komplexen Verhältnis, Heidelberg 2001; ders.: Die irdische Hölle. Über Bruce Naumann und Arthur Schopenhauer, in: Günther Baum/Dieter Birnbacher (Hrsg.), Schopenhauer und die Künste, Göttingen 2005; ders.: Kunstwelt. Mediale und systemische Konstellationen, Fundus Bd. 191, Hamburg 2012; ders.: (Hrsg. u. a.): Imago. Jahrbuch für Psychoanalyse und Ästhetik, Bd. 1, Gießen 2012; Bd. 2, Gießen 2013; ders.: (Hrsg. u. a.): Freie Sicht: Adam Jankowski und Künstler aus seiner Malereiklasse an der HfG Offenbach 1987–2013, Berlin 2013; ders.: (Hrsg. u. a.): Freie Sicht: Adam Jankowski und Künstler aus seiner Malereiklasse an der HfG Offenbach 1987–2013, Berlin 2013. Siehe auch: www.hfg-offenbach.de/zitko.
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URSULA BRANDSTÄTTER
ERKENNTNIS DURCH KUNST THEORIE UND PRAXIS DER ÄSTHETISCHEN TRANSFORMATION
Kann Kunst Erkenntnisse ermöglichen? Was unterscheidet ästhetische Erkenntnis von wissenschaftlicher Erkenntnis? Die Frage nach dem Erkenntnischarakter von Kunst stellt nicht nur ein zentrales Thema des ÄsthetikDiskurses dar, sondern sie spielt - weit darüber hinaus - in aktuellen gesellschafts- und bildungspolitischen Diskussionen eine wichtige Rolle. Das Anliegen dieses Buches besteht zunächst darin, in den aktuellen Stand der erkenntnistheoretischen und ästhetischen Diskussion einzuführen. Die darauf auf bauende Analyse konkreter Beispiele aus unterschiedlichen Kunstsparten dient der Entwicklung einer Theorie ästhetischer Transformation. Diese zeigt, wie unter Verwendung ästhetischer Medien Erkenntnisse geschaffen werden können. Das Buch richtet sich an Kunstschaffende, Kunstvermittler und Kunstrezipienten, die die spezifischen Möglichkeiten der Kunst und damit ihre gesellschaftliche Position genauer ergründen und verstehen wollen. 2012. 206 S. 17 S/W-ABB. FRANZ. BR. 155 X 230 MM. | ISBN 978-3-412-20983-4
böhlau verlag, ursulaplatz 1, d-50668 köln, t: + 49 221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar
LORENZ DITTMANN
WELTBILDER MODERNER KUNST WERKE VON KANDINSKY, KLEE, BECKMANN, MONDRIAN, KOKOSCHKA IM LICHT PHÄNOMENOLOGISCHER PHILOSOPHIEN (STUDIEN ZUR KUNST, BAND 26)
Den begrifflichen und sachlichen Entsprechungen zwischen »Weltbildern« moderner Kunst und gleichzeitigen phänomenologischen Philosophien widmet sich Lorenz Dittmann in seinem Buch. Werk und Theorie von Wassily Kandinsky (1864–1944), Paul Klee (1879–1940), Max Beckmann (1884–1950), Piet Mondrian (1872–1944) und Oskar Kokoschka (1886–1980) kommen in Kontakt mit phänomenologischen Philosophien in ihren drei Hauptausprägungen, der transzendentalen Phänomenologie von Edmund Husserl (1859–1938), der existenzialanalytischen von Martin Heidegger (1889–1976) und der ontologischen von Hedwig Conrad-Martius (1888–1966). Dabei zeigen sich erstaunliche Übereinstimmungen, die gerade nicht auf Beeinflussungen zurückzu führen sind. Sie verweisen auf die Bedeutung dieser Philosophien wie auf den Wahrheitsgehalt dieser künstlerischen Werke und Theorien, der mit ihrer bildnerischen Kraft in unmittelbarem Zusammenhang steht. 2013. 293 S. 35 S/W- UND 21 FARB. ABB. GB. 170 X 240 MM. ISBN 978-3-412-20913-1
böhlau verlag, ursulaplatz 1, d-50668 köln, t: + 49 221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar
JOHANNES MYSSOK, GUIDO REUTER (HG.)
DER SOCKEL IN DER SKULPTUR DES 19. UND 20. JAHRHUNDERTS (STUDIEN ZUR KUNST, BAND 30)
In der bildhauerischen Tradition der Neuzeit waren Sockel ein vielfach formal als auch konzeptionell in die Gestaltung einbezogenes Element. Lange von der Kunstgeschichte vernachlässigt, hat die Skulptur seit der frühen Moderne zahlreiche neuartige Ansätze zur Aufstellung und Präsentation von Skulpturen entwickelt, unter denen der völlige Verzicht auf einen Sockel nur die radikalste Form ist. Die im Sammelband vereinten Beiträge knüpfen an die aktuellen internationalen Forschungen an, die den Sockel in seinen komplexen formalen und inhaltlichen Beziehungen zum Kunstwerk auf neue Weise fokussieren und zum Gegenstand kunsthistorischer Untersuchungen machen. 2013. 210 S. 167 S/W-ABB. GB. 170 X 240 MM. | ISBN 978-3-412-21089-2
böhlau verlag, ursulaplatz 1, d-50668 köln, t: + 49 221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar
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Beitrag Adam Jankowski
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Beitrag Adam Jankowski
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Beitrag Adam Jankowski
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Beitrag Adam Jankowski
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Beitrag Marc Ries
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Beitrag Marc Ries
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Beitrag Marc Ries
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Beitrag Christian Janecke