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German Pages VIII, 229 [232] Year 2020
Geschichte und Ethik der Polizei und öffentlichen Verwaltung
Sabine Mecking Hrsg.
Polizei und Protest in der Bundesrepublik Deutschland
Geschichte und Ethik der Polizei und öffentlichen Verwaltung Reihe herausgegeben von Sabine Mecking, FB Geschichte und Kulturwissenschaften, Philipps-Universität Marburg, Marburg, Deutschland Tobias Trappe, Abteilung Duisburg, Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW, Duisburg, Deutschland
Schriftenreihe des Instituts für Geschichte und Ethik an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW. Die Schriftenreihe bündelt wissenschaftliche Studien zur Geschichte und Ethik der Polizei und öffentlichen Verwaltung. Sie will in diesen Bereichen Forschungen anstoßen und den wechselseitigen Transfer zwischen Wissenschaft und Praxis fördern.
Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/16551
Sabine Mecking (Hrsg.)
Polizei und Protest in der Bundesrepublik Deutschland
Hrsg. Sabine Mecking Philipps-Universität Marburg Marburg, Deutschland
ISSN 2662-9445 ISSN 2662-9453 (electronic) Geschichte und Ethik der Polizei und öffentlichen Verwaltung ISBN 978-3-658-29477-9 ISBN 978-3-658-29478-6 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-29478-6 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Einbandabbildung: Foto © Friedhelm Zingler Planung/Lektorat: Frank Schindler Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Inhaltsverzeichnis
Mehr als Knüppel und Knöllchen: Polizeigeschichte als Gesellschaftsgeschichte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Sabine Mecking Wandel in Gesellschaft, Politik und Polizei Protest im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Wolfgang Kraushaar Gesellschaftlicher Aufbruch und Protest von der Außerparlamentarischen Opposition bis zu den Neuen Sozialen Bewegungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Sabine Mecking Populismus als neue Form des Protests? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Frank Decker Geschichte des Versammlungsrechts der Bundesrepublik Deutschland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Ulrich Jan Schröder Polizeiliches Handeln zwischen Tradition und Reform „Die Polizei muss es verstehen, der Masse ihren Willen aufzuzwingen“. Polizeilicher Umgang mit Protest in der frühen Bundesrepublik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Michael Sturm
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Die nordrhein-westfälische Polizei und die Studierendenproteste der 1960er und 1970er Jahre. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Lukas W. Petzolt Zwischen organisatorischen Wandlungen und kulturellen Kontinuitäten. Polizei, Jugendprotest und Demonstrationen in den 1960er bis 1980er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Klaus Weinhauer Polizei als lernende Organisation? Erkenntnisgewinne aus einer 70-jährigen Protestkultur für die heutige Polizei . . . . . . . . . . . . 185 Udo Behrendes
Herausgeber- und Autorenverzeichnis
Über die Herausgeberin Sabine Mecking, Prof. Dr. phil., ist Professorin für Landes- und Zeitgeschichte an der Philipps-Universität Marburg und geschäftsführende Herausgeberin der Zeitschrift „Geschichte im Westen“. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen in der Polizei- und Verwaltungsgeschichte, Demokratie- und Protestgeschichte, Landes- und Regionalgeschichte.
Autorenverzeichnis Udo Behrendes, Leitender Polizeidirektor a.D., Lohmar, Deutschland Frank Decker, Prof. Dr. rer. pol., Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Bonn, Deutschland Wolfgang Kraushaar, Dr. phil., Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur, Hamburg, Deutschland Sabine Mecking, Prof. Dr. phil., FB Geschichte und schaften, Philipps-Universität Marburg, Marburg, Deutschland
Kulturwissen-
Lukas W. Petzolt, M.A., Stadtarchiv Xanten, Xanten, Deutschland Ulrich Jan Schröder, Prof. Dr. iur., Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen, Duisburg, Deutschland
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Herausgeber- und Autorenverzeichnis
Michael Sturm, M.A., Villa ten Hompel/Mobile Beratung im Regierungsbezirk Münster. Für Demokratie. Gegen Rechtsextremismus. (mobim), Münster, Deutschland Klaus Weinhauer, Prof. Dr. phil., Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld, Bielefeld, Deutschland
Mehr als Knüppel und Knöllchen: Polizeigeschichte als Gesellschaftsgeschichte Sabine Mecking
Zusammenfassung
Die Polizei, insbesondere die uniformierte, ist eine der sichtbarsten Repräsentationen staatlicher Macht in der Moderne. Ihre Geschichte kann nicht ohne die Geschichte des Protests im öffentlichen Raum erzählt werden. Viele Fragen und Probleme, die in Politik und Gesellschaft kontrovers diskutiert werden, betreffen unmittelbar die alltägliche praktische Arbeit der Polizei. Gleichzeitig berühren Legitimitäts- und Akzeptanzprobleme des Staates auch die Identität einer Polizei, die Teil der staatlichen Exekutive ist. Gesellschaftliche und politische Diskurse und Veränderungen bleiben damit nicht ohne Einfluss: Die Polizei als Institution, ihre Aufgaben und ihr Selbstverständnis haben sich in der Bundesrepublik von ihren Anfängen bis zur Gegenwart stark verändert. Unterschiedliche Leit- und Selbstbilder sowie gesellschaftliche Erwartungen und Zuschreibungen werden deutlich, wenn sie etwa von den einen als „Schläger“ und von anderen als „Prügelknabe“ der Nation bezeichnet wird. Jedes Jahr fragen Meinungsforscher die bundesdeutsche Bevölkerung nach ihrem Vertrauen in Institutionen. Die Ergebnisse der letzten Befragung wurden 2019 in dem Mitteilungsorgan des Deutschen Hochschulverbandes „Forschung & Lehre“ publiziert. Laut Forsa-Umfrage haben die Deutschen das größte Vertrauen in die S. Mecking (*) FB Geschichte und Kulturwissenschaften, Philipps-Universität Marburg, Marburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Mecking (Hrsg.), Polizei und Protest in der Bundesrepublik Deutschland, Geschichte und Ethik der Polizei und öffentlichen Verwaltung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29478-6_1
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Polizei, Universitäten und Ärzte, wobei die Polizei das Ranking mit einem Vertrauenszuspruch von 78 Prozent anführt.1 Gleichwohl wird das Vertrauen in die Polizei belastet, wenn ihr Fehlverhalten und Versagen offenkundig wird, zum Beispiel wenn Polizisten als aggressive Schläger oder als korrupte Beamte Schlagzeilen machen.2 Hier tritt in jüngster Zeit ein katastrophales Verwaltungs- und Polizeiversagen in Nordrhein-Westfalen hervor, wenn im Fall von massenhaftem, systematischem Kindesmissbrauch auf einem Campingplatz Beweismaterial verschwindet und Hinweisen über Jahre hinweg nicht nachgegangen wurde. Auch polizeiinterne Chatgruppen in Hessen, in denen Polizisten Naziparolen austauschten, sind – obgleich wohl kein Massenphänomen – dennoch besorgniserregend.3 Doch zunächst ist festzuhalten: Die Polizei und den Polizisten gibt es nicht. Ein uniformierter Bereitschaftspolizist, ein Wasserschutzpolizist, eine Kriminalistin im Landeskriminalamt oder eine Dozentin an einer Polizeihochschule teilen sich kaum mehr als die Berufsbezeichnung. Zudem liegt im politischen Mehrebenensystem der Bundesrepublik die Zuständigkeit für die Polizei bei den Bundesländern, wenn einmal die bereits zahlenmäßig kleinere Bundespolizei sowie das Bundeskriminalamt und die Polizei beim Deutschen Bundestag hier außen vor bleiben. Mit 86 Prozent arbeitet der Großteil der Polizeivollzugskräfte auf Landesebene, alle 16 Bundesländer haben ihre eigene Polizei. Entsprechend ist es treffender, im Plural von Polizeien zu sprechen, wenn
1Universitäten und Ärzte folgten mit jeweils 77 Prozent. Forschung & Lehre vom 8.1.2019, (13.4.2019). Die Umfrage wurde von der Forsa Gesellschaft für Sozialforschung und statistische Analysen mbH im Auftrag von RTL/n-tv durchgeführt. 2Hervorzuheben ist, dass sich das Vertrauen nicht an der moralischen Integrität des einzelnen Polizisten festmacht, sondern an der rechtsstaatlichen Verfasstheit der Institution Polizei. Es handelt sich damit um ein „Systemvertrauen“. Siehe hierzu etwa Georg Marckmann, Ärztliche Ethik als Beispiel einer berufsethischen Konzeption, in: Thomas Bohrmann/Karl-Heinz Lather/Friedrich Lohmann (Hrsg.), Handbuch Militärische Berufsethik, Bd. 1: Grundlagen, Wiesbaden 2013, S. 379–397. 3Zur aktuellen Diskussion siehe Daniel Wüstenberg, Rechtsruck in Behörden: Polizisten und Soldaten an die AfD verloren? Heftige Debatte um Äußerungen von Friedrich Merz, in: Stern vom 24.6.2019, (8.8.2019).
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das Verhältnis von Ordnungskraft und Gesellschaft in der Bundesrepublik erörtert wird.4 Im Folgenden soll es um die Polizei als Institution und als Personenverband gehen. Die Polizei, insbesondere die uniformierte, ist eine der sichtbarsten Repräsentationen staatlicher Macht in der Moderne. Als Vertreterin des staatlichen Gewaltmonopols gilt sie als Garant für die öffentliche Ordnung und Sicherheit im Inneren eines Staates. Ihre Aufgaben lassen sich den Bereichen Kriminalitätsbekämpfung, Straßenverkehr und Gefahrenabwehr zuordnen. Dies umfasst sowohl Präventions- und Aufklärungsarbeiten als auch den Opferschutz. Auch der Umgang mit Protest und damit das staatliche Protest-Management gehören von jeher zu den zentralen Aufgaben der Polizei. Ihr Verhalten und Handeln bei Demonstrationen und Protestveranstaltungen wird als „Protest Policing“ bezeichnet. Hierunter werden alle polizeilichen Maßnahmen zur Regulierung und Kontrolle dieser Veranstaltungen subsumiert. Es geht um die Planung, Umsetzung und Nachbereitung der polizeilichen Maßnahmen, darum, wie die Polizei Demonstranten behandelt und wie sie ihr „Gegenüber“ wahrnimmt.5
1 Polizeigeschichte ist Gesellschaftsgeschichte Viele Fragen und Probleme, die in Politik und Gesellschaft kontrovers diskutiert werden, betreffen unmittelbar die alltägliche praktische Arbeit der Polizei. Gleichzeitig berühren Legitimitäts- und Akzeptanzprobleme des Staates auch die Identität einer Polizei, die Teil der staatlichen Exekutive ist. Gesellschaftliche und politische Diskurse und Veränderungen bleiben damit nicht ohne Einfluss auf die Polizei: Die Polizei als Institution, ihre Aufgaben und ihr Selbstverständnis haben sich in der Bundesrepublik von ihren Anfängen bis zur Gegenwart
4Vgl.
Hermann Groß/Bernhard Frevel/Carsten Dams (Hrsg.), Handbuch der Polizeien Deutschlands, Wiesbaden 2008; Hermann Groß, Polizei(en) und Innere Sicherheit in Deutschland. Strukturen, Aufgaben und aktuelle Herausforderungen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 69 (2019), Nr. 21–23, S. 4–10, hier S. 5. 5Martin Winter, Polizeiphilosophie und Protest policing in der Bundesrepublik Deutschland – von 1960 bis zur staatlichen Einheit, in: Hans-Jürgen Lange (Hrsg.), Staat, Demokratie und Innere Sicherheit in Deutschland, Opladen 2000, S. 2003–220, hier S. 204; siehe auch Daniela Hunold/Maren Wegner, Protest Policing im Wandel? Konservative Strömungen in der Politik der Inneren Sicherheit am Beispiel des G20-Gipfels in Hamburg, in: Kriminalpolitische Zeitschrift (2018), H. 5, S. 291–299, einsehbar unter (8.8.2019).
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stark verändert. Unterschiedliche Leit- und Selbstbilder sowie gesellschaftliche Erwartungen und Zuschreibungen werden deutlich, wenn sie etwa als „Freund und Helfer“, „Sozialingenieur“, „Sozialarbeiter“, „Erzieher der Nation“ oder „Bürger in Uniform“ bezeichnet wird. Die Bandbreite der Selbst- und Fremdzuschreibungen wird dichotomisch zugespitzt, wenn im „Spiegel“ von „Schläger oder Prügelknabe“ der Nation gesprochen wird (s. Abb. 1).6 Die Geschichte der Polizei kann nicht ohne die Geschichte des Protests im öffentlichen Raum erzählt werden. Polizeigeschichte ist hier als Gesellschaftsgeschichte zu begreifen. In der Bevölkerung regt sich Unmut und Protest, wenn sie etwa das Vertrauen darauf verloren hat, dass Regierung und Verwaltung auf die als drückend empfundenen Fragen der Zeit angemessene Antworten finden. Bürgerinnen und Bürger tragen ihren Protest auf die Straße und treffen dort manchmal auf Vertreter aus Politik und Verwaltung und immer auf die Polizei. Die Art und Weise, wie die Polizei arbeitet und der Bevölkerung gerade bei den unterschiedlichen Formen und Ausdrucksweisen von Protest gegenübertritt, gibt Einblicke in den inneren Zustand der Gesellschaft, die politische Verfasstheit und die Herrschaftsordnung des Landes. Polizeigeschichte gibt somit Auskunft über Regeln, Aushandlungsmodalitäten und Sanktionsmöglichkeiten in Staat und Gesellschaft. Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf allgemein erwünschtes und als unkorrekt bzw. als kriminell definiertes Verhalten. Politischer und sozialer Wandel in einer Gesellschaft spiegelt sich somit in ihren Normen, in der Anwendung und Neugestaltung des Regelwerkes und damit in der konkreten Polizeiarbeit wider. Dies gilt umso mehr, wenn diese Veränderungen mit kontroversen Debatten, öffentlichen Unruhen und Protesten einhergehen.7 Aktuell gehen Schülerinnen und Schüler im Rahmen der „Fridays for Future“Bewegung für den Klimaschutz auf die Straße. An anderer Stelle wird für den Erhalt des Hambacher Forsts, gegen Flüchtlinge oder teure Infrastrukturprojekte demonstriert. Die bundesrepublikanische Protestgeschichte ist lang und thematisch vielfältig. Vor allem Jugendliche und junge Erwachsene scheinen immer wieder nicht zuletzt mit ihrem äußeren Erscheinungsbild und Auftreten provoziert zu haben
6Der
Spiegel Nr. 48 von 23.11.1981; siehe auch Der Spiegel Nr. 6 vom 5.2.1973; Nadine Rossol, Polizei als Erziehungsarbeiter?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 69 (2019), Nr. 21–23/2019, S. 29–35; Winter, Polizeiphilosophie (wie Anm. 5), S. 210 f. Anm. 7. 7Der Beitrag stützt sich auf die Studien Frank Kawelovski/Sabine Mecking, Polizei im Wandel. 70 Jahre Polizeiarbeit in Nordrhein-Westfalen, Köln 2019; Sabine Mecking, Vom Protest zur Protestkultur? Träger, Formen und Ziele gesellschaftlichen Aufbegehrens, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 64 (2013), H. 9/10, S. 517–529.
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Abb. 1 „Spiegel“-Cover „Polizei: Schläger oder Prügelknabe“, Der Spiegel Nr. 48 vom 23. November 1981 (Spiegel Online, [8.8.2019])
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bzw. sind als Provokation wahrgenommen worden. Zunächst waren es sogenannte Halbstarke, dann „Gammler“ und „Hippies“ und später etwa „Punks“, die bereits durch ihre Kleidung, Frisur und ihr Verhalten im öffentlichen Raum auffielen und als „Störer“ galten. Doch nicht nur mit der Auffächerung der Mode- und Lebensstile, sondern vor allem auch in politischen Belangen zeigte sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein gesamtgesellschaftlicher Aufbruch, der sich immer häufiger und lauter durch Mitbestimmungs- und Mitgestaltungsansprüche seitens der Bevölkerung Bahn brach. Beispielhaft seien hier der Widerstand gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik und die Proteste der Anti-AtomtodBewegung in den 1950er Jahren, die 68er-Proteste oder das Erstarken der Neuen Sozialen Bewegungen in den 1970er und 1980er Jahren genannt.8 Die Studentenunruhen, die Umwelt-, Frauen-, Friedens- und AntiAtomkraftbewegungen markierten tiefe Spaltungen in der Gesellschaft. Zur Artikulation und Demonstration von Protest wurden physische, rechtliche und soziale Räume genutzt und faktisch oder symbolisch Grenzen ausgetestet und überschritten, wenn beispielsweise Gebäude, Straßen und Plätze besetzt wurden. Neben den Protesten der Schülerinnen und Schüler, Studierenden und Lehrlinge zeichnete sich innerhalb der Außerparlamentarischen Opposition (APO) schließlich auch eine Radikalisierung einzelner Gruppierungen mit zunehmender Bereitschaft zur Gewaltanwendung ab. Der in den 1970er Jahren aufkommende (Links-)Terrorismus barg besondere Herausforderungen für Staat und Polizei: Der Staat wurde von innen mit Gewalt und Terror bekämpft. Das polizeiliche Konzept von „Ruhe und Ordnung“ wandelte sich zum Programm „Innere Sicherheit“.9 Trotz des Terrors der „Roten Armee Fraktion“ (RAF) oder der „Bewegung 8Martin
Stallmann, Krise und Protest: Signaturen eines westdeutschen Jahres, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (2017), Nr. 5–7, S. 9–14; Sven Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Frankfurt a.M. 2014; weiter zu den 68er Protesten vgl. z. B. Philipp Gassert, Die Bewegte Gesellschaft. Deutsche Protestgeschichte seit 1945, Stuttgart 2018; Wolfgang Kraushaar, Die 68er-Bewegung. Eine illustrierte Chronik 1960–1969, 4 Bde., Stuttgart 2018; Detlef Siegfried, 1968. Protest, Revolte, Gegenkultur, Ditzingen 2018. Siehe auch Ingrid Gilcher-Holtey (Hrsg.), „1968“ – eine Wahrnehmungsrevolution, München 2013; Martin Klimke/Joachim Scharloth (Hrsg.), 1968 in Europe. A History of Protest and Activism, 1956–1977, Houndmills/Basingstoke 2008; Christina von Hodenberg/Detlef Siegfried (Hrsg.), Wo „1968“ liegt. Reform und Revolte in der Geschichte der Bundesrepublik, Göttingen 2006. Siehe auch den Beitrag von Lukas W. Petzolt in diesem Band. 9Klaus Weinhauer/Jörg Requate/Heinz-Gerhard Haupt (Hrsg.), Terrorismus in der Bundesrepublik. Medien, Staat und Subkulturen in den 1970er Jahren, Frankfurt a.M. 2006; HansJürgen Lange, Innere Sicherheit im Politischen System der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1999.
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2. Juni“ markierten jedoch vor allem die insgesamt friedlichen Neuen Sozialen Bewegungen den gesellschaftlichen Wandel. In ihrer Hochphase beteiligten sich Hunderttausende friedlich an den Massendemonstrationen für Umweltschutz, Frieden und Gleichberechtigung und gegen Wettrüsten und Krieg. Kollektiver öffentlicher Protest ist damit spätestens seit den 1970er Jahren zum legitimen Ausdruck politischer Partizipation in der bundesrepublikanischen Gesellschaft geworden. Aktivisten und Demonstranten beriefen sich seitdem immer häufiger und lauter auf die im Grundgesetz festgeschriebene Meinungsfreiheit sowie auf Versammlungs- und Demonstrationsrechte und erprobten – unter Austestung der Grenzen – immer neue Protestmittel und -formen. Die Protestthemen wurden insgesamt vielfältiger. In den 1980er Jahren polarisierten Nato-Doppelbeschluss, Volkszählung und Stadtteilsanierungen.10 Aus polizeilicher Perspektive dominierten vor allem die Proteste gegen den Bau von atomaren Kraftwerken, Wiederaufbereitungsanlagen und Lagerstätten das Demonstrationsgeschehen. Obwohl sich die Mehrheit der Demonstranten von der Ausübung von Gewalt distanzierte, kam es gerade an den Bauzäunen von atomaren Anlangen immer wieder auch zu gewalttätigen Ausschreitungen, wenn sich militante Gruppen unter die vielen friedlichen Demonstranten mischten.11 Doch auch Hausbesetzungen und Mai-Krawalle
10Vgl.
Alexandra Jaeger/Julia Kleinschmidt/David Templin (Hrsg.), Den Protest regieren. Staatliches Handeln, neue soziale Bewegungen und linke Organisationen in den 1970er und 1980er Jahren, Essen 2018; Julia Paulus (Hrsg.), „Bewegte Dörfer“. Neue soziale Bewegungen in der Provinz 1970–1990, Paderborn 2018; Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 64 (2013), Schwerpunkthema: Bürgerproteste in der Geschichte; Martin Löhnig/ Thomas Schlemmer/Mareike Preisner (Hrsg.), Reform und Revolte. Eine Rechtsgeschichte der 1960er und 1970er Jahre, Tübingen 2012; Roland Roth/Dieter Rucht (Hrsg.), Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Handbuch, Frankfurt a.M./New York 2008. Siehe auch den Beitrag von Sabine Mecking in diesem Sammelband. 11Vgl. zur Anti-Atomkraftbewegung den chronologischen Kurzüberblick über das entsprechende Protestgeschehen von 1975 bis 1999 bei Markus Beinhauer, Der Protest gegen die Atomenergie. Eckdaten zur Historie einer quicklebendigen sozialen Bewegung, in: Thomas Oelschläger/Kerstin Enning/Bernd Drücke (Hrsg.), Ahaus. Das Buch zum Castor, Langenau 1999, S. 83–87; sowie Dieter Rucht, Von Wyhl nach Gorleben: Bürger gegen Atomprogramm und nukleare Entsorgung, München 1980. Zum Polizeieinsatz siehe Michael Stricker, Grohnde. Dokumentation der Polizeieinsätze anlässlich der Demonstration gegen das Kernkraftwerk Grohnde am 19.03.1977 und der Räumung des besetzten Kühlturmgeländes am 23.08.1977, Frankfurt 2014; Andreas Kühn, Kalkar 1977: Anti-Atomkraft-Bewegung und Polizei im Wandel, in: Geschichte im Westen 22 (2007), S. 269–289.
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offenbarten das Gewaltpotenzial in der „Szene“. Ein Schock durchzog die Gesellschaft, als bei einer Demonstration gegen den Ausbau des Frankfurter Flughafens am 2. November 1987, also drei Jahre nach Inbetriebnahme der Startbahn West, zwei Polizisten erschossen und sieben weitere verwundet wurden. Der Täter, ein Mitglied einer autonomen Gruppe, schoss mit einer ein Jahr zuvor geraubten Polizeiwaffe.12 Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts wandten sich Bürgerinnen und Bürger dann öffentlichkeitswirksam gegen Ausländerfeindlichkeit und gegen die Golf- bzw. Irakkriege. Später richtete sich der Bürgerzorn gegen Infrastrukturprojekte, Großbauten und Naturzerstörung. Exemplarisch seien hier die Stichworte „Stuttgart 21“ oder „Hambacher Forst“ genannt.13 Dass Protestund Demonstrationsveranstaltungen auch von extremen Gruppen gezielt zur Demonstration von Militanz, Gewalt und Terror genutzt werden, unterstreichen die HoGeSa-Schlägereien in Bonn 2015 und die Ausschreitungen in Hamburg anlässlich des G20-Gipfels im Juli 2017. Seit geraumer Zeit ist die Polizei mit den sogenannten Empörungsbewegungen konfrontiert. Dieser auf die Straße getragene politische Populismus bindet die Kräfte der Polizei erheblich, nicht zuletzt durch die zahlreichen „Rechts-Links-Demonstrationen“, die auch die sogenannte Mitte der Gesellschaft spalten.14 Dabei ist in Zeiten von Social Media eine „Lagebeurteilung“ hinsichtlich der Teilnehmerzahl und der Dauer des Protestgeschehens schwieriger geworden, innerhalb kürzester Zeit lässt sich über Messenger-Dienste und Internetforen eine große Personenzahl erreichen und mobilisieren.
12Vgl.
Wolf Wetzel, Tödliche Schüsse. Eine dokumentarische Erzählung, Münster 2008. Zu den Mai-Protesten vgl. Michael Stricker, Der 1. Mai 1987. Demaskierung eines Mythos, Frankfurt a.M. 2016; Dieter Rucht, „Heraus zum 1. Mai“ – Ein Protestritual im Wandel, in: Dieter Rucht (Hrsg.), Protest in der Bundesrepublik. Strukturen und Entwicklungen, Frankfurt/New York 2001, S. 143–172. 13Vgl. Ulrich Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München 2014; Andres Wirsching, Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert, 3. Aufl., München 2011; Edgar Wolfrum, Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 2006; Andreas Rödder, Die Bundesrepublik Deutschland 1969–1990, München 2003; Stefan Grüner/Sabine Mecking (Hrsg.), Wirtschaftsräume und Lebenschancen. Wahrnehmung und Steuerung von sozialökonomischem Wandel in Deutschland 1945–2000, Berlin/Boston 2017. 14Siehe hierzu auch den Beitrag von Frank Decker in diesem Sammelband. Die Abkürzung „HoGeSa“ steht für die radikale Aktionsgruppe „Hooligans gegen Salafisten“.
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Protestintensive Zeiten, das Infragestellen staatlichen Handelns oder gar der staatlichen Ordnung durch soziale Bewegungen und politische Strömungen prägten die Polizeiarbeit nachhaltig – und dies nicht nur hinsichtlich des mit dem Protest Policing verbundenen Stundenaufwandes, sondern auch bezüglich der politischen und juristischen Aufarbeitung bzw. gerichtlichen Bewertung der Polizeieinsätze durch die Verfassungsgerichte. Die Polizei verhilft Bürgerinnen und Bürgern sowie den von ihnen gebildeten Gruppen zur Durchsetzung ihrer verfassungsmäßig garantierten (Freiheits-) Rechte. Dies macht sie auch dann, wenn sie populistische Demonstrationen gegen Störungen abschirmt, ohne deren Ziele zu teilen. Sie hat die Umsetzung auch unbeliebter Entscheidungen des Staates zu gewährleisten. Die Polizei steht damit häufig zwischen den „Fronten“, was sie zum Feindbild sowohl der politischen Linken als auch der Rechten werden lässt. Als Repräsentantin des Staates wird sie immer wieder auch aus Enttäuschung und Wut über Politik und gesellschaftliche Zustände im Staat von Bürgerinnen und Bürgern beleidigt und attackiert. Bereits die schwer vermittelbare Legitimation der Polizei, zur Durchsetzung von Recht und Abwehr von Gefahren auch Gewalt einsetzen zu können, bietet erheblichen Zündstoff für kontroverse Diskussionen. Demokratisch fundierte Polizeiarbeit ist somit mit Widersprüchlichkeiten behaftet, die erklärungsbedürftig sind. Die rechtlich legitimierte Polizeigewalt wird demnach auch als „Zwang“ bezeichnet, um hier zu differenzieren. Auf der Handlungsebene existiert dennoch das Dilemma, dass Polizeikräfte zur Schaffung von Ruhe und Frieden immer wieder auch Gewalt anwenden und sich damit der gleichen Methoden bedienen wie die „Störer“ oder „Gewalttäter“.15 Die gesellschaftliche Sichtweise auf Protest, seine Akzeptanz in der Gesellschaft sowie der staatliche und polizeiliche Umgang mit Protest haben sich im Laufe der Zeit stark verändert. Anhand polizeilicher Einsatzstrategien lassen sich Zäsuren und Kontinuitäten in der bundesrepublikanischen (Demokratie-) Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg bis zur Gegenwart anschaulich machen. Ein forsches Einschreiten oder eine größere Zurückhaltung der Polizei ist nicht zuletzt durch politische Leitvorgaben bedingt. Diese wiederum lassen sich auf gesellschaftliche und politische Ordnungsmuster und Sicherheitsvorstellungen zurückführen. Idealtypisch ist hier zwischen einer „Staatspolizei“ und einer „Bürgerpolizei“ zu differenzieren. Im ersten Fall, also der Staatspolizei, lässt
15Raphael
Behr, Über Polizei und Gewalt, in: Berliner Republik. Das Debattenmagazin (2014), H. 3 – Macht. Kampf. Raum, (13.4.2019); Winter, Polizeiphilosophie (wie Anm. 5), S. 218.
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sich eine stärkere „law-and-order“-Mentalität mit einem legalistischen Denken ausmachen. Im Sinne einer Null-Toleranz-Strategie wird eine entschlossene, konsequente Rechtsdurchsetzung und Strafverfolgung vertreten. Demgegenüber liegt der Bürgerpolizei eher die Vorstellung zugrunde, dass der Bürger weniger Objekt staatlichen Handelns, sondern vor allem Subjekt politischer Veränderungen ist. Entsprechend ist das Polizeihandeln hier durch flexiblere Strategien und Taktiken geprägt, die dem Gedanken der Veränderbarkeit der Rechtsordnung Rechnung tragen.16
2 Protest Policing im Wandel Die in der Bundesrepublik zu beobachtenden Liberalisierungstendenzen und Demokratisierungsprozesse innerhalb der Polizei verliefen weder linear, noch waren sie ein Selbstläufer. Als Hypothek für den Aufbau einer demokratisch orientierten Polizei erwies sich in den Anfangsjahren die Integration von altem Personal aus der NS-Zeit. Nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reichs“ verblieben politisch und kriminell belastete Polizei- und Kriminalbeamte über 1945 hinaus – entgegen dem angekündigten Ziel einer umfassenden Entnazifizierung – im Dienst oder kehrten nach frühen Freistellungen oder Entlassungen rasch wieder zurück. Gleichzeitig traten zwar auch neue, junge Männer in den Polizeidienst. Da aber in den ersten Nachkriegsdekaden sowohl die „alten Kameraden“ als auch die jüngeren „neuen Kollegen“ stark durch die Jahre des Nationalsozialismus geprägt waren, kann hinsichtlich des Polizeipersonals nur bedingt von einem Neuanfang in der Bundesrepublik gesprochen werden.17 Insbesondere die uniformierte Schutzpolizei und die (kasernierte) Bereitschaftspolizei sahen sich durch den gesellschaftlichen Wandel mit einem vermehrten und veränderten Protestgeschehen konfrontiert. In den ersten Nachkriegsjahrzehnten
16Sozialwissenschaftler
sprechen hier für die 1980er Jahre von „A- und B-Länder(n)“: Grob skizziert werden die einen von der Union, die anderen von der Sozialdemokratie regiert. Winter, Polizeiphilosophie (wie Anm. 5), S. 214. Einen komprimierten Überblick über die Entwicklung der Polizei in der Bundesrepublik geben: Wolfgang Schulte, Entwicklung der Polizeiorganisation in der Bundesrepublik Deutschland, in: Jürgen Stierle/ Dieter Wehe/Helmut Siller (Hrsg.), Handbuch Polizeimanagement. Polizeipolitik – Polizeiwissenschaft – Polizeipraxis, Wiesbaden 2017, S. 23–47; Carsten Dams, Die Polizei in Deutschland 1945–1989, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 58 (2008), Nr. 48, S. 9–14. 17Stefan Noethen, Alte Kameraden und neue Kollegen. Polizei in Nordrhein-Westfalen 1945–1953, Essen 2003.
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offenbarten heftige und bisweilen gewalttätige polizeiliche (Über-)Reaktionen nicht nur eine Überforderung der Polizisten vor Ort, sondern vor allem auch den grundsätzlichen Mangel an eindeutigen Einsatzstrategien und Handlungsvorgaben für eine demokratisch fundierte (Bürger-)Polizei. In der jungen Bundesrepublik waren die staatlichen und polizeilichen Reaktionen auf gesellschaftliches Aufbegehren zunächst noch vornehmlich durch die Demonstration von entschlossener Härte und quasi-militärischer Stärke geprägt, die polizeilichen Männlichkeitsidealen verhaftet waren und auf Paramilitarismus und Antikommunismus basierten. Die konfrontativ-kämpferischen Polizeieinsätze der 1950er und 1960er Jahre erinnerten somit noch sehr an das Handeln der preußischen Schutzpolizei gegen Ende der Weimarer Republik, als diese auf die bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen zwischen Kommunisten und SA zu reagieren hatte.18 So kam es etwa im Juni 1962 in Münchens Stadtteil Schwabing19 zu einem unverhältnismäßig harten Polizeieinsatz gegen ein paar Straßenmusiker und die mit diesen sympathisierenden Jugendlichen. Vor allem aber, wenn Demonstrationen als politische Veranstaltungen eingestuft wurden, griff die Polizei hart durch, so etwa bei der „Friedenskarawane der Jugend“ im Mai 1952 oder den Demonstrationen gegen den Staatsbesuch des Schahs von Persien im Frühjahr 1967 in Berlin. Aus Sicht der Polizei war diesen von Kommunisten und Sozialisten forcierten Agitationen mit tatkräftiger Entschlossenheit, niedrigschwelligem Ein- und hartem Durchgreifen zu begegnen.20
18Zur
Polizei in der Weimarer Republik vgl. Daniel Schmidt, Schützen und Dienen. Polizisten im Ruhrgebiet in Demokratie und Diktatur 1919–1939, Essen 2008; Jens Jäger, Verfolgung durch Verwaltung. Internationales Verbrechen und internationale Polizeikooperation 1880–1933, Konstanz 2006; Carsten Dams, Staatsschutz in der Weimarer Republik. Die Überwachung und Bekämpfung der NSDAP durch die preußische politische Polizei von 1928 bis 1932, Marburg 2002; Peter Leßmann-Faust, Die preußische Schutzpolizei in der Weimarer Republik. Streifendienst und Straßenkampf, Düsseldorf 1989 (Neuaufl. Frankfurt a.M. 2012); zur Polizei im Kaiserreich Ralph Jessen, Polizei im Industrierevier. Modernisierung und Herrschaftspraxis im westfälischen Ruhrgebiet 1848– 1914, Göttingen 1991. 19Gerhard Fürmetz (Hrsg.), Schwabinger Krawalle. Protest, Polizei und Öffentlichkeit zu Beginn der 60er Jahre, Essen 2006. Siehe auch den Beitrag von Michael Sturm in diesem Sammelband. 20Siehe die Beiträge von Lukas W. Petzolt und Klaus Weinhauer in diesem Sammelband.
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Bei diesen Einsätzen starb jeweils ein Demonstrant durch eine Polizeikugel: Philipp Müller am 11. Mai 1952 und Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967.21 Während der polizeiliche Schusswaffengebrauch 1952 in Essen noch kaum politisch oder gesellschaftlich kritisiert wurde, lösten die Ereignisse in Berlin 1967 allerdings eine heftige Kontroverse aus. Der Einsatz der Polizei, ihre Einsatzstrategie und der Gebrauch der Schusswaffe standen in der Kritik. Letztlich musste die Polizei Fehler einräumen und Reformen schienen unausweichlich.22 Es hatte sich deutlich offenbart, dass die überkommenen, repressiven und paramilitärischen Handlungsstrategien der Polizei keine adäquaten Antworten auf die neuen Formen des friedlichen Protests und überhaupt auf das demokratisch legitimierte freie politische Engagement von Bürgerinnen und Bürgern boten. Auch innerhalb der Polizei waren immer deutlicher Stimmen zu hören, die neue sozialwissenschaftliche und psychologische Erkenntnisse stärker in die Polizeiarbeit integrieren wollten, um tradierte „Bedrohungsszenarien“ neu zu bewerten bzw. alte polizeiliche Wahrnehmungsmuster und Ordnungsvorstellungen zu durchbrechen. „Greifkommandos“ und „Einkesselungen“, bei denen demonstrierende Menschen als anonyme, bedrohliche „akute Masse“ betrachtet wurden, die es zur Durchsetzung staatlich verordneter Ruhe zu zerschlagen galt, waren kaum noch zeitgemäß, um auf das veränderte Protestgeschehen und die erhöhten Mitspracheansprüche einer sich wandelnden Gesellschaft zu reagieren. Gesellschaftlicher Protest wurde bald nicht mehr rein massenpsychologisch interpretiert, sondern differenzierende und individualisierte Deutungen gewannen an Gewicht. Damit wertete die Polizei Protestveranstaltungen nicht mehr grundsätzlich als „Störung“, sondern wandte sich gezielt gegen einzelne „Störer“ und gewalttätige Gruppen. Überhaupt wurden neue Polizeileitbilder diskutiert, wie etwa das Idealbild einer bürgernahen Polizei, die sich endgültig von ihrer martialischen Selbstinszenierung und ihren militärischen Traditionen verabschiedete. Nun erlangten neue, stärker an sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen ausgerichtete
21Siehe
hierzu den Beitrag von Wolfgang Kraushaar in diesem Sammelband. Vgl. auch Alfons Kenkmann, Philipp Müller. Vom Friedensdemonstranten West zum Widerstandshelden Ost, in: Geschichte im Westen 33 (2018), S. 91–115; Eckard Michels, Schahbesuch 1967. Fanal für die Studentenbewegung, Berlin 2017. 22Im Jahr 2009 stellte sich heraus, dass Karl-Heinz Kurras nicht nur Kriminalbeamter der West-Berliner Polizei war, sondern auch als informeller Mitarbeiter (IM) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) geführt wurde. Vgl. Carsten Dams, Polizei, Protest und Pop, in: Sabine Mecking/Yvonne Wasserloos (Hrsg.), Musik, Macht, Staat. Kulturelle, soziale und politische Wandlungsprozesse in der Moderne, Göttingen 2012, S. 303–318, hier S. 304–306.
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Polizeileitlinien und zivilgesellschaftlich orientierte Einsatzstrategien größere Bedeutung. Die veränderten Gesellschafts- und Lebensstile gingen somit auch an der Polizei nicht spurlos vorbei. Dies unterstreicht nicht nur der „Haarerlass“ von 1972, der die Haar- und Bartlänge von Polizeibeamten regelte, sondern vor allem die Reformen innerhalb der Polizei mit den neuen Handlungsmaximen.23 Zunehmend setzte sich eine neue Generation von Führungskräften innerhalb der Polizei durch. Diese jungen leitenden Polizeibeamten forcierten neue Einsatzkonzepte mit deeskalierenden Taktiken und drängten auf juristische Neuregelungen zum Beispiel im Versammlungsrecht.24 Nun sollte das Gespräch mit den Demonstranten, in den ersten Nachkriegsdekaden noch häufig als Schwäche ausgelegt, gesucht werden. Neue polizeiliche Konzepte sollten Eskalationen vermeiden und den Dialog mit der Zivilgesellschaft befördern. Die Deeskalationsmaßnahmen fußten auf Öffentlichkeitsarbeit, Gesprächen mit Aktionsgruppen und Demonstranten, größerer Toleranz und auch auf der Reglementierung eines martialischen Auftretens.25 Damit wurden zentrale Grundlagen für eine moderne, demokratisch orientierte Polizei im heutigen Sinne geschaffen. Gleichzeitig beförderte seit Mitte der 1970er Jahre die Einrichtung von Polizei- und Verwaltungsfachhochschulen eine Akademisierung der Polizei.26 Jedoch waren die Reformen innerhalb der Polizei nicht unumstritten. So gab es zwei Lager, einerseits die „Traditionalisten“ bzw. „Patriarchen“ und andererseits die „Reformer“ bzw. „Modernisierer“: Während sich die ersteren, deren Lebensläufe und berufliche Sozialisation noch durch den Nationalsozialismus geprägt waren, oftmals für polizeiliche „Härte“ aussprachen, favorisierten
23Vgl.
Thomas Kleinknecht/Michael Sturm, „Demonstrationen sind punktuelle Plebiszite“. Polizeireformen und gesellschaftliche Demokratisierung von den Sechziger- zu den Achtzigerjahren, in: Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), S. 181–218. 24Siehe hierzu auch den Beitrag von Ulrich Jan Schröder in diesem Sammelband. 25Siehe Klaus Weinhauer, Schutzpolizei in der Bundesrepublik. Zwischen Bürgerkrieg und Innerer Sicherheit: Die turbulenten sechziger Jahre, Paderborn u. a. 2003, S. 274–277. 26Vgl. Dams, Die Polizei (wie Anm. 16), S. 13; Reinhard Mokros, 1976: Beginn einer neuen Ära der Polizeiausbildung, in: Polizei, Studium, Praxis 6 (2016), H. 4, S. 42–47; siehe zum Wandel der polizeilichen Ausbildung weiter Wolfgang Schulte, Politische Bildung in der Polizei. Funktionsbestimmung von 1945 bis zum Jahr 2000, Diss. phil. Universität Essen 2003, einsehbar unter: (8.8.2019); Alfons Kenkmann, „Unterricht im Lehrrevier“? Veränderungen in der berufsbezogenen Bildung 1950–1970, in: Sabine Mecking/Stefan Schröder (Hrsg.), Kontrapunkt. Vergangenheitsdiskurse und Gegenwartsverständnis, Essen 2005, S. 271–284.
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die zweiten, zumeist jüngere Beamte, eine polizeiliche Zukunft mit Teamwork und Transparenz.27 Schließlich änderten sich auch die rechtlichen Grundlagen des polizeilichen Handelns. 1975 wurde die „Vorschrift für den Großen und Außergewöhnlichen Sicherheits- und Ordnungsdienst“ aus den 1960er Jahren bundesweit durch die „Polizeidienstvorschrift 100 – Führung und Einsatz der Polizei“ (PDV 100) ersetzt. Die neue Vorschriftensammlung berücksichtigte moderne polizeipsychologische und sozialwissenschaftliche Erkenntnisse und Handlungsanweisungen, um insbesondere auch den linken Protesten besser gerecht zu werden.28 Vor dem Hintergrund der Anschläge und Morde der RAF und anderer terroristischer Vereinigungen in den 1970er Jahren wurden die Reformen in Richtung einer „bürgernahen Polizei“, die nicht zuletzt innerhalb der Polizei vonseiten der Gewerkschaften forciert wurden, allerdings überdeckt durch die Forderung nach staatlicher Härte und einer starken Polizei. Längerfristig setzten sich dennoch die Polizeireformer durch. Anfang der 1980er Jahre verabschiedete sich die Polizei vollends von Maschinengewehren und Handgranaten (s. Abb. 2).29 Die Polizei entwickelte sich damit im Laufe der Zeit zu einer modernen rechtsstaatlichen Sicherheitsagentur der Gegenwart, die sich nicht mehr als Obrigkeit, sondern vor allem als partnerschaftlicher Dienstleisterin für die Bürgerinnen und Bürger versteht. Die gesellschaftliche Vielfalt zeichnete sich durch eine veränderte Einstellungspraxis zunehmend auch innerhalb der Polizei ab: Die uniformierte Schutzpolizei öffnete sich seit Ende der 1970er Jahre sukzessive in allen Bundesländern für Frauen. Während Berlin (1978/1980), Hessen (1981), Niedersachsen (1981) und Nordrhein-Westfalen (1981) dabei voranschritten, wartete Bayern bis 1990. Spätestens seit Anfang
27Siehe
hierzu den Artikel „Befehl und Gehorsam – das geht nicht mehr“, in: Der Spiegel Nr. 6 vom 5.3.1973, S. 38–57; Winter, Polizeiphilosophie (wie Anm. 5), S. 210 f.; Klaus Weinhauer, „Freund und Helfer“ an der „Front“: Patriarchen, Modernisierer und Gruppenkohäsion in der westdeutschen Schutzpolizei von Mitte der 1950er bis in die frühen 1970er Jahre, in: Matthias Frese/Julia Paulus/Karl Teppe (Hrsg.), Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik, 2. Aufl., Paderborn u. a. 2005, S. 549–573. 28Zur „Polizeidienstvorschrift 100 – Führung und Einsatz der Polizei“ (PDV 100) siehe weiter (25.8.2019); Handbuch für Führung und Einsatz der Polizei: Kommentar zur PDV 100, Boorberg 1976. 29Vgl. Heiner Busch/Albrecht Funk/Udo Kauß/Wolf-Dieter Narr/Falco Werkentin, Die Polizei in der Bundesrepublik. Frankfurt/New York (Studienausgabe) 1988, S. 181–188.
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Abb. 2 Anti-Reagan-Demonstration anlässlich der 300-Jahr-Feier der deutschen Einwanderung in die USA, Krefeld im Juni 1983 (Neue Ruhr Zeitung/Neue Rhein Zeitung [NRZ], Fotoarchiv, Essen [Foto: Friedhelm Zingler], abgedruckt in: Kawelovski/Mecking, Polizei [wie Anm. 7], S. 69)
des 21. Jahrhunderts werden immer häufiger auch Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund eingestellt.30 Doch trotz dieser Entwicklung offenbarten sich auch in den 1980er und folgenden Jahren Herausforderungen für die Polizei, wenn etwa einzelne Dienstgruppen oder verschworene Polizistengemeinschaften ihre Aufgaben eigensinnig interpretierten. Während sich das offizielle Leitbild der Polizei und die Police Culture (Polizeikultur) eindeutig an demokratischen Strukturen und einer pluralistischen Gesellschaft orientierten, ist die Beurteilung der Cop Culture (Polizistenkultur) schwieriger. Die konkreten Belastungen im Dienst und das damit einhergehende Bedürfnis nach pragmatischen Handlungsanleitungen für den Arbeitsalltag scheint an der Basis eine spezifische Polizistenkultur zu formen, die ambivalente Verhältnisse schaffen kann: Trägt das eigene oder von 30Vgl.
Groß/Frevel/Dams, Handbuch (wie Anm. 4).
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Kollegen vermittelte polizeiliche Erfahrungswissen zum einen zur Sicherung der Handlungsfähigkeit durch pragmatische Routinen und damit zur Bewältigung der alltäglichen Aufgaben bei, besteht zum anderen latent die Gefahr, dass im Einsatz letztlich die „gefühlte Gerechtigkeit“ die Handlungsmaxime bestimmt: Das heißt, dass Polizisten in kleineren, kameradschaftlichen Gruppen ihr dienstliches Handeln nicht an den rechtlichen Vorgaben und den auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhenden allgemeinen Richtlinien ausrichten, sondern sich stattdessen an ihren Praxiserfahrungen und subjektiven Maßstäben orientieren und sich dabei in ihrer „verschworenen Gemeinschaft“ gegenseitig decken.31
3 Historische Polizeiforschung Die Politik- und Gesellschaftsgeschichte der Bundesrepublik ist Gegenstand zahlreicher Studien. Die gesamtgesellschaftlichen Auf- und Umbrüche und die damit einhergehenden Bürgerproteste und sozialen Bewegungen sind für die „alte“ Bundesrepublik recht intensiv erörtert worden. Die Befunde reichen auch häufig über nationale Grenzen hinaus, wenn internationale Phänomene, Beziehungen und Vernetzungen etc. hervorgehoben werden.32 Dennoch sind Fragen zu den Voraussetzungen, Rahmenbedingungen und Folgen von Protesten in sozial- und kulturgeschichtlicher Perspektive längst noch nicht erschöpfend beantwortet
31Rafael
Behr, Cop Culture – Der Alltag des Gewaltmonopols. Männlichkeit, Handlungsmuster und Kultur in der Polizei, 2. Aufl., Wiesbaden 2008. Siehe auch Klaus Weinhauer im Interview mit der Süddeutschen Zeitung vom 27.2.2019, Art. Stigma Uniform. 32Frese/Paulus/Teppe, Demokratisierung (wie Anm. 27); Jörg Requate/Heinz-Gerhard Haupt (Hrsg.), Aufbruch in die Zukunft. Die 1960er Jahre zwischen Planungseuphorie und kulturellem Wandel. DDR, CSSR und Bundesrepublik Deutschland im Vergleich, Göttingen 2004; Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), Rahmenthema: Die Siebzigerjahre. Gesellschaftliche Entwicklungen in Deutschland; Axel Schildt/Detlef Siegfried/ Karl Christian Lammers (Hrsg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in beiden deutschen Gesellschaften, 2. Aufl., Hamburg 2003; Ulrich Herbert (Hrsg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung, 1945–1980, Göttingen 2002. Zu den Demokratisierungsprozessen innerhalb der Gesellschaft siehe Sabine Mecking, Bürgerwille und Gebietsreform. Demokratieentwicklung und Neuordnung von Staat und Gesellschaft in Nordrhein-Westfalen 1965–2000, München 2012; Stefan Berger/Holger Nehring (Hrsg.), The History of Social Movements in Global Perspective. A Survey, London 2017; Bernhard Gotto, Enttäuschung in der Demokratie. Erfahrung und Deutung von politischem Engagement in der Bundesrepublik Deutschland während der 1970er und 1980er Jahre, Berlin/München/Boston 2018.
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worden. Dies gilt erst recht für die polizeiliche Reaktion auf die sozialen Umbrüche und das politische Aufbegehren in der Gesellschaft. Die Zeitgeschichtsforschung hat gezeigt, dass die Neuen Sozialen Bewegungen letztlich konsensstiftend und pazifizierend wirken konnten. Sie hat die Protestbewegungen als Demokratisierungsbewegungen anerkannt, die den politisch-sozialen Zusammenhalt durch ihre Anliegen und ihre Artikulationsformen beförderten.33 Zugleich unterstreichen aktuelle Diskussionen über „Wutbürger“, über Sicherheitsvorkehrungen bei Großveranstaltungen, Ausschreitungen und über Mobilisierung gegen öffentliche Infrastrukturgroßprojekte wiederum eine beständige Besorgnis, dass die Funktionsfähigkeit und Integrationskraft der Demokratie durch ausartenden bzw. unkontrollierten Protest Schaden nehmen könnten. Diese Ambivalenz kennzeichnete Protesthandlungen von der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Die Polizei erfuhr dennoch erst vergleichsweise spät größere fachwissenschaftliche Aufmerksamkeit. Erst im Zuge der neuen Täterforschung seit den späten 1980er Jahren interessierte sich auch die Zeitgeschichte intensiver für sie. Zunächst stand dabei nach der vielzitierten Studie „Ordinary Men“ („Ganz normale Männer“) von Christopher Browning, die 1992 zunächst in Englisch und dann ein Jahr später auch auf Deutsch erschien, die NS-Zeit im Vordergrund.34 Es ging um die Beteiligung der deutschen Polizei an NS-Verbrechen und am Holocaust. Am Beispiel des Polizei-Reserve-Bataillons 101 wurde ihre Mitwirkung an den Massentötungen während des Zweiten Weltkriegs in Osteuropa analysiert. Die Studie belegte eine tiefe Verwurzelung der Polizei in das Verfolgungs- und Terrorsystem des nationalsozialistischen Herrschaftssystems, sowohl im „Altreich“ als auch in den annektierten respektive besetzten europäischen Territorien. Anschließende Forschungen unterstrichen das Ausmaß der polizeilichen Verstrickung in den
33Siehe
allgemein weiter Frank Bajohr/Anselm D oering-Manteuffel/Claudia Kemper/ Detlef Siegfried (Hrsg.), Mehr als eine Erzählung. Zeitgeschichtliche Perspektiven auf die Bundesrepublik, Göttingen 2016; Sonja Levsen/Cornelius Torp (Hrsg.), Wo liegt die Bundesrepublik. Vergleichende Perspektiven auf die westdeutsche Geschichte, Göttingen 2016; Lutz Raphael/Anselm Doering-Manteuffel, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, 3. Aufl., Göttingen 2012; siehe zudem die Literatur in Anm. 32. 34Christopher Browning, Ordinary Men. Reserve Police Battalion 101 and the Final Solution in Poland, New York 1992, dt. Ausgabe: Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen. Übersetzt von Jürgen Peter Krause, Reinbek 1993.
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Holocaust.35 Überall in Europa bewachte die deutsche Polizei Ghettos, führte Einzel- und Massenerschießungen durch und war an den Deportationen in die Vernichtungslager maßgeblich beteiligt. Sie hatte damit am Tod von mindestens 3,6 Millionen der etwa sechs Millionen Holocaust-Opfer mitgewirkt.36 Noch bis in die 1980er Jahre hatte die Polizei recht wirkmächtig im Rahmen ihrer geschichtspolitischen „Traditionsarbeit“ die Legende von der „sauberen Polizei“ aufrechterhalten und verbreiten können, sodass viele der beteiligten Polizisten auch nach 1945 ihren Dienst weiterhin verrichten konnten.37 Die neue polizeihistorische Forschung erweiterte ihren Fokus und blickte intensiver auf die Nachkriegszeit. Sie interessierte sich neben den nationalsozialistischen Verbrechen nun auch für den Aufbau einer neuen Polizei nach dem Zusammenbruch des NS-Staates in den Besatzungszonen und dem Entstehen eines doppelten Deutschlands. Stellvertretend sind hier die grundlegenden
35Vgl. z. B. Hans-Christian Harten, Die weltanschauliche Schulung der Polizei im Nationalsozialismus, Paderborn 2018; Thomas Grotum (Hrsg.), Die Gestapo Trier. Beiträge zur Geschichte einer regionalen Verfolgungsbehörde, Köln u. a. 2018; Sven Deppisch, Täter auf der Schulbank. Die Offiziersausbildung der Ordnungspolizei und der Holocaust, BadenBaden 2017; Wolf Kaiser/Thomas Köhler/Elke Gryglewski, „Nicht durch formale Schranken gehemmt“. Die deutsche Polizei im Nationalsozialismus, Bonn 2013; Joachim Schröder, Die Münchner Polizei und der Nationalsozialismus, Essen 2013; Stefan Klemp, „Nicht ermittelt“. Polizeibataillone und die Nachkriegsjustiz. Ein Handbuch, 2. Aufl., Essen 2011; Deutsche Hochschule der Polizei/Florian Dierl/Mariana Hausleitner/Martin Hölzl/Andreas Mix (Hrsg.), Ordnung und Vernichtung. Die Polizei im NS-Staat, Dresden 2011; Wolfgang Schulte (Hrsg.), Die Polizei im NS-Staat. Beiträge eines internationalen Symposiums an der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster, Frankfurt a.M. 2009; Carsten Dams/Michael Stolle, Die Gestapo. Herrschaft und Terror im Dritten Reich, München 2008; Carsten Dams/Klaus Dönecke/Thomas Köhler (Hrsg.), Dienst am Volk? Düsseldorfer Polizisten zwischen Demokratie und Diktatur, Frankfurt a.M. 2007; Christoph Spieker/Alfons Kenkmann (Hrsg.), Im Auftrag. Polizei, Verwaltung und Verantwortung im 20. Jahrhundert, Begleitband zur Dauerausstellung, Essen 2001; Stephan Linck, Der Ordnung verpflichtet: Deutsche Polizei 1933– 1949. Der Fall Flensburg, Paderborn 2000; Harald Buhlan/Werner Jung (Hrsg.), Wessen Freund und wessen Helfer? Die Kölner Polizei im Nationalsozialismus, Köln 2000; Patrick Wagner, Volksgemeinschaft ohne Verbrecher. Konzeptionen und Praxis der Kriminalpolizei in der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus, Hamburg 1996; Gerhard Paul/ Klaus-Michael Mallmann (Hrsg.), Die Gestapo – Mythos und Realität, Darmstadt 1995. 36Wolfgang Curilla, Der Judenmord in Polen und die deutsche Ordnungspolizei 1939–1945, Paderborn u. a. 2011, S. 833–852, hier S. 851. 37Christoph Spieker, Traditionsarbeit. Eine biografische Studie über Prägung, Verantwortung und Wirkung des Polizeioffiziers Bernhard Heinrich Lankenaus 1891–1983, Essen 2015.
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Arbeiten von Klaus Weinhauer zur Schutzpolizei in der Bundesrepublik und von Thomas Lindenberger zur Volkspolizei in der DDR zu nennen.38 Dabei öffnete sich die Polizeigeschichte auch stärker für sozial-, alltags- und kulturgeschichtliche Fragestellungen. Sie analysierte wechselseitige Beziehungen und Wahrnehmungen zwischen Polizei und Gesellschaft.39 Besonders das von Alf Lüdtke vertretene Konzept, „Herrschaft als soziale Praxis“40 zu deuten, erwies sich als außerordentlich fruchtbar. Die Forschungsperspektiven und -interessen weiteten sich. Während zunächst besonders die Institution und das Verhalten der Polizei (als „Objekt“) vor dem Hintergrund veränderter politischer und normativer Rahmenbedingungen und gesellschaftlicher Praktiken analysiert wurden, begriff die Forschung die Polizei schon bald auch als „Subjekt“, das heißt als Träger des Wandels bzw. als Akteur in gesamtgesellschaftlichen Austausch- und Aushandlungsprozessen.
38Weinhauer, Schutzpolizei (wie Anm. 25); Thomas Lindenberger, Volkspolizei – Herrschaftspraxis und öffentliche Ordnung im SED-Staat 1952–1968, Köln/Weimar/Wien 2003. Für Nordrhein-Westfalen siehe auch Noethen, Alte Kameraden (wie Anm. 17); Kawelovski/Mecking, Polizei (wie Anm. 7). 39Neben den bereits genannten Studien siehe etwa Bettina Blum, Polizistinnen im geteilten Deutschland. Geschlechterdifferenz im staatlichen Gewaltmonopol vom Kriegsende bis in die siebziger Jahre, Essen 2012; Imanuel Baumann/Herbert Reinke/Andrej Stephan/Patrick Wagner, Schatten der Vergangenheit. Das BKA und seine Gründungsgeneration in der frühen Bundesrepublik, Köln 2011, einzusehen unter: (8.8.2019). Siehe weiter Alf Lüdtke/Herbert Reinke/ Michael Sturm (Hrsg.), Polizei, Staat, Gewalt. Vergleichende Perspektiven zum 19. und 20. Jahrhundert, Wiesbaden 2011; Suzah Okunlola, „Dem Volk dienen“. Ein Lesebuch zur Geschichte der Polizei Rheinland-Pfalz 1945–2008, mit einer Einführung von Walter Rummel, Koblenz 2009; Gerhard Fürmetz/Herbert Reinke/Klaus Weinhauer (Hrsg.), Nachkriegspolizei. Sicherheit und Ordnung in Ost- und Westdeutschland 1945–1969, Hamburg 2001. Zur DDR siehe weiter Torsten Diedrich/Rüdiger Wenzke, Die getarnte Armee. Geschichte der Kasernierten Volkspolizei der DDR 1952–1956, 2. Aufl., Berlin 2003; Richard Bessel, Polizei zwischen Krieg und Sozialismus. Die Anfänge der Volkspolizei nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Christian Jansen/Lutz Niethammer/Bernd Weisbrod (Hrsg.), Von der Aufgabe der Freiheit. Politische Verantwortung und bürgerliche Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Festschrift für Hans Mommsen, Berlin 1995, S. 517– 531. Des Weiteren finden sich auch Lokalstudien, die sich der Polizeigeschichte vor Ort annehmen, z. B. Frank Kawelovski, „Achtung! Hier Gruga an alle!“ Die Geschichte der Essener Polizei, Mülheim 2009; Stefan Goch (Hrsg.), Städtische Gesellschaft und Polizei. Beiträge zur Sozialgeschichte der Polizei in Gelsenkirchen, Essen 2005. 40Alf Lüdtke, Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozialanthropologische Studien, Göttingen 1991.
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Innerhalb der polizeigeschichtlichen Forschung domminieren dennoch bis heute thematisch die Arbeiten zum Nationalsozialismus. Trotz des Vorliegens wichtiger Studien und Projekte kann die Geschichte der Polizei(en) in der Bundesrepublik noch längst nicht als erforscht oder gar ausgeforscht gelten. Es sind weder für alle Länderpolizeien der Bundesrepublik solide geschichtswissenschaftliche Studien für die Zeit nach 1945 vorhanden,41 noch existieren in größerem Umfang vergleichende Untersuchungen, dies gilt umso mehr für eine transnationale Perspektive. Es sind immer noch vorwiegend juristische und sozialwissenschaftliche Darstellungen, die Auskunft über die Polizei und ihre Arbeit in der jüngeren Vergangenheit geben.42 Dieser Befund muss erstaunen, wenn man sich vergegenwärtigt, dass es sich um eine Großorganisation mit heute mehr als 300.000 Polizeivollzugsbeamten zuzüglich des Verwaltungspersonals und der technisch spezialisierten Kräfte handelt.43 Polizeigeschichtliche Forschung findet tendenziell auch immer noch eher außerhalb der Universitäten statt – und zwar in Erinnerungs- und Gedenkstätten oder innerhalb der Polizei selbst. Dies erklärt ein stückweit auch die weiterhin vorhandene Dominanz der polizeigeschichtlichen Arbeiten zum Nationalsozialismus. Anders als etwa in England oder auch Frankreich gibt es in Deutschland keine Lehrstühle, die in ihrer Denomination „Polizeigeschichte“ nennen. Selbst die Deutsche Hochschule der Polizei (DHPol) in Münster-Hiltrup kennt keine Professur für Geschichte bzw. Polizeigeschichte, obwohl ihr Pendant in Speyer, die Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften, über einen Lehrstuhl für Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte verfügt. Dabei hatte auch der Wissenschaftsrat in seiner „Stellungnahme zur Akkreditierung der Deutschen Hochschule der Polizei“ 2013 an der Polizeiuniversität einen Bedarf an einer
41Einen
Überblick über die Entstehung und Entwicklung der Länderpolizeien in der Bundesrepublik geben Groß/Frevel/Dams, Handbuch (wie Anm. 4). 42Vgl. exemplarisch Robert Chr. Van Ooyen, Polizei und politisches System in der Bundesrepublik. Aktuelle Spannungsfelder der Inneren Sicherheit einer liberalen Demokratie, 5. Aufl., Frankfurt a.M. 2018; Bernhard Frevel/Rafael Behr (Hrsg.), Die kritisierte Polizei, Frankfurt a.M. 2015; Carsten Dübbers, Von der Staats- zur Bürgerpolizei? Empirische Studien zur Kultur der Polizei im Wandel, Frankfurt a.M. 2015; Hans-Jürgen L ange/JeanClaude Schenck, Polizei im kooperativen Staat, Wiesbaden 2004; Martin Winter, Politikum Polizei. Macht und Funktion der Polizei in der Bundesrepublik Deutschland, Münster 1998; Busch/Funk/Kauß/Narr/Werkentin, Die Polizei (wie Anm. 29); Falko Werkentin, Die Restauration der deutschen Polizei. Innere Rüstung von 1945 bis zur Notstandsgesetzgebung, Frankfurt a.M./New York 1984. 43Siehe hierzu auch die Darstellung der Personalentwicklung in den einzelnen Bundesländern bei Groß/Frevel/Dams, Handbuch (wie Anm. 4).
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Abb. 3 Lagerung von alten Akten und Unterlagen in einem rheinischen Polizeipräsidium 2013 (Sammlung Dr. Bastian Gillner, Duisburg [Foto: Bastian Gillner])
Professur für „Neuere und neueste Geschichte mit polizeihistorischem Schwerpunkt“ gesehen.44 Die Gründe für diese universitäre Zurückhaltung sind gewiss vielfältig und können kaum auf eine Ursache reduziert werden. Nur ein Faktor soll hier genannt werden, der, wenn auch wohl nicht ursächlich, so aber doch hemmend auf die zeitgeschichtliche Forschung wirkte: Die Polizei galt lange als hermetische Institution,
44Wissenschaftsrat,
Stellungnahme zur Akkreditierung der Deutschen Hochschule der Polizei, Berlin 25.1.2013. Seit einigen Jahren weist die DHPol nun allerdings neben den verschiedenen Fachgebieten die Forschungsstelle Polizeigeschichte aus. Bis dahin war Polizeigeschichte Teil des Fachgebiets Verwaltungswissenschaft. Siehe Webseite der DHPol,
(18.8.2019). Um diese universitäre Lücke weiter zu schließen, wird seit 2018 an dem Lehrstuhl für Hessische Landesgeschichte der Philipps-Universität Marburg ein Forschungsund Arbeitsschwerpunkt zur Polizei- und Kriminalitätsgeschichte aufgebaut. Hier arbeitet u. a. Martin Göllnitz an seiner Habilitationsschrift „Eine ‚Elite der alten Sherlock Holmes‘? Deutsche Kriminalisten der frühen Bundesrepublik“.
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die wenig vom Inneren nach außen lässt.45 Eine gewisse Wagenburg-Mentalität spiegelte sich dann auch zum Teil in der Überlieferungssituation wider. Eine Einrichtung wie die Polizei, die auf Diskretion angewiesen ist, um zum Beispiel Ermittlungserfolge nicht zu gefährden, und die weiß, dass ihr Handeln stets erhebliche politische und rechtliche Konsequenzen nach sich ziehen kann, hatte in der Vergangenheit in weiten Teilen lange und tief verinnerlicht, – um es jetzt diplomatisch zu formulieren – zurückhaltend mit der Herausgabe ihrer Akten (auch an die Archive) zu sein. Akten wurden zum Teil in Behördenkellern gebunkert (s. Abb. 3) oder gar vernichtet, obgleich eine gesetzliche Verpflichtung besteht und bestand, alle nicht mehr benötigten Unterlagen den Landesarchiven zur Archivierung anzubieten. Die Aktenabgabe an die Archive ersetzt dabei gewissermaßen selbst bei sensiblen und personenbezogenen Unterlagen die Pflicht der Polizei, nach vorgegebenen Fristen das Material zu vernichten bzw. die Dateien zu löschen.
4 Polizei als lernende Organisation? Der Blick auf die 70-jährige Geschichte der Bundesrepublik offenbart, dass sich sowohl die Inhalte und Formen des öffentlichen Protests als auch der polizeiliche Umgang damit mehrfach veränderten. Dieser Wandel steht im Mittelpunkt des Sammelbandes. Dabei wird erörtert, in welcher Hinsicht sich die Polizei als „lernende Organisation“ erwies und was dies für die Arbeit der Polizei heute bedeutet. Der Band fragt danach, welche Veränderungen sich vor dem Hintergrund des gesamtgesellschaftlichen Wandels in der Bundesrepublik innerhalb der Polizei strukturell, personell, aber auch bei der Aufgabenstellung, der eigenen Zielsetzung und dem Selbstverständnis vollzogen haben.46 Mit seinen Beiträgen spürt er den Akteuren, den Ursachen und den Ausformungen des öffentlichen
45Siehe auch Peter Ullrich, Polizei im/unter Protest erforschen. Polizeiforschung als Entdeckungsreise mit Hindernissen, in: Christiane Howe/Lars Ostermeier (Hrsg.), Polizei und Gesellschaft, Wiesbaden 2019, S. 155–189; Bernhard Frevel, Polizei, Politik und Wissenschaft, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 58 (2008), Nr. 48, S. 3–9. 46Der Band bündelt die Vorträge und Diskussionen des polizeigeschichtlichen Symposiums „Polizei und Protest in Geschichte und Gegenwart“, das gemeinsam mit Prof. Dr. Carsten Dams an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung NRW (heute: Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW) am 18. Mai 2017 in Gelsenkirchen veranstaltet wurde. Über den dortigen Referentenkreis hinaus wurden für die Veröffentlichung die Beiträge von Lukas W. Petzolt, Ulrich Jan Schröder, und Klaus Weinhauer aufgenommen. Vgl. Sabine Mecking/Agnes Weichselgärtner, Tagungsbericht „Protest und Polizei in
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Protests sowie dem Handeln der Polizei von den frühen Nachkriegsjahren bis zur Gegenwart nach. Dabei interessiert neben der öffentlichen Wahrnehmung und der Reaktion auf verschiedene Polizeieinsätze auch das jeweilige Selbstbild der Polizei. Es geht um den mühsamen Prozess der Polizei, sich nach Ende des Zweiten Weltkrieges neu aufzustellen, sich von Grund auf zu reformieren, und auch darum, an gesellschaftlichen Aufgaben zu wachsen und aus Fehlern zu lernen. Es ist darzulegen, welche politischen und gesellschaftlichen Einflüsse die Impulse für die Veränderungen in der Polizei gegeben haben. Die versammelten Beiträge gruppieren sich um zwei Themenblöcke: Zunächst soll es um eine allgemeine Darlegung des Wandels in Gesellschaft und Politik seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehen. In chronologischer Folge werden verschiedene Zeitphasen der Bundesrepublik betrachtet, um prägende Protestereignisse und -entwicklungen in allgemeine, gesamtgesellschaftliche Prozesse und Entwicklungslinien einzuordnen. Ausgehend von der Adenauer-Ära analysiert Wolfgang Kraushaar Formen, Ziele und Trägergruppen der Proteste in den ersten beiden Nachkriegsdekaden. Anschließend rückt der gesellschaftliche Aufbruch und Protest von der Außerparlamentarischen Opposition bis hin zu den Neuen Sozialen Bewegungen in den Fokus (Sabine Mecking). Vor diesem Hintergrund ordnet dann Frank Decker den aktuell zu beobachtenden Populismus in die Protestkultur ein. Mit einem zeitlich übergreifenden Beitrag zeichnet Ulrich Jan Schröder schließlich allgemein die Geschichte des Versammlungsrechts in der Bundesrepublik nach. Im zweiten Teil des Bandes wird schlaglichtartig das polizeiliche Handeln bzw. das Protest Policing in der Bundesrepublik analysiert. Der Blick richtet sich stärker auf die Polizei als Akteurin im Protestgeschehen. Michael Sturm legt die Sicht- und Arbeitsweisen der Polizei in der frühen Bundesrepublik dar. Die Aufsätze von Lukas W. Petzolt und Klaus Weinhauer widmen sich dem Protestgeschehen vom Ende der 1960er bis in die 1980er Jahre. Der Band schließt mit einem Beitrag aus polizeipraktischer Sicht von Udo Behrendes, wenn er nach den Lerneffekten und Erkenntnisgewinnen für die aktuelle Polizei fragt. Die Beiträge zeigen, dass sich die Anlässe, Ursachen und Gründe für öffentlichen bürgerlichen Protest im Laufe der Jahre wandelten, und zwar von
Geschichte und Gegenwart“, in: FHöV aktuell. Newsletter der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung NRW, Juni 2017, S. 4–5; Agnes Weichselgärtner, Tagungsbericht „Protest und Polizei in Geschichte und Gegenwart“, 18.5.2017 Gelsenkirchen, in: H-SozKult vom 26.6.2017, (8.8.2019).
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einem zunächst stärker materiell geprägten Impetus hin zu immateriellen, sozial und politisch übergreifenden Beweggründen. Eng damit einhergehend, unterstreichen sie den Wandel in der Trägerschaft und in der Form des Protests. Waren es zunächst häufig Jugendliche oder junge Erwachsene, die aufbegehrten, griff der Protest in den 1970er Jahren als Möglichkeit der politischen Partizipation auf die breite, neue Mittelschicht über. Mit dieser tieferen gesellschaftlichen Verankerung und vor allem auch mit der Distanzierung von Gewaltanwendung etablierte sich der öffentliche Protest sowohl als legitimes wie auch als legales Mittel der politischen Partizipation. Diese Veränderungen spiegelten sich auch im jeweiligen Handeln der Ordnungsmacht, wenngleich zum Teil mit erheblicher zeitlicher Verzögerung. In den 1960er Jahren erkannte die Polizei den internen Reformbedarf und setzte diesen nach und nach um. Mit diesen Reformen veränderte sich auch die gesellschaftliche Wahrnehmung der Polizei im Rahmen des Protestgeschehens: Galt sie in den frühen Jahren der Bundesrepublik vielfach als Gegnerin der Demonstranten und Bewahrerin überkommener Werte, wird sie heute viel stärker als Schützerin von Bürgerrechten verstanden.47 Dabei präsentiert sie sich mit ihren Leitbildern – Bürgerorientierung und effiziente Aufgabenwahrnehmung – als Bürgerpolizei und moderne Dienstleistungsorganisation. Seit geraumer Zeit rückt sie wieder stärker als Garantin von „Sicherheit“ in den Fokus, alle anderen Perspektiven werden davon überlagert. Angesichts einer zunehmend als unsicher und unübersichtlich empfundenen Gegenwart scheint die Polizei heute wieder Weichenstellungen vornehmen zu müssen. Allgemein wird beklagt, dass die Akzeptanz des staatlichen Gewaltmonopols und überhaupt der Respekt vor der Arbeit der Polizistinnen und Polizisten (und dies gilt ebenso für Feuerwehrleute und Rettungskräfte) abgenommen haben. Immer häufiger werden die „Uniformträger“ bei der Durchführung ihrer Arbeit behindert. Die in der Gesellschaft wahrzunehmenden Veränderungen, wie die Neigung zur populistischen Polarisierung, die neue Reizbarkeit, die erhöhte verbale und tatkräftige Aggressionsbereitschaft, werden sich auch auf die Arbeit der Sicherheits- und Ordnungskräfte auswirken. Inwieweit sich dies unmittelbar in ihrem Verhalten spiegelt oder es der Polizei dennoch gelingt, durch ein am Prinzip der Verhältnismäßigkeit orientiertes Handeln Eskalationspotenzialen frühzeitig die Schärfe zu nehmen, wird die Zukunft
47Siehe
hierzu auch den Beitrag von Udo Behrendes in diesem Sammelband; Kawelovski/ Mecking, Polizei (wie Anm. 7); sowie die Tagungsberichte (wie Anm. 46).
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zeigen. Der Blick auf das zurückliegende staatliche Protest-Management macht deutlich, dass polizeiliche und gesellschaftliche Entwicklungen, obgleich aufeinander bezogen, versetzt bzw. in unterschiedlichen Geschwindigkeiten verlaufen können. Sabine Mecking, Prof. Dr. phil., ist Professorin für Landes- und Zeitgeschichte an der Philipps-Universität Marburg und geschäftsführende Herausgeberin der Zeitschrift „Geschichte im Westen“. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen in der Polizeiund Verwaltungsgeschichte, Demokratie- und Protestgeschichte, Landes- und Regionalgeschichte.
Wandel in Gesellschaft, Politik und Polizei
Protest im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik Wolfgang Kraushaar
Zusammenfassung
Die 1950er Jahre sind im allgemeinen Bewusstsein durch Wiederaufbau, Konsumorientierung und einen wiedererwachenden Fortschrittsglauben geprägt. Öffentlich ausgetragene Konflikte, politische Widersprüche überhaupt, passen nicht in dieses Bild; sie wirken wie Störfaktoren. Doch dieses „unpolitische“ Jahrzehnt ist ein Mythos, wie der Kampf gegen die Wiederbewaffnung, die Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung und die „Halbstarken“-Krawalle zeigen. Dieser Mythos stellt aber selbst das Nebenprodukt einer Politik dar, die sich erst nach heftigen innenpolitischen Konflikten gegenüber anderen Denkmustern durchzusetzen vermochte. Wer an die 1950er Jahre erinnert, der weckt Assoziationen zum Kalten Krieg, zu der deutschen Spaltung, der Adenauer-Ära, dem Wirtschaftswunder, dem Heimatfilm, der Südsee-Romantik, Nierentischen, Petticoats und Schmalzlocken – nicht aber zu Protest, Opposition oder gar Rebellion. Die Zeichen der Unruhe, der Spannungen und Konflikte waren auf den ersten Blick den Ostblockstaaten vorbehalten. Die Volksaufstände am 17. Juni 1953 in der DDR und im Herbst 1956 in Ungarn schienen zu beweisen, dass die gesellschaftliche Unzufriedenheit mit einem politischen System nur in kommunistischen Staaten einen solchen Siedepunkt erreichen konnte. In der Bundesrepublik und im Westen insgesamt W. Kraushaar (*) Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Mecking (Hrsg.), Polizei und Protest in der Bundesrepublik Deutschland, Geschichte und Ethik der Polizei und öffentlichen Verwaltung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29478-6_2
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vermochte es dagegen kaum mehr als Symptome der Langeweile und des Überdrusses zu geben, wie sie sich z. B. in den sogenannten Halbstarkenkrawallen niederschlugen. Aktionen, Demonstrationen, militante Auseinandersetzungen um politische, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Fragen werden letztlich erst mit dem Ende der 1960er Jahre und der Folgezeit assoziiert – für die 1950er Jahre muten sie fremd und aufgesetzt an. Das Jahrzehnt, in dem die Nachkriegsordnung etabliert wurde, ist im allgemeinen Bewusstsein durch Wiederaufbau, Konsumorientierung und einen wiedererwachenden Fortschrittsglauben geprägt. Öffentlich ausgetragene Konflikte, politische Widersprüche überhaupt, passen nicht in dieses Bild; sie wirken wie Störfaktoren. Doch die „unpolitischen“ 1950er Jahre sind ein Mythos. Vielmehr stellen sie selbst das Nebenprodukt einer Politik dar, die sich erst nach heftigen innenpolitischen Konflikten gegenüber anderen Denkmustern durchzusetzen vermochte. Ein Zeichen des Erfolgs dieser Politik ist eben die Tatsache, dass sie im Nachhinein ihr Bild von einer politischen Ära der Nachkriegszeit im öffentlichen Bewusstsein etablieren konnte.
1 Der Kampf gegen die Wiederbewaffnung Das zentrale Thema der Ära Adenauer war nicht etwa der politische Extremismus, sondern vielmehr die Frage danach, ob in einem Land, das für zwei Weltkriege verantwortlich war und in dem die Ruinen mahnten, dass die Beendigung des letzten Krieges noch nicht sehr lange zurücklag, erneut eine Armee aufgebaut werden sollte. Der Ost-West-Konflikt hatte bereits im Juni 1950 seine schärfste Zuspitzung erlebt. Mit dem Angriff von 200.000 Soldaten des kommunistisch regierten Nordkorea auf das westlich dominierte Südkorea schlug der Kalte Krieg in einen militärischen Konflikt um und drohte zugleich zu einem unkontrollierbaren Systemkonflikt zu eskalieren. Die beiden Hauptsiegermächte des Zweiten Weltkriegs, die USA und die UdSSR, unterstützten jeweils eine gegnerische Seite. Angesichts der unverkennbaren Gefahr, dass sich der Koreakrieg damit zu einem dritten Weltkrieg ausweiten könnte, wurde in West wie Ost eine fieberhafte Aufrüstungspolitik betrieben. Im Schatten dieses Großkonflikts wurden auch in der Bundesrepublik entscheidende Weichenstellungen zur Wiederbewaffnung vorgenommen. Bundeskanzler Adenauer erklärte schon im August 1950 in einem an die Alliierte Hochkommission gerichteten geheimen Sicherheitsmemorandum seine Bereitschaft, ein deutsches Kontingent im Rahmen einer europäischen Streitkraft
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a ufzustellen.1 Dieser Schritt, der ohne Absprache mit den Kabinettsmitgliedern erfolgt war, führte zu einem Zerwürfnis mit Bundesinnenminister Gustav Heinemann (CDU) und hatte schließlich am 9. Oktober dessen Rücktritt zur Folge.2 Am selben Tag ging übrigens im Eifelkloster Himmerod eine Geheimtagung ehemaliger Wehrmachtsoffiziere zu Ende. Ergebnis war eine Denkschrift zur Wiederbewaffnung, in der ebenfalls die Aufstellung einer deutschen Armee im Rahmen einer westeuropäischen Streitmacht vorgeschlagen wurde.3 Noch im selben Monat beauftragte die Bundesregierung den C DU-Bundestagsabgeordneten Theodor Blank damit, eine Dienststelle aufzubauen, in der alle – wie es etwas vernebelnd hieß – „mit der Vermehrung der alliierten Truppen zusammenhängenden Fragen“ behandelt werden sollten.4 Während der ersten Bundestagsdebatte über die Wiederbewaffnung erklärte Konrad Adenauer explizit seine Bereitschaft zu
1In einem Interview hatte Konrad Adenauer angesichts des wenige Wochen zuvor ausgebrochenen Koreakriegs erklärt: „Wir müssen die Notwendigkeit der Schaffung einer starken deutschen Verteidigungskraft erkennen. Ich will nicht von einer Armee oder Waffen sprechen, aber diese Streitmacht muss stark genug sein, um jede mögliche, den Vorgängen in Korea ähnelnde Aggression der Sowjetzonenvolkspolizei abzuwehren.“ New York Times vom 17.8.1950. 2„Ein europäischer Krieg unter unserer Beteiligung wird für uns nicht nur ein nationaler Krieg sein wie für die anderen betroffenen Völker, sondern obendrein ein Krieg von Deutschen gegen Deutsche. Er wird sich, so wie die Dinge liegen, auf deutschem Boden abspielen. […] Aber wir legitimieren unser Deutschland selbst als Schlachtfeld, wenn wir uns in die Aufrüstung einbeziehen.“ Gustav Heinemann, Warum ich zurückgetreten bin, in: Stuttgarter Zeitung vom 18.10.1950. 3Als christlicher Erbauungskreis getarnt arbeiteten vom 4. bis 9. Oktober 1950 im Eifelkloster Himmerod sechzehn ehemalige Offiziere der Deutschen Wehrmacht eine Denkschrift zur Wiederbewaffnung aus. Die Klausurtagung, auf der frühere Generäle aller drei Waffengattungen vertreten waren, wurde von Generaloberst Heinrich Freiherr von Vietinghoff-Scheel geleitet. Zugegen waren auch die Generalleutnants Adolf Heusinger und Hans Speidel, General Johann Adolf Graf von Kielmannsegg und der Generalstabsoffizier Wolf Graf von Baudissin. Die „Denkschrift des militärischen Expertenausschusses über die Aufstellung eines deutschen Kontingents im Rahmen einer übernationalen Streitmacht zur Verteidigung Westeuropas“, kurz „Himmeroder Denkschrift“ genannt, sollte Keimzelle eines zukünftigen, „mit Wehrfragen befassten Ministeriums“ werden. Das Schwergewicht beim Aufbau der neuen Armee sollte dabei auf die Landstreitkräfte gelegt werden. Dafür waren zwölf Panzerdivisionen und 250.000 Soldaten vorgesehen worden. 4Der Leiter der neu geschaffenen Einrichtung beschrieb seine Funktion in einem Interview mit der amerikanischen Presseagentur Associated Press (AP) folgendermaßen: „Ich bin kein Verteidigungsminister, wie einige Leute behaupten, ich bin ein Zivilist auf einem halbmilitärischen Posten.“ Zitiert nach: Frankfurter Rundschau vom 4.12.1950.
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einem deutschen Verteidigungsbeitrag. Oppositionsführer Kurt Schumacher lehnte hingegen eine Beteiligung daran mit dem nationalistisch getönten Argument ab, dass die Deutschen dabei nicht als gleichberechtigte Partner akzeptiert würden. Zu diesem Zeitpunkt hatten bereits mehrere Geheimtreffen des SPD-Vorsitzenden mit den Ex-Wehrmachtsgenerälen Adolf Heusinger und Hans Speidel stattgefunden. Bei diesen Treffen hatte Schumacher nicht nur sein grundsätzliches Einverständnis zur Remilitarisierung zu erkennen gegeben, sondern in seinen Vorstellungen von der Divisionsstärke einer deutschen Armee die Pläne seiner Gesprächspartner auch noch bei Weitem übertroffen.5 Ganz anders reagierte dagegen ein Teil der Evangelischen Kirche (EKD) auf das Thema Wiederbewaffnung. In einer Handreichung propagierten etwa die Bruderschaften der Bekennenden Kirche die Kriegsdienstverweigerung. Und in einem offenen Brief forderte mit Martin Niemöller der wichtigste Repräsentant des kirchlichen Widerstands gegen das NS-Regime und amtierende Präsident der Evangelischen Kirche von Hessen und Nassau den Bundeskanzler auf, wegen dieser Frage sogar Neuwahlen auszuschreiben.6 Die Wiederaufrüstung in beiden Teilen Deutschlands, spitzte Niemöller auf einer Großveranstaltung des Evangelischen Männerwerks in Frankfurt weiter zu, sei ein „Auftakt zum Brudermord“.7 Da es niemanden gebe, der dagegen in Ost und West opponiere, müsse die Evangelische Kirche diese Rolle einnehmen. Teile der EKD wuchsen so zu einer der wichtigsten oppositionellen Kräfte in der Adenauer-Ära heran. Damit standen sie jedoch, wie sich nur zu bald herausstellen sollte, auf verlorenem Posten. Am 11. Mai 1952 verschärfte sich die Situation. In Essen kam es zu einer blutigen Konfrontation zwischen Polizei und jugendlichen Demonstrierenden, als eine „Friedenskarawane der Jugend“, zu der bis zu 30.000 Protestierende in der wegen ihrer Rüstungsindustrie berüchtigten Stadt erwartet wurden, im letzten Moment verboten worden war. Als tausende bereits angereiste Jugendliche dennoch einen Zug bildeten, trat ihnen ein großes Polizeiaufgebot entgegen, das sie mit aller Gewalt zu zerstreuen versuchte. Gegen die Flüchtenden wurden nicht nur Gummiknüppel, sondern auch Schusswaffen eingesetzt. Zwei der Demonstranten wurden schwer verletzt; der 21-jährige, aus München stammende Philipp Müller, ein Mitglied der in der Bundesrepublik verbotenen Freien
5Vgl.
Hans Speidel, Aus unserer Zeit. Erinnerungen, Frankfurt/Wien 1977, S. 275 f. Beckmann (Hrsg.), Kirchliches Jahrbuch 1950, Gütersloh 1951, S. 149. 7Zentralarchiv der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Bestand 62: Akzidenz-Nr. 1308, Sonderdruck Stimme der Gemeinde, o. J. 6Joachim
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Deutschen Jugend (FDJ), starb durch einen Schuss in den Rücken. In den Nachrichten wurde der Sachverhalt zunächst völlig anders dargestellt.8 Hier hieß es, Mitglieder der FDJ hätten auf die Polizei geschossen, die dann dazu gezwungen gewesen sei, das Feuer zu erwidern. Bezeichnend ist, dass gegen keinen der für die Todesschüsse verantwortlichen Beamten jemals ein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden ist. Hingegen wurden elf der Demonstrierenden in Dortmund vor Gericht gestellt und zu Gefängnisstrafen verurteilt.9 Einen Höhepunkt erlebte die Friedensbewegung im November 1954 nach der Unterzeichnung der Pariser Verträge. Als der Wehrbeauftragte der Bundesregierung, Theodor Blank, auf Wahlveranstaltungen der CDU auftrat, kam es in mehreren Städten zu massiven Protesten und zum Teil auch zu Tumulten. In Gießen, Nürnberg, Augsburg, Fulda und anderen Orten musste der Politiker, der bundesweit als Personifikation der Remilitarisierung wahrgenommen wurde, von Polizeikräften vor Übergriffen geschützt werden. Auch Diskussionsveranstaltungen mit Vertretern der „Dienststelle Blank“ führten häufig zu mehr als nur verbalen Auseinandersetzungen. Landauf und landab stießen die Befürworter einer neuen deutschen Armee auf Unverständnis, Wut und Empörung.10 1955 musste die Friedensbewegung jedoch eine politische Niederlage einstecken. Nachdem klar war, dass sich eine parlamentarische Mehrheit für die Verabschiedung der Pariser Verträge wohl nicht verhindern ließ, beschloss der Parteivorstand der SPD in Bonn, eine außerparlamentarische Kampagne gegen das Vertragsvorhaben zu starten. Mit einer Auftaktveranstaltung in der Frankfurter Paulskirche, auf der ein gegen Wiederbewaffnung und für Wiedervereinigung ausgerichtetes „Deutsches Manifest“ verabschiedet wurde, begann eine mehrere Wochen anhaltende Protestkampagne: die sogenannte Paulskirchenbewegung.11 Obwohl Bundeskanzler Adenauer deren Teilnehmer als Vertreter der 8Beides
weist Parallelen zum Tod Benno Ohnesorgs anderthalb Jahrzehnte später auf, als der Germanistikstudent auf einer Demonstration gegen den Schah von Persien in WestBerlin von dem als zivilem Greifer eingesetzten Polizeikommissar Karlheinz Kurras auf dieselbe Weise umgebracht wurde. Zum Ablauf des tödlichen Vorfalls in Essen vgl. Ernst Zander, Die Kampagne gegen die Remilitarisierung in Deutschland, London 1952. 9Vgl. Wolfgang Kraushaar, Die Protest-Chronik 1949–1959, Eine illustrierte Geschichte von Bewegung, Widerstand und Utopie, Bd. 1: 1949–1952, Hamburg 1996, S. 677 f. 10Vgl. Kraushaar, Die Protest-Chronik (wie Anm. 9), Bd. 2: 1953–1956, S. 1103, 1105, 1107, 1120, 11255, 1127 ff. 11Das auf der Kundgebung in der Frankfurter Paulskirche verabschiedete „Deutsche Manifest“ wurde abgedruckt in: Keesings Archiv der Gegenwart vom 29.1.1955, XXV. Jg., S. 4984; Nachdruck in: Christoph Kleßmann, Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945–1955, Göttingen 1982, S. 484–85.
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„Straße“ diffamierte und keinen Zweifel an seiner Entschlossenheit erkennen ließ, die Entscheidungskompetenz allein beim Parlament zu belassen, beteiligten sich Zehntausende an Kundgebungen und Demonstrationen, um ihren Befürchtungen vor einer neuen deutschen Armee und einer Vertiefung der Spaltung Deutschlands Ausdruck zu verleihen. Hunderttausende von Bundesbürgern unterzeichneten in einer bundesweiten Unterschriftensammlung das „Deutsche Manifest“. Mit der Gründung der Bundeswehr im gleichen Jahr scheiterte die Paulskirchenbewegung jedoch letztlich mit ihrem zentralen Anliegen. Dass neben der konventionellen Wiederbewaffnung schließlich auch die Atombewaffnung der Bundeswehr zum zentralen innenpolitischen Streitfall werden konnte, lag auch am Dilettantismus, mit dem der Bundeskanzler die neue Technik präsentierte. Das schon in der Öffentlichkeit vorhandene Misstrauen gegenüber der Rüstungspolitik wurde noch weiter gesteigert, als Adenauer im April 1957 auf einer Pressekonferenz taktische Atomwaffen als „Weiterentwicklung der Artillerie“ verharmloste.12 Und auch Bundesverteidigungsminister Franz Josef Strauß, ein expliziter Verfechter einer „Politik der Stärke“, schürte das Unbehagen, als er wenige Tage später erklärte, dass die Bundeswehr wegen der sowjetischen Bedrohung nicht auf eine Ausrüstung mit taktischen Atomwaffen verzichten könne.13 Mit diesen Aussagen wurden nicht nur technisch profunde Kritiker auf den Plan gerufen, sondern es wurde auch eine Welle der Empörung und des Protests ausgelöst.
12Adenauer
hatte wörtlich erklärt: „Nun komme ich auf die atomaren Waffen. Hier ist nicht beachtet der Unterschied zwischen den taktischen und den großen atomaren Waffen. Die taktischen Atomwaffen sind im Grunde nichts anderes als eine Weiterentwicklung der Artillerie, und es ist ganz selbstverständlich, dass bei einer so starken Fortentwicklung der Waffentechnik, wie wir sie leider jetzt haben, wir nicht darauf verzichten können, dass auch unsere Truppen – das sind ja beinahe normale Waffen – die neuesten Typen haben und die neueste Entwicklung mitmachen. Davon sind zu trennen die großen atomaren Waffen, die haben wir ja nicht.“ Dokumente zur Deutschlandpolitik, hrsg. vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen, III. Reihe, Bd. 3.1, Bonn 1967, S. 577. 13Da die Sowjetunion über einen erheblichen Vorsprung an konventionellen Waffen verfüge – dies hatte Strauß in einem Interview mit dem Hessischen Rundfunk erklärt – und ihre Streitkräfte sowohl in materieller wie in personeller Hinsicht besser ausgerüstet seien, würde ein Verzicht auf Nuklearwaffen militärisch „eine Preisgabe Europas“ an die UdSSR bedeuten. Sein Standpunkt in der Frage der taktischen Atomwaffen sei der, keine spezielle Ausrüstung für die Bundeswehr, sondern lediglich eine „Gleichberechtigung“ mit den übrigen europäischen Streitkräften der NATO zu verlangen.
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Je klarer die Bundesregierung zu erkennen gab, dass sie die Bundeswehr atomar aufrüsten wollte, desto stärker schälte sich eine Anti-Atomtod-Bewegung heraus. Der stärkste Impuls ging dabei von einer Gruppe international angesehener Wissenschaftler aus. Als Reaktion auf Adenauers Verharmlosung der taktischen Atomwaffen stellten 18 Professoren der Universität Göttingen in einer gemeinsamen Erklärung fest, dass jede einzelne dieser Waffen eine ebenso große Vernichtungskraft wie die Hiroshima-Bombe habe.14 Die Naturwissenschaftler, darunter die Atomphysiker Max Born, Otto Hahn, Werner Heisenberg und Carl Friedrich von Weizsäcker, forderten die Bundesregierung auf, grundsätzlich auf eine Atombewaffnung zu verzichten. Die „Göttinger Erklärung“ wurde in der Folge zur Argumentationsgrundlage für die Gegner einer Atombewaffnung der Bundeswehr.15 Bei einer Bundestagsdebatte über die atomare Aufrüstung kam es im Januar 1958 zu einer scharfen Konfrontation zwischen der Bundesregierung und den beiden Oppositionsparteien SPD und FDP. Die heftigsten Vorwürfe musste sich Bundeskanzler Adenauer von zwei ehemaligen Kabinettskollegen anhören. Der frühere Bundesjustizminister Thomas Dehler (FDP) und der ehemalige Bundesinnenminister Gustav Heinemann (SPD) warfen der Regierung vor, durch die Aufrüstung der Bundeswehr mit Nuklearwaffen die letzte Chance für eine Wiedervereinigung Deutschlands zu verspielen. Heinemann unterstellte dem Kanzler nicht nur Eigenmächtigkeit, Engstirnigkeit und Arroganz der Macht, sondern forderte ihn aus Mangel an Glaubwürdigkeit „nachgerade“ zum Rücktritt auf.16 Die Rede des ehemaligen Vorsitzenden der Gesamtdeutschen Volkspartei (GVP), der nun für die SPD in das Parlament gewählt worden war, löste bundesweit ein großes Echo aus. Dennoch konnte nicht verhindert werden, dass der Bundestag im März 1958 nach einer tagelangen Redeschlacht die Regierungsvorlage annahm und der Atombewaffnung der Bundeswehr im Rahmen der NATO mit großer Mehrheit
14Robert
Lorenz, Die „Göttinger Erklärung“ von 1957. Gelehrtenprotest in der Ära Adenauer, in: Johanna Klatt/Robert Lorenz (Hrsg.), Manifeste. Geschichte und Gegenwart des politischen Appells, Bielefeld 2011, S. 135–168. 15Vgl. Robert Lorenz, Protest der Physiker: die „Göttinger Erklärung“ von 1957, Bielefeld 2011. 16Die Tat 9 (1958), Nr. 5 vom 3.2.1958, S. 11.
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zustimmte.17 Zwei Wochen später unterzeichnete Bundesverteidigungsminister Strauß in Rom zusammen mit seinem italienischen und seinem französischen Amtskollegen ein Geheimabkommen über die Herstellung von Atomwaffen.18 Die Vorbehaltsklausel aus den Pariser Verträgen glaubte man durch die trickreiche Auslegung umgehen zu können, dass der Bundesrepublik die Produktion von Nuklearwaffen zwar im eigenen Land, nicht aber im Ausland untersagt sei.19 Da für die Atomwaffengegner kaum Aussicht bestand, bei der Abstimmung über die Atombewaffnung die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag anzutasten, blieb nur die Hoffnung auf eine außerparlamentarische Bewegung. Auf Initiative des SPD-Bundesvorstands kamen im Februar in Bad Godesberg Politiker, Gewerkschafter sowie Kirchenmänner zusammen und riefen die Kampagne „Kampf dem Atomtod“ ins Leben. In den Wochen darauf folgten dem Aufruf Hunderttausende und beteiligten sich im gesamten Bundesgebiet an Demonstrationen, Schweigemärschen, Fackelzügen und Protestkundgebungen. An der größten Veranstaltung nahmen im April 1958 auf dem Hamburger Rathausmarkt allein 170.000 Menschen teil.20 Als die SPD schließlich versuchte, in drei von ihr regierten Bundesländern Volksbefragungen zur Atombewaffnung durchzuführen, rief die Bundesregierung das Bundesverfassungsgericht an, das diesen Schritt untersagte.21 Auch wenn es danach vereinzelt noch zu Kundgebungen und Protesten kam, so war den meisten Aktivisten klar geworden, dass die Anti-Atomtod-Bewegung damit endgültig gescheitert war.
17Nach dem im März 1957 in Kraft getretenen NATO-Strategiedokument MC 14/2 war für alle Mitgliedsstaaten verbindlich vorgeschrieben worden, dass auf jeden sowjetischen Militärangriff mit strategischen und taktischen Nuklearwaffen zu antworten sei. 18Die bundesdeutsche Öffentlichkeit erfuhr von dem Vertrag, der freilich nach dem Machtantritt Charles de Gaulles im Herbst 1958 für null und nichtig erklärt wurde, erst im Sommer 1989, als die Memoiren von Strauß nach dessen Tod erschienen. Vgl. Franz Josef Strauß, Erinnerungen, West-Berlin 1989, S. 313–315. 19Die im Oktober 1954 unterzeichneten Pariser Verträge sicherten der Bundesrepublik zwar ihre politische Souveränität zu, schränkten aber die damit verbundene Wahrnehmung einer Wiederbewaffnung insofern ein, als ihr die Produktion von ABC-Waffen untersagt wurde. 20Vgl. Hamburger Abendblatt vom 18.4.1958. 21Keesings Archiv der Gegenwart vom 30.7.1958, S. 7210.
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2 Die Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung Das zweite große gesellschaftliche Konfliktterrain der 1950er Jahre stellten die innerbetrieblichen Machtverhältnisse und die damit zusammenhängende Frage nach den Mitbestimmungsmöglichkeiten in den Betrieben dar. Nachdem die ersten im August 1949 durchgeführten Bundestagswahlen gezeigt hatten, wie gering der Rückhalt jener Kräfte war, die sich wie die SPD für eine Planwirtschaft und eine Vergesellschaftung der Schlüsselindustrien einsetzten, stand diese große politische Alternative kaum noch zur Debatte. Spätestens mit der Durchsetzung des Regierungsentwurfs im Konflikt um das Betriebsverfassungsgesetz 1952 waren auch die Gewerkschaften in ihrer Rolle als eine gesellschaftspolitische Gegenmacht eingeschränkt.22 Die Hoffnung trog, dass sich aus der 1951 in der Montanindustrie durchgesetzten paritätischen Mitbestimmung weitere Schritte zur Demokratisierung entwickeln lassen würden. Weder die Besatzungsmächte noch die Bundesregierung waren für solche Überlegungen zu gewinnen. Die Demokratisierung der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft machte vor den Werkstoren halt. Für die Arbeiterbewegung ergaben sich dadurch andere Themenfelder. Es ging nun nicht mehr um eine grundsätzliche Opposition zur kapitalistischen Wirtschaftsordnung, sondern vor allem um eine Partizipation am Wirtschaftsaufschwung. Es ging um mehr Lohn, mehr Freizeit, mehr Urlaub und ein deutliches Plus an sozialer Sicherheit. Die Beschäftigten der unterschiedlichsten Branchen wollten möglichst viel von dem Kuchen, der sich ihren Augen darbot, abhaben. Und die Gewerkschaften sollten dieses Ziel aus der Perspektive ihrer Mitglieder möglichst effektiv verfolgen. Das Hauptanliegen der Gewerkschaftspolitik ließ sich schließlich in einer Formel ausdrücken: Mehr Lohn für weniger Arbeit. Es ging fortan nicht mehr darum, die Verhältnisse umzuwälzen, sondern um eine Expansion der Löhne und Gehälter sowie die damit parallel einhergehende Reduktion der Wochenarbeitszeit. Unter der Bedingung der Vollbeschäftigung waren die Voraussetzungen dafür außerordentlich günstig. Die Reallöhne stiegen in der zweiten Hälfte
22Zur
historischen Vorgeschichte des Betriebsverfassungsgesetzes in Deutschland vgl.: Otto Neuloh, Die deutsche Betriebsverfassung und ihre Sozialformen bis zur Mitbestimmung, Tübingen 1956; Hans Jürgen Teuteberg, Geschichte der industriellen Mitbestimmung in Deutschland. Ursprung und Entwicklung ihrer Vorläufer im Denken und in der Wirklichkeit des 19. Jahrhunderts, Tübingen 1961; Werner Milert/Rudolf Tschirbs, Die andere Demokratie. Betriebliche Interessenvertretung in Deutschland. 1848 bis 2008, Essen 2012.
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der 1950er Jahre durchschnittlich um fast fünf Prozent pro Jahr. Das verdeckt klassenkämpferische Konzept von Viktor Agartz, dem Wirtschaftstheoretiker des DGB, der mit der von ihm propagierten Konzeption einer „expansiven Lohnpolitik“ eine grundlegende Umverteilungspolitik einleiten wollte, blieb jedoch schon bald auf der Strecke. Ins Zentrum rückte stattdessen der Kampf um die 40später um die 35-Stunden-Woche. Obwohl die Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung in ihren Forderungen kompromissbereiter geworden war, stellte sie bei verschiedenen Anlässen ihre Stärke unter Beweis. Wichtigste Aktivität war der im Oktober 1956 begonnene Streik der schleswig-holsteinischen Metallarbeiter für einen Lohnausgleich im Krankheitsfall, die Verlängerung der Urlaubszeit und die Zahlung eines zusätzlichen Urlaubsgeldes. Mit großem taktischem Geschick wurde der Ausstand von der IG Metall als Schwerpunktstreik betrieben, der Modellcharakter für die Zukunft gewinnen sollte. Um das Durchhaltevermögen der Streikenden und ihrer Familienangehörigen zu stärken, wurde der Arbeitskampf mit einem dichten Programm von Freizeit- und Kulturveranstaltungen begleitet. Die Arbeitsniederlegung endete mit dem Ergebnis, dass die Metallarbeiter bei Erkrankung vom vierten Tag an 90 Prozent des Nettolohns erhielten und die Zahl der Urlaubstage nach Altersgruppen gestaffelt erhöht werden konnte.23 Mit der stufenweisen Durchsetzung der Arbeitszeitverkürzung wurde das Tor zur Freizeit- und Konsumwelt immer weiter aufgestoßen. Aus Gegnern einer Wirtschaftsordnung wurden Skeptiker und aus Skeptikern zu einem großen Teil Befürworter. Durch ihre Erfolge entfernten sich die Gewerkschaften zugleich von den Formen und Zielen der klassischen Arbeiterbewegung. Nachdem bereits 1957 in einer empirischen Studie zum Selbstbild von Hüttenarbeitern festgehalten worden war, dass sich unter ihnen nur noch wenige Ansätze eines Klassenbe wusstseins bewahrt hatten, warfen Soziologen wie Hans Paul Bahrdt wenige Jahre darauf die keineswegs ironisch gemeinte Frage auf: „Gibt es noch ein Proletariat?“24 Zu diesem Zeitpunkt war kaum noch einer der Arbeiter bereit, sich unter diesem einstmals als Ehrentitel aufgenommenen Begriff klassifizieren zu lassen. Für die meisten von ihnen hatte nach NS-Zeit und Zweitem Weltkrieg nun die Teilhabe am wirtschaftlichen Wohlstand höchste Priorität.
23Vgl.
Kraushaar, Die Protest-Chronik (wie Anm. 9), Bd. 3: 1957–1959, S. 1580 f. Feuersenger (Hrsg.), Gibt es noch ein Proletariat? Dokumentation einer Sendereihe des Bayerischen Rundfunks, Frankfurt a.M. 1962, mit Beiträgen von Hans Paul Bahrdt, Walter Dirks, Walter Maria Guggenheimer, Paul Jostock, Burkart Lutz und Heinz Theo Risse.
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3 Die „Halbstarken-Krawalle“ Das größte Aufsehen erregten in der Presse jedoch nicht Demonstrationen, sondern Aufläufe junger Leute, die von der Presse pejorativ als „Halbstarken-Krawalle“ bezeichnet wurden. Nachdem es bereits bei Jazz Konzerten in Hamburg und West-Berlin zu Saalschlachten gekommen war, setzte im Sommer 1956 eine regelrechte Welle jugendlicher Unmutsäußerungen ein, die zumeist zu Zusammenstößen mit der Polizei führten. Nach der Aufführung des amerikanischen Rock-‘n’-Roll-Films „Außer Rand und Band“ kam es am 9. November 1956 auch in Gelsenkirchen eine Woche lang zu immer neuen Straßenschlachten zwischen Jugendlichen und Polizeieinheiten. Zeitweilig blockierten über 1.500 „Halbstarke“ auf dem Bahnhofsvorplatz und in der Husemannstraße den Straßenverkehr. Trotz des Einsatzes von Gummiknüppeln gelang es der Polizei nicht, für einen reibungslosen Ablauf des Verkehrs zu sorgen. Bis in die Nächte hinein wurden ständig neue Blockaden errichtet. Gelsenkirchen war tatsächlich für eine Woche lang eine Stadt „außer Rand und Band“.25 Insgesamt erhielten 23 der festgenommenen Jugendlichen Anzeigen wegen Ruhestörung, groben Unfugs und Landfriedensbruchs. In zahlreichen Großstädten machten sich junge Leute in der Folge drei Sommer lang (von 1956 bis 1958) offenbar einen Sport daraus, den Straßenverkehr lahmzulegen und Ordnungshüter sowie Passanten zu verulken. Als in den Kinos der Film zu dem Bill-Haley-Titel „Rock Around the Clock“ angelaufen war, vollzogen sich die Tumulte fast immer nach demselben Schema: Das jugendliche Publikum begann bereits während der Aufführung von „Außer Rand und Band“, wie der Film ja auf Deutsch hieß, auf den Sitzen zu tanzen, zog nach der Vorstellung lärmend durch die Straßen, provozierte Verkehrsteilnehmer mit Blockadeaktionen und führte mit der daraufhin meist herbeigerufenen Polizei ein stundenlanges Katz-und-Maus-Spiel durch. Dieses Szenario wiederholte sich häufig gleich an mehreren Abenden hintereinander. Die „Halbstarken“ sind zweifelsohne ein schillerndes soziales Phänomen gewesen. So schillernd, dass die soziologische Theorie bis auf den heutigen Tag große Probleme hat, es theoretisch zu durchdringen. Dem Historiker und Politikwissenschaftler Thomas Grotum, der eine Monografie zu dem Thema vorgelegt hat, ist durchaus zuzustimmen, wenn er am Ende seiner Studie zu dem Schluss kommt, dass gerade „in der politischen und ideologischen Unbestimmtheit“ eines
25Vgl.
Kraushaar, Die Protest-Chronik (wie Anm. 9), Bd. 2, S. 1511 f.
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der charakteristischen Merkmale dieser Jugendsubkultur liege.26 Vieles wirkte wie eine Vorwegnahme der antiautoritären Bewegung von 1967/68 – allerdings in gewisser Weise politisch entkernt. Der Journalist und spätere „Panorama“-Moderator Peter Merseburger bezeichnete die „Halbstarken“ 1956 als „Rebellen ohne Ziel“ und kommentierte ihr Verhalten mit den Worten: „Die Tatsache, dass die 14-, 15- und 16jährigen sich heute beim Anblick eines Polizisten nicht gleich aus dem Staube machen, lässt immerhin den Schluss zu, sie könnten, einmal erwachsen, als Staatsbürger Zivilcourage zeigen – eine Tugend, mit der es bei den meisten ihrer Väter im argen liegt.“27
Diese Formulierung war wohlwollend und gab das damalige Meinungsbild gewiss nicht in seinen Mehrheitsverhältnissen wieder. Hier besaßen noch immer die Ressentiments gegenüber den rebellierenden Jugendlichen die Oberhand.
4 Das organisatorische Rückgrat der Protestkampagnen Der Protest in den 1950er Jahren unterschied sich in gravierender Form von dem Protest der End-1960er. Auffällig ist schon allein die sehr viel stärkere quantitative Dimension bestimmter Kampagnen. So waren 1952 in der Kampagne gegen das Betriebsverfassungsgesetz und 1958 in derjenigen gegen die Atombewaffnung der Bundeswehr Hunderttausende von Bundesbürgern auf den Straßen. Der Grund dafür lag zunächst einmal darin, dass es Großorganisationen wie der DGB und die SPD waren, die zum Protest aufriefen und die Aktionen organisierten. Ins Auge sticht aber auch, dass sich die damaligen Akteure in ihrem Selbstverständnis anders, nämlich noch sehr viel konventioneller definierten. Es ging ihnen um politische und materielle Interessen, nicht aber um Emanzipation und damit um Selbstveränderung im Kontext ihrer Protestaktivitäten. Eine Forderung wie die, dass das Politische privat und das Private politisch werden müsse, war den Akteuren der 1950er Jahre völlig fremd. Für die Rolle der Polizei
26Thomas
Grotum, Die Halbstarken. Zur Geschichte einer Jugendkultur der 50er Jahre, Frankfurt a.M./New York 1994, S. 223. 27Peter Merseburger, Rebellen ohne Ziel, Hannoversche Presse vom 25.8.1956.
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lässt sich daraus ableiten: Kam es zu gewaltsamen Zusammenstößen mit den Ordnungshütern, dann lag dies nicht an einer militanten Grundeinstellung der Demonstrierenden, sondern vielmehr umgekehrt an der obrigkeitsstaatlichen Grundeinstellung der Polizei und der hinter ihr stehenden politischen Kräfte.
Wolfgang Kraushaar, Dr. phil., ist Politikwissenschaftler an der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind Protestbewegungen und linker Terrorismus.
Gesellschaftlicher Aufbruch und Protest von der Außerparlamentarischen Opposition bis zu den Neuen Sozialen Bewegungen Sabine Mecking Zusammenfassung
Seit den späten 1960er Jahren ist innerhalb der bundesrepublikanischen Bevölkerung ein neuer Anspruch auf Mitsprache und Partizipation zu vernehmen. In Westdeutschland ist – genau wie in zahlreichen anderen Ländern Europas und den USA auch – ein deutlicher Anstieg des Protestgeschehens auszumachen. Mit neuen Protestformen und Symbolen etablierten und konsolidierten sich neue politische Rituale und Bräuche. Gleichwohl kann man eine regionale und sektorale Ungleichzeitigkeit dieser Veränderungen beobachten. Es ist somit zu fragen, wer diesen grundlegenden Wandel in der Gesellschaft einforderte und trug und was die Ziele, Themen und Aktionsformen dieser neuen Partizipations- und Protestinitiativen waren. Anfang der 1960er Jahre wurde innerhalb der Politikwissenschaft ein Bild vom unpolitischen Deutschen gezeichnet. Im internationalen Vergleich seien das politische Bewusstsein und die politische Aktivität der bundesdeutschen Bevölkerung zwar „hochentwickelt“, aber „passiv und formal“. Die in Deutschland festzustellende hohe Wahlbeteiligung werde vom Bürger „als eine informelle Art politischer Teilnahme“ begriffen. Demgegenüber sei die Beteiligung an „politischen Diskussionen und die Mitwirkung in politischen Aktionsgruppen“ lediglich „in geringem Umfang“ vorhanden. Überhaupt seien „Normen, die eine S. Mecking (*) FB Geschichte und Kulturwissenschaften, Philipps-Universität Marburg, Marburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Mecking (Hrsg.), Polizei und Protest in der Bundesrepublik Deutschland, Geschichte und Ethik der Polizei und öffentlichen Verwaltung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29478-6_3
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aktive politische Beteiligung“ unterstützten, kaum ausgebildet. Verbreitet sei die Haltung, dass sich die Bürgerpflicht im Wahlakt erschöpfe.1 Nur anderthalb Jahrzehnte später wurden weitreichende Veränderungen im politischen Verhalten der Bürger und Bürgerinnen konstatiert. Gestützt auf empirische Studien schrieb man nun der bundesrepublikanischen Gesellschaft ein erhebliches Potenzial zu, Bürgerwillen zu artikulieren, und dies zunehmend auch mittels unkonventioneller Beteiligungs- und Verhaltensweisen. Auch der Anteil der Bevölkerung, der den politischen Teil der Tagespresse und entsprechende Magazine las, sich an politischen Diskussionen beteiligte und an Versammlungen und Demonstrationen teilnahm, war gestiegen.2 Seit den späten 1960er Jahren ist innerhalb der Bevölkerung deutlich ein neuer Anspruch auf Mitsprache und Partizipation zu vernehmen. Dieser grundlegende gesellschaftliche Wandel der Bundesrepublik ging mit der Ausweitung der Leistungsverwaltung und der zur Dienstleistungsgesellschaft sich öffnenden Beschäftigungsstruktur einher. Auch der wachsende Wohlstand in weiten Kreisen der Bevölkerung, die daraus resultierende Ausbildung neuer Lebensstile und der Ausbau des Bildungssystems trugen zum Wandel bei. Die Zeit wurde somit durch Aufbruch und Reformen geprägt.3 In Westdeutschland ist – genau wie in 1Gabriel
A. Almond/Sidney Verba, The Civic Culture. Political Attitudes and Democracy in five Nations, Little Brown 1963, zit. nach Dieter Grunow/Hildegard Pamme, Kommunale Verwaltung: Gestaltungsspielräume und Ausbau von Partizipationschancen, in: Matthias Frese/Julia Paulus/Karl Teppe (Hrsg.), Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik, 2. Aufl., Paderborn 2005, S. 505–528, hier S. 508. Der vorliegende Beitrag basiert auf meinen Veröffentlichungen: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 64 (2013), Schwerpunkthema: Bürgerproteste in der Geschichte; Bürgerwille und Gebietsreform. Demokratieentwicklung und Neuordnung von Staat und Gesellschaft in Nordrhein-Westfalen 1965–2000, München 2012. 2Vgl. Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), Rahmenthema: Die Siebzigerjahre. Gesellschaftliche Entwicklungen in Deutschland; Axel Schildt/Detlef Siegfried/Karl Christian Lammers (Hrsg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in beiden deutschen Gesellschaften, 2. Aufl., Hamburg 2003. 3Vgl. Martin Löhnig/Thomas Schlemmer/Mareike Preisner (Hrsg.), Reform und Revolte. Eine Rechtsgeschichte der 1960er und 1970er Jahre, Tübingen 2012; Michael Prinz (Hrsg.), Gesellschaftlicher Wandel im Jahrhundert der Politik. Nordwestdeutschland im internationalen Vergleich 1920–1960, Paderborn u. a. 2007; Frese/Paulus/Teppe, Demokratisierung (wie Anm. 1); Jörg Calließ (Hrsg.), Die Reformzeit des Erfolgsmodells BRD. Die Nachgeborenen erforschen die Jahre, die ihre Eltern und Lehrer geprägt haben (Loccumer Protokolle 19/03), Rehburg-Loccum 2004; Ulrich Herbert (Hrsg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945–1980, Göttingen 2002.
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zahlreichen anderen Ländern Europas und den USA auch – nun ein deutlicher Anstieg des Protestgeschehens auszumachen.4 Die Fachliteratur spricht hierbei von „Bewegungsgesellschaften“, in denen Bürger auf direkte Weise mit unkonventionellen Mitteln wie z. B. Kundgebungen, Mahnwachen, Besetzungen von zentralen Plätzen oder Sit-Ins auf soziale oder politische Missstände aufmerksam machen. Veränderungen in den Lebensweisen und der politischen Kultur, die mit „1968“ als Chiffre für eine längerfristige Umbruchphase beschrieben werden, traten in der dritten Nachkriegsdekade offen zutage. Gleichwohl ist allerdings die regionale und sektorale Ungleichzeitigkeit dieser Veränderungen zu betonen.5 Es ist somit zu fragen, wer diesen grundlegenden Wandel in der Gesellschaft einforderte und trug und was die Ziele, Themen und Aktionsformen dieser neuen Partizipations- und Protestinitiativen waren.
1 Aktionsgemeinschaften und gesellschaftlicher Rückhalt Der gesellschaftliche Aufbruch der späten 1960er Jahre zeichnete sich zunächst besonders deutlich in den Städten und hier insbesondere in den Groß- und Universitätsstädten ab. Die Diskussion um die Notstandsgesetze, das Fehlen einer starken Opposition im Bundestag und erstarrte Gesellschaftsstrukturen waren wesentliche Kristallisationskerne für die Bildung der Außerparlamentarischen Opposition (APO). Nicht zuletzt die mangelhafte Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit mobilisierte Jugendliche und junge
4Vgl.
Sabine Mecking, Vom Protest zur Protestkultur? Träger, Formen und Ziele gesellschaftlichen Aufbegehrens, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 64 (2013), H. 9/10, S. 517–529; Ulrich Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München 2014; Andres Wirsching, Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert, 3. Aufl., München 2011. 5Vgl. Belinda Davis/Wilfried Mausbach/Martin Klimke/Carla MacDougall (Hrsg.), Changing the Word, Changing Oneself. Political Protest and Collective Identities in West Germany and the US in the 1960 s, New York 2010; Roland Roth, Demokratie von unten. Neue soziale Bewegungen auf dem Weg zur politischen Institution, Köln 1994; Ansgar Klein/Rainer Schmalz-Bruns (Hrsg.), Politische Beteiligung und Bürgerengagement in Deutschland. Möglichkeiten und Grenzen, Baden-Baden 1997; Karl-Werner Brand/Detlef Büsser/Dieter Rucht, Aufbruch in eine andere Gesellschaft. Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik, Frankfurt a.M./New York 1986; Peter Reichel, Politische Kultur der Bundesrepublik, Opladen 1981, S. 110–220.
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Erwachsene. Die Parole „Unter den Talaren – Muff von 1.000 Jahren“ bündelte die Kritik der Studentenbewegung. Mit Bezug auf das „Dritte Reich“ wurden tradierte starre universitäre und gesellschaftliche Strukturen und Konventionen infrage gestellt und abgelehnt. Die Forderungen der APO bezogen sich zunächst auf die Liberalisierung und Demokratisierung des Universitätsbetriebes durch studentische Mitbestimmung. Doch schon bald gingen sie hierüber hinaus und schlossen allgemein die Verhältnisse in der Bundesrepublik und überhaupt in der Welt ein. Im Einklang mit der internationalen Bürgerrechtsbewegung, richteten sich die Proteste gegen politische Bevormundung, den Vietnamkrieg und unfaire Gesellschaftsstrukturen und -verhältnisse. Nach der Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg während der Demonstrationen gegen den Besuch des persischen Schahs und seiner Frau am 2. Juni 1967 durch einen Polizisten und dem Attentat auf den charismatischen Wortführer der Studentenbewegung, Rudi Dutschke, wurde knapp ein Jahr später der Aufruhr militanter und ging mit heftigen Straßenunruhen einher.6 Auf diese Weise sollte das als „miefig“ und faschistisch empfundene Nachkriegsdeutschland wachgerüttelt werden. Erst mit dem Wechsel von der Großen zur sozialliberalen Koalition in Bonn 1969 und den von der Regierung Brandt erwarteten Reformen schwächten sich die Proteste und Unruhen wieder ab. Ein kleiner Teil der Bewegung radikalisierte sich jedoch weiter und driftete in den bewaffneten Kampf ab. In den 1970er Jahren erschütterten terroristische Anschläge die bundesrepublikanische Gesellschaft. Der Linksterrorismus in Form von „Bewegung 2. Juni“ und „Rote Armee Fraktion“ (RAF) forderte den deutschen Staat durch Gewalttaten heraus.7 So markant sich die Protestwelle „68“ und die Aktivitäten der APO auch in das kulturelle Gedächtnis eingebrannt haben, zeigt sich bei genauerer Analyse, dass das umfangreiche Protestgeschehen von einer vergleichsweise kleinen und sozial homogenen Gruppe initiiert wurde. Mit Studenten, Schülern und Lehrlingen waren es vor allem Angehörige der bürgerlichen Mittelschicht, die Ende der
6Vgl.
Eckard Michels, Schahbesuch 1967. Fanal für die Studentenbewegung, Berlin 2017, S. 223–234. 7Vgl. Norbert Frei, 1968. Jugendrevolte und globaler Protest, München 2008; Wolfgang Kraushaar, Achtundsechzig. Eine Bilanz, Berlin 2008; Ingrid Gilcher-Holtey, Die 68er Bewegung. Deutschland – Westeuropa – USA, München 2008; Martin Klimke/Joachim Scharloth (Hrsg.), 1968. Handbuch zur Kultur- und Mediengeschichte der Studentenbewegung, Stuttgart 2007; Christina von Hodenberg/Detlef Siegfried (Hrsg.), Wo „1968“ liegt. Reformen und Revolte in der Geschichte der Bundesrepublik, Göttingen 2006; siehe auch Christina von Hodenberg, Das andere Achtundsechzig, München 2018.
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1960er Jahre ihren Unmut über die gesellschaftspolitischen Verhältnisse energisch zum Ausdruck brachten. Darüber hinaus konnten weder die Arbeiterschaft noch andere größere Bevölkerungsgruppen mobilisiert werden.8 Gleichwohl hinterließ das gezeigte unkonventionelle politische Verhalten Spuren. In der Folge etablierte sich eine neue Form der bürgerlichen Mitsprache. In den 1970er Jahren gründeten sich allerorts Bürgerinitiativen.9 Die Bevölkerung zeigte eine wachsende Bereitschaft zu unkonventioneller politischer Partizipation, d. h. sich zu Fragen der Gesellschaft und Politik außerhalb der vom Institutionensystem angebotenen Formen und Wege zu positionieren. Zeitgenossen sprachen schließlich von einer Bürgerinitiativbewegung im Sinne einer sozialen Bewegung.10 Dieser Prozess der „Fundamentalpolitisierung“11 bzw. treffender der „Fundamentaldemokra tisierung“ war durch den zunehmenden Anspruch der Gesellschaft auf Mitsprache gekennzeichnet. Die sich nun etablierenden Initiativen und sozialen Bewegungen bezogen ihre Forderungen immer weniger auf einzelne soziale oder politische Interessengruppen und -schichten. Vielmehr machten jetzt Bürgerinnen und
8Vgl. Heinz Bude, Achtundsechzig, in: Etienne François/Hagen Schulze (Hrsg.), Deutsche Erinnerungsorte. Lizenzausgabe BpB, Bonn 2005, S. 418–430; Swen Hutter/Simon Teune, Politik auf der Straße. Deutschlands Protestprofil im Wandel, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 62 (2012), Nr. 25/26 vom 18.6.2012, S. 9–17. 9Vgl. Alexandra Jaeger/Julia Kleinschmidt/David Templin (Hrsg.), Den Protest regieren. Staatliches Handeln, neue soziale Bewegungen und linke Organisationen in den 1970er und 1980er Jahren, Essen 2018; Julia Paulus (Hrsg.), „Bewegte Dörfer“. Neue soziale Bewegungen in der Provinz 1970–1990, Paderborn 2018; Roland Roth/Dieter Rucht (Hrsg.), Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Handbuch, Frankfurt a.M./ New York 2008. 10Vgl. Peter Cornelius Mayer-Tasch, Die Bürgerinitiativbewegung. Der aktive Bürger als rechts- und politikwissenschaftliches Problem, 5. Aufl., Reinbeck 1985 [Erstdruck 1976]; Dieter Rucht, Die Bürgerinitiativbewegung – Entwicklungsdynamik, politisch-ideologisches Spektrum und Bedeutung für die politische Kultur, in: Peter Grottian/Wilfried Nelles (Hrsg.), Großstadt und neue soziale Bewegungen, Basel u. a. 1983, S. 57–82; Roland Roth, Das Ende des politischen Biedermeier? Bürgerinitiativen in der Bundesrepublik, in: Volkhard Brandes/Joachim Hirsch/Roland Roth (Hrsg.), Leben in der Bundesrepublik. Die alltägliche Krise, Berlin 1980, S. 203–235. 11So Bernd Faulenbach mit Rückgriff auf Karl Mannheim (1935), Bernd Faulenbach, Die Siebzigerjahre – ein sozialdemokratisches Jahrzehnt?, in: Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), S. 1–37, hier S. 6.
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Bürger grundsätzlich deutlich, dass Demokratie neben institutionell verfassten Aktionsräumen auch von einem freien politischen Engagement, von einer „civic culture“ lebt.12 Der Mobilisierungsgrad der Bevölkerung erreichte in den 1980er Jahren Maximalwerte. In der Hochphase der Neuen Sozialen Bewegungen hatte sich die gesellschaftliche Trägerschicht der öffentlichen Unmutsdemonstration um ein Vielfaches verbreitert.13 Die Massendemonstrationen gegen Atomkraft und das Wettrüsten der Supermächte zu Beginn der 1980er Jahre unterstreichen die starke Mobilisierung weiter Kreise der Bevölkerung. Ende Februar 1981 demonstrierten 100.000 Menschen – trotz eines Verbots – gegen den Bau des Atomkraftwerks im schleswig-holsteinischen Brokdorf. An der Protestveranstaltung gegen den NATO-Doppelbeschluss im gleichen Jahr im Bonner Hofgarten nahmen rund 300.000 Menschen teil, um für ein atomwaffenfreies Europa einzutreten. Die breiteste Unterstützung erfuhren diese Bewegungen in den jüngeren und mittleren Altersgruppen der „neuen Mittelschicht“. Die Unterstützer besaßen häufig überdurchschnittliche Bildungsabschlüsse.14
12Vgl.
Roland Roth, Lokale Demokratie „von unten“. Bürgerinitiativen, städtischer Protest, Bürgerbewegungen und neue soziale Bewegungen in der Kommunalpolitik, in: Hellmut Wollmann/Roland Roth (Hrsg.), Kommunalpolitik. Politisches Handeln in den Gemeinden, 2. Aufl., Bonn 1999, S. 2–22; Dieter Rucht, Planung und Partizipation. Bürgerinitiativen als Reaktion und Herausforderung politisch-administrativer Planung, München 1982, S. 209–227; Bernd Guggenberger/Udo Kempf (Hrsg.), Bürgerinitiativen und repräsentatives System, Opladen 1978, S. 358–374; Almond/Verba, The Civic Culture (wie Anm. 1). 13Vgl. Roth/Rucht, Die sozialen Bewegungen (wie Anm. 9); Holger Nehring, Protestkultur und Bürgerlichkeit. Anti-Atomwaffenproteste und Nachkrieg in der frühen Bundesrepublik, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 64 (2013), S. 555–570. 14Vgl. Christoph Becker-Schaum/Philipp Gassert/Martin Klimke/Wilfried Mausbach/Marianne Zepp (Hrsg.), „Entrüstet Euch!“ Nuklearkrise, NATO-Doppelbeschluss und Friedensbewegung, Paderborn 2012; siehe weiter Holger Nehring, Die Anti-Atomwaffen-Proteste in der Bundesrepublik und in Großbritannien. Zur Entwicklung der Ostermarschbewegung 1957–1964, in: vorgänge 42 (2003), S. 22–31.
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2 Ziele und Aktionsweisen der Protestinitiativen Die Studentenunruhen und „68er“-Proteste waren durch drei Themen bestimmt: durch den Antifaschismus, den Antikapitalismus und den Antiimperialismus. Ersterer richtete sich gegen die Nichtauseinandersetzung mit der jüngsten deutschen Vergangenheit, die beiden anderen Haltungen kritisierten eine auf Ausbeutung und sozialer Ungerechtigkeit basierende Wirtschaftsordnung sowie die Unterjochung der Länder der „Dritten Welt“. Den bevorzugten Aktionsraum für Protestinitiativen bildeten die größeren Städte. Neuere Forschungen nehmen zwar seit einiger Zeit stärker auch die Entwicklungen in ländlichen Regionen in den Blick und weisen auch hier den gesellschaftlichen Aufbruch nach.15 Gleichwohl erzeugte aber z. B. die Wohn- und Verkehrssituationen in den Städten einen besonderen Problemdruck, zudem war in ihnen ein größeres „kritisches Milieu aus Akademikern, Studenten und Intellektuellen“ vorhanden.16 Die „neue“ Politisierung der Gesellschaft wurde auf vielfältige Weise sichtbar, so etwa auch, als die Fahrpreise im öffentlichen Personennahverkehr angehoben wurden. Diese Preiserhöhung rief 1969 in Hannover und dann Anfang der 1970er Jahre in Dortmund und anderen Ruhrgebietsstädten erhebliche (Jugend-)Proteste hervor, die von der DKP und sozialistischen Verbänden forciert wurden und nicht zuletzt in Zusammenstößen mit der Polizei endeten. Die Dortmunder Staatsanwaltschaft bilanzierte Anfang April 1971 mehr als 300 vorläufige Festnahmen. Gleichzeitig solidarisierten sich in friedlichen Aktionen Autofahrer und Nutzer des Öffentlichen Personennahverkehrs unter dem Symbol des „Roten Punkts“, indem Pkw-Fahrer mit rotem Punkt an der Windschutzscheibe die an den Bahn- und Bushaltestellen wartenden Personen unentgeltlich mitnahmen (s. Abb. 1).17
15Siehe
Julia Paulus (Hrsg.), „Bewegte Dörfer“. Neue soziale Bewegungen in der Provinz, 1970–1990, Paderborn 2018. 16Vgl. Adelheid von Saldern, Integration und Fragmentierung in europäischen Städten. Zur Geschichte eines aktuellen Themas, in: Archiv für Sozialgeschichte 46 (2006), S. 3–60, hier S. 15–17; Grunow/Pamme, Kommunale Verwaltung (wie Anm. 1), S. 505–528; Oscar W. Gabriel, Bürgerbeteiligung an der Kommunalpolitik, in: ders. (Hrsg.), Kommunale Demokratie zwischen Politik und Verwaltung, München 1989, S. 129–155. 17Hans-Heinrich Bass, Verkehrspolitik unter dem Druck der Straße. Die Dortmunder Fahrpreisunruhen von 1971, in: Werkstatt Geschichte (2013), H. 61, S. 49–64; Anna Christina Berlit, Notstandskampagne und Rote-Punkt-Aktion. Die Studentenbewegung in Hannover 1967–1969, Bielefeld 2007, S. 125–143.
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Abb. 1 Roter-Punkt-Demonstration in der Essener Innenstadt 1971 (Privatbesitz Klaus Brück, Essen [Sammlung Frank Kawelovski, Mülheim])
Spätestens in den 1970er Jahren zeichnete sich das neue, stärker basisdemokratisch geprägte Demokratieverständnis, das auch unkonventionelle Willensbekundungen einschloss, immer deutlicher ab. Dabei rückten vor allem immaterielle Werte in den Fokus. Hatte in den frühen Nachkriegsjahrzehnten etwa die unzureichende Lebensmittelversorgung oder die Wiederbewaffnungsdebatte die Gemüter erregt, ging es nun grundsätzlich um den Umweltschutz, den Weltfrieden oder um die Gleichberechtigung der Geschlechter. Inhaltliche Bezugspunkte waren des Weiteren Bürger- und Menschenrechte sowie selbstverwaltete Lebens- und Arbeitsbedingungen. Dabei wurden nicht zuletzt auch radikaldemokratische Forderungen mit solidarischen Lebensweisen verbunden. So gehörten etwa die Hausbesetzer-Szene und militante „autonome“ Gruppen ebenfalls zum Bewegungsmilieu.18 Die Protestinitiativen sahen im staatlichen Handeln nicht zuletzt ein Übergewicht der Bürokratie gegenüber dem Parlament, sodass die Bürgermeinung auf
18Roland
Roth/Dieter Rucht, Einleitung, in: Roth/Rucht, Die sozialen Bewegungen (wie Anm. 9), S. 9–36.
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der Strecke bleiben musste. Später wurde eine Verselbstständigung der Parteien gegenüber dem Wähler und Bürger kritisiert.19 Das gestiegene Selbstbewusstsein der Bürger und die zunehmende Einforderung unmittelbarer Teilhabe an politischen und sozialen Entscheidungsprozessen zeigte sich auch bei den in den 1980er und 1990er Jahren in die Kritik geratenen kommunalen Problemfeldern, etwa im Bereich der Verkehrsplanung und -beruhigung, der Stadt- und Haussanierungen oder im Schul- und Jugendbereich. In politik- und sozialwissenschaftlichen Studien werden die frühen städtischen sozialen Bewegungen bis Anfang der 1980er Jahre noch explizit in den Kontext einer größeren antiautoritären Bewegung gestellt, die auf den Erfahrungen der „68er“-Unruhen basierte. Das kommunale Bewegungsfeld der 1990er Jahre gestaltet sich demgegenüber viel ausdifferenzierter und vielfältiger.20 Ziel der sozialen Bewegungen war es, im regionalen, nationalen und auch internationalen Rahmen Einfluss auf Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu nehmen. Ihre Organisationsstrukturen gestalteten sich vielfältig und dezentral. Die Bewegungen verfügten über komplexe Netzwerke, die informelle Gruppen auf lokaler Ebene und hierarchisch gegliederte Einrichtungen auf Landesebene sowie international agierende Organisationen integrierten. Sie agierten nach der Maxime „global denken, lokal handeln“.21 Hieraus gingen Parteien wie
19Siehe
auch Jürgen Habermas, Kultur und Kritik. Verstreute Aufsätze, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1977 [Erstdruck 1973], S. 21, 28 f. 20Margit Mayer, Städtische soziale Bewegungen, in: Ansgar Klein/Hans-Josef Legrand/ Thomas Leif (Hrsg.), Neue soziale Bewegungen. Impulse, Bilanzen und Perspektiven, Opladen/Wiesbaden 1999, S. 257–271, hier S. 257; dies., Städtische soziale Bewegungen, in: Roth/Rucht, Die sozialen Bewegungen (wie Anm. 9), S. 293–318; siehe auch Christoph Bernhardt, Städtische öffentliche Räume im 20. Jahrhundert im Spannungsfeld von Planung, Stadtgesellschaft und Politik, in: ders., Städtische öffentliche Räume/Urban public spaces. Planungen, Aneignungen, Aufstände 1945–2015/Planning, appropriation, rebellions 1945–2015, Stuttgart 2016, S. 9–30. 21Vgl. Roth, Lokale Demokratie (wie Anm. 12), S. 6; siehe weiter Alan Marsh/Max Kaase, Background of Political Action, in: Samuel H. Barnes/Max Kaase u. a. (Hrsg.), Political Action. Mass Participation in Five Western Democracies, Beverly Hills/London 1979, S. 97–136; Max Kaase, Bedingungen unkonventionellen politischen Verhaltens in der Bundesrepublik Deutschland, in: Peter Graf Kielmansegg (Hrsg.), Legitimationsprobleme politischer Systeme, Opladen 1976, S. 179–216; Sigrid Baringhorst/Veronika Kneip/ Johanna Niesyto, Wandel und Kontinuität von Protestkulturen seit den 1960er Jahren. Eine Analyse ausgewählter Anti-Corporate Campaigns, in: Sigrid Baringhorst/Veronika Kneip/ Johanna Niesyto/Anne März (Hrsg.), Politik mit dem Einkaufswagen. Unternehmen und Konsumenten als Bürger in der globalen Mediengesellschaft, Bielefeld 2007, S. 109–136.
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Die Grünen hervor, ohne dass sie in ihnen aufgingen. Die Grünen feierten zunächst mit Grünen und Bunten Listen vor Ort Wahlerfolge und schlossen sich dann 1980 auf Bundesebene in Karlsruhe zusammen.22 Über Fahnen, Anstecker, Aufkleber oder Kleidung wurden Forderungen und politische Statements symbolhaft zugespitzt. Symbole, Farben, Slogans und Lieder fungierten zum einen als einprägsame und werbewirksame Träger politischer Botschaften,23 zum anderen evozierten und manifestierten sie kollektive Identität. Die Inbesitznahme einer Straße oder eines öffentlichen Platzes gehörte genauso zum symbolischen Handeln wie die Konstruktion von Gemeinschaft über Menschen- und Lichterketten. Die Protestformen und das Aktionsrepertoire reichten von Unterschriftensammlungen, Informationstreffen und Lobbying über Demonstrationen und Formen des zivilen Ungehorsams bis hin zur Anwendung von Gewalt.24 Aus den Reihen der etablierten bzw. institutionalisierten (Parteien-)Politik, Verwaltung und Polizei wurde der Vorwurf erhoben, dass die Protestinitiativen eine Emotionalisierung betrieben, die einer „nüchternen Politik“ und rationalen Problemlösungen zuwiderliefen. Es bestand häufig noch kein Verständnis dafür, dass die Bürgervereinigungen – im Gegensatz zu den etablierten Entscheidungsträgern – darauf angewiesen waren, stärker an Emotionen zu appellieren: Den Protestinitiativen fehlten in der Regel formelle Repräsentationsorgane und Entscheidungsverfahren sowie klare Kriterien der Mitgliedschaft. Um Menschen über eine erste Empörung hinaus längerfristig zu binden, waren thematische Zuspitzungen und Dramatisierungen unabdingbar. Auf diese Weise wurde Solidarität erzeugt und verstärkt, um die Mitstreiter stets aufs Neue zu motivieren. Gleichzeitig zogen die Protestinitiativen aber auch Sachverständige zu Rate und eigneten sich Expertenwissen an. Sie informierten ihre Anhänger bzw. die Bürger durch Stellungnahmen, Fachvorträge und Podiumsdiskussionen.
22Bereits
1979 war mit der Bremer Grünen Liste erstmals eine grüne Landesliste in ein Parlament eingezogen, 1983 gelang dies den Grünen zum ersten Mal bei einer Bundestagswahl. Die Grünen waren damit die erste auf Bundesebene erfolgreiche Parteineugründung seit 1950. Von 1985 bis 1987 stellten sie mit Joschka Fischer in Hessen erstmals einen Landesminister. 23Vgl. Sabine Mecking/Yvonne Wasserloos (Hrsg.), Musik – Macht – Staat. Kulturelle, soziale und politische Wandlungsprozesse in der Moderne, Göttingen 2012; dies., “As the crowd would sing”. Musik als politisches Ereignis, in: Archiv für Kulturgeschichte 96 (2014), H. 2, S. 341–368. 24Siehe zu den Protestformen in längerfristiger historischer Perspektive Paul Nolte, Formen des Protests, Muster der Moderne, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 64 (2013), S. 584–599.
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Emotionen und Fachinformationen stellten (neben den Appellen an die institutionalisierte Politik und Verwaltung) unverzichtbare Bausteine der Arbeitsweise von Protest- und Bürgerinitiativen dar. Über (spektakuläre) Protestaktionen erreichten sie eine große mediale Aufmerksamkeit. Die Proteste konnten bisweilen sogar Party- und Volksfestcharakter haben.25 Nicht wenige Aktionsgemeinschaften und Bürgerinitiativen stützten sich bei ihrer Arbeit auf die Hilfe von Werbeagenturen. Die zunehmende Professionalisierung des Protests betraf aber auch die enge Zusammenarbeit mit den Medien. In den 1960er bis 1980er Jahren waren es vor allem die Tageszeitungen als zentrale Träger der öffentlichen Meinung, die über Protestaktionen berichteten und den Organisatoren eine mediale Plattform boten. Dabei waren und sind die Medien nicht nur Berichterstatter, sondern auch Stimmungsmacher und Multiplikatoren.26 Die damit einhergehende Ökonomisierung des Protests soll an dieser Stelle nur mit dem Verweis auf die Tätigkeit von Public-Affairs-Agenturen angedeutet werden, die sich auf die strategische Beratung und Vermarktung von „Krisenkommunikation“ spezialisiert haben. Das Protestgeschehen war allerdings keinesfalls immer legal und friedlich, es konnte auch in gewalttätige Ausschreitungen ausarten, wie die bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und radikalen Aktivisten an den Bauzäunen der Kernkraftwerke seit Mitte der 1970er Jahre offenbarten (s. Abb. 2). Doch erst mit der allgemeinen Abstandnahme von politisch revolutionären Zielvorstellungen und vor allem mit der Distanzierung von Gewaltanwendung wurden die bereits von den „68ern“ erprobten, neuen Protestformen in den folgenden Jahrzehnten auch für größere Bevölkerungskreise annehmbar. Zunächst eher zögerlich mit dem Hinweis, dass man nicht „extrem“ sei, dann immer selbstbewusster mit Verweis auf die verfassungsmäßig garantierten Rechte erweiterten immer mehr Menschen ihr politisches Handlungsrepertoire. Indem nicht nur die Legitimität, sondern auch die Legalität eines Protests und eines „freien“ politischen Engagements hervorgehoben wurde, grenzten sich die mobilisierten Bürger von anderen gesellschaftlichen Protesten und vor allem von gewaltbereiten „Extremen“ ab. Der grundsätzliche Wille zur Deeskalation des Protests
25Vgl.
Mecking, Bürgerwille (wie Anm. 1), S. 133–141, 207–214. Weisbrod (Hrsg.), Die Politik der Öffentlichkeit – Die Öffentlichkeit der Politik. Politische Medialisierung in der Geschichte der Bundesrepublik, Göttingen 2003; siehe auch Christina von Hodenberg, Konsens und Krise. Eine Geschichte der westdeutschen Medienöffentlichkeit 1945–1973, Göttingen 2006; Andreas Schulz, Der Aufstieg der „vierten Gewalt“. Medien, Politik und Öffentlichkeit im Zeitalter der Massenkommunikation, in: Historische Zeitschrift 270 (2000), S. 65–97.
26Bernd
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Abb. 2 Anti-Atomkraft-Protest in Brokdorf am 10. Februar 1981 (NRZ-Archiv, Essen, Fotosammlung [Foto Friedhelm Zingler])
spiegelte sich z. B. darin wider, dass Demonstranten Kerzen und keine Steine in den Händen hielten. Die Mehrheit der Demonstranten distanzierte sich (trotz teils anfänglicher Sympathie für deren Ziele) von der linksradikalen Militanz in den 1970er Jahren oder von den Hausbesetzungen in den 1980er Jahren.27 Grundsätzlich lassen sich verschiedene Eskalationsstufen des gesellschaftlichen Aufbegehrens unterscheiden. Neben dem appellativen Protest, wie z. B. Unterschriftensammlungen, und dem demonstrativen Protest mittels Informationsveranstaltungen oder Sternmärschen sind auch konfrontative und gewalttätige Proteste zu nennen. Zu den konfrontativen Protestformen gehörten unangemeldete Demonstrationen, Sitzblockaden und leichte Sachbeschädigungen, die gewalttätigen Formen umfassten Brand- und Sprengstoffanschläge (schwere Sachbeschädigung) und Gewalt gegen Personen.28 Für die allgemeine Akzeptanz von gewaltsamen (Massen-)Protesten ist weiter zu differenzieren, ob sich die Gewalt gegen Gegenstände oder Personen richtete und welcher Zweck ihr zugeschrieben wurde.
27Siehe
hierzu auch Thomas Kleinknecht/Michael Sturm, „Demonstrationen sind punktuelle Plebiszite“. Polizeireformen und gesellschaftliche Demokratisierung von den Sechziger- zu den Achtzigerjahren, in: Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), S. 181–218. 28Hutter/Teune, Politik (wie Anm. 8), S. 15 f.; Roth, Lokale Demokratie (wie Anm. 12), S. 2–22.
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Für die seit den 1970er Jahren festzustellende zunehmend positive Rezeption der Bürgerproteste war die Absage an Aggression und Gewalt grundlegend. Anders als etwa die „Autonomen“, die subkulturelle Aktionsräume jenseits von Staat und Massengesellschaft suchten, distanzierten sich die Neuen Sozialen Bewegungen in der Regel von gewaltbehafteten Aktionen – und dies auch bei Forderungen nach einer Transformation der Gesellschaft.29 Je weniger das Protestgeschehen zu eskalieren drohte und von gewalttätigen Ausschreitungen begleitet war, desto „kultivierter“ erschien es und desto höher war seine gesellschaftliche Akzeptanz. Betrachtet man etwa die legendäre Friedensdemonstration im Bonner Hofgarten 1981, so ist neben der großen Teilnehmerzahl der friedliche Verlauf der Aktion besonders erwähnenswert. Dass dieser keineswegs vorauszusetzen war, unterstreichen die im Vorfeld der Großveranstaltung unternommenen Anstrengungen und Maßnahmen. So schützten z. B. Einwohner und Geschäftsleute in der Bonner Innenstadt die Türen und Fenster ihrer Wohnhäuser und Ladenlokale mit Bretterverschlägen.
3 Schlussbemerkungen: Protest als „civic culture“ Die Trägerschicht des zivilgesellschaftlichen Engagements und der artikulierten Kritik am politischen Establishment hat sich im Betrachtungszeitraum enorm verbreitert. Die Vielfalt der Argumente, die systematische Auseinandersetzung mit verschiedenen Standpunkten, überhaupt die enorme Resonanz zeugen von einer Professionalisierung des Protests. Es spricht einiges dafür, im Betrachtungszeitraum eine neue Qualität des Bürgerengagements und des Protests auszumachen.30 Seit den 1970er Jahren wurde öffentlicher Protest von Seiten der Bevölkerung immer weniger als störend, als Querulantentum oder gar als Staatsgefährdung empfunden. Ein unbequemes bis widerborstiges Verhalten der Bürger im politischen Entscheidungsfindungsprozess wurde gesellschaftliche Normalität und damit zur „civic culture“. Zentral war hierfür aber die Distanzierung von Aggression und Gewalt.
29Vgl. Hanno Balz/Jan-Henrik Friedrichs (Hrsg.), „All We ever Wanted…“, Eine Kulturgeschichte europäischer Protestbewegungen der 1980er Jahre, Berlin 2012. 30Vgl. Dieter Rucht, Zum Wandel politischen Protests in der Bundesrepublik. Verbreitung, Professionalisierung, Trivialisierung, in: vorgänge 42 (2003), H. 4, S. 4–11; sowie seine bereits genannten Beiträge.
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Mit den neuen Protestformen und Symbolen etablierten und konsolidierten sich neue politische Rituale und Bräuche. Ein bis dato unkonventionelles Protestverhalten fand auf diese Weise Aufnahme in ein allgemein akzeptiertes Repertoire politischer Konventionen und Aushandlungsprozesse. Die programmatische Entideologisierung des Protests führte letztlich zu seiner Veralltäglichung, die Ausnahmesituation wandelte sich zu einer Selbstverständlichkeit. Zu berücksichtigen ist hierbei allerdings, dass mit der erhöhten Protestbereitschaft in der Gesellschaft die Protestanlässe niederschwelliger geworden sind. Die im Einsatz gegen die Kernenergie und für eine saubere Umwelt und den Weltfrieden erlernten Handlungsformen wurden schließlich immer häufiger auch auf weniger existenzielle Problembereiche übertragen, wie das bürgerschaftliche Engagement gegen Verkehrslärm und Steuerverschwendung oder für den Erhalt von Grünanlagen und Kinderspielplätzen zeigt. Sabine Mecking, Prof. Dr. phil., ist Professorin für Landes- und Zeitgeschichte an der Philipps-Universität Marburg und geschäftsführende Herausgeberin der Zeitschrift „Geschichte im Westen“. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen in der Polizeiund Verwaltungsgeschichte, Demokratie- und Protestgeschichte, Landes- und Regionalgeschichte.
Populismus als neue Form des Protests? Frank Decker
Zusammenfassung
Beim Protest handelt es sich um eine problemorientierte und an öffentlichkeitswirksame Aktionsformen gebundene Spielart der politischen Partizipation, die in unterschiedlicher Gestalt, Zielrichtung und Intensität auftreten kann. Früher eine Domäne der Linken, geht der Protest heute in der Bundesrepublik überwiegend von rechts aus, nachdem sich mit der AfD eine rechtspopulistische Kraft im Parteiensystem seit 2013 fest etabliert hat.
1 Protest als Form der politischen Partizipation Als bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt am 13. März 2016 das Befürchtete eintrat und der Rechtspopulismus in Deutschland seine Erfolgsserie in bis dahin nicht gekanntem Ausmaß fortsetzte, war in den Kommentaren und Analysen allenthalben von „Protestwahlen“ die Rede. Der Protest ist dem Populismus geradezu immanent, gehört zu dessen Wesen doch stets die Anti-Establishment-Orientierung und radikale
F. Decker (*) Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Bonn, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Mecking (Hrsg.), Polizei und Protest in der Bundesrepublik Deutschland, Geschichte und Ethik der Polizei und öffentlichen Verwaltung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29478-6_4
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Gegnerschaft zum real existierenden politischen System.1 Dies kommt bereits in der Namensgebung der Protestparteien zum Ausdruck, die den Ausdruck „Partei“ meistens bewusst meiden und sich stattdessen „Lega“ Nord, „Front“ National, Vlaams „Belang“ oder eben „Alternative“ für Deutschland nennen. Auf der Wählerseite steht der Protest häufig in Zusammenhang mit Unzufriedenheit oder Frustration über die sozialen und politischen Verhältnisse. Die Bandbreite dessen, was darunterfällt, ist hier genauso weit gefächert wie das Spektrum der AntiPositionen auf der Angebotsseite der Parteien selbst. Deshalb ist es wichtig, den Protestbegriff zu präzisieren. Dabei stellt sich erstens die Frage, von wem der Protest ausgeht und getragen wird. Die Unterscheidung zwischen Angebots- und Nachfrageseite des Populismus gründet auf der Vermutung, dass die Protestmotive der anbietenden Parteien mit denen der nachfragenden Wähler nicht zwangsläufig übereinstimmen müssen. Entsprechende Unterschiede können aber auch zwischen Parteiführung und einfachen Funktionären, verschiedenen Parteiflügeln sowie einzelnen Segmenten der Wählerschaft auftreten. Als zweites wäre zu klären, wogegen der Protest der neuen populistischen Parteien gerichtet ist. Dieser Aspekt verweist auf die inhaltlichen Spielarten des Populismus, die sich an unterschiedlich gesetzten thematischen Schwerpunkten erkennen lassen, was wiederum auf Unterschiede in der populistischen Qualität hindeutet. Und drittens muss gefragt werden, mit welcher Intensität der Protest erfolgt. Je breiter und entschiedener die oppositionelle Haltung gegenüber dem „System“ ausfällt, desto weniger kann von einer Reformorientierung des Protests gesprochen werden. Indikatoren der Intensität sind auf der Angebotsseite die funktionale Ausrichtung der populistischen Parteien, also ob es der jeweiligen Partei lediglich um Wählerstimmen geht oder ob sie eine tatsächliche Regierungsbeteiligung anstrebt. Auf der Nachfrageseite kann die Dauerhaftigkeit der eingetretenen Wählerbindung als Anzeichen für die Intensität des Protests gelten. Wie die Motive und Inhalte des Protests können sich auch diese Merkmale im Laufe der Zeit verändern und zu einer Neubewertung des Populismus führen. Als Beteiligungshandlungen zielen Protesthandlungen darauf ab, Willensbildungsund Entscheidungsprozesse zu beeinflussen. In der neueren Partizipationsforschung hat sich die Unterscheidung von konventionellen und unkonventionellen
1Vgl.
Frank Decker, Vom Protestphänomen zur politischen Dauererscheinung. Rechts- und Linkspopulismus in Westeuropa, in: Uwe Backes/Alexander Gallus/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Band 27, Baden-Baden 2015, S. 57–72.
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Formen politischer Beteiligung durchgesetzt.2 Die aktiven Formen konventioneller Partizipation sind primär auf die periodisch stattfindenden Wahlen ausgerichtet. Neben dem eigentlichen Wahlakt umfassen sie z. B. den Besuch von Wahlveranstaltungen oder die Mitgliedschaft in einer politischen Partei. Soweit es sich dabei nicht um Außenseiter- oder Protestparteien handelt, stellen diese Beteiligungsformen Unterstützungshandlungen dar. Die hiervon zu unterscheidenden Protesthandlungen können ebenfalls entweder in konventioneller oder in unkonventioneller Form ablaufen. Unter die erste fällt – als klassische Möglichkeit – die Wahlabstinenz oder der Wechsel der Parteipräferenz. Darüber hinaus entstehen Einflusschancen durch persönliche Kontakte mit gewählten Volksvertretern, publizistisches Tätigwerden oder den Gang vors Gericht. Der Rückgriff auf solche (institutionalisierten) Einflusskanäle setzt jedoch ein bestimmtes Maß an Vertrauen in die Responsivität des politischen Systems voraus.3 Je weniger dies gegeben ist, desto eher steigt die Tendenz, dass sich die Unzufriedenheit auf dem zweiten, unkonventionellen Wege Bahn bricht. Hierzu gehören sowohl legale als auch illegale Mittel des Protests. Unkonventionelle Protestformen zeichnen sich dadurch aus, dass sie – unabhängig von ihrer rechtlichen Zulässigkeit – von einem Großteil der Bevölkerung als illegitim empfunden werden. Diese Haltung variiert jedoch nicht nur von Land zu Land (in Abhängigkeit von der jeweiligen Protestkultur), sie kann sich auch, wie im Falle der Demonstration oder Unterschriftensammlung, im Laufe der Zeit wandeln: Derartige Protestformen werden heute allgemein gutgeheißen, obwohl weiterhin nur eine Minderheit von ihnen Gebrauch macht. Für die Unterschriftensammlung gilt sogar, dass ihre Durchführung im Rahmen direktdemokratischer Verfahren rechtlich vorgegeben ist. Ein Problem der Unterscheidung zwischen konventioneller und unkonventioneller Partizipation liegt darin, dass sie sich ausschließlich auf die Form bezieht und von der Bezugnahme auf die eigentlichen Inhalten des Protests abstrahiert. Den direktdemokratischen Initiativen wird man damit jedoch ebenso wenig gerecht wie dem Phänomen der Protestwahl: Unter formalen Gesichtspunkten ist die Unterstützung einer Außenseiterpartei zweifellos eine
2Vgl. Frank Decker/Marcel Lewandowsky/Marcel Solar, Demokratie ohne Wähler? Neue Herausforderungen der politischen Partizipation, Bonn 2013, S. 36 ff. 3Unter Responsivität versteht man in der Demokratieforschung die Übereinstimmung des politischen bzw. Regierungshandelns mit den Präferenzen und Wünschen der Wähler. Vgl. Frank Brettschneider, Öffentliche Meinung und Politik. Eine empirische Studie zur Responsivität des Deutschen Bundestages, Opladen 1995, S. 18 ff.
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konventionelle, weil niedrigschwellige Gelegenheit, Protest kundzutun. In legitimatorischer Hinsicht allerdings wirft sie umso größere Probleme auf, je „systemfeindlicher“ die Außenseiterpartei auftritt. Beides zusammengenommen erklärt freilich, warum es sich bei der Wahl einer solchen Partei um eine besonders wirksame Art des Protests handeln kann. Der Hinweis auf die Bandbreite des Protests soll deutlich machen, dass es sich bei den einzelnen Formen um alternative Handlungsmöglichkeiten handelt. Dies gilt – woran der Soziologe Karl-Otto Hondrich erinnert hat – bis hin zu den gewaltsamen Formen, deren Anwendung sich entgegen landläufigen Wunschvorstellungen durchaus auszahlen kann: „Je ziviler eine Gesellschaft wird, je mehr sie Gewalt fürchtet und aus ihrem Alltag verdrängen kann, desto größer die Aufmerksamkeit, das Erschrecken und die Reaktionen, kurz: die kollektive Wirkung, die eine Gewalttat erzielt.“4 Der Anstieg der rechtsextremen Gewalt seit den 1990er Jahren, der in der Bundesrepublik ausgelöst durch die Migrationswelle in den Jahren 2015 und 2016 nochmals einen neuen Höhepunkt erreichte, hat diesen Sachverhalt ins Bewusstsein zurückgeholt. Weil die Gewalttaten im selben Entstehungszusammenhang gedeutet werden können wie das gleichzeitige Aufkommen der neuen Rechtsparteien – eben als Äußerungsformen eines gesellschaftlichen Protests –, treten beide Erscheinungen nicht unabhängig voneinander auf. Wie sie genau zusammenwirken, bleibt aber eine offene Frage. Führt das Vorhandensein einer systemfeindlichen Partei, die dem Protest eine Stimme gibt, dazu, dass die Gewaltbereitschaft absorbiert wird?5 Oder trägt sie im Gegenteil dazu bei, zu Gewalt erst zu ermuntern? Zumindest für die Bundesrepublik scheinen die empirischen Befunde eher in Richtung der letztgenannten Verstärkerthese zu deuten.6 Lenkt man den Blick auf die Wähler, erkennen die meisten Fachwissenschaftler deren Protest darin, dass den Parteien im Allgemeinen, den etablierten Parteien im Besonderen oder einzelnen Vertretern der etablierten Parteien durch entsprechendes Wahlverhalten ein „Denkzettel“ ausgestellt werden soll. Der Wähler möchte seiner Verärgerung Luft machen, indem er der Wahl fernbleibt oder für einen Außenseiter votiert. Um eine Protestwahl im engeren Sinne handelt es sich dann, wenn er dabei gegen seine eigentliche ideologische Überzeugung
4Karl-Otto
Hondrich, Gefangen im Konsens, in: Der Spiegel vom 27.5.1996, S. 89. der Tenor einer in den 1990er Jahren vom Berliner Wissenschaftszentrum durchgeführten europäischen Vergleichsuntersuchung. Vgl. Ruud Koopmans, A Burning Question. Explaining the Rise of Racist and Extreme Right Violence in Western Europe, Berlin 1995. 6Vgl. Uwe Backes/Matthias Mletzko/Jan Stoye, NPD-Wählermobilisierung und politisch motivierte Gewalt, Köln 2010; Doreen Reinhard, Werte Brandstifter, in: Die Zeit vom 2.7.2015. 5So
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und Parteipräferenz abstimmt. Das Problem dieser Definition liegt allerdings darin, dass sie an die Vorstellung einer prinzipiellen Rückkehrbereitschaft der abtrünnigen Wähler gebunden ist. Diese scheint angesichts der erfolgreichen Vertreter des europäischen Rechtspopulismus aber immer weniger gegeben, haben diese sich doch in den Parteiensystemen längst auf Dauer festgesetzt. Die Rede von der Protestwahl macht insofern nur bei solchen Gründen der Unzufriedenheit Sinn, die durch politische Gegenmaßnahmen bald ausgeräumt und damit den Populisten als Argumentationsgrundlage entzogen werden können. Veränderungen der Wert- und Interessenlagen ganzer Bevölkerungsgruppen hingegen, die zu einer langfristigen Neuausrichtung der sozialen Konfliktstruktur führen, lassen sich mit ihr nicht einfangen. An dieser Stelle knüpft die „Modernisierungsverliererthese“ an.7 Der Aufstieg der rechtspopulistischen und -extremen Parteien wurzelt danach in grundlegenden sozialökonomischen und -kulturellen Veränderungen der nachindustriellen Gesellschaft, die durch global wirkende Modernisierungsprozesse ausgelöst werden. Wachsende Einkommensunterschiede und kulturelle Marginalisierungstendenzen drücken Teile der Bevölkerung an den Rand, die sich von den etablierten Parteien und Eliten in ihren Interessen nicht mehr vertreten fühlen. Den empirischen Beleg dafür liefert die zunehmende „Proletarisierung“ der rechtspopulistischen und -extremen Wählerschaft seit Mitte der 1990er Jahre. Dennoch sollte man auch diese Erklärungsformel nicht überstrapazieren. Wie die Wahlanalysen zeigen, werden die rechten Herausforderer zugleich von solchen Wählern unterstützt, denen es materiell durchaus (noch) gut geht, die aber Zukunftsängste haben und nicht bereit sind, ihren hart erarbeiteten Wohlstand mit anderen Bevölkerungsgruppen zu teilen. Ihr Ressentiment richtet sich dabei besonders gegen die Zuwanderer. Die „Wohlfahrtschauvinisten“ teilen mit den Modernisierungsverlierern das Gefühl, zum benachteiligten und abstiegsbedrohten Teil der Gesellschaft zu gehören. Im Kern handelt es hier um ein tieferliegendes sozialkulturelles Problem, das vom Bedürfnis nach Zugehörigkeit kündet und eine Folge gesellschaftlicher Individualisierungsprozesse darstellt. Insofern liegt die Vermutung nahe, dass die Wählerschaft der neuen Rechtsparteien weniger durch sozialstrukturelle Merkmale als durch gemeinsame Wertvorstellungen zusammengehalten wird.8 Diese können sich zu ideologischen Einstellungen verfestigen.
7Vgl. Tim Spier, Modernisierungsverlierer? Die Wählerschaft rechtspopulistischer Parteien in Westeuropa, Wiesbaden 2010. 8Vgl. Andreas Zick/Beate Küpper, Wut, Verachtung, Abwertung. Rechtspopulismus in Deutschland, Bonn 2015.
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Das Verhältnis von Protest- und Einstellungswahl ist insbesondere mit Blick auf die rechtsextremen Parteien diskutiert worden.9 Tatsächlich stehen beide Erklärungsansätze nicht im Widerspruch zueinander. Wie wahlanalytische Studien nachgewiesen haben, führen rechtsextreme Einstellungen nicht automatisch zur Wahl einer rechtsextremen Partei, entscheidend ist, dass zudem eine politische Unzufriedenheit vorhanden ist. Denn unterstellt man das Fortbestehen eines rechtsextremen „Bodensatzes“ der Wählerschaft auch in Deutschland, wäre die weitgehende Erfolglosigkeit rechter Randparteien in der Vergangenheit ansonsten kaum zu erklären. Ebenso wichtig ist aber auch der umgekehrte Zusammenhang. Eine Proteststimmung bedarf demnach der Verbindung mit rechtsextremen Überzeugungen, um die Wahrscheinlichkeit der Rechtswahl zu erhöhen. Sind diese Überzeugungen nicht vorhanden, äußert sich die Unzufriedenheit eher in der Nichtwahl, oder sie wird von den bestehenden Parteien absorbiert. Der Protest wirkt in ersterem Fall also dadurch, dass er verborgene oder zurückgedrängte rechtsextreme Einstellungen aktualisiert und politisch „hervorholt“. Damit wird die zugrunde liegende Unzufriedenheit zur entscheidenden Bestimmungsgröße, um den wechselhaften Erfolg der Rechtsaußenparteien in der Bundesrepublik zu erklären.
2 Vom linken zum rechten Protest Betrachtet man die Nutzung der verschiedenen Partizipationsformen im Zeitverlauf, lässt sich in der Bundesrepublik eine generelle Verschiebung feststellen von den im Rahmen der verfassten Formen stattfindenden Unterstützungshandlungen hin zu den Protesthandlungen. Bei den Unterstützungshandlungen weisen dabei insbesondere die bis Ende der 1980er Jahre kontinuierlich hohe Wahlbeteiligung und die Mitgliedschaft in den politischen Parteien seit dem Zwischenhoch der deutschen Einheit eine rückläufige Tendenz auf, die sich ab Mitte der 2000er Jahre nochmals stark beschleunigt hat.10 Charakteristisch für die Protesthandlungen ist demgegenüber ein wellenförmiger Verlauf. Phasen starker und schwacher Mobilisierung wechseln einander ab. Die Ende der 1960er Jahre kulminierenden Studentenproteste, der von den Neuen Sozialen Bewegungen ausgehende Widerstand gegen Atomkraft und Aufrüstung
9Vgl.
zum Folgenden Jürgen W. Falter/Markus Klein, Wer wählt rechts? Die Wähler und Anhänger rechtsextremistischer Parteien im vereinigten Deutschland, München 1994. 10Vgl. Decker/Lewandowsky/Solar, Demokratie (wie Anm. 2), S. 40 ff.
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zu Beginn der 1980er Jahre, die Demonstrationen gegen die im wiedervereinigten Deutschland neu aufflammende Fremdenfeindlichkeit Anfang der 1990er Jahre und der Protest gegen die Sozialreformen im Jahre 2004 markieren die jeweiligen Hochphasen. Auch wenn die Zahlen der Protestereignisse und -teilnehmer danach wieder zurückgehen, lässt sich für den Gesamtzeitraum ein Anstieg der protestorientierten Partizipationsformen verzeichnen, die heute zum Standardrepertoire der politisch aktiven Bürger in der Bundesrepublik gehören. Dies belegt auch ein europäischer Vergleich, in dem Deutschland im Protestaufkommen nur von Frankreich übertroffen wird.11 Die regelmäßig stattfindenden Aktionen gegen die Castor-Transporte, der Streit um Großprojekte wie Stuttgart 21 oder die Flughafenneu- und -ausbauten in Frankfurt, Berlin und München sowie die Occupy-Bewegung scheinen auf eine neuerliche Zunahme von Protestereignissen in der jüngeren Vergangenheit hinzudeuten. In der publizistischen Debatte hat das breiten Niederschlag gefunden.12 Nicht umsonst kürte die Gesellschaft für deutsche Sprache „Wutbürger“ zum Wort des Jahres 2010. Der im Umfeld von Stuttgart 21 entstandene und von den Medien gern aufgenommene Begriff suggeriert, der Protest der Stuttgarter sei primär vom Lager der „bürgerlichen“ Parteien ausgegangen. Umfragen zeigten allerdings, dass es keineswegs mehrheitlich frühere CDU-Wähler waren, die jetzt entgegen ihrer Gewohnheit auf die Straße gingen und zu laut skandierenden „Wutbürgern“ mutierten, sondern die „üblichen Verdächtigen“: Die meisten Teilnehmer entstammten dem linken und hier vor allem grünen Wählerspektrum und verfügten über zum Teil langjährige Demonstrationserfahrung.13 Die letztgenannte Feststellung ist wichtig, weil sie dem, was heute mit dem „Wutbürger“ assoziiert wird, diametral widerspricht. Die erstmals erfolgversprechende Herausbildung einer neuen Rechtspartei in Deutschland in Gestalt der 2013 gegründeten AfD und die Planierung des populistischen Terrains durch die sogenannte Sarrazin-Debatte drei Jahre zuvor zeigen, dass der politische Protest inzwischen vorrangig von rechts ausgeht. Spielt sich dieser Protest als Wählerprotest wie in den anderen europäischen Ländern im Rahmen der verfassten Formen ab, so greifen die gegen die gesellschaftlichen und politischen
11Vgl.
Swen Hutter/Simon Teune, Politik auf der Straße. Deutschlands Protestprofil im Wandel, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 62 (2012), H. 25/26, S. 9–17. 12Vgl. z. B. Christoph Giesa, Bürger, Macht, Politik. Mit einem Vorwort von Joachim Gauck, Frankfurt a.M. 2011. 13Göttinger Institut für Demokratieforschung (Hrsg.), Neue Dimensionen des Protests? Ergebnisse einer explorativen Studie zu den Protesten gegen Stuttgart 21, Göttingen 2010.
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Eliten aufstehenden Bürger neuerdings auch auf Aktionsformen zurück, die bisher vor allem aus dem linken Spektrum bekannt waren. Gleichzeitig bleibt das seit der Wende bestehende hohe Niveau an rechtsextrem und fremdenfeindlich motivierten Gewalttaten erhalten. Unter die neuen Formen des Protests fallen nicht nur Demonstrationen wie bei Pegida, sondern zugleich der Rückgriff auf die sozialen Medien, die sich mittlerweile zur wichtigsten Plattform der Hasspropaganda in diesem Land entwickelt haben. Dass Pegida ein in hohem Maße ostdeutsches Phänomen geblieben ist,14 verweist auf Besonderheiten der dortigen Demonstrationskultur, die auf das Vorbild des auf die Straße getragenen Widerstands gegen das DDR-Regime in der Wendezeit zurückgeht. Was unter der Parole „Wir sind das Volk“ damals legitim und heroisch war, mag heute zwar anmaßend wirken. Von der ideologischen Stoßrichtung her fügt es sich aber dennoch ganz in die anti-liberale und anti-pluralistische Grundhaltung des europäischen Rechtspopulismus ein, der damit in der Bundesrepublik neben der AfD über einen weiteren Arm verfügt. Aus der vergleichenden Forschung weiß man, dass es in der Regel einer Initialzündung, eines bestimmten „populistischen Moments“ bedarf, um solche Protestphänomene hervorzubringen.15 Bei der AfD war es die Finanz- und Eurokrise, die das „Gelegenheitsfenster“ für eine neue, E U-kritische Partei öffnete. Deren programmatische Kernforderungen – kontrollierte Auflösung der Währungsunion und Absage an eine weitere Vertiefung des europäischen Integrationsprozesses – eigneten sich bestens, um daran eine breitere rechtspopulistische Plattform anzudocken, die die Gegnerschaft zum Establishment (als Wesenselement des Populismus) mit Anti-Positionen in der Zuwanderungsfrage und anderen Bereichen der Gesellschaftspolitik verknüpfte. Mehrere Umstände kamen der AfD dabei zugute. Erstens konnte sie an verschiedene Vorgängerorganisationen anschließen, die von der aufgelösten eurokritischen Partei Bund freier Bürger über die Initiative Soziale Marktwirtschaft bis hin zum konservativen Kampagnennetzwerk Zivile Koalition der heutigen Bundestagsabgeordneten Beatrix von Storch reichten. Zweitens haben die von 2009 bis 2013 zusammen regierenden bürgerlichen Parteien Union und FDP durch ihren programmatischen Kurs und ihr Regierungshandeln Nischen im Parteiensystem geöffnet. Während die Liberalen nach einem knapp ausgefallenen
14Vgl.
Werner J. Patzelt/Joachim Klose, Pegida. Warnsignale aus Dresden, Dresden 2016. Goodwyn, Democratic Promise. The Populist Moment in America, New York
15Lawrence
1976.
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Mitgliederentscheid für die Rettungspolitik als euroskeptische Stimme ausfielen, wurden in der Union unter Angela Merkels Führung hergebrachte Positionen in der Familien- und Gesellschaftspolitik reihum aufgegeben (durch die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften, die Einführung einer Frauenquote in Unternehmen oder das Eintreten für ein modernes Zuwanderungsrecht). Diese Positionen werden nun durch die AfD besetzt. Und drittens profitierte der Neuling davon, dass er ein bürgerlich-seriöses Auftreten pflegte und seine prominenten Überläufer ausnahmslos aus den Reihen von Union oder FDP stammten; auch von Politologen wurde die Partei zunächst als „rechtsliberal bzw. -konservativ“ und noch nicht als „rechtspopulistisch“ eingestuft. Der AfD gelang es so, einen Großteil der restriktiven Bedingungen zu überwinden, die der Erfolglosigkeit des Rechtspopulismus bis dahin zugrunde gelegen hatten.16 Im europäischen Vergleich auffällig ist dabei insbesondere die geringe Mobilisierungskraft des „Ausländerthemas“ im parteilichen Diskurs der Bundesrepublik, dessen Politisierung mit Ausnahme der Grünen alle Parteien vermieden hatten. Dies galt auch für die SPD, die ihre Zustimmung zur Einschränkung des Asylrechts Anfang der 1990er Jahre noch davon abhängig gemacht hatte, dass im Gegenzug ein modernes Einwanderungsgesetz geschaffen würde, worauf sie aber später nicht mehr zurückkam. Die kulturellen Anerkennungskonflikte, die die Integration der Zuwanderer auslöste, wurden deshalb nur diskret ausgetragen – sie sollten tunlichst unter der Decke gehalten werden. Begünstigend wirkte sich auch aus, dass die überwiegend aus der Türkei stammenden muslimischen Migranten in Deutschland weniger Probleme bei der Eingliederung bereiteten als etwa die maghrebinischen Zuwanderer in Frankreich. Hauptverantwortlich für die Verweigerungshaltung, durch die die 1980er und 1990er Jahre zu verlorenen Jahrzehnten für die Integration wurden, waren die Unionsparteien, denen es so freilich gelang, die rechte Flanke des Parteiensystems zuverlässig abzusichern. Die Arbeitsteilung der CDU mit der bisweilen offen populistisch agierenden bayerischen Schwesterpartei CSU erwies sich dabei als ebenso hilfreich wie das Fortwirken nationalkonservativer Traditionen in einem starken rechten Flügel. In Ostdeutschland, wo das rechtspopulistische Potenzial trotz oder gerade wegen des geringen Ausländeranteils noch größer war – und
16Vgl.
Frank Decker, Warum der parteiförmige Rechtspopulismus in Deutschland so erfolglos ist, in: Vorgänge 51 (2012), H. 1, S. 21–28. Zu den restriktiven Bedingungen gehört insbesondere die nachwirkende nationalsozialistische Vergangenheit, die dazu führt, dass der Rechtsextremismus in jeglicher – gesellschaftlicher, politischer und rechtlicher – Hinsicht stigmatisiert ist.
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weiterhin ist – als im Westen, wurde das Vordringen der rechten Herausforderer zudem zunächst durch die postkommunistische PDS gebremst, die sich den Wählern hier als eigentliche „Protestalternative“ empfahl. Gab es nach der Spaltung der AfD im Sommer 201517 begründeten Anlass zu vermuten, dass auch ihre Geschichte eine kurzzeitige Episode bleiben könnte, so öffnete sich den Rechtspopulisten mit der nur wenige Wochen später einsetzenden Migrationswelle ein neues, noch größeres Gelegenheitsfenster. Die AfD avancierte jetzt zum Sprachrohr und Protestanker einer durch den unkontrollierten Zustrom von Migranten tief verunsicherten Bevölkerung. Die islamistischen Terroranschläge in Paris und Brüssel, die fehlende Aufnahmebereitschaft der europäischen Nachbarländer (insbesondere im Osten) und die Übergriffe überwiegend maghrebinischer Zuwanderer auf Frauen am Silvesterabend in Köln spielten ihr dabei ebenso in die Hände wie der Streit innerhalb der Regierung über die „Asylpakete“ und die heftige Kritik von Teilen der Union am Kurs der eigenen Kanzlerin, die zu einem offenen Zerwürfnis zwischen den beiden Schwesterparteien CDU und CSU führte. Bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz im März 2016 lag die AfD mit 15,1 bzw. 12,6 Prozent erstmals auch im Westen zweistellig, in Sachsen-Anhalt erreichte sie mit 24,2 Prozent das bisher beste Ergebnis einer rechtspopulistischen oder -extremistischen Partei bei Landtagswahlen überhaupt. Stellt die Ankunft des neuen Rechtspopulismus im deutschen Parteiensystem gewissermaßen eine Annäherung an den (west)europäischen Normalzustand dar, der bei ausländischen Beobachtern zwar aufmerksames Interesse, aber keine wirkliche Besorgnis auslöste, so rieben sich dieselben Beobachter erstaunt die Augen, als im Gefolge der ostdeutschen AfD-Wahlerfolge eine Bewegung namens Pegida (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes)
17Nachdem
Parteigründer Bernd Lucke, der mit seinen wirtschaftsliberalen Positionen gegen die von Alexander Gauland und Frauke Petry angeführten Nationalkonservativen das gemäßigte Lager der AfD repräsentierte, den Rückhalt innerhalb des Vorstandes und an der Basis verloren hatte, wurde er im Juli 2015 auf dem Essener Parteitag als Ko-Vorsitzender abgewählt. Bis Ende August verließen daraufhin rund ein Fünftel der 21.000 Mitglieder die AfD, darunter neben Lucke selbst die meisten Protagonisten des gemäßigten Flügels. Die Abtrünnigen befürworteten mit großer Mehrheit die Gründung einer neuen eurokritischen Partei unter Luckes Führung, die als „Allianz für Fortschritt und Aufbruch“ (ALFA) bereits im Juli 2015 an den Start ging. Die Neugründung, die seit November 2016 den Namen Liberal-Konservative Reformer (LKR) trug, sollte in der Konkurrenz mit der alten AfD und einer – zumindest im Westen – wiedererstarkten FDP chancenlos bleiben. Vgl. Volker Best, Liberal-Konservative Reformer (LKR), in: Frank Decker/Viola Neu (Hrsg.), Handbuch der deutschen Parteien, 3. Aufl., Wiesbaden 2018, S. 379–384.
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in Dresden seit Oktober 2014 Tausende von Menschen Woche für Woche zu Massendemonstrationen auf die Straße lockte. Die aus einer Facebook-Gruppe hervorgegangene Pegida bildete rasch Ableger in anderen ost- und westdeutschen und sogar ausländischen Städten (Wien, Kopenhagen, Newcastle). Deren Zulauf blieb aber nicht nur deutlich hinter dem Dresdner Original, sondern auch hinter den nun geballt einsetzenden Gegendemonstrationen zurück. Ihren Höhepunkt erreichten die Umzüge in der sächsischen Landeshauptstadt im Januar 2015, als geschätzt etwa 20.000 Teilnehmer wöchentlich auf die Straße gingen. Danach ging der Zulauf bis auf durchschnittlich jeweils 1.500 Teilnehmer im Juni 2015 stark zurück, bevor er – ohne die Rekordzahlen aus dem Vorjahr zu erreichen – mit Einsetzen der „Flüchtlingskrise“ ab September 2015 wieder anstieg.18 Umfragen und teilnehmende Beobachtungen bestätigten, dass der Typus des routinierten Demonstrationsteilnehmers, der z. B. bei den Protesten gegen den Bahnhofsneubau Stuttgart 21 in der Mehrheit war, bei Pegida nur eine Randerscheinung darstellte.19 Die überwiegende Mehrheit der zu zwei Dritteln aus Dresden bzw. Sachsen stammenden Demonstranten verortete sich im liberalkonservativen Lager, wobei die AfD als bevorzugte Partei deutlich vor der CDU lag. Nach den Gründen ihrer Teilnahme befragt, nannten 71 Prozent die „Unzufriedenheit mit der Politik“, 35 Prozent „Kritik an Medien und Öffentlichkeit“ und 31 Prozent „grundlegende Vorbehalte gegen Asylbewerber und Migranten“. Ablehnende Haltungen speziell gegenüber Muslimen oder dem Islam äußerten nur 15 Prozent.20 Offizielle Solidaritätsadressen, Unterstützungsbekundungen oder eine Einladung zur Zusammenarbeit mit Pegida blieben vonseiten der AfD aus, weil man die Sorge hatte, mit etwaigen rechtsextremen Tendenzen sowohl in der Organisation der Protestbewegung als auch unter den Demonstrationsteilnehmern in Verbindung gebracht zu werden. Dennoch scheint es nicht unangebracht, Pegida als Ausdruck derselben rechtspopulistischen Grundstimmung in weiten Teilen der ostdeutschen Wählerschaft zu deuten, die der AfD schon bei den Landtagswahlen im Spätsommer 2014 (in Brandenburg, Sachsen und Thüringen) zweistellige Ergebnisse eingebracht hatte. Ob Pegida ohne die „Vorarbeit“ der AfD in
18Vgl.
Hans Vorländer/Maik Herold/Steven Schäller, PEGIDA. Entwicklung, Zusammensetzung und Deutung einer Empörungsbewegung, Wiesbaden 2016, S. 8. 19Vgl. Karl-Heinz Reuband, Wer demonstriert in Dresden für Pegida? Ergebnisse empirischer Studien, methodische Grundlagen und offene Fragen, in: Mitteilungen des Instituts für Parteienrecht und Parteienforschung 21 (2015), S. 133–143. 20Vorländer/Herold/Schäller, PEGIDA (wie Anm. 18), S. 66.
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dieser Form entstanden wäre und einen so starken Zulauf gehabt hätte, ist fraglich, wenngleich das stark konservativ geprägte Umfeld der sächsischen Politik, die Anknüpfungspunkte im organisierten rechtsextremen Milieu und der spezifische Dresdner „Opferstolz“ sicherlich ebenfalls einen großen Anteil am Erfolg der Bewegung hatten. Umgekehrt dürfte die Etablierung der AfD im Parteiensystem, die dem Protest eine kontinuierlich vernehmbare, politisch wirksame Stimme verleiht, mit dazu beigetragen haben, dass die Demonstrationsbewegung nach ihrem Höhepunkt Anfang 2015 relativ rasch in sich zusammengefallen ist.
3 Schlussbemerkung Was die künftigen Perspektiven des von rechts ausgehenden Protests angeht, sollte man sich keine Illusionen machen. Den Rechtspopulisten werden auch nach Abebben der durch die „Flüchtlingskrise“ hochgeschwappten Protestwelle genügend thematische Gelegenheiten verbleiben, um in der öffentlichen Wahrnehmung weiterhin präsent zu sein. Vergegenwärtigt man sich die immensen Herausforderungen und den Veränderungsdruck, mit denen die deutsche Gesellschaft in den kommenden Jahren und Jahrzehnten konfrontiert sein wird, wäre es verwunderlich, wenn eine migrationskritische Partei wie die AfD daraus keinen Nutzen zöge. Dies gilt umso mehr, als diese mit ihrer Forderung nach einer „Abwicklung“ des Euro ein Alleinstellungsmerkmal im politischen Wettbewerb behält und sie mit ihren Anti-Positionen in der Gesellschaftspolitik und beim Klimaschutz weitere Leerstellen im Parteiensystem füllen kann, die sich durch die nachlassende Integrationsfähigkeit der Unionsparteien nach rechts aufgetan haben. Weil auch Wähler linker Parteien für die konservativen Wert- und Ordnungsvorstellungen der AfD empfänglich sind, tragen ihre Erfolge dazu bei, dass sich die Achse des Parteiensystems in der Bundesrepublik insgesamt nach rechts verschiebt. Wie der Ausgang der Bundestagswahl gezeigt hat,21 könnte das deutsche Parteiensystem damit künftig in eine ähnliche Lage geraten wie in Österreich, wo die mangels anderer Koalitionsmöglichkeiten erzwungene Fortsetzung der Großen Koalition den rechten Herausforderern direkt in die Hände gespielt hat.
21Neben
der FDP, die nach vier Jahren Abstinenz in das Parlament zurückkehrte, war die AfD die eigentliche Gewinnerin der Wahl. Mit einem Stimmenanteil von 12,6 Prozent gelang ihr auf Anhieb der Sprung auf Platz drei des Parteiensystems. Als stärkste der vier kleinen Parteien führt sie damit im 19. Deutschen Bundestag die Opposition an.
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Besonders verzwickt ist die Lage in Ostdeutschland. Schon bei der Bundestagswahl hatten Union und SPD in keinem der sechs neuen Länder (einschließlich Berlins) eine eigene Mehrheit. Wiederholt sich dies bei den 2019 anstehenden Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen, bliebe CDU und SPD nur die Wahl, die Grünen oder die FDP als weiteren Koalitionspartner in die Regierungen einzubeziehen, wie es in Sachsen-Anhalt seit 2016 schon der Fall ist. Selbst eine Zusammenarbeit von Union und Linkspartei wäre dann womöglich kein Tabu, was mit Blick auf frühere Wahlkämpfe mehr als eine ironische Wendung darstellte. Das Szenario einer „negativen“ Mehrheit der Randparteien, das in Sachsen-Anhalt fast eingetreten wäre (und letztlich nur durch den knappen Sprung der Grünen über die Fünfprozenthürde vermieden wurde), ruft Erinnerungen an Weimarer Zeiten wach. Es macht die dramatische Veränderung deutlich, die durch die Ankunft des Rechtspopulismus in der deutschen Parteienlandschaft eingetreten ist. Frank Decker, Prof. Dr. rer. pol., ist Professor für Politische Wissenschaft an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und Wissenschaftlicher Leiter der Bonner Akademie für Forschung und Lehre praktischer Politik (BAPP). Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind die Demokratie- und Parteienforschung.
Geschichte des Versammlungsrechts der Bundesrepublik Deutschland Ulrich Jan Schröder
Zusammenfassung
Versammlungsfreiheit ist elementar für die Demokratie. Versammlungen sind aber auch mit der Gefahr gewalttätiger Auseinandersetzungen verbunden. Polizei, Rechtsprechung und Gesetzgeber haben auch noch nach 1949 für lange Zeit vor allem dieses Gefahrenpotenzial wahrgenommen. Erst der Brokdorf-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 1985 stellte die Weichen für eine neue, positive Sicht auf Versammlungen. Das Versammlungsrecht steht heute vor zahlreichen Herausforderungen wie z. B. dem Schutz der öffentlichen Ordnung oder der Drittwirkung der Versammlungsfreiheit. Die umfassenden Versammlungsverbote zur Eindämmung der C oronaPandemie sind beispiellos. Bevor das Grundgesetz in Kraft trat, war das Versammlungsrecht in erster Linie Polizeirecht. Unter der Geltung des Grundgesetzes ist das Versammlungsrecht sicherlich weiterhin Gefahrenabwehrrecht, zugleich aber dient es der Versammlungsfreiheit, indem staatlichen Eingriffsbefugnissen Grenzen gezogen werden. Betrachtet man die Versammlungsfreiheit des Grundgesetzes und die Regelungen des Versammlungsgesetzes, so gewinnt man den Eindruck großer Kontinuität und relativer Stabilität. Die Gewährleistung der Versammlungsfreiheit in Art. 8 Grundgesetz (GG), die zudem große Ähnlichkeit mit ihrer Vorgängervorschrift U. J. Schröder (*) Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen, Duisburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Mecking (Hrsg.), Polizei und Protest in der Bundesrepublik Deutschland, Geschichte und Ethik der Polizei und öffentlichen Verwaltung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29478-6_5
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in der Weimarer Reichsverfassung hat, wurde nach 1949 nie geändert. Das Versammlungsgesetz von 1953 wurde zwar einige Male geändert, aber ohne dass es zu einer wesentlichen Neuordnung des Gesetzeswerks oder seiner zentralen Normen kam.1 Gleichwohl mussten besonders in Rechtsprechung und Verwaltung überkommene Ordnungsvorstellungen überwunden werden, weil das staatsbürgerliche Recht, sich zu versammeln, in der jungen Bundesrepublik keine große Tradition hatte.2 Gesetzgebung, Gerichte und herrschende Lehre werteten seit dem 19. Jahrhundert Versammlungen als polizeirechtlich zu beherrschende potenzielle Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung.3 Das hatte Nachwirkungen auch noch während der Geltung von Grundgesetz und Versammlungsgesetz. Die gesetzlichen Regelungen des Versammlungsrechts und die grundgesetzliche Versammlungsfreiheit müssen zusammen gelesen werden: Spielräume bei der Anwendung und Auslegung des Gesetzes müssen von Polizei und Gerichten verfassungskonform genutzt werden. Das Gebot grundrechtskonformer Auslegung gilt auch für diejenigen Normen des Strafgesetzbuchs, die Versammlungen betreffen. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) traf seine Grundsatzentscheidung zur Versammlungsfreiheit jedoch erst relativ spät im Jahr 1985 im sogenannten Brokdorf-Beschluss,4 während etwa das Grundsatzurteil zur Meinungsfreiheit bereits 1958 gefällt wurde.5 Polizei und Gerichte waren mangels verfassungsgerichtlicher Anleitung noch nicht hinreichend grundrechtlich sensibilisiert. Auch fehlte Behörden und Gerichten daher lange Zeit eine Referenz, mit deren Hilfe eine größere Einheitlichkeit zu erreichen gewesen wäre. Die folgende Periodisierung der Geschichte des Versammlungsrechts orientiert sich an verschiedenartigen Zäsuren:6 1953 trat das Versammlungsgesetz in Kraft, ab 1967 beschäftigte die Studentenbewegung verstärkt die Gerichte und führte zu gesetzgeberischen Reaktionen, 1985 erließ das Bundesverfassungsgericht seinen
1Das
gilt auch für die Neuverkündung von 1978, welche die bisherigen Änderungen in einer konsolidierten Fassung zusammenfasste. 2So Sieghart Ott, Gesetz über Versammlungen und Aufzüge (Versammlungsgesetz), Stuttgart u. a. 1969, Vorwort. 3Siehe Rainer Geulen, Versammlungsfreiheit und Großdemonstrationen, in: Kritische Justiz (1983), S. 189–197, hier S. 192. 4Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 69, S. 315 (BVerfGE 69, S. 315). 5Die sogenannte Lüth-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, BVerfGE 7, S. 198. 6Eine andere Periodisierung etwa bei Wolfram Höfling/Steffen Augsberg, Versammlungsfreiheit, Versammlungsrechtsprechung und Versammlungsgesetzgebung, in: Zeitschrift für Gesetzgebung (ZG) 2006, S. 151–178.
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wegweisenden Brokdorf-Beschluss und im Jahr 2006 erhielten die Bundesländer im Zuge der Föderalismusreform die Gesetzgebungskompetenz für das bis dahin vom Bund geregelte Versammlungsrecht. Die Entwicklung des Versammlungsrechts wird für die einzelnen Perioden anhand von Gesetzgebung, Rechtsprechung und Rechtswissenschaft nachgezeichnet. Angesichts der Fülle von Gerichtsentscheidungen und rechtswissenschaftlicher Literatur können diese nur sehr eingeschränkt zu Wort kommen. Die einschlägigen Gesetzesänderungen werden dagegen nahezu vollständig dokumentiert.
1 1945 bis 1953: Die frühen Nachkriegsjahre Das Versammlungsrecht seit 1945 in Westdeutschland und seit 1949 in der Bundesrepublik Deutschland orientierte sich zunächst an dem Reichsvereinsgesetz vom 19. April 1908.7 Bundesdeutsche Gerichte haben noch Anfang der 1950er Jahre einzelne versammlungsrechtliche Vorschriften dieses kaiserzeitlichen Gesetzes angewendet.8 Erst das Versammlungsgesetz vom 24. Juli 1953 löste das Reichsvereinsgesetz ausdrücklich ab.9 Kurz nach Kriegsende verbot der Alliierte Kontrollrat Mitgliedern deutscher politischer Parteien nationalistische, faschistische, a nti-demokratische Erklärungen, die Verbreitung von Gerüchten, die Misstrauen gegen die Besatzungsmächte hervorrufen sollten, außerdem Kritik an den Entscheidungen der Siegermächte-Konferenzen oder des Kontrollrats. Diese Verbote galten nicht nur für Versammlungen (hier nur für Mitglieder politischer Parteien), sondern auch für die Presse.10 Im Übrigen trafen die Besatzungsmächte in ihrer jeweiligen Zone jeweils unterschiedliche Regelungen über Versammlungen.11 In der britischen Besatzungszone waren öffentliche unpolitische Versammlungen ohne vorherige Genehmigung erlaubt, öffentliche Umzüge dagegen nicht, politische Versammlungen (nicht nur der Parteien) standen unter Genehmigungsvorbehalt.12 7Reichsgesetzblatt
(RGBl.) 1908, S. 151. Oberverwaltungsgericht (OVG), in: Sammlung obergerichtlicher Entscheidungen aus dem Verfassungs- und Verwaltungsrecht (VerwRspr) 1952, S. 882 (S. 886). 9§ 30 Abs. 1 VersG in der Ursprungsfassung vom 24.7.1953. 10Direktive Nr. 40 vom 12.10.1946. 11Übersicht bei Ruprecht Freiherr von Maltzahn, Das Versammlungsgesetz vom 24.7.1953, Frankfurt a.M. 2017, S. 72–78. 12Verordnung Nr. 9 und Nr. 10 vom 15.9.1945. 8Hamburgisches
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Auch in der französischen Besatzungszone standen Versammlungen politischer Parteien unter Genehmigungsvorbehalt.13 In der amerikanischen Besatzungszone wiederum galten mangels spezieller Verfügungen die Regelungen des Reichsvereinsgesetzes fort.14 Die nach dem Kriegsende entstehenden Landesverfassungen gewährleisteten die Versammlungsfreiheit entweder ihrem Wortlaut nach schrankenlos (wie die Verfassungen Bayerns und Hessens, jeweils von 1946) oder unter dem Vorbehalt, dass Versammlungen unter freiem Himmel durch Gesetz anmeldepflichtig gemacht und bei unmittelbarer Gefahr für die öffentliche Sicherheit verboten werden konnten (wie in Württemberg-Baden, ebenfalls 1946). Dieser Vorbehalt entsprach der Formulierung der Weimarer Reichsverfassung.15 Die nachfolgenden Verfassungen von Rheinland-Pfalz (1947) und des Saarlands (1947) garantierten die Versammlungsfreiheit jeweils wiederum mit dem aus der Weimarer Reichsverfassung übernommenen Zusatz. Das am 23. Mai 1949 verkündete Grundgesetz verbürgt die Versammlungsfreiheit in Artikel 8. Dort heißt es: „Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln. Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.“
Die nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes in der britischen Besatzungszone entstandenen Landesverfassungen von Hamburg, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein verzichteten auf einen detaillierten Grundrechtekatalog, da die Grundrechte des Grundgesetzes und damit auch Art. 8 GG ohnehin vorrangig Geltung besaßen.16 Die Landesverfassungsgerichte der Bundesländer haben wegen dieses grundgesetzlichen Vorrangs auch nicht wesentlich zur Konkretisierung der Versammlungsfreiheit beigetragen.
13Verfügung Nr. 26 des Administrateur Général betreffend die Durchführung der Verordnung Nr. 23 vom 13.12.1945 über die Gründung politischer Parteien demokratischer und anti-nationalsozialistischer Richtung in der Zone Française d’Occupation vom 13.12.1945. 14Art. 2 der Proklamation Nr. 2 der US-amerikanischen Militärregierung vom 19.9.1946. 15Art. 123 Weimarer Reichsverfassung: „Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder besondere Erlaubnis friedlich und unbewaffnet zu versammeln. Versammlungen unter freiem Himmel können durch Reichsgesetz anmeldepflichtig gemacht und bei unmittelbarer Gefahr für die öffentliche Sicherheit verboten werden.“ 16Vgl. Maltzahn, Versammlungsgesetz (wie Anm. 11), S. 78.
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Die Formulierung des Art. 8 GG kam ohne größere Kontroversen zustande.17 Der Entwurf des Herrenchiemseer Konvents vom August 1948 hatte noch vorgesehen, die Versammlungsfreiheit nicht nur Deutschen vorzubehalten. Der Parlamentarische Rat rückte jedoch trotz eines gleichsinnigen Vorschlags der KPD-Fraktion18 wieder davon ab. Eine Einschränkung des Grundrechts lediglich auf politische Versammlungen war vom Parlamentarischen Rat nicht intendiert.19 Das Gesetz, auf das der Vorbehalt in Art. 8 Abs. 2 GG verweist, wurde erst am 24. Juli 1953 verkündet und trat als „Gesetz über Versammlungen und Aufzüge“ (kurz: Versammlungsgesetz – VersG) am 10. August 1953 in Kraft. Die Beratungen des Gesetzentwurfs der Bundesregierung im Bundestag und seinen Ausschüssen zogen sich von Juni 1950 bis Mai 1953 hin.20 Konrad Adenauer hatte bereits 1950 auf ein Gesetz gedrungen, gerade um politische (Partei-)Versammlungen vor Störungen zu schützen.21 Daher wurde der Straftatbestand der Sprengung einer Versammlung eingeführt (§ 21 VersG 1953), und entsprechend stark wurde die Stellung des Versammlungsleiters ausgestaltet.22 Das Gesetz wurde kurz vor den anstehenden Bundestagswahlen im September 1953 verabschiedet.23 Damit war die nach allgemeiner Auffassung verworrene Rechtslage – etwa hinsichtlich der Anmeldepflicht – geklärt.24 Das Versammlungsgesetz garantierte von Anfang an, dass jedermann das Recht hat, eine öffentliche Versammlung oder einen Aufzug zu veranstalten oder an solchen Veranstaltungen teilzunehmen. Das Gesetz gewährt damit anders als das Grundrecht auch Ausländern ein Versammlungsrecht. Unter Aufzügen werden sich bewegende Versammlungen unter freiem Himmel verstanden. Das 17Vgl.
Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Neue Folge (1951), Bd. 1, S. 113– 117. 18Drucksache des Parlamentarischen Rates, Bundesarchiv: Z 5/172 Nr. 317, Sitzung des Grundsatzausschusses vom 24.11.1948; Stenoprotokoll, S. 58–62. 19Vgl. Helmuth Schulze-Fielitz, in: Horst Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 3. Aufl., Tübingen 2013, Art. 8 Rn. 5 bei Anm. 21. 20Maltzahn, Versammlungsgesetz (wie Anm. 11), S. 153–308. 21Protokoll der 52. Kabinettssitzung vom 14.3.1950, Kabinettsprotokolle Bundesregierung, Bd. 2, 1950, S. 265. 22Vgl. Beratungen des Deutschen Bundestages, 83. Sitzung I, S. 3123. Ferner Geulen, Versammlungsfreiheit (wie Anm. 3), S. 190. 23Vgl. Maltzahn, Versammlungsgesetz (wie Anm. 11), S. 287. 24Hinweise bei Maltzahn, Versammlungsgesetz (wie Anm. 11), S. 87 Anm. 284. Vgl. z. B. Oberverwaltungsgericht (OVG) Hamburg, Deutsches Verwaltungsblatt (DVBl.) 1953, S. 250 zum Rückgriff auf den Gesetzesvorbehalt in Art. 123 Abs. 2 Weimarer Reichsverfassung.
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Gesetz legt ferner fest, dass jede Versammlung einen Leiter haben und spätestens 48 Stunden vor ihrer öffentlichen Bekanntgabe angemeldet werden muss. Insofern ist die gesetzliche Regelung enger als das Grundrecht, wie es auch schon in den 1950er Jahren verstanden wurde: Versammlungen müssen keinen Veranstalter oder Leiter haben, um grundrechtlich geschützt zu sein.25 Das Gesetz normiert auch die staatlichen Eingriffsbefugnisse. Versammlungen können verboten werden, wenn die öffentliche Ordnung oder Sicherheit unmittelbar gefährdet ist. Eine bereits begonnene Versammlung kann unter denselben Voraussetzungen aufgelöst werden. Eine Auflösung ist auch zulässig, wenn von den Angaben der Anmeldung abgewichen oder etwaigen Auflagen zuwider gehandelt wird oder wenn die Versammlung nicht angemeldet ist. Das Gesetz sieht auch ein Uniformverbot vor. Es ist strafbar, eine Versammlung zu sprengen. Diese Regelungen des Jahres 1953 sind in ihrem Kern vom Bundesgesetzgeber bis heute nicht geändert worden. Im Unterschied zum Reichsvereinsgesetz von 1908 sieht das Versammlungsgesetz Pflichten der Versammlungsteilnehmer einschließlich des Leiters vor. Das bietet nach Auffassung des Gesetzgebers die Möglichkeit, die innere Organisation der Versammlung in weitem Umfang ihrer Selbstregulierung zu überlassen und nur so weit wie erforderlich in die Versammlungsfreiheit einzugreifen.26 Damit gab es für Versammlungen nun ein spezifisches rechtliches Instrumentarium. Das allgemeine Polizeirecht, das heißt vor allem die Polizeigesetze der Bundesländer, durfte im Anwendungsbereich des Versammlungsgesetzes (also auf nicht verbotene und nicht aufgelöste Versammlungen) nicht mehr angewendet werden. Es gab zwar einige Lücken (etwa die nicht-öffentlichen Versammlungen), für die das Versammlungsgesetz kaum ausdrückliche Regelungen vorsah und bis heute nicht vorsieht,27 doch war und ist 25So
Hermann von Mangoldt/Friedrich Klein, Das Bonner Grundgesetz, Kommentar, Bd. 1, 2. Aufl., Berlin/Frankfurt a.M. 1957, Art. 8 Anm. III 1 (S. 304), mit dem Hinweis auf sogenannte Spontanversammlungen. Dann ist von nicht durch Art. 8 GG geschützten „Ansammlungen“ und „Aufläufen“ zu unterscheiden, bei denen eine „Zwecksetzung und -verbundenheit fehlt“, ebd., S. 305. Nach heutiger Auffassung schützt Art. 8 GG Versammlungen ohne Leiter und ohne Veranstalter auch dann, wenn es sich nicht um Spontanversammlungen handelt. Vgl. Wolfgang Hoffmann-Riem, in: Detlef Merten/Hans-Jürgen Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. 4, Heidelberg 2011, § 106 Rn. 74. 26Siehe Maltzahn, Versammlungsgesetz (wie Anm. 11), S. 105–106. 27Nur einzelne Regelungen sind bereits von ihrem Wortlaut her auch auf nicht-öffentliche Versammlungen anwendbar (z. B. die Strafvorschrift des § 21 VersG oder das Uniformverbot des § 3 VersG). Auch in den neuen Versammlungsgesetzen der Länder werden die nicht-öffentlichen Versammlungen nicht thematisiert.
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auch hier ein einfacher Rückgriff auf das allgemeine Polizeirecht ohne Beachtung der Versammlungsfreiheit nicht zulässig.28 Die gesetzliche Spezialität des Versammlungsrechts wird mit dem Begriff der „Polizeifestigkeit“ der Versammlungen bezeichnet. Irreführend ist diese Bezeichnung insofern, weil in allen Bundesländern die Polizei für die Umsetzung des Versammlungsgesetzes zuständig ist. Zum Ausdruck gebracht werden soll, dass die Polizei dabei nicht auf die „allgemeinen“ Eingriffsbefugnisse der Polizeigesetze der Länder zurückgreifen darf. Genauer ist daher von der „Polizeirechtsfestigkeit“ einer Versammlung die Rede.
2 Die Jahre 1953 bis 1967: Versammlungen als Bedrohung der Normalität 2.1 Gesetzgebung und Rechtsprechung Die erste Änderung des Versammlungsgesetzes erfolgte 1964 nach über zehn Jahren und ermöglichte Jugendverbänden, die sich vorwiegend der Jugendpflege widmen (zum Beispiel Evangelischer Jugend und Pfadfindern), eine Ausnahme vom Verbot, Uniform zu tragen. In der Rechtsprechung zum Versammlungsrecht geht es in den ersten Jahren auffällig oft um Parteiversammlungen.29 Die Teilnehmer einer „Saalschlacht“ auf einer Wahlversammlung wurden wegen Landfriedensbruchs bestraft.30 Versammlungen von Kommunisten konnten nach dem verfassungsgerichtlichen Parteiverbot des Jahres 195631 verboten bzw. aufgelöst werden,32 was bis in die 1960er Jahre oft geschah.33 Trauerreden am Grab eines Kommunisten, eine „Leserversammlung“ oder Protestaktion vor einem Landgericht wurden strafrechtlich
28Vgl.
z. B. Johannes Deger, Polizeirechtliche Maßnahmen bei Versammlungen?, in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (NVwZ) 1999, S. 265–268, hier S. 268. 29Außer in den folgenden Entscheidungen auch in Oberlandesgericht (OLG) Hamm, Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 1967, S. 1669 (Strafrecht). 30Bayerisches Oberstes Landesgericht (BayObLG), NJW 1956, S. 153. 31BVerfGE 5, S. 85 = NJW 1956, S. 1393. 32Vgl. § 1 Abs. 2 Nr. 2, 3 VersG 1953. 33Kritisch Alexander von Brünneck, Politische Justiz gegen Kommunisten in der Bundesrepublik Deutschland 1949–1968, Frankfurt a.M. 1978.
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geahndet (letztere als verfassungsverräterische Zersetzung).34 Der KPD-Mann und nordrhein-westfälische Landtagsabgeordnete Josef Angenfort hatte im Mai 1952 gegen Konrad Adenauers Absicht agitiert, die Pariser Verträge zu unterzeichnen, und wurde 1955 vom Bundesgerichtshof (BGH) mit fünf Jahren Zuchthaus hart bestraft: Der Bundesgerichtshof nahm an, dass ein Massen- und Generalstreik, der die Ausschaltung der Bundesregierung und des Bundestags bezweckte, Gewalt im Sinne der Straftatbestände von Verfassungs- und Gebietshochverrat sei.35 Der Politologe und Staatsrechtler Wolfgang Abendroth mahnte, in der Anfangszeit des „Dritten Reichs“ sei ein vergleichbares Delikt mit höchstens drei Jahren geahndet worden. Öffentliche Versammlungen galten Verwaltung und Justiz als potenzielle Gefahr. Die Absicht zur Beherrschung dieses Gefahrenpotenzials war von Anfang an dem Versammlungsgesetz eingeschrieben, das nicht nur Versammlungen, sondern auch vor Versammlungen schützen möchte. Allerdings macht auch in den Begründungen gerichtlicher Entscheidungen der Ton die Musik und ist ein Echo gesellschaftspolitischer Zustände. 1967 entschied das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), dass das gesetzliche Erfordernis, eine öffentliche Versammlung unter freiem Himmel vorher anzumelden, und die Auflösung einer unangemeldeten Versammlung „jedenfalls für die Regelfälle, in denen eine Anmeldung möglich ist“, nicht gegen Art. 8 GG verstießen.36 Das Gericht stützte sich ausdrücklich auf die Begründung der Vorinstanz, dass solche Versammlungen „wegen der Unbegrenztheit der Teilnehmerzahl und ihrer massensuggestiven Wirkung die Gefahr einer Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ mit sich brächten und daher die Polizei rechtzeitig vorher benachrichtigt werden müsse. Die Formulierung zeigt, dass solche Versammlungen einem Generalverdacht ausgesetzt waren. „Liberal“ erscheint dagegen die Erwägung, dass von Grundrechts wegen entgegen dem Wortlaut des § 14 VersG auch eine Anmeldefreiheit möglich sein konnte.37
34§ 91
StGB i.d.F. vom Juli 1957, Bundesgesetzblatt (BGBl.) I 1957, S. 599. Beispiele bei von Brünneck, Politische Justiz (wie Anm. 33), S. 177–180, mit Nachweisen zu der Rechtsprechung. 35Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen, BGHSt 8, S. 102 = NJW 1956, S. 231 – Josef Angenfort. 36Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts, BVerwGE 26, S. 135. 37Diese Überlegung nimmt die Brokdorf-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1985 vorweg.
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Die „Schwabinger Krawalle“ des Juni 1962 waren im Jahre 1967 Anlass einer wegweisenden Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zum Verwaltungsprozessrecht, die die verwaltungsgerichtliche Kontrolle gegenüber polizeilichen Maßnahmen gestärkt hat:38 Wenn ein Kläger substantiiert vorträgt, ohne hinreichenden Grund mit Waffengewalt misshandelt worden zu sein, hat er ein Rechtsschutzbedürfnis, auch wenn die Versammlung längst beendet ist und keine Wiederholungsgefahr besteht. In der Sache selbst entschied das Bundesverwaltungsgericht erst 1971, dass die Gruppen, die sich im Juni 1962 zusammenfanden, unfriedlich waren und daher keine Versammlung im Sinn von Art. 8 GG bildeten.39 Angesichts der überschießenden Reaktionen der Polizei, die bei der Auflösung der Menge massiv von Schlagstöcken Gebrauch gemacht hatte, scheinen die beiden Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts bloß ein Pyrrhussieg der Versammlungsfreiheit, wenn nicht sogar eine Niederlage zu sein. Die vom Bundesverwaltungsgericht hier anerkannte verwaltungsgerichtliche Feststellungsklage zur „Rehabilitation“ hat aber in der Folge und bis heute eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für die Zähmung der Staatsgewalt erlangt.
2.2 Rechtswissenschaft Das rechtswissenschaftliche Schrifttum zum Versammlungsrecht war zu jener Zeit noch überschaubar. So existierten im Verlag Deutsche Polizei ein Kommentar von Hans Trubel und Franz Hainka, „Das Versammlungsrecht“, von 1953 und im Verlag Vahlen eine „Handausgabe mit eingehenden Erläuterungen“ von 1954. Auch die Kommentierungen zum Grundrecht der Versammlungsfreiheit in den Grundgesetz-Kommentaren von Mangoldt/Klein und Maunz/Dürig setzten für die Rechtsprechung Maßstäbe.40 Die „Demonstrationsfreiheit“ wurde besonders in den 1960er Jahren zum Rechtsbegriff erklärt. Versammlungs- und Meinungsfreiheit waren dadurch
38BVerwGE
26, S. 161. 38, S. 220 = NJW 1971, S. 1854. 40Hans Trubel/Franz Hainka, Das Versammlungsrecht, Hamburg 1953; Versammlungsgesetz, Handausgabe mit eingehenden Erläuterungen, Berlin u. a. 1954; Hermann von Mangoldt/Friedrich Klein, Das Bonner Grundgesetz, Kommentar, München (1953); Theodor Maunz/Günter Dürig (Gründungsherausgeber), Grundgesetz-Kommentar (Loseblattsammlung), München, seit 1958. 39BVerwGE
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begrifflich zusammengeschlossen,41 gedacht wurde hierbei in erster Linie an politische Veranstaltungen mit skandierten Parolen und Transparenten. Der Begriff unterstrich deren Legitimität. Später war die separate Nennung der Demonstrationsfreiheit nützlich, um zu verdeutlichen, dass Demonstrationen (nur) ein Unterfall der Versammlungsfreiheit sind. Damit markierte dieser Begriff auch eine Position in der späteren Kontroverse um die Frage, ob lediglich die kollektive Meinungskundgabe eine Versammlung im Sinne des Art. 8 GG ist. In den 1960er Jahren waren die Vorzeichen noch anders: Es ging darum, derartige Demonstrationen überhaupt als Grundrechtsausübung zu kennzeichnen. Das Bundesverfassungsgericht konnte im Jahr 1985 daran anschließen, als es in seiner Leitentscheidung „Brokdorf“ gerade auch solche Demonstrationen in den Schutzbereich der Versammlungsfreiheit einschloss.42 Spätestens zu diesem Zeitpunkt wurde offensichtlich, dass Versammlungen nicht nur dem „geistigen Kampf“ der Meinungen dienen, sondern auch durch massive physische Präsenz und Expressivität einer Menschenmenge ihre Wirkung entfalten dürfen.43 Diese Wirkungsweise war in der früheren Rechtsprechung der Verwaltungs- und Strafgerichte eher als Bedrohung empfunden worden.
3 1967 bis 1985: Die Studentenbewegung und ihre Folgen 3.1 Gesetzgebung Durch Gesetz vom 24. Mai 1968 wurde § 29a VersG eingeführt, der die Einziehung von Gegenständen ermöglichte, auf die sich eine Straftat bezieht. Das betraf unerlaubt auf Versammlungen getragene Waffen oder Uniformen ebenso wie Kennzeichen nationalsozialistischer Organisationen. Das Dritte Strafrechtsreformgesetz
41So
Sieghart Ott, Demonstrationsfreiheit und Strafrecht, in: NJW 1969, S. 454–457, hier S. 454; ders., Das Recht auf freie Demonstration, Neuwied/Berlin 1967; Heinrich Hannover, Demonstrationsfreiheit als demokratisches Grundrecht, in: Kritische Justiz (1968), S. 51–59. 42BVerfGE 69, S. 315 (S. 342–343). Kritisch zum Begriff Otto Depenheuer, in: Maunz/ Dürig, Grundgesetz-Kommentar (wie Anm. 40), Stand: November 2006, Art. 8 Rn. 58. 43Vgl. Hans Peter Bull, Freiheit und Grenzen des politischen Meinungskampfes, in: Peter Badura/Horst Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. 2, Tübingen 2001, S. 163–191, hier S. 166.
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vom 20. Mai 197044 liberalisierte dann das Versammlungsrecht. Bis dahin war die Teilnahme an einer Versammlung mit erheblichen strafrechtlichen Risiken verbunden, besonders wenn die Versammlung einen gewalttätigen Verlauf nahm. Die versammlungsgesetzlichen Straftatbestände des Aufrufs zu einer verbotenen Versammlung45 und des Sich-nicht-unverzüglich-Entfernens trotz polizeilicher Versammlungsauflösung46 wurden gestrichen. Der Tatbestand des § 116 Strafgesetzbuch (StGB, „Auflauf“) wurde zu einer Ordnungswidrigkeit („unerlaubte Ansammlung“) herabgestuft.47 Im Strafgesetzbuch gab es darüber hinaus weitere für das Versammlungsrecht relevante Änderungen: Unter anderem wurde der § 110 StGB gestrichen, der die öffentliche Aufforderung zum Ungehorsam gegen Gesetze oder gegen die „von der Obrigkeit“ getroffenen Anordnungen unter Strafe stellte. Insbesondere wurde auch der Landfriedensbruch (§ 125 StGB) in der Weise neu gefasst, dass niemand mehr in „Sippenhaft“ für die Gewalttaten anderer Versammlungsteilnehmer genommen werden konnte. Die sozialliberale Koalition unter Willy Brandt hat damit Kollisionen zwischen Strafrecht und Art. 8 GG aufzulösen versucht. Die Fassungen der genannten Straftatbestände aus dem Abschnitt des Strafgesetzbuchs über „Widerstand gegen die Staatsgewalt“ stammten in wesentlichen Zügen noch aus dem Kaiserreich und wurden vielfach als obrigkeitsstaatliche Relikte wahrgenommen. Bedenken bestanden vor allem gegen die Vorschriften über Aufruhr und Landfriedensbruch, da sie hohe Mindeststrafen androhten und weit gefasste Tatbestände enthielten. Nach diesen Vorschriften konnte sogar jemand bestraft werden, der weder an den Ausschreitungen mitgewirkt noch diese auch nur gebilligt hatte. Durch die Gesetzesänderungen wurden mehrere Verfassungsbeschwerden hinfällig – und das Bundesverfassungsgericht wurde um eine Grundsatzentscheidung zur Versammlungsfreiheit gebracht. Der Gesetzgeber hat zudem ein Gesetz zur Straffreiheit erlassen, das nicht nur für die nach der Reform nicht mehr erfassten Fälle Amnestie gewährte, sondern darüber hinaus auch Straffreiheit bei Straftaten garantierte, die durch „eine zur Meinungsäußerung oder Meinungsbildung in öffentlichen Angelegenheiten
44BGBl.
I 1970, S. 505.
45§ 23 VersG. 46§ 29
Nr. 4 VersG. der Sohn Willy Brandts, Peter Brandt, ist 1968 wegen der Straftat des Auflaufs vom Amtsgericht Berlin-Tiergarten verurteilt worden. Vgl. die Dokumentation der Entscheidung sowie die kritische Anmerkung Wolfgang Schivelbuschs, in: Kritische Justiz (1968), S. 68–73.
47Auch
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bestimmte Demonstration oder im Zusammenhang hiermit begangen worden sind“. Das Gesetz betraf rund 6.000 Personen. Schwere Delikte wie gefährliche Körperverletzung oder Totschlag blieben allerdings von der Amnestie ausgeschlossen. Mit den Änderungen sollte auch die unterschiedliche Rechtsprechung der Strafgerichte vereinheitlicht werden. Der Sonderausschuss des Bundestags für die Strafrechtsreform hörte dazu Sachverständige an, unter ihnen Verfassungs- und Strafrechtler, Soziologen, Psychologen, ein Richter sowie ein Staatsanwalt, drei Strafverteidiger, Vertreter der Polizei sowie der Dachverbände der Studentenschaft. Mit Gesetz vom 2. März 1974 wurden auch die verbliebenen Straftatbestände des § 29 VersG zu Ordnungswidrigkeiten herabgestuft. Es handelte sich um die Tatbestände der Teilnahme an einer verbotenen Versammlung, der Störung einer Versammlung, des Nichtentfernens nach Ausschluss aus einer Versammlung, der Nichtmitteilung der Zahl der bestellten Ordner trotz Aufforderung sowie der Verwendung einer größeren Zahl von Ordnern als genehmigt. Durch Gesetz vom 25. September 1978 kam es dann jedoch wieder zu einer gegenläufigen Entwicklung. So wurde das Verbot des Waffentragens erweitert. Dies sollte der Bekämpfung von Gewaltkriminalität dienen und beruhte auf Erfahrungen mit unfriedlich verlaufenen Demonstrationen. Außerdem wurde der 1970 gestrichene Straftatbestand des Sich-nicht-unverzüglich-Entfernens trotz polizeilicher Versammlungsauflösung als Ordnungswidrigkeitentatbestand48 wieder eingeführt.49
3.2 Rechtsprechung Das Versammlungsrecht hatte auch nach zeitgenössischer Sicht „bis etwa 1967 ein verstecktes Dasein gefristet“.50 Erst die Ereignisse dieses Jahres änderten dies.51 Rechtswissenschaft und Rechtsprechung erhielten nun verstärkt Gelegenheit, zur Auslegung von Versammlungsgesetz, Art. 8 GG und einschlägigen Straftatbeständen Stellung zu beziehen. Anlass hierfür waren unter anderem Aktionen der Studentenbewegung, später auch Versammlungen rechtsextremer Parteien, Aktionen und Versammlungen der autonomen Szenen und der Anti-Atomkraft-Bewegung. 48BGBl.
I 1978, S. 1571; nunmehr § 29 Abs. 1 Nr. 2 VersG 1978. 29 Abs. 1 Nr. 2 VersG: „Ordnungswidrig handelt, wer sich trotz Auflösung einer öffentlichen Versammlung oder eines Aufzuges durch die zuständige Behörde nicht unverzüglich entfernt“. 50Jochen Abr. Frowein, Versammlungsfreiheit und Versammlungsrecht, in: NJW 1969, S. 1081–1086, hier S. 1081. 51Ebd. 49§
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Insbesondere an der Rechtsprechung zum Demonstrationsstrafrecht lässt sich ablesen, dass Justiz und Verwaltung hinter den zeitgenössischen Versammlungen oft mehr das strafwürdige Unrechtspotenzial sahen als eine demokratisch wertvolle Grundrechtsentfaltung. Bezeichnend für diese Haltung ist, dass bis zu dem „liberaleren“ Dritten Strafrechtsreformgesetz 197052 ein Demonstrant mit Gefängnisstrafe wegen Aufruhrs oder Landfriedensbruchs rechnen musste, wenn es zu gewalttätigen Ausschreitungen kam, sogar wenn er selbst in der Menge der Demonstranten gar nicht daran beteiligt war. Die Gerichte befassten sich auch immer wieder mit der Auslegung des Tatbestandsmerkmals der „Gewalt“, das in mehreren Strafparagrafen vorkommt, etwa beim Landfriedensbruch oder bei der Nötigung. Unklar war etwa, ob eine Sitzblockade auf einer Straße oder auf Schienen als Gewalt gewertet werden konnte. Hinzu kam, dass derselbe Begriff in den unterschiedlichen Strafvorschriften jeweils anders verstanden wurde, sodass etwa ein (schärfer zu ahndender) Landfriedensbruch mangels Gewalt ausschied, wohl aber eine Nötigung (und damit die Bejahung von Gewalt im Sinne des Nötigungsparagrafen) in Betracht kam. Die Rechtsprechung verfuhr in diesen Fragen nicht einheitlich, war aber überwiegend streng gegenüber Teilnehmern gewalttätiger Demonstrationen. Die grundrechtliche Dimension des Problems wurde oft einfach übergangen: Einerseits stehen „unfriedliche“ Demonstrationen nicht unter dem Schutz des Grundrechts der Versammlungsfreiheit (wobei auslegungsbedürftig ist, wann das Verhalten Einzelner eine Versammlung insgesamt unfriedlich macht). Andererseits müssen die Strafgesetze und auch das Tatbestandsmerkmal „Gewalt“ unter Umständen ihrerseits verfassungs- und grundrechtskonform ausgelegt werden. Hier hat sich unter den Strafgerichten im Betrachtungszeitraum allerdings keine besondere „Privilegierung“ zugunsten von Versammlungen durchgesetzt. Auch das Bundesverfassungsgericht hat in seiner dritten Entscheidung zu Sitzblockaden im Jahr 2001 den Grundsatz formuliert, dass verbotenes Verhalten nicht dadurch rechtmäßig wird, dass es gemeinsam mit anderen Beteiligten in Form einer Versammlung erfolgt.53 Das Oberlandesgericht Celle wertete die als Demonstration gedachte Behinderung des Vertriebs der Bild-Zeitung (im April 1968) als Landfriedensbruch
52BGBl.
I 1970, S. 505. pointiert erst in BVerfGE 104, S. 92 (2001) – Wackersdorf und Autobahnblockaden (Sitzblockade III); aber der Sache nach bereits 1986 in BVerfGE 73, S. 206 – Mutlangen (Sitzblockade I), dort mit Hinweis auf die Laepple-Entscheidung des Bundesgerichtshofs.
53So
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und Nötigung.54 Das Oberlandesgericht Frankfurt hob im Oktober 1969 eine Verurteilung Daniel Cohn-Bendits wegen Aufruhrs und Landfriedensbruchs auf, die die Vorinstanz wegen dessen Teilnahme an der Paulskirchendemonstration gegen die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an den Staatspräsidenten des Senegal ausgesprochen hatte.55 1968 entschied das Bayerische Oberste Landesgericht, dass die bewusste Sperrung einer Straße durch eine Menschenmenge in Form eines Sitzstreiks eine Gewalttätigkeit im Sinne des Landfriedensbruchs sei.56 1969 befasste sich der Bundesgerichtshof in Strafsachen mit der Blockade von Straßenbahnschienen durch einen Sitzstreik des Arbeitskreises Kölner Hochschulen (Fall „Laepple“).57 Das Landgericht Köln hatte die Angeklagten vom Vorwurf der Nötigung, der Beihilfe zum schweren Landfriedensbruch und zum schweren Aufruhr freigesprochen. Der Bundesgerichtshof verwarf zwar den Landesfriedensbruch (anders als das Bayerische Oberste Landesgericht in dem genannten vergleichbaren Fall), nahm aber eine Nötigung an, weil die Studenten einen Straßenbahnführer mit Gewalt im Rechtssinne genötigt hätten, sein Fahrzeug anzuhalten. Es kam zwar zu keiner physischen Einwirkung auf den Straßenbahnführer, wohl aber wurde eine psychische Hemmung provoziert. Dieser „weite“ Gewaltbegriff wurde noch bis in die 1990er Jahre judiziert58 und erst 1995 vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig verworfen.59 Ein anderes Problem war, ob und, wenn ja, unter welchen Voraussetzungen eine aufgelöste Versammlung nicht mehr unter dem besonderen Schutz des Versammlungsgesetzes stand. Die Rechtsprechung vor 1970 war hier uneinheitlich. Ob und in welcher Weise ein Gericht die kaiserzeitlichen Vorschriften des Strafgesetzbuchs grundrechtskonform auslegte, unterlag keinem Standard. So mochte das eine Gericht eine mildere Strafe nach dem Versammlungsgesetz
54NJW
1970, S. 206; siehe zum Landfriedensbruch § 125 Abs. 1 StGB und zur Nötigung § 240 StGB. 55Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt a.M., Kritische Justiz (1970), S. 103–109; die Entscheidung der Vorinstanz Landgericht (LG) Frankfurt a.M., ebd., S. 89–103. 56Bayerisches Oberstes Landesgericht (BayObLG), NJW 1969, S. 63. 57BGHSt 23, S. 46 = NJW 1969, S. 1770. 58Vgl. Kammergericht (KG) Berlin, NJW 1985, S. 209 (S. 210): „in der Rechtsprechung anerkannt“. Vgl. aber auch Oberlandesgericht (OLG) Stuttgart, NJW 1984, S. 1909 (S. 1910): Gewalt i. S. v. § 240 StGB führe nicht zur Unfriedlichkeit der Versammlung. 59Wegen Verstoßes gegen das Bestimmtheitsgebot (Art. 103 Abs. 2 GG); BVerfGE 92, S. 1 (Sitzblockade II).
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aussprechen, während ein anderes schärfer wegen „Auflaufs“60 nach dem Strafgesetzbuch bestrafte.61 Der Straftatbestand des Auflaufs wurde dann 1970 zu einer Ordnungswidrigkeit herabgestuft,62 der versammlungsgesetzliche Straftatbestand des Sich-nicht-unverzüglich-Entfernens ganz gestrichen (wenn auch 1978 als Ordnungswidrigkeit wieder eingeführt). Der Gesetzgeber hat offenkundig auf die uneinheitliche Rechtsprechung reagiert. Gegen die Teilnehmer von Versammlungen konnte bei Gesetzesverstößen nicht nur strafrechtlich vorgegangen werden, sondern sie konnten im Falle von Demonstrationsschäden bzw. „Tumultschäden“ auch zivilrechtlich haftbar gemacht werden.63 Sowohl Private als auch der Staat konnten solche Ansprüche gegen Versammlungsteilnehmer und nicht nur gegen den Versammlungsleiter geltend machen. Das Landgericht Berlin verurteilte Horst Mahler zum Ersatz von Schäden, die bei einer Demonstration am 11. April 1968 gegen das Verlagshaus der Bild-Zeitung entstanden waren.64 Wer sich an einer Demonstration beteilige, für die Schutzmaßnahmen wie Einsetzung eines Leiters und Bereitstellung von Ordnern nicht getroffen worden waren, handele fahrlässig, weil er durch seine Anwesenheit die Gefahr noch vergrößere. Er hafte für Schäden, die andere Demonstranten oder auch Dritte, die sich unter die Demonstranten gemischt haben, verursachen. Der Bundesgerichtshof bestätigte diese Rechtsprechung im Fall „Amendt“: Die Versammlungsfreiheit könne die Schädigungen nicht rechtfertigen. Das Gericht stellte darauf ab, dass es sich um unfriedliche Versammlungen handele, die nicht unter den grundrechtlichen Schutzbereich fielen; der Versammlungsfreiheit gehe es um den „geistigen Kampf der Meinungen“,65 was auf der Kehrseite bedeutete, dass handfeste physische Schäden als Resultat des Meinungskampfes nicht durch die Versammlungsfreiheit gerechtfertigt 60§ 116
StGB. das Bayerische Oberste Landesgericht (BayObLG), NJW 1969, S. 63. Eine vollkommen andere Herangehensweise wählt das Landgericht (LG) Hannover, NJW 1969, S. 1038 unter sorgfältiger Prüfung im Lichte der Versammlungsfreiheit. 62Zunächst durch das Dritte Strafrechtsreformgesetz 1970 (BGBl. I 1970, S. 505 [S. 506]) in dessen Art. 2, der 1974 durch Art. 29 Nr. 48 Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch, EGStGB (BGBl. I 1974, S. 469 [S. 540]) in das Gesetz über Ordnungswidrigkeiten (OWiG) überführt wurde. 63Vgl. die Dokumentation der Rechtsprechung bei Axel Adamietz, Demonstrationen und ihr Preis. Eine Dokumentation zum „Demonstrationskostenrecht“, in: Kritische Justiz 1981, S. 292–310, hier S. 294–308. 64NJW 1969, S. 1119. 65Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen, BGHZ 59, S. 30. 61So
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waren.66 Eine spätere Entscheidung des Oberlandesgerichts Celle (aus dem Jahr 1981) setzte hingegen einen deutlich anderen Akzent.67 Der Bundesgerichtshof schwenkte danach auf diesen Kurs ein, legte die einschlägige Vorschrift des Bürgerlichen Gesetzbuchs (§ 830) restriktiver aus und hielt eine Ausdehnung der zivilrechtlichen Haftung für die bei einer Großdemonstration angerichteten Schäden auf passiv bleibende Demonstranten wegen des unkalkulierbaren Haftungsrisikos für einen Verstoß gegen die Versammlungsfreiheit.68 Die Gefahr gewalttätiger Gegendemonstrationen stellte den Staat schon vor rund fünfzig Jahren auf die Probe: Wie viele Ressourcen (vor allem Polizeikräfte) war er einzusetzen verpflichtet, damit der Kampf der Meinungen auf der Straße praktiziert werden konnte? Im Jahr 1970 hielt das Verwaltungsgericht Köln das Verbot einer rechtsextremen Versammlung für rechtswidrig, wenn es mit der Gewaltbereitschaft von Gegendemonstranten begründet wird.69 Die Mehrheit dürfe im Rechtsstaat nicht das Recht einer Minderheit vereiteln. Die Annahme eines polizeilichen Notstands, aufgrund dessen eine Versammlung angesichts zu erwartender Gegengewalt verboten werden darf, sei erst gerechtfertigt, wenn die Polizei bei Ausnutzung aller ihr zur Verfügung stehenden Mittel machtlos sei. Zu diesen Mitteln gehöre auch die Anforderung von Bereitschaftspolizei aus anderen Bundesländern sowie des Bundesgrenzschutzes. Das Oberverwaltungsgericht Saarlouis hatte demgegenüber das Verbot eines NPD-Parteitages ohne derartige Überlegungen bestätigt, weil mit gewalttätigen Ausschreitungen von Gegendemonstranten zu rechnen war.70 Die vom Verwaltungsgericht Köln geforderte Anforderung des Bundesgrenzschutzes durch die Bundesländer kam in den 1970er Jahren immer häufiger vor.71 Eine Änderung des Grundgesetzes erklärte diese Hilfe
66Ähnlich
entschied das Gericht noch 1974: Bundesgerichtshof (BGH), NJW 1975, S. 49. (OLG) Celle, Niedersächsische Rechtspflege (NdsRpfl) 1982, S. 39 – Grohnde: „Für eine Haftung reicht nicht aus, daß ein Demonstrant lediglich mit Ausschreitungen rechnet und Schäden bei der Erreichung des auch von ihm gewollten Zieles [hier: Besetzung eines Kernkraftwerksgeländes] in Kauf nimmt.“ 68BGHZ 89, 383 = NJW 1984, S. 1226. 69NJW 1971, S. 210. Zustimmend Ernst Pappermann, Entscheidungsbesprechung, in: NJW 1971, S. 213. 70Juristenzeitung (JZ) 1970, S. 283. 71Hans Boldt/Michael Stolleis, in: Hans Lisken/Erhard Denninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 4. Aufl., München 2007, Kapitel A Rn. 85. 67Oberlandesgericht
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ausdrücklich zur Aufgabe des Bundesgrenzschutzes (seit 2005 Bundespolizei).72 Der Umgang mit Gegendemonstrationen ist allerdings bis heute eine Streitfrage des Versammlungsrechts geblieben.73 Es gehört zum Selbstbestimmungsrecht einer Versammlung, dass sie sich ihren Ort selbst wählt. Der öffentliche Raum (Straßen und Plätze) ist für politische Versammlungen prädestiniert. Das Grundrecht der Versammlungsfreiheit schließt die Inanspruchnahme des öffentlichen Raums ein.74 Selbst Autobahnen dürfen ausnahmsweise zu Versammlungszwecken genutzt werden.75 Bannmeilengesetze schirmen meist nur den näheren Umkreis der Parlamente ab,76 wobei gesetzliche Ausnahmen zugunsten von Versammlungen für den Einzelfall vorgesehen sind. Absolute „Flächenverbote“ gibt es kaum. Das Verwaltungsgericht Berlin judizierte, dass es über die gesetzlichen Regelungen hinaus keine „Bannkreispraxis“ für die Umgebung von Gerichten gebe. Vielmehr habe es der Gesetzgeber bewusst in Kauf genommen, die Unabhängigkeit der Richter dem „Druck der Straße“ auszusetzen.77 Im Einzelfall ist zu prüfen, ob eine Versammlung vor einem Gerichtsgebäude verboten wird. Mit der grundsätzlichen Öffentlichkeit von Gerichtsverhandlungen gibt es auch dann eine demokratische Kontrolle des Geschehens im Gerichtssaal, wenn Versammlungen vor dem Gerichtsgebäude verboten werden. Flächen und Gebäude im Verwaltungsgebrauch (z. B. Verwaltungsgebäude) müssen grundsätzlich nicht für Versammlungen zur Verfügung gestellt werden, die Versammlungsfreiheit ist aber bei der Ermessensentscheidung
72Änderung des Art. 35 Abs. 2 GG durch Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28.7.1972, BGBl. I S. 1305. Einfachgesetzlich in § 9 Abs. 1 Bundesgrenzschutzgesetz vom 18.8.1972 (BGBl. I 1971, S. 1834). 73Siehe aus der jüngeren Rechtsprechung z. B. OVG Münster, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht – Rechtsprechungs-Report (NVwZ-RR) 2017, S. 455; Oberverwaltungsgericht (OVG) Bautzen, Beschluss vom 7.3.2016, Az. 3 B 76/16 = Beck-Rechtsprechung (BeckRS) 2016, 43690 (beck-online). 74Siehe Alfred Dietel/Kurt Gintzel/Michael Kniesel, Versammlungsgesetz. Kommentar zum Gesetz über Versammlungen und Aufzüge, 16. Aufl., Köln 2011, § 1 Rn. 96. 75Vgl. Verwaltungsgerichtshof (VGH) Kassel, NJW 2009, S. 312. 76Vgl. Bannmeilengesetz des Bundes (1955); Bannmeilengesetz Baden-Württemberg (1963); Bannmeilengesetz Nordrhein-Westfalen (1969). 77Verwaltungsgericht (VG) Berlin, Urteil vom 12.7.1978, Az. 1 A 464.76 = Beck-Rechtsprechung (BeckRS) 1978, 01993, mit Hinweis auf Stenografische Berichte vom 6.5.1953, 12864. Vgl. den Gesetzentwurf des Bundesrates, BT-Drucks. 7/3419 vom 25.3.1975.
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über die Zulassung einer Versammlung zu berücksichtigen.78 So musste die Bonner Universität bei ihrer ablehnenden Entscheidung über die Zulassung einer Großveranstaltung von über 100.000 Demonstranten auf der Hofwiese auch berücksichtigen, dass keine andere Fläche in der Stadt eine derartige Versammlung aufnehmen kann.79 Von Studenten kann die Universität grundsätzlich auch als Raum für politische Versammlungen genutzt werden.80 Die Lehrfreiheit der Dozenten steht allerdings einer eigenständigen Gestaltung von Seminarveranstaltungen durch die Studenten entgegen.81 Die Spezialität des Versammlungsgesetzes gilt nicht nur gegenüber dem allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht, sondern auch gegenüber anderem besonderem Gefahrenabwehrrecht. So bedarf eine Versammlung grundsätzlich keiner straßen- und wegerechtlichen Sondernutzungserlaubnis oder einer Erlaubnis nach der Straßenverkehrsordnung (StVO).82 Das Oberverwaltungsgericht Münster hielt allerdings – im Vorfeld einer Demonstration gegen das Kernkraftwerk Kalkar – die Durchsuchung von Personen und Sachen sowie die Sicherstellung von Gegenständen auf der Grundlage des Polizeigesetzes für zulässig.83 Das bedeutete eine Relativierung der „Polizeirechtsfestigkeit“ von Versammlungen durch sogenannte Vorfeldmaßnahmen nach allgemeinem Polizeirecht.84 Die spätere Rechtsprechung stellte immerhin klar, dass auch das Vorfeld einer Versammlung durch das Grundrecht geschützt wird und eine Versammlung nicht ohne Verbot oder Auflösung verhindert werden darf (etwa durch Ingewahrsamnahme möglicher Teilnehmer).85 78Vgl.
Alfred Dietel/Kurt Gintzel/Michael Kniesel, Versammlungsgesetz (wie Anm. 74), § 1 Rn. 97 mit Darstellung des Streitstands. 79BVerwG, NJW 1993, S. 609 (610). 80Vgl. Verwaltungsgericht (VG) Karlsruhe, Urteil vom 4.5.1972, Az. III 47/72 = BeckRechtsprechung (BeckRS) 1972, 31219409; Bodo Pieroth, Störung, Streik und Aussperrung an der Hochschule, Berlin 1976, zur Versammlungsfreiheit an der Hochschule: S. 171–178. 81Verwaltungsgericht (VG) Koblenz, NJW 1973, S. 1244. 82Zu Erlaubnis nach § 29 Abs. 2 Straßenverkehrsordnung (StVO) siehe BVerwG, NJW 1989, S. 2411 (2412); BVerwGE 80, S. 158 (S. 159). 83NVwZ 1982, S. 46. 84Ähnlich auch Verwaltungsgericht (VG) Braunschweig, NVwZ 1988, S. 661. Zur heutigen Rechtslage Christoph Trurnit, Vorfeldmaßnahmen bei Versammlungen, in: NVwZ 2012, S. 1079–1083; Andreas Meßmann, Das Zusammenspiel von Versammlungsgesetz und allgemeinem Polizeirecht, in: Juristische Schulung (JuS) 2007, S. 524–528, hier S. 527–528. 85Z. B. Verwaltungsgericht (VG) Hamburg, NVwZ 1987, S. 829 (Heiligengeistfeld Hamburg, sogenannter Hamburger Kessel). Bewertung der Rechtsprechung bei Hans-W. Alberts, Zum Spannungsverhältnis von Art. 8 GG und dem Versammlungsgesetz, in: NVwZ 1992, S. 38–40, hier S. 39.
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Die Verhältnismäßigkeit wurde zum leitenden Prinzip für die Beurteilung polizeilicher Maßnahmen. Auch der Verwaltungsgerichtshof München entschied 1984, dass ein Demonstrationsverbot zugunsten des Straßenverkehrs nur in „äußerst gravierenden Notfällen“ zulässig sei,86 da es die Möglichkeit von Auflagen gebe. 1982 entschied der Verwaltungsgerichtshof München, dass eine Versammlung nicht verboten werden dürfe, wenn nur einzelne von mehreren Versammlungsthemen strafbare Handlungen erwarten lassen. Es genüge, die Erörterung dieser besonderen Themen zu untersagen.87
3.3 Rechtswissenschaft Der Begriff der Versammlung wird in Versammlungsgesetz und Grundgesetz (Art. 8 GG) grundsätzlich gleich verstanden. In den späten 1960er Jahren entzündete sich im Schrifttum jedoch die Diskussion um einen engen oder weiten Versammlungsbegriff. Roman Herzog vertrat im renommierten Grundgesetz-Kommentar von Maunz/Dürig die Auffassung, die grundrecht liche Versammlungsfreiheit schütze auch Zusammenkünfte rein gesellschaftlicher Art wie Konzertbesuche oder Sportereignisse.88 Sogar private Treffen wie Familientage seien Versammlungen und nicht bloße „Ansammlungen“.89 Diese Sichtweise war nicht unumstritten. Zahlreiche Juristen verwiesen darauf, dass für den Begriff der Versammlung die Beziehung zur Meinungsfreiheit wesentlich sei, sodass eine Versammlung voraussetze, dass sich Menschen zum Zweck der Meinungsäußerung treffen.90 Eine weitere Kontroverse betraf die Frage, ob die Erörterung gerade „öffentlicher Angelegenheiten“ konstitutiv für den Versammlungsbegriff ist. Das Bundesverwaltungsgericht vertrat diese zusätzliche Eingrenzung des Versammlungsbegriffs,91 die es aus dem
86NJW
1984, S. 2116.
87Bayerisches Verwaltungsblatt
(BayVBl.) 1983, S. 54. Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar (wie Anm. 40), Stand: 1969, Art. 8 Rn. 43–44. Vgl. auch die Kritik von Frowein, Versammlungsfreiheit (wie Anm. 50), S. 1081. 89So Ingo von Münch, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Loseblatt), Heidelberg, Stand: 1969, Art. 8 Rn. 24–25. 90So z. B. Frowein, Versammlungsfreiheit (wie Anm. 50), S. 1081. 91BVerwGE 26, S. 135 (137). 88Roman
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rundgesetz-Kommentar von Mangoldt/Klein übernommen hatte.92 In der G Literatur gab es allerdings deutliche Gegenstimmen, die, wenn sie nicht ganz auf die Meinungsäußerung als Begriffsmerkmal verzichteten (wie Herzog und von Münch), eine Erörterung irgendwelcher, eben auch nicht-öffentlicher Angelegenheiten als Merkmal einer Versammlung ausreichen ließen.93 Die definitorischen Schwierigkeiten blieben – auch mangels verfassungsgerichtlicher Klärung – lange in der Diskussion. So war etwa 1982 noch umstritten, ob Hausbesetzer sich auf den Schutz von Art. 8 GG berufen können (hier spielte zusätzlich noch die Frage hinein, inwieweit grundrechtlicher Schutz gewährt werden kann, wenn man fremdes Privateigentum dafür usurpiert).94 Erst die Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Loveparade im Jahr 2001 machte klar, dass eine Versammlung im Rechtssinn tatsächlich wesenhaft auf die Ausübung der Meinungsfreiheit gerichtet sein muss und eine bloße Tanz- und Musikveranstaltung dieses Kriterium nicht erfüllte. Diese verfassungsgerichtliche Festlegung ist für die behördliche und verwaltungsgerichtliche Praxis wegweisend. Dahingegen hatte (und hat) das Bundesverfassungsgericht noch immer nicht entschieden, ob nicht auch die Erörterung gerade öffentlicher Angelegenheiten wesentliches Merkmal einer Versammlung ist. Die „68er“-Bewegung gab auch der versammlungsrechtlichen Literatur einen Schub. Die Zahl der Handbücher, Kommentare zum Versammlungsgesetz und Aufsätze nahm stark zu.95 Es entwickelte sich eine regelrechte „Ratgeberliteratur“ zur Organisation von Versammlungen.96 In den Veröffentlichungen fanden sich hierbei nun immer wieder auch Stimmen, die gesetzliche Regelungen oder die Rechtsprechung kritisierten (immer wieder z. B. in der 1968 im APO-Umfeld gegründeten Zeitschrift „Kritische Justiz“).97 Die Rechtsprechung zum Demonstrationsstrafrecht wurde vielfach als konservativ gewertet, weil sie sich noch auf kaiserzeitliche Vorschriften des Strafgesetzbuchs stütze, die Strafrechtsreform des Jahres 92Vgl.
Hermann von Mangoldt/Friedrich Klein, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, 2. Aufl., Berlin/Frankfurt a.M. 1957, S. 304. 93Frowein, Versammlungsfreiheit (wie Anm. 50), S. 1082. 94Dagegen Alfred Dietel/Kurt Gintzel, Kommentar zum Gesetz über Versammlungen und Aufzüge vom 24.7.1953, 7. Aufl., Köln 1982, § 1 Anm. 71. 95Sieghart Ott, Gesetz über Versammlungen und Aufzüge (Versammlungsgesetz), Stuttgart u. a. 1969. 96Z. B. Gerhard Halberstadt/Wilfrid Hensel, Versammlung und Demonstration, Bonn 1983. 97Beispielsweise Thomas Blanke/Dieter Sterzel, Demonstrationsfreiheit – Geschichte und demokratische Funktion, in: Kritische Justiz (1981), S. 347–369, mit weiteren Hinweisen; Geulen, Versammlungsfreiheit (wie Anm. 3).
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1970 hingegen wurde begrüßt. Als nicht mehr zeitgemäß wurde die Fixierung des Versammlungsgesetzes auf Versammlungen mit Veranstalter und Leiter kritisiert, weil Spontan- und Massendemonstrationen vielfach eine andere Wirklichkeit zeigten.98 Historisch lässt sich die gesetzgeberische Betonung der Funktion des Versammlungsleiters mit dem traditionellen Verbändestaat erklären: Die meisten größeren Demonstrationen in Kaiserreich und Weimarer Republik waren von politischen Vereinigungen, Verbänden, Gewerkschaften und Parteien veranstaltet worden und dementsprechend straff organisiert.99 Die Studentenproteste und die in den 1970ern einsetzende Umweltbewegung organisierten ihre Versammlungen dagegen in der Regel nicht hierarchisch,100 sondern sahen in den hierarchischen Verhältnissen der Gesellschaft (und auch im Verbändestaat) oftmals ihren Gegner.
4 1985 bis 2006: Das Bundesverfassungsgericht greift ein 4.1 Gesetzgebung Durch Gesetz vom 18. Juli 1985 wurden das Vermummungsverbot sowie ein Verbot von Schutzwaffen (§ 17a VersG) eingefügt. Der Gesetzgeber reagierte damit auf die steigende Zahl gewaltsamer Demonstrationen, bei denen oftmals einzelne gewaltbereite Teilnehmer aus der Deckung der Masse Gewalttaten begingen.101 Man löste das Problem also nicht in der Weise, dass alle Versammlungsteilnehmer mit Sanktionen rechnen mussten (wie noch vor der Strafrechtsreform von 1970). Die Verbote wurden durch Ordnungswidrigkeiten flankiert. Diese Sanktionierungen ermöglichten es der Polizei, nach dem Opportunitätsprinzip zu verfahren: Die Polizei war also nicht dazu verpflichtet, jede Tat zu verfolgen. Dazu wäre sie nur durch das bei Straftaten geltende
98Zur Verfassungswidrigkeit des Erfordernisses eines Versammlungsleiters Geulen, Versammlungsfreiheit (wie Anm. 3), S. 194–195. Diese Fixierung auf eine geleitete Versammlung entsprach nicht einmal der zeitgenössischen Interpretation des grundrechtlichen Schutzes, vgl. Anm. 25. 99Geulen, Versammlungsfreiheit (wie Anm. 3), S. 190. 100Man denke nur an die „Sponti-Szene“, die gerade in der „Spontaneität der Massen“ (Lenin) eine authentische Gestaltungskraft sah. 101Vgl. auch Rupert Scholz, Rechtsfrieden im Rechtsstaat. Verfassungsrechtliche Grundlagen, aktuelle Gefahren und rechtspolitische Folgerungen, in: NJW 1983, S. 705–712, hier S. 711.
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Legalitätsprinzip gezwungen. Das Opportunitätsprinzip stellt die Verfolgung und Ahndung von Verstößen in das Ermessen der Polizei. Ursprünglich war nur eine (im selben Artikelgesetz dann auch verwirklichte) Verschärfung der Strafbarkeit des Landfriedensbruchs geplant gewesen. Der Straftatbestand wurde auf bewaffnete oder vermummte Personen ausgedehnt, die sich in einer Menschenmenge befinden, aus der heraus Gewalttätigkeiten oder Bedrohungen begangen werden, und die ihre Waffen oder Vermummung trotz Aufforderung der Polizei nicht ablegen bzw. die sich trotzdem nicht entfernen. Das Gesetz wurde einen Monat nach dem Brokdorf-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts erlassen. Das Artikelgesetz zur inneren Sicherheit vom 9. Juni 1989 gab der Polizei Befugnisse zur Anfertigung von Bild- und Tonaufnahmen von Teilnehmern einer öffentlichen Versammlung.102 Das Verbot von Schutzwaffen und Vermummung wurde auf das Vorfeld von Versammlungen ausgedehnt, Verstöße gegen dieses Verbot wurden nun von Ordnungswidrigkeiten zu Straftaten erklärt. Der im Jahre 1970 gestrichene Straftatbestand der Aufforderung zur Teilnahme an einer verbotenen Versammlung wurde wieder eingeführt. Ein besonderer Straftatbestand für die bewaffnete oder vermummte Zusammenrottung im Anschluss an oder im Zusammenhang mit Versammlungen wurde normiert. Das Gesetz reagierte damit unmittelbar auf die tödlichen Schüsse auf zwei Polizeibeamte bei einer Demonstration gegen die „Startbahn West“ in Frankfurt am Main. Die Zahl der Gewalttaten auf Versammlungen, besonders auch die Zahl verletzter Polizisten, war angestiegen. Die im Jahre 1985 eingeführten bußgeldbewehrten Verbote hatten sich laut Gesetzesbegründung als nicht ausreichend erwiesen.103 Die neuen Sanktionsnormen zum Schutzwaffen- und Vermummungsverbot erstreckten sich daher nicht nur auf Versammlungen, sondern auch auf sonstige öffentliche Veranstaltungen unter freiem Himmel. Die Strafgerichte wenden sie deswegen – auch heute noch – auf Vermummungen bei Fußballspielen und Unterhaltungsveranstaltungen an,104 die seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Loveparade nicht mehr unter den Versammlungsbegriff fallen.
102Durch Einfügung eines § 12a VersG, BGBl. I 1989, S. 1059. Bis dahin fehlte es an einer gesetzlichen Grundlage. Die Regelung ist Ausfluss der gestiegenen Sensibilität für den Datenschutz, vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 11/4359, S. 17. 103Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drucks. 11/2834, S. 7. 104Aus jüngerer Zeit z. B. Oberlandesgericht (OLG) Hamm, Neue Zeitschrift für Strafrecht – Rechtsprechungs-Report (NStZ-RR) 2017, S. 390; Oberlandesgericht (OLG) Bamberg, Neue Zeitschrift für Strafrecht (NStZ) 2016, S. 487.
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Im Jahre 1999 wurde das Versammlungsgesetz mit Blick auf das Gesetz über befriedete Bezirke für Verfassungsorgane des Bundes geändert. Aus dem Straftatbestand der Bannkreisverletzung wurde eine Ordnungswidrigkeit.105 Vertreter der Polizei hatten diese Änderung gefordert, um frei zu sein, nach dem Opportunitätsprinzip über eine Ahndung entscheiden zu können. Diese Begründung findet sich bei Abstufungen zu Ordnungswidrigkeiten immer wieder und lässt die große Belastung der Polizei bei der Verfolgung von Rechtsverstößen auf Demonstrationen erahnen. Durch Gesetz vom 24. März 2005 wurde ein neuer Verbotsgrund in § 15 VersG eingefügt.106 Der neue Absatz 2 schützt Orte, die als Gedenkstätte an „die Opfer der menschenunwürdigen Behandlung unter der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft“ erinnern, wenn zu befürchten ist, dass durch die Versammlung die Würde der Opfer beeinträchtigt wird. Das Holocaust-Denkmal in Berlin wird ausdrücklich im Gesetz aufgeführt. Es wurde jedoch kein grundsätzliches Versammlungsverbot (Bannmeile bzw. Flächenverbot) eingeführt.107 Der neue § 130 Abs. 4 StGB108 stellt es unter Strafe, wenn jemand öffentlich oder in einer Versammlung den öffentlichen Frieden in einer die Opfer verletzenden Weise dadurch stört, dass er die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft billigt, verherrlicht oder rechtfertigt. In der Begründung des Gesetzentwurfs wurde eine kontinuierliche Zunahme rechtsextremistischer Versammlungen angeführt, die sich „immer stärker an das Gepräge historischer Aufmärsche des NS-Regimes angleichen“. Kritische Stimmen merkten an, auch vor der Änderung des § 15 VersG seien in den nunmehr ausdrücklich genannten Fällen Versammlungsverbote zulässig gewesen. Man betreibe lediglich symbolische Gesetzgebung.
4.2 Rechtsprechung Es hat lange gedauert, bevor sich das Bundesverfassungsgericht der Versammlungsfreiheit in einer Grundsatzentscheidung, dem Brokdorf-Beschluss vom 14. Mai 1985, angenommen hat.109 Da das Gericht ausschließlich auf Antrag hin Entscheidungen trifft, lag dies vor allem an einem Mangel an Gelegenheit. 105BGBl.
I 1999, S. 1819: § 106 a StGB wurde aufgehoben, § 29a VersG eingeführt. I 2005, S. 969. 107Zu den Bedenken vgl. bereits Dieter Wiefelspütz, Das Versammlungsrecht – ein Fall für den Gesetzgeber?, in: Zeitschrift für Rechtspolitik (ZRP) 2001, S. 60–64, hier S. 62. 108BGBl. I 2005, S. 969 (970). 109BVerfGE 69, 315. Vgl. Geulen, Versammlungsfreiheit (wie Anm. 3), S. 189, der 1983 auf das Fehlen bundesverfassungsgerichtlicher Rechtsprechung hinweist. 106BGBl.
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Eine für den 28. Februar 1981 geplante Großdemonstration gegen den Bau eines Atomkraftwerks in Brokdorf war durch Allgemeinverfügung verboten worden. Der zuständige Landrat begründete das Verbot vor allem damit, dass unter den erwarteten 50.000 Demonstranten auch eine erhebliche Zahl gewaltbereiter Personen anwesend sein werde. Das Verwaltungsgericht Schleswig hob das Verbot am 27. Februar 1981 auf, wenige Stunden später und kurz vor dem 28. Februar bestätigte jedoch das Oberverwaltungsgericht Lüneburg das Verbot. Trotzdem kamen nahezu 100.000 Menschen und bildeten eine der größten Demonstrationen, die die Bundesrepublik bis dahin erlebt hatte. Es kam zwar tatsächlich zu gewaltsamen Ausschreitungen. Das Bundesverfassungsgericht erklärte aber dennoch das Versammlungsverbot im Jahr 1985 für verfassungswidrig. Der Brokdorf-Beschluss gilt als wegweisend bis heute.110 Das Gericht hat den Beschluss als Leitentscheidung für die Versammlungsfreiheit konzipiert. Betont wird neben der subjektiv-individuellen Bedeutung des gegen den Staat gerichteten Abwehrrechts, das gerade auch Minderheiten schützen soll, eine objektiv-rechtliche Dimension der Versammlungsfreiheit, die über den Schutz von individuellen Rechten hinausreicht: Die Versammlungsfreiheit spiegele ein Element demokratischer Offenheit und ermögliche die öffentliche Einflussnahme auf den politischen Prozess. Der Prozess politischer Willensbildung verlaufe nicht nur über Wahlen, sondern könne auch durch Versammlungen angestoßen werden. Derart fundamentale Einsichten kannte man aus der Leitentscheidung des Gerichts zur Meinungsfreiheit, dem Lüth-Urteil des Jahres 1958.111 Und interessanterweise zog das Bundesverfassungsgericht nicht nur Parallelen zur ebenfalls demokratischen Relevanz der Meinungsfreiheit, sondern es rekonstruierte die Versammlungsfreiheit sogar als „Freiheit zur kollektiven Meinungskundgabe“. Damit konnte es die hergebrachte Dogmatik zur Meinungsfreiheit auf die Versammlungsfreiheit übertragen,112 ließ zugleich aber auch eine Einengung der Versammlungsfreiheit auf gemeinschaftliche Meinungskundgabe erkennen. Das Gericht hat in dieser Leitentscheidung gleich mehrere Grundsatzfragen geklärt. Die Vorschriften des Versammlungsgesetzes über die Pflicht zur
110Siehe Anselm Doering-Manteuffel/Bernd Greiner/Oliver Lepsius, Der BrokdorfBeschluss, Tübingen 2015. 111Vgl. Thomas Henne/Arne Riedlinger (Hrsg.), Das L üth-Urteil aus (rechts-)historischer Sicht, Berlin 2005. 112Zum Verhältnis von Versammlungs- und Meinungsfreiheit Höfling/Augsberg, Versammlungsfreiheit (wie Anm. 6), S. 158.
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Anmeldung von Veranstaltungen unter freiem Himmel sowie über die Voraussetzungen einer Auflösung oder eines Verbots genügten grundsätzlich den verfassungsrechtlichen Anforderungen, müssten aber verfassungskonform ausgelegt werden. Daraus leitete das Gericht her, dass erstens die Anmeldepflicht (deren Verletzung zu Verbot und Auflösung berechtigt) entgegen ihrem undifferenzierten Wortlaut bei sogenannten Spontandemonstrationen nicht greift,113 dass zweitens die Behörden grundsätzlich versammlungsfreundlich verfahren müssen, dass drittens eine größere Kooperationsbereitschaft der Veranstalter die Schwelle für einseitiges behördliches Eingreifen erhöht und dass viertens eine überwiegend friedliche Versammlung wegen einzelner gewaltbereiter Teilnehmer nicht einfach verboten oder aufgelöst werden darf. Auch in puncto gerichtlichen Rechtsschutzes hat der Brokdorf-Beschluss wegweisend gewirkt: Der Rechtsschutz in der Hauptsache käme für die meisten Versammlungen zu spät, weil Gerichtsverfahren länger dauerten als der typische Zeitraum zwischen Versammlungsverbot und geplantem Versammlungstermin. Daher müssten die Verwaltungsgerichte bereits in der Eilentscheidung besonders sorgfältig prüfen und das Gewicht der Versammlungsfreiheit berücksichtigen. Der Brokdorf-Beschluss hat die Bedeutung der Versammlungsfreiheit eng mit dem Anliegen der politischen Willensbildung und mit dem demokratischen Gedanken verknüpft. Diese Verknüpfung findet sich auch bei den weiteren Leitentscheidungen, die Karlsruhe für die Versammlungsfreiheit getroffen hat: Eine Veranstaltung wie die Loveparade wird vom Bundesverfassungsgericht gerade dann nicht mehr als Versammlung im Sinne der Versammlungsfreiheit angesehen, wenn keine Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung, sondern Unterhaltung bezweckt wird.114 Das Verfassungsgericht hat aber vor allem wesentlich zur Stärkung der Versammlungsfreiheit beigetragen: Eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung (also der Gesamtheit der ungeschriebenen ethischen Wertungen und Sozialnormen einer Region) sei entgegen dem Wortlaut des Gesetzes in aller Regel kein Grund, eine Versammlung zu verbieten.115 „Die Bürger sind frei, grundlegende Wertungen der Verfassung in Frage zu stellen,
113Das hatte das Bundesverwaltungsgericht bereits im Jahr 1967 erwogen, vgl. BVerwGE 26, S. 135 – Schwabinger Krawalle. 114BVerfG, NJW 2001, S. 2459 – Loveparade. 115BVerfG, NJW 2001, S. 2069; BVerfGE 111, 147 = NJW 2004, S. 2814; zu Ausnahmen BVerwG, NVwZ 2014, S. 883. Zulässig seien aber – unterhalb des Verbots einer Versammlung – Auflagen zum Schutz der öffentlichen Ordnung (etwa das Verbot von Trommeln, um ein paramilitärisches Gepräge zu verhindern); vgl. BVerfG, NJW 2001, S. 2069 (S. 2071); NJW 2001, S. 1409 (S. 1410).
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solange sie dadurch Rechtsgüter anderer nicht gefährden.“116 Pointiert gesagt, ist die Versammlungsfreiheit gerade dazu da, dass Minderheiten in der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung die öffentliche Ordnung – aber eben keine Rechtsgüter – erschüttern dürfen.117 Die durch das Bundesverfassungsgericht vorgezeichnete Konzentration der Versammlungsfreiheit auf politische Versammlungen geht also mit einer Stärkung des Minderheitenschutzes einher. Das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen lieferte sich im Jahr 2001 ein regelrechtes Duell mit dem Bundesverfassungsgericht, als es um Verbote rechtsextremer Versammlungen ging, bei denen keine konkreten Rechtsverstöße zu befürchten waren. Das Oberverwaltungsgericht wertete die rassistischen, antisemitischen und ausländerfeindlichen Anschauungen der NPD als Verbotsgrund für eine Versammlung, weil sie dem Grundgesetz nicht entsprächen. „Dieser Befund gilt nicht nur an Tagen mit gewichtiger Symbolkraft und ‚spezifischer Provokationswirkung‘ wie dem Holocaust-Gedenktag, sondern an jedem Tag des Jahres“.118 Demgegenüber hielt das Bundesverfassungsgericht daran fest, dass Versammlungsverbote zum Schutz der öffentlichen Ordnung (also ohne Gefährdung der Rechtsordnung) grundsätzlich rechtswidrig seien, wenn es sich nicht um derart besondere Tage wie den Holocaust-Gedenktag handele, und hob die im Wege des Eilrechtsschutzes ergangenen Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts umgehend wieder auf.119 Zur Strafbarkeit von Sitzblockaden als Nötigung entschied das Bundesverfassungsgericht 1986, dass ein allgemein verbotenes Verhalten nicht dadurch rechtmäßig wird, dass es gemeinsam mit anderen Beteiligten in Form einer Versammlung erfolgt.120 Art. 8 GG schaffe keinen Rechtfertigungsgrund für strafbares Verhalten. In einer weiteren
116Die „Wertungen“ der Verfassung bilden für die Rechtsprechung Anhaltspunkte für die (nicht kodifizierten) Sozialnormen. 117Vgl. auch BVerfGE 124, S. 300 (334). Dies wird in der rechtswissenschaftlichen Literatur zugespitzt durch Karl-Heinz Ladeur, der die Versammlungsfreiheit als Recht auf Ordnungsstörung versteht, in: Demonstrationsfreiheit – Eine Kontroverse, in: Kritische Justiz (1987), S. 150–165. Kritisch dazu Thomas Blanke, Kritik der systemfunktionalen Interpretation der Demonstrationsfreiheit, in: Kritische Justiz (1987), S. 157–165. 118Oberverwaltungsgericht (OVG) Münster, NJW 2001, S. 2114 gegen das Bundesverfassungsgericht, NJW 2001, S. 1407; vgl. auch OVG Münster, NJW 2001, S. 2111, 2113. Nur für „besondere“ Tage wie den Holocaust-Gedenktag hatte das Bundesverfassungsgericht ein Versammlungsverbot für zulässig gehalten. 119Vgl. BVerfG, NJW 2001, S. 2069, 2075, 2076. 120Vgl. BVerfGE 104, S. 92 – Wackersdorf und Autobahnblockaden (Sitzblockade III) im Jahr 2001; der Sache nach bereits in BVerfGE 73, S. 206 – Mutlangen (Sitzblockade I).
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Entscheidung zu Sitzblockaden im Jahr 1995121 hielt das Gericht allerdings die Auslegung des Nötigungstatbestands mit dem weiten Gewaltbegriff (Nötigung durch Einwirkung auf die Psyche des Fahrers, sogenannter vergeistigter Gewaltbegriff) für einen Verstoß gegen das verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot.122 Demonstranten hatten sich auf die Fahrbahn vor ein Munitionslager der Bundeswehr gesetzt, um gegen die Stationierung atomarer Kurzstreckenraketen zu demonstrieren. Sie waren wegen Nötigung (also Gewaltanwendung) strafrechtlich verurteilt worden. Das Bundesverfassungsgericht hob die Verurteilungen auf und korrigierte damit nicht nur seine eigene vorangegangene Entscheidung (das Mutlangen-Urteil), die unter anderem zu Sitzblockaden vor einem amerikanischen Militärlager ergangen war,123 sondern auch die strafgerichtliche Rechtsprechung, die in der Tradition der 26 Jahre alten LaeppleEntscheidung des Bundesgerichtshofs stand. Die neue Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kam nicht aus dem Nichts, sondern konnte sich auf anhaltende Kritik in der Literatur stützen, die dem weiten Gewaltbegriff entgegengesetzt wurde.124 Die Anerkennung von Blockaden als grundrechtlich geschützte Versammlungen steht aber nicht Einschränkungen oder Verboten im Einzelfall entgegen: So hat das Bundesverfassungsgericht die Errichtung eines Transportkorridors für Castor-Transporte per Bahn nach Gorleben gebilligt.125 Verhinderungsblockaden, die keinem Kommunikationsziel dienen, sind nicht mehr von der Versammlungsfreiheit gedeckt.126 Seit den 1980er Jahren kommen immer wieder auch Fälle politischen Streiks vor die Gerichte.127 Die Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 GG – und nicht die
121BVerfGE 92, S. 1 (Sitzblockade II). 122Art. 103 Abs. 2 GG. 123BVerfGE
73, S. 206 – Sitzblockade I. Die Blockaden richteten sich gegen den NATO-Doppelbeschluss. Das Gericht hat in dieser Entscheidung die weite Auslegung des § 240 StGB bei 4:4 Richterstimmen noch für verfassungsgemäß gehalten. 124Vgl. z. B. Josef Brink/Rainer Keller, Politische Freiheit und strafrechtlicher Gewaltbegriff, in: Kritische Justiz (1983), S. 108–126, hier S. 108 et passim. 125BVerfG, NJW 2001, S. 1411. 126BVerfGE 104, S. 92 = NJW 2002, S. 1031; Wolfgang Hoffmann-Riem, Neuere Rechtsprechung des BVerfG zur Versammlungsfreiheit, in: NVwZ 2002, S. 257–265, hier S. 259–260; daran anschließend z. B. Oberverwaltungsgericht (OVG) Lüneburg, NVwZ-RR 2005, S. 820 (S. 821). 127Vereinzelt auch schon früher, vgl. die frühe Entscheidung des Bundesgerichtshofs BGHSt 8, S. 102 (S. 104) = NJW 1956, S. 231 aus dem Jahr 1955; ferner Fritz Bauer, Politischer Streik und Strafrecht, in: JZ 1953, S. 649–653, der von einem vom DGB veranlassten Streik im Mai 1950 gegen das geplante Betriebsverfassungsgesetz ausgeht. Zum „vergessenen“ Generalstreik in der Bizone am 12.11.1948 gegen Preissteigerungen infolge der Währungsreform vgl. Michael Kittner, Arbeitskampf, München 2005, S. 557–560; Philipp Gassert, Bewegte Gesellschaft. Deutsche Protestgeschichte seit 1945, Stuttgart 2018, S. 31, 50.
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ersammlungsfreiheit des Art. 8 GG – schützt das Recht der Gewerkschaften, zu V einem Arbeitsstreik aufzurufen, sowie auch diesen Streik und die Streikenden selbst. Insoweit ist die Arbeitsniederlegung gegenüber dem Arbeitgeber rechtmäßig und vor staatlichen Eingriffen geschützt. Ein rechtmäßiger Streik muss darauf abzielen, Druck auf die Gegenseite (Arbeitgeber bzw. Arbeitgeberverband) auszuüben, um eine Vereinbarung über Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu erreichen. Nicht durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützt ist nach allgemeiner Auffassung der „politische Arbeitskampf“, der sich gegen staatliche Vorhaben richtet oder den Staat zum Tätigwerden zwingen will.128 Ein solcher, nicht mehr durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützter politischer Streik fällt auch nicht unter den Schutz der Versammlungsfreiheit. Unzulässig ist daher ein Aufruf, während der Arbeitszeit an einer Demonstration außerhalb des Betriebs gegen ein Sparpaket der Bundesregierung129 oder gegen die Änderung des § 116 Arbeitsförderungsgesetz teilzunehmen.130 Auch Arbeitsniederlegungen zugunsten von Protestkampagnen gegen die im Jahr 2007 geplante Rente mit 67 Jahren131 oder der Aufruf des Deutschen Gewerkschaftsbundes im Oktober 1983, fünf Mahnminuten für den Frieden einzulegen und so gegen die Stationierung von Raketen auf deutschem Boden zu protestieren, sind nach der von den Gerichten praktizierten strengen Auffassung arbeitsrechtlich unzulässig. Diese Maßnahmen sind nicht mehr durch Art. 9 Abs. 3 GG gedeckt und stellen auch keine Ausübung der grundrechtlichen Versammlungsfreiheit dar. Damit unterscheiden sich die deutsche Rechtslage und Streikkultur grundsätzlich von denjenigen in anderen europäischen Staaten, in denen der politische Generalstreik, gerade auch gegen die Regierungspolitik, zulässig ist und das öffentliche Leben teilweise stark beeinträchtigt. Politischer Streik in Deutschland kann hingegen sogar strafrechtliche Konsequenzen haben. In einer frühen Entscheidung im Jahr 1955 hat der Bundesgerichtshof bei einem Massen- und Generalstreik gegen die Bundesregierung Gewalt im Sinne des § 81 StGB und
128Vgl.
z. B. Ulrich Krichel, Zur Rechtslage bei politischen Streiks, in: Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht (NZA) 1987, S. 297–302, hier S. 298. 129Arbeitsgericht Osnabrück, Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht – Rechtsprechungsreport (NZA-RR) 1996, S. 341. 130Arbeitsgericht Hagen, Arbeitsrechtliche Praxis (AP) Art. 9 GG Arbeitskampf Nr. 118 (Urteil vom 23.1.1991). 131Vgl. Oliver Zielke, Arbeitsniederlegungen zur Verhinderung der Rentenreform in Deutschland?, in: Betriebs-Berater (BB) 2003, S. 1785–1791, hier S. 1788.
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damit die Straftat des Hochverrats angenommen.132 Die Schwelle zur Strafbarkeit liegt heute höher – auch, aber nicht nur wegen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die für Gewalt mehr als nur eine Einwirkung auf die Psyche des Genötigten verlangt.133 Ein Generalstreik, der physisch auf die Versorgungslage der Bevölkerung einwirkt, ist noch nicht zwingend eine gewaltsame Nötigung, die als Hochverrat (§ 81 StGB) oder Nötigung von Verfassungsorganen (§ 105 StGB) strafbar ist. Jedenfalls ist man sich einig, dass ein Streik entsprechend dem Arbeitskampfrecht keine Gewalt im Sinne des § 81 StGB sein kann.134 Da das Arbeitskampfrecht in Deutschland gesetzlich kaum geregelt ist, sondern auf richterlicher Rechtsfortbildung beruht und daher auch von einzelnen Arbeitsgerichten eine neue Wendung erhalten kann, ist auch aus der Sicht des Arbeitsrechts eine „Liberalisierung“ der Rechtsprechung zur Unzulässigkeit symbolischer politischer Streikmaßnahmen (etwa eines Fünf-Minuten-Protestes) ohne gesetzgeberische Reform denkbar. Sofern es allerdings nicht um Arbeitsniederlegung geht, sondern beispielsweise um die Teilnahme an Kundgebungen der Gewerkschaften am 1. Mai oder um politische Proteste von Arbeitnehmern außerhalb der Arbeitszeit, dürfte die Versammlungsfreiheit Schutz bieten.
132BGHSt
8, S. 102 (S. 104) = NJW 1956, S. 231. Anders bereits Walter Sax, Parlamentsnötigung durch Streik?, in: NJW 1953, S. 368; kritisch auch Gustav Heinemann/Diether Posser, Kritische Bemerkungen zum politischen Strafrecht in der Bundesrepublik, NJW 1959, S. 121–127, hier S. 122. 133Die im Jahr 1995 ergangene Entscheidung BVerfGE 92, S. 1 (Sitzblockade II) bezog sich in erster Linie auf den Straftatbestand der Nötigung (§ 240 StGB), kann aber mutatis mutandis auch auf andere Straftatbestände bezogen werden, die Nötigung durch Gewalt unter Strafe stellen. Zum Gewaltbegriff im Sinne von §§ 81, 105 StGB vgl. Heinrich Wilhelm Laufhütte/Annette Kuschel, in: ders./Ruth Rissing-van Saan/Klaus Tiedemann (Hrsg.), Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 4, 12. Aufl., Berlin 2007, § 81 Rn. 27; Georg Bauer/Duscha Gmel, ebd., § 105 Rn. 8. Der Bundesgerichtshof hat im Jahr 1983 zu § 105 StGB festgestellt, dass „die Schwelle zur Annahme von Gewalt gegenüber einem kollegialen Verfassungsorgan höher als in den dem Individualrechtsschutz dienenden Strafbestimmungen anzusetzen“ ist. Gewalt gegen Dritte sei erst dann Gewalt gegenüber einem Verfassungsorgan i. S. v. § 105 StGB, wenn der von den Ausschreitungen „ausgehende Druck einen solchen Grad erreicht, daß sich eine verantwortungsbewußte Regierung zur Kapitulation vor der Forderung der Gewalttäter gezwungen sehen kann, um schwerwiegende Schäden für das Gemeinwesen oder einzelne Bürger abzuwenden“, BGHSt 32, S. 165 – Startbahn West. 134Siehe etwa Hans-Ullrich Paeffgen, in: Urs Kindhäuser/Ulfried Neumann/Hans-Ullrich Paeffgen (Hrsg.), Strafgesetzbuch, 5. Aufl., Baden-Baden 2017, § 81 Rn. 20.
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Öffentliche Versammlungen bzw. Aktionen gewerkschaftlich organisierter Arbeitnehmer (z. B. die Verteilung von Flugblättern an Passanten), die darauf zielen, das Image des Arbeitgebers anzugreifen, um dessen Verhandlungsbereitschaft zu erhöhen (sogenannter Demonstrationsstreik), sind als Mittellage zwischen politischem Streik und allgemeiner Kundgebung ohne Arbeitsniederlegung zu werten.135 Der unter Arbeitsniederlegung erfolgende Streik wird in die Öffentlichkeit getragen, um die eigene Verhandlungsposition zu stärken. Auch wenn man in diesem Fall das Grundrecht des Art. 9 Abs. 3 GG für spezieller ansieht, sodass die Versammlungsfreiheit nicht einschlägig ist,136 kann das für Versammlungen bestehende Erfordernis vorheriger Anmeldung (§ 14 VersG) dennoch gelten.137
4.3 Rechtswissenschaft Vor und nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Loveparade 2001 hatten die Kontroversen um den Schutzbereich der Versammlungsfreiheit Konjunktur wie seit den späten 1960er Jahren nicht mehr. Es ging vor allem um die Fragen, ob das Grundrecht nur die gemeinsame Meinungskundgabe schützt oder auch jede andere „Persönlichkeitsentfaltung in Gruppenform“,138 sodass auch „Veranstaltungen wie Straßenfeste, religiöse Prozessionen, gemeinsames Musizieren oder Vereinsabende“ Versammlungen im Sinne des Art. 8 GG wären.139 Das Bundesverfassungsgericht hatte zwar bereits in der
135So die Definition von Tristan Barczak, Public Forum und demonstrativer Arbeitskampf, in: DVBl. 2014, S. 758–765, hier S. 760. 136Dafür Barczak, Public Forum (wie Anm. 135), S. 762–763. 137In diesem Sinne Arbeitsgericht München, NZA-RR 2009, S. 211–212. Für eine Ausnahme von § 14 VersG aufgrund verfassungskonformer Auslegung bzw. vermittels analoger Anwendung von § 17 VersG dagegen Barczak, Public Forum (wie Anm. 135), S. 763–764. 138Dafür z. B. Roman Herzog, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz (wie Anm. 88), Art. 8 Rn. 13. 139Aufzählung bei Johannes Deger, Sind C haos-Tage und Techno-Paraden Versammlungen?, in: NJW 1997, S. 923–925, hier S. 924 (mit weiteren Nachweisen in Anm. 11). Deger lehnt diesen weiten Versammlungsbegriff ab; für die weite Auslegung Anna Deutelmoser, Angst vor den Folgen eines weiten Versammlungsbegriffs?, in: NVwZ 1999, S. 240–244. Gegen eine Relevanz des Versammlungszwecks für die Anwendung der grundrechtlichen Versammlungsfreiheit Axel Tschentscher, Versammlungsfreiheit und Eventkultur. Unterhaltungsveranstaltungen im Schutzbereich des Art. 8 I GG, in: NVwZ 2001, S. 1243–1246.
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Brokdorf-Entscheidung die besondere Bedeutung der Versammlungsfreiheit für das demokratische Gemeinwesen hervorgehoben, die gerade durch die öffentliche Meinungskundgabe zum Ausdruck kommt. Die Karlsruher Richter legten sich aber nicht ausdrücklich auf eine Einengung des Versammlungsbegriffs fest (was angesichts der Demonstration von Brokdorf auch nicht angezeigt war), obwohl das Bundesverwaltungsgericht schon zuvor einen engen Versammlungsbegriff vertreten hatte.140 Erst mit seiner Loveparade-Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht sich zu einem engen Versammlungsbegriff bekannt. Die Entscheidung wurde und wird von vielen Stimmen aus der Wissenschaft, die einen weiten Versammlungsbegriff favorisieren, kritisiert. Folgende Kritik wird geübt: Der Wortlaut des Grundrechts gibt eine Einengung des Schutzbereichs auf Zusammenkünfte zu einem bestimmten Zweck (der Meinungskundgabe) nicht her, und eine solche Einschränkung war auch vom Parlamentarischen Rat nicht intendiert. Freiheitsrechte sollen weit, nicht eng ausgelegt werden. Die enge Auslegung führt zu einer systemwidrigen Divergenz von Grundrecht und Versammlungsgesetz, da letzteres auch andere Veranstaltungen als nur kollektive Meinungsäußerungen erfasst (vgl. § 17 VersG). Der Grund für die Einengung des Versammlungsbegriffs sei lediglich, die Kosten für Sondernutzungserlaubnis und Straßenreinigung der Veranstaltung zuzuweisen. Schließlich lässt sich auch historisch eine solche Einengung jedenfalls nicht durchgehend nachweisen: So wurde eine Versammlung im Sinne des Reichsvereinsgesetzes von 1908 als eine Personenmehrheit verstanden, „die auf gemeinsamen bewußten Zwecken und Zielen, also auf gemeinsamem Wollen beruht“.141 Das Grundrecht der Weimarer Reichsverfassung (Art. 123) war vom Wortlaut her offen und wurde teils ebenso weit verstanden, teils auch beschränkt auf „Zusammenkünfte einer Vielzahl von Menschen zum Zwecke gemeinsamer Erörterungen und Kundgebungen“.142 Die Entstehungsgeschichte des Art. 8 GG lässt nicht auf eine solche Engführung des Schutzbereichs schließen. Zusammenfassend ist festzustellen, dass große Teile der Wissenschaft von der engen Schutzbereichsauslegung des Bundesverfassungsgerichts nicht überzeugt
140BVerwG, NJW 1978, S. 1933 (S. 1935); nach der Brokdorf-Entscheidung des BVerfG: BVerwG NJW 1989, S. 2411 (S. 2412). 141Fritz Goehrke, Das Reichsvereinsgesetz, Dortmund 1908, S. 33. 142Gerhard Anschütz, Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, 14. Aufl., Berlin 1933, Art. 123 Anm. 1.
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sind.143 Auch nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts gibt es für Unterhaltungsveranstaltungen und deren Teilnehmer natürlich Grundrechtsschutz (etwa die allgemeine Handlungsfreiheit), doch ist dieser unter Umständen schwächer als die Versammlungsfreiheit. Akzeptiert man eine Einengung des verfassungsrechtlichen Versammlungsbegriffs auf Zusammenkünfte zum Zweck gemeinsamer Meinungsäußerung, dann ist auch nach der Loveparade-Entscheidung noch immer die Frage offengeblieben, ob eine Versammlung nur dann anzunehmen ist, wenn gerade „politische“ bzw. öffentliche Angelegenheiten erörtert werden. Das wäre eine noch weitere Einengung des verfassungsrechtlichen Schutzes. Durch weitere Differenzierungen in der Rechtsprechung verlagert sich auch die Tendenz der wissenschaftlichen Diskussion: Das Bundesverwaltungsgericht hat nach der im Jahr 2001 ergangenen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Loveparade im Jahr 2007 klargestellt, dass eine geplante Zusammenkunft von Personen auch dann unter den Schutz der Versammlungsfreiheit fallen kann, wenn die Veranstaltung neben der Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung noch anderen Zwecken dient.144 Diese dürften allerdings aus der Sicht eines durchschnittlichen Betrachters nicht erkennbar im Vordergrund stehen. Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts nahm ausdrücklich Bezug auf das Nebeneinander von öffentlicher Meinungsbildung und Unterhaltungsveranstaltung, war aber so offen formuliert, dass auch das Nebeneinander von öffentlicher Meinungsbildung und kommerzieller Veranstaltung erfasst war.145 Nach Maßgabe dieser Entscheidung können auch „gemischte“ Veranstaltungen grundrechtlich geschützte Versammlungen sein. Die von Teilen der Wissenschaft geäußerte Fundamentalkritik an der Rechtsprechung von Bundesverfassungsgericht und Bundesverwaltungsgericht (für Unterhaltungsveranstaltungen kein Schutz durch Art. 8 GG) wird durch diese Rechtsprechung zumindest relativiert, ganz entsprochen wird ihr nicht. Allerdings bringt die Festlegung der Rechtsprechung es vielfach mit sich, dass die Wissenschaft ihre Grundsatzkritik hintanstellt (und diese lediglich in Grundgesetz-Kommentaren weiterführt oder in Aufsätzen als „ceterum censeo“ vorträgt).
143Vgl. z. B. Tschentscher, Versammlungsfreiheit (wie Anm. 139), S. 1243–1246; eingehend Bernd J. Hartmann, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Stand: Juni 2018, Art. 8 Rn. 164–173. 144BVerwG, NVwZ 2007, S. 1431. Das Gericht hat die „Fuckparade 2001“ nach Maßgabe dieser Argumente als Versammlung eingestuft. 145Vgl. Christian K. Petersen, Wie viel Kommerz verträgt der „enge“ Versammlungsbegriff?, in: Die Öffentliche Verwaltung (DÖV) 2019, S. 131–140.
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Als Ausgleich dafür, dass die Wissenschaft die Entscheidungen besonders des Bundesverfassungsgerichts als vollendete Tatsachen hinnehmen muss, bietet sich ihr mit der Rechtspolitik ein Betätigungsfeld, das auch Raum dafür gibt, verfassungsrechtlich gebotene Gesetzeskorrekturen einzufordern. Für die Bekämpfung extremistischer Veranstaltungen wurden – aus Wissenschaft und Politik – seit den 1990er Jahren immer wieder Gesetzesvorschläge unterbreitet, denen man entgegengehalten konnte, dass das bestehende gesetzliche Instrumentarium ausreicht.146 Das hinderte den Bundesgesetzgeber nicht, 2005 die erwähnten Änderungen vorzunehmen.
5 Seit 2006: Föderalisierung des Versammlungsrechts 5.1 Gesetzgebung Durch Verfassungsänderung wurde im Jahr 2006 die Gesetzgebungskompetenz für das Versammlungsrecht vom Bund auf die Länder übertragen.147 Diese Änderung war Teil eines Gesamtpakets (Föderalismusreform I), in dem das Versammlungsrecht lediglich Verhandlungsmasse und Kompensation war.148 Bisher haben Bayern (2008),149 Sachsen-Anhalt (2009),150 Niedersachsen (2010),151 Sachsen (2012)152 und Schleswig-Holstein (2015)153 jeweils ein eigenes Versammlungsgesetz erlassen. In den übrigen Ländern gilt weiterhin das Versammlungsgesetz 146So
der Jurist und SPD-Politiker Wiefelspütz, Versammlungsrecht (wie Anm. 107), S. 60. Änderung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 3 GG, BGBl. I 2006, S. 2034. 148Im Gegenzug dafür, dass die Zahl derjenigen Bundesgesetze, die der Zustimmung des Bundesrates bedürfen, reduziert wurde, erhielten die Länder mehr Gesetzgebungskompetenzen. 149Bayerisches Versammlungsgesetz (BayVersG) vom 22.7.2008, GVBl. 2008, S. 421. Vgl. BVerfGE 122, S. 342 = NVwZ 2009, S. 441 (zum sogenannten Militanzverbot); BVerfG, NVwZ 2012, S. 818. Kritisch Felix Hanschmann, Demontage eines Grundrechts, in: DÖV 2009, S. 389–398. 150Gesetz des Landes Sachsen-Anhalt über Versammlungen und Aufzüge, GVBl. 2009, S. 558. 151Niedersächsisches Versammlungsgesetz, NdsGVBl. 2010, S. 465. 152Gesetz über Versammlungen und Aufzüge im Freistaat Sachsen, GVBl. 2012, S. 54; das vorangegangene Gesetz vom 20.1.2010 war für verfassungswidrig erklärt worden, vgl. Verfassungsgerichtshof Sachsen, NVwZ 2011, S. 936. 153Versammlungsfreiheitsgesetz für das Land Schleswig-Holstein, GVOBl. 2015, S. 135. 147Durch
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des Bundes.154 Brandenburg (2006)155 und Berlin (2013)156 haben partielle Neuregelungen getroffen. Kritisiert wurde aus polizeilicher Sicht die Gefahr einer neuen Unübersichtlichkeit, besonders Uneinheitlichkeit, die sich bei länderübergreifender Amtshilfe negativ auswirken könne.157 Bislang erweist sich diese Gefahr aber als unbegründet, denn die neuen Landesgesetze greifen weitgehend auf die alten Bundesregelungen zurück. Bemerkenswert ist, dass das Versammlungsfreiheitsgesetz Schleswig-Holstein keinen Versammlungsleiter vorschreibt. Schleswig-Holstein und Sachsen-Anhalt erlauben ein Verbot von Versammlungen unter freiem Himmel nur noch bei Gefährdung der öffentlichen Sicherheit, nicht mehr bei Gefährdung der öffentlichen Ordnung. Darin spiegelt sich eine (überschießende, da Ausnahmen ausschließende) Rezeption der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Art. 15 Abs. 2 Bayerisches Versammlungsgesetz (BayVersG) schafft einen Verbotstatbestand gerade für rechtsextreme Versammlungen. Das niedersächsische Versammlungsgesetz ist bereits wieder punktuell reformiert worden. So stufte der Gesetzgeber etwa Verstöße gegen das Vermummungsverbot zu einer Ordnungswidrigkeit herab, was vor allem mit dem Opportunitätsprinzip begründet wurde.158 Im Jahr 2008 wurde der § 16 VersG des Bundes auf befriedete Bannkreise der Gesetzgebungsorgane der Länder eingeengt, die Regelungen über Bannkreise für Verfassungsorgane des Bundes wurden in ein bereits bestehendes Bundesgesetz ausgelagert.159 Mit dieser gesetzestechnischen Änderung wollte der Bundesgesetzgeber lediglich verhindern, dass in Zukunft ein für die Bürger unverständliches Nebeneinander von Landes- und Bundesversammlungsgesetz sowie dem Bundesgesetz über befriedete Bezirke besteht.160 154Art.
125a Abs. 1 S. 1 GG.
155Gräberstätten-Versammlungsgesetz
(BbgGräbVersG), das den § 16 VersG des Bundes ablöst, GVBl. I 2006, S. 113. Die Landesnorm soll „Heldengedenkveranstaltungen“ von Rechtsextremisten auf der Kriegsgräberstätte Waldfriedhof Halbe zu verbieten helfen. Vgl. Johannes Lux, Die Bekämpfung rechtsextremistischer Versammlungen nach der Föderalismusreform, in: Landes- und Kommunalverwaltung (LKV) 2009, S. 491–497, hier S. 495. 156Gesetz über Aufnahmen und Aufzeichnungen von Bild und Ton bei Versammlungen unter freiem Himmel und Aufzügen vom 23.4.2013, GVBl. 2013, S. 103, der den § 19a VersG des Bundes ersetzt. 157Alfons Schieder, Defizite des föderalen Versammlungsrechts – Am Beispiel der Sanktionierung des Vermummungsverbots, in: NVwZ 2013, S. 1325–1328. 158Durch Gesetz vom 6.4.2017, GVBl. 2017, S. 106. 159Gesetz über die befriedeten Bezirke für Verfassungsorgane des Bundes (BefBezG), Änderung in BGBl. I 2008, S. 2366. 160So die Begründung in BT-Drucks. 16/9741, S. 4 vom 24.6.2008.
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5.2 Rechtsprechung Das Bundesverfassungsgericht hat im Wunsiedel-Beschluss den im Jahr 2005 eingeführten § 130 Abs. 4 StGB161 für verfassungskonform erklärt.162 Das Neue an der Vorschrift war, dass nun auch Meinungsäußerungen, die das „Dritte Reich“ rechtfertigen bzw. verherrlichen, unter Strafe gestellt wurden. Erwiesene unwahre Tatsachenbehauptungen (wie die Leugnung des Holocaust) fielen schon nach früherer Rechtsprechung nicht in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit, sodass das Gericht bereits im Jahr 1994 eine an die NPD als Veranstalterin einer Versammlung gerichtete Auflage, dafür zu sorgen, dass in der Versammlung die Verfolgung der Juden im „Dritten Reich“ nicht geleugnet oder bezweifelt würde, für verfassungskonform erachtet hatte.163 Weitere Entscheidungen stärkten die Versammlungsfreiheit. So trat das Bundesverfassungsgericht dem auch in der Rechtsprechung der 1950er und 1960er Jahre unterschwellig anzutreffenden Generalverdacht entgegen, große Versammlungen ließen per se auf eine Gewaltbereitschaft der Teilnehmer schließen.164 Im Einklang mit seiner allgemeinen grundrechtsdogmatischen Linie hat das Bundesverfassungsgericht auch entschieden, dass bereits eine Einschüchterung durch staatliches Tun in die Versammlungsfreiheit eingreifen kann, weil sie von der Grundrechtsausübung abhalten mag. Das gilt für polizeiliche Videoüberwachung165 oder auch für den Tiefflug eines Kampfflugzeugs der Bundeswehr über ein Demonstranten-Camp.166 Erst recht unzulässig ist die staatliche Parteinahme für oder gegen eine Versammlung:167 „Einem Amtsträger in Wahrnehmung seiner hoheitlichen Funktion ist deshalb eine lenkende oder steuernde Einflussnahme auf den politischen Meinungsbildungsprozess der
161BGBl.
I 2005, S. 969. 124, S. 300 = NJW 2010, S. 47. Problematisch war, dass hier eine bestimmte Meinung sanktioniert wurde, die Schranke der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 2 GG) aber bis dato überwiegend so verstanden wurde, dass dies nicht zulässig ist. Andererseits ist die Verhinderung der Wiederkehr des Nationalsozialismus dem Grundgesetz von Anfang an eingeschrieben. 163BVerfGE 90, S. 241 – Auschwitz-Lüge. 164BVerfG, NVwZ-RR 2010, S. 625. 165Vgl. Oberverwaltungsgericht (OVG) Koblenz, NVwZ-RR 2015, S. 570; OVG Lüneburg, NVwZ-RR 2016, S. 98. 166BVerwG, NJW 2018, S. 716. 167Zusammenfassend Josef Franz Lindner/Alexander Bast, Die Unzulässigkeit staatlicher Einflussnahme auf Versammlungen, in: NVwZ 2018, S. 708–711. 162BVerfGE
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Bevölkerung verwehrt.“168 Das Bundesverwaltungsgericht begründet dies damit, dass sich der Willensbildungsprozess im demokratischen Gemeinwesen vom Volk zu den Staatsorganen und nicht umgekehrt von den Staatsorganen zum Volk hin vollziehe.169 So durfte der Düsseldorfer Oberbürgermeister nicht zur Teilnahme an einer Gegendemonstration gegen Pegida aufrufen und der Veranstaltung von Pegida auch nicht die städtische Beleuchtung abdrehen.170 Ebenso war es nicht rechtens, dass die Bundesministerin Johanna Wanka eine Veranstaltung der AfD auf der Homepage des Ministeriums negativ bewertete.171 Schon die öffentlichkeitswirksame Teilnahme eines prominenten Politikers (etwa eines Ministerpräsidenten) an einer Gegendemonstration stellt eine unzulässige Parteinahme dar. Allerdings ist es Beamten (und auch Wahlbeamten wie Bürgermeistern) nicht grundsätzlich verboten, als Privatperson an Demonstrationen oder Gegendemonstrationen teilzunehmen. Sie können sich hier nämlich grundsätzlich auf die Versammlungsfreiheit berufen.172 Gleichwohl sind Beamte an das beamtenrechtliche Mäßigungsgebot173 gebunden, das im Einzelfall einer Versammlungsteilnahme entgegenstehen kann.174 Wenn die Teilnahme der Amtsträger als staatliche Parteinahme für oder gegen eine Versammlung zu werten ist, verletzt sie das dem Staat auferlegte Neutralitäts- bzw. Sachlichkeitsgebot.175
5.3 Rechtswissenschaft Die Verlagerung der Gesetzgebungskompetenz für das Versammlungsrecht vom Bund auf die Länder hat Experten aus Wissenschaft und Praxis zu dem Musterentwurf eines
168BVerwGE
159, S. 327 = NVwZ 2018, S. 433 (S. 435). NVwZ 2018, S. 433 (S. 435); das ist ein wesentlicher Inhalt des Demokratieprinzips und entspricht im Wortlaut der Formulierung des Bundesverfassungsgerichts. 170BVerwG, NVwZ 2018, S. 433 (wenn es sich nicht um eine politische Partei handelt, der gegenüber ein Amtsträger durch das Neutralitätsgebot zur Zurückhaltung verpflichtet ist, ergibt sich das Verbot aus einem für jedes staatliche Handeln geltenden „Sachlichkeitsgebot“); vgl. auch Verwaltungsgericht (VG) Göttingen, NdsVBl. 2019, S. 133. 171BVerfGE 148, S. 11 = NJW 2018, S. 928 (S. 930). 172Vgl. BVerfGE 39, S. 334 = NJW 1975, S. 1641 (S. 1647) – Radikalenerlass. 173Vgl. § 33 Abs. 2 Beamtenstatusgesetz (BeamtStG). 174Verwaltungsgericht (VG) Münster, Urteil vom 19.02.2013, Az. 13 K 1160/12.O = BeckRechtsprechung (BeckRS) 2013, 48384. 175Zur Unterscheidung beider Gebote vgl. Anm. 170. 169BVerwG,
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Versammlungsgesetzes veranlasst.176 Darüber hinaus werden in neuen Gesetzeskommentaren die neuen Landesregelungen kommentiert,177 wobei die von den Landesgesetzgebern beherzigte grundsätzlich behutsame Modernisierung bei großer Kontinuität zum Versammlungsgesetz des Bundes überwiegend auf Zustimmung trifft. Nach ausländerfeindlichen Ausschreitungen in Heidenau (Sachsen) im August 2015 schlug die Gewerkschaft der Polizei vor, im Radius von einem Kilometer um Flüchtlingsheime eine Bannmeile zu schaffen. Eine solche allgemeine Regelung stößt allerdings auf verfassungsrechtliche Bedenken. Sperrbezirke, in denen nicht einmal ausnahmsweise demonstriert werden darf, gibt es in Deutschland grundsätzlich nicht.
6 Tendenzen und Perspektiven Vor dem Hintergrund der Kontinuität in den wesentlichen Vorschriften des Versammlungsgesetzes und im Text der grundrechtlichen Versammlungsfreiheit in Art. 8 GG heben sich die punktuellen Änderungen im Laufe der Zeit relativ deutlich ab. Die gesetzlichen Änderungen sind fast ausnahmslos Reaktionen auf konkrete Ereignisse und Entwicklungen.178 Neuregelungen sind dennoch mehr von einer politisch-ideologischen Tendenz getragen, als dass sie reinen Sachzwängen gehorchen. Der Gesetzgeber lässt sich auch nicht durch empirische Studien leiten (etwa zur Wirkung des Strafrechts auf die Gewalttätigkeit von Versammlungsteilnehmern). Die sozial-liberale Koalition hat 1970 das Demonstrationsstrafrecht liberalisiert und damit eine Tradition der Rechtsprechung ausgebremst, die der Versammlungsfreiheit noch nicht gerecht wurde.
176Vgl. Arbeitskreis Versammlungsrecht (Hrsg.), Musterentwurf eines Versammlungsgesetzes (ME VersG), München 2011. 177Nach Landesgesetzen: z. B. Hartmut Wächtler/Hubert Heinhold/Rolf Merk, Bayerisches Versammlungsgesetz, Stuttgart/München 2011; Norbert Ullrich, Niedersächsisches Versammlungsgesetz, 2. Aufl., Stuttgart/München 2018; Hartwig Elzermann/Henning Schwier, Sächsisches Versammlungsgesetz, 2. Aufl., Wiesbaden 2019; Hartmut Brenneisen/Michael Wilksen/Dirk Staack/Michael Martins, Versammlungsfreiheitsgesetz für das Land Schleswig-Holstein, Hilden 2016. Länderübergreifend: Alfred Dietel/Kurt Gintzel/Michael Kniesel, Versammlungsgesetze, 18. Aufl., Köln 2019; Cornelia Dürig Friedl/Christoph Enders, Versammlungsrecht, München 2016. 178Vgl. auch die Periodisierung durch Höfling/Augsberg, Versammlungsfreiheit (wie Anm. 6), S. 159–162.
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Die konservativ-liberale Bundesregierung hat 1985 das Vermummungsverbot eingeführt. Deutlich wird, dass sich besonders die Auf- oder Abstufung von Ordnungswidrigkeiten und Straftaten als politisches Signal für einen liberalen oder harten Kurs eignet. Gleichwohl steht dahinter auch ein polizeipraktischer Grund, weil die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten im Ermessen der Polizei steht, Straftaten aber grundsätzlich verfolgt werden müssen. Letztere muss die Polizei nicht auf frischer Tat verfolgen, sondern kann sie dokumentieren und ihnen später nachgehen. Dies geschieht (etwa bei Demonstrationen von Kurden, die Abzeichen der verbotenen PKK zeigen), um eine Eskalation des aktuellen Versammlungsgeschehens zu vermeiden. Insgesamt ist das Versammlungsrecht vom Gesetzgeber unter allen Regierungskonstellationen mit Augenmaß gehandhabt worden. In den 1960er und 1970er Jahren war die Rechtsprechung jedoch viel unberechenbarer als in der jüngeren Vergangenheit. Der Brokdorf-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts hat dem Grundrechtsschutz einen späten Segen gebracht. Unterschiede in der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte finden sich in zahlreichen Fragen noch immer, was vor allem daran liegt, dass es eine Vielzahl von Detailfragen gibt. Exemplarisch sind hier zu nennen: Sind Tische und Stühle einer Versammlung straßenrechtlich genehmigungsbedürftig? Sind mehrtägige Protestcamps oder Mahnwachen Versammlungen?179 Welche Maskerade ist noch künstlerischer Aufzug, welche schon ordnungswidrige Vermummung? Ist ein rechtsextremes Rockkonzert eine Versammlung?180 An welchen Gedenktagen sind rechtsextreme Versammlungen Störungen der öffentlichen Ordnung? Teils handelt es sich um Rechtsfragen, teils um tatsächliche Schwierigkeiten, ein komplexes Geschehen als Versammlung zu identifizieren. Die ausdifferenzierte und im Detail uneinheitliche Kasuistik
179Zu einem Protestcamp im Hamburger Stadtpark gegen den G20-Gipfel vgl. BVerfG, NVwZ 2017, S. 1374. Vgl. auch Moritz Hartmann, Protestcamps als Versammlungen i. S. v. Art. 8 I Grundgesetz?, in: NVwZ 2018, S. 200–206. Die Besetzer der Baumhäuser im Hambacher Forst sollen sich zumindest wegen ihrer Unfriedlichkeit nicht auf die Versammlungsfreiheit berufen können, so das Oberverwaltungsgericht (OVG) Münster, Beschluss vom 14.9.2018, Az. 7 B 1354/18 = Beck-Rechtsprechung (BeckRS) 2018, 22108. 180Der Ministerpräsident Thüringens, Bodo Ramelow, forderte im Juli 2017 nach einem solchen Konzert, das Versammlungsrecht in derartigen Fällen zu beschränken. Vgl. auch Alfred Scheidler, Behördliches Vorgehen gegen Skinhead-Konzerte in Bayern. Zugleich eine Abgrenzung zwischen Versammlungs- und allgemeinem Sicherheitsrecht, in: NVwZ 2013, S. 1449–1454. Umgekehrt war das Konzert unter dem Motto „Wir sind mehr“, das am 3.9.2018 in Chemnitz stattfand und von 65.000 Menschen besucht wurde, mit einer deutlichen politischen Botschaft gegen Rechtsextremismus verbunden.
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der Rechtsprechung zu derartigen Einzelfragen ist weder typisch für das Versammlungsrecht, noch lässt sie auf eine Steuerungsschwäche des Versammlungsgesetzes schließen.181 Die Unschärfe gesetzlicher Begriffe ist ein Wesenszug der Arbeitsteilung von Gesetzgeber, Verwaltung und Rechtsprechung. Die Gerichte konkretisieren die unbestimmten Rechtsbegriffe und müssen dabei das Grundrecht des Art. 8 GG berücksichtigen. Für die Praxis tritt erschwerend hinzu, dass des Öfteren Veranstaltungen auch als Versammlung „getarnt“ angemeldet werden, um Straßenreinigungsgebühren zu sparen, keine Sondernutzungserlaubnisse für den Veranstaltungsort einholen zu müssen und um einen kostenlosen Sicherheitsdienst in Gestalt der Polizei zu erhalten. Zu beachten ist allerdings, dass eine konkrete Versammlung auch dann, wenn sie durch die Versammlungsfreiheit geschützt wird und das Versammlungsgesetz anwendbar ist, nicht in jedem Falle von Verwaltungsgebühren (etwa für die Erteilung einer Auflage) freigestellt sein muss.182 Auch straßen- und wegerechtliche Vorschriften über die Reinigungs- und Kostenerstattungspflicht bei über das übliche Maß hinaus verunreinigten Straßen werden durch das Versammlungsgesetz nicht verdrängt.183 Die Überwälzung der Polizeikosten für Maßnahmen gegen eine nicht verbotene oder nicht aufgelöste Versammlung auf den Versammlungsleiter bzw. Versammlungsteilnehmer ist jedoch nach herrschender Auffassung verfassungswidrig.184 Grundsätzlich wird das auch für das Tragen der Kosten von Maßnahmen zum Schutz einer Versammlung (vor Störungen von innen oder von außen) vertreten – der Staat soll den Grundrechtsschutz aus Steuermitteln finanzieren. Der Bremer Gesetzgeber hat im Jahr 2014 einen Gebührentatbestand
181Kritisch
etwa Höfling/Augsberg, Versammlungsfreiheit (wie Anm. 6), S. 169. BVerfG, NVwZ 2008, S. 414 (hinsichtlich einer geringfügigen Verwaltungsgebühr für versammlungsrechtliche Auflagen); Oberverwaltungsgericht (OVG) Koblenz, NVwZ 2007, S. 236; daran anschließend Verwaltungsgerichtshof (VGH) Mannheim, N VwZ-RR 2009, S. 329; aus der Literatur Holger Greve/Fabian Quast, Gebührenerhebung versus Versammlungsfreiheit, in: NVwZ 2009, S. 500–502. 183BVerwG, NJW 1989, S. 52. 184Vgl. Wolfgang Sailer, Kapitel M, in: Hans Lisken/Erhard Denninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 4. Aufl., München 2007, Rn. 56–64. Kritisch bereits Thomas Würtenberger, Erstattung von Polizeikosten, in: NVwZ 1983, S. 192–199, hier S. 197; Alexander von Brünneck, Die Kostenerhebung der Polizei bei Demonstrationen, in: NVwZ 1984, S. 273–279, hier S. 276. Wenn allerdings eine Versammlung verboten wird, können die Kosten auf die polizeirechtlich Verantwortlichen abgewälzt werden. Dies kann bei einem Großeinsatz der Polizei in einem kleinen Dorf von Bedeutung sein, wenn z. B. ein YouTuber über Internet zu einem Treffen aufgerufen hat, zu dem 800 Menschen gekommen sind. 182Vgl.
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für gewinnorientierte Großveranstaltungen eingeführt,185 demzufolge die Gebühr nach dem Mehraufwand zu berechnen ist, der aufgrund der zusätzlichen Bereitstellung von Polizeikräften entsteht. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Anwendung der Vorschrift auf ein Fußballspiel der Bundesliga gebilligt.186 Eine solche Vorschrift auf Versammlungen anzuwenden oder für Versammlungen einen derartigen Gebührentatbestand zu schaffen, wäre hingegen verfassungswidrig. Doch dürfte die vom Bundesverfassungsgericht vorgenommene Einengung der Versammlungsfreiheit überwiegend kommerzielle Veranstaltungen ohnehin nicht erfassen,187 sodass kein Konflikt der Bremer Regelung mit Art. 8 GG droht. Das Grundrecht steht in einem mehrpoligen Spannungsfeld, dessen einzelne Aspekte sich im Laufe der Jahrzehnte verändert haben. Die Dimension als subjektives öffentliches Recht hat besonders durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts stark an Bedeutung gewonnen. Die objektive Dimension der Versammlungsfreiheit als Voraussetzung von Demokratie steht dem nicht entgegen. Diese Funktion ist jedoch ambivalent: Einerseits profitiert die Demokratie von der unmittelbaren Meinungsäußerung der Bürger, weil sie die repräsentative parlamentarische Willensbildung ergänzt. Andererseits führt der damit verbundene Minderheitenschutz dazu, dass auch solche extremen Positionen sich äußern dürfen, die einer pluralistischen Gesellschaft die Stirn bieten und die ihrerseits Andersdenkenden die Versammlungsfreiheit vermutlich absprechen würden, sollte dies in ihrer Macht stehen. Staatliche Amtsträger dürfen grundsätzlich nicht einmal in diesen Fällen gegen eine Demonstration Position beziehen,188 wohl aber dürfen und sollen sie sich – unabhängig von
185§ 4 Abs. 4 Bremisches Gebühren- und Beitragsgesetz; zustimmend Marvin Pötsch, Die Kostentragung für Polizeieinsätze bei Fußballspielen – eine neue Verwaltungsgebühr ante portas?, in: NVwZ 2018, S. 868–871; die Regelung ablehnend Monika Böhm, Polizeikosten bei Fußballspielen, in: NJW 2015, S. 3000–3004. Auf gesetzlicher Ebene bereits ähnlich § 81 Abs. 2 Polizeigesetz Baden-Württemberg (PolG BW) vom 16.1.1968 (GBl. BW S. 61), im Jahr 1991 aufgehoben (GBl. BW S. 625). 186Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), NVwZ 2019, S. 1444; ebenso die Vorinstanz Oberverwaltungsgericht (OVG) Bremen, NVwZ 2018, S. 913: Inanspruchnahme der DFL (Deutsche Fußball Liga GmbH) als Gebührenschuldner. 187Vgl. auch Depenheuer, in: Maunz/Dürig (Gründungsherausgeber), Kommentar zum Grundgesetz, Stand November 2006, Art. 8 Rn. 53. Auch das Bundesverwaltungsgericht betont unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass eine gewinnorientierte Großveranstaltung nicht in den Anwendungsbereich der Versammlungsfreiheit falle, NVwZ 2019, S. 1444. 188Vgl. BVerwGE 159, S. 327 = NVwZ 2018, S. 433.
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der jeweiligen Versammlung – kritisch mit den Meinungen und Ideologien auseinandersetzen, die bei derartigen Anlässen geäußert und verbreitet werden. Damit stellt sich die Frage, wie wehrhaft eine Demokratie sein sollte und was das Grundgesetz in dieser Hinsicht bestimmt. Das Bundesverfassungsgericht zieht grundsätzlich eine weite, tolerante Grenze189 – das gilt für die Meinungsfreiheit wie für die Versammlungsfreiheit. Eine rote Linie ist erst bei der Verbreitung nationalsozialistischen Gedankenguts erreicht. Diese Grenze hat der Strafgesetzgeber in aller Deutlichkeit jedoch erst im Jahr 2005 gezogen.190 Wenn die Versammlungsfreiheit mit anderweitigen Pflichten der Versammlungsteilnehmer oder mit Rechten Dritter kollidiert, ist das spezifische Gewicht, mit dem die Versammlungsfreiheit in die kollisionsentscheidende Abwägung eingestellt wird, groß. Das liegt besonders an der objektiven Dimension des Grundrechts, die auf die Bedeutung von Versammlungen für die demokratische Meinungsbildung zielt und damit den individuellen Konflikt gleichsam transzendiert. Wenn schulpflichtige Schüler während der Schulstunden fehlen, weil sie demonstrieren (wie planmäßig bei den „Fridays for Future“), dann kann dies ein Grund sein, eine Verletzung der Schulpflicht, die zugleich eine bußgeldbewehrte Ordnungswidrigkeit darstellt, zu verneinen. Allerdings ist hier eine Einzelfallbetrachtung geboten (unter Berücksichtigung von Dauer und Umfang des Fernbleibens vom Unterricht und der Wichtigkeit des Themas der Demonstration für die Schüler).191 Die Verletzung von Eigentum oder Gesundheit Dritter ist nicht gerechtfertigt durch die Berufung auf Versammlungsfreiheit. Insofern bleibt es bei der Feststellung, dass die gemeinschaftliche Begehungsweise einer Straftat als Versammlung die Strafbarkeit des Tuns nicht aufhebt. Eine Haubesetzung stellt daher strafbaren Hausfriedensbruch dar, auch wenn die Hausbesetzer damit einen Protest zum Ausdruck bringen wollen beziehungsweise selbst wenn sie eine Versammlung sind. Eine Ausnahme bildet die Beanspruchung privaten Bodens durch eine Versammlung, wenn der Eigentümer die Fläche bzw. den Raum für die Allgemeinheit geöffnet hat („öffentliches Forum“).192
189Markant BVerfG, NVwZ 2013, S. 570: Die für eine freiheitliche demokratische Staatsordnung konstitutive Versammlungsfreiheit werde im Vertrauen auf die Kraft der freien öffentlichen Auseinandersetzung grundsätzlich auch den Gegnern der Freiheit gewährt. 190Durch § 130 Abs. 4 StGB. 191In diesem Sinne auch Lutz Friedrich, „Fridays for Future“ statt Freitag in der Schule: Unterrichtsbefreiung für Schülerstreik?, in: NVwZ 2019, S. 598–605, hier S. 603. 192Vgl. besonders BVerfG, NJW 2015, S. 2485.
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Versammlungen in Deutschland stehen zunehmend auch in einem internationalen Kontext. Politische Protestbewegungen wie Greenpeace und Attac sind international vernetzt. Demonstrationen gegen den G8-Gipfel 2007 in Heiligendamm oder den G20-Gipfel 2017 in Hamburg ziehen zahlreiche, auch gewaltbereite Teilnehmer aus dem Ausland an. Die Strafverfolgung geht daher ebenfalls grenzüberschreitend vor, etwa durch Fahndungshilfe zur Vollstreckung europäischer Haftbefehle und aufgrund internationaler Rechtshilfeersuchen. Auch die Occupy- bzw. Blockupy-Bewegung mit ihren Protest-Camps193 war ein internationales Phänomen und richtete sich gegen globale Finanzinstitute. Studenten und Schüler demonstrieren seit Sommer 2018 auf der ganzen Welt unter dem Motto „Fridays for Future“ für den Klimaschutz, wenn auch die Organisation nach Art einer „Graswurzelbewegung“ auf lokaler Basis erfolgt. Rechtlich hat schon lange vor diesen Protestbewegungen eine Internationalisierung eingesetzt: Die Europäische Menschenrechtskonvention garantiert auch in Deutschland die Versammlungsfreiheit (seit 1950),194 ebenso der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966195 und die 2009 verbindlich gewordene G rundrechte-Charta der Europäischen Union.196 Mangels EUKompetenz ist eine weitere Europäisierung des Versammlungsrechts allerdings nicht zu erwarten.197 Ausländer dürfen in Deutschland demonstrieren – das Versammlungsgesetz macht anders als das Grundgesetz keinen Unterschied zwischen Ausländern und Deutschen. Immer wieder haben Kurden-Demonstrationen die Gerichte beschäftigt, insbesondere wenn Symbole der in Deutschland verbotenen PKK gezeigt wurden.198 Wahlkampfveranstaltungen ausländischer Politiker in Deutschland können nicht grundsätzlich, wohl aber im Einzelfall untersagt
193Verwaltungsgericht (VG) Frankfurt a.M., Beschluss vom 3.6.2014, Az. 5 K 659/14.F = Beck-Rechtsprechung (BeckRS) 2015, 45684; NVwZ-RR 2012, S. 806. 194Art. 11 EMRK. 195Art. 21 IPbpR. Der Pakt wurde 1973 durch Bundesgesetz umgesetzt. 196Art. 12 GRCh. 197Das Bundesverfassungsgericht rechnet die Versammlungsfreiheit sogar zu den wesentlichen Bereichen demokratischer Gestaltung, deren Regelung gar nicht auf die Europäische Union übertragen werden darf, BVerfGE 123, S. 267 = NJW 2009, S. 2267, hier S. 2274 – Vertrag von Lissabon. 198Vgl. Verwaltungsgerichtshof (VGH) Mannheim, NVwZ-RR 2000, S. 154; Oberverwaltungsgericht (OVG) Münster, NVwZ-RR 2018, S. 431.
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werden,199 Auftritte türkischer Regierungsmitglieder haben eine entsprechende Diskussion entfacht.200 Der Ort der Versammlung ist für ihre Wirkung von hoher Relevanz. Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass auch private Eigentümer „öffentlicher Foren“ selbst gegen ihren Willen Versammlungen grundsätzlich dulden müssen, so zum Beispiel in Shopping Malls oder auf der Allgemeinheit geöffneten Verkehrsflächen und Plätzen.201 Das Grundrecht entfaltet hier gegenüber dem Eigentümer eine sogenannte Drittwirkung, die das Hausrecht einschränkt. Die Landesgesetze haben diese Konstellation noch nicht explizit geregelt, obwohl der Musterentwurf eines Versammlungsgesetzes des Arbeitskreises Versammlungsrecht eine entsprechende Regelung enthält.202 Versammlungen müssen nicht ortsfest sein. Als Aufzüge sind sie auch mobil möglich und können dadurch, etwa auf öffentlichen Straßen, erhöhte Aufmerksamkeit erzielen. Ein Beispiel sind die Bauernproteste im Winter 2019/2020: Im Konvoi von Traktoren und durch Rundfahrten machten die Bauern auf ihre Anliegen aufmerksam. Der Formenreichtum von Versammlungen (früher Sit-Ins, Sitzblockaden, Chaostage, künstlerische Aufzüge, Mahnwachen, Menschenketten, in jüngerer Zeit Flashmobs, Protest-Camps, Skater-Läufe, „Nacktradel“-Aktionen, Rockkonzerte) erfordert grundsätzlich keine neuen gesetzlichen Regelungen. Die entscheidende Weichenstellung ist, ob es sich um eine Versammlung im Sinne des Versammlungsgesetzes bzw. des Art. 8 GG handelt (hier fallen Techno-Paraden und Skater-Läufe nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts grundsätzlich heraus). Ferner ist strafbares Verhalten (wie z. B. auf den Chaostagen) ein Verbotsgrund, und eine insgesamt unfriedliche Versammlung unterliegt nicht mehr dem Grundrechtsschutz des Art. 8 GG. Im Übrigen muss die Versammlungsbehörde bei der Erteilung von Auflagen die Verhältnismäßigkeit wahren. „Virtuelle 199Etwa
nach § 47 Aufenthaltsgesetz (AufenthG). Peter Jacob, Türkische Wahlen und türkischer Wahlkampf in Deutschland, in: NVwZ 2017, S. 1173–1174; vgl. auch BVerfG, NJW 2017, S. 1166: Staatsoberhäupter und Mitglieder ausländischer Regierungen haben weder von Verfassungs wegen noch nach den allgemeinen Grundsätzen des Völkerrechts einen Anspruch auf Einreise in das Bundesgebiet. 201Zunächst BVerfGE 128, S. 226 – Fraport, zur Bindung eines von der öffentlichen Hand beherrschten gemischtwirtschaftlichen Unternehmens in privater Rechtsform an die Versammlungsfreiheit. Es handelte sich um die Demonstration einer Initiative gegen Abschiebungen am Terminal des Frankfurter Flughafens. Dann BVerfG, NJW 2015, S. 2485 – „Bierdosen-Flashmob“, wo es um einen Platz im Eigentum einer rein privaten Gesellschaft ging. 202Arbeitskreis Versammlungsrecht, Musterentwurf (wie Anm. 176), S. 60–65 (zu § 21 ME VersG). 200Vgl.
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Versammlungen“ fallen nach noch überwiegender Auffassung nicht unter den Versammlungsbegriff von Gesetz und Grundrecht, weil dieser ein Treffen mehrerer persönlich anwesender Menschen beinhalte. Eine Einbeziehung virtueller Versammlungen in den Versammlungsbegriff dürfte jedoch auch nicht nötig sein, da andere Grundrechte angemessenen Schutz bieten. Anders sieht es mit derjenigen Kommunikation über Soziale Medien und Messenger-Dienste aus, die dazu dient, sich zu einer Versammlung unter Anwesenden zu verabreden. Einerseits fällt sie, falls vertraulich, unter das „Fernmeldegeheimnis“ des Art. 10 GG, andererseits gehört die Verabredung zu einer Versammlung bereits zur Versammlungsfreiheit. Wenn es sich um keine Versammlung im Rechtssinn handelt, wie etwa (nach Auffassung der Rechtsprechung) bei den sogenannten F acebook-Partys,203 greift weder das Versammlungsgesetz noch die Versammlungsfreiheit ein. Versammlungen wollen und können bisweilen auf den Prozess der Gesetzgebung Einfluss nehmen. Darin liegt eine der Versammlungsfreiheit im demokratischen Gemeinwesen zugedachte Funktion. So haben starke Proteste das Inkrafttreten des neuen Polizeiaufgabengesetzes in Bayern begleitet, weil die Polizei größere Eingriffsbefugnisse erhalten sollte.204 Die Proteste unter dem Motto „Fridays for Future“ üben zusätzlichen Druck auf die Politik aus, insbesondere auch auf den Gesetzgeber, einen Beitrag zum Klimaschutz zu leisten. Die öffentliche Diskussion wird nicht nur in Medien, Vereinen oder an Stammtischen geführt, sondern gerade auch auf der Straße und durch Versammlungen. Das Grundrecht der Versammlungsfreiheit eröffnet den Bürgern insoweit die Möglichkeit demokratischer Partizipation. Das ist gemeint, wenn von einem „politischen Grundrecht“ gesprochen wird. In bundespolitischen Angelegenheiten ist diese Möglichkeit besonders wichtig, weil es – anders als auf Landesebene – keine Volksentscheide gibt. Dagegen ist der Einfluss einer Versammlung
203Vgl. Conrad Neumann, Flashmobs, Smartmobs, Massenpartys. Die rechtliche Beurteilung moderner Kommunikations- und Interaktionsformen, in: NVwZ 2011, S. 1171–1177. 204An einer Demonstration am 10.5.2018 in München nahmen über 30.000 Menschen teil. Die Änderungen des Polizeiaufgabengesetzes (BayPAG) wurden, als Teil des Gesetzes zur Neuordnung des bayerischen Polizeirechts, am 18.5.2018 beschlossen worden und am 25.5.2018 wirksam. Umstritten waren vor allem die Einführung der „drohenden“ Gefahr als Grundlage für polizeiliche Eingriffe (vgl. Art. 11 Abs. 2 BayPAG) sowie Weiterungen des Gewahrsams (vgl. Art. 20 Nr. 3 BayPAG). Diese Änderungen waren allerdings bereits durch Gesetz vom 24.7.2017 beschlossen und am 1.8.2017 in Kraft getreten. Der Protest nahm also ein aktuelles Gesetzesvorhaben zum Anlass, um auch gegen die bestehende Rechtslage Position zu beziehen. In Düsseldorf haben am 7.7.2018 rund 18.000 Menschen gegen das neue Polizeigesetz NRW demonstriert.
Geschichte des Versammlungsrechts
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auf bereits getroffene, womöglich bestandskräftige Verwaltungsentscheidungen aus Sicht der repräsentativen Demokratie prekär, weil die Verwaltung Gesetze anwendet und nicht auf unmittelbares Geheiß der von einer Entscheidung betroffenen Bürger entscheiden darf. Das Problem wurde bei den Vorgängen um „Stuttgart 21“ sichtbar.205 Gleichwohl eröffnet das Grundrecht den Bürgern auch die Möglichkeit, zu solchen bereits feststehenden Verwaltungsentscheidungen kritisch Stellung zu beziehen. Es ist dagegen Aufgabe der Behörden, sich hinsichtlich der bestandskräftigen Entscheidung nicht entgegen dem Grundsatz der repräsentativen Demokratie von den Betroffenen in einer Weise beeinflussen zu lassen, die nach den Regelungen über Verwaltungsverfahren nicht vorgesehen ist. Versammlungen können sich auch gegen einzelne Personen richten, insofern einzelne Politiker satirisch-künstlerisch (durch Motivwagen auf Karnevalsumzügen oder durch politisches Straßentheater206) oder aber vermittels Gewaltdarstellungen (z. B. am Galgen mit der Aufschrift „Volksverräter“) angegriffen werden. Wenn Versammlungen am Wohnhaus von Politikern vorbeiziehen oder, wie im Falle eines Aufzugs der NPD,207 gegen namentlich genannte Journalisten agitieren, kann es zu einer Prangerwirkung und Einschüchterungseffekten kommen. Die Zulässigkeit solcher Versammlungen bzw. Modalitäten einer Versammlung ergeben sich aus einer Abwägung der Versammlungsfreiheit mit den betroffenen Individualrechtsgütern. Bei dieser Abwägung muss man berücksichtigen, dass der hohe Stellenwert der Versammlungsfreiheit gerade auch aus der politischen Bedeutung für die Willensbildung im Gemeinwesen herrührt und nicht aus einer Verstärkung der Schlagkraft gegen Einzelpersonen. Historisch beispiellos sind die weitreichenden Versammlungsverbote, die die Regierungen aller Bundesländer durch auf § 32 Infektionsschutzgesetz (IfSG) gestützte Rechtsverordnungen im März und April 2020 zur Eindämmung der Corona-Pandemie verhängt haben. Verstöße stellten Ordnungswidrigkeiten
205Zur Demonstration am 30.9.2010 siehe Verwaltungsgericht (VG) Stuttgart, Urteil vom 18.11.2015, Az. 5 K 1265/14 = Beck-Rechtsprechung (BeckRS) 2015, 56039. Immerhin haben die Landesgesetzgeber die Möglichkeit einer frühen Öffentlichkeitsbeteiligung in einem neuen § 25 Abs. 3 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) normiert, damit bereits im Vorfeld komplexer Verwaltungsentscheidungen Akzeptanz hergestellt werden kann. 206Vgl. BVerfGE 67, S. 213 = NJW 1985, S. 261 – Anachronistischer Zug. Die Kunstfreiheit (nicht die Versammlungsfreiheit) ist wegen des künstlerischen Elements einschlägig und muss bei der Entscheidung darüber, ob eine strafrechtliche Verurteilung wegen Beleidigung des dargestellten Politikers (Franz-Josef Strauß) erfolgt, berücksichtigt werden. 207Am 23.11.2019, gebilligt vom Verwaltungsgericht (VG) Hannover.
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beziehungsweise, bei Zuwiderhandlung gegen sofort vollziehbare konkrete Verbote, Straftaten dar. Die Zulassung von Versammlungen stand als Ausnahmegenehmigung im Ermessen der Verwaltung. Auch Gottesdienste waren grundsätzlich verboten.208 Einige Bundesländer haben sogar Ausgangssperren verhängt, sodass schon insoweit Veranstaltung und Teilnahme an einer Versammlung erschwert wurden. Angesichts der massiven Grundrechtseinschränkungen durch die Exekutive, die von den Parlamenten zunächst gebilligt wurden, war die demokratische Kontrolle der Staatsgewalt durch öffentliche Versammlungen dringend nötig. Das Dilemma bestand darin, dass gerade auch Versammlungen mit einer gesteigerten Infektionsgefahr einhergingen und daher grundsätzlich verboten waren. Das Bundesverfassungsgericht hat im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes Verbote von Versammlungen aufgehoben, sofern Abstandsgebote und Infektionsschutz von den Teilnehmern voraussichtlich gewahrt wurden.209 Die Zukunft des Versammlungsrechts liegt aufgrund der Föderalismusreform in der Hand der Landesgesetzgeber, eingehegt von den durch das Bundesverfassungsgericht konkretisierten Vorgaben der grundgesetzlichen Versammlungsfreiheit. Wegen des hohen Standards des deutschen Versammlungsrechts (einfachgesetzlich und grundrechtlich) werden internationale Normen auch in Zukunft kaum eine Rolle spielen. Wären nicht die Versammlungsverbote zur Eindämmung der Corona-Pandemie, so wäre die Prognose klar: Das Versammlungsrecht wird voraussichtlich auch in Zukunft mehr von Kontinuität als von Sprüngen geprägt sein. Für gesetzgeberische Experimente lässt das Grundrecht wenig Raum. Ulrich Jan Schröder, Prof. Dr. iur., ist Professor für Öffentliches Recht an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen, Duisburg. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind die Grundlagen des Staats- und Verfassungsrechts, allgemeines Verwaltungsrecht, öffentliches Wirtschaftsrecht, Staatslehre, Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte der Neuzeit sowie Methodenlehre.
208Zu deren Schutz durch Versammlungsfreiheit und Religionsfreiheit vgl. Verwaltungsgerichtshof (VGH) Kassel, Beschluss vom 7.4.2020, Az. 8 B 892/20.N = Beck-Rechtsprechung (BeckRS) 2020, 5242. 209BVerfG, Beschluss vom 15.4.2020, Az. 1 BvR 818/20; Beschluss vom 17.4.2020, Az. 1 BvQ 37/20.
Polizeiliches Handeln zwischen Tradition und Reform
„Die Polizei muss es verstehen, der Masse ihren Willen aufzuzwingen“. Polizeilicher Umgang mit Protest in der frühen Bundesrepublik Michael Sturm Zusammenfassung
Das Auftreten der Polizei bei Demonstrationen und Protesten orientierte sich während der 1950er Jahre weitgehend an Einsatzkonzepten, die vorwiegend aus der Weimarer Republik stammten. Überkommene massenpsychologische Annahmen, ausgeprägter Kulturpessimismus und ein elitäres Selbstverständnis prägten das polizeiliche Einschreiten, das nicht selten zur Eskalation führte. Am Beispiel der Münchner Stadtpolizei sollen die wesentlichen Faktoren in struktureller, mentaler und juristischer Hinsicht benannt werden, die das polizeiliche Auftreten bei Protesten während der 1950er und 1960er Jahre kennzeichneten. Anhand der „Schwabinger Krawalle“ vom Juni 1962 werden Dilemmata und Problematiken des polizeilichen Einschreitens bei Protestereignissen dargestellt. Ein dritter Abschnitt skizziert schließlich einige der durch das Polizeipräsidium München angestrebten und umgesetzten Reformen, die seit Mitte der 1960er Jahre großen Einfluss auf die bundesweit geführten polizeilichen und außerpolizeilichen Debatten um einen angemessenen Umgang der Staatsmacht mit Demonstrationen und Protest, aber auch mit jugendlichen Subkulturen gewinnen sollten.
M. Sturm (*) Villa ten Hompel/Mobile Beratung im Regierungsbezirk Münster. Für Demokratie. Gegen Rechtsextremismus. (mobim), Münster, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Mecking (Hrsg.), Polizei und Protest in der Bundesrepublik Deutschland, Geschichte und Ethik der Polizei und öffentlichen Verwaltung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29478-6_6
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1 Einleitung: „Faustregeln“ eines „verflossenen Systems“? Am 26. Mai 1952 veranstaltete der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) auf dem Münchner Königsplatz eine Großkundgebung gegen die von der Bundesregierung angestrebte Unterzeichnung des Generalvertrags und das geplante Betriebsverfassungsgesetz, das schließlich trotz massiver, vor allem von den Gewerkschaften getragener Proteste am 19. Juli vom Deutschen Bundestag verabschiedet wurde. Die Kundgebung in der bayerischen Landeshauptstadt, an der rund 120.000 Personen teilnahmen, bildete für Bayern den Höhepunkt der Protestkampagne. In den meisten Münchner Betrieben legten die Beschäftigten die Arbeit nieder und strömten zum Königsplatz. Zudem waren Tausende Demonstrant/innen in rund 100 Bussen angereist. Der Vorsitzende des DGB-Landesbezirks Bayern, Lorenz Hagen, hatte die Teilnehmer/innen bereits im Vorfeld zu strikter Disziplin aufgefordert.1 Tatsächlich verlief die Kundgebung verbal kämpferisch, aber vollkommen gewaltfrei. Nach dem Ende der Veranstaltung eskalierte jedoch die Situation. Die Polizei, die sich während der Kundgebung im Hintergrund gehalten hatte, registrierte nun, dass sich etwa 60 Personen, die sich auf dem Weg zum Hauptbahnhof befanden, augenscheinlich zu einer Spontandemonstration formierten – was wiederum gegen die vom Polizeipräsidium erlassenen Auflagen verstieß, die weder einen geschlossenen An- noch Abmarsch der Kundgebungsteilnehmer/innen erlaubten.2 Nach Auffassung der die Szenerie beobachtenden Polizeibeamten rekrutierte sich die kleine Gruppe vorwiegend aus Aktivist/innen der KPD und der FDJ. Als der Zug, dem sich offenkundig keine weiteren Personen anschlossen, den Karlsplatz, einen zentralen Verkehrsknotenpunkt in der Innenstadt, erreichte, griff eine mit blau lackierten ehemaligen Wehrmachtsstahlhelmen und Karabinern ausgestattete Abteilung der damals in München noch kommunal organisierten Stadtpolizei ein. Nachdem ein Lautsprecherwagen Protestierende und Passant/innen aufgefordert hatte, den Platz zu räumen, dies aber aufgrund der Verkehrsdichte und der zahlreichen abziehenden Kundgebungsteilnehmer/innen nicht mit der von der Polizeiführung intendierten Geschwindigkeit geschah, versuchten die eingesetzten
1Vgl.
Brief Lorenz Hagen an Stellvertretenden Polizeipräsidenten Weidmann, undatiert [vermutlich Anfang Juni 1952], in: Staatsarchiv München (StAM), Polizeidirektion München 11118. 2Vgl. Polizeipräsidium München, Auflagenbescheid für die Kundgebung am 26.5.1952, in: StAM, Polizeidirektion München 11118.
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Beamten zunächst mit Gummiknüppeln, dann mit den Kolben ihrer Gewehre die Menge zu zerstreuen.3 Die Folge dieses Vorgehens war ein allgemeines Verkehrschaos, da die zurückweichenden Menschen auf eine vielbefahrene, an den Karlsplatz angrenzende Einfallstraße gedrängt wurden. Zudem kam ein Wasserwerfer zum Einsatz, der die tumultartigen Vorgänge weiter verschärfte. Zu gewaltsamen Ausschreitungen seitens der Demonstrant/innen kam es indessen nicht. Obwohl der Einsatzleiter in seiner anschließenden Stellungnahme die Geschehnisse derart drastisch bewertete, dass er sich künftig für ähnliche Ereignisse vorbehielt, den Einsatz von Schusswaffen anzuordnen,4 erwähnten weder die polizeilichen Erfahrungsberichte noch die Medien Gewalttätigkeiten und Übergriffe auf die einschreitenden Polizisten. In den lokalen Medien und von Seiten des DGB wurden in den Tagen nach den Vorfällen massive Vorwürfe gegen die Stadtpolizei laut. So forderte der DGB-Vorsitzende Hagen in einem Brief an Oberbürgermeister Thomas Wimmer (SPD): „Die Polizei eines demokratischen Staates hat demokratisch zu sein und zu handeln. Wer als Polizeibeamter sich nicht danach richtet, ist unserer Auffassung nach fehl am Platz, wenn er nach den Faustregeln des verflossenen Systems zu handeln sucht.“5 In der Tat orientierte sich die Einsatztaktik der Stadtpolizei an den „Faustregeln“ eines „verflossenen Systems“, wenngleich sie zwar nicht primär auf nationalsozialistische Vorbilder rekurrierte, wie Hagen suggerierte, wohl aber den aus der Weimarer Republik stammenden polizeilichen Richtlinien und Erfahrungen folgte. Mit diesen Bezugnahmen stand die Münchner Polizei während der 1950er Jahre freilich nicht allein. Vielmehr entsprach das Vorgehen der Stadtpolizei an jenem 26. Mai 1952 dem strategischen und taktischen Repertoire, das für den Umgang der Staatsmacht mit Protestereignissen und Demonstrationen in der Bundesrepublik allgemein kennzeichnend war. Die Eskalation im Nachgang der Kundgebung auf dem Königsplatz in München war daher auch kein Einzelfall. Wiederholt kam es anlässlich von Versammlungen in der frühen Bundesrepublik zu teilweise heftigen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Protestierenden. Konflikte entzündeten sich im
3Vgl.
Augenzeugenbericht Xaver Fellner vom 30.5.1952, in: StAM, Polizeidirektion München 11118. 4Vgl. KOASS Beck, Bericht über das Verhalten der Presse vom 30.5.1952, in: StAM, Polizeidirektion München 11118. 5Vgl. Brief Lorenz Hagen an Oberbürgermeister Thomas Wimmer vom 30.5.1952, in: StAM, Polizeidirektion München 11118.
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Verlauf der 1950er Jahre aber auch im Kontext von Rock-‘n’-Roll-Konzerten, seit Mitte der 1960er Jahre schließlich im Zusammenhang mit Auftritten der Beatles und der Rolling Stones, etwa in Essen, Hamburg oder Westberlin. Nicht zuletzt erschien aus Sicht der Polizei die öffentliche Sicherheit und Ordnung durch das Auftreten sub- und jugendkultureller Szenen, wie etwa der „Halbstarken“ oder später der Beatfans, gefährdet. Deutlich wurde jedoch schon während der 1950er Jahre, dass die auf die Bewältigung bürgerkriegsähnlicher Lagen fixierten Bedrohungsszenarien, Feind- und Selbstbilder der Polizei kaum den gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Wirklichkeiten der Bundesrepublik entsprachen. In München sollten sich die Einsatzstrategien im Umgang mit Protestereignissen allerdings erst zehn Jahre nach den eingangs geschilderten Tumulten im Mai 1952 ändern. Entscheidend hierfür waren die spektakulären Konfrontationen zwischen Polizei und Bürger/innen, die sich im Juni 1962 im Münchner Stadtteil Schwabing abspielten. Die „Schwabinger Krawalle“ sorgten für bundesweites, ja sogar internationales Aufsehen. Dabei geriet vor allem die Stadtpolizei durch ihr hartes und undifferenziertes Einschreiten in die Kritik. In der Folgezeit strengte das Polizeipräsidium umfangreiche Reformen an, die sich sowohl auf die Ausbildung der Beamten als auch auf deren Einsatzstrategien bei Protesten bezogen und darauf abzielten, Eskalationen wie in Schwabing oder zu anderen Demonstrationsanlässen möglichst zu vermeiden. Nicht zuletzt die Einrichtung eines Psychologischen Dienstes wurde von anderen Polizeibehörden wie auch einer breiteren Öffentlichkeit mit großem Interesse registriert. Schon bald sollte der seit Januar 1964 beim Polizeipräsidium München beschäftigte Diplompsychologe Rolf Umbach mit seinen Überlegungen über die Grenzen der bayerischen Landeshauptstadt hinaus Beachtung finden. So proklamierte er etwa im Jahr 1965 in einem Interview mit der von der Gewerkschaft der Polizei herausgegebenen Zeitschrift „Deutsche Polizei“: „Der Gummiknüppel ist nicht mehr nötig“.6 Umbach stellte die bis zu diesem Zeitpunkt innerhalb der Polizei nahezu unumstrittenen Handlungsmuster und Einsatzstrategien bei Protesten und Demonstrationen infrage. Er verwarf beispielsweise die überkommenen, an Gustave Le Bon und seinen im 19. Jahrhundert formulierten massenpsychologischen Theorien orientierten polizeilichen Vorstellungen von der Existenz einer in größeren Menschenmengen auftretenden irrationalen, primitiven und gewalttätigen „Kollektivseele“, der nur mit kompromisslosem Auftreten beizukommen
6Vgl.
Deutsche Polizei (1965), H. 9, S. 264.
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sei. Er plädierte vielmehr dafür, die Teilnehmer/innen von Versammlungen differenzierter zu betrachten und die Kommunikation zwischen Demonstrant/ innen und der Polizei zu verbessern. Indes: Diese Vorschläge stießen bei vielen Polizeipraktikern noch Mitte der 1960er Jahre auf Skepsis. Zahlreichen Einsatzleitern schienen Gummiknüppel, Wasserwerfer und ein massenpsychologischer Deutungsrahmen nach wie vor die geeigneten Instrumentarien zu sein, um „Ruhe und Ordnung“ (wieder) herzustellen. Insofern verlief in bundesweiter Perspektive die Entwicklung polizeilicher Handlungsmuster bei Protestereignissen von relativ einförmigen, häufig eskalativen Strategien hin zu ausdifferenzierten, durch kommunikative Elemente geprägten Ansätzen eines modernden Protest Policing keineswegs linear und gleichzeitig. Einen Durchsetzungsschub erfuhren die von Umbach, aber auch anderen Polizeitheoretikern und -praktikern angeregten Reformkonzepte schließlich erst im Kontext und in Folge der Protestbewegungen der späten 1960er Jahre. Der vorliegende Beitrag beabsichtigt nicht, eine Ereignisgeschichte des Protests aus der Perspektive der Polizei zu referieren und daran anknüpfend in deskriptiver Weise den Wandel polizeilicher Einsatzstrategien bei Protestereignissen zu schildern. Vielmehr sollen zunächst die wesentlichen Faktoren in struktureller, mentaler und juristischer Hinsicht benannt werden, die das polizeiliche Einschreiten gegen Proteste während der 1950er und der 1960er Jahre kennzeichneten. Anhand der „Schwabinger Krawalle“ vom Juni 1962 werden dann in einem zweiten Teil wie unter einem Brennglas die Dilemmata und die offenkundigen Problematiken des polizeilichen Auftretens bei Protestereignissen dargestellt, die erste Konturen einer „Krise der Schutzpolizei“7 offenbarten, welche freilich erst „um 1968“ breiter diskutiert werden sollte. Ein dritter Abschnitt skizziert schließlich einige der durch das Polizeipräsidium München angestrebten und umgesetzten Reformen, die bis heute unter der Bezeichnung „Münchner Linie“ firmieren und seit Mitte der 1960er Jahre großen Einfluss auf die bundesweit geführten polizeilichen und außerpolizeilichen Debatten um einen angemessenen Umgang der Staatsmacht mit Demonstrationen und Protest, aber auch mit jugendlichen Subkulturen gewinnen sollten.
7Vgl.
Klaus Weinhauer, Schutzpolizei in der Bundesrepublik. Zwischen Bürgerkrieg und Innerer Sicherheit, Die turbulenten sechziger Jahre, Paderborn u. a. 2003.
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2 Selbstverständnis, Ausbildung und Praktiken der Polizei in der frühen Bundesrepublik 2.1 Leitbilder: Mythologisierung des Staats und formalistisches Demokratieverständnis Die Polizei bekannte sich nach 1949 vorbehaltlos zum parlamentarischdemokratischen System der Bundesrepublik. Aufsätze in polizeilichen Fachzeitschriften, Präambeln in Ausbildungshandbüchern oder Ansprachen anlässlich der Vereidigungen von Bereitschaftspolizeieinheiten beschworen ausnahmslos die neue demokratische Gesellschaftsordnung und den Willen der Polizei, zu deren Schutz beizutragen. Dennoch blieben diese Bekenntnisse, die wie schon in der Weimarer Republik durch eine pathetische Wortwahl geprägt waren, relativ inhaltsleer. Der Gebrauch von Begriffen wie „Demokratie“, „mündiger Bürger“ oder „freie Gesellschaft“ wirkte in den meisten Fällen formelhaft und diente oftmals dazu, im Kontext der sich abzeichnenden Westbindung das politische System der Bundesrepublik propagandistisch von der DDR oder dem Nationalsozialismus abzugrenzen.8 Unter einer funktionierenden „Demokratie“ wurde vor allem das Funktionieren der durch Wahlen legitimierten staatlichen Organe wie Parlamente und Regierungen verstanden. Der Staat, seine Institutionen und die Durchsetzung seines Gewaltmonopols blieben, trotz der vorübergehenden Installierung „antistaatlicher“ und kommunaler Polizeikonzepte durch die britische bzw. amerikanische Militärverwaltung in der Nachkriegszeit, eindeutiger Bezugspunkt der deutschen Polizeiphilosophie. Mehr noch, der Staat erfuhr in polizeilichen Abhandlungen und Verlautbarungen eine regelrechte Mythologisierung. In der Zeitschrift „Die neue Polizei“ konstatierte etwa der Traunsteiner Polizeibeamte Johann Brucker: „Wir kennen den Begriff der staatlichen Obrigkeit. Er hat heute gewiss keinen guten Klang, und man vermeidet diesen Ausdruck allenthalben. Trotzdem kann man sich der Einsicht nicht verschließen, dass der Staat Inbegriff irdischer Ordnung und höchster weltlicher Macht ist. Die enge Wechselbeziehung zwischen Staat und Volk in der Demokratie macht die Zuerkennung einer besonderen und außerordentlichen Staatsehre geradezu notwendig.“9
8Vgl.
Klaus Weinhauer, „Staatsbürger mit Sehnsucht nach Harmonie“. Gesellschaftsbild und Staatsverständnis in der westdeutschen Polizei, in: Axel Schildt/Detlef Siegfried/Karl Christian Lammers (Hrsg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000, S. 444–470.
9Johann
Brucker, Ehrbegriff und Polizei, in: Die Neue Polizei (1955), H. 8, S. 113.
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2.2 Gesellschaftsbilder: Kulturpessimismus und Massenpsychologische Annahmen In der polizeilichen Wahrnehmung befand sich die Gesellschaft in einer schweren moralischen und kulturellen Krise. Staat und demokratisches System schienen durch den konstatierten allgemeinen Werteverfall sowie das angeblich daraus resultierende „bolschewistische“, „existentialistisch“ oder „materialistisch“10 beeinflusste Handeln einiger gesellschaftlicher Akteure in ihren Grundfesten bedroht. Dieses kulturpessimistische Weltbild machte sich in besonderem Maße an den Ausprägungen und Äußerungsformen der entstehenden, westlich geprägten Jugend- und Subkulturen fest. Vor allem die „Halbstarkenkrawalle“ und Ausschreitungen infolge von Rock-‘n’-Roll- oder Jazzkonzerten dienten der Polizei als augenscheinliche Belege ihrer Sichtweise. Die genannten Phänomene würden gefördert, so konstatierte Fritz Stiebitz, Dozent am Polizeiinstitut Hiltrup, durch „Materialismus, ein gelegentliches Fehlen verbindlicher Ideale, eine weithin ohne feste Maßstäbe erziehende Elterngeneration (sowie) eine zunehmende Verstädterung.“11 Diese Analyse griff die Beobachtungen Gustave Le Bons und Ortega Y Gassets auf, denen zufolge besonders seelisch und kulturell wenig gefestigte Personen anfällig für massenpsychologisch bedingte Handlungsweisen seien. Bei den „Halbstarken“ sei dies der Fall, da es sich bei ihnen um „junge Menschen […] in einer Entwicklungskrise“ handeln würde. Deren unangepasstes Verhalten sei demnach als „massenseelische Erscheinung“12 zu deuten. Aber nicht nur „Halbstarken“oder Jazzkrawalle, sondern auch traditionelle, geordnete Demonstrationszüge erschienen als potenziell „akute Massen“ gefährlich, denn „seelische Infektionen“, so die polizeiliche Erkenntnis, würden sich umso rascher vollziehen, je homogener und größer die Menschenansammlung sei und je „leidenschaftserregender […] der Grund ist, der eine Menge zusammenführt“.13
10Johann
Brucker, Das Politische im Polizeiberuf, in: Die Neue Polizei (1956), H. 4, S. 49. 11Fritz Stiebitz, Die sogenannten „Halbstarkenkrawalle“ – eine Nachlese, in: Die Polizei (1958), H. 21, S. 251. 12Ebd., Hervorhebung im Original. 13A. Schwarz, Die Psychologie der Massen, in: Deutsche Polizei (1957), zit. nach: Weinhauer, Staatsbürger (wie Anm. 8), S. 466.
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2.3 Selbstbilder: Erzieher und Arzt Angesichts dieser Krisendiagnostik sollten sich die Aufgaben der Polizei nach Auffassung der Theoretiker nicht darauf reduzieren, staatliche Autorität lediglich zu repräsentieren. Ebenso wenig sollte ihre Rolle auf reine Kriminalitätsbekämpfung beschränkt bleiben. Vielmehr wurden der Polizei auch erzieherische Funktionen zugeschrieben. Als Vertreterin staatlicher Autorität und im Bewusstsein moralischer Integrität erhob die Polizei, wie schon in der Weimarer Republik und vor allem im Nationalsozialismus, den Anspruch, in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen an der Erziehung der Bevölkerung zu „zuverlässigen“ Staatsbürgern mitzuwirken. Die polizeilichen Richtlinien und Konzepte für den Einsatz gegen „akute Massen“ verwiesen darauf, dass zurückhaltendes und verständnisvolles Verhalten der Polizeikräfte in entsprechenden Situationen die Lage nicht beruhigen könne, da eine aufgebrachte Menge nicht nach rationalen Maßstäben agieren würde. Das Auftreten der Staatsgewalt müsse demnach Autorität, Entschlossenheit und Geschlossenheit ausstrahlen. Ludwig Dierske legte nahe, „keine Weichheit“14 zu zeigen, und Hans Wöhrmann, Oberst der Schutzpolizei in Hannover, postulierte: „Die Polizei muss es […] verstehen, der Masse ihren Willen aufzuzwingen. Dazu muss sie wissen, dass sich die Masse nur einem stärkeren Willen beugt, dass nicht die Güte, sondern nur die Kraft respektiert wird. […] Sie muss […] der moralischen Minderwertigkeit der Masse gegenüber die Festigkeit ihrer Organisation […] und vor allem die seelische Kraft ihrer von Verantwortungsbewusstsein gegen Volk und Staat durchdrungenen sittlichen Ideen in die Waagschale werfen.“15
In diesem Kontext wurden in den polizeilichen Diskursen Selbstbilder konstruiert, in denen die Institution Polizei als gesunder, disziplinierter Körper erschien, dem ein „vermasster“ und somit „kranker“ Körper diametral gegenüberstand. Man versuchte, von den jeweils zugeschriebenen physiognomischen Merkmalen auf die psychischen Dispositionen von Polizei und Gesellschaft bzw. „Masse“ zu schließen. So stehe der „Körperbautypus“ in enger Verbindung zu „bestimmten typischen Charakterstrukturen und seelischen Verhaltens- und
14Ludwig
Dierske, Die Lehre von der Polizeiverwendung, in: Die Polizei (1958), H. 18, S. 202. 15Hans Wöhrmann, Widerstand gegen die Staatsgewalt. Eine psychologische Betrachtung, in: Die Polizei (1953), H. 17/18, S. 163.
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Erlebensweisen“.16 Diese Vorstellungen erklären auch den großen Raum, den das Phänomen der „Halbstarken“ in polizeiinternen Diskussionen einnahm. Provozierend wirkten nicht nur das unangepasste Verhalten, sondern auch der Habitus und die körperlichen Ausdrucksformen der „Halbstarken“, die trotz des bisweilen machistischen Auftretens ihrer männlichen Protagonisten oftmals „weiche“, „weiblich“ konnotierte Züge aufwiesen und somit das Ideal des straffen, kontrollierten Polizeikörpers konterkarierten.17 Die polizeilichen Einsätze gegen „randalierende“ Jugendliche verfolgten demnach nicht nur das Ziel, die öffentliche Ordnung wiederherzustellen, sondern konnten darüber hinaus auch als eine „Behandlung“ von als „krank“ wahrgenommenen Selbstbildern verstanden werden.
2.4 Einsatzstrategien: „Abdrängen“ und „Abkämmen“ Das Idealbild des straffen, kontrollierten Polizeikörpers korrespondierte wiederum mit Einsatzstrategien und Einsatzrichtlinien, die unmittelbar an die Polizeitraditionen der Weimarer Republik anknüpften. Dort hatte es zwar durchaus, zumal in Preußen, bürgerpolizeiliche Reformversuche gegeben, diese waren jedoch gerade im Umgang mit Demonstrationen und Protesten sehr stark von Bürgerkriegsszenarien geprägt gewesen und erfuhren nun in der Hochphase des Kalten Krieges eine Reaktualisierung. Dementsprechend robust, nicht selten paramilitärisch trat vor allem die Bereitschaftspolizei auch in der Bundesrepublik in Erscheinung. Manfred Schreiber, langjähriger Polizeipräsident in München, hat dies rückblickend anschaulich mit der Feststellung auf den Punkt gebracht, die Einsatztaktik der Münchner Stadtpolizei habe bis in die frühen 1960er Jahre weitgehend derjenigen der kasernierten Bayerischen Landespolizei vor 1933 entsprochen, nämlich „Aufsitzen, Ausrücken, Absitzen, Räumen, Aufsitzen, Einrücken, Essenfassen“.18
16Leonhard
von Renthe-Fink, Die Aufgabe der Psychologie bei den Auswahllehrgängen für die Bereitschaftspolizei in Traunstein, in: Die Neue Polizei (1951), H. 2, S. 24. 17Zum Männlichkeitsbild der „Halbstarken“ siehe: Kaspar Maase, Entblößte Brust und schwingende Hüfte. Momentaufnahmen von der Jugend der fünfziger Jahre, in: Thomas Kühne (Hrsg.), Männergeschichte – Geschlechtergeschichte. Männlichkeit im Wandel der Moderne, Frankfurt a.M. 1996, S. 193–217. 18Manfred Schreiber, Das Jahr 1968 in München, in: Venanz Schubert (Hrsg.), 1968. 30 Jahre danach, St. Ottilien 1999, S. 35–52, hier, S. 38.
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So folgten die 1957 vom Polizeipräsidium München erlassenen „Ausbildungsrichtlinien für den Einsatz von geschlossenen Polizeiverbänden“ in großen Teilen nahezu wörtlich dem bereits 1930 von Max Kreutzer verfassten Standardwerk „Der Einsatz stärkerer Polizeikräfte“.19 Im Mittelpunkt der polizeilichen Strategien standen repressive Handlungsmaximen, die sich mit dem „Abdrängen“ und „Abkämmen“ von Menschenmengen oder der Auflösung von Versammlungen befassten. Bei größeren Protesten konnte es durchaus vorkommen, dass die Bereitschaftspolizei ausstaffiert mit Stahlhelm, Karabinern und gepanzerten Fahrzeugen anrückte – so etwa während des „Münchner Ladenschlusskriegs“, einer sich über mehrere Monate hinziehenden, teilweise gewalttätige Formen annehmenden Auseinandersetzung um Ladenöffnungszeiten an Samstagen in der Münchner Innenstadt in den Jahren 1953/1954.20 Die Ausbildung und Übungsszenarien der Bereitschaftspolizei waren auf die Bewältigung von Bürgerkriegslagen ausgerichtet. Die martialische Selbstinszenierung spielte in der Außendarstellung der Polizei bei Protestereignissen eine wichtige Rolle. Ein Erfahrungsbericht des Landesamtes für die Bayerische Bereitschaftspolizei anlässlich eines Demonstrationseinsatzes in München während des „Ladenschlusskriegs“ im Juni 1953 vermerkte etwa positiv: „Der Anmarsch der außerhalb Münchens untergebrachten Einheiten wurde zugleich zu einem Propagandamarsch ausgenutzt, um der Bevölkerung Münchens die Anwesenheit der Polizeitruppe zu demonstrieren.“21 In einem weiteren Bericht zum gleichen Ereignis heißt es: „Bei beiden Hundertschaften einwandfreie Marschdisziplin (bei) Abstand und Gliederung der Marschkolonnen. […] Einige handelsübliche LKW der Fürstenfeldbrucker Hundertschaft wiesen mäßigen Putzstand auf und fielen im Vergleich zu den
19Vgl.
Ausbildungsrichtlinien für den Einsatz von geschlossenen Polizeiverbänden vom 1.12.1957, in: StAM Polizeidirektion München 10735; Max Kreutzer, Der Einsatz stärkerer Polizeikräfte, 5. Aufl., München 1950 (Erstauflage 1930). 20Vgl. Günther Gerstenberg, „Solang der Alte Peter … bis zwei Uhr und nicht später“. Wie die verlängerten Samstag-Ladenöffnungszeiten 1953/54 beinahe zu einem Bürgerkrieg führten, in: Zara S. Pfeiffer (Hrsg.), Auf den Barrikaden. Proteste in München seit 1945, München 2011, S. 61–70; Gerhard Fürmetz, Polizei, Massenprotest und öffentliche Ordnung. Großeinsätze der Münchner Polizei in den frühen fünfziger Jahren, in: Christian Groh (Hrsg.), Öffentliche Ordnung in der Nachkriegszeit, Ubstadt-Weiher 2002, S. 79–106, hier S. 92–104. 21Vgl. Landesamt für die Bayerische Bereitschaftspolizei an das Bayerische Staatsministerium des Innern, Bericht über den Einsatz am 20.6.1953, vom 10.7.1953, in: StAM, Polizeidirektion München 11113.
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übrigen Fahrzeugen im ungünstigen Sinne auf. […] Die Kraftfahrer waren überdies mit weißen Mützenbändern ausgestattet, die für Verkehrsregelungszwecke nicht gut geeignet erscheinen. Einem alten Soldaten scheinen sie wie Schiedsrichterkennzeichen zu sein.“22
Diese Selbstinszenierungspraktiken resultierten jedoch nicht nur aus ungebrochenen Kontinuitätslinien, sondern gerade aus dem Schock des tiefen Einschnitts, den der Zusammenbruch des Deutschen Reichs auch für die Polizei bedeutet hatte. Die zwischenzeitliche Entwaffnung und Entmilitarisierung der Polizei durch die Alliierten wurde von vielen Polizeitheoretikern und Praktikern gleichsam als traumatisierend empfunden.
2.5 Der Geist des Obrigkeitsstaates: Rechtliche Legitimation Das autoritäre Auftreten der Polizei zumal bei Protestereignissen fand seine Begründung nicht zuletzt in den rechtlichen Rahmenbedingungen, die den Einsatzkräften (und auch der Justiz) weitreichende Handlungsspielräume ermöglichten. So sah sich die Münchner Polizei während der „Schwabinger Krawalle“, aber auch schon bei anderen Protestereignissen während der 1950er Jahre, bei denen die Einsatzkräfte ebenfalls ein robustes und vor allem niedrigschwelliges Einschreiten praktizierte, formaljuristisch im Recht. Sie konnte sich dabei auf das Strafgesetzbuch und dort vor allem auf § 115 StGB („Aufruhr“), § 116 StGB („Auflauf“) und § 125 StGB („Landfriedensbruch“) beziehen, die allesamt allein den Aufenthalt in einer sich der Polizei in welcher Form auch immer widersetzenden Menschenmenge unter Strafe stellten. Alle drei Paragrafen stammten noch aus dem Reichsstrafgesetzbuch des Kaiserreichs und waren unverändert in das Strafgesetzbuch der Bundesrepublik übernommen worden. Die Vorschriften spiegelten unverkennbar die obrigkeitsstaatlichen politischen Verhältnisse der wilhelminischen Ära wider, entsprachen aber auch dem in der Bundesrepublik der 1950er und 1960er Jahre weit verbreiteten Bestreben, den unkanalisierten Einfluss der Massen so weit wie möglich zu begrenzen.
22Polizeirat
Kleinschroth, Erfahrungsbericht Ladenschlussdemonstration 20.6.1953 vom 24.6.1953, in: Bayerisches Hauptstaatsarchiv (BayHStA), Präsidium der Bereitschaftspolizei 6.
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3 „Krise der Schutzpolizei“: Die „Schwabinger Krawalle“ als Zäsur Der eigentliche Anlass für die „Krawalle“ im Münchner Künstler- und Studentenviertel Schwabing erscheint zwar vergleichsweise banal, er ergab sich aber nicht aus heiterem Himmel.23 Am Abend des 21. Juni 1962 waren am Rande der Leopoldstraße zwei Streifenpolizisten gegen eine Gruppe von fünf Straßenmusikanten eingeschritten, was in Schwabing nicht ungewöhnlich war und in den Tagen und Wochen zuvor wiederholt zu Reibereien zwischen Polizei und Schwabing-Besucher/innen geführt hatte. Die fünf jungen Musiker spielten vor einem Publikum von – dem Polizeibericht zufolge – mehreren hundert Menschen. Da nicht nur eine Anzeige wegen „Ruhestörung“ vorlag, sondern nach Ansicht der Beamten der Bürgersteig blockiert sowie der fließende Verkehr zumindest beeinträchtigt wurde, entschieden sich die Polizisten zum Einschreiten. Augenscheinlich sollten die fünf jungen Männer festgenommen werden. Teile des Publikums versuchten daraufhin, den Abtransport der Musiker zu verhindern, indem sie das Polizeifahrzeug umringten, die Luft aus einem Reifen ließen und das hintere Ende des Streifenwagens anhoben. Die Chronologie der folgenden Ereignisse soll hier lediglich im Telegrammstil wiedergegeben werden: Die Menge an Schaulustigen wuchs, die Straße wurde blockiert, die Polizei forderte in immer größerem Umfang Verstärkung an und beorderte den Gefangenentransporter in die Leopoldstraße. Von nun an sollte sich in dieser und in den folgenden vier Nächten ein jeweils ähnlicher Handlungsablauf wiederholen. Hunderte bzw. Tausende blockierten die Leopoldstraße, die Einsatzkräfte versuchten die Straße zu räumen und vermeintliche oder tatsächliche „Störer“ festzunehmen. Das taktische Vorgehen der Polizei während dieser „Krawalle“ folgte einem „altbewährten“ polizeilichem Handlungsmuster: Zunächst wurden die Polizeikräfte im Hintergrund gehalten, um unnötige Provokationen zu vermeiden. Wenn die Leopoldstraße dann jedoch von den jugendlichen Demonstrant/innen blockiert wurde, erhielten die Polizisten den Einsatzbefehl und begannen, die Straße in nördlicher Richtung zu räumen. Andere Maßnahmen erwog die Einsatzleitung nicht. Da die Polizeiführung offenbar davon ausging, mit einer „akuten
23Vgl.
zum Polizeieinsatz während der „Schwabinger Krawalle“: Michael Sturm, „Wildgewordene Obrigkeit“? Die Rolle der Münchner Polizei während der „Schwabinger Krawalle“, in: Gerhard Fürmetz (Hrsg.), „Schwabinger Krawalle“. Protest, Polizei und Öffentlichkeit zu Beginn der 60er Jahre, Essen 2006, S. 59–105.
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Masse“ oder – wie Polizeipräsident Anton Heigl sich ausdrückte – einem „Sauhaufen“24 konfrontiert zu sein, kam den polizeilichen Bemühungen, mit dem Publikum zu kommunizieren, nur untergeordnete Bedeutung zu. Die Aktionen der Demonstrant/innen während der „Schwabinger Krawalle“ entwickelten sich hingegen weitgehend spontan und hatten zumeist spielerischen Charakter. Dies verdeutlichen die Blockaden der Leopoldstraße. So wurden zum Beispiel Tische und Stühle aus den nahe gelegenen Straßencafés auf den Boulevard geschleppt. Die Akteur/innen handelten dabei weder aus spezifisch politischen Motiven noch mit der Absicht, gezielt die Maßnahmen der Polizei zu behindern. Vielmehr ging es den Beteiligten zunächst um den Nervenkitzel, den Verkehr auf dem Boulevard lahmzulegen und dadurch den Einsatz der Polizeikräfte erst zu provozieren. Verlauf und mögliche Konsequenzen dieses „Räuber- und Gendarmspiels“ unter realistischen Bedingungen konnten dabei von den Beteiligten nicht vorhergesehen werden. Herausforderndes Verhalten einerseits und Empörung über das Auftreten der Polizei andererseits lagen zumindest eng beieinander. Der Widerstand gegen die Polizei äußerte sich in erster Linie im Rufen von polizeifeindlichen Parolen, wie zum Beispiel „Vopo, Vopo“ oder „Nazipolizei“. Zweifellos dienten diese Sprechchöre im vorwiegend antikommunistisch aufgeladenen gesellschaftlichen Klima der frühen 1960er Jahre vor allem als Mittel, die Polizei zu provozieren. Die Parolen verwiesen aber auch auf die weit verbreitete Ablehnung von ungerechtfertigter, repressiver Staatsgewalt in der jüngeren deutschen Vergangenheit, geprägt etwa durch die Niederschlagung des Aufstands in der DDR am 17. Juni 1953 oder während des Mauerbaus in Berlin im August 1961. Angesichts dieser Eindrücke vom Verhalten der Protestierenden verwundert es nicht, dass das Handeln der Beamten in hohem Maße affektbehaftet war. Die schon erwähnten Verselbstständigungstendenzen hatten hier eine entscheidende Ursache. Auf der Ebene der Wahrnehmungen, Selbstbilder und Fremdzuschreibungen existierte aber noch eine weitere wirkungsmächtige Konfliktlinie zwischen der Polizei und den Protestierenden. Von zentraler Bedeutung für das Konfliktverhalten der Beteiligten waren nicht zuletzt die jeweils unterschiedlichen Vorstellungen von Körperlichkeit sowie die damit verknüpften Ausdrucksformen und Inszenierungen der Körper. Zahlreiche Protestierende offenbarten expressive Verhaltensmuster, sei es in Form von Lachen, Schreien, Parolenrufen und Singen, sei es durch Sitzblockaden und Twisttanzen auf der Leopoldstraße. Das Ausmaß der Provokation erwies sich aber noch als steigerungsfähig, insofern sich offenbar auch Frauen an den „Krawallen“ beteiligten. Das Ausbrechen einiger Frauen
24Vgl. Anton
Heigl, „Wir sind keine Barbaren“, in: Welt am Sonntag vom 1.7.1962.
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aus dem ihnen zugeschriebenen Rollenverhalten führte in der Öffentlichkeit zu wütenden Reaktionen. Die „Süddeutsche Zeitung“ etwa schrieb abschätzig von „kreischenden Frauen“, während das „8 Uhr-Blatt“ von „kaum viertel-schönen Blue-Jeans-Wurzen“ berichtete, die „wie drittrangige Jakobinerinnen […] mit bis zum Bauchnabel offenen Blusen“ und „spitzen schlägergeilen Schreien“ ihre „miesen Randsteinheroen“25 zu Gewalttätigkeiten animiert hätten. Unter diesem Aspekt betrachtet, lässt sich der Polizeieinsatz in Schwabing nicht nur als der Versuch deuten, die öffentliche Ordnung wiederherzustellen, vielmehr ging es auch um eine symbolische, aber mit handfesten Mitteln ausgetragene Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Körper- und Geschlechterbildern. Die Bilanz der „Schwabinger Krawalle“, die nach fünf Nächten nicht zuletzt aufgrund des einsetzenden Regens ihr Ende nahmen, liest sich wie folgt: Knapp 400 Personen waren zwischenzeitlich fest- oder in Gewahrsam genommen worden. Dutzende Passant/innen, Protestierende und Polizisten hatten zum Teil schwere Verletzungen davongetragen. Gegen 248 Protestteilnehmer/innen leitete die Staatsanwaltschaft Ermittlungsverfahren ein. Zugleich ermittelte die Anklagebehörde in 143 Fällen gegen Angehörige der Stadtpolizei, meist wegen des Vorwurfs der „Körperverletzung im Amt“. Das juristische Nachspiel der Ereignisse zog sich bis ins Jahr 1969 hin und wurde von der Öffentlichkeit aufmerksam verfolgt. In der Tat verdichtete sich die juristische „Bewältigung“ der „Schwabinger Krawalle“ zu einem Politikum – eine Entwicklung, deren Ursache nicht zuletzt in einer bemerkenswert einseitigen Urteilspraxis der Justizbehörden zu suchen war. So stand 54 zu Geld- und Bewährungsstrafen verurteilten „Unruhestiftern“ lediglich ein zu einer geringen Geldstrafe verurteilter Polizeibeamter gegenüber.26
4 Auf dem Weg zur „Kommunikation“? Die „Münchner Linie“ 4.1 Verwissenschaftlichung der Polizeiarbeit Unter dem seit 1963 amtierenden Polizeipräsidenten Manfred Schreiber wurde in den Jahren nach den „Schwabinger Krawallen“ ein Bündel an Maßnahmen und Reformansätzen diskutiert und initiiert, das schon bald unter 25Süddeutsche
Zeitung vom 25.6.1962.; 8 Uhr-Blatt vom 30.6.1962. Michael Sturm, „Unruhestifter“ und Polizisten vor Gericht. Das juristische Nachspiel der „Schwabinger Krawalle“, in: Fürmetz, „Schwabinger Krawalle“ (wie Anm. 23), S. 175–203.
26Vgl.
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der Bezeichnung „Münchner Linie“ firmierte und den Weg weisen sollte für den „Vollzugsdienst in einer Großstadt der Zukunft“, wie es Schreiber in einem programmatischen Beitrag in der Zeitschrift „Münchner Polizei“ formulierte.27 Den zentralen Aspekt seiner Überlegungen bildete das Ziel, mittel- und langfristig das Verhältnis zwischen Staatsgewalt und Öffentlichkeit zu verbessern, um künftig Konfrontationen wie in Schwabing vorzubeugen. Geschlossene Einsätze seien auf das Nötigste zu beschränken. Generell bemängelte Schreiber die Fixierung polizeilicher Arbeit auf die reine Strafverfolgung. Der Polizeipräsident entwarf demgegenüber das Bild einer vor allem präventiv agierenden Staatsgewalt. Wie andere Polizeireformer auch, betonte Schreiber die seiner Ansicht nach gesellschaftsgestaltende Bedeutung der Polizei, die als eine Art von „Sozialmedizin“ wirken müsse. Dies setze jedoch „Management“, wirtschaftliches Denken, psychologisches und soziologisches Einfühlungsvermögen sowie „Verkaufstalent“ voraus. In diesem Sinne konstatierte Schreiber: „Polizei muss heute verkauft werden wie Waschmittel“.28 Es gelte die Möglichkeiten der „jungen Wissenschaften“ für die Polizei zu nutzen. Hier korrespondierten die in zahlreichen gesellschaftlichen und politischen Bereichen während der 1960er Jahre geführten Debatten über vorausschauende Planung im Zuge eines expandierenden Sozialstaates mit den Diskussionsbeiträgen und Ansätzen, die die Polizeireformen jener Jahre kennzeichneten. Die Zentralkategorie „Planung“ prägte nicht zuletzt die kommunale Politik in München in dieser Zeit (Stadtentwicklungsplan 1963, Pläne zur Behebung der Wohnungsnot 1961, 1969).29 Ausgehend von diesen Überlegungen strengte das Polizeipräsidium München seit 1963 eine ganze Reihe von Reformen und Neustrukturierungen an.30 Die aufsehenerregendste Neuerung im Münchner Polizeipräsidium war jedoch im Januar 1964 die bundesweit erste Einrichtung eines eigenen Psychologischen Dienstes. Manfred Schreiber betrachtete diese Maßnahme als einen entscheidenden Schritt, die Arbeit der Polizei zu verwissenschaftlichen. Ein wesentlicher Arbeitsbereich des Psychologen sollte darin bestehen, die Beamten in den „Erscheinungsformen
27Vgl.
Manfred Schreiber, Vollzugsdienst in einer Großstadt der Zukunft, in: Münchner Polizei (1967), S. 3–5. 28Manfred Schreiber, Aufgaben und Arbeitsbereich eines Psychologen im praktischen Polizeivollzugsdienst, in: Die Polizei (1965), H. 2, S. 71–74, hier S. 72. 29Vgl. Simone Egger, „München wird moderner“. Stadt und Atmosphäre in den langen 1960er Jahren, Bielefeld 2013, bes. S. 199–215. 30Vgl. Sturm, „Wildgewordene Obrigkeit (wie Anm. 23), bes. S. 100 f.
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der Massenpsychologie“ zu unterrichten, um sie dadurch zu befähigen, „sich so lange wie möglich von persönlicher Emotion frei zu halten“.31 Tatsächlich brach die „Münchner Linie“, wie bereits eingangs geschildert, mit traditionellen, aber veralteten massenpsychologischen Theorien, die jedoch weiterhin in der Polizeiarbeit Anwendung fanden. Zum Sinnbild einer auf Kommunikation setzenden Einsatzstrategie avancierte im Kontext der Demonstrationen der „68er“-Bewegung der von Georg Sieber, seit Frühjahr 1968 Leiter des Psychologischen Dienstes, entwickelte „Integrierte Einsatz der Schutzpolizei“, zu dessen Symbol das vielfach publizierte Bild des „Unterhak-Meyer“ avancierte – ein Polizeibeamter, der bei verschiedenen Protestereignissen vollkommen unbehelligt in den vorderen Reihen der Demonstrationsteilnehmer mitlief, zu denen er aktiv den Kontakt suchte. Zweifellos verfügte die Polizei in München somit bereits Mitte der 1960er Jahre im Vergleich zu anderen Städten über wesentlich professionellere Einsatzkonzepte.32 „Leberwursttaktiken“, wie sie etwa der Westberliner Polizeipräsident Duensing noch im Jahr 1967 anlässlich des Besuchs des Schahs von Persien am 2. Juni 1967 vertrat, indem er propagierte, man müsse mitten in die Masse der Demonstranten hineinstoßen, um diese dann wie eine Leberwurst nach beiden Seiten herauszudrücken,33 schienen in München aufgrund der Erfahrungen während der „Schwabinger Krawalle“ kaum noch praktikabel zu sein.
4.2 Ambivalenzen: „Weiche“ Haltung oder umfassender Kontrollanspruch? Andererseits war die „Münchner Linie“ nicht als grundsätzlich „weiche“ Haltung zu betrachten, wie dies teilweise in Kreisen der Polizei, die dem Konzept kritisch gegenüberstanden, kolportiert wurde. Ganz im Gegenteil zielte das Einsatzkonzept darauf ab, die Ahndung von Rechtsverstößen von Protestteilnehmer/ innen oder sonstigen „Störern“ im öffentlichen Raum zu perfektionieren. Und auch die von Schreiber gebrauchte Metapher von der Polizei als „Sozialmedizin“,
31Manfred
Schreiber, Die „Schwabinger Krawalle“, in: Die Polizei (1965), H. 1, S. 37. Thomas Kleinknecht/Michael Sturm, „Demonstrationen sind punktuelle Plebiszite“. Polizeireform und gesellschaftliche Demokratisierung von den Sechziger- zu den Achtzigerjahren, in: Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), S. 181–218, bes. S. 200–214. 33Vgl. Uwe Soukup, Wie starb Benno Ohnesorg? Der 2. Juni 1967, Berlin 2007, S. 27 f. 32Vgl.
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die vor allem präventiv wirken sollte, hatte eine durchaus repressive Komponente. In ihr spiegelte sich ein umfassender Anspruch der Kontrolle jener Personengruppen, die von der Polizei als deviant angesehen wurde. So formulierte Manfred Schreiber in einem Erfahrungsbericht über eine längere Studienreise in die USA ausgehend von seinen Beobachtungen: „Beatkeller, Gammler- und Pseudokünstlermilieu bedürfen der verstärkten Überwachung. […] Hinsichtlich der Gastarbeiterkriminalität stellt sich auch bei uns das Problem eines nicht integrierten Mitbewohneranteils. Auch hier ist die lückenlose Erfassung von geschlossenen Gastarbeitersiedlungen und -wohnungen erforderlich. Schließlich muss sehr sorgfältig die Bildung von Banden beachtet werden.“34
Somit gründeten auch bestimmte Aspekte der „Münchner Linie“ auf den traditionellen polizeilichen Ansprüchen „flächendeckender Ordentlichkeit“,35 um vermeintliche oder tatsächliche Gefährdungen für das „große Ganze“ abzuwenden.
4.3 Kontrolle der Körper – Die Polizierung von Beatkonzerten Ihre spektakuläre Bewährungsprobe erlebte die „Münchner Linie“ mit den Polizeieinsätzen anlässlich der Beatles- und Rolling-Stones-Konzerte in den Jahren 1965 und 1966, die bis heute als vorbildlich gelten. Gleichwohl zeigte sich auch hier die ambivalente Gleichzeitigkeit „moderner“ bzw. „ziviler“ Strategien einerseits und weiterhin existierender, auf die Kontrolle des „großen Ganzen“ hin ausgerichteter polizeilicher Ordnungsvorstellungen andererseits. Zunächst gilt jedoch
34Manfred
Schreiber, Erfahrungsbericht anlässlich meiner Dienstreise durch die Vereinigten Staaten von Amerika in der Zeit vom 17.4. bis 1.6.1966 vom 18.7.1966, in: StAM, Polizeidirektion München 104. 35Der Begriff „flächendeckende Ordentlichkeit“ ist einer Formulierung Alf Lüdtkes entnommen, der eine „spezifisch deutsche Signatur von Polizei“ beschreibt: „Darin erscheint die alltägliche ‚Kleinigkeit’ mit dem ‚großen Ganzen’ stets direkt verknüpft. Dieses ‚große Ganze’ mochte sich durchaus wandeln, vom ‚Königtum’ über das ‚Reich’ zur ‚Nation’, erneut zum ‚Reich’ und zur ‚Volksgemeinschaft’, schließlich zum ‚freien Westen’ einerseits und zum ‚Antiimperialismus’ im Osten andererseits – als Fixpunkt blieb die Vorstellung flächendeckender Ordentlichkeit.“ Vgl. Alf Lüdtke, Einleitung. „Sicherheit“ und „Wohlfahrt“. Aspekte der Polizeigeschichte, in: ders. (Hrsg.), „Sicherheit“ und „Wohlfahrt“. Polizei, Gesellschaft und Herrschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1992, S. 7–33, hier S. 21.
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festzuhalten, dass sich bei den Konzerttourneen der Stones und der Beatles in anderen Städten, wie etwa in Essen, Düsseldorf und Hamburg, vor allem aber in Westberlin, am Rande der Konzerte zum Teil heftige Zusammenstöße zwischen der Polizei und jugendlichen Beatfans ereignet hatten. Das Gastspiel der Rolling Stones in der Berliner Waldbühne wurde sogar abgebrochen, nachdem es auf den Rängen zu handfesten Auseinandersetzungen gekommen war. Demgegenüber hielt sich die Polizei in München während der Beatkonzerte mit uniformierten Kräften vollkommen im Hintergrund. So betonte Rolf Umbach vor dem Auftritt der Beatles am 24. Juni 1966 gegenüber der Presse, die die Maßnahmen der Stadtpolizei mit großer Aufmerksamkeit verfolgte: „Die Münchner Fans kennen längst die Polizei und wissen, dass wir nichts gegen lange Haare haben. Wir sind weder Musikkritiker noch Vertreter sauertöpfischer Erwachsener.“36 Während der Konzerte war die Stadtpolizei zwar mit Großaufgeboten von bis zu 250 Beamten im Einsatz, hielt uniformierte Kräfte jedoch weitgehend im Hintergrund. Im Saal waren Polizisten eines Einsatzzuges ohne Uniformen, dafür aber in weißen Hemden an den Seiten des Parketts und hinter der Bühne präsent. Freilich: Ganz geheuer waren tobende und schreiende Konzertbesucher/ innen auch der Polizei in der bayerischen Landeshauptstadt nicht. Aus diesem Grund nahmen Polizeibeamte auf Anregung des Psychologischen Dienstes und in Absprache mit den Konzertveranstaltern zum Teil erheblichen Einfluss auf die Licht- und Tonregie während der Rolling-Stones- und BeatlesGastspiele im Circus Krone. Immer dann, wenn „die auf den Rängen tobende und stampfende Begeisterung“ nach Ansicht der Polizei „ein vernünftiges Maß“ zu übersteigen drohte, reduzierten die zuständigen Beamten die Lautstärke der Anlage und schalteten kurzfristig die Manegenbeleuchtung ein.37 Hier zeigten sich deutlich die weiterhin bestehenden polizeilichen Ressentiments gegenüber den körperlich expressiven, sexualisierten Ausdrucks- und Verhaltensweisen der Beatfans, die seit den 1950er Jahren unter dem Einfluss der US-amerikanischen Kulturindustrie einen „Durchsetzungsschub“ erfahren hatten.
36Zitiert
nach Süddeutsche Zeitung vom 23.6.1966. Hans Pfeiffer, Beat! Beat! Beat! Betrachtungen zu einer Zeiterscheinung, in: Münchner Polizei (1967), S. 77–82. 37Vgl.
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4.4 Einschreiten gegen das „Gammlerunwesen“ – Polizei und jugendliche Subkulturen im Stadtteil Schwabing Die Ambivalenzen der „Münchner Linie“ und die weiterhin existierenden polizeilichen Vorstellungen von flächendeckender Ordentlichkeit zeigten sich besonders während der Alltagseinsätze der Stadtpolizei vor allem in Schwabing und im angrenzenden Englischen Garten. Schon kurz nach den „Schwabinger Krawallen“ wurde für den Stadtteil ein „Sonderkommando“ bestehend aus Beamten der Schutz- und der Kriminalpolizei ins Leben gerufen, das die Aufgabe hatte, „Rädelsführer für Störungen namentlich festzustellen und unauffällig zur Anzeige zu bringen“.38 Die Einsatzberichte des Kommandos verdeutlichen, dass die Beamten in offenkundigen Bagatellen wie etwa einer „über Gebühr lauten Unterhaltung“ oder in Ansammlungen von „bis zu acht“ Personen bereits Keimzellen für potenziell größere „Störungen“ befürchteten.39 Seit 1965 entwickelte sich Schwabing zu einem Anziehungspunkt jugendlicher Subkulturen. Vor allem sogenannte Gammler aus ganz Europa, aber auch aus den Vereinigen Staaten bevölkerten in den Sommermonaten die Straßen des Viertels und die Wiesen des Englischen Gartens.40 Beliebte Treffpunkte bildeten bestimmte Kneipen, wie beispielsweise das „Picknick“ oder der auf einer Anhöhe im Englischen Garten gelegene „Monopteros“ (ein neugriechischer Rundtempel). Schlafgelegenheiten suchten und fanden die „Gammler“ in leerstehenden Gebäuden und seit dem Ende der 1960er Jahre in den noch nicht fertig gestellten U-Bahnhöfen. Als es in den Jahren 1970/71 zu den ersten demonstrativen Hausbesetzungen in der bayrischen Landeshauptstadt kam, waren auch „Gammler“ daran beteiligt. Die Größe dieser meist von Jugendlichen im Alter zwischen 14 und 25 geprägten Szene ließ sich kaum quantifizieren, zumal München für viele lediglich eine Zwischenstation auf dem Weg nach Südeuropa darstellte. Insofern bildeten die „Gammler“ in der bayerischen Landeshauptstadt nur lose Netzwerke und Beziehungsgeflechte aus, die von einer hohen Fluktuation gekennzeichnet waren. Im Sommer
38Präsidialverfügung
vom 29.5.1964, in: StAM, Polizeidirektion München 11130. Sturm, „Wildgewordene Obrigkeit“ (wie Anm. 23). 40Vgl. Egger, München (wie Anm. 29), bes. S. 293–298; Margret Kosel, Gammler, Beatniks, Provos. Die schleichende Revolution, Frankfurt a.M. 1967, bes. S. 94–103. 39Vgl.
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1969 schätzte die Stadtpolizei die Gesamtzahl der „Gammler“ auf ca. 1.000 Personen.41 Der Ausländer/innenanteil in der Szene schwankte je nach Jahreszeit zwischen 30 und 70 %. Die „Gammler“ verhielten sich zwar im Allgemeinen vollkommen friedfertig, brachen aber radikal mit bis dahin hegemonialen gesellschaftlichen Vorstellungen von Ordnung und Sauberkeit und übten demonstrativen Konsumverzicht. Radikaler als andere Subkulturen beanspruchten „Gammler“ die Freizeit als „freie Zeit“ und versuchten, deren Kopplung an die Arbeitswelt vollständig zu lösen.42 Das „Gammeln“ bildete somit den Gegenentwurf zu einer Freizeitgestaltung, die auf Erholung und Reproduktion der Arbeitsfähigkeit abzielte. Die hedonistischen Züge der „Gammler“-Subkultur, die sich im offenen Konsum von Alkohol und seit dem Ende der 1960er Jahre auch im Gebrauch anderer Drogen ebenso zeigte wie in partyähnlichen Zusammenkünften im öffentlichen Raum oder vermeintlich passivem „Abhängen“ im Umfeld von Gaststätten und Parks, provozierten Anwohner/innen und Tourist/innen in hohem Maße – dies umso mehr, als die Treffpunkte der „Gammler“ in München wie auch anderswo in den Zentren der Städte lagen, deren Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg als Beleg für die von Fleiß, Disziplin und Arbeitsethos getragene Wirtschaftswundergesellschaft galt.43 Dementsprechend drastisch fielen die Forderungen an die Stadtpolizei aus, die sich wiederholt dem Vorwurf ausgesetzt sah, in Schwabing nicht konsequent genug gegen die „Gammlerszene“ einzuschreiten. In einer Sitzung des Bezirksausschusses Schwabing-Freimann im April 1967 verlangte etwa ein Stadtrat „das Zusammenholen aller Gammler in ein Lager, in dem sie unter Polizeiaufsicht Zwangsarbeit zu verrichten hätten“. Ein anderer hielt bei gleicher Gelegenheit „die Polizei allen Ernstes für berechtigt, den Gammlern die Haare abzuschneiden“.44 Die Ansprüche und Erwartungshaltungen, die an die Stadtpolizei in den Medien, durch die Politik oder in „einer regelrechten Flut an Beschwerdebriefen“45 hinsichtlich des Umgangs mit der „Gammlerszene“ herangetragen 41Polizeiamt
Nord an die Direktion der Schutzpolizei, Erfahrungsbericht „Maßnahmen gegen Gammler“ 1968 vom 3.4.1969, in: StAM, Polizeidirektion München 15623. 42Vgl. Detlef Siegfried, Time Is on My Side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen 2006, S. 399–413. 43Ebd. 44Polizeiamt Nord an die Direktion der Schutzpolizei, Bericht über die Bezirksausschusssitzung am 26.4.1967 vom 5.5.1967, in: StAM, Polizeidirektion München 11027. 45Polizeiamt Nord an die Direktion der Schutzpolizei, Erfahrungsbericht „Maßnahmen gegen Gammler“ 1967 vom 2.2.1968, in: StAM, Polizeidirektion München 15622.
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wurden, waren demnach in erheblichem Maße weiterhin von autoritären, ja sogar polizeistaatlichen Vorstellungen geprägt. Manfred Schreiber und andere Vertreter des Polizeipräsidiums wiesen zwar Forderungen, wie sie auf der erwähnten Sitzung des Bezirksausschusses erhoben worden waren, mit dem Hinweis zurück, dass „ungepflegtes und verwahrlostes Äußeres, auffällige oder verwahrloste Kleidung oder eine geistig konträre Einstellung zur derzeitigen Gesellschaftsordnung allein keine Berechtigung zum Einschreiten geben“.46 Zudem verzichtete die Stadtpolizei aufgrund ihrer Erfahrungen während der „Krawalle“ im Juni 1962 auf martialisches Auftreten in Schwabing und im Englischen Garten. Dennoch bestand innerhalb der Polizeiführung Konsens darüber, dem „Gammlerunwesen“ resolut zu begegnen. In einer im Jahr 1966 erlassenen Präsidialverfügung hieß es unmissverständlich: „Es ist zu verhindern, dass München ein Sammelpunkt der Gammler aus der Bundesrepublik oder ganz Europas wird. Durch Ausschöpfung aller rechtlichen Möglichkeiten, durch ständige Kontrollen, durch Anzeigen und Festnahmen muss ihnen der Aufenthalt in München verleidet werden.“47
Diesen Zielvorgaben entsprechend erhöhte die Stadtpolizei kontinuierlich den Kontrolldruck auf die „Gammlerszene“. Die Häufigkeit von Personalienfeststellungen und kurzfristigen Festnahmen stieg zwischen 1965 und 1970 beständig. Allein im Jahr 1968 nahm die Polizei in Schwabing über 1.000 Personen in Gewahrsam, die sie der „Gammlerszene“ zurechnete.48 Ihre Namen wurden akribisch in einer eigens eingerichteten „Gammlerkartei“ vermerkt. Die mit der Strafrechtsreform einhergehenden Liberalisierungstendenzen sowie die Entkriminalisierung bestimmter Straftatbestände, wie etwa die „Landstreicherei“, betrachteten etliche Beamte allerdings als Erschwernis ihrer Arbeit.49
46Vortrag
Polizeipräsident vor dem Straßenverkehrs- und Polizeiausschuss des Stadtrats der Stadt München vom 17.5.1967, in: StAM, Polizeidirektion München 11027. 47Manfred Schreiber, Präsidialverfügung, undatiert [1966], in: StAM, Polizeidirektion München 11027. 48Vgl. Polizeiamt Nord an die Direktion der Schutzpolizei, Erfahrungsbericht „Maßnahmen gegen Gammler“ 1969 vom 17.3.1970, in: StAM, Polizeidirektion München 15625. 49Ebd.
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5 Fazit Bis zum Ende der 1960er Jahre entsprachen Selbstverständnis, Bedrohungsanalysen und Feinbildkonstruktionen der Polizei in der Bundesrepublik im Wesentlichen den Traditionen der Weimarer Republik. Primärer Bezugspunkt deutscher Polizeiphilosophie blieb der Staat, zu dessen parlamentarisch-demokratischer Verfassung sich die Polizeibehörden vorbehaltlos bekannten. Darüber hinaus wurde aber der staatlichen Ordnung, unabhängig von ihrer konkreten Ausprägung, ein eigener überhistorischer Wert beigemessen. Ausgehend von diesen Vorstellungen postulierten die polizeilichen Diskurse Gesellschaftsbilder, die das Ideal einer dienenden, möglichst konfliktfreien Gemeinschaft beschworen. Straßenprotest, vor allem, wenn er von außerparlamentarischen politischen und gesellschaftlichen Gruppen oder sub- und jugendkulturellen Akteur/innen getragen wurde, galt demnach als suspekt, nicht selten als illegitim. Mindestens bis zur Mitte der 1960er Jahre verliefen für den überwiegenden Teil der Polizeitheoretiker und -praktiker die Grenzen zwischen „normalem“ Protest und vermeintlich drohenden bürgerkriegsähnlichen Aufständen fließend. Dieses Gesellschafts- und Politikverständnis sowie die auf den Ausnahmezustand fixierten Bedrohungsanalysen spiegelten sich auch in den Inhalten der Polizeiausbildung, der Ausstattung von Polizeiverbänden und deren Einsatzstrategien wider. Die polizeilichen Richtlinien für den Umgang mit Demonstrationen basierten nahezu unverändert auf den Konzepten, die schon während der Weimarer Republik entwickelt und angewandt worden waren. Die ausgeprägten, zum Teil verklärenden Bezüge auf die 1920er und 1930er Jahre hatten mehrere Ursachen. Der Polizei war es in diesem Zeitraum gelungen, sich gegenüber dem Militär als innenpolitische Ordnungsmacht durchzusetzen. Straffe Organisation, moderne Ausrüstung und einige spektakuläre „Kampfeinsätze“ der damals neu aufgestellten geschlossenen Polizeiverbände galten somit als vorbildlich für die im Zeichen des Kalten Krieges wiederentstehende Polizei der Bundesrepublik. Diese Entwicklung wurde entscheidend durch den Umstand verstärkt, dass das Selbstverständnis zahlreicher Beamter, die zum Beginn der 1950er Jahre polizeiliche Führungspositionen einnahmen, auf eigene Einsatzerfahrungen während der Weimarer Republik – bisweilen auch des Nationalsozialismus und des Krieges – zurückging. Jedoch geriet die Frage nach der gesellschaftlichen Rolle der Polizei infolge der „Schwabinger Krawalle“ im Juni 1962, aber auch anderer Ereignisse wie etwa der „Spiegel-Affäre“ im selben Jahr in die öffentliche Diskussion, eine Entwicklung, die wiederum auf die Inhalte polizeilicher Leitbilddebatten Einfluss
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nahm. Im bundesweiten Maßstab kam es jedoch erst im Kontext des Protestgeschehens am Ende der 1960er Jahre zu umfassenderen Polizeireformen, die sowohl das polizeiliche Selbstverständnis als auch Strukturen und Einsatzstrategien bei Demonstrationen und Protestereignissen betrafen. Die Münchner Polizei nahm innerhalb dieses Umbruchprozesses eine Vorreiterrolle ein. Die allmähliche Modernisierung polizeilicher Leitbilder und Konzepte war in München, wie auch an anderen Orten, unmittelbar mit einem Generationswechsel innerhalb der Führungsebenen der Polizeibehörden verknüpft. Während diejenigen Beamten, die ihren Beruf schon in der Weimarer Republik ausgeübt hatten, meist in ihrer durch die Ereignisse der Zwischenkriegszeit geprägten Erfahrungswelt verharrten, zeigten die jüngeren Polizeiführer, die ihre Karriere erst in der Nachkriegszeit begonnen hatten, eine wesentlich größere Offenheit für neue Konzepte und Strategien. Jedoch verliefen die seit Mitte der 1960er Jahre verstärkt einsetzenden Reformanstrengungen im Bereich der Polizei keineswegs kohärent, linear und gleichzeitig.
Michael Sturm M.A. ist Historiker und Pädagogisch-wissenschaftlicher Mitarbeiter im Geschichtsort Villa ten Hompel der Stadt Münster. Seine Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte sind Polizei- und Protestgeschichte der Bundesrepublik, Geschichte der extremen Rechten in Deutschland und Rechtsextremismusprävention.
Die nordrhein-westfälische Polizei und die Studierendenproteste der 1960er und 1970er Jahre Lukas W. Petzolt
Zusammenfassung
In der öffentlichen Erinnerung an die „68er-Bewegung“ dominiert, wenn man an die Beziehung dieser Bewegung zur Polizei denkt, oftmals die Gewalt, wie zum Beispiel bei den Geschehnissen um den bis heute nicht restlos aufgeklärten Tod des Studenten Benno Ohnesorg. Jedoch zeigt sich bei einem Blick in die Archivbestände der nordrhein-westfälischen Polizei, dass die Beziehungen zu den Protestbewegungen sehr divers waren und alle Nuancen zwischen Serviceleistungen bei der Anmeldung von Demonstrationen, Verständnis für die Studierenden und Nachahmung der neuen Protestarten für eigene Zwecke auf der einen sowie Überwachung und Gewaltanwendung auf der anderen Seite aufwiesen. Letztlich folgten den gesellschaftlichen Umbrüchen auch bei der nordrhein-westfälischen Polizei Veränderungen, etwa in der Ausbildung und bei der Rekrutierung von Nachwuchskräften. Denkt man im Zusammenhang mit den Stichworten „1968“ oder „68er-Bewegung“ an die Polizei, so fallen einem als erstes sicher Bilder von schwer gepanzerten Bereitschaftspolizisten ein, die mit Schlagstöcken und Wasserwerfern gegen Demonstranten vorgehen. Ebenfalls ins kollektive Gedächtnis der Gesellschaft eingebrannt haben sich Aufnahmen wie etwa das Bild des im Sterben liegenden und von Friederike Hausmann gestützten Benno Ohnesorg, der unter bis heute nicht gänzlich geklärten Umständen am 2. Juni 1967 von dem L. W. Petzolt (*) Stadtarchiv Xanten, Xanten, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Mecking (Hrsg.), Polizei und Protest in der Bundesrepublik Deutschland, Geschichte und Ethik der Polizei und öffentlichen Verwaltung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29478-6_7
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Westberliner Polizeiobermeister Karl-Heinz Kurras niedergeschossen wurde. Unabhängig davon, an welche Bilder man denkt, in den Motiven dominiert doch die Gewalt als das Bindeglied zwischen der Polizei und den studentischen Demonstranten. Und ganz falsch ist der sehr simple Schluss, dass sich Polizei und 68er-Bewegung in tiefer Feindschaft gewaltbereit gegenüberstanden, sicher nicht. Denn die Geschichte der Studierendenbewegung ist unbedingt auch als Geschichte der Konfrontation mit der Staatsgewalt zu begreifen.1 Dabei fällt allerdings auf, dass die Rolle der Polizei in diesen Zusammenhängen bis heute nur rudimentär erforscht wurde. Ein Grund hierfür ist, dass in der öffentlichen Wahrnehmung die Sichtweise der damaligen Demonstranten überwiegt: Zahlreiche sogenannte Alt-68er haben bereits eigene Memoiren publiziert, sei es Götz Aly mit seinem „irritierten Blick zurück“2 oder Klaus Schmidt mit seinen „zuversichtlichen Rückblicken eines Alt-68ers“.3 Damalige Polizeibeamte hingegen haben bisher keine derartigen Werke hinterlassen. Es findet sich lediglich ein kurzer Aufsatz eines ehemaligen Polizisten der baden-württembergischen Polizei aus dem Jahre 1968, in dem dieser unter anderem die militärisch geprägte Ausbildung schildert.5 Dieser Beitrag untersucht nicht nur das Jahr 1968 als das prägende Jahr der Studierendenbewegung. Der Untersuchungszeitraum von zwei Dekaden wurde bewusst gewählt, weil es im Falle Nordrhein-Westfalens eine wichtige bildungsinstitutionelle Besonderheit gab: Auf der einen Seite existierten traditionsreiche Universitäten, wie beispielsweise Köln, Bonn und Münster, mit jahrhundertelanger Geschichte. Auf der anderen Seite gab es mehrere Neugründungen und damit Universitäten, die erst seit der Mitte der 1960er Jahre bestanden. Als Beispiele seien hier die Universitäten in Düsseldorf oder Bochum genannt. Während an den traditionellen Universitäten bereits 1967 und 1968 in hohem Maße die Studierenden auf die Straße gingen, verlief das Ende der 1960er Jahre in den Städten mit neu gegründeten Hochschulen recht unspektakulär. Die dortigen Studierenden holten den Protest dann allerdings im Verlauf der 1970er Jahre gewissermaßen nach, als die neuen Universitäten sich etabliert hatten und die Anzahl der Studierenden wuchs. Einen Höhepunkt dieser späteren Proteste bei1Lukas
Petzolt, Die Studierendenproteste in den späten 1960er und 1970er Jahren in Nordrhein-Westfalen und die Polizei, unveröffentlichte Masterarbeit an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Düsseldorf 2018, S. 1. 2Götz Aly, Unser Kampf 1968. Ein irritierter Blick zurück, Frankfurt a.M. 2009. 3Klaus Schmidt, Dran bleiben. Zuversichtliche Rückblicke eines „Alt-68ers“, Berlin 2018. 4Karl
Dokoupil, Aus eigener Anschauung, in: Bernhard Doerdelmann, Die Polizei und die Deutschen, München 1968, S. 15–32.
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spielsweise in Düsseldorf stellte der große Studierendenstreik in den Jahren 1977 und 1978 dar, er ist damit zehn Jahre nach 1968 zu datieren. Die Geschichte von ’68 ist in Nordrhein-Westfalen also nicht ohne die Universitätsneugründungen und nicht ohne die 1970er Jahre zu beschreiben.
1 Selbst- und Fremdbilder: Polizei und Demonstranten Das Verhältnis zwischen den Studierenden und der Polizei lässt sich in Nordrhein-Westfalen bis in die frühen 1960er Jahre hinein als vergleichsweise unauffällig bzw. unproblematisch charakterisieren.5 Teilweise gilt dies sogar noch für die Zeit nach dem 2. Juni 1967. Der damalige Aachener Polizeipräsident Ernst Dundalek beschreibt in einem Bericht im Polizeimagazin „Die Streife“ noch im August 1967 hervorragende Beziehungen des Polizeipräsidiums zu den Aachener Studierenden, „was die Aachener Polizei mit großer Zufriedenheit“ erfüllte.6 Diese Einschätzung kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch Aachener Studierende die Ordnungsmacht kritisierten. Nach dem Tode Benno Ohnesorgs waren auch hier bei Demonstrationszügen auf den Plakaten der Studierenden polizeikritische Parolen wie „Polizeiknüppel treffen die Demokratie“ zu lesen.7 Hier offenbart sich eine gewisse Spannung in der Wahrnehmung des gegenseitigen Verhältnisses. Die relativierende bzw. etwas realitätsferne Einschätzung und Haltung der Polizei dürfte in einem der großen Probleme der damaligen Polizei begründet sein und zwar in ihrer großflächigen und tiefgreifenden Isolation von der Außenwelt außerhalb der eigenen Institution. Diese gesellschaftliche Isolierung begann bereits in der Ausbildung. Polizeischüler wurden in dieser Zeit militärisch gedrillt und in Kasernen quasi von der Außenwelt abgeschottet. Und auch nach Abschluss der Ausbildung setzte sich die Isolation fort. Bis weit in die 1970er Jahre hinein waren kleine Polizeireviere mit fußläufig begehbarem
5Horst
Pierre Bothien, Protest und Provokation. Bonner Studenten 1967/1968, Bonn 2007, S. 49. 6Ernst Dundalek, Aachen: Polizeipräsidium an der Dreiländergrenze, in: Die Streife 6 (1967), H. 8, S. 12–17. 7Peter Dohms, Studentenbewegung und nordrhein-westfälische Landespolitik in den 60er und 70er Jahren, in: Peter Dohms/Johann Paul, Die Studentenbewegung von 1968 in Nordrhein-Westfalen, Siegburg 2008, S. 182.
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Sprengel die Regel. In diesen mit entsprechend wenigen Polizisten bemannten Revieren herrschte ein ausgeprägter Korpsgeist: Der Revierchef fungierte als unangetastetes dienstliches und außerdienstliches Vorbild. Alle Beamten in einem Revier kannten sich persönlich. Die gesellschaftliche Abschottung verstärkte sich weiter durch eine eher kritische Grundstimmung innerhalb der Bevölkerung gegenüber der Polizei auf der einen Seite sowie durch eine misstrauische Grundhaltung der Polizei gegenüber den Bürgern auf der anderen Seite. Innerhalb der Polizei herrschte mit Blick auf die gesellschaftlichen Unruhen der 1960er Jahre die Vorstellung, dass sie in einem „Guerillakrieg“8 für Recht und Ordnung zu sorgen hätte. Dementsprechend war der Polizeiberuf für viele Polizisten kein Job, sondern eine Berufung.9 Insgesamt unternahm die Polizei wenig, um ihre gesellschaftliche Isolation zu überwinden, sieht man einmal von ihren öffentlichen Sport- und Leistungsschauen ab, die nicht zuletzt der Rekrutierung neuer Polizeianwärter dienten. Institutionelle Kontakte zu außerpolizeilichen Stellen wie etwa der Wirtschaft oder den Universitäten wurden kaum gepflegt.10 Kritik an diesen Zuständen führte zu empfindlichen bis trotzigen Reaktionen, wie es der Polizist Karl Dokoupil während seiner Grundausbildung erlebt hat: Als er bei Exerzierübungen den stets gleichen Ablauf hinterfragte und auch „eine gewisse Heiterkeit nicht unterdrücken“ konnte, entgegnete ihm der Ausbilder: „Sie können ja gehen, wenn es Ihnen nicht paßt.“11 Durch diese Isolation fehlten der Polizei schlichtweg fundierte Informationen darüber, was sich an den nordrhein-westfälischen Universitäten bewegte. Dementsprechend entging es ihr, dass es an den Hochschulen unter den Studierenden gärte. Die Folge waren überraschte und chaotische Einsätze bei den frühen Studierendenprotesten. Hier wäre etwa der Einsatz am 18. Oktober 1967 im Aachener Audimax zu nennen. An diesem Abend fand im Audimax eine feierliche Immatrikulationsfeier statt, die von rund vierzig Demonstranten mit Zwischenrufen gestört wurde. Nachdem der Aachener Rektor Herwarth Opitz die Störer ohne Erfolg zum Verlassen des Hörsaals aufgefordert hatte, schaltete er die Polizei ein, welche in einem chaotischen Einsatz den Audimax räumte.
8Klaus
Weinhauer, Schutzpolizei in der Bundesrepublik. Zwischen Bürgerkrieg und Innerer Sicherheit: Die turbulenten sechziger Jahre, Paderborn 2003, S. 339. 9Ebd., S. 337. 10Ebd., S. 213. 11Dokoupil, Aus eigener Anschauung (wie Anm. 4), S. 16.
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Zahlreiche Polizisten wirkten überfordert, die ergangenen Befehle wurden als widersprüchlich wahrgenommen.12 Ebenso unkoordinierte Polizeieinsätze lassen sich für die Osterunruhen nach dem Attentat auf Rudi Dutschke 1968 feststellen, wenn etwa in Düsseldorf eine Polizei-Hundertschaft in Richtung der Altstadt entsendet wurde, obwohl sie zum Zeitpunkt des Aufbruchs dort überhaupt nicht mehr gebraucht wurde.13 Diese Ignoranz der Polizei gegenüber den gesellschaftlichen Veränderungen ist umso erstaunlicher, als sie sich bereits in den 1950er und frühen 1960er Jahren im Rahmen der sogenannten Halbstarkenkrawalle mit unangepasstem Verhalten und Ausschreitungen junger Menschen konfrontiert sah. Vor diesem Hintergrund hätte ihr in den 1960er Jahren auffallen können, dass sich der gesellschaftliche Wandel vor allem auch im Verhalten und Auftreten der Jugendlichen und jungen Erwachsenen spiegelte und durch diese Generation die allgemeine gesellschaftliche Unruhe nun nach außen bzw. auf die Straße getragen wurde. In den späten 1960er und 1970er Jahren verspielte die Polizei ihre Autorität bei den Studierenden jedoch nicht nur wegen der chaotischen Einsätze, sondern vor allem wegen aufgetretenen Gewaltanwendungen, die von den Demonstranten als überzogen empfunden wurden. Für diese Abwertung war – obgleich hier die nordrhein-westfälische Polizei nicht direkt innvolviert war – die Erschießung Ohnesorgs in West-Berlin von grundlegender Bedeutung. Doch auch die Polizei in Nordrhein-Westfalen reagierte auf die neuen Proteste mancherorts mit Gewalteinsatz. Vor allem die Bonner Polizei fiel in diesem Zusammenhang auf und verlor damit Sympathien. Aber auch in Köln gab es gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei. In der Domstadt fand am 25. Oktober 1966 die erste große Studierendendemonstration in der Bundesrepublik statt.14 Es ist auffällig, dass die Polizei gegenüber den Studierenden deutlich gewaltsamer reagierte als noch wenige Jahre zuvor bei den „Halbstarkenkrawallen“. Woran lag das? Ein wichtiger Grund für die höhere Einsatzhärte dürfte in der Bewertung der Proteste durch die Polizei liegen. Den „Halbstarken“ war die Polizei mit einem gewissen Überlegenheitsgefühl entgegengetreten. Es handelt
12Hans
Siemons, Aachens junge Wilde aus dem Hörsaal, Aachen 1997, S. 57 f. Nordrhein-Westfalen, Abteilung Rheinland, Duisburg (LAV NRW R), NW 186 Nr. 173. 14Dohms, Studentenbewegung (wie Anm. 7), S. 181; Claus Leggewie, 50 Jahre ’68. Köln und seine Protestgeschichte, Köln 2018, S. 80. 13Landesarchiv
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sich aus Polizeisicht um „jugendliche Hitzköpfe“, die die Grenzen austesteten.15 Auf Basis dieser gefühlten polizeilichen Überlegenheit reagierten die Beamten bei den Unruhen zumeist vergleichsweise besonnen und gelassen. Demgegenüber wurden die Proteste der 68er-Bewegung von Beginn an als politisch eingestuft und die Polizei suchte in den Reihen der Demonstranten gezielt und energisch nach kommunistischen Rädelsführern, was in der Regel im Einsatz von Gewalt endete. Darüber hinaus brachten die Studierenden neue Formen des Protests auf die Straßen, während die Polizei noch mit Taktiken und Strategien aus der Zeit der Weimarer Republik operierte.16 So reizten die Aktivisten mit ihren Sprechchören und Transparenten zum Beispiel die Grenzen des Grundrechtes auf Meinungsfreiheit aus, wie der Frankfurter Jurist Erhard Denninger beschrieb: „Zahlreiche Formen des Demonstrierens […] zielen nicht mehr auf eine Auseinandersetzung mit Argumenten; Sprechchöre wie ‚Brecht dem Schütz die Gräten – Alle Macht den Räten!‘ zeigen die riesige Distanz dieser politischen Methode vom klassisch-liberalen Ideal der freien Diskussion, die den Gegner überzeugen, aber nicht politisch ‚fertigmachen‘ soll.“17
Die Polizisten hatten zu entscheiden, welche Parolen noch im Rahmen der Meinungsfreiheit geduldet werden konnten und welche nicht. Die Maßnahmen, z. B. ein als nicht rechtmäßig eingestuftes Plakat zu entfernen, gingen dann häufig nur mit Gewalt vonstatten. Neben der von der Polizei ausgehenden Gewalt gab es in Nordrhein-Westfalen jedoch auch Vorfälle, bei denen die Demonstranten gezielt die Konfrontation mit der Polizei suchten. Die rebellierenden Studierenden entwickelten im Laufe der Zeit ein zweistufiges Protestsystem, um ihre Forderungen öffentlichkeitswirksamer zu präsentieren. Die Wurzeln dieses neuen Vorgehens finden sich in Bonn. Dort wurde vom 10. bis 13. Mai 1966 eine vom Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) organisierte „Vietnam-Woche“ durchgeführt, die eine Reihe sehr unterschiedlicher Veranstaltungen beinhaltete, unter anderem auch eine Podiumsdiskussion mit Beteiligung von Ulrike Meinhof und Rudi Dutschke.
15Weinhauer,
Schutzpolizei (wie Anm. 8), S. 327. Weinhauer, Staatsgewalt, Massen, Männlichkeit: Polizeieinsätze gegen Jugendund Studentenproteste in der Bundesrepublik der 1960er Jahre, in: Alf Lüdtke/Herbert Reinke/Michael Sturm (Hrsg.), Polizei, Gewalt und Staat im 20. Jahrhundert, Wiesbaden, 2011, S. 301–324, hier S. 303. 17Erhard Denninger, Polizei in der freiheitlichen Demokratie, Frankfurt a.M./Berlin, 1968, S. 36. 16Klaus
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Diese teils recht provokante Podiumsdiskussion war die einzige Veranstaltung der „Vietnam-Woche“, die wegen der prominenten Teilnehmerinnen und Teilnehmer größere öffentliche Aufmerksamkeit erfuhr. Der Rest wurde sowohl von mehr als neunzig Prozent der Bonner Studierenden als auch von den lokalen Medien kaum wahrgenommen.18 Wegen dieser geringen Aufmerksamkeit änderten die Studierenden bei einer anderen Begebenheit ihre Strategie, um mehr Resonanz auf ihre Aktivitäten zu generieren: Als ersten Schritt gab es eine (legale) Demonstration gegen das polizeiliche Vorgehen gegen lybische Studierende, welche am 3. Februar 1967 die Botschaft ihres Heimatlandes besetzt hatten. Diese Demonstration erhielt erneut wenig Resonanz. Daraufhin fanden sich Vertreter des Bonner Allgemeinen Studierendenausschusses (AStA) und des SDS im Rahmen des zweiten Schritts in der Nacht des 15. auf den 16. Februar 1967 vor der lybischen Botschaft ein, entzündeten Fackeln und skandierten Sprechchöre. Als die Polizei begann, die Demonstration aufzulösen, wurden Farbbeutel an die Fassade der Botschaft geworfen.19 Über diesen Vorfall empörten sich in den darauffolgenden Tagen die Bonner Gesellschaft und die Medien. Diese neue, zweistufige Proteststrategie wurde schnell populär: Zuerst wurde im Rahmen der Gesetze gegen etwas demonstriert, z. B. mit Flugblattaktionen oder Podiumsdiskussionen. Anschließend folgte eine provokante, in der Regel ordnungswidrige, teilweise sogar strafbare Aktion, um die Öffentlichkeit zu empörten Reaktionen zu zwingen.20 Allerdings nutzte sich diese Strategie schnell ab: Bereits Ende 1967 riet ein Thesenpapier den Bonner Studierenden, die Polizei und die Hochschulverwaltung nicht ausschließlich um der Provokation willen zu verärgern.21 Gleichwohl gab es weiterhin Situationen, in denen die Studierenden für die gewaltsame Eskalation von Protesten verantwortlich waren. So gab es in der Nacht des 12. Aprils 1968 im Zuge der Osterunruhen Bestrebungen, die Auslieferung von Presseerzeugnissen des Springer-Verlages zu verhindern. Teilnehmer der Aktion errichteten hierfür Barrikaden. Einigen Demonstranten reichte das nicht. Sie setzten auf extremere Mittel und zündeten unter anderem die errichteten Barrikaden an.22
18Bothien,
Protest (wie Anm. 5), S. 32. S. 33. 20Ebd., S. 34. 21Bernd Pauly, Klimawandel an der Bonner Universität. Erinnerungen eines AkutRedakteurs, in: Josef Matzerath, Bonn – 54 Kapitel Stadtgeschichte, Bonn 1989, S. 377– 385, hier S. 382. 22Norbert Kozicki, Aufbruch in NRW. 1968 und die Folgen, Essen 1995, S. 22. 19Ebd.,
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Generell registrierte die Polizei, dass die Studierendengruppen bei ihren Protesten sehr gezielt und koordiniert vorgingen, und dies vor allem bei der Begehung von Ordnungswidrigkeiten und Straftaten. Exemplarisch sei dies an den im April 1971 stattfindenden Protesten der „Aktion Roter Punkt“ geschildert. Die Proteste richteten sich hauptsächlich gegen die Erhöhung der Fahrpreise im öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV). Die Gleisbesetzungen, die während der Proteste stattfanden, waren nach Ansicht des Aachener Polizeipräsidiums zunehmend sorgfältig geplant.23 Zunächst „verteidigten“ sich die Gleisbesetzer am 2. April 1971 noch gegen die anrückenden Polizeikräfte, was einen großen Polizeieinsatz zur Folge hatte. Schon bald jedoch änderten die Demonstranten nach und nach ihre Taktik. Sie beendeten bei Eintreffen der Polizei die Gleisbesetzung, nur um an anderen Verkehrsknotenpunkten wieder neu zu beginnen.24 Damit entwickelte sich ein Katz- und Mausspiel zwischen Studierenden und Polizei. Eine weitere Veränderung, die die Polizei registrierte, war das oftmals unkooperative und provokante Verhalten der Demonstranten. Im Falle der „Aktion Roter Punkt“ waren dies aus Sicht der Polizei Versuche, Passanten und insbesondere Jugendliche anzusprechen, um diese für ihre Sache zu gewinnen. Die Strategie schloss auch falsche Hilferufe und das Vortäuschen von Polizeigewalt ein.25 Darüber hinaus verhielten sich auch festgenommene Demonstranten gegenüber der Polizei nicht selten unkooperativ und kamen polizeilichen Anordnungen nur unter Androhung teils fragwürdiger Methoden nach. Hierzu findet sich in den Akten des Aachener Polizeipräsidiums ein Bericht einer Kriminalkommissarin, in dem es um die Durchsuchung einer festgenommenen Aktivistin geht: „Die X. Y.26 geb. 1954 […], wurde von zwei Beamten der Hauptwache […] vorgeführt. Ich begab mich mit dem Mädchen, welches eine nur notdürftig geflickte Jacke trug, in einen Nebenraum, schloß hinter mir die Türe zu und gab ihm bekannt, daß es sich zur Durchsuchung entkleiden möge. Die Jugendliche zog daraufhin ihren Pullover leicht hoch. Nach anfänglichem Weigern ließ sie ihre lange Hose und auch den Schlüpfer auf meine Aufforderung hin bis zu den Knien herab. Bei der Durchsuchung gab die Jugendliche sich herausfordernd und arrogant und für den Fall, daß sie meinen Aufforderungen nicht nachkäme, kündigte ich ihr an, daß ich die im Nebenraum wartenden männlichen Kollegen um Hilfe rufen würde.
23LAV 24LAV
NRW R, BR 2067 Nr. 112. NRW R, BR 2067 Nr. 111.
25Ebd. 26Name
aus Gründen des Datenschutzes anonymisiert.
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Die Jugendliche machte einen sehr ungepflegten Eindruck. Sie behauptete unter anderem, völlig zu Unrecht in polizeiliche Verwahrung genommen worden zu sein, brüstete sich damit, bereits mehrfach in Vorasylen untergebracht gewesen zu sein, und verlangte, bevor sie von den Schutzpolizeibeamten weggebracht wurde, exakte Auskunft über ihren weiteren Verbleib, die ihr trotz ihrer Arroganz gegeben wurde.“27
Zunächst fällt hier auf, dass die Kommissarin einer minderjährigen weiblichen Verdächtigen die Zuhilfenahme männlicher Beamter für die Leibesvisitation androht, was aus heutiger Sicht extrem bedenklich ist. Aber auch der verärgerte Unterton der Kommissarin vor allem im letzten Teil des Berichts lässt sich relativ deutlich herauslesen, sie fühlte sich sichtbar herausgefordert durch das Verhalten der Jugendlichen. Auch anderswo beklagten sich Polizisten über das Verhalten der jungen Demonstranten. Ein Leitender Schutzpolizeidirektor der Bonner Polizei stellte in der Nachbesprechung einer Großdemonstration vom 8. Oktober 1977 fest, dass die Aktivisten gezielt die Konfrontation mit den Polizeikräften gesucht hätten und dabei mit „radikaler Brutalität“ vorgegangen seien. Sie seien den Auflagen der Polizei grundsätzlich nicht nachgekommen.28
2 Demonstrationsanmeldung Der wichtigste Berührungspunkt zwischen der nordrhein-westfälischen Polizei und den Beteiligten der Studierendenproteste waren jedoch nicht die Demonstrationen selbst, sondern die Anmeldeverfahren derselben. Hier konnte man sich noch in einer ruhigen Atmosphäre über die Veranstaltungspläne austauschen. Demonstrationen und Kundgebungen mussten damals ebenso wie auch heute bei der lokalen Kreispolizeibehörde angemeldet werden. Dies hatte spätestens zwei Tage vor der geplanten Kundgebung zu erfolgen. Den rechtlichen Rahmen für die Anmeldungen von Demonstrationen lieferte das Versammlungsgesetz vom 24. Juli 1953.29 Für die Anmeldung war ein standardisiertes Formular auszufüllen, welches unter anderem die persönlichen Daten des Anmelders, die geschätzte Zahl der Teilnehmer, das Thema der Kundgebung und Hilfsmittel (z. B. Lautsprecher) erfragte. Die Polizeipräsidien der Universitätsstädte prüften
27LAV
NRW R, BR 2067 Nr. 110. NRW R, BR 2027 Nr. 51. 29Bundesgesetzblatt (BGBl.) 1953, Teil 1, S. 684–686. 28LAV
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die Anmeldung, bestätigten/genehmigten die Demonstration oder untersagten diese teilweise oder auch ganz. Bei der Analyse dieser Anmeldungen in den Aktenbeständen fallen einige Aspekte auf: Sämtliche Sachbearbeiter hielten sich mit politischen oder persönlichen Einschätzungen zu den Demonstrationsthemen zurück. Besonders sticht ins Auge, dass die Studierenden bei den Anmeldungen gegenüber nicht-studentischen Antragstellern nicht sichtbar benachteiligt wurden.30 Komplettverbote von Demonstrationen der Studierenden waren höchst selten, sie waren dann – wenn überhaupt – vor allem in formalen Schwierigkeiten begründet, wie etwa der Missachtung der Bannmeile vor dem Bundestag in Bonn oder dem Landtag in Düsseldorf. Dies passierte beispielsweise 1974 in Bonn einer Gruppe Studentinnen, die innerhalb der Bannmeile des Bundestages gegen den § 218 Strafgesetzbuch (StGB) protestieren wollte.31 Etwas häufiger kamen Teilverbote von Kundgebungen vor, so z. B. 1970 ebenfalls in Bonn: Der AStA der Universität Bonn wollte einen Demonstrationszug gegen den Staatsbesuch des jordanischen Königs veranstalten, was ihm aus Sicherheitsgründen untersagt wurde. Eine dazu ebenfalls geplante Kundgebung auf dem Bonner Marktplatz konnte hingegen stattfinden.32 Insgesamt ist festzustellen, dass die Polizei bestrebt war, das Demonstrationsrecht der Studierenden so wenig wie möglich zu beeinträchtigen. Auf juristischer Ebene jedoch nahm die Polizei stärkeren Einfluss auf den Umgang mit dem Protestgeschehen: Sie setzte die aktuelle Rechtsprechung um und senkte auf deren Basis die Voraussetzungen einer Anzeige wegen Landfriedensbruchs (§ 125 StGB): Nach einem Urteil des Bundesgerichtshofes konnte sich bereits des Landfriedensbruchs schuldig machen, wer sich auf Aufforderung der Polizei nicht vom Demonstrationsort entfernte.33 Auch Verstöße gegen die Auflagen der Demonstrationsgenehmigungen wurden konsequent angezeigt und verfolgt.34 Des Weiteren befindet sich in den Archivunterlagen des Bonner Polizeipräsidiums in einem Aktenverzeichnis von 1976 ein Verweis auf einen Entwurf für ein allgemeines Demonstrationsverbot während eines Staatsbesuches.35
30LAV
NRW R, BR 2282 Nr. 392. NRW R, BR 2282 Nr. 364. 32LAV NRW R, BR 2282 Nr. 391. 33Willi Weyer, Polizei nicht im Stich lassen, in: Die Streife 7 (1968), H. 3, S. 8. 34LAV NRW R, BR 2282 Nr. 272. 35LAV NRW R, BR Nr. 2282 Nr. 361. 31LAV
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Dieser Entwurf ließ sich zwar nicht mehr auffinden, durch den Verweis ist aber belegt, dass man sich weiterreichende Optionen überlegt hatte, um den Protest einzudämmen. Die Polizei versuchte zudem, sich personell auf die Demonstrationen einzustellen. In erster Linie plante sie, möglichst erfahrene Beamte in die Einsätze bei den Demonstrationen zu schicken. Die Polizeiführung erhoffte sich von dieser Maßnahme, dass die einsatzgestählten Beamten besonnener auf die Proteste reagieren würden als ihre jüngeren Kollegen.36 Erfahrungsgemäß waren auch die Aufklärungsergebnisse der älteren Kollegen besser als die der jungen Polizeibeamten.37 Es ist jedoch fraglich, inwieweit der geplante Einsatz erfahrener Beamter auch in die Tat umgesetzt werden konnte, da in der Bereitschaftspolizei oftmals Nachwuchskräfte als sogenannte Erstverwendung oder bereits während der Ausbildung eingesetzt wurden. Es gibt zudem psychologisch gestützte Argumente, die eine Verwendung von einsatzerprobten Beamten bei Demonstrationen kritisch sehen: Beispiele aus Hamburg zeigen zum einen, dass Polizisten mit zunehmender Erfahrung bei Demonstrationen erst recht gewaltsam reagierten, da unter ihnen die Ansicht, nicht hart genug gegen die Demonstranten durchzugreifen, verbreiteter war als bei jungen Polizisten.38 Polizeipsychologen und -soziologen stellten auch fest, dass altersunabhängig zahlreiche Beamte in demonstrationsbedingten Stresssituationen, z. B. wenn ein Polizist den Demonstranten allein gegenüberstand, häufig in Verhaltensmuster zurückfielen, die ihnen in der Ausbildung indoktriniert worden waren.39 Da die Polizeiausbildung im Untersuchungszeitraum sehr militärisch orientiert war, waren diese Verhaltensmuster in der Regel mit Gewaltausübung verbunden. Neben der teils gewaltsamen Konfrontation gab es aber auch zahlreiche Situationen und Ereignisse, in denen die Polizei den Studierenden entgegenkam und Verständnis für deren Protest zeigte. Hier wäre zunächst der Bochumer Polizeipräsident Wilfried Graf von Hardenberg zu nennen, der nach dem Tode Benno Ohnesorgs 1967 noch im selben Monat an einer Podiumsdiskussion
36Weinhauer,
Schutzpolizei (wie Anm. 8), S. 38. NRW R, BR 2027 Nr. 51. 38Weinhauer, Schutzpolizei (wie Anm. 8), S. 327–329. 39Dieter Keim, Das Gewaltpotenzial der Polizei bei Demonstrationseinsätzen, in: Arbeitskreis Junger Kriminologen (Hrsg.), Die Polizei – Eine Institution öffentlicher Gewalt – Analysen, Kritik, Empirische Daten – Kritische Texte zur Sozialarbeit und Sozialpädagogik, Neuwied/Darmstadt 1975, S. 89–97, hier S. 96 f. 37LAV
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an der juristischen Fakultät der Bochumer Universität teilnahm. Die dortigen Studierenden äußerten gegenüber dem Polizeipräsidenten den Wunsch, die Polizei besser und vor allem im Dienst kennenlernen zu können. Diesem Wunsch kam Hardenberg nach: Studierende durften die Bochumer Polizei vom 21. November bis 19. Dezember 1967 im Streifendienst begleiten, teilweise sogar bei Nachtschichten. Dieses Angebot nahmen 144 Studierende der Universität Bochum wahr.40 Wahrscheinlich handelte es sich dabei überwiegend um Studierende der Rechtswissenschaft. In Bochum wurden die Proteste jedoch, wie in anderen Städten auch, größtenteils von den Studierenden der geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen getragen, sodass diese unmittelbare Einsicht in die Polizeiarbeit vermutlich nur wenigen Demonstranten zuteilwurde.41 Es ließ sich aber nicht feststellen, ob die an den Demonstrationen beteiligten Studierenden von dem Angebot ausgeschlossen wurden oder sie dieses von selbst nicht wahrnahmen. Ein weiterer hochrangiger Polizeiführer, der sich verständnisvoll über die Studierendenproteste äußerte, war niemand Geringerer als der damalige nordrhein-westfälische Innenminister Willy Weyer. Weyer forderte im November 1967 in einem Beitrag des Polizeimagazins „Die Streife“ Toleranz seitens der Polizei gegenüber den Studierenden.42 Aber auch in öffentlichen Reden, wie beispielsweise 1968 bei einer Vereidigungsfeier vor 1.500 Polizeianwärtern, äußerte Weyer Verständnis für die Lage der Studierenden und für die Kritik an den als einengend empfundenen Universitätsverfassungen.43 Diese wohlwollenden Äußerungen können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Innenminister als oberster Dienstherr sich letztlich vor seine Polizisten stellte: In der gleichen Rede kritisierte Weyer die Studierendenbewegungen dafür, sich vom hochschulpolitischen Bereich entfernt und radikalisiert zu haben.44 Letztlich kam die Polizei den Demonstranten bei ihren Veranstaltungsanmeldungen jedoch immer wieder entgegen. Die Sachbearbeiter schlugen den
40Wilfried
Graf von Hardenberg, Studenten beim Streifendienst, in: Die Streife 7 (1968), H. 4, S. 6. 41Johann Paul, Die Studierendenbewegung an den neuen Hochschulen am Beispiel der Ruhruniversität Bochum, in: Dohms/Paul, Die Studentenbewegung (wie Anm. 7), S, 123– 132, hier S. 124. 42Willi Weyer, Studenten und Polizei, in: Die Streife 6 (1967), H. 11, S. 12–14, hier S. 12 f. 43Studie über die Polizeiorganisation in NRW, in: Die Streife 7 (1968), H. 8, S. 2–5. 44Ebd.
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Anmelderinnen der bereits erwähnten Bonner Demonstration gegen § 218 StGB alternative Veranstaltungsorte vor, nachdem die erste Kundgebung wegen Missachtung der Bannmeile untersagt werden musste. Die Genehmigung erfolgte dann nach dieser zweiten Anmeldung recht rasch. Aus den Aktenbeständen des Bonner Polizeipräsidiums ist nicht zu erkennen, dass hierzu seitens der Polizei in irgendeiner Form eine Verpflichtung bestanden hätte.45 Das Vorgehen der Beamten kann demnach als guter Dienstleistungsservice betrachtet werden. Ein weiterer Grund für eine verständnisvolle Haltung der Polizei mochten gewisse Gemeinsamkeiten zwischen den Studierenden und den jungen Polizeibeamten sein. So könnte dem Wohnraummangel eine solidarisierende Funktion zukommen: Vor allem in den 1970er Jahren waren die soziale Lage der Studierenden und mangelnder bezahlbarer Wohnraum häufig Anlässe für Proteste. Aber auch zahlreiche Polizisten suchten händeringend nach einer Wohnung. In Köln waren beispielsweise 1968 insgesamt 199 Beamte auf der Suche nach einer Bleibe, im gesamten Bundesland waren 2.427 Beamte als wohnungssuchend gemeldet, und fast die Hälfte der Gesuche, nämlich 1.130, wurde als dringend beschrieben.46 Es ist daher anzunehmen, dass diese Beamten gewisses Verständnis für die prekäre Lage und die damit verbundenen Proteste der Studierenden hatten. Allerdings ist ebenso festzuhalten, dass sich diese These weder bestätigen noch widerlegen lässt. Die individuellen Einschätzungen der Polizeibeamten sind in den gesichteten Quellen nicht dokumentiert. Dass sich Polizisten von den neuen Demonstrationsformen, welche von den Studierenden auf die Straße gebracht wurden, zu eigenen Protestveranstaltungen und Kundgebungen inspirieren ließen, zeigt der folgende dokumentierte Fall. Hierbei handelte es sich um die Kundgebung der Aktionsgemeinschaft Mittlerer Dienst Kripo NW (AMD) am 12. April 1978 in Bonn. Diese Initiative setzte sich für bessere Arbeitsbedingungen und Aufstiegschancen im mittleren Kriminalpolizeidienst ein. Die Veranstaltung stand unter dem Motto: „Für den mittleren Polizeidienst der Kripo NW ist es 5 vor 12!“.47 Angemeldet wurde die Demonstration von einem Kriminalhauptmeister, der gegen Ende des Zweiten Weltkrieges geboren worden war und damit auch altersmäßig zur gleichen Generation wie die Träger der Studierendenproteste gehörte. Bei der Veranstaltung des AMD wurden zwei Demonstrationsformen angewendet, die auch für die Studierendenproteste
45LAV
NRW R, BR 2282 Nr. 364. kleine Anfragen im Landtag, in: Die Streife 7 (1968), H. 9, S. 6. 47LAV NRW R, BR 2282 Nr. 272. 46Zwei
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typisch waren: Zuerst näherte man sich mit einem Sternmarsch, wenn auch hier als Sternfahrt ausgeführt, dem eigentlichen Ort der Kundgebung, danach übergab man zum Abschluss Eingaben und Petitionen an offizielle Vertreter des Staates, in diesem Falle an die Innenministerkonferenz.48
3 Die Rolle des Kriminalkommissariats 14 Innerhalb der einzelnen nordrhein-westfälischen Kreispolizeibehörden nahmen die Kommissariate 14 (K14) eine besondere Stellung ein. Die Organisation der Polizeipräsidien war im untersuchten Zeitraum, bis auf lokale Eigenheiten, in jeder Stadt einheitlich gehalten. In jedem Polizeipräsidium existierte ein K14, das für die Strafverfolgung von politischer Kriminalität zuständig war. Mit dieser Zuständigkeit waren die K14 in den 1960er und 1970er Jahren von der Demonstrationsanmeldung bis zur stattfindenden Demonstration in alle damit verbundenen innerpolizeilichen Arbeitsabläufe involviert. Bei den Anmeldungen wurde das jeweilige K14 häufig von den zuständigen Sachbearbeitern um Stellungnahme gebeten. Es sollte prüfen, inwieweit Bedenken gegen die Anmelder, die dahinterstehende Gruppierung oder das Demonstrationsvorhaben an sich bestanden. Einwände des K14 finden sich jedoch nur selten in den eingesehenen Anmeldungsunterlagen.49 Im Vorfeld der Demonstrationen betrieben die zuständigen Kommissariate auch Aufklärung vor Ort: Sie beobachteten, teils Tage vor der angemeldeten Veranstaltung, den Demonstrationsort und achteten z. B. auf Vorbereitungen der Studierenden.50 Und auch während einer Demonstration waren die Beamten des K14 präsent: Sie mischten sich in Zivil unter die Demonstranten, beobachteten den Verlauf und achteten auf mögliche Straftaten, wie z. B. beleidigende Transparente oder Verstöße gegen Auflagen. Dabei machten sie auch häufig mit Fokus auf Gesichter, Plakate und Grüppchenbildungen Fotos von den Veranstaltungsteilnehmern.51 Trotz der Zivilkleidung kam es jedoch immer wieder vor, dass Beamte von den Demonstranten als Polizisten identifiziert werden konnten. Dies
48Ebd. 49LAV
NRW R, BR 2282 Nr. 405. NRW R, BR 2067 Nr. 110. 51Z. B. in Aachen, LAV NRW R, BR 2130 Nr. 59. 50LAV
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war häufig sehr einfachen Ursachen geschuldet: Ein Polizeiführer kritisierte bei einer Demonstrations-Nachbesprechung das „zu bürgerliche“ Erscheinungsbild der Kriminalbeamten.52 Studierendenproteste, die von der Polizei von vornherein als politisch gewertet wurden, erhielten von Anfang an eine erhöhte Aufmerksamkeit in den Fachkommissariaten. Das K14 des Polizeipräsidiums Düsseldorf führte „Körperschaftsakten“53 über politische und/oder studentische Gruppen. Beim entsprechenden Kölner Kommissariat finden sich vergleichbare Unterlagen, die hier als „Auswerteblatt“54 bezeichnet wurden. In den Aktenbeständen des Polizeipräsidiums Aachen lassen sich inhaltlich ähnliche „Sonderakten“55 nachweisen. In diesen Unterlagen vermerkten die Kommissariate 14 alle Veranstaltungen der Gruppierungen, die sie beobachteten. Sie listeten die ihnen bekannten Mitglieder der jeweils im Fokus stehenden Gruppe auf. Daneben kommunizierten sie auch mit anderen Behörden, wie beispielsweise dem Landeskriminalamt oder dem Landesamt für Verfassungsschutz, und dokumentierten den Austausch. Manchmal gingen die Beamten des K14 sogar so weit, dass sie sich inkognito zu geschlossenen (und damit nicht anmeldepflichtigen) Veranstaltungen der von ihnen beobachteten Gruppen begaben. Dies war etwa in Köln der Fall. Dort gingen Beamte des K14 zu einer Podiumsdiskussion der Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes (VVN), in der sich zahlreiche Studierende engagierten, und überprüften die Redner, die zuhörenden Teilnehmer und sogar die in der näheren Umgebung des Veranstaltungsortes parkenden Fahrzeuge.56 Weiterhin wurden ausländische Studierende, die sich 1968 oder auch später in der Studierendenbewegung allgemein engagierten, von den Fach-Kommissariaten besonders intensiv beobachtet. Standardmäßig wurde bei ausländischen Studierenden der aufenthaltsrechtliche Status überprüft. Wurde ein ausländischer Studierender in strafrechtlicher Hinsicht auffällig, so prüfte das K14 nicht selten auch schärfste Sanktionsmaßnahmen wie etwa die Ausweisung des Betroffenen aus der Bundesrepublik.57 Die Kommissariate 14 zogen auch mögliche Reaktionen des Herkunftslandes oder der Studierenden in ihre Ermittlungen
52LAV
NRW R, BR 2027 Nr. 51. NRW R, BR 2396 Nr. 900. 54LAV NRW R, BR 0051 Nr. 597. 55LAV NRW R, BR 2067 Nr. 110–111. 56LAV NRW R, BR 0051 Nr. 597. 57LAV NRW R, BR 2282 Nr. 371. 53LAV
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ein: Ein ehemaliger US-Soldat, der mit einem Armee-Stipendium in Deutschland studierte und bei einer Demonstration unter anderem wegen Nötigung und Sachbeschädigung angezeigt wurde, durfte im Land bleiben. Gegen eine amerikanische Studentin wiederum, die bei den Black Panthers aktiv war, wurde die Anordnung erlassen, dass sie bei Antreffen in der Bundesrepublik festzunehmen und auszuweisen sei.58 Neben der Beobachtung und Überprüfung traten die Beamten des K14 aber auch als Ermittler gegen Protestteilnehmer auf, wenn diese in den Verdacht gerieten, Straftaten begangen zu haben. Ein Beispiel für solche Ermittlungen findet sich in den Jahren 1977/78 während des großen Studierendenstreiks an der Universität Düsseldorf: Dort hatte der Rektor der Universität, Kurt Suchy, vier Studierende wegen Hausfriedensbruch und Nötigung angezeigt, nachdem diese mehrere Lehrveranstaltungen unterbrochen und gestört hatten. Zwar wurden die Verfahren vor Gericht letztlich eingestellt, dennoch festigte sich bei den Studierenden die Einschätzung, dass das Kommissariat 14 eine politische Polizei sei, die gegen Studierende agiere.59
4 Protestfolgen: Arbeitsbelastung und innerer Wandel? Die messbarste Konsequenz der Studierendenproteste für die nordrhein-westfälische Polizei liegt in der daraus resultierenden Mehrarbeit für die Beamten. Seit 1968 bis zum Ende der 1970er Jahre lässt sich ein stetiger Zuwachs an Demonstrationsanmeldungen verzeichnen. Dies sei hier am Beispiel des Polizeipräsidiums Bonn dargestellt: Während für das Jahr 1968 lediglich zehn Anmeldungen in den Akten der Bonner Polizei registriert sind, befinden sich nur drei Jahre später bereits 31 Demonstrationsanmeldungen in den Unterlagen. Gegen Ende der 1970er Jahre wurden regelmäßig dreistellige Anmeldungszahlen erfasst, so beispielsweise 143 im Jahre 1978. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Studierendenproteste nur ein Faktor für die steigenden Arbeitsbelastungen waren. Des Weiteren sind ein steigendes Kriminalitätsaufkommen
58Ebd. 59Judith
Vollmer/Max Plassmann, 40 Jahre „1968“. 30 Jahre Studierendenstreik 1977/1978, Studentischer Protest im Spiegel der Plakat- und Flugblattsammlung des Universitätsarchivs Düsseldorf, in: Alfons Labisch (Hrsg.), Jahrbuch der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf 2007/2008, Düsseldorf 2008, S. 669–685, hier S. 683.
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bei stagnierenden Aufklärungszahlen60 und vor allem eine erhebliche Zunahme des Verkehrsaufkommens mit den daraus resultierenden höheren Unfallzahlen zu nennen. Verschärft wurde dies dann noch dadurch, dass die Polizei seit Ende der 1960er Jahre unter einem akuten Nachwuchsmangel litt. Mit weiteren, darüber hinaus gehenden Belastungen sahen sich insbesondere die Polizisten in Bonn und Düsseldorf konfrontiert. Bonn als damalige Bundeshauptstadt war vor allem in den 1960er Jahren ein beliebter Demonstrationsort für die Studierenden, da der Protest direkt in der Nähe der Verfassungsorgane ausgetragen werden konnte. Auch die diplomatischen Vertretungen anderer Länder waren oftmals das Ziel studentischer Protestaktionen. In der Bundeshauptstadt Bonn gab es allein in der Nähe der sowjetischen Botschaft so viele Zwischenfälle, dass die Polizei hierfür eine eigene Akte anlegte.61 Eine vergleichbare Rolle auf Landesebene erhielt Düsseldorf in den 1970er Jahren. Die Proteste verlagerten ihren Schwerpunkt weg von allgemeinpolitischen Inhalten zu hochschulpolitischen Themen, für die die Landesregierung der bessere Adressat war. War es in Düsseldorf Ende der 1960er Jahre noch ruhig gewesen, so stieg die Anzahl an Demonstrationen in den 1970er Jahren stetig an. Doch egal ob es sich um Bonn, Düsseldorf oder andere Städte handelte, die Folge für die Polizei waren explodierende Überstundenzahlen: Bereits 1968 schoben allein die Beamten des Kölner Polizeipräsidiums mehr als 22.000 Überstunden vor sich her.62 Neben dem Anstieg der Arbeitsbelastungen erlebte die nordrhein-westfälische Polizei seit dem Ende der 1960er bis in die frühen 1980er Jahre eine Liberalisierung in vielen Bereichen wie Personal, Taktik und Ausbildung. Da diese sich mit den Studierendenprotesten überschnitt, ist die Annahme naheliegend, dass die Proteste sich auch auf innerpolizeiliche Strukturen ausgewirkt haben und auch hier eine Liberalisierung forcierten. Um dies zu überprüfen, ist zunächst die Rolle der Frau innerhalb der Polizei zu betrachten. Die Gleichstellung von Mann und Frau war auch in Nordrhein-Westfalen ein bedeutendes Anliegen der 68er-Bewegung. Bereits im Jahr 1967 lässt sich die Bildung des Arbeitskreises Emanzipation (AKE) an der
60Kriminalitätsstatistik
1966, in: Die Streife 6 (1967), H. 2, S. 2–4; Kriminalitätsstatistik 1967, in: Die Streife 7 (1968), H. 2, S. 6–7, hier S. 6 f. 61LAV NRW R, BR 2282 Nr. 377. 62Zwei kleine Anfragen im Landtag, in: Die Streife 7 (1968), H. 9, S. 6.
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Pädagogischen Hochschule Bonn belegen.63 Als Teil der Frauenbewegung trugen feministische Studentinnen ihren Protest auf die Straße und trafen hier auf die Polizei. Seit den 1970er Jahren finden sich in den Demonstrationsanmeldungen der nordrhein-westfälischen Polizei verstärkt Kundgebungen mit feministischen Inhalten, am häufigsten lassen sich Veranstaltungen zur Abschaffung des Abtreibungsparagrafen 218 StGB nachweisen.64 Während die meisten anderen studentischen Protestveranstaltungen von männlichen Studierenden angemeldet und geleitet wurden, waren es in diesem Fall ausschließlich Frauen, die tätig wurden. Dies konfrontierte die Polizeibeamten vor Ort mit alternativen geschlechtsspezifischen Rollenbildern. Gleichzeitig drängten Frauen im Zuge der Proteste vermehrt in bis dahin typische Männerdomänen. Vom Bonner AKE ist folgende plakative Forderung aus der Studierendenzeitschrift „akut“ überliefert: „Nie mehr Prostitution unter dem Phallus-Galgen: Hinein in die zukunftsträchtigen technischen Positionen!“65 Gleichzeitig wurden junge Frauen auch immer häufiger in ihrem privaten Umfeld, etwa von ihren Müttern, ermutigt, bisher eher ungewöhnliche Berufswünsche zu verfolgen. Sie sollten eine gute Bildung erhalten, die ihren Müttern einst nicht gewährt worden war.66 Spätestens gegen Ende der 1970er Jahre nahm auch die Polizei diese gesellschaftlichen Veränderungen intensiv wahr. Doch trotz all dieser Aspekte, die für einen Einfluss der 68er-Bewegung auf die Öffnung des Polizeidienstes für Frauen sprechen, finden sich vornehmlich andere Ursachen für den Wandel innerhalb der Polizei. Zunächst ist hier die Weibliche Kriminalpolizei (WKP) zu nennen, die bereits seit den 1920er Jahren Frauen die Möglichkeit gab, bei der Polizei zu arbeiten. Im Jahr 1925 bestand die erste Frau die Laufbahnprüfung zur Kriminalkommissarin.67 Einzelne Frauen, wie etwa Friederike Wieking, die als Kriminalrätin in Pension ging, erreichten sogar höhere Polizeiämter.68
63Christina
von Hodenberg, Das andere Achtundsechzig. Gesellschaftsgeschichte einer Revolte, München 2018, S. 104. 64LAV NRW R, BR 2282 Nr. 392. 65Zit. nach: Hodenberg, Das andere Achtundsechzig (wie Anm. 63), S. 105. 66Ebd., S. 140. 67Stefanie Jeran/Tanja Guski, Frauen in der Polizei, in: Stefan Goch (Hrsg.), Städtische Gesellschaft und Polizei. Beiträge zur Sozialgeschichte der Polizei in Gelsenkirchen, Essen 2005, S. 354–360, hier S. 355. 68Friederike Wieking, Die Entwicklung der weiblichen Kriminalpolizei in Deutschland von den Anfängen bis zur Gegenwart, Lübeck 1958.
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Durch die Beamtinnen der WKP waren Frauen auf den Polizeirevieren bereits in großem Maße Alltag in den nordrhein-westfälischen Polizeirevieren und hatten eigene Zuständigkeiten, durch die sie sich gegenüber ihren männlichen Kollegen profilieren konnten. Obwohl die Beamtinnen tagtäglich mit den männlichen Polizisten zusammenarbeiteten, hatten die Beamtinnen der WKP jedoch nicht die gleichen Rechte wie ihre männlichen Kollegen der Kriminalpolizei, geschweige denn wie die der uniformierten Schutzpolizei.69 Selbst in den 1970er Jahren forderte der Gelsenkirchener Polizeipräsident Conrad Ahlers noch, dass die Polizei als rein männlichen Beruf zu bewahren sei.70 Nahezu alle Frauen der WKP kamen noch aus Pflege- oder anderen sozialen Berufen, ihr Ermittlungsbereich war auf kriminelle Minderjährige und Kriminalität gegen Frauen beschränkt.71 Erst 1982 ließ Nordrhein-Westfalen als fünftes Bundesland nach Berlin (1978), Hamburg (1979), Niedersachsen und Hessen (1981) Frauen zum Dienst in der Schutzpolizei zu. Der Schritt zur wirklichen Gleichberechtigung im polizeilichen Alltagsleben dauerte aber noch viel länger, da Frauen auch nach 1982 zunächst nicht in Polizeieinheiten eingesetzt wurden, die in gefährliche und gewaltsame Situationen geraten konnten. Dies galt nach wie vor als unvereinbar mit dem Rollenbild der Frau.72 Hatte die alltägliche Präsenz der WKP und die damit einhergehende Gewöhnung an die Tätigkeit von Frauen in der Polizei vermutlich auch ihre Zulassung für die Schutzpolizei unterstützt, war es dennoch vor allem der Nachwuchsmangel innerhalb der Polizei, der die Organisation grundsätzlich für Frauen öffnete. Als sich dann in den 1970er Jahren Frauen in den Modellversuchen in Hamburg, Hessen und Niedersachsen in der Schutzpolizei bewährt hatten, erging die Entscheidung, sie auch zum uniformierten Polizeidienst zuzulassen.73 Die 68er-Bewegung wirkte in diesem Punkt vermutlich bestenfalls indirekt auf die Polizei ein, etwa wenn bei den Protest- und Demonstrationsveranstaltungen alternative Rollen- bzw. Frauenbilder in die Öffentlichkeit getragen wurden und auf diesem Weg auch die Polizei erreichen konnten. Statt einen reformierenden Einfluss der 68er-Bewegung zu konstatieren, machte der
69Bettina
Blum, Polizistinnen im geteilten Deutschland. Geschlechterdifferenzen im staatlichen Gewaltmonopol vom Kriegsende bis in die siebziger Jahre, Essen 2012. 70Jeran/Guski, Frauen (wie Anm. 67), S. 356. 71Kea Tielemann, Frauen in der Schutzpolizei, in: Institut für Bürgerrechte & öffentliche Sicherheit e. V. (Hrsg.), Bürgerrechte & Polizei, Nr. 3, Berlin, 1993, S. 18–22, hier S. 18. 72Ebd., S. 18. 73Ebd., S. 18.
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Innenminister die Bewegung vielmehr sogar für den Nachwuchsmangel bei der nordrhein-westfälischen Polizei mitverantwortlich. So hieß es in einem Artikel im Polizeimagazin „Die Streife“ im Dezember 1968: „Am Rückgang der Bewerbungen zum Polizeidienst sind nicht zuletzt die Demonstrationen schuld, bei denen im vergangenen Jahr zahlreiche Beamte häufig Verletzungen davontrugen oder sogar schwerste körperliche Schäden hinnehmen mussten. So erscheint den Eltern vieler junger Männer der Polizeiberuf in unseren Tagen kaum erstrebenswert.“74
Die Studierendenproteste hatten nicht zuletzt das Gehorsamkeitsideal, das in der Polizei durch die stark militärische Ausbildung von herausragender Bedeutung war, infrage gestellt. Drill, Militarismus und Gehorsam wirkten auf die „neue“ Jugend zunehmend abschreckend. Auch die negative Rolle der Polizei bei den Ereignissen um den Tod des Studenten Benno Ohnesorg kann hier kaum überschätzt werden. Obwohl die Polizei damals wie heute Angelegenheit der Bundesländer war und die nordrhein-westfälische Polizei organisatorisch nichts mit der Westberliner Polizei zu tun hatte, war dieses Ereignis für die gesamte bundesrepublikanische Studierendenbewegung derart prägend, dass das Ansehen der Polizei überall in Deutschland massiv erschüttert wurde. Für viele Studierende und junge Menschen, wie etwa den eingangs erwähnten Klaus Schmidt, war Ohnesorgs Erschießung überhaupt erst der Auslöser, sich an den Protesten zu beteiligen: „Über 100.000 Studierende demonstrieren in der ersten Juniwoche in der ganzen Bundesrepublik. In Köln sind es zusammen mit Professoren bei einer Großveranstaltung auf dem Neumarkt nach einem Schweigemarsch 6.000. Jetzt bin auch ich mit Freunden dabei.“75
Mögen die Studierendenproteste den Personalmangel in der Polizei auch verstärkt haben, so stellen sie jedoch keinesfalls die Hauptursache dafür dar. Für den Personalmangel in der Polizei sind weitere wichtige Ursachen und Gründe zu nennen: Zunächst lässt sich in den späten 1960er Jahren eine größere Pensionierungswelle in der Polizei ausmachen. Dieser Personalabfluss ließ sich immer schwerer durch Neueinstellungen abfangen. Ein Blick auf demografische Entwicklungen in der Bundesrepublik zeigt, dass zwischen 1955 und 1970 der
74Die
Nachwuchslage bei der NRW-Polizei, in: Die Streife 7 (1968), H. 12, S. 4–6, hier S. 5. 75Schmidt, Dran bleiben (wie Anm. 3), S. 17.
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Anteil der Arbeiterschicht um vier Prozent sank. Damit verkleinerte sich auch eine für die Rekrutierung von Polizisten wichtige gesellschaftliche Schicht.76 Ebenso wirkten die dienst- und laufbahnrechtlichen Bedingungen des Polizeidienstes für potenzielle Bewerber wenig attraktiv. Polizisten absolvierten die sogenannte Einheitslaufbahn, und dies unabhängig von der jeweiligen Vorbildung und den beruflichen Erfahrungen. Die Laufbahnprüfungen wurden dann in der Regel extrem streng benotet: Obgleich das Notenspektrum mit 1 (sehr gut) bis 6 (ungenügend) dem herkömmlichen Schulnotensystem ähnelte, wurde die Note „sehr gut“ aber quasi nie vergeben. Die Note „gut“ erhielten nur wenige Polizeianwärter. Der Großteil der Polizeischüler schnitt mit „befriedigend“ oder gar nur „ausreichend“ ab.77 Letzteres bedeutete, dass eine Weiterqualifizierung für den gehobenen oder höheren Dienst, je nach Art der Laufbahnprüfung, verwehrt blieb. Selbst ein „befriedigend“ hatte zur Folge, dass sich der Interessent für eine Weiterbildung in die nächsthöhere Laufbahngruppe einer Vorprüfung unterziehen musste.78 Dieses System war abschreckend und dürfte insbesondere gebildete und ältere, berufserfahrene Bewerber abgehalten haben. Zudem wurden die Verdienstmöglichkeiten im öffentlichen Dienst in diesen Jahren schlechter beurteilt als diejenigen in der Privatwirtschaft. Gleichzeitig nahmen die Aufgaben der Polizei zu. So lässt sich für Nordrhein-Westfalen Ende der 1960er Jahre ein Anstieg der Kriminalität feststellen und auch der Straßenverkehr band immer mehr Polizeikräfte.79 Die Polizei verfügte dabei kaum über die Finanzmittel, um in Konkurrenz zur Privatwirtschaft attraktive Werbeaktionen im großen Stil durchzuführen, obgleich große und damit teure Anzeigen in Zeitungen und Magazinen – neben der persönlichen Werbung durch Verwandte und Freunde im Polizeidienst – die effektivste Rekrutierungsmethode darstellte.80
76Axel
Schild, Materieller Wohlstand – pragmatische Politik – kulturelle Umbrüche. Die 60er Jahre in der Bundesrepublik, in: Axel Schild/Detlef Siegfried/Karl Christian Lammers (Hrsg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, 2. Aufl., Hamburg 2003, S. 21–53, hier S. 25. 77Hierfür wurden exemplarisch die Mitteilungen zu den Abschlussprüfungen im 7. Jahrgang (1968) des Polizeimagazins „Die Streife“ untersucht. 78Der Weg zum Kommissar und Rat, in: Die Streife 6 (1967), H. 1, S. 2–5, hier S. 3. 79Kriminalitätsstatistik 1966, in: Die Streife 6 (1967), H. 2, S. 2–3, hier S. 2. 80Die Nachwuchslage bei der NRW-Polizei, in: Die Streife 7 (1968), H. 12, S. 4–6, hier S. 5.
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5 Fazit Die Studierendenbewegung der 1960er und 1970er Jahre in Nordrhein-Westfalen hatte in vielen Bereichen Einfluss auf Entwicklung und Handeln der Polizei. Jedoch war dieser Einfluss je nach untersuchtem Bereich unterschiedlich groß. Während beispielsweise der Einfluss der 68er-Bewegung auf die Öffnung der Polizei für Frauen nur als relativ klein bezeichnet werden kann, wurde demgegenüber etwa der Nachwuchsmangel, unter dem die Polizei damals litt, von den zeitgenössischen Polizeiführern mit den Studierendenprotesten begründet. Hierbei handelte es sich aber um eine polizeiinterne Sicht der Dinge. Grundlegender für den Personalmangel waren sicherlich andere Faktoren, wie zum Beispiel die unattraktiven starren laufbahnrechtlichen Bestimmungen und die steigende Arbeitsbelastung in der Polizei oder auch die guten Verdienstmöglichkeiten in der Privatwirtschaft, die sich hemmend auf die Personalgewinnung auswirkten. Während also zahlreiche Polizeibeamte in den späten 1960er Jahren in den Ruhestand traten, wurde es immer schwieriger, neue Polizisten zu gewinnen. Die gesellschaftliche Isolation der Polizei brach im Untersuchungszeitraum langsam auf. Insbesondere der militärische Charakter der Polizei weichte durch die zunehmende Berücksichtigung sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse in der Polizeiarbeit81 und durch die Infragestellung des militärischen Drills und des damit verbundenen Gehorsamkeitsideals auf, sodass auch die Ausbildung in die von Karl Dokoupil geforderte Richtung „Polizeischulen statt Polizeikasernen!“ reformiert werden konnte.82 Doch auch für diesen Wandel lassen sich neben den Studierendenprotesten vor allem andere Gründe anführen. Zu nennen sind hier etwa innerpolizeiliche Umstrukturierungen wie etwa der Aufbau personalstarker Großwachen und die Einstellung ziviler Mitarbeiter. Abschließend bleibt damit festzuhalten: Die Studierendenbewegung konnte zu keinem Zeitpunkt einen derart großen Druck auf die Polizei ausüben, dass diese unverzüglich Veränderungen anstoßen musste. Vielmehr reagierte die Polizei auf drückende interne Probleme eher von sich aus als durch Anstöße von außen. Lukas W. Petzolt, M.A. und Diplom-Archivar (FH), ist Leiter des Stadtarchivs Xanten. In seinem Dissertationsprojekt an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf arbeitet er zur Europäisierung kommunaler Politik und Verwaltung in Nordrhein-Westfalen.
81Frank Kawelovski/Sabine Mecking, Polizei im Wandel. 70 Jahre Polizeiarbeit in NordrheinWestfalen, Köln 2019. 82Dokoupil, Aus eigener Anschauung (wie Anm. 4), S. 32.
Zwischen organisatorischen Wandlungen und kulturellen Kontinuitäten. Polizei, Jugendprotest und Demonstrationen in den 1960er bis 1980er Jahren Klaus Weinhauer
Zusammenfassung
Analysiert werden Jugendproteste sowie als politisch wahrgenommene Demonstrationen der 1960er bis 1980er Jahre im Licht schutzpolizeilicher Ordnungsvorstellungen. Deutlich wird, wie hier organisatorische Veränderungen auf eine nur schwerfällig wandelbare Kultur der Polizei trafen. Zwar verloren viele eskalationsfördernde, auf Weimarer Verhältnisse bezogene Ordnungselemente (Antikommunismus, autoritäres Staatsverständnis, aktivistisches Männlichkeitsbild, „akute Masse“) ihre Prägekraft. Bis in die 1980er Jahre hinein wollten Polizisten jedoch orientiert an juristischen Kategorien immer noch den Staat als Ganzes schützen sowie das jeweilige städtische Terrain vollständig kontrollieren.
K. Weinhauer (*) Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld, Bielefeld, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Mecking (Hrsg.), Polizei und Protest in der Bundesrepublik Deutschland, Geschichte und Ethik der Polizei und öffentlichen Verwaltung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29478-6_8
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K. Weinhauer
1 Einleitung Die bundesdeutsche Gesellschaftsgeschichte sowie die Proteste der 1960er bis 1980er Jahre sind inzwischen geschichtswissenschaftlich recht gut untersucht, auch in ihren transnationalen Vernetzungen.1 Mit Blick auf die Polizei fällt diese Bilanz jedoch weit weniger positiv aus.2 Nach wie vor dominieren hier sozial-, politik- und rechtswissenschaftliche Studien. Diese Arbeiten sind ohne Zweifel unverzichtbar wichtig, doch fehlt ihnen nicht selten der Blick auf Wandlungen im Zeitverlauf sowie eine kulturhistorische Perspektive. Gerade letztere betont die oft unterschätze Bedeutung, die Wahrnehmungen, Zuschreibungen, Mythen, Rituale und Erzählungen für die Entwicklung von Staat und Gesellschaft und damit auch für die Polizei besitzen. 1Den
zeitgeschichtlichen Forschungsstand umreißen Frank Bajohr/Anselm DoeringManteuffel/Claudia Kemper/Detlef Siegfried (Hrsg.), Mehr als eine Erzählung. Zeitgeschichtliche Perspektiven auf die Bundesrepublik, Göttingen 2016; Sonja Levsen/ Cornelius Torp (Hrsg.), Wo liegt die Bundesrepublik. Vergleichende Perspektiven auf die westdeutsche Geschichte, Göttingen 2016; ferner zu lange vernachlässigten lokalen Perspektiven Sabine Mecking, Bürgerwille und Gebietsreform. Demokratieentwicklung und Neuordnung von Staat und Gesellschaft in Nordrhein-Westfalen 1965–2000, München 2012; zu sozialen Bewegungen und Bürgerprotesten Stefan Berger/Holger Nehring (Hrsg.), The History of Social Movements in Global Perspective. A survey, London 2017; zu den 68er-Protesten vgl. Christina von Hodenberg/Detlef Siegfried (Hrsg.), Wo „1968“ liegt. Reform und Revolte in der Geschichte der Bundesrepublik, Göttingen 2006; Martin Klimke/ Joachim Scharloth (Hrsg.), 1968 in Europe. A History of Protest and Activism, 1956–1977, Houndmills/Basingstoke 2008; Ingrid Gilcher-Holtey (Hrsg.) „1968“ – eine Wahrnehmungsrevolution, München 2013; Klaus Weinhauer/Jörg Requate/Heinz-Gerhard Haupt (Hrsg.), Terrorismus in der Bundesrepublik. Medien, Staat und Subkulturen in den 1970er Jahren, Frankfurt a.M./New York 2006. 2Vgl. zur Polizeigeschichte Alf Lüdtke/Herbert Reinke/Michael Sturm (Hrsg.), Polizei, Gewalt und Staat im 20. Jahrhundert, Wiesbaden 2011; Klaus Weinhauer, Schutzpolizei in der Bundesrepublik. Zwischen Bürgerkrieg und Innerer Sicherheit: Die turbulenten sechziger Jahre, Paderborn u. a. 2003; Gerhard Fürmetz/Herbert Reinke/Klaus Weinhauer (Hrsg.), Nachkriegspolizei. Sicherheit und Ordnung in Ost- und Westdeutschland 1945–1969, Hamburg 2001; ferner aus sozialwissenschaftlicher Sicht: Hans-Jürgen Lange, Innere Sicherheit im Politischen System der der Bundesrepublik, Opladen 1999; Martin Winter, Metamorphosen des staatlichen Gewaltapparates: Über die Entwicklung von Polizei und Militär in Deutschland, in: Leviathan 31 (2003), S. 519–555; ders., Politikum Polizei. Macht und Funktion der Polizei in der Bundesrepublik Deutschland, Münster 1998; Heiner Busch/ Albrecht Funk/Udo Kauß/Wolf-Dieter Narr/Falco Werkentin, Die Polizei in der Bundesrepublik, Studienausgabe Frankfurt a.M./New York 1988; Falko Werkentin, Die Restauration der deutschen Polizei. Innere Rüstung von 1945 bis zur Notstandsgesetzgebung, Frankfurt a.M./New York 1984.
Zwischen organisatorischen Wandlungen
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Die Schutzpolizei, die hier im Mittelpunkt steht, war von den gesellschaftlichen Veränderungen der 1960er Jahre nicht nur passiv betroffen, sondern vielmehr auch Akteurin. Vor dem Hintergrund eines abklingenden Kalten Kriegs wagten Innenpolitiker in Bundesländern wie Hamburg und Nordrhein-Westfalen einen innenpolitischen Aufbruch, der die Polizei grundlegend umgestalten, sie zu einer sozialstaatlichen Institution machen sollte, deren Zuständigkeit vorrangig die Gewährleistung von Sicherheit war. Bis es zur Verwirklichung dieser sicherheitsorientierten Wende3 kam, mussten innerhalb der Polizeiorganisation jedoch einige Hindernisse aus dem Weg geräumt werden.4 Alle konzeptionellen Umorientierungen und Umorganisationen der 1960/70er Jahre kollidierten mit einer wenig wandlungsaffinen Kultur der Schutzpolizei. Letztere war in hochkohäsive Kleingruppen eingebettet und von Antikommunismus, autoritärem Staatsverständnis, einer aktivistischen Männlichkeit sowie Vorstellungen von destruktiven „akuten Massen“ geprägt. Konzeptionell orientiert sich dieser sozial- und kulturhistorische Beitrag zum einen an den Studien des Anthropologen James Scott, veröffentlicht unter dem Titel „Seeing like a state“.5 Scott untersucht, wie und wodurch staatliche Akteure die Ordnung von (Natur und) Gesellschaft bestimmen und ändern wollen. Die Polizei ist ein sehr wichtiger staatlicher Akteur in diesem Setting, übt sie doch das staatliche Gewaltmonopol nach innen aus. Sie ist somit exponiert zuständig für die Herstellung und Sicherung von Ordnung. Wie die bisherige Forschung betont, dachten polizeiliche Akteure in Deutschland Ordnung vorrangig vom Staat, weniger von der Gesellschaft her.6 Angeregt durch Scotts Studien fragt der vorliegende Beitrag danach, aus welchen Kernelementen dieses „Sehen wie ein Staat“ bestand: Welche Vorstellungen und Wahrnehmungen von Ordnung und Unordnung in Staat und Gesellschaft gab es in der Polizei und wie wurde das Agieren der Schutzpolizei bei Protesten davon beeinflusst? Darüber hinaus ist es wichtig, gerade mit Blick auf die vielfältigen gesellschaftlichen Wandlungsprozesse, die in den 1960er Jahren sichtbar oder angeregt wurden, danach zu fragen, ob bzw. inwieweit sich das polizeiliche Agieren im Untersuchungszeitraum
3Weinhauer,
Schutzpolizei (wie Anm. 2), S. 261. zum Folgenden ebd., S. 212–220, 336–342, 347; sowie Klaus Weinhauer, Innere Unruhe. Studentenproteste und die Krise der westdeutschen Schutzpolizei in den sechziger Jahren, in: Fürmetz/Reinke/Weinhauer, Nachkriegspolizei (wie Anm. 2), S. 303–325. 5James C. Scott, Seeing like a state. How certain schemes to improve the human conditions have failed, New Haven/London 1998. 6Vgl. dazu die in Anm. 2 und 4 genannten Studien. 4Vgl.
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K. Weinhauer
veränderte. Zum anderen nutzt dieser Aufsatz Erkenntnisse der neueren Stadtforschung.7 Hier gelten städtische Räume weniger als festgefügte Container, in denen nur so und nicht anders agiert werden kann. Vielmehr wird betont, dass diese Räume mehrdimensional sind: Räume können durch Handeln strukturiert, also angeeignet werden, wirken gleichzeitig aber auch strukturierend, bestimmen also Handeln. Für diesen Artikel ist es wichtig, zu berücksichtigen, wer die Machtbefugnis hat, Menschen oder Dinge in solchen Räumen zu platzieren, über ihre Bewegung im Raum zu entscheiden, sie zu kontrollieren. Im Mittelpunkt des Beitrags stehen polizeiliche Großeinsätze der 1960er Jahre sowie ein kurzer Ausblick auf die frühen 1980er Jahre. Den Ausgangspunkt bilden die „Beatkrawalle“ von 1965/66, bei denen die Polizei relativ gelassen vorging. Wie der anschließende Blick auf die Studierendenproteste der 1960er Jahre zeigt, agierte die Polizei hier weit weniger effektiv und bisweilen deutlich härter. Während die Demonstrierenden mit neuartigen Aktionsformen experimentierten, orientierte sich die Polizei immer noch an Konzepten aus der Weimarer Republik. Somit eskalierten diese Einsätze und gerieten außer Kontrolle. Es konnte der Eindruck entstehen, der bundesdeutsche Staat sei an sich gefährdet. Eine knappe Skizze der städtischen Proteste der frühen 1980er Jahre soll zeigen, ob bzw. inwieweit Veränderungen sowohl in den Protestformen als auch im Einsatzverhalten der Polizei feststellbar sind. Als Beitrag zu einer Sozial- und Kulturgeschichte der Inneren Sicherheit analysiert die vorliegende Untersuchung wichtige Aspekte der oben bereits angesprochenen Kultur der Schutzpolizei, wie Ordnungsvorstellungen und -wahrnehmungen, das dominante Männlichkeitsleitbild sowie Kleingruppenstrukturen und deren Rückwirkungen auf das Vorgehen von Polizeibeamten bei Demonstrationen, die als politisch definiert wurden. Die Analyse konzentriert sich zumeist auf die Schutzpolizei in Hamburg, jedoch wird auch die Situation in Nordrhein-Westfalen gestreift.
2 Polizei der 1960er Jahre. Wie ein autoritärer Staat sehen Die polizeilichen Vorstellungen und Wahrnehmungen von Ordnung und Unordnung in Staat und Gesellschaft, das Sehen wie ein Staat also, waren in den 1960er Jahren mit zwei unterschiedlichen Protestformen konfrontiert: mit den
7Vgl.
grundlegend Martina Löw, Raumsoziologie, Frankfurt a.M. 2001, S. 158–178.
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Krawallen Jugendlicher im Umfeld von Beatkonzerten sowie mit den kollektiven Aktivitäten der 68er-Bewegungen. Beeinflusst von einem autoritären Staatsverständnis,8 führten beide Protestformen jedoch jeweils zu unterschiedlichen Reaktionen in den bundesdeutschen Polizeien. Grundsätzlich ging es den Protestakteuren kaum um konkrete Probleme des städtischen Lebens, sondern eher um allgemeine soziokulturelle oder um politische Anliegen. Bis in die 1970er Jahre bestand die Kernherausforderung der bundesdeutschen Polizeien darin, sich von den paramilitärischen Traditionen der Weimarer Zeit zu lösen. Diese Neuausrichtung gelang beim Alltagsdienst und beim Vorgehen gegen Proteste, die als unpolitisch eingestuft wurden, weit besser als bei Einsätzen gegen als politisch kategorisierte Demonstrationen. Die Einsätze gegen Beat- bzw. Jugendkrawalle und Demonstrationen lagen polizeilich gesehen im Übergangsbereich zwischen dem „Großen Sicherheitsund Aufsichtsdienst“ und dem „Außergewöhnlichen Sicherheits- und Ordnungsdienst“. Mit solchen Anlässen befasste sich die Polizeiverwendungslehre, die in den 1920er Jahren begründet worden war. Am 1. April 1965 waren bundesweit neue Vorschriften für „Polizeiverwendung“ in Kraft getreten, nachdem sie seit Ende der 1950er Jahre überarbeitet worden waren.9 In den Bestimmungen, deren Bedeutung für das konkrete Agieren der Polizei vor Ort jedoch nicht überschätzt werden sollte,10 fanden sich „Radaumacher“, „Rädelsführer“ und „Aufhetzer“.11 Auch die §§ 115 (Auflauf) und 125 (Landfriedensbruch) des Ende der 1960er Jahre geltenden Strafgesetzbuches sprachen von „Rädelsführern“. Mit
8Vgl.
zum Staatsverständnis Klaus Weinhauer, „Staatsbürger mit Sehnsucht nach Harmonie“. Gesellschaftsbild und Staatsverständnis in der westdeutschen Polizei (der 1960er Jahre), in: Axel Schildt/Detlef Siegfried/Karl Christian Lammers (Hrsg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000, S. 444–470. 9Vgl. zur Erarbeitung der VfdP 1 (Vorschrift für die Polizeiverwendung) Staatsarchiv der Freien und Hansestadt Hamburg (StAHH) Behörde für Inneres (BfI) 858 und 859; ferner Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Rheinland, Duisburg (LAV NRW R), NW 398–23 und -24; vgl. zur Vorschrift für die Einzelausbildung (VfdP 200) Ausgabe 1966 sowie zur Vorschrift für die Ausbildung in geschlossenen Einheiten Ausgabe 1966, (VfdP 201), gemäß Erlaß vom 16.1.1967 beide gültig ab 1.7.1967, StAHH Polizeibehörde (PB) II 296. 10Winter, Politikum Polizei (wie Anm. 2), S. 293. 11Wilhelm Schell, Polizeiverwendung, 1. bis 3. Teil, 2. neubearbeitete und erweiterte Auflage, Hamburg 1966 (2 Bde), Bd. 2, S. 27 f. (Radaumacher, akute Masse, Vermassung, Massenpsychose), S. 34 (Aufhetzer, Rädelsführer).
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Blick auf Menschenmengen, die zum polizeilichen Einsatz Anlass boten, benutzte die Polizeiverwendungslehre Termini wie „akute Masse“ und „Vermassung“,12 die auf Gustave Le Bons Massenpsychologie des späten 19. Jahrhunderts fußten. Kam es bei Protesten zur Bildung von „akuten Massen“, transformierten sich, so die Annahme von Polizisten, die mit Le Bon argumentierten, die Persönlichkeiten aller beteiligten Protestierenden; sie handelten wie ein Wesen. Angeführt von „Leithammeln“ drohte die Zerstörung jedweder Ordnung.13 Im einfachsten Fall konnten „akute Massen“ aus dieser Sicht auch durch Humor beeinflusst werden. Grundsätzlich sollten die eingesetzten Polizisten jedoch der „Masse“ durch sicheres Auftreten sowie durch körperliche Disziplin imponieren.14 Hier galt Ende der 1960er Jahre noch, was 1956/57 formuliert worden war: „Je früher sich die Polizei einschaltet, umso besser hat sie die Masse in der Hand“. Bei bereits eingetretener „Vermassung“ müsse „auf jeden Fall der Führer und sein Anhang von der Masse getrennt werden“.15 Oft würden „lange Reden […] als Schwäche der Polizei“ ausgelegt.16 Durch ein Denken in solchen Ordnungsmustern erschien bei „Massensituationen“ der Weg in die Konfrontation vorgezeichnet. Wie noch zu zeigen sein wird, muss hier jedoch unterschieden werden zwischen Einsatzanlässen, die von den agierenden Polizisten als unpolitisch, und solchen, die als politisch definiert wurden.
2.1 Beatkrawalle: Patriarchalische Gelassenheit Das Konzert der Rolling Stones im September 1965 versetzte nicht nur Tausende von Fans in Verzückung, sondern auch die Hamburger Polizei in fieberhafte Aktivität. Etwa 700 Polizisten waren aufgeboten, der Veranstaltungsort, die ErnstMerck-Halle, großräumig mit Gittern abgesperrt und sämtliche Steinhaufen und
12Ebd. 13Johannes
Pächer, Massendelikte und Massenpsychologie aus der Sicht des Polizeiführers, in: Deutsche Polizei (1956), S. 254–256, hier S. 254; ferner Helmut Reininghaus/Fritz Stiebitz, Inhalt und Methodik der Ausbildung vor dem Einsatz gegen „Akute Massen“, in: Die Polizeiliche Lage. Beilage zur Zeitschrift Die Polizei 59 (1968), Nr. 1, S. 41*-44*, hier S. 42*. 14Reininghaus/Stiebitz, Methodik (wie Anm. 13), S. 43*. 15A. Schwarz, Die Psychologie der Masse, in: Deutsche Polizei (1957), S. 153–156, hier S. 155. 16Johannes Otto, Über den Einsatz von Greiftrupps, in: P 46 (1955), S. 11–12, hier S. 11.
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Baumaterialien in ihrer Umgebung entfernt worden. Zudem wurden etwa 60 Bereitschaftspolizisten hinter der Bühne verdeckt bereitgehalten. Die Polizei hatte es mit etwa 1.500 zeitweilig randalierenden Fans zu tun.17 Nach den beiden Auftritten der Rolling Stones am 13. September 1965 atmete die Hamburger Polizei auf. Aus schutzpolizeilicher Sicht war dieses Großereignis – ähnlich wie die Beatkonzerte von 196618 – erfolgreich bewältigt worden. Grundsätzlich hatte die Hamburger Polizei bei diesem Einsatz einen „harten Kurs“ verfolgt. So hielt es die Polizeiführung nach zahlreichen kleineren Ordnungsstörungen der vorangegangenen Tage „für allerhöchste Zeit, […] diesmal durchzugreifen“.19 Jedoch umfasste das polizeiliche Repertoire nicht nur – wie noch Ende der 1950er Jahre – die „traditionellen“ Einsatzmittel wie Polizeiketten, Gummiknüppel oder Wasserwerfer. Vielmehr war die Hamburger Polizei bemüht, ihre Einsatztaktik zu differenzieren und stärker präventiv auszurichten. So wurden verstärkt Zivilbeamte (100 an der Zahl) eingesetzt und auch vermeintliche „Rädelsführer“ oder „Leithammel“ von jüngeren Polizeibeamten vor und nach den Konzerten gezielt in Diskussionen verwickelt. Darüber hinaus hatte die Polizei erstmals Motorräder zum Räumen von Gehwegen eingesetzt.20 Die Anwendung einer neuen Taktik und neuer Einsatzmittel war jedoch nicht gleichbedeutend mit einer grundsätzlichen Abkehr von alten Wahrnehmungsmustern und Ordnungsvorstellungen. Dies zeigte sich schon bei den Einsatzvorbereitungen vor Beatkonzerten. So gab es im Herbst 1967 beim „überwiegenden Teil“ der jungen Bereitschaftspolizisten und speziell bei „fast allen“ Zug- und Gruppenführern „erhebliche Ressentiments“ gegenüber den Beatfans. Dies galt vor allem für die Haartracht, die Kleidung und für das Auftreten der Jugendlichen.21 Darüber hinaus stand auch das in der Schutzpolizei vorherrschende Männlichkeitsleitbild einem durchgängig zurückhaltenden Vorgehen im Wege. Einerseits sollten die jungen Beamten auch das zeitweise Nicht-Einschreiten erlernen oder – polizeilich gesprochen – lernen, sich auf der „schmalen Schwelle zwischen besonnener
17Vgl.
die Berichte in: StAHH PB II 233, Bd. 1 und 2. Vgl. ausführlicher Klaus Weinhauer, Staatsgewalt, Massen, Männlichkeit: Polizeieinsätze gegen Jugend- und Studentenproteste in der Bundesrepublik der 1960er Jahre, in: Lüdtke/Reinke/Sturm, Polizei (wie Anm. 2), S. 301–324. 18Vgl. dazu Weinhauer, Schutzpolizei (wie Anm. 2), S. 288–291. 19Sitzung der Deputation für die BfI vom 21.10.1965, StAHH BfI 302. 20Bericht des Polizeibezirks Mitte vom 20.9.1965, StAHH PB II 233, 1. 21Dietrich Chelard, „Weiche Welle“ bei Jugendkrawallen, in: P 58 (1967), S. 316–319, hier S. 316.
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Duldsamkeit und entschlossener Härte“, zwischen „explosiver Entschlußkraft“ und „männlicher Selbstzucht“22 zu bewegen. Andererseits wollten sich die knapp 20-jährigen Bereitschaftspolizisten vorrangig im „Einsatz bewähren“.23 Der Einsatz, das männlich-harte Durchgreifen war unter ihnen somit höher angesehen als das „weiche“, weiblich-konnotierte besonnene Abwarten. Zudem spielten bei der Analyse der Beatkrawalle von 1965/66 in polizeilichen Veröffentlichungen immer noch Begriffe wie Rausch, Ekstase und Massenhysterie eine wichtige Rolle. Auch galt der Leitsatz, die Polizei müsse „der akuten Masse imponieren“, vor allem durch „körperliche Diszipliniertheit“.24 Darüber hinaus war das polizeiliche Denken nach wie vor geprägt von überzogenen Vorstellungen über die Organisierbarkeit solcher Ausschreitungen und von der Suche nach straffer Organisation. Zudem sah die Polizei immer wieder Anführer, die eine scheinbar passive Masse beeinflussten.25 Ungeachtet dieser Einschätzungen zeigten die Einsätze gegen die Beatkrawalle jedoch eher die patriarchalische Seite der autoritär grundierten Staatsgewalt. Die Polizei orientierte sich an einem Überlegenheitsgefühl gegenüber den Jugendlichen, deren Agieren als weitgehend unorganisiert und unpolitisch eingeschätzt wurde. Mit den Augen eines autoritären Staats gesehen, bestand in diesen Fällen für die Polizei kein Anlass zur Sorge.
2.2 Studierendenproteste: Schutz des mythologisierten Staates Beim Einsatz gegen „randalierende“ Beatfans blieb die überwiegend patriarchalisch denkende Polizei relativ gelassen und begnügte sich damit, partielle Ordnungsstörungen zu „beseitigen“. Diese Gelassenheit galt jedoch nicht für Einsätze gegen Proteste, die von der Polizei als politisch eingestuft wurden. In diesem Setting verlangte das polizeiliche Sehen wie ein autoritärer Staat mehr als die Wiederherstellung von Ordnung – es ging um den entschlossenen Schutz des mythologisierten Staates.
22Werner Giese, Einsatztechniken gegenüber spontanen, illegalen und sozialkritischen Großgruppen, in: Die Polizei 59 (1968), S. 203–206, 233–236, hier S. 236. 23Chelard, „Weiche Welle“ (wie Anm. 21), S. 317. 24Vgl. zusammenfassend Reininghaus/Stiebitz, Inhalt und Methodik (wie Anm. 13), S. 42*. 25Vgl. Die Rolling Stones in sechs deutschen Städten, in: Deutsche Polizei (1965), S. 370– 379.
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Die Großeinsätze gegen die Studierendenproteste verdeutlichen, dass die hier agierenden Polizisten keine homogene Gruppe bildeten.26 Vor allem müssen die verschiedenen Altersgruppierungen berücksichtigt werden. Orientiert an der Organisationshierarchie der Hamburger Polizei zeigt sich eine Dreiteilung. Die obersten Führungspositionen des Höheren Dienstes bekleideten überwiegend ältere Beamte etwa der Jahrgänge 1908 bis 1914. Die Führungsbeamten, die den Objektschutz vor Ort leiteten, waren deutlich jünger. Sie waren in den 1920er Jahren geboren. Nochmals deutlich jünger waren vor allem die Bereitschaftspolizisten. Diese jungen Beamten, zumeist etwa zwischen 1944 und 1948 zur Welt gekommen, waren somit etwa so alt wie ein Großteil der demonstrierenden Student/innen. Diese Beamten sind die „68er“ der Polizei. Nicht vergessen werden dürfen aber auch die bei den Demonstrationen eingesetzten, altersmäßig bunt zusammengewürfelten Einheiten aus Revierbeamten. In Hamburg waren im April 1966 neue Bestimmungen für Demonstrationen27 aufgestellt worden, die sich jedoch ausschließlich an geordneten und disziplinierten Umzügen oder Marschkolonnen orientierten. Die Reglementierung gipfelte darin, dass die „geschlossenen Abteilungen“ der Umzüge bei Dunkelheit oder schlechter Sicht sowohl ihre seitliche Begrenzung als auch ihr Ende durch farblich vorgeschriebene Laternen kenntlich machen mussten. Auch sollten der „linke und der rechte Flügelmann des ersten und letzten Gliedes […] je eine Laterne tragen“. Ausgehend von solchen Ordnungsvorstellungen kommt bereits eine Ahnung auf, wie fassungslos und überrascht Polizei (und Politiker) den Protestaktionen der folgenden Jahre gegenüberstanden. Bei der ersten größeren studentischen Protestaktion im Sommer 1966 vor dem US-amerikanischen Generalkonsulat war die Überraschung auf beiden Seiten groß. Die Hamburger Polizei war von den ungewohnten Protestformen wie Sitzstreiks überrascht und die Protestierenden wiederum über das harte Vorgehen der Ordnungshüter.28 Die Fronten zwischen Protestierenden und Polizei verhärteten
26Vgl.
zusammenfassend Weinhauer, Schutzpolizei (wie Anm. 2), S. 315. hierzu sowie zum Folgenden: Allgemeine polizeiliche Auflagen und Hinweise für die Durchführung von Umzügen, Versammlungen oder Veranstaltungen ähnlicher Art auf öffentlichen Straßen, Wegen und Plätzen vom 20.4.1966, StAHH BfI 1022. Diese Auflagen und Hinweise orientierten sich an der Straßenverkehrsordnung vom 13.11.1937, am Versammlungsgesetz vom 24.7.1953 sowie am Hamburger „Gesetz zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung (SOG)“, das am 1.4.1966 in Kraft trat. 28Vgl. Besprechung (Bspr.) vom 17.8.1966, StAHH BfI 1025; Bericht (Ber.) des Polizeibezirks Eimsbüttel vom 5.7.1966, StAHH BfI 1025. 27Vgl.
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sich bei den Anti-Schah-Demonstrationen vom 3./4. Juni 1967. Zudem politisierte sich die Wahrnehmung des Protests in der Polizei. Die Proteste, die damit verbundenen Polizeieinsätze sowie die späteren Debatten verfestigten auf beiden Seiten Feindbilder. Während viele der politisch aktiven „68er“ die Polizisten als Nazis beschimpften, galten Demonstrierende unter Polizisten pauschal als Kommunisten.29 Polarisierung und Politisierung spitzten sich bei den Osterdemonstrationen 1968 – auch in der Presseberichterstattung30 – nochmals zu. Rückblickend betrachtete die Hamburger Innenbehörde diese Proteste als eine „Art Machtprobe“ zwischen einer „zum Aufruhr entschlossenen Demonstrantengruppe und einer zur Gewährleistung rechtsstaatlicher Ordnung entschlossenen Polizei“.31 Zudem dürften die von der Polizei getroffenen Sicherungs- und Absperrmaßnahmen nicht eben dazu beigetragen haben, die Atmosphäre zu entspannen. So schrieb die „Hamburger Morgenpost“ im April 1968: „Es sah aus wie bei Straßenschlachten in einem Bürgerkrieg: Stacheldrahtverhaue, spanische Reiter und Sperrketten“ umgaben das S pringer-Verlagsgelände. Polizisten trugen vor allem am Ostermontag Tränengasschutzbrillen und auch Schutzhelme, die von einem Werftbetrieb ausgeliehen worden waren.32 Die auf beiden Seiten aufgeheizte Stimmung entlud sich am Karfreitag. So warfen einige Demonstrierende – anders als noch bei der Anti-Schah-Demonstration im Juni 1967 – Steine auf Polizeibeamte. Zu einem sehr harten Polizeieinsatz – der wie eine Endabrechnung wirkt – kam es am Abend des Ostermontags (gegen 23.30 Uhr) vor dem Polizeipräsidium. Eine Hundertschaft fuhr im Rücken der vor dem Gebäude sitzenden etwa 800 Demonstrierenden heran und räumte die Gegend unter heftigem Schlagstockeinsatz. Diesen Einsatz rechtfertigte Innensenator Heinz Ruhnau bei einer späteren
29Vgl.
zum Juni 1967 allgemein Eckard Michels, Schahbesuch 1967. Fanal für die Studentenbewegung, Berlin 2017; vgl. zu Hamburg Bericht der Polizeieinsatzleitung vom 4.6.1967, StAHH BfI 163; Bericht über die polizeilichen Einsätze aus Anlaß des SchahBesuches am 3. und 4.6.1967 vom 12.7.1967, StAHH BfI 163; ferner Asta-Dokumente II/1968, S. 18 (Ostermontag, Polizeipräsidium). 30Vgl. dazu Weinhauer, Schutzpolizei (wie Anm. 2), S. 311 f. 31Demonstrationen in Hamburg 1970, S. 8 f. (Entwurf), StAHH BfI 1034. 32Hamburger Morgenpost Nr. 89 vom 16.4.1968; vgl. auch ebd. Nr. 91 vom 18.4.1968; sowie die Fotos in: Gewerkschaft der Polizei, Landesbezirk Hamburg (Hrsg.), Vierzig Jahre Bereitschaftspolizei Hamburg 1991–1991, Hamburg 1991, S. 59.
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Anhörung vor dem Innenausschuss, indem er die Anwesenden fragte, „Sie meinen doch wohl nicht im Ernst, der Senat solle zusehen, wie seine Polizeizentrale blockiert wird!“33 Die Proteste verdeutlichen auch Kommunikationsbarrieren. Auf der einen Seite vermerkte der abschließende Senatsbericht vom November 1968 über den Schahbesuch: „Nichts deutet darauf hin, daß die Polizeiführung Unrechtshandlungen der ihr unterstellten Polizeibeamten beabsichtigte oder billigte […]. Insbesondere die Vorwürfe gegen die Polizeiführung haben sich als unbegründet erwiesen. Bei der Befehlsgebung ist ein strafrechtlich bedeutsamer Ermessensmissbrauch in keinem Falle festgestellt worden“.34
Polizei und Politiker bezogen sich also auf die formale Rechtmäßigkeit des gesamten Einsatzes bzw. einzelner Maßnahmen. Auf der anderen Seite artikulierten Demonstranten in Eingaben, Diskussionen oder auch in Presseberichten ihre Enttäuschung, Wut und Hilflosigkeit angesichts des Vorgehens der Polizei sowie des konkreten Verhaltens einzelner Polizisten.35 Hier standen zwei Argumentationsebenen gegeneinander, die sich nicht aufeinander bezogen. Eine Verständigung war so kaum möglich. Die Demonstrationserfahrungen blieben sowohl unter Polizisten als auch bei Demonstranten nicht ohne Nachwirkungen, die bislang jedoch noch nicht genau untersucht worden sind. Die Reaktionen reichten von Wut und Empörung über Resignation bis hin zu einer Radikalisierung. Die Stimmung im Allgemeinen Studierendenausschusses (AStA) der Universität Hamburg beschrieb der zweite Vorsitzende Jens Litten als „wie gelähmt“, da man „mit allen Mitteln einen Bürgerkrieg vermeiden“ wolle. Von der Polizei fühle man sich „‚hinterrücks‘ überfallen“;36 sie habe „brutale Gegengewalt“37
33Innenausschusssitzung
vom 20.6.1968, StAHH BfI 1029. der Freien und Hansestadt Hamburg 6. Wahlperiode Mitteilungen des Senats an die Bürgerschaft vom 26.11.1968, Drucksache Nr. 1726. S. 4, 6. 35Vgl. Weinhauer, Schutzpolizei (wie Anm. 2), S. 306. 36Hamburger Morgenpost Nr. 90 vom 17.4.1968 (beide Zitate); vgl. auch Hamburger Abendblatt vom 18.4.1968. 37Ebd. vom 26.4.1968. 34Bürgerschaft
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eingesetzt, betonte ein anderer Sprecher. In eine ähnliche Richtung argumentierte „Der Spiegel“, der im April 1988 rückblickend schrieb: „Viele tausend junge Deutsche sind von der Polizei gründlicher radikalisiert worden als von ihren revolutionären Vorbildern“.38 Bei einer Kölner Demonstration im Oktober 1966 verlief das Aufeinandertreffen von Polizei und Demonstrierenden etwas spannungsfreier. Hamburger Polizeibeamte, die zum Erfahrungsaustausch in die Domstadt gefahren waren, meinten gar, einen „karnevalistischen Anstrich“ bei vielen Aktionen erkannt zu haben.39 Auch hier sah sich die Polizei mit neuen Protestformen (wie dezentralen Sitzstreiks) konfrontiert. Zudem wurde sie gezielt provoziert.40 Die Beamten reagierten jedoch offenbar gelassener als ihre Hamburger Kollegen. So lobte Innenminister Willy Weyer unwidersprochen die „beispielhafte Ruhe und Besonnenheit“ der Polizeibeamten.41 Auch die Studierendenproteste der Jahre 1967/69 verliefen in Nordrhein-Westfalen weniger konfrontativ als in Hamburg. Wie sind diese Unterschiede zu erklären? Die frühen Proteste der Zeit um 1966 wurden von nordrhein-westfälischen Politikern und Polizisten als unpolitisch eingestuft.42 Mit Blick auf die Studierenden sowie Schülerinnen und Schüler betonte der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Werner Kuhlmann, die „demokratische Gesinnung der Demonstranten könne im Prinzip nicht angezweifelt werden“.43 Die genauen Ursachen dafür, dass die Einsätze auch später weniger konfrontativ verliefen, müssen zwar noch genauer untersucht werden, bislang können aber immerhin drei Faktoren genannt werden. Erstens gab es offenbar eine weniger reißerische Presseberichterstattung; die angespannte innenpolitische Situation wurde so nicht noch zusätzlich angeheizt. Zweitens agierten in leitenden Positionen der Polizei n ordrhein-westfälischer Großstädte (wie Bochum und Bonn) relativ liberale Polizeibeamte, die für zurückhaltende
38Der
Spiegel Nr. 15 vom 11.4.1988, S. 95. über die Krawalle in Köln vom 26.10.1966, StAHH BfI 1025. 40Bericht von Ministerialdirigent Ruwe (Innenministerium), Landtag Nordrhein-Westfalen (LtNW), Anlage zum Protokoll der 2. Sitzung (Sitzg.) des Ausschuss für Innere Verwaltung (AfIV) vom 24.11.1966, Archiv des Landtag Nordrhein-Westfalen (ALtNW). 41Abgedruckt in: Die Streife (1966), H. 12, S. 7. 42Vgl. Bericht von Ministerialdirigent Ruwe (Innenministerium), LtNW, Anlage zum Protokoll der 2. Sitzg. des AfIV vom 24.11.1966, S. 16; ferner das Urteil der Hamburger Polizeibeamten in: Situationsbericht über die Krawalle in Köln vom 26.10.1966, StAHH BfI 1025. 432. Sitzg. AfIV vom 24.11.1966, ALtNW. 39Situationsbericht
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Polizeieinsätze plädierten.44 Und drittens blickten nordrhein-westfälische Politiker, vor allem Ministerpräsident Heinz Kühn, besorgt auf das Verhalten der Arbeiterschaft, auch wenn er sich sicher war, dass sich die in „gewerkschaftlicher Tradition denkende Arbeiterschaft“ des Landes den studentischen Ideen und Aktionen bisher „erfolgreich verschlossen habe“.45 Kühn warnte daher, man dürfe auch in Zukunft „keine Märtyrer schaffen“, die dann eventuell den „Sympathiefunken“ von der kleinen Minderheit radikaler Studierender „in die Großbetriebe überschlagen“ ließen.46 Zudem mahnte Innenminister Weyer die Polizei zur Besonnenheit.47 Diese Ausführungen sollten jedoch nicht den Eindruck erwecken, als habe es in Nordrhein-Westfalen keine gewalttätigen Konfrontationen zwischen Protestierenden und der Polizei gegeben.48
2.3 Polizeiliche Probleme bei politischen Demonstrationen Die als politisch eingestuften Proteste der späten 1960er Jahre wirkten in die Polizei zurück und offenbarten massive Binnenprobleme der P olizei(-Einheiten).
44Vgl.
den Beitrag des Bochumer Polizeipräsidenten Wilfried Graf von Hardenberg, Die polizeiliche Praxis im Wandel, in: Kriminalistik 23 (1969), S. 337–340; sowie zu Bonn Tonis Hunold, Polizei in der Reform. Was Staatsbürger und Polizei voneinander erwarten können, Düsseldorf/Wien 1968, S. 187–193 (zum Sternmarsch gegen die Notstandsgesetze am 11.5.1968); ders., Demonstrationen, Provokationen, Eskalationen, in: Deutsche Polizei (1968), S. 229–232; ferner den Vorbericht in Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20.4.1968. Vgl. zudem Werner Lindner, Die Studentenbewegung im Spiegel der Ruhrgebietspresse, in: Westfälische Forschungen 48 (1998), S. 217–239, hier S. 237 f. (auch zu Bochum); ferner Peter Dohms, Studentenbewegung und nordrhein-westfälische Landespolitik in den 60er und 70er Jahren, in: Geschichte im Westen 12 (1997), S. 175–201, bes. S. 194, 197 f.; Mecking, Bürgerwille (wie Anm. 1). 45LtNW Sitzg. des Hauptausschusses vom 19.4.1968, S. 5 (Ministerpräsident Heinz Kühn), ALtNW. 46Innenministerkonferenz vom 17.4.1968, StAHH BfI 217. 47Vgl. dazu Hinweise für den Einsatz der Polizei bei Demonstrationen und ähnlichen Anlässen vom 31.10.1968, LAV NRW R, NW 398–27; Innenministerkonferenz vom 17.4.1968, StAHH BfI 217. 48Vgl. dazu den Bericht über die Demonstrationen und Ostermärsche in der Zeit vom 10.16.4.1968 vom 18.4.1968, LtNW 6. Wahlperiode Vorlage 556, ALtNW; ferner die Debatten und Berichte in den Sitzungen des Hauptausschusses des n ordrhein-westfälischen Landtags vom 19.4.1968 sowie vom 12.3.1969, ALtNW.
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Das legen zumindest die hier untersuchten Hamburger Beispiele nahe. So stellten besonders die Dynamik und Spontaneität dieser Proteste die Polizei vor große Probleme.49 Zudem gab es unter den Hamburger Schutzpolizisten, ähnlich wie in weiten Teilen der Bevölkerung,50 eine ablehnende Haltung gegenüber einem zurückhaltenden Vorgehen bei Demonstrationen. Was Innensenator Ruhnau als „flexible Reaktion“ bezeichnete, galt Polizisten oft als „weiche Welle“.51 In einem polizeiinternen Bericht hieß es dann auch mit Blick auf die vielen Zweifler, „flexible Reaktion“ bedeute „nicht Kapitulation vor dem Störer“.52 Der gesellschaftlich, also nicht nur unter Polizisten weit verbreitete Antikommunismus dürfte eine wichtige Voraussetzung dafür gewesen sein, dass Polizisten bei Demonstrationen, die als politisch eingestuft wurden, schneller hart durchgriffen. In eine ähnliche Richtung wirkte eine o brigkeitsstaatlich-autoritäre Auffassung vom Staat. Weit verbreitet war sie unter den bis etwa 1912 geborenen Polizeibeamten, den „Patriarchen“, die oftmals bereits während der Weimarer Republik im Polizeidienst gestanden hatten. Da sie den von ihnen mythologisch überhöhten Staat bedroht wähnten, war hartes Eingreifen für sie unumgänglich.53 Diesen Faktoren, also dem Antikommunismus und der mythologisch überhöhten Bindung an einen autoritären Staat, stand eine Hamburger Besonderheit zur Seite: Die lange gepflegte Erinnerung an den Polizeieinsatz zur Niederschlagung des Hamburger Oktoberaufstands von 1923. Nach 1945 fand diese Feier alljährlich am Totensonntag auf dem Ohlsdorfer Friedhof statt. Bis Mitte der 1960er Jahre waren stets führende Politiker und Polizisten der Hansestadt bei diesem militärisch geprägten Zeremoniell zugegen.54 Diese lokale Tradition verlor zwar ab Mitte der 1960er Jahre an Breitenwirkung, wurde bis dahin aber intensiv gepflegt. Zumindest unter Polizisten mit einem antikommunistischen Weltbild könnte diese Tradition dazu beigetragen haben, vorhandene Feindbilder zu konservieren. Eine solche in einer zentralen Gedenkstätte begangene militärischinszenierte Feier gab es in der nordrhein-westfälischen Polizei nicht.
49Abschlussbericht
über den polizeilichen Einsatz anlässlich der Demonstration am 22.3.1968 vom 29.3.1968, StAHH BfI 1032. 50Vgl. dazu Weinhauer, Schutzpolizei (wie Anm. 2), S. 315 f. 51Bspr. vom 27.3.1969, StAHH BfI 1033. 52Ber. vom 28.12.1967, StAHH BfI 1036; vgl. Heinz Ruhnau auf der Bspr. vom 12.12.1967, StAHH BfI 1031. 53Vgl. Weinhauer, Schutzpolizei (wie Anm. 2), S. 321. 54Vgl. ebd., S. 85–97.
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Die von Antikommunismus und autoritärem Staatsverständnis bestimmten Ordnungsvorstellungen wurden nicht nur durch lokale Polizeitraditionen, sondern durch polizeispezifische Faktoren verstärkt. Bei dieser polizeizentrierten Analyse muss nochmals auf den Habitus von Polizeibeamten der 1960er Jahre verwiesen werden, in dem ein Männlichkeitsideal tief verankert war, bei dem Aktivismus im Sinne von entschlossenem Zupacken, der „kurze Prozess“, höher angesehen waren als Passivität und „Weichheit“. Mit diesem Konzept von Männlichkeit ist eine eminent wichtige Rahmenbedingung für die polizeilichen Einsatzprobleme bei politischen Demonstrationen der 1960er Jahre angesprochen. Orientiert an diesem aktivistischen Männlichkeitsideal mit seiner autoritären Grundhaltung herrschte bei vielen Polizeibeamten das Verständnis, Konflikte seien am besten durch forsches Einschreiten zu lösen. Vor diesem Hintergrund war es durchaus möglich, dass die von Politikern geforderte flexiblere Einsatztaktik Verhaltensunsicherheit in den Reihen der eingesetzten Beamten verstärkte, was wiederum zu einer Flucht nach vorn, also zu einem härteren Eingreifen, beigetragen haben könnte. Antikommunismus, autoritäres Staatsverständnis, aktivistische Männlichkeit und Vorstellungen von „akuten Massen“ bildeten zusammen einen politischen Mythos, der im Zentrum des polizeilichen Habitus stand und deshalb bis in die 1970er Jahre nicht hinterfragt wurde. Wenn nämlich die (politische) „akute Masse“ so unberechenbar bösartig und politisch gefährlich war, wie sie immer wieder geschildert wurde, dann war es unumstößlich, dass sie nur von disziplinierten Polizeibeamten, die entschlossen und hart vorgingen, zu bändigen war. Der Weg in die Konfrontation war somit vorgezeichnet; dies galt vor allem bei politischen Demonstrationen. Insgesamt markieren Antikommunismus, autoritäres Staatsverständnis, aktivistisches Männlichkeitsleitbild und die Bekämpfung „akuter Massen“ Kernelemente des Selbstverständnisses und damit des staatszentrierten Sehens derjenigen Polizeibeamten, die als patriarchalische Väter und als Hüter der mythologisch verklärten autoritären Staatsordnung agierten. Die Wirkung dieser konstitutiven Elemente konnte radikalisiert werden, wenn, wie in Hamburg zumindest bis Mitte der 1960er Jahre, antikommunistische und konfrontativ-kämpferische Traditionen in vergangenheitsorientierten Mythen und Ritualen konserviert wurden. Während der Studierendenproteste machte der Polizei eine weitere tragende Komponente des in den 1960er Jahren dominanten Männlichkeitsentwurfs sehr zu schaffen: die Entstehung unkontrollierbarer „Gemeinschaften“ vor allem unter Revierbeamten. Der enge Zusammenhalt der Gruppenmitglieder, die strikte Abgrenzung nach außen sowie die Entstehung eines Korpsgeistes in diesen Gruppen ließen sie für die Einsatzleitung ebenso wie für direkte Vorgesetzte
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unkontrollierbar werden. Hier verbanden sich das in der Polizei (in der Ausbildung ebenso wie im Revierdienst) geförderte und geforderte Einfügen in und das Aufbauen von kameradschaftlichen Gemeinschaften einerseits mit dem auf Aktivität und Tatkraft fußenden Männlichkeitsideal anderseits zu einer Mischung, die das Einsatzverhalten solcher Gruppierungen kaum kalkulierbar werden ließ.55 In der Berliner Polizei wurden ähnliche Entwicklungen beobachtet. So war ein leitender Polizeibeamter überzeugt, diejenigen Revierbeamten, die meinten, bei Demonstrationseinsätzen sofort handeln zu müssen, dies aber nicht immer durften, würden als „eine Art Problemflucht […] ganz starke Binnenkontakte“ entwickeln und seien sich oft „alle einig gegen die feindliche Umwelt“.56 Oftmals schotteten sie sich auch gegenüber ihren Vorgesetzten ab. Ende der 1960er Jahre gab es offenbar nur wenige Polizisten, denen die Protestierenden „nicht mehr als Gegner, sondern als Andersdenkende“ erschienen.57
3 Polizei in den 1970/80er Jahren: Wie ein Rechtsstaat sehen In den späten 1970er, vor allem aber in den frühen 1980er Jahren gab es nach wie vor großflächig angelegte Demonstrationen (z. B. der Friedensbewegung), jedoch rückten in städtischen Protesten nun lokale Anliegen deutlich in den Vordergrund.58 Erstens agierten nun, um mit Manuel Castells zu sprechen, urbane soziale Bewegungen. Ihnen ging es weniger um abstrakte soziale Veränderungen,
55Hans-Jürgen
Gebhardt, Die Selbsteinschätzung als Erkenntnisquelle für das Berufsbild des Polizeibeamten. Aufgezeigt am Ergebnis einer Befragung von 320 Beamten der Hamburger Schutzpolizei, Hamburg 1970 (MS), S. 58 (Bibliothek der Landespolizeischule Hamburg). 56Polizeioberrat Freund, in: Probleme der Menschenführung. Seminar für Polizeibehördenleiter, leitende Beamte der uniformierten Polizei und Kriminalpolizei vom 6. bis 10. September 1971 im Polizei-Institut Hiltrup (MS), S. 50 f. (Bibliothek der Deutschen Hochschule der Polizei, DHPol.). 57Gebhardt, Selbsteinschätzung (wie Anm. 55), S. 79. 58Vgl. zum Folgenden Klaus Weinhauer, From social control to urban control? Urban protests, policing, and localization in Germany and England (1960s to 1980s), in: InterDisciplines 2 (2013), S. 85–118, hier S. 95–107.
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vielmehr drehten sich ihre Aktionen konkret um die jeweilige Stadt und um deren Zukunft. Zweitens thematisierten diese Bewegungen Aspekte städtischen Lebens durch explizit lokale Perspektiven. Ihre Akteure lebten oft in eng vernetzten lokalen Mikrokosmen, hatten starkes Interesse an lokaler Demokratie,59 engagierten sich für die Teilhabe an städtischer Planung, bekämpften soziale Probleme in ihren Nachbarschaften ebenso wie den Aufstieg rechtsradikaler Subkulturen und artikulierten selbstbewusst Ideen über die Zukunft dezentralen städtischen Lebens. Drittens standen in diesen lokalen urbanen sozialen Bewegungen Aspekte des Konsums im Vordergrund. Insgesamt gesehen brachte die Beurteilung dieser lokalisierten urbanen sozialen Bewegungen starke Herausforderungen für Polizei und Politik. Parlamentsdebatten über die Osterunruhen von 1968 hatten viel klarere Raster und Beurteilungskriterien als diejenigen, die in der Enquetekommission „Jugendprotest im demokratischen Staat“ in den frühen 1980er Jahren geführt wurden.60 Die 1970er Jahre brachten der Polizei zahlreiche konzeptionelle und organisatorische Reformen: Sie wurde organisatorisch differenziert, Gewaltspezialisten-Teams wie die Sondereinsatz- und Mobilen Einsatz kommandos wurden ausgebaut; auch der Bundesgrenzschutz wurde bei Demonstrationen eingesetzt. Zwar muss dies noch genauer analysiert werden, doch besteht Grund zur Annahme, dass die Kultur der Polizei sich gleichzeitig weit weniger wandelte. Probleme erwuchsen vor allem aus der nach wie vor vorhandenen Kleingruppenkultur, getragen von Idealen aktivistischer harter Männlichkeit und von kommunikativer Abschottung nach außen.61 Die polizeilichen Vorstellungen und Wahrnehmungen von Ordnung und Unordnung in Staat und Gesellschaft änderten sich in den 1980er Jahren zwar nur langsam, autoritäre Sichtweisen wurden aber von rechtsstaatlichen Perspektiven – so eine Hypothese – überlagert. Zwar nahm das Sehen der Polizei immer noch vorrangig
59Dieses
breit und tief verankerte lokale Demokratiebewusstsein betont auch Sabine Mecking, Vom Protest zur Protestkultur? Träger, Formen und Ziele gesellschaftlichen Aufbegehrens, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 64 (2013), S. 517–529, hier S. 524. 60Vgl. Christoph Böhr/Eckart Busch, Politischer Protest und parlamentarische Bewältigung. Zu den Beratungen und Ergebnissen der Enquetekommission „Jugendprotest im Demokratischen Staat“, 2., um ein Personenregister ergänzte Aufl., Baden-Baden 1986. 61Vgl. Weinhauer, Social Control (wie Anm. 58).
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die staatliche Perspektive ein, doch war dieses Sehen nun weniger am autoritären Staat als am Rechtsstaat orientiert. Infolgedessen agierte die Polizei, wie die Proteste der frühen 1980er Jahre zeigen, rationaler. Zum einen gab es kaum noch Rachefeldzüge unkontrollierbarer Kleingruppen aus ehemaligen Revierbeamten; solche wurden nicht mehr eingesetzt. Zum anderen verschwanden nach und nach viele der zuvor eskalationsfördernden Wahrnehmungsmuster, die tief in der politischen Mythologie der Polizei verankert waren. Gleichzeitig wurde durch die intensivierte Rechtsausbildung das rational-juristisch geprägte Denken und die damit verbundenen Kommunikationsmuster verstärkt.62 Polizisten sahen nun wie ein Rechtsstaat, was aus formaldemokratischer und juristischer Sicht sehr zu begrüßen ist. Für eine Analyse von Protestgeschehen sowie für die Kommunikation mit Protestierenden waren diese juristischen Kategorien jedoch weniger hilfreich. Das abstrakte Rechtsstaatsdenken koppelte viele Polizisten ab von den räumlich ausgerichteten und spaßorientierten Wahrnehmungs-, Denk- und Diskussionsmustern, wie sie unter Protestakteuren der 1980er Jahre zu finden waren. Lichtjahre trennten deren lokalisierte Wahrnehmungen und Imaginationen von den explizit rationalen und milieufernen Denkmustern in der Polizei. Zudem wollte die Polizei auch in den 1980er Jahren immer noch den Staat als Ganzes schützen. Dazu war es unumgänglich, jedes städtische Terrain vollständig zu kontrollieren: Orientiert an „Worst-Case“-Szenarios wurden Protestierende im städtischen Raum hin- und hergeschoben, teilweise aber auch stillgestellt. Immer noch fiel es Polizisten schwer, Protestdemonstrationen als Ausdruck zivilgesellschaftlichen Engagements zu sehen, wie es sich im Brokdorf-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Mai 1985 ausdrückte. Das Verständnis von Ordnung und Staat war immer noch eher abstrakt, folgte eher einer Vogelperspektive, als dass es sich auf konkrete lokale Gegebenheiten bezog, die in den 1980er Jahren für die Protestakteure so wichtig waren.63
62Vgl.
vor allem zur veränderten Ausbildung Busch/Funk/Kauß/Narr/Werkentin, Die Polizei (wie Anm. 2), hier S. 153–169. 63Vgl. Weinhauer, Social Control (wie Anm. 58); sowie ausführlicher Sven Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Frankfurt a.M. 2014, hier S. 498–571.
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4 Zusammenfassung: Organisatorischer Wandel – kulturelle Konstanten In den 1960er Jahren markierten Antikommunismus, autoritäres Staatsverständnis, ein aktivistisches Männlichkeitsleitbild und die Bekämpfung „akuter Massen“ Kernelemente des Selbstverständnisses derjenigen Polizeibeamten, die als patriarchalische Väter und als Hüter der mythologisch verklärten autoritären Staatsordnung agierten. Die Wirkung dieser für das Sehen wie ein autoritärer Staat konstitutiven Elemente konnte radikalisiert werden, wenn, wie in Hamburg zumindest bis Mitte der 1960er Jahre, antikommunistische und konfrontativ-kämpferische Traditionen in vergangenheitsorientierten Mythen und Ritualen konserviert wurden. Zudem führte die tragende Komponente des in den 1960er Jahren dominanten Männlichkeitsentwurfs zur Entstehung unkontrollierbarer Kleingruppen-„Gemeinschaften“. Der enge Zusammenhalt der Gruppenmitglieder, die strikte Abgrenzung nach außen sowie die Entstehung eines Korpsgeistes in diesen Gruppen ließen sie für die Einsatzleitung ebenso wie für direkte Vorgesetzte unkontrollierbar werden. Die seit den 1970er Jahren unternommenen konzeptionellen und organisatorischen Polizeireformen waren mit einer weniger schnell wandelbaren Kultur der Polizei konfrontiert. Zwar verloren viele eskalationsfördernde und auf die Weimarer Verhältnisse bezogene Elemente (Antikommunismus, autoritäres Staatsverständnis, aktivistisches Männlichkeitsleitbild, „akute Masse“, lokale Kampftraditionen) ihre Prägekraft. Polizisten sahen zwar immer noch wie ein Staat – jetzt allerdings mehr juristisch-rational geprägt, also wie ein Rechtsstaat. Dieses Rechtsstaatsdenken, aus formaldemokratischer und juristischer Sicht sehr zu befürworten, koppelte die Polizisten jedoch ab von den räumlich ausgerichteten, eher konkreten Wahrnehmungs-, Denk- und Diskussionsmustern, wie sie unter Demonstrierenden der 1980er Jahre zu finden waren. Zudem wollten Polizisten immer noch den Staat als Ganzes schützen und somit das jeweilige städtische Terrain vollständig kontrollieren. Insgesamt gesehen waren organisatorische Wandlungen in der Polizei somit deutlich schneller umzusetzen als kulturelle Veränderungen. Eine kulturell bedingte Problemkonstellation begleitet die Polizei augenscheinlich bis heute: die durch Verfestigung und Abschottung kameradschaftlicher (Klein-)Kollektive mitgeschaffenen Probleme, wie sie hier für die 1960er Jahre herausgearbeitet wurden. Zwar gab es bei Demonstrationseinsätzen der 1970er Jahre kaum noch Rachefeldzüge unkontrollierbarer Kleingruppen aus
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ehemaligen Revierbeamten, vor allem, da letztere kaum noch eingesetzt wurden. Jedoch sind durch nach außen kommunikativ abgeschottete Kleingruppen mit verursachte Probleme (von Gewaltereignissen bis hin zu rassistischen und rechtsradikalen Positionen) in der Polizei bis heute nicht völlig verschwunden.64 Herauszuarbeiten, welche organisationsinternen wie -externen Faktoren hierzu beitrugen und beitragen und welche Veränderungen im Zeitverlauf auftraten, bleibt eine Herausforderung für die Forschung, die hierbei nicht auf geschichtswissenschaftliche Expertise verzichten sollte. Klaus Weinhauer, Prof. Dr. phil., lehrt Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der Universität Bielefeld. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind Urbane Gewalt, (Innere) Sicherheit, Polizei, Terrorismus, Jugenddelinquenz sowie Arbeit und soziale Bewegungen.
64Vgl.
Rafael Behr, Cop Culture – Der Alltag des Gewaltmonopols, 2. Aufl., Wiesbaden 2008; sowie Interviews mit ihm in: Frankfurter Neue Presse vom 18.12.2018, (7.1.2019); Frankfurter Rundschau Nr. 6 vom 8.1.2019, S. D2-D3 (Rhein-Main-Teil). Vgl. aus geschichtswissenschaftlicher Sicht: Klaus Weinhauer, Controlling Control Institutions. The case of the West German police during the 1960s, in: Wilhelm Heitmeyer/Heinz-Gerhard Haupt/Andrea Kirschner/ Stefan Malthaner (Hrsg.), Control of Violence. Historical and international perspectives on violence in modern societies, New York u. a. 2011, S. 213–229; ders., Polizeikultur und Polizeipraxis in den 1960er und 1970er Jahren: Ein (bundes-)deutsch-englischer Vergleich, in: Christina Benninghaus/Sven Oliver Müller/Jörg Requate/Charlotte Tacke (Hrsg.), Unterwegs in Europa. Beiträge zu einer vergleichenden Sozial- und Kulturgeschichte, Frankfurt a.M./New York 2008, S. 201–218.
Polizei als lernende Organisation? Erkenntnisgewinne aus einer 70-jährigen Protestkultur für die heutige Polizei Udo Behrendes Zusammenfassung
Aus der Perspektive des „reflektierten Polizeipraktikers“ werden wesentliche Ereignisse, Erfahrungen und Erkenntnisse der Protestkultur seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland komprimiert dargestellt. Der Schwerpunkt liegt dabei auf den Entwicklungen des Rollenverständnisses und des Handlungsrepertoires der Polizei im Zuge der wechselnden Herausforderungen. Auf Grundlage der Betrachtungen des polizeilichen Professionalisierungsprozesses erfolgt abschließend eine kritische Betrachtung des heutigen Standes des Protest Policing.
Im Sommer 2017 weckten die Eskalationen des Protestgeschehens anlässlich des G20-Gipfels in Hamburg bei vielen Beobachtern Erinnerungen an gewalttätige Verläufe bei Demonstrationen der 1980er und 1990er Jahre. Insoweit steht gerade auch im Hinblick auf aktuelle Ereignisse die Frage im Raum: Was hat die Polizei aus den Protesten der letzten Jahrzehnte gelernt? In diesem Beitrag werden für die Polizei prägende Protestereignisse in der Bundesrepublik aufgegriffen, um aus der Perspektive des reflektierten
U. Behrendes (*) Lohmar, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Mecking (Hrsg.), Polizei und Protest in der Bundesrepublik Deutschland, Geschichte und Ethik der Polizei und öffentlichen Verwaltung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29478-6_9
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olizeipraktikers1 der Frage nachzugehen, mit welchem Rollenverständnis und mit P welchem Handlungsrepertoire die Polizei auf die wechselnden Herausforderungen reagiert hat. Anschließend stellt der Verfasser dazu Thesen für ein erstes Fazit auf. Die Ausführungen enden mit einer Schlussbetrachtung.
1 Die 1950er Jahre: Demonstrationseinsätze als „Straßenkampf“ Mit der Verordnung zum Schutz von Staat und Volk vom 28. Februar 1933 war die Versammlungsfreiheit in Deutschland aufgehoben worden. Während der nationalsozialistischen Diktatur erfüllten dann die inszenierten Volksaufläufe als Äquivalent monarchistischer Militärparaden die Funktion einer staatlichen Machtdemonstration.2 Die polizeilichen Erfahrungen mit politischen Protestveranstaltungen fußten daher in den Anfangsjahren der Bundesrepublik auf den zum Teil mit äußerster Militanz verbundenen Straßenkämpfen der Weimarer Republik.3 In den 1950erJahren der Bundesrepublik war die Polizei mit vielfältigen Protestformen befasst. Thematisch dominierten Demonstrationen gegen die „Wiederbewaffnung“ und den „Atomtod“ sowie gewerkschaftliche Forderungen nach Lohnerhöhungen, Mitbestimmung und Reduzierung der Arbeitszeiten.4
1.1 Die „Restaurationsphase“5 der Polizei In der Frühphase der Bundesrepublik Deutschland orientierte sich die Polizei bei ihrem Wiederaufbau nach der NS-Diktatur und der Besatzungszeit generell, nicht 1Der
Verfasser dieses Beitrages war von 1972 bis 2015 Polizeibeamter des Landes Nordrhein-Westfalen, zuletzt Leiter des Leitungsstabes des Polizeipräsidiums Köln. Rund 25 Jahre lang war er in mehreren hundert Einsätzen mit dem Demonstrations- und Protestgeschehen insbesondere in Bonn (1988–1996) und Köln (1999–2013) befasst. Darüber hinaus hat er sich als Referent in der polizeilichen Aus- und Fortbildung sowie in verschiedenen Veröffentlichungen mit der Rolle der Polizei im Demonstrations- und Versammlungsrecht beschäftigt. 2Michael Kniesel/Ralf Poscher, Versammlungsrecht, in: Erhard Denninger/Frederik Rachor (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 5. Aufl., München 2012, S. 1133–1241, hier S. 1142. 3Vgl. dazu generell Peter L eßmann-Faust, Die preußische Schutzpolizei in der Weimarer Republik. Streifendienst und Straßenkampf, Frankfurt 2012. 4Vgl. dazu den Gesamtüberblick bei Wolfgang Kraushaar, Die Protestchronik 1949–1959, Bd. 1–4, Hamburg 1996. 5Vgl. dazu generell Falco Werkentin, Die Restauration der deutschen Polizei. Innere Rüstung von 1945 bis zur Notstandsgesetzgebung, Frankfurt a.M. 1984.
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nur im Hinblick auf den Umgang mit politischem Protest, an den Organisationsformen und dem beruflichen Selbstverständnis aus der Zeit der Weimarer Republik – nicht zuletzt, weil die berufliche Sozialisation der meisten Polizeibeamten, die nun Führungskräfte waren, in dieser Zeit erfolgt war.6 Viele von ihnen hatten mit ihren Grundeinstellungen und -haltungen zumeist auch die NSZeit unbeschadet überstanden.7 Die Polizei dieser Zeit pflegte den Korpsgeist einer gegenüber der Gesellschaft weitgehend abgeschlossenen, hoheitlich agierenden Institution.8 Diese Grundhaltung prägte insbesondere auch den Umgang mit politischem Protest.9 Die Ausbildung in den seit 1951 als Militärersatz aufgestellten Bereitschaftspolizeien der Bundesländer10 basierte auf soldatischem Drill und Gehorsam.11
1.2 Gummiknüppel und Schusswaffen gegen „kommunistische Umsturzversuche“ Schon während der Besatzungszeit prägte die Angst vor „inneren Unruhen“, die sich zum Beispiel mit den großen „Hungerstreiks“ im Ruhrgebiet 1946/47 zu bestätigen schien, Überlegungen zu Struktur und Aufgabenprofil der Polizei.12 Der in Zeiten der Weimarer Republik praktizierte „Polizeikampf“ gegen „kommunistische Aufständler“13 bildete dann auch Anfang der 1950er Jahre den Erfahrungshintergrund für Polizeieinsätze anlässlich von Demonstrationen der Kommunistischen Partei
6Vgl.
Klaus Weinhauer, Schutzpolizei in der Bundesrepublik. Zwischen Bürgerkrieg und Innerer Sicherheit. Die turbulenten sechziger Jahre, Paderborn 2003, S. 85–116. 7Vgl. generell Stefan Noethen, Alte Kameraden und neue Kollegen. Polizei in NordrheinWestfalen 1945–1953, Essen 2003. 8Vgl. Klaus Weinhauer, Zwischen Tradition und Umbruch. Schutzpolizei in den 1950er bis 1970er Jahren (Personal, Ausbildung, Revierdienst, Großeinsätze), in: Peter Leßmann-Faust (Hrsg.), Polizei und politische Bildung, Wiesbaden 2008, S. 21–43, hier S. 21–24, 32–34. 9Vgl. dazu auch den Beitrag von Lukas Petzolt in diesem Band. 10Vgl. generell Udo Behrendes, Als Militärersatz fing es an. Vorgeschichte, Entstehung und Entwicklung der Bereitschaftspolizeien der Länder der Bundesrepublik Deutschland aus historischen, politischen und rechtlichen Gesichtspunkten, in: Gewerkschaft der Polizei (Hrsg.), 40 Jahre Bereitschaftspolizei, Hilden 1991. 11Carsten Dams, Die Polizei in Deutschland 1945–1989, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (2008), Nr. 48, S. 9–14, hier S. 11–12. 12Peter Leßmann-Faust, Geschichte der Polizei, in: Michael Kniesel/Edwin Kube/Manfred Murck (Hrsg.), Handbuch für Führungskräfte der Polizei, Lübeck 1996, S. 9–40, hier S. 33. 13Vgl. Behrendes, Als Militärersatz (wie Anm. 10), S. 23–24.
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Deutschlands (KPD)14 und der Freien Deutschen Jugend (FDJ),15 die als Vorstufe „kommunistisch gesteuerter Unruhen“ wahrgenommen wurden.16 Entsprechende Veranstaltungen, die sich thematisch vorrangig gegen die Politik der „Wiederbewaffnung“ richteten,17 wurden flächendeckend verboten.18 Bei Verstößen gegen Versammlungsverbote schritt die Polizei, mit ausdrücklicher Unterstützung der damaligen Regierungsparteien in Bund und Ländern, rigoros ein. Bundesinnenminister Robert Lehr resümierte zur Auflösung einer verbotenen FDJ-Versammlung am 17. Juni 1951 in Ittenbach im Bundestag: „Die Unruhestifter haben die gebührende Prügel bekommen.“19 Im Rahmen dieses generellen, durch Konfrontation und Repression geprägten Demonstrationsklimas setzte die Polizei am 11. Mai 1952 in Essen im Zuge der Auflösung einer verbotenen FDJ-Demonstration Schusswaffen ein, tötete einen Demonstranten und verletzte zwei weitere schwer.20 Der von der Polizeiführung angeordnete Schusswaffengebrauch gegen Personen in einer Menschenmenge21 blieb allerdings ein singuläres Ereignis in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, obwohl es auch bei anderen konfrontativen Demonstrationsverläufen in den 1950er Jahren zu entsprechenden Androhungen gekommen war.22
14Die
KPD wurde 1956 vom Bundesverfassungsgericht verboten. FDJ wurde 1951 durch die Bundesregierung verboten. Das Bundesverwaltungsgericht bestätigte das Verbot im Jahr 1954. 16Vgl. Noethen, Alte Kameraden (wie Anm. 7), S. 115. 17Vgl. dazu den Beitrag von Wolfgang Kraushaar in diesem Band. 18In Nordrhein-Westfalen zum Beispiel durch die Polizeiverordnung über das Verbot von Versammlungen und Umzügen unter freiem Himmel vom 5.9.1950, Gesetz- und Verordnungsblatt Nordrhein-Westfalen 1950, S. 159, die erst im Zuge der Verabschiedung des BVersG im Jahr 1953 wieder aufgehoben wurde. Vgl. Landtag Nordrhein-Westfalen, 2. Wahlperiode, 89. Sitzung am 28.7.1953, S. 3324; vgl. auch Martin Kutscha, Der Kampf um ein Bürgerrecht. Demonstrationsfreiheit in Vergangenheit und Gegenwart, in: ders. (Hrsg.), Demonstrationsfreiheit. Kampf um ein Bürgerrecht, Köln 1986, S. 13–70, hier S. 18–19. 19Deutscher Bundestag, 1. Wahlperiode, Plenarprotokoll 154. Sitzung vom 20.6.1951, S. 6119. 20Vgl. Alfons Kenkmann, Philipp Müller. Vom Friedensdemonstranten West zum Widerstandshelden Ost, in: Geschichte im Westen 33 (2018), S. 91–115; sowie den Beitrag von Wolfgang Kraushaar in diesem Band. 21Vgl. zu den heutigen rechtlichen Voraussetzungen etwa § 65 Polizeigesetz NRW. 15Die
22Vgl.
auch den Beitrag von Michael Sturm in diesem Band.
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2 Die 1960er Jahre: „Schwabinger Krawalle“ und Studentenunruhen Die Polizeiverwendungslehre der 1960er Jahre sah, nach wie vor geprägt von den Perspektiven aus der Zeit der Weimarer Republik, „akute Massen“23 als potenziell feindlich und gefährlich an und setzte vorrangig auf „intensive Überwachung“ und „entschlossene Härte“.24 Häufig wurden Demonstrationen unter Einsatz von Gummiknüppeln, Wasserwerfern und Pferden aufgelöst.25 Die restriktive Linie beim Umgang mit den „unpolitischen“, sogenannten Schwabinger Krawallen im Sommer 1962 in München leitete dann aber sukzessive eine Flexibilisierung der bis dahin sehr starren polizeilichen Einsatzformen ein. Insgesamt wurde die Themenpalette des politischen Protestgeschehens in dieser Zeitphase immer größer,26 wobei allerdings zwei Problembereiche dominierten: die geplanten „Notstandsgesetze“ und der Krieg in Vietnam. Die polizeilichen Einsatzmaßnahmen anlässlich der Demonstrationen gegen den Besuch des iranischen Schahs und insbesondere die Eskalation, die zum Tod des Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 in Westberlin führte, wirkten als Katalysator für die Studierendenbewegung und waren letztlich Initialzündung für die vielen brisanten Protestveranstaltungen im Symboljahr 1968.27 Die facettenreichen Aktionsformen28 der Bewegung stellten die Polizei vor neue Phänomene und Herausforderungen.
23Vgl.
dazu auch die Beiträge von Michael Sturm und Klaus Weinhauer in diesem Band. Weinhauer, Staatsgewalt, Massen, Männlichkeit: Polizeieinsätze gegen Jugendund Studentenproteste in der Bundesrepublik der 1960er Jahre, in: Alf Lüdtke/Herbert Reinke/Michael Sturm (Hrsg.), Polizei, Gewalt und Staat im 20. Jahrhundert, Wiesbaden 2011, S. 301–323, hier S. 304. 25Vgl. Heinrich Hannover, Demonstrationsfreiheit als demokratisches Grundrecht, in: Kritische Justiz 1 (1968), S. 51. 26Vgl. dazu den Beitrag von Sabine Mecking in diesem Band. 27Vgl. dazu den Beitrag von Lukas Petzolt in diesem Band. 28Vgl. Richard Thomas, Polizei und Demonstrationen, in: Die polizeiliche Lage, Beilage zur Zeitschrift Die Polizei 60 (1969), S. 97–103, hier S. 101–102. 24Klaus
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2.1 Die Entwicklung der „Münchner Linie“ Die „Schwabinger Krawalle“29 im Jahr 1962 und ihre Aufarbeitung30 führten zu einem Wendepunkt in der Einsatzstrategie der Münchner Polizei gegenüber unangepassten Jugendlichen und Protestgruppen. Anfangs war das harte Vorgehen der (damals kommunalen) Münchner Polizei noch gerechtfertigt worden.31 Infolge einer breiten gesellschaftlichen Debatte über den Polizeieinsatz setzten dann aber polizeiinterne Reflexionsprozesse ein, die schließlich in der bundesweit als Alternative zu den überkommenen Straßenkampf-Konzepten diskutierten, dialogorientierten „Münchner Linie“ mündeten. Besonderes Aufsehen erregte in diesem Zusammenhang die Einstellung eines Polizeipsychologen, der unter anderem für präventive, auf Kommunikation angelegte Konzepte an Brennpunkten des jeweiligen Protestgeschehens plädierte.32 Die „Münchner Linie“ kann als erste Deeskalationsstrategie der deutschen Polizei beim Umgang mit Gruppenkonflikten im öffentlichen Raum angesehen werden. Zuvor war man bereits in einigen Städten punktuell flexibler mit den ebenfalls unpolitischen „HalbstarkenKrawallen“ Mitte der 1950er Jahre umgegangen.33
2.2 Der Schah-Besuch und die Eskalation am 2. Juni 1967 in Westberlin An den meisten Orten des Besuchsprogramms für den Schah (27. Mai–4. Juni 1967, Stationen in Bonn, Köln, München, Westberlin, Hamburg und Lübeck) demonstrierten einerseits von der iranischen Botschaft ausgesuchte Landsleute des Staatsgastes („Jubelperser“) und andererseits Gegner des diktatorischen Schah-Regimes. Während die Polizei den „Jubelpersern“ jeweils privilegierte
29Vgl.
dazu auch den Beitrag von Michael Sturm in diesem Band. dazu insgesamt Gerhard Fürmetz (Hrsg.), „Schwabinger Krawalle“. Protest, Polizei und Öffentlichkeit zu Beginn der 60er Jahre, Essen 2006. 31Vgl. Manfred Schreiber, Die „Schwabinger Krawalle“. Versuch einer Zwischenbilanz, in: Die Polizei 55 (1964), S. 37–40. 32Vgl. dazu den Beitrag von Michael Sturm in diesem Band. 33Vgl. dazu den Beitrag von Wolfgang Kraushaar in diesem Band; sowie Wolfgang Schulte, Entwicklung der Polizeiorganisation in der Bundesrepublik Deutschland, in: Jürgen Stierle/ Dieter Wehe/Helmut Stiller (Hrsg.), Handbuch Polizeimanagement. Polizeipolitik – Polizeiwissenschaft – Polizeipraxis, Wiesbaden 2017, S. 23–47. 30Vgl.
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Plätze freihielt, wurden die kritischen Demonstrationen häufig aufgelöst oder an die Peripherie des Geschehens abgedrängt. Die Ausübung der Demonstrationsfreiheit hatte in den Augen von Politik und Polizeiführungen hinter den protokollarischen Abläufen des glamourös inszenierten, neuntägigen Staatsbesuchs nahezu vollständig zurückzutreten. Am Mittag des 2. Juni 1967 sollte sich der Schah im Schöneberger Rathaus in Westberlin ins Goldene Buch der Stadt eintragen. Außerhalb des durch Gitter abgesperrten Bereichs hatten sich etwa 2.000 Schaulustige eingefunden, darunter ca. 400 Demonstrierende, die ihre Kritik an dem Staatsgast äußerten. Aus einer Gruppe von etwa 80 „Jubelpersern“ gingen ca. zehn Männer mit den Stangen ihrer Begrüßungsplakate und Stahlruten auf die hinter der Absperrung stehenden Demonstrierenden los. Die Polizei ließ die iranischen Schläger, die mehrere Menschen verletzt hatten, einige Minuten gewähren, bevor sie die gegnerischen Gruppen trennte. Während mehrere Demonstrierende, aus deren Kreis einige Farbeier und Rauchbomben geworfen worden waren, festgenommen wurden, stellte man von den schlagenden „Jubelpersern“, denen strafrechtlich ein schwerer Landfriedensbruch vorzuwerfen war, noch nicht einmal die Personalien fest.34 Am Abend des gleichen Tages wurden bei Ankunft des Schahs vor dem Operngebäude aus dem Kreis einer Protestdemonstration heraus Eier, Farbbeutel und auch einige Steine geworfen. Während die Staatsgäste und die anderen Repräsentanten letztlich unbehelligt die Oper betreten konnten, wurden zwei Polizisten durch Steinwürfe verletzt. Ohne dass zuvor eine Aufforderung zum Entfernen ergangen wäre, stürmten Polizisten nach dem Kommando „Knüppel frei“ in die Menschenmenge und prügelten undifferenziert auf die Anwesenden ein. Polizeipräsident Duensing kommentierte dieses Vorgehen später so: Man müsse mitten in die Masse der Demonstranten hineinstoßen, um diese dann wie eine Leberwurst nach beiden Seiten herauszudrücken.35 Nach der Räumung des Zuschauerbereichs setzten Polizisten auch den fliehenden Studierenden weiter nach. Es kam an verschiedenen Stellen zu tumultartigen Szenen, in denen Polizisten auf Studierende einprügelten, aber auch Studierende Steine warfen und Widerstand leisteten. Der Student Benno Ohnesorg wurde in einem Hinterhof, in den er mit einigen anderen Demonstrierenden geflüchtet war, von mehreren Polizisten mit Schlagstöcken
34Vgl.
Eckard Michels, Schahbesuch 1967. Fanal für die Studentenbewegung, Berlin 2017, S. 183–187. 35Ebd., S. 188–193.
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traktiert und dann von dem Kriminalbeamten Karl-Heinz Kurras, der als Mitglied eines zivilen „Greiftrupps“ agierte, durch einen Schuss in den Hinterkopf lebensgefährlich verletzt. Benno Ohnesorg starb kurze Zeit später im Krankenhaus.36 Der 2. Juni 1967 veränderte die damalige Protestlandschaft grundlegend: Einerseits erhielt die Studierendenbewegung durch den Eklat enormen Zuwachs, andererseits wurden die Ereignisse zum Ausgangspunkt einer zunehmenden Radikalisierung und erhöhten Gewaltbereitschaft innerhalb der Außerparlamentarischen Opposition (APO).37 Letztlich wurde der Symboltag auch zum Label für die terroristische Vereinigung „Bewegung 2. Juni“. Der parlamentarische Untersuchungsausschuss des Westberliner Abgeordnetenhauses kritisierte später das unnötig brutale und im Hinblick auf die „Jubelperser“ einseitige Vorgehen der Polizei. In der Folge des Abschlussberichts wurde der Polizeipräsident abgelöst, der Innensenator und der Regierende Bürgermeister traten von ihren Ämtern zurück.38
2.3 Die bundesweiten „Osterunruhen“ nach dem Attentat auf Rudi Dutschke Am Gründonnerstag 1968 wurde Rudi Dutschke, Sprecher des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS), von einem dem rechtsradikalen Milieu nahestehenden Mann in Westberlin auf offener Straße durch drei Schüsse lebensgefährlich verletzt. Die SDS-Gremien machten den Springer-Konzern, der in der Zeit davor insbesondere über die Bild-Zeitung eine Stimmungskampagne gegen die Studierendenbewegung inszeniert hatte, politisch für das Attentat verantwortlich. Noch am selben Abend kam es zu gewalttätigen Attacken von mehr als 2.000 Personen auf das Springer-Hochhaus in Westberlin. Neben Steinen wurden auch Molotow-Cocktails geworfen und mehrere Fahrzeuge des Konzerns in Brand gesetzt. Die Proteste griffen in den nächsten Tagen auf das gesamte Bundesgebiet über. In 26 Städten fanden gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Protestierenden und der Polizei statt. Dabei kamen in München ein Pressefotograf und ein Student im Rahmen der Tumulte durch Wurfgeschosse ums Leben.39
36Ebd.,
S. 195–218. Stallmann, Krise und Protest. Signaturen eines westdeutschen Jahres, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (2017), Nr. 5–7, S. 9–14, hier S. 14. 38Michels, Schahbesuch (wie Anm. 34), S. 269–272. 39Vgl. Peter Schneider, Rebellion und Wahn. Mein‘68, Köln 2008, S. 263. 37Martin
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Das Vorgehen der Polizei im Rahmen dieser „Osterunruhen“ wurde in der Öffentlichkeit teilweise als unkoordiniert und zu hart wahrgenommen.40 „Die Zeit“ fasste die Verläufe wie folgt zusammen: „Wer die Ausschreitungen der Studenten verurteilt, muss auch die Ausschreitungen der Polizei verdammen. Sinnlose, blinde Knüppelei, wie wir sie überall zu Ostern beschert bekamen, kann selbst den unbefangenen Beobachter zur Sympathie für die Demonstranten zwingen.“41
Auch die Gewerkschaft der Polizei räumte ein, dass „während der Osterdemonstrationen Übergriffe der Polizeiorgane vorgekommen“ waren.42
2.4 Deeskalation beim „Sternmarsch auf Bonn“ am 11. Mai 1968 Einige Wochen nach den „Osterunruhen“ erwartete man neue gewalttätige Auseinandersetzungen anlässlich des „Sternmarsches auf Bonn“. Mehrere zehntausend Menschen kamen am 11. Mai 1968 aus allen Teilen der Bundesrepublik in die damalige Bundeshauptstadt, um gegen die unmittelbar bevorstehende Verabschiedung der Notstandsgesetze zu demonstrieren. Die Junge Union empfahl den Bonner Bürgern per Hauswurfsendung, ihre Fenster zu verbarrikadieren und sich von den Demonstrationen fern zu halten.43 Der polizeiliche Einsatzleiter, Polizeioberrat Tonis Hunold, entwarf jedoch, trotz des aufgeheizten innenpolitischen Klimas und gegen den Rat anderer polizeilicher Führungskräfte, ein Deeskalationskonzept, dessen Grundstruktur bereits den Vorgaben des späteren Brokdorf-Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) aus dem Jahr 1985 entsprach. Hunold lud die Veranstalter der Demonstration zu Kooperationsgesprächen ein, vermittelte ihnen die Bereitstellung der im Eigentum der Bonner Universität stehenden Hofgartenwiese als größte innenstädtische Freifläche für die Abschlusskundgebung und stimmte sich mit ihnen über die weiteren Rahmenbedingungen ab. Am Veranstaltungstag
40Vgl.
dazu den Beitrag von Lukas Petzolt in diesem Band. Sommer, Die Vernunft blieb auf der Strecke. Die Oster-Rebellion: Herausforderung an unsere Demokratie, in: Die Zeit Nr. 16 vom 19.4.1968. 42Werner Kuhlmann, Moderne Gesellschaft – Moderne Polizei, Geldern 1969, S. 354. 43Vgl. Der Spiegel Nr. 21 vom 20.5.1968, S. 28. 41Theo
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trat die Polizei überwiegend als Verkehrspolizei (mit weißen Mützen statt Helmen) auf und verzichtete auf die sichtbare Präsenz der rund 4.000 darüber hinaus bereitstehenden Einsatzkräfte im unmittelbaren räumlichen Umfeld der Demonstration. Den ankommenden Demonstrierenden wurden Handzettel mit einem Willkommensgruß überreicht. Darüber hinaus hatte sich die Polizei auch an die Bonner Bevölkerung gewandt und für einen toleranten Umgang mit der Großdemonstration geworben. Die Gesamtveranstaltung verlief dann, trotz der zeitgleich in Paris tobenden Straßenschlachten und Barrikadenkämpfe zwischen der dortigen Studierendenbewegung und der Polizei,44 weitgehend störungsfrei.45
2.5 „Traditionalisten“ und „Reformer“:46 Die Polizei gerät in Bewegung Der Umgang mit Demonstrationen und deren Teilnehmern wurde Ende der 1960er Jahre zum meistdiskutierten Thema in polizeilichen Fortbildungsseminaren und Fachzeitschriften. Hamburgs Innensenator Heinz Ruhnau postulierte das „Prinzip der flexiblen Reaktion“, wonach es manchmal besser sei, kleine Störungen hinzunehmen, um dadurch größere zu vermeiden. Jede unnütze Frontenbildung zwischen Polizei und Demonstranten müsse vermieden werden. Dies bedeute eine weitgehende Zurückhaltung und das Prinzip, die Polizei möglichst wenig sichtbar in Erscheinung treten zu lassen.47 Ruhnau hatte bereits 1966 eine Planungsgruppe eingerichtet, in der Vertreter von Gewerkschaften, Kirchen, Interessenverbänden und Presse die Polizei im Vorfeld größerer Demonstrationseinsätze beraten sollten. Dieser institutionalisierte Dialog mit Vertretern der Zivilgesellschaft verursachte damals innerhalb der Hamburger Polizeiführung beträchtliche Irritationen.48 Generell war der polizeiliche Habitus nach wie vor
44Vgl.
Norbert Frei, 1968. Jugendrevolte und globaler Protest, 2. Aufl., München 2008, S. 9–29. 45Vgl. Tonis Hunold, Polizei in der Reform, Düsseldorf/Wien 1968, S. 187–193. 46Vgl. dazu insgesamt Martin Winter, Polizeiphilosophie und Protest policing in der Bundesrepublik Deutschland – von 1960 bis zur staatlichen Einheit 1990, in: Hans-Jürgen Lange (Hrsg.), Staat, Demokratie und Innere Sicherheit in Deutschland, Opladen 2000, S. 203–220, hier S. 208–212; Weinhauer, Zwischen Tradition (wie Anm. 8), S. 21–43. 47Heinz Ruhnau, Zum Einsatzverhalten bei politischen Demonstrationen, in: Die polizeiliche Lage, Beilage zur Zeitschrift Die Polizei (1969), S. 89–90, hier, S. 89. 48Weinhauer, Schutzpolizei (wie Anm. 6), S. 300–301.
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geprägt durch ein aktivistisches Männlichkeitsideal, bei dem Tatkraft, Mut und Härte höher angesehen waren als Dialog, Passivität und Zurückhaltung. Daran orientiert sahen die meisten Polizeibeamten nach wie vor forsches Einschreiten als wirksamstes Mittel zur Konfliktbewältigung an und unterliefen daher im Einschreiten vor Ort häufig die Grundsätze der „flexiblen Reaktion“.49 Der Münchner Polizeipräsident Manfred Schreiber kritisierte, dass sich die polizeiliche Einsatztaktik bei Demonstrationen nicht auf „Vorfahren, Absitzen, Kette bilden, Räumen, Aufsitzen und Einrücken“ reduzieren dürfe.50 In der bayerischen Landeshauptstadt ging man sogar so weit, uniformierte Polizisten als „integrierte Beamte“ („Unterhak-Mayer“51) in der ersten Reihe der Demonstrierenden mitmarschieren zu lassen,52 womit die Rolle der Polizei als neutrale Instanz gegenüber dem Demonstrationsanlass zumindest optisch konterkariert wurde. Darüber hinaus wurde auch die seit den Zeiten der Weimarer Republik nicht hinterfragte Einschätzung von Menschenmengen als gewaltbereite, „akute Massen“ sukzessive modifiziert. Nach dem überkommenen Bild zeichneten sich aggressive Menschenmassen durch eine Art Kollektividentität aus; diese „Massen“ seien von „Rädelsführern“ beliebig lenk- und formbar. Bei Isolierung der Rädelsführer würde sich die dann willen- und führerlose Menschenansammlung der geballt auftretenden Staatsmacht unterwerfen.53 Als operative Einheiten wurden daher in Demonstrationseinsätzen meist zivile „Greiftrupps“ vorgehalten, die die „Rädelsführer“ ausfindig machen und festnehmen sollten (wobei diese Zugriffe dann häufig Ausgangspunkt weiterer Eskalationen waren). Auch der damalige Straftatbestand des Aufruhrs (§ 115 Strafgesetzbuch54) folgte dieser Sichtweise und sah eine höhere Strafandrohung für „Rädelsführer“ einer „öffentlichen Zusammenrottung“ vor, bei der gemeinschaftliche Widerstandshandlungen begangen wurden. Rolf Umbach, der erste Polizeipsychologe der Münchner Polizei, stellte in seinen Veröffentlichungen Mitte der 1960er Jahre dieses Bild der homogenen Masse infrage und skizzierte die Drei-Kreise-These, nach der Aggressionen
49Ebd.,
S. 328–329. Schreiber, Freiheit und Ordnung, in: Die Polizei 59 (1968), S. 347–349, hier
50Manfred
S. 348. Der Spiegel Nr. 47 vom 17.11.1969, S. 116–117. 52Vgl. dazu den Beitrag von Michael Sturm in diesem Band. 53Vgl. dazu auch die Beiträge von Michael Sturm und Klaus Weinhauer in diesem Band. 54Durch das 3. Strafrechtsreformgesetz 1970 aufgehoben. 51Vgl.
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aus einer Menschenmenge in aller Regel von einer Minderheit herrührten und die Menschenmenge darüber hinaus zumeist aus einer größeren Gruppe von potenziellen Sympathisanten und einer noch größeren Gruppe von Neugierigen bestehe.55 Eine entsprechend differenzierte Sicht auf die Heterogenität von Demonstrierendengruppen setzte sich allmählich auch bundesweit durch. Die weitere Entwicklung verlief in der polizeilichen Praxis aber keineswegs einheitlich. Führt man sich exemplarisch die „Leberwursttaktik“ der Berliner Polizei beim Umgang mit den Protesten gegen den Schah-Besuch im Juni 1967 und die Kooperationsstrategie beim „Sternmarsch auf Bonn“ im Mai 1968 vor Augen, wird damit das gesamte Spektrum des Protest Policing und der zugrunde liegenden Einstellungen und Haltungen der jeweiligen politischen und polizeilichen Führungskräfte umrissen. Die Polizeireformer repräsentierten dabei jedoch nicht den Mainstream56 und auch zwischen den einzelnen Plänen und Ansichten dieser Reformer gab es zum Teil gravierende Unterschiede.57
2.6 Die Notstandsgesetze als Reformtreiber für die Polizei Die entscheidende und nachhaltige Zäsur im polizeilichen Rollen- und Aufgabenverständnis entstand Ende der 1960er Jahre jedoch nicht durch polizeiinterne Prozesse, sondern durch eine Grundgesetzänderung. Mit den damals politisch hoch umstrittenen Notstandsgesetzen wurde der Weg für tiefgreifende Reformen der polizeilichen Aus- und Fortbildung bereitet. Mit dem Ende Mai 1968 in das Grundgesetz (GG) eingefügten Art. 87a Abs. 4 erhielt die Bundeswehr eine subsidiäre Zuständigkeit in Krisensituationen des „Inneren Notstands“ (Art. 91 Abs. 2 GG) zur „Bekämpfung organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer“. Darüber hinaus durfte nun auch der Bundesgrenzschutz bei
55Rolf
Umbach, Das Bild von der akuten Masse, in: Die Polizei 56 (1965), S. 110–112, hier S. 111. 56Ebd. 57Thomas Kleinknecht/Michael Sturm, „Demonstrationen sind punktuelle Plebiszite“. Polizeireform und gesellschaftliche Demokratisierung von den Sechziger- zu den Achtziger Jahren, in: Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), S. 181–218, hier S. 213–214.
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entsprechenden Lagen eingesetzt werden. Mit dieser Verfassungsänderung konnten die Länderpolizeien daher ihre Fokussierung auf Bürgerkriegsszenarien aufgeben, ihre militärischen Waffen abschaffen und ihre Ausbildungsziele verstärkt auf den Einzeldienst, also die Alltagsarbeit der Polizei lenken. Es begann nun eine Hochphase von Reformen der Ausbildung sowie der Personal- und Organisationsentwicklung – eingebettet in die vielen anderen Reformen in der ersten Phase der seit 1969 auf Bundesebene regierenden sozialliberalen Koalition.58
3 Die 1970er Jahre: Amnestiegesetz, Terrorismus und Großdemonstrationen Das Amnestiegesetz und die Strafrechtsreform59 unterstützten und beschleunigten Anfang der 1970er Jahre das Umdenken beim Protest Policing. Ausbildungsund Strukturreformen und der beginnende Dialog mit der Sozialwissenschaft60 bewirkten die Tendenz zur größeren gesellschaftlichen Öffnung der Polizei. Dieser Prozess wurde jedoch durch den aufkommenden Linksterrorismus, mit seinem Höhepunkt und den staatlichen Reaktionen im „Deutschen Herbst“ (1977),61 zum Teil wieder zurückgeworfen. Das Bild eines omnipräsent gewordenen Terrorismus62 färbte auf das generelle Klima der Polizei-Bürger-Interaktionen ab, sowohl in Alltagssituationen als auch bei Demonstrationseinsätzen.63 Innerhalb der Polizei entstand ein distanzierter und misstrauischer Habitus insbesondere gegenüber Menschen aus dem „linken“ Studierendenmilieu, die man überwiegend als polizeikritisch und -feindlich wahrnahm.
58Vgl.
als generellen Überblick Udo Behrendes, Wesentliche Entwicklungsschritte der Länderpolizeien der Bundesrepublik Deutschland, in: Polizei & Wissenschaft 14 (2013), Nr. 3, S. 5–17. 59Vgl. den Beitrag von Ulrich Jan Schröder in diesem Band. 60Vgl. Behrendes, Wesentliche Entwicklungsschritte (wie Anm. 58), S. 10. 61Vgl. Der Spiegel Nr. 50 vom 5.12.1977, Titelgeschichte „Wird der Rechtsstaat abgebaut?“, S. 32–70. 62Vgl. Heiner Busch/Albrecht Funk/Udo Kauß/Wolf-Dieter Narr/Falco Werkentin, Die Polizei in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a.M./New York 1985, S. 229–231. 63Vgl. Winter, Polizeiphilosophie (wie Anm. 46), S. 213.
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3.1 Großdemonstrationen gegen Anlagen der Kernenergie Auch wenn die Themenpalette und die Teilnehmerstrukturen insgesamt immer bunter wurden64 – das Demonstrationsgeschehen der 1970er Jahre wurde gleichwohl in erster Linie von Protesten gegen den Bau von Kernkraftwerken sowie entsprechende Wiederaufbereitungsanlagen und Lagerstätten dominiert.65 Die ländlichen bzw. kleinstädtischen Gebiete von Wyhl, Brokdorf, Grohnde, Kalkar und Gorleben wurden zu Synonymen für zum Teil wiederkehrende Großdemonstrationen, bei denen es auch häufig zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Protestgruppen kam, zum Beispiel anlässlich von Gelände- und Betriebsbesetzungen.66 Die Polizei war bei diesen Großdemonstrationen häufig mit der Problematik konfrontiert, dass aus einer überwiegend friedlichen Menge heraus gewalttätige (Klein-)Gruppen agierten und das „Schutzschild der friedlichen Menge“67 häufig geschickt für sich auszunutzen verstanden. Ihre Zielrichtung lag oft darin, dass sich zunächst Unbeteiligte durch einen als undifferenziert oder unverhältnismäßig wahrgenommenen Polizeieinsatz mit ihnen solidarisierten und die Auseinandersetzungen anschließend eskalierten.68 Agierten etwa Steinewerfer aus den hinteren Reihen einer Demonstration und versuchten Polizisten sich dann den Weg durch die friedliche Menge zu bahnen, um der Straftäter habhaft zu werden, kam es nicht selten zu Auseinandersetzungen mit zunächst friedlichen oder „indifferenten“
64Vgl.
den Beitrag von Sabine Mecking in diesem Band. den chronologischen Kurzüberblick über das entsprechende Protestgeschehen von 1975 bis 1999 bei Markus Beinhauer, Der Protest gegen die Atomenergie. Eckdaten zur Historie einer quicklebendigen sozialen Bewegung, in: Thomas Oelschläger/Kerstin Enning/Bernd Drücke (Hrsg.), Ahaus. Das Buch zum Castor, Langenau 1999, S. 83–87. 66Vgl. Busch/Funk/Kauß/Narr/Werkentin, Die Polizei (wie Anm. 62), S. 328–342. 67Vgl. Alfred Stümper/Karlheinz Gemmer/Hans-Werner Hamacher/Wolfgang Salewski, Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt aus der Sicht der Polizeipraxis. Gutachten der Unterkommission V, in: Dieter Schwind/Jürgen Baumann u. a., Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt. Analysen und Vorschläge der Unabhängigen Regierungskommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt (Gewaltkommission), Bd. 2: Erstgutachten der Unterkommissionen, Berlin 1990, S. 652–653. 68Vgl. Harro Otto/Volker Krey/Kristian Kühl, Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt aus der Sicht der Strafrechtswissenschaft. Gutachten der Unterkommission VII, in: Schwind/Baumann u. a., Gewaltkommission Bd. 2 (wie Anm. 67), S. 903–904. 65Vgl.
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Demonstrationsteilnehmern, denen häufig der Anlass für die polizeiliche Aktion gar nicht bekannt war und die dann das polizeiliche Vorgehen, auch mangels konstruktiver Kommunikation, als gegen sich gerichtet empfanden. Bis heute stellen solche Konstellationen besondere Herausforderungen für die Polizei dar. Ähnlich wie in den 1960er Jahren waren bundesweit erneut unterschiedliche polizeiliche Einsatzstrategien und damit Veranstaltungsverläufe zu beobachten. Generell attestierten rückblickend auch polizeikritische Beobachter, dass die Polizei im Rahmen ihrer Aufgabenwahrnehmung die Konfrontation mit Demonstrationen als Ganzes möglichst vermieden hatte, notwendige Gewaltanwendung überwiegend dosiert erfolgt war und bei unkalkulierbaren Eskalationen notfalls auch darauf verzichtet worden war, Verbotsanordnungen und andere Rechtsansprüche durchzusetzen.69 Dennoch gingen manche Auseinandersetzungen bei Anti-AKW-Demonstrationen als „Schlachten“ in das Gedächtnis beider Seiten ein.70
3.2 Der „Sturm auf das Bonner Rathaus“ Am 10. April 1973 wurde die Bonner Polizei anlässlich des Staatsbesuchs des südvietnamesischen Präsidenten Nguyen Van Thieu von einer gezielten gewalttätigen Aktion überrascht. Im Vorfeld einer angemeldeten Demonstration drangen rund fünfzig zum Teil maskierte Täter gewaltsam in das historische Rathausgebäude am Bonner Marktplatz ein, drängten die Bediensteten aus den Amtsräumen und verbarrikadierten sich dort. Die Polizei, die sich in ihrer Einsatzplanung auf den Schutz der Aufenthaltsorte und Fahrtstrecken des Staatsgastes und des Regierungsviertels konzentriert hatte, brauchte längere Zeit, um genügend Einsatzkräfte für die Räumung zusammenzuziehen. Als Polizeibeamte schließlich in den besetzten Bereich eindrangen, wurden sie aus den Fenstern mit Büromöbeln und Schreibmaschinen beworfen. Die bereits eingetroffenen Teilnehmer einer auf dem Markplatz angemeldeten Demonstration solidarisierten sich während des Räumungseinsatzes teilweise mit den Besetzern und
69Vgl.
Busch/Funk/Kauß/Narr/Werkentin, Die Polizei (wie Anm. 62), S. 341. exemplarisch Rüdiger Holecek, Die „Schlacht um Grohnde“ hatte viele Verlierer, in: Deutsche Polizei 66 (2017), H. 9, S. 4–11.; dazu auch Michael Stricker, Grohnde. Dokumentation der Polizeieinsätze anlässlich der Demonstration gegen das Kernkraftwerk Grohnde am 19.3.1977 und der Räumung des besetzten Kühlturmgeländes am 23.8.1977, Frankfurt a.M. 2014.
70Vgl.
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behinderten das polizeiliche Vorgehen. Es kam zu tumultartigen Auseinandersetzungen mit Verletzten auf beiden Seiten und erheblichem Sachschaden.71 Mit dieser „Out-of-Control“-Taktik militanter Gruppierungen ist die Polizei auch heute noch konfrontiert, so zum Beispiel anlässlich der Blockupy-Demonstrationen in Frankfurt und beim G20-Gipfel in Hamburg in den 2010er Jahren.
4 Die 1980er Jahre: Zunahme der Militanz und richtungsweisende Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts In den 1980er Jahren wurde die Polizei insgesamt mit der größten Militanz innerhalb von heute siebzig Jahren Protestkultur in der Bundesrepublik konfrontiert, „schwarze Blocks“ wurden zum Symbol hoher Gewaltbereitschaft. Als gesetzliche Reaktion darauf wurden das Vermummungsverbot und das Verbot der Schutzbewaffnung in das Bundesversammlungsgesetz (BVersG) eingefügt.72 Die Polizei reagierte auf die zunehmende Militanz mit der Aufstellung besonderer operativer Einheiten, mit denen letztlich das „Greiftrupp-Konzept“ der 1960er Jahre weiterentwickelt wurde. In Westberlin wurde die „Einheit für besondere Lagen und einsatzbezogenes Training“ (EbLT) gebildet,73 in Bayern entstanden die „Unterstützungskommandos“ (USK), Hessen stellte „Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten“ (BFE) und der Bundesgrenzschutz (heute Bundespolizei) „Festnahmekommandos“ bzw. „Zugriffseinheiten“ (ZE) auf.74 Darüber hinaus wurde die Körperschutzausstattung der Bereitschaftspolizei weiterentwickelt.
71Vgl.
Horst-Pierre Bothien, Auf zur Demo! Straßenprotest in der ehemaligen Bundeshauptstadt Bonn 1949–1999, Essen 2009, S. 71–75. 72Vgl. den Beitrag von Ulrich Jan Schröder in diesem Band. 73Nachdem es bei verschiedenen Anlässen (ausgehend von einem Einsatz an der Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf im Oktober 1987) öffentliche Kritik am harten Einschreiten der EbLT gegeben hatte, wurde sie im Jahr 1989 durch eine Entscheidung des Berliner Senats wieder aufgelöst. 74Vgl. für einen bundesweiten Überblick Markus Ritter, Geschlossene Einheiten der deutschen Polizei im Spiegel der Geschichte (Teil 4: 1968–1990), in: Polizei-heute 38 (2010), H. 3, S. 107–108. Nordrhein-Westfalen hat inzwischen gemäß dem 2017 geschlossenen Koalitionsvertrag von CDU und FDP als letztes Bundesland ebenfalls solche Einheiten aufgestellt.
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Mitte der 1980er Jahre nahm das Bundesverfassungsgericht in zwei richtungsweisenden Entscheidungen (Brokdorf-Beschluss und Mutlangen-Urteil) zu Grundsatzfragen des Demonstrations- und Versammlungsrechts Stellung und adressierte seine Ausführungen sowohl an die Veranstalter und Teilnehmer von Versammlungen als auch an die zuständigen Versammlungsbehörden bzw. die Polizei.75 Ende der 1980er Jahre lieferten dann sozialwissenschaftliche Studien im Themenfeld „Polizisten und Demonstrierende“ Befunde, die auch heute noch aktuell sind.
4.1 „Autonome“ Gruppen Sowohl im Rahmen des „Häuserkampfs“76 als auch bei anderen Protestformen wurde die Polizei seit Beginn der 1980er Jahre zunehmend mit geplanter und gezielter Gewalt politisch linksorientierter, sogenannter Autonomer konfrontiert,77 die bei manchen Demonstrationen mit gleichartiger dunkler Kleidung auftraten und zum Teil mit Sturmhauben vermummt und mit Schutzhelmen ausgerüstet waren.78 Auch wenn man keinesfalls ein Pauschalurteil über die Militanz aller autonomen Gruppen fällen kann, hat doch bis heute für viele von ihnen die generelle Gewaltbereitschaft eine identitätsstiftende Funktion. Man sieht sich mit Gleichgesinnten pauschal zur „Gegengewalt“ gegen das „System“ und seine „strukturelle Gewalt“ legitimiert. Insoweit stellen Polizisten für solche Gruppen oft bereits unabhängig von konkreten Konfliktsituationen ein Feindbild dar, da sie das Gewaltmonopol des Staates repräsentieren, dessen Existenz man als „Herrschaftsinstrument“ und „Repressionsapparat“ generell ablehnt und bekämpft.79
75Die behördlichen Zuständigkeiten im Versammlungsrecht sind bundesweit unterschiedlich strukturiert. In einigen Bundesländern sind die einzelnen Aufgaben und Befugnisse zwischen Verwaltungs- und Polizeibehörden aufgeteilt (zum Beispiel in Niedersachsen), in anderen liegen sie einheitlich in der Hand der Polizei (zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen). 76Bundesweite Symbolorte waren die Hafenstraße in Hamburg und die Mainzer Straße in Berlin. 77Zum Begriff und zur Selbstbezeichnung „Autonome“ vgl. Armin Pfahl-Traughber, Die Autonomen. Portrait einer linksextremistischen Subkultur, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (1998), Nr. 9/10, S. 36–46. 78Vgl. Ritter, Geschlossene Einheiten (wie Anm. 74), S. 105. 79Vgl. Bundesministerium des Inneren, Verfassungsschutzbericht 2016, Berlin 2017, S. 112–114.
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Dennoch müssen sich auch solche Gruppierungen für konkrete Gewalthandlungen im Rahmen von Demonstrationen innerhalb ihrer eigenen Szene und auch gegenüber den jeweiligen Aktionsbündnissen80 mit anderen Protestgruppen erklären bzw. rechtfertigen. Oft geschieht dies dann jeweils durch die Behauptung, von der Polizei angegriffen oder zumindest provoziert worden zu sein. Hier kann es der Polizei gelingen, eine Eskalation im Einzelfall dadurch zu vermeiden, dass die Rahmenbedingungen so gestaltet werden, dass Provokationen oder Angriffe nicht begründbar sind. Generell gilt, dass die von „schwarzen Blocks“ habituell zur Schau gestellte Militanz nicht immer mit einer unausweichlichen Gewaltanwendung in der konkreten Situation einhergehen muss.81 Insoweit kann die Polizei in manchen Fällen auch durchaus flexibel mit dem Vermummungsverbot umgehen.82 Inzwischen haben einige Bundesländer im Zuge der Föderalismusreform in den jeweiligen Länderversammlungsgesetzen ohnehin zum Teil differenzierte Regelungen zur Vermummung aufgestellt83 – um zu vermeiden, dass die zur Gewaltreduzierung aufgestellte Vorschrift ihrerseits zur „Gewaltfalle“ für die Polizei wird.
4.2 Der Brokdorf-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Mai 198584 In der bis heute richtungsweisenden Entscheidung85 umriss das Bundesverfassungsgericht unter anderem die Pflichten von Veranstaltern und der Polizei – namentlich bei Großdemonstrationen mit heterogenen Veranstalter- und Teilnehmerkreisen.
80Vgl.
dazu André Schirmer, Militante Autonome. Zu Selbstverständnis und Organisationsformen linksextremer Tätergemeinschaften, in: Kriminalistik 54 (2001), S. 408–412, hier S. 410–411. 81Nils Schumacher. „Küsst die Faschisten“. Autonomer Antifaschismus als Begriff und Programm, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (2017), Nr. 42/43, S. 35–41, hier S. 40. 82Vgl. dazu ausführlicher Udo Behrendes, Demonstrationen und Polizei – Bausteine einer Vertrauenskultur, in: Vorgänge 55 (Nr. 213) (2016), H. 1, S. 61–76, hier S. 62–63. 83Vgl. Überblick bei Hartmut Brenneisen, Zwischenbilanz: Das Versammlungsrecht im Lichte der Föderalismusreform, in: Die Polizei 108 (2017), S. 221–227, hier S. 227. 84Vgl. den Beitrag von Ulrich Jan Schröder in diesem Band. 85Bundesverfassungsgerichtsentscheid (BVerfGE) 69, 315.
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An die Adresse der Polizei erging das Differenzierungsgebot im Hinblick auf das Einschreiten gegen gewaltbereite Teilgruppen innerhalb einer überwiegend friedlichen Demonstration. Demnach „muss für die friedlichen Teilnehmer der von der Verfassung jedem Staatsbürger garantierte Schutz der Versammlungsfreiheit auch dann erhalten bleiben, wenn einzelne andere Demonstranten oder eine Minderheit Ausschreitungen begehen. Würde unfriedliches Verhalten Einzelner für die gesamte Veranstaltung und nicht nur für die Täter zum Fortfall des Grundrechtsschutzes führen, hätten diese es in der Hand, Demonstrationen ‚umzufunktionieren‘ und entgegen dem Willen der anderen Teilnehmer rechtswidrig werden zu lassen.“
Von Veranstaltern erwartete das Gericht in solchen Konstellationen, „auf die Teilnehmer mit dem Ziel friedlichen Verhaltens und der Isolierung von Gewalttätern ein[zu]wirken“. Darüber hinaus empfahl es, dass „sich die Staatsmacht – gegebenenfalls unter Bildung polizeifreier Räume – besonnen zurückhält und übermäßige Reaktionen vermeidet“. Generell stellte das Gericht die „Forderung an die staatlichen Behörden, nach dem Vorbild friedlich verlaufener Großdemonstrationen versammlungsfreundlich zu verfahren und nicht ohne zureichenden Grund hinter bewährten Erfahrungen zurückzubleiben“. Das Gericht plädierte dafür, „dass insbesondere eine rechtzeitige Kontaktaufnahme erfolgt, bei der beide Seiten sich kennenlernen, Informationen austauschen und möglicherweise zu einer vertrauensvollen Kooperation finden, welche die Bewältigung auch unvorhergesehener Konfliktsituationen erleichtert“.
Es sah in den „vertrauensbildenden Maßnahmen“ zwischen Versammlungsbehörde, Polizei und Veranstalterebene den entscheidenden Schlüssel für eine friedliche Protestkultur. Der Brokdorf-Beschluss führte zu polizeipolitischen Leitlinien. So formulierte zum Beispiel das nordrhein-westfälische Innenministerium auf Grundlage der Entscheidung die „NRW-Linie“ zum Umgang mit Demonstrationen. Danach stellt die ständige Gesprächsbereitschaft gegenüber allen Beteiligten vor, während und nach der Veranstaltung eine wesentliche Voraussetzung für eine vertrauensvolle Kooperation dar. Auf Grundlage der Erkenntnis, dass „das martialische Erscheinungsbild einer für alles gerüsteten Polizei eine aggressionsstimulierende Wirkung ausüben und es den Militanten erleichtern kann, ihr Feindbild von der Polizei aufzubauen“, wurde der „Verzicht auf eine einschüchternde
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Einsatzbekleidung sowie das Herzeigen entsprechender Einsatzmittel“ propagiert, „wo er möglich erscheint“.86 Die verbindliche Umsetzung der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in das polizeiliche Vorschriftenwesen ist aber bis heute, mehr als dreißig Jahre nach dieser Entscheidung, nach wie vor nur rudimentär geschehen. So klingt die Formulierung in der bundesweit gültigen Polizeidienstvorschrift 100 (PDV 100) über „Führung und Einsatz der Polizei“ eher distanziert: „Die Polizei ist gehalten, versammlungsfreundlich zu verfahren.“87
4.3 „Hamburger Kessel“ Am 8. Juni 1986 kam es anlässlich des Baus eines Kernkraftwerks im niedersächsischen Brokdorf zu einer Demonstration auf dem Hamburger Heiligengeistfeld. In der Ansammlungsphase stellte die Polizei verschiedene Kleingruppen fest, die „Passivbewaffnung“ (Helme) und „Aktivbewaffnung“ (Stöcke und Steine) mit sich führten.88 Die Einsatzleitung entschloss sich dazu, die gesamte Gruppe (ca. 700 Personen) durch Polizeikräfte einzuschließen und damit den geplanten Demonstrationszug wegen erwarteter Gewalttätigkeiten zu verhindern. Viele Betroffene wurden bis zu zwölf Stunden unter teilweise problematischen hygienischen Bedingungen vor Ort festgehalten. Nach der polizeilichen Lagebeurteilung „konnte zwar nicht allen Teilnehmern […] unterstellt werden, Gewalthandlungen zu begehen oder sich an ihnen zu beteiligen“. Die Anzeichen für eine geplante Gewaltanwendung seien jedoch so deutlich gewesen, dass die übrigen Demonstrierenden hätten erkennen müssen, von den Gewalttätigen „als Menge benutzt zu werden, in deren Schutz sie Straftaten begehen konnten“.89
86Werner
Ruckriegel, Politische Aspekte bei Polizeieinsätzen zur Verhinderung von Gewalt anlässlich von Demonstrationen, in: Die Polizei 78 (1987), S. 285–290, hier S. 289. 87Vgl. Nr. 4.4.3.1 der PDV 100, Stand 2018. 88Landespolizeidirektion Hamburg, Hamburger Demonstration mit taktischer Einschließung ist eine Chronologie der Einebnung des Unterschiedes zwischen Friedlichkeit und Gewalt, in: Die Polizei 77 (1986), S. 282–289, hier S. 284. 89Ebd., S. 284.
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Das Verwaltungsgericht Hamburg90 stufte das polizeiliche Vorgehen später als rechtswidrig ein, weil von den Teilnehmern der Versammlung weder vor noch nach ihrer Einschließung Gewalttätigkeiten ausgegangen waren. Die Polizei hätte statt der undifferenzierten Einschließung aller Versammlungsteilnehmer gezielt gegen diejenigen vorgehen müssen, die Gegenstände mitführten, die ihrer Art nach zur Verletzung von Personen oder Beschädigung von Sachen geeignet und bestimmt waren. Die Polizei kann in bestimmten Lagen zwar gerade im Hinblick auf das Differenzierungsgebot nach wie vor nicht auf das Einschließen einer (potenziell) gewalttätigen (Teil-)Gruppe verzichten, hat sich aber in der Gesamtbetrachtung entsprechender Einsatzanlässe in den letzten dreißig Jahren sowohl hinsichtlich der Anwendung ihrer rechtlichen Befugnisse als auch des Vorhaltens einer Infrastruktur zur möglichst zügigen Abwicklung inzwischen deutlich professionalisiert.91
4.4 Das Mutlangen-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 11. November 198692 Eine ähnliche richtungsweisende Funktion für den polizeilichen Umgang mit dem Demonstrationsgeschehen wie der Brokdorf-Beschluss hatte auch das MutlangenUrteil93 des Bundesverfassungsgerichts, das sich mit der (verfassungs-)rechtlichen Einordnung von Protestformen des zivilen Ungehorsams beschäftigte. Im inhaltlichen Kern ging es bei der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts um die Frage, ob eine Sitzdemonstration als Gewalt im Sinne des
90Urteil
vom 30.10.1986 (12 VG 2442/86), Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (NVwZ) (1987), S. 829–833. 91Vgl. zum rechtlichen Instrumentarium bereits Michael Kniesel/Udo Behrendes, Rechtsextremistische Demonstrationen und gewalttätige Gegenaktionen, in: Polizei-heute 29 (2001), S. 97–103, hier S. 100–103; aus jüngerer Zeit vgl. Hartmut Brenneisen/Dirk Staack, Einschließung von Störergruppen, in: Kriminalistik 70 (2017), S. 91–98. Da die polizeiinternen Vorschriften zum Umgang mit Einschließungen auf Bundes- und Länderebene als Verschlusssachen eingestuft sind, können sie hier nicht näher dargelegt werden. 92Vgl. den Beitrag von Ulrich Jan Schröder in diesem Band. 93BVerfGE 73, 206.
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Straftatbestandes der Nötigung (§ 240 StGB) einzustufen und damit gleichzeitig als unfriedliche Demonstrationsform im Sinne von Artikel 8 Absatz 2 GG anzusehen war – mit der Konsequenz, dass diese klassische Form des zivilen Ungehorsams94 dann außerhalb des verfassungsrechtlichen Schutzbereichs der Demonstrations- und Versammlungsfreiheit anzusiedeln wäre. Bis zur Entscheidung des BVerfG hatte die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (BGH) die generelle Rechtsauffassung zu dieser Ausgangsfrage dominiert. Mit seinem Laepple-Urteil95 hatte der BGH im Jahre 1969 den „vergeistigten Gewaltbegriff“ kreiert. In dem damals zu beurteilenden Sachverhalt hatte sich ein Straßenbahnfahrer angesichts von Sitzdemonstranten auf dem Gleisbett psychisch gehindert gesehen, die Protestierenden zu überfahren, da er ansonsten einen Totschlag begangen hätte. Eine solche psychische Zwangswirkung stelle Gewalt im strafrechtlichen Sinne dar.96 Diese Ausdehnung des Gewaltbegriffs auf passive Sitzdemonstrationen war für die Polizei über Jahrzehnte handlungsleitend, während insbesondere Aktivisten der Friedensbewegung darin geradezu den Prototyp einer zwar illegalen, aber gewaltfreien Protestform im Rahmen zivilen Ungehorsams sahen. Indem die Justiz Sitzdemonstrationen als Gewalt wertete und damit als unfriedlich einordnete, fühlte sich die Polizei häufig legitimiert, gegen diese Protestform mit ähnlichen Zwangsmitteln vorzugehen wie gegen aggressive Gewalttäter. So wurde insbesondere der Wasserwerfereinsatz gegen Sitzdemonstranten von Polizeiführern oft als Standardmittel angesehen. Das BVerfG stellte in seinem Mutlangen-Urteil fest, dass rein passive Sitzdemonstrationen nicht als unfriedlich im Sinne des Artikels 8 Abs. 2 GG
94Unter
zivilem Ungehorsam wird in der Tradition von Mahatma Gandhi und Martin Luther King zumeist die moralisch legitimierte Übertretung von Gesetzen verstanden, um dadurch öffentlichkeitswirksam auf einen mit der (jeweiligen) Gewissensfreiheit nicht zu vereinbarenden, (vermeintlichen) staatlichen bzw. gesellschaftlichen Missstand hinzuweisen. Aktivisten des zivilen Ungehorsams sehen es dabei als selbstverpflichtend an, dass im Rahmen dieser Protestform keine Menschen körperlich verletzt werden und dass man bereit ist, für die formalen Gesetzesüberschreitungen die (straf-)rechtlichen Folgen zu tragen. Vgl. aus der themenbezogenen Literatur der 1980er Jahr etwa Helmut Willems/Roland Eckert/Harald Goldbach/Toni Loosen/Bernd Woesner, Demonstranten und Polizisten – Motive, Erfahrungen und Eskalationsbedingungen, München 1988, S. 80. 95Klaus Laepple hatte im Oktober 1966 als AStA-Vorsitzender eine Sitzdemonstration gegen die Fahrpreiserhöhungen der Kölner Verkehrsbetriebe verantwortet und war als „Rädelsführer“ verurteilt worden. 96BGHSt 23, S. 46.
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e inzustufen sind, da nur aggressive Gewalttätigkeiten gegen Personen und Sachen dieses Kriterium erfüllten. Damit ist zunächst klargestellt, dass die Polizei nicht mehr automatisch gegen solche unfriedlichen Aktionen vorgehen muss, sondern nach der jeweils konkreten Situation abzuwägen hat, wie intensiv sich eine Sitzdemonstration auf die Bewegungsfreiheit der jeweiligen Betroffenen auswirkt. Allerdings können nach wie vor versammlungsrechtlich friedliche Sitzdemonstrationen je nach Fallgestaltung den Nötigungstatbestand (§ 240 StGB) erfüllen. Bis heute ist diese komplizierte Rechtsmaterie im Zuge weiterer Entscheidungen des BVerfG und des BGH nicht eindeutig geklärt worden.97 Insoweit bestehen in einer konkreten Situation vor Ort weiterhin große Unsicherheiten sowohl für diejenigen, die an dieser Protestform teilnehmen, als auch für die Polizei, die den jeweiligen Sachverhalt einerseits unter versammlungsrechtlichen und andererseits unter strafrechtlichen Aspekten beurteilen muss.
4.5 „Revolutionärer 1. Mai“ in Berlin-Kreuzberg Der 1. Mai 198798 war der Auftakt für die seitdem immer an diesem Feiertag bzw. in der davor liegenden „Walpurgisnacht“ nahezu rituell anmutenden gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen gewaltorientierten Demonstrantengruppen („Revolutionärer 1. Mai“), aber auch unpolitischen Gewalttätern und der Polizei.99 Die Ausschreitungen am 1. Mai 1987 entstanden aus einem konkreten politischen Zusammenhang heraus. Einen Tag zuvor hatte die Berliner Polizei ein Volkszählungsboykott-Büro durchsucht. Eine Spontandemonstration gegen diesen Einsatz wurde von der Polizei unterbunden. Bei einer „Resonanzaktion“ wurde dann ein Streifenwagen der Polizei von Autonomen umgeworfen. Dies war die Initialzündung für Straßenschlachten, bei denen die Polizei mit Steinen, Präzisionsschleudern und Molotowcocktails attackiert wurde, Straßen durch brennende Barrikaden abgeriegelt, geparkte Autos und Baufahrzeuge angezündet und Läden geplündert wurden. Die Polizei musste anschließend ganze Straßenzüge regelrecht zurückerobern.
97Vgl.
dazu den Beitrag von Ulrich Jan Schröder in diesem Band. zu den Abläufen der Ereignisse: Michael Stricker, Der 1. Mai 1987 – Demaskierung eines Mythos, Frankfurt a.M. 2016. 99Vgl. Christian Pape/Jonas Grutzpalk, Die 1. Mai-Krawalle in B erlin-Kreuzberg. Efferveszenz im Gewaltkarneval?, in: Polizei & Wissenschaft 13 (2012), H. 1, S. 42–51. 98Ausführlich
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Neben Autonomen waren an den Gewalttätigkeiten auch Gruppen mit türkischem Migrationshintergrund und unpolitische „erlebnisorientierte Jugendliche“ beteiligt – letztlich war keiner der insgesamt 47 Festgenommenen der autonomen Szene zuzurechnen.100 Die Polizei kennt somit spätestens seit diesem Ereignis das Phänomen, dass sich gewalttätige Auseinandersetzungen mit politischen Gruppen zu „Riots“ entwickeln können, bei denen sich aus der Situation heraus unpolitische Einzelpersonen und Gruppierungen an Gewalttätigkeiten und Plünderungen beteiligen. In den nächsten Jahren spielten sich jeweils zum 1. Mai auch ohne erneuten konkreten politischen Anlass regelmäßig ähnliche Szenarien ab wie im Jahr 1987. Für einige Gruppierungen stellten die rauschhaften Gewalterfahrungen als solche offensichtlich die alleinige Motivation zur Teilnahme an den ritualisierten Exzessen dar.101 Eine (nicht repräsentative) Untersuchung im Jahr 2009 zeigte, dass die große Mehrheit der festgenommenen Randalierer aus einer „erlebnisorientierten Motivation“ heraus handelten, etwa aus Zerstörungswut und aus Spaß am „Katz und Maus“-Spiel mit der Polizei.102 Insoweit erscheint die sozialwissenschaftliche Deutung der ritualisierten Abläufe als „Gewaltkarneval“ stimmig.103 Die Berliner Polizei entwickelte im Laufe der Jahre unterschiedliche Einsatzstrategien zum Umgang mit den wiederkehrenden Abläufen. Inzwischen setzt sie zumeist auf eine Deeskalationsstrategie, unter anderem mit „Anti-Konflikt-Teams“ in alltäglicher Uniform.104 In den letzten Jahren ging das Ausmaß der gewaltsamen Aktionen in der Gesamtbetrachtung zurück, wenngleich es im Jahr 2009 noch einmal zu größeren Ausschreitungen kam.105
4.6 Tödliche Schüsse auf Polizeibeamte beim Startbahn-West-Protest in Frankfurt Am 2. November 1987 kam es zur bislang folgenschwersten Gewalttat gegen die Polizei im Rahmen einer Demonstration in der Geschichte der Bundes-
100Ebd.,
S. 43. auch Stefan Kühl, Gewaltmassen. Zum Zusammenhang von Gruppen, Menschenmassen und Gewalt, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (2017), Nr. 4, S. 22–26, hier S. 25. 102Vgl. Pape/Grutzpalk, Die 1. Mai-Krawalle (wie Anm. 99), S. 46. 103Ebd., S. 42–51. 104Ebd., S. 46. 105Vgl. Lars Lapper, Der „Schwarze Block“ als militante Protestform, in: Deutsche Polizei 67 (2018), H. 2, S. 4–11, hier, S. 7. 101Vgl.
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republik. In den Abendstunden erinnerten Demonstrierende mit einem Fackelzug an den sechsten Jahrestag der Räumung des Hüttendorfes, das seinerzeit von Gegnern der Startbahn West auf dem Gelände des Frankfurter Flughafens errichtet worden war. Nach polizeilichen Feststellungen hatten sich ca. 150 bis 200 Teilnehmer vermummt, bei ca. zwanzig von ihnen wurde das Mitführen von Molotowcocktails beobachtet. Nach einer polizeilichen Auflösungsverfügung und dem Beginn von Räumungsmaßnahmen wurden Brandflaschen und Leuchtkugeln gegen die Polizei geworfen und brennende Barrikaden errichtet. Die Polizei setzte ihrerseits Wasserwerfer und Reizgas gegen die Randalierer ein. Ein damals 33-jähriger Mann, der fest in der linksautonomen Szene verankert war, gab in der Hochphase der Auseinandersetzungen gegen 21.00 Uhr aus größerer Distanz mehrere Schüsse auf die eingesetzten Polizisten ab. Klaus Eichhöfer und Thorsten Schwalm wurden dadurch tödlich, zwei weitere Beamte schwer verletzt.106 Ob der Täter, der später wegen Totschlags zu 15 Jahren Haft verurteilt wurde, allein handelte oder Mittäter bzw. Mitwisser hatte, konnte nicht eindeutig geklärt werden.107
4.7 Sozialwissenschaftliche Studien zum Themenfeld „Demonstranten und Polizisten“ Ende der 1980er Jahre wurden im Rahmen eines Forschungsprojekts des Deutschen Jugendinstituts108 und im Rahmen der Erörterungen der (Anti-) Gewaltkommission der Bundesregierung109 die Selbst- und Fremdbilder
106Vgl. Gerhard Kastl, Mord an der Startbahn, in: B ereitschaftspolizei-heute 15 (1987), Nr. 12, S. 5–10. 107Vgl. Frank Bachner, Die Toten von der Startbahn West, in: Der Tagesspiegel vom 2.11.2017. 108Willems/Eckert/Goldbach/Loosen/Woesner, Demonstranten (wie Anm. 94). 109Friedrich Lösel/Herbert Selg/Ursula Schneider, Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt aus psychologischer Sicht (Gutachten der Unterkommission I), in: Schwind/ Baumann u. a., Gewaltkommission Bd. 2 (wie Anm. 67), S. 1; Roland Eckert/Max Kaase/ Friedhelm Neidhardt/Helmut Willems, Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt aus soziologischer Sicht (Gutachten der Unterkommission III), in: ebd., S. 293.; Dieter Schwind/Jürgen Baumann/Ursula Schneider/Manfred Winter, Gewalt in der Bundesrepublik Deutschland, Endgutachten der Unabhängigen Regierungskommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt (Gewaltkommission), in: Dieter Schwind/Jürgen Baumann u. a. (Gewaltkommission), Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt, Bd. 1, Berlin 1990, S. 52–61.
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von Demonstrierenden und Polizisten, die wechselseitigen Attribuierungsprozesse, Handlungsmuster und Eskalationsbedingungen untersucht. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse sind auch heute noch relevant, zumal es anschließend keine weitergehenden, ähnlich breit angelegten Studien mehr gegeben hat. Die Erkenntnisse der sozialwissenschaftlichen Studien zu Eskalations- und Deeskalationsbedingungen wurden innerhalb der Polizei nur verhalten rezipiert. Rüdiger Bredthauer, damals wissenschaftlicher Mitarbeiter der Landespolizeidirektion Hamburg, konstatierte im Jahr 1996: „Für einen sozialwissenschaftlichen Berater ist es immer wieder ebenso erstaunlich wie frustrierend, wenn grundlegende Forschungsergebnisse der Sozialwissenschaften, die wegen ihrer polizeipraktischen Relevanz seit Jahren polizeibekannt sein sollten, mit großer Selbstverständlichkeit eklatant missachtet werden.“110
Leider würde der entsprechende Befund auch im Jahr 2019 in vielen Polizeibehörden kaum anders ausfallen.111
5 Die 1990er Jahre: Castor-Transporte und immer wieder „Rechts-Links-Demonstrationen“ Das seit den 1970er Jahren virulente Demonstrationsthema „Kernkraft“ bekam für die Polizei mit den Castor-Transporten eine neue, schwierig zu handhabende, mobile Facette. Einerseits musste gewährleistet werden, dass die Behälter mit hoch radioaktivem Material sicher an den Zielorten ankamen, und andererseits mussten Proteste gegen diese Transporte ermöglicht werden. Schon seit den 1950er Jahren hatte die Polizei Erfahrungen mit Veranstaltungen aus dem rechtsextremen Spektrum gesammelt.112 In den 1990er Jahren nahmen
110Rüdiger Bredthauer, Chaos-Tage. Möglichkeiten, Probleme und Perspektiven praktischer polizeilicher Deeskalation, in: Polizei-Führungsakademie (Hrsg.), Schriftenreihe der Polizei-Führungsakademie Bd. 4/1996: Deeskalation – Ein Begriff voller Missverständnisse!?, Lübeck 1996, S. 41–88, hier S. 57. 111Vgl. Norbert Kueß, Die Friedens- und Konfliktforschung als Grundlage einer bürgerorientierten und friedensstiftenden Handlungskompetenz der Polizei, in: Bernhard Frevel/ Hermann Groß (Hrsg.), Empirische Polizeiforschung XXII: Demokratie und Menschenrechte – Herausforderungen für die polizeiliche Bildungsarbeit, Frankfurt a.M. 2019, S. 28–58, hier S. 28–29. 112Vgl. dazu den Gesamtüberblick bei Kraushaar, Die Protestchronik (wie Anm. 4).
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entsprechende Veranstaltungen beständig zu und stellten insbesondere im Hinblick auf die regelmäßig parallel stattfindenden Gegendemonstrationen besondere Herausforderungen für die Polizei dar.
5.1 Grundprobleme bei Demonstrationen des rechten Spektrums und parallelen Gegendemonstrationen Bundesweit hat kaum eine Demonstration aus dem rechtspopulistischen bis rechtsextremistischen Spektrum stattgefunden, ohne dass parallel Gegendemonstrationen veranstaltet wurden, mal als Großdemonstrationen mit einem sehr breiten Teilnehmerkreis (von bürgerlichen bis linksextremistischen Gruppen), mal mit verschiedenen Einzeldemonstrationen unterschiedlicher Veranstalterkreise. Insoweit trifft die im Polizeijargon übliche Bezeichnung „Rechts-Links-Demonstrationen“ nicht den Kern solcher Konstellationen, da die Bündnisse gegen rechtsgerichtete Veranstaltungen zumeist äußerst heterogen sind. Sowohl die Ausgangs- als auch die Gegendemonstration stehen zunächst gleichermaßen unter dem Schutz des Artikels 8 GG. Im Rahmen „praktischer Konkordanz“113 haben die Versammlungsbehörde bzw. die Polizei grundsätzlich dafür zu sorgen, dass beide Veranstaltungen ungestört nebeneinander stattfinden können – genau dies ist aber häufig nicht das Ziel von Teilgruppen der Gegendemonstranten. Manche lokalen Aktionsbündnisse machen bereits durch ihre Namensgebung (zum Beispiel „Köln stellt sich quer“) deutlich, dass nicht die kommunikative Auseinandersetzung, sondern die Verhinderung rechter Aufmärsche angestrebt wird. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits Anfang der 1990er Jahre zu dieser Konfliktsituation Stellung genommen und verdeutlicht, dass der Grundrechtsschutz von Gegendemonstranten endet, wenn ihr Ziel die Verhinderung der Ausgangsdemonstration ist.114 In § 21 BVersG werden derartige Verhaltensweisen als Straftatbestand beschrieben: „Wer in der Absicht, nicht verbotene Versammlungen […] zu verhindern […] oder sonst ihre Durchführung zu vereiteln, […] grobe Störungen verursacht […] wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“ 113Vgl. dazu Michael Kniesel, in: Alfred Dietel/Kurt Gintzel/Michael Kniesel, Versammlungsgesetze, 17. Aufl. Köln 2016, S. 300. 114Beschluss vom 11.6.1991 – 1 BvR 772/90, vgl. Neue Juristische Wochenschrift (NJW) (1991), S. 2694–2695.
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Die Polizei hat daher in solchen Konstellationen den gesetzlichen Auftrag, illegale Aktionen von Meinungsgegnern zu unterbinden und entsprechende Straftaten zu verfolgen (Legalitätsprinzip nach § 163 Strafprozessordnung (StPO). Durch diese rechtlich gebotene Aufgabenwahrnehmung lässt sich die Polizei leicht als willfährige Unterstützerin der jeweiligen rechtsgerichteten Demonstration diffamieren („Deutsche Polizisten schützen die Faschisten“115), was wiederum nicht selten zu Solidaritätsbekundungen und letztlich auch zur aktiven Unterstützung von Blockadeaktionen durch Teilnehmerkreise führen kann, die sich in der Ausgangssituation nicht an rechtswidrigen und strafbaren Aktionen beteiligen wollten. Die „einsatzbegleitende Öffentlichkeitsarbeit“ hat im Hinblick auf solche komplexen rechtlichen und gruppendynamischen Gemengelagen immer mehr an Bedeutung gewonnen.116 Nach wie vor ist es für die jeweilige Polizeiführung im öffentlichen Diskurs oft nicht einfach, unter Hinweis auf die Rechtslage eine klare Haltung zu populistischen Forderungen von Politikern, Medien und anderen gesellschaftlichen Kreisen einzunehmen und sich gegen den immer wieder geäußerten populistischen Vorwurf zu wehren, „auf dem rechten Auge blind“ zu sein.117
5.2 Castor-Transporte Mit dem Transport hoch radioaktiven Mülls aus dem baden-württembergischen Atomkraftwerk Philippsburg zur Zwischenlagerstätte im niedersächsischen Gorleben am 24. April 1995 begann eine Serie von Castor118-Transporten. Neben bundesweit aktiven Kernkraftgegnern sowie ebenfalls aus dem gesamten Bundesgebiet anreisenden Autonomen protestierte gerade auch die Bevölkerung im bäuerlich geprägten Wendland beharrlich gegen die Lagerung der radioaktiven
115Dieser Sprechchor wird seit Jahrzehnten immer wieder skandiert, wenn die Polizei z. B. Blockaden rechtsgerichteter Demonstrationen auflöst. 116Vgl. dazu Thomas Kubera/Helmut Marhauer/Ulrich Seidel, Kommentar zur PDV 100, Nr. 4.4.1–4.4.7.4, in: Klaus Neidhardt (Hrsg.), Handbuch für Führung und Einsatz der Polizei. Kommentar zur PDV 100, Stuttgart u. a., Stand: 49. Ergänzungslieferung Oktober 2013, Nr. 4.4, S. 29–32. 117Vgl. ein Praxisbeispiel dazu bei Udo Behrendes, Polizeiliche Verantwortung und politische Erwartungen, in: Lena Lehmann/Rainer Prätorius (Hrsg.), Polizei unter Stress?, Frankfurt a.M. 2013, S. 35–53, hier S. 43–45. 118Cask for storage and transport of radioactive material = Behälter zur Aufbewahrung und zum Transport radioaktiven Materials.
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Stoffe in ihrem Wohnumfeld. Die Castor-Transporte (neben Gorleben war insbesondere auch das nordrhein-westfälische Zwischenlager Ahaus betroffen) führten stets zur bundesweiten Rekrutierung von bis zu 30.000 Einsatzkräften, die dann jeweils für mehrere Tage unter nicht selten schwierigen Rahmenbedingungen arbeiten mussten.119 Die Polizei hat sich im Laufe der Jahre hinsichtlich der logistischen Bewältigung solcher Dauerlagen zunehmend professionalisiert. Bei den Protesten auf den Transportstrecken wurde die Polizei immer mit höchst unterschiedlichen Demonstrantengruppen und Aktionsformen konfrontiert. Insgesamt wurden im Laufe der Jahre die dialogorientierten Komponenten der Einsatzkonzeptionen verstärkt. Dies führte in der Gesamtbetrachtung zu einer kontinuierlichen Abnahme von punktuellen Eskalationen.120 Auch das „Komitee für Grundrechte und Demokratie“, eine 1980 gegründete, der Friedensbewegung nahestehende Bürgerrechtsorganisation,121 kommt unter der Überschrift „10 Jahre Demonstrationsbeobachtung im Wendland“ unter anderem zu folgendem Resümee: „Neben aller Kritik am polizeilichen Vorgehen ist jedoch auch festzustellen, dass die Polizei in den letzten Jahren im Wendland oft gelassener und mit weniger unmittelbarer Gewalt gegen Demonstrierende vorging. Wasserwerfer und Schlagstock zählen nicht mehr zu ihren selbstverständlichen Gewaltmitteln.“122
6 Seit dem Jahr 2000: Internationaler Protest und regionales Versammlungsrecht Im Zeitraum 2000 bis 2018 beteiligten sich, insbesondere bei Protesten gegen die globalisierte Wirtschaft und ihre Folgen, zunehmend auch Teilnehmer aus anderen Ländern an den Aktionen – darunter auch Angehörige ausländischer
119Vgl.
Ritter, Geschlossene Einheiten (wie Anm. 74), S. 142. Ulrich Driller, „Wir können auch anders“ – „Wir aber nicht“. Möglichkeiten und Grenzen des polizeilichen Konzeptes „Konfliktmanagement“ im Castor-Einsatz 2001, in: Polizei & Wissenschaft 2 (2001), H. 3, S. 29–50, hier S. 29; zum gesamten Einsatzverlauf vgl. Hans Reime, Castor-Transport 2001 nach Gorleben – eine erneute Herausforderung für die Polizeien der Länder und des Bundes, in: Die Polizei 92 (2001), S. 227–234. 121Vgl. Wolf-Dieter Narr, (Alt-)Bundesdeutsche Bürger- und Menschenrechtsorganisationen, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 50 (1995), S. 17–22. 122Komitee für Grundrechte und Demokratie (Hrsg.), Demonstrationsrecht – zum politisch-polizeilichen Umgang mit einem „störenden“ Grundrecht, Köln 2005, S. 45. 120Vgl.
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militanter Gruppen. Die deutsche Polizei wurde hiermit insbesondere bei „Gipfel-Veranstaltungen“ und Protesten der „Blockupy-Bewegung“ konfrontiert. Parallel zu dieser zunehmenden Internationalisierung des Protestgeschehens erhielten die Bundesländer im Zuge der Föderalismusreform 2006 die Möglichkeit, eigene Versammlungsgesetze zu gestalten. Ein Polizeieinsatz zur Räumung eines Parkgeländes im Zuge der Proteste gegen den Ausbau des Stuttgarter Hauptbahnhofs („Stuttgart 21“) wurde für die Polizei auch deshalb zum Skandaleinsatz, weil die politische Einflussnahme auf das polizeiliche Vorgehen deutlich im Raume stand.
6.1 Föderalismusreform zersplittert Versammlungsrecht Das aus dem Jahr 1953 stammende BVersG wurde vom Gesetzgeber nie umfassend evaluiert und novelliert, sondern immer nur punktuell erweitert.123 Die Föderalismusreform im Jahr 2006 hat dann zu länderspezifischen Modifizierungen und damit zu einem versammlungsrechtlichen Flickenteppich geführt.124 Diejenigen Bundesländer, die bislang von der neuen Gesetzgebungskompetenz Gebrauch gemacht haben, regeln nun Einzelaspekte anders als das BVersG (das in den Ländern weitergilt, die von ihrer neuen Gesetzgebungskompetenz noch keinen Gebrauch gemacht haben). Dabei haben sie durch einzelne Vorschriften und semantische Neuschöpfungen zum Teil eher Verwirrung gestiftet, als zur Normenklarheit beigetragen.125 Vorschläge zu einer umfassenden Novellierung und Harmonisierung des Versammlungsrechts, die 2006 durch eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe126 und 2011 durch den wissenschaftlichen „Arbeitskreis Versammlungsrecht“127 vorgelegt worden sind, wurden nicht oder nur in einzelnen Punkten aufgegriffen. Auch
123Vgl.
den Beitrag von Ulrich Jan Schröder in diesem Band. den Überblick bei Hartmut Aden, Versammlungsfreiheit – zehn Jahre nach der Föderalismusreform, in: Vorgänge 52 (Nr. 213) (2016), H. 1, S. 7–18. 125Vgl. Michael Kniesel, Neue Versammlungsgesetze – Neues Versammlungsrecht? in: Vorgänge 52 (Nr. 213) (2016), H. 1, S. 19–36. 126Vgl. Kurt Gintzel, Beabsichtigte Länderversammlungsgesetze – ein vermeidbares Ärgernis, in: Die Polizei 101 (2010), S. 1–7. 127Christoph Enders/Wolfgang Hoffmann-Riem/Michael Kniesel/Ralf Poscher/Helmuth Schulze-Fielitz, Musterentwurf eines Versammlungsgesetzes, München 2011. 124Vgl.
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wenn es in einigen Landesgesetzen nun durchaus bessere Einzelbestimmungen zu Themen wie zum Beispiel dem Vermummungsverbot oder dem polizeilichen Videografieren als im BVersG gibt,128 führen unterschiedliche landesgesetzliche Regelungen gerade bei Großdemonstrationen mit überregionalen Teilnehmerkreisen und Polizeikräften aus unterschiedlichen Bundesländern zu erhöhtem Informations- und Schulungsbedarf und bergen damit letztlich die Gefahr von (zusätzlichem) Fehlverhalten auf beiden Seiten.
6.2 G8-Gipfel in Heiligendamm Anlässlich des G8-Gipfels im Juni 2007 wurde der Tagungsort in Heiligendamm durch einen kilometerlangen Zaun abgesperrt. Die Hauptkundgebung der Proteste fand daher mit rund 50.000 Teilnehmern in Rostock statt. Auf der Grundlage konstruktiv verlaufener Kooperationsgespräche mit der Veranstalterebene setzte die Polizeiführung auf ein Deeskalationskonzept und hielt die sichtbare polizeiliche Präsenz bei dem Demonstrationszug bewusst zurück. Nach einem zunächst störungsfreien Verlauf der Veranstaltung verübten einzelne autonome Gruppen unter anderem Sachbeschädigungen an einer Bankfiliale und griffen dann äußerst gewalttätig zwei einzeln abgestellte Polizeifahrzeuge und ihre Insassen an. Infolge dieser zunächst noch punktuellen Gewalttätigkeiten und der polizeilichen Reaktionen darauf eskalierte anschließend das Gesamtgeschehen. Rund 2.000 Autonome beteiligten sich dabei an den gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei.129 Bei der Aufarbeitung der Geschehnisse wurde deutlich, dass der Beginn der Gewalttätigkeiten in erster Linie auf Gruppierungen zurückzuführen war, die aus dem Ausland angereist waren und die sich offensichtlich nicht dem auf Friedlichkeit ausgelegten Grundkonsens der Veranstaltung verpflichtet gefühlt hatten.
6.3 „Stuttgart 21“ und die „Wutbürger“ In den 2010er Jahren vergrößerte sich nochmals das Spektrum derjenigen, die für ihre politischen Anliegen auf die Straße gingen. Der Begriff „Wutbürger“ wurde
128Vgl. Überblick bei Hartmut Brenneisen, Zwischenbilanz: Das Versammlungsrecht im Lichte der Föderalismusreform I, in: Die Polizei 108 (2017), S. 221–227. 129Vgl. als Überblick Ritter, Geschlossene Einheiten (wie Anm. 74), S. 142–143.
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dabei zunächst als Bezeichnung für Menschen aus dem überwiegend bürgerlichen Spektrum gebraucht, die häufig regional gegen Großprojekte wie Flughäfen und Stromtrassen protestierten. Während die Bezeichnung in der Anfangsphase vorrangig mit dem Bahnprojekt „Stuttgart 21“ konnotiert wurde, wird sie inzwischen jedoch auch als Label für die Angehörigen der rechtsgerichteten „PEGIDA“-Bewegung benutzt.130 Der Konflikt um das Großprojekt „Stuttgart 21“ verhärtete die Fronten in Politik und Gesellschaft in dieser Region und hatte auch großen Einfluss auf die baden-württembergische Landtagswahl im Jahr 2011.131 Das Protestbündnis gegen den Bahnhofsumbau stellte sich in seiner Binnenstruktur anders dar als die vielfach in den 1970er Jahren entstandenen Bürgerinitiativen. Nach einer Studie des Wissenschaftszentrums Berlin waren über sechzig Prozent der Protestierenden zwischen 40 und 64 Jahren alt, fünfzig Prozent der Teilnehmer verfügten über eine akademische Bildung, 55 Prozent arbeiteten als Angestellte, Beamte oder Freiberufler.132 Auch wenn die regionale Kerngruppe der Protestbewegung somit anders strukturiert war, als man es von vielen Demonstrationen kannte, beteiligten sich an Großveranstaltungen jeweils auch überregionale Gruppen, die zum Teil auch gewaltbereit agierten. Nachdem es bereits seit 2009 immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen Protestgruppen und der Polizei gekommen war, eskalierte die Lage im Rahmen einer Räumungsaktion im Stuttgarter Schlossgarten am sogenannten Schwarzen Donnerstag (30. September 2010), bei der es letztlich mehr als hundert verletzte Polizisten und Demonstrierende gab. Am Folgetag protestierten mehr als 60.000 Menschen gegen den Polizeieinsatz. Mit den Ereignissen beschäftigten sich anschließend sowohl Straf- und Verwaltungsgerichte als auch zwei parlamentarische Untersuchungsausschüsse. Die parlamentarische Aufarbeitung sollte insbesondere die Frage klären, ob und inwieweit die Landesregierung Druck auf die Einsatzplanung und - durchführung der Stuttgarter Polizei ausgeübt hatte. Auch wenn die Bewertungen dazu zwischen den Landtagsparteien strittig waren, sprechen viele Indizien von
130Vgl. als Überblick Norbert Kersting/Wichard Woyke, Vom Musterwähler zum Wutbürger? Politische Beteiligung im Wandel, Münster 2012, S. 89–112. 131Ebd., S. 89. 132Vgl. Norbert Kueß, Prinzipien und Hintergründe bürgerlicher Protestformen – Herausforderungen für die Ethik polizeilichen Handelns, in: Die Polizei 104 (2013), S. 254–261, hier S. 255.
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einem „Klima der Erwartungen“, das von Seiten der Landesregierung gegenüber der Polizeiführung aufgebaut worden war und das letztlich zu einem unter großer Hektik geplanten Räumungseinsatz geführt hatte.133
6.4 Die Occupy-Bewegung Die Finanzmetropole Frankfurt am Main wurde zum deutschen Symbolort der neuen Bewegung, die sich seit dem Jahr 2011 im Zuge der weltweiten Finanzkrise in den USA und verschiedenen europäischen Ländern gebildet hatte.134 Nach ebenfalls konfrontativen Verläufen bei ähnlichen Anlässen in den Vorjahren kam es bei der Eröffnung der Europäischen Zentralbank am 18. März 2015 zu massiver Gewalt. An dem von der „Blockupy“-Bewegung ausgerufenen Aktionstag in Frankfurt nahmen zahlreiche autonome Gruppierungen aus dem In- und Ausland teil. Während die angemeldeten Protestkundgebungen mit bis zu 20.000 Teilnehmern weitgehend friedlich verliefen, randalierten zuvor mehrere militante Großgruppen in den frühen Morgenstunden in der Frankfurter Innenstadt. Sie setzten Fahrzeuge in Brand, zerschlugen Fensterscheiben und attackierten polizeiliche Einsatzkräfte mit Steinwürfen. Die Polizei war von diesen offensichtlich gezielt geplanten Gewalttaten, die örtlich und zeitlich abgesetzt von den eigentlichen Protestveranstaltungen abliefen, überrascht und konnte daher über längere Zeit nicht angemessen darauf reagieren.135
6.5 G20-Gipfel in Hamburg Der G20-Gipfel am 7./8. Juli 2017 in Hamburg führte mit rund 31.000 eingesetzten Beamten zum bis dahin personalstärksten Polizeieinsatz in der Geschichte der Bundesrepublik. Ausgangslage war die Gewährleistung der Sicherheit der Gipfelteilnehmer und der Abläufe der Veranstaltungen. Parallel
133Vgl. Beatrice Böninger/Martin Herrnkind/Uli Sckerl (Hrsg.), Sieg der Spatzen. Das Urteil zum Polizeieinsatz am 30.9.2010 in Stuttgart und warum ein Bürgerbeauftragter notwendig ist, Karlsruhe 2017, S. 27–34. 134Vgl. als Überblick Kersting/Woyke, Vom Musterwähler (wie Anm. 130), S. 112–121. 135Vgl. Lars Lapper, Der „Schwarze Block“ als militante Protestform, in: Deutsche Polizei 67 (2018), H. 2, S. 4–11, hier S. 9.
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dazu musste die Polizei mit zahlreichen Protestveranstaltungen umgehen und wollte insgesamt (in Umsetzung der politischen Absichtserklärungen) die Auswirkungen auf die Bevölkerung möglichst gering halten. Da man mit umfangreichen Blockadeaktionen der Protestteilnehmer im Bereich der Tagungs- und Aufenthaltsorte und auf den Fahrtstrecken der Delegierten sowie mit massiven Gewalttätigkeiten rechnete, erließ man per Allgemeinverfügung ein großräumiges Versammlungsverbot auf einer Gesamtfläche von 38 Quadratkilometern. Darüber hinaus lehnte man die Einrichtung von geplanten Zelt-Camps für die mehreren tausend Protestteilnehmer ab. Von diesen Maßnahmen, die darauf zielten, Gewalttaten und Blockadeaktionen zu verhindern bzw. zu erschweren, war allerdings auch die Mehrzahl aller Demonstrationsteilnehmer betroffen, die sich nicht an solchen Aktionen beteiligen wollten. Der Abschlussbericht des Sonderausschusses der Hamburgischen Bürgerschaft zur Aufarbeitung der Geschehnisse bewertete dies wie folgt: „Die weiträumige Allgemeinverfügung sowie die Untersagung der Camps offenbarten ein Dilemma. Während diese einerseits aus polizeilichen Sicherheitserwägungen nachvollziehbar waren, belasteten sie andererseits das Klima zwischen Polizei und Protestierenden aus verschiedenen Lagern.“136
Insgesamt kam es letztlich in Hamburg zu fast 150 demonstrativen Aktionen mit Bezug zum G20-Gipfel, von denen weit über 95 Prozent friedlich und rechtmäßig verliefen. In den Abendstunden des 6. Juli 2017 stoppte die Polizei eine angemeldete Großdemonstration („Welcome to Hell“) mit rund 12.000 Teilnehmern, weil im vorderen Bereich mehrere hundert Personen nicht bereit waren, ihre Vermummung abzulegen. Als die Polizei versuchte, gezielt gegen diese Gruppierungen vorzugehen, kam es zu massiven gewalttätigen Auseinandersetzungen. Am Morgen des nächsten Tages verübte, zeitlich und örtlich abgesetzt von den geplanten Demonstrationen und den Örtlichkeiten des G20-Gipfels, eine Gruppierung von ca. hundert vermummten Gewalttätern massive Sachbeschädigungen, schlug Fensterscheiben ein und setzte Pkw in Brand. Die Hamburger Polizei wurde, wie zwei Jahre zuvor die Polizei in Frankfurt am Main, von diesen „Out-of-Control“-Aktionen überrascht.
136Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg, Drucksache 21/14350 vom 20.9.2018, S. 12.
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Am Abend kam es im Schanzenviertel zu Barrikadenbau, massiven Sachbeschädigungen und brutalen Angriffen auf Polizeibeamte. In der Folge beteiligten sich auch Personen, die nicht an Protestaktionen gegen den G20-Gipfel teilgenommen hatten, an den Ausschreitungen, insbesondere auch an der Plünderung eines Lebensmittelgeschäfts. Der Polizei gelang es an einzelnen Örtlichkeiten über mehrere Stunden nicht, die „Riots“ zu beenden und die Tatverdächtigen festzunehmen. Gegen Gewalttäter, die von Hausdächern aus die Polizei mit Wurfmaterial attackierten, wurde letztlich ein Spezialeinsatzkommando (SEK) eingesetzt, das den Dachkantenbereich mit Gummigeschossen aus 40-mm-Waffen beschoss und die Türen des Hauses mit Sprengmitteln öffnete, um zu den Gewalttätern zu gelangen. Bei der Abschlussdemonstration mit über 50.000 Teilnehmern am 8. Juli 2018 waren ca. fünfzig Autonome nicht bereit, ihre Vermummung abzulegen. Die Polizei ging zielgerichtet gegen diese Gruppe vor, die sich mit massiver Gewalt gegen die polizeilichen Maßnahmen zur Wehr setzte. Die Gesamtdemonstration konnte anschließend fortgesetzt werden und verlief dann weitgehend störungsfrei.137 Nach Bewertung der Hamburger Polizei waren die treibenden Kräfte bei den verschiedenen Ausschreitungen rund um die Gipfel-Proteste vor allem aus dem Ausland angereiste Gewalttäter.138
7 Thesen für ein (Zwischen-)Fazit Auf Grundlage der dargestellten rechtlichen Entwicklungen, polizeilichen Erfahrungen und wissenschaftlichen Erkenntnisse sollen im Folgenden Thesen für ein erstes Fazit zu der eingangs aufgeworfenen Fragestellung aufgestellt werden, welchen Lernprozess die Polizei der Bundesrepublik Deutschland in
137Vgl. zu den hier stark komprimiert geschilderten Abläufen ausführlich: Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg, Drucksache Nr. 21/20, Protokoll der öffentlichen Sitzung des Innenausschusses am 19.7.2017; sowie die Protokolle der anschließenden Sitzungen des Sonderausschusses „Gewalttätige Ausschreitungen rund um den G20-Gipfel in Hamburg“. Vgl. aus polizeikritischer Sicht: Komitee für Grundrechte und Demokratie, Geschichte der Eskalation eines einwöchigen Protestgeschehens. Demonstrationsbeobachtung des Komitees für Grundrechte und Demokratie vom 2. bis 8. Juli 2017 in Hamburg zum G 20, Köln 2017. 138Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg, Drs. 21/14350 (wie Anm. 136), S. 14.
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rund siebzig Jahren Protestkultur durchlaufen hat und wie der aktuelle Stand des Protest Policing beschrieben und bewertet werden kann.
7.1 Professionalisierung des Protest Policing – Polizei als Mit-Garant einer offenen Gesellschaft Die deutsche Polizei hat sich in der Gesamtbetrachtung beim Umgang mit den vielfältigen Protestformen während der letzten Jahrzehnte nachhaltig professionalisiert. Sie beachtet in aller Regel die gesetzlichen Vorgaben und die in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze für die Rechtsanwendung. Auch mit provozierenden und aggressiven Aktionsformen geht sie meist besonnen und um Verhältnismäßigkeit bemüht um. Demonstrationseinsätze gehören heute zum Alltagsgeschäft der Polizei, insbesondere für die in geschlossenen Einheiten139 organisierten Bereitschaftspolizeien der Länder und des Bundes. Politischer Protest wird aus der polizeilichen Binnenperspektive, anders als in den 1950er und 1960er Jahren, nicht mehr per se als staatsfeindlich verortet, sondern (im Sinne der Beschreibungen im Brokdorf-Beschluss des BVerfG) als Funktionselement einer lebendigen Demokratie verstanden, dessen Wahrnehmung die Polizei nicht zu unterdrücken, sondern zu gewährleisten und zu schützen hat.140 Im aktuellen „Atlas der Zivilgesellschaft“ (2018) wird Deutschland weltweit zu den „offenen“ 22 (von 194 beurteilten) Staaten gezählt, in denen „Demonstrierende grundsätzlich von der Polizei geschützt werden“ und die „Gesetze zur Regelung des Versammlungsrechts internationalen Standards entsprechen“. Deutschland wird daher in dem zugrunde gelegten fünfstufigen Bewertungssystem in die erste Kategorie eingeordnet.141
139Die Gliederung dieser Einheiten erfolgt nach wie vor in „Zügen“ (rund 30 Beamte), „Hundertschaften“ (mehrere Züge) und „Abteilungen“ (mehrere Hundertschaften); hinzu kommen in den meisten Ländern noch „Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten“ und „Technische Einsatzeinheiten“ (die zum Beispiel über Wasserwerfer und Räumfahrzeuge verfügen). 140Vgl. Martin Winter, Protest policing und das Problem der Gewalt, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen 11 (1998), H. 4, 68–81, hier S. 72. 141Christian Jakob/Maren Leifker/Christine Meissler, Shrinking Space – Druck auf die Zivilgesellschaft, in: Brot für die Welt (Hrsg.), Atlas der Zivilgesellschaft, Berlin 2018, S. 8–11.
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7.2 Zum Umgang mit (partei-)politischen Einflussnahmen auf das Protest Policing Zu allen Zeiten hat es (partei-)politische Einflussnahmen auf das Protest Policing gegeben. In der heutigen Zeit erfolgen entsprechende Vorgaben von Innenministern oder Ministerpräsidenten etwa durch Formulierungen, dass die Polizei „niederschwellig einschreiten“ oder eine „Null-Toleranz-Strategie bei Rechtsverstößen“ verfolgen solle. Solche Äußerungen finden sich besonders häufig im Hinblick auf Demonstrationen des rechten Spektrums, manchmal auch mit der Forderung nach einer „außerordentlich weit gehenden Auslegung des Rechts“.142 Das generelle Verhältnis von Polizei und Politik beschreibt die PDV 100 unter „Rolle und Selbstverständnis“ wie folgt: „Polizeiliches Handeln muss – über die Bindung an Recht und Gesetz hinaus – politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Rahmenbedingungen berücksichtigen […] Als Folge des Primats der Politik sind erfüllbare politische Leitlinien erforderlich.“143
Im Kommentar zur PDV 100 wird dieses Grundverständnis explizit im Hinblick auf das Versammlungsrecht betont: „Mit Recht wird von der Polizei erwartet, dass Strategien der Politik und bestehende Leitlinien bei der Planung und Durchführung von Demonstrationseinsätzen beachtet werden.“144 Zum Verhältnis von Polizei und Politik finden sich aber auch folgende Aussagen in der PDV 100: „Gesellschaftliche Probleme sind mit politischen, nicht mit polizeilichen Mitteln zu lösen. […] Bei demokratischen Auseinandersetzungen hat sich die Polizei thematisch neutral zu verhalten.“145
Im Beziehungsgeflecht von politischer und polizeifachlicher Verantwortung sollte damit in der Gesamtbetrachtung, trotz der zumindest missverständlichen Formulierungen der PDV 100, allen klar sein, dass für die Polizei das Primat des
142Kubera/Marhauer/Seidel,
Kommentar zur PDV 100 (wie Anm. 116), Nr. 4.4, S. 9. Nr. 1.1 der PDV 100, Stand 2018. 144Kubera/Marhauer/Seidel, Kommentar (wie Anm. 116), Nr. 4.4, S. 9. 145Vgl. Nr. 1.1 der PDV 100, Stand 2018. 143Vgl.
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Rechts und nicht das Primat der Politik gilt. Je mehr ein Themenfeld das Rechtshandeln der Polizei berührt, umso weniger hat (partei)politische Einflussnahme zu erfolgen. In den allermeisten Fällen wird dies in der Praxis auch beherzigt, zumal Polizeiführungen seit den 1960er Jahren in manchen parlamentarischen Untersuchungsausschüssen erlebt haben, dass politische Einflussnahmen im Nachhinein von der Öffentlichkeit stark kritisiert worden sind und damit dann auch der Polizeieinsatz selbst in einem problematischen Licht erschien. Je mehr sich die Polizei insgesamt von ihrer vorrangigen Staatsorientierung der 1950er und 1960er Jahre zu einer Bürger(rechts)orientierung gewandelt hat,146 umso mehr hat sie sich auch von der Etikettierung, „Büttel der Politik“ zu sein, emanzipiert. Letztlich wird es aber wohl immer auf die persönliche Haltung des für den konkreten Polizeieinsatz fachlich Verantwortlichen ankommen, ob und in welcher Form politische Einflussnahme in polizeiliches Handeln oder Nichthandeln einmündet.147
7.3 Umsetzung des Kooperationsgebots Mit dem Kooperationsgebot hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Brokdorf-Beschluss aus dem Jahr 1985 deutlich gemacht, dass Versammlungsbehörde bzw. Polizei und Veranstalter gemeinsam dafür in der Verantwortung stehen, dass sich die Demonstrationsfreiheit im Sinne von Art. 8 GG friedlich entfalten kann. Das setzt voraus, dass beide Seiten sich aktiv bemühen, eine tragfähige Dialogbasis herzustellen. Das (formale) Angebot von Kooperationsgesprächen ist bundesweit seit Langem Standard bei Versammlungsbehörden und Polizei, keinen Standard gibt es aber hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung. „Freundliche Atmosphäre schaffen“ ist sicherlich ein gut gemeinter Rat,148 damit allein wird aber das Herstellen einer Verantwortungspartnerschaft nicht gelingen. Dies gilt insbesondere dann, wenn Versammlungsbehörde bzw. Polizei solche Gespräche eher im Stil einer Anhörung des Antragstellers in einem Verwaltungs-
146Vgl. dazu generell Udo Behrendes, Orientierungspunkte einer Bürger(rechts)polizei, in: Bernhard Frevel/Hermann Groß (Hrsg.), Empirische Polizeiforschung XV: Konzepte polizeilichen Handelns, Frankfurt a.M. 2013, S. 112–139. 147Generell zu Fragen der Konfliktlösung zwischen politischer und professioneller Polizeiführung vgl. Behrendes, Polizeiliche Verantwortung (wie Anm. 117), S. 35–53. 148Kubera/Marhauer/Seidel, Kommentar (wie Anm. 116), Nr. 4.4, S. 28.
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verfahren durchführen149 und die Lösung der strittigen Fragen bewusst zum Verwaltungsgericht verlagern. Aus behördlicher Sicht darf Kommunikation sich somit eben nicht darauf beschränken, geplante Eingriffsmaßnahmen zu erläutern und auf den Rechtsweg hinzuweisen. Die Formulierung des schleswig-holsteinischen Versammlungsgesetzes: „Aufgabe der zuständigen Behörde ist es, die Durchführung einer nach Maßgabe dieses Gesetzes zulässigen Versammlung zu unterstützen“,150 bringt treffend auf den Punkt, dass Versammlungsbehörde und Polizei sich zunächst gegenüber den Veranstaltern in der Rolle des Dienstleisters sehen müssen. Ausgehend von der in einem aufgeheizten politischen Klima mustergültig gelungenen Kooperation beim „Sternmarsch auf Bonn“ am 11. Mai 1968 hat es viele Beispiele für einen konstruktiven Dialog auch bei brisanten Ausgangslagen gegeben; die Erfahrungen hieraus sollten (mehr) genutzt werden. In jüngster Zeit bemängelte etwa der Sonderausschuss der Hamburgischen Bürgerschaft zur Aufarbeitung des G20-Gipfels, dass die „Polizei […] zu wenig Spielräume für deeskalierende Kommunikation gesucht und genutzt hat“.151 In Zukunft solle die Polizei daher mehr Wert auf den Aufbau und die Pflege stabiler Kommunikationsbeziehungen legen und eine „regelmäßige Gesprächsebene mit Schlüsselakteuren“ schaffen.152
7.4 Umsetzung des Differenzierungsgebots Der Polizei ist bewusst, dass weit über 95 Prozent aller Demonstrationen friedlich und rechtmäßig verlaufen.153 Sie weiß darüber hinaus, dass auch innerhalb einer
149Vgl. auch Peer Stolle, Die Versprechungen der Versammlungsfreiheit und ihre tatsächlichen Grenzen. Ein Erfahrungsüberblick aus der anwaltlichen Praxis, in: Vorgänge 52 (Nr. 213) (2016), H. 1, S. 37–43, hier S. 38–39. 150Der Gesetzestext in § 3 Abs. 2 des Versammlungsfreiheitsgesetzes für das Land Schleswig-Holstein vom 18.6.2015 geht auf den Musterentwurf des Arbeitskreises Versammlungsrecht zurück; vgl. Enders/Hoffmann-Riem/Kniesel/Poscher/Schulze-Fielitz, Musterentwurf (wie Anm. 127), S. 19–21. 151Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg, Drucksache 21/14350 vom 20.9.2018, S. 14. 152Ebd., S. 17. 153Von 1970 bis 1996 wurde im Bundesinnenministerium eine bundesweite Demonstrationsstatistik geführt. Danach wurden im Durchschnitt dieses Gesamtzeitraumes rund ein Prozent aller Demonstrationen von der Polizei als „gewalttätig“ eingestuft. Vgl. Kubera/Marhauer/Seidel, Kommentar (wie Anm. 116), Nr. 4.4, S. 7.
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„problematischen“ Demonstration häufig nur eine Teilgruppe für Gewalttätigkeiten in Betracht kommt. Die polizeiliche Wahrnehmung von Demonstrationsteilnehmern als „akute Masse“, die homogen agiert und durch einzelne „Rädelsführer“ gesteuert wird, hat sich seit Mitte der 1960er Jahre langsam, aber kontinuierlich der sozialen Wirklichkeit angenähert. Obwohl die Polizei also von der Heterogenität der Demonstrationsstrukturen weiß (insbesondere im Hinblick auf die Gewaltaffinität), fokussiert sie sich sowohl bei der Einsatzvorbereitung als auch bei der Umsetzung vor Ort jedoch häufig auf die „Problemgruppen“ und stimmt sowohl das gesamte versammlungsrechtliche Instrumentarium als auch das einsatztaktische Auftreten und Handeln darauf ab. Damit erweckt sie (zumeist ungewollt) auch bei friedlichen Teilnehmern immer wieder den Eindruck, dass sie ebenfalls für potenziell gefährlich gehalten oder als bloße „Steigbügelhalter“ für gewalttätige Gruppen betrachtet werden. Ein solcher, als undifferenziert wahrgenommener Umgang kann dann zu Misstrauen, Verärgerung und letztlich zu Solidarisierungsprozessen mit tatsächlichen „Problemgruppen“ führen.154 Eine weitere wichtige Herausforderung für die Polizei im Rahmen des Differenzierungsgebots ist ein angemessener Umgang mit Formen des zivilen Ungehorsams bzw. mit Verhaltensweisen im Rahmen gewaltfreier Aktionen,155 wie zum Beispiel Sitzblockaden und ähnliche Vorgehensweisen. Spätestens mit dem Mutlangen-Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1986 ist endgültig klargestellt worden, dass entsprechende Verhaltensweisen nicht „unfriedlich“ im Sinne der Gewährleistungsschranken des Artikels 8 GG sind. Gleichwohl sind solche Aktionsformen häufig rechtswidrig und zwingen die Polizei in den meisten Fällen auch zum präventiven (zum Beispiel Auflösung einer Blockade) und oft auch repressiven Handeln (zum Beispiel Personalienfeststellung zur Verfolgung einer Straftat). Die Polizei bemüht sich heute in der Regel darum, den friedlichen Impetus der gewaltfreien Aktion aufzunehmen und alles zu vermeiden, was zu einer Eskalation der Situation beitragen könnte. Sie verzichtet daher (anders als noch bis in die 1980er Jahre) bei derartigen Aktionen inzwischen weitgehend auf Zwangsmittel, die die körperliche Unversehrtheit beeinträchtigen können. Es gilt heute als polizeilicher Standard, dass mit Sitzdemonstranten in aller Regel
154Vgl.
dazu auch Bredthauer, Chaos-Tage (wie Anm. 110), S. 62–63. Terminus „Gewaltfreie Aktion“ beinhaltet die Ablehnung physischer und psychischer Verletzungen in der Methodik und weist gleichzeitig auf das aktive Moment im Vorgehen hin. Vgl. Kueß, Prinzipien (wie Anm. 132), S. 257. 155Der
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zunächst geduldig geredet wird und sie später nicht per Wasserwerfer und Reizgas von der Straße vertrieben, sondern eventuell weggetragen werden.
7.5 Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle im interaktiven Geschehen einer Demonstration Die Selbstwahrnehmung der Polizei bei eskalierenden Verläufen ist während des gesamten Betrachtungszeitraumes seit den 1950er Jahren grundsätzlich gleich geblieben: Das eigene Verhalten wird regelmäßig als reaktiv156 oder aufgrund des Legalitätsprinzips (§ 163 StPO) als geboten gewertet. Nicht selten verzichtet die Polizei dabei auf die Analyse der konkreten Interaktionen157 und blendet daher aus, dass sie selbst durch Auftreten und Habitus zuweilen (ungewollt) Aggressionsanreize setzt, sie nicht immer den zeitlich und örtlich richtigen Moment für eine notwendige Intervention erkennt und die Maßnahmen in ihrer Art und Weise nicht immer differenziert und angemessen erfolgen. Seit den 1950er Jahren (Anschaffung von Wasserwerfern als Reaktion auf Auseinandersetzungen bei FDJ-Aufmärschen) ist das technische Equipment der Polizei und die persönliche Schutzausstattung der Beamten ständig erweitert worden. Inzwischen tragen Beamte der Bereitschaftspolizei bei Demonstrationseinsätzen häufig auch Schutzmasken (Sturmhauben) unter den Helmen, sodass nur ihre Augen zu erkennen sind. Das gesamte Outfit, das zunehmend in schwarzer Farbe ausgestaltet wird, unterscheidet sich auf dem ersten Blick kaum vom martialischen Aussehen militanter Autonomer und signalisiert daher die Erwartung einer unmittelbar bevorstehenden körperlichen Auseinandersetzung. Da die Polizisten sich selbst lediglich vorsorglich schützen wollen, können sie nicht verstehen, dass dieses Outfit von vielen Demonstrierenden nicht als versammlungsfreundlich, sondern als einschüchternd, ablehnend und feindlich wahrgenommen wird. Darüber hinaus kann ein Auftreten, das den einen Menschen einschüchtert, bei einem anderen gerade die Aggression freisetzen, vor der man sich eigentlich schützen will.158
156Vgl.
Winter, Protest policing (wie Anm. 140), S. 72. Bredthauer, Chaos-Tage (wie Anm. 110), S. 57–59. 158Vgl. Martin Herrnkind, Der „schwarze Donnerstag“. Hat die Polizei wirklich gelernt?, in: Böninger/Herrnkind/Sckerl, Sieg (wie Anm. 133), S. 64. 157Vgl.
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Ähnlich ambivalente Wirkungen wie die persönliche Schutzausstattung entfalten die technischen „Führungs- und Einsatzmittel“ der Polizei. Wann und wo werden Wasserwerfer, Lautsprecher- und Räumfahrzeuge sichtbar bereitgestellt? Wo postieren sich polizeiliche Videotrupps? Auf die möglicherweise aggressionsfördernden Aspekte von Macht- und Stärkedemonstrationen hatte bereits das Bundesverfassungsgericht in seinem Brokdorf-Beschluss hingewiesen. Die ambivalenten Wirkungen sind dann noch einmal in den sozialwissenschaftlichen Studien Ende der 1980er Jahre unterstrichen worden. Dennoch werden sie nach wie vor nicht in jedem Einsatz mit der gebotenen Sensibilität berücksichtigt. Kommt es aus einer Demonstration heraus zu Gewalttaten oder anderen Straftaten, indiziert ein solches Geschehen grundsätzlich weder aus rechtlicher noch aus taktischer Sicht einen reflexartigen Handlungsautomatismus. Gerade im Hinblick auf die Wechselwirkungen von präventiven und repressiven Maßnahmen159 bleibt der Polizei in aller Regel immer ein Beurteilungsspielraum hinsichtlich Zeit, Ort und Art der Intervention. Die Polizei muss gerade zu Beginn von Protestveranstaltungen darauf achten, nicht in die „Gewaltfalle“ einer militanten Minderheit zu tappen: Kommt es bei einer bewussten Provokation zu einer polizeilichen Intervention, die sich als undifferenziertes Vorgehen oder Überreaktion beschreiben lässt, kann dies die von den radikaleren Demonstrierenden gewünschten Soldarisierungseffekte bei zunächst nicht gewaltsuchenden Teilnehmern auslösen. So können Schlüsselsituationen für die negative Beeinflussung des gesamten Klimas der weiteren Veranstaltung entstehen.160
7.6 Internationalisierung der Protestkultur Eine besondere polizeiliche Herausforderung ist durch die zunehmende Internationalisierung des Protestgeschehens entstanden. Vor dem Hintergrund der offenen Grenzen zu den Nachbarländern und der weitgehenden persönlichen Freizügigkeit im Rahmen der Europäischen Union gestalten sich (grenz-)polizeiliche Vorkontrollen schwierig. Sprachbarrieren, aber auch unterschiedliche rechtliche Voraussetzungen des Versammlungsrechts in den einzelnen Herkunftsländern und unterschiedliche Erfahrungen mit den jeweiligen nationalen Polizeibehörden erschweren darüber hinaus auch generell den Aufbau einer deeskalierenden Dialogkultur mit aus dem Ausland anreisenden Demonstrierenden.
159Vgl. 160Vgl.
Kniesel, Versammlungsgesetze (wie Anm. 113), S. 354. Bredthauer, Chaos-Tage (wie Anm. 110), S. 83–87.
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8 Schlussbetrachtung Das polizeiliche Erfahrungswissen, die sozialwissenschaftlichen Befunde und die Rechtsentwicklung aus der Zeitspanne von 1960 bis 1990 liefern nach wie vor die wesentlichen Grundlagen auch für den Umgang mit dem aktuellen Demonstrationsgeschehen. Während dieser Zeit hat die Polizei alle Aspekte der Interaktion mit der Protestkultur kennengelernt und auch Gelegenheit gehabt, positive und negative Fallbeispiele auszuwerten. Umso bedauerlicher ist es, wenn nach spektakulären Einsatzverläufen (in jüngster Zeit etwa nach den Gewalttätigkeiten bei einigen demonstrativen Aktionen beim G20-Gipfel im Juli 2017) häufig von „neuen Phänomenen“161 gesprochen wird und daher auch „neue Konsequenzen“ gefordert werden. Schnell werden dann auf politischer Ebene Gesetzesverschärfungen und von polizeilichen Berufsvertretungen Erweiterungen der Ausrüstung und Bewaffnung gefordert. In der Fachzeitschrift „Die Polizei“ empfahl jüngst ein emeritierter Hamburger Juraprofessor, bei gewalttätigen Demonstrationsverläufen wie beim G20-Gipfel Schusswaffen einzusetzen.162 Bürgerrechtler befürchten vor dem Hintergrund solcher Szenarien die „Militarisierung des Protest Policing“.163 Viel sinnvoller als aktionistische Gesetzesverschärfungen und Aufrüstungsdebatten oder die Wiederbelebung von paramilitärischen Polizeikonzepten der Weimarer Republik wäre es jedoch, bei aktuellen Problemlagen die Parallelen zu zurückliegenden Ereignissen zu erkennen, die entsprechenden Erfahrungen zu nutzen und sie auf die aktuelle Situation zu übertragen bzw. weiterzuentwickeln. Eine von der Innenministerkonferenz eingesetzte länderübergreifende Arbeitsgruppe164 hatte bereits vor mehr als dreißig Jahren eine systematische, nach
161Spätestens seit dem „Sturm auf das Bonner Rathaus“ im Jahr 1973 kennt die Polizei „Out-of-Control“-Aktionen gewaltbereiter Teilgruppen; spätestens seit den Westberliner Krawallen am 1. Mai 1987 kennt sie das Phänomen von „Riots“ mit extensivem Vandalismus und Plünderungen. 162Jürgen Schwabe, Der Hamburger G20-Gipfel, in: Die Polizei 108 (2017), S. 310–312, hier S. 312. 163Martin Kirsch, Militarisierung des Protest Policing, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 114 (2017), S. 78–83. 164Der vom Arbeitskreis II der Innenministerkonferenz eingerichteten Arbeitsgruppe „Motivation“ (AK II – Sitzung vom 24.7.1986 – AZ: II 011.60 vom 4.8.1986) gehörten Polizeibeamte des Höheren Dienstes der Bundesländer Nordrhein-Westfalen (Vorsitz), BadenWürttemberg, Berlin und Bremen, des Bundesgrenzschutzes sowie Sozialwissenschaftler der Polizeiführungsakademie Münster-Hiltrup (heute Deutsche Hochschule der Polizei) an.
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wissenschaftlichen Methoden durchgeführte bundesweite Sammlung und Analyse der Einsatzerfahrungen angemahnt und die Etablierung von Expertengremien zur Beratung der Verantwortlichen bei der konkreten Einsatzplanung angeregt. Dieser bislang nicht umgesetzte Vorschlag ist heute so sachgerecht und aktuell wie damals.165 Die polizeifachliche, aber auch die gesellschaftspolitische Debatte sollte darüber hinaus unaufgeregt erfolgen. Nach den aufwühlenden Geschehnissen im Sommer 2017 beim Hamburger G20-Gipfel hat es bis Ende des Jahres 2018 kein vergleichbares Szenario in Deutschland mehr gegeben. Im Gegenteil zeigten insbesondere die Abläufe bei der Weltklimakonferenz (COP 23) im November 2017 in Bonn, dass trotz der thematischen Parallelen keine Präzedenzwirkung der gewalttätigen Aktionen beim G-20-Gipfel eintrat. Die mit 22.000 Teilnehmern aus 196 Staaten größte internationale Konferenz, die es je zuvor in Deutschland gegeben hatte, verlief bei 61 begleitenden Demonstrationen weitestgehend störungsfrei. Der Umgang mit politischem Protest ist keine innere Angelegenheit der Polizei. Weder darf sie sich die (Schein-)Lösung gesellschaftlicher Probleme mit polizeilichen Mitteln166 zuschieben lassen, noch darf sie sich selbst eine solche Rolle anmaßen. Die Polizei sollte sich daher noch mehr dafür öffnen und dafür werben, dass sich andere Behörden, aber auch zivilgesellschaftliche Akteure und Wissenschaftler sowohl an der Beurteilung der Lage im Vorfeld eines bestimmten Demonstrationsanlasses als auch an den Planungen zum konkreten Umgang damit beteiligen. Das Einbeziehen externer Kompetenz, die Selbstreflexion der Wirkung des eigenen Auftretens und die Dialogfähigkeit gegenüber allen, die die Demonstrationsfreiheit für sich in Anspruch nehmen, sind die Schlüsselkompetenzen für den professionellen Umgang mit politischem Protest im demokratischen Rechtsstaat des Grundgesetzes. Dabei geht es nicht nur um die innere Sicherheit, sondern letztlich auch um den inneren Frieden unserer Gesellschaft.
165Vgl. auch den Abschlussbericht des Sonderausschusses der Hamburgischen Bürgerschaft zur Aufarbeitung des G20-Gipfels, in dem u. a. die verstärkte Nutzung und Förderung des Wissenschafts- und Forschungspotenzials empfohlen wird: Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg, Drucksache 21/14350 vom 20.9.2018, S. 16. 166Vgl. Nr. 1.1 der PDV 100, Stand 2018.
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Udo Behrendes, Leitender Polizeidirektor a.D., war von 1972 bis 2015 Polizeibeamter des Landes Nordrhein-Westfalen, zuletzt Leiter des Leitungsstabes des Polizeipräsidiums Köln. Seit Ende der 1980er Jahre war er bei zahlreichen Demonstrationseinsätzen in Bonn (zu Zeiten als Bundeshauptstadt) und Köln polizeilicher Einsatzleiter.