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German Pages 580 Year 2014
Viola Balz Zwischen Wirkung und Erfahrung – eine Geschichte der Psychopharmaka
Viola Balz (Dr. rer. nat.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am »Institut für Geschichte der Medizin der Charité – Universitätsmedizin Berlin«. Sie studierte Psychologie und Politikwissenschaften in Marburg/Lahn und an der FU Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Psychiatrie-, Pharmazie- und Patientengeschichte sowie Science Studies.
Viola Balz
Zwischen Wirkung und Erfahrung – eine Geschichte der Psychopharmaka Neuroleptika in der Bundesrepublik Deutschland, 1950-1980
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2010 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Vorwort
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Einleitung
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1. Einführung: Zur Geschichte der Wirksamkeitskonstruktionen der Neuroleptika – aktuelle, historische und theoretische Bezüge 1.1 Die Bedeutung der Psychopharmaka für die Psychiatrie – aktuell und historisch 1.2 Die Geschichte der Psychopharmaka (neu) schreiben: Forschungsstand und Perspektiven 1.3 Aufbau der Arbeit 1.4 Zwischen Wirkung und Erfahrung: der Patient im Erprobungsprozess – einige theoretische Überlegungen 2. Historischer Kontext: Die Geschichte der Psychopharmaka vor 1950 und die Einführung des ersten Neuroleptikums in die Psychiatrie Einleitung 2.1 »Ohne Opium möchte ich nicht Irrenarzt sein«: Drogen als vormoderne Psychopharmaka 2.2 Psychotrope Stoffe im Spannungsfeld ihrer Experimentalisierung: Jacques Joseph Moreau de Tours und Emil Kraepelin 2.3 Von der Geschichte der Stoffe: psychotrope Stoffe als gefährliche Substanzen 2.4 Zum Stand der Arzneimittelprüfung um 1950 2.5 Eine pharmakologische Wende in der Psychiatrie: die Einführung der modernen Psychopharmaka und die Bedeutung des klinischen Versuchs Zusammenfassung: Die Genese neuer psychiatrischer Medikamente aus der klinischen Beobachtung
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Teil I
Wirksamkeit als Zeugenschaft. Versuche an psychiatrischen PatientInnen am Beispiel des Megaphens
1. Vom Labor in die Psychiatrische Universitätsklinik Heidelberg: die Strategie der Firma BAYER 2. Die Geschichte der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg zwischen 1933 und 1960 2.1 Vor 1953: Vergangenheitspolitiken 2.2 Sozialpsychiater und Euthanasiemörder? Carl Schneider 2.3 Ein Schritt zurück nach vorn: Kurt Schneider 2.4 An der Schwelle zur Psychopharmakologischen Revolution: Die Psychiatrische Universitätsklinik und ihre Vergangenheitsbewältigung 2.5 Ein Pionier der Erprobung neuer Psychopharmaka: Hans-Hermann Meyer 2.6 Zwischen anthropologischen Positionen und biologischen Therapien: Walter Ritter von Baeyer 2.7 Zwischen sozialpsychiatrischen Reformen und antipsychiatrischen Kämpfen: die Rolle der Heidelberger Klinik nach 1960 – ein Ausblick 2.8 Das Beispiel Heidelberg in den 1950er Jahren – eine erste Zusammenfassung 3. Die Erprobung von Megaphen an der Universitätsklinik Heidelberg – Quellenkritische Überlegungen und erste Ergebnisse 3.1 Die Potentiale der Krankenakte für eine Geschichte der Wissenschaft als Praxis 3.2 Die Akten der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg: Bestand und Struktur 3.3 Auswahl und Begründung der Stichprobe 3.4 Die PatientInnen der Psychiatrischen Universitätsklinik um 1953 3.5 Megaphen in den ersten fünf Jahren: Häufigkeiten 3.6 Fallauswahl 3.7 Der Patient in der Akte als Akteur und als Fall: theoretische Überlegungen
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4. Neuroleptische Effekte erfahrbar machen: die Versuchspersonen der klinischen Erprobung von 1953 4.1 Die primären Durchgangspunkte einer neuen Therapieform: die ersten beiden Patienten 4.2 Ein deutscher »Sonderfall«? Herr A. 4.3 Weil »sie absolut immer etwas anderes will, als sie soll«? Das Mädchen B. 4.4 Die klinische Konstitution eines »erfolgreichen Behandlungsfalls«: Herr C. 4.5 Erprobungen an psychiatrischen PatientInnen: Einwilligungen und Beschwerden 4.6 Wirksam in Bezug auf was? Erste Versuche der Wissensbildung anhand »besonderer Diagnosen« 4.7 Die ersten PatientInnen als »Fälle« beschreibbar machen: Hans-Hermann Meyers erste Publikation 4.8 Die PatientInnen im Stichversuch von 1953: vorläufige Zusammenfassung 5. Eine breitere Erprobung möglich machen: Megaphen zwischen 1954 und 1957 5.1 Der Versuchscharakter breitet sich aus: Kombinationsbehandlungen 5.2 Ein Zusammenbruch als Sinnkrise? 5.3 Wissensbildung jenseits der Konstitution eines psychiatrischen Falls: ein Beispiel von Kopfschmerz unklarer Ursache 5.4 Komplikationen und Komplizenschaft in den ersten fünf Jahren 5.5 Die Medikation als Grenzerfahrung: ein Todesfall 5.6 Kombinieren und experimentieren: die ersten Jahre der Megaphentherapie Zwischenfazit: Hybride Effekte 6. Vom Labor in die Klinik und zurück: Megaphen im Spannungsfeld wechselnder Indikationen 6.1 Erregung, Erbrechen, Schmerz: die Werbung der Firma BAYER 1953‒1956 6.2 Das Aufkommen psychiatrischer Indikationen in der Vermarktung ab 1957 6.3 Indikationsänderungen und Marketing: Zusammenfassung und Ausblick Zusammenfassung Teil I: Der Prozess einer Experimentalisierung
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Teil II
Wirksamkeit im Experiment. Prüfverfahren in der klinischen Psychopharmakaforschung
Einleitung 1. Zum Problem der neuroleptischen Wirksamkeit: die Debatte in den USA 1.1 »The Powerful Placebo«: Henry Beecher, Austin Bradford Hill und die Experimentalisierung der klinischen Versuchsanordnung 1.2 »Problems in Evaluation« – erste Debatten um kontrollierte Psychopharmakastudien 1.3 Zur Konstruktion einer neuen Episteme der Wirksamkeit – vorläufige Zusammenfassung 2. Die bundesdeutsche Debatte um die neuroleptische Effektivität 2.1 Karl Jaspers, Kurt Schneider und die psychiatrischen Schulen in der BRD um 1950 2.2 Paul Martini, die Klinik und die Psychopharmakologie 2.3 Erste Objektivierungsversuche zwischen 1953 und 1959 3. Ein bundesdeutsches Netzwerk: die Arbeitsgemeinschaft für Neuropsychopharmakologie 3.1 Das EEG in der Bestimmung von Wirksamkeit 3.2 Die Verbindung von Pharmakopsychologie und Pharmakopsychiatrie 3.3 Die Geburt der Stammkarte: ein neues System zur Wissensproduktion entsteht 3.4 Vom Effekt zur Wirksamkeit: eine Übersetzung und ihre Folgen 4. Wirksam in Bezug auf was? Die Überführung der psychiatrischen Diagnostik in ein Papierwerkzeug 4.1 Von ganzen Diagnosen zur Leitsymptomatik: ein neuer Psychosebegriff 4.2 Spezifisch wirksame Medikamente? Neuroleptika in der Diskussion 4.3 Zwischen Psychologie und Psychiatrie: das Forschungsfeld Wirksamkeit und Persönlichkeit – ein Exkurs 4.4 Neue Entwicklungen der psychiatrischen Diagnostik: ICD und DSM 4.5 Von der Wirkung zur Diagnose: ein Paradigmenwechsel in der Bestimmung psychischer Krankheiten
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5. Der Begriff der neuroleptischen Wirksamkeit im Spannungsfeld der Diskussionen um ein neues Arzneimittelgesetz 5.1 Befunddokumentationen und Ratingskalen: zur Entwicklung neuer Messinstrumente 5.2 Das Subjekt als Störfaktor im klinischenVersuch: die Anwendung des Doppelblindversuchs und Studien gegen Placebos 5.3 Die Einflüsse der Umwelt ausschalten: Randomisierung und statistische Versuchsplanung 5.4 Die Einwilligung der Versuchspersonen 5.5 Die bundesdeutsche Psychopharmakaforschung am Scheideweg: »Erfahrung« oder »Experiment«? Zusammenfassung Teil II: Epistemologische Verschiebungen in der bundesdeutschen Psychopharmakologie
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Teil III Diskussionen: Ausgeschlossene Wirksamkeitsaspekte – Neuroleptika in der Öffentlichkeit 1. Sollen Psychopharmaka verboten werden? Neuroleptika im Spiegel der Debatten um ihre unerwünschten Effekte
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2. PatientInnenbewegung und Psychopharmaka – Compliance und Noncompliance
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Fazit:
Zwischen Wirkung und Erfahrung – die Wirksamkeit als technisches Problem?
Abbildungen Tabellen Abkürzungsverzeichnis Archivalien Literatur
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Vorw ort
Meine Auseinandersetzung mit dem Thema Psychopharmaka geht auf meine langjährige Beratungstätigkeit in der Arbeit mit psychiatriebetroffenen Menschen zurück. Ihre Erfahrungen mit Psychopharmaka und die Möglichkeiten eines selbstbestimmten Gebrauchs waren ein wiederkehrendes Thema. Ausgehend von dieser Tätigkeit stellte sich mir die Frage, wie eine Theorie der Erfahrung zu gewinnen sei, die sich an den NutzerInnen orientiert und Argumente für die selbstbestimmte Einnahme von Psychopharmaka beibringt. Erste Literaturrecherchen offenbarten große Forschungslücken. Es wurde eine erhebliche Kluft zwischen dem Erfahrungsaustausch von Psychiatriebetroffenen und dem Ausschluss dieses Wissens durch die psychiatrische Forschung und deren naturwissenschaftlich orientiertem Wirkungskonzept sichtbar. Welche Hintergründe hatte dies? Ausgehend von dieser Frage entwickelte ich die Idee, die historische Entstehung des psychopharmakologischen Wirksamkeitsbegriffs am Beispiel der Neuroleptika nachzuzeichnen. Das vorliegende Buch ist das Ergebnis dieses Forschungsprojekts. Es handelt sich dabei um die überarbeitete und gekürzte Fassung meiner Dissertation mit dem Titel »Zwischen Wirkung und Erfahrung – Psychopharmaka neu denken. Eine historische Analyse der Wirksamkeitskonstruktionen der Neuroleptika in der Bundesrepublik Deutschland, 1950-1980«, die 2009 von der Fakultät für Lebenswissenschaften der Technischen Universität Braunschweig angenommen worden ist. Ich danke meinen beiden GutachterInnen, Prof. Bettina Wahrig (Pharmaziegeschichte/Geschichte der Naturwissenschaften, Universität Braunschweig) und Prof. HeinzPeter Schmiedebach (Medizingeschichte, Universität Hamburg) sehr herzlich für die zeit- und lektüreintensive Begleitung meiner Dissertation, die weit über das übliche Maß einer Doktorandenbetreuung hinausging. Ein Promotionsstipendium der Heinrich Böll Stiftung in den Jahren 2004 bis 2007 ermöglichte mir eine konzentrierte Arbeit an der Dissertation. Zum Abschluss gebracht wurde die Studie parallel zu meiner Forschungstätig-
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keit in dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekt »Psychochemicals crossing the wall: Die Einführung der Psychopharmaka in der DDR, 1952-1989« am Institut für Geschichte der Medizin der Charité (Universitätsmedizin Berlin). Bei Prof. Volker Hess, der mir in der Endphase der Arbeit viel Freiraum gab, möchte ich mich besonders bedanken. Verschiedene Diskussionsgruppen und -partnerInnen haben den Arbeitsprozess begleitet und angeregt, wofür ich sehr dankbar bin. Insbesondere die Arbeitsgruppe Prekäre Stoffe im 19. und 20. Jahrhundert (Heiko Stoff, Alexander von Schwerin, Bettina Wahrig) hat mir fruchtbare Impulse gegeben und den Arbeitsprozess in jeder Phase kritisch kommentiert. Auch das von der DFG-geförderte wissenschaftliche Netzwerk »Magic Bullets und chemische Knebel« – Historische Perspektiven der Epistemologie, Herstellung, Regulierung und Anwendung von Arzneistoffen im 20. Jahrhundert (u.a. Nicholas Eschenbruch, Marion Hulverscheidt) – diskutierte Ausschnitte der Untersuchung mit mir. Wichtig war auch der Austausch mit der Berlin Feminist Science Studies Group und den Kolloquien an der Universität Braunschweig und Hamburg. Viele Anregungen gaben mir außerdem die KollegInnen des Berliner Instituts für Geschichte der Medizin. Hier möchte ich insbesondere Ulrike Klöppel danken, die unermüdlich mit mir am Text gefeilt hat. Die Ethikkommission der Heidelberger Medizinischen Fakultät hat sich eingehend mit meinem Forschungsvorhaben befasst und mir eine umfassende Einsicht in Patientenakten der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg ermöglicht. Aus Datenschutzgründen wurde einer Vervielfältigung der Akten nicht zugestimmt und ich habe entsprechend in dem vorliegenden Buch auf Abbildungen aus Patientenakten verzichtet. Der Bitte, alle PatientInnen der Stichprobe anzuschreiben, um ihnen die Möglichkeit zu geben, eine Einsicht in ihre Akte abzulehnen, bin ich gerne nachgekommen. Alle PatientInnen der Versuchsgruppe von 1953 habe ich entsprechend angeschrieben. Ohne die tatkräftige Unterstützung von Maike Rotzoll vom Institut für Geschichte der Medizin der Universität Heidelberg wäre die Archivrecherche ungleich schwieriger gewesen. Sie hat die Recherche vor Ort intensiv begleitet und mir viele Hinweise auf weitere Quellen gegeben. Viele FreundInnen und Bekannte haben mich darüber hinaus in all den Jahren unterstützt, die Arbeit gegengelesen und kommentiert oder mich einfach nur abgelenkt. Besonders herzlich danke ich dafür Andrea Adams, Salina Braun, Helen Bömelburg, Judith Dick, Eric Engstrom, Georg Hofer, Roman Janda, Katja Kailer, Angela Köntje, Jutta Kühl, Jeanette Kuplin und Jillian B. Suffner. Meine Eltern, Erika und Klaus Balz, haben die Arbeit unermüdlich korrigiert. Ihrem Glauben an mich und die Arbeit verdanke ich viel. Für das Endlektorat und Layout danke ich Sarah Dudek und Kristin Möller.
Einleitung
Im Jahr 2002 legte der Bundesrat auf Betreiben der bayrischen Staatsregierung einen Gesetzesentwurf vor, der eine Erweiterung des Betreuungsrechts regelte. Der neue Vorschlag sollte es gesetzlichen Betreuern ermöglichen, von ihnen betreute »psychisch Kranke« einer ambulanten Psychopharmakabehandlung notfalls auch mit Polizeigewalt zuzuführen.1 Die neue rechtliche Regelung erschien insbesondere aus dem Grund notwendig, weil die Einnahme der Neuroleptika, der sogenannten »Medikamente gegen Psychosen«,2 von Betroffenen immer häufiger abgelehnt wurde.3 Die Debatte um eine ambulante Therapie mit Psychopharmaka gegen den Willen von Betroffenen markierte einen Kulminationspunkt in der rechtlichen Beurteilung psychiatrischer Behandlungsformen.4 Die Diskussion um die zwangsweise Verabreichung von Psychopharmaka verdeutlicht aber auch ein Spannungsfeld, in dem sich die Geschichte der Neuroleptika seit jeher ereignet. Während MedizinerInnen und PharmakologInnen5 die Wirksamkeit dieser Medikamente, gestützt auf die Erkenntnisse 1 2
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http://www.markus-kurth.de/presse/30108.html, Stand 10.12.2009. Aus psychiatrischer Sicht bezeichnen Neuroleptika eine chemisch heterogene Gruppe von Pharmaka mit »antipsychotischem« Wirksamkeitsspektrum und unterschiedlichen unerwünschten Wirkungen. Diese Klasse von Medikamenten fasst man international häufig unter dem Begriff der »Antipsychotika« zusammen (vgl. Benkert/Hippius 2007, S. 183). Die Arbeit wird im Folgenden aber konsequent den bis heute gebräuchlichen und historisch benutzten Begriff Neuroleptika verwenden. Der Begriff Psychiatriebetroffenheit wird von den Bewegungen ehemaliger psychiatrischer PatientInnen am häufigsten benutzt, um die Erfahrung zu bezeichnen, selbst Patient in einer psychiatrischen Klinik gewesen zu sein. Der Begriff vermeidet bewusst den Bezug auf einen psychiatrischen Krankheitsbegriff. Marschner 2005. Zur geschlechtersensiblen Schreibweise sei Folgendes angemerkt: In der gesamten Arbeit wird für Personengruppen im Plural, das große I eingefügt
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der evidenzbasierten Medizin, in der Regel als erwiesen ansehen, erleben Behandelte die Effekte häufig als schädlich und wenig hilfreich; einige lehnen eine Einnahme der Substanzen ab.6 Die Polarität der beiden Ansichten kennzeichnet die Debatten über Neuroleptika bis heute. Für die kritischen Stimmen in dieser Debatte gelten Psychopharmaka zwar in Hinblick auf ihre Anwendungshäufigkeit und die sozialen Folgen ihres Einsatzes als besorgniserregend,7 unhinterfragt vorausgesetzt wird aber in der Regel ihre Wirksamkeit. In den meisten psychiatrischen Publikationen werden die Erfolge der Psychopharmaka ohnehin positiv bewertet und als »pharmakologische Revolution« bezeichnet.8 Die Psychopharmakatherapie stellt in den psychiatrischen Anstalten die hegemoniale Behandlungsform dar, die häufig mit einem Abbau der Bettenzahl, einer Verkürzung der Aufenthaltsdauer und einer Verringerung der »Rückfallrate« der PatientInnen in Verbindung gebracht wird. Es ist allerdings erstaunlich, dass selbst in historischen Arbeiten die Wirksamkeit der Psychopharmaka meist unhinterfragt vorausgesetzt wird. Die Einführung der »modernen Psychopharmaka«, wie ich die nach 1950 verwendeten Psychopharmaka in Anlehnung an Philippe Pignarre bezeichne,9 wird dabei in
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(zum Beispiel: die PharmakologInnen), um zu verdeutlichen, dass mit dieser Bezeichnung alle Menschen unterschiedlichen Geschlechts gemeint sind. Ausnahmen von dieser Regel erfolgen dann, wenn es sich bei den beschriebenen Personen eindeutig nur um Männer handelt oder Literatur direkt oder indirekt zitiert wird, die keine geschlechtersensible Schreibweise verwendet. Die Nennung der Bezeichneten im Singular erfolgt aus Gründen sprachlicher Einfachheit ohne das große I. So verweisen neuere Lehrbücher darauf, dass bis zu 80 Prozent der Behandelten Neuroleptika nicht oder nicht in ausreichender Menge einnehmen (vgl. Benkert/Hippius 2007, S. 218). Kritiker wie Peter Lehmann, der in der Psychiatrie selbst gegen seinen Willen mit Psychopharmaka behandelt worden war, bezeichneten die Neuroleptika als »chemische Knebel« und forderten, sie mit anderen Drogen gleichzustellen (vgl. Lehmann 1986, S. 391). Hier wird beispielsweise auf den pharmakoindustriellen Komplex hingewiesen, sein Einfluss auf die massenweise Verbreitung der Psychopharmaka in der Gesellschaft betont und als Prozess angesehen, der immer neue Risikopopulationen erfasst und so eine Psychiatrisierung der Gesellschaft betreibt (vgl. Wambach 1980; Castel/Castel/Lovell 1982; Rufer 1998; Healy 2002). Benkert/Hippius 2007; Julien 1997; Shorter 2003. Allerdings verweisen auch psychiatrische Untersuchungen darauf, dass eine Behandlung mit Neuroleptika in einer Vielzahl von Fällen ohne jeden Erfolg bleibt. Die Zahlen variieren je nachdem, ob man den Kontext einer vorherigen neuroleptischen Behandlung zugrunde legt (vgl. Benkert/Hippius 2007, S. 252) oder die Zahlen mit denen psychopharmakafreier Alternativen vergleicht (vgl. Mosher/Vallone/Menn 1995; Mosher 1999). Pignarre 2006, S. 33. Pignarre entwickelte den Begriff des modernen Medikaments für die sich nach 1945 entwickelnden Pharmaka, die in ihrem Lebenszyklus in systematischer Weise klinische Prüfungen nach den Kriterien der evidenzbasierten Medizin zu durchlaufen hatten. Letztere orientiert sich
EINLEITUNG | 15
der Historiographie häufig als »Vollendung« der Psychiatriegeschichte apostrophiert und nicht genauer betrachtet. An dieser Stelle möchte ich ansetzen und die Geschichte der Neuroleptika statt als Vollendung als »prekären« Anfangspunkt konzipieren: Ich werde ihre schwierige Etablierung in den Jahren 1950 bis 1980 untersuchen und herausarbeiten, wie sie die psychiatrische Wissensbildung veränderten. Betrachtet werden sollen auch die frühen klinischen Versuche, da diese, meiner Arbeitshypothese nach, für die Wissensbildung von entscheidender Bedeutung sind und in die Effekte der erprobten Medikamente eingeschrieben bleiben. Als Leitfrage verfolge ich, wie die Wirksamkeit der Neuroleptika konstruiert wird. Die Herstellung von neuroleptischer Effektivität analysiere ich nach zwei Seiten: Im ersten Hauptteil meiner Arbeit zeige ich, wie die Wirksamkeit der Neuroleptika im Prozess ihrer primären Erprobung im Anstaltsalltag erst durch die Zeugenschaft von Arzt und Patient hergestellt wurde. Hierfür werde ich den Begriff der Subjektivierung in doppelter Hinsicht verwenden: Zum einen bezeichnet er einen gelebten Prozess der Aneignung von neuroleptischen Effekten durch die PatientInnen, zum anderen wird die therapeutische Effektivität erst in der Arzt-Patienten-Interaktion produziert und bleibt in diese eingeschrieben. Im zweiten Hauptteil werde ich herausarbeiten, wie die im klinischen Alltag hervorgebrachten individuell unterschiedlichen Medikamentenwirkungen in einem Prozess der Objektivierung stabilisiert wurden. Analysiert werden die verschiedenen Prüfverfahren, die einen einheitlichen Begriff von neuroleptischer Wirksamkeit herstellen. Die klinische Versuchsanordnung orientiert sich dabei im Verlauf des untersuchten Zeitraums zunehmend an der Idee eines naturwissenschaftlichen Experiments. Gestützt auf ein Konzept Bruno Latours werde ich den hybriden Charakter der therapeutischen Effektivität herausarbeiten und in Anlehnung an die Theorien Hans-Jörg Rheinbergers verdeutlichen, inwiefern es sich hierbei um einen Prozess der klinischen Experimentalisierung der neuroleptischen Wirksamkeit handelt: In diesem Prozess etablierten sich eine Reihe von Verfahren, die eine neue Vorstellung von therapeutischer Effektivität der psychiatrischen Medikamente hervorbrachte. Die Arbeit wird den Untersuchungsgegenstand anhand der Einführung der Neuroleptika in der BRD näher betrachten und die Diskussionen über Wirksamkeit von 1950 bis 1980 in den Blick nehmen. Eine Analyse der an einer Erhebung von Daten über kontrollierte klinische Versuchsanordnungen, die sich durch folgende Merkmale auszeichnen: Randomisierung, Systematisierung der Versuchsanordnung, Anpassung aller zu erhebender Merkmale an quantitativ operationalisierbare Einheiten und Ausschaltung subjektiver Einflussgrößen auf das Versuchsergebnis. Die Minimierung subjektiver Effekte sollte vor allem durch ein doppelblindes Versuchsdesign gewährleistet werden.
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ersten Jahre der klinischen Verwendung ab 1953, dem Zeitpunkt, als PsychiaterInnen das erste Neuroleptikum Megaphen (Wirkstoff: Chlorpromazin) in der BRD einführten, eignet sich besonders gut, um die Konstruktion der neuroleptischen Wirksamkeit aus dem Anstaltsalltag heraus zu verdeutlichen. Die Arbeit wird diesen Prozess im ersten Hauptteil am Beispiel der Krankenakten einer Megaphen erprobenden Klinik, der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg, untersuchen. Die Stabilisierung der psychopharmakologischen Effekte werde ich im zweiten Hauptteil anhand von Publikationen in Fachzeitschriften und von Kongressdokumentationen verdeutlichen. Dabei beschränke ich mich weitgehend auf den bundesdeutschen Raum, ergänze aber die Diskussionen an einigen Stellen um Debatten aus den USA, denn die amerikanische Forschung bildete für die deutschen Diskussionen über die Orientierung an einer Experimentalisierung des klinischen Versuchs zugleich einen Bezugs- und Abgrenzungspunkt. An den publizierten Quellen lassen sich die mit der Etablierung der Neuroleptika entstehenden neuen Prüfverfahren, Forschungs- und Dokumentationssysteme besonders gut aufzeigen. Zur Einführung in das Thema der modernen Psychopharmaka erscheint es mir notwendig, der Untersuchung einige vertiefende Erläuterungen vorauszuschicken. Im ersten Abschnitt der Einführung werde ich die aktuelle und historische Bedeutung der modernen Psychopharmaka skizzieren, die mir als Ausgangspunkt für die Entwicklung meiner Fragestellung diente. Im zweiten Abschnitt werde ich den historischen Forschungsstand darstellen und verdeutlichen, welche Themen und Fragen in zeitgeschichtlichen Untersuchungen zur Psychiatrie bislang weitgehend ausgespart geblieben sind und einer weiteren Reflektion bedürfen. Im dritten Abschnitt werde ich den theoretischen Rahmen meiner These von der Wirksamkeitskonstruktion der Neuroleptika entfalten.
1 . Einführung: Zur Gesc hic hte der Wirksamkeitskonstruktionen der Neuroleptika – aktuelle, historische und the oretisc he Bez üge
1 . 1 D i e B e d e u t u n g d e r P s yc h o p h a r m a k a f ü r d i e P s yc h i a t r i e – a k t u e l l u n d h i s t o r i s c h Ihren Ausgangspunkt nahm die Geschichte heute in der Psychiatrie gebräuchlicher Psychopharmaka mit der Einführung des Chlorpromazins. Auf die Substanz soll deshalb in der Arbeit ein besonderes Augenmerk gelegt werden. Mit der klinischen Verwendung von Chlorpromazin entwickelte sich die Forschung über psychiatrische Medikamente zur eigenständigen Disziplin, der Psychopharmakologie. Ein erstes Lehrbuch des neuen Forschungsbereichs wurde 1956 von Wolfgang de Boor, einem bundesdeutschen Psychiater, publiziert.1 Die Genese des Chlopromazins diente in den 1950er Jahren als Ausgangspunkt der Synthese vieler weiterer psychoaktiver Medikamente, deren therapeutische Erfolge breit diskutiert wurden. So folgte auf die Entwicklung des Chlorpromazins die Einführung des Neuroleptikums Haloperidol im Jahr 19582 und des ersten »atypischen« Neuroleptikums Clozapin in den 1960er Jahren.3 1954 wurde gegen sogenannte manische Episoden das Lithium als neues Therapeutikum
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De Boor 1956. Zur Bedeutung, die de Boors Lehrbuch für die Gründung der Disziplin Psychopharmakologie hatte vgl. Shorter 2003, S. 398. Für eine historische Darstellung vgl. Niemegeers 1988. Zur Einführung vgl. Stille/Fischer-Cornelssen 1988. Der Begriff »atypisch« bezieht sich hier auf die Tatsache, dass diese neue Gruppe von Neuroleptika keine für den Wirkmechanismus als typisch erachteten, extrapyramidalen Bewegungsstörungen auslöste.
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propagiert.4 Ab 1956 gab es erste systematische Studien zur Gruppe der Antidepressiva,5 1960 kam der erste Tranquilizer Librium auf den Markt.6 Es wurden infolge dieser Entdeckungen verschiedene Gruppen von Psychopharmaka unterschieden: die als Mittel gegen niedergeschlagene Zustände eingesetzten Antidepressiva, die Tranquilizer, welche Angst- und Spannungszustände mildern sollten, und die als »Antipsychotika« geltenden Neuroleptika.7 Obwohl seit den 1950er Jahren mehrere hundert Psychopharmaka in den Handel gebracht wurden, gilt nur ein kleiner Bruchteil davon als wirkliche Innovation, während die meisten anderen nur Abwandlungen bekannter Wirkprofile sind.8 Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat sechs dieser Substanzen als »unentbehrliche Medikamente« deklariert. Unter diesen sind drei Neuroleptika: Chlorpromazin, dessen Effekte die Gründung der Disziplin Psychopharmakologie anregte; Haloperidol, dessen Anwendung noch heute in der Psychiatrie als »Goldstandard« gilt und das Depotneuroleptikum Fluphenazin-Deconat.9 Vergegenwärtigt man sich die Bedeutung des Begriffs »Neuroleptika«, so zeigt sich, dass er sich aus den unerwünschten Wirkungen dieser Medikamente herleitet. Die gemeinsamen Wirkungsweisen der neuen Substanzen wurden erstmals 1954 als extrapyramidale und diencephalitische Syndrome auslösend beschrieben.10 Diese Beobachtung führte zur Bezeichnung der Stoffgruppe als Neuroleptika, ein Begriff, der wörtlich übersetzt bedeutet: Substanzen, die »das Nervensystem weich machen«.11 Das Wort setzte sich auf dem zweiten Internationalen Weltkongress für Psychiatrie 1957 in Zürich schließlich gegen die beiden konkurrierenden Begriffe Tranquilizer und Ataraktika mit einer einfachen Abstimmung der dort anwesenden PsychiaterInnen durch.12 Hintergrund der Namensgebung war unter anderem, dass man die neuen psychiatrischen Medikamente in den 1950er Jahren keinesfalls als spezifisch gegen »Schizophrenien« und andere »Psychosen« wirksam betrachtete.13 Die Ansicht einer spezifischen 4 5 6 7
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Schou 1988. Einen Einblick in ihre Einführung geben Kuhn 1988; Harrer 1988; Healy 1997. Sternbach 1988. Eine weitere Gruppe bilden die Psychostimulantien, deren bekanntester Vertreter wohl der Stoff Methylphenidat ist. Die Substanz erlebt zurzeit in der Behandlung von verhaltensauffälligen Kindern eine große Konjunktur. Weber 2001, S. 349. Finzen 1987, S. 15. Steck 1954. Deniker 1988, S. 123. Zur Diskussion vgl. Anonymos 1959, S. 421ff. Vgl. auch die Diskussionen in Anonymos 1959, S. 421ff. Der Psychiater Frank Ayd betonte, dass die Substanzen nicht kurativ wirkten, sondern ledig-
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Wirksamkeit der Neuroleptika ist bis heute umstritten geblieben.14 Zwar untersucht die aktuelle psychiatrische Literatur zur Wirkungsweise von Psychopharmaka eingehend die biochemischen und physiologischen Effekte an Gehirnrezeptoren einerseits und die erwünschten und unerwünschten pharmakologischen Wirkungen andererseits. Die Bedeutung dieser Forschung für die Wirksamkeit, verstanden als therapeutischer Wert der Neuroleptika, gilt hingegen als nicht gesichert.15 Vielmehr wurden und werden alle Behandlungsverfahren, die man als effektiv gegen »psychische Störungen« bezeichnet, letztlich empirisch aus klinischen Beobachtungen entwickelt.16 Gleichzeitig räumen die meisten ForscherInnen ein, dass es sich bei Neuroleptika nicht um kausal wirkende, spezifische »Antipsychotika« handelt. Dennoch werden die Substanzen nach ihren therapeutischen Effekten, der »antipsychotischen Wirksamkeit« oder »neuroleptischen Potenz«, klassifiziert und ins Verhältnis zur pharmakologischen Wirkungsstärke von Chlorpromazin gesetzt.17 Daneben wird auch eine Unterteilung der verschiedenen Neuroleptika nach ihrer chemischen Struktur vorgenommen.18 Obwohl also die spezifische Wirksamkeit von Neuroleptika diskutiert wird, ist ihre Anwendung ungebrochen hoch. Sie gelten in der Psychiatrie als unentbehrlich. Psychopharmaka sind Substanzen, deren Konsum starken Schwankungen unterliegt, die gleichzeitig aber auch einen stetig wachsenden Umsatz zu bieten scheinen. Nikolas Rose hat auf-
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lich Spannungen milderten, so dass den Patienten seine Symptome weniger belasteten (vgl. Ayd 1957, S. 549). Pierre Deniker gibt zu bedenken, dass eine Argumentationsweise, die eine spezifische Wirksamkeit betont, vor allem auf indirekten Argumenten beruht. Demgegenüber stellt er heraus, dass die Neuroleptika keine Schizophrenien heilen und wenig Effekte auf deren Symptomatologie haben (vgl. Deniker 1988, S. 131). Benkert/Hippius 2007, S. 191. Verschiedene Wirkungsebenen lassen sich unter anderem in bildgebenden Verfahren, wie beispielsweise der Positronen-Emissions-Tomographie, aufzeigen. Diese Verfahren veranschaulichen, wo und wann im Gehirn bestimmte neuronale Aktivitäten hervorgebracht werden. Helmchen 2007a, S. 284; Helmchen 2007b, S. 379; Benkert/Hippius 2007, S. 191ff. Benkert/Hippius 2007, S. 184. Das Chlorpromazin wird auf dieser Skala mit der Zahl 100 abgebildet. Alle anderen Neuroleptika werden in ihrer neuroleptischen Potenz zu dem Wert von 100 mg Chlorpromazin in Verbindung gesetzt. So entsprechen zum Beispiel 2 mg Haloperidol der Wirkstärke von 100 mg Chlorpromazin. Die Autoren geben allerdings zu bedenken, dass diese Klassifikationsweise »atypische« Neuroleptika nicht ausreichend erfasst, denn diese würden auch andere »Symptomkomplexe« beeinflussen als die konventionellen Neuroleptika. So unterscheiden Benkert/Hippius die Gruppe der Trizyklischen Antipsychotika, zu denen unter anderem die Phenothiazine wie Chlorpromazin gehören, die Butyrophenone (zum Beispiel Haloperidol) und weitere Gruppen (vgl. Benkert/Hippius 2007, S. 183).
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gezeigt, dass sich allein zwischen 1990 und 2000 der Absatzmarkt für Psychopharmaka in Europa verdoppelte und in den USA sogar mehr als versechsfachte.19 Die Verschreibungsrate von Neuroleptika blieb im Zuge dieser Entwicklungen relativ stabil.20
Psychopharmaka in der psychiatrischen Praxis Wirft man einen Blick zurück auf die letzten Jahrzehnte des Psychopharmakakonsums, ergeben sich etwas andere Zahlen. So wird deutlich, dass sich der Umsatz von Neuroleptika zwischen 1965 und 1975 mehr als verdoppelte: von 22 Millionen DM auf 53 Millionen DM.21 Tatsächlich korrespondierte der Umsatz auch mit einem ständigen Anstieg des Konsums von Neuroleptika in den ersten Jahrzehnten nach Markteinführung.22 In dieser Zeit stiegen zwar auch die Verkaufzahlen der Antidepressiva stark an, blieben aber weit hinter denen der Neuroleptika zurück.23 Der Absatzmarkt für Tranquilizer verdreifachte sich in dieser Zeit.24 Neuroleptika und andere »Beruhigungsmittel«, so ist zu folgern, erlebten während der 1960er und 1970er Jahre also einen stetigen Aufschwung. Während die 19 Rose 2007, S. 209. Mit einem Umsatz von 19 Billionen Dollar machten Psychopharmaka hier fast 18 Prozent des Marktes aus. In der BRD wurden Psychopharmaka im Jahr 2005 am vierthäufigsten verschriebenen (vgl. Schwabe/Pfäfflin 2006, S. 9). Die Einnahmehäufigkeit psychiatrischer Medikamente variiert jedoch stark nach Substanz und Geschlecht. So nahmen im Stichjahr 1998 fast 4 Prozent der Frauen, aber nur knapp 1,5 Prozent der Männer im Alter von 18–79 Jahren täglich ein Psychopharmakon ein (vgl. Lohse/Lorenzen/Müller-Oerlinghausen 2006, S. 821). Kritisch hinterfragt wird in neueren Forschungsansätzen, ob die produzierenden pharmazeutischen Unternehmen eine mit dem Konsum aller Psychopharmakagruppen einhergehende Abhängigkeit und damit verbundene Probleme beim Absetzen der Substanzen nicht ausreichend bekannt machten (Medewar 1997; Rose 2007, S. 223; Healy 2002, S. 164ff.). 20 Nur der Konsum »atypischer« Neuroleptika, die in der Psychiatrie in den letzten Jahren bevorzugt eingesetzt wurden, weil ihre unerwünschten Wirkungen gegenüber den »Antipsychotika« der ersten Generation als weniger schwerwiegend galten, nahm zu (vgl. Lohse/Lorenzen/Müller-Oerlinghausen 2006, S. 845). Entgegen einer ersten Euphorie in der Psychiatrie werden die unerwünschten Wirkungen der atypischen Neuroleptika in letzter Zeit jedoch als schwerwiegend bezeichnet und hervorgehoben, dass zudem eine postulierte therapeutische Überlegenheit dieser neuen Substanzgruppe nicht bewiesen sei (vgl. Lohse/Lorenzen/Müller-Oerlinghausen 2006, S. 849). 21 Komo 1978, S. 12. 22 Kranz 1965, S. 150. 23 Der Umsatz der Antidepressiva stieg von 12 Millionen DM im Jahr 1965 auf 27 Millionen DM im Jahr 1975. 24 Im Jahr 1965 wurden 44 Millionen DM mit dem Verkauf von Tranquilizern erwirtschaftet, 1975 waren es schon 150 Millionen DM. Zu den dargelegten Umsatzzahlen zwischen 1965 und 1975 vgl. Komo 1978, S. 12.
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Verschreibung der Tranquilizer aufgrund des zunehmenden Bewusstseins ihrer abhängigkeitserzeugenden Folgen zurückging, ist für die anderen Psychopharmaka ein steigender oder gleichbleibender Konsum zu konstatieren. Die offensichtliche Bedeutung der Psychopharmaka für die Psychiatrie geht häufig in der These auf, dass die Entwicklung einer ambulanten Psychiatrie erst mit der Etablierung von Psychopharmaka möglich geworden sei. Die Einführung der Psychopharmaka habe, wie beispielsweise in einer berühmt gewordenen Studie von Henry Brill (1906–1992)25 und Robert Patton (1921–2007) argumentiert wird, einen radikalen Bettenabbau in den psychiatrischen Kliniken bewirkt.26 Andrew Scull hat diese Argumentation kritisiert und darauf hingewiesen, dass die Entlassungswelle nicht durch die Erfolge neuer psychiatrischer Medikamente, sondern durch finanzielle Engpässe der Kliniken und eines schon vor der »psychopharmakologischen Revolution« einsetzenden Ausbaus gemeindepsychiatrischer Einrichtungen bestimmt war.27 Sculls Hinweis auf ein komplexeres Verhältnis zwischen der Einführung der Neuroleptika und eines Ausbaus der ambulanten Psychiatrie gilt im Großen und Ganzen auch für die BRD. Die Etablierung sozialpsychiatrischer Institutionen wurde in der Bundesrepublik zudem dadurch erschwert, dass schon der Begriff Sozialpsychiatrie in der Nachkriegszeit nicht unumstritten war, weil er seit den 1920er Jahren mit »sozialhygienischen« Konzeptionen in Verbindung gebracht und im Laufe des Jahrzehnts zunehmend in Zusammenhang mit »rassenhygienischen« Überlegungen präsentiert wurde.28 Blickt man auf die ersten Jahre des Einsatzes, so zeigt sich erstens, dass einzelne in den 1950er Jahren zum Thema Sozialpsychiatrie veröffentlichte Publikationen der Einführung von Neuroleptika keine große Bedeutung beimaßen.29 Zweitens existierten in der Bundesrepublik 25 Im Folgenden werde ich die Lebensdaten historischer AkteurInnen einführen, wenn sie zum ersten Mal erwähnt werden. Die Angaben entnehme ich einschlägigen Biographien, wie zum Beispiel dem »world biographical information system online«, das alle internationalen biographischen Kataloge referiert und Lebensdaten der AkteurInnen frei und an den Ausweis ihrer Referenz gebunden zugänglich macht. Zur Ermittlung der Lebensdaten von Personen der Zeitgeschichte wurden weitere Internetquellen, Nachrufe und andere Personenlexika verwendet. In einigen Fällen konnte das Geburts- und oder Sterbejahr trotz dieser Quellen nicht herausgefunden werden und bleibt deshalb offen. Konnte der vollständige Vorname der beschriebenen Person auch mit diesen Mitteln nicht rekonstruiert werden, wird er mit dem Anfangsbuchstaben des Vornamens abgekürzt. 26 Brill/Patton 1957. 27 Scull 1980. 28 Schmiedebach/Priebe 2004. 29 Beispielhaft hierfür vgl. Ehrhardt/Ploog/Stutte 1958. Fünf Jahre nach der Einführung des ersten Neuroleptikums gibt es im gesamten Buch keinen Bei-
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in diesem Jahrzehnt und auch in den 1960er Jahren kaum ambulante oder teilstationäre Einrichtungen.30 Zwar wurden seit den 1950er Jahren Bestrebungen deutlich, besondere Gruppen wie beispielsweise ältere psychisch auffällige Menschen in (Alten-)Heimen unterzubringen.31 Die Einweisungen in psychiatrische Krankenhäuser nahmen trotzdem bis in die 1970er Jahre über das Wachstum der Bevölkerung hinaus zu.32 Erst der 1975 von einer Expertenkommission vorgelegte »Bericht zur Lage der Psychiatrie« kann als Beginn des Ausbaus ambulanter Wohnmöglichkeiten für ehemalige PsychiatriepatientInnen gesehen werden.33 Das Dokument wurde später häufig als Ausgangspunkt für eine sozialpsychiatrische Wende bezeichnet. In diesem als »Psychiatrieenquête« bekannt gewordenen Manuskript wurde das Fehlen alternativer Einrichtungen öffentlichkeitswirksam als eklatanter Mangel hervorgehoben und darauf hingewiesen, dass die bestehenden »Heime« große qualitative Mängel hätten.34 Drittens waren sich zeitgenössische PsychiaterInnen über einen Zusammenhang von Psychopharmakakonsum und der Entwicklung einer ambulanten Psychiatrie keineswegs einig. So berichtete ein Schweizer Autor, dass nach der Einführung von Neuroleptika zwar viele PatientInnen nach einigen Wochen entlassen werden konnten, sich aber die Zahl der Wiederaufnahmen deutlich erhöht habe.35 Andere AutorInnen arbeiteten heraus, dass mit Medikamenten behandelte PatientInnen länger in den Anstalten verweilten. Auch wenn klinische Beobachtungen durchaus überzeugende Effekte der Psychopharmaka aufzeigten, ließen »Erfolge« sich nicht einfach in statistische Kennwerte wie Entlassungen übersetzen.36
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trag, der sich explizit mit der Bedeutung der Psychopharmaka für die Entwicklung einer ambulanten Psychiatrie auseinandersetzt. Lediglich implizit finden sich Bemerkungen, welche die Auswirkungen der Psychopharmaka für die Psychiatrie reflektieren, ihre Folgen für die Entwicklung einer gemeindenahen Versorgung werden jedoch zurückhaltend beurteilt. Schmiedebach et al. 2002. Ein 1956 in Berlin gegründetes Übergangswohnheim für Menschen, die aus der Psychiatrie entlassen worden waren und eine im Jahr 1959 eröffnete Nachtklinik, die man wenig später um eine Tagesklinik ergänzte, bildeten seltene Ausnahmen. Erst im Laufe der 1960er Jahre entstanden in Heidelberg, Hannover und Gießen einige wenige weitere sozialpsychiatrische Modelleinrichtungen. Hanrath 2002, S. 337ff. Häfner 2003, S. 124. Der Autor bezieht sich dabei auf die Rheinischen Krankenhäuser. Deutscher Bundestag 1975. Deutscher Bundestag 1975, S. 15. Stoll 1959, S. 281. Eine ähnliche Beobachtung machte Sabine Hanrath für die von ihr untersuchte Gütersloher Psychiatrie (vgl. Hanrath 2003, S. 57). Der beschriebene Sachverhalt ist auch als »Drehtüreffekt« bekannt geworden (vgl. Mosher/Feinsilver 1971, S. 1). Lopéz-Ibor 1964, S. 103. Eine ähnliche Entwicklung schildern für die Heidelberger Psychiatrie auch Meyer/Böttinger 1957, S. 8.
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Andererseits gab es seit den 1960er Jahren Versuche von im Bereich der Psychopharmakologie engagierten PsychiaterInnen, die Außenfürsorge zu verstärken. Solche gemeindenahen Einrichtungen sollten aber vor allem die Einnahme neuroleptischer Medikamente kontrollieren.37 Besonders den Depotneuroleptika brachte man in diesem Zusammenhang große Hoffnungen entgegen.38 Angesichts der geschilderten sozialpsychiatrischen Entwicklungen stellt sich also die Frage, welche Rolle die Neuroleptika für die langsam einsetzenden Entlassungen aus den psychiatrischen Anstalten, die häufig in anderen Fürsorgeeinrichtungen mündeten, tatsächlich spielten. Hatten die neuen Medikamente eher eine »normierende« oder eine »befreiende« Funktion beziehungsweise war eine Befreiung der PsychiatriepatientInnen nur auf Grundlage ihrer Normierung möglich? Folgt man der These, dass sich gerade in der Nachkriegspsychiatrie ein Set von Institutionen wie Altenheimen und Polikliniken weiter ausdifferenzierte, die eng mit der Psychiatrie verbunden waren,39 erscheint auch eine transinstitutionelle Verschiebung möglich.40 Die institutionelle Ausdifferenzierung war vermutlich nicht zentral auf die Einführung der Psychopharmaka zurückzuführen, sondern auf andere Erfordernisse der Psychiatrie wie zum Beispiel die Prävention, die zunehmend diskutiert wurde. Allerdings bleibt festzuhalten, dass die Fragen nach dem Verhältnis von Psychopharmakakonsum und Sozialpsychiatrie nicht einfach zu beantworten sind und einer eigenständigen historischen Untersuchung bedürfen, die noch aussteht. Ein entsprechendes Vorhaben müsste nicht nur den Psychopharmakakonsum in den neu entstehenden Einrichtungen in den Blick nehmen, sondern auch die institutionsübergreifenden Karrieren einzelner PatientInnen verfolgen. Die vorliegende Arbeit kann auf die Notwendigkeit einer solchen Untersuchung nur verweisen. Diese müsste jedoch meines Erachtens eine historische Rekonstruktion des Wirksamkeitsbegriffs der Psychopharmaka zur Voraussetzung haben, denn psychiatrische Medikamente entfalten keine monokausale stabile Wirksamkeit. Sie sind in hohem Maße individuell variierende und subjektiv erlebte Effekte. Die historische Reflexion über den
37 Neumann 1961, S. 328f.; Heinrich 1969. 38 Der Psychiater Kurt Heinrich (1925–1983) verdeutlichte diese Erwartungen folgendermaßen: »Derartige Substanzen eignen sich für die Anwendung in größeren Intervallen, ihre Applikation läßt auch jeden Zweifel darüber vermeiden, ob der Patient die ihm verordneten neuroleptischen Medikamente auch eingenommen hat« (Heinrich 1969, S. 2205). Die Intervalle der Besuche in den zu gründenden Ambulanzen sollten sich daran anschließend vor allem an der Wirkdauer der Depotneuroleptika von etwa sechs Wochen orientieren. 39 Zu dieser These vgl. Meier et al. 2007, S. 80ff. 40 Hellerich 1985, S. 161.
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Wirksamkeitsbegriff wird deshalb im abschließenden Teil zum aktuellen Forschungsstand näher betrachtet. Die vorliegende Arbeit möchte bei dieser Forschungslücke ansetzen und anhand zweier miteinander vernetzter Fallstudien die Geschichte der Neuroleptika skizzieren. Dabei werde ich mich weitgehend auf den spezifischen nationalen Kontext der Neuroleptikaeinführung in der Bundesrepublik beschränken.41 Meine Untersuchung konzentriert sich auf eine zeitgeschichtliche Rekonstruktion des Chlorpromazins. Es soll versucht werden, die Einführung der neuen Substanz und weiterer »moderner« Psychopharmaka nicht als Vollendung, sondern als Anfang der Geschichte der modernen Psychopharmaka zu begreifen.42 Erschwert wird mein Ansatz allerdings dadurch, dass die Psychiatriegeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg insgesamt noch ein Desiderat darstellt, wie ich im folgenden Abschnitt verdeutlichen werde.
1 . 2 D i e G e s c h i c h t e d e r P s yc h o p h a r m a k a (neu) schreiben: Forschungsstand u n d P e r s p e k t i ve n Psychiatriegeschichte nach 1945 PsychiaterInnen und PsychiatriehistorikerInnen wurden bisher nicht müde zu betonen, dass die Einführung der modernen Psychopharmaka nicht nur den Behandlungsalltag nachhaltig veränderte, sondern auch biologischen und genetischen Denkansätzen in der Psychiatrie neuen Aufwind gab.43 Mit den 1950er Jahren, so etwa Edward Shorter, sei die Psychiatriegeschichte eigentlich an ihr Ende gekommen, weil sich die Anwendung biologischer Therapien und genetischer Forschungen als Erfolgsmodell etabliert hätten.44 Diese Erzählung korrespondiert mit der Beobachtung Sabine Hanraths, dass die Historiographie der Psychiatriegeschichte nach 1945 entweder ausgespart oder nur insoweit referiert werde, wie sie sich auf eine Teleologie des Fortschritts der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg 41 Dieser wird, wo dies historisch sinnvoll erscheint, um Perspektiven aus den USA und Frankreich ergänzt. Gänzlich ausgespart wird die Einführung der Psychopharmaka in der DDR, die allein ein eigenes Forschungsprojekt rechtfertigt. Zu einer Untersuchung, der Einführung von Neuroleptika in der DDR vgl. die Forschungsergebnisse des Forschungsprojekt »Psychochemicals crossing the wall. Die Einführung der Psychopharmaka in der DDR, 1952– 1989« an der Berliner Charité (Hess, Balz, Klöppel), beispielhaft Hess 2007; Balz/Hess 2009; Klöppel 2009; Balz/Hoheisel 2010; Klöppel/Balz 2010. 42 Vgl. Teil I. 43 Weber 1999, S. 177-182; Tölle/Schott 2006, S. 495; Shorter 2003, S. 7. 44 Shorter 2003, S. 7; ähnlich Weber 1999, S. 182.
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zuspitzen lasse.45 Wie Andrew Scull hervorhebt, seien Veröffentlichungen über die Geschichte der Psychiatrie bis in die 1970er Jahre ohnehin meist von PsychiaterInnen verfasst worden.46 Während es inzwischen für die Zeit des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, insbesondere aber für die Zeit des Nationalsozialismus’ eine Fülle von Publikationen gibt, die von HistorikerInnen geschrieben wurden, findet eine vergleichbare Beschäftigung mit der Zeit nach 1945 nicht statt. Die Probleme einer zeitgeschichtlichen Historiographie, die sich weitgehend an den Berichten von als Zeitzeugen fungierenden PsychiaterInnen orientiert, werden durch den Mangel an Studien verstärkt, die sich mit historischen Dokumenten und Quellen auseinandersetzen. Die Arbeit von Sabine Hanrath bildet hier eine Ausnahme, da sie sehr genau die Zeit zwischen dem Kriegsende und neuer Reformimpulse Ende der 1960er Jahre untersucht.47 Liegt also die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, wie einige ForscherInnen aufgrund des Fehlens von Untersuchungen konstatieren, im »toten Winkel« der Psychiatriegeschichte,48 oder markiert sie gar ein »dunkles Loch«?49 Solche Aussagen scheinen zuzutreffen, denn für den bundesdeutschen Bereich liegen nur wenige Forschungen zur Nachkriegszeit vor, die sich meist entweder mit den Kontinuitäten des NS-Regimes beschäftigen50 oder vor allem die Reformbemühungen in den 1960er und 1970er Jahren in den Blick nehmen.51 Diese Studien sind für die Psychiatriegeschichte von großem Interesse. So konnte Heinz Faulstich eindrucksvoll aufzeigen, dass auch nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes in Deutschland das Leben in einer Anstalt oft tödliche Folgen hatte, weil die PsychiatriepatientInnen in den Kliniken verhungerten.52 Diese Ausführungen verdeutlichen die Kontinuitäten zum 45 46 47 48 49 50
Hanrath 2002, S. 2. Scull 1991b, S. 239. Hanrath 2002; Hanrath 2003. Hanrath 2002, S. 2. Scull 1989, S. 28. Faulstich 1998; Faulstich 2003; Kersting/Teppe/Walter 1993. Einige Publikationen beschäftigen sich auch mit der Kontinuität der Ärztekarrieren nach der Zeit des Nationalsozialismus, beispielhaft hierfür vgl. Klee 1986. 51 Kersting 2003. Auch hier bezieht sich eine Historiographie der Psychiatrie eher auf die Biographien einzelner ÄrztInnen, die einer neuen sozialpsychiatrischen Bewegung zuzuschreiben sind. Vgl. zum Beispiel Schönknecht 1999. 52 Zwar hätte auch die Allgemeinbevölkerung in den ersten Jahren unter einer Hungersnot gelitten, so Faulstich, die Spielräume, sich selbst mit zusätzlichen Nahrungsmitteln zu versorgen, seien aber größer gewesen als die der AnstaltsinsassInnen. Bis 1948 seien die in den Psychiatrien festgehaltenen, meist ohnehin durch unzureichende Versorgung geschwächten PsychiatriepatientInnen deshalb vermehrt an Hunger gestorben. Dies sei auch vor dem Hintergrund zu betrachten, dass die AnstaltsleiterInnen durchaus Möglichkeiten gehabt hätten, für eine zusätzliche Verpflegung zu sorgen, die Oberen aber die Position vertreten hätten, dass die »Narren« keine Extraration
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Nationalsozialismus, die es in der Psychiatrieentwicklung nach 1945 gab. Nicht nur ein Mangel an Personal, eine Überfüllung der Anstalten und ein Reformstau kennzeichneten die Situation der bundesdeutschen psychiatrischen Anstalten. Mehr als in anderen Ländern belastete die »unsichtbare Hypothek des Nationalsozialismus« die Praxis der Psychiatrie. Zur Lage der Disziplin nach dem Zweiten Weltkrieg spitzt ein Autor zu: »Für die Anstaltspsychiatrie der fünfziger und sechziger Jahre erscheint die Aussage zulässig, daß eine kritische Rezeption der NS-Zeit nicht stattgefunden hat.«53 Die Einführung der Neuroleptika fiel also in eine Zeit, in der die Psychiatrie in der Bundesrepublik auf mindestens zwei Ebenen mit ihrer NSVergangenheit beschäftigt war. Zum einen war auf der Ebene der in den Anstalten Beschäftigten eine radikale Aufklärungspolitik nicht zu beobachten und Personalkontinuitäten bestimmten den Behandlungsalltag. Zum anderen wurde die Psychiatrie mit PatientInnen konfrontiert, deren Erleben durch Kriegserfahrungen, aber auch durch Flucht und Vertreibung und den damit verbundenen Verlust sozialer Bindungen gekennzeichnet war. Gleichzeitig führte die besondere Situation infolge des NS-Regimes die Disziplin in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre zu einer neuen konzeptuellen Offenheit, die an die Zeit der Weimarer Republik erinnert und die wie jene eng an die Erfahrung eines »Kriegstraumas« gebunden war.54 Insbesondere das Erstarken einer anthropologischen Psychiatrie, die an die Traditionen der 1930er Jahre anknüpfte und das »ganzheitliche« Wesen des Patienten in seiner Welt und seinen mitmenschlichen Bezügen betonte, erlebte in dieser Zeit einen Aufschwung.55 Gleichzeitig war die Psychiatrie jedoch schon in der frühen Bundesrepublik einer Reihe von Diskussionen über die Legitimität ihrer Praktiken ausgesetzt. So geriet neben der Anwendung bestimmter somatischer Verfahren wie dem Elektroschock und der psychiatrischen Diagnostik auch die Einweisungspraxis der Psychiatrie in die Kritik.56 Besonders in den frühen 1950er Jahren und dann wieder
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bräuchten, wenn es schon für die Gesunden nicht genug gebe (vgl. Faulstich 2003; ausführlicher Faulstich 1998). Trenckmann 1993, S. 276. Der Autor betont auch das mangelnde Ansehen, das der Facharzt für Psychiatrie zu dieser Zeit besessen habe. Roelcke 2005, S. 174. Janzarik 1974, S. 44. Janzarik nennt als Vertreter der anthropologischen Psychiatrie Wolfgang Blankenburg (1928–2002), Hans Kunz (1904–1982), Alfred Storch (1988–1962) und Medard Boss (1904–1990), die Arbeiten der »verstehenden Anthropologie« um die Psychiater Jürg Zutt (1893–1980) und Caspar Kulenkampff (1922–2002) und die Veröffentlichungen des Heidelberger Kreises, dem Walter Ritter von Baeyer (1904–1987), Karl-Peter Kisker (1926–1997), Heinz Häfner (1926), Walter Bräutigam und Hubertus Tellenbach (1914–1994) angehörten. Ausführlicher zu den psychopathologischen Traditionen um 1950 vgl. Teil II, 2.1. Vgl. Teil I, 4.5.
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verstärkt Ende der 1960er Jahre war die Psychiatrie einer kritischen Öffentlichkeit ausgesetzt, die von einer tiefen »Vertrauenskrise« sprach.57 Von Relevanz ist hier Sabine Hanraths Untersuchung der Zeit »zwischen Euthanasie und Psychiatriereform«, weil sie größere Linien der Entwicklung der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland und in der Deutschen Demokratischen Republik betrachtet.58 Der institutionengeschichtlich argumentierende Ansatz spart allerdings eine Analyse des psychiatrischen Alltags, wie sie aus Krankenakten möglich ist, aus.59 Auch vermisst man in Hanraths Arbeit weiter gehende theoretische Reflektionen darüber, wie man eine Geschichte der Psychiatrie nach 1945 überhaupt schreiben kann. Hierzu bedarf es meines Erachtens neuer Forschungsansätze. So hat sich die Geschichtsschreibung der Psychiatrie nach 1945 bisher wenig mit der epistemologischen Analyse psychiatrischen Wissens befasst und untersucht, wie Aufzeichnungssysteme neue Erkenntnisgegenstände hervorbringen.60 Des Weiteren ist die Historiographie stark durch die These der »großen Einschließung« bestimmt, mit der Foucault die Institutionalisierung der Psychiatrie im 19. Jahrhundert charakterisiert. Wie Foucault beschreibt, sollte entlang der Grenzen von Vernunft und Unvernunft im Zuge der Herausbildung moderner Herrschaft ein homogener Raum geschaffen werden, in dem man die »Wahnsinnigen« einerseits von den »Normalen«, andererseits aber auch von den »Kriminellen« abgrenzen konnte.61 Infolge einer etwas verzerrten Foucaultrezeption spitzt Dirk Blasius den Charakter der Einschließung auf eine Sozialdisziplinierungsthese zu. Mit diesen Ausführungen deutet er Foucaults Beschreibungen der Etablierung der Psychiatrie lediglich als verfeinertere Techniken der Sozialkontrolle, mit denen alle die bürgerliche Ordnung störende Subjekte ausgegrenzt und in Sonderinstitutionen eingeschlossen werden sollten.62 Diese These birgt zwei Probleme in sich: Zum einen werden die PsychiatriepatientInnen vor allem als passive Objekte ärztlichen und administrativen Handelns wahrgenommen, deren Existenz in ihrer Disziplinierung nahezu aufzugehen schien.63 Diese Sichtweise läuft jedoch Gefahr, die normalisierenden Absichten psychiatrischen Handelns lediglich zu verdoppeln, statt 57 Noack 2006, S. 311. 58 Hanrath 2002. 59 Die Einsicht in Krankenakten wurde der Autorin aus Datenschutzgründen verwehrt. 60 Als Ausnahme von dieser Regel sind die Arbeiten von Cornelius Borck über die Geschichte der Elektroenzephalographie sowie Alain Ehrenbergs zur Kulturgeschichte der Depression zu betrachten (vgl. Borck 2005a; Borck 2005b; Ehrenberg 2004). 61 Foucault 1969. Vgl. auch Link 2006, S. 124. 62 Blasius 1994, S. 9. 63 Zu dieser Kritik vgl. auch Fangerau/Nolte 2006.
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die Spielräume aufzuzeigen, die sich den Behandelten im Anstaltsalltag boten. Zum anderen gerieten mit der stark auf die Institutionalisierung ausgerichteten Historiographie die Trans- und Entinstitutionalisierungsprozesse aus dem Blick, die die Entwicklung der Psychiatrie in den letzten Jahrzehnten zunehmend charakterisiert haben. Robert Castel und seine KollegInnen haben diese Entwicklungen als »Psychiatrisierung des Alltags« bezeichnet, die sich aus einer Differenzierung der Psychiatrie in verschiedene Bereiche und ein Diffundieren psychiatrischen Wissens in verschiedene Organisationen der sozialen Fürsorge ergibt.64 Eine Dichotomisierung der Geschichtsschreibung zwischen Studien zur repressiven Anstaltspsychiatrie auf der einen Seite und auf der anderen Seite Untersuchungen zur Befreiung der PatientInnen durch Anstaltsentlassungen, welche häufig durch einen Übergang in den ambulanten psychiatrischen Sektor gekennzeichnet waren, würde außerdem die enge Verzahnung zwischen den beiden Bewegungen und die normierende Funktion des Neuroleptikakonsums verkennen.65 Neuere ProtagonistInnen der Psychiatriegeschichtsschreibung wie Robert Castel und Nikolas Rose haben sich in ihren Analysen deshalb vor allem auf den »produktiven« Machtbegriff des späten Foucault bezogen. Macht wird in Foucaults neueren Schriften als dynamisches Gebilde, als Kräfteverhältnis erklärt, das einerseits subjektive Wahrnehmungen konstituiert und steuert, andererseits aber auch neue Handlungen hervorbringt.66 Dieses Machtkonzept ermöglicht ein komplexes Verständnis solcher psychiatrischen Diskurse und Praktiken, die ein neues Feld der Wissenschaften rund um die Psyche etablierten. In Anlehnung an die Theorien Foucaults betrachten Castel und Rose auch präventive Aspekte neuer psychiatrischer Techniken und die Auswirkungen der neuen psychiatrischen Technologien, wie zum Beispiel bildgebender Verfahren, auf das Selbst.67 Diese Untersuchungen zu Selbsttechnologien bilden den Ausgangspunkt, um die zu Beginn des Abschnitts diskutierten Auswirkungen der neuen somatischen Interventionen und Therapien für die psychiatrische Theorie und Praxis sowie die Selbstwahrnehmung der 64 Castel/Castel/Lovell 1982; zu dieser Kritik vgl. auch Scull 1991a, S. 165ff und Scull 1991b, S. 242. 65 Meier et al. 2007, S. 20. 66 Zur Entwicklung des produktiven Machtbegriffs vgl. Foucault 1986 und Foucault 1987. Eine differenziertere Verwendung des Machtbegriffs in der Psychiatrie unternimmt Foucault in seiner Vorlesung »Die Macht der Psychiatrie« (vgl. Foucault 2005). Auch wenn sich Foucault in seinen Ausführungen schwerpunktmäßig auf die Psychiatrie des 19. Jahrhunderts bezieht, bieten seine Ausführungen gute Anschlusspunkte für die Psychiatriegeschichte des 20. Jahrhunderts. 67 Zu den Arbeiten Castels vgl. Castel 1979; Castel/Castel/Lovell 1982; Castel 1983. Für Einblicke in das Werk von Nikolas Rose vgl. Rose 1990; Rose 1998; Rose 2007.
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Behandelten zu untersuchen. Die erneute Ausrichtung der Psychiatrie auf das Gehirn machte Rose vor allem an der Entwicklung experimenteller Systeme, wie zum Beispiel visualisierender Verfahren auf der einen Seite, aber auch der Anbindung der psychiatrischen Diagnostik an eine experimentelle Erfassung auf der anderen Seite, fest.68 Mit diesen Techniken sei eine Welle der Biologisierung der Psychiatrie einhergegangen. Im Zuge dieser Entwicklungen stellen sich für Nikolas Rose folgende Fragen: »Many have discussed the ways in which advances in the life sciences and biotechnology are increasing human beings’ capacities to transform their life processes. But what happens when it is the self itself that is subject to transformation by biomedical technology? When cognition, emotion, volition, mood, and desire are themselves opened up to intervention?«69
Diese Somatisierung der psychiatrischen Behandlungspraktiken, so könnte man mit Rose zuspitzen, beeinflusst schließlich auch die Art und Weise, uns selbst zu denken, denn das Selbst ist mit dieser Entwicklung zu einem neurochemischen Produkt geworden. Die Betonung des Selbst in diesen Theorien lässt aber auch die Frage nach den Erlebnisdimensionen der ProbandInnen in das Blickfeld geraten. Gerade für die Einführung neuer Psychopharmaka sollte sich dieser Doppelcharakter der neuen medikamentösen Behandlungsformen, das Selbst einerseits zum »chemischen Produkt« zu machen, das aber gleichzeitig über Reflexion auf die Effekte der Substanzen zurückwirkt, als bedeutsam erweisen. Ich möchte im folgenden Abschnitt untersuchen, ob sich die Historiographie über Psychopharmaka mit diesem Doppelcharakter auseinandersetzt.
Eine kurze Geschichte der Psychopharmaka: Die Einführung der Neuroleptika als Ende oder Anfang der Historiographie? »Das Chlorpromazin führte zu einer Revolution in der Psychiatrie, vergleichbar der Einführung des Penizillins in der Allgemeinmedizin. Es konnte die eine Psychose auslösenden Krankheiten zwar nicht heilen, aber wenigstens die schlimmsten Symptome zum Abklingen bringen, so daß Schizophrene ein relativ normales Leben führen konnten, ohne asyliert werden zu müssen.«70
Das Zitat aus Edward Shorters »Geschichte der Psychiatrie« steht beispielhaft für die Fortschrittsgeschichtsschreibung über Psychopharmaka. So hat auch der Mediziner und Psychiatriehistoriker Erwin Ackerknecht 68 Rose 2007, S. 191. 69 Rose 2007, S. 187. 70 Shorter 2003, S. 383.
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betont, dass somatischen Verfahren wie zum Beispiel der Elektroschock oder die Insulinkomatherapie, welche die Behandlungsformen bis 1950 bestimmten, durch die Einführung der Neuroleptika weitgehend aufgegeben worden seien und die Verabreichung neuer psychiatrischer Medikamente Massenentlassungen aus den psychiatrischen Anstalten zur Folge gehabt hätte.71 Diese Art der Psychopharmakahistoriographie stützt sich jedoch selten auf explizite historische Belege; eine kritische Diskussion der Quellen ist daher nicht möglich.72 Die Ausführungen lesen sich meist, wie Andrew Scull betont, als Fortschrittsgeschichte(n), denen zufolge die »vorwissenschaftlichen« Behandlungsformen in der Psychiatrie bis 1950 von »wissenschaftlich« fundierten Therapien abgelöst worden seien.73 Selbst Studien, welche die Geschichte der Psychopharmaka genauer beschreiben, folgen häufig dieser Erzählweise. So ist es zu erklären, dass sich die Mehrheit der Arbeiten zur Entwicklung medikamentöser Therapien in der Psychiatrie auf den Zeitraum bis zur Einführung des ersten Neuroleptikums Chlorpromazin konzentrieren und die folgenden Entwicklungen entweder überhaupt nicht betrachten oder nur sehr knapp und meist als »Erfolgsgeschichte« in den Blick nehmen. Die Arbeiten im deutschsprachigen Raum fokussieren in der Regel entweder nur das 19. Jahrhundert74 oder aber die Entwicklungen von der Mitte des 19. bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. So kartiert etwa Frank Hall die in der Psychiatrie bis 1950 verwendeten Substanzen, jedoch widmet er den Umständen ihrer klinischen Erprobung nur einen kurzen und weitgehend auf die Zeit vor 1950 beschränkten Abschnitt.75 Hans Bangen geht zwar in seiner Dissertation explizit auf die Einführung der Neuroleptika in der BRD ein, er stellt aber die »Entdeckergeschichte« im Jahr 1953 in den Mittelpunkt und nimmt die weitere Entwicklung der Medikamente nicht mehr genauer in den Blick.76 Séverine Massat-Bourrat lässt ihre Geschichte der Laborentwicklung des Chlorpromazins ebenfalls Mitte der 1950er Jahre enden.77 Die Habilitationsschrift Matthias M. Webers’ analysiert die Geschichte der 71 Ackerknecht 1985, S. 104. Demgegenüber stehen die Diskurse zeitgenössischer PsychiaterInnen. Hier wird betont, dass gerade die Heilkrampfbehandlung nach einigen Jahren wieder stetig zunahm, weil die Erwartungen an die neue Medikation nicht erfüllt wurden (vgl. beispielhaft Meyer 1977, S. 74). 72 Eine ähnliche Argumentationsweise, die im Grunde nur die psychiatrische Lehrmeinung abbildet, verfolgt leider auch das neuere Lexikon zur Geschichte der Psychiatrie von Heinz Schott und Rainer Tölle (vgl. Schott/Tölle, S. 486). 73 Scull 1994, S. 1. 74 Leibrock 1998. 75 Hall 1997. 76 Bangen 1992. Positiv ist anzumerken, dass Bangen die kritischen Diskussionen in den 1980er Jahren zumindest kurz erwähnt. 77 Massat-Bourrat 2004.
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Psychopharmaka von der Romantik bis zur Etablierung der modernen Psychopharmaka, orientiert sich aber an einer ideengeschichtlichen Herangehensweise. Auch in dieser Studie steht das Narrativ im Vordergrund, wonach sich die Psychiatrie mit den neuen Psychopharmaka um 1950 endlich eine naturwissenschaftliche Grundlegung verschaffen konnte.78 Ebenso erzählt Judith Swazey in einem Auftragswerk für das National Institute of Mental Health die Einführung des Chlorpromazins in den USA als Innovationsgeschichte. In dieser Untersuchung finden sich einige kritische historische Kontextualisierungen, doch wird die breitflächige, durch Chlorpromazin angestoßene Etablierung neuer psychopharmakologischer Substanzen nicht weiter verfolgt.79 Ein von Otfried K. Linde herausgegebener Sammelband fokussiert zwar die Einführung der wichtigsten Psychopharmaka, beschreibt diese jedoch lediglich aus der Sicht der beteiligten ForscherInnen und bleibt dem Ansatz einer Innovationsgeschichte verbunden.80 Weitere Veröffentlichungen kommen meist von beteiligten AkteurInnen und stellen Zusammenfassungen medizinischer Publikationen dar.81 Eine detaillierte, historisch-kritische und epistemologische Untersuchung, der modernen Psychopharmaka, wird in den beschriebenen Arbeiten weitgehend ausgespart. Es gibt jedoch auch einige Arbeiten zur Psychopharmakageschichte, die kein simples Fortschrittsnarrativ zugrundelegen. Dabei handelt es sich in der Mehrzahl um Studien, die sich auf die Etablierung der psychiatrischen Therapeutika in spezifischen nationalen Kontexten, insbesondere den USA, konzentrieren. So haben sich Toine Pieters und Stephen Snelders in ihren Untersuchungen hauptsächlich mit der historischen Entwicklung in den Niederlanden befasst. An vielen Beispielen haben sie die zentrale Bedeutung der Verabreichung psychoaktiver Substanzen für die Entwicklung der Psychiatrie analysiert. Die psychiatrischen Medikamente sind, wie die Autoren herausarbeiten, mehr als rein medizinische Dinge; sie verdeutlichen auch die Kunst des Heilens als kulturellen Prozess.82 Mit dem »Seige-Zyklus« führen die beiden Autoren in Anlehnung an den deutschen Psychiater Max Seige ein Modell ein, das den Verlauf der Etablierung neuer Psychopharmaka in den Blick nimmt. Sie folgen Seige dabei in der These, dass die Konjunktur neuer psychiatrischer Medikamente durch einen großen Enthusiasmus bei ihrer Einführung gekennzeichnet sei, jedoch bald in eine Kritik ihrer Anwendung übergehe und schließlich in
78 79 80 81
Weber 1999. Swazey 1974. Vgl. die Beiträge in Linde 1988. Vgl. beispielhaft Ban 2001; Domino 1999; Frankenburg 1994; Heinrich 1994; Meyer/Simpson 1997; Shen 1991. 82 Pieters/Snelders 2005, S. 381.
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einem zurückhaltenden Gebrauch münde.83 Dieses Modell haben Pieters und Snelders schwerpunktmäßig in ihren Studien über die psychoaktiven Substanzen in der Psychiatrie vor 1950 erarbeitet – die Einführung der Neuroleptika streifen sie nur kurz. Daher lässt sich fragen, ob die moderneren psychiatrischen Medikamente nicht differenzierteren Konjunkturen unterliegen als die von den Autoren untersuchten Psychopharmaka.84 Eine frühe Arbeit von Anne Caldwell betrachtet die im Zuge des steigenden Psychopharmakakonsums sich etablierenden neuen Evaluationstechniken der Arzneimittelwirksamkeit. Sie rekonstruiert die ersten amerikanischen Debatten über diese Verfahren.85 Vertiefte Aufmerksamkeit hat das Feld der Evaluationstechniken aber vor allem durch den englischen Psychiater David Healy erhalten, der sich, nachdem er einige Jahre selbst Kliniker und Mitglied des nationalen Netzwerks britischer PsychopharmakologInnen gewesen ist, hinsichtlich des Gebrauchs von Psychopharmaka zunehmend kritisch positionierte. Healy hat sich vor allem mit der Entwicklung der Psychopharmaka nach 1950 beschäftigt und diese mit derjenigen von Ratingskalen sowie der Erfindung neuer psychiatrischer Krankheitsbilder in Verbindung gebracht.86 Auch mit seinen Zeitzeugeninterviews, die er mit bedeutenden PsychopharmakologInnen auf der Basis seiner eigenen, sehr genauen Kenntnisse dieses Bereichs geführt hat, hat er Pionierarbeit auf dem Gebiet der oral history zur Entwicklung der Psychopharmaka geleistet.87 Dabei betrachtet Healy den Einfluss des pharmazeutisch-industriellen Komplexes auf die Wissensbildung über Psychopharmaka.88 Seine Arbeit beleuchtet allerdings schwerpunktmäßig die Geschichte der Antidepressiva im amerikanischen Raum und widmet sich nur an einigen Stellen einer Rekonstruktion der Wirksamkeit von Neuroleptika.89 Nur eine neuere Arbeit nimmt die Konstruktion des Wirksamkeitsbegriffs der Psychopharmaka durch Forschungssysteme in den Blick, rückt 83 Snelder/Kaplan/Pieters 2006 und Pieters/Snelders 2005. 84 Toine Pieters und Stephen Snelders befassen sich zwar kurz auch mit der Einführung von Chlorpromazin, nehmen aber in erster Linie die ersten Jahre nach der Einführung in den Blick. Eine genauere Untersuchung des Entwicklungsverlaufs des Medikaments muss aber meines Erachtens zu einer vom Seige-Zyklus abweichenden Einschätzung führen (vgl. Pieters/Snelders 2005, S. 385ff.). 85 Caldwell 1970a und Caldwell 1970b. 86 Healy 1997; Healy 2000b; Healy 2006. 87 Healy 1996; Healy 1998; Healy 2000a. 88 Besonders in seinem Buch »Let them eat Prozac. The unhealthy relationship between the pharmaceutical industry and depression« widmet sich Healy eingehend der Praxis von Pharmakonzernen, unliebsame unerwünschte Wirkungen und mangelnde Erfolge von neuen Psychopharmaka zu verschweigen oder die Versuchsergebnisse zu manipulieren sowie durch Ghostwriter klinische Berichte verfassen zu lassen (vgl. Healy 2006). 89 Vgl. Healy 2002.
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jedoch wiederum den angloamerikanischen Raum in den Fokus: Seymour Fisher und Roger Greenberg befassen sich mit der Wandlung des Wirksamkeitsbegriffs durch die Einführung von Blind- und Doppelblindstudien und die Änderungen in der psychiatrischen Diagnostik aus einem psychologischen und medizinkritischen Blickwinkel. Doch weder setzen die Autoren die Entwicklung von Techniken wie der blinden Versuchsanordnung mit den Umgestaltungen der psychiatrischen Diagnostik in Beziehung noch erheben sie Anspruch auf eine geschichtliche Rekonstruktion.90 Der Überblick über die bisherigen Arbeiten zeigt, dass die Geschichte moderner Psychopharmaka noch unzureichend erforscht ist. Vor allem fehlt es an historisch-epistemologischen Rekonstruktionen der ersten Versuche bis zur verifizierten Therapie; zudem gibt es kaum eine Studie, welche die Bedeutung der Einführung neuer Substanzen für die klinischpsychiatrische Praxis betrachtet. Den Prozess der Wissensbildung aus dem Anstaltsalltag heraus untersucht keine der genannten Arbeiten. So mangelt es an Analysen, welche die Wahrnehmung von PatientInnen mit Psychopharmaka in den Blick nehmen. Zwar stellt David Healy die provokante Frage, ob die randomisierten kontrollierten Studien in der Psychiatrie nicht vor allem deswegen eingeführt wurden, um mittels eines abstrakten Wirksamkeitsbeweises die Stimme der PatientInnen zu übertönen.91 Er führt diesen Gedanken jedoch nicht näher aus. Ich möchte mit meiner Analyse hier neue Wege beschreiten und die Einführung der Neuroleptika aus verschiedenen Blickwinkeln rekonstruieren. Um einen Überblick über die Untersuchung zu geben, werde ich im Folgenden zunächst den Aufbau der Arbeit genauer skizzieren.
1 . 3 Au f b a u d e r Ar b e i t Die vorliegende Arbeit wird die Geschichte der Wirksamkeitskonstruktion von Neuroleptika anhand zweier miteinander vernetzter Fallstudien untersuchen. Vorausgeschickt werden soll ein Kapitel zur Geschichte der Psychopharmaka vor 1950 sowie zum Kontext der Beurteilung des therapeutischen Wertes eines Arzneimittels in der frühen BRD. Im ersten Teil meiner Fallstudie werde ich die psychiatrischen Bemühungen, einen Wirksamkeitsbegriff aus der klinischen Praxis zu generieren, anhand der Geschichte des Neuroleptikums Chlorpromazin und seiner Einführung in der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1953 analysieren. Dazu werde ich zunächst den Weg der Substanz von der französischen Herstellerfirma RHÔNE-POULENC zum deutschen Unternehmen 90 Fisher/Greenberg 1997; Fisher 1989. 91 Healy 2000b, S. 407.
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BAYER, welches das Medikament unter dem Handelsnamen Megaphen in den Handel brachte, nachzeichnen. Anschließend werde ich die ersten von BAYER veranlassten klinischen Untersuchungen mittels Primärquellen aus dem Unternehmensarchiv rekonstruieren. Um die Analyse der lokalen bundesdeutschen Ersterprobungen der Substanz zu vertiefen, werde ich eine der beteiligten Institutionen, die Psychiatrische Universitätsklinik Heidelberg, näher in den Blick nehmen. Hierzu müssen vorderhand deren institutionellen Gegebenheiten genauer betrachtet werden. Einzelne ProtagonistInnen der Klinik, insbesondere der Psychiater Hans-Hermann Meyer (1909–2000), interessierten sich von Anfang an für das Megaphen; Meyer gehörte auch zu den ersten Verfassern klinischer Studien zum therapeutischen Wert der Substanz.92 Ausgehend von den Krankenakten der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg werde ich die Praxis der klinischen Erprobung untersuchen. Die frühsten Erprobungen an psychiatrischen PatientInnen im Jahr 1953 werden dabei einer Mikroanalyse unterzogen und mit weiteren Behandlungsfällen aus den Folgejahren verglichen, die ich durch eine repräsentative Stichprobe ausgewählt habe. Gerade den ersten Fällen kommt in der Bildung eines klinischen Wissens über die Effekte der Neuroleptika eine große Bedeutung zu, denn die an Akten ablesbaren, tastenden Versuche, eine Wirksamkeit der Substanzen zu beschreiben, markieren in besonderem Maße die therapeutischen Erwartungen. Mit meiner Aktenanalyse möchte ich die Konstitution jenes neuen Wissens sichtbar machen, das sich in den frühen psychiatrischen, nationalen wie internationalen, Veröffentlichungen über die klinischen Versuche lediglich in Spuren niedergeschlagen hat. In initialen Phasen von klinischen Erprobungen werden regelmäßig, wie Jack Pressman hervorhebt, nur die ›positiven‹ Fälle veröffentlicht; auf diese Weise kann es aus der Retrospektive so erscheinen, als sei die Wirksamkeit einer Therapie von Anfang an offensichtlich gewesen.93 Die historische Rekonstruktion der ersten Phase klinischer Wissensbildung aus der Praxis ist mithin grundlegend, um zu zeigen, dass sich die Effektivität insbesondere psychiatrischer Medikamente nicht wie ein Schlüssel beschreiben lässt, der das Schloss einer Tür zur Befreiung Wahnsinniger aus ihren Delirien öffnete. So bedurfte es auch beim Megaphen einiger Versuche, bevor sich überhaupt ein Erfolg herauslesen lassen konnte. Für die Frühphase der Einführung und Etablierung von Neuroleptika spielt aber auch der Begriff der Zeugenschaft eine besondere Rolle. Auf der einen Seite bezieht sich dies auf die ÄrztInnen und das Pflegepersonal, die ihre klinischen Beobachtungen eng an die Verhaltensweisen der PatientInnen angelehnt beschreiben. Die Verschriftlichung der Beobachtungen mündet schließlich in ersten Formen von Kasuistiken. Auf 92 Vgl. Meyer 1953a. 93 Pressman 1998, S. 6.
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der anderen Seite ist der Patient in diesem Setting der einzige zuverlässige Zeuge, der über die Effekte Aufschluss geben kann. Die Figur des Patienten wird deshalb zum Kern der Versuche, ein Wissen über die seine Subjektivität berührenden Effekte der neuen Substanzen zu bilden. In den Krankenakten finden sich zahlreiche Bemühungen, ihn zum Sprechen über die neuen Psychopharmaka zu bringen. Gleichzeitig verdeutlichen die Dossiers aber auch den Akteursstatus und Eigensinn94 der PatientInnen, die sich in individueller Weise zu den Effekten der Medikation und dem Anstaltsalltag positionieren. Anhand einer Analyse der Verwendung von Megaphen in den 1950er Jahren soll auch der experimentelle Status der Therapie betrachtet werden, der mit den ersten Versuchen keineswegs abgeschlossen ist. Vielmehr werden die in den Jahren nach der Einführung von Megaphen unsicheren, tastenden Versuche der klinischen Wissensbildung deutlich, die sich aber schnell mit Beobachtungen von Komplikationen mischen. Das Wissen über neuroleptische Effekte bleibt ein instabiles. Ein Blick auf die das Megaphen produzierende Firma BAYER wird die Marketingstrategien sichtbar werden lassen, mit denen das Unternehmen in diesen Zeiten der Unsicherheit die neue Medikation bewirbt. Deutlich wird an dieser Stelle auch werden, dass das Unternehmen zunächst die nicht-psychopharmakologischen Wirkungen in den Vordergrund stellte. Die Arbeit wird sich anschließend von der Fallstudie über das erste Neuroleptikum Megaphen entfernen und sich der Evaluation der Neuroleptika in einem breiteren Maßstab zuwenden. Wie sich zeigen wird, wird das Prinzip der Zeugenschaft, das vor allem auf persönliche Beurteilung setzt, nach einigen Jahren der Versuche mit den neuen Psychopharmaka prekär. Das Ergebnis scheint zu sehr von Ort, Zeit und Person bestimmt zu sein, als dass es stabile Ergebnisse von neuroleptischen Effekten hervorbringen könnte. Die Wissensbildung durch Zeugenschaft wird zunehmend abgelöst durch eine Vorstellung von Wirksamkeit als experimentell hergestelltem Wissen. Wie ich herausarbeiten werde, führte die Variabilität der neuroleptischen Effekte zu dem Bestreben, stabile Versuchsanordnungen herzustellen. Die neuen Effekte der Therapie mussten dabei in einer Art und Weise konzeptualisiert werden, die sie in etwas qualitativ anderes verwandelte.95 Die Arbeit wird die Diskussionen bundesdeutscher PsychiaterInnen über neuroleptische Wirksamkeit in den Blick nehmen und sie in Beziehung zu den ersten amerikanischen Evaluationsversuchen in der Psychopharmakologie setzen, die den deutschen ForscherInnen als Bezugsund Abgrenzungspunkt dienten. Der mangelnden Stabilisierbarkeit neuroleptischer Effekte, die sich auch in der Unmöglichkeit ausdrückten, eine stabile Dosis-Wirkungsbeziehung angeben zu können, sollte in den USA 94 Lüdtke 1993. 95 Pressman 1998, S. 388.
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mit der konsequenten Anwendung des kontrollierten klinischen Versuchs begegnet werden. Harry Marks bezeichnet diese Orientierung der Medizin an den Kriterien einer evidenzbasierten Wissenschaft auch als »Progress of Experiment«.96 Ich nehme in meiner Arbeit die epistemologische Bedeutung einer Anpassung der klinischen Beobachtung an die Bedingungen des kontrollierten klinischen Versuchs für den entstehenden psychopharmakologischen Wirksamkeitsbegriff in den Blick. Es wird zu fragen sein, inwieweit die Ausrichtung des klinischen Versuchs an einem »experimentellen« Paradigma die Evaluationsbemühungen in der Bundesrepublik bestimmten. Die ForscherInnen verhandelten über neuroleptische Effekte in der BRD vor allem in nationalen Netzwerken, denen neben PsychiaterInnen auch PharmakologInnen und PsychologInnen angehörten. Die Wirksamkeit von Neuroleptika wurde innerhalb dieser Diskussionen zum ausgehandelten Grenzobjekt.97 Dabei werde ich vor allem die nationalen Forschungssysteme analysieren, die neuroleptische Effekte als wirksame Einheiten herstellten. Die direkte Umklammerung von Körper und Geist, von somatischer und »psychischer« Krankheit als Folge der Wirksamkeitsvorstellungen der modernen Psychopharmaka ab Mitte des 20. Jahrhunderts lassen im Prozess der Evaluierung aber nicht nur neue, naturwissenschaftliche Vorstellungen von Wirkungen hervortreten, sondern benötigen auch skalierbare Vorstellungen von psychischen Phänomenen. Es wurde notwendig, die unterschiedlichen Vorstellungen von »psychischen Krankheiten« zu vereinheitlichen und sie an experimentelle Begrifflichkeiten anzupassen. Ursula Klein bezeichnet neu entstehende Klassifikationssysteme, die sich mit experimentellen Innovationen herausbilden, als Papierwerkzeuge. Diese sollen Leerstellen schließen, die im Zuge von Erfindungen offen bleiben.98 Die Arbeit wird parallel zu einem sich entwickelnden Wirksamkeitsbegriff die sich transformierenden Vorstellungen über psychiatrische Diagnostik betrachten. Dabei werden besonders die Eigenarten der bundesdeutschen Psychopathologie analysiert werden, die für einen im nationalen Kontext gebildeten Wirksamkeitsbegriff die Grundlage bilden. Gerade die beschriebene konzeptuelle Offenheit der Psychopathologie in den Nachkriegsjahren beförderte eine starke Ausrichtung auf lokale Wissensbildung, denn meist fehlte eine über einzelne Schulen hinausgehende Verbindlichkeit. Im Zuge der Standardisierung neuroleptischer Effekte 96 Marks 1997. 97 John Law betont in seiner Akteur-Netzwerk-Theorie die Wichtigkeit solcher Verhandlungen und die mit ihr einhergehenden Bedeutungsverschiebungen (vgl. Law 1999). 98 Klein 2003. In diesem Zug passt sich das Modell auch immer mehr der therapeutischen Intervention, hier der Psychopharmakologie, an (vgl. Rose 2007, S. 199).
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wurden folgerichtig auch erste Formen symptomorientierter Befunddokumentationen mit erprobt, die in Richtung auf sich später im internationalen Kontext durchsetzende Formen von Diagnosemanualen wie dem DSM-III hinwiesen. Am Ende des zweiten Teils werde ich die bundesdeutschen Diskussionen über den kontrollierten klinischen Versuch in der bundesdeutschen Psychopharmakologie in den Blick nehmen, die sich vor allem im Zusammenhang mit dem Arzneimittelgesetz von 1976 etablierten und die epistemologischen Verschiebungen aufzeigen, die damit einhergingen. Die Arbeit wird schließlich mit einem Ausblick auf die Folgen des neuen Begriffs von neuroleptischer Wirksamkeit und der öffentlichen Wahrnehmung psychiatrischer Medikamente enden. In diesem Prozess sollen zum einen die Diskussionen über ausgeschlossene Wirksamkeitsaspekte wie zum Beispiel unerwünschte Wirkungen in den Blick geraten. Die Neuroleptika waren darüber hinaus im Verlauf ihrer Etablierung zunehmend zum Streitpunkt zwischen Psychiatrie, Öffentlichkeit und PatientInnen geworden. Zeitgleich etablierten sich Diskussionen über die mangelnde Komplizenschaft der Behandelten. In diesen Debatten wurden die PatientInnen und ihr Verhalten vor allem als Risikofaktor sichtbar. Bevor ich mit meiner historischen Untersuchung beginne, möchte ich meiner Analyse einige theoretische Erläuterungen vorausschicken. Im nächsten Abschnitt soll deshalb die Bedeutung von Erfahrung, Zeugenschaft, Komplizenschaft und der Experimentalisierung klinischer Wissensbildung herausgearbeitet werden. Dabei möchte ich besonders die veränderte Rolle des Patienten betrachten.
1 . 4 Zw i s c h e n W i r k u n g u n d E r f a h r u n g : der Patient im Erprobungsprozess – einige theoretische Überlegungen Im Folgenden möchte ich zunächst etwas ausführlicher auf den Begriff der »Erfahrung« eingehen. Die epistemologische Bedeutung von »Erfahrung« ist für die Geschichte der neuroleptischen Wirksamkeit in mindestens zweierlei Hinsicht interessant. Zum einen ist Erfahrung ein zentrales Erkenntnismoment von klinischer Wissensbildung. Der Forscher muss sich durch eigene Beobachtungen am Krankenbett die Effekte einer Behandlung selbst »erfahrbar« machen.99 Er kann die im Labor hervorgebrachten Ergebnisse über Psychopharmaka nicht einfach in die klinischen Praxis übernehmen. Damit sich die (bundes-)deutschen PsychiaterInnen verständigen konnten, bedurfte es der lokalen und durch Erfahrungen an der eigenen psychiatrischen Klinik getragenen Wissensbildung. 99 Pressman 1998, S. 256ff.
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Zum anderen muss für die Darstellbarkeit eines neuroleptischen Effekts, wie ich herausarbeiten werde, über die Instrumentarien des Labors hinaus auch der Patient zur stabilen Referenzquelle werden. Bruno Latour hat den Begriff der »zuverlässigen Zeugen« für Laborwerte und Versuchsanordnungen geprägt, insofern diese für die Materialität der Fakten bürgen.100 In der Psychopharmakologie werden hingegen Vorstellungen über die Effektivität neuer psychiatrischer Medikamente vor allem klinischempirisch gewonnen. Wie Philippe Pignarre in Anlehnung an Bruno Latour darlegt, ist der Patient in der Wirksamkeitsbeurteilung der Neuroleptika der einzige »zuverlässige Zeuge«, da adäquate Labormodelle für die Beurteilung des therapeutischen Wertes psychotroper Stoffe fehlen.101 Um die Effekte eines Medikaments bestimmen zu können, bedarf es deshalb einer fortwährenden Beobachtung der Rede und der Handlungen des Patienten. Im nächsten Abschnitt werde ich die verschiedenen Dimensionen von »Erfahrung« herausarbeiten, die für die Konstitution des Wirksamkeitsbegriffs entscheidend sind. Zunächst möchte ich aber betrachten, wie »Erfahrung« als analytischer Begriff in den Geschichtswissenschaften überhaupt diskutiert wird und die Folgen dieser Diskussion für die Historiographie von Körpern und Subjektivitäten aufzeigen. In einem zweiten Schritt werde ich die Möglichkeiten und Grenzen des Begriffs für eine patientengeschichtliche Herangehensweise betrachten und in einem dritten Schritt die Bedeutung eines lokalen, durch Zeugenschaft gebildeten Wissens für den Prozess der Wirksamkeitskonstruktion verdeutlichen. Die Ausführungen dienen der theoretischen Einordnung meiner Fallstudie über die ersten klinischen Erprobungen.
Erfahrung: eine Analysekategorie in den Geschichtswissenschaften? Der Begriff der Erfahrung spielte in vielen historischen Werken der letzten Jahre eine entscheidende Rolle. Es wird, gerade von feministischen TheoretikerInnen, hervorgehoben, dass die Körpererfahrung ein wichtiges Moment der Identitätsbildung darstelle. Eng an diese Körpererfahrung gebunden entwickle sich letztlich auch Subjektivität.102 Diese Erkenntnis ist für die vorliegende Arbeit von zentraler Bedeutung, denn die Effekte der Neuroleptika werden über den Körper subjektiv erlebt. Dieser These folgend 100 Latour 2008; Latour 1987. 101 Pignarre 2006, S. 62 und S. 95. 102 Diese Grundannahme teilen meines Erachtens alle im Folgenden erwähnten AutorInnen: Canning 2004; Duden 2004; Scott 1991. Subjektivität ist Canning zufolge zentral durch die Aneignung körperlich erfahrener Effekte durch das Subjekt bestimmt (vgl. Canning 2004, S. 53).
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verstehe ich die neuroleptische Wirksamkeit als eine Körpergeschichte der Arzneimittelwirkungen einerseits und einer Geschichte der Subjektwerdung – im Sinne einer Aneignung der Effekte durch die PatientInnen – anderseits. Über den Begriff der Erfahrung entspannte sich in den Geschichtswissenschaften eine kontroverse Diskussion. So gibt es Forschungsarbeiten, welche die Körpererfahrung zum Ausgangspunkt für eine Geschichtsschreibung machen und diese als beweiskräftig ansehen.103 Joan W. Scott hat in einem programmatischen Artikel diese Argumentationsweise kritisiert.104 Sie betonte, dass Erfahrung keine ontologisch zu fassende Entität sei, sondern erst durch verschiedene Diskurse und Praktiken hervorgebracht worden sei. So laufe man Gefahr, Differenz als Realität zu fixieren, wenn man die unterschiedlichen Erfahrungen, beispielsweise von verschiedenen PatientInnen, darstelle, ohne darauf hinzuweisen, wie diese Differenzerfahrungen entstünden.105 Damit stütze man aber gleichzeitig ideologische Systeme und ihre Produktion von Subjektivität, statt sie zu hinterfragen. Gleichzeitig räumten aber auch KritikerInnen einer unmittelbaren Beweiskraft von Erfahrung ein, dass das Körpererleben nicht vollständig reguliert werden könne, sondern dort, wo der Körper empfunden werde, immer neue Handlungsmöglichkeiten entstehen.106 In der beschriebenen Debatte standen sich also zwei Positionen gegenüber: Auf der einen Seite betonten ForscherInnen die historische Rekonstruktion des Leibes als widerständiges Moment einer (Medizin-)Geschichtsschreibung.107 Auf der anderen Seite verdeutlichten KritikerInnen die analytischen Grenzen, die damit verbunden sind, die Körpererfahrung als Ausgangspunkt einer Historiographie zu nehmen.108 Zwischen den genannten Lagern entspannte sich eine weitere Debatte, in der der Begriff der Erfahrung näher beleuchtet und auf verschiedene Probleme seiner Rekonstruktion hingewiesen wurde. So wurde hervorgehoben, dass historische Subjekte erstens in der gleichen Situation unterschiedliche Erfahrungen machten. Zweitens wurde angemerkt, dass dem Historiker Erfahrung nur durch eine Vermittlung zugänglich werde, die in 103 Vgl. beispielhaft Duden 1991; Duden 2004. 104 Scott 1991. 105 Scott 1991. Scott spitzt diesen Gedanken folgendermaßen zu: »The evidence of experience then becomes evidence for the fact of difference, rather than a way of exploring how difference is established, how it operates, how and in what ways it constitutes subjects who see and act in the world« (Scott 1991, S. 777). 106 Sarasin 2003, S. 103; Foucault 1986. Ausführlicher zu Foucaults Begriff der Subjektivierung vgl. Teil I, 3.7. 107 Duden 2004, S. 28. Zum Begriff des Leibes als Gegenstück zum immer schon konstruierten Körper vgl. auch Duden 1991. 108 Sarasin 2003, S. 105; Scott 1991.
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tradierten Quellen durch ihre Aufzeichnungsform immer schon vorgegeben sei. Drittens würden diese Erlebnisse nur als Teil von historisch situierten Handlungs- und Deutungszusammenhängen sichtbar. Meist könne man, wie Ute Daniel pointierte, Erfahrung im Forschungsprozess nur indirekt – als Reaktion auf etwas – erschließen, was eine Selbstreflexion des Forschers in diesem Prozess besonders notwendig mache.109 Ähnlich wie die Körpergeschichte sei eine Geschichte der Subjektivitäten demnach als Historisierung des gelebten Prozesses von Subjektivierung zu begreifen, bei dem das Subjekt mitwirke und entweder konform gehe oder Widerstand leiste.110 Erfahrung sei nicht als Rohstoff sondern als Sinnbildungsprozess zu historisieren, führte Isabel Richter aus.111 Damit stellt sich auch die Frage, wie sich das Subjekt in der erfahrungszentrierten Geschichte denken lasse.112 Dies ist für die vorliegende Arbeit von zentralem Interesse, da ich die Effekte der Psychopharmaka als Geschichte eines Aneignungsprozesses durch die PatientInnen betrachten möchte. Diese Aneignung lässt sich mit Quellen wie Krankenakten, die Selbstzeugnisse enthalten, besonders gut verfolgen. Doch auch wenn sich die Arbeit mit einer Rekonstruktion aus solchen Quellen, die die verschiedenen Perspektiven von Arzt und Patient sichtbar werden lassen, beschäftigt, lässt sich die Geschichte einer Wirksamkeitskonstruktion nicht einfach als eine Erzählung aus der Sicht von PatientInnen schreiben, wie die folgenden Reflektionen zeigen werden.
PatientInnengeschichte: Möglichkeiten und Grenzen Bereits in den 1980er Jahren hat Roy Porter darauf hingewiesen, dass die Historiographie über die »Heilpraktiken« in der Regel als Geschichte der ÄrztInnen erzählt werde. Dabei gerate der Patient als konstitutiver Teil dieses Prozesses meist aus dem Blickfeld, was Porter als zentrale Forschungslücke markiert: »For it takes two to make a medical encounter – the sick person as well as the doctor; and for this reason, one might contend that medical history ought centrally to be about the two-way encounters between doctors and patients.«113 Aus diesem Grund müsse der Patient selbst wieder in das Blickfeld der ForscherInnen geraten und die Geschichte auch als eine Geschichte der Leidenden erzählt werden. Diesen Perspektivwechsel bezeichnete Porter auch als eine »Geschichte von unten«, eine Erzählung aus der Sicht von PatientInnen. Folgt man Porters Ausführungen, stellt sich hinsichtlich der Arbeit mit solchen Quellen, wie 109 110 111 112 113
Daniel 2004, S. 60. Canning 2004, S. 53. Richter 2006, S. 58. Richter 2006, S. 58. Porter 1985, S. 175.
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es Krankenakten sind, die Frage, inwieweit diese über patientengeschichtliche Implikationen Aufschluss geben können. Doch während einige ForscherInnen betonen, dass Quellengattungen wie Krankenakten Möglichkeiten bieten, die Erfahrungen des Patienten sichtbar zu machen, weisen andere auf die Verdinglichung des Patienten durch die moderne Klinik hin, die ihn in der Akte lediglich als Objekt erscheinen lasse.114 Die Möglichkeiten, Spuren der Perspektive des Behandelten aufzuzeigen, sind schließlich auch durch die Form der Quelle selbst begrenzt, die aus der Sicht der ÄrztInnen geschrieben werde und somit letztlich ein Dokument des Beobachters darstelle.115 Akten böten zudem nur einen selektiven Blick, weil sie häufig nicht vollständig und sehr kurz über das Geschehene Aufschluss geben würden und die Notizen von den theoretischen Positionen des Schreibers mit bestimmt seien.116 In diesem Sinne führen auch Meier et al. aus, dass psychiatrische Krankenakten als heterogene, vielstimmige, sich gegenseitig ergänzende, oft auch lückenhafte und widersprüchliche Dokumente gelesen werden müssten, die von den Ordnungsprinzipien der Institution und der medizinisch-administrativen Praxis geprägt seien.117 Trotz dieser Einschränkungen können in den Akten Spuren von Erfahrung deutlich gemacht werden. Auch Karen Nolte betont, dass eine Lektüre der Akten gegen ihre Intention möglich sei, eine solche Lesart aber eine Offenheit der Interpretationen benötige, in der miteinander konkurrierende Deutungen gleichberechtigt nebeneinander stehen blieben und der Prozess des Lesens »zwischen den Zeilen« transparent gemacht würde.118 Im Zuge der Aktenanalyse gilt es, den Fallstrick zu vermeiden, die Erfahrung lediglich durch die bestehenden diagnostischen Vermittlungen hindurch zu rekonstruieren. Psychiatrische Diagnosen sind in besonderer Weise historisch kontingente Konstruktionen der beobachtenden ÄrztInnen, die die Funktion hatten, den Wahnsinn vor allem für Letztere fassbar und benennbar zu machen.119 Darüber hinaus bilden Diagnosen eine Abstraktionsform, die von den Erlebnissen der PatientInnen sehr weit entfernt ist; sie stellen eine objektivierende Außenbeschreibung dar.120 Eine an patientInnengeschichtlichen Rekonstruktionen orientierte Psychiatrie114 Radkau 2001, S. 82: »[A]ber gerade die, die die Macht der Medizin kritisieren, zweifeln manchmal am meisten daran, daß man in der Vergangenheit überhaupt zur Patientengeschichte vorzudringen vermag. Seit Foucault haben sich Medizinkritiker daran gewöhnt, sich die Kliniken und Anstalten ganz vom ›ärztlichen Blick‹ durchdrungen vorzustellen.« 115 Gillis 2006, S. 489. 116 Tölle 1987, S. 42 ff. 117 Meier et al. 2007, S. 91f. 118 Nolte 2004, S. 279. 119 Hofer 2004, S. 28. 120 Von Trotha 1995a, S. 185.
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geschichtsschreibung ist der Gefahr ausgesetzt, rare Selbstzeugnissen, die zum Beispiel in Quellen wie Krankenakten abgelegt sind, als authentische Erlebnisberichte zu betrachten, ohne zu bedenken, dass diese erst im Kontext der Psychiatrie erzeugt werden und in Teilen immer auch eine Anpassung der PatientInnen an den »mächtigen« institutionellen Rahmen der Klinik verdeutlichen. Gleichzeitig muss sie es vermeiden, die »Stimmen der Unvernunft« auszusortieren, denn sonst würde die erzählte Geschichte zu einer Obrigkeitsgeschichte transformiert.121 Der Behandelte ist gerade in der Biomedizin des 20. Jahrhunderts sowohl als konstruiertes Objekt wie auch als handelndes Subjekt, als eigenwilliger Akteur und Referenzquelle, als Partner und Gegenspieler zugleich in den Blick zu nehmen.122 Die überlieferten Selbstzeugnisse des Patienten sind gleichwohl keine »authentischen« Übermittlungen seines Erlebens, da sie erst in der machtvollen Situation der Klinik hergestellt werden. Das soll andererseits aber nicht heißen, dass die Selbstzeugnisse deswegen zur Gänze durch ihren Entstehungskontext determiniert wären.123 Auch für die psychiatrische Psychopharmakaforschung wird es zur zentralen Herausforderung, die Erlebnisse der PatientInnen sichtbar zu machen, um die als spezifisch gegen Psychosen wirksame Potenz der neuen Substanzen aufzeigen zu können. Dieser Prozess stellt nicht zuletzt deswegen ein schwieriges Unterfangen dar, weil für eine stabile Erfassung der Neuroleptikaeffekte der einzelne Patient und seine Individualität zugleich eine stetige Störquelle bilden, die man mittels verschiedener biotechnologischer Verfahren und Messsysteme auszuschalten versucht. Diese doppelte Dimension der Patientenerfahrungen als Referenz- und Störquelle möchte die vorliegende Arbeit in ihrer konstitutiven Bedeutung für den Wirksamkeitsbegriff aufschlüsseln. Das Zusammenspiel zwischen Arzt und Patient ist dabei als komplexes zu begreifen, denn der klinische Wert des Neuroleptikums wird erst am wahnsinnigen Patienten lesbar. Wenn es, wie Roy Porter herausstellt, der Begegnung zweier Menschen bedarf, um ein medizinisches Wissen hervorzubringen, dann ist zu fragen, welche Rolle Arzt und Patient in der Konstruktion eines neuroleptischen Wirksamkeitsbegriffs einnehmen. Dabei spielt gerade der Anstaltsalltag in der Erzeugung der Effekte eine zentrale Rolle.
121 Meier et al. 2007, S. 43. 122 Condrau 2007, S. 532. 123 Condrau 2007, S. 527.
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Wirksamkeitskonstruktionen: die neuroleptischen Effekte als Zeugenschaft v o n Ar z t u n d P a t i e n t Die Frage nach der Herstellung eines Wirksamkeitsbegriffs aus dem Anstaltsalltag heraus zu stellen, bringt verschiedene Probleme mit sich. Joel Braslow arbeitet im Rahmen seiner anhand von Krankenakten vorgenommenen Analyse über die somatischen Kuren in der Psychiatrie zu Beginn des 20. Jahrhunderts heraus, dass die biologischen Effekte einer körperlichen Therapie nur durch die ÄrztInnen vermittelt sichtbar würden. Sie seien dadurch mit bestimmt, wie die ÄrztInnen die »psychische Krankheit« und ihre Behandlung betrachteten. Gleichzeitig würden die Effekte der Therapie jedoch erst durch die therapeutischen Praktiken hervorgebracht werden.124 Die MedizinerInnen benötigten dabei, wie Jack Pressman herausarbeitet, lokale klinische Beobachtungen, um sich die Wirkungen der Therapie selbst »erfahrbar« machen zu können.125 Ich werde diese Versuche, die Effekte des ersten Neuroleptikums Megaphen an psychiatrischen PatientInnen zu verdeutlichen, am Beispiel der Erprobungen des Medikaments an der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg verfolgen. Wie Braslow aufzeigt, gibt es jedoch zwei Arten, den therapeutischen Wert einer Substanz zu beurteilen: zum einen das erste im Klinikalltag gewonnene Wissen über klinische Effektivität (engl. effectiveness), das eng an seinen lokalen Entstehungskontext gebunden bleibt; zum anderen das aus kontrollierten klinischen Versuchen gebildete Wissen über Wirksamkeit (engl. efficacy).126 Eine am Anstaltsalltag orientierte Herangehensweise folgt Braslow zufolge eher einer klinischen Epidemiologie, die sich mehr den Begriffen einer klinischen Effektivität als denen eines wissenschaftlichen Zwecks unterordnet, wie er folgendermaßen pointiert: »Effectiveness refers to how well a particular remedy performs in an everyday clinical practice, while efficacy refers to how well does a treatment in controlled circumstances in clinical studies. Efficacy closely parallels what one could call a treatment’s scientific basis.«127
In der Bemerkung Braslows wird eine strikte Trennung zwischen klinischer Effektivität und Wirksamkeit vorgenommen, die meines Erachtens 124 Braslow 1997, S. 5. 125 Pressman 1998, S. 240 und 256. 126 Die Unterscheidung von effectiveness und efficacy ist nicht ins Deutsche übersetzbar, da es hier nur einen Begriff für beide Aspekte gibt: den der Wirksamkeit. Ich werde in der Arbeit von Effektivität oder Wirksamkeit als Zeugenschaft sprechen, wenn ich diese erste Form der Wirksamkeit in der Klinik beschreibe. 127 Braslow 1997, S. 4.
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in dieser Schärfe vor allem vor dem Hintergrund der spezifischen nationalen und lokalen Gegebenheiten des von ihm untersuchten staatlichen USHospitals an Plausibilität gewinnt, das die Praktiken der »gewöhnlichen« ÄrztInnen und PatientInnen fokussiert. Die von Braslow hervorgehobenen kontrollierten klinischen Studien verweisen auf die US-amerikanische Realität, in der sich eine Anwendung des randomisierten klinischen Versuchs schon früh durchsetzte und in der Wissensgenerierung als zentrale Quelle der Wissensbildung galt.128 In der von mir untersuchten Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg gehen hingegen Wissenschafts- und Alltagspraxis ineinander über. Für die gesamte BRD ist in den 1950er Jahren eine Form der Wirksamkeitserfassung der Neuroleptika zu beobachten, die sich an einer Kultur der Zeugenschaft orientierte – einer einfachen Beobachtung, die ihre Ergebnisse in Kasuistiken zusammenfasste –, welche erst im Laufe der 1960er Jahre durch modifizierte Tabellen und Aufschreibsysteme ersetzt wurde.129 In diesem Sinne ist der Kliniker in der Frühphase der Erprobung in der Bundesrepublik nicht nur an der Herstellung einer klinischen Effektivität, sondern auch an der Herstellung von Wirksamkeiten beteiligt.130 Die Effekte sind jedoch, wie ich bereits herausgearbeitet habe, nicht nur an die Zeugenschaft des Arztes, sondern auch an die Zeugenschaft des Patienten gebunden. Sie werden erst durch einen Kontext der Erwartungen und ein Netzwerk von Interaktionen gebildet.131 Die aus der Zeugenschaft von Arzt und Patient gebildete erste Form der Wirksamkeit ist daher als kulturelle Konstruktion mit biologischen und sozialen Dimensionen zu verstehen. Die Wirksamkeit der Psychopharmaka lässt sich hier nicht nur auf die chemische Substanz reduzieren, sondern ist als Mischform natürlicher und kultureller Aspekte zu betrachten. Diese untrennbare Einheit von Kultur und Natur in der Konstitution einer (natur-) wissenschaftlichen Tatsache, die man auch in den Wirksamkeitsvorstellungen sehen kann, hat Bruno Latour als Hybrid bezeichnet.132 Wie ich in Anlehnung an Latour formulieren möchte, ist das »natürliche Substrat« eines Begriffs von Wirksamkeit von den körperlichen Erfahrungen des Patienten und seiner subjektiven Aneignungsweise jedoch nicht zu trennen. In diesem Hybridisierungsprozess ist nicht nur die Wirkung des Psychopharmakons als ein aktives Ding zu begreifen. Der Behandelte wird sich dabei, gerade wenn die erlebten Effekte des Medikaments auf sein 128 Vgl. Teil II, 1. 129 Vgl. Teil II, 2.3 und Teil II, 3.3. 130 Dies steht im Gegensatz zu Braslows Ausführungen, dass der Kliniker an der Aushandlung von Efficacy gerade nicht beteiligt sei (vgl. Braslow 1997, S. 5). 131 Ausführlicher zu diesem Prozess der Subjektivierung in der Klinik und der Rolle von PatientInnen als AkteurInnen vgl. Teil I, 3.7. 132 Latour 2008.
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Denken und Fühlen einwirken, zu diesen immer auch unmittelbar in Beziehung setzen. Der psychopharmakologische Effekt ist, aus diesem Blickwinkel betrachtet, zu einem großen Teil ein Effekt der Person, aber auch der Situation.133 Er bleibt dabei immer mit dem Subjekt, das ihn erlebt und dem Subjekt, das ihn beobachtet verbunden. Der Patient ist in diesem Prozess auch als Komplize gefordert und die PsychiaterInnen benötigen im Erprobungsprozess seine Komplizenschaft. Sowohl die Auskünfte, die er über seine Erlebnisse der Behandlung geben soll als auch die zuverlässige Einnahme der Medikamente bedürfen eines Patienten, der die grundlegenden Annahmen des Arztes teilt. Doch PatientInnen haben in der Regel, wie van der Geest et al. aus einem anthropologischen Blickwinkel betonen, gute Gründe für eine Einnahmeverweigerung, da sie meist andere Vorstellungen von ihrem Leiden hätten als die behandelnden ÄrztInnen.134 Wie ich im ersten Kapitel meiner Arbeit aufzeigen werde, fungierte im Fall der psychotropen Stoffe mit ihrer zentralen Besonderheit, auf die subjektiven Empfindungen einzuwirken, nicht nur der Patient als Referenzquelle. Häufig diente das Forschersubjekt auch als sein eigenes Objekt: So waren Selbstversuche mit psychoaktiven Substanzen nicht nur für den Versuch der (experimentellen) Wissensbildung im 19. Jahrhundert,135 sondern auch für die ersten Versuche mit den modernen Psychopharmaka im 20. Jahrhundert konstitutiv.136 Die ForscherInnen glaubten, im Selbstversuch sowohl die Reaktionen auf die verschiedenen Stoffe als auch die Erlebnisdimensionen der Substanzen besser beschreiben zu können als PatientInnen, die als eher »unzuverlässige Zeugen« galten. Hier werden erste Formen der Wirksamkeitserfassung durch die Zeugenschaft der PsychiaterInnen deutlich. In den beiden sich anschließenden Hauptteilen werde ich diesen Gedanken fortführen und zwei Formen der Wirksamkeit unterscheiden: Zum einen werde ich die frühe Vorstellung der Wirksamkeit als Logik der Zeugenschaft betrachten, die sich in der Regel an den Beobachtungen von ÄrztInnen (und Pflegepersonal) in einem klinisch-psychiatrischen Versuch festgemacht hat, der jedoch noch nicht den Bedingungen eines kontrollierten »klinischen Experiments« entsprach. Zum anderen werde ich die Idee einer Wissensproduktion aus dem kontrollierten klinischen Versuch heraus analysieren. Neben der erstgenannten Vorstellung von Wirksamkeit steht hier also die Idee von Wirksamkeit als Logik des Experiments. Im nächsten Abschnitt werde ich auf theoretischer Ebene schildern, wie diese Experimentalisierung des klinischen Versuchs die klinische 133 Van der Geest/Whyte/Hardon 1996, S. 167. 134 Van der Geest/Whyte/Hardon 1996, S. 166. 135 Vgl. zu den Selbstversuchen von Jacques-Joseph Moreau de Tours und Emil Kraepelin im 19. Jahrhundert 2.2. 136 Vgl. zu den ersten Selbstversuchen mit Neuroleptika 2.5.
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Wissensbildung über neuroleptische Wirksamkeit und die Zeugenschaft von Arzt und Patient veränderte.
Klinische Wissensbildung im Experiment Das steigende Ansehen des Experiments als objektiver Forschungsmethode wurde schon im 19. Jahrhundert international für die Psychiatrie immer bedeutender und sollte gerade in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch für die Evaluation von Therapien zum Leitbild werden.137 Viele ForscherInnen wollten sich mit dieser Form der Wissensbildung von dem »unsicheren«, durch Zeugenschaft gebildeten Wissen über neue Arzneimittel verabschieden. Theodore Porter bezeichnet die Einführung quantifizierender Methoden in den klinischen Versuch als »Technologien des Misstrauens«. Wie Porter herausarbeitet, wird eine systematische Quantifizierung historisch notwendig, wenn das subjektive Urteil des Forschers suspekt geworden ist. Technische Objektivierbarkeit solle dann als Alternative zum Vertrauen in die persönliche Beurteilung dienen.138 Eng an Porters Vorstellungen angelehnt führt Harry Marks aus, dass die MedizinerInnen sich durch die systematische Verwendung statistischer Verfahren eine objektive Wissensbildung in der Klinik erhofft hätten. Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bezeichnet er deshalb als statistische Ära der klinischen Medizin.139 Die Reformer unter den ÄrztInnen erwarteten dabei, wie Marks herausarbeitet, dass man den Ansatz der experimentellen Naturwissenschaften auf das therapeutische Wissen übertragen könne.140 Klinische Wissensbildung sollte damit ebenso wissenschaftlich werden wie die Forschung des Labors. Insbesondere die Einführung der randomisierten Kontrollstudie sieht Marks als das zentrale Element einer Objektivierung und Experimentalisierung klinischer Praxis an. Der kontrollierte klinische Versuch, den ich im Folgenden auch »klinisches Experiment« nennen werde, zeichnet sich, wie ich mit Marks argumentieren möchte, durch folgende Merkmale aus: Als zentrales Element gilt eine Systematisierung der Versuchsanordnung, ein weiterer wichtiger Teil ist die Randomisierung, das heißt die zufällige Aufteilung der ProbandInnen auf eine Versuchs- und Kontrollgruppe. Des Weiteren müssen alle zu erhebenden Merkmale an quantitativ operationalisierbare Einheiten angepasst und subjektive Einflussgrößen auf das Versuchsergebnis ausgeschaltet werden. Die Minimierung der Subjektivität als Störquelle wollte 137 Vgl. ausführlicher zu diesem Prozess die Analyse in Teil II. 138 Porter 1995, S. 90. 139 Marks 1997, S. 129. Zur Einführung statistischer Verfahren in den klinischen Versuch vgl. Porter 1995, S. 202–216. 140 Marks 1997, S. 29.
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man vor allem durch ein doppelblindes Versuchsdesign gewährleisten. Gerade der zuletzt genannt Aspekt war sowohl für das psychologische als auch für das klinische Experiment von großer Relevanz.141 Das Subjekt war in diesen neu zu gestaltenden Versuchsanordnungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht mehr »zuverlässiger Zeuge«, vielmehr wurde es zur zentralen Problemquelle des psychologischen und klinisch-medizinischen Versuchs.142 Die Individualität des Probanden, aber auch die des Forschers, wollte man im Zuge der Experimentalisierung vor allem durch die konsequente Anwendung des Zufallsprinzips ausschalten. Schon seit dem Ende des 19. Jahrhunderts hatte die Anwendung von Methoden, die von der konkreten Person abstrahierten, im psychologischen Labor und in der psychiatrischen Klinik zugenommen.143 Wie Kurt Danziger herausarbeitet, fanden klinisch-psychologische Experimente seit den ersten Hypnoseexperimenten in den 1890er Jahren vermehrt Einzug in die Medizin.144 Anders als im psychologischen Experiment waren die PatientInnen in der Klinik keine den Experimentatoren fremden Versuchspersonen, die soziale Interaktion zwischen ÄrztInnen und PatientInnen floss, wie ich bereits geschildert habe, in das Experiment ein. Seit Ende des 19. Jahrhunderts gab es erste Vorstellungen davon, diese sozialen Momente und die daraus resultierenden individuellen Reaktionen mithilfe statistischer Abstraktionen zu minimieren. Gerade das klinische Setting machte die Anwendung einer solchen Methode jedoch schwierig, da es häufig nicht möglich war, die PatientInnen angemessen zu kontrollieren. Die Unterwerfung unter die Anordnung des Versuchssettings blieb aber für die Versuchspersonen nicht ohne Folgen, denn man musste, wie Trudy Dehue hervorhebt, auch die Freiheit der Versuchspersonen einschränken, um 141 Vgl. zur Bedeutung dieses Prozesses für die bundesdeutsche Psychopharmakaforschung Teil II, 5. 142 Wie einige AutorInnen herausarbeiten, handeln Versuche mit Menschen immer von ihrem Doppelcharakter als ausgeliefertem Objekt und handelndem Subjekt. Experimente reduzieren die Versuchsperson jedoch auf ihren Status als Objekt, über das Erkenntnisse gewonnen werden, während sich in der Realität die Menschen niemals so passiv verhalten, wie es im Experiment vorausgesetzt wird (vgl. Krafft 1986; Holzkamp 1985). 143 So führt Kurt Danziger in seiner Monographie über die Geschichte der Experimentalpsychologie schon für die psychologischen Experimente des 19.Jahrhunderts aus: »Experimental methods isolated individuals from the social context of their existence and sought to establish timeless laws of individual behavior by analogy with the laws of natural science« (vgl. Danziger 1990, S. 186). Die Bedeutung des Experiments für die Selbstversuche mit psychotropen Substanzen werde ich in Kapitel II.2 analysieren. 144 Danziger 1990, S. 53. Danziger macht diese experimentelle Gestaltung vor allem an den Hypnoseversuchen Alfred Binets fest. Ausführlicher zu Binets Forschung vgl. 2.2.
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sie von »kontaminierenden« Einflüssen freizuhalten. Zudem seien die ProbandInnen auf standardisierte Art und Weise befragt worden, was auch ihre Selbstwahrnehmung beeinflusst habe.145 Es stellte sich also die Frage, ob man sich auch im Bereich der Klinik systematisch an einer experimentellen Beweisführung orientieren sollte.146 Die vorliegende Arbeit wird im zweiten Hauptteil dieser Frage nachgehen und untersuchen, ob die klinische Experimentalisierung mit der Orientierung an den randomisierten Kontrollstudien auch in der klinischen Psychopharmakologie eine neue Dimension erhielt. Einen Schwerpunkt der Analyse soll die Fragestellung bilden, inwieweit man sich in der Bundesrepublik dieser klinischen Experimentalisierung verpflichtet fühlte und welche Folgen diese Neuausrichtung für den Wirksamkeitsbegriff der Psychopharmaka hatte. Betrachtet werden in diesem Zusammenhang wiederum die unterschiedlichen Positionen von Arzt und Patient. Die beschriebenen Änderungen in der Versuchsanordnung waren für die Bildung eines neuen Wirksamkeitsbegriffs entscheidend, da sich die Bedingungen seiner Herstellung verschoben. Um diese Umgestaltungen der klinischen Wissensbildung verstehen zu können, soll die epistemologische Bedeutung der Orientierung am naturwissenschaftlichen Experiment analysiert werden. Im letzten Abschnitt meiner theoretischen Reflexionen nehme ich deshalb die Rolle des Experiments in den Science Studies und in der Medizingeschichte in den Blick und versuche, neuere Theorien dieser Forschungsansätze für meine Analyse fruchtbar zu machen.
Die Bedeutung des Experiments in den Science Studies Die im kontrollierten klinischen Versuch bewiesene Wirksamkeit der Neuroleptika galt, wie im Vorangehenden geschildert wurde, bald als eine Tatsache, die den Ausgangs- und Endpunkt der Debatten über ihre Effekte bestimmte. Doch der Begriff des Fakts ist, wie Ian Hacking formuliert, etymologisch von facere abgeleitet und markiert somit etwas, das gemacht worden ist.147 Das Postulat, dass naturwissenschaftliche Erkenntnisse konstruiert sind, ist vor allem in den 1980er und 1990er Jahren prominent geworden und wurde zunehmend von sozialkonstruktivistischen Positionen aufgenommen. Diese untersuchten im Kontext soziologischer, anthropologischer und ethnomethodologischer Fragestellungen den Herstellungsprozess von Wissen. Einigen Forschungsansätzen, vor allem aus dem USamerikanischen Raum, wurde in diesem Zusammenhang vorgeworfen, sie würden den Konstruktionscharakter schließlich überhöhen und unhaltbare 145 Dehue 2004a, S. 100. 146 Dehue 2004a, S. 93. 147 Hacking 1999, S. 129.
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relativistische Positionen vertreten, die jede materielle Realität von Stoffen schließlich zu einer willkürlichen und beliebigen Fiktion erklärten.148 Neuere Autoren der Science Studies wie Bruno Latour und Hans-Jörg Rheinberger formulierten schließlich die Warnung, nicht zu vergessen, dass naturwissenschaftliche Stoffe und Fakten zwar gemacht seien, aber gleichwohl existierten. Mit dieser Einsicht wurde es zugleich immer dringender, sich mit dem (gewordenen) Status der Dinge selbst zu beschäftigen. Eine Geschichte der Spuren und Dinge begann dabei, die Geschichte von Theorien und AkteurInnen zu verdrängen.149 Die vorliegende Arbeit möchte in Anlehnung an diese Forschungen den Prozess des Werdens von neuroleptischer Wirksamkeit analysieren. Latour und Rheinberger bemühten sich im Rahmen ihrer Studien, den praktischen Prozess der Wissensgenerierung in den Blick zu nehmen. Was die Arbeiten der beiden Autoren eint, ist, dass sie »die Dinge neu positionieren, aus der Subjekt-Objekt-Dichotomie herauslösen, sie kollektivieren, im Forschungsprozess festigen und ihnen zudem widerständige Aktivität zusprechen«.150 Trotz der hervorgehobenen Gemeinsamkeiten verwenden beide sehr unterschiedliche Begriffsinstrumente.151 Die vorliegende Arbeit wird eine Geschichte neuroleptischer Wirksamkeit als einer »gewordenen Materialität« erzählen. Dabei werde ich versuchen, die beiden beschriebenen Forschungskonzeptionen an einigen Stellen zu ergänzen und zu erweitern, denn wie ich beschrieben habe, ist in diesem Prozess nicht nur das untersuchte Ding, das Neuroleptikum, sondern auch der Patient als Akteur zu sehen. Während ich mit Latour vor allem den hybriden Charakter der 148 Dieser Streit wurde auch als Science War bezeichnet. Die Kontroverse ist insbesondere in den USA zu verorten und erlebte dort ihren Höhepunkt. Zu einer kritischen Positionierung und dem Versuch einer Vermittlung zwischen »Positivisten« und »Konstruktivisten« vgl. Hacking 1999. 149 Rheinberger 2001, S. 250. Zu diesem Prozess vgl. auch Stoff 2008. 150 Stoff 2008, S. 47. 151 Eine sehr gute Zusammenfassung über die Gemeinsamkeiten und Unterschiedlichkeiten der Konzeptionen gibt Stoff 2008, S. 47-51. So betont Latour die Interessen, Verbindungen und Transformationen der Wissensbildung, während Rheinberger die materiellen Bedingungen und semiotischen Prozesse von Experimentalsystemen in den Blick nimmt. Latours Kategorie zur Bestimmung der Dinge ist die der »zirkulären Referenz«, während Rheinberger Jacques Derridas Begriff der »différance« heranzieht, um die Historizität der Dinge zu betonen. Rheinberger ist in der Tradition einer »historischen Epistemologie« zu verorten, während Latours Epistemologie auf einer Ontologie basiert, die eine ursprüngliche Ordnung voraussetzt. Diese sei erst durch einen »modernen Reinigungsprozess« hybrider Zustände in zwei getrennte Zonen von »Natur« und »Kultur« möglich geworden. Für einen ausführlichen Einblick in das Theoriegebäude Rheinbergers vgl. Rheinberger 2001; Rheinberger 1992; Rheinberger/Hagner 1993; Rheinberger/Wahrig-Schmidt/Hagner 1997. Zu Latours Reflektionen vgl. Latour 1987; Latour 2000; Latour 2008.
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neuroleptischen Wirksamkeit analysieren möchte, soll mit Rheinberger vor allem die Differenzen produzierende Funktion von Experimenten in den Blick geraten. Die Bedeutung des Experiments in der neueren Wissenschaftsgeschichte und -forschung soll nun etwas ausführlicher betrachtet werden. Wie ich geschildert habe, wurde die Wissensbildung über neuroleptische Wirksamkeit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend durch das klinische Experiment bestimmt. Seit den 1990er Jahren hat die Auseinandersetzung mit der Rolle des Experiments auch in der Wissenschaftsgeschichte zugenommen. Betrachtet wurde nun die Erzeugung von Wissen durch neue Versuchsanordnungen. Die Tatsache, dass Experimente nicht einfach eine dem Wissen vorgängige Realität abbilden und in systematischer Weise zeigen, sondern an der Gestaltung des Wissens über sie in entscheidendem Maße beteiligt sind, beschreiben Hans-Jörg Rheinberger und Michael Hagner als einen Kernpunkt experimenteller Forschung und formulieren als Untersuchungsgegenstand der Wissenschaftsgeschichte die Frage: »Wie schreiben sich Forschungsprobleme, Theorien [...], Meßinstrumente, Versuchsanordnungen etc. in ein Experimentalsystem ein, das man als ›produktiv‹ bezeichnet und das damit epistemisch, kulturell und sozial organisierend wirkt?«152 Es ist dabei ein Ziel, das Augenmerk darauf zu richten, was im Wissenschaftswirklichen sich produziert und reproduziert, stabilisiert und instabil wird, um entlang dieser Prozesse die kulturelle Praxis der Herstellung von (naturwissenschaftlichem) Wissen zu verdeutlichen.153 Mit diesem Forschungsansatz wird also die Versuchsanordnung selbst als Konstellation gesehen, die ein bestimmtes epistemisches Objekt hervorbringt. Hans-Jörg Rheinberger hat im Zusammenhang mit seinen Analysen der Biologie den Terminus des epistemischen Dings für diejenigen Objekte, Strukturen, Reaktionen und Funktionen geprägt, die experimentell erforscht werden sollen. Wie der Autor herausarbeitet, handelt es sich bei der zu erforschenden Materie um im Entstehen begriffene Dinge.154 Ich möchte in meiner Arbeit die neuroleptische Wirksamkeit als ein solches epistemisches Ding in den Blick nehmen. Für die Biologie konnte Rheinberger aufzeigen, dass die Wahl des Systems und die Forschungsfragen interdependent sind: Experimentalsys-
152 Rheinberger/Hagner 1993a, S. 9. 153 Dieses Verhältnis bringen Hans-Jörg Rheinberger und Michael Hagner auf den Punkt, wenn sie die in der neueren Wissenschaftsgeschichte gebräuchlichen Begriffe in diesen Kontext stellen: »Begriffe wie Experimentalsystem, boundary object, epistemisches Ding, Repräsentationsraum, materielle Vermittlung und Konjunktur sind Anzeichen für den Versuch, ihre Kulturfähigkeit und Kulturmächtigkeit gewissermaßen zum Sprechen zu bringen« (Rheinberger/Hagner 1993a, S. 22). 154 Rheinberger 2001, S. 24.
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teme seien die kleinsten Arbeitseinheiten des Forschers. Die Fragen, die er stellen und die Antworten, die er bekommen könne, seien voneinander abhängig.155 Innerhalb von Experimentalsystemen benötigt der Wissenschaftler aber als technische Dinge zu bezeichnende Instrumente und Aufzeichnungsapparate. Diese bildeten die experimentellen Vorgänge nicht nur ab, sondern ließen sie erst als solche hervortreten. Rheinberger verdeutlicht das Wechselverhältnis von epistemischen und technischen Dingen folgendermaßen: »Die technischen Bedingungen bestimmen nicht nur die Reichweite, sondern auch die Form möglicher Repräsentationen eines epistemischen Dings; ausreichend stabilisierte epistemische Dinge wiederum können als technische Bausteine in eine bestehende Experimentalanordnungen eingefügt werden.«156
Der Forschungsprozess ist diesen Gedanken folgend also nicht nur in eine Richtung offen, sondern durch einen Wechsel von epistemischen und technischen Aspekten gekennzeichnet. Aus diesem Grund spricht Rheinberger hier nicht von Forschungsgegenständen, sondern von epistemischen Dingen. In Anlehnung an Rheinberger möchte ich die für die Bildung eines Begriffs von neuroleptischer Wirksamkeit notwendigen Prüfverfahren und Instrumente als »technische Dinge« betrachten, wie ich im Folgenden weiter ausführen werde. In meiner Analyse soll auch die Funktion von Experimentalsystemen als wissensproduzierende Ensembles in den Blick geraten, die eingerichtet werden, um Antworten auf Fragen zu geben, die man zum Zeitpunkt der Entwicklung des Systems noch nicht klar stellen kann. Experimentalsysteme seien, wie Rheinberger erklärt, eine Maschinerie zur Produktion zukünftigen Wissens und dienten nicht dazu, Theorien zu stützen oder zu verwerfen.157 Der Begriff der neuroleptischen Wirksamkeit soll im Sinne dieser neuen Theorie des Experiments analysiert werden. Insbesondere möchte ich die Veränderungen untersuchen, die mit einer Modifikation der Wirksamkeitserfassung durch die Umgestaltung des Arzneimittelversuchs und dessen Anpassung an die Bedingungen eines (natur-) wissenschaftlichen Experiments erfolgten. Zu fragen ist, in welchem Maße experimentelle Vorstellungen der Wirksamkeitserfassung in der bundesdeutschen Psychiatrie 155 Rheinberger 1992, S. 21ff. 156 Rheinberger 2001, S. 26. 157 Rheinberger 1992, S. 25. Einen ähnlichen Gedanken hatte der Wissenschaftshistoriker Ian Hacking formuliert, als er darauf hinwies, dass die Wiederholbarkeit eines Experiments im Prinzip nicht gegeben sei, da jede Überprüfung der Versuchsergebnisse zum Ziel habe, das Experiment zu verbessern (vgl. Hacking 1996, S. 380).
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umgesetzt wurden und wie sie das Wissen neu gestalteten. Dabei ist der Begriff des Experimentalsystems vor allem für die Laborwissenschaften entwickelt und angewendet worden. Bisherige wissenschaftshistorische Forschungen haben sich vorwiegend auf den Einsatz des Experiments in den naturwissenschaftlichen Kerndisziplinen wie der Physik158, der Chemie159 und der Biologie160 befasst. Eine Arbeitsgruppe um Bettina Wahrig versucht, den Ansatz von Rheinberger in einem weiteren Sinne auf die Lebenswissenschaften zu übertragen und den geschilderten unsicheren Status von Substanzen, die auf den lebenden Körper einwirken, ihn zugleich aber auch als »funktionsfähigen« und »gestörten« Körper konstituieren, zu beschreiben. Die vorliegende Arbeit ist Teil dieses Projekts. Unter dem Begriff der »prekären Stoffe« analysiert die ForscherInnengruppe Lebenswege von Arzneimitteln, biologischen Wirkstoffen und Giften und betrachtet ihre Rolle in den experimentellen Lebenswissenschaften des 19. und 20. Jahrhunderts. Aus epistemologischer Perspektive werden dabei die Genealogien dieser Stoffe, das heißt ihre Materialisierung, Standardisierung, Isolierung, Aktivierung, Produktion und Distribution, untersucht. In den Blick geraten soll mit diesem Herangehen auch der unabgeschlossene historische Prozess, durch den diese Stoffe nicht nur zu Dingen des Experiments gemacht oder zur technischen Anwendung gebracht, sondern überhaupt erst substanziell werden. Als besonderes Merkmal von Prekarität gilt dabei die Uneindeutigkeit, die Autonomie der Stoffe, ihre zugleich heilende und vergiftende oder den Stoffwechsel katalysierende und fehlleitende Funktion.161 Die vorliegende Arbeit möchte einen Teil dieses Prozesses in den Blick nehmen: den Prozess einer Materialisierung und Standardisierung von neuroleptischer Wirksamkeit und der damit einhergehenden Bedeutungsverschiebung. In Anlehnung an die von Rheinberger herausgearbeitete Bedeutung von technischen Bedingungen hat die Arbeitsgruppe um Bettina Wahrig die Entstehung eines Sets an statistischen Techniken zur Überprüfung neuer Behandlungsverfahren untersucht, die mit der Genese neuer Substanzen wie biologischer Wirkstoffe, Medikamente und Gifte in den Lebenswissenschaften entstehen und an die sich ein »naturwissenschaftliches« Paradigma knüpft; ein Paradigma, das eine rationale, technische Objektivierbarkeit von »natürlichen Wirkstoffen« zum Ziel hat.162 Unscharf definiert blieb aber in allen bislang beschriebenen Ansätzen der Science Studies das Verhältnis zwischen Labor und Klinik. Zwar wird die
158 159 160 161 162
Vgl. unter anderem Hacking 1996. Klein 2003. Rheinberger 2001; Rheinberger/Hagner 1993. Wahrig/von Schwerin/Stoff/Balz 2008. Wahrig/von Schwerin/Stoff/Balz 2008.
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Bedeutung der Klinik für die Fragen nach der Anwendung des Experiments betont und gefragt, wie sich Anwendungs- und Forschungskontext ergänzen.163 Die Experimentalisierung der klinischen Praxis wird hingegen selten betrachtet. Ein von Volker Hess herausgegebener Band zur Normierung der Gesundheit beschäftigt sich zwar mit den experimentellen Bedingungen klinischer Messungen, der Autor verweist jedoch ausdrücklich darauf, dass diese Quantifizierung nicht mit den normalen Bedingungen des menschlichen und tierischen Lebens gleichzusetzen sind.164 Unter dem Aspekt der Normalisierung betrachtet Volker Roelcke die psychiatrische Klinik Kraepelins und stellt heraus, dass durch die Einführung von Modellen aus dem psychologischen Labor in den Bereich der Psychopathologie und einer Anpassung des klinischen Settings an experimentelle Beding ungen von Kraepelin auch ein neues Programm der psychiatrischen Wissenschaft und, damit verknüpft, eine Reorganisation der psychiatrischen Praxis formuliert wurde.165 Diese Experimentalisierung der Psychiatrie befasste sich hingegen nicht mit der Evaluation therapeutischer Verfahren. So bleibt in den beiden zuletzt beschriebenen Forschungsansätzen zur Rolle des Experiments in der Medizingeschichte die Frage offen, ob und wie aus der klinischen Praxis selbst ein neues Wissen über die Wirksamkeit therapeutischer Verfahren gebildet werden kann und welche Form die Versuchsanordnungen zu diesem Zweck annehmen müssen. Diese Unklarheit war aber gerade für die klinische Wissensbildung von entscheidender Bedeutung. Das Sichtbar-Machen eines klinischen Effekts von Psychopharmaka bedurfte neuer und eigener Systeme, die im Laufe der Arbeit in den Blick genommen werden sollen. Ist also die Ausweitung des Ansatzes des Experiments und der Experimentalsysteme auf ein Anwendungsfeld außerhalb des Labors möglich? Oder ist es, wie Ian Hacking formuliert, für das Experiment von zentraler Bedeutung, im Laboratorium durchgeführt zu werden, da man nur hier in der Lage sei, ein stabiles, zahlenmäßig erfassbares Phänomen hervorzubringen?166
163 Rheinberger/Hagner 1993a, S. 12. 164 Hess 1997 und Hess 1997a. Der Autor bezieht sich hier auf Georges Canguilhem, der zu diesem Punkt ausführte: »Wer das Anormale oder Pathologische als statistische Abweichung oder Absonderlichkeit definiert, der muß sich darauf hinweisen lassen, daß die Bedingungen der Laboruntersuchung das Lebewesen in eine pathologische Situation versetzen, aus der paradoxerweise Schlußfolgerungen mit der Geltung einer Norm sollen gezogen werden können.« (Georges Canguilhem: Das Normale und das Pathologische (1943–1966). Frankfurt/M., Berlin, Wien 1977, S. 97, zitiert nach Hess 1997a, S. 11). 165 Roelcke 2003, S. 171. Ausführlicher zur Experimentalisierung der Psychiatrie im 19. Jahrhundert und Emil Kraepelin vgl. 2.2. 166 Hacking 1996, S. 391.
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Die epistemologische Bedeutung des Experiments auf den klinischen Bereich zu übertragen hat wenig Vorbilder. Zudem betont der eigentlich für die Laborforschung geschaffene Begriff des Experimentalsystems Komponenten, die nicht einfach auf eine Wissensbildung im klinischen Versuch übertragbar sind und in meiner Arbeit ausgespart bleiben.167 Den gesamten theoretischen Rahmen des Experimentalsystems auf die klinische Forschung anwendbar zu machen, ist nicht Zweck der vorliegenden Arbeit, die sich vor allem mit der Entstehung eines Wirksamkeitsbegriffs der Psychopharmaka beschäftigt. Deshalb werden zum Teil Aspekte der klinischen Wissensbildung, wie zum Beispiel professionelle Machtfragen, betont, die nicht mit einem klassischen Ansatz nach Rheinberger in Verbindung zu bringen sind.168 Hervorgehoben werden soll in der vorliegenden Arbeit die politische und epistemische Relevanz des kontrollierten klinischen Versuchs für die Bestimmung der Wirksamkeit eines Medikaments, die selten in das Blickfeld von Untersuchungen gerät.169 Dabei sind es vor allem die praktischen und technischen Aspekte des klinischen Testens, die durch die Neuformulierung des klinischen Versuchs eine neue Dimension erhielten und das entstehende Wissen konstruierten.170 Wie ich schildern werde, ergaben sich mit dem Vordringen moderner Psychopharmaka Probleme bei der Stabilisierung ihrer Effekte. Diese brachten ein Set an technischen Neuerungen hervor, die das klini-
167 So führt Rheinberger unter anderem die eigene innere Zeit eines Experimentalsystems als Operator an und beschreibt, dass ein Forschungsfeld als Ansammlung oder Netzwerk von Experimentalsystemen aufzufassen ist, von denen jedes seine spezifische Zeit erfordert (vgl. Rheinberger 2001, S. 197). Auch die differenzielle Reproduktion, verstanden als unvorwegnehmbares Ereignis, das zur Triebkraft der ganzen Maschinerie wird, gerät in meiner Analyse nicht systematisch in den Blick (vgl. Rheinberger 2001, S. 196). 168 Rheinberger hatte sich von Macht als wesentlichen Mechanismus in der Produktion von Wissen sehr deutlich abgegrenzt: »Meine Erzählung handelt keineswegs in erster Linie von der Geschichte wissenschaftlicher Institutionen und Disziplinen. Sie ist auch nicht an wissenschaftssoziologischen Kategorien wie Akteuren, Interessen, Politik, Macht und Autorität ausgerichtet. Sie ist vielmehr ein Versuch, die epistemische Dynamik der empirischen Wissenschaften von der besonderen Struktur der Praktiken zu verstehen, in denen diese Wissenschaften wurzeln und aus denen sie sich nähren« (Rheinberger 2001, S. 150). In diesem Punkt steht Rheinbergers Analyse auch im Widerspruch zu der Analyse Michel Foucaults, der stets betonte hatte, das Macht ein bestimmendes Moment von Diskursen und Praktiken ist (vgl. Foucault 1986; Foucault 1987). 169 Wahlberg/McGoey 2007, S. 4. Meist hatten sich MedizinerInnen und MedizinhistorikerInnen lediglich mit einer einfachen Beschreibung der Entwicklung und Relevanz des kontrollierten klinischen Versuchs in der Medizin beschäftigt. 170 Wahlberg/McGoey 2007, S. 3.
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sche Wissen an die Bedingungen des Experiments anpassen sollte. Als solche Voraussetzungen und erste Schritte der Umformulierung des klinischen Wissens in die Sprache des Labors sind zum Beispiel die Aufspaltung in Behandlungseinheiten, Protokolle, Mortalitätsaufzeichnungen, Fragebögen, klinische Richtlinien, die Neuorganisation der Struktur der Wirksamkeitsprüfung und andere messtechnische Verfahren zu betrachten.171 Diese mit den Prüfverfahren sich entwickelnden Hilfsmittel sind auch als Versuche zu analysieren, die klinischen Beobachtungen in die Sprache des Experiments übersetzbar zu machen. Harry Marks hat herausgearbeitet, dass es dazu konkreter Aushandlungen verschiedener Forschergruppen bedurfte. Aus diesem Grund hat er das aus dem kontrollierten klinischen Versuch entstehende Wissen als »verhandelte soziale Ordnung« bezeichnet.172 Dieser Ansatz betont, dass sich der politische Prozess der Entstehung von Kontrollstudien und die in ihm transformierte Praxis des klinischen Versuchs von dem Prozess der Wissensgenerierung als kulturelle Praxis nicht abtrennen lässt. Vielmehr wurden vielfältige Übersetzungsund Standardisierungsprozesse benötigt, mit deren Hilfe ein Wissen über Raum und Zeit erst vergleichbar gemacht werden sollte.173 Folgt man Bruno Latour, sind gerade diese neuen Anordnungen des Versuchs als wichtige Übersetzungsstellen zu betrachten, in denen das entstehende Wissen transformiert und neu kodiert wird. In Anlehnung an die Vorstellung des kontrollierten klinischen Versuchs als wissensproduzierendes System möchte ich untersuchen, wie sich im Rahmen dieser Modifikationen ein experimenteller Begriff von neuroleptischer Wirksamkeit gegenüber einem durch Zeugenschaft gebildeten verändert. Während die vorangehenden theoretischen Ausführungen vor allem den Kontext für die beiden Hauptteile der Arbeit bieten sollen, ist es notwendig, zunächst den historischen Rahmen abzustecken, der für die Einführung der neuroleptischen Substanzen bestimmend war. Beginnen wird die Untersuchung deshalb zunächst mit einem Blick auf die historischen Vorbedingungen einer Etablierung moderner Psychopharmaka und der Rahmenbedingungen, die dem Projekt einer Wirksamkeitsbeschreibung der neuen psychiatrischen Medikamente vorausgingen. Auf welche Situation in der Psychiatrie traf die Einführung der neuen Stoffe? Das folgende Kapitel soll einen Einblick in diese Thematik geben und wird damit beginnen, den Einsatz psychiatrischer Medikamente vor 1950 zu rekonstruieren.
171 Will 2007, S. 96. 172 Marks 1997, S. 134. Einen ähnlichen Gedanken formuliert Will 2007, S. 86. 173 Timmermans/Berg 1997.
2 . Historisc her Kontext: Die Gesc hic hte der Ps yc ho pha rmaka vor 19 50 und die Einführung des e rste n Ne urole ptik ums in die Ps yc hiatrie
Einleitung Im folgenden Kapitel werde ich den ersten Einsatz »vormoderner« Psychopharmaka – wie ich die psychiatrischen Medikamente bis zum Jahr 1950 bezeichne – nachvollziehen und ihre erste Verwendung in der Psychiatrie skizzieren. Analysiert werden dabei vor allem die zentralen Aspekte, welche die »modernen« Psychopharmaka nach dem Jahr 1950 von den vorher verwendeten Substanzen unterscheiden. Zunächst möchte ich die Schwierigkeiten der Ärzte im 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert beschreiben, Drogen und Psychopharmaka anhand eines anderen als des Kriteriums ihres Gebrauchs voneinander zu trennen. Des Weiteren werde ich die Wahrnehmung psychotroper Stoffe als »gefährliche Substanzen« in der Psychiatrie betrachten, deren Einsatz häufig mit einer Diskussion der Psychiater über die prekären Folgen der Stoffe einherging. Es war jedoch nicht nur der therapeutische Einsatz der Substanzen, der das Interesse der Psychiater auf sich zog. Vielmehr wurden im 19. Jahrhundert auch erste Versuche der »Experimentalisierung« psychotroper Stoffe bekannt, die Elemente späterer Behandlungsversuche mit den »modernen« Psychopharmaka aufweisen. Diese Versuche sollten den Forschern unter anderem psychotrope Effekte erfahrbar machen. Die konstitutive Bedeutung des Selbstversuchs werde ich im weiteren Verlauf des Kapitels vor allem am Beispiel der Stoffgeschichte des ersten Neuroleptikums Chlorpromazin beschreiben. Spuren der Entwicklung dieser Substanz, deren psychiatrisch-
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er Einsatz häufig als »therapeutische Revolution« bezeichnet wurde,1 sollen von ihrem Weg als Farbstoff bis zu ihrem ersten Einsatz in der Chirurgie und Anästhesie nachvollzogen werden. Dabei werde ich die besondere Rolle des klinischen Versuchs und der Erprobung am Menschen in den Mittelpunkt meiner Betrachtung stellen. Beide waren und sind für eine Sichtbarmachung der psychotropen Effekte von besonderer Bedeutung. Sich von diesen beiden Aspekten abzuheben, war für die Durchsetzung der nach 1950 generierten Psychopharmaka von großer Relevanz und bildete den Rahmen für die neu entstehenden Neuroleptika. Schwierigkeiten bereitete hingegen die staatliche Regulation des Arzneimittelmarktes in den 1950er Jahren. Sie erfolgte in der BRD vor allem durch ein Netzwerk von Akteuren aus Klinik und Pharmazeutischer Industrie. Untersucht werden sollen in den folgenden Ausführungen deshalb auch die Folgen, die diese besondere Form der Arzneimittelprüfung für einen Begriff von Wirksamkeit der neuen Psychopharmaka hatte. Vergleicht man so vollmundige Formulierungen wie »therapeutische Revolution«, dann sticht allerdings besonders ins Auge, wie schwierig es in den 1950er Jahren war, den therapeutischen Wert der alten und neuen Psychopharmaka aufzuzeigen und ihren Gebrauch zu steuern. Wie ich schildern werde, stand im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert zunächst das Problem des Gebrauchs von »Drogen« in der Psychiatrie und die Kontrolle der gefährlichen Effekte von psychotropen Substanzen im Vordergrund.
2.1 »Ohne Opium möchte ich n i c h t I r r e n a r z t s e i n « 2: D r o g e n a l s v o r m o d e r n e P s yc h o p h a r m a k a »Doch Zeus’ Tochter, Helena, sann derweilen ein andres: Schleunig warf sie ein Gift in den Krug, aus welchem sie tranken: ›Kummerlos‹ wird es geheißen und ›Ohn-Verdruß‹ und ›Vergessen Jegliches Übels‹ für den, dem’s unter den Wein verrührt ward, daß er’s trinkt; ihm läuft des Tags kein einziges Tränlein über die Wangen, und wären ihm Vater und Mutter gestorben, Ja, und sähe der Mann den Tod des eigenen Bruders, Sähe den leiblichen Sohn von eherner Schärfe getroffen. Solcherlei lindernde Gifte besaß die Tochter des Höchsten«3
1 2 3
Benkert 2007; Julien 1997; Shorter 2007. Schmitz 1926, S. 93. Der Autor zitiert hier Hermann Engelken, der diesen Spruch über die Opiumbehandlung in der Psychiatrie geprägt haben soll. Homer (4. Gesang, 221) in der Übersetzung von Schröder 1952, S. 698.
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Das Zitat verdeutlicht, dass sich der Einsatz psychotroper Substanzen zur Stimmungsverbesserung bis in die Antike zurückverfolgen lässt. Anne Caldwell bezeichnet diese Epoche gar als das goldene Zeitalter der Psycho-pharmakologie.4 In Homers »Odyssee« erweist sich Helena als erste polypharmaka, welche die Trauer ihrer Gäste um verlorene Freunde und den abwesenden Odysseus mit großem Geschick zu beheben weiß. In der wissenschaftshistorischen Rezeption dieser Geschichte blieb jedoch strittig, welche Substanz »Kummerlos« enthielt. Während Kuhn5 vermutet, es habe sich hierbei um Opium gehandelt, glaubt Caldwell6 eher an den Gebrauch von Haschisch und begründet dies mit der Tatsache, dass das Bewusstsein durch das Pharmakon nicht getrübt worden sei. Es ist hervorzuheben, dass es sich bei der zitierten Stelle wohl um die erste überlieferte Beschreibung eines Blindversuchs mit psychotropen Substanzen handelt. Der Einsatz psychotroper Stoffe ist in diesem Beispiel noch nicht Bestandteil eines medizinischen Handelns, sondern bleibt an den alltäglichen Umgang mit berauschenden Substanzen gebunden. Im ausgehenden 18. Jahrhundert und im gesamten 19. Jahrhundert nahm die Verwendung von »Drogen« in der Medizin stark zu. Im Folgenden werden unter »Drogen« diejenigen psychoaktiven Stoffe zusammengefasst, die sowohl innerhalb der Psychiatrie als »Arzneimittel« eingesetzt als auch außerhalb der Psychiatrie von BürgerInnen konsumiert werden, um sich zu berauschen. Ziel dieser Definition ist es, die Verwendung von heute vor allem als Drogen bekannten psychoaktiven Stoffen im psychiatrischen Anstaltsalltag besser sichtbar zu machen. Neben dem Haschisch, kam im 19. Jahrhundert vor allem dem Opium eine populäre Stellung in der sich konstituierenden Psychiatrie zu. Foucault betont die alltägliche Anwendung von Drogen am Beginn der sich etablierenden Disziplin und beschreibt die Anwendung psychotroper Substanzen als effektive, neu aufkommende Disziplinartechnologie: »Was schließlich die Drogen angeht – vor allem Opium, Chloroform und Äther – so waren sie natürlich genau wie die heutigen Drogen auch ein offensichtliches Instrument der Disziplinierung, für die Herrschaft der Ordnung, der Ruhe, der Ruhigstellung.«7 4
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Caldwell 1970, S. 56. So kannten die alten Griechen den Namen Polypharmakos für jemanden, der große Expertise in der Kunst des Zusammenstellens psychotroper Substanzen besaß. Kuhn 1988, S. 12. Dieser Auffassung folgt auch Weber 1999, S. 33 ff. Caldwell 1970, S. 56ff. Foucault 2005, S. 339. Dieser arbeitet heraus, dass der umfangreiche Einsatz von Drogen in der Psychiatrie von PsychiatriehistorikerInnen bisher vollständig verschwiegen worden ist. Dies bezieht sich jedoch auf den Stand der Psychiatriegeschichte im Jahr 1974. Inzwischen gibt es vereinzelte Auseinandersetzungen mit der Anwendung von Drogen in der Psychiatrie. Unter
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Bereits ab Mitte des 18. Jahrhunderts wurde die Verwendung des Opiums als Medikament im Bereich der »Seelenstörungen« erwähnt: So sang Vincenzo Chiarurgi (1759−1820) in seinen Abhandlungen über den Wahnsinn Ende des 18. Jahrhunderts dem Opium ein Loblied, mahnte jedoch angesichts der mit dem Konsum einhergehenden »Verblödung« der PatientInnen zur Vorsicht.8 Dem Opium sei aber, so Foucault, schon zu dieser Zeit die doppelte Funktion zugekommen, nämlich zur »Heilbehandlung« eingesetzt zu werden, gleichzeitig aber auch als Mittel zur Bestimmung über das Vorliegen einer Geisteskrankheit und somit zur Bestimmung des Wahnsinns als Krankheit zu dienen. So hatte Foucault von dem Mailänder Gefängnischirurgen Giovanni Battista Monteggia (1762–1815) berichtet, der, wenn er einen Verbrecher der Simulation des Wahnsinns verdächtigte, diesem starke Dosen Opium verabreiche, bis der Gefangene aus Todesangst die »Verstellung« als nutzlos erachtete.9 Als Geburtsstätte der deutschen Opiumbehandlung gilt gemeinhin das Bremer Sanatorium Rockwinkel. Hier hatte Friedrich Engelken sen. (1742–1815) bereits 1764 mit der Opiumbehandlung begonnen. Das Rezept hütete er als Familiengeheimnis, bis 1844 von einem seiner Söhne die Zusammensetzung des »Engelkenschen Pulvers« veröffentlicht wurde.10 Die Mixtur fand unter Psychiatern breiten Anklang. So sah Erlenmeyer 1860 in der Opiumbehandlung das größte Heilmittel der Psychiatrie. In dieser Zeit wurde bereits ein großer Indikationsbereich aufgezählt, der von den Manien und Wochenbettmelancholien bis zum Einsatz bei Säuglingen reichte. Insgesamt wurde das Opium insbesondere bei Frauen als besonders effektiv beschrieben.11 Während anderem betont Leibrock 1998, wie umfangreich Opium in der von ihr untersuchten Klinik eingesetzt worden sei. 8 Schmitz 1926, S. 94. Dieser erwähnt auch, dass die ausufernde Verwendung des Opiums in der Medizin, die großes Unheil angerichtet habe, die Ärzteschaft im 18. Jahrhundert in Befürworter und Gegner gespalten habe. 9 Foucault 2005, S. 423. Der Einsatz von Drogen als Therapeutikum und Diagnostikum ist nicht nur im Fall von Opium zu beobachten. Auch der Alkohol werde, wie Linde 1988d berichtet, von dem Berliner Charitéarzt Otto Obermeyer im Jahr 1874 eingesetzt, um die PatientInnen zum Aussprechen ihrer »Wahnideen« zu veranlassen. 10 Das Pulver enthielt nach Angaben von Schmitz die Bestandteile Opium (0,1), Ferri lact. (0,05) und Rad. Liquir. pulv. (0,75) (vgl. Schmitz 1926, S. 93). 11 Schmitz 1926, S. 99 führt hierzu aus, dass die bessere »Verträglichkeit« von Opium bei Frauen in der Psychiatrie breiter Konsens sei. Leibrock 1998 stellt heraus, dass auch Wilhelm Griesinger die Effektivität von Opium vor allem bei jungen, melancholischen Frauen betone und ihren Einsatz propagiere. Dem folgend wurde das Opium an der von ihr untersuchten Klinik auch vor allem an diesen Frauen eingesetzt. Schmitz selbst meinte beobachten zu können, dass ältere Frauen das Opium besser vertrügen (vgl. Leibrock 1998). Insgesamt ist der Zusammenhang zwischen Helena als erster polypharmaka und den Frauen als Hauptgruppe der Opiumbehandelten auffällig.
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sich die Opiumbehandlung in der Psychiatrie immer mehr ausbreitete, blieb der Opiumabsatz ein so wichtiger Wirtschaftsfaktor, dass er kriegerische Auseinandersetzungen bedingte.12 Ausgedehnt wurde die Opiumbehandlung in der Psychiatrie schließlich durch die Entwicklung der »Opium-Brom-Kur«, die Paul Emil Flechsig (1847–1929) im Jahr 1893 in die Psychiatrie einführte und die sich hier bald durchsetzte.13 Zunächst als neue Behandlungsmethode für Epilepsie verwendet, sah die Opium-BromKur vor, den PatientInnen zunächst fünf Wochen lang steigende Opiumdosen zu geben (0,1–1g). Danach wurde die Therapie mit Bromwasser14 fortgesetzt. Die Therapie war jedoch aufgrund von Sterbefällen unter den PatientInnen nicht unumstritten.15 Das Opium blieb im gesamten 19. Jahrhundert Suchtdroge und Medikament zugleich und galt bis Mitte des 20. Jahrhunderts als die psychotrope Substanz in der Depressionsbehandlung schlechthin.16 Doch auch nach der Einführung des ersten Neuroleptikums wurde im Bereich der »Psychosen« noch von einer Kombinationsbehandlung mit Chlorpromazin und Opium berichtet.17 Während des 19. Jahrhunderts war in der Psychiatrie der Einsatz von Drogen zur Beeinflussung von »Seelenstörungen« häufig. Hall nennt hier neben dem Opium auch noch das Haschisch, Lachgas und Metaamphetamine.18 Linde hebt den Einsatz und die zahlreichen Versuche mit Alkohol als psychiatrischem Therapeutikum hervor.19 Auch der Einsatz des Kokains in der Psychiatrie wurde beschrieben.20 Noch in den 1880er Jahren hielt man den Einsatz von Drogen in der Therapie weltweit nicht für besonders gefährlich. Erste Berichte über die Abhängigkeit von Morphinen führten in der BRD zwar zu einer Beschränkung des Verkaufs auf Apotheken, in den Vereinigten Staaten konnte man zu dieser Zeit im Versandhandel hingegen Medikamente kaufen, die Morphium, Kokain und Heroin enthielten, ohne besonders gekennzeichnet zu sein.21 Erst im Jahr 1906 wurde dieser »Missstand« abgeschafft: Der »Pure Food and Drug Act« regelte nun die Reinheit der Nahrungsmittel und Medikamente. Es war 12 Im Zweiten Opiumkrieg (1856–1860) versuchten die Briten, ihre Möglichkeiten, in China Opium abzusetzen, zu erweitern (vgl. Szasz 1978). 13 Leibrock 1998, S. 131ff. und Weber 1999. 14 Bestehend aus Kaliumbromid, Natriumbromid und Ammoniumbromid. 15 Leibrock 1998. 16 Kuhn 1988, S. 13ff. 17 Eicke 1962 berichtet hier von seinen Versuchen mit Megaphen-Opium in der Behandlung von Psychosen. 18 Hall 1997. Zur großen Rolle des Haschischs vgl. auch 2.1 und 2.2. 19 Linde 1988d. 20 Sigmund Freud befand es im Selbstversuch als gutes und harmloses Antidepressivum (vgl. Linde 1988e und Szasz 1978). 21 Szasz 1978, S. 230ff.
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aber nicht die gesamte Anwendung von als Drogen bezeichneten Rauschmitteln, die beschränkt werden sollte. Vielmehr als der Stoff selber geriet der Kontext seines Gebrauchs in den Blick und wurde gesetzlich reglementiert. Auf der einen Seite nahm die ärztlich verordnete Verabreichung dieser Stoffe, wie ihre breite Anwendung in der Psychiatrie seit Mitte des 19. Jahrhunderts zeigt, stetig zu. Auf der anderen Seite lässt sich seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts ein »Krieg gegen Drogen« beobachten, der ihren »unkontrollierten« Gebrauch minimieren sollte: Bereits 1912 empfahl ein Internationaler Opiumkongress verschiedene Maßnahmen zur Kontrolle des Opiumhandels, die von den einzelnen Ländern in Gesetze gefasst werden sollten.22 In den USA wurde der Verkauf von Opium und seinen Derivaten bereits 1914 durch das »Harris Rauschgiftgesetz« eingeschränkt und an eine Rezeptpflicht gebunden.23 Eine Entsprechung dieses Verbots findet man in Deutschland in einem ersten »Gesetz zur Ausführung des internationalen Opiumabkommens vom 23. Januar 1912«, erschienen am 30.12.1920. Die Gesetzesvorlage unterstellte Rohopium, Opium, Morphin, Heroin und Kokain hinsichtlich der Einfuhr, Ausfuhr, Herstellung, Verarbeitung und des In-Verkehr-Bringens einer behördlichen Aufsicht, die durch das Reichsgesundheitsamt ausgeübt wurde. Lediglich Apotheken durften die aufgeführten Stoffe erlaubnisfrei besitzen.24 Die Bestimmung fand eine Ergänzung in dem »Gesetz über den Verkehr mit Betäubungsmitteln« vom 10.12.1929, dem sogenannten »Opiumgesetz«. Letzteres beschränkte die Gewinnung, Herstellung und Einführung von Opium und weiteren Suchtmitteln auf arzneiliche und wissenschaftliche Zwecke. Die Verschreibungspflicht für Drogen, die bis zu diesem Zeitpunkt in Apotheken frei erhältlich waren, minimierte jedoch nicht nur den »Drogenmissbrauch«, sondern erschwerte auch die selbstbestimmte Nutzung psychotroper Substanzen gegen »nervöse Beschwerden« durch die KonsumentInnen erheblich.25 Die Scheidelinie zwischen Drogen und Psychopharmaka zu bestimmen ist bis heute schwierig, sie lässt sich meist deutlicher über die Verwendung als über die Substanz selbst ziehen: Erst die ärztliche Anwendung machte zum Beispiel das Opium zum Psychopharmakon, der konsumierende Bürger hingegen hatte mit Strafverfolgung zu rechnen. In diesen Zusammenhang sind auch Ausführungen von Psychiatriekritikern wie Peter Lehmann zu verorten, der psychotrope
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Lewin/Goldbaum 1928, S. 42ff. Szasz 1978. Auch Alkohol war in den USA von 1920 bis 1933 verboten. Lewin/Goldbaum 1928, S. 5 ff. Die Opiumtinktur war unter anderem ein probates Schmerzmittel und in niedriger Dosierung ein Antidiarrhoikum und wurde vermutlich zu diesem Zweck auch jenseits einer ärztlichen Verordnung gebraucht.
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Substanzen in der Psychiatrie als »psychiatrische Drogen« bezeichnet.26 Pierre Pichot unterscheidet Psychopharmaka nur deshalb von Drogen, weil sie bezogen auf bestimmbare Krankheitseinheiten wirksam sein sollen. Deshalb brauche man für die Verschreibung von Psychopharmaka auch unbedingt einen Verweis auf eine zugrunde liegende Krankheitsdefinition.27 Die Trennung von Psychopharmaka und Drogen vorzunehmen, blieb auch im 20. Jahrhundert ein konstitutives Problem der Psychiatrie.28 Schon im 19. Jahrhundert entwickelte sich eine erste Vorstellung davon, dass Drogen Aufschluss über den Wahnsinn geben könnten. Drogen sollten seither in der Psychiatrie nicht nur zur Behandlung von Krankheiten eingesetzt werden, sondern auch neue Formen der Delirien sichtbar machen. Eng daran gekoppelt waren aber auch erste Entwicklungen von Experimentalisierungsversuchen in der Psychiatrie. Das Experiment und seine Entwicklungen sollten in dieser Zeit in der Psychologie und Psychiatrie immer wichtiger werden. Im Folgenden werde ich die Veränderungen in diesen Disziplinen kurz in den Blick nehmen und zwei für die Experimentalisierung psychotroper Stoffe konstitutive Arbeiten betrachten. Es handelt sich dabei zum einen um die (Selbst-)Versuche des Psychiaters Jacques-Joseph Moreau de Tours (1804–1884) mit Haschisch und zum anderen um Emil Kraepelins (1856–1926) Arzneimittelstudien mit Alkohol, Tee und einigen anderen zeitgenössisch bekannten Arzneimitteln.
2 . 2 P s yc h o t r o p e S t o f f e i m S p a n n u n g s f e l d ihrer Experimentalisierung: Jacques Joseph Moreau de Tours und Emil Kraepelin Experimentelles Denken war, wie ich herausarbeiten werde, für die Selbstversuche Moreau de Tours und Kraepelins konstitutiv. Experimentelle Methoden waren den ForscherInnen des 19. Jahrhunderts vor allem aus der Psychologie bekannt. Einen Bezugspunkt für die PsychiaterInnen bildeten die Studien Wilhelm Wundts (1832–1920). Wundt hatte mit seiner 1874 erschienenden Monographie »Grundzüge der physiologischen Psychologie« experimentelle Praktiken in die Psychologie eingeführt.29 Während er glaubte, dass nicht für alle Themen der psychologischen Forschung die experimentelle Methode das richtige Instrument sei – so schloss er explizit Kognitionen, Affekte und die Sozialpsychologie aus 26 Lehmann 1996. Auch Foucault bezeichnet aus diesem Grund den Einsatz von psychotropen Arzneimitteln in der Psychiatrie als Drogen. 27 Pichot/Healy 1996, S. 23. 28 Vgl. hierzu auch 2.3. 29 Wundt 1874, S. 2f.
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diesem Bereich aus –, fand das experimentelle Dispositiv international in der Psychologie zunehmend mehr Verbreitung.30 Blickt man zurück auf die Psychiatrie des 19. Jahrhunderts, nahm diese auch in der Debatte um die Gestaltung des klinischen Versuchs nach den Maßstäben eines Experiments eine Grenzposition ein, da sie sich sowohl an den Debatten der Medizin als auch an denen der Psychologie orientierte. Die Objektivierung des Psychischen mittels naturwissenschaftlicher Methoden hatte in der psychiatrischen Klinik eine lange Tradition. Schon im Verlauf des 19. Jahrhunderts versuchten deutsche Psychiater, die Seele objektivierbar zu machen, indem sie sich zunehmend auf naturwissenschaftliches Denken bezogen.31 Das klinische Experiment in der Psychiatrie war dabei eng an die experimentelle Psychologie des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts gekoppelt. So führte beispielweise der französische Jurist und Psychologe Alfred Binet (1857–1911) Formen des experimentellen Denkens, die sich an die Ideen Fechners und Wundts anlehnten, in die Psychologie und Psychiatrie ein.32 Mit seinen Hypnoseexperimenten in der Pariser Klinik Salpêtrière versuchte er in den 1880er Jahren, die Ideen des psychologischen Experiments auf den klinischpsychiatrischen Kontext zu übertragen.33 Von 1983 bis 1989 hatte er als Forscher an dem Pariser Hospital gearbeitet und ein Buch über seine Studien veröffentlicht.34 Diese deutschen und französischen Versuche bildeten insbesondere für Kraepelin den Hintergrund, die Methodologie des psychologischen Experiments in der Klinik anzuwenden. Doch schon Mitte des Jahrhunderts hatte der französische Psychiater Jacques Joseph Moreau de Tours probiert, mithilfe seiner Haschischexperimente, die er an psychiatrischen PatientInnen und an sich selbst durchführte, experimentelles Denken zu etablieren.
Moreau de Tours Haschischexperimente Seine ersten Versuche mit Haschisch dokumentierte Moreau de Tours bereits in seinem Buch »Du Hachisch et de l`aliénation mentale« Mitte des 19. Jahrhunderts.35 Moreau de Tours promovierte als Schüler von Esquirol 30 Danziger 1990, S. 33ff. 31 Zur Rolle der Psychophysik Fechners in diesem Prozess vgl. Schmiedebach 1996, S. 45ff. 32 Danziger 1990, S. 44. 33 Danziger 1990, S. 53. 34 Unter dem Titel »La psychologie du raisonnement: recherches expérimentales par l'hypnotisme« veröffentlichte Binet seine Untersuchungsergebnisse 1886 zum ersten Mal. Anschließend war er von 1891 bis zu seinem Tod erst Assistent und dann Direktor des Labors für experimentelle Psychologie an der Sorbonne. 35 Moreau de Tours 1845.
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über die körperlichen Symptome, die Geisteskrankheiten vorausgehen und glaubte an die eindeutigen körperlichen Merkmale von Delirien. Ab 1840 leitete er die Anstalt Ivry, bis er ab 1861 Leiter der Abteilung für Geisteskranke an der Pariser Salpêtrière wurde.36 Schon früh hatte er mit Haschisch experimentiert und dabei die Möglichkeit entdeckt, mit dieser Droge Phänomene zu erzeugen, die er denen der Geisteskrankheiten als verwandt erachtete.37 Diese dem Wahn ähnlichen Empfindungen, die dem Experimentator als traumähnlich erschienen, ihn aber gleichzeitig meist noch in dem Bewusstsein beließen, dass es sich um einen Irrtum – ein selbst erzeugtes Experiment – handelte, sollten nach Moreau de Tours dem Erprober Aufschluss über die »Geheimnisse der Psychopathologie« geben. Durch die experimentelle Erzeugung des Wahnsinns am eigenen Leibe und mittels der Selbstbeobachtung in diesem Prozess versuchte Moreau de Tours, einzelne im Rausch erzeugte Phänomene mit den zeitgenössisch bekannten »Symptomen« des Wahnsinns in Einklang zu bringen. So ordnete er beispielsweise die Störungen des Raumund Zeitempfindens den delirösen Störungen zu.38 Moreau de Tours erprobte das Haschisch auch als therapeutisches Mittel, zum Beispiel an Melancholischen, konnte hier jedoch nicht auf grundlegende Erfolge verweisen: Einsätze bei sogenannten Melancholien oder Demenzen brachten nicht die gewünschten Erfolge. Wegen der Probleme bei der Beschaffung des Haschisch musste Moreau de Tours seine Versuche schließlich ganz einstellen.39 Moreau de Tours Haschischversuche sind aus mehreren Gründen bemerkenswert. Zum einen markierten sie den ersten Versuch, Drogen in der Psychiatrie nicht nur zu therapeutischen Zwecken einzusetzen. Gerade hinsichtlich des therapeutischen Gebrauchs konnte Moreau de Tours auf wenige Erfolge verweisen. Trotzdem blieb Haschisch lange Zeit eine gängige Substanz in der Psychiatrie. Zum anderen gelang es Moreau de Tours erstmalig, ein experimentelles System zu konstruieren, das mittels psychotroper Substanzen den Wahnsinn künstlich produzieren, ihn in Elemente zerlegen und studierbar machen konnte. Die einzelnen Symptome des Wahnsinns erschienen hierdurch als Zeichen, die einem »Kern« zuzuordnen sind. Dies ließ die Hypothese zu, dass die Delirien auf einen einzigen Ursprung zurückführbar seien, was neue Forschungsanregungen lieferte. Die Herstellung einer solchen »Grundart des Wahnsinns« markierte zugleich etwas, wonach die Psychiatrie des 19. Jahrhunderts lange gesucht
36 Weber 1971, S. 7. 37 Moreau de Tours widmet diesen Erscheinungen das gesamte erste Kapitel (vgl. Moreau de Tours 1845, S. 42–143). 38 Moreau de Tours 1845, S. 92ff.; aber auch Weber 1971, S. 15. 39 Moreau de Tours 1845.
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hatte.40 Indem Moreau de Tours »experimentelle Psychosen« erzeugte, unterwarf er den Wahnsinn erstmals kontrollierten Versuchsbedingungen und bezähmte ihn dabei auf eine neue Weise.41 Diese Genese eines neuen experimentellen Dispositivs des Wahnsinns schuf Grundlagen für seine Erkundung, sodass Moreau de Tours als wichtiger Vorläufer der experimentellen Psychiatrie gesehen werden kann. Die Erzeugung von »Modellpsychosen« durch Drogen blieb ein Phänomen, das gerade in der Mitte des 20. Jahrhunderts in das Zentrum des pharmakopsychiatrischen Interesses rückte. Die kontrollierte Schaffung wahnsinniger Zustände wurde zum Modell für die Erprobung neuer moderner Psychopharmaka, die zum Gegenpol des »künstlichen Wahnsinns« mutieren und diesen sollten beseitigen können.42 Ebenso wichtig wie die Entwicklung neuer Möglichkeiten des Experimentierens war jedoch auch die neue Form, in der Moreau de Tours den Psychiatern seine Erkenntnisse zugänglich machte: im Selbstexperiment. Dies sollte hier nicht mehr nur zum Aufspüren der »Gefährlichkeit« der Stoffe dienen, vielmehr konnte der Psychiater mit der Einnahme von psychotropen Substanzen nun diejenigen Phänomene am eigenen Leib erzeugen und an sich selbst erfahrbar machen, die er vorher nur »von außen« beobachten konnte. Die Möglichkeit, selbst über eine Erfahrung des Wahnsinns zu verfügen, machte die Delirien für ihn konkreter, weitete aber auch seine Macht über sie aus. Denn jetzt konnte der Psychiater auch aus der Innenperspektive über den Wahnsinn sprechen und ihm ein Gesetz vorschreiben – mit weitreichenden Folgen. So führt Foucault über den »erweiterten Blick« der Psychiater aus: »So wird jene berüchtigte und völlig neue Gewalt der Psychiatrie über den Wahnsinn in Form des Verstehens begründet. [...] Und während bis zu diesem Punkt der Wahnsinn gerade dasjenige war, was vom normalen Denken nicht rekonstruiert werden konnte, wird nun im Gegenteil der Wahnsinn etwas sein, was durch das Verstehen des Psychiaters rekonstruiert werden können muß; eine Ergänzung der Macht also, die durch diesen inneren Gesichtspunkt ermöglicht wird.«43
40 Foucault 2005, S. 406. 41 Foucault 2005 arbeitet heraus, dass es gerade die Allmacht und Unbezähmbarkeit des Wahnsinns sei, dem die Psychiatrie ihre ganze Macht entgegensetzen müsse. 42 Caldwell 1970. Die Autorin verdeutlicht, dass die Psychopharmakologie als solche erst mit der Einführung von Substanzen beginnen konnte, die grundlegende therapeutische Effekte auf die »Psychosen« ausübten. Diese Effekte zeige das Haschisch nicht. Ausführlicher zu diesem Thema vgl. 2.5. 43 Foucault 2005, S. 408.
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Die Möglichkeit des Psychiaters, selbst Erfahrungen des Wahnsinns zu machen, wird nach Foucault im Verlauf dieses Prozesses in einen neuen Kontrollmechanismus transformiert. Die Macht des Verstehens ist dabei auch für die moderne Psychopharmakologie konstitutives Element neuer experimenteller Settings geblieben: Der psychiatrische Selbstversuch ist vielfach Bestandteil der Erprobung neuer Medikamente, fast jede neue Substanz wurde zunächst von Psychiatern am eigenen Leib erprobt und diese Erfahrung von ihnen beschrieben.44 Der Versuch an sich selbst war aber auch für jene Reihe von Experimenten im 19. Jahrhundert Voraussetzung, die im Folgenden untersucht werden sollen: Emil Kraepelins Arzneimittelversuche.
Kraepelins Experimentalisierung psychotroper Stoffe Wie Volker Roelcke aufzeigen konnte, formulierte vor allem Emil Kraepelin in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Programm einer psychiatrischen Wissenschaft, die das Experiment als privilegierte Methode der Erkenntnisgewinnung in den Vordergrund rückte und sich durch die Übernahme von Modellen aus dem psychologischen Labor in den Bereich der psychiatrischen Praxis und der Psychopathologie auszeichnete.45 Emil Kraepelin wurde vor allem als Begründer der modernen Diagnostik bekannt, die er bereits Ende des 19. Jahrhunderts in Grundzügen entwickelt hatte. Bereits in den 1880er Jahren forschte er jedoch an einer Experimentalisierung psychotroper Stoffe.46 Seine Experimente an »Gesunden« waren stark von den Versuchen Wilhelm Wundts (1832–1920) geprägt, der versucht hatte, psychologische Reaktionszeitmessungen in Versuchsreihen zu bringen und miteinander in Beziehung zu setzen.47 In Anlehnung an Wundt versuchte Kraepelin nun, die Reaktion einzelner Versuchspersonen auf einige psychotrope Substanzen – von ihm Arzneimittel genannt – mit Messreihen zu erfassen. Diese Versuche mit Alkohol, Tee und zeitgenössisch bekannten psychiatrischen Arzneimitteln wie Chloralhydrat und Morphium führte er an sich selbst und einigen seiner Assistenten durch und veröffentlichte seine Ergebnisse abschließend im Jahr 1892 unter dem Titel »Über die Beeinflussung einfacher psychischer Vorgänge durch einige Arzneimittel. Experimentelle Untersuchungen.«48 Kraepelins Idee des Experiments in der Psychiatrie war stark auf das Labor und die Grundlagenwissenschaften in der Psychiatrie ausgerichtet; seine Arzneimittelver44 45 46 47 48
Zum Selbstversuch mit Neuroleptika vgl. 2.5. Roelcke 2003, S. 171 und 181. Kraepelin 1882, 1883 und 1892. Danziger 1990; van Bakel 1994. Kraepelin 1892. Erste Ergebnisse wurden schon in den Jahren 1882 und 1883 in den »Philosophischen Studien« publiziert.
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suche stellen pharmakopsychologische Experimente dar und keine Forschungen, die psychiatrische Therapien evaluieren sollten. Die ersten Versuche waren Laborexperimente, mit denen die ForscherInnen die Arzneimittel an sich selbst und zum Teil an ihren Mitarbeitern erprobten. Die Rolle von Versuchsleiter und Versuchsperson war hier noch prinzipiell austauschbar, was sich auch darin zeigte, dass Kraepelin selbst manchmal als Versuchsleiter, manchmal aber auch als Versuchsperson fungierte und seine Assistenten die Versuchsleitung übernahmen. Kraepelin war von dem Gedanken der Ausdehnung des Labors auf den Bereich der Psychiatrie fasziniert und gestaltete auch seine eigene Klinik in Heidelberg immer mehr zu einem Labor um, in dem er Verhaltensbeobachtungen an den PatientInnen durchführen konnte.49 Eine disziplinierte Beobachtung der PatientInnen wurde zum Hauptanliegen seiner klinischen Forschung. Während Experimente und Instrumente Licht in die physikalischen und psychologischen Zeichen der »Geisteskrankheiten« bringen sollten, benötigte eine wissenschaftliche Analyse des Verhaltens der PatientInnen – nach Kraepelins Vorstellung – vor allem eine umfassendere Überwachung.50 Im Mai 1892 führte er in seiner Klinik schließlich zwei Räume für psychologische Experimente ein, neben denen er eine »Wachabteilung« platzierte. In dieser Station sollten psychiatrische PatientInnen eng beobachtet und getestet werden.51 Eines seiner zentralen Anliegen war, eine Brücke zwischen der klinischen Beobachtung und der Etablierung somatischen Wissens zu schlagen. Diese Verbindung sah er in der experimentellen Psychologie. So wollte er mithilfe seiner Arzneimittelversuche das Gebiet der »Pharmakopsychologie« etablieren, indem er die schwankenden Reaktionen auf psychotrope Stoffe einer experimentellen Kontrolle unterwarf. In der Anwendung des experimentellen Settings suchte Kraepelin die Möglichkeit, »daß wir durch die hier angewandten Methoden in den Stand gesetzt sind, diejenigen Veränderungen in unserem Seelenleben, die wir sonst nur durch das trügerische Hülfsmittel der Selbstbeobachtung in ganz allgemeinen Umrissen zu schildern vermögen, nunmehr in bestimmten Zahlenwerthen ausdrücken und auf gewisse sehr einfache Elementarstörungen zurückführen.«52
Kraepelin ging es in seinen Arzneimittelstudien vor allem um die Aufschlüsselung »normaler« psychischer Vorgänge, die in Anlehnung an das Programm Wilhelm Wundts mithilfe der Arzneimittelversuche in ihre Bestandteile zerlegt werden sollten. Doch die Idee seiner Studien ging noch 49 50 51 52
Roelcke 2003. Engstrom 2003, S. 131. Engstrom 2003, S. 138. Kraepelin 1892, S. 227.
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darüber hinaus: Die Anwendung des Experiments und einzelner psychotroper Stoffe sollten weder ausschließlich Aufschlüsse über die Funktion der Psyche geben und diese naturwissenschaftlich-mathematisch mithilfe von »Versuchsreihen« erschließbar machen noch vor allem eine physiologisch-chemische Vorstellung über die Wirkung der Arzneimittel entwickeln. Vielmehr arbeitete Kraepelin daran, ihre psychotropen Effekte messbar zu machen. So formulierte er: »Mein Ziel war es ausschliesslich, die Methoden für eine exakte Feststellung der psychischen Arzneimittelwirkungen nach einigen Richtungen hin auszubilden und die Möglichkeit ihrer praktischen Anwendung, sowie die Brauchbarkeit ihrer Ergebnisse an den ausgewählten Beispielen darzulegen.«53
Diese Versuche bildeten die Grundlage für ein neues experimentelles Dispositiv, das Kraepelin mit seinen Studien etablierte: Die disparaten und unkontrollierbaren Effekte psychotroper Stoffe sollten unter Laborbedingungen in ein Stadium der exakten Messbarkeit und Kontrollierbarkeit überführt und somit eine vorhersagbare Wirkung generiert werden. Schon zu Beginn stieß Kraepelin jedoch auf die Schwierigkeiten der »ausserordentlichen Veränderlichkeit des untersuchten Objektes«.54 Während das Experiment normalerweise vor allem auf Eindeutigkeit und Stabilität der Effekte setze, führte er aus, könne von dieser im Bereich des Seelenlebens niemals die Rede sein. Zwar seien auch bei anderen Forschungsobjekten gelegentliche Schwankungen keine Seltenheit, doch sei hier zumindest für kurze Zeit ein Gleichgewicht erkennbar. Auf dem Gebiet der psychischen Vorgänge, so Kraepelins konsternierte Feststellung, seien diese Bedingungen so gut wie nie zu erfüllen. Gefährdet war das stabile Versuchsergebnis für Kraepelin durch die von den Stoffen erzeugten, sich ständig verändernden »inneren Bilder«, die nicht unbedingt auf eine direkte Wirkung der psychotropen Substanzen zurückzuführen waren. Aber auch die Außenwelt musste nach Kraepelin durch den Forscher als ständig gleiche und wiederholbare konstruiert werden, »indem man eben mit größter Pedanterie jede Abweichung in den äusseren Umständen und in der Technik solcher Beobachtungsreihen vermeidet, die miteinander verglichen werden sollen«.55 Zu berücksichtigen waren nach Kraepelin auch die Effekte von Übung und Ermüdung. Äußere und innere Assoziationen ließen sich schließlich nicht gut genug voneinander abtrennen und schon gar nicht statistisch weiterverarbeiten oder wiederholen. So gelangte Kraepelin schließlich zu der
53 Kraepelin 1892, S. 229f. 54 Kraeplin 1892, S. 1. 55 Kraepelin 1892, S. 3.
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Einschätzung, dass die Ergebnisse seiner Untersuchungen keineswegs günstig seien. Der Wissenschaftshistoriker Ian Hacking arbeitet heraus, dass Experimente gerade deshalb funktionieren, weil sie so mangelhaft sind. In Wirklichkeit sei es nicht das Entdecken und die Möglichkeit des Ablesens von Phänomenen, das ein Experiment auszeichne, sondern die Erzeugung von Effekten: »Experimentieren heißt: Phänomene schaffen, hervorbringen, verfeinern und stabilisieren.«56 Seine Versuchsanordnung so umzugestalten, dass die psychotropen Effekte stabilisiert werden konnten, gelang Kraepelin jedoch nicht. So wurde das Ergebnis von Kraepelins Bemühungen in den 1950er Jahren im nun aufstrebenden Feld der Pharmakopsychologie auch kritisch bewertet. Herbert Lippert (geboren 1930) bezeichnete dessen Erkenntnisse als enttäuschend und nur eingeschränkt nutzbar.57 Wolfgang de Boor würdigte zwar die Bemühungen Kraepelins, das Seelenleben messend zu erfassen, doch die Ergebnisse seien so banal gewesen, dass sie nicht anfeuernd auf die pharmakologisch orientierte Psychologie gewirkt hätten und deshalb ohne Nachfolger geblieben seien.58 Manfred Pflanz (1923–1980) schließlich behauptete, dass die Erkenntnisse aus Kraepelins Versuchen auch ohne jede Methode beschreibbar gewesen wären.59 Dennoch wurde von allen Forschern die Wichtigkeit Kraepelins für die Entwicklung der Pharmakopsychologie hervorgehoben. Hans-Jörg Rheinberger weist darauf hin, dass Experimentalsysteme nicht lediglich dazu dienten, Theorien zu stützen oder zu verwerfen, sondern eine Vorrichtung zur Materialisierung von Fragen in einem neuen Wissensgebiet bildeten, die zu stellen man vorher nicht in der Lage gewesen sei.60 Es waren jene neuen Fragen, die Kraepelin über die Möglichkeit der Erzeugung stabiler Effekte im Bereich der psychotropen Arzneimittel stellte, die ihn zu neuen, für die moderne Psychopharmakologie schließlich konstitutiven Aspekten führten. Im Fazit seiner Untersuchung arbeitete Kraepelin heraus, dass es gerade die individuelle Verschiedenheit der Versuchspersonen sei, auf die der Forscher das Augenmerk richten müsse. Dies schloss er aus der Tatsache, dass trotz gleichbleibender Dosierung und penibler Kontrolle der Ver56 Hacking 1996, S. 380. Der von Hacking ebenso beschriebenen, unabdingbaren Fähigkeit, die Messinstrumente des Experiments zum Laufen zu bringen, widmet Kraepelin gleich zu Beginn seiner Abhandlungen mehrere Seiten, da sich sein Hipp'sches Chronoskop, eine Apparatur, die durch eine Unterbrechung und Weiterleitung von elektrischen Impulsen die Reaktionen der Versuchspersonen übermitteln sollte, als äußerst fehleranfällig erwies (vgl. Kraepelin 1882, S. 419–427). 57 Lippert 1959. 58 De Boor 1956. 59 Pflanz 1954. 60 Rheinberger 1992, S. 25; Rheinberger 2001, S. 21ff.
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suchsbedingungen keine stabilen Effekte zu erzielen waren. Die Reaktionen der einzelnen Personen auf die getesteten Substanzen schienen eher von den Subjekten selbst als von der Substanz abzuhängen: Beispielsweise fiel Einzelnen unter Alkohol das Lesen leichter, anderen dagegen schwerer.61 Kraepelin schloss mit der Feststellung, dass es gerade das Feld der individuellen Differenzen sei, dem sich die Pharmakopsychologie widmen müsse, wolle sie die Gesetzmäßigkeiten einer psychotropen Wirkung extrahieren. Mit diesem Postulat begründete er die Einführung der Differenziellen Psychologie in den Bereich der Pharmakopsychologie und später auch der Psychopharmakologie.62 Bereits zu Beginn seiner Studien in den Jahren 1882 und 1883 veröffentlichte Kraepelin einige Aufsätze in den Philosophischen Studien, in denen er einzelne Aspekte seiner (Selbst-)Versuche auf den Bereich der Psychopathologie auszudehnen versuchte. Aus den Experimenten hoffte Kraepelin die entstehende Symptomatologie in Abhängigkeit von ihren Ursachen erforschen zu können und mittels des Erstellens von Reaktionsreihen eine »Patho-Psychophysik« zu begründen. Diese sollte schließlich die Einrichtung einer psychiatrischen Nosologie auf rein psychophysischer Grundlage möglich machen und zu einer fundierten klinischen Diagnostik führen.63 Wie Volker Roelcke herausarbeitet, versuchte Kraepelin zu diesem Zweck »die komplexen klinischen Erscheinungsbilder in psychologische ›Elementarprocesse‹ zu zerlegen und diese wiederum auf messbare ›nervenphysiologische Thatsachen‹ zurückzuführen«.64 Von der Ausdehnung seiner Alkoholexperimente auf Tee, Kaffee und auf andere psychotrope Arzneien hoffte er schließlich, auch zu weiter gehenden Schlüssen für eine Psychopathologie zu gelangen: »Meine eigenen Beobachtungen über diese Stoffe [Alkohol, Amylnitrit, Aethyläther und Chloroform] sind einstweilen noch zu spärlich, um irgend weitergehende Schlüsse zu gestatten, doch hoffe ich späterhin auf diese Frage eingehender zurückkommen zu können. Die hohe Bedeutung derselben für das innere Verständniss normalen und krankhaften psychischen Geschehens, für die Entstehungsgeschichte seelischer Zustände und der aus ihnen hervorgehenden Handlungen bedarf keiner weiteren Auseinandersetzung.«65
Die von Kraepelin geplante »Patho-Psychophysik« sollte jedoch nicht nur zur Errichtung eines nosologischen Schemas dienen. Mittels Reaktions61 62 63 64 65
Kraepelin 1892, S. 232ff. Kraepelin 1892; van Bakel 1994; Debus 1992. Van Bakel 1994, S. 98; Roelcke 2003, S. 181. Roelcke 2003, S. 179. Kraepelin 1883, S. 605. In seiner im Jahr 1892 erschienenen Arbeit setzt er diese Diskussion jedoch nicht weiter fort.
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zeitmessungen an seinen PatientInnen sollte es zudem möglich werden, jeden Patienten einer spezifischen nosologischen Kategorie zuordnen zu können. Mit dieser Einteilung in die verschiedenen Diagnosekategorien wollte er zu einem naturwissenschaftlich fundierten Vorgehen gelangen. Die Reaktionszeitmessungen der psychiatrischen PatientInnen wurden auch zur Testung der sogenannten Geisteskrankheiten eingesetzt, um diese wissenschaftlich zu legitimieren.66 Gleichwohl gelang Kraepelin die Errichtung eines nosologischen Systems auf der Grundlage seiner Arzneimittelstudien nicht. Kraepelin versuchte, die Krankheitslehre schließlich vor allem durch die Einführung einer »Zählkarte«, auf der alle klinischen Beobachtungen aus der Wachabteilung systematisch notiert werden sollten, weiterzuentwickeln.67 Dennoch blieben die Einführung der Psychophysik, die Genese des klinischen Labors und seine Versuche der Neuformulierung der psychiatrischen Diagnostik für Kraepelin konstitutiv. Er hob ihre experimentelle Erschließbarkeit hervor: »Das Experiment war nicht ›nur‹ ein quantitatives Instrument sozialer Ausgrenzung, sondern auch ein Instrument, das möglichst alle psychischen Eigenschaften des erkrankten Individuums lückenlos aufdecken und quantifizieren sollte. Kraepelins psychologische Versuche dienten dazu, klinisch sonst unsichtbare ›Symptome‹ sichtbar zu machen.«68
Die Idee, die Wirksamkeit psychotroper Substanzen zur Bestimmung einer neuen psychiatrischen Diagnostik einzusetzen, bereitete gleichwohl zentrale Diskussionen der modernen Psychopharmakologie vor. Die Schaffung neuer Experimentalsysteme zur Verbindung beider Elemente erreichte seit den 1950er Jahren schließlich eine neue Konjunktur.69 Ende des 19. Jahrhunderts bekam, wie ich weiter analysieren werde, nicht nur die Kontrolle der disparaten Effekte bekannter psychotroper Stoffe durch experimentelle Anordnungen eine neue Dimension. Darüber hinaus bot seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch eine zuneh66 Van Bakel 1994. 67 Engstrom 2003, S. 141; Weber/Engstrom 1997. Die Idee der Zählkarte wurde bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts diskutiert. Schon 1867 wurde in der Berliner medicinisch-psychologischen Gesellschaft vorgeschlagen, zusammen mit der nächsten Volkszählung mithilfe einer Zählkarte auch eine statistische Erfassung der Irren durchzuführen. Dieses Projekt wurde schließlich in enger Kooperation mit den statistischen Büros der Stadt Berlin durchgeführt (vgl. Schmiedebach 1986, S. 75). In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sollte eine neue Form der »Zählkarte« auch für die bundesdeutsche Psychopharmakologie etabliert werden, die den Zweck hatte, psychopharmakologische Effekte besser sichtbar zu machen (vgl. Teil II, 3.3). 68 Engstrom 1997, S. 60. 69 Ausführlicher wird dieser Aspekt anhand der Diskussionen um das AMPSystem dargestellt (vgl. Teil II, 3.3).
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mend konstatierte Gefährlichkeit psychiatrischer Medikamente einen Anlass für ihre Überwachung.
2.3 Von der Geschichte der Stoffe: p s yc h o t r o p e S t o f f e als gefährliche Substanzen In den nachfolgenden Ausführungen soll die Ausdehnung des Gebrauchs dieser Substanzen in der Psychiatrie des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts betrachtet werden. Dabei werden die mit dem zunehmenden Einsatz psychotroper Substanzen verbundenen Debatten um ihre Gefährlichkeit analysiert und die Gefährlichkeit als konstitutives Element der »vormodernen« Psychopharmaka herausgearbeitet werden. Die Verwendung verschiedener Stoffe zur Rauscherzeugung spielt von jeher in den meisten Kulturen eine zentrale Rolle. Nach Luigi Belloni waren die sedativen Effekte einer großen Zahl verwendeter Blätter, Wurzeln und Früchte schon im Mittelalter bekannt.70 Allerdings wurde erst im Jahr 1548 der Begriff des Psychopharmakons eingeführt. Unter dem Titel »Psychopharmakon, hoc est: medicina animae« hatte Reinhardus Lorichius (Hadamarius) eine lateinische Übersetzung eines deutschsprachigen christlichen Textes, von Trost- und Sterbeversen herausgegeben. Hierbei handelt es sich jedoch nicht um eine pharmakologische Abhandlung. Der Text diente vielmehr zur religiösen Erbauung und Lebensbewältigung. In der heilkundlichen Terminologie wurde der Begriff des Psychopharmakons in den nächsten Jahrhunderten nicht weiter verwendet. Matthias Weber legt dar, dass die Vorstellung eines spezifischen Arzneimittels, das auf einzelne psychopathologische Merkmale einwirke, der Medizin bis in die jüngste Vergangenheit fremd geblieben sei. Der moderne Begriff der Psychopharmaka stelle vielmehr eine Wortschöpfung dar, die sich auf die Psychopharmaka nach 1950 beziehe.71
Die Ausweitung des Einsatzes »psychiatrischer Medikamente« in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Erst im 19. Jahrhundert weitete sich der medizinische Einsatz psychotroper Stoffe mit der Entstehung der Institution Psychiatrie aus. Der psychiatrische Arzneimittelschatz um 1840 wurde nach Weber folgendermaßen bestimmt: Narkotika (Schlafmohn, Tollkirsche, Schwarzes Bilsenkraut, 70 Belloni 1957, S. VIII. 71 Weber 1999, S. 31.
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Stechapfel, Fingerhut), Nervina (Kampfer, Bergwohlverleih, BisamMoschus, Phosphor) und Brech- und Purgiermittel (Brechweinstein, Nieswurz, Brechwurzel, Kroton-Öl).72 Die wichtigste psychotrope Substanz war jedoch seit der Antike das Opium.73 Im Zeitraum von 1844 bis 1950 zeigt Hall die Verwendung folgender Medikamente beziehungsweise Medikamentengruppen in der deutschen Psychiatrie auf: Die größte Gruppe bildeten die Alkaloide (unter anderem Mescalin, Hyoscin, Atropin, Belladonnapräparate, Kokain, Opium, Opiumpräparate), gefolgt von den Bromtherapeutika (Kaliumbromid, Opiumbromtherapie) und synthetischen Sedativa und Hypnotika (unter anderem Barbiturate, Chloralhydrat und seine Derivate). Seit den 1930er Jahren kamen zudem sogenannte (pharmakologische) Schock- und Krampftherapien zum Einsatz (zum Beispiel Insulinkomatherapie, Cardiazol-Krampftherapie), die bis in die 1950er Jahre die vorherrschende Behandlungsmethode blieben.74 Das erstmals von dem Chemiker Antoine Balard (1802–1876) im Jahr 1826 aus Meeralgen isolierte Brom wurde seit den 1830er Jahren Gegenstand medizinischer Untersuchungen. Aus ihnen ging hervor, dass dieser Wirkstoff ein erhöhtes Schlafbedürfnis auslöste. Seit 1870 mehrten sich jedoch auch Berichte über unerwünschte Wirkungen des Broms, unter anderem Berichte über den sogenannten »Bromismus«, der mit Tagesmüdigkeit und Antriebslosigkeit einherging. Bekannter wurde die Bromtherapie schließlich in Kombination mit anderen Substanzen (zum Beispiel Bromkaliumtherapie, Opiumbromtherapie, Äthylenum bromatum).75 Ab Mitte des 19. Jahrhunderts konnte dann mit der Synthese des Chloralhydrats im Jahr 1831 von Johann Justus Freiherr von Liebig (1803– 1873) erstmals ein synthetisches psychotropes Medikament hergestellt werden, das die Gruppe der Sedativa begründete. In der Psychiatrie wurde Chloralhydrat im Jahr 1869 von Oskar Liebreich (1839–1908) erprobt und als Medikament mit den größten sedativen Eigenschaften beschrieben. Ellen Leibrock stellt in ihrer historischen Untersuchung heraus, dass das Chloralhydrat neben den Opiumpräparaten und Kaliumbromid vor allem in den 1870er Jahren eingesetzt wurde, jedoch seit den 1880er Jahren in der von ihr untersuchten Klinik wieder aus dem klinischen Arzneimittelrepertoire verschwand, da es sich dem Morphin gegenüber nicht als wirksamer erwies.76 Auch David Healy sieht in der Synthese des Chloralhydrats keinen großen Durchbruch für die Medikamentenbehandlung in der Psychiatrie, da der Stoff »nur« sedierende Effekte zeige.77 Der rein hypnoti72 73 74 75 76 77
Weber 1999, S. 48. Vgl. auch 2.1. Hall 1997. Vgl. Leibrock 1998. Leibrock 1998, S.181ff. Healy 2002, S. 41.
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sche Charakter des Chloralhydrats, der nach Abklingen der psychotropen Effekte alle Aspekte des Wahnsinns unverändert hervortreten ließ, macht es nach Weber nur aufgrund der zeitgenössischen Indikationen überhaupt sinnvoll, Chloralhydrat als Psychopharmakon zu bezeichnen.78 Demgegenüber stellen andere AutorInnen die Wichtigkeit der Einführung der Sedativa in den Folgejahren für die Durchsetzung einer Behandlung ohne mechanischen Zwang, der sogenannten no-restraint, heraus. In dieser Diskussion scheinen KritikerInnen der medikamentös hergestellten Ruhe unter den Psychiatern eher eine Ausnahme zu sein.79 Auch die mangelhafte Möglichkeit, die therapeutischen Effekte des Chloralhydrats von ihren giftigen Erscheinungsformen abzugrenzen, machte den Einsatz von Chloralhydrat umstritten.80 Eng mit der Erprobung des Chloralhydrats verbunden ist die Geschichte der Barbiturate, an deren Synthese seit Mitte des 19. Jahrhunderts geforscht wurde. Da man keine genaueren Vorstellungen über ihren biologischen Wirkmechanismus hatte, erprobte man sie lange Zeit nicht.81 Als neues Hypnotikum führte sie erstmals Oswald Schmiedeberg (1838–1921) im Jahr 1886 mit dem Urethan in die klinische Praxis ein; es wurde schnell nach weiteren Derivaten gesucht. Der eigentliche Wirkmechanismus blieb jedoch lange unbekannt, und auch die Diskrepanz zwischen Vorhersagen und klinischer Prüfung konnte nicht gelöst werden.82 Mit der Einführung des Veronals in die Psychiatrie um 1902 wurde ein großes Interesse an neuen, scheinbar hocheffektiven Barbituraten deutlich. In dieses Interesse mischten sich aber bei der Verwendung schnell Bedenken wegen der gefährlichen Folgen, denn bei dem sogenannten Veronalmissbrauch kam es zu schweren Entzugserscheinungen und Suiziden: »Obwohl die dem Veronal zugeschriebenen Todesfälle meistens auf erhebliche Überdosierungen zurückzuführen waren oder gelegentlich auch auf Verwechslungen von Arzneimitteln beruhten, wurde immer wieder Kritik wegen der
78 Weber 1999, S. 69. 79 Hall 1997, S. 41ff.; Schmiedebach 1986, S. 87ff. 80 Clarke 1988 verweist auf die großen interindividuellen Reaktionsunterschiede bei der Dosierung, die es nicht möglich machten, eine exakte therapeutische oder letale Dosierung zu bestimmen. So starben im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts mehr PatientInnen an Chloralhydratunfällen als an Selbstmord mit der Substanz. Zudem wurde schnell erkannt, dass der längere Gebrauch zu Abhängigkeiten führte. Im Jahr 1877 wurde die Substanz in Großbritannien erstmalig als Gift klassifiziert und in den »Poison Schedule« des »Pharmacy Act« von 1868 aufgenommen (vgl. Clarke 1988). 81 Weber 1999, S. 106. 82 Weber 1999, S. 102ff.
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prinzipiellen Gefährlichkeit der Barbiturate laut, die trotz des unleugbaren therapeutischen Potentials gegen ihre Verwendung spräche.«83
Mit den prekären Folgen der Barbituratsucht war die Psychiatrie schließlich bis in die 1950er Jahre des 20. Jahrhunderts befasst und versuchte, ihre Folgen mit den neuen, modernen Psychopharmaka zu beheben. So wurde das erste Neuroleptikum Chlorpromazin unter anderem als Mittel zur Entziehungskur bei »chronischem Morphinismus« und Barbituratabhängigkeit erprobt.84 Wieder ins öffentliche Bewusstsein gebracht wurde die Gefährlichkeit der Barbiturate auch mit der in den 1920er Jahren populärer werdenden Schlaftherapie. Zwar war die Erzeugung von Dauerschlaf mittels Opium schon seit der Antike bekannt, erreichte aber mit den neuen synthetischen Schlafmitteln eine neue Konjunktur.85 Erstmals wurde das Barbiturat Luminal von G. Epifanio zur Schlaftherapie in der Psychiatrie in dem Glauben eingesetzt, durch den Dauerschlaf ein Ende von Delirien bewirken zu können.86 Zur Berühmtheit gelangte die Therapie jedoch erst 1920 durch die Versuche von Jakob Klaesi (1883–1980), der das Barbiturat Somnifen zusammen mit Morphin an 30 »schizophrenen« PatientInnen erprobte. Von diesen zeigten zwölf PatientInnen eine Besserung, elf blieben unverändert und sieben verstarben.87 Trotz einiger Verbesserungen der therapeutischen Mischungen in den 1930er Jahren wurde die medikamentöse Schlaftherapie in den 1950er Jahren nicht mehr eingesetzt, da sie als nicht steuerbar galt und mit diesen Mitteln behandelte PatientInnen einer ständigen Überwachung bedurften.88 Insgesamt ist festzustellen, dass die Therapien mit psychotropen Stoffen in der Psychiatrie auch vor 1950 zwar vielfältig waren, sich aber nicht als hegemoniale Behandlungsform durchsetzten.89 Dies ist unter anderem 83 Weber 1999, S. 109. Die Argumentation über die Gefährlichkeit der Barbiturate setzte sich im 20. Jahrhundert weiter durch. So empfahl das US-Amt für Rauschgift und Gefährliche Drogen im Jahr 1972 eine Beschränkung von Barbituraten mit der Argumentation, sie seien gefährlicher als Heroin (vgl. Szasz 1978, S. 245). 84 Kielholz 1954, S. 306. Der Autor verweist auf den Einsatz zur Behebung von durch den Entzug erzeugten Schlafproblemen. Dieses Paradoxon bleibt auch für die moderne Psychopharmakologie konstitutiv: Die Symptome, gegen die ein Psychopharmakon eingesetzt wird, und die Symptome, die es bei längerem Gebrauch erzeugt, sind weitgehend identisch und gegen Letztere werden weitere psychotrope Substanzen verabreicht (vgl. u. a. Martensson 1988). 85 Linde 1988c. 86 Weber 1999 datiert diesen Versuch auf 1913, Linde 1988c auf 1915. 87 Swazey 1974, S. 13ff; Linde 1988c, S. 73ff.; Weber 1999, S. 132. 88 Beispielhaft hierfür Arnold/Hift/Solms 1952, S. 964. 89 Caldwell 1970 betont, dass der häufig beschworene »Nihilismus« in der Psychiatrie weniger darin bestehe, dass man keine medikamentösen Verfah-
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mit ihrem Ruf als »gefährliche Stoffe« zu erklären, deren Wirkungen immer auch das Risiko des Todes der PatientInnen mit sich brachten. Die prinzipielle Erwartungshaltung hinsichtlich der Verwendung von Psychopharmaka in der deutschen Psychiatrie zu Beginn des 20. Jahrhunderts brachte der Psychiater Max Seige auf den Punkt: »Die Hochflut von sedativen und hypnotischen Mitteln, mit denen im vergangenen Jahrzehnt der Markt überschwemmt wurde, zeigt noch keinerlei Neigung abzuflauen, und immer wieder werden uns neue unter originell konstruierten Namen angepriesen, während andere bereits wieder der Vergessenheit anheimfallen. Auch von denen, die sich in der ärztlichen Praxis gehalten haben, sind es nur ganz wenige, die sich allgemeinere Anerkennung haben schaffen können; fast bei jedem von ihnen können wir dieselben Erscheinungen in der Literatur beobachten: Die ersten Nachrichten lauteten in jeder Beziehung äußerst günstig; bald stellte sich jedoch heraus, daß sie den alten Anforderungen des Cito, tuto et jucunde nicht genügten, zum mindesten, daß sie schon in geringen Dosen allerlei unangenehme oder schädliche Nebenwirkungen äußerten. Zum Schlusse fanden dann die meisten von ihnen ein eng umgrenztes Spezialgebiet, auf dem sie der gewissenhafte Arzt anwendet.«90
Diese Bewegung, die sich im Rahmen der Entwicklung neuer Psychopharmaka vollzieht, wurde von Toine Pieters und Steven Snelders auch als Seige-Kreislauf bezeichnet.91 Wegen ihrer umstrittenen Effektivität wurden die pharmakologischen Verfahren ab den 1930er Jahren zunehmend zugunsten der neu aufkommenden sogenannten Somatischen Therapien oder Schockverfahren zurückgestellt. Auf dem Weltkongress für Psychiatrie von 1950 waren schließlich medikamentöse Behandlungen in der Psychiatrie in den Hintergrund gerückt. Mit den zahlreicher verwendeten Schockverfahren wurde die Leitidee propagiert, dass nur physische Krankheiten eine Wirkung auf seelische Störungen haben könnten.92 Auf der Grundlage dieser Denkform wurde die mögliche Effektivität pharmakologischer Verfahren nicht mehr
ren ausprobiere, sondern vielmehr alles Mögliche mit mangelhaftem Erfolg teste (vgl. Caldwell 1970, S. 11). 90 Seige 1912, S. 1828. 91 Snelders/Kaplan/Pieters 2006; Pieters/Snelders 2005. Ob sich dieser Kreislauf auch für die modernen Psychopharmaka nachweisen lässt, wird in Kapitel IV diskutiert. 92 Deniker 1988, S. 119. Der Autor betont, dass zum Beispiel die Versuche einer Beeinflussung »psychischer Störungen« durch die Malariatherapie sich auf der Idee gründeten, mithilfe der Erzeugung des Fiebers die Abwehrkräfte des Körpers so zu beeinflussen, dass sie sich auch auf den geistigen Zustand der Person auswirkt.
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in Betracht gezogen; solche Verfahren stellten daher um 1950 nicht die gängige Behandlungsform dar.93
Schock- und Krampfverfahren als neue körperliche Behandlungsformen in der Psychiatrie Auf diese Weise entwickelten sich die Krampf- und Schockverfahren zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu den wichtigsten körperlichen Behandlungsformen in der Psychiatrie. Der Begriff der Somatischen Therapien stellte schließlich einen Sammelbegriff für elektrische und chemische Konvulsionsverfahren dar.94 Als erster Protagonist dieser Behandlungsformen erlangte Julius Wagner-Jauregg (1857–1940), der die Malariatherapie und durch sie ausgelöstes Fieber als Therapeutikum in der Psychiatrie einsetzte, große Berühmtheit.95 Obwohl die künstliche Impfung der PatientInnen nicht unumstritten war und eine Mortalitätsrate von 4 Prozent aufwies, erhielt Wagner-Jauregg für diese Entdeckung den Nobelpreis für Medizin. Die Fiebertherapien wurden von den ForscherInnen auch als Voraussetzungen für die Insulinkomatherapie beschrieben, die Manfred Sakel (1900–1957) ab 1927 an Morphinabhängigen erprobte und die sich schnell in der Psychiatrie durchsetzte.96 Konstitutiv für die Effekte der Insulintherapie war, dass sie ein tiefes, schwer steuerbares Koma erzeugte. Die Schwelle zwischen einem noch nicht erfolgten Koma und einem zu tiefen Koma mit tödlichen Folgen genau auszuloten, erwies sich als eine Aufgabe, die große Expertise erforderte. Die Dosierung konnte nur individuell erfolgen. Die durchschnittliche Mortalitätsrate lag bei 1-5 Prozent.97 Um die Risiken der Insulinkomatherapie abschätzen zu können, brauchte man auch eine enge pflegerische Überwachung, denn auch nach dem Auf93 Deniker 1988, S. 119ff. Hippius berichtet über seine Schwierigkeiten bei der Ersterprobung von Chlorpromazin (Megaphen) in Deutschland: »Finally our head of department agreed but told us to go ahead, but it would not be successful because all drugs which have been used since the beginning of the century, barbiturates etc. had not been effective« (Hippius/Healy 1996, S. 194). 94 Auch hier wurden die Verfahren nicht nach ihrem biochemischen Angriffspunkt, sondern nach ihren Effekten als gemeinsame Gruppe klassifiziert. So betont Walter Ritter von Baeyer in seinem Buch über die psychiatrischen Schockverfahren, es handele sich hierbei um »absichtlich gesetzte pathophysiologische Vorgänge, deren Verschiedenheit eine gemeinsame Bezeichnung kaum zu rechtfertigen scheint«. Für eine einheitliche Namensgebung spreche lediglich, »daß die Wirkung auf Psychosen im Großen und Ganzen ähnlich ist, daß beide, Krampf und Koma, grobe Eingriffe in die neuropsychischen Hirnfunktionen darstellen« (von Baeyer 1951, S. 12). 95 Zur Malariatherapie in der Psychiatrie vgl. Weber 1999, S. 125ff. 96 Zur Verbreitung in Deutschland vgl. Frank 1978, S. 6. 97 Weber 1999, S. 127; Frank 1978, S. 17.
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wachen mussten die PatientInnen aufgrund induzierter Halluzinationen und Krampfanfälle weiter beobachtet werden.98 Gerade die Phase des Erwachens aus dem Koma schien für die Effektivität des Verfahrens entscheidend zu sein.99 Der Psychiatriehistoriker David Healy stellt die Frage, ob es nicht gerade der menschliche Kontakt nach der Todesangst des Komas sei, der die eigentliche Wirksamkeit des Insulins begründe.100 Der Einsatz eines solch prekären Verfahrens machte den Nachweis seiner Effektivität doppelt notwendig. So nahmen mit dem Einsatz des Insulins statistische Wirksamkeitsbeurteilungsversuche zu, die vorher lediglich vereinzelt in der Beurteilung psychotroper Stoffe zur Anwendung gekommen waren. Die Wirksamkeit des Insulins einzuschätzen, gestaltete sich jedoch als schwierig, da niemand den Spontanverlauf der »Psychosen« zu beurteilen wusste. Längere »Krankheitsverläufe« überhaupt zu verfolgen, stellte zu dieser Zeit ein Novum dar, denn in den 1930er Jahren galt die »Schizophrenie« als unheilbarer Irrsinn. Statistiken über eine Erfolgsquote ergaben jedoch nur dann Sinn, wenn man den Verlauf ohne Behandlung als Vergleichsgröße angeben konnte, wozu zunächst umfangreiches »Patientenmaterial« gesichtet werden musste.101 Im Jahr 1942 fand die Zeit der Insulinkomatherapie schließlich ein vorläufiges Ende: Sie wurde wegen der Insulinknappheit im Zweiten Weltkrieg verboten.102 Erst nach 1945 wurde die Insulinkomatherapie in Deutschland wieder breit eingesetzt. Parallel zur Insulinkomatherapie gelangte die Krampftherapie mit Kampfer (alternativ zu diesem Vorgehen mit Cardiozol) zur Anwendung, die Ladislaus von Meduna (1896–1964) im Jahr 1934 erstmals bei »katatonen Schizophrenen« erprobte, wobei er eine Remission von bis zu 98 Healy 2002, S. 50ff. Auch Walter Ritter von Baeyer führt in seinem Buch über die somatischen Therapieformen an: »Die Insulinbehandlung ist reich an Überraschungen, Zwischenfällen, Komplikationen, deren Beherrschung Achtsamkeit und hohes ärztliches Können erfordert. Sie ist ganz und gar keine Angelegenheit eines Schemas oder bloße Routine!« (von Baeyer 1951, S. 17). Als notwendiges Material zählt er auch gepolsterte Betten, Riemen, Mundkeile und Mundsperren auf, die jeder Arzt bei einer Insulinkomatherapie sofort zur Verfügung haben sollte. Auch die Personalintensität des Verfahrens wird hervorgehoben: Man benötige eine Pflegerquote von 1:6, in den Komastunden und bei Fütterung noch mehr, außerdem tägliche Aufzeichnungen über Heilschocks und Wecktermine sowie besondere Vorkommnisse. Dies alles müsse auf einem täglichen Insulinbogen eingetragen werden. Zur Geschichte der klinischen Wissensbildung über Insulinkoma und der Veränderung der psychiatrischen Praxis durch die Anwendung dieser Therapie vgl. auch Doroshow 2007. 99 Müller 1982, S. 166. 100 Healy 2002, S. 55; Frank 1978, S. 8. 101 Müller 1982, S. 194. 102 Borck 2005a, S. 253.
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50 Prozent zu beobachten glaubte.103 Später wurde ihre Indikation vor allem auf die »manische Depression« verlagert, bei der die Insulinkomatherapie nahezu wirkungslos zu bleiben schien.104 Die Angst der PatientInnen vor der Schocktherapie machte diese jedoch zu einer kontrovers diskutierten Behandlungsform. So schildert Müller seine Erfahrungen mit diesen Verfahren als beteiligter Psychiater wie folgt: »Gelang es nicht, das Medikament so zu dosieren, daß sofort ein voller epileptischer Anfall erfolgte – und dies war bei den großen Unterschieden der individuellen Ansprechbarkeit nie ganz zu vermeiden –, so traten bei den Patienten qualvolle Todesangst und Vernichtungsgefühl auf, an die sie sich nachher erinnerten. Kein Wunder, daß sie sich oft sehr heftig gegen eine Wiederholung sträubten. Die Suche nach zuverlässiger wirkenden Mitteln blieb erfolglos. Von daher mag es kommen, daß die Krampfbehandlung im Publikum wenig Anklang fand und das Odium einer Foltermethode nie recht loswurde.«105
Zusätzliche Komplikationen wie Rückenfrakturen und Schwellungen des Gesichts machten den Einsatz umstritten. Aus diesem Grund ging man bald nach der Erfindung elektrischer Schockverfahren dazu über, diese Methoden vorzuziehen. Zwar war das Risiko für die PatientInnen und deren Erscheinungsbild nicht von dem chemischer Krampfverfahren zu unterscheiden, man versprach sich aber von einer richtig dosierten Schockbehandlung eine sofortige Bewusstlosigkeit der PatientInnen. Die Einführung des Elektroschocks setzte sich in Deutschland ab 1939 durch. Zuerst wurden an der psychiatrischen Universitätsklinik ErlangenNürnberg von Friedrich Meggendorf im November des Jahres in Kooperation mit der Firma SIEMENS Elektroschockgeräte eingeführt. Die Anwendung des Elektroschocks weitete sich bald – gerade vor dem Hintergrund des Insulinverbots – aus.106 Bereits im April 1938 hatte der italienische Psychiater Ugo Cerletti (1877–1963) an einem 39-jährigen Kranken eine Serie von Elektroschocks durchgeführt und von »vielversprechenden« Ergebnissen berichtet. Erprobt hatte er das Verfahren zunächst an den Schweinen eines römischen Schlachthofs; er versuchte eine Dosierung zu finden, die Bewusstlosigkeit erzeugte, ohne tödlich zu sein. Der erste Patient, an dem Cerletti die Elektroschocktherapie erprobte, war ein ihm völlig fremder, gerade in seine Anstalt eingewiesener Mann, an dem der Versuch misslang: Der Patient wurde nicht ohnmächtig, sondern erlebte die Schockprozedur bei vollem Bewusstsein, weigerte sich strikt, diese fortzusetzen und äußerte Todesangst. Das hielt Cerletti jedoch nicht davon ab, 103 104 105 106
Weber 1999, S. 129. Müller 1982, S. 244. Müller 1982, S. 244. Borck 2005a, S. 250ff.
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die Anwendung weiterzuführen. Das Setting der Ersterprobung wird von manchen KritikerInnen als konstitutiv für jenes neue Wissen über den Elektroschock betrachtet und mit einem Verschwinden des Subjekts in den therapeutischen Verfahren in Zusammenhang gebracht.107 Die frühe Anwendung des Elektroschocks barg das Risiko von Knochenbrüchen. Die Kombination der Elektroschocktherapie mit Sedativawurde grundsätzlich als gefährlich beschrieben. So wies Lothar Kalinowsky (1899–1992) bereits im Jahr 1956 auf Todesfälle durch die Kombination von Barbituraten, Chlorpromazin und Reserpin hin.108 Gleichzeitig propagierte man aber gerade in Deutschland die Kombination von Elektroschock und Chlorpromazin, um die meist mit dem Schock einhergehende Furcht, die sogenannte »Schockangst«, zu verringern, welche die PatientInnen häufig die Behandlung abbrechen ließ.109 Die Elektroschocktherapie bildet ein bis heute – und in den letzten Jahren verstärkt – in der Psychiatrie angewandtes Verfahren gerade im Bereich der sogenannten »endogenen Depressionen«.110 Ihre biochemischen Effekte sind gleichwohl immer noch weitgehend unklar.111 Bekannt sind hingegen durch sie bedingte zum Teil schwerwiegende Hirnschädigungen schon seit den 1940er Jahren.112 Vor diesem Hintergrund ist die Anwendung des Elektroschocks seit den 1950er Jahren durchaus umstritten.113 Die Schockverfahren, insbesondere die Insulinkoma- und Elektroschocktherapien, blieben auch in den 1950er und 1960er Jahren breit angewendete Behandlungsverfahren, deren Einsatz mit der Einführung von Neuroleptika keinesfalls verschwand. Wegen der »Gefährlichkeit« ihrer unerwünschten Effekte gerieten sie jedoch in Misskredit, und es gab und gibt einzelne PsychiaterInnen, die ihre Anwendung grundsätzlich ablehnten und ablehnen.114 Vielfach wurden sie jedoch als der Vergleichsstandard für die neuen Behandlungsformen betrachtet und kamen weiter breit zum Einsatz. Im vorangegangenen Abschnitt wurde der Einsatz psychotroper Stoffe im Zuge ihrer Experimentalisierung vor 1950 betrachtet. Im Fokus stand dabei ihre Existenz als »gefährliche Stoffe«, deren Anwendung in der Erprobung unerwartete Schwierigkeiten, nicht steuerbare Effekte und Todesfälle mit sich brachte. Mit der Erprobung dieser Stoffe ging die Konstitu107 Szasz 1971. Dieser arbeitet die Wichtigkeit des ersten Falls für die Erfindung einer neuen Therapie heraus. 108 Kalinowsky 1956, S. 745f. 109 Lieser 1956. Ausführlicher III.5.1. 110 Debus 2006. 111 Weber 1999, S. 131. 112 Frank 1978; für eine Gesamtdiskussion und Übersicht vgl. Breggin 1980. 113 Eicke 1962. 114 Eicke 1962. Dieser berichtet, dass er beide Verfahren aufgrund ihrer Gefährlichkeit schon seit 1956 in seiner Klinik überhaupt nicht mehr einsetze.
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tion eines ersten Netzes neuer Techniken einher, die ihren Einsatz steuerbarer machen sollten und dabei zugleich neue Beobachtungssysteme in der Klinik zur Anwendung kommen ließen: Die engmaschige Beobachtung der PatientInnen, ein disziplinarisches System der Überwachung sowie einzelne Versuche, Statistiken über die Effektivität dieser Stoffe zu erstellen, bildeten Maßnahmen, welche die Gefährlichkeit zu einer steuerbaren Größe machen sollten. Michel Foucault hat die Transformation der Klinik im 19. Jahrhundert als eine Bewegung bezeichnet, die den Patienten zum beobachteten Objekt gleich den Dingen des Labors machte.115 In der Geschichte der vormodernen Psychopharmaka wurde diese Form der Beobachtung zunehmend zentraler, um die unerwünschten Effekte in den Griff zu bekommen. Zum Teil gelang dies, zum Teil verschwanden die erprobten Stoffe aufgrund ihres zu unsicheren Status schnell wieder. Die Prekarität psychotroper Stoffe bildet jedoch eine Folie für die modernen Psychopharmaka, indem in ihrer Erprobung Diskussionen über ihre Gefährlichkeit zentral geworden sind.116 Die Frage nach den Möglichkeiten ihrer (staatlichen) Regulierung stellte sich mit zunehmender Dringlichkeit, je mehr die Gefährlichkeit der Stoffe im 20. Jahrhundert als wichtiges Moment in Erscheinung trat. Die zunehmende industrielle Produktion von Arzneimitteln, die den Kontext für die neu entstehenden Psychopharmaka bildete, machte neue gesetzliche Regelungen notwendig. Diese juristischen Bestimmungen sollen im Folgenden näher betrachtet werden.
2 . 4 Z u m S t a n d d e r Ar z n e i m i t t e l p r ü f u n g u m 1 9 5 0 Mit dem Aufkommen neuer Erkenntnisse über pathobiochemische Veränderungen, die bestimmten Krankheiten zugrunde liegen, hatte die Arzneimitteltherapie zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen neuen Aufschwung erhalten. In der Behandlung galten Chemotherapeutika nun als die Mittel erster Wahl.117 Dadurch veränderte sich auch die Wahrnehmung von Arzneimitteln, die vermehrt nicht nur den Verlauf von Krankheiten beeinflussen, sondern diese auch »heilen« sollten. Wegen der Entwicklungen im gesamten Arzneimittelspektrum wurde es zunehmend zentraler, Substanzen, die nur zur Vorbeugung bestimmter Krankheiten eingenommen wurden, von echten Heilmitteln zu unterscheiden.118 Damit einhergehend be115 Foucault 1973, S. 13. 116 Vgl. zur Gefährlichkeit der Neuroleptika Teil III, 1. 117 Als wichtige Arzneimittel sind hier sicherlich das im Jahr 1910 von Paul Ehrlich eingeführte Salvarsan und das erste Antibiotikum zu nennen, das im Jahr 1942 auf den Markt gebracht worden ist (vgl. Bäumler 1997; Gradmann 2005). 118 Stapel 1988, S. 74.
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nötigte man vermehrt eine Definition der Krankheiten, die dem Arzneimittelkonsum zugrunde lagen. Die industrielle Massenproduktion von Arzneimitteln einer sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts etablierenden chemisch-pharmazeutischen Industrie ließ den unkontrollierten Gebrauch von Arzneimitteln im 20. Jahrhundert auch in Deutschland zum Problem werden. Es wurde deshalb immer wichtiger zu entscheiden, ob der Patient ein Arzneimittel mit der Absicht kaufte, eine Krankheit zu behandeln oder sich zu »berauschen«.119 Zwar wurde die Selbstmedikation von Menschen schon seit dem späten 18. Jahrhundert problematisiert, mit der industriellen Massenproduktion neuer Arzneimittel erreichte diese Diskussion jedoch eine neue Dimension. Einen »freien« Gebrauch zu reglementieren, sollte insbesondere für die neuen, industriell hergestellten Psychopharmaka zentral werden.
Staatliche Regulationsversuche bis zum Arzneimittelgesetz von 1961 Um die Regulation der um 1950 neu entstehenden Psychopharmaka aufzuzeigen, soll kurz die Geschichte der Gesetzesentwürfe des frühen 20. Jahrhunderts betrachtet werden. Die ersten staatlichen Kontrollversuche reglementierten nämlich nicht die Verwendung neuer Substanzen, sondern waren vor allem darauf ausgerichtet, die Produktion und Abgabe von Arzneimitteln zu regeln. Seit 1871 war in der Verfassung festgelegt, dass das Gesundheitswesen ausschließlich Ländersache sei. Eine übernommene Gewerbeordnung des norddeutschen Bundes erlaubte jedoch den Verkauf von Arzneimitteln auch außerhalb von Apotheken. Bis Ende des 19. Jahrhunderts waren Arzneimittel frei verkäuflich; erst mit einer kaiserlichen Verordnung von 1901 wurde eine Apothekenpflicht von Arzneimitteln eingeführt.120 Die erlassenen Regelungen kontrollierten jedoch nur den Handel mit den Arzneimitteln, nicht ihre Herstellung. Erstmals problematisiert wurden die mangelnden Regelungen zur Überprüfbarkeit der Arzneimittelqualität durch ein Rundschreiben des Reichsministeriums des Inneren von 1926.121 Im Jahr 1928 stellte dann das Reichsgesundheitsamt einen ersten Arzneimittelgesetzesentwurf vor. Bereits zu diesem Zeitpunkt sollte eine Anmeldeund Registrierpflicht neuer Arzneimittel eingeführt werden. Strittig blieb indes die Bewertung von Qualitätskriterien wie Wirksamkeit durch die staatlichen Behörden.122 Nach einigen parlamentarischen Debatten in 119 Stapel 1988, S. 80. 120 Murswieck 1983, S. 267. Die Kaiserliche Verordnung bleibt bis zum Arzneimittelgesetz die gültige Rechtsverordnung. 121 Murswieck 1983, S. 275. 122 Stapel 1988, S. 87.
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den 1930er Jahren planten die Abgeordneten einen Entwurf zu verabschieden, der eine Herstellererlaubnis, eine Registrierpflicht und ein Verbot schädlicher Arzneimittel vorsah. Darüber hinaus sollten neue Substanzen Krankheiten und Körperschäden lindern, verhüten oder beseitigen.123 Die Verabschiedung eines entsprechenden Arzneimittelgesetzes scheiterte jedoch vor allem wegen der Kriegsumstände. Anfang des Jahres 1943 wurde eine neue gesetzliche Regelung – die sogenannte Stopverordnung – für die Produktion von Arzneimitteln erlassen. Diese Richtlinie sollte die Produktion neuer Arzneimittel beschränken und den Verbrauch kriegswichtiger Rohstoffe minimieren. Neue Arzneimittelfertigwaren durften nun nur noch mit staatlicher Genehmigung hergestellt werden.124 Mit der starken Reglementierung ging erstmals auch eine staatliche Prüfung der Arzneimittel einher.125 Ab 1947 wurden die Einschränkungen der Produktion neuer Arzneimittel zwar teilweise aufgehoben, blieben aber weiterhin von einer behördlichen Erlaubnis abhängig.126 Doch obwohl die Stopverordnung nach 1945 weiter galt, war die Arzneimittelzulassung noch ähnlich ungeregelt wie in den 1930er Jahren, da die Behörden nur Auflagen aussprechen konnten. Eine vorgeschriebene wis123 Stapel 1988, S. 106. Diese Definition verwies zwar auf das Ziel eines Arzneimittels, führte dessen Bestimmung aber nicht näher aus. Gleichzeitig wurde mit der Ausweitung auf die »Verhütung« von Krankheiten auch das ausgedehnt, was ein Arzneimittel sein kann. 124 Ministerrat für Reichsverteidigung 1943; Murswieck 1983, S. 421ff. 125 So führt Murswieck zur Stopverordnung aus: »Mit ihr wurde in Deutschland erstmalig ein amtliches Zulassungsverfahren für Arzneispezialitäten nach vorheriger Überprüfung von Zusammensetzung, Haltbarkeit, Dosierung, Wirksamkeit, Unschädlichkeit, Nebenwirkungen, Gegenanzeigen, Anwendungsgebiet etc. durchgeführt« (Murswieck 1983, S. 422). 126 Kirk 1999, S. 20. Zuständig waren die Landesbehörden der Bundesländer, in denen das Arzneimittel produziert wurde. Unklar ist letztlich, welche Auswirkungen die Stopverordnung tatsächlich hatte. Bereits im Jahr 1950 wandte sich die pharmazeutische Industrie an das Bundesministerium mit einer Eingabe, die Stopverordnung für ungültig zu erklären (vgl. Schreiben Blanc vom 22.05.1950, BA Koblenz, Bestand 1432). Der zuständige Ministerialbeamte antwortete jedoch, diese sei als Vorstufe zu einem neuen Arzneimittelgesetz zu begreifen und deshalb gültig (vgl. Schreiben Redecker vom 31.05.1950, BA Koblenz, Bestand 1432). Da aber völlig unklar zu sein schien, was die Stopverordnung genau regelte, forderte das Bundesministerium des Inneren in einem internen Schreiben, eine Durchführungsverordnung für die Stopverordnung zu erlassen (vgl. Schreiben des Bundesministerium des Inneren vom 26.01.1951, BA Koblenz, Bestand 1432). Die Länder äußerten jedoch, verschiedene Schwierigkeiten mit der Erstellung einer Durchführungsverordnung zu haben. Im Laufe des Jahres 1952 wurde schließlich die Arbeit an der Durchführungsverordnung eingestellt, weil man erwartete, dass ein in Kürze zu verabschiedendes Arzneimittelgesetz die Probleme lösen werde (vgl. Vermerk Danner vom 05.02.1952, BA Koblenz, Bestand 1432).
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senschaftliche Prüfung oder das Verbot eines Arzneimittels war nicht möglich.127 Die Arzneimittelkommission deutscher Ärzteschaft beschreibt in ihrer Selbstdarstellung die Situation um 1950, die zu ihrer Gründung geführt hat, mit folgenden Worten: »Abgesehen von diesen wenigen Ausnahmen [gemeint sind Impfstoffe und Seren] konnte bis zum Erlass eines AMG jedermann ohne fachliche Voraussetzung Arzneimittel herstellen und Großhandel mit ihnen betreiben. Mangels gesetzlicher Grundlagen konnte sich die öffentliche Verwaltung in der Regel auch bei offensichtlichen Missständen nicht einschalten. Eine Möglichkeit des behördlichen Einschreitens zur Bekämpfung von Gefahren für die Gesundheit oder zur Abstellung von Missständen bestand lediglich in den Ländern, in denen eine behördliche Generalklausel galt.«128
Die Einführung des Chlorpromazins im Jahr 1953 fiel somit in einen Zeitraum, in dem gesetzliche Bestimmungen der Überprüfung und Steuerung neuer Arzneimittel weitgehend fehlten. Letztendlich blieb das produzierende Unternehmen für den Nachweis von Wirksamkeit und Sicherheit eines Arzneimittels allein verantwortlich; die pharmazeutische Industrie war weit mehr an der Sicherheit als an der Wirksamkeit eines Arzneimittels interessiert.129 Der Staat hielt sich in Zeiten der frühen Bundesrepublik aus der Definition von verbindlichen Standards dieser Kategorien weitgehend heraus und betrachtete sie als durch die beteiligten Akteure in Pharmazeutischer Industrie, Pharmazie und Medizin nach dem Stand der Wissenschaft zu ermittelnde Werte.130 Insbesondere die Wirksamkeit eines Arzneimittels war für viele der Beteiligten in den 1950er Jahren keine relevante Größe für ihre Einführung. Keines der in den 1950er Jahren neu eingeführten Psychopharmaka musste also im Rahmen gesetzlicher Bestimmungen zu dieser Zeit auf seine therapeutische Effektivität hin überprüft werden. Die »Wirksamkeit« zu beurteilen, oblag keiner strengen Testung, sondern der Beurteilung sie verabreichender Ärzte. Die Mediziner bestimmten den therapeutischen Wert 127 Murswieck 1983, S. 281ff.; Kirk 1999, S. 22. Auch diese Form der behördlichen Kontrolle wurde durch das Bundesverfassungsgericht im Jahr 1959 gekippt, indem es die Stopverordnung für nichtig erklärte. Zwischen den Jahren 1959 und 1961 konnte man also jedes Arzneimittel in Umlauf bringen, ohne dass staatliche Regulationsinstanzen beteiligt waren. 128 Schröder 2003, S. 49. 129 Gaudillière [ca. 2010]. 130 Diese Regelung steht im Gegensatz zur Definition von Wirksamkeit in den USA, wo eine staatlich kontrollierte Wirksamkeitsprüfung vor der Einführung eines Arzneimittels seit dem Amendment von 1962 zum Food and Drug Act zwingend war (vgl. Murswieck 1983, S. 153). Einhergehend damit wurde auch der randomisierte und kontrollierte klinische Versuch zur Leitlinie erklärt (vgl. Healy 2002, S. 367).
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schließlich nach innerhalb der Profession etablierten Normen.131 Weiterhin galten in den 1950er Jahren zudem die landesrechtlichen Bestimmungen für den Handel von Pharmaka. Dies bedeutete, dass die Einführung neuer Arzneimittel vor allem bei der Landesgesundheitsbehörde angezeigt werden musste. Sie mussten aber keine staatlich kontrollierte Wirksamkeitsprüfung durchlaufen. Im Laufe der 1950er Jahre wurden jedoch neue Versuche unternommen, den Arzneimittelmarkt gesetzlich zu regulieren. Sowohl die pharmazeutische Industrie als auch das Bundesministerium für Gesundheit legten Anfang der 1950er Jahre Entwürfe für ein neues Arzneimittelgesetz vor.132 Durch die unterschiedlichen Interessen staatlicher Instanzen, der pharmazeutischen Industrie und der beteiligten Ärzte wurde jedoch erst 1961 ein neues Arzneimittelgesetz verabschiedet. Das Gesetz forderte die Erlaubnispflicht für die Herstellung von Arzneimitteln, verlangte eine Deklarationspflicht der Arzneimittelspezialitäten nach Art und Menge der Zusammensetzung, führte eine Registrierungspflicht beim Bundesgesundheitsamt ein und beinhaltete ein Verbot, bedenkliche Arzneimittel in den Verkehr zu bringen. Erstmalig war die Einführung von Arzneimitteln nun bundeseinheitlich geregelt. Die neuen gesetzlichen Regelungen hatten vor allem das Ziel transparent zu machen, welche Arzneimittel sich überhaupt im Handel befanden.133 Gleichzeitig waren die Befugnisse des Bundesgesundheitsamtes auch 1961 noch stark beschränkt, denn die Behörde konnte selbst bei Bedenken gegen eine Registrierung nur Auflagen verordnen, musste aber eine Schädlichkeit des Arzneimittels beweisen. Demgegenüber war die Berichtspflicht der Hersteller bei neuen Arzneimitteln so vage, dass selbst wenn die Arzneimittelbehörde dazu befugt gewesen wäre, auf dieser Grundlage kaum eine Kontrolle möglich schien. Einige Autoren bezeichnen das Arzneimittelgesetz von 1961 deshalb auch als Herstellergesetz, denn es bot keine Möglichkeit für eine präventive Gefahrenabwehr.134 Ins Arzneimittelregister eingetragen werden durften die 131 Vgl. Teil II, 2.3. 132 Während Vorschläge der Pharmazeutischen Industrie nur eine Reglementierung von Herstellung und Registrierung beinhalteten, ohne die Zusammensetzung eines Stoffes deklarieren zu müssen, sah ein Entwurf der Bundesregierung auch eine Kontrolle von Abgabe und Werbung von Arzneimitteln vor (vgl. Murswieck 1983, S. 280ff.). 133 Sie sollten vor allem nach dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis geprüft werden (vgl. Blasius/Müller-Römer/Fischer 1998, S. 23). 134 Murswieck 1983, S. 284ff. Zumindest vor der Zulassung konnten auftretende Schäden nicht kontrolliert werden. Auch nach der Einführung eines neuen Arzneimittels war die systematische Beobachtung von unerwünschten Wirkungen erschwert, da viele neue Medikamente frei verkäuflich waren. Dadurch waren Arzneimittelkatastrophen wie der Conterganskandal in der Bundesrepublik auch wesentlich leichter möglich als in anderen Ländern, deren Gesetzgebung präventive Gefahrenabwehr und eine
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Substanzen aber auch, wenn sie unwirksam oder bedenklich waren. Nur schädliche Arzneimittel durften von den Behörden aus dem Verkehr gezogen werden.135 Im Gegensatz zur Stopverordnung verzichtete darüber hinaus auch der Arzneimittelbegriff des neuen Gesetzes auf die Definition eines Begriffs von Krankheit, denn es gab immer mehr Arzneimittel, die zur Vorbeugung, Leistungssteigerung oder Verhütung eingesetzt wurden.136 Ausgewichen werden sollte damit aber auch weiterhin dem Problem einer tatsächlichen arzneilichen Wirkung.137
Die Einführung der Rezeptpflicht für neue Arzneimittel Bis Mitte der 1960er Jahre blieb zudem die Verschreibungspflicht neuer Medikamente ungeregelt. Mit dem Betäubungsmittelgesetz waren Ende der 1920er Jahre bereits Arzneimittel, die als Drogen klassifiziert wurden, stark reglementiert worden. Durch eine Verordnung über den »Verkehr mit Arzneimitteln, die der ärztlichen Verschreibungspflicht unterliegen« vom 03.03.1941 konnten darüber hinaus durch Landesverordnungen Arzneistoffe verschreibungspflichtig werden.138 Auch diese Regelung war keine präventive Verfügung, sondern schränkte vor allem den Gebrauch von Medikamenten ein, die sich schon länger auf dem Markt befanden. Rudolf Degkwitz hat herausgearbeitet, dass die meisten Psychopharmaka vom Beginn der Ära der neuen Psychopharmaka in den 1950er Jahren an bis Mitte der 1960er Jahre nur apothekenpflichtig waren. Erst auf Anraten des Bundesgesundheitsamtes, ausgelöst durch einen von ÄrztInnen gemeldeten hohen Konsum und einen »gewohnheitsmäßigen Missbrauch«, hätten die Länder im Laufe der frühen 1960er Jahre fast alle Psychopharmaka unter eine Rezeptpflicht gestellt.139 Das berühmteste rezeptfreie Psycho-
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engere Kontrolle der Medikamente nach einer Zulassung ermöglichten (vgl. Kirk 1999). Stapel 1988, S. 241. So fasst der § 1 (Begriffsbestimmung) des Arzneimittelgesetzes aus dem Jahr 1961 Arzneimittel lediglich als Stoffe, welche die Beschaffenheit, den Zustand, die Funktion des Körpers oder seelische Zustände beeinflussen sollen (vgl. Kloesel 1973, Blatt 2). Stapel 1988, S. 116. Eine genauere Definition hätte auch einen Begriff von Krankheit vorausgesetzt. Dieser erschien jedoch naturwissenschaftlich nicht exakt definierbar, da Kranksein und Krankheitsgefühl individuell variierten (Stapel 1988, S. 106). Kirk 1999, S. 33. Degkwitz 1967, S. 4. Der Autor betont, dass in der Regel die NutzerInnen auf die Frage nach dem Konsum von Arzneimitteln rezeptfreie Pharmaka nicht angäben, weil sie nicht glaubten, dass es sich hierbei um Medikamente handle. Zum gewohnheitsmäßigen Missbrauch vgl. Kranz 1965.
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pharmakon dieser Zeit – ein Schlafmittel – war sicherlich Contergan.140 Einzelne, als stark wirksam geltendende Psychopharmaka, waren aber schon Mitte der 1950er Jahre rezeptpflichtig.141 Unter diese Rezeptpflicht fielen auch die ersten gebräuchlichen Neuroleptika Megaphen und Atosil.142 Brompräparate blieben aber beispielsweise verschreibungsfrei. Nimmt man die schon zu dieser Zeit verschreibungspflichtigen Psychopharmaka aus, ist davon auszugehen, dass sich Degkwitz’ Ausführungen vor allem auf die neu eingeführten Antidepressiva und Tranquilizer bezogen, die zunächst nicht ärztlich verordnet werden mussten. Im Jahr 1961 wurde die Forderung erhoben, dass neue Arzneistoffe grundsätzlich rezeptpflichtig sein sollten.143 Auch Forderungen nach einer umfassenden pharmakologischen und klinischen Prüfung von Arzneimitteln wurden infolge der Contergankatastrophe laut. Schließlich wurde im Jahr 1964 eine Arzneimittelgesetzesnovelle verabschiedet, die eine Rezeptpflicht neu eingeführter Stoffe für die ersten drei Jahre vorsah. Auch die klinische Prüfung wurde nun erstmals weiteren staatlichen Kontrollen unterzogen. Der Hersteller musste vor der Registrierung eines Medikaments versichern, dass es dem Stand der Wissenschaft entsprechend geprüft worden war sowie alle Prüfungsunterlagen vorlegen.144 In dieser Erweiterung des Arzneimittelgesetzes sehen einige Autoren eine erste Verankerung der vorklinischen und klinischen Prüfung im deutschen Arzneimittelrecht.145 Dennoch gab es immer noch keine Richtlinien darüber, was dem »Stand der Wissenschaften« entsprach. Die Kriterien für die Prüfung wurden meist durch entsprechende Fachorganisationen bestimmt.146
Netzwerke der Arzneimittelregulation Insgesamt weist die Arzneimittelregulation in Deutschland gerade im Vergleich mit den USA einige Besonderheiten auf. In Deutschland waren im Zuge der Gesetzgebung vor allem institutionelle Akteure an der Aushandlung beteiligt, PatientInnenvertreter und Medien spielten hierbei kaum eine 140 Kirk 1999, S. 110. Die »Contergankatastrophe« war vermutlich auch ein Anlass für die Einführung der Rezeptpflicht von Psychopharmaka in den 1960er Jahren. 141 Arzneimittelkommission deutscher Ärzteschaft 1956, S. 17. Unter die Definition der stark wirksamen Arzneimittel fielen alle Phenothiazinderivate und Barbiturate. 142 Arzneimittelkommission deutscher Ärzteschaft 1956, S. 46. In den USA war hingegen die Rezeptpflicht eines neuen Arzneimittels schon mit dem »Humphrey – Durham amendments« von 1951 eingeführt worden. 143 Kirk 1999, S. 173. 144 Stapel 1988, S. 279. 145 Murswieck 1983, S. 286. 146 Kirk 1999, S. 181.
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Rolle.147 Anders als zum Beispiel in den USA wurde eine zentralstaatliche Kompetenz erst sehr spät erreicht.148 In der BRD wurde ein Gesetzgebungsmandat erst dann erteilt, als zwischen den beteiligten MedizinerInnen, dem Staat und der Pharmazeutischen Industrie eine weitgehende interessenpolitische Konformität bestand.149 Die mangelnden staatlichen Vorgaben sorgten zum einen für einen großen Einfluss professionspolitischer Interessen. Zum anderen blieben aber einige Aspekte wie zum Beispiel die Verschreibungspflicht der Medikamente nur wenig reglementiert, sodass die Verordnungsfreiheit in der frühen BRD Spielräume für eine Selbstmedikation offen ließ. Dies war insbesondere für die Psychopharmaka von nicht unerheblicher Bedeutung, weil durch das Betäubungsmittelgesetz eine Beeinflussung psychischer Beschwerden mittels Drogen zunehmend erschwert worden war. Die freie Verfügbarkeit industriell hergestellter Psychopharmaka in den 1950er Jahren eröffnete also neue Möglichkeiten einer selbstbestimmten Nutzung psychotroper Stoffe durch KonsumentInnen. Der Psychiatriehistoriker David Healy untersucht für die USA eine – mit dem deutschen Betäubungsmittelgesetz vergleichbare – Beschränkung von Drogen durch den »Harrison Narcotic Act« von 1914. Mit der Einführung der Verschreibungspflicht Anfang der 1950er Jahre sei in den Vereinigten Staaten auch die Einnahme nun neu hergestellter Psychopharmaka an den Arzt gebunden worden. Healy betrachtet die Einführung der modernen Psychopharmaka deshalb als Medizinalisierung der Drogennutzung, welche die Möglichkeiten des selbstbestimmten Gebrauchs psychotroper Stoffe durch die Bevölkerung ablöste.150 Dieser Einschätzung ist entgegenzuhalten, dass die Genese der modernen Psychopharmaka in der frühen BRD eine weitgehend unreglementierte Nutzung erst ermöglichte, da zwar die Drogennutzung verboten war, gleichzeitig aber viele neue Psychopharmaka frei verkäuflich waren. Gerade in der frühen BRD ließen darüber hinaus die ungeregelten Bestimmungen zur Einführung neuer Arzneimittel die Grenzziehungen zwischen Zulassung und Anwendung zunehmend verschwimmen: »A flexible boundary between testing and market was predicated on informal trial protocols, a structured system for collecting reports of adverse reactions and 147 Daemmrich 2004, S. 11. 148 Murswieck 1983, S. 291. Der Autor sieht in den Arzneimittelgesetzen des frühen 20. Jahrhunderts vor allem eine Abbildung berufsständischer und industrieller Interessen. Davon unabhängige Gesetze seien in den USA erst 1938 (»Food and Drug Act«) und in Deutschland erst 1964 mit der Arzneimittelnovelle erreicht worden. 149 Murswieck 1983, S. 291 meint, diese Form der Regulation auch bei der Aushandlung des Arzneimittelgesetzes von 1976 beobachten zu können. 150 Healy 2002, S. 34.
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compromises among organized interests and government officials. Because the medical profession successfully maintained and even expanded its authority to speak for the patient in the post-World War II era, few activist groups or other disease-based organizations mobilized to change the regulatory system.«151
Es waren, wie im Zitat deutlich wird, in der frühen Bundesrepublik weniger gesetzliche Standards als Selbstvertretungsorgane der Mediziner, die mit einer Kontrolle über Methoden des klinischen Versuchs den therapeutischen Wert einer Substanz bestimmten.
Zwischen staatlicher Regulation und ärztlicher Kontrolle: der klinische Versuch Die immer wichtiger werdende Frage nach der Wirksamkeit eines Arzneimittels verlieh dem klinischen Versuch im Laufe des 20. Jahrhunderts eine neue Bedeutung, da ein exakter Wirksamkeitsnachweis nur am Menschen erbracht werden kann.152 Die zunehmenden Erprobungen neuer Chemotherapeutika in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die teilweise gefährliche Folgeerscheinungen nach sich zogen, machten schon bald Regulationen des klinischen Versuchs notwendig. Bereits 1931 erließ das Reichsministerium des Inneren eine Richtlinie über die Zulässigkeit wissenschaftlicher Versuche am Menschen. In dem Text wurde darauf hingewiesen, dass die Versuche beim Vorliegen von Abhängigkeit oder bei Notsituationen der Versuchspersonen nicht zulässig seien. Die Richtlinie verlangte neben vorgeschalteten Experimenten am Tier nun auch eine unbedingte und informierte Einwilligung der Versuchsperson und eine unterschriftliche Verpflichtung des experimentierenden Arztes.153 Vorausgegangen war dem Erlass ein Arzneimittelskandal in einem Lübecker Krankenhaus. Bei einem Impfstoffversuch, einer Schutzimpfung von 250 Kindern, waren über 70 Kinder ums Leben gekommen.154 Die erlassene Richtlinie hatte allerdings lediglich einen Empfehlungscharakter. Den ersten Erlass mit Rechtsgeltung stellte der Nürnberger Kodex von 1949 dar, der im Rahmen der Nürnberger Ärzteprozesse von den Alliierten verabschiedet wurde. Hier stand die freie und verantwortliche Zustimmung der Versuchsperson im Vordergrund.155 1956 urteilte der Bundesgerichtshof schließlich, dass es eine Unterscheidung zwischen Heil- und Forschungsversuch geben müsse. Letzterer bedürfe besonderer Formen der
151 152 153 154 155
Daemmrich 2004, S. 20. Kienle 1974, S. 28. Reichsministerium des Inneren 1931/1979. Eckart 2001, S. 250. Fischer 1979, S. 2 und 110ff.
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Einwilligung.156 Es ist anzunehmen, dass für die Praxis des Arzneimittelversuchs diese Unterscheidung jedoch kaum von besonderer Bedeutung gewesen ist. Wenngleich zumindest zu Beginn einer Erprobung noch offen war, ob die zu erprobende Substanz wirklich »heilende« Effekte hervorbringen würde oder ob nicht lediglich eine erfolglose Suche nach solchen Effekten stattfand, galt der Arzneimittelversuch in der Konsequenz grundsätzlich als Heilversuch. Weitere Forderungen zur Einwilligung des Patienten, der Vorschaltung von Tierversuchen und der Definition des therapeutischen Versuchs formulierten die Deklaration von Helsinki im Jahr 1964 und ihre revidierte Form, die Deklaration von Tokio 1975.157 Einige AutorInnen sehen gerade in den zuletzt genannten Erklärungen nur Minimalforderungen und kritisieren, dass diese hinter die Richtlinie von 1931 zurückgefallen sind.158 In den ersten Richtlinien zur Zulässigkeit des klinischen Versuchs waren zwar Rahmen und Grenzen für die Erprobung am Menschen artikuliert worden, aber weder der »Stand der Wissenschaft« noch die Nachweismethoden des therapeutischen Wertes eines Arzneimittels waren auf diese Weise klar definiert. Debatten über die Wirksamkeit eines Medikaments und über die Legitimität eines Versuchs waren meist eng an die Testmethoden gebunden.159 Gerade für die Entwicklung der Methodik des klinischen Versuchs waren nach dem Zweiten Weltkrieg in der BRD vor allem die ÄrztInnen zuständig, und es gab verschiedene methodische Ansätze.160 Der wohl zeitgenössisch bekannteste deutsche Theoretiker des therapeutisch-klinischen Versuchs war der Mediziner Paul Martini, dessen mehrfach aufgelegte Monographie zur »Methodenlehre der therapeutischklinischen Forschung« ein Standardwerk bildete, an dem sich viele ÄrztInnen orientierten.161 Da es gerade in den 1950er und frühen 1960er Jahren nur lückenhafte staatliche Regulationen des Arzneimittelmarktes gab und die Übergänge der klinischen Testung vor und nach der Zulassung eines Medikaments fließend waren, kam in dieser Zeit insbesondere Fachorganisationen von ÄrztInnen eine besondere Rolle bei der Definition eines Wirksamkeitsnachweises und der Methodenentwicklung des klinischen Versuchs zu. Für die Psychopharmakologie war dies beispielsweise die 156 157 158 159 160
Fischer 1979, S. 2. Weltärztebund 1964/1979 und 1975/1979. Fischer 1979, S. 3 und Eckart 2001, S. 260ff. Daemmrich 2004, S. 12. Im Vergleich dazu war der klinische Versuch in den USA vor allem von StatistikerInnen dominiert und stark an quantifizierbaren Tests orientiert (vgl. Daemmrich 2004, S. 52). 161 Martini 1953. Eine weitere, stark veränderte Auflage des Werkes erschien im Jahr 1968 unter dem Titel »Methodenlehre der therapeutisch-klinischen Forschung« (Martini/Oberhoffer/Welte 1968). Zum Einfluss Paul Martinis auf den klinischen Versuch in der BRD vgl. Teil II, 2.2.
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Arbeitsgemeinschaft für Neuropsychopharmakologie (AGNP).162 In der Bundesrepublik Deutschland wurde diese Funktion nach dem Zweiten Weltkrieg unter anderem von einer fächerübergreifenden Ärzteorganisation, der Arzneimittelkommission deutscher Ärzteschaft, übernommen.163 Die Arzneimittelkommission vertrat den Anspruch, die Interessen »aller deutscher Ärzte« in Arzneimittelfragen zu vertreten.164 Ihre Hauptaufgabe sah das Organ in der Herausgabe eines Buches über derzeit gebräuchliche und nützliche Pharmaka, der »Arzneiverordnungen«, der Information von ÄrztInnen in der Standespresse, der Mitarbeit an einem neuen Arzneimittelgesetz, der Prüfung von Arzneimittelwerbung und der Beurteilung des therapeutischen Wertes von Arzneimitteln. Insbesondere zu Letzterem erhielt die Kommission nach eigenen Angaben zahlreiche Anträge von ÄrztInnen. Auch die pharmazeutische Industrie versuchte darauf einzuwirken, über eine positive Stellungnahme der Arzneimittelkommission zu einer Kassenzulassung neuer Medikamente zu gelangen, denn für eine kassenärztliche Erstattungsfähigkeit musste der Hersteller nachweisen, dass der therapeutische Wert und die Unschädlichkeit des Präparats hinreichend gesichert waren.165 Ein von ÄrztInnen ermittelter Effektivitätsnachweis war also für die pharmazeutische Industrie von großem Wert, da erst die kassenärztliche Verordnung eines Medikaments einen großen Markt versprach. Insbesondere die Stellungnahmen der Arzneimittelkommission deutscher Ärzteschaft zur Verordnung von Arzneimitteln, zu ihren Nutzen und Gefahren nahmen seit der zweiten Hälfte der 1950er Jahre mit der immer größer werdenden Zahl verordneter Medikamente zu. Zwar sollten ab Ende der 1950er Jahre der Arzneimittelkommission auch unerwünschte Wirkungen gemeldet werden, das Hauptaugenmerk lag jedoch noch Anfang der 1960er Jahre auf einer Bestimmung des therapeutischen Wertes einer Substanz, der durch ausreichende wissenschaftliche Untersuchungen gewährleistet werden sollte.166 Obwohl es im Bereich der Psychiatrie auch im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert schon einzelne Arzneimittelstudien gab, die sich um eine statistische Form des Wirksamkeitsnachweises bemühten, wurden in den 1950er Jahren Entscheidungen
162 Zum Einfluss der Arbeitsgemeinschaft für Neuro-Psychopharmakologie (AGNP) auf einen Wirksamkeitsnachweis in der Psychopharmakaforschung vgl. Teil II, 5. 163 Daemmrich 2004, S. 118. 164 Schröder 2003, S. 40. Die Kommission gründete sich 1950 wieder neu, nachdem sie schon im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts bestanden hatte. Seit dem Jahr 1955 war sie ein wissenschaftlich selbstständiger Fachausschuss der Bundesärztekammer für Arzneimittelfragen. 165 Schröder 2003, S. 52. Die Kommission war für die Zulassung eines Präparats zur kassenärztlichen Verordnung jedoch nicht zuständig. 166 Schröder 2003, S. 69.
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meist noch aufgrund kasuistischer Beschreibungen und sehr kleiner Versuchsgruppen getroffen. Der Arzt konnte dabei Informationen sehr stark filtern, bevor sie zu Fallgeschichten wurden.167 In den von der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin herausgegebenen »Richtlinien für die klinische Prüfung von Arzneimitteln« wurden erstmals Mitte der 1960er Jahre verbindlichere Standards für die Wirksamkeitsbeurteilung eines Medikaments definiert.168 Zum einen wurde hier auf eine enge Zusammenarbeit des klinischen Prüfers mit einem Arzt der Herstellerfirma gedrängt, mit dem insbesondere das Problem der Nebenwirkungen besprochen werden sollte.169 Zum anderen wurde auf die Protokollpflicht verwiesen, die alle geprüften Unterlagen betraf.170 Erstmals wurden genaue Angaben zu Prüfplan und Methodik der Testung verlangt, und es wurde festgelegt, dass die klinische Prüfung nach dem »Stand der Wissenschaft« erfolgen müsse.171 Auch eine wenig später erscheinende Erklärung der Arzneimittelkommission deutscher Ärzteschaft zur Bewertung des therapeutischen Wertes von Arzneimitteln forderte nun vor allem statistische Auswertungen der erhobenen Ergebnisse ein.172 Diese Selbstverpflichtungen der Ärzteschaft können als erste Schritte einer Regulation betrachtet werden, die schließlich auch eine staatliche Kontrolle des Wirksamkeitsnachweises nach sich zog. Offiziell wurde ein Wirksamkeitsnachweis von Arzneimitteln erst in einer Richtlinie des Bundesgesundheitsministeriums von 1971 gefordert, die als Dienstanweisung an das Bundesgesundheitsamt ging.173
167 Daemmrich 2004, S. 130ff. In dieser Zeit gab es in den USA hingegen schon eine Bewegung hin zu Gruppen- und Populationsstudien. 168 Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin 1965/1970. 169 Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin 1965/1970, S. 54. 170 »Die Dauer der Wirksamkeitsprüfung gestaltet sich naturgemäß insofern unterschiedlich, als Substanzen mit objektivierbarem Heileffekt einer geringeren Fallzahl bedürfen als Stoffe, deren Effekte mit naturwissenschaftlicher Methodik kaum oder gar nicht zu testen sind, so daß mehr oder weniger ausschließlich nur die Angaben des Kranken über eine Linderung von Symptomen herangezogen werden können« (Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin 1965/1970, S. 56). 171 Eingehender zu den geforderten Methoden wie der Gruppenbildung, Einführung von Kontrollgruppen und der unwissentlichen Versuchsanordnung vgl. Teil II, 5. 172 Arzneimittelkommission 1968/1970. Minimal wurde gefordert, dass klinische Veröffentlichungen Angaben über den Wirkungscharakter, die Wirkungsstärke und Dauer, das Wirkungsspektrum einschließlich unerwünschter Wirkungen, die Häufigkeit beobachteter Komplikationen, den beobachteten Missbrauch und die therapeutische Breite des behandelten Arzneistoffs enthalten müssten (vgl. Arzneimittelkommission 1968/1970, S. 63). 173 Murswieck 1983, S. 287.
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Neue Wege zur Wirksamkeit: das Arzneimittelgesetz von 1976 – ein Ausblick Erst mit der Verabschiedung des Arzneimittelgesetzes von 1976 wurde Wirksamkeit schließlich zum Kernbegriff staatlicher Regulationsbemühungen. Wirksamkeit wurde nun als Eignung der Substanz für einen angegebenen Zweck definiert und damit notwendig an eine Indikation gebunden.174 Die MedizinerInnen hatten im Gesetzgebungsverfahren stets die Schwierigkeit einer Wirksamkeitsbeweisführung betont. Dabei hatten die KlinikerInnen neben pharmakologisch-toxikologischen Fragen vor allem die Felder der klinischen Prüfung, der Ermittlung und Beobachtung von Nebenwirkungen und der Verwendung in der therapeutischen Praxis kontrolliert.175 Problematisiert wurde im Gesetzgebungsverfahren, dass die Erprobung in Tierversuchen zwar die sicherste Methode sei, ihre Ergebnisse aber nicht unmittelbar auf den Menschen übertragen werden könnten. Die klinische Prüfung bringe hingegen keinen im strengeren Sinne naturwissenschaftlichen Nachweis, sondern lediglich eine methodisch begründete Wahrscheinlichkeitsaussage. Zudem seien ihre Ergebnisse sehr kontextabhängig. Das eigentliche Risiko liege zudem, wie konstatiert wurde, nicht in der Phase der klinischen Prüfung, sondern in der breiteren Anwendung. Denn erst an einer großen Zahl von PatientInnen könnten »Nebenwirkungen« sichtbar werden, die für die Beurteilung der »Wirksamkeit« eines Medikaments unabdingbar wären. Daher sei eine Nachbeobachtung der Arzneimittel unverzichtbar, für die insbesondere ÄrztInnen geschult werden müssten.176 Es wurde schließlich ein Arzneimittelgesetz verabschiedet, das verschiedene Phasen der klinischen Prüfung vorsah. Zunächst solle in einer Erstanwendung an gesunden ProbandInnen Pharmakodynamik und Verträglichkeit geprüft werden. In einer ersten klinisch-therapeutischen Anwendung gehe es dann um eine Prüfung von Wirksamkeit, Verträglichkeit und therapeutischer Dosierung. In einer dritten Phase der breiten klinischen Anwendung sollten dann vor allem die Wirksamkeit, die Unverträglichkeit, seltene unerwünschte Wirkungen und Kontraindikationen ermittelt werden. Während diese drei Phasen vor der Zulassung eines Medikaments zu absolvieren seien, widme sich eine weitere Phase der Beobachtung nach der Marktzulassung. Hier seien vor allem die Langzeitverträglichkeit und die Erweiterung von Anwendungsgebieten zu beobachten.177 174 175 176 177
Murswieck 1983, S. 294. Murswieck 1983, S. 295ff. Murswieck 1983, S. 298. Wagner 1991, S. 178. Man bezeichnet die verschiedenen Formen der Versuche am Menschen auch als Phase 1 bis 4.
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Einher mit der Bedeutung der klinischen Prüfung und des zu generierenden Wirksamkeitsnachweises ging jedoch auch eine Diskussion über die Methodik desselben. Folgende Fragen tauchten unter verschiedenen Gruppen von ÄrztInnen auf: Sollte die Methodik verbindlich vorgegeben werden? War es sinnvoll, dass alle die gleichen Methoden und die Orientierung an einem quantifizierbaren Wirksamkeitsnachweis benutzen? Insbesondere die HomöopathInnen hatten im Rahmen der Regulationsbemühungen immer wieder auf einem Sonderweg beharrt, um die Effektivität ihrer Stoffe nachzuweisen.178 Im Laufe der 1960er Jahre sollten sich jedoch auch erste klinische Richtlinien entwickeln. Ich werde zu einem späteren Zeitpunkt analysieren, welche Bedeutung diese Leitfäden und das Arzneimittelgesetz von 1976 für einen Wirksamkeitsbegriff der Neuroleptika hatten.179 Vorerst möchte ich jedoch dem Beginn der Erprobung des ersten Neuroleptikums Chlorpromazin nachgehen, das seine Effektivität noch jenseits dieser quantifizierenden Methoden beweisen musste. Im strengen Sinne musste Megaphen während seiner gesamten »Lebensspanne« in der BRD keinen staatlich regulierten Wirksamkeitsnachweis durchlaufen. Zur Zeit der Einführung des ersten Neuroleptikums waren die Bestimmungen zur Beurteilung der Wirksamkeit eines Arzneimittels nicht staatlich geregelt. Erst mit dem Arzneimittelgesetz von 1976 wurde für alle Arzneimittel ein Wirksamkeitsnachweis gefordert. Bereits im Handel befindlichen Arzneimitteln wurde eine Übergangsfrist von zwölf Jahren gewährt, um ihre Wirksamkeit unter Beweis zu stellen.180 Megaphen wurde jedoch in dieser Zeit vom Markt genommen. Wie und in welcher Form sollte das erste Neuroleptikum Chlorpromazin seinen besonderen Wert als psychiatrisches Medikament beweisen? Welche Phasen musste es durchlaufen, bis es zu seinem psychiatrischen Einsatz gelangte? Und wie sollten erste Spuren seiner Effektivität aufgezeigt werden? Zur Beantwortung dieser Fragen möchte ich zunächst einen Blick auf die Geschichte des Stoffes werfen. Dabei wird die Bedeutung des klinischen Versuchs für den Nachweis einer Effektivität der Psychopharmaka hervortreten.
178 Kienle 1974. 179 Zum Arzneimittelgesetz von 1976 und seiner Bedeutung für die Erprobung der Neuroleptika vgl. Teil II, 5. 180 Murswieck 1983, S. 439.
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2.5 Eine pharmakologische Wende i n d e r P s yc h i a t r i e : d i e E i n f ü h r u n g d e r m o d e r n e n P s yc h o p h a r m a k a u n d die Bedeutung des klinischen Versuchs Die Entwicklung moderner Psychopharmaka: eine kurze Geschichte des Chlorpromazins Die Geschichte des Stoffes Chlorpromazin, eines Phenothiazinderivats, reicht bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurück. Wie Séverine MassatBourrat betont hat, ist die Entwicklung und Etablierung der Substanz nicht nur als besondere Form der deutsch-französischen Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und pharmazeutischer Industrie zu verstehen.181 Die Wirkstoffgeschichte zeigt auch in besonderer Weise die Verbindung der Produktion von Farbstoffen und der Genese neuer Medikamente im 19. Jahrhundert auf.182
Die Geburt der Phenothiazine aus der Farbstoffindustrie Die Geschichte der Farbstoffindustrie und ihrer Erfolge ist als eine Geschichte der deutschen chemischen Industrie zu lesen. Insbesondere bei den Firmen BASF und HOECHST war seit Mitte des 19. Jahrhunderts verstärkt die Entwicklung synthetischer Farbstoffe erforscht worden.183 Zeitgleich etablierten sich viele Beziehungen zwischen der synthetischen Farbstoffindustrie und der Basisforschung in der Organischen Chemie. Die Farbstoffindustrie benötigte in dieser Zeit auch immer mehr ChemikerInnen, die Struktur und Reaktionsweisen neuer chemischer Komponenten erfassen sollten. Es gab um 1850 in der Organischen Chemie zahlreiche Versuche, um herauszufinden, wie für die Farbstoffgewinnung interessante Substanzen mit anderen reagieren. Dies führte zu ersten Erfolgen in der Farbstoffsynthese.184 Im Jahre 1876 gelang Heinrich Caro (1834–1910) schließlich die Synthese eines neuen Farbstoffs, des Methylenblaus, das unter anderem von Paul Ehrlich zur Färbung verschiedener Nervenzellen, vor allem aber als Mittel gegen Malaria benutzt wurde.185 Eines der Abkömmlinge des Methylenblaus, das Phenothiazin, wurde 1883 von dem Heidelberger Chemiker August Heinrich Bernthsen (1855–1931) in seiner Wirkungs181 182 183 184
Massat-Bourrat 2004, S. 11. Massat-Bourrat 2004, S. 17. Reinhardt 1997. Swazey 1974, S. 26. Ausführlicher zur Geschichte der Farbstoffindustrie vgl. Reinhardt 1997. 185 Issekutz 1971, S. 142.
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weise dargestellt.186 Obwohl das Mittel zunächst zur Schädlingsbekämpfung eingesetzt wurde und vor allem in der Veterinärmedizin große Erfolge zeigte, berichtete der italienische Arzt Pietro Bodoni 1899 auch erstmalig von einer Verwendung in der Psychiatrie. Der Mediziner hatte vierzehn seiner »psychotischen« PatientInnen ein Phenothiazin verabreicht und einen Artikel über beobachtete Erfolge veröffentlicht. Seine Ausführungen blieben in der Fachwelt jedoch ohne Resonanz.187
Erste sedierende Antihistaminika Im Folgenden sollten die Phenothiazine jedoch vor allem für eine sich etablierende Histaminforschung nutzbar gemacht werden. Die Grundlage dieser Forschungen legten die Arbeiten des englischen Physiologen Henry Hallet Dale (1875–1968). Dieser hatte Anfang des 20. Jahrhunderts bei seinen Experimenten mit Mutterkornextrakten spezifische Effekte beobachten können, die er einem noch unbekannten Amin zuschrieb. Einige Jahre später, im Jahr 1910, identifizierte er diesen Stoff als Histamin. Bei weiteren Untersuchungen bemerkte Dale jedoch die Ähnlichkeiten der Histaminwirkung mit den Symptomen des anaphylaktischen Schocks, der um die Jahrhundertwende erstmals beschrieben wurde.188 In den 1930er Jahren gab es schließlich experimentelle Hinweise, dass bei anaphylaktischen und allergischen Reaktionen eine zellgebundene Antigen-Antikörper-Reaktion stattfindet, die zur Histaminfreisetzung führt. Diese Erkenntnisse waren für die Phenothiazinforschung von Bedeutung, weil sich herausstellte, dass Phenothiazine die Wirkung von Aminen beeinflussen konnten. Mit diesem Wissen suchte eine ForscherInnengruppe um Daniel Bovet (1907–1992) am Pariser Institut Pasteur seit Mitte der 1930er Jahre nach Stoffen, welche die »natürlichen Amine« beeinflussen sollten.189 Insbesondere die Entwicklung von Antihistaminen war dabei von besonderem Interesse. 1937 konnten Bovet und eine Mitarbeiterin
186 Issekutz 1971, S. 142; Swazey 1974, S. 31. Bernthsen hatte bei dem Versuch, die chemische Struktur des Methylenblaus herauszuarbeiten, dessen Basiskern entdeckt, der durch Erhitzung die Grundstruktur der Phenothiazine bildete. 187 Weber 1999, S. 136. Der Autor führt dies auf zwei Faktoren zurück. Zum einen handelte es sich bei Bodoni um einen unbekannten Arzt, der nicht aus einem renommierten Institut kam und dessen Ergebnisse auch nicht in relevanten Fachjournalen bestätigt wurden. Zum anderen wurde eine psychotrope Wirksamkeit einer Teerfarbe kaum vermutet, da die gebräuchlichen hypnotischen Sedativa einem anderen Wirkmechanismus folgten. 188 Weber 1999, S. 137. Zur Geschichte der Phenothiazine in der Histaminforschung auch Massat-Bourrat 2004, S. 67ff. 189 Zu den drei natürlichen Aminen zählen neben den Histaminen auch Adrenalin und Acetylcholin.
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schließlich die antihistaminen Effekte eines Ätheramines (929F) im Labor darstellen. Diese Arbeit sollte in den nächsten 30 Jahren wegweisend für die Synthese weiterer Antihistamine sein.190 Das wissenschaftliche Institut baute zu dieser Zeit auch die Kontakte zur chemisch-pharmazeutischen Industrie aus. Zum einen wurden die Beziehungen zur Firma SPECIA intensiviert, zum anderen war das Institut Pasteur durch Forschungen auf einem weiteren Gebiet der Farbstoffforschung, der Sulfonamide, schon in den 1930er Jahren mit Heinrich Hörlein (1882–1954), dem Direktor der IG FARBEN, in regem Austausch.191 Zunächst veranlassten jedoch erste Erfolge die pharmazeutisch-chemische Firma SPECIA, ihre Unterabteilung RHÔNE-POULENC damit zu beauftragen, die kommerziell erfolgversprechende klinische Anwendung der Antihistamine weiter zu erforschen.192 Ein bei RHÔNE-POULENC beschäftigter Chemiker synthetisierte in der Folgezeit das Phenothiazinderivat Phenbenzamin, das von RHÔNE-POULENC im Jahr 1942 unter dem Namen Antergan als erstes vollsynthetisiertes Antihistaminikum auf den Markt gebracht wurde. Die berichteten Erfolge des Wirkstoffes, insbesondere bei Allergien, sorgten dafür, dass einige europäische und amerikanische Firmen sich um Nachahmerpräparate bemühten.193 Obwohl zahlreiche tierexperimentelle Studien durchgeführt worden waren, zeigte sich ein unerwarteter psychotroper Effekt der Antihistaminika jedoch erst in einer breiteren Anwendung am Menschen. Anne Caldwell stellt heraus, dass die sedierenden Effekte der Phenothiazine eigentlich von einem Patienten entdeckt wurden. Erste Spuren in diese Richtung zeigte ein an Heuschnupfen leidender Lastwagenfahrer auf, der gegen seine Beschwerden ein Antihistaminikum eingenommen hatte. Während einer seiner beruflichen Fahrten ignorierte er einfach eine rote Ampel. Zwar habe er nach eigenen Berichten das Licht gesehen und sich nicht in einem schläfrigen Zustand befunden, dennoch sei ihm das Zeichen einfach egal gewesen, und es habe ihn nicht genug gekümmert, um den Wagen zu stoppen. Sein behandelnder Arzt, der das Mittel auch im Selbstversuch getestet hatte, stellte schließlich fest, dass die beobachtete Indifferenz typischerweise durch das Mittel erzeugt wurde, und deutete diese Zeichen als unerwünschten beruhigenden Effekt.194 Alsbald wurden die psychotropen Effekte der Antihistamine von der Pharmazeutischen Industrie beklagt, denn die unerwünschten Effekte der Substanz empfanden 190 Swazey 1974, S. 31ff. 191 Massat-Bourrat 2004, 82ff. Die IG FARBEN stellte den Vorläufer der Firma BAYER dar, die später Chlorpromazin in Deutschland vertrieb. 192 Zur Geschichte der Antihistamine am Institut Pasteur und der Verbindung des Instituts zur Firma RHÔNE-POULENC vgl. Massat-Bourrat, S. 75ff. Zur Geschichte der synthetischen Antihistamine vgl. Meyer 2002. 193 Weber 1999, S. 38. 194 Caldwell 1970, S. 27.
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viele PatientInnen schlimmer als die Krankheit selbst; das erhöhte ihre Einnahmewilligkeit nicht. Vermutlich waren es aber diese Beobachtungen, die einen französischen Psychiater 1943 veranlassten, Antergan auch bei »schizophrenen« und »manisch-depressiven« Patienten anzuwenden. Der Behandlungserfolg blieb jedoch fragwürdig.195 Diese ersten Antihistaminversuche zeigen die Bedeutung des klinischen Versuchs und die Notwendigkeit einer breiteren Anwendung am Menschen für erste Beobachtungen psychotroper Effekte. Mit der weiteren Erprobung von Phenothiazinen sollte sich auch das Interesse am klinischen Versuch, der zur Sichtbarmachung der Effekte benötigt wurde, ausdehnen.
Tierversuche und Menschenversuche: vom Labor in die Klinik Die Geschichte der Phenothiazine war gleichwohl keine lineare Geschichte eines rein wissenschaftlichen Fortschritts. Denn zeitgleich mit dem Aufkommen und der Ausdehnung der Antihistaminforschung nach dem Zweiten Weltkrieg war wissenschaftliche Arzneimittelforschung immer mehr zur Industrieforschung geworden.196 Auch die Geschichte der Phenothiazine wurde zunehmend vom Markt bestimmt.197 Die sich etablierende Antihistaminforschung der Firma RHÔNE-POULENC benötigte inzwischen eine immer größere Zahl marktfähiger Substanzen, und die Phenothiazinversuche nahmen nach 1945 stark zu. Beispielhaft seien hier nur die Forschungen zu den Phenothiazinaminen genannt, aus denen u.a. Promethazin synthetisiert worden war. Der Stoff zeigte in der klinischen Erprobung erste sedierende Effekte.198 In der Geschichte der Phenothiazinderivate gab es also zunehmend Spuren, die auf unbestimmte psychotrope Effekte der Stoffe hinwiesen. Sie schienen jedoch nur am Menschen beobachtbar zu sein. Bis Ende der 1940er Jahre gab es zudem keinerlei Tiermodell, das ein erstes Screening für die Beurteilung sedierender Effekte ermöglichte.199 Und dies obwohl im 20. Jahrhundert der Tierversuch eine immer größere Bedeutung für einen ersten Begriff der Effekte einer Substanz gewann. Erste Tiermodelle für die Testung psychoaktiver Eigenschaften neuer Medikamente entwickelte der Arzt, Pharmakologe und Experimentalbiologe David Macht (1882–1961).200 Bereits 1920 hatte Macht erste experi195 196 197 198
Weber 1999, S. 138. Quirke 2008. Massat-Bourrat 2004, S. 12. Swazey 1974, S. 49ff.; Weber 1999, S. 139. Zur Bedeutung weiterer Derivate Sigwald/Bovet/Dumont 1946. 199 Swazey 1974, S. 54. 200 Caldwell 1970, S. 139.
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mentelle Studien an Mäusen zur Wirkung von Opiumalkaloiden durchgeführt. Im Verlauf seiner weiteren Testung psychotroper Effekte konzipierte er einen Klettertest. Dieser sollte die Einflussnahme verschiedener Substanzen auf das motorische Verhalten von Mäusen messen, die vorher darauf konditioniert worden waren, an einem Seil auf eine Plattform zu klettern.201 Machts Studien wurden als erste Versuche einer Verbindung von experimenteller Psychologie und Psychopharmakologie gelesen und galten seitdem als Grundlagentests für Tierversuche in der Psychopharmakologie.202 Weitere, in Anlehnung an Machts Versuchsanordnung konzipierte Studien zeigten, dass mit Antihistaminen behandelte Tiere beim Klettern unkoordiniert und verwirrt wirkten.203 Die bloße Feststellung, dass die Antihistamine überhaupt einen Effekt auf das zentrale Nervensystem ausübten, ließ – vor dem Hintergrund des von Dale zuerst hergestellten Zusammenhangs zwischen dem Histamin und der Auslösung des anaphylaktischen Schocks – erste Versuche dieser Substanzen hinsichtlich des Schocks möglich erscheinen.204
Schock und Krieg: Henri Laborits erste klinische Phenothiazinexperimente Die Erforschung und Behandlung des Schocks war Ende der 1940er Jahre von zentraler Bedeutung. Zum einen war der Kreislaufschock in dieser Zeit eine ernst zu nehmende Komplikation, besonders während Operationen.205 Des Weiteren war der Schock aber vor allem ein zentrales Thema des Krieges, da er häufig als Folge von Verwundungen in kämpferischen Auseinandersetzungen auftrat.206 Es ist vor diesem Hintergrund nicht verwunderlich, dass es gerade ein französischer Kriegsmarinearzt in Algerien war, der den Einsatz neuer Phenothiazinderivate zur Behandlung von Schockzuständen im Kriegslazarett testete. Henri Laborit (1914–1995) wurde seither in der Stoffgeschichte der Phenothiazine als psychiatrische
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Macht 1943. Swazey 1974, S. 58. Swazey 1974, S. 59. Histamine können zwar schockähnliche Zustände produzieren, diese unterscheiden sich jedoch von den Zuständen des natürlichen Schocks (vgl. Swazey 1974, S. 64). 205 Durch den Zustand des Schocks wurde das Zirkulieren des Bluts durch ein Versagen des Herz-Kreislaufsystems so reduziert, dass der Körper nur ungenügend durchblutet wurde, was häufig zum Tod führte. Der Schock war auch ein Problem, das häufig nach Operationen auftrat, weshalb er auch als postoperative Krankheit betrachtet wurde (vgl. Swazey 1974, S. 68). 206 Weshalb sich ein Schock einstellte, war im und nach dem Krieg eine große Frage, da Schocks im Rahmen kriegerischer Auseinandersetzungen besonders häufig auftraten (vgl. Swazey 1974, S. 62).
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Medikamente stets eine besondere Rolle zugewiesen, wobei umstritten blieb, ob Laborit nicht sogar als Erster die Effektivität dieser Substanzen für die Psychiatrie propagierte.207 Seine Experimente sind vor dem Hintergrund der Kriegssituation zu betrachten, die eine breite und weitgehend unreglementierte Erprobung neuer Substanzen am Menschen in einer Zeit des Notstands möglich machte. Nicht nur die Kriegsumstände, sondern auch Laborits enge Verbindungen zur Firma RHÔNE-POULENC, für die er eine Reihe von Substanzen klinisch erprobte hatte, sind als wegweisend für seine Studien anzusehen.208 Bereits 1949 hatte Henri Laborit von Versuchen berichtet, synthetische Antihistaminika zu benutzen, um den Kreislaufschock während einer Operation zu verhindern.209 Seine Experimente konnten sich dabei auch auf frühere Versuche aus dem Jahr 1938 stützen, in denen bereits die Eigenschaft des Methylenblaus, Narkotika zu potenzieren, entdeckt worden war. Vor dem Hintergrund dieser Vorstudien und den Theorien Dales zur Rolle der Histamine für den Schock hielt es Laborit für nötig, seine Arzneimittelkombinationen um antihistamine Substanzen zu ergänzen. Im Jahr 1948 hatte Laborit deshalb klinische Versuche mit dem Phenothiazinderivat Phenergan unternommen, über die er der Firma RHÔNE-POULENC eingehend berichtete.210 Durch seine Studien war er zu dem Schluss gekommen, dass das Autonome Nervensystem eine Rolle in der Genese des Schocks spielte.211 Ein erster von Laborit zusammengestellter Medikamentencocktail sollte vor allem den Einfluss des Autonomen Nervensystems auf den Schock minimieren. Die Mischung, die er seinen PatientInnen verabreichte, enthielt auch Promethazin, dessen sedierende Effekte bereits beschrieben worden waren. Um 1950 bemerkte Laborit schließlich, dass Antihistaminika besonders für zwei Anwendungsfelder erfolgversprechend schienen: Ihre analgetischen und hypnotischen Wirkungen machten sie zu einem beliebten Medikament zur Minimierung von Unruhezuständen vor und nach Operationen. Weil die Phenothiazinderivate außerdem die Körpertemperatur senkten, empfahl Laborit ihren Einsatz auch in einem sogenannten »lytischen Cocktail«, denn die Senkung der Körpertemperatur war im Rahmen 207 Diese Theorie wurde zunächst von Anne Caldwell aufgestellt und vor allem von Judith Swazey propagiert (vgl. Caldwell 1970, Swazey 1974). Andere ForscherInnen bemerken aber, dass man sie entweder aufgrund von Studien der Zeit ohnehin bald beobachtet hätte (vgl. Weber 1999), oder betonen das komplexe Zusammenspiel von zeitgenössischen ForscherInnen, die erst als Kollektiv zu einer solchen Beobachtung fähig wären (vgl. Healy 2002, Massat-Bourrat 2004). 208 Massat-Bourrat 2004, S. 15. 209 Laborit 1949; Swazey 1974, S. 61. 210 Issekutz 1971, S. 142. 211 Swazey 1974, S. 71.
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von Operationen von zentraler Bedeutung.212 Darüber hinaus warf Laborit bei seinen klinischen Beobachtungen die Frage auf, ob man die Auswirkung der Stoffe auf das Zentrale Nervensystem nicht ausführlicher untersuchen solle. Angeregt unter anderem durch Laborits Äußerungen wandte sich auch die Forschungsabteilung von RHÔNE-POULENC verstärkt der Wirkung der Phenothiazine auf das Zentrale Nervensystem zu und entwickelte neue Derivate, die einschlägige Effekte auf das Zentrale Nervensystem zeigen sollten. Aus einem Screening der bereits vorhandenen Substanzen wurde ein besonders potent erscheinender Stoff ausgewählt und daraus ein neues Derivat synthetisiert, das man unter dem Namen Chlorpromazin und der Substanznummer 4560 RP zunächst einer weiteren tierexperimentellen Prüfung unterzog.213 Die Versuche an Tieren zeigten erste zentralnervöse Effekte auf, sodass man bei RHÔNE-POULENC seit dem Jahr 1951 eine breitere klinische Erprobung wagte.214 Neugierig geworden durch das Versprechen, dass es sich um eine Substanz mit großem Einfluss auf das zentrale Nervensystem handle, ließ sich auch der Militärarzt Henri Laborit Chlorpromazin von der Firma schicken. Um seinen »lytischen Cocktail« zu perfektionieren, benötigte er ein Antihistaminikum mit klaren Effekten auf das Zentrale Nervensystem. Diesen Stoff wollte er in Kombination mit anderen Mitteln zur Produktion eines »künstlichen Winterschlafs« in der Chirurgie einsetzen.215 Der Begriff des künstlichen Winterschlafs leitete sich aus den physiologischen Effekten des Wirkstoffs her. Die physiologischen Effekte der Substanz, so wurde beschrieben, bewirkten eine Schwächung der Abwehrreaktionen des Kreislaufs, eine Senkung des Sauerstoffverbrauchs und eine Verminderung der Körperwärme und des Blutdrucks. Dabei würde die Stoffwechseltätigkeit aller Organe heruntergefahren.216 Durch diese physiologischen Effekte verhielten sich die Patienten, so wurde gefolgert, ähnlich wie Tiere im Winterschlaf: schlafend, aber doch jederzeit erweckbar und dann vollständig ansprechbar.217 Die beschriebene Senkung der Körpertemperatur sollte dabei durch eine zusätzliche externe Kühlung des Patienten verstärkt werden. Das Kühlverfahren war für die Chirurgie ungemein wichtig, denn 212 Swazey 1974, S. 80. Zum lytischen Cocktail vgl. auch Caldwell 1970, S. 153. Üblicherweise enthielt ein lytischer Cocktail ein Analgetikum, ein Antihistaminikum und ein Neuroplegikum. 213 Swazey 1974, S. 90. 214 Swazey 1974, S. 96. Die Erprobungen wurden von April 1951 an innerhalb eines Jahres breit ausgedehnt. Im März besaßen bereits 118 KlinikerInnen die Substanz, um sie zu testen. 215 Swazey 1974, S. 101. Sein erster lytischer Cocktail mit der neuen Substanz enthielt Chlorpromazin, Procain, Curare, TEA, Atropin und Atosil. 216 Anonymos 1953; Weese 1954. 217 Meyer 1953a.
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eine dadurch erreichte niedrigere Körpertemperatur minimierte die Schleimsekretion des Körpers und verminderte die Gefahr des plötzlichen Blutdruckabsinkens, zwei Komponenten, die den Operationserfolg gefährdeten.218 Um sein Verfahren des »künstlichen Winterschlafs« und dessen Einsatz in der Operationstechnik zu verfeinern, variierte Laborit schließlich verschiedene Dosen des Medikaments. Dabei stellte er einerseits fest, dass die Substanz in Dosen von 50–100 mg keinen Verlust des Bewusstseins bewirkte, andererseits die Patienten sich aber desinteressiert an allem zeigten, was um sie herum vorging. Aus diesem Grund empfahl er, Chlorpromazin in der Psychiatrie zu erproben und es gegebenenfalls zusammen mit Barbituraten einzusetzen.219 Angeregt durch Laborits Veröffentlichungen begannen gleich mehrere französische Psychiater mit einer Erprobung der Substanz in der Psychiatrie. Zunächst unternahmen die militärärztlichen Kollegen Laborits um Joseph Hamon einen ersten Versuch an einem 24-jährigen, manisch-erregten Patienten, über dessen Behandlung sie bereits Ende Februar 1952 berichteten.220 Der Neurologe Sigwald hingegen hatte zusammen mit einem Kollegen bereits seit Dezember 1951 verschiedene psychiatrische PatientInnen mit Chlorpromazin behandelt. Er veröffentlichte seine Ergebnisse jedoch erst im Jahr 1953 und wurde deshalb weit weniger rezipiert.221 Den größten Einfluss auf die Etablierung von Chlorpromazin als »antipsychotischem Medikament« hatten aber die wesentlich bekannteren Psychiater Jean Delay (1907–1987) und Pierre Deniker (1917–1998).222 Letzterer war bereits im Jahr 1951 von seinem Schwager, einem Chirurgen, auf Chlorpromazin aufmerksam gemacht worden. Ab Februar 1952 hatten die beiden Psychiater es schließlich als einziges Medikament zur Behandlung von »Manien« in der Psychiatrie eingesetzt, da sie kein weiteres, effektives Mittel gegen diese Form des Wahnsinns kannten.223 218 219 220 221
»Das Pulver 4560« in: Der Spiegel vom 15.04.1953, S. 26. Laborit/Huguenard/Alluaume 1952; Swazey 1974, S. 106. Hamon/Paraire/Velluz 1952. Sigwald/Bouttier 1953. Vgl. zur mangelnden Rezeption auch Weber 1999, S. 143. 222 Delay/Deniker/Harl 1952a und Delay/Deniker/Harl 1952b. Jean Delay war zu dieser Zeit Chefarzt im größten Pariser psychiatrischen Krankenhaus St. Anne. Er hatte zunächst eine Ausbildung zum Neurologen an der Salpetière absolviert und auch einen psychologischen Abschluss gemacht. Delay war in den 1950er Jahren insbesondere an Medikamenten interessiert. Dabei waren für ihn sowohl ihr therapeutischer Einsatz als auch ihre Auswirkungen auf psychische Funktionen relevant. Er erforschte schon zu Beginn der 1950er Jahre den Einsatz einiger Medikamente in der Psychiatrie (vgl. Healy 2002, S. 87). 223 Swazey 1974, S. 128. Grund für den alleinigen Einsatz war aber nicht die Annahme einer spezifischen pharmakologischen Eigenschaft. Vielmehr nahmen Delay und Deniker Abstand von der lytischen Mischung Laborits,
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Ende Mai präsentierten die Forscher schließlich die ersten beobachteten Erfolge in der Societé Medico-Psychologique.224 Bei ihren ersten Versuchen hatten Delay und Deniker ihren psychiatrischen Patienten eine intramuskuläre Dosis von 75–100 mg verabreicht. Sie berichteten, dass die Patienten zunächst viel schliefen und sich niedergeschlagen fühlten. Nach einigen Tagen hätten sie ihre »Symptome« aber als weniger belastend empfunden. Es war nicht dieser Bericht allein, der Jean Delay und Pierre Deniker später als »Entdecker« der »antipsychotischen Wirkung« von Chlorpromazin erscheinen ließ. Vielmehr folgten der ersten Studie eine Reihe von fünf Publikationen bis Oktober 1952.225 Insbesondere ihre Berichte auf dem 50. Kongress französischer Psychiater und Neurologen in Luxemburg Ende Juli des Jahres 1952, wo sie über einen Rückgang der Symptomatik auch bei »schweren Psychosen« sprachen, ließ sie im Bewusstsein vieler PsychiaterInnen immer mehr zu den Pionieren der Erprobung werden.226 Die Genealogie der Phenothiazine als psychiatrische Medikamente offenbart allerdings wie die Entwicklung vieler Medikamente der Zeit keine eindeutige »Entdeckergeschichte«. Zwar ist im Rahmen des klinischen Einsatzes von Chlorpromazin die besondere Rolle von Henri Laborit hervorzuheben, der im Rahmen seiner klinischen Phenothiazinexperimente zentrale psychotrope Effekte der neuen Medikamente beobachten konnte. Seine Empfehlung, die Substanz auch in der Psychiatrie zu erproben, war nach Auffassung einiger Autoren jedoch nicht lediglich ein serendipity, wie ein glücklicher Zufall in der Suche nach neuen Anwendungsfeldern von Medikamenten häufig genannt wird. Solche Theorien betonen mit den unverhofften Wendungen im (klinischen) Beobachtungsprozess auch häufig die Genialität des sie beschreibenden Beobachters selbst. Laborits Darstellung der psychotropen Effekte und seine Annahme, die Substanz könne auch für die Psychiatrie nützlich sein, konnte hingegen auf einen längeren Austausch zwischen Psychiatrie und Chirurgie bauen.227 Auch emotionale Reaktionen wie Angst und Depressionen mussten in der Chirurgie sorgfältig und zum Teil medikamentös behandelt werden, um die Sicherheit von
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die neben Chlorpromazin auch Promethazin und ein Barbiturat enthielt, da die Wirkungslosigkeit von Promethazin auf Psychosen bekannt war und man die Gefahr einer Abhängigkeitsentwicklung nach der Einnahme eines Barbiturats fürchtete. Delay/Deniker/Harl 1952a. Delay/Deniker/Harl 1952b; Delay/Deniker/Harl/Grasset 1952; Delay/Deniker 1952a, 1952b, 1952c. Delay/Deniker 1952a, 1952b, 1952c. Beide medizinischen Disziplinen teilten einige Gebiete wie zum Beispiel die Behandlung und Erforschung des Schmerzes und der postoperativen Psychosen.
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Operationen zu gewährleisten.228 Es gab also Hinweise von verschiedenen ÄrztInnen, die einen erfolgreichen Einsatz in der Psychiatrie möglich erscheinen ließen. So war es nicht eine Einzelperson, sondern ein Kollektiv von KlinikerInnen, die sich mit RHÔNE-POULENC in engerer Zusammenarbeit befanden, die zeitgleich eine Verwendung in der Psychiatrie erprobten. Dies legt eher die Bildung eines neuen Wissens durch Gruppen von WissenschaftlerInnen nahe, die Ludwik Fleck als Denkkollektive bezeichnet.229 Folgt man der Hypothese, dass wissenschaftliche Arzneimittelforschung nach dem Zweiten Weltkrieg immer mehr zur Industrieforschung wurde,230 so ist zu fragen, ob sich in dieser Zeit auch eine engere Zusammenarbeit der pharmazeutischen Industrie mit KlinikerInnen etabliert und die Zahl neue Substanzen erprobender ÄrztInnen insgesamt zugenommen hat. Erst die KlinikerInnen konnten die Effekte neuer Substanzen an einem breiteren Kollektiv von PatientInnenen sichtbar machen; sie hatten deshalb für die pharmazeutische Industrie eine Schlüsselfunktion. Die scientific community französischer PsychiaterInnen nahmen die Berichte über die »antipsychotische Wirkung« gleichwohl zunächst verhalten auf.231 Dennoch ist hervorzuheben, dass erst im klinischen Versuch Erfolge und neue Einsatzgebiete der Phenothiazinderivate sichtbar wurden. Insbesondere ihr Einsatz in der Psychiatrie entsprang weder direkten Kenntnissen aus dem chemischen Labor noch hatte eine vorherige erste Erprobung am Tier erfolgversprechende psychiatrische Indikationen aufgezeigt. Vielmehr waren es umgekehrt erst die Erfolge einer breiteren klinischen Erprobung am Patienten, die Ausdifferenzierungen der Nachweisversuche pharmakologischer Wirkungen am Tier beförderten. Weitere Tierstudien wurden jedoch erst angestellt, nachdem die französischen Psychiater auf einen erfolgversprechenden Einsatz der Substanz aufmerksam
228 Caldwell 1970, S. 33. Deshalb, so Caldwell, würden Chirurgen die Entwicklung psychiatrischer Medikamente auch genau verfolgen. Ungewöhnlich sei eher, dass der Weg von der Chirurgie in die Psychiatrie stattgefunden hätte und nicht umgekehrt. Die Psychiatrie hatte darüber hinaus auch viel mehr mit chronischen Erscheinungen und Spontanremissionen zu kämpfen. 229 Fleck 1980. Fleck führt die Entstehung einer wissenschaftlichen Tatsache nicht primär auf einen Entdecker zurück. Er betonte vielmehr, dass neue Erkenntnisse erst durch den Austausch zwischen WissenschaftlerInnen möglich seien, indem die ursprünglichen Gedanken permanent umgeformt würden. In diesem Kreislauf sei kaum noch zu identifizieren, von wem der ursprüngliche Gedanke eigentlich stamme. Häufig entstehe erst in diesem Prozess ein neues Wissen. Fleck bezeichnet dieses gemeinsame Denken als kollektiven Denkstil, aus denen später Denkkollektive hervorgingen. 230 Quirke 2008. 231 Swazey 1974, S. 137.
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gemacht hatten.232 Sie sollten gewissermaßen eine Folie für das Screening neuer Substanzen bilden.
Zurück ins Labor: emotional indifferente Tiere Der Wissenschaftshistoriker Otniel Dror betont, dass im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts ein emotional turn des Tierversuchs einsetzte. Die Gefühle der Versuchstiere im Experiment waren seit den 1920er Jahren zur Leitfrage, insbesondere der angloamerikanischen Forschung, geworden. Tiere galten dabei zunehmend als emotionale Wesen, deren »Nervosität« die Versuchsergebnisse verfälschen konnte.233 Dror betont weiter, dass auch im klassischen Laborexperiment an Tieren Emotionen eine wichtige Referenzquelle sind, die das Untersuchungsergebnis entscheidend mitbestimmen.234 Die Sensibilität für die Emotionalität der Tiere bot vermutlich einen guten Nährboden, zunehmend auch deren Reaktionen auf psychotrope Stoffe in den Tierversuch aufzunehmen. Die Testung neuer psychiatrischer Medikamente an Tieren war für das sich mit der Psychopharmakologie ausdehnende Gebiet der Verhaltenspharmakologie von großer Bedeutung. Angeregt durch die verschiedenen Studien über einen effektiven Einsatz von Chlorpromazin in der Psychiatrie, gab es seit Mitte der 1950er Jahre verstärkt Bestrebungen, die psychoaktiven Effekte von Chlorpromazin im Tierexperiment nachzuvollziehen. Differenzierte Versuche am Tier sollten darüber hinaus das Aufspüren neuer Stoffe erleichtern. Erste an Machts Klettertest orientierte Studien um die französische Verhaltensforscherin Simone Courvoisier stellten fest, dass mit Chlorpromazin behandelte Tiere keine Kletteraktivitäten mehr zeigten, sondern einfach stehen blieben. Die ForscherInnen führten den Effekt schließlich darauf zurück, dass die mit Chlorpromazin behandelten Tiere generell vollkommen desinteressiert an ihrer Umgebung geworden waren.235 Amerikanische ForscherInnen, die ähnliche Befunde aufzeigen konnten, betonten darüber hinaus die große Immobilität der Versuchstiere. Diese wurden unbeweglich bis zur vollkommenen Starre, blieben aber auf ihren Füßen stehen. Diese Reaktionen der Tiere hatten, wie herausgearbeitet wurde, nichts mit einer Beeinträchtigung ihrer Reflexe, sondern mit einem »Desinteresse« an ihrer Umgebung zu tun.236 Gestützt wurde diese Vermutung dadurch, dass in weiteren 232 233 234 235 236
Swazey 1974, S. 92. Dror 2004, S. 340. Dror 2004, S. 371. Courvoisier 1956, S. 26. Ein weiteres Beispiel für die durch Chlorpromazin erzeugte Gleichgültigkeit bieten auch die Versuche an dem siamesischen Kampffisch »Betta splendends«, mit denen man die »beruhigende Wirkung« des Mittels auf
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Versuchen herausgestellt wurde, dass die Indifferenz nur Reaktionen auf emotional erlernte Reize betreffe.237 Diese für Chlorpromazin charakteristischen Verhaltensmerkmale wurden auch mit den Effekten einer Leukotomie verglichen.238 Wie der Psychiater Henri Baruk (1897–1999) feststellte, bewirkte Chlorpromazin darüber hinaus in hohen Dosen eine experimentell erzeugte Katatonie, in der sich alle Phasen ihrer klinisch beobachteten Form wiederfinden ließen.239 Die ersten Versuche mit Chlorpromazin ließen jedoch auch den Wunsch konkreter werden, Tiermodelle zu schaffen, die eine reale »Psychose« imitieren sollten. Erste Spuren reichten, wie ich aufgezeigt habe, bis weit ins 19. Jahrhundert zurück. Diese Pläne legten den Einsatz von Halluzinogenen wie Mescalin und LSD bei Versuchstieren nahe. Die wahnerzeugenden Effekte des Mescalins waren in der psychiatrischen Forschung schon länger bekannt und ausführlich in Monographien thematisiert worden.240 Mit der im Selbstversuch beobachteten halluzinogenen Wirkung von LSD, über die Albert Hofmann im Jahr 1943 berichtete, schienen jedoch weitere psychotrope Stoffe handhabbar, die »psychotische« Effekte am Tier erzeugen konnten.241 Neben dem Versprechen, mittels der Erzeugung von Delirien durch diese Substanzen dem »delphischen Orakel« der Psychosen auf die Spur kommen zu können,242 wurde es mit den beobachteten Effekten von Chlorpromazin in der Psychiatrie immer wichtiger, weitere Substanzen auf eine antihalluzinogene Wirkung hin zu testen. Wie Anne Caldwell formuliert, schloss Chlorpromazin die Tore des Wahns, die LSD öffnete. LSD fand deshalb schon zu Beginn der 1950er Jahre Eingang in die tierexperimentelle Psychopharmakaforschung.243
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den Kampfreflex des Fisches aufzuzeigen versuchte. Das Tier galt schließlich als Modell für einen agressionshemmenden Effekt (vgl. BAYERLeverkusen, Broschüre »Megaphen in der ›kleinen Psychiatrie‹ des praktischen Arztes« (1957); BAYER-Film »Zentralwirksame Phenothiazinederivate« (1959); Kreiskott 1965). Cook/Healy 1998, S. 20. Courvoisier 1956, S. 28. Der Begriff der »chemischen Leukotomie« wurde am Anfang auch für die klinischen Effekte verwendet, die man am Patienten beobachtete. Gleichwohl ist zu fragen, ob der Begriff der Leukotomie nicht vielmehr als Metapher zu verstehen ist, als mit der Tatsache, dass es sich wirklich um identische Effekte handelte, zu tun hatte. Ähnlich wie der Schlaf und seine Bedeutung in der Psychiatrie war das Verhalten leukotomisierter Patienten ein geläufiges Bild der Zeit, das Anknüfungspunkte bot, sich die neuen Effekte erklärbar zu machen. Baruk/Launay/Berges 1958. Zum erhöhten Auftreten von Katatonien nach Neuroleptikakonsum vgl. auch Healy 2002, S. 271ff. Beringer 1927; de Boor 1956. Healy 2002, S. 179; Hofmann 1979. De Boor 1956, S. 35. Caldwell 1970, S. 79. LSD löste dabei seit Mitte der 1950er Jahre Mescalin als führende halluzinogene Droge ab.
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Zu den ersten Experimenten in dieser Richtung zählt der Versuch, mit Mescalin Halluzinationen bei Ratten zu erzeugen und sie mittels Chlorpromazin wieder zu beseitigen.244 Der Möglichkeit, mittels der Verabreichung von Halluzinogenen einen Test an Tieren zu etablieren, der als »Goldstandard« für die Prüfung neuer »antipsychotisch« wirksamer Psychopharmaka gelten sollte, waren jedoch Grenzen gesetzt, denn bereits Mitte der 1950er Jahre war bekannt, dass sich mit der Gabe von Halluzinogenen keine mit den am Menschen beobachteten Wahnsinnszuständen vergleichbaren Phänomene erzeugen ließen. Als Modell für »Psychosen« waren die LSD-Experimente also nur sehr eingeschränkt zu gebrauchen.245 Darüber hinaus traten schnell prinzipielle Probleme auf, wenn man das Verhalten von Tieren mit den klinischen Erscheinungen bei Menschen verglich. Es zeigte sich, dass sich die Verhaltensweisen von Menschen nicht einfach auf Laborphänomene übertragen ließen, die man bei Tieren erzeugen und messen konnte. Die ForscherInnen benötigten hier gut definierbare Kernsymptome, die mit den einfachen bei Tieren beobachtbaren Reaktionen wie Flucht, Angriff und Ängstlichkeit korrelierten.246 Zudem mussten die aus den Bedingungen des Labors gewonnenen Erkenntnisse auch auf die alltägliche Situation des Menschen übertragbar sein, was hinsichtlich vieler Punkte nicht gewährleistet zu sein schien. Darüber hinaus zeigten schon die individuellen Versuchstiere je differente Reaktionen auf die sie emotional beeinflussenden Stoffe.247 Die Normierung des Gefühls, die als Voraussetzung für einen wiederholbaren Effekt am Tier galt und die nach Dror eines der zentralen Anliegen der Verhaltensforschung an Tieren zu Beginn des 20. Jahrhunderts war, schien gleichwohl für den Einsatz am Menschen in der Klinik kaum möglich.248 Zum einen waren die Delirien der PatientInnen in der Regel mit großen emotionalen Aufregungen verbunden. Zum anderen war der Aufenthalt in einer psychiatrischen Anstalt sicher kein Ort optimaler emotionaler Entfaltung. Wie Erving Goffman gezeigt hat, waren Psychiatrien hingegen als totale Institutionen zu verstehen, welche die Gefühle und Verhaltensweisen der PatientInnen bis in die kleinsten Erlebniseinheiten beeinflussen.249 Zudem ließen sich die spezifisch menschlichen Erfahrungen, die
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Courvoisier 1956, S. 29. Caldwell 1970, S. 181; de Boor 1956, S. 35. Cook 1965, S. 91ff. Cook 1965, S. 99. Einfacher im Tierexperiment nachzuvollziehen, schien allein die Dauer der Wirkung, wobei es auch hier wenige Untersuchungen über eine chronische Verabreichung gab, die man für den chronischen Gebrauch benötigte. 248 Dror 2004, S. 359. 249 Goffman 1972.
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sich im Wahnsinn abbildeten, im Tier nicht einfach erzeugen. Schließlich war das Bewusstsein der ProbandInnen selbst ein wichtiger Einflussfaktor auf das Verhalten zu einem psychotropen Effekt. Es erstaunt nicht, wie wichtig der klinische Versuch in der Genese und Evaluation gewesen ist, was von ForscherInnen immer wieder betont worden ist.250 Auch in der frühen Psychopharmakaforschung in der BRD erkannte man die Wichtigkeit der Prüfung von Psychopharmaka am Menschen, wie in dem Zitat des Erlanger Ordinarius Fritz Flügel (1897–1971) deutlich wird, der einen seiner ersten Berichte zur Beurteilung neuer Psychopharmaka folgendermaßen zusammenfasste: »Aus dem Gesagten geht schon hervor, daß für diese Zuordnung von Medikamenten im Wesentlichen die klinische Untersuchung und Verlaufsbeobachtung maßgeblich ist. Aus den bisher üblichen pharmakologischen tierexperimentellen Methoden lässt sich diese besondere Wirkung nicht erkennen. Gewiß hat sich die Pharmakologie besonders in letzter Zeit eingehend bemüht, auch psychologische Experimentaltests für Tiere auszuarbeiten. Es handelt sich um Verhaltensprüfungen unter bestimmten Situationen und bei experimentell erzeugten bedingten Reflexen. Hiermit ist eine gewisse Urteilsbildung über eine beim Menschen zu vermutende psychische Wirkung solcher Mittel möglich, aber doch nur im Sinne eines groben Überblicks. Feinere Wirkungsnuancen und vor allem die Wirksamkeit gegen die verschiedenen seelischen Störungen und Krankheitsformen lassen sich nur im klinischen Versuch erkennen.«251
Diese Zuspitzung Flügels hebt die Schwierigkeiten hervor, die Effekte neuer Psychopharmaka, beispielsweise des Chlorpromazins, zu beurteilen. Man benötigte für deren Sichtbarkeit ein menschliches Modell, an dem man die Effekte aufzeigen konnte. Für diese ersten Versuche am Menschen reichten Erprobungen an PatientInnen jedoch häufig nicht aus. Nicht selten versuchten PsychiaterInnen deshalb in der frühen Psychopharmakaforschung in den 1950er Jahren, den Einsatz neuer Stoffe an sich selbst erfahrbar zu machen.
Psychopharmaka erfahrbar machen: der psychiatrische Selbstversuch Der Psychiater Rudolf Degkwitz hob in seinem Ende der 1960er Jahre erschienenen Lehrbuch zur Psychopharmakologie die Bedeutung hervor, die einer ersten Erprobung nicht nur am Patienten, sondern auch am »gesunden« Menschen zukomme. So arbeitete er in Abgrenzung zu Versuchen an Tieren heraus: 250 Beispielhaft Caldwell 1970, S. 86. 251 Flügel 1959a, S. 242; vgl. aber auch Bente et al. 1960, S. 68.
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»Diese pharmakologischen Untersuchungen gestatten aber keine Aussage über die psychische Eigenwirkung der mit ihrer Hilfe gefundenen Psycholeptika. Die psychopharmakologische Eigenwirkung kann nur an psychisch gesunden Menschen untersucht werden.«252
Mit seinem Begriff der psychischen Eigenwirkung lehnte sich Degkwitz an die Vorstellungen Walter Ritter von Baeyers an, der das Konzept im Rahmen seiner Untersuchungen zur Schockbehandlung in der Psychiatrie entwickelt hatte. Von Baeyer fasste unter der »psychischen Eigenwirkung« einer Behandlungsform die unmittelbaren kausalen Folgen einer somatischen Therapie bei Gesunden zusammen, die unabhängig von der Art einer zugrunde liegenden »psychischen Störung« stattfinde.253 Obwohl die historische Entwicklung neuer Psychopharmaka, wie Degkwitz ausgeführt hatte, nicht mit den Selbstversuchen von PsychiaterInnen, sondern mit den Beobachtungen der Effekte einer Medikation an PatientInnen begann, hielt er das Selbstexperiment für unerlässlich. Anders als in anderen Beobachtungsformen stehe bei den psychiatrischen Selbstversuchen das Empfinden, Erleben und Verhalten der Versuchsperson im Mittelpunkt, das durch den Selbstversuch erfahrbar gemacht werden könne.254 Zwar seien die Ergebnisse nur eingeschränkt auf die PatientInnen übertragbar, gleichzeitig zeigten sie jedoch erste Spuren menschlichen Empfindens der Psychopharmaka auf.255 Die Geschichte des Selbstversuchs in der Medizin und insbesondere in der Psychiatrie hatte zu diesem Zeitpunkt bereits eine lange Tradition. Wie Lawrence Altman in seiner Geschichte des Selbstexperiments herausarbeitet, waren Experimente, in denen Ärzte selbst als Versuchspersonen fungierten, schon im 19. Jahrhundert in der gesamten Medizin üblich, denn mit der ersten Erprobung medizinischer Verfahren am Menschen stellte sich auch die Frage, wer das erste »Versuchstier« sein sollte.256 Berühmte Vorläufer in der Geschichte der Psychiatrie des 19. Jahrhunderts stellten die bereits erwähnten Haschischexperimente Moreau de Tours und Kraepelins Studien über die Erprobung psychotroper Stoffe dar.257
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Degkwitz 1967, S. 28 (Herv. i. O.). Von Baeyer 1951, S. 46. Degkwitz 1967, S. 28. Zu den Schwächen der Selbstversuche zählt Degkwitz, dass sie mit relativ großen Mengen der Substanzen über einen kurzen Zeitraum erfolgen. Deshalb könne man die phasenhafte Wirkung der Psychopharmaka auf diese Weise nicht aufzeigen. 256 Altman 1998, S. 9. 257 Moreau de Tours 1845; Kraepelin 1882, 1883 und 1892. Ausführlicher zu diesen Versuchen vgl. II.2. Zum Selbstversuch mit Mescalin im 20. Jahrhundert vgl. auch Beringer 1927.
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Es lassen sich für die Erprobung eines Verfahrens am Forscher selbst jedoch verschiedene Motive finden. So verweist Altman darauf, dass bestimmte Verfahren in der Geschichte der Medizin seit jeher als zu unerprobt und zu gefährlich galten, um die PatientInnen zuerst diesem Risiko auszusetzen. Manchmal starben ÄrztInnen im »Dienst der Wissenschaft« »heroische« Tode, indem sie bestimmte Erreger und Infektionswege an sich selbst erprobten.258 Häufiger war aber vermutlich das Interesse, die Ergebnisse eines Experiments besser kontrollieren zu können, indem der Forscher selbst als Versuchsperson diente. Keineswegs galt der Patient immer als »zuverlässiger Zeuge«. Aus der Sicht des Forschers legte er in seinen Erzählungen oft Wert auf Unwesentliches, sparte dafür aber Wichtiges aus. Er schien zudem nicht in gleichem Maße zur Selbstreflexion und Beobachtung der Effekte einer Substanz an sich selbst fähig zu sein, welche die ForscherInnen für sich in Anspruch nahmen. Insbesondere im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert fungierte der Forscher deshalb oft als Versuchsleiter und als Versuchsperson in einem oder wechselte zwischen diesen Rollen.259 Doch auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam dem Selbstversuch in der Arzneimittelforschung eine große Bedeutung zu. So wollten ForscherInnen außergewöhnliche, unerwünschte Wirkungen einer Medikation zum Teil an sich selbst verifizieren. Als Beispiel hierfür kann das Aufspüren des »Käseeffektes« einer bestimmten Gruppe von Antidepressiva, der MAO-Hemmer, gelten. Wie der Psychiatriehistoriker David Healy herausarbeitet, war eine Unverträglichkeit der Substanzen erst Gegenstand intensiver Forschung eines Psychiaters geworden, nachdem sich die Frau eines Kollegen über auftretende Kopfschmerzen nach dem Genuss eines Käsebrötchens beklagt hatte. Nachdem auch seine PatientInnen ihn auf die Folgen des Käsekonsums hingewiesen hatten, beschloss er eine Studie an sich selbst vorzunehmen, in der er die Einnahme des Mittels mit dem unmittelbar darauf folgenden Essen von Käse verband. Er konnte das Auftreten des Kopfschmerzes an 258 Altman 1998, S. 1ff. Beispielhaft erzählt der Autor den Selbstversuch des Medizinstudenten Daniel Carrión im Jahr 1885, der verstarb, nachdem er sich im Rahmen der Studien zu seiner Doktorarbeit den Erreger eines noch unerforschten südamerikanischen Fiebers injiziert hatte. Noch heute wird sein Mut in seinem Heimatland Peru besungen. Als bekanntester »heroischer« Selbstversuch der Psychopharmakologie gilt wohl das Experiment des »Entdeckers« des LSD, Albert Hofmann, der einen Versuch an sich selbst unternahm, nachdem er die psychotropen Effekte des LSD vorher zufällig beobachtete. Für das Selbstexperiment nahm er die 5-fache Menge der später als üblichen Menge betrachteten Dosis des Wirkstoffes ein, was schwerste Halluzinationen, Ohnmachtsgefühle und Schwindel mit sich brachte (vgl. Schmidbauer/vom Scheidt 2004). 259 Danziger 1990, S. 30. Auch Kraepelins Arzneimittelstudien weisen dieses Charakteristikum auf (vgl. Kraepelin 1892).
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sich selbst jedoch nicht beobachten. Erst weitere Studien an PatientInnen brachten Aufschluss und führten zu biochemischen Untersuchungen, die den »Käseeffekt« belegten.260 Diese Geschichte zeigt unter anderem auf, wie angewiesen der Forscher letztlich auf die Erzählungen der PatientInnen war, und führt direkt zu einem weiteren Motiv des Selbstversuchs. Indem man die Effekte der psychotropen Substanzen und insbesondere von Medikamenten mit unerwünschten Wirkungen an sich selbst erfahrbar machte, konnte man die von den PatientInnen geschilderten Erlebnisse besser nachvollziehen. Dies diente nicht nur als Grundlage weiterer Forschungen, sondern auch zur Verbesserung des Kontakts zwischen Arzt und Patienten selbst. Viele ÄrztInnen erschienen den PatientInnen wesentlich vertrauenswürdiger, wenn sie ihnen berichten konnten, sie hätten sich den Risiken einer Erprobung oder den unerwünschten Effekten eines Mittels selbst ausgesetzt und somit das getan, was sie auch von den PatientInnen verlangten.261 Folgt man Foucault, können die psychiatrischen Selbstversuche mit Psychopharmaka aber auch als Versuche verstanden werden, die »Macht des Verstehens« auszuweiten.262 Es war vermutlich vor allem das Motiv des Verstehens, das einige PsychiaterInnen dazu veranlasste, die von vielen PatientInnen als beschwerlich beklagten Effekte der Neuroleptika an sich selbst zu erproben. Neben der Neugierde, eventuell noch unbekannte, wesentliche Effekte der neuen Psychopharmaka aufzuzeigen, wollte man vor allem die psychischen Auswirkungen erfahrbar machen, die der Konsum der Stoffe mit sich brachte.263 Vor allem zu Beginn der Erprobung wurden auch von einigen deutschen PsychiaterInnen Selbstexperimente mit neuen Substanzen unternommen, hinsichtlich derer ich mich in der kurzen Darstellung auf die Neuroleptikaselbstversuche mit neuen Phenothiazinderivaten beschränke. Hier sind vor allem die Studie des Ehepaares Ernst und die Untersuchungen der Psychiater Hans Heimann und Peter Nikolaus Witt mit Megaphen zu nennen.264 Darüber hinaus versuchte Karl-Martin Koch in seiner Monographie die erlebten Effekte eines weiteren Phenothiazinderivats aufzuzeigen.265 Allen Studien war gemein, dass sie nicht unter Laborbedingungen, sondern im Rahmen des Alltagslebens eingesetzt wurden. Während das Ehepaar Ernst den Versuch in der eigenen Wohnung veran-
260 261 262 263
Healy 1997, S. 117. Altman 1998, S.12. Foucault 2005, S. 407. Diese Motivation gab zumindest das Forscherehepaar Ernst an, das Megaphen im Selbstversuch testete. So formulierte es zu Beginn seiner Studie: »Endlich möchten wir erfahren, wie die Wirkung des Stoffes eigentlich erlebt wird« (vgl. Ernst 1954, S. 573). 264 Ernst 1954; Heimann/Witt 1955. 265 Koch 1963. Er verwendete dabei das Phenothiazin Thioridazin.
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staltete, nutzte Koch einen Weihnachtsurlaub bei seinen Eltern, um die Effekte eines neuen Phenothiazins zu erproben. Heimann und Witt hingegen führten eine Studie an sich selbst und neun jungen ÄrztInnen im Rahmen ihres Arbeitsalltages durch. Zu Beginn des Versuchs beeinträchtigte die ForscherInnen vor allem die große Müdigkeit nach der Einnahme des Medikaments. Klaus und Cécile Ernst beschrieben eine 18–36-stündige Schlafphase, nach der sie unschläfrig aufwachten.266 Zwar bemerkte auch Koch das frische Erwachen nach einem traumlosen Schlaf, er hatte jedoch in der Anfangsphase immer wieder das Gefühl, einschlafen zu müssen.267 Die Versuchspersonen bei Heimann und Witt lagen meist schläfrig und regungslos mit geschlossen Augen da und fühlten sich nach eigenen Angaben »schläfrig, leicht betrunken, wurstig, gleichgültig, apathisch«.268 Die schläfrige Periode ging der Beschreibung der AutorInnen zufolge langsam in eine Phase des Desinteresses über. Diese Empfindungen zeichneten sich durch eine Indifferenz allem gegenüber aus, was die Versuchspersonen vorher als wichtig erlebt hatten. So verdeutlicht Klaus Ernst die empfundene Interesselosigkeit seiner Frau mit folgendem Bericht sehr anschaulich: »Ein tieferes Darniederliegen aller Initiative und aller sthenischen Energien zeigte sich deutlicher nach Abklingen der Schlafphase. Trotzdem die Müdigkeit nun verschwunden war, blieb die sorgfältig vorbereitete Lektüre, auf die sich die Vp. vorher gefreut hatte, beinahe unberührt auf dem Nachttischchen liegen. Belletristische Werke, die sie ›endlich‹ hatte lesen wollen, legte sie nach einer halben Seite weg, nicht aus Müdigkeit, sondern aus Interesselosigkeit, wie sie erklärte. Auffallend war der kühle Empfang, den sie einer guten Freundin bereitete und der an Unhöflichkeit grenzte. Das krasseste Zeichen von Wurstigkeit kam vielleicht zum Vorschein, als die Vp. nachträglich gestand, dass sie während eines ganzen halben Tages über den Aufenthaltsort ihres Schlüsselbundes mit den Anstaltsschlüsseln völlig im unklaren geblieben sei, daß sie aber einfach ›zu faul‹ gewesen sei, auch nur darnach zu fragen oder ernsthaft über den Verbleib der Schlüssel nachzudenken.«269
Ähnlich wie Cécile Ernst stellte auch Koch bei der Lektüre fest, dass er dem Gelesenen nur mühsam folgen könne. In der zweiten Hälfte habe er nur noch auf das Gelesene gestarrt, sei aber mit dem Inhalt nicht mehr vertraut gewesen. Erst auf Ermahnungen hin, denen er aber gleichgültig gegenüber gestanden habe, habe er das Gelesene wiedergeben können. Auch 266 267 268 269
Ernst 1954, S. 574. Koch 1963, S. 8. Heimann/Witt 1955, S. 105. Ernst 1954, S. 575.
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beim Schachspielen habe er in der Regel inmitten des Spiels aufgehört und sei langsam in einen Zustand des Nicht-Denkens hinübergelitten, den er im Nachhinein als leeren Zeitraum erinnere. Die meiste Zeit des gesamten Versuchs habe er mit dem passiven Zuhören von Unterhaltungen in seiner Familie verbracht.270 Heimann und Witt berichteten dagegen, dass ihren Versuchspersonen ein Gespräch immer möglich gewesen sei, »wenn ihnen auch die Lust dazu fehlte und es deshalb nur mühsam in Gang kam«.271 Die Merkfähigkeit beschrieben die AutorInnen als prinzipiell intakt und ohne amnestische Lücken, lediglich die Fähigkeit, den Vorgängen in ihrer Umgebung zu folgen war verlangsamt und erschwert. Als besonders eingeschränkt erlebten sich die Versuchspersonen jedoch in gefühlsmäßiger Hinsicht. Das Ehepaar Ernst berichtete, dass der jeweilige Proband zwar auf Gespräche eingehen könne, emotional aber eine Distanz erzeuge, die im Partner das Gefühl des »Kaltgestelltseins« zurücklasse. Alle Beziehungen zur Umwelt schienen nun abgebaut zu sein.272 Emotional zurückgeblieben sei nur eine Verdrossenheit, die das soziale Miteinander erschwere. Cécile Ernst beschrieb anschaulich die Verstimmungen ihres Mannes mit folgenden Worten: »Die Falten im Bett strich er sorgfältig zurecht. Beim Genuß einer von mir geschälten Orange konnte er einige noch anhaftende weiße Häutchen kritisch bemängeln und gründlich entfernen. Es war, wie wenn nach Fortfall aller großzügigen Antriebe nur die kleinlichen Bedürfnisse und die verdrießlichen Beschwerden seinen Lebensinhalt bestimmten. Die Mißlaunigkeit, die Stumpfheit gegenüber allen menschlichen Gefühlswerten, die Pedanterie und nicht zuletzt der völlige Verlust des Humors ließen mich an das Bild eines dysphorisch verstimmten Greises denken.«273
Die Einschränkungen im sozialen Miteinander konnte auch Koch an sich beobachten. Bei Streit ergriff er nie Partei, überhaupt betrachtete er alles um sich herum mit geringer Emotion. In der zweiten Hälfte des Versuchs war er an dessen Ausgang ohnehin nicht mehr interessiert.274 Auch die Versuchspersonen von Heimann und Witt erlebten sich als hoffnungslos, leer und überflüssig. Ein Teilnehmer beschrieb das Gefühl, körperlich und seelisch krank zu sein. Vor allem die Dinge des täglichen Lebens zu erledigen, erschien vielen als schwer zu bewältigende Bürde, an deren Bewältigung ein Proband zu verzweifeln drohte:
270 271 272 273 274
Koch 1963, S. 10. Heimann/Witt 1955, S. 107. Ernst 1954, S. 576. Ernst 1954, S. 578. Koch 1963, S. 10.
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»Riesengroß wuchsen vor mir die Aufgaben des Lebens auf: Nachtessen, in das andere Gebäude gehen, Zurückkommen – und das alles zu Fuß. Damit erreichte der Zustand sein Maximum an unangenehmem Empfinden: Das Erleben eines ganz passiven Existierens bei klarer Kenntnis der sonstigen Möglichkeiten.«275
Die emotionale Abgetrenntheit, das Desinteresse an den Dingen der Umwelt und die Mühseligkeit der Bewältigung alltäglicher Aufgaben hatten auch körperliche Folgen. So beschrieben alle Versuchspersonen, dass ihnen das Essen unendlich mühselig schien. Koch berichtete, ständig zum Essen aufgefordert werden zu müssen, obwohl er sonst gerne aß.276 Auch das Ehepaar Ernst konnte gegenseitig beobachten, dass ihnen das Essen keine Freude mehr bereitete, auch wenn es eine normale Essmenge aufrechterhalten konnte.277 Darüber hinaus bemängelten die TeilnehmerInnen des Selbstversuchs Einschränkungen des Sprechens. Die VersuchsteilnehmerInnen bei Heimann und Witt sprachen langsam und undeutlich, und einige von ihnen äußerten Ärger, wenn man sie ansprach, da sie nur mühsam reden konnten.278 Auch Ernst und Ernst berichteten, dass sich die Silben nach einigen Minuten des Sprechens verfingen und darüber hinaus choreioforme Bewegungen279 das Reden zusätzlich einschränkten.280 Bewegungsstörungen erschwerten auch sonst den TeilnehmerInnen das Leben erheblich. Einige ProbandInnen berichteten von einer großen Unrast, die dazu geführt habe, dass sie sich unentwegt im Bett hätten hin und her bewegen müssen.281 Diese motorische Unruhe habe zu dem Bedürfnis zielloser Tätigkeit bei gleichzeitiger Apathie geführt, die eine Versuchsperson des Experiments von Heimann und Witt mit den Worten »[o]ben lahm wie ein Freiburger Ackergaul, unten wie ein Ungerhengst«282 zusammenfasste. Der Abschluss des Versuchs wurde von allen ExperimentatorInnen als Erleichterung erlebt. Während Koch schon am Tag nach dem Ende des Versuchs keine Nachwirkungen mehr spürte,283 fühlte sich das Ehepaar Ernst zwei Tage lang abgeschlagen, bevor bei ihm eine euphorische Stimmung aufkam.284 Auch die TeilnehmerInnen der Studie von Heimann und Witt erlebten das Verschwinden der Medikamenteneffekte, das ein beson275 Heimann/Witt 1955, S. 113. 276 Koch 1963, S. 11. 277 So berichtet Klaus Ernst über das Essverhalten seiner Frau: »Sie schlang aber das Essen freudlos hinunter und schob den Rest verdrossen von sich, wenn sie die Mahlzeit einigermaßen erledigt glaubte« (Ernst 1954, S. 575). 278 Heimann/Witt 1955, S. 112. 279 Unkoordinierte Nebenbewegungen in Gesicht und Armen. 280 Ernst 1954, S. 575. 281 Ernst 1954, S. 578. 282 Heimann/Witt 1955, S. 107. 283 Koch 1963, S. 11. 284 Ernst 1954, S. 576.
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ders intensives Gefühl der Leistungsfähigkeit zurückließ, als »Erlösung«. Bei drei ProbandInnen ihrer Studie war es jedoch schon während des Versuchs zu einer gehobenen Stimmung gekommen, für die sie keine Erklärung fanden. Die AutorInnen stellten die Frage, ob es sich hierbei nicht um eine paradoxe Wirkung handeln könne – ein Thema, das die Psychiatrie später eingehend beschäftigen sollte.285 Obwohl psychiatrische Selbstversuche als Experimente an Gesunden galten, die der Erfahrung psychiatrischer PatientInnen nicht entsprachen, weil sie keine »erlösenden« Effekte auf störende Eigenschaften aufwiesen, konnten die Berichte verschiedene Elemente einer psychotropen Wirkung aufzeigen, die eine erlebte und einschränkende Wirkung der Medikamente den PsychiaterInnen selbst erfahrbar machte.
285 Heimann/Witt 1955, S. 110ff. Ausführlicher zu paradoxen Effekten und unerwünschten Wirkungen vgl. Teil III, 1.
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Zusammenfassung: D i e G e n e s e n e u e r p s yc h i a t r i s c h e r M e d i k a m e n t e aus der klinischen Beobachtung Im vorangegangenen Kapitel habe ich die Übergänge der Psychopharmaka von den ersten verwendeten Substanzen bis zu den heute in der Psychiatrie gebräuchlichen Psychopharmakagruppen aufgezeigt. Neben den industriell hergestellten Arzneimitteln des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts konnte ich einen weitreichenden Einsatz von Drogen in der Psychiatrie aufzeigen. Dabei wurde deutlich, dass Drogen und Psychopharmaka in dieser Zeit vor allem durch den Kontext ihres Gebrauchs – in der Psychiatrie zum Zweck der Heilung oder zum Zweck des Rausches – voneinander unterschieden wurden. Ihre dritte Verwendung fanden Drogen hingegen in wissenschaftlichen Selbstversuchen, die dazu dienten, die Formen des Wahnsinns besser erkennbar zu machen. Moreau de Tours Haschischexperimente und Kraepelins Studien zur Beeinflussung psychischer Vorgänge durch psychotrope Stoffe sind in diesem Kontext zu verorten. Insbesondere Letztere dienten jedoch auch einer ersten Experimentalisierung psychotroper Stoffe, die Elemente späterer Versuche sichtbar machten. Gleichzeitig galten die vor 1950 gebräuchlichen Psychopharmaka als »gefährliche Stoffe«, die zwar die PatientInnen beruhigen sollten, aber für diese immer auch das Risiko in sich bargen, an den Substanzwirkungen schweren Schaden zu nehmen oder sogar zu versterben. Vor diesem Kontext ist auch die Beurteilung der ersten Psychopharmaka wie beispielweise Chlorpromazin zu betrachten, denn in den ersten Berichten über ihren Einsatz hielten PsychiaterInnen sie nicht für effektiver als andere gebräuchliche somatische Verfahren, wohl aber für weniger gefährlich. Diese Einschätzung führte dazu, dass ÄrztInnen versuchten, den Einsatz prekärer Verfahren in der Psychiatrie zu kontrollieren. Blickt man auf die Regulation von Arzneistoffen auch außerhalb der Psychiatrie, so ist deutlich geworden, dass der Begriff der Wirksamkeit eines Arzneimittels gegenüber anderen Kriterien in der Zulassung und Beobachtung eines Pharmakons zunächst eine nachgeordnete Rolle gespielt hat. Eine Analyse der ersten Versuche einer Arzneimittelgesetzgebung zeigte auf, dass in dieser Zeit das Bemühen, überhaupt einen Überblick über die gebräuchlichen Arzneimittel und ihre Produktion zu bekommen, im Vordergrund stand. Diese Bestrebungen sollten ab den 1960er Jahren von einem Sicherheitsdispositiv abgelöst werden. Erst später, in den 1970er Jahren, wurde Wirksamkeit zum Kernbegriff eines neuen Arzneimittelgesetzes. Ohnehin spielten aber bis in die 1970er Jahre die staatlichen Regulationsbemühungen gegenüber den Selbstregelungsversuchen anderer Akteure aus Medizin und
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Pharmazie eine nachgeordnete Rolle. Zahlreiche Bestimmungen versuchten zwar im Laufe des 20. Jahrhunderts den klinischen Versuch einzuschränken, waren jedoch unverbindlich. Methodische Vorgaben zur Form eines Wirksamkeitsnachweises machten vor allem Ärzteorganisationen. Auch ein erster Wirksamkeitsnachweis von Chlorpromazin erfolgte durch die Beurteilung einzelner KlinikerInnen. Die Historiographie der Entwicklung neuer Psychopharmaka wurde beispielhaft an der Geschichte des ersten Neuroleptikums Chlorpromazin dargestellt. Die Spuren des Stoffes reichten dabei weit zurück in die Farbstoffindustrie, bevor die Phenothiazine ihre Bedeutung in der Antihistaminforschung erlangten. Das aus neuen Phenothiazinen synthetisierte Chlorpromazin wurde schließlich vor allem in der Chirurgie eingesetzt, bevor es seinen Eingang in die Psychiatrie fand. Schon die Rekonstruktion seines Weges zeigte auf, dass die psychotropen Effekte der Substanz nur im klinischen Versuch sichtbar wurden. Auch die Entwicklung weiterer neuer Psychopharmakagruppen verdeutlichte, dass sich die neuen Eigenschaften einer Substanz häufig erst im klinischen Versuch aufzeigen ließen. Die Genese der Antidepressiva bildet dafür ein weiteres anschauliches Beispiel. Stimmungsaufhellende Effekte waren auch hier erst im klinischen Versuch des Schweizer Psychiaters Roland Kuhn (geboren 1912) sichtbar geworden. Kuhn hatte schon länger Kontakte zur Firma GEIGY AG BASEL unterhalten, die ihn bat, ein Antihistaminikum als Schlafmittel zu testen.286 Nach den ersten Eindrücken über einen erfolgreichen Einsatz von Chlorpromazin in der Psychiatrie beschloss Kuhn, auch den Effekt weiterer Antihistaminika der Firma auf »Psychosen« zu erproben. Zwar zeigte die Substanz G22355, die er zu diesem Zweck verwendete, die gewünschten Effekte auf delirante Zustände nicht. Die Beobachtung »hypomanischer« Züge an diesen Behandelten und der Entschluss, die Substanz an PatientInnen mit verschiedenen psychiatrischen Diagnosen zu erproben, ließen ihn jedoch einen positiven Einfluss auf die Niedergeschlagenheit depressiver PatientInnen bemerken.287 Das Sichtbarmachen der Erfolge psychotroper Medikamente im klinischen Versuch fand auch seinen Eingang ins Labor und regte in den 1950er Jahren zu weiteren Tierstudien an. In diesen Tierversuchen wurde beispielsweise die Erzeugung emotionaler Indifferenzen bei Versuchstieren durch Chlorpromazin untersucht. Doch die Darstellung psychotroper Effekte im Tierversuch gestaltete sich schwierig, da die Tiere sehr unterschiedlich auf die Versuchssubstanz reagierten. Ohnehin galt die Produktion eines Standardeffekts im Tierlabor als diffizil, da die Emotionalität der Tiere, die störend auf den Standardeffekt einwirkte, im Versuch überhaupt 286 Kuhn 1988, S. 18. 287 Kuhn 1988, S. 19.
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eine große Rolle spielte. Des Weiteren zeigten sich die Ergebnisse des Labors als nicht unbedingt auf den Menschen übertragbar. Sie bedurften menschlicher Modelle, um gänzlich sichtbar zu werden. Erste Möglichkeiten, die Effekte neuer psychiatrischer Medikamente am Menschen aufzuspüren, zeigten hier die psychiatrischen Selbstversuche. Diese machten den ForscherInnen die Folgen der Einnahme von Neuroleptika erstmalig erfahrbar. Doch es bedurfte vor allem einer eingehenden Erprobung an PatientInnen, um den genaueren psychotropen Effekten von Chlorpromazin auf die Spur zu kommen. Im Folgenden sollen deshalb erste Versuche der Substanz an psychiatrischen PatientInnen rekonstruiert werden. Wiederholt weisen hier Spuren aus dem Labor der pharmazeutischen Industrie in die Klinik, welche die ersten Erprobungen an PatientInnen vornahm. In einem zweiten Schritt lässt sich der Weg zurück ins Labor rekonstruieren, wo die Ergebnisse des Krankenhauses Eingang in die Vermarktung der pharmazeutischen Industrie fanden. Gerade im Kontext der Klinik werden aber auch verschiedene Ebenen der Erfahrung deutlich. Auf der einen Seite stehen die ÄrztInnen, die die Effekte der neuen Substanz im Klinikalltag selbst beobachten und an sich selbst erfahren wollen, auf der anderen Seite steht die verkörperte Psychopharmakaerfahrung der PatientInnen.
Teil I Wirksamkeit als Zeugenschaft. Versuche an psychiatrischen PatientInnen am Beispiel des Megaphens
1 . Vom La bor in die Ps yc hia trisc he Uni versitätsklinik Heidelberg: die Strategie de r Firma B AY ER
Nachdem erste Chlorpromazinversuche im Jahr 1952 in Frankreich verschiedene medizinische Einsatzgebiete aufzeigen konnten, wurde der Wirkstoff schnell auch in der Psychiatrie außerhalb Frankreichs eingesetzt. Durch die engen Beziehungen von RHÔNE-POULENC in die Schweiz, wo Chlorpromazin von der französischen Firma selbst vertrieben wurde, verwendete man den Wirkstoff unter dem Handelsnamen Largactil hier schon ab Ende 1952. Sein Gebrauch wurde in der Psychiatrie mit Interesse aufgenommen.1 Auch in den USA wurde der Wirkstoff ab 1954 von der Firma SMITH, KLINE AND FRENCH LABORATORIES produziert und breit eingesetzt. Das Medikament wurde hier im Mai 1954 zugelassen und zunächst als Mittel gegen Übelkeit und Erbrechen verwendet. Erfolge des Wirkstoffs ließen sich an den genannten Indikationen sowie im Bereich von Anästhesie und Schmerzbehandlung am einfachsten evaluieren. Der Einsatz in der Psychiatrie und die Probleme einer Erfassung der psychotropen Effekte veranlassten das produzierende Unternehmen jedoch bereits im Jahr 1955, KlinikerInnen einzuladen, damit sie ihre Erfahrungen mit der neuen Substanz austauschen konnten.2 In der Bundesrepublik Deutschland wurde Chlorpromazin vergleichsweise früh, nämlich ab dem Jahr 1953, von der Firma BAYER produziert. Die »Farbfabriken BAYER AG« war erst im Jahr 1952 wieder gegründet worden,3 und der Pharmabereich des Unternehmens, der einst als »Apotheke der Welt« galt, drohte in dieser Zeit auf das Niveau eines mittelgroßen, 1 2 3
Vgl. Largactilsymposium an der Psychiatrischen Universitätsklinik Basel 1954. Chlorpromazine and Mental Health 1955. Rempen 1988; Meyer 2002, S. 125ff.
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national operierenden Pharmaproduzenten zurückzufallen.4 Dass man Chlorpromazin so frühzeitig einführte, war, wie beteiligte ForscherInnen schilderten, vor allem der Tatsache zuzuschreiben, dass es schon länger bestehende Geschäftsbeziehungen zwischen den Firmen BAYER und RHÔNE-POULENC gab.5 Schon während der deutschen Besatzungszeit in Frankreich hatte der BAYER-Vorgänger IG FARBEN versucht, die Mehrheit an der Firma RHÔNE-POULENC zu übernehmen, konnte sich jedoch nur die Anteile einer zu RHÔNE–POULENC gehörenden Vertriebsfirma aneignen.6 Im Rahmen solcher Beziehungen wurden Rechte an bestimmten Stoffgruppen in der Regel an die Partnerfirma im Nachbarland abgegeben, während man im Gegenzug das Recht für die Vermarktung anderer Substanzen im eigenen Land erhielt. Dieses Vorgehen erlaubte den Unternehmen, Schwerpunkte in der Entwicklung neuer Substanzen zu setzen, gleichzeitig aber an der Erprobung der jeweils anderen Firma zu partizipieren. Eine solches Netzwerk ermöglichte der Firma BAYER einen vergleichsweise frühen Zugang zur Stoffklasse der Phenothiazine, der durch ein Lizenzabkommen mit der Firma RHÔNE-POULENC vom 3. Januar 1950 vertraglich geregelt worden war.7 Während die BAYER-Pharmawerke vor dem Zweiten Weltkrieg zu den führenden Anbietern von Barbituraten gehört hatten,8 konnte das Unternehmen später als großer Anbieter im Bereich der neuen Psychopharmaka jedoch nicht mehr an die alten Erfolge anknüpfen. Neben dem ohnehin nicht von der Firma BAYER entwickelten Megaphen brachte das Unternehmen lediglich das Phenothiazinderivat Promazin unter dem Handelsnamen Verophen im Jahr 1957 auf den Markt. Obwohl der für den BAYER Pharmabereich zuständige Pharmakologe Wolfgang Wirth (1898 –1967) seit der Einführung des Megaphen einige Stoffe auf ihre psychopharmakologischen Eigenschaften getestet hatte, gelangen dem Unterneh-
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Bartmann 2003, S. 299. Rempen 1988. Meyer 2002, S. 84. Der Gewinn der IG FARBEN war in der Zeit der deutschen Besatzung beträchtlich, da in Frankreich, entsprechend dem Wunsch der IG FARBEN nach einem größeren Absatzmarkt, in den Jahren 1942 und 1943 884 kleine pharmazeutische Firmen geschlossen wurden. Rempen 1988. Das französische Unternehmen RHÔNE-POULENC erhielt das Recht, die von den IG FARBEN entwickelten Tuberkulosemittel, wie zum Beispiel Conteben, in Frankreich zu vertreiben sowie eine Option auf eventuelle weitere TBC-Präparate. Im Gegenzug durfte BAYER die Präparate Neo-Bridal und Atosil in den Handel bringen. Eine Option auf weitere Phenothiazine und Antihistaminika wurde gleichfalls erwähnt (vgl. Meyer 2002, S. 127). Vgl. zu den schon länger bestehenden Verbindungen zwischen BAYER und RHÔNE-POULENC in der Geschichte der Phenothiazine 2.5. So produzierte BAYER unter anderem Evipan, Luminal und Phanodorm.
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men keine Innovationen in diesem Bereich.9 Ohnehin hielt die arzneimittelproduzierende Sparte von BAYER in den 1950er Jahren ihr Kerngeschäft vor allem mit Altpräparaten und Lizenzen aufrecht und entwickelte kaum neue Produkte.10 Im Vergleich, insbesondere zu amerikanischen Pharmaunternehmen, investierte BAYER wenig Geld in die Forschung.11 Die Firma BAYER hatte also keine grundlegende pharmakologische Forschungs- und Entwicklungsarbeit für das Chlorpromazin geleistet, das sie unter dem Handelsnamen Megaphen einführte. Dennoch beschritt BAYER mit einer nationalen klinischen Erprobung und einer sich daraus entwickelnden Indikationsfindung sowie einer entsprechenden Vermarktung neue Wege. Die Ergebnisse von RHÔNE-POULENC dienten zwar als Grundgerüst, sie reichten BAYER aber für die Einführung der Substanz und für die damit verbundene Genese von Indikationen nicht aus. Anfang des Jahres 1953 begann das Unternehmen mit einer eigenen, breiten Erprobung in verschiedenen klinischen Bereichen wie der Chirurgie, der Inneren Medizin, der Gynäkologie und der Kinderheilkunde, in deren Rahmen das Unternehmen Chlorpromazin an ihnen bekannte ÄrztInnen schickte.12 Eine erste Veröffentlichung über die klinische Erprobung lieferten die Düsseldorfer Chirurgen W. Irmer und F. Koss im März 1953. Sie berichteten über einen Einsatz von Megaphen im Bereich der Narkosevorbereitung.13 Diese Publikation erhielt als erste Arbeit im Bereich der Pharmaforschung größere mediale Aufmerksamkeit in der BRD. So veröffentlichte das Nachrichtenmagazin Der Spiegel einen Aufsatz über das »Pulver 4560« und die wundersamen Erfolge des Kälteschlafs in der Chirurgie, von dem die beiden Chirurgen auf dem Deutschen Chirurgenkongress vor 2.000 MedizinerInnen berichtet hatten.14 Fast zeitgleich mit den ersten Erfolgsmeldungen aus der Chirurgie erhielten auch im Bereich der Psychiatrie mindestens fünf Psychiater das Mittel vor seiner Markteinführung im Juli 9
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Schadewaldt/Morich 1990, S. 44. Bei weiteren Präparaten handelte es sich ausschließlich um Lizenz- oder Kombinationspräparate. Von anderen AutorInnen werden noch die selbst entwickelten Neuroleptika Combelen (Propionylpromazin) und Randolectil (Butyrylperazin) erwähnt, die jedoch keine größere Bedeutung erlangt haben (Meyer 2002, S. 130). Bartmann 2003, S. 302. So gab die BAYER-Pharmaabteilung im Jahr 1958 10 Prozent des Inlandumsatzes für Forschung aus. Dem standen in den Jahren 1952–1961 12,2 Prozent für Werbung gegenüber (vgl. Bartmann 2003, S. 326). Dies ist auch auf die nach dem Zweiten Weltkrieg stark zerstörte Struktur des BAYER-Konzerns zurückzuführen. Diese ungefähre Zeitangabe ergibt eine Analyse der im Unternehmensarchiv der Firma BAYER aufbewahrten Veröffentlichungen. Ein exakter Zeitpunkt ist nicht zu bestimmen, da die Materialien lückenhaft waren. Irmer/Koss 1953. Von diesem Artikel wurden 3.000 Exemplare nachgedruckt. »Das Pulver 4560« In: Der Spiegel vom 15.04.1953.
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1953 zur Erprobung: Hans-Hermann Meyer (1909–2000), Privatdozent und Oberarzt an der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg, der Ordinarius der Psychiatrischen Universitätsklinik Erlangen-Nürnberg, Fritz Flügel (1897–1971), der Münchener Ordinarius Kurt Kolle (1898– 1975), der an der Berliner Nervenklinik »Waldhaus« beschäftigte Arzt Erhard Philipp und der Tübinger Psychiater Johannes Hirschmann (geboren 1910). Die drei erstgenannten Psychiater veröffentlichten ihre Versuchsergebnisse noch im gleichen Jahr.15 Anhand der Überprüfung von Unterlagen aus dem BAYER-Firmenarchiv ließen sich weitere Hinweise auf erste klinische Stichversuche nicht rekonstruieren.16 Eine staatlich kontrollierte Wirksamkeitsprüfung musste Chlorpromazin ohnehin nicht durchlaufen.17 Der genaue Zeitpunkt des Beginns einer ersten Versuchsreihe und die Form der Zusammenarbeit zwischen KlinikerInnen und pharmazeutischer Industrie ließen sich anhand archivalischer Quellen nicht genau bestimmen.18 In dieser Hinsicht muss sich meine Darstellung daher auf veröffentlichte Quellen stützen. Nur von Kurt Kolle ist bekannt, wie er die Substanz erhalten hat: So berichtete er in seiner ersten Veröffentlichung in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift, die BAYER-Werke seien im April des Jahres mit der Bitte, das Präparat in der Psychiatrie zu erproben, an ihn herangetreten.19 Nicolas Rasmussen hat für die USA der 1930er Jahre drei Arten der Zusammenarbeit zwischen pharmazeutischen Unternehmen und ÄrztInnen unterschieden: die sogenannten freien MitarbeiterInnen, die von der Pharmaindustrie lediglich das Mittel erhielten, sonst aber selbst darüber entscheiden konnten, ob oder was sie publizierten, die »freundlichen ExpertInnen«, die sich zwar freiwillig an die Firma wandten, aber für ihre Forschungsbemühungen Geld bekamen und in der Regel nur das gefällige Material veröffentlichten, und die »tüchtigen MitarbeiterInnen«, die normalerweise gegen Geld ein von den Pharmafirmen selbst vorgeschlagenes
15 Meyer 1953a; Flügel 1953a; Flügel 1953b; Kolle/Micorey 1953. Die Berichte der anderen beiden Psychiater finden sich in Südwestdeutsche Neurologen und Psychiater 1953 und Phillip 1955. 16 Vgl. eine entsprechende Anfrage beim Hauptstaatsarchiv Düsseldorf im April 2005. 17 Vgl. zur Situation in Deutschland II.V.; zur Situation in den USA Teil II, 1.2. 18 Weder eine Recherche im Unternehmensarchiv der Firma BAYER, noch eine Sichtung der Verwaltungsakten der Heidelberger Psychiatrie gaben darüber Aufschluss. 19 Neben Kolle berichtet auch Phillip 1955, dass er das Medikament im April 1953 von der Firma BAYER zur Erprobung zugesandt bekommen habe. Die übrigen Autoren machen zum Beginn der Erprobung keine Angaben. Es wird im Folgenden davon ausgegangen, dass sie die Substanz ebenfalls im April des Jahres zur Erprobung erhalten haben.
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Versuchsdesign durchführten und nur genehmigtes Material druckten.20 Über die genaue Form der Zusammenarbeit der Kliniker mit BAYER existiert kein Quellenmaterial. Es ist anzunehmen, dass es sich zumindest bei Kurt Kolle um einen »freien Mitarbeiter« gehandelt hat, denn dieser bemerkte in seinem Bericht über die Erprobung: »Die BAYER-Werke haben leider, entgegen meinem Rat, das Mittel bereits am 1. Juli für den Handel freigegeben.«21 Er selbst habe, trotz einiger ermutigender Resultate, eine längere Erprobung für unumgänglich gehalten.22 Der Heidelberger Psychiater Hans-Hermann Meyer lieferte mit seinem Bericht in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift von 1953 die deutsche Erstveröffentlichung und unterhielt auch weiter enge Verbindungen zur Firma BAYER.23 In einem einige Jahre später erschienenen Buch zu Megaphen verfasste er einen Beitrag über dessen Einsatz in der Psychiatrie.24 Sein erster Artikel wurde vom Unternehmen 3.000-mal nachgedruckt und an ÄrztInnen versandt.25 David Healy weist darauf hin, dass eine Verschickung von Journalartikeln als Produktmarketing wesentlich effektiver sei als die Pharmawerbung in Fachzeitschriften, da ein Fachartikel das beschriebene Psychopharmakon wissenschaftlich aufwerte.26 Aber auch der publizierende Arzt profitierte von einer solchen Veröffentlichung, da sein Text von einem ungleich größeren Teil der ÄrztInnen wahrgenommen wurde. Jean-Paul Gaudillière zeigt am Beispiel der ersten Erprobung eines Tuberkulosemittels der Firma BAYER in den Nachkriegsjahren die industriellen Wurzeln des klinischen Versuchs auf. Wie er herausarbeitet, konnte BAYER bereits vor dem Zweiten Weltkrieg auf einen Stamm von ArzneimitteltesterInnen unter deutschen KlinikerInnen zurückgreifen. Die
20 Rasmussen 2005. 21 Kolle/Micorey 1953, S. 1723. 22 Kolle/Micorey 1953. Konsequenterweise findet sich dieser Artikel im BAYER-Archiv nicht. Erst ein nächster Artikel aus dem Jahr 1954, der etwas positiver über den Einsatz berichtet, wird 1.000-mal nachgedruckt (vgl. Kolle/ Ruckdeschel 1954). 23 Ein etwas früher erschienener kurzer Artikel von Fritz Flügel ist eher als Vorbericht zu werten. 24 Meyer publizierte den Artikel nicht unter seinem Namen. Ein Vergleich des Buchbeitrags aus dem Jahr 1958 mit einer weiteren Veröffentlichung aus dem gleichen Jahr ergab jedoch, dass der Text nahezu identisch war (vgl. BAYER circa 1958 und Meyer 1958). 25 Nicht von allen Artikeln existiert eine genaue Angabe über die Nachdruckzahl. Bekannt ist aber, dass der Artikel von Phillip (1955) immerhin noch 2.000-mal nachgedruckt wurde (vgl. Phillip 1955). Artikel, die BAYER Ende der 1950er Jahre aus dem Bereich der Psychiatrie versandte, wurden häufig nur noch einige 100-mal nachgedruckt. Dies verdeutlicht auch die Wichtigkeit der ersten Veröffentlichungen im Bereich des Arzneimittelmarketings. 26 Healy 1997, S. 215.
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IG FARBEN unterhielt Büros in allen deutschen Großstädten, in denen neben dem Verwaltungspersonal auch PharmakologInnen und MedizinerInnen beschäftigt waren. Letztere sollten vor Ort Kontakt zu den erprobenden Krankenhäusern halten. Zur Aufgabe solcher Büros gehörte es meist auch, einen geeigneten Prüfer vorzuschlagen, sowie die Verteilung der Testsubstanz, das Einsammeln der Testergebnisse und die Weiterleitung derselben an BAYER vorzunehmen. Dieser Austausch war jedoch durch ein hohes Maß an informellen Kontakten bestimmt.27 Die MedizinerInnen sollten, wie Gaudillière verdeutlicht, vor allem Hinweise auf Toxizität und Nebenwirkungen erheben und der Firma zurückmelden. Für den therapeutischen Wert interessierte die pharmazeutische Industrie sich hingegen weniger, sie hielt die Evaluation der Arzneimittel vielmehr für ein Aufgabengebiet der Ärzteschaft.28 Mit Verordnungshinweisen hielt sich die Firma BAYER, wie Gaudillière aufzeigt, jedoch weitgehend zurück. Die Angaben der Firma enthielten lediglich Empfehlungen zur Dosierung und die Angabe möglicher Nebenwirkungen. Die Indikationen, auf die hin ein Präparat klinisch erprobt wurde, blieben hingegen dem erprobenden Arzt überlassen. Obwohl die therapeutischen Effekte rein klinisch beurteilt wurden und die Aufzeichnungen darüber im Krankenhaus verblieben, erhielten die BAYER-Werke im Einzelfall auch einen Einblick in ganze Krankenakten. In anderen Fällen wurden sie mit Auszügen aus diesen versorgt, die Angaben zur Aufnahme, eine kurze Verlaufsbeschreibung und den Arztbrief enthielten.29 Die ersten Spuren zur Beurteilung eines therapeutischen Effekts lassen sich, wie daran deutlich wird, in den Krankenakten der erprobenden Kliniken finden. Um dem Weg der Entwicklung erster Vorstellungen über die Effekte des Megaphens zu folgen, wird im Folgenden die Erprobung des Präparats an der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg rekonstruiert. Die Heidelberger Klinik nahm für die Erprobung der Substanz eine herausgehobene Stellung ein – lediglich Fritz Flügel, der Ordinarius der Psychiatrischen Universitätsklinik Erlangen Nürnberg, veröffentlichte bis 1960 vergleichbar häufig über Megaphen.30 Die Nürnberger Universitätspsychiatrie verfügt jedoch nur noch über einzelne Krankenakten,31 während in 27 Gaudillière [ca. 2010]. Die Ergebnisse wurden oft telefonisch, durch direkten Besuch oder durch schriftliche Abfrage erhoben. Aus diesem Grund finden sie sich in den Archiven von pharmazeutischer Industrie und Klinik häufig nicht. 28 Gaudillière [ca. 2010]. 29 Gaudillière [ca. 2010]. 30 Zu den Veröffentlichungen Meyers vgl. Meyer 1953a, 1955b, 1956, 1957a und b, 1958, 1959a und b. Zu den Veröffentlichungen Flügels vgl. Flügel 1953a–b, 1954, 1956, 1957a–c, 1958, 1959a–c. 31 Mir wurde dies auf eine entsprechende Anfrage an die Psychiatrische Universitätsklinik Erlangen-Nürnberg vom Juni 2005 mitgeteilt. Zur Erprobung
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der Heidelberger Universitätspsychiatrie ein bis auf den »natürlichen Aktenschwund« vollständiger Bestand erhalten ist. Der Heidelberger Bestand versprach also, auch eine Rekonstruktion der ersten tastenden Versuche der Erprobung des Megaphens zu ermöglichen und so das Verhältnis von Labor und Klinik besser nachvollziehen zu können. Es soll zunächst beschrieben werden, auf welchem Weg das neue Medikament in die Heidelberger Klinik kam und auf welche Rahmenbedingungen die klinische Erprobung stieß.
Der Weg des Megaphens in die Heidelberger Klinik Schon der Beginn der Erprobung des Megaphens in der Heidelberger Psychiatrie lässt einige Fragen offen, so auch diejenige nach dem Weg, auf dem das Megaphen in die Klinik gelangte. Möglich ist, dass die Substanz von Hans-Hermann Meyer, dem Protagonisten der psychopharmakologischen Therapie, auf Anfrage direkt von der Firma RHÔNE-POULENC, die zu diesem Zeitpunkt als einzige Firma die Substanz produzierte, angeliefert wurde.32 Das Mittel könnte aber auch über den Umweg der Firma BAYER an die Heidelberger Klinik gelangt sein, denn das Unternehmen wollte das Medikament für den deutschen Markt herstellen.33 Erst der Kontext der Medikamentenlieferungen, den ich den Verwaltungsakten der Heidelberger Klinik entnehmen konnte, lässt eine dieser Varianten plausibler erscheinen. In den genannten Verwaltungsdokumenten der Heidelberger Kliniken erfährt man vor allem Details über die Lieferung anderer Arzneimittel an die Psychiatrie. So enthält die Medizinalakte Schreiben an die Apotheke des Krankenhauses, die über Lieferungen von Medikamenten berichten.34Aus den genannten Briefen erfährt man, dass diese Medikamente in der Nachkriegszeit zunächst zum Teil kostenlos von der herstellenden Firma bezogen wurden, später dann zu – gegenüber dem Marktpreis – reduzierten Preisen.35 Dies legt die Vermutung nahe, dass die Klinik auch Megaphen zunächst kostenlos erhielt. Die Erklärung scheint auch in dem Kontext plausibel, dass die Firma BAYER in den 1950er Jahren bereits
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von Megaphen an der Psychiatrischen Universitätsklinik Nürnberg vgl. Breuer 2007. Vgl. zu dieser Überlieferung das Zeitzeugeninterview von Balz/Schmitt vom 02.04.2007. So berichtet es Kurt Kolle in seiner Überlieferung der Ersterprobung für die Münchner Universitätsklinik (vgl. Kolle/Micorey 1953). Hier wird vor allem ein Bezug von Citrullamon V Tabletten und Neosalvarsan im Jahr 1946 aufgeführt. PUH, VA Medizinalwesen, Schreiben an die Apotheke des akademischen Krankenhauses Heidelberg vom 08.06.1946 und Schreiben des Herstellers an die Klinik vom 28.12.1948.
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über Medikamentenproben verfügte, die sie ÄrztInnen in größerem Maße zur Verfügung stellte.36 Am Beispiel einer in den Akten abgelegten Information über Neosalvarsan, das ebenfalls von BAYER hergestellt wurde, wird deutlich, dass die Kliniken beim Auftreten von unerwünschten Wirkungen vom Gesundheitsamt informiert wurden, was in diesem Fall dazu führte, dass man die Substanz nicht mehr verwendete.37 Es bestand also bereits in der Nachkriegszeit ein Netz zur Übermittlung unerwünschter Arzneimittelwirkungen.38 Weitere Dokumente geben darüber Auskunft, dass die wirtschaftliche Lage Ende der 1940er Jahre immer noch so außerordentlich schlecht war, dass selbst die Versorgung mit den als am notwendigsten angesehenen Medikamenten in der Psychiatrie – genannt werden hier Penicillin, Streptomycin und Insulin – kaum sichergestellt werden konnte. Deshalb wurde darum gebeten, PrivatpatientInnen die Mittel sofort in Rechnung zu stellen, um finanzielle Liquiditätsprobleme überbrücken zu können.39 Dass auch im Jahr 1953 die Klinik kaum Geld hatte, um andere somatische Kuren zu begleichen, wird anhand der Korrespondenz über den Sauerstoffverbrauch deutlich, dessen Einkaufspreis mit der Firma, von der man sie bezogen hatte, nachverhandelt und gesenkt werden sollte.40 Über den Bezug von Megaphen selbst ist in den Verwaltungsakten keine Dokumentation erhalten. Vor diesem Hintergrund ist jedoch davon auszugehen, dass man in Heidelberg zumindest kaum Geld für die Bereitstellung der Substanz ausgegeben hat. Wie andere Quellen belegen, war es schon in den 1950er Jahren durchaus üblich, dass die Klinikärzte das Mittel für einen gewissen Zeitraum der Erprobung kostenlos gestellt bekamen.41 Im Einkaufspreis war das Medikament hingegen teuer. So kostete ein Röhrchen des Medikaments mit 20 Dragees zu 0,025 g im freien Verkauf 3,60 DM. Dies entsprach zwei Tagesdosen, wenn man eine tägliche Verabreichung von 250 mg zugrunde legt.42 Zusammenfassend gesehen ist 36 Vgl. Bartmann 2003, S. 326. 37 PUH, VA Medizinalwesen, Schreiben des Innenministeriums Nr. X1339 vom 16.05.1946 an die Gesundheitsämter. Es handelte sich hier um von der Firma BAYER in Ungarn hergestelltes Neosalvarsan, nach dessen Verwendung schwerste Dermatitis festgestellt wurde. 38 Diese wurden systematisch erst Ende der 1970er Jahre von der Arzneimittelkommission deutscher Ärzteschaft gesammelt (vgl. Arzneimittelkommission deutscher Ärzteschaft 1974). 39 PUH, VA Medizinalwesen, Schreiben der Krankenhausapotheke an Kurt Schneider vom 28.12.1948. 40 PUH,VA Medizinalwesen, Schreiben der Verwaltung der klinischen Universitätsanstalten Heidelberg an die Psychiatrische Universitätsklinik Heidelberg vom 18.05.1953. 41 Kuhn 1988, S. 18. 42 Rote Liste 1954, S. 516. Umgerechnet kostete die Medikation pro Person also 1,80 DM pro Tag, wenn man den Einkaufspreis in der Apotheke zugrunde legt. Es ist jedoch davon auszugehen, dass Krankenhäuser die Medikamente
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zu vermuten, dass die Heidelberger Klinik zumindest in der ersten Zeit der Verwendung von Megaphen das Mittel umsonst erhalten hat. Der Psychiater Roland Kuhn berichtet am Beispiel des von ihm erprobten ersten Antidepressivums Imipramin, dass es Anfang der 1950er Jahre in der Psychiatrie üblich war, zumindest für die Erprobung von der pharmazeutischen Firma entsprechende Substanzen umsonst zur Verfügung gestellt zu bekommen.43 Über den Kontext der Medikamentenversuche hinaus ist jedoch zu fragen, welche Rolle der spezielle Rahmen der Heidelberger Klinik für die Erprobung des Wirkstoffs gespielt hat. Die lokalen Gegebenheiten der Heidelberger Klinik waren für einen ersten Begriff von Wirksamkeit des neuen Medikaments durchaus entscheidend. Sie sollen deshalb im Folgenden einer eingehenderen Analyse unterzogen werden.
zu einem sehr viel günstigeren Preis bezogen haben, weil sie Großverbraucher waren und die Nutzung des Medikaments auch für die produzierende Firma einen zukünftig größeren Absatzmarkt versprach. Der Tagessatz in der Heidelberger Klinik betrug im Jahr 1953 in der 1. Klasse 18,- DM, in der 2. Klasse 11,10 DM und in der 3. Klasse 7,80 DM, zuzüglich 1,60 DM Nebenkostenpauschale. Die meisten PatientInnen waren in der 2. Klasse untergebracht (vgl. PUH, VA Allgemeines, Verwaltung der Klinischen Universitätsanstalten Heidelberg: Pflegesätze, Heidelberg 17.08.1953). Die Medikamentenkosten waren also keine zu vernachlässigende Größe. 43 Kuhn 1988, S. 18.
2 . Die Gesc hichte der Ps yc hi atris c he n Uni versitätsklinik Heidelberg zw isc he n 1933 und 196 0
Zunächst möchte ich den institutionsgeschichtlichen Kontext der Heidelberger Klinik nachzeichnen. Die Kulturen des Experimentierens und die Bildung eines ersten Wirksamkeitsbegriffs sind eng an die Geschichte der Psychiatrischen Klinik gebunden. Wenn, wie ich ausgeführt habe, die Effekte des ersten Neuroleptikums als konstruierte zu verstehen sind, bedarf es einer eingehenderen Beschreibung des klinischen Umfelds. Eine im Folgenden vorgenommene erste Annäherung an die Geschichte der Heidelberger Universitätspsychiatrie beschränkt sich auf die Zeit des Nationalsozialismus’ und die Eckpunkte ihrer Geschichte nach 1945.
2.1 Vor 1953: Vergangenheitspolitiken Wie für die gesamte Medizin bedeutete auch für die Heidelberger Psychiatrie die Ära des Nationalsozialismus’ einen tiefgreifenden Einschnitt. Das Jahr 1933 markierte mit der Machtergreifung der NSDAP einen grundlegenden Wandel in der Tradition der Heidelberger Psychiatrischen Universitätsklinik. Das Krankenhaus war durch bekannte Vertreter wie zum Beispiel ihren ehemaligen Leiter Emil Kraepelin (1856–1926) berühmt geworden und wurde zu diesem Zeitpunkt von dem Psychiater Karl Wilmanns (1873–1945) geleitet.1 Letzterer war unter anderem durch seine
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Wilmanns hatte die Leitung der Psychiatrischen Universitätsklinik nach dem Ersten Weltkrieg übernommen, nachdem die Leitung u.a. von Karl Jaspers (1883–1969) und Robert Gaupp (1870–1953) aus gesundheitlichen Gründen
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Beteiligung an der Aushandlung eines deutschen Diagnosesystems – des Würzburger Schlüssels, der im Jahr 1933 zum ersten Mal erschien – zu großer Bekanntheit gelangt. Im Jahr 1932 lehrten an der gesamten Heidelberger Universität 214 Professoren, davon 59 Lehrstuhlinhaber. Etwa die Hälfte der circa 3.400 Studenten hatte Medizin belegt. Obwohl die Universität Heidelberg noch in der Weimarer Republik als akademische Hochburg des neuen Deutschlands galt, die Werte wie Liberalität, Toleranz und Vorurteilslosigkeit symbolisierte, erreichte der NS-Studentenblock schon 1933 bei den AStA-Wahlen fast 50 Prozent der Stimmen.2 Ein folgenreiches Ereignis stellte das am 7. April desselben Jahres durch den Badischen Reichskommissar und kommissarischen Innenminister von Baden Robert Wagner (1895–1946) erlassene »Reichsgesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« dar, das politische Missliebigkeit und nicht-arische Herkunft als Gründe für eine Entlassung nicht erwünschter HochschulmitarbeiterInnen vorsah.3 Der Ordinarius der Psychiatrischen Universitätsklinik, Karl Wilmanns, wurde noch im gleichen Jahr auf der Grundlage des Gesetzes wegen seiner politischen Haltung des Dienstes enthoben.4 Neuer Leiter wurde der Psychiater Carl Schneider (1891–1946), der wegen seiner Rolle in der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik zu zweifelhafter Berühmtheit gelangen sollte.
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abgelehnt worden war (vgl. Müller-Küppers 2004, S. 16; Rotzoll/Hohendorf 2006, S. 910). Wolgast 1990, S. 166. Eckart/Sellin/Wolgast 2006, S. 5. Das Schicksal der Entlassung teilte Wilmanns mit vielen KollegInnen an seiner Fakultät, unter anderem auch mit dem bekannten Psychiater Willy Mayer-Gross, der wegen nicht-arischer Abstammung entlassen wurde und in die USA emigrierte. Insgesamt lag die Zahl der durch die Gleichschaltung entlassenen Ordinarien mit 35,6 Prozent über dem Reichsdurchschnitt (28 Prozent). Gerade die späteren Ordinarien der Heidelberger Psychiatrischen Universitätsklinik waren in der Zeit des Nationalsozialismus durch eine ablehnende Haltung gegenüber der braunen Regierung aufgefallen: So lehnte Kurt Schneider mehrere Berufungen in dieser Zeit ab, Walter Ritter von Baeyer entzog sich dem für ihn erkennbaren Konflikt einer politischen Instrumentalisierung der Psychiatrie, indem er sich freiwillig als Sanitätsoffizier meldete (vgl. Schott/Tölle 2006, S. 186). Rotzoll/Hohendorff 2006. Wilmanns wurde vorgeworfen, er habe den Führer verächtlich gemacht und »wiederholt erklärt, die Kriegserblindung Adolf Hitlers stelle eine hysterische Reaktion dar«. Zudem habe Wilmanns erklärt: »Ich würde mich nicht wundern, wenn es heißt, Herr Hitler ist im Irrenhaus gelandet« (Ministerium des Kultus und Unterricht, Universität Heidelberg, Nr. 233/24206, zitiert nach Rotzoll/Hohendorf 2006, S. 913).
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2 . 2 S o z i a l p s yc h i a t e r u n d E u t h a n a s i e m ö r d e r ? Carl Schneider Der Psychiater Carl Schneider blieb in seiner Tätigkeit als Psychiater eine umstrittene Figur. Er symbolisierte wie wohl kein zweiter deutscher Psychiater den Status eines Grenzgängers zwischen einer »sozialen Psychiatrie« und einer radikalen Vernichtungspolitik. In seiner ersten Zeit als Psychiater von 1920 bis 1922 arbeitete Carl Schneider an Oswald Bumkes (1877–1950) Schrift »Kultur und Entartung« mit, welche die »Entartung« aus sozialen Bedingungen heraus erklärte, jedoch mit einer deutlichen Stellungnahme gegen Sterilisation und Kastration schloss. Nachdem er im Jahr 1930 leitender Arzt der Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel geworden war, formulierte Schneider erstmals mit Paul Nitsche (1876–1948) zusammen sozialhygienische Konzepte, die später NS-Gedankengut werden sollten.5 Eine seiner ersten Tätigkeiten als Ordinarius der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg, der er ab November 1933 vorstand, war der Ausbau der Arbeits- und Beschäftigungstherapie.6 1939 veröffentlichte Carl Schneider sein berühmtes Buch »Behandlung und Verhütung der Geisteskrankheiten«, das die Arbeitstherapie ins Zentrum stellte und sich zum Ziel setzte, die sozialen Therapieformen in das Schema der exakt überprüfbaren Naturwissenschaft zu überführen.7 Schneiders Bemühungen einer Verwissenschaftlichung der Sozialtherapieformen sind gleichwohl auch auf mangelnde therapeutische Erfolge der somatischen Verfahren zurückzuführen. In der Rezeption des Werkes von Carl Schneider ist bis heute umstritten geblieben, ob die Betonung des Sozialen in der Psychiatrie tatsächlich in dieser ersten Phase seines Wirkens einer Humanisierung der Psychiatrie diente, oder ob es eine lineare Beziehung zwischen dem Gedanken der Arbeitstherapie auf der einen und der Vernichtung »unwerten Lebens« auf der anderen Seite gegeben habe.8 Die Rolle Carl Schneiders als Sozialpsychiater ist jedoch auch vor dem Hintergrund des zeitgenössischen Begriffs der »Sozialen Psychiatrie« zu fassen: Die Definition dieses Begriffs war gerade im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts weit gefasst und beschrieb vielfach eher
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Nitsche wurde später zusammen mit dem Psychiater Werner Heyde (1902– 1964) medizinischer Leiter der Aktion T4 und leitete die Anstalt Sonnenberg, die zu einer der zentralen Vernichtungsanstalten wurde (vgl. Schott/ Tölle 2006, S. 180; Rotzoll/ Hohendorf 2006, S.914-920). Becker-von Rose 1990. Bereits 1932 war Schneider NSDAP-Mitglied geworden und hatte den Lehrstuhl wohl aus politischen Gründen auch ohne Habilitation erhalten (vgl. Schott/Tölle 2006, S. 180). Schneider 1939. Becker-von Rose 1990.
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die Interessen von Gruppen als die von Individuen.9 Auch im Folgenden zeichnete sich Schneider durch die Aufnahme scheinbar innovativer Elemente in seine Forschungsbestrebungen aus, die er mit seinen Euthanasieverbrechen verband.10 Spätestens seit dem Sommer 1939 war Carl Schneider in die erste große psychiatrische »Euthanasieaktion« eingebunden, die zwischen den Jahren 1939 und 1941 circa 70.000 PsychiatriepatientInnen das Leben kostete. Im August 1941 stellte man die Aktion zunächst aufgrund der Beunruhigung der Bevölkerung und kirchlicher Proteste ein.11 Ab Juli 1940 wurde Schneider schließlich Obergutachter der Tiergartenstraße 4 (T4), der zentralen Stelle des NS-Regimes, in der weitere Euthanasieaktionen an PatientInnen geplant wurden. Strittig bleibt in der neueren Forschungsliteratur zur NS-Geschichte, ob schon mit Beginn der Euthanasieaktion eine systematische Vernichtungspolitik geplant war. Während Ernst Klee von einer zentral gesteuerten Ermordung ausgeht,12 vertritt Hans-Walter Schmuhl die Ansicht, dass es einen solchen Masterplan wohl nicht gegeben habe. Vielmehr habe sich auch die Tötung von »psychisch Kranken« und geistig Behinderten durch ein Zusammenspiel ideologischer Vorgaben und struktureller Rahmenbedingungen ausgezeichnet, das sich regional unterschiedlich gestaltet habe.13 Betrachtet man vor dem Hintergrund dieser Auseinandersetzungen die Entwicklung der Heidelberger Euthanasiebestrebungen, so spricht die Freiheit, die Carl Schneider offenbar bei seinen eigenen Heidelberger Versuchen im Rahmen der Euthanasieaktion genoss, für die These Schmuhls. Schneider verfolgte die Idee, in Wiesloch und Brandenburg/Görden14 Forschungsstellen zu gründen, in denen die PatientInnen vor ihrer Tötung eingehend psychologisch und physiologisch untersucht werden konnten, um den klinischen Befund nach Tötung und Sektion der Opfer mit dem neuroanatomischen Befund zu vergleichen.15 Dabei sollte die »Euthanasieaktion« in ein umfassendes Forschungskonzept eingebunden werden, das vorsah, »behandelbare« Kranke mit neuen, aktiven Verfahren zu therapieren, Verbleibende zur Arbeit heranzuziehen und den Rest zu töten. Die
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Schmiedebach/Priebe 2004, S. 449ff. Die Autoren betonen, dass im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts der Begriff »Sozialpsychiatrie« mehr durch pragmatische Interessen wie Kostensenkung und Entleerung überfüllter Asyle geprägt worden sei als durch humanitäre Aspekte. Hohendorf/Roelcke/Rotzoll 1999. Roelcke/Hohendorf/Rotzoll 2001. Klee 1990. Schmuhl 2001. Zusammen mit dem Psychiater Hans Heinze (1895–1983). Becker-von Rose 1990.
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Selektion sollte nach »wissenschaftlich fundierten Kriterien« erfolgen.16 Eine vollständige Durchführung der Versuche inklusive einer nachfolgenden histopathologischen Untersuchung schloss so schon in der Planungsphase den Tod der Versuchspersonen mit ein.17 Für die Psychiatrische Universitätsklinik Heidelberg bedeuteten die Nationalsozialistische Ära und die Vorgaben zur Euthanasie auch eine Erweiterung ihrer Forschungsmöglichkeiten, denn, wie Hans-Walter Schmuhl betont: »Für diese planende Intelligenz bedeutete das Herrschaftssystem des Nationalsozialismus nicht Zwang und Anpassungsdruck, sondern – ganz im Gegenteil – eine enorme Erweiterung ihrer Handlungsspielräume.«18 Ab dem Beginn des Jahres 1942 wurde in der Psychiatrischen Klinik Wiesloch eine Außenabteilung der Heidelberger Psychiatrischen Universitätsklinik eingerichtet, die als Beobachtungs- und Forschungsabteilung diente. Hier sollten die PatientInnen vor ihrer Tötung eingehend untersucht werden.19 Im März 1943 wurde die Außenstelle aufgrund der Kriegsumstände geschlossen und ab diesem Zeitpunkt in der Psychiatrischen Universitätsklinik selbst weitergeführt. Zentraler Bestandteil der vorgenommenen Untersuchungen war die Unterscheidung zwischen angeborenem und erworbenem Schwachsinn bei Kindern. Die Ergebnisse des Versuchs sollten effizientere biopolitische Maßnahmen ermöglichen, die bei den Kindern den »erworbenen Schwachsinn« vermindern sollten, indem man die Eltern beriet. Dies sollte dazu führen, die als »Idioten« Bezeichneten wieder in die Volksgemeinschaft einzugliedern. Zugleich versuchten die Ärzte den »angeborenen Schwachsinn« durch Tötung aus der Welt zu schaffen.20 Bis Anfang des Jahres 1945 wurden in Heidelberg 52 geistig behinderte Kinder untersucht und anschließend durch Luminalverabreichung getötet. Die Befunde der ermordeten Kinder wurden histopathologisch erforscht.21 Dabei unterwarfen die ForscherInnen die Kinder
16 Dieses »Forschungskonzept« wurde maßgeblich von dem Psychiater Ernst Rüdin (1874–1952) propagiert, der ein führender Kopf der rassenhygienischen psychiatrischen Erbforschung und seit 1935 Vorsitzender der zwangsvereinigten Deutschen Gesellschaften für Psychiatrie, Neurologie und Rassenhygiene war. Er selbst beteiligte sich nicht direkt an der Aktion T4, blieb jedoch ihr führender forschungspolitischer Kopf (vgl. Schott/Tölle 2006, S. 110. Ausführlich zu Ernst Rüdin vgl. Weber 1993). 17 Roelcke/Hohendorf/Rotzoll 2001. 18 Schmuhl 2001, S. 188. 19 Ungefähr zeitgleich wurde auch in Brandenburg/Görden eine solche Forschungsstelle eingerichtet. In der Außenstelle in Heidelberg Wiesloch wurden die Psychiater Hans-Joachim Rauch (1909–1997), Fritz Schmieder und Carl-Friedrich Wendt (1912–1989) eingesetzt. 20 Roelcke/Hohendorf/Rotzoll 2001. 21 Hohendorf/Roelcke/Rotzoll 1999. Die Gehirne wurden von Prof. Rauch histopathologisch untersucht. Die Kinder wurden zum größten Teil aus der nahe
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schmerzhaften Injektionen und Tests.22 Diese als »Kindereuthanasie« bekannt gewordenen Versuche an den Kleinsten in der Psychiatrischen Universitätsklinik seien aber, wie Gerrit Hohendorf, Volker Roelcke und Maike Rotzoll betonen, letztlich alle nach den Gesetzen der Zeit legal gewesen. Es habe hier nicht der Vernichtungswille im Vordergrund gestanden. Vielmehr sei es der unbedingte Wunsch nach Innovation gewesen, der die Beteiligten die Experimente an Kindern ohne ethische Restriktionen bis zum Tod der PatientInnen durchführen ließ.23 Folgt man dieser Argumentation, sind die Heidelberger Versuche als radikale Ausblendung menschlicher Subjektivität und ihrer Unterordnung unter ein experimentelles Dispositiv zu verstehen, das in der psychiatrischen NS-Forschung seinen Höhepunkt erreichte.24 Es ist dieser spezifische institutionelle Hintergrund, der die Frage aufkommen lässt, welche institutionellen Kontinuitäten und Brüche knapp eine Dekade später in den Vorstellungen vom klinischen Versuch in der Psychopharmakaerprobung festzumachen sind.
2 . 3 E i n S c h r i t t z u r ü c k n a c h vo r n : K u r t S c h n e i d e r Das Kriegsende bildete auch eine Zäsur hinsichtlich der Klinikleitung, die ab Ende 1945 von dem bekannten Psychopathologen Kurt Schneider übernommen wurde. Er blieb bis zu seiner Emeritierung 1955 Ordinarius.25
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gelegenen Anstalt Eichberg rekrutiert, einzelne Eltern schrieb Schneider aber auch selbst an. Hohendorf/Roelcke/Rotzoll 1997; Roelcke/Hohendorf/Rotzoll 2001. Dabei wurden die Kinder zum Beispiel »Funktionsprüfungen« unterzogen und abwechselnd in kaltes und heißes Wasser getaucht, um ihre Reaktionsfähigkeit zu testen. Auch der Einfluss von »Schlägen« als Erziehungsmaßnahme wurde getestet. Ein Kind verstarb während der Versuche an den Folgen der »Prüfungen«. Hohendorf/Rotzoll/Roelcke 1997, S. 94f. Diese betonen ausdrücklich die Kontinuitäten, die eine moderne Psychiatrie betreibe, wenn sie nicht nach der Zustimmung des Patienten und dem Wohl des Einzelnen frage, sondern therapeutische Maßnahmen mit dem Gemeinwohl und den Fortschritten der Medizin begründe. Carl Schneider flüchtete im Jahr 1945 beim Einmarsch der Alliierten aus Heidelberg, ließ sich kurzfristig als Patient der Psychiatrischen Universitätsklinik Erlangen aufnehmen, wurde jedoch schon kurz darauf erkannt, verhaftet und an die Frankfurter Staatsanwaltschaft ausgeliefert. Nachdem er die drohende Verurteilung zum Tode wegen seiner Beteiligung an der Aktion T4 realisiert hatte, nahm er sich im Gefängnis das Leben (vgl. Rotzoll/Hohendorf 2007). Nach Kriegsende war die Leitung zunächst von Hans-Joachim Rauch übernommen worden. Aufgrund polizeilicher Ermittlungen wegen seiner Beteiligung an der Euthanasieaktion wurde die Leitung ab Juni 1945 kurzzeitig zunächst von Heinrich Kranz (1901–1979) übernommen.
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Nach der Ära Carl Schneiders erhielt die Psychiatrische Universitätsklinik nun einen Chefarzt, der als politisch unbelastet galt.26 Obwohl Kurt Schneider wegen der Namensverwandtschaft mit seinem Vorgänger Carl Schneider lange gezögert haben soll, den Ruf nach Heidelberg anzunehmen, schien er sich im Folgenden wenig mit der Klinikvergangenheit auseinanderzusetzen.27 Wie auch Karl Jaspers (1883–1969) hielt Schneider die Beschäftigung mit den NS-Euthanasieverbrechen für nicht verkraftbar und fürchtete, man würde durch eine radikale Aufklärungs- und Entnazifizierungspolitik den Wiederaufbau der Klinik schädigen.28 Zur Vergangenheit seiner an der Euthanasieaktion beteiligten MitarbeiterInnen bezog er selten offen Stellung und ermöglichte ihnen damit eine weitere Tätigkeit an der Klinik.29 Auch in seinen Publikationen widmete er sich der NSVergangenheit nicht. Sein großes Interesse galt der Psychopathologie, für deren Neufassung er bis heute berühmt ist. Ausführlich entwickelte er diese in seinem Buch »Klinische Psychopathologie«.30 Die Konzeption des Werkes lässt unschwer erkennen, dass ihm im Wesentlichen an einer Systematisierung des Wahnsinns gelegen war.31 In seiner »Klinischen Psychopathologie« bezog sich Kurt Schneider auf den als Phänomenologen bekannt gewordenen Psychiater und Philosophen Karl Jaspers, welcher der von Emil Kraepelin begründeten »Objektiven Psychopathologie« eine subjektive Psychopathologie an die Seite gestellt hatte. Die von Karl Jaspers
26 Rotzoll/Hohendorf 2007. Im Krieg arbeitete Kurt Schneider zunächst als Oberstabsarzt der Reserve und psychiatrischer Sachverständiger. Mehrere Rufe auf Lehrstühle an psychiatrischen Kliniken lehnte er in der NS-Zeit ab. Die politische Unbelastetheit von Kurt Schneider ist von mehreren ForscherInnen belegt worden (vgl. Mitscherlich/Mielke 1948/1990; Schott/ Tölle 2006). 27 Rotzoll/Hohendorf 2007. 28 Rotzoll/Hohendorf 2007. Zur Rolle von Karl Jaspers und seiner mangelnden Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit vgl. auch Roelcke 2004. 29 So betonen Rotzoll/Hohendorf 2007, dass Kurt Schneider als Vorsitzender der »politischen Kommission« des Senats der Medizinischen Fakultät bei eingehenderer Beschäftigung mit der NS-Geschichte der Klinik eine andere Position zu seinen Mitarbeitern Wendt und Rauch hätte einnehmen müssen. Ob er nicht indirekt doch versucht hat, die genannten Mitarbeiter durch die Einstellung neuer leitender Psychiater in seinem Lehrkörper zu ersetzen, bleibt eine offene Frage. So schildert Hans-Hermann Meyer in seinen Lebenserinnerungen über seine Berufung nach Heidelberg: »Kurt Schneider hatte mir, wie er mich nach Heidelberg engagierte, vorgeschlagen, das dortige neuropathologische Laboratorium [...] zu leiten. Er wusste damals nicht, dass Hans-Joachim Rauch, der später dann vor allen Dingen auch die forensische Psychiatrie in Heidelberg vertrat, seit Jahren dort tätig war. Aus diesen Gründen habe ich, wenn auch schweren Herzens, auch des lieben Friedens willen, darauf verzichtet [...]« (Meyer 1977, S. 310). 30 Schneider 1959. 31 Schott/ Tölle 2006, S. 150ff.
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eingeführte Unterscheidung von psychologischem Verstehen und naturwissenschaftlich-kausalem Erklären von psychischen Erlebnissen wurde von Kurt Schneider weitgehend übernommen. Analog zu Jaspers markierte für Schneider die »Psychose« einen Grenzzustand, in dem seelische Entwicklungen nicht mehr in die Persönlichkeit integriert werden können und diese folglich nicht mehr verstehbar sind. Für Karl Jaspers und Kurt Schneider handelte es sich bei diesen Formen des Wahnsinns letztlich um unverständliche, nur kausal erklärbare Krankheitseinheiten.32 Kurt Schneider betonte dabei vor allem die Form der »psychischen Krankheiten« und ihre Differenzialdiagnostik. Für deren Inhalt interessierte er sich kaum. Seine begrifflich- systematische Orientierung trug ihm deshalb auch den Vorwurf ein, er würde eine scholastische Lehre betreiben, in welcher der Patient hinter den abstrakten Systemen verschwinde.33 Diesen Vorwurf einschränkend ist anzumerken, dass zwar die Ursache des Auftretens einer »Psychose« für Schneider nicht verständlich war, sich in ihren inhaltlichen Ausformungen jedoch seiner Meinung nach durchaus in »wahnhafter« Weise verarbeitete reale Erlebnisse wiederfinden konnten.34 Die genannten Krankheitseinheiten erweckten Schneiders besonderes Interesse, und so wollte er sein Krankengut an der Psychiatrischen Universitätsklinik auch auf die Psychosen einengen.35 Die Existenz von Neurosen leugnete er strikt.36 Obwohl Schneider die Orientierung an der Psychoanalyse in der Psychiatrie entschieden ablehnte, verwehrte er sich dennoch in besonderer Weise gegen die Bestrebungen Alexander Mitscherlichs (1908–1982), diese Forschungsrichtung in eine psychoanalytisch orientierte Psychosomatik in Heidelberg auszulagern, denn er befürchtete eine damit verbundene Transformierung seiner Universitätspsychiatrie in eine reine »Irrenklinik«, während die »psychogenen Störungen« in einem neu zu schaffenden psychosomatischen Institut behandelt würden.37 Die Psychiatrische Universitätsklinik Heidelberg um 1950 zeichnete sich deshalb durch ein
32 »Das heißt, das psychologische Verstehen endet an der Grenze der kausal wirkenden biologischen Mechanismen« (Schmitt 1990, S. 124). Ausführlicher zur Psychopathologie Karl Jaspers und der Unterscheidung zwischen Verstehen und Erklären vgl. Bormuth 2002. 33 Schott/Tölle 2006, S. 151. 34 Im Unterschied zu Jaspers schwächte Schneider damit den Unterschied zwischen Verstehen und Erklären leicht ab. Ausführlicher zur Psychopathologie vgl. Teil II, 2.1. 35 Rotzoll/Hohendorf 2007. 36 Schott/Tölle 2006. Einige zeitgenössische PsychiaterInnen bezeichneten seine Psychopathologie zwar als gesellschaftsfern und objektivierend, gleichwohl diente sie von den 1950er Jahren bis in die 1970er Jahre vielen als Orientierung. International setzten sich Elemente von Schneiders Psychopathologie erst mit DSM-III durch. 37 Roelcke 2004, S. 3.
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besonders auf die »Psychosen« fokussiertes Krankengut aus, ohne jedoch die »psychogenen Störungen« ganz aus dem Blick zu verlieren. Aufgrund seines großen Interesses an der Psychopathologie war Kurt Schneider auf eine besonders sorgfältige Führung seiner Krankenakten bedacht, die er als Quelle für seine psychopathologische Lehre nutzte. So führte Hans-Hermann Meyer in seinen Lebenserinnerungen aus: »Die Krankenblattunterlagen mußten sorgfältig geführt werden, besonders der psychopathologische Anteil. Kurt Schneider hasste die Verwendung des psychiatrischen Jargons, sondern verlangte eine verständliche und klare Sprache der psychopathologischen Phänomene. Er unterstrich für seine Vorlesungen das wesentliche mit einem grünen Stift in den Krankenblättern und machte auch Korrekturen, wenn ihm dieses und jenes nicht recht war. Das beschämte uns in besonderer Weise. Damals wurden auch noch regelmäßig Verläufe geschrieben, so daß die Krankenblätter ständig auf dem neusten Stand waren. Darauf war Kurt Schneider sehr bedacht, denn er ließ sich die Krankenblätter oft erst am Tage vor der Vorlesung kommen.«38
Die große Aufmerksamkeit, die Schneider der Psychopathologie entgegenbrachte und die er in seine eher scholastische Lehre umsetzte, lässt jedoch nicht umkehrt den Schluss zu, Schneider sei ausschließlich Somatiker, weil er die endogenen Psychosen ins Zentrum seiner Theorie rückte.39 Seine Psychopathologie engte er keinesfalls auf eine somatische Verursachung ein. In der Konsequenz warnte er auch vor der Anwendung der somatischen Verfahren in der Psychiatrie auf nicht somatisch erklärbare »psychische Störungen«, unabhängig davon, ob die Therapie auch hier effektiv wäre. So betonte Kurt Schneider mit Bezug auf die Schockverfahren: »Auch wenn es hülfe: nicht alles was hilft, ist erlaubt. Ständige Besinnung darauf, daß ein Schicksal keine Krankheit und kein Gegenstand der Medizin ist, möge vor solchem Imperialismus bewahren.«40 Die somatischen – und in der Konsequenz auch die späteren pharmakologischen – Therapien wollte er zunächst nur auf die endogene Psychosen angewendet sehen. Darüber hinaus setze eine Anwendung somatischer Therapien
38 Meyer 1977, S. 310. Dieser Fokus Kurt Schneiders, die Krankenakten als Forschungsmittel ernst zu nehmen, spiegelte sich auch in den von mir untersuchten Akten wider. Diese weisen neben einer sehr ausführlichen Exploration in der Regel auch nahezu tägliche Verlaufsbeschreibungen auf. 39 So unternimmt Sabine Hanrath eine Gegenüberstellung von dem »Somatiker« Kurt Schneider und den als Psychikern bezeichneten Phänomenologen um Erwin Strauss, Jürg Zutt und Ludwig Binswanger (vgl. Hanrath 2002, S. 305ff.). 40 Schneider 1947, S. 529.
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seiner Meinung nach eine exakte Diagnosestellung voraus.41 Letztendlich führte der psychopathologische Fokus Schneiders jedoch dazu, dass er sich für die klinisch-therapeutische Praxis in der Heidelberger Klinik in den 1950er Jahren recht wenig interessierte; deshalb trat auch die Beschäftigung mit neuen somatischen und therapeutischen Verfahren für ihn in den Hintergrund.42 Schon zu Beginn seiner Amtszeit übergab er die Verantwortlichkeit für die somatischen Therapieformen an Hans-Hermann Meyer, der im Folgenden zum Protagonisten der Psychopharmakatherapie werden sollte.43
2 . 4 An d e r S c h w e l l e z u r P s yc h o p h a r m a k o l o g i s c h e n R e vo l u t i o n : D i e P s yc h i a t r i s c h e U n i ve r s i t ä t s k l i n i k u n d i h r e V e r g a n g e n h e i t s b ew ä l t i g u n g Die mangelhafte Aufklärungspolitik der Heidelberger Universitätspsychiatrie unter Kurt Schneider hinsichtlich ihrer NS-Vergangenheit wird an einem Beispiel besonders deutlich: Der an der Kindereuthanasie beteiligte Carl-Friedrich Wendt (1912–1989), der im Rahmen der Entnazifizierung zunächst vom Dienst suspendiert worden war, konnte schon ab 1947 wieder an der Klinik arbeiten, nachdem Schneider ihn in einer Stellungnahme lediglich als Mitläufer eingestuft hatte.44 Gleichzeitig verweigerte die Leitung an der Heidelberger Medizinischen Fakultät im Jahr 1953 einem Mitarbeiter des Heidelberger Psychosomatikers Viktor von Weizsäcker (1886–1957) die Habilitation, weil der zu Prüfende in einer Zeile angemerkt hatte, dass es noch immer keine Stellungnahme der Fakultät zu den hundertfachen Patientenmorden des ehemaligen Leiters der Psychiatrischen Universitätsklinik, Carl Schneider, gebe, der bis zuletzt ein angesehenes Mitglied der Fakultät geblieben sei.45 Diese Großzügigkeit der Nachkriegsjahre, die sich dadurch auszeichnete, das man schnell bereit war, den TäterInnen zu verzeihen, bildete sich auch in der Diskussion um den im Jahr 1947 erstmals erschienenen Bericht Alexander Mitscherlichs und Fred Mielkes über die in den Nürnberger Prozessen verhandelten Verbrechen der Medizin im Nationalsozialismus ab. Während Einzelne das Werk als Verleumdung betrachteten, wurde die 41 Schneider 1947, S. 530 betonte mit Bezug auf die zugrunde liegende Diagnose: »Ist diese verschwommen und falsch gewesen, weiß man überhaupt nicht, was man tat und ausrichtete. Die Therapie wäre blind.« 42 Vgl. Rotzoll/Hohendorf 2007. 43 Vgl. Meyer 1977, S. 311. 44 Rotzoll/Hohendorf 2007. 45 Laufs in Becker-von Rose 1990.
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erste – 1948 an 10.000 ÄrztInnen verschickte – Fassung vor allem totgeschwiegen: Es erschien in den folgenden Jahren keine einzige Rezension.46 Die Tabuisierung der NS-Vergangenheit war für die gesamte bundesdeutsche Psychiatrie bis weit in die 1960er Jahre hinein bestimmend.47 Während auf der einen Seite eine offene Auseinandersetzung der bundesdeutschen Psychiatrie mit den Euthanasieverbrechen in den Nachkriegsjahren kaum möglich schien, hebt Volker Roelcke auf der anderen Seite auch die Angst vor einer Reduktion und naturwissenschaftlichen »Objektivierung« des Patienten hervor, die in den Nachkriegsjahren bestand und an holistische Debatten anknüpfte.48 Eva-Maria Klasen arbeitet in ihrer Untersuchung zur »Krise der Medizin« heraus, dass diese Debatten sich bereits zwischen 1925 und 1935 vor dem Hintergrund einer krisenhaften wirtschaftlichen und politischen Situation zuspitzten. Eine rationalistische, mechanische und streng naturwissenschaftliche Medizin sollte durch eine die leib-seelische Ganzheit betonende abgelöst werden.49 An diese Ausführungen schloss die Diskussion nach 1945 zum Teil direkt an. Der Psychosomatiker Arthur Jores (1901–1982) hatte beispielsweise Anfang der 1960er Jahre in seinem Buch »Die Medizin in der Krise unserer Zeit« herausgearbeitet, das die Medizin sich von ihrem rein naturwissenschaftlichen Denken lösen und mit geisteswissenschaftlichen Methoden auch die Seele erforschen müsse.50 Ähnliche Argumentationsstränge für eine »Ganzheitsmedizin« lassen sich auch im Werk des Heidelberger Psychosomatikers Viktor von Weizsäcker (1986–1957) finden.51 Auch in der Psychiatrie entbrannte eine Diskussion um die Ansicht, dass der Psychiater nicht nur Mediziner, sondern auch Arzt sein müsse und sich für die gesamten
46 Laufs 1990, S. 241. Der Autor hebt hervor, dass es erst im Jahr 1989 ein offizielles Eingeständnis der Bundesärztekammer hinsichtlich der Verstrickung deutscher ÄrztInnen in die nationalsozialistische Vernichtungspolitik gab. 47 Rotzoll 2008. Einzelne PsychiaterInnen wie Heinz Häfner, Asmus Finzen und Ulrike Hoffmann-Richter hätten, so Rotzoll, diese Tatsache auch für ein verspätetes Einsetzen der Sozialpsychiatrie in Deutschland verantwortlich gemacht. 48 Roelcke 2004, S. 3ff. 49 Klasen 1984, S. 110. 50 Jores 1961, S. 91. Jores spitzt diese Diskussionen zu, wenn er ausführt: »Weg vom Organ und zurück zum Menschen! Das ist die Forderung, die eine neue Medizin stellen wird. In wissenschaftlicher Hinsicht eröffnen sich große und weite Forschungsgebiete, denn die Lehre von der menschlichen Seele und den geistig-seelischen Beziehungen zur Krankheit befindet sich ja erst in in den Anfängen. Hier ist eine gewaltige und dankbare Aufgabe zu leisten« (Jores 1961, S. 99). 51 Vgl. beispielhaft von Weizsäcker 1940.
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sozialen Effekte des Lebens seiner PatientInnen interessieren solle.52 Jores hat diese Krise der mental-rationalen Epoche als eine der Nachkriegzeit spezifische aufgefasst.53 Die 1950er Jahre sind vor diesem Hintergrund als Zeit im Spannungsfeld zwischen Kontinuität und gefordertem Mentalitätswandel zu betrachten. Das Schweigen über die NS-Vergangenheit auf der einen Seite und die Angst vor einer »kalten« Medizin auf der anderen Seite sind auch für die in den 1950er Jahren stattfindende Psychopharmakaerprobung in den Blick zu nehmen.
2.5 Ein Pionier der Erprobung neuer P s yc h o p h a r m a k a : H a n s - H e r m a n n M e ye r Eigentlicher Protagonist der Einführung des ersten Neuroleptikums Chlorpromazin in Heidelberg war der damalige Oberarzt Hans-Hermann Meyer (1909–2000).54 Dieser war bereits, kurz nachdem er im Jahr 1946 an die Psychiatrische Universitätsklinik gewechselt hatte, von Kurt Schneider mit der Übernahme der somatischen Therapieformen betraut worden. Meyer stammte aus einer angesehenen Psychiaterdynastie, durch die er seine eigene spätere psychiatrische Tätigkeit stark geprägt sah.55 Schon als Kind war er durch die Tätigkeit seines Vaters, den er schon früh auf seinen 52 Roelcke 2004, S. 3ff. Jores grenzte sich dabei explizit von der an einem »organischen Substrat« festhaltenden Psychosenlehre Kurt Schneiders ab (vgl. Jores 1961, S. 25). 53 Jores 1961, S. 65. So bezieht er sich unter anderem auf den »zerstückelten Menschen« der Bombenangriffe des Zweiten Weltkriegs. Auch die Debatte um die Krise der Medizin in den 1920er Jahren speiste sich aus den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs (vgl. Klasen 1984, S. 9). 54 Hans-Hermann Meyers Leben und Werk sind zurzeit, anders als die Geschichte Carl Schneiders und Kurt Schneiders, recht wenig erforscht. Seine Biographie stützt sich auf die zum Zeitpunkt des Verfassens dieser Arbeit zugänglichen Quellen aus der Literatur. Das Universitätsarchiv Homburg/Saar gewährte mir Einblicke in die einsehbaren Dokumente seines Nachlasses (vgl. Nachlass Hans-Hermann Meyer). Eine Sichtung seiner Personalakte war aber aufgrund der 30-jährigen Sperrfrist nicht möglich. 55 So beschreibt sich Hans-Hermann Meyer als stark beeinflusst von der naturwissenschaftlich orientierten Psychiatrie seines Großvaters Ludwig Meyer (1827–1900), der mit Conrad Westphal und Wilhelm Griesinger die Zeitschrift Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten (später: Zentralblatt für die gesamte Neurologie und Psychiatrie) gegründet hatte. Ludwig Meyer übernahm 1866 auch das Ordinariat der ersten deutschen Universitätspsychiatrie in Göttingen. Hans-Hermann Meyers Vater Ernst Meyer (1871–193?) war Leiter der Psychiatrischen Universitätsklinik in Königsberg/Preußen. Auch sein Bruder Joachim-Ernst Meyer wurde später Psychiatrieprofessor in Göttingen. Gemäß der Familientradition übernahm HansHermann Meyer später die Mitherausgabe der Zeitschrift Zentralblatt (vgl. Meyer 1977, S. 284ff.).
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Rundgängen durch die psychiatrische Klinik begleitete, mit der psychiatrischen Anstaltspraxis vertraut gemacht worden. Als eines seiner eindrücklichsten Erlebnisse beschrieb er das erste Verabreichen von Injektionen: »Die ersten Spritzen durfte ich unter Anleitung von Traugott Riechert [...] durchführen, der damals als junger Assistent an der Psychiatrischen und Nervenklinik Königsberg/Pr. bei meinem Vater war und der mich auch auf die Abendvisiten mitnahm: während er die Spritze festhielt und die Nadel fixierte, durfte ich zuerst einmal den Kolben herunterdrücken, und so lernte ich die ersten ärztlichen Handgriffe.«56
Später studierte Meyer selbst Medizin, promovierte im Jahr 1935 mit einem psychiatrischen Thema, einer Arbeit über »Haftpsychosen«57, und habilitierte schließlich im Jahr 1949 mit einer Arbeit über den Liquor cerebrospinalis.58 Ab Mai des Jahres 1935 war er an der pathologischen Anatomie der Berliner Universitätsklinik Charité tätig, wo er wegen seines großen psychiatrischen Interesses bald alle zur Obduktion gelangenden Fälle der Universitätsnervenklinik sezieren durfte und hier nach eigenen Angaben Grundkenntnisse des Nervensystems erwarb.59 Meyers Wechsel von der pathologischen Anatomie in die Universitätspsychiatrie erfolgte noch unter Karl Bonhoeffer (1868–1948), ab dem Jahr 1938 arbeitete er dann unter dem bekannten Psychiater Max de Crinis (1989–1945), der zu diesem Zeitpunkt die Berliner Nervenklinik übernommen hatte.60 Im Krieg war Meyer als Truppen- und Lazarettarzt an der Front tätig, zuletzt wurde er als Lazarettarzt für Hirn- und Rückenmarksverletzte in Ischl (Österreich) eingesetzt.61 Hans-Hermann Meyer gehörte zu den wenigen bundesdeutschen PsychiaterInnen, die sich zeitgenössisch über die sogenannten Schockverfah56 57 58 59
Meyer 1977, S. 289. Meyer 1977; Schmitt 2000. Meyer 1949. Meyer 1977, S. 295ff. Hier lernte er auch einen Lehrer kennen, der ihn später Kurt Schneider empfahl. 60 Meyer 1977, S. 295ff. De Crinis war seit den 1930er Jahren SS-Offizier und seit dem Jahr 1944 oberster beratender Psychiater der Wehrmacht. Besonders bedeutsam war aber seine Beteiligung an der Psychiatrischen Euthanasieaktion T4, bei der von 1939 bis 1941 mehr als 70.000 PsychiatriepatientInnen ermordet wurden (vgl. http://www.georg-elser-arbeitskreis.de/ texts/decrinis.htm, Stand 10.12.2009). Meyer betonte, man habe der Übernahme der Leitung durch de Crinis mit Argwohn entgegengesehen. Letzterer habe aber in seinem Haus keine rassenhygienischen Maßnahmen durchgeführt. Wegen der Bedrohung durch die Erbgesundheitsbehörde habe man ohnehin keine echten, sondern nur »unauffällige« Diagnosekarteien verwendet. Außer diesem Selbstzeugnis sind keine weiteren Quellen zur Tätigkeit Meyers in der Berliner Universitätsnervenklinik bekannt. 61 Meyer 1977 und Schmitt 2000.
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ren hinaus für biologisch-pharmakologische Therapieformen interessierten. So veröffentlichte er auch schon vor der Ära der modernen Psychopharmaka Artikel über pharmakologische Versuche in der Psychiatrie.62 Dies mag auch ein Grund dafür gewesen sein, weshalb er, als NichtOrdinarius, Chlorpromazin als einer der ersten Psychiater zur Erprobung vor der Zulassung erhielt. Ab Anfang April des Jahres 1953 begann Meyer, Chlorpromazin in einer Versuchsreihe an 50 PsychiatriepatientInnen zu erproben und veröffentlichte seine Ergebnisse als erster bundesdeutscher Forscher schon im August des Jahres 1953 in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift.63 Meyer selbst blieb in der Erprobung federführend, alle ersten PatientInnen wurden zunächst in seinem Kolloquium vorgestellt, bevor man mit einer Medikation begann.64 Seine zahlreichen Ausführungen über die Psychopharmakatherapie werden im Laufe meiner Arbeit anhand der Analyse der PatientInnenakten hinsichtlich der ersten Erprobung von Megaphen näher erläutert und mit der klinischen Praxis in Beziehung gesetzt. Es ist zu vermuten, dass seine Ernennung zum außerordentlichen Professor an der Heidelberger Klinik im Jahr 1954 nicht zuletzt auf seine außergewöhnliche Rolle bei der Einführung der modernen Psychopharmaka in der Bundesrepublik zurückzuführen war.65 1955 übernahm Meyer nach der Emeritierung Kurt Schneiders zunächst kommissarisch die Leitung der Heidelberger Universitätspsychiatrie. Mit dem Ruf Walter Ritter von Baeyers auf den Lehrstuhl wurde für
62 Meyer veröffentlichte in den Jahren 1952 und 1953 Artikel zur Penicillinbehandlung der progressiven Paralyse und zur psychiatrischen Stickstoffinhalationsbehandlung in der Psychiatrie in der angesehenen psychiatrischen Fachzeitschrift Der Nervenarzt (vgl. Meyer 1952 und 1953b). Bei der Stickstoffinhalationsbehandlung handelt es sich um eine Therapie, deren Wirkungsweise PsychiaterInnen in den 1950er Jahren mit derjenigen der Schockverfahren verglichen, aber als weniger »grausam« empfanden als zum Beispiel den Elektroschock (vgl. Meyer 1953b, S. 51). Sie wurde in Heidelberg vor allem bei PatientInnen mit der Diagnose »Zyklothyme Depressionen« eingesetzt. Beschrieben wurde eine »gehobene Stimmungslage« der PatientInnen, manche Behandelte hätten gar einen »Rausch« geschildert. Das Stickstoff wurde in Heidelberg über eine Gummimaske mit Ein- und Ausatmungsventil inhaliert, wozu man ein spezielles Gerät verwendete, das auch den Zufluss von Sauerstoff regelte. Prinzipiell sollte die Stickstoffbehandlung ihre Wirkung über den Sauerstoffmangel entfalten, der individuell als sehr verschieden geschildert wurde. In der Regel sollte der Stickstoff aber bis zum Bewusstseinsverlust inhaliert werden (vgl. Meyer 1953b, S. 50). 63 Meyer 1953a. Anhand der erhaltenen Krankenakten wird die Erprobung an der ersten Versuchsgruppe und eine Stichprobenanalyse der folgenden Jahre im nächsten Abschnitt in den Blick genommen werden. 64 PUH, PatientInnenakten 1/53–200/53. 65 Verzeichnis der Universitätsangehörigen; Personalverzeichnis Meyer; Bestand der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg.
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Hans-Hermann Meyer eine langfristige Perspektive an der Klinik jedoch immer unwahrscheinlicher. So formulierte er in seinen Lebenserinnerungen: »Wie W. v. Baeyer die Klinik übernahm, hat er mir in sehr kollegialer Weise meine Freiheit gelassen. Ich hatte kommissarisch die Klinik geführt. V. Baeyer, der in vielem eine ganz andere Position bezog, zumal er sich sehr der Anthropologie zuwandte, hat mich frei schalten und walten lassen. Dennoch fühlte ich mich in der Heidelberger Klinik natürlich nicht mehr am richtigen Ort, und ich war begreiflicherweise sehr glücklich, als ich am 3. Oktober 1958 den Ruf an die Universität des Saarlandes erhielt, wo ich einige Monate vorher einen Gastvortrag gehalten hatte.«66
Hans-Hermann Meyer versuchte ab dem Beginn der 1950er Jahre eher die statistisch-experimentelle Fassbarkeit neuer biologischer Therapieformen fortzuentwickeln. In diesem Kontext kann auch sein Bemühen verstanden werden, die statistische Erfassung der Heidelberger PsychiatriepatientInnen voranzutreiben.67 Dennoch blieb auch von Baeyer, der Meyer nicht besonders nahestand, eine an den somatischen Therapien nicht uninteressierte Grenzfigur.
2 . 6 Zw i s c h e n a n t h r o p o l o g i s c h e n P o s i t i o n e n und biologischen Therapien: W a l t e r R i t t e r vo n B a e ye r Walter Ritter von Baeyer (1904–1987) übernahm ab dem Jahr 1955 die Leitung der Heidelberger Universitätspsychiatrie und sollte deshalb für die zweite Phase der Megaphenerprobung eine große Rolle spielen. Bereits von 1929 bis 1933 war er hier tätig gewesen, verließ die Uniklinik aber wegen der Berufung Carl Schneiders auf den Lehrstuhl für Psychiatrie. Wegen seiner teilweise jüdischen Vorfahren konnte von Baeyer zunächst nicht habilitieren. Dies gelang ihm schließlich erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Im Jahr 1933 ging er nach seinem Fortzug aus Heidelberg mit einem Forschungsstipendium an das erb- und familienbiologische Institut 66 Meyer 1977, S. 316. Kurt Schneider soll mit der Wahl seines Nachfolgers ebenso wenig zufrieden gewesen sein wie Meyer selbst (Meyer 1977, S. 313). Zum 01.12.1958 trat Meyer schließlich seinen Posten als Chefarzt der Psychiatrischen Universitätsklinik Homburg/Saar an und etablierte hier die Schwerpunkte Neurochemie und Neurophysiologie (vgl. Schmitt 2000). 67 Meyer/Böttinger 1957. Zur Rolle von Hans-Hermann Meyer in der Standardisierung des klinischen Versuchs und zu seiner Unterstützung der Arbeitsgemeinschaft für Neuropsychopharmakologie, welche diese Rolle später federführend übernahm, vgl. Schmitt 2000.
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der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie in München, das von Ernst Rüdin geleitet wurde.68 Im Krieg war von Baeyer zunächst von 1941 bis 1945 beratender Psychiater der 16. Armee im Osten und in dieser Funktion auch als Gutachter tätig.69 Bevor er den Heidelberger Lehrstuhl übernahm, leitete er ab 1945 die Psychiatrische Klinik der Stadt Nürnberg und vertrat auch einige Semester lang den Lehrstuhl der Psychiatrischen Universitätsklinik in Erlangen-Nürnberg, nachdem der bisherige Leiter des Lehrstuhles, Friedrich Meggendorf, im Rahmen der Entnazifizierung hatte ausscheiden müssen.70 Die Übernahme der Heidelberger Universitätspsychiatrie durch von Baeyer muss als eine Neuausrichtung psychiatrischer Forschungsinteressen der Klinik verstanden werden. Von Baeyer betrachtete das Werk seines Vorgängers Schneider, dessen phänomenologischbeschreibende Psychopathologie er schätzte, mit kritischem Interesse. So führte von Baeyer aus: »Ich habe mich aber schon ziemlich früh an den Grenzen dieser begrifflichisolierenden, leib- und gesellschaftsfernen, kühl objektivierenden Forschungsrichtung gestoßen, ihren Mangel an Verständnis für die psychoanalytische Erschließung des Unbewußten und für anthropologisch übergreifende Aspekte, vor allem aber ihre therapeutische Unergiebigkeit bedauert.«71
Von Baeyers anthropologische Orientierung und sein gleichzeitiges Interesse an somatischen und pharmakologischen Therapieformen machten ihn in der zeitgenössischen psychiatrischen Landschaft zu einem Grenzgänger. Sein Verständnis der somatischen Therapieformen soll deshalb im Folgenden näher beleuchtet werden.
68 Von Baeyer 1977, S. 16. 69 Rotzoll/Hohendorf 2007, S. 23. Die AutorInnen betonen, dass er zwar nicht zu den schärfsten Gutachtern gehörte, sich jedoch weitgehend an die sehr strengen Begutachtungsrichtlinien zur Frage der Unzurechnungsfähigkeit bei sogenannten Psychopathen hielt. Von Baeyer führt in seinen Lebenserinnerungen aus, er habe damals die Wahl zum Frontdienst als die einzige Möglichkeit begriffen, nicht emigrieren zu müssen. Später seien ihm jedoch Zweifel gekommen, ob diese Wahl »vor dem höchsten Richter standhalten kann« (von Baeyer 1977, S. 19). Diese Zeit im Leben von Baeyers ist heute noch kaum unter Bezugnahme auf archivarische Quellen erforscht. 70 Rotzoll/Hohendorf 2007. Nachfolger wurde ab dem Jahr 1951 der später als Psychopharmakologe bekannt gewordene Fritz Flügel. Dass auch dieser eine NS-Vergangenheit hatte, aufgrund derer er im Jahr 1946 von seinem Chefarztposten der Psychiatrischen Universitätsklinik in Halle entbunden wurde, mag als weiterer Hinweis auf ein Klima der Zeit gelten, in welchem man TäterInnen verzieh (vgl. Universitätsarchiv Erlangen UAH PA 6135 Flügel unter www.catalogus-professorum-halensis.de/fluegelfritz, Stand 10.12.2009). 71 Von Baeyer 1977, S. 12.
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Bereits im Jahr 1951 veröffentlichte von Baeyer ein Buch mit dem Titel »Die moderne psychiatrische Schockbehandlung«, in dem er die Schockbehandlung propagierte, sie gleichzeitig aber vor dem Hintergrund seiner anthropologischen Grundhaltung betrachtete. Zum grundsätzlichen Dilemma der Schockverfahren führte er aus: »Die Schockmethoden haben den therapeutischen Optimismus in der Psychiatrie gefördert oder vielfach erst geschaffen. Sie bringen ihn in Gefahr, zum bloßen technischen Optimismus zu entarten, zum Glauben, mit Apparaten und körperlichen Eingriffen alles machen zu können!«72
Trotz dieser selbst vorgenommenen Einschränkungen lesen sich seine zum Teil mechanistischen und detaillierten Beschreibungen der Zustände der PatientInnen nach der Schockverabreichung und seine akribische Auflistung von Hilfsmitteln für den Notfall nicht unbedingt als anthropologische Standortbestimmung.73 Die Aussicht, durch somatische und pharmakologische Manipulation des Körpers zu einer Beeinflussung psychischer Zustände zu gelangen, hatte von Baeyer jedoch schon früh fasziniert. Bereits als fortgeschrittener Student gewann von Baeyer Interesse an psychotropen Substanzen, als er unter Anleitung des Heidelberger Psychiaters Kurt Beringer (1893–1949) in den 1920er Jahren an Selbstversuchen mit Mescalin und Haschisch teilnahm.74 Nicht zuletzt durch diese eigenen Erfahrungen ist auch sein später anthropologisch motivierter Fokus auf die modernen Psychopharmaka zu erklären. In seinem im Jahr 1955 erschienenen Artikel »Zum Begriff der Begegnung in der Psychiatrie« führte von Baeyer seine anthropologischen Bestimmungen näher aus. Hier verabschiedete er sich deutlich von einer an der Form orientierten Psychopathologie Kurt Schneiders, die den Inhalt des wahnsinnigen Geschehens als nachrangig betrachtete. In Abgrenzung dazu betonte er die notwendige Bezogenheit von Form und Inhalt der sogenannten Psychosen und führte aus, dass allein der Aspekt des Verstehens und der Begegnung in der Psychiatrie schon ein erster therapeutisch
72 Von Baeyer 1951, S. 13. 73 Zum Beispiel seine PatientInnenbeschreibungen hinsichtlich der Insulinkomatherapie (vgl. II.3). 74 Von Baeyer 1977, S.10. Den erlebten Mescalinrausch beschreibt er folgendermaßen: »Ich habe im Rahmen dieser Experimente einen Rausch erlebt und für die Beringersche Monographie beschrieben, dessen auf die Um- und Innenwelt verteilter Glanz mir unvergeßlich ist, mich aber nie zu einer Wiederholung verlockt hat.« Zur Bedeutung Beringers für den psychiatrischen Selbstversuch vgl. Beringer 1927. Zu Beringers Selbstversuchen mit seinen Studenten vgl. Schott/Tölle 2006, S. 591.
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wirksamer Schritt sei.75 Das zukünftige Verhältnis zwischen Arzt und Patient sah er bereits in der ersten Exploration verankert. Zur Rolle der Begegnung im ersten Gespräch führte von Baeyer aus: »Damit hängt es zusammen, daß das Gespräch mit den Kranken aus der kühlen Distanz der üblichen Exploration manchmal geradezu überraschend in den Bereich menschlicher Nähe und gegenseitiger Verständigung tritt, wenn man die Kranken außerhalb jeder symptomatologischen Reduktion auf die Art und Weise ihres In-der-Welt-Seins anspricht.«76
Diese Reformulierung der Begegnung ließ ihn auch eine Neufassung des Begriffs der Wirksamkeit körperlicher Behandlungsformen vornehmen, wie von Baeyer die physiologischen, chemischen und neurochirurgischen Eingriffe in den Körper zusammenfasste. In Anlehnung an sein Konzept der Begegnung betrachtete er die körperlichen Behandlungsformen sowohl als körperlich als auch leiblich-seelisch vermittelte Therapiemethoden, in welchen die »Droge Arzt«, wie von Baeyer es formulierte, immer Teil der Verabreichung sei.77 Obwohl von Baeyer die Hybridität der Wirksamkeit von Arzneimitteln betonte, stellte er das besondere Moment der Vergegenständlichung der PatientInnen durch die körperlichen Behandlungsmethoden heraus: »Diese Versachlichung geschieht aber nicht nur faktisch, sie kann auch im Erleben des Kranken erscheinen, sein Verständnis des therapeutischen Vorgangs bestimmen. Der Patient kann sich etwa über die unpersönliche Behandlungsweise beklagen, er kann auf den Gedanken kommen, nur Versuchskaninchen zu sein. Die Eigenwirkung der psychotropen Drogen und Schocktherapien verwandelt ihrerseits den Menschen in ein minder personales Wesen.«78
Diesem Grundverständnis folgend sah von Baeyer die Erfassung von Wirksamkeit auch nicht losgelöst von den Subjektivierungsformen, durch die sie sichtbar gemacht oder ergänzt werden könne.79 Damit verbunden geriet für ihn auch das Problem der klinischen Wirksamkeitsprüfung der neuen Psychopharmaka in den Blick, denn die Evaluation psychotroper Substanzen sei immer stark an den klinischen Eindruck gebunden, der seines Erachtens zu schnell zugunsten der statistischen Massenbeobachtung vernachlässigt wurde. Dem ohnehin unbeständigen Verlauf des »psycho 75 Von Baeyer 1955. Zur Neuausrichtung der Psychiatrie auf anthropologische Tendenzen durch von Baeyer und seine Abgrenzung von Schneider vgl. auch Rotzoll 2008. 76 Von Baeyer 1955, S. 275. 77 Von Baeyer 1959a, S. 2. 78 Von Baeyer 1959a, S. 4. 79 Von Baeyer 1959a, S. 5ff.
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pathologischen Geschehens« stehe in einer statistischen Neufassung ein von allen situativen Faktoren abstrahierender Wirksamkeitsbegriff gegenüber, der den anthropologischen Grundkonstanten seines Erachtens nicht mehr gerecht werden könne. Gegen eine solche statistische Abstraktion führte von Baeyer aus: »Wenn man sich das klarmacht, ist auch die Identifizierung, Fixierung und Zählung von Einzelsymptomen ein unsicherer Grund für die statistische Auswertung pharmakopsychiatrischer Ergebnisse. Die Seinsart des individuellen seelischen Werdens und Vergehens, des Welthaften seelischen Seins, widerstrebt einer Kollektivbildung, widerstrebt dem Zählen und Messen.«80
Von Baeyer blieb aber auch auf der Grundlage seiner anthropologischen Ausführungen weiter an der Psychopharmakologie interessiert. Noch im Jahr 1957 versuchte er, den Psychiater und Psychopharmakologen Willy Mayer-Gross (1889–1961), der im Jahr 1933 in die USA emigriert war, für eine Rückkehr an die Psychiatrische Universitätsklinik zu gewinnen, um dort ein pharmakopsychiatrisches Labor zu leiten.81 Walter Ritter von Baeyer zeigte sich in der Folgezeit jedoch nicht nur als anthropologisch orientierter Reformer der Nachkriegspsychiatrie. Später sollte er sich durchaus gegen eine weiterreichende Psychiatriekritik abgrenzen. Es soll deshalb ein kurzer Blick auf die Jahre nach dem von mir fokussierten Untersuchungszeitraum geworfen werden.
2 . 7 Zw i s c h e n s o z i a l p s yc h i a t r i s c h e n R e f o r m e n u n d a n t i p s yc h i a t r i s c h e n K ä m p f e n : die Rolle der Heidelberger Klinik nach 1960 – e i n Au s b l i c k Seit den 1960er Jahren widmete sich die Heidelberger Klinik vermehrt sozialpsychiatrischen Aktivitäten. So eröffnete die Psychiatrie eine Abteilung für Sozialpsychiatrie und Rehabilitation, wenn auch die traditionelle Aufteilung der Klinik in Räume für die Ruhigen und Unruhigen bestehen blieb.82 1962 wurden erste Versuche einer Reform der Krankenpflegeausbildung vorgenommen, deren vorherige Ausrichtung als mit sozialpsychiatrischen Bestrebungen nicht vereinbar empfunden wurde.83 Zusammen mit seinen Mitarbeitern Heinz Häfner (geboren 1926) und Karl-Peter Kisker (1926–1997), die beide ab Ende der 1950er Jahre in der Universitäts80 81 82 83
Von Baeyer 1963, S. 102. Rotzoll/Hohendorf 2007. Rotzoll/Hohendorf 2007. Häfner 2003, S. 125.
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psychiatrie tätig waren, engagierte von Baeyer sich im Aktionsausschuss zur Verbesserung der Hilfe für psychisch Kranke, der bereits im Jahr 1959 gegründet wurde.84 Gemeinsam verfassten sie einen Artikel über die Reformbedürftigkeit der bundesdeutschen Anstaltspsychiatrie mit dem Titel »Dringliche Reformen in der BRD«.85 Dieser Artikel sollte später als zentral für die Mitte der 1960er Jahre beginnenden Diskussionen um sozialpsychiatrische Entwicklungen gelten.86 Im Jahr 1966 schrieb von Baeyer einen der Eröffnungsbeiträge der neu erscheinenden Zeitschrift Social Psychiatry und baute damit seinen Status als einer der Protagonisten der sozialpsychiatrischen Reformen in der BRD weiter aus. Neben Frankfurt wurde Heidelberg so in den 1960 Jahren zu einer der zentralen Stätten der in der BRD erst spät einsetzenden sozialpsychiatrischen Reformen.87 Diese Neuausrichtung war, wie Gerit Hohendorf und Maike Rotzoll betonten, auch vor dem Hintergrund einer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit der eigenen Klinik zu sehen, wenn auch eine konsequente Entnazifizierung im Inneren weiterhin nicht durchgeführt wurde.88 Von Baeyer war jedoch mit seinem 1964 erschienenen Buch »Psychiatrie der Verfolgten«89, in dem er dem bis dato in der BRD tabuisierten Zusammenhang von Konzentrationslagererfahrungen und seelischen Dauerschäden nachging, zu internationaler Bekanntheit gelangt.90 Gleichzeitig grenzte sich von Baeyer in den 1970er Jahren klar von politischen Forderungen des Sozialistischen Patientenkollektivs Heidelberg ab, das mehr Möglichkeiten der PatientInnenkontrolle einführen wollte.91 Von Baeyer und seine Mitarbeiter Kisker und Häfner blieben in diesem Zusammenhang einer Reformpsychiatrie verpflichtet, die sich einer radikaleren Psychiatriekritik neuer sozialer Bewegungen verwehrte.
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Häfner 2003, S. 125; Hanrath 2002, S. 310ff. Häfner/von Baeyer/Kisker 1965. Häfner 2003; Rotzoll/Hohendorf 2007. Rotzoll/Hohendorf 2007; Rotzoll 2008. Rotzoll/Hohendorf 2007. Von Baeyer/Häfner/Kisker 1964. So war er unter anderem von 1966–1971 Vizepräsident der World Psychiatric Organisation (vgl. Rotzoll 2008). 91 Bei dem Sozialistischen Patientenkollektiv Heidelberg (SPK) handelt es sich um die erste breit wahrgenommene PatientInnenbewegung in der Psychiatrie nach 1945, die sich aus den PatientInnen des Heidelberger Psychiatrischen Landeskrankenhauses Wiesloch heraus entwickelt hat. Zur Geschichte des SPKs und der Rolle von Baeyers in dem Versuch, sich gegen die Forderungen des SPKs zur Wehr zu setzen vgl. Brink 2003; Bopp 1980.
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2.8 Das Beispiel Heidelberg in den 1950er Jahren – eine erste Zusammenfassung Die Erprobung des ersten Neuroleptikums Chlorpromazin soll im Folgenden im Kontext der besonderen institutionellen Voraussetzungen der Heidelberger Klinik betrachtet werden. Für die Versuche mit der neuen psychotropen Substanz scheinen dabei mehrere Punkte bemerkenswert. Zum einen ist die institutionelle Geschichte des »Experimentierens« in der Heidelberger Psychiatrie eng an die in den 1950er Jahren noch weitgehend unaufgearbeiteten tödlichen Versuche an Kindern im Nationalsozialismus gebunden. Begreift man das Diktum der »Innovation ohne ethische Restriktion«, das Volker Roelcke, Gerit Hohendorf und Maike Rotzoll herausgearbeitet haben, als Kernmoment der experimentellen Orientierung der Psychiatrischen Klinik bis zum Jahr 1945, so ist zu fragen, ob sich die in den frühen 1950er Jahren vollziehenden Erprobungen der neuen psychotropen Substanzen als Kontinuität oder als Abgrenzung von dieser Tradition lesen lassen. Meine These ist, dass sich gerade in den frühen Psychopharmakaversuchen das Changieren zwischen Kontinuität und Abgrenzung niederschlägt und als Teil des Umgangs mit der Vergangenheit lesen lässt. Zum anderen ist der Wechsel in der Leitung der Universitätsklinik Heidelberg, der sich während der Zeit der Erprobung vollzog, im Hinblick auf seine Auswirkungen auf diese Erprobung zu untersuchen. Es ist auch zu fragen, ob sich die an einer deskriptiv-phänomenologischen klinischen Psychopathologie orientierende Vorgehensweise Kurt Schneiders auf die Wirksamkeitserfassung in anderer Weise auswirkte als die anthropologische Ausrichtung von Baeyers. Der psychiatrisch-klinische Versuch mit neuen Psychopharmaka und die Möglichkeit der Beschreibung ihrer Effekte wird dabei, so meine These, besonders deutlich durch die Subjektivierungsformen vermittelt, als der Art und Weise, mit der die PatientInnen zum Sprechen gebracht werden sollten. Die frühe Herausbildung eines Wirksamkeitsbegriffs soll deshalb gerade im Kontext der notwendigen Interaktion mit den PatientInnen für eine Erfassung der psychotropen Effekte anhand der PatientInnenakten untersucht werden. Darüber hinaus markiert der Zeitrahmen der 1950er Jahre für die Psychiatrische Universitätsklinik ein Periode des Übergangs und der Reformulierung einer neuen psychiatrischen Forschungsorientierung: Während sich die Universitätsklinik bis zum Jahr 1945 und in den Folgejahren vor allem als Hochburg eines an NS-Ideologien ausgerichteten eugenischen Denkens und Experimentierens definierte, sollte ab den 1960er Jahren eine deutliche Schwerpunktsetzung hinsichtlich sozialpsychiatrischer Bestrebungen erfolgen. Ins Zentrum meiner Arbeit möchte ich dabei die Aushandlung eines neuen klinischen Wissens über psychotrope Substanzen in
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der Psychiatrie vor den Hintergrund dieser selbstdefinitorischen Unsicherheit stellen. Meine Untersuchung der Erprobung des Megaphens in der Klinik beginnt deshalb mit dem Jahr 1953 und endet mit dem Jahr 1959. Zunächst soll die Erprobung in der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg näher betrachtet werden. Dabei möchte ich in einem ersten Schritt meine Hauptquelle – die Psychiatrische Krankenakte – in den Fokus nehmen und in einem zweiten Schritt eine erste quantifizierende Beschreibung vor dem Hintergrund der Klinik vornehmen.
3 . Die Erprobung von Me ga phe n an der Universitätsklinik Heidelberg – Que lle nk ritische Überle gunge n und e rste Erge bniss e
3.1 Die Potentiale der Krankenakte für eine Geschichte der Wissenschaft als Praxis Bereits Anfang der 1990er Jahre machten die englischen Forscher Guenter B. Risse und John Harley Warner auf den Wert von Krankenakten als Quelle aufmerksam. Mit solchen klinischen Dokumenten könne man nicht nur das, was Doktoren sagten und schrieben, sondern vermehrt auch die Praxis der Wissenschaft und die Herstellung von Wissen in den Blick nehmen. Die angeregte Auseinandersetzung mit institutionellen medizinischen Dokumentationen verfolgte das Ziel, auch PatientInnenberichte und PatientInnennotizen für sozial- und kulturgeschichtliche Fragen nutzbar zu machen.1 Aber auch körpergeschichtliche Fragen seien durch die Arbeit mit Krankenakten besonders gut nachvollziehbar.2 Das Krankendossier, so wurde gefolgert, gebe in besonderer Weise Aufschluss über eine sich wandelnde klinische Mentalität, die besonders anhand einer Rekonstruktion der Einführung zunehmend physiologischer Parameter, einer fortschreitenden Quantifizierung, aber auch der Einführung neuer Medikamente im 20. Jahrhundert sichtbar würde.3 Folgt man diesen Ausführungen, bilden PatientInnenakten eine Quelle, die für die Rekonstruktion der medizinischnaturwissenschaftlichen Wissensbildung, aber auch für die historische Analyse der Behandlungspraxis von großer Relevanz ist und sich für 1 2 3
Risse/Warner 1992. Radkau 2001, S. 80. Risse/Warner 1992.
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verschiedene Fragestellungen nutzbar machen lässt: Die Dossiers können Aufschluss über den Behandlungsalltag geben, die Praxis der Erprobung und Anwendung verschiedener Behandlungsverfahren verdeutlichen und über erhaltene Ego-Dokumente Teile der Erfahrung der PatientInnen sichtbar machen. Zugleich bildet sich in ihnen aber auch ein Wandel und die Bedeutung von Aufschreibsystemen für die Praxis der Wissensgenerierung ab: So gehen therapeutische Innovationen häufig in einer Transformation der Aktenführung ein; neue Wissenssysteme werden sichtbar. Gleichzeitig eröffnet die Krankenakte als Quelle eine Vielzahl zu diskutierender Fragen: Zunächst sind die Eintragungen in das Dokument immer vor dem Hintergrund der doppelten Funktion der Akten zu analysieren; sie sind sowohl zu Forschungs- als auch zu administrativen Zwecken erstellt worden. Durch ihre sich wandelnde Form im 20. Jahrhundert zeichnen Patientendossiers aber auch eine Transformation des Patienten zum Fall nach.4 In der Pharmaziegeschichte des 20. Jahrhunderts stellt die Arbeit mit Krankenakten als Quelle für die Rekonstruktion medikamentöser Innovationen im Moment noch ein Forschungsdesiderat dar.5 So gibt im deutschsprachigen Bereich lediglich die Arbeit von Ellen Leibrock anhand einer Auswertung der Krankenakten der Heil- und Pflegeanstalt Klingenmünster einen Überblick über die Entwicklung der Psychopharmaka im 19. Jahrhundert.6 Weitere Forschungen zur Geschichte einzelner Arzneimittel anhand von Patientendossiers liegen für das 20. Jahrhundert zurzeit nicht vor. Dies ist vor dem Hintergrund zu betrachten, dass die Pharmaziegeschichte insgesamt gerade in Deutschland im Hinblick auf sozial-, kulturund körpergeschichtliche Aspekte große Forschungslücken aufweist.7 Seit der Etablierung des Postulats der Wissenschaft als Praxis erfährt hingegen Archivmaterial der pharmazeutischen Industrie in der (pharmazie-)historischen Forschung im deutschsprachigen Raum zunehmend mehr Beachtung.8 Zumindest in der internationalen Forschung gerät auch das Wechselverhältnis zwischen Pharmazeutischer Industrie und Klinik immer mehr in den Blick, denn zwischen den beiden Polen bestehe, so Nicolas Rasmussen, ein ständiges Austauschverhältnis. Gerade eine Erprobung am Krankenbett werde für die im 20. Jahrhundert in großer Zahl industriell
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6 7 8
Vgl. Teil II, 4.7. Mit Ausnahme der Arbeit von Simone Moses (2005) zur Entwicklung der Geriatrie um die Jahrhundertwende, die in einem Teil über die medizinische Versorgung anhand von Krankenakten auch die medikamentöse Behandlung streift, ist mir keine weitere Arbeit bekannt (vgl. Moses 2005). Leibrock 1998. So formulierte Schmitz zum Forschungsstand: »Die Sozialgeschichte des Arzneimittels blieb indes bis heute ein Desiderat« (Schmitz 2005, S. 543). Vgl. beispielhaft Bächi 2009 und Ratmoko 2007.
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hergestellten Arzneimittel unabdingbar und benötige den klinischen Versuch. Von besonderer Wichtigkeit sei es deshalb, wie Rasmussen ausführt, den Beginn dieses Prozesses an der Schwelle zum 20. Jahrhundert in den Blick zu nehmen, der für weitere Entwicklungen der Medikamente unabdingbar sei. So führt er aus: »The efforts to force drug firms to collaborate with reputable clinical researchers to establish indications and advertising claims for their products created, in essence, the commercial clinical trials that we know today, complete with the same features that now are considered so problematic.«9 Doch nicht nur die Genese neuer Indikationen sondern auch die Experimentalmodelle von Krankheiten bedürften, wie Jean-Paul Gaudillière ausführt, einer ständigen Vermittlung zwischen Laborforschung und Krankenhaus, WissenschaftlerInnen und ÄrztInnen.10 Auch Risse und Warner betonen, dass viele Indikationen neuer Medikamente erst in der Klinik generiert würden. Zudem sei die Rhetorik bezüglich neuer Medikamente häufig besser als ihre Realität am Krankenbett.11 Gerade für die exponentielle Zunahme neuer Substanzen nach dem Zweiten Weltkrieg sei auch nach deren Bedeutung für eine radikale Veränderung der klinischen Praxis zu fragen, die aus den Akten erschließbar sei.12 In diesem Sinne pointierte Radkau in Bezug auf Veränderungen in der psychiatrischen Praxis der Nachkriegszeit: »Vor allem die im Laufe der 50er Jahre einsetzende Ära der Psychopharmaka dürfte eine solche Wende bedeuten; aber das wäre noch aus den Akten zu überprüfen.«13 In der Psychiatrie als angewandter Wissenschaft, die einer Sprache der PatientInnen bedarf, verdeutlicht sich diese Abhängigkeit von der Klinik in besonderer Weise: Neue Behandlungsverfahren werden in der Anstalt erprobt, neue psychiatrische Diagnosen erst über die »Beobachtungen am Krankenbett« gebildet. Während die Arbeit mit Krankenakten in der Pharmaziegeschichte bislang ein Desiderat darstellt, hat die Arbeit mit Akten in der Psychiatriegeschichte in den letzen zehn Jahren eine neue Konjunktur erlebt. Hier sind vor allem die Arbeiten von Thomas Beddies und Andrea Dörries zu nennen, die mit ihrer Analyse der Wittenauer Heilstätten in Berlin von 1919 bis 1960 eine Pionierarbeit in der Aktenforschung geleistet haben, indem sie die Dossiers weitgehend quantitativ ausgewertet
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Rasmussen 2005, S. 52. Vgl. zum Wechselverhältnis von pharmazeutischer Industrie und Klinik auch Rasmussen 2006 und Ratmoko 2005. Gaudillière 1994, S. 233. Risse/Warner 1992. Vgl. auch das europäische Forschungsprojekt »Drug Standards«, das die Notwendigkeit einer Rekonstruktion der »bedside medicine« aus den Akten betont (vgl. http://drughistory.eu/, Stand 10.12.2009). Radkau 2001, S. 99.
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haben.14 Aber auch die Schweizer Forschergruppe um Marietta Meier, die Zwang in der Psychiatrie von 1870 bis 1970 untersucht, bringt wichtige Impulse der Arbeit mit Krankenakten in die Debatte ein.15 Dass mittels der Akten auch ein Perspektivwechsel möglich ist, der so weit wie möglich die PatientInnen in den Blick nimmt, verdeutlichen zwei weitere Arbeiten der letzten Jahre. Die Veröffentlichungen der Heidelberger Forschergruppe um Gerrit Hohendorf, welche die Perspektive der Opfer entlang einer Analyse der Krankenakten der Euthanasieaktion T4 beleuchten, orientieren sich weitgehend an einer statistischen Auswertung.16 Die Arbeit von Karen Nolte hingegen fokussiert dezidiert patientengeschichtliche Implikationen und rekonstruiert anhand einer qualitativen Analyse der Krankenakten einer Marburger Heil- und Pflegeanstalt vor allem den Eigensinn der als HysterikerInnen bezeichneten PatientInnen um 1900.17 Obwohl es in den vergangenen Jahren einige Forschergruppen gab, die sich mit der Analyse psychiatrischer Krankenakten beschäftigt haben, ist man jedoch, wie Beddies ausgeführt hat, von einer standardisierten Forschungsmethode zur Arbeit mit diesen Quellen noch weit entfernt. Gleichzeitig stellten Akten eine Quellengrundlage dar, in der sich ein unheilvolles Gemenge zwischen Schein und Sein der psychiatrischen Anstalten abbilde, welches selten eine eindeutige Botschaft vermittle. Um ein klareres Bild der klinischen Praxis zu erhalten, müssten die ForscherInnen deshalb auch aus anderen klinischen Akten Daten erheben: Dazu gehörten neben statistischen Daten die Aufnahme- und Entlassungsbücher, Verwaltungsakten, Briefe und Jahresberichte.18 Gerade für die ohnehin schlecht untersuchte Zeit der Psychiatriegeschichte nach dem Jahr 1945 sind die Untersuchungen von Beddies/Dörries und Meier et al. die einzigen Referenzpunkte, die eine Einführung der Psychopharmaka zumindest streifen.19 Sie sollen auch als Folie für eine erste Quellenbeschreibung dienen, die im Folgenden vorgenommen wird.
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Beddies/Dörries 1999. Meier/Bernet/Hürlimann 2002 und Meier et al 2007. Hohendorf et al. 2002 und Hohendorf et al. 2003. Nolte 2003. Zu einer ebenfalls biographisch angelegten Aufarbeitung der Schicksale einzelner Euthanasieopfer vgl. Fuchs et.al. 2007. 18 Beddies 2002 (http://w210.ub.uni-tuebingen.de/dbt/volltexte/2002/637, letzter Stand 27.07.2007). 19 Beddies/Dörries 1999; Meier/Bernet/Hürlimann 2002; Meier et al. 2007, S. 78ff.
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3 . 2 D i e Ak t e n d e r P s yc h i a t r i s c h e n U n i ve r s i t ä t s k l i n i k H e i d e l b e r g : Bestand und Struktur Der von mir verwendete Aktenbestand ist für die Jahre 1953 bis heute vollständig erhalten und lagert im Altaktenarchiv der Universitätsklinik in Heidelberg-Wieblingen. Die Akten aus dem Jahr 1950 sowie späterer Jahrgänge befinden sich also noch im Besitz der Psychiatrischen Universitätsklinik. Akten aus der Zeit vor 1950 werden im Universitätsarchiv der Stadt Heidelberg aufbewahrt. Grundsätzlich gibt es seit dem Jahr 1995 in Baden-Württemberg einen Erlass, Psychiatrische Akten an das Staatsarchiv abzugeben, wenn die 30-jährige Sperrfrist abgelaufen ist. Diese Vorschrift sieht vor, dass eine Nutzung nur zu wissenschaftlichen Zwecken und unter Anonymisierung der persönlichen Daten der Betroffenen erfolgen darf. Die flächendeckende Übergabe der Akten der Heidelberger Universitätspsychiatrie bis zum Jahr 1945 ist inzwischen abgeschlossen. Auch die Übergabe der Akten aus der Zeit von 1945 bis 1965 soll dem Staatsarchiv unter bestimmten Auflagen angeboten werden. Diese Akten unterliegen jedoch besonderen Rechtsvorschriften der Geheimhaltung. Hier gelten die Fristen des Bundesarchivgesetzes.20 Da die Übergabe der Nachkriegsakten noch nicht erfolgt ist, lagern die Krankenakten noch in der Klinik, die weiterhin über die Datenschutzauflagen entscheidet. Die Zuständigkeit der Psychiatrischen Universitätsklinik beinhaltete für meine Untersuchung Vor- und Nachteile. Als Vorteil ist zu betrachten, dass der Bestand tatsächlich – bis auf den »natürlichen Aktenschwund«, der in diesem Fall knapp 20 Prozent beträgt – vollständig erhalten ist.21 Die Gründe des Fehlens einzelner Dossiers scheinen hier ähnlich zu sein wie in der Untersuchung von Meier et al.: So verschwanden Dossiers in der Klinik, weil ÄrztInnen Krankengeschichten mit nach Hause nahmen, um die Akten fertigzustellen oder eine wissenschaftliche Arbeit anhand derselben zu verfassen, ohne diese jemals wieder zurückzulegen. Auch in Heidelberg wurden Akten mit der Bitte um Rücksendung an andere Kliniken und 20 Kretzschmar 1997. Im Archiv bewahre man jedoch nur 10 Prozent des Aktenbestands und besondere in der Literatur zitierte Einzelfälle auf. Beddies verweist auf eine ähnliche Rechtslage in Berlin: Dort werden Krankenakten nach der Krankengeschichtenverordnung höchstens 30 Jahre aufbewahrt, wenn kein besonderes Interesse für die Forschung besteht. Nach Ablauf dieser Zeit unterliegen die Akten nicht mehr dem Krankenhaus, sondern dem Archivgesetz (vgl. Beddies 1999b). 21 Dieser Wert liegt im Mittel des auch in anderen Untersuchungen festgestellten »Aktenschwunds«, wenn mit einem Gesamtbestand von Akten gearbeitet wurde. So geben Beddies/Dörries 1999 einen Aktenschwund von 30 Prozent an, auch Meier et al. 2007 verweisen auf 10–15 Prozent »natürlichen« Verlusts.
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Behörden verschickt und gingen vermutlich auf dem Postweg verloren.22 Dass Akten bewusst vernichtet wurden, weil ihr Inhalt zu heikel war, wird in den Studien von Beddies/Dörries und Meier et al. als seltener Fall betrachtet. Auffällig ist in dem von mir untersuchten Bestand, dass ein Todesfall in der ersten Versuchsgruppe von 1953 zwar im ersten Bericht über die Erprobung erwähnt wurde, sich aber anhand einer Aktenanalyse nicht mehr rekonstruieren ließ.23 Gleichzeitig fand ich aber eine Akte aus den Folgejahren, in der über einen Todesfall nach Megaphenverabreichung berichtet wurde, sodass ausgeschlossen werden kann, dass solche Fälle in systematischer Weise aus dem Bestand entfernt wurden. In dem Bericht blieb offen, ob der Exitus der Patientin eine Folge der Medikation darstellte.24 Als weiterer Vorteil der Lagerung in der Heidelberger Klinik stellte sich heraus, dass die Akten chronologisch nach Eingangsdatum geordnet waren und unter dem Datum der Erstaufnahme alle weiteren Aufenthalte abgeheftet wurde, was eine Analyse nach zeitlichen Verlaufskriterien erheblich erleichterte. Dies machte es möglich, vor allem die erste Erprobung mit Megaphen vom Jahr 1953 weitestgehend rekonstruieren zu können. Die Akten waren, wie auch in anderen Untersuchungen berichtet wird, fadengebunden und umfassten im Durchschnitt circa 20 Seiten. Ihre Dicke variierte stark nach Aufenthaltsdauer der PatientInnen und Interesse am jeweiligen Fall. Als nachteilig für meine Studie erwiesen sich sehr hohe Datenschutzauflagen, welche zu zeitlichen Verzögerungen in der Durchführung meiner Studie führten.
Ordnung und Aufbau der Akten Die Akten beginnen in etwa der Hälfte der Fälle mit einem Foto. Eine Systematik, in welchem Fall man eine Fotografie angefertigt beziehungsweise dies unterlassen hat, ist nicht erkennbar. Die PatientInnen sind vorwiegend sitzend oder im Bett liegend in »Anstaltskleidung« (gestreiftes Hemd) fotografiert worden. Dadurch wird ein deutliches Bild der PatientInnen als körperlich kranke Personen vermittelt, die sich zum Zwecke einer »Krankenhausbehandlung« in der Psychiatrie aufhielten.25 Hervorzuheben22 Meier/Bernet/Hürlimann 2002 berichten, dass durch die leihweise Weitergabe der Akten an andere Kliniken vermutlich ein großer Teil nicht wieder zurück an den Ursprungsort gelangte. 23 Meyer 1953a. 24 PUH, PA 55/130. 25 Dass die PatientInnen tagsüber ein Krankenhausnachthemd trugen, war zu dieser Zeit nicht unbedingt gewöhnlich. So zeigt der von der Firma BAYER produzierte Film »Zentralwirksame Phenothiazinderivate« (1959) die PatientInnen ausschließlich in Zivilkleidung. In Frank Fischers Buch »Irrenhäuser. Kranke klagen an« wird vor allem skandalisiert, dass die PatientInnen nicht
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de Abweichungen stellen Fotos in Zivilkleidung dar, die vor allem bei Kindern, selten bei Erwachsenen zu finden sind. In Ausnahmefällen gibt es Fotos von PatientInnenen während der Megaphenbehandlung (schlafend im Bett) oder Bilder des Behandelten vor und nach der Therapie. Diese Fotos sollen in der Regel den Erfolg der Therapie visualisieren.26 Wie Helen Bömelburg aufzeigt, hatte das Patientenbild in der psychiatrischen Akte eine lange Tradition: Während es vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1930er Jahre jedoch auch zur psychiatrischen Theoriebildung und Visualisierung besonderer Aspekte des Wahnsinns verwendet wurde, diente es danach wohl vor allem der Wiedererkennung.27 Jede Akte enthält ein Stammdatenblatt zur Krankengeschichte, das soziodemografische Daten beinhaltet, sowie die Diagnose(n) des Patienten, klassifiziert nach dem Würzburger Schlüssel.28 Darüber hinaus werden die Art der Aufnahme (vor allem »auf eigenen Antrag« oder »fürsorglich«) und der aufnehmende Arzt markiert. Einen größeren Raum nimmt die Spalte »Verhalten des Kranken und Vorgänge bei Aufnahme« ein, die frei ausgefüllt werden konnte und in der Regel einen ersten Eindruck über die Aufnahmesituation vermittelt. Zuletzt schließlich werden Zustimmungserklärungen zu körperlichen Behandlungsformen grundsätzlich auf dem Stammdatenblatt abgelegt. Die Reverse werden, handgeschrieben oder per Stempel aufgedrückt, im unteren Abschnitt des Blattes eingefügt und beinhalten eine Einverständniserklärung des Angehörigen, selten des Patienten, zur Elektroschockbehandlung. In keinem Fall im gesamten Untersuchungszeitraum fand ich eine Zustimmung zur Megaphentherapie, weder von Angehörigen noch von PatientInnen. Erst in der Vergleichsstichprobe von 1959 werden solche Reverse auf der ersten Seite neben der Zustimmung zur Schockbehandlung abgelegt. Die darauf folgenden Seiten der Akte, meist 2 bis 5 Blätter, sind mit einer ausführlichen Exploration und Epikrise gefüllt. Der Text erfasst in dieser Reihenfolge immer zunächst die Angaben der Angehörigen, dann die des Patienten, den körperlichen Befund, den neurologischen Befund und den psychischen Befund. Gerade die Exploration ist in der Regel sehr ausführlich und die Antworten der PatientInnen werden oft in wörtlicher Rede wiedergegeben: zum Beispiel »(Stimmen?) ›Niiiiemals‹«. Diese langen Beschreibungen, die auch Unterstreichungen von Kurt Schneider enthalten, können als Besonderheit der Heidelberger Klinik
ihre eigenen, sondern krankenhauseigene Zivilkleidung tragen mussten (vgl. Fischer 1969). 26 Nie fand ich Fotos, in denen dies umgekehrt war. Auch Fotos, die unerwünschte Wirkungen demonstrieren, gab es nicht. 27 Bömelburg 2007. 28 Vgl. zum Würzburger Schlüssel Teil II, 2.1.
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gelten, wie ich bereits im einleitenden Abschnitt über die Geschichte der Heidelberger Psychiatrie dargelegt habe. Die Eintragungen in der Akte sind in der Regel umfangreich und beinhalten neben der vorläufigen Diagnose auch einen ausführlichen Verlaufsbericht mit besonderen Vorkommnissen, der nicht selten, gerade wenn körperliche Therapien angewendet wurden, tägliche Einträge aufweist. Gerade in diesen Fällen finden sich meist lange Schilderungen über den Verlauf der Medikation und Berichte der ÄrztInnen, die Auskunft darüber geben, ob man die therapeutische Maßnahme für effektiv hielt. Aber auch die Arzt-PatientInnen-Interaktion über die Verabreichung der Substanz wird festgehalten, zum Beispiel Äußerungen des Patienten über die Medikation, Beobachtungen des Anstaltsalltags, Verweigerung der Medikamenteneinnahme durch den Patienten et cetera. In der Regel befindet sich am Ende der Akte ein Arztbrief, der zusammenfasst, ob die verwendeten Therapien als Erfolg oder Misserfolg betrachtet wurden und in manchen Fällen schließt sich eine weitere Therapieempfehlung in Form eines Briefes an. Diese abschließende Beurteilung muss als Kernstück der Akte aufgefasst werden, die für die Transformation des Patienten zum »medizinischen Fall« von entscheidender Bedeutung ist: Die vielstimmigen Elemente, die sich in der Akte finden, werden hier einer einstimmigen Einschätzung der ÄrztInnen untergeordnet. Die Empfehlung der KlinikerInnen besitzt für den weiteren Verbleib des Patienten eine entscheidende Bedeutung. Der Brief formuliert die abschließende Diagnose und gibt Auskunft darüber, wohin der Patient entlassen wurde. Eine Anstaltsentlassung erfolgte spätestens nach drei Monaten, was den Besonderheiten einer Universitätspsychiatrie entspricht, die – im Gegensatz zu einer Heil- und Pflegeanstalt – in erster Linie Forschung betreibt und keine langfristige »Verwahrung«. Wenn Medikamente verabreicht wurden, findet sich in der Akte zusätzlich ein Medikamentenblatt, in dem die Dosierungen und Kombinationen der entsprechenden Pharmaka sowie andere körperliche Behandlungsformen – ebenso die Fieberkurven – täglich dokumentiert wurden. Zusätzlich wurden hier auch spezielle Diäten und das Gewicht der PatientInnen notiert. Bei den geschilderten Unterteilungen handelt es sich um Bestandteile, die in allen Akten vorhanden sind. Darüber hinaus gibt es einige Dokumente, die sich nur optional in der Akte finden. Dies sind zum Beispiel Auszüge aus Pflegetagebüchern, die handschriftlich geführt wurden. Sie enthalten in der Regel pro Tag einen Satz als Eintrag, ausführlicheren Aufschluss gaben sie nur bei besonderen Vorfällen. Je nach Anwendung entsprechender Verfahren findet sich in der Akte auch eine »Schockliste«, in der die Häufigkeit der Elektroschocks notiert wurde, und eine Liste der Megaphenbehandlung, die in Akten aus den ersten Jahren der Erprobung Behandlungstage, Dosierung, Puls- und Temperaturmessungen enthält. In den Dossiers der Frauen beinhaltet diese Liste noch eine besondere Spalte
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mit der Kategorie »Bemerkungen«. Im Einzelfall finden sich in der Akte auch Gutachten über die PatientInnen. Weitere Quellen, die nicht in jeder Akte enthalten sind, stellen Briefe der PatientInnen an ÄrztInnen oder Verwandte dar. Ob es sich bei Letzteren, wenn sie erhalten sind, um zensierte Briefe handelt, bleibt in der Regel unklar, ist aber zu vermuten. Wie Frank Fischer zeigt, hatte bis Ende der 1960er Jahre jeder psychiatrische Stationsarzt das Recht, persönliche Briefe der PatientInnen abzufangen und in der Krankenakte abzuheften, wenn er es für angemessen hielt.29 In Einzelfällen gibt es Briefe, die PatientInnen nach der Anstaltsentlassung geschrieben haben, um sich über die Behandlung zu beschweren. Auch andere Selbstzeugnisse werden, selbst wenn sie sich auf kleinen Papierschnipseln befinden, in Heidelberg in der Regel penibel gesammelt und in der Akte aufbewahrt. Häufig vorhanden sind Korrespondenzen mit den Angehörigen während des Anstaltsaufenthalts und danach, die einen Blick von »Laien« auf den Behandlungserfolg werfen und diesen sichtbar machen; oft geben sie auch über die Zeit nach der Therapie Aufschluss. Nur einmal fand ich einen Unterbringungsbeschluss, nach dem eine »fürsorgliche« Unterbringung angeordnet worden war. Obwohl manchmal in den Akten von Anhörungen berichtet wird, fand ich entsprechende Beschlüsse dort nicht. Meist erwähnte man eine Anhörung in den Akten jedoch gar nicht. Für das Fehlen dieser Dokumente könnte es zwei Gründe geben: Entweder wurden sie systematisch an anderer Stelle abgelegt – dagegen spricht, dass ich einen entsprechenden Beschluss in einem Fall in einer Akte einmal fand –, oder man erachtete sie als unwichtig. Für diese These spricht der erhebliche Widerstand, den auch die Heidelberger Ärzte einer Neuordnung des Unterbringungsgesetzes entgegenbrachten, die nach der Verabschiedung des Grundgesetzes in der Bundesrepublik nötig geworden war. Das neue Gesetz sah vor, dass die PatientInnen zur Überprüfung nach 24 Stunden »fürsorglicher« Aufnahme einem Richter vorgestellt und angehört werden mussten, damit über eine weitere Unterbringung entschieden werden konnte. Dies nahmen die KrankenhauspsychiaterInnen in der Regel als klare Kompetenzbeschneidung wahr und wehrten sich entsprechend.30
3 . 3 Au s w a h l u n d B e g r ü n d u n g d e r S t i c h p r o b e Die Stichprobe, die ich zur Analyse der Einführung des ersten Neuroleptikums zusammenstellte, umfasst Akten aus den Jahren 1953 bis 1957, 29 Fischer 1969, S. 106. 30 Overhamm 1953; Verwaltensakten der Heidelberger Klinik, ausführlicher in der folgenden Analyse.
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erweitert um eine Vergleichsstichprobe von 1959. Dabei habe ich mich an der These orientiert, dass für die Bewertung der Konjunktur eines Medikaments und einer ersten Wirksamkeitsbeschreibung vor allem die ersten fünf Jahre nach der Einführung entscheidend sind.31 Danach geht es, so meine These, weniger um den Prozess der Wissensbildung über eine Substanz, sondern vor allem um eine Stabilisierung oder therapeutische Optimierung der Effekte, in der Regel durch Kombination mit anderen medikamentösen Therapien. Diese These wurde durch eine erste Analyse der Akten und einen Abgleich mit der Vergleichsstichprobe aus dem Jahr 1959 gestützt, in der die ausführlichen Beschreibungen der Medikation zurückgingen und darüber hinaus immer mehr Kombinationstherapien zur Anwendung kamen, welche die Wirksamkeitsbeschreibung eines einzelnen Medikaments verunmöglichten. Für die Zusammenstellung meines Quellenkorpus bin ich schließlich folgendermaßen vorgegangen: Zunächst habe ich alle Akten vom 01.04. 1953, dem Zeitpunkt, an dem die Psychiatrische Universitätsklinik das Medikament wahrscheinlich von der Firma BAYER zur Erprobung erhielt,32 bis zum 01.07.1953, dem Datum der Marktzulassung von Megaphen durch die Firma BAYER, vollständig gesichtet. Dabei habe ich versucht, alle Versuchspersonen des Stichversuchs zu rekonstruieren, die Hans-Hermann Meyer in seinem ersten Artikel beschrieben hat. So konnte ich 23 der 50 von Meyer beschriebenen primären Versuchspersonen auffinden.33 Ein Vergleich mit den Akten des Monats August 1953 ergab, dass in diesem Monat keine weiteren Erprobungen mehr vorgenommen worden waren. Durch die in den 1950er Jahren noch weitgehend ungeregelten Zulassungsbestimmungen für Medikamente, die vor der Marktzulassung keine Erprobung an größeren Kollektiven vorsahen, zirkulierte die Erprobung der Substanzen in der BRD hinsichtlich ihrer Indikationsfindung, wie Arthur Daemmrich in Anlehnung an Bruno Latour ausführt, vom ersten klinischen Versuch zum Markt und wieder zurück. Diese 31 Diese wird unter anderem auch an der Dauer der 1964 eingesetzten Rezeptpflicht von 3 Jahren deutlich. Diese Zeitangabe orientierte sich vor allem an dem Zeitpunkt, ab dem man einen »sicheren« klinischen Eindruck vom therapeutischen Wert und den unerwünschten Wirkungen einer Substanz zu haben glaubte. Ein ähnliches Forschungsvorhaben, das primär die ersten fünf Jahre des klinischen Einsatzes von Psychopharmaka untersucht, schildert Volker Hess in seiner Forschungsskizze zur Einführung von Psychopharmaka in der DDR (vgl. Hess 2007). 32 Dieses Datum entnahm ich den Publikationen von Kolle/Micorey 1953 und Phillip 1955, die beide in ihren Publikationen angaben, Megaphen im April 1953 von der Firma BAYER zur Erprobung erhalten zu haben. 33 Meyer 1953a. Bei den von mir ausgewählten Krankenakten handelt es sich um alle Behandlungsfälle der Heidelberger Universitätsklinik in dem Zeitraum, der Meyers Publikation zugrunde liegt.
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Bewegung, so Daemmrich, sei für eine Eroberung des Marktes notwendig. Denn erst wenn eine Substanz zugelassen sei, könne man sie an einer breiteren Masse von PatientInnen sowie an Indikationen erproben, an denen das Medikament im ersten klinischen Stichversuch gar nicht getestet wurde.34 Dieser Ausführung folgend habe ich für die Jahrgänge von 1954 bis 1957 eine Stichprobe gezogen, die alle Akten derjenigen PatientInnen beinhaltete, die im Stichmonat Mai Megaphen erhielten. Um auch geschlechtliche Unterschiede in den Blick nehmen zu können, umfasste meine Stichprobe immer Männer und Frauen. Einbezogen habe ich nur PatientInnen, die Megaphen länger als einen Tag zur »Beruhigung« bekamen. Damit erfasste ich durchschnittlich acht Prozent des Bestands, was in der Forschungsliteratur als Repräsentativitätsgrenze für eine (quantitative) Aktenauswertung gilt.35 So war mir die partielle quantitative Beschreibung einiger Kernparameter möglich. Insgesamt habe ich circa 2.000 Akten gesichtet, das in die detailliertere Analyse einbezogene Quellenkorpus umfasst 89 Akten. Bezieht man die Vergleichsstichprobe mit ein, handelt es sich um 105 Akten.36 Die in der Forschungsliteratur geforderte Mindestgrenze von 100 Dossiers pro Dekade für eine quantitativ ausgewertete Zufallsstichprobe wurde also erreicht.37 Erfasst habe ich dabei ausschließlich Akten, in denen Megaphen verabreicht wurde; eine Kontrollgruppe von PatientInnen, die keine Behandlung erhielten, bildete ich nicht. Hierfür hätte es auch keinen Vergleichsparameter gegeben, da zum Beispiel die Diagnose der PatientInnen, die Megaphen erhielten, wechselte. Zusätzlich zu den genannten Akten habe ich weitere Quellen hinzugezogen: Zunächst habe ich mir anhand des Findbuchs einen Überblick über 34 Daemmrich 2004, S. 116ff. 35 So untersuchte die Forschergruppe um Thomas Beddies 4.000 Akten von einem 50.0000 Akten umfassenden Bestand über einen Untersuchungszeitraum von gut 40 Jahren (vgl. Beddies/Dörries 1999). Die Forschergruppe um Marietta Meier zog aus einer Gesamtzahl von 7.000 Akten eine Stichprobe von 1.330 Dossiers. Der Gesamtuntersuchungszeitraum betrug 100 Jahre (vgl. Meier/Bernet/Hürlimann 2002). Hierbei muss betont werden, dass es sich um Forschergruppen handelte und die Auswertung dieser großen Zahl von Akten vor allem quantitativ erfolgte. Die an einer qualitativen Analyse der Akten orientierte Arbeit von Karen Nolte bezog 90 von 236 Akten in ihre Fallanalyse mit ein, andere Akten aus dem Bestand wurden vergleichend hinzugezogen. Der Gesamtzeitraum betrug 42 Jahre (vgl. Nolte 2003). 36 1953: 23; 1954: 8; 1955: 20; 1956: 22; 1957: 15. Zusätzlich habe ich eine Akte nacherhoben, welche die Grundlage für eine ausführliche Einzelfallbeschreibung in einer Veröffentlichung von Hans-Hermann Meyer et al. bildete, um die Fallbeschreibung mit dem Original vergleichen zu können. Es handelte sich dabei um ein speziell in Heidelberg entwickeltes Verfahren der Verabreichung von Megaphen mit zeitgleicher Kühlung der PatientInnen mittels extern aufgelegter Eisbeutel (vgl. Meyer/Rösler/Schmitt 1957). Das Korpus der Vergleichsakten von 1959 umfasste 17 Akten. 37 Meyer/Bernet/Dubach/Germann 2007, S. 93.
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die Gesamtzahl der Einweisungen verschafft. Weil darin jedoch weder Diagnosen noch Medikation festgehalten sind, bleibt die Verwendung von eingeschränktem Nutzen. Dennoch konnte ich anhand dieses Findmittels die Aktennummer rekonstruieren, unter welcher diejenigen Akten abgelegt wurden, die geführt wurden, wenn die Klinik einen Patienten wiederholt aufnahm. Das Verzeichnis der MitarbeiterInnen der Universitätsklinik, das jahrgangsweise geführt wurde, gibt Aufschluss über Stellung und Veröffentlichungen von Hans-Hermann Meyer. Weitere Informationen über Meyer und seine Rolle in der Psychopharmakatherapie habe ich der Sondersammlung »Hans-Hermann Meyer« der Heidelberger Psychiatrischen Universitätsklinik sowie seinem Nachlass entnommen. Dieser wird im Universitätsarchiv Homburg/Saar aufbewahrt.38 Darüber hinaus habe ich die Verwaltungsakten der Heidelberger Klinik unter den für mich relevanten Gesichtspunkten der Medikation und Unterbringungskriterien gesichtet. Zusätzlich habe ich ein Zeitzeugeninterview mit Prof. Walter Schmitt geführt, der zur Zeit der ersten Versuche mit Megaphen im Jahr 1953 als Assistenzarzt an der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg arbeitete und an der Erprobung unmittelbar beteiligt war, wie man auch den Akten entnehmen kann.39 Mithilfe dieser Hintergrundinformationen konnte ich eine erste quantifizierende Beschreibung der analysierten Akten vornehmen. Sie soll einen Rahmen bilden für die qualitative Aktenbeschreibung, die ich anschließen werde und auf die sich meine Aufmerksamkeit vor allem richten wird. Zunächst möchte ich jedoch die Zusammensetzung der PatientInnen zum Zeitpunkt der Erprobung betrachten, die eine wichtige Referenzgröße für die quantitative Beschreibung bietet.
3 . 4 D i e P a t i e n t I n n e n d e r P s yc h i a t r i s c h e n U n i ve r s i t ä t s k l i n i k u m 1 9 5 3 Eine statistische Analyse der Zusammensetzung des PatientInnenkollektivs wurde in den 1950er Jahren in der BRD selten durchgeführt. Dies war, wie Hans-Hermann Meyer formulierte, auch darauf zurückzuführen, dass diese Statistiken stets unvollkommen und voller Fehlerquellen seien und einen Vergleich mit anderen Kliniken kaum ermöglichten. Diese Unwägbarkeiten bezögen sich zum einen auf die nicht gegebene Vergleichbarkeit der Diagnostik, seien aber auch auf die regional sehr unterschiedlichen soziodemographischen Strukturen und differenten Versorgungsangebote zurückzuführen. Meyer versuchte Mitte der 1950er Jahre zusammen mit 38 Dort war Meyer zuletzt Chefarzt der Universitätspsychiatrie. 39 Zeitzeugeninterview Viola Balz/Walter Schmitt vom 02.04.2007.
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einem Kollegen, zumindest über die PatientInnenzusammensetzung der Heidelberger Klinik unter Leitung Kurt Schneiders eine Aussage zu treffen, da er annahm, dass die PatientInnen in diesem Zeitrahmen diagnostisch einheitlich gefasst wurden und auch ansonsten die Behandlungsbedingungen nicht sehr variierten.40 Für die Zeit von 1945 bis 1954 arbeiten Meyer und Böttinger einen Strukturwandel der Krankenhauspopulation heraus, den sie unter anderem auf einen in dieser Zeit erfolgten Flüchtlingsstrom zurückführen. Auch in Heidelberg zeigten sich die Folgen des Krieges in der Überfüllung einzelner Stationen, die Sabine Hanrath für die Psychiatrie nach 1945 im Allgemeinen herausarbeitet: So mussten in Heidelberg in einzelnen Monaten über 100 PatientInnen abgelehnt werden.41 Die zunehmende Anzahl der PatientInnen nach 1945 ist von Meyer anschaulich dokumentiert worden: Die Zahl der Aufnahmen von PatientInnen, die im Jahr 1946 noch 1.692 pro Jahr betrug, wuchs bis zu ihrem Höchstpunkt im Jahr 1950 um mehr als ein Drittel auf 2.558 pro Jahr an. Danach sank die Zahl der Aufnahmen pro Jahr leicht ab. Dies bringen Meyer und Böttinger auch mit dem Aufkommen der Neuroleptika Chlorpromazin und Reserpin in Verbindung. Die sinkende Aufnahmezahl sei aber nicht mit einer Verkürzung der Aufenthaltsdauer in den Anstalten und einer Vermeidung weiterer Einweisungen durch die Einführung neuer effektiver Psychopharmaka zu erklären. Vielmehr führen Meyer und Böttinger aus: »Ab 1953 kam es, vielleicht durch eine Verlängerung der zur Therapie benötigten Zeit nach Einführung der Phenothiazin- und Reserpintherapie, zu geringeren Aufnahmezahlen.«42 Diese Bemerkung verdeutlicht sehr eindrücklich die Unmöglichkeit, die Wirksamkeit der neuen Psychopharmaka vor allem daran zu messen, dass sie gegenüber anderen Verfahren die Dauer des Psychiatrieaufenthaltes verkürzten.43 Insgesamt habe es sich bei den Aufnahmen, wie Meyer/Böttinger verdeutlichen, zu drei Vierteln um Erst- und bei einem Viertel um Wiederaufnahmen gehandelt. Rund 10 Prozent der PatientInnen im Untersuchungszeitraum seien nach der Behandlung in der Universitätsklinik in Heil- und Pflegeanstalten überwiesen worden: Während die Zahl in den Nachkriegsjahren zunächst kontinuierlich leicht abgenommen
40 Meyer/Böttinger 1957. Die Diagnosen orientierten sich am Würzburger Schlüssel von 1933. 41 Meyer/Böttinger 1957. Zum Problem der Überbelegung und der baulichen Mängel auch in anderen bundesdeutschen Psychiatrien vgl. Hanrath 2002. 42 Meyer/Böttinger 1957, S.7. Zur Verlängerung der Krankenhausdauer nach dem Einsatz von Megaphen vgl. auch Janzarik 1954, S. 330. 43 Auf die Unstimmigkeiten der Argumentation, die Effektivität neuer Psychopharmaka in den USA sei eindrücklich mit der Abnahme einer Krankenhauspopulation in Zusammenhang zu bringen, hat bereits Andrew Scull hingewiesen (vgl. Scull 1995, Scull 1980 und I.1.1.).
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habe, erhöhe sie sich in den Jahren 1953 und 1954.44 Auch diese Beobachtung lässt sich gegen einen unmittelbar positiven Effekt der neu eingeführten Neuroleptika ins Feld führen. Von den gesamten Aufnahmen hätten, wie Meyer und sein Kollege Böttinger herausgearbeitet haben, die »Psychosen des schizophrenen Formenkreises« mit fast einem Viertel den größten Teil gebildet, gefolgt von der »Psychopathie« (19 Prozent) und der Zyklothymie (17 Prozent). Andere Diagnosen seien weit weniger häufig vertreten gewesen.45 Bei den sogenannten Schizophrenien sei ein Überwiegen des weiblichen Geschlechts deutlich: Frauen bildeten fast zwei Drittel der Eingewiesenen.46 Zu fragen bleibt, ob die deutlich höhere Zahl der Frauen in dieser diagnostischen Kategorie, die später zu den Kernindikationen der neuroleptischen Therapie werden sollte, sich auch in einer häufigeren Behandlung von Frauen mit dem ersten Neuroleptikum Megaphen niederschlug.
3.5 Megaphen in den ersten fünf Jahren: Häufigkeiten In der quantitativen Beschreibung der Akten, die ich im Folgenden vornehmen werde, habe ich zunächst die Patientenzahl in den Blick genommen. Betrachtet man jeweils den Stichmonat Mai, so lässt sich beobachten, dass die Gesamtzahl der Akten in den Jahren nach 1953 leicht abnimmt.47 Da die Klinik in den 1950er Jahren häufig überfüllt war und in der Regel keinen Leerstand aufwies, ist dies eher mit der schon erwähnten Renovierung, aber auch der von Meyer herausgearbeiteten längeren Verweildauer 44 Meyer/Böttinger 1957, S. 9ff. Dies ist insbesondere hervorzuheben, da es sich bei den in Heil- und Pflegeanstalten verlegten PatientInnen zu 59 Prozent um solche mit der Diagnose Schizophrenie handelte, also um jene PatientInnen, bei denen aus heutiger Sicht die Medikation besonders effektiv hätte sein sollen. 45 Diese Zahl ist etwas anders, wenn man sich das Verhältnis von Erst- und Wiederaufnahmen ansieht: So liegen bei den Erstaufnahmen die Psychopathien (21 Prozent) noch leicht vor den Psychosen des Schizophrenen Formenkreises (20 Prozent) und den Zyclothymien (15 Prozent). Die letzten beiden überwiegen jedoch bei den Wiederaufnahmen deutlich. 46 Meyer/Böttinger 1957, S. 19ff. Die Autoren betonen, dass die Geschlechterdifferenz in der Heidelberger PatientInnengruppe größer gewesen sei als in anderen statistischen Untersuchungen. Auch wurden Frauen im Verhältnis häufiger nach der Behandlung in Heil- und Pflegeanstalten überwiesen als Männer (im Verhältnis 55 Prozent der behandelten Frauen und 45 Prozent der behandelten Männer). Im Gesamtuntersuchungszeitraum betrug die Zahl der ungeklärten Fälle, das heißt derjenigen Fälle, in denen keine Diagnose gestellt werden konnte, 651. 47 Vgl. Tabelle1 im Anhang.
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nach der Einführung neuer Verfahren zu erklären. Analysiert man den gesamten Untersuchungszeitraum, ergibt sich ein rapider Anstieg der Verwendung von Megaphen im Jahr 1955 und 1956. Danach sinkt die Anzahl der Verabreichungen leicht ab, wie die Tabelle 1 verdeutlicht. Tabelle 1: Die Zahl der mit Megaphen Behandelten insgesamt von 1953 bis 1957, Stichmonat Mai (Aufnahmedatum), n = 67
25 20 15 10 5 0 1953
1954
1955
1956
1957
Da die Zahl der insgesamt aufgenommenen PatientInnen in dieser Zeit kontinuierlich abnimmt, ist der Anstieg der Verabreichung von Megaphen nur mit einem steigenden Interesse an der Substanz zu erklären. Die starke Zunahme der Verwendung fällt auch mit einem Wechsel an der Klinikspitze, der Übernahme der Klinikleitung durch Walter Ritter von Baeyer 1955, zusammen. Dass dieser Wechsel wohl die größte Auswirkung auf eine Zunahme der Verwendung hatte, wird auch im Zeitzeugeninterview hervorgehoben.48 Insgesamt zeigt sich jedoch, dass die prozentuale Verabreichungsrate im Hinblick auf die gesamte Patientenpopulation der Megaphentherapie auch in den Spitzenjahren des Einsatzes wie beispielsweise 1955 eine Quote von 13 Prozent nicht überschreitet. Auch wenn man die weit seltener verabreichte Therapie mit dem Neuroleptikum Reserpin mit einbezieht, dürfte die Verabreichungsrate nicht über 15 Prozent liegen.49 48 Zeitzeugeninterview Viola Balz/Walter Schmitt vom 02.04.2007. 49 Die Verabreichung von Reserpin allein wurde unter anderem deshalb nicht in die Stichprobe mit einbezogen, weil sie nur in Einzelfällen erfolgte. Dies ist neben der Vorstellung, dass Reserpin nicht so effektiv sei wie Chlorpromazin, wohl vor allem mit den höheren Kosten der Therapie zu erklären.
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Es wurde also in den ersten Jahren nicht einmal jeder sechste Patient der Heidelberger Universitätsklinik mit Neuroleptika behandelt. Die in den Untersuchungen von Meier et al. vorgefundene Quote von über 50 Prozent in der Züricher Psychiatrie konnte so zumindest für die 1950er Jahre nicht bestätigt werden.50 Im gesamten Untersuchungszeitraum wurden weit weniger Frauen als Männer mit Megaphen behandelt.51 Nur in der Gesamtstichprobe von 1953 ist das Verhältnis ausgeglichen. Bezieht man über den Gesamtuntersuchungszeitraum nur den Stichmonat Mai in die Analyse ein, dann verabreichte man 27 Frauen und 40 Männern die neue Substanz.52 Diese signifikante Häufung der neuroleptischen Behandlung von Männern muss vor dem Hintergrund der Geschlechterverteilung insgesamt betrachtet werden. Während sich zumindest in den Jahren 1953 und 1954 insgesamt annähernd gleich viele Frauen und Männer in der Klinik befanden, differiert die Zusammensetzung stark nach Diagnose. Macht man sich bewusst, dass zwei Drittel der im Untersuchungszeitraum als »schizophren« bezeichneten PatientInnen Frauen waren53 – also jene Diagnose erhielten, die nach heutiger Sicht die Kernindikation für die Verabreichung einer neuroleptischen Substanz bildet –, fällt die geringe Anzahl von Frauen umso stärker ins Gewicht. Dieses Argument widerspricht zumindest für die Anfangsjahre der Hypothese, dass Psychopharmaka besonders häufig an Frauen getestet wurden. So arbeitet Laura Hirshbein für die Diagnose Depression heraus, dass die meisten Psychopharmakastudien, insbesondere über Antidepressiva, an weiblichen Versuchspersonen unternommen worden seien, was nicht ohne Folgen für die Definition der Kategorie geblieben sei.54 Auch Meier et al. betonen, dass in ihrem Untersuchungszeitraum zwei Drittel der mit Psychopharmaka Behandelten Frauen gewesen seien.55 Untersuchungen in den Wittenauer Heilstätten ergaben sogar eine zehnmal höhere Quote der Verabreichung von Megaphen an Frauen.56 Da die Stichprobe unter den Gesichtspunkten einer quantitativen Analyse sehr klein ist, 50 51 52 53 54 55
Meyer et al. 2007, S. 110ff. Vgl. Tabelle 2 und 3 im Anhang Auch für das Jahr 1953 wurde hier nur der Stichmonat Mai mit einbezogen. Meyer/Böttinger 1957, S. 19ff. Hirshbein 2006, S. 15. Meier et al. 2007, S. 113. So betrüge die Verabreichungsrate aller neuen Psychopharmaka bei Männern 37 Prozent, Frauen 63 Prozent. Dieses meiner eigenen Untersuchung diametral entgegengesetzte Untersuchungsergebnis ist vielleicht auch damit zu erklären, dass es hier nur um Psychopharmaka insgesamt ging. So bestätigt auch Ussher, dass die PsychopharmakanutzerInnen insgesamt zu zwei Dritteln Frauen sind (vgl. Ussher 1991, S. 162). Insbesondere Antidepressiva und Tranquilizer werden besonders häufig Frauen verabreicht. 56 Giel 1999, S. 428.
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muss gleichzeitig eingeräumt werden, dass eine Verzerrung aufgrund der Stichprobengröße möglich ist.57 Insgesamt wird in zahlreichen Publikationen hervorgehoben, dass man die Effekte des Megaphens vor allem auf Frauenstationen erprobte, weil Patientinnen in der Regel den Anweisungen des (männlichen) Arztes besser folgten.58 Vor dem beschriebenen Hintergrund ist eine diagnostische Zuordnung interessant, die verdeutlicht, zur Modifikation welcher »psychischer Störungen« man die Medikation als nützlich erachtete. Die diagnostische Klassifizierung erfolgte in den Akten jedoch nur sehr grob entlang der Vorgaben des Würzburger Schlüssels, der mehr einen Leitfaden als ein operationalisiertes Kategoriensystem darstellt. Betrachtet man die Diagnoseverteilung, zeigt sich für das Jahr 1953 ein deutliches Überwiegen der Diagnose Schizophrenie.59 Nur zwei (weiblichen) Versuchspersonen mit der Diagnose Zyklothyme Depression verabreichte man Megaphen in der ersten Versuchsreihe. Dass jeweils einmal die Substanz auch an anderen Diagnosen wie Zyklothymer Manie, Betäubungsmittelsucht, Delirium Tremens und Thyreotoxikose verabreicht wurde, verdeutlich den Versuchscharakter der neuen Medikation.60 Die Häufung der Diagnose Schizophrenie ist umso auffälliger, weil die Firma BAYER die Substanz nicht speziell für diese »Störung« vermarktete und auch andere Publikationen zunächst von einer breiteren Verwendung berichteten.61 Doch im Jahr 1954 diente in der von mir untersuchten Klinik ausschließlich die Diagnose Schizophrenie als Verabreichungskriterium. Diese Heidelberger Zentrierung scheint insgesamt weniger mit den spezifischen Wirksamkeitsvorstellungen als mit dem großen Einfluss des Chefarztes Kurt Schneider und seiner Konzentration auf die sogenannten »Endogenen Psychosen« zusammenzuhängen, die im Fokus seines Interesses standen und für die allein er eine somatische Therapie für angemessen hielt.62 Ab dem Jahr 1955 zeigt sich eine auffällige Öffnung der Diagnosen.63 Auch die Verwendung von Chlorpromazin an einer breiteren Palette von 57 Einflussgrößen einer solchen Verzerrung könnten zum Beispiel sein, dass sich besonders an der Psychopharmakologie interessierte ÄrztInnen ausschließlich auf der Männerstation befanden. 58 So berichten beispielsweise Lieser 1956 und Wolff 1958 ausschließlich von einer Erprobung an Frauen. Auch die beiden 1955 und 1959 von BAYER produzierten Filme zeigten ausschließlich eine Verwendung der Medikation an Frauen. 59 17 PatientInnen erhielten diese Diagnose. 60 Vgl. Tabelle 4 im Anhang. 61 Largactilsymposium 1954. 62 Schneider 1947, S. 529. Vgl. dazu auch die Tatsache, dass die »Schizophrenen Psychosen« mit über 20 Prozent diejenige Diagnose darstellt, welche die meisten PatientInnen erhielten. 63 Vgl. Tabelle 5 im Anhang.
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PatientInnen muss wohl auf den bereits angeführten Wechsel in der Klinikleitung zurückgeführt werden.64 Dafür spricht zudem, dass in den folgenden Untersuchungsjahren die Indikationen, an denen eine medikamentöse Therapie mit Megaphen durchgeführt wurde, zunahmen. Für den gesamten Untersuchungszeitraum überwiegt dennoch die Diagnose Schizophrenie, wie Tabelle 2 verdeutlicht: Tabelle 2: Diagnosen insgesamt von 1953 bis 1957, n = 89
60 50 40 30 20 10 0 Schizo.
Zykl. Depr.
Sucht
Andere
Während in den gesamten ersten fünf Jahren etwa zwei Drittel der Behandelten als schizophren klassifiziert worden sind, ändert sich die Verteilung, wenn man die Zeit nach 1955 betrachtet, denn in den Jahren 1955 bis 1957 sind es im Verhältnis nur ungefähr 50 Prozent. Es häufen sich in diesem Untersuchungszeitraum Diagnosen, an denen man die Medikation neu ausprobierte.65 Folgt man dieser Veränderung, so verdeutlicht sich die von Daemmrich beschriebene Bewegung der Indikationsfindung der Substanzen – von der Erprobung zum Markt und wieder zurück –, da eine breitere Erprobung, wie das Beispiel Heidelberg verdeutlicht, auch hier erst nach der Zulassung an breiteren Kollektiven von PatientInnen vorgenommen wurde. Zugleich bildet sich darin jedoch auch eine Veränderung im psychiatrischen Denkstil der Klinikleitung ab. Dieser ist für die Verwendung einer neuen Substanz meines Erachtens als entscheidender anzusehen als die durchschlagenden Effekte der Therapie selbst.
64 Interview Viola Balz/Walter Schmitt vom 02.04.2007. 65 Vgl. Tabelle 1 im Anhang.
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Kurt Schneiders Postulat, sich ausschließlich auf die endogenen Psychosen zu beschränken und sein geringes Interesse an pharmakologischen Therapien sorgte vermutlich dafür, dass nur wenige »schizophrene« PatientInnen das Medikament erhielten. Mit der Übernahme der Klinikleitung durch Walter Ritter von Baeyer wurde neben einem eher anthropologisch ausgerichteten Krankheitsverständnis auch ein neues Interesse an Therapien deutlich. Es ist vor allem dieser therapeutische Optimismus, der vermutlich dazu führte, Megaphen an Patienten mit verschiedenen Diagnosen auszuprobieren, um neue Anwendungsfelder zu erschließen. Zusammenfassend gesehen erfolgte der Einsatz von Megaphen zumindest in den ersten zwei Jahren zögerlich und vor allem bezogen auf die Diagnose Schizophrenie, die auch schon in der ersten Versuchsgruppe von Delay und Deniker ein Auswahlkriterium war.66 Ein Vergleich mit der Gesamtzahl der als schizophren klassifizierten PatientInnen im gesamten Untersuchungszeitraum entlang der gesichteten Akten ergab jedoch, dass nur bei knapp der Hälfte der PatientInnen dieser Gruppe eine neuroleptische Behandlung durchgeführt wurde, die Diagnose also kein hinreichendes Kriterium für eine Behandlung mit dem neuen psychiatrischen Medikament darstellte. Die Zunahme der Erprobungen ist nicht zuletzt auf die Ausweitung der Indikationen zurückzuführen, die man knapp zwei Jahre nach Markteinführung vornahm. Dies beinhaltet im Einzelfall auch nichtpsychiatrische Indikationen, wie das Beispiel eines Falles von Kopfschmerz unklarer Ursache verdeutlicht.67 Insbesondere das Kriterium Geschlecht scheint für die Verabreichung eine entscheidende Rolle gespielt zu haben. Das deutliche Überwiegen der Männer in der ersten Versuchsgruppe legt eine Sozialdisziplinierungshypothese nahe, wie auch die inhaltlichen Analyse verdeutlicht: Wenn Männer in die Anstalt gerieten – nachdem ihre Familie und Frauen häufig lange ein abweichendes Verhalten mitgetragen hatten –, verhielten sie sich häufiger in einer die Anstaltsordnung störenden Weise. Vielleicht spielte aber auch die Tatsache, dass man Frauen ohnehin für weniger gut sozial reintegrierbar hielt, für die vergleichsweise geringere Verabreichungszahl der Medikamente eine Rolle. So hat sich auch in Heidelberg gezeigt, dass sich gerade die Patientinnen mit der Diagnose Schizophrenie nach ihrem Aufenthalt in der Universitätspsychiatrie häufiger in Heil- und Pflegeanstalten wiederfanden.68 66 Vgl. Delay 1956. 67 Vgl. PUH, PA 55/154. 68 Meyer/Böttinger 1957. Die Tatsache, dass Frauen nach einer neuroleptischen Behandlung weniger gut zu entlassen seien, obwohl sie auf die Behandlung eigentlich besser ansprächen, wurde schon auf dem Largactilsymposium problematisiert (vgl. Labhardt 1954; für die USA auch Denber 1959). Später wurde auch in amerikanischen Veröffentlichungen erörtert, dass eine Testung neuroleptischer Wirksamkeit an Frauen besonders schwierig sei, da sie
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Vom Schock zur Pille? Körperliche Behandlungsformen in den ersten fünf Jahren Die Einführung des ersten Neuroleptikums Megaphen lässt die Frage aufkommen, ob die vielbeschworene »psychopharmakologische Revolution« eine Ablösung von den anderen somatischen Verfahren in der Psychiatrie mit sich brachte. Die Verabreichung von Megaphen alleine ist darüber hinaus auch für einen Wirksamkeitsnachweis der neuen Substanz ein entscheidender Faktor. Gerade für eine Ersterprobung in der Versuchsgruppe vom Jahr 1953 war deshalb eine Verabreichung der Substanz ohne weitere körperliche Behandlungsformen zu erwarten. Umso mehr verwundert die große Zahl der Kombinationsbehandlungen, welche Tabelle 3 verdeutlicht. Tabelle 3: Elektroschockverabreichungen in der Versuchsgruppe von 1953, n = 12
er vo rh er /n ac hh er
na ch h
vo rh er
in sg es am
t
14 12 10 8 6 4 2 0
Grundsätzlich häuften sich in der Heidelberger Klinik besonders die Kombinationsbehandlungen der Megaphentherapie mit einer Elektroschockbehandlung, seltener war eine Kombination mit anderen somatischen
eine schlechtere Sozialprognose hätten. Während verheiratete Männer in der Regel von ihren Frauen nach einem Anstaltsaufenthalt weiter gestützt würden, sei die umgekehrte Bereitschaft in der Regel nicht vorhanden. Vielmehr hätte sich die Zahl der Scheidungen erhöht. Ussher poiniert diesen Umstand mit den Worten: »[M]arried women and single men are the groups who appear to be at highest risk of psychiatric diagnosis, with marriage acting to protect men, and place women at risk« (Ussher 1991, S. 260).
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Verfahren. Dies ist wahrscheinlich auch damit zu erklären, dass die Elektroschocktherapie das zeitgenössisch am häufigsten angewandte »Schockverfahren« darstellte, da es am billigsten war. Eine Insulinkomatherapie wurde zudem in Heidelberg selten durchgeführt; die PatientInnen wurden bei Bedarf an andere Kliniken überwiesen.69 Insgesamt wurden von den 23 PatientInnen der ersten Versuchsgruppe zwölf vor oder nach der Medikation einer Elektroschockbehandlung unterzogen; das entspricht einer Quote von gut 50 Prozent. Abgesehen von einem Fall von »Zyklothymer Manie« hatten alle anderen elektrogeschockten PatientInnen die Diagnose Schizophrenie erhalten. Zwei weitere AnstaltsinsassInnen mit dieser Diagnose wurden nur deshalb keiner Schockbehandlung unterzogen, weil eine Kontraindikation bestand, wie die Aktenlektüre verdeutlicht.70 Bei zwei Drittel der als schizophren Diagnostizierten, so lässt sich zusammenfassend konstatieren, wendete man also zunächst beide Verfahren an. Führt man sich vor Augen, dass etwa ein Drittel der mit Megaphen behandelten PatientInnen auch nach der Verabreichung der Medikation elektrogeschockt wurden, wird deutlich, dass es sich bei Chlorpromazin keinesfalls um eine »Wunderdroge« gehandelt hat.71 Mit weiteren Schockverfahren wie dem Insulinkoma und dem Cardiozolkrampf72 behandelte man drei PatientInnen, nachdem sowohl eine Megaphengabe als auch die Durchführung einer Elektroschockserie keine Veränderung bewirkt hatten. Auch in den folgenden Jahren verabreichte man Megaphen in Heidelberg nicht allein. Vielmehr nutzte man zu unterschiedlichen Zeitpunkten der Behandlung eine Kombination, vor allem mit der Elektroschocktherapie, wie Tabelle 4 verdeutlicht. 69 Dies ist wohl auch damit zu erklären, dass die Insulinkomatherapie nicht nur teuer, sondern auch personalintensiv war, wie von Baeyer bereits zu Beginn der 1950er Jahre eindrücklich beschrieben hatte (vgl. von Baeyer 1951). Deshalb wurde sie in der Regel auf speziellen Insulinstationen durchgeführt, welche die Heidelberger Klinik nicht besaß. Noch Ende der 1950er Jahre plante von Baeyer den Aufbau einer solchen Station, ließ diese Idee aber zugunsten der Errichtung einer ersten sozialpsychiatrischen Einheit fallen (vgl. Rotzoll 2008). 70 In einem geschilderten Fall sah man davon ab, da die Patientin mit 8 Jahren zu jung für eine Behandlung schien (vgl. PUH PA 53/133). In einem weiteren Fall bestand schon vorher der Verdacht auf eine Hirnschädigung. 71 Zum Konzept der Wunderdroge vgl. Pieters 2005. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch schon eine in den 1960er Jahren angefertigte Doktorarbeit über die Entwicklung der Depressionsbehandlung seit Einführung der neuen Psychopharmaka an der Universitätsnervenklinik Tübingen: Die Entlassungsrate bei dieser Diagnose sei höher gewesen, wenn der Elektroschock allein angewendet worden sei (vgl. Vogel 1966). 72 Vgl. zur Geschichte der beiden Verfahren II.3.
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Tabelle 4: Elektroschockverabreichungen in den Stichproben von 1953 bis 1957, n = 48
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16 14 12 10 8 6 4 2 0
48 der 89 PatientInnen der Stichprobe im Untersuchungszeitraum wurden bis zum Jahr 1957 sowohl einer Elektroschock- als auch einer Megaphenbehandlung unterzogen. Dies entspricht im Gesamtuntersuchungszeitraum einer Quote von über 50 Prozent der »Therapierten«. Besonders hervorzuheben ist hierbei die hohe Quote der zeitgleichen Anwendung beider Verfahren.73 Die Anwendung dieser Kombinationsmethode erreichte in den Jahren 1955 und 1956 ihren Höhepunkt. Vermutlich versprach man sich von der Kopplung nicht unbedingt eine Potenzierung der Effekte, sondern wollte auch die Angst der PatientInnen vor der Elektroschockbehandlung minimieren und ihre Mitwirkungsrate erhöhen.74 Für diese These spricht
73 Meyer berichtet schon in seiner Erstveröffentlichung, dass in einigen Fällen eine Kombination mit dem Elektroschock sinnvoll gewesen sei (vgl. Meyer 1953a). Später problematisiert er diese Kombination, weil sie keine Wirksamkeitsstudien mehr erlaube (vgl. Meyer 1959b). Fakt ist aber, dass eine solche Kombination im gesamten Untersuchungszeitraum breit zur Anwendung kam. Dass man Megaphen nicht allein verabreichte, scheint keine Heidelberger Spezialität gewesen zu sein, denn auch die Arbeit Vogels berichtet von Megaphen-Elektroschock-Kombinationsbehandlungen (vgl. Vogel 1966). 74 Ausführlicher dazu die Einzelfallanalysen im nächsten Abschnitt.
DIE ERPROBUNG VON MEGAPHEN | 177
die Veröffentlichung von Publikationen, welche die zeitgleiche Anwendung beider Verfahren zur »Vermeidung der Schockangst« propagieren.75 Weitere körperliche Behandlungsverfahren, mit denen die Megaphentherapie kombiniert wurde, stellten die Cardiozol-, Stickstoff- und Serpasilbehandlungen76 dar. Besonders bemerkenswert ist, dass Serpasil und Megaphen in lediglich einem einzigen Fall kombiniert wurden.77 Die Kombination beider Verfahren wurde in den 1950er Jahren in der Forschungsliteratur breit diskutiert und die Potenzierung der Effekte beider Pharmazeutika in der Psychiatrie hervorgehoben.78 Dies führte dazu, dass BAYER mit Megaphen compositum sogar eine neue Substanz auf den Markt brachte, die beide Wirkstoffe kombinierte.79 Die Stickstoffinhalationsbehandlung war hingegen eine Heidelberger Besonderheit, denn das Verfahren war erst Anfang der 1950er Jahre von Hans-Hermann Meyer entwickelt und meist für PatientInnen verwendet worden, die man als depressiv bezeichnete.80 Die Vielzahl der Kombinationsbehandlungen wirft zum einen die Frage auf, in welcher Form überhaupt eine Wirksamkeitsprüfung erfolgte, da es in der Mehrzahl der Fälle offensichtlich um eine Potenzierung der Effekte verschiedener körperlicher Behandlungsverfahren ging. Zum anderen verdeutlicht sie, dass die Megaphentherapie keinesfalls sofort die erwähnte psychopharmakologische Revolution auslöste. Diese Behauptung bestätigt sich, wenn man die Anzahl der entlassenen und verlegten PatientInnen betrachtet, die ich hier lediglich aus der Versuchsgruppe vom Jahr 1953 rekonstruiere. Als Quelle dient mir hierzu der abschließende Arztbrief, der allerdings lediglich Aufschluss gibt über den Blick der Klinik auf das Verhalten der PatientInnen und ihre Eingruppierung in die Kategorien »gebessert« oder »ungebessert« verdeutlicht.
75 Lieser 1956. Im Archiv der Firma BAYER existiert auch ein Lehrfilm zur Kombinationsbehandlung von Megaphen und dem Elektroschock aus dem gleichen Jahr, mit dem der Medizinalrat Lieser im Auftrag der BAYERPharmaabteilung dieses Verfahren bewarb. 76 Serpasil ist der Handelsnamen des seit Anfang der 1950er Jahre gebräuchlichen Neuroleptikums Reserpin, das von der Firma BOEHRINGER produziert wurde. 77 Es handelte sich hier auch nicht um eine Patientin mit der Diagnose Schizophrenie, sondern »Zustand nach Contusio Cerebri, abnorme Persönlichkeit« (PUH, PA 57/72). 78 Flügel 1958; für die späteren Jahre vgl. Krietsch/Pieper 1961. Meyer führt aus, dass die Kombination wohl vor allem für den Anschluss an eine akute Therapie geeignet sei (vgl. Meyer 1959b). 79 BAYER-Produktbroschüre »Megaphen compositum. Neuroleptikum«, (circa 1957). 80 Meyer 1953b.
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Das Problem der Entlassungsrate als Indikator für Wirksamkeit In der Forschungsliteratur wird häufig die Entlassungsrate der psychiatrischen Anstalten als Hauptindikator für einen Wirksamkeitsnachweis der neuen Psychopharmaka bemüht. Doch schon zeitgenössisch war die Entlassungsrate als Nachweis eines therapeutischen Wertes der Behandlung nicht unumstritten. Es werde, wie Max Müller (1894–1980) betont, »eine Verkürzung der Internierungszeit unbedenklich als therapeutischer Erfolg gebucht, ohne in Rechnung zu stellen, daß die Entlassung eines schizophrenen Patienten von einer Reihe behandlungsfremder Umstände abhängt, wie der allgemeinen wirtschaftlichen Lage, der Toleranz der Angehörigen, der Überfüllung der Anstalten, den gesetzlichen Bestimmungen«.81 Es stellt sich also die Frage, inwieweit allein die Abnahme der PatientInnenpopulationen in den Psychiatrien über eine Wirksamkeit der Medikation Auskunft gibt. Dieses Problem lässt sich auch anhand einer Beschreibung der Versuchsgruppe vom Jahr 1953 verdeutlichen. So tritt hier – folgt der Leser den Einlassungen des Arztbriefes – bei etwa der Hälfte der AnstaltsinsassInnen keine Besserung ein. Dass zwei Personen trotzdem nach Hause entlassen werden, veranschaulicht ein Problem der gesamten Stichprobe bis zum Jahr 1957. Eine Entlassung nach Hause bedeutete nämlich keinesfalls unbedingt einen Erfolg der Therapie, sondern beinhaltete in der Regel vielgestaltige soziale Gründe. So entließ man einen Patienten trotz seines weiterhin störenden Zustands nach Hause, da man sich aufgrund einer fehlenden Krankenversicherung keinen weiteren Krankenhausaufenthalt leisten konnte. Auch bei den zwölf als »gebessert« bezeichneten PatientInnen wird nicht unbedingt die medikamentöse Behandlung als Grund für die Entlassung angegeben. Lediglich bei acht PatientInnen argumentierten die behandelnden Ärzte in diesem Sinne, bei vier weiteren PatientInnen werden andere Gründe – in der Regel andere somatische Therapieverfahren – in den Mittelpunkt gestellt. Betrachtet man die als »gebessert« Bezeichneten näher, so sticht ins Auge, dass hiervon zwei die Diagnose Zyklothyme Depression erhielten, eine Störung, die eigentlich nicht zu den in der Forschungsliteratur beschriebenen Kerndiagnosen gehörte und an der sich die Medikation schließlich auch nicht durchsetzte. In einem dritten Fall von »Delirium tremens« wird die Substanz nur zur Beruhigung eingesetzt, in einem vierten Fall scheint die Entlassung vor allem durch einen beruhigenden Effekt des Medikaments trotz eines beschriebenen »schizophrenen Defekts« möglich. Diese Differenzierung veranschaulicht eindrücklich das Problem des Kriteriums »gebessert entlassen«, bei dessen Bildung auf der einen Seite viele soziale Faktoren, auf der 81 Müller 1960, S. 37.
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anderen Seite aber auch unterschiedlichste Vorstellungen des Begriffs Wirksamkeit mit einflossen, die von der Beruhigung bis zur zielgenauen »Symptomlinderung« reichten. Zusammenfassend stellt sich also die Frage, ob man »Wirksamkeit zählen« kann, ohne die vielfältigen sozialen Faktoren, die in einen solchen Begriff eingehen, entlang der Akten rekonstruieren zu müssen. Eine ähnliche Frage stellen Meier et al., wenn sie problematisieren: »Lässt sich Zwang zählen?« Die ForscherInnengruppe um Meier versucht dieses Problem zu lösen, indem sie verschiedene Motive der ÄrztInnen für eine Zwangsanwendung unterscheiden.82 Im Gegensatz zu dieser Herangehensweise ist für meine Analyse jedoch nicht das Motiv der Medikamentengabe von Interesse, sondern das Konzept der Wirksamkeit selbst. Es soll deshalb im Folgenden vor allem eine qualitative Analyse der Krankenakten in den Mittelpunkt gestellt werden, in der in den Blick genommen werden soll, wie sich ein Begriff der Wirksamkeit aus dem Anstaltsalltag heraus bildete.
3 . 6 F a l l a u sw a h l Die Auswertung der im Weiteren analysierten Akten erfolgt anhand von zwei zeitlichen Achsen. So werde ich zunächst die Versuchspersonen aus dem Jahr 1953 in den Blick nehmen, die meines Erachtens für eine erste Stabilisierung des Wissens besonders wichtig sind, und sie schließlich mit weiteren PatientInnen vergleichen, an denen man Megaphen in den ersten fünf Jahren erprobte. Zentral in meiner Fallauswahl aus den PatientInnenakten stehen in dieser Arbeit die Grenzfälle, die meines Erachtens in der psychopharmakologischen Epistemologie von entscheidender Bedeutung sind. Als Grenzfälle markiere ich sowohl die ersten vier PatientInnen der Versuchsgruppe meiner Analyse, die der Konstitution eines ersten Erfolgsfalls vorausgehen, als auch die PatientInnen mit »besonderen Diagnosen«83 im gesamten Untersuchungszeitraum, an denen eine Erprobung vorgenommen wurde. Grenzfälle sind in Einzelfällen meines Erachtens aber auch Erprobungen an PatientInnen, denen in der Wissensbildung über neuroleptische Effekte aufgrund der Anwendung neuer, spezieller Behandlungsformen eine besondere Bedeutung zukommt. Dabei geht es mir in der gesamten Analyseeinheit darum, in meiner ersten Versuchsgruppe und im weiteren Verlauf PatientInnen als AkteurInnen zu identifizieren. Dies beinhaltet sowohl die Einwilligung der PatientInnen zur Therapie, als auch ihr Nicht-Befolgen therapeutischer Anordnungen. 82 Meier et al. 2007, S. 87ff. 83 Das heißt PatientInnen mit anderen Diagnosen als »Schizophrenie«.
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Doch im Folgenden möchte ich zunächst den Beginn der klinischen Erprobung näher betrachten. Die Analyse von Grenzfällen macht es dabei notwendig, die Bedeutung von psychiatrischen Fallgeschichten und Anstaltsordnungen für die in den Krankenakten niedergelegten Erzählungen herauszuarbeiten. Wie ich bereits zu Beginn der Arbeit dargestellt habe, wird die psychopharmakologische Wirksamkeit erst durch die Subjektivierung und die Zeugenschaft von Arzt und Patient hergestellt. Die konkrete Bedeutung dieser Subjektivierung für die Arbeit mit Krankenakten als Quellenmaterial wird an dieser Stelle etwas ausführlicher in den Blick genommen. Die Ausführungen sollen als theoretischer Kontext für die darauf folgenden Mikroanalysen der Krankenakten gelesen werden, in denen der Patient mit seinen Erlebnissen zwischen einem medizinisch-naturwissenschaftlichen Wirkungsbegriff und seinen verkörperten Psychopharmakaerfahrung sichtbar wird.
3 . 7 D e r P a t i e n t i n d e r Ak t e a l s Ak t e u r u n d a l s F a l l : theoretische Überlegungen Der Inhalt einer Krankenakte kann ohne ihren Entstehungskontext in der Psychiatrie nicht gedeutet werden. Robert Castel hatte die »mächtige« Realität der Anstalt als »psychiatrische Ordnung« bezeichnet, die ihrer eigenen institutionellen Logiken folgt.84 Die Aktenforschung bietet die Möglichkeiten, den Akteurstatus aller an dem Prozess der Aushandlung psychiatrischen Wissens beteiligten Personen und Institutionen sichtbar zu machen. Auf der einen Seite wird in der Akte eine Vielzahl von Stimmen unterschiedlicher Berufsgruppen vernehmbar und lässt eine differente Sichtweise auf die Institution und ihre Funktionen sichtbar werden. Hier werden sowohl die jeweiligen Vorstellungen über Therapieformen als auch die Notwendigkeit verschiedener (ordnender) Praktiken aus der Logik der Organisation heraus deutlich.85 Auf der anderen Seite stellt die psychiatrische Krankenakte nur einen Fokus dar, einen kleinen Ausschnitt des Werdegangs des Patienten, der meist von ganz unterschiedlichen Institutionen geprägt ist. So sind in den Akten eine Vielzahl von Dokumentationen enthalten, die eine Kommunikation zwischen den verschiedenen medizinischen, sozialen und juristischen Institutionen verdeutlichen wie zum Beispiel den HausärztInnen, anderen Krankenhäusern und Psychiatrien, 84 Castel 1979. 85 Aus diesem Grunde unterscheiden Meier et al. auch die Dimensionen von Person, Institution und Gesellschaft, die sie in die Termini von Ordnung des Selbst, Anstaltsordnung und Gesellschaftsordnung übersetzen (vgl. Meier et al 2007, S. 31ff).
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ambulanten psychiatrischen Einrichtungen, Versorgungsämtern, Krankenkassen, Gefängnissen und anderen Fürsorgeeinrichtungen. Erst in der Interaktion zwischen diesen verschiedenen Organisationen wird die Geschichte des Patienten als psychiatrischer Fall deutlich. In diesem Kontext entstehen in den Akten aufspürbare »Fallgeschichten«. Diese sind auf der einen Seite an die Grenzen des innerhalb der Institution Sagbaren gebunden und lassen PatientInnen nur in den Momenten als AkteurInnen erscheinen, in denen besondere Ereignisse stattfinden. Rainer Tölle spitzt dieses Problem zu, wenn er fragt: »Enthält die Krankengeschichte, also die vom Arzt angelegte Patientenakte, tatsächlich die Geschichte des Kranken?«86 Auf der anderen Seite werden in diesen Aufzeichnungen die Erlebnisse der untersuchten PatientInnen an der Schnittstelle der Obrigkeitsdokumentationen sichtbar. Die Stärken dieser Geschichten und ihr Erkenntnisgewinn für eine qualitative Arbeit mit Krankenakten liegen im Grad ihrer inhaltlichen Sättigung, in der Dichte ihrer Beschreibung und der Plausibilität und Aussagekraft, die sie im Hinblick auf eine Fragestellung erreichen, begründet.87 Die Akte erzählt zugleich die Geschichte des Eintritts des Patienten in die Psychiatrie und seine Anpassung an die Ordnung der Institution – und somit eine Geschichte der Fallwerdung. Dies bedingt, dass die Geschichte des Falls, wie sie sich in den Akten darstellt, auch durch die »Techniken der Spurenerzeugung«, zum Beispiel durch Formulare, Fragen und Gliederungspunkte, die sich im Dossier finden, hergestellt wird. Gleichzeitig werden die Akten erst durch das konkrete Zusammentreffen und die Aktionen von Arzt und Patient zu dem, was sie sind. Im Spiegel seines Repräsentationssystems ist der in der Akte dokumentierte Fall als prekäre »Gratwanderung zwischen Chaos und Ordnung«88 zu betrachten. Die Geschichte des Falls oszilliert zwischen Ordnung und Chaos, Macht und Widerstand, der Produktion von Subjektivitäten und dem Eigensinn der PatientInnen in psychiatrischen Institutionen. Die Geschichte aus der Akte lässt, folgt man diesen Ausführungen, verschiedene Deutungsmöglichkeiten offen: Sie enthält zugleich die Geschichte der PatientInnen, markiert aber auch ihre Transformation zum Fall. Sie bildet ein Sammelsurium, in dem die unterschiedlichen Stimmen von Arzt, Patient, Angehörigen und Pflegepersonal zunächst nebeneinander stehen. Sie gibt Aufschluss über die psychiatrische Praxis, weist in ihrer Dokumentation aber große Leerstellen auf. Es ist deshalb vor allem das in den Akten Fehlende, das einer Einbettung in zeithistorische Diskurse
86 Tölle 1987, S. 42. 87 Richter 2006, S. 65ff. In diesem Sinne müssen sie auch nicht bestimmte statistisch repräsentative Kriterien aufweisen. 88 Rheinberger/Wahrig-Schmidt/Hagner 1997, S. 19.
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und einer Interpretation bedarf. Was Jakob Tanner für die Anstalt und ihre Wirklichkeit im Allgemeinen pointiert hat, gilt auch für die psychiatrische Akte im Besonderen: »In einer Anstalt passiert immer mehr als sich die Akteure vergegenwärtigen (können oder wollen). Wie die Probleme, die sich in einer solchen Institution stellen, angegangen werden, hängt von den Selektionsregeln, von einer Aufmerksamkeitstopographie und den darauf basierenden Wahrnehmungsstrukturen ab. [...] Es lassen sich daher neben Regelkonformität andauernde (stumme und laute) Aushandlungsprozesse, Vermeidungsstrategien, Instrumentalisierungen beobachten. Zugleich gibt es eine Vielzahl von Praktiken, die, weil sie durch die Relevanz generierenden Wahrnehmungsmuster fallen, ins ›stumme Universum‹ der Anstalt gehören.«89
Es ist, wie hier betont wird, in der Akte gerade das, was nicht gesagt wird, und die schon vorstrukturierte Blickrichtung auf das Gesagte, die eine Interpretation des Geschehenen unabdingbar macht. Für eine Geschichte des Wirksamkeitsbegriffs bedeutet dies, die Erlebnisse des Patienten im Kontext der Akte zu reinterpretieren und dabei die verschiedenen Sichtwiesen abzubilden, zu denen seine Erlebnisse und Äußerungen im Verhältnis stehen und die in seine verkörperten Psychopharmakaerfahrungen mit einfließen.
Subjektivierung Wie ich am Beginn der Arbeit herausgearbeitet habe, ist der Patient der einzige »zuverlässige Zeuge«, der neuroleptische Effekte sichtbar machen kann. Die Bildung eines Begriffs von Wirksamkeit setzt deshalb die Fähigkeit von allen in der Psychiatrie Beschäftigten voraus, die PatientInnen über ihre Symptome zum Sprechen und Handeln zu bewegen. Dieser Prozess des »Sprechen-Machens« in der Psychiatrie ist, folgt man den Ausführungen Michel Foucaults, immer schon das Produkt mächtiger Verfahren. In diesem Sinne geht es mir bei der Beschreibung der Akten um die Analyse einer »Mikrophysik der Macht«, aus der heraus die Subjektivierung der PatientInnen als produktive Macht in den Mittelpunkt gestellt werden soll. Diese Subjektivierung ist nach Foucault erst als Auswirkung einer ganzen Serie von Techniken denkbar.90 So verstehe ich auch die neuroleptische Wirksamkeit als einen Effekt, der erst mittels verschiedener Subjektivierungsverfahren hervorgebracht wird, das heißt in Arzt-Patienten-Interaktionen hergestellt, in Begriffe sozialen Verhaltens übersetzt,
89 Tanner 2007, S. 301. 90 Vgl. Foucault 2005, S. 91f.
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vom Patienten »ablesbar« gemacht wird, der also erst mittels verschiedener Techniken in der Psychiatrie konstituiert werden muss. Diese Verfahren bilden die Grundlage für das, was über den Patienten und die neuroleptische Effektivität gewusst werden kann. In diesem Sinne interessiert mich eine Definition der Wirksamkeit aus dem Anstaltsalltag heraus. Ich suche in den Akten also nach jenen Schnittstellen, an denen der Patient mittels seiner Sprache oder seiner Verhaltensweisen über die Substanz Auskunft geben soll und an denen der Patient durch verschiedene repressive und produktive Machttechnologien zu einer Unterwerfung unter die Rahmenbedingungen des Versuchssettings gebracht wird. Gleichzeitig wird schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit dem Aufkommen der somatischen Verfahren der Körper zum Locus der psychiatrischen Behandlung91 – durch die breite Anwendung der modernen Psychopharmaka erhält dieser Umstand eine neue Dimension. In diesem Sinne produzieren die Psychopharmaka unterworfene Körper, deren Subjektfunktionen nicht von ihnen zu trennen sind, sondern sich vielmehr genau an diesen festmachen. Die beschriebene neue Form der Wissensgenerierung bezeichnet Michel Foucault als Disziplinarmacht, die für ihn aus einer Serie von Subjektfunktionen, somatischer Singularität, einem ständigen Blick, der Schrift, der Bestrafung und der Projektion der Psyche, besteht.92 Gerade das »Sprechen-Machen«, begreift Foucault als eine besondere Form der »Macht der Psychiatrie«.93 Wie schon beschrieben, handelt es sich bei der Heidelberger Klinik nach 1945 um eine in weiten Teilen phänomenologisch orientierte Universitätspsychiatrie. Diese Ausrichtung lässt sich auch an der Form ihrer Aktenführung erkennen: Man bringt die PatientInnen in der Exploration zum Sprechen, gibt ihre Äußerungen in wörtlicher Rede wieder und sammelt ihre Ego-Dokumente. Den Kontext dieser Darstellungsweise bildet unter anderem die psychiatrische Phänomenologie, an die sich der Heidelberger Chefarzt Walter Ritter von Baeyer ab Mitte der 1950er Jahre zunehmend orientiert. Dieser Forschungsrichtung zufolge wird die Deutung der »Krankheitszeichen« als Zusammenspiel zwischen Patient und Arzt betrachtet, weil alle Symptome, die der Patient zeigen kann, durch die Art der Begegnung bestimmt sind.94 Alle Interaktionen und Wissensproduktionen richten sich also auf diese »Begegnung« hin aus – und bilden eine Subjektivierungsform par excellence. Deshalb eignet sich die Heidelberger Psychiatrie für eine Analyse im Sinne Foucaults in besonderer Weise. Für Michel Foucault ist die Auseinandersetzung mit der phänomenologischen
91 92 93 94
Braslow 1997, S. 5ff. Foucault 2005, S. 90. Foucault 2005, S. 231. Von Baeyer 1955.
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Psychiatrie sowohl Ausgangs- als auch Abgrenzungspunkt seiner psychiatriehistorischen Forschung.95 Gleichzeitig machten aber die zum Teil phänomenologischen Ausrichtungen der Psychiatrie nach 1945 seine Analyse der Subjektivierungsformen erst möglich, weil diese Neuorientierung einerseits das Subjekt ins Zentrum stellte und es so für die WissenschaftshistorikerInnen in größerem Maße rekonstruierbar machte, es aber jenseits der Bedingungen der Subjektivierung betrachtete.96 Folgt man Foucaults Ausführungen, sind die Aussagen der PatientInnen nicht jenseits ihres Entstehungskontextes denkbar; sie sind in ihre Produktionsformen eingeschlossen. So betont Foucault, dass die Verlautbarungen der »Irren«, denen er in Briefen und anderen Quellen begegnet ist, erst durch ein energetisches Zusammentreffen mit der Macht zustande gekommen seien, »so daß es sicher unmöglich ist, sie sich jemals wieder an sich, so wie sie ›im freien Zustand‹ sein mochten, zu eigen zu machen; man kann sie nur mehr eingefangen in den Deklamationen, in den taktischen Parteilichkeiten und den gebieterischen Lügen aufspüren, die die Spiele der Macht und die Beziehungen zu ihr voraussetzen.«97 Gleichwohl sind die subjektiven Äußerungsformen der PatientInnen jedoch nicht als durch diese Macht determinierte zu verstehen. In diesem Sinne glaube ich, dass eine strenge Entgegensetzung diskursanalytischer (im Sinne Foucaults) und agencyorientierter Ansätze nicht produktiv ist: Denn auch eine Foucaultsche Diskursanalyse behauptet kein völliges Verschwinden des Subjekts hinter den Technologien der Macht. Macht kennzeichnet für Foucault vielmehr ein Kräfteverhältnis, in dem die Unterworfenen nicht nur als Objekte, sondern auch als AkteurInnen teilhaben und wirksam sind, sich anpassen, aber auch widersetzen können. In seinem Artikel »Das Subjekt und die Macht« charakterisiert Foucault dieses Verhältnis, indem er formuliert, wo Macht sei, bringe diese auch Widerstand hervor – in den dichtesten Knoten der Macht sei also der Widerstand am größten.98 Vor 95 Schäffner 1999. 96 Foucault betrachtet die Psychopharmaka, soweit er auf sie eingeht, weitgehend aus Sicht der repressiven Machttechnologien. »Das [die Gabe von psychotropen Medikamenten] hieß scheinbar, das Nervensystem des Patienten zu beruhigen, und in Wirklichkeit hieß es ganz einfach, das System des Anstaltsregimes, das Regime der Disziplin bis ins Innere des Patienten hinein zu verlängern [...]. Noch die heutige Anwendung von Beruhigungsmitteln gehört zu demselben Muster« (Foucault 2005, S. 260). Diese repressive Form ist meines Erachtens aber nur eine Form der Anwendung von Psychopharmaka. In der Bildung eines Begriffs von Wirksamkeit geht es jedoch vielmehr um produktive Machttechnologien. 97 Foucault 2003, S. 319. 98 Foucault 1987. MarxistInnen wie der Psychologe Klaus Holzkamp formulieren diesen Gedanke letztlich ähnlich. Wie Letzterer ausführt, setzen sich die Versuchspersonen auch unter den kontrolliertesten Bedingungen des psychologischen Experiments zu den Versuchsbedingungen in Beziehung – und
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diesem Hintergrund ist auch eine als Totale Institution99 verstandene Psychiatrie nicht lediglich als repressive Instanz aktiv, sondern bildet den Hintergrund für verschiedenste Handlungsspielräume und Widerstandsformen von PatientInnen.100 Es steht also nicht die Frage nach der vordiskursiven Authentizität der Handlungen der PatientInnen, die in den Akten sicher nicht aufspürbar ist, im Zentrum meiner Analyse, sondern die analytische Aufmerksamkeit richtet sich auf dokumentierte Handlungen der Versuchspersonen, die gegen den Strich gehen. Insbesondere ist zu vermeiden, eine retrospektive und daher ahistorische Beurteilung dieser Aktionen als »vernünftige« oder »unvernünftige« vorzunehmen. Dies findet meines Erachtens auch dann statt, wenn man die PatientInnen aufgrund der Unvernünftigkeit ihrer Äußerungen weitgehend vom Agencykonzept ausnimmt.101 Vielmehr ist mir daran gelegen, auch die widerständigen Handlungen der PatientInnen aufzuzeigen: ihre abweichenden Positionierungen zur neuen Medikation, ihre »eigensinnigen« Deutungen, ihr »therapieuntreues« Verhalten, die Schwierigkeiten, eine Alltagserfahrung und die Wirksamkeit des Medikaments zu trennen und die Form, in der dieses Verhalten in die Akte Eingang findet. All jenes also, was aus einem Begriff der Wirksamkeit ausgeschlossen werden muss, will man ihn als einen stabilen definieren. Dieser Prozess der Produktion von Wirksamkeit auf der einen Seite und die Lösung des ersten Wirksamkeitsbegriffs von den widerständigen Subjektformationen in der Wissensbildung auf der anderen Seite soll anhand der Akten in den Fokus genommen werden. Dabei hat der Patient jedoch nicht nur die Rolle eines widerständigen Akteurs im Anstaltsalltag. Michel Callon beleuchtet im Rahmen der Akteur-Netzwerktheorie auch die Notwendigkeit einer Allianzenbildung zwischen ForscherInnen und nicht forschenden AkteurInnen, die an den für WissenschaftlerInnen zentralen Stellen der Übersetzung eines Wissens bedeutsam werden. Dieser Prozess der Allianzenbildung ist jedoch, wie Callon ausführt, ein mühsamer Prozess, der häufig scheitert. Die Stabilisierung eines Wissens gelingt oft erst über eine Reihe von Versuchen.102 Der zerstören damit nicht selten das ganze Experiment. Weil die Subjekte, wie Lüdtke es formuliert, eben »eigensinnig« sind, also Aktionen mit ihrem eigenen Sinn versehen, was sowohl bedeuten kann, dass sie sich den vorgegebenen Handlungsempfehlungen anpassen und ihnen ihre eigene Bedeutung verleihen, aber auch, dass sie sich ihnen widersetzen (vgl. Holzkamp 1985; Lüdtke 1993). 99 Goffman 1972. 100 Tanner 2007, S. 296–299. 101 Meier et al. 2002, S. 188ff. versuchen, wie sie ausführen, dieses Problem zu umgehen, indem sie sich vor allem auf die Sicht der ÄrztInnen konzentrieren. 102 Callon 1986, S. 207.
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Ansatz von Callon erlaubt, die Position der einzelnen AkteurInnen stärker in den Blick zu nehmen, in meinem Beispiel die Kommunikation zwischen ÄrztInnen und PatientInnen, welche für die Bildung eines Wirksamkeitsbegriffs unabdingbar ist.103 Ich möchte dabei vor allem herausarbeiten, ob Arzt und Patient in der Frage nach der Effektivität neuroleptischer Medikamente übereinstimmen beziehungsweise welche Positionen zur Effektivität der neuen Psychopharmaka in den Akten sichtbar werden. Aber auch die hybride Struktur des Psychopharmakons selbst und ihre verkörperten Effekte können so stärker in den Blick geraten. Wie ich am Beginn der Arbeit geschildert habe, wurde die epistemologische Bedeutung von Erfahrung im beschriebenen Prozess einer Konstruktion von Wirksamkeit in zweierlei Hinsicht konstitutiv. Zum einen musste die Effektivität der neuen psychiatrischen Medikamente den beteiligten ÄrztInnen und dem Pflegepersonal in ihrem lokalen Klinikkontext erfahrbar gemacht werden, zum anderen war man auf die von PatientInnen geschilderten Erlebnisse und »Erfahrungen« angewiesen. Diese beiden Dimensionen von Erfahrung und die unterschiedlichen Positionen von Arzt, Angehörigen, Pflegepersonal und Patient sollen in der folgenden qualitativen Analyse der Krankenakten herausgearbeitet werden.
103 Law 2003, S. 5 betont die Relationalität der gebildeten Phänomene, die erst in der Interaktion hergestellt werden. In Latours Worten handelt es sich bei so hergestellten neuroleptischen Effekten um »immutable mobiles«, die ihre Form erst in der Bewegung erhalten (vgl. Latour 2000).
4. Ne uroleptisc he Effekte erfa hrbar mac hen: die Ve rs uc hspe rs one n der k linisc he n Erprobung vo n 1953
Bereits im April 1953 wird in der Heidelberger Universitätspsychiatrie mit den Versuchen an PatientInnen begonnen. In der folgenden Analyse möchte ich die Herstellung des Wissens am Beispiel der Erprobung an den ersten Fällen verdeutlichen, denen eine besondere Bedeutung zukommt. Die Versuche an PatientInnen sollen ein dem Kliniker nur abstrakt durch Lektüre gewonnenes Wissen konkret erfahrbar machen.1 Die Unterscheidung zwischen Laborwissenschaft und klinischer Wissenschaft spielte, wie ich ausgeführt habe, gerade für die Medikamentenerprobung eine nicht zu unterschätzende Rolle, denn die Effektivität der modernen Psychopharmaka kann nur im klinischen Versuch beobachtet werden. So werde ich verfolgen, wie die ÄrztInnen die bereits aus Frankreich und der Schweiz spärlich bekannten Effekte des ersten Neuroleptikums eingesetzt und daraus ein eigenes, für die Einführung der Substanz in Deutschland entscheidendes Wissen gegründet haben, das schließlich zur Zulassung des Medikaments im Juli 1953 führte. Ausgehend von dem allerersten, männlichen Patienten soll die Funktion der ersten Versuchspersonen in der Konstitution des Wissens beleuchtet werden.
1
Jack Pressman fasst die Notwendigkeit der eigenen klinischen Erprobung körperlicher Verfahren in der Psychiatrie folgendermaßen zusammen: »Unlike the textbook medicine, the clinical frame had been forged in the intersection of scientific knowledge and the personal experience of the physician, and included a range of considerations not usually describable in the language of laboratory science« (Pressman 1998, S. 242).
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4.1 Die primären Durchgangspunkte einer neuen Therapieform: die ersten beiden Patienten In seinem bekannten Aufsatz »From the Slaughterhouse to the Madhouse« analysiert Thomas Szasz die Einführung des Elektroschocks und die Ersterprobung am Menschen durch den römischen Psychiater Ugo Cerletti als konstitutiv für den weiteren Verlauf und die Wirksamkeit der Therapie. Szasz arbeitet dabei in einer Mikroanalyse des ersten Patienten die Voraussetzungen der erfolgreichen Erprobung des Elektroschocks heraus: Die »Versuchsperson« sei ein Cerletti völlig fremder, von der Polizei zwangsweise eingewiesener Patient gewesen, der zunächst nur beobachtet werden sollte. Diese Tatsache betrachtet Szasz als konstitutiv für die weitere Erprobung und den Verlauf des Elektroschocks: Nur wenn er sich von dem Patienten vollständig habe distanzieren können, so Szasz, sei eine zügige Erprobung eines am Menschen unerprobten, gefährlichen Verfahrens möglich gewesen. Auch der Ausruf des Patienten während der Behandlung, diese sei tödlich, habe keine Modifikation des Behandlungsplanes bewirkt. Im Gegenteil, so betont Szasz, sei gerade der Ausschluss der Regungen des Patienten für die Konstitution des Verfahrens bestimmend gewesen.2 Szasz arbeitet in seiner Analyse die Bedeutung des ersten Falles heraus. Er hebt in seiner Analyse aber vor allem die repressiven Elemente in der Anwendung neuer Verfahren hervor. In Abweichung von dieser These werde ich versuchen herauszuarbeiten, dass die Erprobung der neuen Psychopharmaka gerade durch die Gleichzeitigkeit gekennzeichnet ist, auf der einen Seite die Regungen der PatientInnen auszuschließen, auf der anderen Seite aber die PatientInnen zum Sprechen und Handeln zu bringen. Produktive und repressive Elemente greifen hier also ineinander.3 Jack Pressman hat am Beispiel der Geschichte der Lobotomie darauf hingewiesen, dass die frühen experimentellen Versuche die weitere Praxis entscheidend prägten. Meist werde bei diesen ersten Behandlungsfällen jedoch unhistorisch vorausgesetzt, dass eine spezielle Einsicht in den klinischen Wert der jeweiligen Therapie schon vor Beginn der eigenen Versuche bestanden habe. Dies lasse sich allerdings nicht bestätigen, wenn man die konkrete klinische Praxis näher betrachte.4 Für die Analyse der ersten Behandlungsfälle drängen sich also weitreichende Fragen auf: Welche Versuchspersonen wählt man für eine erste Erprobung aus? Werden 2 3
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Szasz 1971. Zu diesem Ineinandergreifen von Ausgrenzungs- und Integrationsmechanismen, repressiven Elementen und produktiven Techniken des Selbst in der Kontrolle von PatientInnen in der Gemeinde- und Anstaltspsychiatrie vgl. auch Castel 1979; Castel/Castel/Lovell 1982; Tanner 2007. Pressman 1998, S. 3-6.
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gerade die ärmsten und benachteiligsten PatientInnen die ersten Versuchspersonen in einer neuen Experimentalreihe sein? Sollen diese Versuche an den erprobenden ÄrztInnen bekannten oder unbekannten PatientInnen ausgeführt werden? Wen setzt man dem Risiko einer noch weitgehend unbekannten Therapieform aus? Mit Callons Worten: Welcher Patient lässt sich zur Allianzenbildung besonders gut verwenden? Es sind diese Gedanken gewesen, die mich dazu bewogen haben, die Erprobung von Chlorpromazin zunächst am ersten Patienten der Heidelberger Versuchsreihe einer ausführlicheren Analyse zu unterziehen, da dieser Patient meines Erachtens den zentralen Durchgangspunkt in der Konstitution einer neuen medikamentösen Therapieform darstellt. Dies lässt sich auch durch die besondere Bedeutung zeigen, die generell dem ersten Fall in der Neuroleptikaerprobung in der Schilderung der beteiligten ForscherInnen zukommt, die ihn in der Regel als Erfolgsfall schildern.5 Unabhängig davon, ob es sich bei von den ForscherInnen angestellten Überlieferungen tatsächlich um den jeweils ersten Fall oder den in ihrer Erinnerung primären Erfolgsfall handelt, ist die Erprobung am ersten Patienten in der Regel nicht überliefert, wenn sich die Verwendung eines neuen Verfahrens nicht als Behandlungserfolg erzählen lässt.6 So bietet die Rekonstruktion der Geschichte anhand der Akten die Möglichkeit einer alternativen Narration, die in der Regel nicht ans Licht der Öffentlichkeit gelangt. Aus diesem Grund werde ich ausführlich die Geschichte des ersten Patienten, von Dr. A., erzählen. A.s Akte enthält das früheste überlieferte Dossier eines Megaphenversuchs an der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg. Die Tatsache, dass auf die Erprobung am ersten »Fall« gut vier Wochen keine weitere gefolgt ist, legt seine Bedeutung im Verlauf der Erprobung nah. So wird Herr A. am 12.04.1953 erstmalig mit Chlorpromazin behandelt, der zweite Patient, Herr D., erhält die Substanz am 12.05.1953, die erste Patientin, Frau B., bekommt den Wirkstoff am 23.05.1953 verabreicht.7 Weitere Erprobungen an Frauen erfolgen recht schnell auf den Versuch am zweiten Fall – und zwar alle am 02.06.1953.8
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Hippius/Healy 1996, S. 194. Beispielsweise schildert Hippius, wie er zunächst gegen den Willen seines Chefs Selbach mit der Erprobung begann und diese Behandlung, als Selbach die Besserung der Patientin bemerkte, als Erfolgsfall der ersten Erprobung von Chlorpromazin präsentierte. Gerade in der initialen Phase der »Entdeckung«, so Pressman, würden nur die »besten Fälle« veröffentlicht (vgl. Pressman 1998, S. 6). PA 53/133. Bei den männlichen Patienten erfolgt eine nächste Erprobung erst am 27.05.1953, obwohl der Patient am gleichen Tag eingeliefert wird wie der »erste Patient« (vgl. PUH, PA 53/7).
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Zu diesem Zeitpunkt im breiteren Maßstab mit der Erprobung zu beginnen, ist vermutlich auf eine Entscheidung im Kolloquium von Hans-Hermann Meyer zurückzuführen.9 Es fällt auf, dass man mit der Erprobung bei den zuletzt genannten PatientInnen nicht sofort nach ihrer Einweisung beginnt, sondern erst einen Monat nach ihrer Ankunft in der Klinik. Aus der Rekonstruktion des zeithistorischen Kontextes heraus wird die plötzliche Zunahme der Erprobungen erklärbar. Hintergrund war vermutlich der Besuch Hans-Hermann Meyers auf der Wanderversammlung Südwestdeutscher Neurologen und Psychiater am Ende des Vormonats, auf der er selbst und andere PsychiaterInnen aus Tübingen und Erlangen von einer ersten Verwendung von Megaphen berichtet hatten.10 Auf diesem Treffen hatte auch der Psychiater Fritz Flügel seine »Ergebnisse planmäßiger Megaphenkuren, die an der Erlanger Klinik seit längerem laufen«, erläutert.11 Flügel hatte eine »eigenartige und eindrucksvolle Lösung psychischer Spannungen«12 erwähnt, die er als Effekt der Medikation zu beobachten glaubte. Es liegt nahe anzunehmen, dass die Erprobung an der Heidelberger Klinik durch den Hinweis auf eine fortgeschrittene Erforschung an mindestens einer anderen bundesdeutschen Klinik neuen Auftrieb bekommen hat. So ist auch der Beginn mehrerer Erprobungen am 02.06.1953 zu erklären. Im Juni 1953 wird der Höchstpunkt hinsichtlich der Anzahl von Erprobungen in der Versuchsreihe erreicht. Es folgt die Erstveröffentlichung zur Megaphenbehandlung in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift. Den in meiner Aktenüberlieferung ersten Patienten werde ich im Folgenden unter drei Aspekten in den Blick nehmen. Zum einen verdeutlicht das Beispiel A.s, so meine These, in besonderer Weise die Auseinandersetzung der Klinik mit ihrer NS-Vergangenheit. Zum anderen werden anhand der Akte die Schwierigkeiten deutlich, die sich in der Praxis aus der Bildung eines Wirksamkeitsbegriffs ergeben, wenn die Allianzenbildung nicht in der gewünschten Art zustande kommt. Damit verbunden wird, so meine These, auch die Definition von Wirksamkeit selbst zum Problem. Schließlich wird drittens der Verlauf eines ersten Medikationsprozesses zwischen den Hoffnungen der beteiligten ForscherInnen und A.s verkörperten Erlebnissen in den Blick genommen.
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PA 53/78; 53/91; 53/97. Es ist zwar keine entsprechende Dokumentation über den Beschluss einer breiteren Erprobung in den Akten enthalten, bei allen anderen PatientInnen wird diese Entscheidung aber nach einer Kolloquiumssitzung am 01.06.1953 gefällt. 10 69. Wanderversammlung Südwestdeutscher Neurologen und Psychiater vom 30. bis 31. Mai 1953 in Baden- Baden, Südwestdeutsche Neurologen und Psychiater 1953, S. 8ff. 11 Vortrag Flügel in: Südwestdeutsche Neurologen und Psychiater 1953, S. 9. 12 Vortrag Flügel in: Südwestdeutsche Neurologen und Psychiater 1953, S. 9.
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4.2 Ein deutscher »Sonderfall«? H e r r A. Am 02.04.1953 wird Herr A. in die Heidelberger Klinik eingeliefert.13 Er wird von seinem Bruder gebracht, weil er nach dessen Angaben seit zwei Tagen nichts mehr isst. Der Aufenthalt scheint nicht ganz freiwillig gewesen zu sein, denn der Patient, gibt der Bruder an, sei nur widerstrebend mitgegangen und habe geäußert: »Es ist alles verloren. Mein Leben ist dahin. Es ist tausendfach unmöglich, dass ich in die Klinik gehe. Ich bin ruiniert.« Für Herrn A. ist es der erste Psychiatrieaufenthalt, vielleicht der Beginn einer psychiatrischen Karriere, denn Verweise auf vorherige psychiatrische Behandlungen finden sich in der Anamnese nicht. Im Folgenden werden in der Akte vier unterschiedliche Sichtweisen auf den Patienten deutlich: der Blick des Patienten auf sich selbst, die Beurteilungen der ÄrztInnen, des Bruder und des Pflegepersonals. Bei dem Psychiatrisierten handelt es sich um einen hochgebildeten Herrn Anfang 50, von dem die Akte zunächst nur erwähnt, dass er studiert und promoviert, dann lange Jahre als Redakteur und Schriftleiter einer Heidelberger Zeitung gearbeitet habe. Seine Lebensgeschichte, erzählt von seinem Bruder und ihm selbst, lässt jedoch auch andere Facetten seines Lebens hervortreten. Nach eigenen Angaben war Herr A. bis 1939 Schriftleiter eines Kampfblatts der NSDAP für Nordostbaden, von 1939 bis 1945 Kriegsberichterstatter. Sein Bruder weiß zu berichten, A. sei in dieser Funktion ein »Propagandagenie« gewesen. A.s Bruder selbst war seit 1933 als Polizeichef der Stadt Heidelberg und Reichstagsabgeordneter tätig, später dann SS-Standartenführer und Regimentskommandeur der Waffen-SS, wie man aus der Akte erfährt. Durch die starke Identifikation mit nationalsozialistischem Gedankengut hatten die beiden Brüder im NS-Regime wichtige berufliche Positionen erreicht. Das Ende des Krieges geht für den Patienten mit einem hohen »Statusverlust« einher und markiert eine Wende in seinem bis dato in der Akte als erfolgreich geschilderten Lebensweg: So wird in der Anamnese ausgeführt, der Patient sei im Jahr 1945 wegen Kriegsuntauglichkeit aus dem Kriegsdienst entlassen worden. Nach dem Krieg entzieht man beiden Brüdern im Rahmen der Entnazifizierung das Stadtrecht. Für Herrn A. wird in der Akte meines Erachtens im Folgenden eine »Chronologie des Scheiterns« deutlich: Wegen der Unmöglichkeit, eine neue Stelle zu finden, führt er mit seiner Mutter ein »Fremdenheim«, in dem auch viele ausländische Gäste logieren. Das mag seiner nationalvölkischen Gesinnung vermutlich nicht immer behagt haben. Im Jahr 1952 verstirbt
13 PUH, PA 53/6.
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seine Mutter, woraufhin A. das Heim allein weiter betreibt. Als Krisenauslöser, der zu der jetzigen Situation geführt haben soll, wird ein konkreter Vorfall genannt, der in der Akte weitgehend aus der Sicht des Bruders beschrieben wird: Der Grund sei die Übernachtung von Amerikanern bei einer seiner Untermieterinnen gewesen. Da Herr A. nächtliche »Herrenbesuche« seiner unverheirateten Untermieterin aus »sittlichen« Gründen nicht dulden will – sie waren in den 1950er Jahren auch verboten –, verweist Herr A. die Amerikaner der Wohnung. Wie der Bruder ausführt, habe der Patient die US-Gäste zudem für »Köder« gehalten, die zu seiner Verhaftung führen sollten. Eigene Angaben dazu macht Herr A. nicht. Tatsächlich sei der Patient, wie der Bruder berichtet hat, von einem unverheirateten Paar, das er aufgrund »unsittlicher« Besuche der Wohnung verwiesen habe, kurz zuvor paradoxerweise – vermutlich aus Rache – dafür angezeigt worden, dass er nächtliche Besuche gestatte. Ein daraufhin stattfindendes Polizeiverhör, in dem man A. der »Kuppelei« verdächtigt habe, habe zu starken Wesensveränderungen seines Bruders geführt.14 Die geschilderte nationalsozialistische Vergangenheit lässt auch die Erlebnisse, die A. in der Klinik widerfahren, nicht unberührt. So schildert der Patient, dass er auf der Station Stimmen höre, die ihm vorwürfen, er würde mit seinen Mieterinnen geschlechtlich verkehren. Zur Strafe drohe man ihm an, dass »man einen Umzug mit ihm durch die Stadt Heidelberg« machen wolle.15 Der Bruder bringt diese Worte mit den realen Erlebnissen des Patienten – dem Entzug des Stadtrechts – in Verbindung und weist darauf hin, dass A. in den Nachkriegsjahren immer wieder mit ihm verwechselt worden sei. Die Angst, für seine nationalsozialistische Vergangenheit bestraft zu werden, habe den Patienten in letzter Zeit häufig beschäftigt. Nach dem geschilderten Polizeiverhör habe A. immer wieder die Angst geäußert, man komme nun, um ihn abzuholen.
14 PUH, PA 53/6, Exploration und Epikrise. In einem Brief, den der Patient an seinen anderen Bruder schreibt, wird jedoch deutlich, dass die Vorwürfe, denen sich Herr A. ausgesetzt sieht, weit darüber hinaus gehen, was im Gespräch gegenüber den ÄrztInnen jedoch unerwähnt bleibt. Die Vorwürfe kreisen eindeutig um ein unterstelltes unsittliches Verhalten gegenüber seiner Nachbarin: »Es wurde behauptet ich würde, mein Bleistift sträubt sich beim niederschreiben, huren.« Diesen belastenden Lügen ausgesetzt, begreift er sich als »Opfer einer Indizienführung [...], die zu einem der größten Justizirrtümern zählt« (PUH, PA 53/6, Brief an den Bruder, undatiert). Es ist zu vermuten, dass der behandelnde Arzt diesen Brief als wichtig für das »Krankheitsgeschehen« betrachtete, deshalb abfing und in der Akte abheftete. 15 PUH, PA 53/6.
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Anfänge einer »therapeutischen Revolution«: die Megaphenbehandlung beginnt Nach der in der Akte ausführlich geschilderten Lebensgeschichte des Herrn A. wird im Verlaufsbericht ohne weitere Angabe der Gründe der Beginn einer Megaphentherapie angekündigt. Warum gerade dieser Patient für die Erprobung des neuen Medikaments, das durch erste positive Berichte aus der französischen Psychiatrie zugleich Hoffnungen weckt, aber auch Befürchtungen nährt, ausgewählt wird, erfährt man aus seinem Dossier nicht. Nach einer längeren Phase der Verhandlungen über die richtige Diagnose wird in der Akte lediglich lapidar bemerkt, dass die PsychiaterInnen mit einer Megaphenbehandlung beginnen, da die Diagnose Schizophrenie ja nun sicherer zu sein scheine.16 Weder von Herrn A. noch von einem seiner Angehörigen findet sich eine Einwilligungserklärung zu dieser neuen Behandlungsform in der Akte, lediglich die Zustimmung zur Elektroschocktherapie wird abgefragt und von seinem Bruder gegeben. Dies ist auch vor dem Hintergrund schon bestehender Standards wie der Richtlinie des Ministeriums des Reichsinneren vom Jahr 1931 und dem »Nürnberger Kodex«, die eine Einwilligung des Patienten zwingend vorsehen, zu problematisieren.17 Der »Nürnberger Kodex« besaß immerhin Rechtsgeltungscharakter,18 wenngleich er der Mehrzahl der ÄrztInnen vermutlich unbekannt war und sie weiterhin so handelten, als ob es eine Einwilligungspflicht des Patienten nicht gebe. Herr A. wird nun wohl ohne sein Wissen zur Versuchsperson in der Testung einer neuen medikamentösen Therapieform. Am 16.04.1953, der Patient ist nun zwei Wochen in der Klinik, wird mit der »Megaphen«-Behandlung begonnen. Dass die Ärzte schon jetzt den Stoff mit dem Handelsnamen statt mit dem Substanznamen (Chlorpromazin) oder der Labornummer (4560 RP) nennen, verweist auf die enge Verbindung zur Firma BAYER, die offenbar schon vor der Zulassung einen Substanznamen bereithält, aber auch auf die großen Hoffnungen, die man in die Medikation setzt. Neue Medikamente werden vor ihrer Zulassung in der Regel nur als Spuren – als Industrienummern – in den Akten der Zeit sichtbar. Auch in Heidelberg tauchten neue Substanzen sonst nur mit ihren Zahlencodes in der Akte auf.19 Im Allgemeinen werden
16 PUH, PA 53/6, Anhang Epikrise. 17 Zum Nürnberger Kodex vgl. Hohendorf/Roelcke/Rotzoll 1997; zur Leitlinie des Reichsinnenministeriums von 1931 vgl. Eckart 2001. 18 Fischer 1979, S. 1. 19 Vgl. dazu auch andere Patientenakten der folgenden Jahre, in denen in der Medikamentenliste häufiger die Nummern neuer, noch nicht zugelassener Medikamente auftauchten. Diese Nummern verschwanden meist schnell
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medikamentöse Behandlungen Anfang der 1950er Jahre von Seiten der PsychiaterInnen generell eher mit Skepsis betrachtet, da man sie für gefährliche Verfahren hält.20 Hervorhebenswert erscheint auch, dass man mit der Erprobung in der Anästhesie exakt einen Tag nach der Veröffentlichung über die Erfolge des »Pulvers 4560« in dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel beginnt.21 Der Pflegebericht beschreibt den Patienten auch in den Tagen vor der Megaphenbehandlung als ruhig und ausgeglichen und betont, dieser habe sich eifrig an Stationsarbeiten wie dem Binden von Blumensträußen beteiligt. Am ersten Versuchstag erhält Herr A. zunächst 2 x 1 ccm Chlorpromazin als Injektion, nach der er sofort in einen tiefen Schlaf fällt.22 Schon dieses Ereignis bietet Anlass zu ersten Abweichungen vom eigentlichen Behandlungsplan: »Da die Reaktion sehr ausgeprägt und das Aussehen des Patienten sehr blass wurde, erfolgte Reduzierung der 3. Injektion auf 0,7 ccm.«23 Am nächsten Morgen steht der Patient nach der ersten Injektion jedoch auf, dabei kommt es zu einem unvorhergesehenen Vorfall. Zu diesem bemerkt der Verlaufsbericht vom 17.04.1953 in sehr sachlichem Ton: »Nach der 1. Injektion in der Frühe war Pat. aufgestanden, um zur Toilette zu gehen. Dabei kam es zum Kollaps.« Als Intervention wird, wie man dort berichtet, Koffein injiziert. Im Pflegebericht wird der Vorfall etwas detaillierter geschildert: »Patient liegt zu Bett, erhielt 3 x 25 mg 4560, erhielt gegen 13 Uhr einen Schwächeanfall, mußte vom Kloset ins Bett getragen werden, hat sich bald wieder erholt, hatte 48 Puls, verhielt
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wieder aus den Akten, was bedeutete, dass das Medikament entweder offiziell zugelassen oder als nicht marktfähige Substanz erachtet wurde. Hippius/Healy 1996. »Das Pulver 4560«. In: Der Spiegel vom 15.04.1953. In der ersten Medikationsphase wird Megaphen allein eingesetzt, in einer Wiederholung des Versuchs am gleichen Patienten dann mit Atosil kombiniert. Dass die Psychiater Megaphen allein gaben, ist in der Versuchsreihe einmalig, was wiederum dafür spricht, dass es sich hierbei um die erste Erprobung handelt. In den folgenden Versuchen wird die Medikation grundsätzlich zunächst mit Atosil gemischt. Schnell verabreichten die Heidelberger Ärzte eine Kombination von Megaphen, Atosil und Dolantin. Diese Mischung orientiert sich eher an dem von dem französischen Anästhesisten Laborit verwendeten »lytischen Cocktail«, den er seinen Patienten zur postoperativen Beruhigung einflösste, als an den Versuchen der französischen Psychiater Delay und Deniker, die in der psychiatrischen Anwendung von Chlorpromazin auf dessen alleiniger Verabreichung bestehen (vgl. Delay/Deniker 1956). Atosil, heute auch als niedrigpotentes Neuroleptikum bekannt, wurde zur Vermeidung extrapyramidaler Störungen beigefügt (vgl. Meyer 1957a), Dolantin zur Beruhigung (Schmitt, persönl. Interview). Bei Dolantin handelt es sich nach Angaben der Roten Liste eigentlich um ein stark wirkendes Analgetikum und Spasmolytikum, das man vor allem im Bereich der Narkosevorbereitung einsetzt (vgl. Rote Liste 1957, S. 219). PA 53/6, Verlauf.
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sich sonst ruhig.«24 Der Zwischenfall ändert aber an dem eigentlichen Behandlungsplan zunächst nichts.25 Die Megaphenbehandlung wird fortgeführt, die Dosis erhöht. Am vierten Behandlungstag findet im Verlaufsbericht eine Steigerung der Dosis auf 4 x 1 Tablette (insgesamt 100 mg) Erwähnung,26 versehen mit der Bemerkung, dass dies »vollständig ausreicht, die erwünschte Wirkung zu erzielen. Er liegt teilnahmslos, meist mit geschlossenen Augen im Bett, ist aber jederzeit ansprechbar und zu Auskünften bereit.« Dieser Zustand zwischen Wachen und Schlafen, in den der Patient versetzt worden ist, kennzeichnet die Akte im Folgenden auch als Winterschlaf. Der Begriff beschreibt die zeitgenössische Auffassung der Megaphenbehandlungen, nach denen die ersten Effekte der Medikation mit der eines chemisch induzierten, »künstlichen Winterschlafs« gleichgesetzt werden.27 Der Patient wird so in eine neue Form der Schlafkur versetzt, die schon seit der Antike Erwähnung findet.28 Dass eine neue psychiatrische Medikation auch jenseits einer schlaffördernden Wirkung effektiv sein könnte, ist auf der Grundlage der zeitgenössischen Denkform kaum vorstellbar. So macht man sich zunächst jene physiologischen
24 PA 3/53, Pflegebericht. Kreislaufsstörungen gehörten zu den häufigsten unerwünschten Effekten, auf die man bei der Aktenlektüre trifft. 25 Dieser Kollaps sollte nicht der einzige bleiben, sondern bildete die Grundlage für die Sichtbarmachung einer ernsthaften Komplikation. So schildert Hans-Hermann Meyer für die Ersterprobung einen Todesfall nach einem Kollaps, der aber ungeklärt bleibt (vgl. Meyer 1953a). In der Überlieferung lässt sich dieser Fall aber nicht rekonstruieren. Er sollte jedoch in die Geschichte der Substanz eingehen. So warnte Labhardt mit Bezug auf den Fall Meyers davor, die Folgen eines Kollaps’ zu unterschätzen (vgl. Labhardt 1954, S. 341). 26 Diese Dosierung ist vergleichsweise niedrig. Für ihr Ursprungsexperiment berichteten Delay/Deniker von einer Dosierung von 150–200 mg pro Tag (vgl. Delay/Deniker 1956). 27 Meyer 1953a. Vgl. auch II.5.1. 28 Dass eine Versetzung der Patienten in einen schlafähnlichen Zustand für die Chlorpromazinverabreichung in der Anfangszeit charakteristisch war, betont auch Schmitt (2007). So schildert er, dass Kurt Schneider, als er zu Beginn der Einführung von Chlorpromazin eine geschlossene Station betreten habe, gefragt habe, wo denn die Patienten alle seien, es sei so ruhig. Darauf habe er geantwortet, dass diese dank des neuen Mittels doch jetzt alle schliefen (Balz/Schmitt 2007). Dass die PsychiaterInnen bei den Effektivitätsvorstellungen an der Notwendigkeit des Schlafs festhielten, ist historisch auch mit der Bedeutung zu erklären, die der Schlaf in bekannten medikamentösen Therapien in der Psychiatrie hatte. So bezogen sich die Ärzte wohl vor allem auf die Schlaftherapien Klaesis, der diese Therapie Ende der 1920er Jahre das erste Mal verwendete. Aber auch Chloralhydrat und andere Medikamente des 19. Jahrhunderts orientierten sich vor allem an ihrer beruhigenden und schlaffördernden Wirkung (vgl. unter anderem Linde 1988c).
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Effekte der Medikation zunutze, die den MedizinerInnen schon lange vertraut waren, um neue Vorstellungen über die Wirksamkeit von Neuroleptika zu bestimmen.29 Es ist jedoch zu vermuten, dass man auf die Notwendigkeit des Schlafs in der neuen Behandlungsform auch deshalb hinweist, weil einige Veröffentlichungen und vor allem die mediale Darstellung der Erfolge der Substanz über ihren Einsatz in der Anästhesie berichten.30
Die Voraussetzungen der Bildung eines Wirksamkeitsbegriffs: Allianzbildungsversuche zwischen Herrn A. und den ÄrztInnen Schon zu Beginn der Chlorpromazinerprobung erweist sich – so meine These – eine Einigung auf das, worauf die Medikation einwirken sollte, als Voraussetzung einer Wirksamkeitserfassung. Die Einordnung von A.s Lebensgeschichte in ein festgelegtes Diagnoseraster fällt den behandelnden ÄrztInnen jedoch zunächst schwer. Eine klare psychiatrische Diagnose vermögen sie vorerst nicht zu stellen. Die vom Patienten geschilderten Erlebnisse mit den Amerikanern ließen »immerhin die Möglichkeit, an Wahneinfälle zu denken, offen. Verbindliches kann jedoch nicht festgestellt werden.«31 Die vorläufige Diagnose bleibt so zunächst ungeklärt und unspezifisch: »Abnorme Erlebnisreaktion? Psychose?«32 Erst in der Nachexploration glaubten die Ärzte eine exaktere Diagnose gestellt zu haben, da der Patient berichtet habe, er höre Stimmen, die ihm sagten, er hure jetzt wieder, obwohl dieser, wie er beteuere, doch enthaltsam lebe. Auch fühle der Patient sich, wie dort geschildert wird, von Apparaten beobachtet. Im Sinne der Psychopathologie Kurt Schneiders, an die sich die Klinik in ihrer Diagnosestellung orientiert hat, werden beide Elemente von den beteiligten ÄrztInnen als klare Indizien, als Symptome ersten Ranges, für eine Diagnose der Schizophrenie angesehen, die schließlich auch gestellt wird.33 Die vermeintlich sichere Diagnose der Schizophrenie lässt die ÄrztInnen nun mit einer Medikamentenbehandlung beginnen, deren Ende nach knapp drei Wochen im Verlaufsbericht angekündigt wird: So heißt es 29 Die in den ersten Jahren vorherrschende Versetzung der PatientInnen in einen einige Tage andauernden Schlafzustand veranschaulichen auch eindrücklich zwei von den BAYER-Werken hergestellte Filme von 1959 (»Zentralwirksame Phenothiazinderivate«) und 1955 (»Die synergistische Megaphen Krampfbehandlung«), in denen die PatientInnen nicht nur in den Schlaf versetzt, sondern während dieser Zeit auch künstlich ernährt werden, um den »heilsamen Schlaf« nicht zu unterbrechen. 30 »Das Pulver 4560«. In: Der Spiegel vom 15.04.1953. 31 PUH, PA 53/6, Epikrise. 32 PUH, PA 53/6. 33 Schneider 1959.
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dort, der Patient berichte nichts mehr über seine »psychotischen« Inhalte und habe sich nun vollständig von diesen distanziert. Der Patient äußert den ÄrztInnen gegenüber, dass er seine ihm nun bizarr erscheinenden Erlebnisse für sich notieren wolle. Man beschließt, die Megaphenkur langsam auszuschleichen, regt aber gleichzeitig den Patienten dazu an, einen Bericht über seine Erlebnisse zu verfassen. So wird in der Akte am 12.05.1953 vermerkt: »Es ließe sich empfehlen, die vom Patienten vorgeschlagene schriftliche Fixierung der psychotischen Erlebnisse in Form eines Eigenberichtes zu erwirken.«34 Diese Aufforderung an den Patienten, einen Bericht über seine psychotischen Erlebnisse zu verfassen, bildet meines Erachtens ein Kernstück auch in der Beurteilung der Effekte des neuen Medikaments: Erst über seine Rede werden die »psychotischen« Verrückungen sichtbar und ihre Normalisierung im Rahmen der medikamentösen Therapie deutlich. Die Aufforderung zu einem Selbstbericht ist in den von mir untersuchten Akten einmalig, was meines Erachtens nahelegt, dass es sich bei diesem Patienten tatsächlich um den ersten »Fall« gehandelt hat, an dem die PsychiaterInnen die Medikation erprobten.35 Gleichzeitig verdeutlicht der kleine Ausschnitt, den die Akte vom Anstaltsalltag wiedergibt, die Grenzen dieser Quelle: Fraglich bleibt, ob die Ärzte die Aufforderung genau in diesem Wortlaut an den Patienten weitergegeben oder ihn lediglich zum Aufschreiben seiner Erlebnisse aufgefordert hatten. Zudem ist die Form des Selbstberichts deutlich von den präziseren Formen der Befragung durch den Psychiater abzugrenzen, wie sie sich zum Beispiel in der Exploration zeigen. Deutlich wird an A.s Bericht jedoch seine Sensibilität dafür, dass es sich bei dem Aufschreiben der Erlebnisse nicht mehr um seine eigenen Tagebücher handelt, sondern um ein Dokument, mit welchem er der Klinik eine Schilderung seiner Erlebnisse zur Verfügung stellen soll. Herr A., der von den ÄrztInnen in der Akte als »unterwürfig« beschrieben wird, kommt der Bitte um eine Fixierung seiner Erlebnisse nach und verfasst handschriftlich einen Text, den er mit dem Titel »Selbstbericht« überschreibt, um dann in anderer Farbe hinzuzufügen: »Verfasst nach Aufforderung im Juni 53«. Dieses Schriftstück versinnbildlicht die Ambivalenz von Ego-Dokumenten, die in der Psychiatrie erzeugt und Teil von psychiatrischen PatientInnenakten werden. Es stellt sich nämlich die Frage, ob diese Texte nicht jenem »Zwang zur Biographie« in der Psychiatrie unterliegen, den Foucault in seinem Buch »Die Macht der Psychiatrie«
34 PA 3/53, Verlauf. 35 Wenn später in Einzelfällen die Patienten aufgefordert wurden, etwas zu schreiben, so bezog sich das auf Kerndaten der Biographie (Geburtstag, Schulbesuch etc.), die in der Epikrise verwendet wurden.
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beschreibt. Im Sinne Foucaults wird das Erzählen der Biographie in der Anstalt selbst zu einer disziplinatorischen Maßnahme, die vor allem der Normalisierung des Patienten dient. In diesem Sinne ist das von A. verfasste Schriftstück nicht jenseits seines institutionellen Entstehungskontextes denkbar, weist aber zugleich subjektive Schilderungen auf, die einer einfachen Standardisierung entgegenstehen. Gerade diese subjektiven Elemente des Erlebens sichtbar zu machen, war jedoch für die Erfassung eines ersten psychotropen Effekts von Bedeutung, da Letzterer den ÄrztInnen erst so verdeutlicht werden konnte. Erste »Erfahrungen« mit dem erlebten Auswirken der pharmakologischen Therapien sammelten die PsychiaterInnen auch, indem sie die neue Medikation an sich selbst erprobten.36 Wie Foucault anmerkt, ermöglichte erst diese eigene Erfahrung der Effekte einer Substanz durch die PsychiaterInnen eine Kontrolle und ein Vordringen in die Erlebnisse des Patienten, Aspekte, die Foucault unter seiner Formulierung von der »Macht des Verstehens« subsumiert.37 Die Übertragung der im Selbstversuch geschilderten Erlebnisse auf das Empfinden der PatientInnen stieß jedoch an ihre Grenzen. Wie Max Müller einige Jahre später formulierte, sei es für die erste Beurteilung einer körperlichen Behandlungsform deshalb unerlässlich, »auf möglichst breiter Basis auch die Erlebnisberichte und Schilderungen introspektiv begabter, intelligenter und äußerungsfähiger Kranker heranzuziehen«.38 Diese Ausführungen scheinen geradezu passgenau auf A. zuzutreffen, der deutlich zum Niederschreiben seiner Erlebnisse aufgefordert wurde. Kann A. nun aber mit seinem Bericht den ÄrztInnen die Wirkung der Medikamente erfahrbar machen? Und zeigt die Erzählung des Herrn A., deren Entstehungsbedingungen der Patient so treffend selbst anmerkt und hervorhebt, keine widerständigen Momente mehr, sondern geht in ihrer Funktion auf, eine disziplinarische Maßnahme zu sein? Die Lektüre des Berichts »gegen den Strich« legt eine andere Interpretation nahe, denn aufgefordert, seine Symptome und deren Verschwinden zu zeigen, verdeutlicht A. gerade dieses nicht. Im Gegensatz dazu erzählt er eine eigene Geschichte, die er mit der Autorität eines ausgerissenen Zeitungsartikels mit dem Titel »Nervöse sind heilbar« von einer Autorin namens Dr. Louise Köhler stützt. Vergleicht man den Selbstbericht mit dem Zeitungsbericht, so wird deutlich, dass A. die Schilderungen seiner eigenen Erlebnisse, die er klar als nervöse Beschwerden fasst, in Anlehnung an diesen Zeitungsartikel schreibt.39 Heinz-Peter Schmiedebach hebt in einer Unter36 37 38 39
Zu den Selbstversuchen von PsychiaterInnen vgl. II.5.4. Foucault 2005, S. 406. Ausführlicher zur »Macht des Verstehens« vgl. II.2.1. Müller 1960, S. 32. Unklar bleibt der Kontext, aus dem heraus der Artikel in die Akte gelangte. Hatte, so lässt sich fragen, A. diesen quasi zur Untermauerung seines Selbst-
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suchung über die Neurasthenie zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Bedeutung hervor, welche die Nervosität als eine Störung, die durch die Belastungen des modernen Lebens hervorgerufen sein sollte, in den Medien besaß. Anhand einer Untersuchung von zwei bekannten, populären deutschen Zeitschriften führt er aus, dass die Schilderungen von nervösen Leiden eine große Rolle eingenommen, gleichzeitig aber auch als normale gesellschaftliche Folge des modernen Lebens gegolten hätten. So seien Ratgeberartikel von ÄrztInnen und anderen WissenschaftlerInnen, die den LeserInnen Hinweise zur Lebensführung gegeben hätten, nicht selten gewesen.40 Auch A. lehnt sich in seinen Beschreibungen an eine derartige Expertise an. So berichtet er über erhebliche Arbeitsüberlastung und Alltagssorgen, die seiner Meinung nach durch die Betreuung der Gäste verursacht worden seien. In dem erwähnten Artikel unterstreicht er den Satz: »Ein Beruf, dem man von ganzen Herze ergeben ist und der unseren ganzen Sinn ausfüllt, erweckt in uns Mut, Kraft und Elastizität des Geistes.« Zugleich macht er die Inbetriebnahme einer modernen Bäckerei in der Nachbarschaft für seinen mangelnden Schlaf verantwortlich.41 Die gebeutelten Nerven würden ihn, wie er schildert »zittrig und überempfindlich gegen Licht und Schalleindrücke« machen.42 Dass er unter anderem Stimmen von Nachbarsleuten hört, interpretiert er als »nervöse Erscheinung«, auch »litten die Nerven« unter den MieterInnen.43 Seine Situation, die zur
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berichts mit diesem zusammen abgegeben? Oder war das Dokument von den ÄrztInnen gefunden und hinter dem Selbstbericht abgeheftet worden? Grundsätzlich sei das Auftreten von nervösen Erscheinungen nicht negativ, sondern in einigen Fällen sogar positiv belegt gewesen und bildete eine Interpretationsfolie von als abweichend wahrgenommenem Verhalten, ohne sofort den negativen Beigeschmack einer Krankheit zu bekommen (vgl. Schmiedebach 2001). Die Belastungen, denen die Menschen durch das »moderne Leben« ausgesetzt sind, bilden ein wichtiges Kernelement des Diskurses über die Nervosität, auch »Neurasthenie« genannt. Im Text von Dr. Köhler heißt es, dass gerade die erhöhte Reizbarkeit und als störend empfundene Lichteindrücke für den Nervösen charakteristisch seien. Diese Ansicht, es sei vor allem die Verleumdung der Mieter, die an seinen Nerven zehre, vertritt A. auch in einem zweiten erhaltenen Ego-Dokument, einem Brief, den er an seinen Bruder schreibt. Die Vorwürfe des unsittlichen Verhaltens gegenüber seiner Nachbarin bringt seine Erzählungen mit einer konfliktreichen Sexualität in Verbindung, was für den Neurastheniediskurs charakteristisch ist. Dieser Verführungen »Herr zu werden« und sie in eine »normale«, d.h. in der Regel eheliche und für beide Seiten befriedigende Sexualität zu überführen, war zu Beginn des 20. Jahrhunderts Ziel psychiatrischer Interventionen bei »Neurasthenikern«. Philipp Sarasin weist darauf hin, dass das Aufkommen des Neurastheniediskurses jedoch auch als Signifikant des Scheiterns der Geschlechterordnung zu lesen ist. Die Neurasthenie bildete dabei das Gegenstück zur Hysterie der Frauen, die auch Männern ermöglichte, aus dem Modell eines männlichen überlegenen Geistes
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Klinikeinweisung geführt habe, beschreibt er mit den Worten: »Mein Nervensystem war jetzt überempfindlich. Die Herrschaft über den eigenen Willen ging nahezu verloren. Wie ohnmächtig nahm ich Schädigungen hin.«44 Der beigefügte Artikel verspricht den Nervösen »vollständige Heilung«: Eine vernünftige Lebensweise, Schutz vor Überanstrengung, besonders aber Bewegung, gute Ernährung und frische Luft, wie der Patient im Artikel unterstreicht, würden Heilung herbeiführen. So schildert A. auch seine Besserung im Selbstbericht nicht als Folge der Medikation, über deren Effekte er berichten soll, sondern als Folge der Ruhe und Erholung. So führt er aus: »Anfänglich hörte ich noch bei offenen Fenster mehr oder minder deutlich vernehmbare Stimmen. Allmählich jedoch verlor sich diese Erscheinung, als ich während der Kur mit der Lektüre von Zeitungen und illustrierten Blättern begann. Ich erhielt zunächst Spritzen und dann kleine Schlaftabletten. [...] Zugänge unruhiger Patienten brachten Rückfälle in einen nervösen Zustand.«45
Zwar berichtet der Patient in diesem Kontext von dem Rückgang des Hörens von Stimmen, die er aber auch nur bei offenem Fenster – also in sehr eingeschränktem Maße – zu hören glaubte. Ihr Verschwinden bringt er in seiner eigenen Erzählung jedoch kaum mit der Medikation, die er fast beiläufig erwähnt, in Verbindung. Der Versuch, einen ersten Wirksamkeitsnachweis zu erbringen, scheitert so schon am Mangel an Einigkeit über eine Erklärung der »Störung« auf Seiten der ÄrztInnen und des Patienten. Während Erstere primäre Effekte des Arzneimittels auf »psychotische« Symptome sichtbar machen wollen, erzählt der Patient sein Leben als ein nervöses Leiden, gegen das eine gesunde Lebensführung helfen könne. Ein Einfluss der Medikation auf seine Erlebnisse wird weitgehend ausgespart. Die für den Erfolg einer Wirksamkeitsbeschreibung notwendige Allianz zwischen Arzt und Patient scheitert hier also schon an der mangelnden Übereinstimmung hinsichtlich des Untersuchungsgegenstands. Der von den ÄrztInnen zunächst als Behandlungserfolg betrachtete Fall wird so nicht fassbar, eine genauere Wirksamkeitsbeschreibung misslingt.
Eine Erfolgsgeschichte? Herr A. zwischen den Therapien Der geschilderte Selbstbericht wird auf der Höhe eines vermeintlichen Behandlungserfolgs verfasst. Zwar schildern die ÄrztInnen nach der Beenauszubrechen, indem man mit dem Bild der Neurasthenie ein nervenschwaches, »zerrüttetes« Gehirn darbot (vgl. Sarasin 2001, S. 429ff.). 44 PUH, PA 53/6, Selbstbericht. 45 PA 53/6. Hervorhebenswert ist hier, dass der Patient selbst denkt, er erhalte ein Schlafmittel.
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digung der ersten Megaphenbehandlung eine Normalisierung des Verhaltens ihres Patienten, nach Absetzen der Medikation berichten der Patient und die ÄrztInnen jedoch über ein Wiederauftauchen der alten Verhaltensweisen. Es wird deshalb der Beginn einer zweiten Megaphenkur beschlossen,46 die jedoch keine positiven Effekte zeigt.47 Bereits am 12.06.1953 schildert der Verlaufsbericht: »Die akustischen Halluzinationen stören den Pat. derart, daß er meist mit zugehaltenen Ohren im Bett liegt.«48 Da Herr A. aus der Sicht der ÄrztInnen auch in der Folgezeit als nicht gebessert erscheint, wird die weitere Megaphenbehandlung abgebrochen und durch eine Elektroschockbehandlung ersetzt. Auffällig geworden durch sein als unruhig und aggressiv geschildertes Verhalten, wird Herr A. schließlich auf die geschlossene Abteilung – ins Männer-Gartenhaus – verlegt, wo er weiterhin Elektroschocks und Insulindosen erhält. Die Elektrokrampftherapie wird jedoch schließlich ausgesetzt, weil der Patient sich heftig dagegen wehrt. Herr A. wird im Folgenden als weiterhin Stimmen hörend beschrieben. Ein Abschlussbericht fasst den Behandlungserfolg schließlich knapp zusammen: »Eine Entlassung des Pat. ist unter diesen Voraussetzungen natürlich nicht möglich. Er wird deshalb heute in die Anstalt Wiesloch verlegt, da die Station wegen Umbauarbeiten geräumt werden muss.«49 So endet die Karriere des Patienten schließlich in der Heilund Pflegeanstalt Wiesloch, wo er sich vom 18.07. bis zum 21.12.1953 aufhält und dann »auf Verantwortung der Familie« entlassen wird. Dabei wird die Diagnose des Patienten noch einmal geändert: Man spricht nun von einem »hirnathrophischen Prozess«, an dem der Patient leide und der sein Verhalten erkläre.
Zwischen Repression und Produktion: Die Fallgeschichte des Herrn A. Am Beispiel einer Einzelfallanalyse des ersten Patienten meiner Überlieferung, Herrn A., habe ich versucht, die Prämissen des Beginns einer neuen Therapieform aufzuzeigen. Die Auswahl der Versuchsperson und die Anwendung eines Verfahrens lassen sich jedoch nicht auf eine einfache Repressionshypothese zurückführen. Kein armer, unbekannter, besonders störender Patient bildet den Ausgangspunkt für die Heidelberger Versuchsreihe, sondern ein besonders gebildeter und gegenüber ÄrztInnen und Pflegepersonal als »unterwürfig« beschriebener Insasse wird für die Sichtbar-
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PUH, PA 53/6, Verlauf. PUH, PA 53/6, Pflegebericht. PUH, PA 53/6. PUH, PA 53/6, Arztbrief.
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machung eines ersten Therapieerfolges ausgewählt.50 Die Evaluierung des Erfolgs benötigt dabei, so meine These, diesen akademisch gebildeten und folgsamen Patienten, den man aufgrund seiner Artikulationsfähigkeit besonders gut zum Sprechen beziehungsweise Schreiben bringen konnte, um die Wirksamkeit des Medikaments auf das Denken des Patienten sichtbar zu machen. A. scheint für eine Allianzenbildung prädestiniert, die für die Herstellung einer ersten Wirksamkeitsvorstellung von besonderer Bedeutung ist. Dass die PsychiaterInnen ihn deshalb auswählten, bezeugt vielleicht auch die Tatsache, dass er die erste Versuchsperson darstellte, obwohl die Behandelten sich über seine Diagnose keinesfalls sicher waren. Doch die Allianzenbildung misslingt. Obwohl A. die ihm verabreichten Medikamente ohne Widerstand einnimmt, verweigert er schon auf der Grundlage der Krankheitserzählung seine Zustimmung: Der impliziten Aufforderung, erste Spuren einer erfolgreichen Behandlung der in den 1950er Jahren immer noch als wenig heilbar geltenden Störung »Schizophrenie« durch eine pharmakologische Intervention aufzuzeigen, der die ÄrztInnen die Hoffnung einer naturwissenschaftlichen Grundlegung entgegenbringen, setzt der Patient seine eigene Erzählung als Nervöser entgegen. Doch wer über die Nervosität oder Neurasthenie spreche, so betont Hans-Georg Hofer, spreche über Kultur und die komplexen Verhältnisse der Gesellschaft und des modernen Lebens. So zeigten die Neurasthenie und die Rede über Nervosität im Zeitalter des Triumphes der naturwissenschaftlichen Medizin Letzterer ihre Grenzen auf.51 Die Selbstbeschreibung des Patienten als Nervöser ist auf dieser Grundlage auch als widerständige Erzählung des Patienten gegen seine Internierung zu betrachten, denn »Nervöse sind heilbar«.52 Als zentraler Durchgangspunkt einer Erprobung des ersten modernen Neuroleptikums, von dem die PsychiaterInnen sich einen grundlegenden Wandel in der Psychiatrie erhofften, wirft die Frage nach der Wahl des ersten Patienten, der neben seiner Nervosität vor allem seine unbewältigte NS-Geschichte ins Zentrum seiner Erzählungen stellt, auch die Frage nach der Vergangenheitsbewältigung der Heidelberger Klinik auf. Warum, so lässt sich fragen, wählte man gerade diesen Patienten aus? War vielleicht sogar Mitleid, das man mit dem Täter empfand, ein 50 Dies spricht auch gegen die häufig vorgetragene These, dass es gerade die Distanz zwischen Arzt und Patient sei, welche die häufigere Anwendung biologischer Verfahren auf PatientInnen nichtbürgerlicher Herkunft bewirke. 51 Hofer 2004, S. 16. 52 Auch Tanner betont, dass es gerade zu Beginn des 20. Jahrhunderts viele PatientInnen lieber »auf den Nerven haben« als »verrückt werden« wollten. Auch PsychiaterInnen führten aus, dass die Nervösen in der Anstalt eigentlich falsch seien: »Am ungünstigsten wirkt die Versetzung blosser Nervenkranker in eigentliche Irrenanstalten, in denen sie nie wirklich kuriert werden können.« (Carl Hilty: Über Neurasthenie. Bern 1897, S. 4, zitiert nach Tanner 2007, S. 297).
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Motiv für seine Auswahl? Das Fehlen entsprechender Einwilligungserklärungen wirft vor dem institutionellen Hintergrund Fragen nach der ethischen Ausgestaltung des Versuchs auf. Sowenig die Fragen nach den Motiven der ÄrztInnen für die Auswahl genau dieses Patienten letztlich zu klären sind, bleibt jedoch diese Kontingenz des ersten Falls in die therapeutische Wirksamkeit eingeschrieben. Es sollte vier Wochen dauern, bis die Ärzte eine weitere Erprobung an einem anderen Patienten vornahmen. Erst fünf Wochen später probierten die PsychiaterInnen die Substanz an einer sehr jungen, weiblichen Versuchsperson aus. Diese Erprobungen werde ich im Folgenden skizzieren.
4.3 Weil »sie absolut immer etwas anderes will, a l s s i e s o l l « 53? D a s M ä d c h e n B . Die erste Verwendung der Substanz an einer Frau wird, ähnlich der Erprobung an Herrn A., nicht an einer als typisch geltenden »schizophrenen« Patientin vorgenommen, sondern an einem weiteren »Sonderfall«. Bei der Patientin handelt es sich um ein 8-jähriges Mädchen, im Folgenden B. genannt, das die Diagnose »kindliche Schizophrenie« erhält, eine auch zeitgenössisch sehr seltene Diagnose. Bei dieser zweiten Erprobung rücken weitere Fragen ins Zentrum der Analyse: Auch hier liegt wiederum keine Zustimmung zur Medikamentenbehandlung vor, und darüber hinaus erscheint die erste Erprobung der Medikation an einem Kind in besonderer Weise fragwürdig, denn in der Regel erhielten Kinder neue Medikamente erst, wenn über die Dosierung an Erwachsenen bereits einiges bekannt war.54 Vor allem die Tatsache, dass die Heidelberger ÄrztInnen meinten, es handle sich hier um einem besonders interessanten Forschungsfall, in dem sich viele Fragen der zeitgenössischen Psychiatrie verschränkten, bildet meines Erachtens den Kontext für die Erprobung an dem Kind B.
53 PUH, PA 133/53, Verlaufsbericht vom 20.05.1953. 54 In den 1950er Jahren gibt es noch keine Richtlinien, die eine Erprobung von Pharmazeutika an Kindern regeln. Eine solche Ausgestaltung wird erst mit dem Arzneimittelgesetz von 1976 vorgenommen. Jean-Paul Gaudillière hatte zudem am Beispiel der Tuberkulosemittel aufgezeigt, dass Erprobungen an Kindern Ende der 1940er Jahre durchaus üblich waren. Als Ende der 1940er Jahre im Rahmen der Erprobung von Tuberkulosemitteln Probleme aufgetreten waren, forderte die Firma BAYER die Ärzte in ihrer Herstellerinformation dazu auf, sich zunächst an Erwachsenen einen Überblick über die Wirkung eines neuen Medikaments zu verschaffen (vgl. Gaudillière [ca. 2010]). Es gab vor dem Hintergrund der Zeit also durchaus Vorstellungen über die Gefährlichkeit einer ersten Erprobung an Kindern.
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Die Geschichte B.s als Forschungsfall Am 13.05.1953 wird B. in Begleitung ihrer Schwester eingeliefert. Schon in der Aufnahmesituation wird vermerkt, dass B. sich anders als andere Kinder verhalte: »einerseits frech und vorlaut, plötzlich hält sie die Hand vors Gesicht, zuckt zurück. Macht ganz ängstliche, verstörte Augen, schlägt dann plötzlich grundlos auf die Schwester ein.« Die Behandlung von Kindern in der Psychiatrie ist zeithistorisch keineswegs außergewöhnlich. Wie Michel Foucault ausführt, geraten Kinder bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend in das Blickfeld der Psychiatrie.55 Eine besondere Situation stellt lediglich die Tatsache dar, dass im nun geschilderten Fall nicht das Problem der »Erziehungsschwierigkeiten« im Vordergrund steht, sondern die Diagnose Schizophrenie.56 Wie Foucault hervorhebt, ist es im Fall des psychiatrisierten Kindes in besonderer Weise die Familie, die als Informationsquelle dient und deren Beobachtungen sich zunehmend mehr an die disziplinarischen Formen der modernen Psychiatrie angepasst haben.57 In diesem Kontext ist es nicht verwunderlich, dass die familiäre Befragung in diesem Fall ein besonderes Gewicht einnimmt und sich erste Verdachtsmomente hauptsächlich auf die Erzählung der Schwester gründen. Befragt nach der Familie, erzählt diese eine Genealogie, die für die beteiligten ÄrztInnen eine Erbhypothese naheliegend erscheinen lässt. So erklärt die Schwester, die Patientin stamme aus einer kinderreichen, armen Familie, aus der bereits ein Bruder vor sieben Jahren in die Heidelberger Universitätsklinik gebracht worden sei, um von dort nach einiger Zeit in die Heil- und Pfleganstalt Alzey verlegt zu werden, wo er sich noch heute befinde. Von den ÄrztInnen wird eine Kopie seiner »chronisch« verlaufenden Krankengeschichte in der Akte der Patientin archiviert, die vermutlich die Vererbungshypothese stützen soll. Weiter nach den Eltern befragt, gibt die Schwester an, auch der Vater, ein Maurer, sei sehr eigenwillig und streng und mache von seinem Züchtigungsrecht häufig Gebrauch. Eine Schwester und ein Bruder des Familienoberhauptes seien ebenfalls in Anstalten untergebracht. Diese Narration dient als Folie, vor der die ÄrztInnen das Verhalten des Vaters nicht nur als delinquent, sondern als vermutlich wahnsinnig wahrnehmen. Zusätzlich gibt die Schwester an, auch der Großvater habe, obwohl er nicht in der Psychiatrie gewesen sei, »oft verdreht gesprochen«.58 Die Familiengeschichte wird so zum Ausgangspunkt eines vermuteten erblichen Wahnsinns bei dem Kind, 55 Foucault 2005, S. 184ff. 56 So fanden sich im Bestand der Heidelberger PatientInnendossiers der Zeit einige Akten von Kindern mit der Diagnose Erziehungsschwierigkeiten, aber keine weiteren mit der Diagnose Schizophrenie. 57 Foucault 2005, S. 182. 58 PUH, PA 133/55, Exploration.
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dessen Verhalten vor diesem Hintergrund auf eine Frühform der Schizophrenie untersucht werden soll. Die Familiengenealogie ist auch vor dem Hintergrund zeitgenössischer psychiatrischer Familienforschung und ihrer Bedeutung für die Prognose einer »Schizophrenie« zu lesen. So betonte Manfred Bleuler (1903–1972) schon in den 1940er Jahren, dass mit einem schlechten Verlauf zu rechnen sei, der kaum auf irgendeine Behandlung anspreche, wenn sich auch in der Verwandtschaft die Zahl der wahnsinnigen Familienmitglieder häuften und diese sich dauerhaft in der Anstalt befänden.59 In diesem Sinne wird die Geschichte der Patientin auch als Chronologie eines Abstiegs erzählt: Die Patientin musste im März 1953 von der Regelschule in eine Hilfsschule wechseln. Doch auch dort fällt sie der Lehrerin ständig ins Wort und ist nicht mehr zu halten, deshalb veranlasst die Pädagogin eine Einweisung des Kindes zur Beobachtung in die Klinik. Auch zuhause zeigt die Patientin nach Angaben der Schwester ein zunehmend merkwürdiges Verhalten. Beim Anblick eines vorbeifahrenden Zuges äußert sie: »Der niest und hustet ja.« In ihrem eigenen Spiegelbild meint sie, die Gestalt einer Kameradin aus der Nachbarschaft zu erkennen. Beides wird von den ÄrztInnen nicht als Zeichen einer regen kindlichen Phantasie, sondern als ernsthaftes Indiz einer beginnenden Schizophrenie gedeutet. Das Abweichende in ihrem Verhalten wird in der Akte auch vor dem Hintergrund ihres weiteren Sozialverhaltens deutlich zu machen versucht: So esse die Patientin nach Angaben der Schwester viel und maßlos, »stecke Obst aus dem Garten mit Stiel in den Mund«.60 Auch sei sie nie wirklich sauber gewesen und kote im Moment auch tagsüber in die Ecken des Hauses. Zudem quäle sie die Hauskatze und den Säugling der Schwester und zeige dabei keinerlei Gefühlsregungen. Die Möglichkeit der ÄrztInnen, diese Eigenschaften noch als »Erziehungsschwierigkeiten« zu deuten, schlägt jedoch zunehmend in die Annahme einer kindlichen Schizophrenie um, als weiter geschildert wird, die Patientin habe auch am Essen gerochen und Angst vor Vergiftungen geäußert. Die Suche nach der seltenen Spur einer erblichen kindlichen Schizophrenie wird nun weiter verfolgt und findet ihren Höhepunkt in der Untersuchung der Patientin. Insgesamt halten die PsychiaterInnen die Exploration am Ende ihres Aufenthaltes für so aufschlussreich, dass sie eine Abschrift derselben an das Gesundheitsamt senden und im mitgeschickten Ausschnitt aus dem Arztbrief 59 Bleuler 1941. Müller verdeutlicht in seinen Ausführungen zur »Therapie der Schizophrenien« in der Reihe Psychiatrie der Gegenwart, dass Bleulers Analyse auch noch 1960 den Stand der Forschung mitbestimmt. Besonders ungünstig seien die Voraussetzungen für eine »Heilung«, wenn der Beginn der wahnsinnigen Episode vor dem 15. Lebensjahr einsetze (vgl. Müller 1960, S. 39). 60 PUH, PA 133/53, Exploration.
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pointierten: »Zusammenfassend möchten wir feststellen, das es sich bei dem Kind (B.), das aus einer mit Psychosen und Schwachsinn belasteten Familie stammt, um eine ganz seltene produktive Schizophrenie mit Halluzinationen und Ich-Störungen handelt. Die Prognose ist sehr ungünstig. Eine baldige Anstaltsunterbringung erscheint schon wegen der Gefährdung des Kindes selbst dringend erforderlich.«61 Dass die erbliche Belastung auch mit der Schwester der Patientin thematisiert worden ist, legt ein Antwortschreiben der ÄrztInnen an die Angehörige nahe, die vermutlich mündlich die ÄrztInnen um Rat in einer persönlichen Frage gebeten hatte.62 Die Schwester bittet die ÄrztInnen, wie sich aus dem Schreiben deuten lässt, vermutlich um ihre eigene Sterilisierung aufgrund der ihr von den ÄrztInnen verdeutlichten erblichen Belastung.63 Dass die Ärzte den Eingriff nicht klar beim Namen nennen, kennzeichnet die Ambivalenz, die eine solche Sterilisation vor dem Hintergrund der Zwangssterilisationen an als erbkrank diagnostizierten PsychiatriepatientInnen zur Zeit des Nationalsozialismus hervorgerufen haben muss. Der Ratschlag an die Schwester, sich einer Sterilisation zu unterziehen, verdeutlicht aber gleichzeitig die Kontinuität, die zu einem solchen Denken in Erbgesundheitskategorien in der Psychiatrie der 1950er Jahre bestanden hat, da die PsychiaterInnen eine psychiatrische Befürwortung des Eingriffes in Aussicht stellen.64 Das Handeln in eugenischen Kategorien eines Erbgesundheitsgesetzes wird aber auch im Kontext der Diskussionen um eine Wiederaufnahme der 61 PUH, PA 133/53, Brief an das Gesundheitsamt vom 08.08.1953. Für Kurt Schneider stellte ähnlich wie für Kraepelin der Verlauf einer »Schizophrenie« einen wichtigen Indikator für die Diagnose dar, insbesondere hinsichtlich der Prognose eines Defektzustands. Die wichtigsten Zeichen für die Diagnose der Schizophrenie seien aber häufig nur indirekt zu erschließen (vgl. Schneider 1936, S. 178). Letztendlich stellte Schneider aber in Abgrenzung zu Kraepelin das Zustandsbild als zentrales Kriterium in den Mittelpunkt seiner Diagnostik (vgl. Schneider 1959; Heinz 2002, S. 114). 62 Ein entsprechendes Schreiben mit einer Anfrage findet sich in den Akten nicht. 63 In diesem Schreiben wird ausgeführt, dass man sich »in der Angelegenheit der Schwester« mit anderen Ärzten beraten habe. Ein entsprechender »chirurgischer Eingriff« könne nicht über das Gesundheitsamt, sondern nur über einen Privatarzt erfolgen und müsse privat abgerechnet werden, da eine entsprechende behördliche Bestimmung hierfür nicht vorhanden sei. Von Seiten der Heidelberger Klinik würde aber aus »nervenärztlicher Sicht« ein solcher Eingriff befürwortet werden. Der chirurgische Eingriff selbst wird nicht benannt. Es ist jedoch aus dem Kontext der Akte zu vermuten, dass es sich hierbei um die Frage der Schwester nach den Möglichkeiten einer Sterilisation gehandelt hat, nachdem man ihr die Erblichkeit des devianten Verhaltens in ihrer Familie erläutert hatte. 64 Dass Heidelberger Psychiater in den 1950er Jahren in bestimmten Fällen durchaus zur Sterilisation rieten, ist anhand anderer Akten gut rekonstruierbar (vgl. Prof. Dr. Schröder (Heidelberg), persönliche Kommunikation).
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Gerichtsverfahren von den im Nationalsozialismus zwangssterilisierten PsychiatriepatientInnen deutlich. Die Zwangsterilisation galt in der Rechtsauffassung der BRD in den 1950er Jahren als legal, wenn eine »richtige Diagnose« vorgelegen habe.65 Die Erblichkeitshypothese der Schizophrenie anhand »klinischer Fälle« stützen zu können, war für Kurt Schneider von großem Interesse. Denn unabhängig davon, so Schneider, ob Stoffwechselstörungen letztendlich für eine Diagnose der Schizophrenie ausschlaggebend seien, sei gerade die Erblichkeit und die »Bindung an Generationsvorgänge« ein zentrales Argument, die Schizophrenie als Krankheit zu bezeichnen.66
Allianzenbildungsversuche: B.s Wahnsinn sichtbar machen Im Zentrum ärztlicher Bemühungen steht nun der Versuch, B.s außergewöhnlichen kindlichen Wahnsinn sichtbar zu machen, denn bei der Annahme einer kindlichen Schizophrenie handelt es sich bisher lediglich um eine Hypothese. Ein solcher Versuch benötigt aber die Mitwirkung und das Vertrauen des Kindes, das Auskunft über seine Symptome geben muss. Doch schon zu Beginn der Untersuchung scheint eine solche Allianzenbildung fast unmöglich, da B. nicht untersucht werden will: »Mit ängstlich vorgehaltenen Armen sträubt sich das Kind, das Untersuchungszimmer zu betreten: ›Mach, dass Du wegkommst, ich hab Angst, ich krieg hier eine Spritze, ich werde hier totgemacht.‹« Dennoch lässt sich B. auf den Stuhl tragen, wehrt sich aber, als man sie zur Beruhigung auf den Arm zu nehmen versucht. Die Frage, ob das Kind auch Stimmen höre und Halluzinationen äußere, wird für die ÄrztInnen nun zur Kardinalfrage der Möglichkeit, die Diagnose einer kindlichen Schizophrenie zu verifizieren. Bisher finden sich nur indirekte Anhaltspunkte einer solchen Diagnose über die Erzählung der Schwester. In diesem Sinne wird eine aufschlussreiche Befragung der Patientin zum zentralen Punkt der Diagnosestellung, die eine klare Antwort auf die bereits bestehenden Verdachtsmomente geben soll.67 So liest sich die zentrale Stelle der Exploration auch wie ein 65 Noch 1955 sahen die Bundesländer auf Anfrage keinen bundeseinheitlichen Regelungsbedarf (vgl. Hanrath 2002, S. 91ff.). 66 Schneider 1959, S. 8. 67 Die Notwendigkeit einer zielgerichteten psychiatrischen Exploration für die Verifizierung einer Diagnose stellt auch Foucault ins Zentrum seiner Analyse: »Die Befragung muß so geführt werden, dass der Patient nicht sagt, was er will, sondern auf die Fragen antwortet. Daher der absolute Rat: Den Patienten niemals eine Geschichte ausspinnen lassen, sondern ihn durch eine bestimmte Anzahl von Fragen unterbrechen, die zugleich kanonisch und stets dieselben sind und in einer bestimmten Reihenfolge aufeinander folgen; denn diese Fragen müssen so funktionieren, dass sich der Patient Rechenschaft darüber ablegt, dass seine Antworten den Arzt nicht wirklich infor-
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bereits vorgefertigtes Rede- und Antwortspiel: »(Was ist denn, hörst Du etwas?) ›Ja, die Menschen in meinem Kopf‹ (Was sagen sie denn?) ›Du Krapp, Du Drecksau‹ (Geben sie dir einen Auftrag?) ›Nein, sie schimpfen nur immer‹«. Nachdem die Patientin zusätzlich geäußert hat, sie habe Bauchschmerzen, im Magen seien wohl Schlangen drin, bricht sie auf einmal den Kontakt ab, beschäftigt sich nur noch mit ihrem Schuh und ist weiteren Fragen gegenüber nicht mehr zugänglich. Der weitere Versuch, sie zum Reden zu bringen, wird erst mit der Aussicht auf eine kleine Belohnung möglich: »Auf das Versprechen, das sie eine kleine Süßigkeit erhalten würde, wenn sie schön Antwort gebe, wird [B.] auf einmal zugewandter und ist auf einmal voll aufmerksam.«68 So rechnet sie die ihr vorgelegten Aufgaben richtig, äußert aber weiter »Vergiftungsideen«. Die Diagnose scheint nun sicher und lautet »kindliche Schizophrenie«.69 Die gelungene Exploration wird nicht nur als Beweis der Diagnose an das Gesundheitsamt geschickt, sie markiert auch endgültig B.s Charakterisierung als interessanten Forschungsfall. Vorgeführt in Kurt Schneiders jugendpsychiatrischem Forschungskolloquium, betont dieser die Seltenheit einer »so produktiven Psychose«. Meist sei lediglich ein »Versanden« zu beobachten, hier sei die Diagnose jedoch sicher.70 Von der Wichtigkeit, den dieser Forschungsfall für Schneider besessen hat, zeugen auch die zahlreichen grünen Anstreichungen, die er in der Akte vornimmt.
»Sie ist zum Schrecken der Station geworden«: B. und die Anstaltsordnung Die Einweisung B.s in die Station lässt jedoch ganz andere Probleme zu Tage treten als eine erfolgreiche Diagnosestellung. So stört B. die Anstaltsordnung sofort erheblich, wie im Verlaufsbericht festgehalten wird: »Sie ist zum Schrecken der Station geworden. Alle hilflosen und insbesondere alten Patienten lacht sie aus, schreit laut auf vor Vergnügen, wenn eine Patientin sich gegen eine ärztliche Maßnahme sträubt, verkriecht sich jedoch unter das hinterste Bett vor Angst, wenn ein Erwachsener den Raum betritt.«71
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mieren, sondern lediglich Bezugspunkte für dessen Wissen darstellen und ihm die Gelegenheit geben, sich zu äußern; er muß sich darüber klar werden, dass jede seiner Antworten innerhalb eines bereits vollständig vom Geist des Arztes gebildeten Wissensbereiches bedeutsam ist« (Foucault 2005, S. 266). PUH, PA 133/53, Exploration. PUH, PA 133/53, Exploration. PUH, PA 133/53, Verlauf: Vorstellung im Jugendpsychiatrischen Kolleg vom 18.05.1953. PUH, PA 133/53, Verlaufsbericht vom 15.05.1953.
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Sei jedoch keine Autoritätsperson im Zimmer, so wird in der Akte zusammengefasst, versuche sie, dementen MitpatientInnen die Augen auszukratzen, zerreiße das Bettzeug, kote am Tag in die Ecke und esse maßlos. Die Situation spitzt sich kurz vor ihrer Vorstellung im Kolleg von HansHermann Meyer zu. So wird weiter berichtet, die Patientin sei sehr unsauber und »fühlt sich im größten Schmutz am wohlsten«.72 Für das Pflegepersonal werde sie zu einer größeren Belastung. Das zeige sich auch darin, dass sie beim Verrichten alltäglicher Dinge wie dem Ankleiden Hilfe benötige, weil »sie absolut immer etwas anderes will, als sie soll«.73 Wohl auch um eine bessere anstaltstechnische »Führung« der Patientin zu gewährleisten, wird mit einer Megaphenbehandlung begonnen. Der Beginn der Therapie wird nach der Vorstellung im Kolleg von Hans-Hermann Meyer beschlossen, nähere Gründe hierfür werden aber nicht benannt. Die Behandlung ist vielleicht auch deshalb vorgenommen worden, weil die Schwester nicht ihre Zustimmung zur Elektroschockbehandlung der Patientin gibt.74 Am 23.05. beginnt die Megaphen-»Therapie«, in der die ÄrztInnen der Patientin über den Tag verteilt 50 mg Megaphen in Tablettenform verabreichten, was jedoch nur zu einem eingeschränkten »Erfolg« führt. So wird in der Akte vermerkt, zwar schlafe sie nun nachts, sei aber tagsüber unverändert. Am 26.05. wird die Dosis auf 150 mg erhöht; das lasse die Patientin, wie berichtet wird, meist schlafen. Angesprochen in den wenigen wachen Momenten, scheinen sich erste Erfolge der Therapie zu zeigen. So äußert die Patientin, wie ein Eintrag vom gleichen Tag markiert: »Die Menschen im Kopf seien weg und im Bauch auch keine Schlange mehr.« Auch in den folgenden Tagen wird das Kind mit der Medikation im Schlaf gehalten, doch der vermeintlich positive Verlauf zeigt schnell erste Brüche. Schon im Verlaufseintrag vom 05.06. wird berichtet: »Heute sitzt das Kind wieder im Bett, lauscht, sagt, die Stimmen seien wieder im Kopf, auch die Schlange im Bauch sei wieder da.« Man begegnet dieser Äußerung – konsequent in der Anwendung körperlicher Kuren – mit einer sofortigen somatischen Intervention: Der Bauch wird abgetastet, erweist sich als verhärtet, deshalb verabreichten die PsychiaterInnen einen Einlauf. Zusätzlich zu dem wenig ermutigenden Verlauf der Medikation zeigen sich weitere Komplikationen. Durch die inzwischen auf 200 mg gesteigerte Dosierung sei die Resistenz des Kindes, wie die Akte berichtet, wohl sichtlich herabgesetzt, was sich in Halsschmerzen und Temperaturerhöhung
72 PUH, PA 133/55, Verlaufsbericht vom 20.05.1953. 73 PUH, PA 133/55, Verlaufsbericht vom 20.05.1953. 74 Auf dem Krankenblatt der Patientin findet sich auf dem Vordruck der Zustimmung zum Elektroschock, letzteres Wort durchgestrichen und durch EEG ersetzt (vgl. PUH, PA 133/55, Krankenblatt).
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äußere. Mitte Juni notiert man über 38˚ C Fieber und eine Mandelentzündung wird diagnostiziert.75 Die Ärzte setzten die Therapie nun langsam ab, dies führt zu einer zunehmend größeren Wachheit und damit verbundenen Unruhe des Kindes. Den nun wieder auftretenden bekannten Verhaltensweisen des Kindes wie Kratzen und Quälen der Zimmernachbarn begegneten die Behandelnden mit den Mitteln des klassischen psychiatrischen Restraints. So notiert der Verlaufsbericht vom 16.06.: »Dem Kind müssen teilweise die Hände verbunden werden.« Die Rekonstruktion von B.s Behandlung durch die Akte zeigt, dass auch B.s Therapie keinen Erfolg des neuen Medikaments sichtbar machen kann: Da die PsychiaterInnen nicht wissen, welche weiteren Behandlungen sie vornehmen sollen, das Kind aber die Anstaltsordnung erheblich stört, wird die weitere Unterbringung der Patientin in einer geschlossenen Kinderstation erwogen. Die Suche nach einer solchen gestaltet sich jedoch als schwierig, deshalb entlässt man die Patientin zunächst am 11.07.1953 nach Hause. Doch schon bald wird von Seiten der Familie brieflich auf eine schnelle Anstaltsunterbringung gedrängt, da die Patientin zu Hause nicht »haltbar« sei.76 Von Seiten der Klinik wird schließlich nach längerer Recherche eine Überweisung in die geschlossene Kinderstation in Süchteln (Johannistal) in Aussicht gestellt; es wird jedoch von einer erfolgten Unterbringung dort nichts mehr berichtet.
Zwischen Psychopathologie und Therapie: B. als besonderer Forschungsfall Auch die Auswahl des Kindes B. als zweite Versuchsperson in der Erprobung wirft Fragen auf. Es sind gleich mehrere Achsen, an denen entlang B. als besonderer Forschungsfall markiert wird. Erstens lässt sich hier eine weiterhin bedeutsame Vererbungslehre aufzeigen, die gleichwohl von der Erbgesundheitslehre des Nationalsozialismus beeinflusst scheint und einen prekären Status behält. Es ist dennoch anscheinend die Besonderheit der Bestätigung einer neuen Vererbungslehre der Schizophrenie, welche B. sofort in das Zentrum der Aufmerksamkeit der PsychiaterInnen geraten lässt. Zweitens konstituiert auch die seltene Sichtbarmachung einer »kindlichen Psychose« B.s besonderen Status, da ihr Fall für die Psychopathologie 75 Fieberentwicklung und eine Schwächung des Immunsystems mit darauf folgenden Infekten gelten als eine der häufigsten in den ersten Jahren beobachteten unerwünschten Wirkungen von Chlorpromazin. Diesen sollten die Ärzte, wie Labhardt schon auf dem ersten Chlorpromazinkongress im Jahr 1953 formulierte, mit einem sofortigen Absetzen der Medikation begegnen (vgl. Labhardt 1954, S. 343). Es liegt nahe, dass aus diesem Grund die Medikation ausgeschlichen wurde. 76 PUH, PA 53/133, Brief der Schwester vom 21.07.1953.
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Kurt Schneiders von großem Interesse ist. Diese Markierung B.s als besonderen Forschungsfall macht die kindliche Patientin vermutlich zum zentralen Durchgangspunkt einer neuen Therapieform, bei dem mehr als die Wirksamkeit der neuen Therapiemethode belegt werden soll: Die erfolgreiche Anwendung einer solchen neuen Medikation hätte drittens eine Geschichte der Wunder erzählt und dem Beleg einer erfolgreichen Behandlung einer überaus seltenen, vererbten kindlichen Psychose gedient – und der Heidelberger Klinik einen Forschungsfall par excellence zur Veröffentlichung geboten. Doch B.s Behandlung kann keine Erfolge der Therapie verdeutlichen, sodass dem Verhalten der Patientin schließlich mit den alten Mitteln des Restraints begegnet wird. Eine neue Geschichte des therapeutischen Fortschritts in der Psychiatrie mit diesem Forschungsfall zu verbinden, gelingt nicht. Die Erprobung an Kindern bleibt aber in die Medikation eingeschrieben. So bewirbt BAYER die Medikation bereits im Jahr 1953 auch für den Bereich der Pädiatrie.77 Einige Jahre später, im Jahr 1956, führt BAYER die Medikation als erfolgreiche Kur vor allem für »schwierige« Kinder ein: »Ein idealer ›stummer Assistent‹ in der Kinderpraxis kann Ihnen unser MEGAPHEN sein. Gerade nervöse, reizbare und streitsüchtige Kinder können schon durch orale Gaben von nur 0,5 mg/kg Körpergewicht so weitgehend beruhigt werden, daß die ärztliche Betreuung für beide Teile kein Problem mehr ist.«78
Auch wenn sich diese erst einige Jahre später entstehende Werbung vor dem Hintergrund von B.s konkretem Fall paradox liest, scheint die Beruhigung der Kinder bereits im Jahr 1953 der Ausgangspunkt für den Behandlungsversuch gewesen zu sein. Zudem kreuzen sich in der Erprobung an B. die Besonderheiten einer Erprobung an einem Kind mit denen der Indikation »Schizophrenie«, auf welche man sich einen besonders positiven Effekt der neuen Medikation versprach. Doch auch die erste weibliche Versuchsperson gab keinen Aufschluss über die Effektivität der neuen Behandlung.
77 BAYER 1953, Archiv der Firma BAYER. 78 BAYER-Brief »Megaphen« an praktische Ärzte, Internisten und Pädiater vom 14.09.1956. Vgl. auch den BAYER-Werbefilm »Zentralwirksame Phenothiazinderivate« (1959), in dem die Erfolge der Behandlungen zuletzt an verhaltensauffälligen Kindern demonstriert werden.
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4.4 Die klinische Konstitution eines »erfolgreichen Behandlungsfalls«: Herr C. Am 27.05.1953 wird schließlich mit der Behandlung des nunmehr vierten Patienten in der Versuchsreihe begonnen,79 dessen Lebensgeschichte erstaunliche Parallelen zu der Biographie des ersten Patienten A. aufweist. Am gleichen Tag in die psychiatrische Klinik eingewiesen wie Herr A., repräsentiert auch Herr C. den Beginn einer psychiatrischen Karriere vor dem Hintergrund seiner Kriegserfahrungen. Ebenso wie bei A. wird auch aus seiner Akte ein beruflicher Abstieg in den Nachkriegsjahren deutlich. So schildert er selbst seinen Werdegang als guter Schüler, der sich nach neunjährigem Schulbesuch vom kaufmännischen Lehrling über den Besuch einer Handelsschule schließlich bis zum kaufmännischen Angestellten und Buchhalter hochgearbeitet hatte, eine Position, die er bis zum Jahr 1939 behält. Mit Beginn des Krieges tritt C. zunächst als einfacher Soldat in die Wehrmacht ein und steigt dort bis zum Unteroffizier auf. Auch bei diesem Patienten lässt sich der Aufstieg und Fall entlang des Kriegsendes beschreiben. So gerät er mit dem Zusammenbruch des NS-Regimes in Kriegsgefangenschaft, in der er bis 1948 verbleibt. Zurückgekehrt aus dem langen Arrest, folgt C. seiner Frau, die inzwischen als Sudetendeutsche aus der gemeinsamen früheren Heimat ausgebürgert worden ist, nach Erbach. Dort angekommen findet er ab dem Jahr 1949 Arbeit in einer Fabrik, in der er als Graveur bis zum Zeitpunkt der Klinikeinweisung tätig ist, was einen beruflichen Abstieg für ihn bedeutet haben muss. Es verwundert deshalb nicht, dass C. seine Probleme als am Arbeitsplatz beginnend schildert: So berichtet er seit März des Jahres 1953 gehört zu haben, dass man in der Fabrik hinter seinem Rücken über ihn rede. Seine KollegInnen, so vermutet er, hätten ihn beim Chef angeschwärzt. Auch zu Hause seien Störungen aufgetreten: Diese verdeutlicht er unter anderem damit, dass plötzlich das Licht in der Wohnung ausgegangen sei, ohne dass jemand den Lichtschalter betätigt habe. Zudem bemerkt er schließlich auch im Radio Störungen. Im Fall von Herrn C. spielt ähnlich wie bei Herrn A. die Staatsgewalt in Form der Polizei eine tragende Rolle und ihr Auftreten bildet einen Wendepunkt im Geschehen: Die vom Patienten gerufenen staatlichen Ordnungswächter beachten seine Beschwerden nicht und es erfolgt keine Untersuchung des Hauses, um einer Ursache der geschilderten Störun-gen auf den Grund zu gehen.80 Die Polizei bestätigt damit erste Zweifel an den Wahrnehmungen von Herrn C. Hervorhebenswert ist an dieser
79 Vgl. zum zweiten Patienten in der Reihe den später geschilderten Fall einer Zyklothymen Manie. 80 PUH, PA 53/7, eigene Angaben.
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Stelle die Häufung der Fälle in den Akten, in denen sich geschilderte Kriegserlebnisse – hier die Kriegsgefangenschaft – mit einer von den ÄrztInnen gestellten Diagnose der Schizophrenie paaren. Dieses Thema streift eine zeitgenössische Forschungsdebatte, zu der man sich auch in Heidelberg positionierte. So äußerte sich Hans-Hermann Meyer zu dieser Frage in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift unter dem Titel der Debattenfrage »Ist ein Zusammenhang zwischen Kriegserlebnissen und der ersten Manifestation einer Psychose abzulehnen?« mit einer somatischen Haltung: »Die Beobachtungen nach beiden Weltkriegen ergaben eindeutig, daß kein vermehrtes Auftreten von endogenen Psychosen zu verzeichnen war, so daß wohl auch hierdurch die Annahme eine sichere Bestätigung fand, daß weder körperliche noch seelische Schäden für das Auftreten einer Schizophrenie ursächlich verantwortlich gemacht werden können.«81
Vermutlich in Anlehnung an diese Position werden auch C.s Eintritt in die Klinik und seine Krise nicht weiter mit seiner Kriegsbiographie in Zusammenhang gebracht. Der Patient wird von seiner Schwester in die Heidelberger Klinik begleitet und sofort »fürsorglich« aufgenommen. Die Angehörige wird in der Akte nur kurz befragt und berichtet, dass der Patient Stimmen höre und glaube, in die Wand seien Abhörgeräte eingebaut.82 Auch im »Psychischen Befund« wird von den behandelnden ÄrztInnen der Verdacht geäußert, bei dem nur misstrauisch und zögerlich erzählenden Patienten handle es sich um einen Fall von »paranoider Schizophrenie«. So wird im Bericht notiert: »Im Vordergrund stehen zahlreiche Wahnanfälle«, die aber in der Akte
81 Meyer 1955a, S. 1013. So bezieht sich Meyer auch auf mehrere von Kurt Schneider aufgestellte, relativ harte Kriterien für eine solche Fassung der »Schizophrenie« als Kriegsfolge: keine Schizophrenie in der Familie, keine auffällige prämorbide Persönlichkeit und einen einwandfrei durch Zeugen bestätigten zeitlichen Zusammenhang mit körperlicher Schädigung (ganz selten auch seelischer Schädigung) mit dem Beginn erster Zeichen des Wahnsinns. Eine solche Position entspricht der gängigen psychiatrischen Lehrmeinung in der BRD (vgl. zu einer ähnlichen Auffassung Kolle 1958). Die Beantwortung der Frage, ob Psychosen eine Kriegsfolge darstellen könnten, ist zeithistorisch von großer Relevanz, da an eine solche Definition die Legitimität zahlreicher Entschädigungszahlungen gekoppelt gewesen wäre. Auch die Begutachtungspraxis lehnt sich an eine Ablehnung der Diagnose »Kriegspsychose« an. Noch im Jahr 1958 werden von Kolle alle als »psychotisch« diagnostizierten PatientInnen nicht als entschädigungswürdig gefasst. Diese Haltung ändert sich erst mit der Beschäftigung von Baeyers mit dem Wahnsinn als Folge des Kriegs (vgl. von Baeyer/Häfner/Kisker 1964). 82 PUH, PA 53/7, Angabe der Schwester.
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unbenannt bleiben. Darüber hinaus wird festgestellt, dass halluzinatorische Erlebnisse nicht sicher fassbar seien. Dennoch wird eine Schizophrenie diagnostiziert.
Eine tragfähige Allianz herstellen: C.s Therapie Trotz der vermeintlich sicheren Diagnose wird nicht sofort mit einer Megaphenkur begonnen, sondern zunächst ab dem 15.04. eine konventionelle Elektroschockbehandlung durchgeführt. Am 15.05. wird im Verlaufsbericht notiert, dass die Ehefrau bemerkt, ihr Mann berichte ihr gegenüber immer noch von den gleichen Erlebnissen, die zu seiner Einweisung geführt hätten.83 Wenn auch geschildert wird, dass der Patient den ÄrztInnen gegenüber nur ungern über seine Erfahrungen vor der Klinikeinweisung spreche, gleichzeitig aber jede Gelegenheit wahrnehme, die ÄrztInnen nach dem Termin seiner Entlassung zu befragen, nehmen die ÄrztInnen an, dass er sich nicht weiter von seinen paranoiden Ideen distanziert habe. Aus diesem Grund brechen sie die Elektroschockbehandlung schließlich nach dem achten Stromstoß ab.84 Wohl auch um aus der nun schon über einen Monat andauernden, zwangsweisen psychiatrischen Behandlung entlassen zu werden, bietet C. den ÄrztInnen seine Mitarbeit an. So wird im Verlaufsbericht über den Patienten ausgeführt: »Er bezichtigt sich auch, die Maßnahmen der Ärzte nicht richtig zu unterstützen und bittet um Hinweise, wie er sich richtig verhalten solle.«85 Auch sein Chef, der ihn inzwischen in der Klinik besucht hat, schildert C. als ordentlichen und sehr zuverlässigen Mitarbeiter, auf dessen baldige Genesung er hoffe, da er im Betrieb eine große Stütze sei.86 Die Tatsache, dass es sich bei C. um einen sehr verlässlichen und an der Mitwirkung interessierten Patienten zu handeln scheint, könnte ähnlich wie im Falle A.s wohl ein ausschlaggebendes Argument gewesen sein, einige Tage später den Beginn einer »Winterschlafbehandlung« zu erwägen, denn das Medikament war vermutlich nicht im Überfluss vorhanden. Auch unmittelbar vor Beginn der Therapie wird der Patient als sich ruhig an den Anstaltsarbeiten beteiligend beschrieben.87 Nach der Vorstellung im Hauptkolleg von Prof. Schneider wird schließlich am 29.05.1953 mit der Kur begonnen. Über Herrn C. erfährt man aus dem Verlaufsbericht am Anfang der Therapie nur: »Der Patient döst meistens vor sich hin, ist aber immer erweckbar. Er klagt über
83 84 85 86 87
PUH, PA 53/7, Verlaufbericht vom 15.05.1953. PUH, PA 53/7, Verlaufsbericht vom 22.05.1953. PUH, PA 53/7, Verlaufsbericht vom 22.05.1953. PUH, PA 53/7, Verlaufsbericht vom 22.05.1953. PUH, PA 53/7, Pflegebericht.
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Schmerzen an der Einstichstelle.«88 Aufgrund der Injektionsprobleme wird die Medikation nach einigen Tagen auf Tabletten umgestellt. Am 20. Tag der Behandlung scheint der Patient aus der Sicht der ÄrztInnen eine gewisse Distanzierung gegenüber seinen »paranoiden« Gedankengängen zu zeigen, »doch bleibt die Entscheidung offen, ob diese wirklich an Realitätswert verloren haben«.89 Trotzdem beschließen die PsychiaterInnen, die »Schlafkur« am 25.06. zu beenden und ihn Anfang Juli nach Hause zu entlassen. Am Entlassungstag berichtet die Ehefrau C.s von einem letzten Gespräch mit ihrem Mann. Zwar habe dieser geäußert, er sei nicht ganz sicher, dass die Vorkommnisse, die zur Einweisung geführt haben, auf Einbildung beruhten, doch betone der Patient, er wolle sich um diese Dinge nicht mehr kümmern und einfach die Arbeit wieder aufnehmen.90 Ob C. nichts mehr von seinen Erlebnissen berichtet hat, um nun endlich aus der Anstalt entlassen zu werden oder ob er sich tatsächlich um die Erlebnisse nicht mehr hat kümmern wollen, muss offen bleiben. Offensichtlich reicht aber die geschilderte Entwicklung, die aus der Distanz zumindest als ambivalente erscheint, um mit der Behandlung C.s einen Erfolgsfall zu konstituieren. So fasst der Entlassungsbrief vom 10.07.1953 den Behandlungserfolg der Megaphenwinterschlafbehandlung als eine therapeutische Intervention, die »zu einer Normalisierung der Stimmungslage führte und eine Distanzierung von den früheren psychotischen Erlebnissen brachte«. Eine weitere Behandlung mit der verabreichten Substanz wird als nicht notwendig erachtet.91
Den Erfolg erfahrbar machen: die Geschichte des Herrn C. aus der Sicht der ÄrztInnen – und von ihm selbst Die Geschichte von Herrn C. dient den ÄrztInnen als Möglichkeit, einen ersten Erfolgsfall zu begründen, den sie für die weitere Behandlung mit der hoffnungsvollen Substanz dringend benötigen. Dies mag einer der Gründe dafür sein, dass die im Inneren der Akte im Verlaufsbericht zumindest ambivalenten Behandlungsergebnisse der Therapie des Herrn C. in der Außendarstellung, die der Bericht aus dem Arztbrief bildet, verschwinden. Kurz nach dem Beginn der Behandlung von Herrn C. beschließen die Heidelberger Ärzte wohl auch, die Versuche mit Megaphen weiter auszudehnen. Anfang Juni 1953 lässt sich eine Häufung der Megaphen88 PUH, PA 53/7, Verlaufsbericht vom 07.06.1953. Die Schmerzen an der Einstichstelle sind eine typische unerwünschte Begleiterscheinung der Chlorpromazinbehandlung, da es hierbei häufig zu schmerzhaften Ekzemen kam. 89 PUH, PA 53/7, Verlaufsbericht vom 17.06.1953. 90 PUH, PA 53/7, Verlaufsbericht vom 03.07.1953. 91 PUH, PA 53/7, Arztbrief vom 10.07.1953.
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behandlungen beobachten. Dies ist auch vor dem Hintergrund einer zunehmenden Konkurrenz mit anderen erprobenden Kliniken zu sehen, der sich die PsychiaterInnen nach den Berichten auf der Wanderversammlung ausgesetzt gesehen hatten. So ist die Heidelberger Klinik in der »Bringschuld«, endlich eine Wirksamkeit der Medikation erfahrbar zu machen. Folgt man der These, dass es vor allem der erste Erfolgsfall ist, der eine Öffentlichkeit erhält, so ist davon auszugehen, dass C. in der Überlieferung eine besondere Bedeutung zukommt.92 Während C. aus der Sicht der ÄrztInnen vielleicht einen therapeutischen Durchbruch markiert hat, kontrastiert seine eigene Darstellung erheblich mit der Erzählung einer erfolgreichen Behandlung. Dieser Blick des Patienten wird erst aus der Retrospektive einer historischen Analyse sichtbar, da der Patient gut zehn Jahre nach der Behandlung an die Klinik schreibt, um Einsicht in seine Krankenakte zu erhalten und sich über die damalige Behandlung zu beschweren. Unter dem Betreff »Mitteilung des Grundes und der Diagnose unter der ich 3 Monate in ihrer Klinik gegen meinen Willen in der geschlossenen Abteilung festgehalten worden bin« offenbart C. seine Sicht auf die körperlichen Behandlungen in der Klinik als wenig hilfreich. So schreibt er in einem seiner Briefe an die Klinik: »Man hat mich mit elektrischen Schocks, mit Winterschlaf behandelt, als ob ein gesunder Mensch, der durch Trugmanöver in eine geschlossene Anstalt ohne gesetzliche Grundlage hineingelotst worden war, sich dadurch ändert?«93 Des Weiteren kritisiert C., dass er eine Zustimmung zur Behandlung nicht gegeben habe. Dennoch sollte er als erster Erfolgsfall in die Konstitution des Wissens eingehen sollte. Am Beispiel der analysierten PatientInnen lässt sich aufzeigen, dass eine erste Sichtbarmachung der Effekte, die für eine Epistemologie der Wirksamkeit entscheidend ist, nicht nur einen, sondern mehrere Versuchspersonen benötigt hat. In der Überlieferung bietet erst der vierte Patient eine Möglichkeit, die Geschichte einer therapeutischen Wirksamkeit des Megaphens in Ansätzen zu erzählen. Dennoch verdeutlicht auch die Geschichte C.s die Schwierigkeiten in der Definition eines Wirksamkeitsbegriffs, der die offene Erzählung des Patienten braucht: Zwar hofften die Behandelnden auf die Mitwirkung des Patienten, der über seine Rede die positiven Effekte der Medikation verifizieren soll, doch bleibt das Ergebnis fraglich. Obwohl zunächst eine stabile Allianzenbildung zu bestehen scheint, misslingt die Sichtbarmachung eines klaren Behandlungserfolges auch in diesem Fall. So wird die Geschichte einer »Besserung« durch die Medikation allein mit Hilfe der unklaren Worte des Patienten lesbar. Sie 92 Vgl. Hippius/Healy 1996; Szasz 1971; Pressman 1998. Ob man diesen Arztbrief auch an die Firma BAYER gesendet hat, bleibt offen. 93 PUH, PA 53/7, Brief des Patienten an die Klinik vom 27.05.1964.
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kontrastiert mit seiner klaren Ablehnung der Deutung, eine effektive (Megaphen-)Therapie wäre erfolgt, in den Briefen an die Klinik, die er aus seiner neuen Perspektive außerhalb der Anstaltsmauern schreibt. Es sollen im Folgenden deshalb Einwilligungen und Beschwerden der PatientInnen in der Chlorpromazinerprobung in einem größeren Maße betrachtet werden, um ihre Bedeutung in der Konstitution des Wissens zu beleuchten.
4 . 5 E r p r o b u n g e n a n p s yc h i a t r i s c h e n P a t i e n t I n n e n : E i nw i l l i g u n g e n u n d B e s c hw e r de n Betrachtet man die Grundlage der Erprobungen vom Standpunkt der PatientInnen aus, so rückt zwangsläufig die Frage nach ihrem Status als informiertem Subjekt in der Verwendung der neuen Medikation ins Sichtfeld. Noch im Jahr 1966 hob der US-amerikanische Medizinprofessor Henry K. Beecher (1904–1976) hervor, dass informierte Einwilligungen der PatientInnen, die Versuchspersonen in der Erprobung neuer medikamentöser Verfahren – welche nach dem Zweiten Weltkrieg infolge einer Vielzahl therapeutischer Neuerungen zunahmen – waren, in der Regel nicht vorlagen. Anhand einer Analyse amerikanischer Veröffentlichungen wies er nach, dass die überwiegende Mehrzahl der KlinikerInnen noch in den 1960er Jahren offensichtlich ganz auf eine Aufklärung der PatientInnen verzichtete. Beecher forderte schließlich, dass im Falle der Veröffentlichungen der Versuchsergebnisse in wichtigen Fachjournalen nicht nur versichert werden müsse, dass der Versuch moralisch unbedenklich gewesen sei, sondern auch die Einverständniserklärungen der Probanden vorgelegt werden sollten und löste damit eine international bekannt werdende Debatte aus.94 Gut zehn Jahre früher lässt sich das Problem der Zustimmung der PatientInnen zu medizinischen Versuchen auch in Deutschland beschreiben. Die Versuchspersonen der Megaphenerprobung in der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg erhielten das Medikament vor der Markteinführung, eine Einwilligungserklärung von ihnen oder auch nur ihren Verwandten findet sich in den Akten jedoch nicht. Dies ist aus mindestens zwei Gründen bemerkenswert: Gerade vor dem Hintergrund der medizinischen Verbrechen im Nationalsozialismus an PatientInnen, die den Experimenten nicht zugestimmt hatten, waren im Rahmen der Nürnberger Ärzteprozesse Richtlinien, der sogenannte Nürnberger Kodex, für den klinischen Versuch erstellt worden. Diese Richtlinien sahen eine Einwilli-
94 Beecher 1966, S. 1354. Zur Rezeption und den Folgen der von Beecher angestoßenen Debatte in den USA vgl. Healy 2002.
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gung der PatientInnen zwingend vor.95 Es existierten also auch in den 1950er Jahren verbindliche Regeln über die Information und Zustimmung der PatientInnen. Dass man sich in Heidelberg gerade vor dem Hintergrund der geschilderten Euthanasieverbrechen ihres damaligen Leiters Carl Schneider offensichtlich nicht an diese Richtlinien hielt, ist umso erstaunlicher und stützt die These einer mangelnden Auseinandersetzung der Psychiatrischen Universitätsklinik mit ihrer Vergangenheit in den 1950er Jahren, während es zum Teil in anderen bundesdeutschen Kliniken solche Zustimmungserklärungen gab.96 Auch war das Thema Einwilligung in einschlägigen Fachpublikationen bereits thematisiert worden. Bereits 1951 hatte der Jurist Adolf Schönke (1908–1953) eine Zustimmung der Behandelten zur Therapie auch in der Psychiatrie gefordert.97 Zeitgleich wurde das Unterbringungsgesetz in der Psychiatrie geändert. So wurde im gleichen Jahr das der Heidelberger Praxis zugrunde liegende Badische Irrenfürsorgegesetz von 1910 reformiert. Letzteres hatte noch vorgesehen, dass eine vom Arzt bescheinigte Gefährlichkeit eines Geisteskranken für eine »fürsorgliche« Aufnahme ausreiche. Entsprechende Klagen der PatientInnen wurden nicht von einer neutralen juristischen Instanz, sondern vom geschäftsführenden Direktor der jeweiligen psychiatrischen Anstalt überprüft.98 Mit der Geburt der Bundesrepublik Deutschland wurde nun jedoch der alte rechtliche Rahmen einer Neuordnung unterzogen. Eine Neufassung des Gesetzes von 1951 regelte jetzt, es sei bei jeder Freiheitsentziehung durch staatliche Institutionen innerhalb von vierundzwanzig Stunden ein Richter hinzuzuziehen, der über die Statthaftigkeit der Unterbringung zu entscheiden und der festgehaltenen Person Gelegenheit zum Einspruch zu geben habe. Diese neue Richtlinie ordnete nun die Entscheidungsgewalt der ÄrztInnen über eine Unterbringung psychiatrischer PatientInnen den Ausführungen der JuristInnen unter. Diese Haltung wurde von vielen bundesdeutschen PsychiaterInnen kritisiert, weil sie die Heilbehandlung damit der »Freiheitentziehung« bei Kriminellen gleichsetze.99 Dass aber auch die Rechtsinstanzen sich durch ihre neue Entscheidungsgewalt über die Unterbringung »fürsorglich« aufzunehmender PsychiatriepatientInnen zunächst überfordert fühlten, verdeutlicht der Briefwechsel des Verwaltungsgerichts 95 Vgl. Hohendorf/Roelcke/Rotzoll 1997. Die den deutschen ÄrztInnen vermutlich bekanntere Richtlinie von 1931 hatte lediglich Empfehlungscharakter, war also für die ÄrztInnen weniger verbindlich. 96 So zeigt Andrea Dörries für die Wittenauer Heilstätten auf, dass es in einigen Fällen der Elektroschock- und Malariabehandlung, aber auch einigen Medikamentenversuchen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchaus Zustimmungserklärungen zu den Therapien von Verwandten oder den PatientInnen selber gegeben habe (vgl. Dörries 1999b, S. 214ff.). 97 Noack 2004, S. 186ff. 98 Overhamm 1953, S. 11. 99 Beispielhaft Zutt 1951/63.
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mit der Heidelberger Klinik. Für eine weitere Entscheidung über solche »Fälle« fühlte man sich, wie in einem Schreiben des Verwaltungsgerichts ausgeführt wurde, nicht zuständig.100 Die mit Beginn der 1950er Jahre einsetzende Stärkung der Rechte von PsychiatriepatientInnen, die in der Neufassung des Unterbringungsrechts und des Urteils zur Einwilligung in die psychiatrische Therapie ihren Ausdruck finden, bildet den Kontext einer klinischen Praxis, die häufig weit hinter diesen Ansprüchen zurückgeblieben ist.101 Vor diesem Hintergrund ist auch zeithistorisch das vollständige Fehlen einer Einwilligung zur Megaphenbehandlung bemerkenswert. Eine Ablage der Zustimmungserklärungen außerhalb der Krankenakten ist nahezu auszuschließen, da sich in denselben eine solche Erklärung zur Elektroschockbehandlung in standardisierter Form findet, die in der Regel von Verwandten unterzeichnet worden ist. Diese unterschriebenen Reverse sind wohl auch vor dem Hintergrund der schon in den 1950er Jahren bekannten körperlichen Schäden der Elektroschocktherapie zu sehen. So riet schon im Jahr 1951 der spätere Heidelberger Chefarzt Walter Ritter von Baeyer in seinem bekannten Buch über die somatischen Therapieformen zum rechtlich einwandfreien Umgang mit den Schockverfahren. Hierzu führte er aus: »Größere Schwierigkeiten können aber entstehen, wenn es zu einem Zwischenfall, etwa zu einer Krampffraktur oder gar, bei Insulinkomabehandlung, zum tödlichen Ausgang gekommen ist. Um sich vor ungerechtfertigten Anzeigen zu schützen, tut man gut, sich von den nächsten für den meist geschäftsunfähigen Kranken verantwortlichen Angehörigen einen ›Revers‹ unterschreiben zu lassen. Der Revers soll die Form einer kurzen Zustimmungserklärung haben, in der auf die praktisch geringe Gefährdung durch Gesundheitsschädigungen aufmerksam gemacht wird. Ausführliche schriftliche oder mündliche Erläuterungen über alle denkbaren Komplikationen oder Zwischenfälle zu geben, ist unnötig und im Interesse der Kranken unzweckmäßig. Die Zustimmung würde dann allzuoft verweigert werden.«102
100 So wird in einem Schreiben des Verwaltungsgerichts an die Heidelberger Klinik formuliert, das dem Gericht die grundgesetzliche Voraussetzung für die Entscheidung bezüglich des rechtmäßigen Aufenthalts psychisch Kranker in psychiatrischen Kliniken fehle (PUH, VA Betr.: Richterliche Zulässigkeitserklärung gem. Art 104 BGG für Einweisungsverfügungen nach dem Bad. Irrenfürsorgegesezt (GVBl. S. 299) vom 20.01.1951). 101 Sie rekurriert auch auf die in den 1950er Jahren in der Öffentlichkeit zunehmend stärker verhandelten Ängste, zu Unrecht in eine Anstalt interniert zu werden, welche man in verschiedenen Printmedien wie Stern, Kristall und Zeit verhandelte, und die unter dem Stichwort einer »Vertrauenskrise der Psychiatrie« subsumiert werden (vgl. Noack 2006 ). 102 Von Baeyer 1951, S. 14.
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Die schließlich angefertigten und in der Regel schon vorgedruckten Zustimmungserklärungen der Heidelberger Klinik zum Elektroschock lesen sich wie eine Umsetzung dieser Aufforderung, auch wenn sie mit einer Unterschrift der Angehörigen rechtlich zweifelhaft blieben. Auch für die Verwendung der neuen Psychopharmaka, insbesondere von Megaphen und Serpasil, findet man ab Ende der 1950er Jahre standardisierte Zustimmungserklärungen in der Akte auf der ersten Seite – meist zusammengefasst mit einer Zustimmung zur sogenannten elektrischen Durchflutungstherapie.103 Dies legt die Vermutung eines Mentalitätswandels in dieser Frage nahe, der sich jedoch erst einige Jahre nach der Erprobung vollzogen hat. Die sehr zögerlich einsetzende Tendenz, entsprechende Reverse anzulegen, wird vor dem Hintergrund eines Urteils des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 1954 erklärbar, bei dem die gängige Praxis der Zustimmungserklärungen scharf angegriffen und die Pflicht einer Zustimmung des Patienten bei nicht harmlosen Eingriffen gefordert wird.104Als Präzedenzfall diente der Fall eines Bremer Psychiatriepatienten, der nach einer durch einen Elektroschock erfolgten Fraktur gelähmt blieb. Im darauf folgenden Urteil vom 10.07.1954 wird die Pflicht des Arztes betont, eine Einwilligung des Patienten einzuholen und über die Therapie aufzuklären. Von der Zustimmung der psychiatrischen PatientInnen, so führt das Urteil aus, dürfe auch dann nicht abgewichen werden, wenn die Behandelten nicht geschäftsfähig seien, denn es bedürfe einer ständig neu zu prüfenden Einwilligungsfähigkeit; die PatientInnen müssten darüber hinaus klare und vollständige Informationen über die möglichen Folgen des Eingriffs erhalten. In der psychiatrischen Rezeption blieb das Urteil umstritten.105 Auch in der Heidelberger Universitätspsychiatrie nahm man das Urteil mit gemischten Gefühlen auf. Walter Ritter von Baeyer nannte das Urteil einen Fall, in dem »eine Absurdität zum Prinzip erhoben, ein unmögliches Postulat aufgestellt wurde«.106 Dass man diese Richtlinien praktisch nicht 103 Auch in den Wittenauer Heilstätten hatte man seit 1951 die Angehörigen in der Regel verstärkt um Zustimmung gebeten. Gleichzeitig sank die Zahl der Elektroschockverabreichungen zwischen dem Jahr 1950 und 1951 um zwei Drittel. Bereits 1947 hatte Anton von Braunmühl zur Frage des Umgangs mit der Elektroschocktherapie zu der »Faustregel« geraten, bei frischen Anstaltsfällen sollten die Angehörigen gefragt werden, bei alten könne der Arzt selber entscheiden (vgl. Noack 2004, S. 182ff.). 104 Aktenzeichen VI ZR 45/55, Urteil des Bundesgerichtshofes vom 10. 07. 1954. 105 Noack 2004, S. 190ff. Dass auch heute noch die Anwendung des Elektroschocks ohne Zustimmung stattfindet, verdeutlicht eindrücklich die gemeinsame Erklärung der weltweiten Psychiatriebetroffenenorganisationen anlässlich des Weltkongresses der World Psychiatric Association zum Thema »Zwang in der Psychiatrie« im Juni 2007 in Dresden. Vgl. https:// enusp.org/dresden/ddd.rtf, Stand 10.12.2009. 106 Von Baeyer 1955b, S. 169.
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umgesetzt habe, betonte Hans-Hermann Meyer in einer entsprechenden Debatte mit einem Heidelberger Juristen. Zur Einholung der Zustimmungserklärung erläuterte er: »Es ist eine ärztliche Gepflogenheit, sich in diesen Fällen eine Behandlungsgenehmigung von den erreichbaren nächsten Angehörigen geben zu lassen, ein Vorgehen, das nach juristischen Richtlinien nicht ausreichend ist.«107 Dass die Unrechtmäßigkeit der mangelnden Aufklärung aber später auch in das Bewusstsein der PatientInnen gelangen und Teil rechtlicher Auseinandersetzungen werden könnte, wurde vermutlich nicht antizipiert. So griff der vierte Patient der Versuchsreihe, Herr C., in seinen Briefen an die Klinik auch die rechtliche Gültigkeit der Zustimmungserklärung seiner Schwester an. In diesem Sinne formulierte er: »Wieso hat man sie gezwungen ihre schriftliche Zustimmung zur elektr. Schockbehandlung und Kopfuntersuchung beziehungsweise Winterschlaf zu geben, wozu sie gesetzlich überhaupt nicht befugt war?«108 In einem Antwortbrief der Klinik wurde der Patient darauf hingewiesen, dass nach der damaligen Gesetzeslage seine Schwester durchaus dazu berechtigt gewesen sei, ihre Zustimmung zu einer Behandlung an seiner statt zu geben – eine Haltung, die schon auf der Grundlage der Rechtsprechung aus dem Jahr 1953 eine unsichere Rechtsposition markiert. Unerwähnt blieb in der Erwiderung darüber hinaus, dass lediglich zur Elektroschockbehandlung eine Einwilligung der Schwester vorlag, nicht jedoch zu der neuen, sich noch in der Erprobung befindenden Megaphentherapie.109 Es ist auch vor diesem Hintergrund zu erklären, dass die PsychiaterInnen dem Beharren des Patienten auf der Unrechtmäßigkeit seiner Behandlung und dem Wunsch nach Informationen über die damals gestellte Diagnose zumindest teilweise nachkamen. Nachdem C. um Einsichtnahme in seine PatientInnenakte gebeten und diese notfalls mit Hilfe eines Anwalts zu erzwingen gedroht hatte, teilten die Heidelberger ÄrztInnen ihm nach einigen Briefwechseln seine Diagnose »Schizophrenie« mit – ein für die Zeit recht ungewöhnliches Vorgehen. Danach findet sich kein weiterer Briefwechsel in der Akte.110 Dass die Angehörigen zumindest in einzelnen Fällen von der Therapie wussten, lässt sich zum Teil an der Korrespondenz erkennen, welche die ÄrztInnen mit den Angehörigen führten. So drängten die Angehörigen eines anderen Patienten, die ÄrztInnen sollen mit der Medikation aufhören, da diese offensichtlich keinen Effekt zeige und mit einer Elektroschockbehandlung beginnen. In einem Antwortschreiben der Klinik wurde 107 108 109 110
Meyer o. J., S.2, Sammlung Hans-Hermann Meyer der PUH. Meyer o. J., S.2, Sammlung Hans-Hermann Meyer der PUH. PUH, PA 53/7, Krankenblatt. PUH, PA 53/7, Brief des Patienten an die Klinik vom 12.02.1967 und Antwort vom 17.02.1967.
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gepriesen, dass man den Patienten nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen mit einer Megaphentherapie behandle, was jedoch keinen nachhaltigen Einfluss auf den Wunsch der Angehörigen ausübte. Am Beispiel eines anderen Patienten lässt sich zumindest vermuten, dass wohl die Angehörigen, nicht aber der Patient selbst über die Erprobung informiert wurden. So führte einer der Angehörigen in einem Brief an die Klinik aus: »Nun komme ich zurück auf den letzten Brief meiner Mutter, sie schreibt darin, daß mein Bruder sich darüber aufgeregt hätte, daß hypnotisiert wird u. er glaubt, daß hier etwas gespielt wird. Meine ganz unmaßgebliche Meinung: ich kann mir vorstellen, daß derartige Kranke von den unmöglichsten Hirngespinsten geplagt werden. Aber ich kann mir nicht erklären, daß die Kranken von den Experimenten etwas merken. Und wenn ich dort wäre, würde ich ihm sagen, daß das alles notwendig ist und das Vertrauen zu dem Arzt als Helfer die wichtigste Vorraussetzung zur Wiedererlangung der Gesundheit ist. Und daß alles nur zu seinem Wohle geschieht.«111
Nebulös bleibt allein in dem Schreiben, worum es sich bei den erwähnten Experimenten gehandelt haben sollte. Es erscheint jedoch aus dem Kontext der Akten und einer entsprechenden Antwort der Klinik naheliegend, dass hiermit die Chlorpromazinversuche gemeint waren, denn in einem Antwortschreiben der Klinik ging man auf die erwähnten Experimente nicht ein, wohl aber auf die Medikation. So heißt es dort, man habe den Patienten eben nach den »neusten Erkenntnissen der Wissenschaft behandelt«, der Patient werde »das Zurückliegende vergessen und nicht mehr erwähnen«.112 Inwieweit die Angehörigen auch über den Versuchscharakter der Medikation unterrichtet waren, bleibt unklar. Offiziell zugestimmt hatten sie jedoch nicht. Dass in den Gesprächen mit den Angehörigen die Erfolge einer solchen Therapie besonders hervorgehoben wurden, ist naheliegend. So konnte Joel Braslow am Beispiel seiner Untersuchungen zur Lobotomie in einem US-Krankenhaus zeigen, dass die Angehörigen häufig von den ÄrztInnen mit Briefen über die Erfolge der Therapie unterrichtet worden waren, in diesen aber meist nur die halbe Wahrheit über die Effektivität des Verfahrens vermittelt bekamen. In anderen Fällen war es gerade der Wunsch der Familie, der zur Durchführung einer Lobotomie führte.113 Auch in Heidelberg übten Familienmitglieder Einfluss auf die Wahl der Therapie aus, wie sich am Beispiel des Patienten D. zeigen lässt.114
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PUH, PA 53/123, Brief des Bruders vom 17.07.1953. PUH, PA 53/123, Antwortschreiben der Klinik, undatiert. Braslow 1997, S. 130ff. PUH, PA 53/120. Dieser Patient wird im Folgenden einer Einzelfallanalyse unterzogen.
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In der Praxis weigerten sich die »uninformierten« PatientInnen nicht selten, die Medikation einzunehmen: Drei PatientInnen der ersten Versuchsgruppe, zwei Männer und eine Frau, sperrten sich direkt gegen eine Verabreichung, indem sie die Tabletten ausspuckten. Bei Letztgenannter führte ihr »renitentes« Verhaltens schließlich auch zum vorzeitigen Abbruch der Medikation.115 Eine weitere »Megaphenkur« wurde vorzeitig abgebrochen, weil die Patientin schrie und sich widersetzte und im Bett nicht zu halten war. Eine andere Patientin konnte das Medikament ohnehin nur per Magensonde erhalten, da sie jede Essensaufnahme verweigerte.116 Ein Patient war erst nach längerer Unterredung mit dem behandelnden Arzt zur weiteren Einnahme bereit.117 Vielfache Schwierigkeiten bereitete den ÄrztInnen auch die Durchsetzung der verordneten »Liegekur«, die wegen der kreislaufschwächenden Funktion der Medikation von den ÄrztInnen streng überwacht wurde. Diese besondere Bedeutung der Bettruhe ist vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit dem ersten Patienten der Versuchsreihe zu betrachten – der nach der Einnahme bei einem eigenmächtig unternommenen Toilettengang mit einem Kreislaufkollaps zusammenbrach118 –, aber auch mit dem von Meyer in seiner ersten Veröffentlichung geschilderten Todesfall.119 Ein häufig geschildertes Widersetzen der PatientInnen gegen das »Liegen im Bett« wurde von den ÄrztInnen als eine Widerstandsform gegen die Medikation verstanden, die in Einzelfällen auch zum Abbruch der Medikation führte. Darüber hinaus machte die in zwei Fällen geschilderte Komplikation einer Fieberentwicklung zwischen 38–39˚ C eine Bettruhe wohl unabdingbar. Insgesamt zeigten sich die nichtinformierten PatientInnen nicht lediglich als Objekte einer direkten Macht, als passive Elemente der an ihnen durchgeführten Versuche. Vielmehr lässt sich gerade an ihren Verweigerungen und Beschwerden auch praktisch das komplizierte Changieren zwischen Macht und Widerstand hervorheben, das Michel Foucault betont hat.120
115 116 117 118 119 120
PUH, PA 53/165. PUH, PA 53/177. PUH, PA 53/125. PUH, PA 53/6. Meyer 1953a. Foucault 2005.
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4 . 6 W i r k s a m i n B e z u g a u f w a s? Erste Versuche der Wissensbildung anhand »besonderer Diagnosen« Abschließend werde ich für das Jahr 1953 die Versuche an besonderen Diagnosen fokussieren, die meines Erachtens gerade in der Ersterprobung von zentraler Bedeutung sind. Dabei werde ich zwei Fälle in den Blick nehmen, die im späteren psychiatrischen Diskurs ins Zentrum des Interesses gerückt sind. Analysiert werden ein Patient mit der Diagnose Manie und eine Patientin mit der Diagnose Depression; diese Fälle geben Aufschluss über die Frage, auf »was« die Medikation einwirken sollte.
»Megaphen harmonisiert die Persönlichkeit«121: das Beispiel des Herrn D. Der im Folgenden dargestellte Patient D. ist meines Erachtens gleich in zweifacher Hinsicht konstitutiv: Es handelt sich erstens um einen als manisch diagnostizierten Patienten, auf dessen »Erregung« das Megaphen in den ersten Veröffentlichungen als am effektivsten wirksam beschrieben wird.122 Hans-Hermann Meyer selbst beschreibt in seiner Erstveröffentlichung drei Fälle von Manie, an denen die Medikation erprobt worden ist. Es lässt sich jedoch nur dieser eine Patient rekonstruieren.123 Zweitens bewirbt die Firma BAYER die Medikation offensiv vor allem für ältere Menschen, wie auch die Werbung (Abbildung 1) verdeutlicht, die unter dem Titel »Megaphen harmonisiert die Persönlichkeit« auf die positiven Effekte der Medikation zur Wiedereingliederung älterer Menschen fokussiert.124 Dies wird auch vor dem Hintergrund erklärbar, dass ältere Menschen für die Nachkriegspsychiatrie ein Problem von besonderer Bedeutung darstellten. So lässt sich ein starker Anstieg der Zahl älterer 121 Zitat eines Begriffs, den Fritz Flügel über die Effekte der Megaphentherapie bereits im Jahr 1953 auf dem ersten Treffen der Wanderversammlung Südwestdeutscher Neurologen und Psychiater prägte (vgl. Südwestdeutsche Neurologen und Psychiater 1953, S. 9). 122 Gäde/Heinrich 1955 beschrieben es bei Manien als Mittel der Wahl. Erste Hinweise auf diesen Anwendungsbereich lieferten bereits Delay/Deniker 1952b. Aber auch im internationalen Kontext war schon früh davon berichtet worden, so unter anderem von Delay und Deniker 1956, die auf dem ersten internationalen Chlorpromazinkongress in Paris von 1955 gar eine Remissionsrate von 85 Prozent angaben. Auch Evarts fand in einer USamerikanischen Studie die Effekte auf Manien und Erregung besonders hervorhebenswert (vgl. Evarts 1959). 123 Meyer 1953a. 124 Auch eine Ende der 1950er Jahre herausgegebene Broschüre zu Megaphen compositum, einer Kombination von Chlorpromazin und Reserpin, betont besonders den Einsatz bei älteren Menschen.
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Menschen in der Psychiatrie der Nachkriegszeit beobachten, in der die Lebenserwartung erheblich gestiegen war und die Probleme des Alterns zunahmen.125 Abb. 1: Werbung der Firma Bayer für Megaphen aus dem Jahr 1959 Quelle: Unternehmensarchiv der Firma Bayer, Bestand Megaphen
Vor diesem Hintergrund möchte ich die Geschichte des Patienten D. rekonstruieren. Bei dem Patienten handelt es sich um einen 62-jährigen Schlachter, dessen Einlieferung in die Psychiatrische Universitätsklinik 125 Janzarik 1974, S. 45.
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sich offensichtlich so schwierig gestaltet, dass er betäubt in die Klinik eingeliefert werden muss. Man erfährt über den Zustand des Kranken bei der Aufnahme Anfang Mai 1953 aus dem Krankenblatt: »Wird in bewusstlosem Zustand auf der Bahre gebracht (Schlafmittelwirkung).«126 In der Exploration wird die Lebensgeschichte von D. aus der Sicht seines Schwiegersohnes kurz umrissen: Dieser schildert den Patienten als brutal und robust, wie es sein Beruf als Metzger mit sich bringe. Vor drei Jahren habe er das erste Mal Käufe getätigt, die seine Verhältnisse überstiegen hätten. Im Moment halte er zwei Ställe voll Vieh, die er eigentlich nicht bezahlen könne. Zudem wolle er gerade ein Haus ersteigern, sein Vieh dagegen billig verkaufen, was seiner Familie sehr zugesetzt habe, da sie ihre finanzielle Existenz durch seine »Geschäfte« ruiniert sehe. Am Morgen des Tages, an dem man ihn in die Psychiatrische Universitätsklinik einliefert, habe D. seine Ehefrau mit einem Messer bedroht, woraufhin er von einem schnell herbeigerufenen Arzt mit einer Injektion »matt gesetzt« worden sei.127 Selbst befragt äußert der Patient, der Arzt habe ihn auf heimtückische Weise mit einer Spritze in die Klinik gebracht. Angesprochen auf seine psychische Verfassung, formuliert er nur: »Der [D.] ist der vernünftigste Mann der Welt, so was Vernünftiges habt ihr noch nie in Eurem Narrenhaus gehabt.« Es wird beschrieben, dass D. die Klinik schnell wieder verlassen will, um Geschäfte abzuwickeln. Als das Pflegepersonal ihn daran hinderte, habe er schließlich geweint wegen der »Blamage«. Der behandelnde Arzt vermerkt schließlich am Ende der Exploration: »Ein ordentliches Gespräch ist aufgrund der Uneinsichtigkeit des Patienten nicht möglich.«128 Auch in den folgenden Tagen fügt sich der Patient nicht in gewünschter Weise in den Anstaltbetrieb ein, sondern stört dessen Ablauf empfindlich. So schildert der Verlaufsbericht vom 12.05.1953: »Der Patient ist auf der Station ausgesprochen umtriebsam und hat sich sofort mit einem anderen Maniacus zusammengetan. Sie singen unentwegt Lieder und reißen die zotigsten Witze.«129 Auch aufgrund dieses störenden Verhaltens scheint der Patient, der inzwischen die Diagnose »Zyklothyme Manie« erhalten hat, für eine Behandlung mit der neuen Medikation ausgesucht worden zu sein. Darüber hinaus legen die den ÄrztInnen wohl bekannten Berichte aus Frankreich, welche die »Manie« als erste Indikation für eine psychiatrische Verwendung preisen, eine Erprobung der Substanz an einem als manisch diagnostizierten Patienten nahe.130 Als erster »Fall« mit entsprechender Diagnose 126 127 128 129 130
PUH, PA 53/120, Krankenblatt. PUH, PA 53/120, Angaben des Bruders. PUH, PA 53/120, Epikrise. PUH, PA 53/120, Verlauf. Vgl. Delay/Deniker/Harl 1952b; Swazey 1974. Auch die Firma RHÔNEPOULENC übernahm die Diagnose schließlich als erste Indikation.
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erprobten die Heidelberger PsychiaterInnen an D. nun eine solche Verwendung auch in Deutschland. Eine erfolgreiche Durchführung der Kur an einem Maniker hätte der Heidelberger Psychiatrie eine große Aufmerksamkeit innerhalb der deutschen psychiatrischen Diskussion beschert. Wohl auch aus diesem Grund entschließt man sich schon kurz nach der Einweisung, sofort eine Megaphenkur durchzuführen. Zeitlich gesehen handelt es sich bei D. um den zweiten Patienten in der Erprobung. Am 12. Mai 1953 wird zunächst per Injektion mit einer Medikamentenbehandlung begonnen, wegen einer schnellen Gewöhnung die Dosis aber bereits nach einigen Tagen erhöht. Am 22.05. gehen die ÄrztInnen auf eine Verabreichung von Tabletten über, mittels derer sie dem Patienten eine Tagesdosis von 300 mg Megaphen verabreichten, was gemessen an den französischen Berichten, die eine Tagesdosis von 150–200 mg in jedem Fall für ausreichend halten, als hohe Dosis anzusehen ist.131 Der gewünschte Erfolg der Beruhigung stellt sich jedoch nicht ein. So schildert der Verlaufsbericht desselben Tages: »Nach wie vor erwacht der Patient schon morgens um 4 Uhr und beginnt dann wiederum mit anderen manischen Patienten laut zu singen. Er erklärt, er habe ausgeschlafen, fühle sich ›sauwohl‹ und müsse einfach deswegen singen.«132
Auch bleibe der Patient nicht im Bett, sondern steige zu dem anderen »Maniacus« ins Bett, um dort Karten zu spielen. Beide würden von dort aus Kabarettvorstellungen mit »schmutzigen, humoristischen Vorträgen« halten und sparten auch nicht mit »übelsten Schimpfwörtern«. Auch im 131 Andere Autoren sollten später angeben, dass es sich erst bei Verabreichungen von 300 mg Chlorpromazin um ausreichende Dosierungen handelt (vgl. Walther/Meyer/Leuscher 1981). Da es in der Psychopharmakologie aber keine klare Dosis-Wirkungsrelation gibt und eine Dosierung sich an dem jeweils individuellen Patienten zu orientieren hat, ist eine solche Menge eher im oberen Mittelfeld anzusiedeln. So berichten Delay und Deniker, dass die Franzosen 100–250 mg für ausreichend hielten, während die Amerikaner zum Teil von 600–900 mg Chlorpromazin berichteten (vgl. Delay/Deniker 1955). Evarts verweist auch auf die Kontroverse um die DosisWirkungsrelation. Während eine Gruppe sage, bei Dosierungen über 300 mg gebe es keine wirklichen Erfolge mehr, betonten andere, dass für sie die Dosierungsspanne bis 800 mg gehe, es gebe aber auch Gaben bis 2.000 mg. Diese unterschiedlichen Dosierungsangaben hingen wohl auch von der Definition des Begriffs »hilfreicher Effekt« ab, der sehr unterschiedlich gefasst werde (vgl. Evarts 1959, S. 74). Der Bericht des Schweizer Largactilsymposiums von 1953, dessen Ergebnisse den Heidelbergern bereits bekannt waren, machte dazu folgende Angaben: »Die Dosierung der Mittel ist schwieriger, als man annehmen könnte, in jedem Fall ist ein schematisches Vorgehen dabei zu vermeiden.« Sie sollte »streng individuell« erfolgen (vgl. Labhardt 1954, S. 339). 132 PUH, PA 53/120, Verlaufsbericht vom 22.07.1953.
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Folgenden zeigt der Patient trotz der Medikation weiterhin ein aus der Sicht der Klinik störendes Verhalten. Noch Anfang Juni wird bemängelt, dass der Patient sich in keiner Weise beruhigt und gebessert zeige und trotz angeordneter Bettruhe immer wieder aufstehe und zudem unverschämte Widerworte zum Besten gebe. So heißt es im Verlaufsbericht weiter: »Stellt man ihn wegen seines undisziplinierten Verhaltens zur Rede, entschuldigt er sich damit, daß er gerade einmal habe zur Toilette gehen müssen. Patient besitzt z. Z. nur ein Nachthemd, schlingt sich aber beim Herumgehen auf der Station eine Decke um den Leib u. trägt eine 2. nach Art einer Tunika umgehängt. Sein Gesicht trägt immer den Ausdruck eines zufriedenen Lächelns.«133
Auch im Folgenden scheint die Dosiserhöhung vor allem dem Ziel seiner Wiedereingliederung in die Anstaltsordnung gedient zu haben, da auf die frühmorgendlichen Gesänge des Patienten in der Regel eine Dosiserhöhung folgt. Der Patient wird seit fast einem Monat mit einer hohen Dosis der neuen Medikation behandelt, als am 11.06.1953 ein Schreiben der Verwandten eintrifft, das den unveränderten Zustand des Familienoberhauptes bemängelt. So wird in diesem Schreiben pointiert: »Wir haben an ihm festgestellt, daß der Zustand nicht wesentlich besser ist. Noch lange nicht so, dass wir ihn zu Hause benötigen könnten.«134 Des Weiteren drängt die Familie auf eine baldige Entlassung, da sie wegen einer fehlenden Krankenversicherung den Aufenthalt in der Klinik nicht länger bezahlen könne. Schlussendlich wird die Hoffnung geäußert, durch ein Absetzen der Medikation und eine Behandlung mit Elektroschocks doch noch eine »Besserung« zu erzielen. In einem Antwortschreiben der Klinik weisen die Ärzte noch einmal darauf hin, dass sie bereits kurz nach der Einlieferung mit einer Megaphenbehandlung begonnen haben, allerdings einräumen müssen, dass der Verlauf der manischen Episode »ungewöhnlich hartnäckig« sei.135 Wohl auch auf Drängen der Angehörigen hin wird die medikamentöse Behandlung schließlich am 14.06. abgesetzt und mit einer Elektroschockserie begonnen. In den darauf folgenden Tagen beschreiben die Psychiaterinnen den Patienten als etwas ruhiger, wenn er auch weiterhin »umtriebig« sei. Am 20.07.1953 entlässt man den Patient schließlich nach Hause. Aus den in der Akte enthaltenen Kontextinformationen scheint es naheliegend, dass seine Entlassung vor allem deshalb vorgenommen wird, weil seine Familie den Krankenhausaufenthalt nicht weiter bezahlen kann, denn C. zeigt sich nicht wesentlich verändert. Auch der Entlassungsbericht 133 PUH, PA 53/120, Verlaufsbericht vom 02.06.1953. 134 PUH, PA 53/120, Brief der Familie vom 11.06.1953. 135 PUH, PA 53/120, Antwortbrief der Klinik, undatiert.
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vermerkt zur Erprobung der neuen Medikation nur konsterniert: »Therapeutisch führten wir zunächst eine Megaphenkur (künstlicher Winterschlaf) durch, die aber nur sehr bedingt Einfluß auf Umtriebsamkeit und Geschäftigkeit des Pat. gewinnen konnte.«136 Die erfolglose Kur kann die positiven Erwartungen, die die ÄrztInnen vermutlich in die Medikation setzten, zum wiederholten Mal nicht erfüllen. Auch der Patient D., der mit seinem Verhalten und der gestellten Diagnose als geradezu passgenau für das Medikament beschrieben worden ist, kann die neuen Effekte der Medikation nicht erfahrbar machen. In meiner Gesamtstichprobe der Jahre 1953 bis 1957 haben sich auch keine weiteren Verwendungen an »Manikern« extrahieren lassen.137 Hans-Hermann Meyer schildert in seinem Bericht jedoch noch zwei weitere Fälle, so dass offen bleibt, ob man auf die Anwendung von Megaphen bei »Manikern« in Heidelberg vorerst ganz verzichtet hat. Die Ausführungen der Erfolge bei den sogenannten »Zyklothymen Manien« in Meyers Bericht lesen sich auf der Grundlage der Analyse des einzigen noch rekonstruierbaren Patienten jedoch ungewohnt optimistisch. So betont Meyer: »Bei den manischen Zyklothymien kommt es unter der Behandlung rasch zur Beruhigung, wohl besser als durch Elektroschockbehandlung, aber nicht in allen Fällen konnten wir ein Abklingen der Phase erreichen.«138 Zusammenfassend ist festzustellen, dass sich bei dem zweiten Patienten der Versuchsreihe verschiedene neue Elemente der Megaphentherapie miteinander verschränken: Die Erprobung an einer neuen Diagnose und an einem »älteren Patienten« sollen vor dem zeithistorischen Hintergrund Aufschluss über den innovativen Charakter der Neuerung liefern. Gleichzeitig überlagern sich hier jedoch die Erfordernisse eines therapeutischen Einsatzes auf der einen Seite und einer repressiven Verwendung auf der anderen Seite, die wohl dem Ziel der Aufrechterhaltung der Anstaltsordnung dienen soll. So werden D.s Schreibversuche, die sich in der Akte 136 PUH, PA 53/120, Arztbrief. 137 Da es sich bei den von mir extrahierten Akten sowohl der Anzahl (100) als auch des prozentualen Verhältnisses (8 Prozent) nach um eine repräsentative Größe handelt, liegt die Folgerung nahe, dass man in Heidelberg nahezu ganz auf den weiteren Einsatz von Megaphen bei ManikerInnen verzichtete. Dies muss aber auch vor dem Hintergrund der Häufigkeit betrachtet werden, mit der man diese Diagnose stellte. So berichtet Hans-Hermann Meyer, dass während des Zeitraumes von 1945–1954, den er statistisch untersucht hätte, überhaupt nur 67 Patienten die Diagnose Zyklothyme Manie erhalten hätten: 42 Männer und 25 Frauen (vgl. Meyer/Böttinger 1957, S. 21). Es handelte sich also um eine Diagnose, die nur selten gestellt wurde. Bei der Sichtung des Gesamtmaterials konnte ich jedoch einige ManikerInnen auffinden, die keiner Medikamentenbehandlung unterzogen wurden und deswegen auch nicht in meine Stichprobe eingingen. Dies spricht zumindest für eine große Zurückhaltung der Anwendung bei dieser Diagnose. 138 Meyer 1953a, S. 1098.
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finden, anders als die Berichte A.s, nicht als wichtige Quellen der psychiatrischen Wissensbildung verstanden. Vielmehr vermerkt der Verlaufsbericht vom 29.06.1953, dass der Patient immer noch zahlreiche Briefe schreibe, die vor orthographischen Fehlern strotzten.139 Wohl aus der Not heraus, für seine »Kritzeleien« auf der Station kein Papier zu erhalten, schreibt der Patient seine eigenen Ideen auf Fetzen von Verpackungen.140 In sein Erleben der Megaphentherapie gibt der Patient in seinen Egodokumenten jedoch keinen Einblick, weshalb eine nähere Analyse auch hier ausgespart bleibt.
Nervenschwäche nach dem Krieg: Frau E. Auch die im Folgenden geschilderte Patientin E. symbolisiert gleich mehrere Facetten, die sich in der Ersterprobung häufiger zeigen: Zum einen ist sie ähnlich wie der im vorangegangenen Abschnitt geschilderte Patient D. eine »ältere Person«.141 Zum anderen wird bei E., ähnlich wie im Falle der Erprobungen an A. und C., eine Geschichte des Wahnsinns vor dem Hintergrund des Umgangs mit der eigenen NS-Vergangenheit deutlich. Bei der ersten als depressiv diagnostizierten Patientin, die Megaphen zur Behandlung erhält, handelt es sich um eine 65-jährige Rentnerin, die Ende Mai 1953 Aufnahme in der Heidelberger Klinik findet.142 Zur gleichen Zeit wird mit der Megaphenkur bei einer anderen Frau mit der gleichen Diagnose begonnen.143 Dass es sich bei allen »Depressiven« um Frauen handelt, erscheint vor dem historischen Hintergrund nicht als zufällig. So erläutert Hans-Hermann Meyer in einer statistischen Analyse des Krankenguts der Heidelberger Klinik, bei den in den Jahren von 1945 bis 1954 behandelten 3.478 PatientInnen mit der Diagnose Zyklothyme Depression habe es sich zu drei Vierteln um Frauen gehandelt.144 Laura Hirshbein betont, dass die Diagnose Depression in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer Krankheitsbezeichnung geworden sei, die in besonderer Weise die Kategorie Geschlecht mit der sich verändernden Struktur des klinischen Versuchs im Zuge der Einführung der neuen Psychopharmaka 139 PUH, PA 53/120, Verlaufsbericht, Eintrag vom 29.06.1953. 140 Hierbei handelt es sich aber wohl nicht, wie ich zunächst angenommen hatte, um Medikamentenpackungen, sondern vermutlich um die Verpackungen von mitgebrachtem Konfekt. 141 Als ältere Person werde ich im Folgenden PatientInnen bezeichnen, die über 60 Jahre alt sind. Zu dieser Definition vgl. Moses 2005. Die Grenze einer Definition »ältere Menschen« umfasst aber eine Spannbreite von 55– 65 Jahren und wird sehr unterschiedlich gesetzt (vgl. Schwoch 1999). 142 PUH, PA 53/176. 143 PUH, PA 53/184. Es handelt sich um eine 59-jährige Lehrerin, also auch um eine im weiteren Sinne der Definition ältere Frau. 144 Meyer/Böttinger 1957, S. 21.
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verbinde.145 Am Ende der Neuformulierung des klinisch-psychiatrischen Versuchs in der US-Psychiatrie entstehe, so Hirshbein, jedoch ein selbstreferenzieller Zirkel, in dem Frauen als depressiver bezeichnet würden, weil sie häufiger als solche diagnostiziert und behandelt würden und sie den weitaus größten Teil der ProbandInnen in Wirksamkeitsstudien zu Antidepressiva bilden würden.146 Es verwundert also nicht, dass auch die erste Person, an der die ÄrztInnen einen Effekt der Megaphentherapie auf Depressionen zu testen versuchen, weiblichen Geschlechts ist.147 Am 29.04.1953 tritt die Patientin E. in die Heidelberger Universitätspsychiatrie ein. Schon in der Aufnahmesituation scheint kaum ein Zweifel an der Diagnose zu bestehen. Die Patientin wirke tief geknickt, weine und mache alles in allem einen »tiefdepressiven Eindruck«.148 Die sie bei der Aufnahme begleitende Schwägerin schildert, die Patientin sei schon immer ein »ernster, fleißiger und arbeitsamer Mensch« gewesen. Aus E.s eigener Erzählung, die in der Akte festgehalten wird, entsteht der Einruck einer schwierigen Kindheit und Jugend. Nach dem Tod der Mutter an Krebs sei sie mit sechs Jahren in ein Waisenhaus gekommen, wie E. berichtet. Dort habe sie als mittelmäßige Schülerin die Schule besucht und anschließend zwei Jahre lang das Hauswirtschaften erlernt. Danach habe sie in verschiedenen Haushalten gearbeitet. Neunzehnjährig sei sie schließlich schwanger geworden. Der Vater des Kindes, ein Soldat, habe sie jedoch »sitzen lassen« und für das gemeinsame Kind auch keinen Unterhalt gezahlt, so dass sie das Neugeborene schließlich die ersten Jahre in Pflege gegeben habe, um den Lebensunterhalt zu verdienen. Ein erster sozialer Aufstieg sei ihr geglückt, wie E. verdeutlicht, als sie im Jahr 1911 einen Witwer mit fünf Kindern geheiratet habe, der zwar zum Trinken neigte, mit dem sie aber nach eigenen Angaben ansonsten harmonisch zusammenlebte. Auch zu seinen Kindern habe sie immer ein sehr gutes Verhältnis gehabt. Erste Probleme seien erst im Jahr 1943 aufgetreten, nachdem ihr Mann an Lungentuberkulose gestorben sei und sie von Erspartem und Flickarbeiten habe leben müssen. Einen ersten psychischen Einbruch schildert sie zeitgleich mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. So werden in der Akte die Angaben der
145 Hirshbein 2006, S. 188. 146 Hirshbein 2006, S. 215. 147 Auch hier muss quellenkritisch angemerkt werden, dass es sich nur um die erste Patientin der Aktenüberlieferung handelt. Hans-Hermann Meyer erwähnt auf dem Treffen der Südwestdeutschen Neurologen und Psychiater Ende Mai 1953 bereits einen Fall von Depression, an dem man das Mittel effektiv eingesetzt habe. Dieser war jedoch anhand des Aktenmaterials nicht rekonstruierbar. 148 PUH, PA 53/176, Krankenblatt.
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Schwägerin zu diesem »Schicksalsjahr« ausführlich wiedergegeben. Letztere führt aus: »1945 habe sie [die Patientin] große Schwierigkeiten gehabt, weil sie Frauenschaftsführerin gewesen wäre. Man habe ihr gedroht, dass man ihr alle Möbel nehmen wolle. Sie sei damals so verzweifelt gewesen, dass sie einen Selbstmordversuch unternommen habe.«149
Auch die Patientin selbst sieht die Erlebnisse des Jahres 1945 als Auslöser für ihren ersten schwerwiegenden psychischen Einbruch. Als Krisenauslöser bezeichnet sie einen Besuch von »Kommunisten«, die ihr gesagt hätten, ihr würde wegen ihrer Tätigkeiten im Nationalsozialismus alles genommen werden, was sie besäße. Daraufhin habe sie sich mit Schlaftabletten zu vergiften versucht und sei drei Tage bewusstlos gewesen, habe die Medikamente aber wieder erbrochen, so dass der Selbsttötungsversuch nicht glückte. Erst über die Zeit sei sie, so berichtet E., über diesen unerfreulichen Besuch hinweggekommen, da eine Sanktionierung ihrer Tätigkeiten im Nationalsozialismus schließlich unterblieben sei. Auch habe die Spannung abgenommen, nachdem sie im Jahr 1948 wegen »Fettsucht und Herzverfettung« eine Rente bekommen habe, die ihr ein ruhiges Überleben ermögliche.150 Ihre Schwägerin gibt an, dass die Patientin sich schließlich gefangen habe und ein »stilles« und »unauffälliges« Leben führe. Auf das aktuelle Geschehen angesprochen, führt die Angehörige weiter aus, vor zehn Wochen sei bei der Patientin Unterleibskrebs festgestellt worden. Der Patientin teilen die Ärzte, wie der Kontext der Akte verdeutlicht, diese Diagnose offensichtlich nicht mit. So betont die Schwägerin, E. habe wohl zwischenzeitlich an ein Karzinom gedacht, sich diese Gedanken aber von den Verwandten austreiben lassen. Es stellt sich die Frage, ob die Patientin gespürt hat, dass ihr das Ausmaß ihrer Krankheit verheimlicht wird und dies den Auslöser einer neuen Krise markiert hat. Die von der Schwägerin geschilderten Ängste, die zur Einweisung der Patientin in die Heidelberger Klinik geführt haben, knüpfen jedoch augenscheinlich an die Erlebnisse des Kriegsendes an. So schildert die Schwägerin die seit vier Wochen zunehmende Furcht der Patientin mit folgenden Worten: »Sie glaube immer abgeholt zu werden, weil sie etwas verbrochen habe. Sie werde eingesperrt werden, obwohl sie nicht wisse, was sie sich habe zu Schulden kommen lassen. Sie sei auch einmal zur Polizei gegangen und habe sich stellen wollen. Man habe sie aber sofort heimgeschickt.«151
149 PUH, PA 53/176, Angaben der Schwägerin. 150 PUH, PA 53/176, eigene Angaben. 151 PUH, PA 53/176, Angaben der Schwägerin.
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Auch glaubt E., wie die Schwägerin weiter ausführt, weder die Geschenke, die sie bekomme, noch ihre eigene Rente zu verdienen. Zudem befürchte die Patientin, sie bringe anderen Leuten den Teufel ins Haus. Die Patientin selbst gibt an, sie habe Angst, von der Polizei geholt zu werden, weil sie »vielleicht jemanden anstecken könne«.152 Angetrieben von diesem Gedanken spaziere sie in der Stadt herum, sei wohl auch einmal zur Polizei gegangen und habe gefragt, ob dort eine Anzeige gegen sie vorliege, die sie der Ansteckung beschuldige. Die Polizei und ein hinzugezogener Arzt hätten sie jedoch schließlich von der Idee abbringen können, dass sie an einer übertragbaren Krankheit leide. Die zunächst als so sicher erscheinende Diagnose der Depression wird vor dem Hintergrund der Exploration wieder zweifelhafter und die Entscheidung, ob es sich bei der Diagnose der Patientin um eine Schizophrenie oder eine Psychose des »manisch-depressiven Formenkreises« handelt, gewinnt erneut an Aktualität.153 So werden die Schuldgefühle der Patientin als »psychotische« Inhalte gefasst, in denen »Selbstvorwürfe und Schuldideen« im Vordergrund stehen. Doch mit E.s Erlebnissen nach dem Kriegsende bringt man diese Schuldgefühle trotz der ausführlichen Schilderung der Patientin nicht in Verbindung. Die Annahme, an einer ansteckenden Krankheit zu leiden, wird von den ÄrztInnen als »paranoide Idee« bezeichnet. Dennoch würden, wie die ÄrztInnen konstatierten, andere Halluzinationen in der Exploration nicht näher fassbar. Statt von Stimmen berichte die Patientin nur von bösen Gedanken. Dass der Gesichtsausdruck tief depressiv sei, die Patientin ständig weine und zudem auch gehemmt und verlangsamt wirke, sieht man schließlich eher als ein Indiz für eine Zyklothyme Depression. Das einmalige Hören einer inneren Stimme, das die Patientin angebe, »erweckt nicht den Verdacht auf echte akustische Halluzinationen«. Zudem wird die Patientin als »warm« im Kontakt geschildert.154 So folgerten die PsychiaterInnen schlussendlich: »Nach Ausdruck und Inhalt handelt es sich wohl eindeutig um eine Zyklothymie.«155
152 PUH, PA 53/176, eigene Angaben. 153 Dass es sich in beiden Fällen um eine Psychose handelt, wird anhand der Klassifikation des Würzburger Schlüssels deutlich, der auch alle Formen der Depression unter den Oberbegriff der Psychosen des »manischdepressiven Formenkreises« subsumiert (vgl. Schneider 1932). 154 Die so genannte Kälte des Kontakts ist für Kurt Schneider ein sehr wichtiges differenzialdiagnostisches Kriterium für die Bezeichnung eines Verhaltens als »schizophren« (vgl. Schneider 1936, S. 182). 155 PUH, PA 53/176, Psychischer Befund.
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»Die Stimmung ist leicht hypomanisch gefärbt«: E.s Megaphentherapie Bereits einige Tage nach der Einlieferung, am 02.06.1953, wird eine Megaphentherapie durchgeführt. Der Juni 1953 markiert eine Wende in der Erprobung von Megaphen in der Heidelberger Klinik. Während sich eine Verabreichung des neuen Wirkstoffs bis zu diesem Zeitpunkt nur an vier PatientInnen rekonstruieren lässt, setzt Anfang Juni 1953 nach HansHermann Meyers Besuch auf der Wanderversammlung Südwestdeutscher Neurologen und Psychiater eine breitere Erprobung ein. Auch E. gehört zur Gruppe von PatientInnen, an der die Erprobungen durchgeführt wird, und erhält zu Beginn des Junis erstmals 3 x 1 ccm Megaphen, 1 ccm Atosil und 1 ccm Dolantin.156 Eine Woche später wird von den ÄrztInnen notiert, dass noch keine Änderung im Verhalten der Patientin zu beobachten sei. Immer noch fühle sie sich in einem Augenblick schuldig und frage im anderen, wer den Aufenthalt bezahle. Sie äußert nun zudem die Befürchtung, durch ihre Aufnahme in der Heidelberger Psychiatrie ihre Angehörigen zu ruinieren.157 Schon zwei Tage später erscheinen diese Gedanken den PsychiaterInnen aber in ihrer »Intensität abgeschwächt«. Auch in der zeitgleich geführten Winterschlafliste wird vom Pflegepersonal eingetragen: »seit heute weniger depressiv«. Wohl auch wegen der bemerkten »Besserung« der Patientin wird die Behandlung nach einer relativ kurzen Dauer von 15 Tagen eingestellt.158 Am 20.06., kurz nach Beendigung der Megaphentherapie, wird der Therapieerfolg wie folgt präzisiert: »Sie äußert, sie habe wieder Mut und Energie zu schaffen.« Auch eine knappe Woche später berichtet man, die Patientin habe all ihre psychotischen Erlebnisse als »unbegründet und merkwürdig« zurückgewiesen und »packt alle Arbeit frisch an«. Arbeit und Arbeitsfähigkeit markierten wichtige Motive in der Anstaltspsychiatrie der Nachkriegszeit, gerade in der BRD wurde jeder Bürger zum Wiederaufbau des Landes benötigt.159 Im deutschsprachigen 156 In der darauf folgenden Woche wird auf eine Tablettenbehandlung mit 300 mg Megaphen und 100 mg Atosil übergegangen. Obwohl sowohl Fritz Flügel als auch der Basler Psychiater Felix Labhardt auf der Wanderversammlung von einer Erprobung mit Megaphen als alleinigem Wirkstoff berichten, benutzen die Heidelberger PsychiaterInnen auch in den folgenden Jahren die sogenannte »Winterschlafmischung«. 157 PUH, PA 53/176, Verlauf. 158 PUH, PA 53/176, Winterschlafbehandlungsliste (vgl. auch PUH, PA 53/184). 159 Schmiedebach et al. 2002 betonen, dass bis Mitte des 20. Jahrhunderts die Arbeit der PsychiatriepatientInnen weitgehend nicht dem Zweck der sozialen Integration gedient habe, sondern vor allem der Kostenreduktion in den überbelegten Anstalten und der daraus entstehenden Notwendigkeit, den Pflegeaufwand für die PatientInnen zu minimieren. Allerdings habe das Problem für die Universitätskliniken weniger bestanden, da sie die pflege-
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Raum nahm die Bedeutung der Arbeitstherapie zu und Beschäftigungsfähigkeit kennzeichnete ein wichtiges Besserungskriterium.160 In Heidelberg ist die Arbeitstherapie in den Kontext der Leitung der Klinik durch den früheren Ordinarius Carl Schneider zu stellen, der als Protagonist der Arbeitstherapie galt,161 für den sie gleichzeitig aber auch ein wichtiges Kriterium für die Unterscheidung von arbeitsfähigen und nichtarbeitsfähigen und somit »lebensunwerten« PsychiatriepatientInnen bildete. An ihrem Entlassungstag, dem 01.07.1953, bemerken die Heidelberger PsychiaterInnen, die Stimmung der Patientin sei »leicht hypomanisch gefärbt«, meinen aber eine gute Remission beobachten zu können, die auf die Medikation zurückgeführt wird.162 Einen Tag vorher hat man die Patientin bereits abschließend nach ihrem Befinden befragt und sie ihre jetzigen Erlebnisse in den Kontext früherer Beschwerden einordnen lassen. Noch einmal an ihr früheres Leben erinnert, äußert die Patientin, einen ähnlichen Zustand auch im Jahr 1933 kurz erfahren zu haben, der aber von selbst abgeklungen sei.163 Anfang Juli 1953 wird die Patientin schließlich nach Hause entlassen.
Einen Erfolgsfall konstruieren: E.s Behandlung aus der Perspektive des Arztbriefs Zumindest die Behandlung E.s ließ sich aus der Sicht der ÄrztInnen eindeutig als Erfolgsfall erzählen und in die einschlägig positiven Resultate
160
161 162
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aufwendigen PatientInnen ohnehin an die Pflegeheilanstalten abgegeben hätten (vgl. Schmiedebach et al. 2002, S. 290ff.). Es ist jedoch anzumerken, dass auch die Heidelberger Universitätsklinik mit dem Problem der Überbelegung und mit finanziellen Engpässen zu kämpfen hatte, wie ich bereits ausgeführt habe. So fokussiert auch der von BAYER in Kooperation mit der Psychiatrischen Universitätsklinik Erlangen-Nürnberg produzierte Film »Zentralwirksame Phenothiazinderivate« auf die besondere Bedeutung der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit als eines Nachweises der Wirksamkeit (vgl. »Zentralwirksame Phenothiazinderivate« [1959]). Zur Bedeutung der Arbeitstherapie schon seit Beginn der 1930er Jahre und ihre Stellung in der Nachkriegspsychiatrie vgl. Hanrath 2002 und Germann 2007. Schneider 1939. PUH, PA 53/176, Verlauf. Dass man die Stimmung leicht hypomanisch nennt, könnte jedoch aus Sicht der ÄrztInnen eigentlich auch auf eine weitere Krankheitsphase schließen lassen, da man die Diagnosen des »Manisch-depressiven Formenkreises« auch schon im Würzburger Schlüssel vom Jahr 1933 in manische und depressive Phasen sowie hypomanische, depressive und zyklothyme Konstitution unterteilte (vgl. Schneider 1932). PUH, PA 53/176, Verlauf vom 30.06.1953.
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einordnen, von denen Meyer in der ersten Veröffentlichung berichtet.164 Auch wenn in anderen Publikationen die antidepressive Wirksamkeit nur unter »ferner liefen« erwähnt wurde,165 fand die Depression zwar zunächst in der Beschreibung der Indikationen an mittlerer Stelle Eingang,166 verlor aber schon Ende der 1950er Jahre nach der Synthese der modernen Antidepressiva an Bedeutung. Zwar bleibt aufgrund der kurzen Behandlungsdauer unklar, ob die beschriebenen Effekte tatsächlich auf die Verabreichung der Substanz zurückzuführen waren oder lediglich eine sogenannte »Spontanremission« darstellten.167 Hervorhebenswert erscheint jedoch bei dieser Erprobung des Megaphens nicht nur die vermeintliche Effektivität der Therapie, sondern auch der Umgang der Heidelberger ÄrztInnen mit der NS-Vergangenheit. So fasst der Arztbrief vom 09.07.1953 die Erfolge der Behandlung folgendermaßen zusammen: »Es handelt sich bei der Pat. um die zweite Phase einer zyklothymen Depression. Die erste Phase trat angeblich im Jahre 1933 auf und klang nach einigen Wochen spontan ab. Jetzt war die Patientin von Selbstunwertsgefühlen äußerst gequält, sie klagte außerdem über eine Gefühlsverarmung und gab auch Vitalstörungen an. Wir führten bei ihr eine Winterschlafkur mit Megaphen durch (Zeitdauer 3 Wochen) und erzielten eine sehr gute Remission. Patientin war bei der Entlassung leicht hypoman, zeigte sich frisch und aktiv und konnte beschwerdefrei nach Hause entlassen werden.«168
Bei genauerer Lektüre verwundert nicht nur, dass die PsychiaterInnen die Dauer der Medikation mit drei Wochen angaben, obwohl sie nur gut zwei Wochen betragen hat.169 Vielmehr fällt auch auf, dass die depressiven Reaktionen der Patientin in zwei Krankheitsphasen aufgeteilt werden, deren erste als eine vor dem Kriegsausbruch bereits bestehende Disposition gefasst werden kann. E.s ausführlich geschilderte Schuldgefühle und ihr Suizidversuch nach dem Kriegsende verschwinden nun ebenso aus der Zusammenfassung des Krankheitsgeschehens wie die Angaben der Schwägerin, die diese Erlebnisse ebenfalls als bedeutungsvoll einstuft. Dies ist 164 Meyer in: Südwestdeutsche Psychiater und Neurologen 1953 und Meyer 1953a. 165 Delay/Deniker 1956. 166 Rote Liste 1954, Eintrag »Megaphen«, S. 516 berichtet von einer Indikation bei »Erregungs-, Angst- und Depressionszuständen«. 167 Zum Problem der Spontanremission nimmt Meyer 1958 ausführlich Stellung. 168 PUH, PA 53/176, Arztbrief vom 09.07.1953. 169 Dies ist wohl auch vor dem Hintergrund der sehr kurzen Dauer einer zwei Wochen erfolgenden Megaphentherapie zu betrachten, die Zweifel an der Wirksamkeit der Medikation wecken könnte. Auch die andere Patientin mit der Diagnose Zyklothymie erhält das Medikament nur vierzehn Tage (vgl. PUH, PA 53/184).
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auch vor dem Hintergrund der Weigerung der Heidelberger PsychiaterInnen unter Kurt Schneider zu betrachten, »Psychosen« als Kriegsfolgen anzuerkennen, eine Haltung, die sich in der Regel aber als eine mangelnde Auseinandersetzung mit den Opfern des nationalsozialistischen Regimes auswirkt. Zugleich wird, so meine These, mit dieser Weigerung jedoch auch der Wahnsinn der TäterInnen als Folge einer nicht bewältigbaren Schuld ausgeblendet. Die historischen Veränderungen, die ganze Lebensentwürfe der im NS-Regime verwurzelten Deutschen in Frage stellten, konnten sich zum Teil nur noch in einer Krise und einem Zusammenbruch bestehender Persönlichkeitsstrukturen äußern, welche die Beteiligten nicht selten in die Psychiatrie brachten. Die psychiatrischen Anstalten waren zu diesem Zeitpunkt in ihrer Funktion als medizinische Institution auf der einen Seite und ihrer Funktion, eine erschütterte Gesellschaftsordnung herzustellen auf der anderen Seite, häufig überfordert, so dass die Medikalisierung dieses Prozesses als die einfachste Lösung erschien. Folgerichtig behandelten die Ärzte auch das Leiden E.s nicht als Leiden an der eigenen NS-Vergangenheit. Vielmehr verweist die Re-Konstruktion von E.s Erleben als quasi natürlichem, körperlich begründetem Vorgang auf die Bestätigung einer dispositionalen Ursache des Wahnsinns.170 Der positive Effekt einer körperlichen Behandlungsform, der Megaphentherapie, wird in diesem Kontext letztlich zur Bestätigung der Hypothese einer konstitutionell bedingten Zyklothymen Depression herangezogen. Zwar hatte Kurt Schneider noch kurz vor der Machtübergabe an die Nationalsozialisten kritisiert, dass in dem Klassifikationsentwurf des Würzburger Schlüssels depressive Reaktionen auf schwere Schicksalsschläge und darauf folgende Suizidversuche nicht mehr unterzubringen seien, wolle man sie nicht als »hysterische Reaktionen« fassen,171 dennoch werden E.s Erlebnisse rund zwanzig Jahre später nicht nur unter dieser Kategorie subsumiert, sondern entlang dieser Vorgabe reinterpretiert und in diesem Sinne auch als weitere »Heilung« einer Endogenen Psychose sichtbar gemacht.
170 Vgl. hierzu Meyers Ausführungen zu den dispositionalen Ursachen der Schizophrenie (Meyer 1955b). Dies wird auch vor dem Hintergrund einer zeitgenössischen Einordnung der Diagnose unter die Oberkategorie 15 des Würzburger Schlüssels deutlich, welche die Psychosen des »Manischdepressiven Formenkreis« kennzeichnet. 171 Schneider 1932, S. 174ff.
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4.7 Die ersten PatientInnen als »Fälle« beschreibbar machen: H a n s - H e r m a n n M e ye r s e r s t e P u b l i k a t i o n Am 14.08.1953 veröffentlichte Hans-Hermann Meyer eine erste Publikation über die in der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg unternommene klinische Versuchsreihe mit Megaphen. Er bezeichnete den Wirkstoff selbst als Neuroplegicum. Unter dem Stichwort »Eigene Erfahrungen« fasste Meyer die Ergebnisse seiner ersten Erprobungen zusammen.172 Er berichtete, dass sich unter den PatientInnen, an denen er den Wirkstoff erprobte, folgende Diagnosen befanden: 34 Schizophrenien173, 9 Depressive Zyklothymien174, 3 Zyklothyme Manien175, 2 Fälle von Delirium tremens, 1 Psychose bei Basedow und 1 Entziehungskur. Warum Meyer PatientInnen mit diesen Diagnosen auswählte, wird in dem Artikel nicht näher beschrieben. Die Verträglichkeit der Substanz bezeichnete Meyer als allgemein gut, auch wenn auf einen starken Blutdruckabfall manchmal Schwindel und Ohnmacht folgten. Diese Einschätzung ist erstaunlich, da Meyer auch ausführlich von einem Todesfall berichtete. Bei der geschilderten Patientin mit »Agitierter Depression«, die zudem einen zu hohen Blutdruck aufgewiesen habe, sei nach gut zweiwöchiger Behandlung zunächst ein Kollaps mit starkem Blutdruckabfall und einer mäßigen Temperatursteigerung zu beobachten gewesen. Nach einigen Tagen sei trotz kreislaufstabilisierender Maßnahmen der Tod eingetreten.176 Ohnmachtsanfälle träten aber nach Meyer insbesondere beim Stehen der PatientInnen auf. Einschleichende Dosierungen könnten das Problem minimieren. Meyer berichtete, dass die Heidelberger Ärzte zunächst mit Dosierungen von 200–300 mg begonnen hätten,177 durch rasche Gewöhnung aber die Dosierung gesteigert werden musste. Auf eine Unterkühlung der PatientInnen durch das Auflegen von Eisbeuteln – eine Praktik, die in der Chirurgie im Zusammenhang mit der Megaphentherapie häufig angewendet wurde178 – habe er in der Heidelberger Psychiatrie zunächst verzichtet. Der Autor bezog sich hier auf die 172 173 174 175 176
Meyer 1953a, S. 1097. 22 Männer, 4 Frauen. 3 Männer, 6 Frauen. 3 Männer. Meyer 1953a, S. 1099. Es sei zwar durch den schlechten Allgemeinzustand, den Bluthochdruck und eine zudem vorliegende chronisch-eitrige Bronchitis nicht eindeutig möglich, die Medikation für den Todesfall verantwortlich zu machen. Gleichzeitig rät Meyer jedoch insbesondere bei Hypertonikern zur Vorsicht. 177 Hier orientierte er sich an bereits bekannten Berichten aus Frankreich (vgl. Delay/Deniker/Harl 1952a und 1952b, Hamon/Paraire/Velluz 1952). 178 Vgl. II.5.2.
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Erkenntnisse eines Chirurgenkongresses in München, auf dem ein Redner betonte, dass eine Unterkühlung unter 36˚ C über einen längeren Zeitraum nicht zweckmäßig sei. Es bleibe aber abzuwarten, ob eine mäßige Kühlung auch im Bereich der Psychiatrie größere Erfolge verspräche. Warum Meyer eine Potentenzierung der Erfolge durch Unterkühlung vermutete, blieb unerwähnt.179 Aus der eigenen Praxis berichtete der Autor, dass die PatientInnen häufig schliefen, aber jederzeit erweckbar und in der Lage seien, selbstständig ihre Mahlzeiten einzunehmen und ihre Notdurft zu verrichten.180 Er zitierte zur Plausibilisierung der Effekte eine Patientin, die über ihre Erlebnisse während der Behandlung mit dem neuen Wirkstoff berichtet habe: »Ich schlafe und bin doch wach.«181 Meyers Schilderungen eines klinischen Erfolges sind in diesem Bericht kasuistisch orientiert, eine Quantifizierung beobachteter Besserungen findet sich hier nicht. Die von ihm beschriebenen Ergebnisse wurden in der Regel dadurch anschaulich gemacht, dass er versuchte, die Behandlungsergebnisse für die verschiedenen diagnostischen Ober- und Unterkategorien komprimiert darzustellen. Die Orientierung an einer qualitativen Beurteilung, die meist in Kasuistiken über klinische Fälle mündeten, waren in der Arzneimittelevaluation dieser Zeit üblich und lassen sich auch bei der Beurteilung anderer Medikamente wie Tuberkulosemittel aufzeigen. Wie Jean-Paul Gaudillière verdeutlicht, beruhen die Daten, die man BAYER zum Therapieerfolg mitteilte, in der Regel auf einer klinischen Beschreibung der PatientInnen. Selbst erstellte Tabellen fassten lediglich diese Kasuistiken zusammen.182 Die Beurteilung des therapeutischen Wertes einer Substanz erfolgte über die Beschreibung der Effekte auf PatientInnen mit bestimmten Diagnosen. Die Therapien der Zyklothymien, so berichtete Meyer, seien am erfolgreichsten gewesen.183 Auch der Fall einer erregten Psychose bei 179 Meyer 1953a, S. 1098. Vermutlich lehnten die PsychiaterInnen sich hier einfach an die chirurgische Praxis an, da der chirurgische Effekt ohnehin noch unbestimmt war. Später sollten die ÄrztInnen diese Technik auch in der Psychiatrie ausprobieren. Zu der Patientin, an der man eine Kombination von Megaphen mit Unterkühlung erprobte und der Bedeutung der Methode in der Chirurgie vgl. III.5.1. 180 Meyer 1953a, S. 1098. 181 Meyer 1953a, S. 1098. 182 Gaudillière [ca. 2010]. Dieser betont zu den Forschungsdesigns der Zeit, die zum Teil im Austausch mit der Pharmazeutischen Industrie erhoben wurden: »Im Mittelpunkt standen […] pharmakologische Fragen, die mit Fallgeschichten und qualitativen Daten, ohne Einschluss einer Kontrollgruppe und mehr auf die Rahmenbedingungen der Anwendung denn auf Indikation abhoben.« 183 »Was die Therapie der Zyklothymien betrifft, so traten die Symptome in ihrer Gesamtheit rasch und völlig zurück, so daß wir über die Hälfte der so behandelten Kranken nach dreiwöchiger Kur praktisch unauffällig, ohne
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Morbus Basedow, bei der alle internistischen Behandlungsversuche erfolglos blieben, sei durch die Behandlung mit Megaphen positiv verlaufen, und die beruhigte Patientin habe in die chirurgische Klinik zu einer erfolgreichen Operation überführt werden können. So berichtete Meyer über diese Patientin: »Die Patientin war hochgradig abgemagert, hatte eine starke Tachykardie und befand sich in stärkster motorischer Erregung, war nicht im Bett zu halten, schrie und tobte bis zur völligen Erschöpfung. Nach Einleitung der Winterschlafbehandlung trat rasch eine Beruhigung ein, und in diesem Zustand erfolgte die Verlegung in die Chirurgische Universitätsklinik Heidelberg, wo in tiefem Winterschlaf die Operation durchgeführt wurde. Die Patientin ist völlig genesen und psychisch unauffällig. Bei der bekanntlich außerordentlich schlechten, faktisch meist infausten Prognose ist dies sicher ein überraschender Erfolg.«184
Auffällig sind nicht nur die ständig wiederkehrenden Bezüge auf den Schlaf185, sondern auch die hohe Bedeutung, die Meyer der Chirurgie in diesem Bericht zumisst. Der am ausführlichsten geschilderte Erfolgsfall war schließlich einer, in dem die Chirurgie einen Eingriff vornehmen konnte und die durch einen »leichten« Winterschlaf, den die PsychiaterInnen zur Beruhigung einleiteten, in einen »tiefen« Winterschlaf, der Narkose, überführt und schließlich geheilt werden konnte. Die Beschreibung liest sich fast als kontinuierliche Linie, die in der Psychiatrie beginnt und in der Chirurgie nur ihre Vertiefung findet. Obwohl er nur die beiden erwähnten Erprobungen an PatientInnen, einen Erfolgs- und einen Todesfall, ausführlicher schilderte, gelangte Meyer schließlich zu einer optimistischen Auffassung, die der dargestellten Analyse seiner ersten »Fälle« anhand der Patientenakten entgegensteht. So resümiert er am Ende seines Berichts: »Sicher ist die Winterschlafbehandlung keine Wunderbehandlung. Aber man braucht kein zu optimistischer Therapeut zu sein, um zu sehen, daß man mit der Winterschlafbehandlung bei verschiedensten Krankheitszuständen Erfolge erzielen kann, wie man sie mit keinem anderen Medikament zu erreichen in der Lage war.«186
In den Ausführungen Meyers kommt eine positive Grundhaltung der Medikation gegenüber zum Ausdruck, die sich in späteren Publikationen nicht eine andere Therapie durchgeführt zu haben, entlassen konnten« (Meyer 1953a, S. 1098). 184 Meyer 1953a, S. 1098. 185 »Das Krankenzimmer soll kühl und abgedunkelt sein, und Ruhestörungen sollten nach Möglichkeit vermieden werden« (Meyer 1953a, S. 1098). 186 Meyer 1953a, S. 1099.
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in gleichem Maße findet.187 Nach der Analyse Max Müllers ist diese Bewegung einer zunächst deutlich positiveren Beurteilung eines körperlichen Behandlungsverfahrens für alle somatischen Behandlungsverfahren der Psychiatrie kennzeichnend.188 In den Folgejahren würden diese Einschätzungen über den therapeutischen Wert der Substanzen schließlich abgeschwächt. Das Zitat von Meyer verdeutlicht aber auch Bereinigungen, die der Autor vornehmen musste, um zu einer solchen Aussage zu gelangen. Unabhängig davon, dass sich in der Aktenanalyse derartige Erfolge nicht abbilden ließen, bleibt in dem Bericht der mühsame Weg unerwähnt, den es bedurfte, überhaupt einen Erfolgsfall zu konstruieren. Dieses Problem ist für Fallberichte wie Meyers erste Publikation konstitutiv, denn diese zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie einerseits konkrete Spuren des stattfindenden Ereignisses aufweisen, gleichzeitig aber von anderen abstrahieren. Der Fallbericht ist, wie Ulrike Klöppel herausarbeitet, ein Integrationsprozess des Singulären, der einerseits singuläre Prozesse angleicht, andererseits jedoch eine Spur des Ereignisses bewahrt, indem manche irregulären Elemente unter bestimmten gliedernden Gesichtspunkten selektiert und hervorgehoben werden.189 In diesem Sinne sind schon in der Aktenbeschreibung eine Reihe von Abstraktionen zu finden. In der weiteren Abstraktion des Fallberichts in Meyers Publikation, wird jedoch der Ursprung des Wissens undeutlich. Dies geschieht zum einen, indem scheinbar erfolgreiche Fälle hervorgehoben werden und andere verschwinden. Zum anderen werden die in der Akte noch partiell sichtbaren unterschiedlichen Kontexte und Positionen nicht mehr erkennbar. Diese sind jedoch für das Erleben der Psychopharmaka von großer Bedeutung. Es wurden entlang der Synthesen der ersten Akten also verschiedene Übersetzungsschritte nötig.190 Erstens müssen die Notizen der Akte in einen ersten Fallbericht übersetzt werden. Zweitens mussten die PsychiaterInnen diesen Bericht aber in erste kasuistische Veröffentlichungen umschreiben, wie sie in Deutschland zu dieser Zeit vorherrschten.191 Meyers Bericht bildete also einen ersten Schritt zur Reformulierung eines Wissens über die neue Substanz.
187 188 189 190
Vgl. unter anderem Meyer 1958. Müller 1960. Klöppel 2008, S. 129. Zu diesen Übersetzungsschritten und ihrer Notwendigkeit für einen Wirksamkeitsbegriff vgl. Daemmrich 2004, S. 119. 191 Ein dritter Schritt besteht in der Übersetzung des Wissens in statistische Tabellen. Zur Translation des Wissens in Statistik und einer darüber hinaus gehenden Verlagerung der Versuchsanordnung in ein experimentelles Setting vgl. Teil II, 3.4.
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4 . 8 D i e P a t i e n t I n n e n i m S t i c h ve r s u c h vo n 1 9 5 3 : vorläufige Zusammenfassung »Procedures that work, fly and are assured their place in the medical record; those that do not, crash and appropriately find only oblivion.«192
Mit diesen Worten verdeutlicht der Psychiatriehistoriker Jack Pressman das Problem einer Geschichte therapeutischer Neuerungen in der Psychiatrie, die lediglich aus dem Blick der Veröffentlichungen beteiligter ÄrztInnen erfolgt. Meist, so Pressman, speise sich die historische Rekonstruktion eines therapeutischen Fortschritts in den Journalen lediglich aus den sichtbarsten Erfolgen der Therapie und lasse den Einsatz eines neuen operativen Mittels oder einer medikamentösen Therapie als sofortigen Durchbruch erscheinen. Analog zu Pressman war es mir deshalb ein Anliegen, die ersten experimentellen Versuche in den Blick zu nehmen und die primären Spuren der Versuche mit der neuen Substanz zu beschreiben.193 Dabei bleiben gerade diese ersten Fälle, wie ich bereits ausführte, in die Vorstellung von Wirksamkeit eingeschrieben. Die Geschichte der ersten Heidelberger PatientInnen wäre wohl jenseits meiner Rekonstruktion eine vergessene Geschichte geblieben, da sie zum größten Teil keine Erfolge beschreibt. Die geschilderten ersten Fälle verdeutlichten zugleich, dass die Erprobung eines neuen medikamentösen Verfahrens in der Psychiatrie weder die »sauberen Ergebnisse« eines Laborexperiments noch die bereinigten Erfolge einer Veröffentlichung hervorbrachte. Ein ähnliches Ergebnis konstatiert Pressman für die Experimentalisierung der Leukotomie in den USA, wenn er ausführt: »The model of medical science that is generated by all this attention paid to the stories of laboratory success is also directly responsible for our tortured historical paradoxes. Medical innovation is at root a risky, perilous venture, a drama that has been obscured by the focus on only those instances where everything went right. To assume that when physicians consider a new treatment they somehow are guided by a special insight into its true clinical value – a value not yet determined – is to impose an unwarranted, although heartening, teleology.«194
Die Erprobung von Megaphen in der Klinik zeigt analog zu diesen Ausführungen die Schwierigkeiten auf, die mit einer Verlagerung des Versuchs vom Labor in die Klinik einhergingen. Zunächst bildete, wie ausgeführt wurde, schon die Auswahl der ersten PatientInnen kein einfaches
192 Pressman 1998, S. 5. 193 Pressman 1998, S. 3. 194 Pressman 1998, S. 242.
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Unterfangen, das lediglich nach Diagnose erfolgte. Vielmehr waren es stets die speziellen Lebensumstände des Patienten und die verschiedenen Rollen der ÄrztInnen (zum Beispiel Doktor, Forscher, Administrator und Sozialarbeiter) und deren Wertesysteme, die in eine klinische Entscheidungsfindung eingingen. Medizin, so betont auch Pressman, funktioniere deshalb immer als Kunst und Wissenschaft.195 Warum man aus dem Kreise verschiedener »Schizophrener« oder »Depressiver« genau diesen oder jenen Patienten auswählte, lässt sich im Fall der Heidelberger Versuche nicht im Nachhinein rekonstruieren. Es ist aber zu betonen, dass die Erprobung der Substanz an verschiedenen Patienten ein Entscheidungsmoment der ÄrztInnen enthält. Vor diesem Hintergrund möchte ich hervorheben, dass sich in der Heidelberger Ersterprobung die Fälle derjenigen PatientInnen häuften, deren Krise als Folge ihrer NS-Vergangenheit gesehen werden kann. Zumindest in zwei der »ersten Fälle« handelt es sich um die Verarbeitung einer TäterInnenperspektive. Der erste Patient, der Megaphen verabreicht bekam, und die erste Patientin mit der Diagnose »Zyklothyme Depression« verdeutlichen dies anschaulich. Der Einwand, es könne sich hierbei um die ganz normale Behandlung von PatientInnen mit nationalsozialistischem Hintergrund handeln, die es in der Heidelberger Universitätspsychiatrie im ersten Nachkriegsjahrzehnt reihenweise gegeben habe, verliert dadurch an Plausibilität, dass ich in den Folgejahren keinen einzigen solchen Fall unter den Behandelten gefunden habe. Vor diesem Hintergrund erscheint das Forschungsinteresse der Heidelberger PsychiaterInnen in der Ersterprobung untrennbar mit einer Vergangenheitsbewältigung verbunden. Während in den medizinischen und juristischen Fachjournalen in den Jahren von 1952 bis 1960 zur Frage der NS-Euthanasie Stille herrschte,196 ist es möglich, dass auch die Verabreichung des neuen Wirkstoffs an PatientInnen, die in ihren Erlebnissen die NS-Zeit verarbeiteten, vor allem der Wiederherstellung einer Anstaltsordnung diente, die in der Zeit der Leitung der Klinik durch Kurt Schneider von einer »Kultur des Schweigens« dominiert war.197 Es ist zu fragen, ob die PatientInnen als 195 Pressman 1998, S. 240. 196 Pingel 2003, S. 195. Die geringe Zahl der Publikationen wurde von ihm auch damit in Zusammenhang gebracht, dass die Auseinandersetzungen mit der NS-Euthanasie zu Beginn der 1950er Jahre einen herben Rückschlag erlitten. Ab 1951 konnten nach Artikel 131 GG wieder Personen, die aufgrund von Entnazifizierungsverfahren entlassen worden waren, im öffentlichen Dienst eingesetzt werden. Aufgrund dieser Regelung konnte vermutlich auch der im Rahmen der Entnazifizierung entlassene Psychiater Fritz Flügel 1951 wieder das Ordinariat in Erlangen-Nürnberg übernehmen. 197 Rotzoll/Hohendorf 2007. Wie bereits in der Einleitung erwähnt, zeichnete sich Kurt Schneiders Ordinariat durch eine mangelnde Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit seiner Angestellten aus. Es ist zu fragen, ob sich
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Beispiele für einen kollektiven Wahnsinn der TäterInnen dienen könnten, deren Normalisierung die Gesellschaft in der Nachkriegspsychiatrie zur Wiederherstellung einer funktionierenden Gesellschaftsordnung benötigte und denen man deshalb weitgehend mittels körperlicher Behandlungsverfahren begegnete.198 Auch wenn die Motive für die Auswahl der PatientInnen nicht im Nachhinein rekonstruiert werden können, ist augenfällig, dass in den beiden geschilderten Fällen mehr als eine »therapeutische« Behandlung vorgenommen werden sollte, welche lediglich den Erfolg der Medikation symbolisierte. Denn zeitgleich mit der Erprobung wurde nicht nur der Effekt des Medikaments zu evaluieren versucht, sondern auch eine Umdeutung der Erlebnisse der PatientInnen in das Schema eines »natürlichen« psychotischen Verlaufs vorgenommen, der diese Erlebnisse jenseits des Krieges erklärbar machte. Vielleicht ist es gerade die Tatsache, dass sich der Patient A. dieser Deutung widersetzte, während ein solcher Widerstand bei der Patientin E. nicht rekonstruiert werden konnte, welche in diesen Fällen die Unterscheidung zwischen »Misserfolg« und »Erfolg« bedingte. Dass nicht nur die Konstruktion eines »natürlichen« Verlaufs der Psychose, sondern darüber hinaus die Bestärkung einer Erbhypothese der Schizophrenie eine Rolle gespielt haben könnte, verdeutlicht die Auswahl von Patientin B.199 Darüber hinaus lässt sich bereits an den ersten PatientInnen zeigen, dass die Auswahl der Versuchspersonen vor allem dann erfolgversprechend schien, wenn die ÄrztInnen auf gebildete PatientInnen und eine vermutete Komplizenschaft trafen. In diesen Fällen schien eine Allianzenbildung erleichtert und das »Sprechen-Machen« erfolgreicher zu sein. Dieses Kriterium konnte jedoch mit unterschiedlichem Erfolg umgesetzt werden, wie die Beispiele von A., C. und E. zeigen. Während A. in den Akten zunächst als »unterwürfig« erscheint, über den Rekurs auf eine andere Expertenmeinung aber seine eigene Geschichte erzählt, zeigt sich C. während seines Klinikaufenthaltes ausschließlich um Mitarbeit bemüht. A.s Besserung kann schließlich nicht beobachtet werden, C.s Behandlungen hingegen erscheinen als ein Erfolg, der erst durch das Hinzuziehen der Jahre später geschriebenen Briefe des Patienten ins Wanken gerät. Lediglich E. diese Verdrängung der Geschichte bis zu seinen PatientInnen hin erstreckte. 198 Wie sehr das Kriegsthema die Psychiatrie beschäftigt hat, verdeutlicht auch der Platz, den die Reihe Psychiatrie der Gegenwart dem Thema einräumt, in dem die Auseinandersetzung zum Schwerpunktthema der Ausgabe von 1961 gemacht wird (vgl. Gruhle et al. 1961). 199 Die Bemühungen, zu einer noch unbekannten Ätiologie der Schizophrenie zu gelangen, fasst Huszàk im Jahr 1958 zusammen. Dabei betont der Autor die Notwendigkeit von weiteren Stoffwechselstudien, die mit genauen Beobachtungen am Krankenbett in Beziehung gesetzt werden müssten (vgl. Huszák 1958).
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scheint über die eigenen Berichte einen unzweifelhaften Erfolgsfall zu bilden, in dem eine Allianzenbildung gelingt. Am Beispiel weniger gebildeter PatientInnen lässt sich aufzeigen, dass die Motive einer »therapeutischen« Verwendung von Chlorpromazin und einer repressiven Wiedereingliederung in die Anstaltsordnung Hand in Hand gingen. So erscheint eine Trennung von »therapeutischen« und »disziplinatorischen« Aspekten nicht nur als wenig sinnvoll, weil die verschiedenen Aspekte mit der Einführung der modernen Psychopharmaka nicht mehr klar unterschieden werden können und sich zunehmend überkreuzen.200 Vielmehr bezeichnet Disziplinierung auch den Gesamtaspekt jener produktiven und repressiven Praktiken, welche auf den Körper einwirken und das Subjekt hervorbringen.201 Es ist also am Einzelfall nachzuvollziehen, wann sich diese Sichtbarmachung eher repressiver oder eher produktiver Technologien bedient, wie die ersten Fälle verdeutlicht haben. Zudem handelte es sich bei den zunächst ausgewählten PatientInnen um »Forschungsfälle«, welche die Probleme der Zeit symbolisierten: Vererbung,202 Probleme des Alterns203 und der Kindheit sowie die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit sind nur einige Themen, welche die PsychiaterInnen um 1950 beschäftigten. Die Geschichte des Wahnsinns ist daher eine Geschichte der Übersetzungen von Patientenerzählungen über die Probleme der Zeit, an deren Ende erst eine Krankengeschichte steht.204
200 Meier et al. 2007, S. 111. Die AutorInnen ordnen deshalb die modernen Psychopharmaka in ihrer Untersuchung der Kategorie »ambivalent« zu. Es ist jedoch fraglich, ob es die Trennung zwischen Therapie und einer ausschließlich als Bestrafung gefassten Disziplinierung je gab. 201 Foucault 2005. 202 Vgl. unter anderem Schneider 1959; Huszák 1958. Jakob Wyrsch stellt fest, dass die der Vererbungshypothese zugrunde liegende Frage nach der »Krankheitseinheit der Schizophrenie« die Psychiatrie mit einer Suche nach der somatischen Ursache dieser Psychose mindestens die nächsten zehn Jahre beschäftigen werde. Bislang könne die Forschung jedoch noch nicht einmal auf eine einheitliche körperliche Störung verweisen (Wyrsch 1960, S. 6 und S. 23). 203 Schwoch 1999. Schwoch betont die besondere Bedeutung, die eine Verschiebung der Altersstruktur durch den demographischen Wandel seit Beginn des 20. Jahrhunderts, der durch den Kriegstod insbesondere junger Männer in den (beiden) Weltkriegen noch verstärkt wurde, für die Psychiatrie nach 1945 hatte. Für die Wittenauer Heilstätten in Berlin wird gezeigt, dass die Anzahl der aufgenommenen PatientInnen, die sich in den 1920er Jahren noch zwischen 15–20 Prozent bewegt, 1952 einen Höchststand von 40 Prozent aufweist. Besonders in den Jahren 1945 und 1946 wurden in Wittenau viele ältere Menschen aufgenommen, die meist schnell aufgrund der Auszehrung durch die Kriegsjahre starben. Für Heidelberg gibt es keine Zahlen zum prozentualen Anteil der »älteren Menschen« an der Gesamtpopulation der PatientInnen. 204 Nellen/Suter 2009, S. 160.
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Die primären Versuche zeigten dabei die besondere Wichtigkeit der ersten Fälle auf, die ich deshalb einer sorgfältigeren Einzelfallanalyse unterzog. Sie verdeutlichten die Strategien einer ersten Versuchsreihe und bereiteten den Weg für die Erprobung an weiteren PatientInnen vor. Dafür mussten, wie ich in Anlehnung an Pressman argumentiert habe, den jeweiligen ÄrztInnen therapeutische Erfolge selbst »erfahrbar« und plausibel gemacht werden. Der Begriff der Erfahrung verweist hier nicht nur auf die Aneignung des Seienden durch die PatientInnen, sondern auch auf das Erleben der Behandelten durch die ÄrztInnen selbst, denn nur durch ein lokal gebildetes Wissen erreichten die ersten Berichte über die Effektivität eines Verfahrens konkrete Plausibilität. Die Wirksamkeit eines neuen Medikaments konnten die ÄrztInnen kaum einem Lehrbuch oder anderen Publikationen entnehmen. Die Dosierung selbst musste wie auch bei anderen somatischen Verfahren in der Psychiatrie stets am individuellen Patienten beobachtet werden. Der Kliniker muss hier selbst die Medikation ausprobieren, denn gerade im Versuchsstadium einer Therapie ist wenig Wissen über ihre Effekte vorhanden. Die Suchbewegung ist also zu diesem Zeitpunkt noch sehr offen. Auch Hans-Hermann Meyer berichtete in seiner ersten Veröffentlichung, dass es im Bereich der Psychiatrie zu diesem Zeitpunkt lediglich zwanzig Veröffentlichungen gebe.205 Zwar heben diese Publikationen einen besonderen Effekt des Chlorpromazins auf unruhige PatientInnen, insbesondere bei den sogenannten Manien, hervor, was aber Meyer selbst, wie das Beispiel des Patienten D. zeigt, beziehungsweise die beteiligten ÄrztInnen nicht erfahrbar machen können, weshalb eine weitere Verwendung des Megaphens bei diesen Diagnosen unterblieb. Es ist, wie ich in Anlehnung an Hans-Jörg Rheinberger formulieren möchte, gerade der experimentelle Charakter der klinischen Forschung, der sich als eine Suchbewegung beschreiben lässt, mit der man ein Wissen produzieren will, das man noch nicht hat. Das Experimentalobjekt ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht genau vorstellbar.206 Es ist gerade der offene Charakter dieses Suchens nach therapeutischen Effekten des Chlorpromazins, das die ersten Vorstellungen von Chlorpromazin besonders stark an die Zeugenschaft von Arzt und Patient bindet, in der sich stets mehr als die 205 Diese stehen rund 100 anderen Arbeiten gegenüber, die bis zu diesem Zeitpunkt über den Einsatz von Chlorpromazin erschienen, zumeist aus dem Bereich der Chirurgie. Es handelt sich hauptsächlich um Arbeiten, die in Anlehnung an die Forschungen des französischen Militärarztes Henri Laborit entstanden. Neben den französischen Arbeiten existierten im Bereich der Psychiatrie zu diesem Zeitpunkt lediglich die Arbeiten der Österreicher Arnold, Hift und Solms (1952) und die Diskussionsbeiträge der deutschen und schweizer Kollegen auf der Wanderversammlung Südwestdeutscher Neurologen und Psychiater (vgl. Arnold/Hift/Solms 1952, Südwestdeutsche Ärzte und Neurologen 1953). 206 Rheinberger 1992 und 2001, S. 22.
DIE VERSUCHSPERSONEN VON 1953 | 247
Effektivität der Therapie abbildet. Dieser Raum verdeutlicht aber auch auf Mikroebene die gesellschaftlichen Probleme der Zeit, die in den Institutionen behandelt werden, und ihre unterschiedliche Bedeutung für Arzt und Patient. Diese Dimension verschwindet jedoch in den ersten Veröffentlichungen. Es bedarf, um einen ersten klinischen Bericht zu schreiben, der Abstraktion von der Rede der PatientInnen und einer Übersetzung in die Sprache eines Fallberichts. Sind zu Beginn der Akte noch diverse Spuren der Schilderungen der PatientInnen sichtbar, steht am Ende einer Krankengeschichte eine Erzählung, die als Fallgeschichte in eine wissenschaftliche Publikation eingehen kann. Erste Hinweise darauf finden sich in der Übersetzung der vielfältigen Schilderungen und Beschwerden der PatientInnen, die den neuen Wirkstoff eingenommen hatten, in einen ersten Begriff von Wirksamkeit der Neuroleptika in den Krankenakten. Dieser ist, wie ich herausgearbeitet habe, nicht von einer Translation der vielfältigen geschilderten Erlebnisse der PatientInnen in eine psychiatrische Diagnose zu trennen, die sich dort ebenfalls nachzeichnen lässt. Einen zweiten Schritt der Abstraktion von den jeweils konkreten Bedingungen der Erprobung stellt die Zusammenfassung der Erprobung im klinischen Bericht dar, den Hans-Hermann Meyer über die Versuchsgruppe im Jahr 1953 veröffentlichte. Hier finden sich zwar kurze kasuistische Beschreibungen der PatientInnen, diese fassen die Therapie aber in einer Weise als Erfolgsfall, die den geschilderten Analysen an vielen Stellen diametral entgegensteht. Die Berichte abstrahieren in weiten Teilen auch von den Äußerungen der PatientInnen und dem Kontext der Verabreichung, der jedoch für die hybriden Effekte von maßgeblicher Bedeutung ist – er bildet letztendlich einen unübersetzbaren Rest zwischen den Übertragungen. Es ist aber nicht lediglich der Beginn der Erprobung, an dem diese Bewegungen versuchsweise weiter ausgetestet wurden. Vielmehr bedurfte es, wie es sich anhand der Akten von 1953 und 1954 nachvollziehen lässt, erst einer bestimmten Stabilisierung der Erfahrungswerte und Akzeptanz der Substanz, bis die Heidelberger Ärzte sie wieder dem Versuch einer breiteren Erprobung öffneten.
5 . Eine breite re Erprobung möglic h mac he n: Megaphen zw ischen 1954 und 1957
Die Erprobung des Megaphens war mit der in den 1950er Jahren in der BRD sehr basalen Registrierung und Markteinführung der Substanz nicht abgeschlossen. Zwar wurde das neue Medikament bereits am Ende der Stichversuchsserie in der Heidelberger Klinik am 01.07.1953 in den Handel gebracht, diese Markteinführung ermöglichte aber, wie Arthur Daemmrich argumentiert, erst eine breitere Verwendung und ein Auffinden neuer Indikationen, da die Forscherinnen in dieser Phase nicht mehr den Restriktionen der Zulassung ausgesetzt waren.1 Analog zu Daemmrichs Ausführungen lässt sich auch in der Heidelberger Psychiatrie eine Ausbreitung der Verwendung des ersten »Neuroleptikums« beobachten, die auf den noch experimentellen Status der Substanz verweist. Dies verdeutlichen zum einen die Indikationen, an denen die ÄrztInnen Megaphen verwendeten, zum anderen die Kombinationsbehandlungen, die sie in zunehmendem Maße vornahmen. Es sollen im Folgenden diese beiden Faktoren vor dem Hintergrund der ausgeführten Hypothesen zu Wirksamkeitsproduktionen und zeitgenössischen Diskursen in den Blick genommen werden. Für die Heidelberger Erprobung lässt sich konstatieren, dass das Jahr 1954 als Jahr der weiteren Verwendung der Substanz an der Diagnose Schizophrenie gelten kann. Zu dieser Zeit finden sich auch in der Versuchsgruppe keine Kombinationsbehandlungen, die über die schon 1953 bekannten hinausgehen.2 Erst im Jahr 1955 beginnt eine breitere Verwendung der Substanz, weshalb dieses Jahr im Folgenden genauer in den Blick genommen werden soll.
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Daemmrich 2004, S. 6. Vgl. PUH, PA der Stichprobe vom Mai 1954.
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Der Beginn einer breiteren Erprobung im Jahr 1955 Das Jahr 1955 zeichnete sich aus der Sicht der Heidelberger Universitätspsychiatrie durch mehrere Charakteristika aus. Zum einen wechselte zu diesem Zeitpunkt die Klinikleitung. Kurt Schneider wurde emeritiert, und das Ordinariat wurde nach einer kurzen kommissarischen Leitung durch Hans-Hermann Meyer von Walter Ritter von Baeyer übernommen. Wie ich bereits ausgeführt habe, verschob sich damit auch das Interesse der Klinik von einem Primat der Psychopathologie hin zu einem größeren Interesse an psychopharmakologischer Forschung. Zum anderen zeichnete sich das Jahr 1955 aber auch durch eine breitere Debatte über bereits bekannte Effekte von Chlorpromazin aus. Jean Delay und Pierre Deniker betonten 1956, dass man 1953 und 1954 als die Jahre der Verbreitung und Benutzung der neuen Behandlungsformen bezeichnen könne, während 1955 das Jahr der Vergleiche von Resultaten gewesen sei.3 In diesem Jahr fand eine Reihe nationaler und internationaler Kongresse statt, die sich mit den Effekten von Chlorpromazin beschäftigten.4 Als wichtigstes Treffen wird in diesem Zusammenhang eine 1955 in Paris stattfindende Konferenz erwähnt, an der nach Angaben von Delay und Deniker 400 PsychiaterInnen aus 22 Nationen teilnahmen.5 Hanns Hippius schildert, dass sich bei dieser Zusammenkunft 1955 auch die deutschen PsychiaterInnen zum Teil zum ersten Mal getroffen und die Konferenz deshalb auch dem nationalen Austausch gedient habe.6 Es wurde jedoch von den bundesdeutschen PsychiaterInnen betont, dass sie sich auf die Berichte der internationalen Kollegen nur ungern bezögen, da die Bezeichnung der psychiatrischen Kategorien stark differiere, sodass Wirksamkeitsbeschreibungen für die bundesdeutschen Kollegen nutzlos blieben.7 Es ist deshalb besonders auf die zunehmenden nationalen Veröffentlichungen zu verweisen, die eine Folie
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Delay/Deniker 1956. Ein Beispiel dafür ist das bereits 1953 stattfindende psychiatrische Symposium zu Largactil in der Schweiz (vgl. Largactilsymposium 1954) und das sich mit dem gesamten Bereich der klinischen Medizin befassende »Symposium on Chlorpromazin in Clinical Medicine«, dessen Ergebnisse bereits im Mai 1955 in der Zeitschrift International Record of Medicine abgedruckt wurden. Zu nennen ist auch eine Veröffentlichung des in die USA immigrierten Psychiaters Heinz Lehmann, der sich zwar auf die US- amerikanischen Standards in der Wirksamkeitsprüfung bezog, aber auch in Deutschland schon früh seine Berichte in der Zeitschrift Der Nervenarzt veröffentlichte (vgl. Lehmann 1954). Delay/Deniker 1956. Zu dieser Konferenz vgl. auch Courvoisier 1956. Die Beiträge wurden 1956 im Journal of Clinical and Experimental Psychopathology abgedruckt. Hippius/Healy 1996. Meyer 1953a, Janzarik 1954.
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für die Bezugnahme und Abgrenzung der Heidelberger ÄrztInnen boten.8 Dieser Hintergrund erlaubte den dortigen PsychiaterInnen eine breitere Erprobung, die eine Grundlage für die in den nächsten Jahren erscheinenden Berichte bieten sollte. Es ist darüber hinaus anzunehmen, dass über die zum Teil erst in den folgenden Jahren veröffentlichten Ergebnisse der therapeutischen Verwendung ein (informeller) Austausch zwischen den bundesdeutschen PsychiaterInnen bestanden hat. Im nächsten Abschnitt wird deshalb vor allem das Jahr 1955 analysiert und um einzelne Fälle aus den Jahren 1956 und 1957 ergänzt. Zunächst soll dabei das zunehmende Experimentieren mit der Substanz Chlorpromazin, die, wie sich herausstellte, allein nicht immer den gewünschten Erfolg zeigte, in den Blick genommen werden.
5.1 Der Versuchscharakter breitet sich aus: Kombinationsbehandlungen Während die PsychiaterInnen in den Jahren 1953 und 1954 noch versuchten, sich an der »Winterschlafmischung« mit Megaphen, Atosil und Dolantin zu orientieren und die Effekte durch eine Elektroschockbehandlung vor oder nach der Therapie zu verstärken, weiteten sich die Kombinationsbehandlungen Mitte der 1950er Jahre stark aus. So verdeutlicht eine Analyse der insgesamt 20 Behandelten des Jahres 1955, dass allein vier, also ein Fünftel der PatientInnen, neuen Kombinationsverfahren unterzogen wurden.9 In einem der Fälle wurde auch eine Modifikation der »Winterschlafmischung« vorgenommen.10 Ich werde im Folgenden zwei der vier Erprobungen des Jahres 1955 näher beschreiben. Dabei zeigt sich im ersten Fall eine neue Verwendung der Medikation in Kombination mit dem Elektroschock. Zusätzlich zu den Akten dieses Jahres soll eine Erprobung der Kombination von Megaphen mit externer Unterkühlung aus dem Jahr 1956 hinzugezogen werden. Dieses Verfahren wurde speziell in der Heidelberger Psychiatrie entwickelt. Als beispielhaft für die Kombinationsbehandlungen im Kontext der Wirksamkeitsproduktionen wird einer der 8
In diesem Zusammenhang sind für das Jahr 1953 zu nennen: Flügel 1953b; Kolle/Micorey 1953. Für das Jahr 1954: Flügel 1954; Kolle/Ruckdeschel 1954; Segerath 1954; Ernst/Ernst 1954; Bente 1954; Haase 1954; kritisch auch Janzarik 1954; trotz eines unterschiedlichen nationalen Kontextes aber auch Lehmann 1954. Für das Jahr 1955: Ditfurth 1955; Gäde/Heinrich 1955a; Gäde/Heinrich 1955b; Phillip 1955; Walter-Buel 1955; Heimann 1955. Auch die Firma BAYER gibt im Jahr 1955 eine Broschüre zu Megaphen heraus, in der ein Einsatz in der Psychiatrie aber erst an dritter Stelle, hinter dem Einsatz in Chirurgie und Geburtsheilkunde erwähnt wird. 9 PUH, PA 55/144; PA 55/84; PA 55/170; PA 55/147. 10 PUH, PA 55/170.
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beiden PatientInnen der Versuchsgruppe von 1955, an denen die Heidelberger Ärzte eine Kombinationsbehandlung ausprobiert hatten, einer ausführlichen Einzelfallanalyse unterzogen werden.
Eine »synergistische Megaphen-Krampfbehandlung«11 Im Jahr 1955 lässt sich erstmalig eine Kombination von Megaphenbehandlung mit zeitgleicher Durchführung einer Elektroschockserie anhand der Akten rekonstruieren. Die beiden Verfahren wurden vorher in der Regel nacheinander vorgenommen. In dem im Folgenden beschriebenen Fall steht auch nicht die Wirksamkeit der Medikation allein im Zentrum des Interesses. Vielmehr bedienen sich die ÄrztInnen des Megaphens, um den Elektroschock besser durchführen zu können. Dies verdeutlicht die Geschichte eines 47-jährigen Patienten, der mit der Diagnose Schizophrenie in die Heidelberger Klinik eingeliefert wurde.12 Schon kurz nach seiner Aufnahme beschließen die Heidelberger ÄrztInnen, eine Elektroschockbehandlung anzufangen, die jedoch zunächst nicht die gewünschten Effekte auf das Verhalten des Patienten zeigt. So wird zu Beginn der Elektroschocktherapie im Verlaufsbericht notiert, der Patient bete täglich und sehe sein Ende nahen. Darüber hinaus erfährt man in den folgenden Ausführungen, dass er noch am gleichen Tag einen Suizidversuch unternimmt, indem er sich die Pulsadern öffnet und zudem versucht, sich in den Gaumen zu schneiden. Die Heidelberger ÄrztInnen reagieren auf diesen »Vorfall« mit der Verabreichung eines weiteren Elektroschocks, bemerken jedoch, dass es nur zu einem unvollkommenen Krampfanfall gekommen sei.13 Auch am nächsten Tag zeigt sich der Patient widerstrebend und äußert vor dem Elektroschock die Angst, sterben zu müssen. Durch die Aufregung, so wird in der Akte vermerkt, sei der Patient »ziemlich kollapsig« geworden und solle jetzt mit Megaphen ruhiggestellt werden.14 Dass dies vermutlich gelungen ist, lässt sich aus dem Fehlen weiterer Einträge in den nächsten Tagen folgern. Erst am 18.06.1955 findet sich die Notiz, es sei durch die Elektroschocktherapie zu einem überraschend schnellen Abklingen des als schizophren geschilderten Verhaltens gekommen.15 Auch im Arztbrief wird eine Remission durch die
11 Titel des Films »Die synergistische Megaphen Krampfbehandlung«, produziert von dem Münchener Medizinalrat H. Lieser an der Psychiatrischen Landesklinik München-Haar 1955. 12 PUH, PA 55/147. 13 PUH, PA 55/147, Verlaufsbericht vom 01.06.1955. 14 PUH, PA 55/147, Verlaufsbericht vom 02.06.1955. 15 PUH, PA 55/147, Verlaufsbericht vom 18.06.1955.
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Elektroschocktherapie beschrieben, die Megaphenbehandlung hingegen nicht erwähnt.16 Eine Verabreichung von Megaphen, die lediglich zur Ruhigstellung des Patienten und damit zur Ermöglichung einer Elektroschocktherapie diente, ist kein Heidelberger Spezifikum. Bereits im Jahr 1955 hatte der Münchener Medizinalrat Lieser mit Unterstützung der Firma BAYER einen Film produziert, der sich an ÄrztInnen und StudentInnen der Medizin richtete und die Verwendung des Megaphens zur Minimierung der Ängste, die durch die Verabreichung des Elektroschocks entstanden, propagiert.17 Es ist anzunehmen, dass durch die Zusammenarbeit der Heidelberger Klinik mit der Firma BAYER der Film in der Klinik bekannt war und als Hintergrund der Anwendung gesehen werden kann. In den folgenden Jahren veröffentlichte Lieser erste Ergebnisse des neuen Verfahrens auch in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift unter dem Titel »Läßt sich die auftretende Angst vor einer Schockbehandlung beeinflussen?«. Von allen Psychiatern, so betonte Lieser in diesem Beitrag, werde anerkannt, dass es eine Angst der Patienten vor dem Elektroschock gebe, lediglich die Ursachen derselben seien ungeklärt.18 Berichten zufolge trete eine solche »Schockangst«, wie er weiter ausführte, in drei Vierteln der Fälle nach einer Anwendung somatischer Verfahren auf.19 Er selbst berichtete bei 86 Prozent seiner PatientInnen von einer so zu bezeichnenden Angst nach einer Schockbehandlung.20 Es war also nicht die Anwendung von Megaphen allein, die einen positiven Effekt auf die PatientInnen haben sollte. Die auftretende Furcht nach einer somatischen Behandlung zu minimieren, würde, so der Tenor des Artikels und des Filmes, letztendlich auch zu einer Humanisierung der somatischen Verfahren beitragen. Dies ist bedeutsam, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Schockverfahren zu dieser Zeit bereits stark in Verruf geraten waren und insbesondere der Elektroschock sich im Fokus juristischer Auseinandersetzungen befand. In der psychiatrischen Praxis konnte man jedoch, wie die quantifizierende Beschreibung gezeigt hat, auch nach Einführung der Neuroleptika keinesfalls auf den Elektroschock verzichten.21 Die Verwendung des Megaphens zur »Rehabilitation« der somatischen Verfahren war somit von nicht zu unterschätzendem Interesse für die Psychiatrie. Dass die Anwendung von 16 PUH, PA 55/147, Arztbrief. 17 »Die Synergistische Megaphen-Krampfbehandlung«, München 1955. 18 Lieser 1956, S. 1303. Der Autor führt die Angst auf den plötzlichen Bewusstseinsverlust zurück, der ein Gefühl der Auslöschung mit sich brächte, auf den die PatientInnen mit Angst reagierten. 19 Lieser bezieht sich hier nicht nur auf den Elektroschock, sondern ausdrücklich auch auf den Cardiozolschock. Er selbst erprobte das Verfahren auf einer (ruhigen) Frauenstation. 20 Lieser 1956, S. 1303. 21 Janzarik 1954.
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Megaphen allein auch mit anderen körperlichen Behandlungsverfahren vertieft werden sollte, zeigt das Beispiel des nächsten Verfahrens, das von den Heidelberger PsychiaterInnen propagiert wurde: die Kombination von Megaphen mit Unterkühlung, die durch externe Auflage von Eis erzeugt werden sollte.
Eine neue Kombinationsbehandlung zur Anwendung bringen: ein Fall von Hypothermie Auch der im Folgenden geschilderte Fall einer durch externe Kühlung ergänzten Megaphenbehandlung zeigt, wie sehr sich die ÄrztInnen in der psychiatrischen Praxis in den Anfangsjahren zunächst am klinischen Wissen aus anderen medizinischen Disziplinen, vor allem aus der Chirurgie, orientierten. Dies verdeutlicht die Geschichte einer 29-jährigen Patientin, die nach einer Blinddarmoperation mit hohem Fieber und Halluzinationen mit der Diagnose einer »Symptomatischen Psychose nach Abszess« am 13.04.1956 in die Heidelberger Universitätsklinik eingeliefert wird.22 Wie der Ehemann berichtet, sei die Patientin I. zunächst komplikationslos in der Heidelberger Chirurgischen Klinik am Blinddarm operiert worden. Darauf folgend habe sie Fieber entwickelt und ein zunehmend merkwürdiges Verhalten gezeigt. Geisteskrankheiten seien, wie der Ehemann ausführt, in der Familie bisher nicht vorgekommen. Eine erste Visite am Krankenbett lässt die ÄrztInnen berichten, die Patientin liege schwer krank aussehend im Bett. Über ihren Zustand wird in der Akte festgehalten: »Auf Anrede wendet sie [die Patientin] sich langsam zu, blickt den Untersucher unsicher-ratlos an, nennt ihren Namen, fragt nach ihrem Mann. Unvermittelt richtet sie sich rasch im Bett auf, versucht das Steckbrett zu übersteigen, kann nur mit Mühe beruhigt und festgehalten werden.«23
Die sehr unruhige Patientin höre, wie in der Akte festgestellt wird, zudem Rufe von draußen. Nach eingehender Beschäftigung meinen die PsychiaterInnen eruiert zu haben, dass I. glaube, es würden »Machenschaften« gegen sie vorgenommen. Das Fieberthermometer zeigt inzwischen 40° C an, der Blutdruck ist leicht erhöht, der Puls rast. Da das Pflegepersonal die Patientin im Bett kaum mehr halten kann, wird beschlossen, eine »kontrollierte Hypothermie« einzuleiten und deren Effekte auf die »Psychose« zu erproben. Aufgrund der neuen Anwendung des Verfahrens in der Psychiatrie wird über den Fall ein Artikel in der Fachzeitschrift Der Nervenarzt publiziert.24 22 PUH, PA 56/45. 23 PUH, PA 56/45, Zustandsbild. 24 Meyer/Rössle/Schmitt 1957.
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Am späten Nachmittag des ersten Tages wird der Patientin per Infusion eine sogenannte »lytische Mischung« zugeführt.25 Diese Kombination orientierte sich an den Beobachtungen des französischen Militärarztes Henri Laborit, der das Verfahren der kontrollierten Hypothermie zur Potenzierung der Narkose bei Schockbehandlungen bereits im Jahr 1951 eingesetzt hatte und mit dieser Medikamentenmischung und zusätzlicher externer Unterkühlung auch eine Beruhigung der PatientInnen beobachten konnte.26 Die Kälte dürfe, wie Laborit betont hatte, erst nach der Infusion der lytischen Mischung erzeugt werden, wenn die vasomotorischen Reaktionen bereits blockiert seien. Mit der Auflegung könne man eine Senkung der Körpertemperatur erreichen, die mit den Medikamenten nicht herzustellen sei und welche die narkotischen Wirkungen der Medikation vervielfachten.27 Laborits Verwendung des lytischen Cocktails zur Narkosepotenzierung war zu Beginn der Erprobung in Deutschland eine der ersten Indikationen der Verwendung von Megaphen, vor allem in der Chirurgie,28 wenngleich sich die Indikation in anderen Ländern über die Jahre gesehen nicht durchsetzte.29 Warum aber, so lässt sich fragen, wendete man die lytische Mischung mit externer Unterkühlung in Deutschland auch in der Psychiatrie an? Der Heidelberger Psychiater Walter Schmitt gibt an, dass die PsychiaterInnen mit der Eisauflegung auch die beruhigenden Effekte zu verstärken glaubten.30 In dem geschilderten Fall wollten die ÄrztInnen zudem wohl auch das Fieber durch die Kühlung senken. Im Verlaufsbericht wird über die Praxis der Eisauflegung notiert: »Die Patientin wird aufgedeckt, Eisbeutel in die Gegend der großen Gefässe.«31 Ähnlich wie bei der Insulinkomatherapie muss die Patientin während der Behandlung ständig beaufsichtigt werden. So vermerkt der Verlaufsbericht die Anwesenheit einer Wache, die Blut, Temperatur und Kreislauf regelmäßig kontrolliert.32 Auch in der in Anlehnung an diesen Fall geschriebenen Veröffentlichung wird auf die Notwendigkeit der engen Überwachung hingewiesen und die Aufwendigkeit betont, welche die Anwendung der 25 Diese Mischung enthält 3 ccm Dolantin, 2 ccm Hydergin, 2 ccm Atosil, 0,025 mg Megaphen. In ihrem Bericht beschreiben die Autoren diese Mischung auch als »lytischen Cocktail« (vgl. Meyer/Rössle/Schmitt 1957). 26 Laborit 1952. 27 Laborit 1954. 28 BAYER-Broschüre 1954; BAYER-Broschüre 1955; BAYER-Film 1959; Merck1954. 29 Healy 2002; Swazey 1974. Vgl. auch II.5.2. 30 Balz/Schmitt 2007. 31 PUH, PA 56/45, Verlaufsbericht vom 13.04.1956. Im Film »Zentralwirksame Phenothiazinderivate«, den BAYER 1959 drehte, wird das Bild der »kontrollierten Hypothermie« in der Chirurgie gezeigt, wobei die Patienten hier mit dem ganzen Körper in ein mit Eis gefülltes Tuch gehüllt werden. 32 PUH, PA 56/45, Verlaufsbericht.
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Methode durch die ständige Anwesenheit eines Arztes und zweier Pfleger bedeutet.33 Im konkreten Fall der Patientin I. sinkt die Körpertemperatur nach Einführung der Infusion langsam. Nach dem Absetzen der Medikation steigt sie aber immer wieder an. Am dritten Tag gelingt endlich eine dauerhafte Senkung der Körpertemperatur, auch erkennt die Patientin ihren Ehemann wieder, was die PsychiaterInnen als Zeichen ihrer psychischen Genesung ansehen. I. wird daraufhin in die Chirurgie zurückverlegt, damit ein infizierter Abszess entfernt wird, der die Ursache für das Fieber und die konstatierte »Psychose« zu sein scheint.34 Kurz nach ihrer Entlassung aus der Chirurgischen Klinik verfasst der behandelnde Heidelberger Psychiater einen Brief an die Patientin, in dem er sich nach ihrem Befinden erkundigt und um ein Gespräch in der Klinik bittet, da man sich von ihrer vollständigen Erholung nach der schweren Krankheit überzeugen wolle.35 Die Patientin erscheint daraufhin in der Heidelberger Psychiatrie, und ihr Bericht wird in einem mehrseitigen Vermerk in der Akte niedergelegt. In dieser »Nachexploration« schildert die Patientin ihre Erlebnisse in der Zeit während der »Hypothermie«. Wie sie ausführt, habe sie in dem Wahn gelebt, bereits verstorben zu sein und vorbeiziehende Menschen als Engel und Teufel verkannt. Nach Anlegen der Infusion habe sie eine unheimliche, von innen aufsteigende Hitze gespürt, der Körper habe sich zunehmend schwerelos angefühlt. Sie schildert zudem das Gefühl, man präpariere sie als Rakete, die dann mit rasender Geschwindigkeit ins Weltall geschossen werde. In diesem Zusammenhang seien auch die grünen Vorhänge vor dem Fenster der Klinik auseinander gewichen.36 Mit Todesangst habe sie schließlich auf den Kulminationspunkt der Rakete gewartet.37 Nach der Schilderung ihrer Erlebnisse stellen die Heidelberger Ärzte eine vollständige Genesung der Patientin fest. Auch der Ehemann könne, wie in der Zusammenfassung bemerkt wird, keine Wesensveränderung seiner Frau bemerken.38 Der Fall der Patientin I. wird vor diesem Hintergrund in der Akte und in der Veröffentlichung als Erfolgsfall beschrieben. Hier habe es sich, wie die ÄrztInnen resümieren, um eine rein exogen bedingte Psychose einer Patientin gehandelt, die weder familiär vorbelastet gewesen sei, noch sonst in ihrem Leben psychiatrische Auffälligkeiten
33 Meyer/Rössle/Schmitt 1957. Auch mussten stündlich Aufzeichnungen auf dem Medikamentenblatt vorgenommen werden. 34 PUH, PA 56/45, Verlaufsbericht vom 17.04.1956. 35 PUH, PA 56/45, Brief an die Patientin vom 28.05.1956. 36 In der Psychiatrischen Universitätsklinik gab es grüne Vorhänge, die zum Abdunkeln der Zimmer zugezogen wurden, um die durch Megaphen verursachten Hautausschläge aufgrund von Photosensitivität zu minimieren. 37 PUH PA 56/45, Nachexploration. Die Nachexploration wird auch in der Veröffentlichung von Meyer/Rössle/Schmitt 1957 wörtlich zitiert. 38 PUH PA 56/45, Zusammenfassung.
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gezeigt habe.39 Im Widerspruch zu dieser Schilderung steht, dass die Patientin im folgenden Jahr nach einem Suizidversuch mit Schlafmitteln noch einmal in die Psychiatrische Universitätsklinik eingewiesen wird. Ihre Erlebnisse beschreiben die PsychiaterInnen nun als »abnorme Erlebnisreaktion«.40 Hintergrund ihrer Klinikaufnahme bilde, wie die ÄrztInnen konstatieren, eine zunehmende körperliche Erschöpfung mit dem Gefühl, den Alltag nicht mehr bewältigen zu können. Die Beschwerden stünden im Zusammenhang mit ihrem Verdacht, dass ihr Mann sie betrüge, und hätten zu einer für die Patientin als ausweglos empfundenen Situation geführt.41 An die vorherige Behandlung erinnert, führt die Patientin in ihrem eigenen Bericht über die Hypothermie aus: »Ich bin immer höher gekommen, immer höher wie durch Strom.«42 Schließlich sei als Folge dieses Erlebnisses eine von ihr als hohl empfundene Ruhe eingetreten. Zwar habe sie sich von der Operation gut erholt, die Bilder vergesse sie jedoch nie. Nach der Klinikentlassung sei es ihr zunächst gut gegangen, wie die Patientin erzählt, einige Monaten später habe sie jedoch eine große Erschöpfung und Traurigkeit in sich gespürt. Im »Psychischen Befund« beschreiben die PsychiaterInnen die vorher als unauffällig bezeichnete Patientin nun als »geltungs- und herrschsüchtig«.43 Man schließe zwar, wie im Arztbrief formuliert wird, eine Psychose aus,44 was sich auch in der Einordnung ihres Verhaltens als »abnorme Erlebnisreaktion« äußert, dennoch wird eine Abkehr von der Beurteilung der Patientin als psychiatrisch unauffällig vorgenommen. Unklar bleibt, inwieweit die Verfassung der Patientin zur Zeit des zweiten Klinikaufenthaltes durch die Behandlung mitbedingt ist. Die geschilderte Therapie verdeutlicht den Versuchscharakter, den die Erprobung des Wirkstoffs auch nach einigen Jahren noch innewohnte. Dabei schien sich die psychiatrische Praxis eng an die klinischen Erfahrungen der Chirurgie anzulehnen. Dies lässt sich auch auf die Bedeutung zurückführen, die eine Anerkennung der Psychiatrie als Wissenschaft nach den Maßstäben der übrigen Medizin besaß, auch wenn in Deutschland die Zugehörigkeit der Psychiatrie zur Medizin nicht prinzipiell in Frage gestellt wurde. Doch auch in diesem Fall konnte der Erfolg der Behandlung letztlich erst durch eine Narration der Patientin, die eindringlich von ihren Erlebnissen zu berichten wusste, sichtbar gemacht werden. Auch das nächste
39 PUH PA 56/45, Zusammenfassung. 40 PUH, PA 56/45, Krankenblatt der Wiederaufnahme vom 01.07.1957. Diese Diagnose verweist, anders als die so genannten Psychosen in Schneiders »Klinischer Psychopathologie«, nicht auf körperliche Ursachen, sondern auf eine »abnorme« Verarbeitung von Umwelterfahrungen. 41 PUH, PA 56/45, eigene Angaben. 42 PUH, PA 56/45, eigene Angaben. 43 PUH, PA 56/45, Psychischer Befund. 44 PUH, PA 56/45, Arztbrief, undatiert.
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Beispiel eines Patienten soll plausibilisieren, dass es zur Verdeutlichung einer erfolgreichen Megaphenbehandlung nicht nur neuer experimenteller Kombinationen, sondern auch der Rede der PatientInnen bedurfte.
5.2 Ein Zusammenbruch als Sinnkrise? Am Beispiel des Patienten F. möchte ich das Problem der verschiedenen Ebenen deutlich machen, die sich in der Wirksamkeitsprüfung des neuen Medikaments überlagern. Zum einen wird von den Heidelberger ÄrztInnen wieder ein gebildeter Patient ausgewählt, um den Erfolg einer neuen Kombinationsbehandlung über seine Rede sichtbar zu machen. Darüber hinaus werden auch neue Tabellen als Aufschreibsysteme aufgestellt und ausprobiert. Es werden am Beispiel dieses Patientens jedoch auch die Widersprüche deutlich, die sich an der Erprobung des »gebildeten« Patienten ergeben. F. soll im Folgenden aus den drei Perspektiven, welche in der Akte sichtbar werden und die meines Erachtens in die Beschreibung der Behandlung als »therapeutischen Erfolg« mit einfließen, analysiert werden. Dies sind die Sichtweisen von ÄrztInnen, Angehörigen und der Blick des Patienten auf sich selbst.
»Unser kleiner Philosoph«: F. aus der Sicht der Angehörigen Am 31.05.1955 liefern die ÄrztInnen den Patienten in die Psychiatrische Universitätsklinik ein.45 Nachdem er einen Suizidversuch mit Tabletten unternommen hat, wird der 21-jährige F. zunächst in einer anderen Heidelberger Klinik entgiftet und schließlich nach der Konsultation von HansHermann Meyer in die Universitätspsychiatrie überführt. Der Vater des Patienten schildert eine ehrgeizige Familie, in der schon der Onkel von F. einen Selbstmordversuch unternommen habe, nachdem er ein Examen nicht so wie erwartet bestanden habe. Weitere »psychische Auffälligkeiten« in der Familie weiß der Proband nicht zu berichten. Vielmehr schildert er den Sohn als begabtes Kind und sehr guten und beliebten Schüler, der in der Schule »unser kleiner Philosoph« genannt worden sei und 1954 das Abitur abgelegt habe. Die Probleme des Sohnes bringt der Vater mit seinem eigenen Stellenwechsel in Verbindung. Ein daraufhin notwendig werdender Umzug der gesamten Familie und die durch die überhohen Anforderungen des neuen Berufs gedrückte Stimmung des Vaters belasteten den Patienten nach Angaben des Erzählers sehr. Bereits 1951 sei F. deshalb sehr zornig geworden und habe Wutanfälle gezeigt, in deren Ver45 PUH, PA 55/170, Krankenblatt.
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lauf er Teller an die Wand geworfen habe. Ein erstmalig hinzugezogener Nervenarzt habe dieses Verhalten jedoch nur als »Ungezogenheit« bezeichnet.46 Im Februar 1954 sei es schließlich zu einem weiteren Wutanfall gekommen, nachdem die Mutter des Patienten nach dessen Ansicht am frühen Morgen zu laut gehustet habe. Daraufhin sei eine zwangsweise Einweisung in die psychiatrische Klinik Landeck veranlasst worden, wo F. zwei Wochen mit Insulin behandelt worden sei. Der Landecker Psychiater habe eine »Vaterprotestneurose« diagnostiziert. Zwar sei der Patient den Eltern gegenüber wegen der Einweisung schlecht gestimmt gewesen, dennoch habe er sich, als er aus der Psychiatrie entlassen wurde, »sehr gut geführt«47 und acht Tage darauf sein Abitur abgelegt. Erst in den letzten Wochen sei es, wie der Vater schildert, zu einer neuerlichen Krise gekommen. Bereits seit Sommersemester 1954 habe der Patient Philosophie studiert, ohne einen genauen Berufswunsch benennen zu können. In diesem Zusammenhang lese er viele philosophische Schriften, die lebensverneinend seien. Bei ihrem letzten Zusammentreffen vor einigen Wochen habe der Patient sehr traurig gewirkt und berichtet, dass er schon seit einigen Wochen Opium gegen seine trüben Gedanken einnehme. Schon seit längerem habe er, wie sie jetzt erfahren hätten, kleine Dosen Schlaftabletten gesammelt und schließlich mit diesen den Suizidversuch unternommen, der den Ausgangspunkt für seine jetzige Einweisung in die Psychiatrie bilde. Man habe ihn schließlich in derjenigen Kleidung auf dem Bett vorgefunden, in der er nach eigenen Angaben habe beerdigt werden wollen. In dem hinterlassenen Abschiedsbrief formuliert der Patient: »Nehmt es mir nicht übel, nehmt es leicht, viel zu erklären gibt es nicht. Ich möchte am liebsten nach Landau ins Familiengrab, dass die oberen Hefte in dem Schubfach ausnahmslos verbrannt werden.«48 Auch die Mutter gibt an, dass sie keine Wesensveränderung ihres Sohnes in den letzten Wochen habe feststellen können. Vielmehr sei der Patient netter und zugänglicher geworden. Allerdings habe F. in letzter Zeit stark unter schweren Gedanken gelitten. Auch der Vater, der sehr an dem Sohn hänge, sei ziemlich gedrückt gewesen, nachdem der Patient aus einem vor kurzem unternommenen Englandurlaub nicht nach Hause geschrieben habe und später lebensmüde Gedanken geäußert habe.49 Während F. aus der Sicht der Eltern als begabter Heranwachsender in einer schweren Lebenskrise erscheint, differiert die Beschreibung der ÄrztInnen gänzlich von dieser Sichtweise. Es soll im Folgenden der Blick der Ärzt-
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PUH, PA 55/170, Angaben des Vaters. PUH, PA 55/170, Angaben des Vaters. PUH, PA 55/170, Angaben des Vaters. PUH, PA 55/170, Angaben der Mutter.
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Innen verdeutlicht werden, der als Kontext einer medikamentösen Behandlung erscheint.
»Man sollte ihm die Erlernung eines Handwerkes empfehlen.« F. aus der Sicht der ÄrztInnen Die Rekonstruktion von F.s Leiden aus der Sicht der ÄrztInnen lässt ein anderes Bild von F. hervortreten. Zunächst wird F. aus der Klinik mit der Diagnose einer Schlafmittelvergiftung in die Psychiatrie überstellt, mit der Frage, die Verdachtsdiagnose einer Schizophrenie zu klären.50 Schon in der Nachexploration werden Zweifel an der Ernsthaftigkeit seines Suizidversuchs beschrieben, da er seine Absichten ohne tiefere Emotionen vorbringe.51 In der Klinik selbst glauben die PsychiaterInnen zunächst, einen »noch sehr in der Entwicklung begriffenen Jugendlichen« vor sich zu haben.52 Dies meinen die ÄrztInnen auch in dem Erscheinungsbild des Patienten zu erkennen, welches ihnen als absonderlich vorkommt: »Patient errötet häufig, hat einen auffallend (existenzialistischen?) Haarschnitt.«53 Auch ansonsten nehmen ihn die KlinikerInnen als »verschroben« wahr, wenngleich die Annahme einer Schizophrenie von den ÄrztInnen zunächst abgelehnt wird. Vielmehr seien die Motive des Suizids »wohl nicht psychotisch aufzufassen, sondern bedingt durch eine geringe intellektuelle und persönliche Reife«.54 Trotz der prinzipiellen Klarheit seiner Gedanken, welche die ÄrztInnen herausarbeiten, werden auch F.s intellektuelle Fähigkeiten dabei kritisch beurteilt.55 So lautet die vorläufige Diagnose auch »Suizidversuch im Rahmen einer Entwicklungskrise«, wobei die Verdachtsdiagnose einer »Hebephrenie« offen gelassen wird. Auch ein hinzugezogener weiterer Oberarzt lehnt die Annahme einer Schizophrenie ab und problematisiert stattdessen die intellektuelle Leistungsfähigkeit des Patienten. So wird im Verlaufsbericht vom 07.06.1955 notiert: »Die intel-
50 PUH, PA 55/170, Auszug aus dem Krankenblatt des Krankenhauses. Diese Verdachtsdiagnose gründet sich vermutlich auf den Auszug aus dem Krankenblatt der Psychiatrischen Klinik in Klingenmünster von 1954, das man inzwischen erhalten hatte und das eine »Einweisung wegen morbus Bleuler« in der Akte dokumentierte. Diese Tatsache steht im auffallenden Kontrast zur Erzählung des Vaters, dem man mitgeteilt hat, es handle sich um eine »Vaterprotestneurose«. 51 PUH, PA 55/170, Nachexploration, Eintrag vom 01.06.1953. 52 PUH, PA 55/170, Psychischer Befund. 53 PUH, PA 55/170, Psychischer Befund. 54 PUH, PA 55/170, Psychischer Befund. 55 Zu seinen philosophischen Gedankengängen wird dabei ausgeführt: »[D]abei ist auffallend, wie gering sein Schilderungsvermögen, seine so genannten philosophischen Gedankengänge sind.«
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lektuelle Begabung wird bei weitem für ein Philosophiestudium für nicht ausreichend erachtet, man sollte dem Patienten die Erlernung eines Handwerkes empfehlen.«56 Während F. aus der Sicht der Eltern als intellektuell begabt erscheint, betonen die ÄrztInnen mehrfach den Mangel an Kompetenz, den der Patient für ein solches Studium mitbringe.
Eine neue Kombinationsbehandlung beschreibbar machen: F.s Therapie Obwohl man das Verhalten des Patienten bis jetzt als Entwicklungskrise deutet und mehrfach betont, dass es sich hierbei nicht um ein »psychotisches« Geschehen handle, wird am 14.06.1955 auf Anordnung von Prof. Meyer mit einer »Megaphenkur« begonnen.57 Dabei verwenden die ÄrztInnen eine neue Mischung, wie eine erstmalig angehängte Tabelle verdeutlicht. Die weiterhin als »Winterschlaf« bezeichnete Kombination enthält nun Megaphen, Reversin und Hydergin.58 Auch wird die »Kur« mit 35 Behandlungstagen ungewöhnlich lange durchgeführt. Im Anhang findet sich jetzt eine Tabelle, in der oben »Name«, »klinische Diagnose«, »jetzige und frühere Behandlungen« und einzelne Spalten für die verwendeten Medikamente eingetragen sind. Im Rahmen dieser Ordnung werden »Dosierung« auf der einen Seite und »Wirkung« auf der anderen Seite gegenübergestellt, wobei die PsychiaterInnen unter Letzterer die physiologischen Effekte der Medikation auf Schlaf, Temperatur, Blutdruck, Puls sowie eventuelle Vergiftungserscheinungen zusammenfassten. Ganz unten in der Tabelle wird nicht weiter spezifiziert für den »therapeutischen Effekt auf die Grundkrankheit« Platz gelassen sowie für »besondere Bemerkungen«. Diese Notierung sollte wohl genauere Hinweise über eine DosisWirkungsrelation ermöglichen, die jedoch, wie in den folgenden Jahren wiederholt ausgeführt werden wird, kaum stabil zu erstellen sind.59 Obwohl die PsychiaterInnen an dem Patienten sowohl eine neue Kombinati56 PUH, PA 55/170, Verlaufsbericht vom 07.06.1955. 57 PUH, PA 55/170, Verlaufsbericht vom 14.06.1955. 58 Hydergin von der Firma SANDOZ (Wirkstoff: Dihydroergotoxin) ist wohl vor allem als Kreislaufmittel zu bezeichnen: Die Rote Liste nennt als Indikationen periphere und zentrale Durchblutungsstörungen, Hypertonie, Cervicalsyndrome, Kreislaufdysregulation (Rote Liste 1957, S. 345). Reversin ließ sich in der Roten Liste von 1954 und 1957 nicht auffinden. Es könnte sich hierbei eventuell um eine Kurzfassung des Medikamentennamens Revertonal handeln. Für Letzteres wird als Indikation ebenfalls Bluthochdruck angegeben, darüber hinaus werden aber auch Sympathicusneurosen und Adjuvans bei Basedow genannt (vgl. Rote Liste 1954, S. 719). 59 So wurde einige Jahre später in der US-amerikanischen Debatte immer wieder auf die Unmöglichkeit hingewiesen, eine klare Dosis-Wirkungsrelation herzustellen (vgl. Freyhan 1959, S. 376ff.; Cole/Ross/Bouthilet 1959; ausführlich auch Teil II, 1.2).
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onsbehandlung als auch eine neues Aufschreibsystem austesteten, wird im weiteren Verlauf in der Akte wenig über die Effekte der medikamentösen Therapie berichtet. Nur die Schlafreaktionen des Patienten scheinen wider Erwarten weniger ausgeprägt zu sein. So wird im Verlaufsbericht vom 15.06.1955 notiert: »Der Patient erhält die volle Dosis, fühlt sich wohl, schläft tagsüber wenig.«60 Im Gegensatz zu dieser Ausführung, dass der Patient sich gut fühle, steht jedoch der am vorherigen Tag vorgenommene Eintrag, in dem berichtet wird, dass F. die ÄrztInnen täglich dränge, ihm einen Termin zu nennen, an dem die Megaphenkur beendet werde.61 Auch am 12.07.1955, ungefähr eine Woche vor Beendigung der Kur, wird notiert, dass der Patient eine baldige Entlassung fordere, sich den weiterführenden Vorschlägen zur Gestaltung seines Lebensweges von Seiten der ÄrztInnen aber nicht anpassen wolle. So wird hervorgehoben: »Die Besprechung seiner Zukunftspläne mit der von Prof. Meyer vorgeschlagenen Aufgabe seines Studiums stößt beim Pat. auf kein Verständnis.«62 Dass die ÄrztInnen eigentlich eine höhere Schlafneigung erwarteten und sie die Behandlung auch den Angehörigen als Schlafkur erklärt hatten, verdeutlicht auch ein an die Klinik gerichtetes Schreiben der Mutter, in dem diese sich darüber sorgt, dass der Sohn in der Nacht zuviel wach liegt. Sie schreibt: »Ich hoffe ja, das dieses lange Wachsein sich nicht negativ auswirkt auf seine Kur, doch wollte ich Ihnen, sehr geehrter Herr Prof., davon Kenntnis geben.«63 Auch würde sich der Patient weiterhin vor allem mit der Fortsetzung seines Studiums beschäftigen und davon reden, dass er bald nach Hause zurückkehren dürfe.64 In einem Antwortschreiben der Klinik wird die Mutter beruhigt, dass sich die beschriebenen längeren Wachperioden wohl nicht negativ auf den Heilerfolg der Behandlung auswirkten. Doch auch die Eltern werden noch einmal gebeten, den Sohn zur Aufgabe seines Philosophiestudiums zu bewegen, wenngleich man hierfür nun einen anderen Grund als die mangelnde Begabung angibt. So formulieren die PsychiaterInnen in dem Schreiben an die Eltern: »Zu einer Fortsetzung des Studiums können wir ihm gleichfalls nicht raten, da sich erfahrungsgemäß gerade das von ihm gewünschte Studium ungünstig auf seinen Gesundheitszustand auswirken kann, ein erneutes Auftreten schwerer seelischer Krisen und Konfliktreaktionen bei weiterer Auseinandersetzung mit philosophischen Fragestellungen zu befürchten wäre. Wir können sie nur bitten,
60 61 62 63 64
PUH, PA 55/170, Verlaufsbericht vom 15.06.1955. PUH, PA 55/170, Eintrag vom 14.06.1955. PUH, PA 55/170, Verlaufsbericht vom 12.07.1955. PUH, PA 55/170, Brief der Mutter vom 01.07.1955. PUH, PA 55/170, Brief der Mutter vom 01.07.1955.
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ebenso wie wir auf ihren Sohn einzuwirken, und ihn dazu zu bestimmen, sich einem möglichst einfachen, praktischen Berufsziel zuzuwenden.«65
Bei der Lektüre der Akte erstaunt die wiederholte Ablehnung und Abwertung der philosophischen Ideen des Patienten und die Beharrlichkeit in dem Bestreben, ihn vom Philosophiestudium abzubringen. Es erscheint daher notwendig, F.s »philosophische Gedanken« in den Blick zu nehmen und seine Sichtweise zu verdeutlichen.
»Angestellte der pharmazeutischen Industrie«: F.s Sicht auf sich selbst – und auf die ÄrztInnen F. schildert sich in den »eigenen Angaben«, die er in der Exploration macht, als zornigen Heranwachsenden, der schon früh an Selbstmord gedacht habe. Nach seinen Motiven für den Suizidversuch befragt, beschreibt er seine Grunderfahrungen des Lebens als niederschmetternd, insbesondere unglückliches Verliebtsein habe ihm seine Grenzen aufgezeigt. Er berichtet, gerne in Heidelberg studiert zu haben und von der Geschlossenheit der philosophischen Gedankengänge, die er dort gehört habe, tief beeindruckt gewesen zu sein. F. widerspricht der Feststellung, dass er krank sei, deutlich, und betont, auch Schopenhauer und Nietzsche hätten negative Lebenseinstellungen gehabt. Letztendlich habe ihn die Konsequenz seiner Gedanken zum Suizid geführt, und er sei sich nicht sicher, ob er sich über die Tatsache, dass dieser nicht geglückt sei, freuen solle.66 F. setzt seine Erfahrungen auch in Beziehung zu dem Heidelberger Philosophen Karl Jaspers, einem Begründer der Existenzphilosophie und der phänomenologischen Psychopathologie. Letztere diente auch den Heidelberger ÄrztInnen als wichtiger Pfeiler ihrer psychiatrischen Krankheitslehre, die sich am Werk Kurt Schneiders orientierte.67 Für F. bildet Jaspers Werk einen Bezugspunkt, den er auch in einem seiner Egodokumente, die in der Akte gesammelt sind, einem Tagebuchauszug, hervorhebt, nicht ohne jedoch den Berufsstand der ÄrztInnen zu kritisieren. Folgender Ausschnitt verdeutlicht dies anschaulich: »Ein Uhr, ich liege wach. 2.30 der Pfleger gibt mir auf mein Bitten widerstrebend zwei Schlaftabletten. Ich denke dabei nach, was ich für einen Beruf wählen soll. Arzt: das hat viele Vorteile, man ist viel mit Menschen zusammen, lernt Menschen kennen (lebt in einer festen, geschichtlichen Situation, wie es Jaspers 65 PUH, PA 55/170, Antwortschreiben der Klinik, undatiert. 66 PUH, PA 55/177, eigene Angaben. 67 Zur Psychopathologie Kurt Schneiders und Karl Jaspers vgl. Schneider 1959 und Jaspers 1973. Zum Einfluss des Werks von Karl Jaspers auf die Psychopathologie Kurt Schneiders vgl. Schmitt 1990.
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als zum Selbst sein notwendig behauptet). Man ist angesehen, kann sich immer selbst helfen. Es gibt zu viele Ärzte, sie werden nicht gebraucht. Sie stehen im scharfen Konkurrenzkampf. Sie sind Angestellte der pharmazeutischen Industrie (das ist eine abstrahierende Feststellung, die jeder konkret behandelnde Arzt, dessen Leben ausgefüllt ist, abstreiten würde).«68
Der Patient F. zeigt den ÄrztInnen mit diesem von den Heidelberger PsychiaterInnen ordentlich dokumentierten Schriftstück seine Sicht ihres Berufsstands und kritisiert dabei indirekt auch die medikamentöse Behandlung, indem er die ÄrztInnen als »Angestellte der pharmazeutischen Industrie« brandmarkt.69 Ähnlich wie der Patient A. bedient F. sich dabei der Strategie, seine eigenen Angaben durch einen von den ÄrztInnen anerkannten Forscher – hier den Psychiater und Existenzphilosophen Karl Jaspers – zu untermauern, um seinen Worten so ein nachhaltigeres Gewicht zu verleihen.70 Eine Deutungsmöglichkeit dieser Akte wäre, dass es vielleicht auch diese Haltung ist, die eine so starke Abwehrreaktion der ÄrztInnen hervorruft, dass sie erhebliche Energie dafür aufwenden, den Patienten von einem weiteren Philosophiestudium abzubringen. Bei genauerer Lektüre der Akte ist zudem zu bemerken, dass auch die Deutung des Verhaltens des Patienten sich im Laufe der Beschreibung unmerklich verändert hat. Während in der vorläufigen Diagnose noch lediglich von einer »Entwicklungskrise« gesprochen wird und auch der hinzugezogene Oberarzt die Annahme einer Psychose ablehnt, wird der Patient am Ende der Behandlung als schizophren beschrieben. So wird erst am Ende des Verlaufsberichts unter der abschließenden Diagnose festgehalten: »Schizophrenie?«71 Auch der Abschlussbericht verstärkt diese Sicht, indem notiert wird: »Wir möchten annehmen, dass die psychischen Auffälligkeiten Ausdruck eines schizophrenen Defektes sind. Wir führten eine Megaphenkur durch, die zur Beruhigung und subjektiven Besserung des Befindens führte.«72Anschließend wird im Arztbrief ein letztes Mal die Absicht geäußert, den Patienten zur Aufgabe seines Studiums zu bewegen.
68 PUH, PA 55/177, Schriftstück des Patienten, undatiert. 69 Eine weitere Schilderung der Vorteile des Arztberufs macht sich für F. auch an dem »unpersönlichen Stoff« fest, den Ärzte zu lernen hätten. So führt er in seinem Schriftstück weiter aus: »Man kann unpersönliche Knochen mit Muskel auswendig steissen. Das Ganze dauert sehr lange, aber irgendwie scheint es mir sehr vorteilhaft« (PUH, PA 55/177, Schriftstück des Patienten, undatiert). 70 Das geschieht hier, anders als bei A., nicht nur durch den Bezug auf irgendeinen anderen Arzt, sondern auf eine anerkannte Gründerfigur der Psychopathologie des 20. Jahrhunderts. 71 PUH, PA 55/170, Verlauf, Eintrag vom 20.07.1955. 72 PUH, PA 55/170, Arztbrief.
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Neue Effekte der Megaphenbehandlung sichtbar machen Die Geschichte F.s verdeutlicht in beispielhafter Weise die Verschränkungen mehrerer Ebenen in der medikamentösen Therapie. Eine veränderte Kombinationsbehandlung orientiert sich im Jahr 1955 in Heidelberg an dem Bild einer »Schlafkur«, auch wenn zunehmend erkannt wird, dass der Schlaf für einen positiven Effekt nicht unabdingbar ist.73 Einher mit der neuen Mischung gehen auch neue Formen der Wissensbildung, die die PsychiaterInnen mit der veränderten Tabellengestaltung sichtbar machten. Hier werden auch die als Wirkung beschriebenen physiologischen Effekte der Medikation, die man in den Spalten zu erfassen trachtet, deutlicher von der Wirksamkeit in ihrer noch ersten unspezifischen Fassung als therapeutischer Effekt auf die »Grundkrankheit« getrennt. Diese Unterscheidung lässt jedoch auch die Frage nach der psychiatrischen Diagnose in den Vordergrund treten. Hier zeigt das Beispiel F.s vor allem die Geschichte der Umdeutung einer Diagnose, die absteigend von einer reversiblen »Entwicklungskrise« zu einer »Schizophrenie« beschrieben wird, obwohl sich in der Akte keine weiteren Anhaltspunkte im Verhalten des Patienten finden, die eine solche Neufassung erklären. Die neue Diagnose lässt sich jedoch, so meine These, klarer in Beziehung zu der medikamentösen Behandlung setzen, auch wenn man diese Konsistenz erst im Nachhinein erzeugte. Die Akte macht die Effekte nicht genauer sichtbar, auch der Patient äußert sich nicht positiv zur Therapie. Vielmehr wird trotz der offensichtlich langen mit dem Patienten geführten Gespräche kein positiver Medikamentenerfolg deutlich. Weder passt sich der Patient den als »vernünftig« definierten Zielen der PsychiaterInnen an, noch lässt er über seine Egodokumente einen Einblick in eine solche angestrebte Änderung seines Verhaltens zu. Vielmehr grenzt sich F. deutlich von den ÄrztInnen ab. In den anhand der vorangegangenen Aktenanalysen geschilderten Kombinationsbehandlungen wurden verschiedene Aspekte der Megaphenbehandlung deutlich. Eine Behandlung mit dem Wirkstoff allein reichte häufig nicht aus, um eine »wirksame« Behandlung durchzuführen. Es war so auch nicht das alleinige Ziel, mit der Medikamentengabe eine Besserung zu erreichen, eher sollte die Neuroleptikagabe auch andere Medikamentenbehandlungen stützen. Dies war insbesondere für jene Behand73 So berichtete Segerath 1954, dass sie Megaphen mit Luminal mischten und sich dabei an Klaesis Schlafkuren orientierten. Im Jahr 1957 betonte Fritz Flügel, der sich bei seiner eigenen Verwendung des Megaphens an einer alleinigen Verabreichung des Wirkstoffs orientierte, noch die günstige Wirkung des Schlafs im Bereich der Nervenheilkunde überhaupt. Schlaf sei, wie Flügel betont, die ideale Ruhigstellung und erlöse von quälender Spannung. Deshalb sei der Schlaf auch bei der Behandlung von Psychosen nach wie vor ein wichtiger Richtpunkt (Flügel 1957, S. 132).
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lungsverfahren von Bedeutung, die durch die Kritik der Justiz in Verruf geraten und schon zeitgenössisch einer kritischen Öffentlichkeit ausgesetzt waren. Der Einsatz von Megaphen verfolgte also zunächst das Ziel, ein Set an körperlichen Behandlungsmethoden in der Psychiatrie zu stabilisieren und diese damit enger an andere medizinische Disziplinen anschließen zu können, die über eine größere Breite medikamentöser und anderer körperlicher Behandlungsverfahren verfügten. Diesem Zweck diente, so meine These, auch die Anwendung der eigentlich im Bereich der Chirurgie verwendeten Mischung von Maßnahmen, die die ÄrztInnen für die Behandlungen in der Psychiatrie nur leicht modifizierten. Doch wie die Beispiele von I. und F. verdeutlichen, können in der Psychiatrie die Effekte der Medikation erst durch die Sprache der Patienten sichtbar gemacht werden. Hier zeigen sich nun auch erste Ausdifferenzierungen eines physiologischen Begriffs von Wirkung und eines therapeutisch-krankheitsbezogenen Begriffs von Wirksamkeit. Die therapeutische Effektivität des Medikaments zu beurteilen, sollte gerade für den Bereich der Psychiatrie von großer Bedeutung sein. Das Image als medizinische Disziplin mit Hilfe medikamentöser Verfahren aufzuwerten, schien dabei ein Ziel zu sein. In diesem Sinne ist anzumerken, dass die PsychiaterInnnen auch Behandlungen an nichtpsychiatrischen Indikationen in der Psychiatrie vornahm. Dies macht der Fall einer weiteren Patientin der Heidelberger Psychiatrie deutlich.
5.3 Wissensbildung jenseits der Konstitution e i n e s p s yc h i a t r i s c h e n F a l l s : e i n B e i s p i e l von Kopfschmerz unklarer Ursache Der Fall einer 53-jährigen Rentnerin, die im Mai 1955 Aufnahme in der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg findet, zeigt die Verwendung von Megaphen an einer nichtpsychiatrischen Diagnose beispielhaft auf. Schon in der Exploration wird die Lebensgeschichte der Patientin im Kontext einer Fülle von körperlichen Erkrankungen hervorgehoben. Nach einer Grippe im Jahr 1922, so schildert die Patientin G., habe das Einsetzen eines Kopfschmerzes begonnen, der sich als wechselnd stark und therapeutisch unbeeinflussbar herausstellen sollte. Dieser Druck hindere sie auch am Schlafen, weshalb sie körperlich stark heruntergekommen und ihr zuletzt auch ihre Arbeit in einem Betrieb gekündigt worden sei.74 Die behandelnden ÄrztInnen schildern die Patientin als müde und betrübt
74 PUH, PA 55/154, eigene Angaben.
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wirkend, halten aber die prinzipielle Situationsangemessenheit ihres Verhaltens fest. Darüber hinaus wird im »Psychischen Befund« über das Verhalten G.s notiert: »Sie [die Patientin] berichtet in durchaus adäquater Weise ohne Aktivierung und macht insgesamt einen müden und resignierten Eindruck. Sie leidet seit Jahren unter ätiologisch ungeklärten Kopfschmerzen, die bisher völlig therapieresistent waren. Ihre Resignation entspricht einer durchaus berechtigten Einsicht.«75
Der Glaube, dass es sich bei dem Verhalten der Patientin um eine angemessene Reaktion handle, drückt sich auch in der Diagnosefindung aus. Konsequenterweise wird eine psychiatrische Diagnose nicht gestellt, vielmehr geben die ÄrztInnen im entsprechenden Feld als Krankheit »Kopfschmerz unklarer Genese« an. Kopfschmerzen bildeten in den 1950er Jahren keine psychiatrische, aber eine klassisch neurologische Indikation, für die BAYER das Medikament bewarb.76 In der Medizin nach dem Zweiten Weltkrieg bildeten psychiatrische und neurologische Kliniken noch oft eine Einheit. Ob sie weiterhin gemeinsam bestehen oder getrennt werden sollten, war ein wichtiges Thema in der zeitgenössischen psychiatrischen Debatte, die an einen langen Streit über die Einheit von Psychiatrie und Neurologie im 19. Jahrhundert anknüpfte.77 Für die Heidelberger Psychiatrie bestand eine solche Einheit jedoch nicht: Die Neurologie war bereits einige Jahre vorher von der Psychiatrie abgetrennt und der Inneren Medi75 PUH, PA 55/154, Psychischer Befund. 76 Vgl. BAYER circa 1958. Bereits 1956 wurde ein Artikel zur Schmerzbehandlung mit Phenothiazinderivaten in der bekannten Fachzeitschrift Der Nervenarzt veröffentlicht (Bartsch/Sperling 1956). 77 Diese Debatte sollte 1962 in der Zeitschrift Der Nervenarzt ihren Höhepunkt erreichen. Zum Auftakt der Debatte hatte der anthropologisch orientierte Frankfurter Ordinarius Jürg Zutt ins Gespräch gebracht, dass die beiden Fachbereiche der Psychiatrie und Neurologie immer umfangreicher geworden seien und deshalb eine Trennung der beiden Disziplinen unter dem Dach eines gemeinsamen Zentrums vorgeschlagen. Freiwerdende Ressourcen sollten so besser für den notwendigen Ausbau der Sozialpsychiatrie genutzt werden können (vgl. Zutt 1962a). Sein Beitrag entfachte eine Debatte unter PsychiaterInnen und NeurologInnen, die für eine Einheit des Fachs plädierten (vgl. unter anderem Bente 1962). Dies veranlasste Zutt dazu, seine Position abschließend noch einmal zu verteidigen (Zutt 1962b). Die Debatte um die Einheit des Faches knüpfte an einen Streit an, der die PsychiaterInnen schon seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts spaltete. So hatte Wilhelm Griesinger schon seit 1865 die Einheit von Psychiatrie und Neurologie gefordert und vertrat an der Berliner Universitätsklinik beide Fachgebiete. Emil Kraepelin hatte hingegen bei seiner Berufung im Jahr 1903 darauf bestanden, nur die Psychiatrie zu vertreten. Carl Wilmanns hatte eine Psychiatrische und Neurologische Klinik in Heidelberg gefordert (Tölle/Schott 2006, S. 90f; ausführlich Pantel 1993).
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zin zugeschlagen worden, was man in der Heidelberger Klinik als Kompetenzbeschneidung wahrgenommen hatte.78 Dennoch wird die erwähnte Patientin in der Psychiatrie behandelt. Der Verzicht darauf, die Kopfschmerzen zumindest psychogen zu erklären, wirft die Frage auf, warum man die Patientin überhaupt in der Heidelberger Psychiatrie aufnahm und schließlich mit Megaphen behandelte. Ein in der Akte abgelegter Briefwechsel gibt darüber zumindest teilweise Aufschluss. So scheint auch der behandelnde Hausarzt wegen der unbeeinflussbaren Kopfschmerzen am Ende seines Wissens gewesen zu sein und einen anderen Arzt zu einer Beratung hinzugezogen zu haben. Dieser rät zu einem »Behandlungsversuch« mit Megaphen und Atosil.79 Der Hausarzt wendet sich daraufhin an Hans-Hermann Meyer, der durch seine Veröffentlichungen über Megaphen inzwischen bekannt geworden war, und bittet darum, die Patientin stationär aufzunehmen.80 Dass der Grund für Einweisung in die Psychiatrie auch für G. offen bleibt, verdeutlicht ein Brief der Patientin an Meyer, in dem diese fragt, ob die geplante stationäre Aufnahme wegen ihrer Kopfschmerzen von ihrer Krankenversicherung gedeckt werde.81 Offensichtlich handelt es sich bei der Patientin um eine Erprobung der Substanz an einem Fall von Kopfschmerz, für den man das stationäre Setting einer Klinik braucht. Die Frage, warum die Ärzte diesen Versuch in der Psychiatrie und nicht in der Neurologie vornehmen, lässt sich so wohl weniger mit einer (psychiatrischen) Indikation begründen als eher mit der Tatsache, dass Hans-Hermann Meyer bereits über Kenntnisse in der Erprobung der Substanz verfügte und offensichtlich bereit war, die Patientin aufzunehmen. Diese klinische Erfahrung Meyers scheint für die Auswahl entscheidend gewesen zu sein und gegen eine Einweisung der Patientin in eine entsprechende Fachklinik gesprochen zu haben, die weniger Expertise in der Anwendung der Medikation besessen hätte. Warum aber stimmt Meyer selbst der Aufnahme in die Psychiatrie zu, wenn von Anfang an formuliert wird, dass es sich hier nicht um einen psychiatrischen Fall handelt? Es ist anzunehmen, dass er die zahlreichen Berichte der Firma BAYER kannte, die eine Anwendung zur Schmerzbeseitigung noch vor einer psychiatrischen Verwendung propagierten. So wies eine gerade veröffentlichte Broschüre über die Anwendung von Megaphen in der Allgemeinpraxis als erste Indikation auf die Funktion als Analgetikum hin 78 Kurt Schneider hatte bereits 1946 seinen Unmut darüber geäußert, dass er nach dem Verlust der Neurologie an die Innere Medizin nun auch noch Teile seiner PatientInnen an eine von Alexander Mitscherlich geleitete Psychosomatik verlieren sollte (vgl. Roelcke 2004, S. 485). 79 PUH, PA 55/154, Brief von Dr. R. an den Hausarzt vom 22.11.1954. 80 PUH, PA 55/154, Brief von Hans-Hermann Meyer an den Hausarzt vom 29.06.1955. 81 Brief der Patientin an Hans-Hermann Meyer vom 03.05.1955.
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und hob die Wirksamkeit auf Migräne hervor.82 Der Einsatz von Megaphen zur Schmerzbeseitigung wurde im Jahr 1955 in der Medizin ohnehin breiter erprobt und versprach dem erprobenden Arzt eine große Öffentlichkeit für den Nachweis einer neuen Indikation. So sollte das Nachrichtenmagazin Der Spiegel im Frühsommer des Jahres der erfolgreichen Schmerzbehandlung mit Megaphen einen ganzen Artikel widmen.83 Außerdem bot die Einweisung Meyer die Chance, auch seine Expertise im Bereich der Neurologie zu zeigen und diesen Teilbereich vielleicht schrittweise wieder besetzen zu können. Die Gelegenheit für Meyer, nicht nur als Psychiater, sondern auch als Arzt und Forscher über das psychiatrische Setting hinaus zu einer Expertise und eventuell zu Ruhm zu gelangen, mögen Motive für seine Zustimmung zur Aufnahme der Patientin gewesen sein. Dies wird auch aus der Tatsache deutlich, dass die PsychiaterInnen zwei Jahre später in mindestens einem Fall die Verwendung von Megaphen wegen eines »Drucks im Kopf«, den sie als »symptomatisches Krampfleiden nach Meningitis« diagnostiziert hatten, vornahmen.84 Trotz der positiven Berichte, die Ärzte über die schmerzlindernde Wirkung von Megaphen zu dieser Zeit kennen, ist die Erprobung an G. der letzte Bestandteil eines Behandlungsversuchs, den die ÄrztInnen unternehmen, nachdem eine Reihe anderer Medikationen keine Schmerzreduktion bewirkt hatte.85 So wird am 27.06.1955 im Verlaufsbericht festgehalten, dass jetzt als letzte Therapie mit einer Megaphenbehandlung begonnen 82 BAYER-Broschüre »Megaphen in der Allgemeinpraxis«, 5/1955, S. 5. Auch schon im Jahr 1953 wurde auf die Erleichterung des Geburtsschmerzes durch Megaphen hingewiesen (vgl. BAYER-Broschüre »Megaphen. Neuroplegicum«, o. J. [1953]). 83 So berichtete der Spiegel unter dem Titel »Vorhang gegen den Schmerz« über die »Behandlungserfolge« eines Londoner Arztes in der Schmerztherapie eines schwer krebskranken alten Patienten, der auf Morphium nicht mehr ansprach. Die Autoren des Berichts hoben hervor: »Der behandelnde Arzt riskierte ein Experiment: Er verordnete dem Kranken eine Dosis Largactil Tabletten. Als der Arzt am nächsten Tag wieder an das Bett des Kranken trat, fand er den alten Herrn behaglich lächelnd vor. ›Ich fühle mich wohl‹, sagte der Patient. Ob er keine Schmerzen mehr habe? ›Doch, aber das kümmert mich nicht‹« (»Vorhang gegen den Schmerz«. In: Der Spiegel vom 22.06.1955, S. 39). Die beobachtete Veränderung wurde auch auf die Möglichkeit, sich von sich selbst zu distanzieren, zurückgeführt, ein Geschehen, das man grundsätzlich nach einer Gabe der Medikation an PatientInnen beobachten könne. Megaphen könne, so die im Artikel geäußerte Hoffnung, sogar schwer abhängig machende Schmerzmittel wie Morphium ersetzen. Auch 1960 wurde noch vom Spiegel über die schmerzstillende Wirkung des Megaphens in einem Medikamentencocktail (mit Atosil, Dolantin und Neurocil) berichtet, der Trigeminus-Neuralgien minimieren sollte (»Die Cocktail-Kur«. In: Der Spiegel vom 17.02.1960, S. 68). 84 PUH, PA 57/147. 85 PUH, PA 55/154, Verlaufsbericht (besonders Eintrag vom 10.06.1955).
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werden solle. Nach einigen Tagen, die Patientin erhält jetzt 300 mg Megaphen,86 notieren die PsychiaterInnen über das Verhalten von G. in der Akte: »Sie schläft jetzt den größten Teil des Tages, fühlt zeitweise auch eine Erleichterung ihrer Kopfschmerzen.«87 Einige Tage später wissen die ÄrztInnen zu berichten, dass die Patientin zumindest kurze Zeit frei vom »Druck im Kopf« gewesen sei, wenngleich sie immer noch unter Witterungswechseln leide. Es treten aber im Laufe der Behandlungen nun auch »unerwünschte Wirkungen« auf. So kollabiert die Patientin, nachdem sie ein Bad genommen hat, und es wird ein erhöhter Pulsschlag bei der Patientin gemessen. Im Weiteren zeigt G. eine Ohnmachtsneigung, selbst wenn sie unter der jetzt auf 75 mg gesenkten Dosis aus dem Bett aufsteht.88 Am Ende der Behandlung schließlich tritt der Kopfschmerz teilweise wieder auf. Die Medikation soll jedoch weitergeführt werden, wenngleich man anmerkt, dass der Erfolg fraglich bleibe.89 Während die geschilderte Akte vor allem den Versuchscharakter der Erprobung verdeutlicht, welche die Verwendung von Megaphen auch 1955 noch hat, werden im Verlauf der Behandlung dieser Patientin mit der Substanz auch »unerwünschte Wirkungen« deutlich. Komplikationen in der Behandlung stellen jedoch in den ersten Jahren keine seltene Ausnahme, sondern die Regel dar. Im Folgenden möchte ich die unerwünschten Begleiterscheinungen in den ersten fünf Jahren der Verwendung analysieren und in den Kontext des zeitgenössischen Wissens einbetten.
5.4 Komplikationen und Komplizenschaft in den ersten fünf Jahren Anfang der 1960er Jahre betont der Heidelberger Psychiater Heinz Häfner, dass die Grenze zwischen therapeutisch erstrebten und unerwünschten Wirkungen bei den neuen Psychopharmaka schwieriger zu ziehen sei als bei anderen Medikamenten. In diesem Sinne müsse auch der Begriff der Komplikation weiter gefasst werden. Für die Ausprägung von Komplikationen spiele die Person des Kranken eine große Rolle, wie er anhand einer Durchsicht der Akten mit Chlorpromazin und Reserpin behandelter PaientInnen feststellte.90 Auch der Psychiater Klaus Windgassen hebt in
86 In Kombination mit Atosil und Plexonal. Bei Plexonal (SANDOZ) handelt es sich um ein Schlaf- und Beruhigungsmittel (vgl. Rote Liste 1957, S. 668). 87 PUH, PA 55/154, Verlaufsbericht vom 15.07.1955. 88 PUH, PA 55/154, Verlaufsbericht vom 30.07.1955. 89 PUH, PA 55/154, Eintrag vom 18.08.1955. 90 Häfner 1964. Er bezieht sich bei der Durchsicht der Akten und den auftretenden »Komplikationen« auf die Behandlungsjahrgänge 1958 bis 1961.
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einer Arbeit über die »Schizophreniebehandlung aus der Sicht des Patienten« hervor, dass vom Blickwinkel des Behandelten aus ein Effekt der Neuroleptika als individuell bedeutsames Phänomen erlebt werde, das auf die gesamte subjektive Befindlichkeit einwirke.91 So ist, wie Fernandes betont, das Herzrasen zu der Angst in Beziehung zu setzen, die der »Neurotiker« während der Behandlung verspüre, oder das mentale Vakuum zu betrachten, das als Folge der Medikamenteneinnahme im Kopf empfunden werde.92 In diesem Sinne, möchte ich herausarbeiten, sind »unerwünschte Wirkungen« körperlicher Art von den psychischen Veränderungen und Reaktionen der PatientInnen auf die medikamentösen Effekte nicht zu trennen. Ich werde deshalb im Folgenden versuchen, zunächst die körperlichen Komplikationen bei den in der Heidelberger Klinik behandelten PatientInnen zu erfassen, welche die ÄrztInnen als Folge der Medikation notierten, und sie mit dem zeithistorischen Diskurs in Beziehung zu setzen. In einem zweiten Schritt nehme ich die Ablehnungen der PatientInnen auf die Medikation in den Blick, die meines Erachtens einen entscheidenden Teil der Komplikationen ausmachten. Die Patienten setzten sich, wie ich bereits ausgeführte habe, auch subjektiv mit den Einwirkungen der Substanzen auf ihr Denken und ihr Körpererleben auseinander. Die entlang der Akten vorgenommene Analyse wird sich an den einzelnen Jahrgängen orientieren, da die Psychiater hier in der Regel ähnliche »unerwünschte Wirkungen« hervorhoben. So könnte man das Jahr 1954 auch mit dem Begriff »Fieber« überschreiben. Von den acht Personen, an denen die ÄrztInnen in der Stichprobe Megaphen verwendeten, wurde bei drei Personen das Auftreten einer hohen Körpertemperatur notiert. So wird in einem Fall von einer Temperaturerhöhung auf 39° C berichtet und schließlich eine Lungentuberkulose festgestellt, die zu einer Verlegung führt.93 Der Schweizer Psychiater Felix Labhardt (1923–2000) brachte schon 1953 die Fieberentwicklung mit der mangelnden Resistenz des Körpers in Verbindung, verursacht durch eine chlorpromazinbedingte Senkung der Stoffwechseltätigkeit. Dadurch erhöhe sich auch die Infekthäufigkeit.94 Ebenso wird in einem weiteren Fall von einem Fieber von 39° C berichtet, das die ÄrztInnen als Folge einer Brustentzündung begreifen.95 Im folgenden Jahr, 1955, wird vor allem eine erhöhte Neigung zur Ohnmacht beschrieben. Eine Patientin kollabiert nach dem Bad,96 eine 91 92 93 94 95
Windgassen 1989, S. 10ff. Fernandes/Leitao 1956, S. 74. PUH, PA 54/165. Labhardt 1954. PUH, PA 54/166. Die Patientin stillt noch und hält sich mit der Diagnose »Schwangerschaftspsychose« in der Heidelberger Klinik auf. 96 PUH, PA 55/154.
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zweite klagt über Schwarzwerden vor den Augen und Herzklopfen. Die festgestellte Erhöhung des Herzschlags hat eine Dosisreduktion zur Folge.97 Kreislaufprobleme bis zum Kollaps und eine Erhöhung der Pulsrate bezeichnet auch Labhardt als häufige Komplikationen, die insbesondere am Anfang der Kur aufträten. Zwar gehöre zum normalen Zustand nach Chlorpromazinvergabe die »fahl-bleiche Gesichtsfarbe und leichte Ptose der Augenlider«98, um im weiteren Verlauf der medikamentösen Therapie einen Kollaps zu vermeiden, müsse man die Patienten aber zur Bettruhe mahnen und vor Anstrengung warnen.99 Auch die Firma BAYER verweist in einer Broschüre über den Einsatz von Chlorpromazin in der Psychiatrie auf die Notwendigkeit der »Liegekur«.100 Bei einem weiteren Patienten des Jahres 1955 bemerken die PsychiaterInnen, dass auch der Appetit nach Chlorpromazin- und Serpasilgabe stark zugenommen hat. So wird im Verlaufsbericht notiert: »Der Patient schläft viel und fällt durch seine enorme Esslust auf.«101 Dadurch verändere sich aber auch sein körperliches Erscheinungsbild stark, wie die Ärzte in der Akte eindrücklich konstatieren: »Er hat ein stark gedunsenes Gesicht und einen massigen Hals, wodurch der Eindruck des Stumpfen, Interesselosen noch verstärkt wird.«102 Im Jahr 1956 stellt man vor allem vegetative Symptome ins Zentrum der Beobachtung. Bei einer Patientin wird die Erhöhung der Herzfrequenz notiert.103 Bei einem anderen Patienten schilderten die PsychiaterInnen eine Hypomimie und eine Einschränkung der Sprachfähigkeit, die als direkte Medikamentenwirkung angegeben wird. Auch über eine Verkrampfung der Hände wird in der Akte Auskunft gegeben.104 Die genannten Beschwerden erinnern an die Symptome eines Parkinsonsyndroms, werden jedoch nicht als solches bezeichnet. Auch im Jahr 1957 berichten die ÄrztInnen schließlich von einem »Parkinsonoid«, das mit einer Temperaturerhöhung einhergeht. Zwei weitere PatientInnen leiden im gleichen Jahr an Fieber.105 Im Zusammenhang mit der Gabe von Chlorpromazin werden schon früh die genannten Bewegungseinschränkungen bemerkt. So berichtet Labhardt 1953 über eine 97 PUH, PA 55/144. 98 Labhardt 1954, S. 341. 99 Labhardt 1954, S. 341. 100 BAYER-Produktbroschüre »Megaphen in der Psychiatrie« (1957). Ein Psychiater berichtet zudem von einem epileptischen Anfall nach Megaphengabe (vgl. Burghard 1956). 101 PUH, PA 55/166, Verlaufsbericht vom 16.07.1955. 102 PUH, PA 55/166, Verlaufsbericht vom 16.07.1955. Auch Labhardt 1954 beobachtet eine starke Gewichtszunahme bis zur »Fettsucht«. 103 PUH, PA 56/131. 104 PUH, PA 56/159. 105 PUH, PA 57/110 und 57/150.
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Steifheit und Verlangsamung von Bewegung und Mimik, die ein Parkinsonsyndrom nahelegten.106 Als erster Forscher der Bundesrepublik weist Hans-Joachim Haase (1922–1997) auf das Parkinsonoid hin und glaubt, in den durch die Substanz verursachten feinmotorischen Veränderungen auch einen guten Gradmesser für die Dosierung finden zu können.107 Insgesamt ginge die Antriebsdämpfung, wie er ausführt, mit einer emotionalen Dämpfung einher.108 Diesem festgestellten Zusammenhang begegnet man in den Anfangsjahren der Erprobung in der BRD auch mit der bewussten Erzeugung eines Parkinsonsyndroms durch eine hohe Chlorpromazingabe. Fritz Flügel betont in dieser Hinsicht die Nützlichkeit des Vorhandenseins eines sogenannten »akinetisch-abulischen Syndroms«109, mit dem er gute Resultate bei der Psychosenbehandlung zu erzielen meint. Das Syndrom sei, wie Flügel ausführt, durch ein Defizit an spontaner Bewegung, Abnahme der Muskelspannung und damit einhergehend auch psychischen Verkrampfungen gekennzeichnet, so dass es schließlich zum gewünschten Effekt der »Harmonisierung der Persönlichkeit« komme.110 Auch die Firma BAYER sieht die Erzeugung extrapyramidaler Bewegungsstörungen lange in einem positiven Licht. So wird in einer Broschüre zu Megaphen in der Psychiatrie das Auftreten von extrapyramidalen Symptomen sogar als Zeichen einer Besserung gedeutet: »Sie [die extrapyramidalen Störungen] zeigen sich meist, wenn auch im psychischen Verhalten des Patienten eine Besserung eintritt im Sinne eines Nachlassens der emotionalen Irritierbarkeit und des seelischen Antriebs mit Schwinden der Erregungserscheinungen, Wahn- und Zwangsvorstellungen, wenn also eine Umstimmung im psychischen Verhalten oder – anders ausgedrückt – eine Harmonisierung der Persönlichkeit einsetzt.«111
Dass die Heidelberger PsychiaterInnen diesem von vielen deutschen und US-amerikanischen ForscherInnen geteilten Glauben nicht anhängen, zeigt die hier verwendete Medikamentenkombination. Der »Cocktail« enthält grundsätzlich Atosil, das zu dieser Zeit als nützlichstes Gegenmittel zur Bekämpfung von extrapyramidalen Störungen gilt.112 Mit der Anwendung dieser Mischung ist die geringe Häufigkeit erklärbar, mit der Bewegungs106 Labhardt 1954. 107 Haase 1954; zur Dosierung und der Festlegung einer neuroleptischen Wirkschwelle vgl. auch Haase 1962. 108 Haase 1954, S. 491. 109 Flügel 1959c, S. 46. 110 Flügel 1959c und Bente/Flügel 1956. 111 BAYER-Produktbroschüre »Megaphen in der Psychiatrie« (1957), S. 30. 112 Flügel 1959c. Dass die Heidelberger PsychiaterInnen auch aus diesem Grund eine Kombinationsbehandlung verwendeten, verdeutlicht auch Schmitt (vgl. Balz/Schmitt 2007).
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störungen in der Akte notiert werden, die in starkem Kontrast zu anderen Veröffentlichungen stehen, die von ihrem Auftreten bei jedem vierten Patienten berichten.113 Allerdings muss auch in die Analyse einbezogen werden, dass Bewegungsstörungen im Kontext der Zeit nicht immer erkannt worden sind. Noch Ende der 1960er Jahre weist die Arzneimittelkommission deutscher Ärzteschaft darauf hin, dass die extrapyramidalen Störungen häufig nicht als solche diagnostiziert und behandelt werden.114 Die unsystematische Meldung gerade aus den Kliniken macht Bekanntheit und Häufigkeitsangaben solcher »unerwünschten Wirkungen« zudem bis in die 1970er Jahre hinein schwierig.115 So verwundert auch das Fehlen der in anderen Studien häufig beschriebenen juckenden Ekzeme im Laufe der Megaphentherapie in der Heidelberger Klinik, die bei PatientInnen, aber auch bei Krankenschwestern, die durch das Sortieren der Tabletten mit dem Wirkstoff in Kontakt kamen, häufig beobachtet werden. Nahezu alle Forscher der Zeit berichten von ihrem Auftreten.116 Diese sind besonders häufig bei Frauen zu beobachten und werden insbesondere durch eine übermäßige Sonneneinstrahlung mit hervorgerufen.117 Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass gerade der Beginn der Chlorpromazinbehandlung von den Patienten keinesfalls immer als große Erleichterung aufgenommen wird, sondern die verkörperte Neuroleptikaerfahrung vielen als große Bürde vorgekommen sein muss. So fassen Brouselle et al. die Ergebnisse einer Patientenbefragung wie folgt zusammen: »Viele Patienten erinnern sich noch sehr genau, jedoch mit größtem Unbehagen an die Chlorpromazinbehandlungen der Jahre 1953 und 1954, als zur Bekämpfung der Geisteskrankheiten im Rahmen der Anstaltsgemeinschaft häufig hohe Standarddosen verabreicht wurden. Diese ersten Anwendungen haben peinliche Reminiszenzen zurückgelassen: Tagesschläfrigkeit und Mattigkeit, die jede Art von Tätigkeiten beeinträchtigten, vor allem zu abendlicher Stunde, dazu belegte Zunge, bitterer Nachgeschmack, Magenschwere und Ohnmachtsanfälle [...]. Wie dem auch sei, die Patienten können im allgemeinen nicht an ihren ersten Chlorpromazinfrühling denken, ohne sich gleichzeitig einiger heftiger Sonnenstiche und Lichtschädigungen zu erinnern.«118
113 114 115 116
Goldman 1956, S. 54. Arzneimittelkommission deutscher Ärzteschaft 1967, S. 2330. Arzneimittelkommission deutscher Ärzteschaft 1974, S. 1286. Labhardt 1954; Broussolle 1955; Goldman 1956; Fernandes/Leitao 1956; BAYER-Produktbroschüre »Megaphen in der kleinen Psychiatrie des praktischen Arztes« (1957). Goldman (1956) gibt ihre Häufigkeit mit 11 Prozent an. 117 Fernandes/Leitao 1956; BAYER-Produktbroschüre »Megaphen in der Psychiatrie« (1957). 118 Broussolle/Thiebaut/Paul 1961, S. 323.
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Auch wenn in der Heidelberger Psychiatrie wegen der bereits früh bekannten, erhöhten Photosensibilität die mit Megaphen behandelten PatientInnen in einem abgedunkelten Zimmer untergebracht wurden und aus diesem Grund die Hautprobleme weniger häufig auftraten,119 setzen sich auch dort die PatientInnen nicht selten gegen die Verabreichung der neuen Substanz zur Wehr. Im Folgenden sollen diese Handlungen der Heidelberger PatientInnen gegen eine Medikamenteneinnahme näher in den Blick genommen werden.
Komplizenschaft zwischen Arzt und Patienten: Chlorpromazin im Anstaltsalltag Als zentrales Element für die Beurteilung der Wirksamkeit von Neuroleptika wird im Laufe der Zeit auch die Komplizenschaft oder Therapietreue angesehen, welche die PatientInnen zeigen. Der sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelnde Begriff der »Compliance« bezeichnet, wie Jeremy Greene formuliert, das Maß, in dem der Patient den Anweisungen des Arztes folge.120 Gerade mit dem Aufkommen scheinbar hocheffektiver Arzneimittel in der Medizin nach 1945 habe, so Green, die Sicherstellung der Einnahme für die Wirksamkeitsprüfung entscheidende Relevanz bekommen: »Not taking the pills opened a dangerous hole in the otherwise seamless logic of clinical trials, creating a great deal of anxiety for researchers – and a pressing demand to understand and limit this epistemological threat.«121 Chlorpromazin und andere Neuroleptika geraten in diesem Zusammenhang schnell ins Zentrum des Interesses hinsichtlich der Komplizenschaft des Patienten, denn sie werden von den Behandelten besonders ungern eingenommen. Dass die Behandlungsverweigerungen auch von den ÄrztInnen häufig als besondere Komplikation wahrgenommen wird, bemerkt Theodore van Putten in einem Artikel über mangelnde Komplizenschaft der PatientInnen bei der Neuroleptikaeinnahme, in dem er konstatiert: »The reluctance of patients with schizophrenia to take their prescribed phenothiazines is the bane of the psychi-
119 Vgl. Balz/Schmitt 2007. Weitere Komplikationen, die sich in den Heidelberger Akten nicht wiederfanden, waren das Auftreten von Gelbsucht, das in den Publikationen als seltene, aber ernstzunehmende unerwünschte Wirkung aufgeführt wird. So berichtet Labhardt bei knapp 3 Prozent der PatientInnen vom Auftreten einer Gelbsucht nach Chlorpromazinvergabe, Goldman gibt das Risiko mit 0,5 Prozent an (vgl. Labhardt 1954 und Goldman 1956). Auch die Firma BAYER verweist auf das Gelbsuchtrisiko, das bei Dosen über 400 mg auftrete (BAYER-Produktbroschüre »Megaphen in der Psychiatrie« [1957]). 120 Greene 2004, S. 328. 121 Greene 2004, S. 340.
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atrist.«122 Die Verweigerung der Medikamenteneinnahme durch die PatientInnen, die den pharmakologischen Therapieversuchen der psychiatrischen Profession ihre Grenzen aufzeigt, wird ab den 1970er Jahren international zunehmend debattiert.123 Schon in den 1950er Jahren werden erste Diskussionen über die Komplizenschaft der PatientInnen geführt. So verdeutlicht Fernandes, dass die psychotropen Effekte der Chlorpromazinbehandlung auch auf die subjektive Befindlichkeit einwirken, und dabei individuell nicht immer zu den gewünschten Verhaltensweisen führen.124 Während die beruhigenden Effekte von Chlorpromazin auf einige der Patienten schon zu dem Namen »ein neuer Pinel«125 für den Wirkstoff geführt hätten, kämpften andere Patienten gegen dieselben an und legten eine besondere Aufgeregtheit an den Tag, mit der sie die ungewünschten Effekte minimieren wollten. Die vom Arzt nicht steuerbaren Medikamentenfolgen werden von Fernandes auch als »psychologische Störfälle« bezeichnet.126 Der Begriff legt nahe, dass auch die Behandelten, die sich gegen die körperlichen und psychischen Folgen der Medikamentenbehandlung auflehnen, die Anstaltsordnung erheblich stören.127 Doch Patienten haben in der Regel, wie van der Geest et al. aus ihrem anthropologischen Blickwinkel betonen, gute Gründe für eine Einnahmeverweigerung, da sie meist andere Vorstellungen von ihrem Leiden verfolgten als die behandelnden ÄrztInnen.128 Im Folgenden sollen diejenigen Handlungen der PatientInnen analysiert werden, für die eine mangelnde Komplizenschaft kennzeichnend war. Dabei möchte ich zunächst die Widerstände gegen eine Einnahme der Medikation betrachten, während in einem zweiten Schritt Tätigkeiten der PatientInnen in den Fokus rücken, die gegen die »Medikamentenwirkung« vorgenommen werden, so dass es schließlich nicht zu einem von den ÄrztInnen als positiv definierten Effekt, das heißt zur Beruhigung, kommt.
122 Van Putten 1974, S. 67. Ausführlicher zu diesen Debatten vgl. V.2.2. 123 Ein Informationsfilm der Firma BAYER mit dem Titel »Arzt – Patienten Compliance« aus dem Jahr 1975 lässt fünf Experten aus verschiedenen Positionen zu dem Problem Stellung nehmen und Lösungsvorschläge entwickeln. 124 Fernandes/Leitao 1956. 125 Fernandes/Leitao 1956, S. 70. 126 Fernandes/Leitao 1956, S. 70. Im englischen Original benutzt Fernandes den Begriff »Incidents«, den man mit Nebenerscheinungen, aber auch Störfall übersetzen kann. 127 Man solle deshalb, so van Putten, wenn man die Medikamentenbehandlung sicherstellen wolle, das Augenmerk auf die subjektiven Reaktionen der Konsumenten legen und sie nicht als »aberration of a sick mind« abtun, da diese innere Realität des Subjektes über die weitere Psychopharmakaeinnahme entscheide (van Putten/Crumpton/Yale 1976). 128 Van der Geest/Whyte/Hardon 1996, S. 166.
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Wie eine nähere Betrachtung der Akten zeigt, wenden sich die Patienten in einigen Fällen direkt gegen eine Medikamenteneinnahme. Über einen Patienten wird berichtet, dass er sich gegen die Tabletten sträubt und deshalb eine Injektion verabreicht bekommt.129 Auch ein weiterer Patient verweigert die Tabletteneinnahme strikt.130 Die in beiden Fällen vorgenommene Umstellung auf eine Injektion ermöglicht es, der mangelnden Mitarbeit der Patienten entgegenzuwirken, da sie das Mittel nun nicht mehr ausspucken können. Ein anderer Patient äußert die Befürchtung, dass die verabreichte Spritze die »Todesdosis« sei, die man ihm jetzt verabreiche.131 Er lässt sich zwar beruhigen, versucht aber bei einem weiteren Injektionsversuch durchzusetzen, dass die ÄrztInnen ihn in den anderen Arm spritzten, da es »vom linken aus zu schnell zum Herzen gelange«.132 In konfrontativer Form versucht ein weiterer Patient, die ÄrztInnen von einer weiteren Chlorpromazinbehandlung abzubringen. So sei er auf den behandelnden Doktor zugetreten und habe mit scharfer Stimme geäußert: »Das will ich Ihnen sagen, wenn mir jemand eine Spritze verpassen will, werde ich Widerstand bis zum Äußersten leisten, ich lasse mich nicht weiter hier vergewaltigen.«133 Die PatientInnen versuchen auch auf indirekte Weise, sich den nicht gewünschten Begleiterscheinungen der medikamentösen Therapie zu entziehen. So rauche eine Patientin, wie notiert wird, ohne Unterlass Zigaretten, obwohl ihr wiederholt gesagt worden sei, dass dies den Erfolg der Therapie schmälere.134 Die Verweigerung der Medikation ist aber, wie ich im Folgenden ausführen werde, nur eine Form des »psychologischen Störfalls«. Häufig handeln die von mir betrachteten PatientInnen direkt gegen die von ihnen als nicht günstig erlebten Neuroleptikaeffekte und stören die Anstaltsordnung damit erheblich. Diesem Aufbegehren der PatientInnen wird von Seiten der Heidelberger ÄrztInnen meistens mit einer Dosiserhöhung begegnet, die den Mustern eines klassischen Restraints folgt. Eindrücklich schildert eine Patientin das Gefühl des völligen Abgeschaltetseins, welches sie nach einer während ihres Heidelberger Psychiatrieaufenthalts durchgeführten Megaphenbehandlung erlebt. So berichtet sie von einem Konflikt, durch den sie sehr durcheinander geraten sei, nachdem sie sich einem Liebhaber hingegeben habe, dieser sich danach
129 130 131 132 133 134
PUH, PA 54/109. PUH, PA 57/117. PUH, PA 54/165, Eintrag vom 17.05.1954. PUH, PA 54/165, Eintrag vom 04.06.1954. PUH, PA 55/114, Verlaufsbericht vom 01.08.1955. PUH, PA 57/123.
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aber von ihr abgewendet habe.135 Auf die darauf folgenden von ihrer Umwelt als bizarr empfundenen Erlebnisse, über die sie erzählt, erhält sie Megaphenspritzen, die ihren Wunsch zu berichten jedoch jäh unterbrechen: »›Ich weiß nicht, ob es ungewöhnlich ist, immer wenn ich eine Spritze bekam, konnte ich nicht mehr denken. Immer wenn ich wieder hoch kam, dachte ich nach, das kann doch nicht so sein. Nach den Spritzen war ich wie abgeschaltet. (Wodurch?) ›In Deutschland, durch das Megaphen. Ich freute mich immer auf Bekannte, man sprach und sprach und sprach. Sprach alles mögliche. Was ich im Arzthaus gelebt und gehört hatte, fiel mir ein.‹«136
Obwohl die Patientin in der Exploration ihre Ablehnung deutlich kundtut, erhält sie erneut hohe Megaphendosen, gegen deren Effekte sie sich nun zur Wehr setzt. So poltert die Patientin, obwohl sie größere Mengen Megaphen erhalten hat, gegen die Tür, reißt sich die Kleider vom Leib und bleibt nicht im Bett liegen. Nach einer Dosiserhöhung liegt sie schließlich stumm im Bett.137 Auch ein anderer Patient sei, wie berichtet wird, trotz einer Megaphendosis von 400 mg nicht zu beruhigen, mache derbe Witze und stehe unter starker Spannung.138 Nur durch eine Erhöhung auf 600 mg sei er zunächst im Bett zu halten gewesen. Isoliere man ihn, stehe er jedoch weiterhin an der Tür und klopfe, lasse man ihn aus der Kammer heraus, wandere er umher, ohne zu stören.139 Trotz gleichbleibend hoher Dosierung halte er die nötige Bettruhe nicht ein und zerreiße seine Kleider. Während der Injektion telefoniere er laut mit einem imaginären Telefon.140 Ein weiterer Patient ist trotz Megapheninjektion so unruhig, dass er schließlich festgebunden wird. Dabei schreit er, wie in der Akte vermerkt wird, laut: »Ich möchte hier raus.«141 Schließlich bittet er darum, entlassen zu werden, später könne man alle »Experimente« mit ihm anstellen. Trotz seines Widerstands erhöht man die Dosis und die ÄrztInnen versuchen wiederholt, den Patienten davon abzuhalten, sich ins Bett zu legen, um zu schlafen.142 Von einem Ausgang mit seiner Frau kehrt der Patient schließlich nicht in die Klinik zurück.143 135 PUH, PA 55/144, Exploration. Hier schildert die Patientin: »Ich hatte wohl Grundsätze, weil ich sehr liebte und endlich eine vollwertige Frau sein wollte.« 136 PUH, PA 55/144, Exploration. 137 PUH, PA 55/144. 138 PUH, PA 55/141, Verlaufsbericht vom 24.05.1955. 139 PUH, PA 55/141, Verlaufsbericht vom 28.05.1955. 140 PUH, PA 55/141, Verlaufsbericht vom 01.06.1955. 141 PUH, PA 57/147, Verlaufsbericht vom 27.05.1957. 142 PUH, PA 57/147, Verlaufsbericht vom 27.05.1957. 143 PUH, PA 57/147, Verlaufsbericht vom 09.06.1957.
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Die analysierte, mangelnde Komplizenschaft setzt also, wie ich anhand der Akten aufzeigen wollte, an zwei Ebenen an. Häufig wird die Medikamenteneinnahme direkt abgelehnt, darüber hinaus sind jedoch auch PatientInnen zu eruieren, die zwar die Medikamenteneinnahme nicht verweigern, sich aber subjektiv zu den unerwünschten Effekten in Beziehung setzen. Dies äußert sich darin, dass sie »querulieren« und den Anweisungen der ÄrztInnen nicht folgen, ein Verhalten, dem in der Regel mit einer ruhigstellenden Dosiserhöhung begegnet wird. Der Begriff der Komplikation und der (mangelnden) Komplizenschaft gehen deshalb häufig Hand in Hand. Im schlimmsten Fall gingen die Komplikationen mit dem Tod der PatientInnen einher. Die nachstehende Einzelfallanalyse wird den Tod einer Patientin nach einer Kombinationsbehandlung mit Megaphen und weiteren Wirkstoffen nachzeichnen.
5.5 Die Medikation als Grenzerfahrung: ein Todesfall Bereits zu Beginn der 1950er Jahre betont Fernandes, dass es bei Kombinationsbehandlungen mit Chlorpromazin zu unerwarteten Todesfällen gekommen sei.144 Die hier beschriebene 57-jährige Patientin H. wird am 16.05.1955 von Hans-Hermann Meyer mit der Diagnose »Cerebralsklerose« in die Psychiatrische Universitätsklinik Heidelberg eingewiesen und »fürsorglich« aufgenommen.145 Der Schwiegersohn berichtet, H. sei in der Vergangenheit immer rege gewesen. Erst im letzten Jahr habe sie ein auffälliges Verhalten gezeigt und bei einem Krankenhausaufenthalt immer geglaubt, bestohlen worden zu sein. Zu Hause angekommen habe sie zuletzt ständig ihre Schlüssel verlegt und habe die Furcht geäußert, dass man sie umbringen wolle. An Daten aus neuerer Zeit habe sie sich kaum mehr erinnern können. In den letzten Monaten habe man versucht, mit verschiedenen Medikamenten auf sie einzuwirken, was jedoch ohne Erfolg geblieben sei.146 In der Klinik angekommen, beschreiben die behandelnden Heidelberger ÄrztInnen ein Verhalten, das sie als desolates auffassten. So wird in der Akte notiert: »Die Patientin musste sofort isoliert werden. Sie ist motorisch außerordentlich unruhig, redet unablässig völlig wirr, schreit dann wieder laut, besonders dann, wenn man sich der Patientin zwecks Untersuchung nähern will, oder sie gar anfasst. Auf Fragen ist sie überhaupt nicht fixierbar, ihre sprachlichen Äußerungen geben keinen Sinnzusammenhang. Aus dem Bett, in das man sie gebracht hat, 144 Fernandes/Leitao 1956. 145 PUH, PA 55/130, Krankenblatt. 146 PUH, PA 55/130, Angaben des Schwiegersohnes.
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steigt sie immer wieder heraus, läuft planlos in der Zelle umher, versucht aus der Zelle zu kommen, wird sie daran von Schwestern gehindert, wird sie dabei tätlich, schreit laut und ist auch nicht durch Zuspruch zu beruhigen.«147
Im Verlaufsbericht wird geschildert, dass wegen der »außerordentlichen Unruhe« der Patientin eine weitere Untersuchung nicht möglich gewesen sei. Schließlich habe man feststellen können, dass Blutdruck und Puls erhöht gewesen seien und auch nach der Verabreichung einer Ampulle Dolantin sei keine beruhigende »Wirkung« aufgetreten. Die PsychiaterInnen verordneten deshalb Megaphen und Atosil. Am folgenden Tag, so wird berichtet, sei die Patientin den ganzen Tag herumgelaufen, habe niemanden erkannt und den Verdacht geäußert, dass man sie umbringen wolle.148 Am Nachmittag beschließen die ÄrztInnen dann, ihr einen Medikamentencocktail einzuflößen, der mit einer weiteren Verabreichung von Beruhigungsmitteln kombiniert wird. Die Patientin scheint daraufhin zunächst ruhiger zu sein.149 Am nächsten Tag erhält H. eine weitere Medikamentenkombination, nach der sie, wie berichtet wird, gut einschläft.150 In den folgenden Tagen auftretende leichte Blutdruckschwankungen können mit einer entsprechenden Medikation stabilisiert werden. Einige Tage lang beschreibt man die Patientin nun als ruhiger, auch wenn ihre Sprache durch die hohe Medikamentendosis als zunehmend unverständlich und verwaschen geschildert wird. Eine zu diesem Zeitpunkt mögliche körperliche Untersuchung ergibt weder internistische noch neurologische Auffälligkeiten. Am 24.05. beobachten die PsychiaterInnen jedoch eine Wendung im Zustand der Patientin. Es wird jetzt eine motorische Unruhe und ein zunehmend lautes Verhalten der Patientin festgestellt. Eine Dosiserhöhung auf 400 mg Megaphen bringt keine wesentliche Änderung. Blutdruck und Blutbild sind weiterhin stabil. Am 26.06. reduzierten die ÄrztInnen die Megaphendosis, wegen des starken Blutdruckabfalls wird Peripherin verabreicht. Für die im Bein beklagten Schmerzen der Patientin finde sich, 147 PUH, PA 55/130, Exploration. 148 PUH, PA 55/130, Verlaufsbericht vom 17.05.1955. 149 »Da am Nachmittag die Unruhe erheblich zunahm, wurde eine Infusion angelegt mit 100 mg Megaphen, Vitamin B Complex, Vitamin C, Zytobion, ¼ mg Strophantin, in 150 ccm Kochsalzlösung. Unter tags waren bereits 100 mg Megaphen i. M. gegeben worden. Ferner erhielt die Patientin gegen Mittag noch 4 ccm Hypnoticum i.M. und eine Ampulle Dolantin. Schon kurz nach dem Anlegen der Infusion bei einer Tropfenzahl von etwa 60 pro Minute kam die Patientin zur Ruhe und schlief bald ein« (vgl. PUH, PA 55/130, Verlaufsbericht vom 17.05.1955). 150 Die Patientin erhält jetzt 270 mg Megaphen, 4 Tabletten Atosil, 4ccm Hypnoticum,1/8 mg Strophantin, eine Ampulle Euphilin, eine Ampulle Dolantin und 2 Tabletten Neonarzit. PUH, PA 55/130, Verlaufsbericht vom 18.05.1955.
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wie man notiert, klinisch kein Anhaltspunkt. Dafür lasse sich im Unterbauch auch nach Entleerung der Blase eine harte Resistenz tasten. Auch psychisch scheint es der Patientin wesentlich schlechter zu gehen. So wird im Verlaufsbericht ausgeführt: »Patientin ist kaum mehr ansprechbar, sie antwortet wohl auf Reize, ist bewusstseinsgetrübt und erkennt ihre Angehörigen nicht mehr.«151 Die hinzugezogenen InternistInnen raten zu einer Kochsalzinfusion. Diese wird wegen der schlechten Venenverhältnisse als Depotinfusion in beide Oberschenkel verabreicht, aber nur schlecht resorbiert. Der Puls sei, wie die ÄrztInnen bemerken, nun völlig unregelmäßig und die Patientin sehr unruhig. Sie muss schließlich auch beatmet werden.152 Am nächsten Morgen verstirbt die Patientin. Die Todesursache kann von den behandelnden ÄrztInnen letztlich nicht mit Sicherheit festgestellt werden, eine Sektion wird von den Angehörigen abgelehnt.153 Der Krankenkasse wird eine Hirndurchblutungsstörung in Folge einer Cerebralsklerose zusammen mit einer Nierenbeteiligung als Todesursache angegeben.154 Der geschilderte Fall ist als ein Beispiel einer Reihe nicht zu klärender Todesfälle anzusehen, die nach Chlorpromazinverabreichung vor allem in Kombination mit anderen Mitteln auftraten. Todesfälle nach Megaphenverabreichung kamen auch Schilderungen in der Literatur zufolge immer wieder vor. So war die Chlorpromazinkur in letzter Konsequenz nicht der Gegenpol zu den »gefährlichen Substanzen« der Vorpsychopharmaka-Ära, als die man sie häufig schilderte.155 Die körperlichen Behandlungsformen vor den 1950er Jahren hatten, wie bereits beschrieben wurde, in der Psychiatrie in nicht unerheblichem Maße zu Todesfällen geführt. Bekannt geworden waren mit der Entwicklung der Neuroleptika auch Todesfälle nach der Verabreichung von Reserpin (Serpasil), die meist im Zusammenhang
151 PUH, PA 55/130, Verlaufsbericht vom 26.05.1955. 152 PUH, PA 55/130, Verlaufsbericht vom 27.05.1955. 153 In der Akte wird ein erhöhter Rest N Wert sowie ein erhöhter Harnsäurespiegel (108 beziehungsweise 7,5 mg) notiert. Die Senkung ist mit 2,20 beschleunigt, die Leukozyten auf 13.850 erhöht. Als Todesursache wird in der Akte festgehalten: »Es muß offen bleiben, ob noch ein maligner Prozess mit cerebraler Stauung vorgelegen hat, gegen den allerdings die relativ niedrige Senkung sprechen würde, oder ob auch bei der letzten unmittelbaren Todesursache eine Nierenbeteiligung eine Rolle spielte. Vom psychophathologischen aus wird man unter Berücksichtigung der Anamnese und des Zustandsbildes am ehesten doch eine Cerebralsklerose annehmen müssen, aber auch eine toxische Hirnbeteiligung beziehungsweise Metastasen nicht ohne weiteres verneinen können« (vgl. PUH, PA 55/130, Verlaufsbericht vom 28.05.1955). 154 PUH, PA 55/130, Schreiben der Klinik an die Krankenkasse vom 27.12.1955. 155 Zu dieser Diskussion vgl. II.3.
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mit Kombinationsverfahren auftraten.156 Doch auch die Chlorpromazinkur hatte den Tod einiger PatientInnen zur Folge. Bereits in der ersten Versuchsgruppe vom Jahr 1953 hatte Hans-Hermann Meyer den Tod einer Patientin nach Megaphenverabreichung beschreiben müssen. Auch hier war ein Blutdruckabfall und ein Leukozytenanstieg zu beobachten gewesen und schließlich ein Kreislaufversagen eingetreten. Die Todesursache sei aber letztlich unklar geblieben.157 Nach einer Durchsicht der Krankenakten der Heidelberger Psychiatrischen Universitätsklinik aus den Jahren 1958 bis 1961 konstatierte der Psychiater Heinz Häfner eine Todesrate der PatientInnen nach Neuroleptikamedikation von 0,7 Prozent.158 Der größte Teil davon sei seiner Meinung nach auf Thromboembolien und Infarkte zurückzuführen, aber auch ein plötzlicher Kollaps erkläre in einigen Fällen das Sterben der PatientInnen. Thrombosen hielt Häfner für die gefährlichsten Komplikationen, deshalb forderte er, dass die Behandelten soviel wie möglich auf den Beinen bleiben und auch an der Gruppengymnastik teilnehmen sollten.159 Diese Orientierung an Bewegung stand im deutlichen Gegensatz zur Heidelberger Praxis der Anfangsjahre, in der die PatientInnen aus Angst vor der erhöhten Kollapsneigung aufgefordert wurden, im Bett liegen zu bleiben. Die Durchsetzung der Liegekur war auch eng an die These von der Notwendigkeit des Schlafs im Zusammenhang mit der neuen medikamentösen Therapie gekoppelt. Es bleibt also zu vermuten, dass in den ersten Jahren die Todesrate aufgrund von Thrombosen durchaus höher gewesen ist als zum Zeitpunkt, als die PsychiaterInnen sich von der Vorstellung der Chlorpromazintherapie als »Winterschlafbehandlung« schon weitgehend gelöst hatten. Die Neuroleptikatodesfälle verdeutlichen darüber hinaus Pressmans Argument, dass moderne Therapien häufig erst aus der historischen Distanz als einfache Erfolge erscheinen, während sie zu Beginn hochriskante Verfahren darstellen.160
5.6 Kombinieren und experimentieren: d i e e r s t e n J a h r e d e r M e g ap h e n t h e r a p i e Insbesondere die Analyse der Akten aus dem Jahr 1955 verdeutlichte, dass die ersten Jahre der Erprobung vor allem darauf ausgerichtet waren, die 156 Liebaldt 1958. Als besonders gefährlich galt die Kombination mit dem Elektroschock, die schließlich auch als kontraindiziert angesehen wurde. 157 Meyer 1953a, S. 1099. 158 Häfner 1964. Er bezieht sich hier auf die Substanzen Chlorpromazin (Megaphen) und Reserpin (Serpasil). 159 Häfner 1964. Auch Labhardt 1954 berichtet von einem Todesfall nach Thrombose. 160 Pressman 1998, S. 6.
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Handlungsspielräume der psychiatrischen Behandlung zu erweitern. Nicht nur die Anwendung des ersten Neuroleptikums probierte man jetzt an weiteren Diagnosen aus, wie eine quantifizierende Beschreibung der Akten von 1955 und den Folgejahren zeigt, sondern auch die Form der Verabreichung wurde verschiedenen Modifikationen unterzogen. So lassen sich verschiedene Funktionen aufzeigen, die mit der Medikation stabilisiert werden sollten. Die Behandlung mit Megaphen diente nicht immer einer Wirksamkeitsbeschreibung des Medikaments selbst, sie wurde auch benutzt, um die Effekte anderer körperlicher Behandlungsformen in der psychiatrischen Klinik stabilisieren zu können. Auch der Psychiatrie sollte es ermöglicht werden, ein Set an körperlichen Behandlungsmöglichkeiten vorzuweisen, die zu einer Anerkennung der Disziplin als (Natur-)Wissenschaft führen konnte. Die Wichtigkeit und die Chancen, die eine solche Akzeptanz anderer medizinischer Disziplinen der US-Psychiatrie bereits zehn Jahre zuvor geboten hatte, verdeutlicht Jack Pressman an den Diskussionen über die Lobotomie.161 Zwar hatte sich die Psychiatrie in Deutschland seit ihrer Etablierung in den 1860er Jahren nicht mehr prinzipiell um eine Anerkennung als medizinische Disziplin bemühen müssen, andere Bereiche der Medizin wie die Chirurgie konnten aber gleichzeitig mit der neuen Medikation eindeutiger scheinende Erfolge aufzeigen. Diese wurden medial zunächst auch stärker wahrgenommen und präsentiert.162 Es ist außerdem hervorzuheben, dass die Heidelberger ÄrztInnen sich mit der Verwendung der lytischen Mischung klar von den Empfehlungen der französischen Psychiater Jean Delay und Pierre Deniker abgrenzten, welche die Anwendung dieser Medikamentenkombination ablehnten und einen Einsatz der Substanz allein propagierten.163 Vor diesem Hintergrund ist auch die bis Ende der 1950er Jahre dominierende Bezeichnung der Behandlung als »Winterschlaf« zu betrachten, welche die physiologischen und somit klar messbaren Effekte der Behandlung in den Mittelpunkt stellte. Damit sollte die Behandlung vermutlich auch an die in anderen medizinischen Disziplinen klarer zu fassenden Parameter anschließen, die leichter und unabhängig von der Rede des Patienten erhebbar schienen und sich deshalb als Indikationen der Anwendung
161 Pressman 1998, S. 363. 162 »Das Pulver 4560« In: Der Spiegel vom 15.04.1953; »Vorhang gegen den Schmerz«. In: Der Spiegel vom 22.06.1955. Erste Beurteilungen über den Einsatz von Chlorpromazin in der Psychiatrie waren jedoch weit vorsichtiger und verwiesen zudem auf Berichte aus den USA, obwohl das Mittel zum Zeitpunkt des Erscheinens des Artikels in der BRD bereits zwei Jahre im Handel war (vgl. »Pillen fürs Hirn«. In: Der Spiegel vom 24.08.1955). 163 Delay/Deniker 1952a.
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zunächst durchsetzen.164 Die Anlehnung an die Chirurgie und Anästhesie führte in der BRD zunächst offenbar zu einer größeren Akzeptanz einer in der Psychiatrie zu der Zeit kritisch betrachteten und schwierig zu evaluierenden Medikamententherapie. Eine angestrebte engere Anbindung an die übrigen medizinischen Fächer zeigt auch die Art der Verwendung: So übernahmen die Heidelberger PsychiaterInnen in einem Fall direkt die Verabreichungsform der Chirurgie,165 während sie in einem anderen Fall ohne eine psychiatrische Diagnose die medizinische Expertise der psychiatrisch tätigen ÄrztInnen zu untermauern suchte.166 Auch auf der Ebene der Aufschreibsysteme kann man nun leichte Modifikationen feststellen, welche die gut zu beobachtenden physiologischen Effekte von dem schwieriger zu fixierenden Begriff der Wirksamkeit als »heilsamer« Effekt auf die Verrückung des Denkens und Handelns abgrenzen sollten. Diese Trennung sauber durchzusetzen, erwies sich jedoch als schwierig, denn auch in den ersten Jahren der Erprobung ließ sich zeigen, dass sich die PatientInnen immer wieder zu den empfundenen Effekten der Medikation subjektiv in Beziehung setzten. Das Beispiel F.s verdeutlicht ein solches widerständiges Verhalten des Patienten, das eine Wirksamkeitsbeschreibung des Megaphens schließlich verunmöglichte. Die konfigurierenden Perspektiven von ÄrztInnen, Angehörigen und PatientInnen lassen die unterschiedlichen Aspekte hervortreten, die der Begriff von Wirksamkeit je nach Standpunkt annehmen kann. In diesem Sinne sind auch die als »psychologische Störfälle« bezeichneten subjektiven Reaktionen auf nicht erwünschte körperliche und vor allem psychische Veränderungen zu beschreiben, die durch das Medikament hervorgerufen wurden.167 Diese subjektive Positionierung der PatientInnen zu den medikamentösen Effekten ist, so meine These, konstitutiv für die Wirksamkeitsbeschreibung und von dieser nicht zu unterscheiden. Im Folgenden soll deshalb die erste Form der Wirksamkeitsbeschreibung noch einmal vor dem Hintergrund der gesamten PatientInnenstichprobe aufgezeigt werden.
164 Vgl. III.7.1. 165 PUH, PA 56/45. 166 Dies ist auch vor dem Hintergrund zu betrachteten, dass ein 1955 erschienendes Buch mit dem Titel »Künstlicher Winterschlaf« die Theorie des französischen Militärarztes Laborit, der das Mittel vor allem in der Anästhesie und Chirurgie einsetzte, in den Mittelpunkt stellte (vgl. Steinbereithner/Lembeck/Hift 1955). Zur Rolle der Theorie Laborits und ihrer Bedeutung vgl. Steinbereithner 1955a, 1955b, 1955c und 1955d. Zur Rolle des »künstlichen Winterschlafs« in der Psychiatrie vgl. Hift 1955. 167 So verweist allein schon die Bezeichnung des »psychologischen Störfalls« auf eine arztzentrierte Sichtweise.
Zw isc he nfa zit: H ybride Effe kte
Im letzten Abschnitt möchte ich meine These zur Wirksamkeitskonstruktion zusammenfassen. Dabei soll ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken, dass die neuroleptische Wirksamkeit immer erst im Kontext des Anstaltsalltags erzeugt und lesbar gemacht werden kann. Wie ich herausgearbeitet habe, bestimmte die konkrete lokale Praxis der ÄrztInnen einen ersten durch Zeugenschaft gebildeten Begriff von einer Wirksamkeit der Substanzen entscheidend mit. In diesen flossen in hohem Maße auch die kontextuellen Bedingungen und Bedeutungszuschreibungen von Arzt, Angehörigen und Patient mit ein. Der therapeutische Wert einer Substanz war also von den Kulturen seiner Verabreichung nicht zu trennen. Diese untrennbare Einheit von Kultur und Natur in der Konstitution einer (natur-) wissenschaftlichen Tatsache, als die man Wirksamkeitsvorstellungen sehen kann, hat Bruno Latour als Hybrid bezeichnet.1 Wie ich in Anlehnung an Latour formulieren möchte, ist das »natürliche Substrat« eines Begriffs von Wirksamkeit von den körperlichen Erfahrungen des Patienten und seiner subjektiven Aneignungsweise jedoch nicht zu trennen. Zu Beginn des Kapitels hatte ich den Begriff von Wirksamkeit als Zeugenschaft in Anlehnung an Foucault als Produkt einer Serie disziplinierender Verfahren beschrieben, mit denen der Patient normalisiert und an die Bedingungen des Versuchssettings angepasst werden soll. Zu dieser Versuchsanordnung gehörte auch, dass der Patient über die Effekte zum Sprechen gebracht werden sollte. Es zeigten sich die Schwierigkeiten einer solchen Wirksamkeitserfassung, da der Patient die Psychopharmakaeffekte nicht nur passiv erfährt, sondern aktiv mit beeinflusst. Hinsichtlich der Vorstellung von Wirksamkeit wurden am Beispiel der Heidelberger Universitätsklinik die verschiedenen Perspektiven derer, die an der Aushandlung von Wirksam1
Latour 2008.
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keit im Anstaltsalltag beteiligt waren, deutlich – die Perspektive von Arzt, Pflegepersonal, Angehörigen und insbesondere diejenige des Patienten.2 Erst durch die subjektive Aneignungsweise der psychotropen Effekte durch die Behandelten ist ein erster Begriff von Wirksamkeit als Zeugenschaft bestimmbar. Insbesondere die Beispiele von A., C. und F. konnten dabei zeigen, dass die Perspektive von ÄrztInnen und PatientInnen keinesfalls immer identisch ist, ein stabiler Wirksamkeitsbegriff aber immer durch den Arzt vom Patienten abgelesen werden muss. Dabei zeigten die Beispiele von A., E. und F., dass eine Wirksamkeitsbeschreibung häufig erst als Produkt einer mehrfachen Umdeutung der ursprünglich gestellten psychiatrischen Diagnose vorgenommen werden konnte. Ein zu generierender Wirksamkeitsbegriff der neuen Psychopharmaka ist in der Praxis deshalb von dem jeweiligen Stand des immer auch kulturell definierten psychiatrischen Krankheitsbegriffs mitbestimmt und bestimmt umgekehrt diesen mit. Die Frage, worauf die Medikation einwirken solle, bezieht sich nicht nur auf die zugrunde gelegte Ausgangsdiagnose, sondern auch auf den im Verlauf der Medikation stattfindenden Aushandlungsprozess, der eine Neufassung der Diagnose häufig erst als Folge der Effekte der Medikation vornimmt. Im Zuge dieser Veränderungen war die Tendenz festzustellen, psychiatrische Diagnosen vor allem als dasjenige zu fassen, worauf die Substanzen einwirken. Im folgenden Teil der Arbeit wird diese Verschiebung einer näheren Analyse unterzogen werden.3 Dass die unterschiedlichen Handlungen der PatientInnen in eine Wirksamkeitsdefinition mit eingehen, konnten aber auch die als »Komplikationen« gefassten Reaktionen der Versuchspersonen auf die Medikation verdeutlichen. Ein Begriff von Wirksamkeit ist von seinen unerwünschten Wirkungen jedoch nicht zu trennen. Darüber hinaus, lässt sich zusammenfassen, gehen in einen ersten Begriff der Wirksamkeit als Zeugenschaft jedoch neben den subjektiven Sichtweisen der ÄrztInnen auch die vielfältigen subjektiven Positionierungen von PatientInnen mit ein. Die Herstellung eines stabilen Begriffs von Wirksamkeit benötigt deshalb nicht nur die in Anlehnung an Foucault beschriebenen Subjektivierungstechniken. Erst über eine Normierung des Patienten können diese in eine stabile Sprache überführt werden. Die ersten Erfolge jenseits dieser Subjektivierung sichtbar zu machen, bedurfte verschiedener Übersetzungsleistungen, mit denen von den konkreten Erfahrungen und der Multiperspektivität abstrahiert werden musste. 2
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Vgl. auch die Ausführungen zu Callon 1986. Auch Cohen vertritt Ende der 1990er Jahre die These, dass neuroleptische Effekte erst aus einer Interaktion zwischen der Droge, dem Individuum und dem Kontext heraus herzuleiten sind, belegt diese These jedoch nicht anhand einer Studie der Interaktion zwischen Arzt und Patienten in der Klinik (vgl. Cohen 1997, S. 206ff.). Vgl. Teil II, 7.1.
ZWISCHENFAZIT: HYBRIDE EFFEKTE | 287
Bereits in den Aktennotizen über den Patienten werden dessen Äußerungen selektiert und hervorgehoben. Bestimmte Äußerungen werden als charakteristisches Verhalten für die Erstellung einer Diagnose wahrgenommen, andere rücken aus dem Blickfeld der notierenden ÄrztInnen. Diese Verwischung disparater Spuren in der Aktenführung wird durch eine zweite Translation, das Abfassen eines Artikels aus diesen Aufzeichnungen, weiter verstärkt. Diese muss von den konkreten Einträgen in der Akte abstrahieren, die zumindest noch Spuren des unterschiedlichen Erlebens von Arzt, Angehörigen und Patient enthält – gerade diese Erfahrungen verlieren sich meist als unübersetzbarer Rest zwischen den Übertragungen. Die mit Megaphen behandelten Heidelberger PatientInnen waren Teil einer langjährigen Reihe von Erprobungen, die erst über die Erprobung an verschiedensten Diagnosen und Kombinationen scheinbar stabile neuroleptische Effekte hervorbrachte. Doch wie ging man bei der Firma BAYER mit den klinisch-psychiatrischen Schwierigkeiten der klaren Festlegung eines neuroleptischen Wirksamkeitskriteriums um? Reichten die für die Heidelberger Universitätspsychiatrie beschriebenen brüchigen Erfolge für die Einführung und Vermarktung des als »psychiatrischer Wunderdroge« bekannt gewordenen Chlorpromazins aus? Im Folgenden soll die Genese von Indikationen beschrieben werden, die für Chlorpromazin – zurück aus der Klinik – im Pharmabereich der Firma BAYER gebildet werden mussten.
6 . Vom La bor in die Klinik und z urück : Me ga phe n im Spa nnungsfeld w echs elnde r Indikatione n
Die Indikationsfindung des neuen Wirkstoffs wurde in Deutschland in den ersten Jahren im Rahmen von Versuch und Irrtum vorgenommen. Dabei stand zunächst nicht eine psychiatrische Verwendung des Chlorpromazins im Vordergrund. Ein Blick in andere Länder zeigt, dass die BRD mit dieser Vorgehensweise keine Sonderstellung einnahm. Bereits Judith Swazey weist darauf hin, dass die Substanz in Frankreich im April des Jahres 1952 nicht für bereits bekannte psychiatrische Anwendungsgebiete zugelassen wurde, sondern die ersten drei Indikationsgebiete Schwangerschaftsübelkeit und Seekrankheit waren und der Wirkstoff darüber hinaus als Potenziator eingesetzt wurde. Eine vierte Indikation in der Psychiatrie sollte noch geprüft werden. Im Sommer desselben Jahres nahm man dann an, dass Anästhesie, Akute Manie und Übelkeit die Hauptanwendungsfelder seien. Man entschloss sich, dem Wirkstoff den Namen Largactil zu geben, um die extreme Spannbreite der Pharmakodynamik aufzuzeigen.1 In den USA ging der Zulassung entsprechend der nationalen Arzneimittelgesetzgebung, bereits eine längere Erprobung voraus. Seit Oktober des Jahres 1952 wurden in Nordamerika von der Firma SMITH, KLINE AND FRENCH LABORATORIES erste Testungen am Menschen in den Bereichen Übelkeit, Untertemperatur und in der Psychiatrie durchgeführt. Ab Januar 1953 erfolgten dann volle klinische Versuche in allen medizinischen Feldern, wobei erste klinisch-psychiatrische Erprobungen ab März des Jahres zur Anwendung kamen. Im Juli 1953 entschloss man sich in der Firma, Chlorpromazin unter dem Handelsnamen Thorazine in den USA zu
1
Swazey 1974, S. 137ff.; Chlorpromazine and Mental Health 1955.
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vermarkten.2 Zwischen Juli und Dezember 1953 kam es jedoch zu einer sogenannte »Sicherheitskrise« bei der Einführung von Chlorpromazin. Auftretende Fälle von Gelbsucht, Kreislaufschwäche und Hautkrankheiten sprachen zunächst gegen eine sofortige Zulassung. Ende des Jahres versicherte das Unternehmen SMITH, KLINE AND FRENCH LABORATORIES, diese Probleme unter Kontrolle zu haben, und beantragte bei der Food and Drug Administration (FDA) die Zulassung der Substanz. Zu diesem Zeitpunkt war der Wirkstoff Chlorpromazin bereits an 100 PatientInnen als Beruhigungsmittel und an 1.000 als Antiemetikum erprobt worden.3 Im März 1954 wurde die Substanz schließlich von der FDA als Antibrechmittel zugelassen, weitere Anwendungsfelder wie die Psychiatrie wurden als mögliche Einsatzgebiete mit aufgeführt. In der Nervenheilkunde überzeugte vor allem der Effekt auf die »manischen Phasen«, allerdings wurde kein Effekt des Wirkstoffs auf ängstliche Depressionen festgestellt. Bereits im Juli 1954 teilte RHÔNE-POULENC der produzierenden amerikanischen Firma mit, dass man glaube, das Medikament werde sich nicht als Antiemetikum, sondern im psychiatrischen Bereich am besten verkaufen.4 Dass die Rolle der Pharmazeutischen Industrie, hier insbesondere diejenige der Firma SMITH, KLINE AND FRENCH LABORATORIES, schon vor der Entwicklung des ersten Neuroleptikums in der Geschichte später als Psychopharmaka bekannt gewordener Medikamente eine große Rolle spielte, belegt Nicolas Rasmussen. So kann er aufzeigen, dass erste ursprünglich gegen Heuschnupfen und Asthma entwickelte Amphetamine in der Psychiatrie vor allem durch größere Innovationsbestrebungen der entwickelnden Firma SMITH, KLINE AND FRENCH LABORATORIES möglich wurden und dort über ihre Verwendung als erste Antidepressiva zu Ruhm gelangten.5 Chlorpromazin kam außerhalb der BRD, wie die kurze Zusammenfassung aufzeigt, in den ersten Jahren also nicht in erster Linie als psychiatrisches Medikament zur Anwendung. Im Folgenden werde ich die Indikationsfindung der Substanz in der Bundesrepublik Deutschland in den ersten fünf Jahren beschreiben. Dabei ließen sich die gesamten Veröffentlichungen zu Chlorpromazin in Deutschland anhand einer Datenbankanalyse
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Swazey 1974, S. 168ff. Im gleichen Monat wird das Medikament in Deutschland von der Firma BAYER zugelassen. Diese vergleichsweise geringe Zahl entspricht ungefähr auch derjenigen der in Deutschland vor Markteinführung vorgenommenen Erprobungen. Swazey 1974, S. 175ff. In der Schweiz, in der man, wie ich bereits ausführte, das Mittel bereits seit Beginn des Jahres 1953 auch in der Psychiatrie austestete, wurde Chlorpromazin auch von der Firma RHÔNE-POULENC vertrieben. Rasmussen 2006, S. 295ff.
WECHSELNDE INDIKATIONEN | 291
rekonstruieren.6 Es zeigte sich, dass zu Megaphen in den ersten Jahren lediglich jede fünfte Veröffentlichung aus dem Bereich der Psychiatrie stammte.7 Die nachfolgende Analyse wird die Indikationsfindung und Veränderung dabei weitestgehend aus der Sicht der Vermarktungsstrategie der Firma BAYER beschreiben, wobei ich auf Material aus dem Unternehmensarchiv der Firma zurückgreife.8
6.1 Erregung, Erbrechen, Schmerz: d i e W e r b u n g d e r F i r m a B AY E R 1 9 5 3 – 1 9 5 6 Bereits mit der Markteinführung des Medikaments im Juli 1953 wurde eine erste Produktbroschüre der Firma BAYER mit dem Titel »Megaphen. Neuroplegicum« lanciert.9 Der Begriff des Neuroplegicums bezeichnet die breiteren Effekte des Wirkstoffs, die eine Beruhigung des Gesamtnervensystems umfassen, und hebt sich damit vom psychiatrischen Begriff des Neuroleptikums ab, der sich erst Ende der 1950er Jahre durchsetzen sollte.10 Dieser Bezeichnung gemäß wurden von BAYER vielfältige Indikationen des Wirkstoffs angegeben. In der Broschüre nahm die Chirurgie den ersten Platz als zentrale Indikation ein.11 Vor allem eine Verwendung des Mittels zur NarkosePrämedikation,12 als Mittel zur Potenzierung der Narkose,13 zur Durchfüh6 7 8
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So ergab eine Suchanfrage zu Megaphen bis zum Jahr 1960 bei Oldmedline circa 200 Veröffentlichungen. Insgesamt waren dies 40 Veröffentlichungen. Das mir im Archiv der Firma BAYER zur Verfügung stehende Material umfasste vor allem Sonderdrucke von Artikeln, welche die Firma BAYER verschickte, Informationsbriefe an ÄrztInnen, Produktbroschüren und Werbematerial. Einen Schriftwechsel zwischen den PharmakologInnen der Firma BAYER und den erprobenden ÄrztInnen konnte ich leider nicht einsehen, da im Archiv kein solcher existiert und auch sonst nicht recherchierbar war. BAYER ( o.J [1953]). Die Angabe des Erscheinungsjahres ist meine Schätzung, die sich aus der Sichtung der im Anhang aufgelisteten Literatur, die lediglich Veröffentlichungen bis zum Beginn des Jahres 1953 aufführt, herleitet. Eine spätere Produktbroschüre der Firma zum Einsatz von Megaphen in der Psychiatrie formuliert diese »Vielfalt an Wirkungen« die »polyvalent und komplex« seien, als neuroplegisch. Zur Behandlung mit Megaphen in der Psychiatrie werde in der psychiatrischen Literatur die Bezeichnung Neuroleptikum gewählt (vgl. BAYER-Produktbroschüre »Megaphen in der Psychiatrie« (1957); Schadewaldt/Morich 1990, S. 44ff.). Zur Ersterprobung in diesem Bereich und zur Erstveröffentlichung vgl. Irmer/Koss 1953. BAYER-Broschüre »Megaphen. Neuroplegicum« (1953), S. 24. Die Kombinationsmischung, die man für die potenzierte Narkose vorschlägt, liest sich als vergleichbar mit jener, die man in der Heidelberger Klinik an-
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rung eines »künstlichen Winterschlafs«14 und zur Beruhigung postoperativer psychomotorischer Erregung wurde propagiert. Als zweites zentrales Anwendungsgebiet wurde in dem Heft die Geburtshilfe hervorgehoben. Geburtserleichterung, Beschleunigung des Geburtsvorgangs und eine Minimierung der Gebärschmerzen, Eklampsie und Schwangerschaftserbrechen benannte man hier als zentrale Einsatzgebiete des Arzneimittels. Erst als drittes Anwendungsgebiet gab man die Verwendung der Substanz in der Psychiatrie an. In diesem Bereich könne Megaphen auch in Verbindung mit Hypnotika zur Durchführung einer Schlafkur verwendet werden – ein Einsatz, der sich in Heidelberg in den ersten Jahren durchweg fand.15 Als Hauptindikationen für Megaphen in der Psychiatrie nannte die Broschüre – wohl in Anlehnung an die Berichte aus Frankreich – die »manische Erregung« und »akute Manie«. Des Weiteren wurden Verwirrtheits-, Angst- und Depressionszustände aufgeführt. Erst an dritter Stelle wurden »gewisse Delirien und Halluzinationen« als Anwendungsfelder genannt.16 Die in dieser Broschüre vorgeschlagene Tagesdosierung von 50–100 mg ist als sehr niedrig angesetzt anzusehen und wurde von den Heidelberger PsychiaterInnen weit überschritten. Auch wurde in dieser Broschüre eindringlich auf die Notwendigkeit der Bettruhe im Bereich der Psychiatrie verwiesen.17 Die in der Ärzteinformation aufgeführten Einsatzgebiete umfassten die Innere Medizin und die Neurologie, die Pädiatrie und die Dermatologie.18 Eine im Februar 1954 herausgegebene zweite Fassung der Produktbroschüre wich von diesen Empfehlungen im Wesentlichen nicht ab.19 Auch E. Mercks Jahresberichte aus dem Jahr 1953, die man als Stand der Forschung im Bereich der bundesdeutschen Pharmakologie bezeichnen könnte, verwiesen zunächst auf den Einsatz im Bereich der Chirurgie, Gynäkologie, Inneren Medizin und Kinderheilkunde. Erst an fünfter Stelle nannten die AutorInnen die Psychiatrie. Auch hier wurde der Einsatz der Substanz für die potenzierte Narkose mittels einer »lytischen Mischung«, bestehend aus Megaphen und Atosil, beschrieben.20 Die Rote Liste fasste im gleichen Jahr schließlich folgende Indikationen als Anwendungsgebiete des neuen
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wendete. So mischte man auch hier Megaphen (50 mg), Atosil (50 mg) und Dolantin (100 mg). Eingesetzt vor allem bei traumatischem Schock. Allerdings fand sich in Heidelberg nicht die in der Produktbroschüre der Firma BAYER vorgeschlagene Mischung von Megaphen mit Atosil, Latibon und Barbituraten (wie zum Beispiel Luminal, Evipan-Natrium). BAYER-Broschüre »Megaphen. Neuroplegicum« (1953), S. 33. Es bleibt zu vermuten, dass Hans-Hermann Meyer den berichteten Todesfall, über den er 1953 publiziert hatte, auch der Firma BAYER meldete. BAYER-Broschüre »Megaphen. Neuroplegicum« (1953). BAYER-Broschüre 1954. Merck 1954, S. 291ff.
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Medikaments Megaphen von BAYER zusammen: Narkosevorbereitung, potenzierende Narkose, kontrollierte Hypothermie, Hyperemesis gravidarium, Eklampsie, Erregungs-, Angst- und Depressionszustände, zentral bedingtes Erbrechen, Schmerzbekämpfung und juckende Dermatosen.21 Die Lancierung des Produkts bezog sich, wie schon ein Vergleich mit anderen Ländern nahelegte, auch in der Marketingstrategie der Firma BAYER zunächst auf medizinische Bereiche jenseits der Psychiatrie. Ähnlich wie in den USA konnte der Leser kurz nach der Registrierung und Markteinführung der Substanz eine kritische Reflexion der unerwünschten Wirkungen der Phenothiazine finden, die sich vielleicht auch als erste bundesdeutsche »Sicherheitskrise« beschreiben ließe. Mancherlei Gefahren und Nebenwirkungen würden dabei, wie in E. Mercks Jahresberichten konstatiert wurde, zu einer kritischen Beurteilung der Phenothiazine führen. Die zusammengefassten unerwünschten Effekte der »Winterschlafmischung« werden abschließend folgendermaßen pointiert: »Aus der großen Anzahl verschiedenartigster Nebenwirkungen, auch wenn sie nur gelegentlich und vereinzelt auftreten, kann erkannt werden, dass die geschilderten Methoden nicht in jedem Fall den gewünschten Effekt haben. Von einigen Autoren wurden auch Todesfälle veröffentlicht, die dem neuen Verfahren zur Last gelegt werden müssen.«22
Die genannten Komplikationen ließen BAYER jedoch nicht von einem weiteren offensiven Marketing von Megaphen Abstand nehmen. Die Produktwerbung der Firma wich dennoch in ihrer Schwerpunktsetzung durchaus von derjenigen anderer Länder ab. Auch wenn der Einsatz als Antiemetikum eine Rolle spielte, fokussierte BAYER sich zunächst auf den Bereich der Chirurgie und Anästhesie. In den frühen 1950er Jahren gab BAYER eine eigene Produktbroschüre für diesen Bereich heraus, die neben den bekannten Indikationen vor allem die postoperative Nachbehandlung und die Anwendung in verschiedenen klinischen Teilbereichen der Chirurgie in den Vordergrund stellte.23 Aber auch die in der Roten Liste bereits erwähnte Schmerzbekämpfung wurde von BAYER in verschiedensten Formen deutlich in den Mittelpunkt gestellt. So wurde in einem Brief an praktische Ärzte, Internisten und Gynäkologen die effektive Schmerzreduktion durch Megaphen besonders hervorgehoben. Durch die Verwendung von Megaphen gegen Schmerzen könnten, so wird berichtet, gut zwei Drittel der Opiate bei Karzinomerkrankungen eingespart werden. Die Verkopplung der psychotropen Effekte der Substanz mit dem subjektiven Schmerzerleben wird wie folgt zusammengefasst: »Wahrscheinlich wirkt 21 Rote Liste 1954. 22 Merck 1954, S. 297. 23 BAYER-Broschüre »Megaphen in Chirurgie und Anästhesie« (o. J.).
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Megaphen auch dadurch, daß es das Verhältnis des Patienten zu seinen Schmerzen verändert.«24 Die vielfältigen positiven Effekte, die von BAYER herausgehoben wurden, vermarktete man insbesondere für Frauen und Kinder. So nahm die Firma die spezielle Passgenauigkeit des Medikaments für die Probleme von Letzteren besonders in den Blick.
»Das Andere« in der Produktvermarktung des Megaphens: Frauenheilkunde, Geburtshilfe und Kinderheilkunde Es ist hervorzuheben, dass Megaphen in den ersten Jahren in besonderer Weise für frauenspezifische Probleme beworben wurde, bei denen sich Anwendungsgebiete wie Übelkeit und Schmerz kreuzten. Bereits im Jahr 1955 formulierte eine von der Firma BAYER herausgegebene Produktbroschüre an Allgemeinmediziner zu den Einsatzgebieten des Wirkstoffs: »Schwangerschaftserbrechen kann als eine der sichersten und erfolgreichsten Indikationen bezeichnet werden.«25 Beate Kirk weist darauf hin, dass ÄrztInnen psychotrope Medikamente in den 1950er Jahren häufig auch in der Schwangerschaft verabreichten. So wurde das Schlafmittel Contergan zum Großteil von Frauen in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten eingenommen, weshalb das Mittel in besonderer Weise die bekannt gewordenen fruchtschädigenden Effekte zeigen konnte.26 Für Chlorpromazin und andere Neuroleptika fanden ForscherInnen in den nach dem Conterganskandal angestellten Untersuchungen eine solche Schädigung des Embryos nicht, auch wenn eine Gabe während der Schwangerschaft trotzdem kritisch diskutiert wurde. Bei nicht schwangeren Frauen propagierte BAYER den Einsatz von Megaphen vor allem bei schmerzhaften Regelblutungen. So formuliert die genannte Broschüre zum Einsatz im Rahmen des Menstruationszyklus: »Die Patientinnen befinden sich schon einige Tage vor der Menstruation in einem angespannten Angstzustand [...]. Orale Megaphen-Gaben, mit deren Einnahme circa 2–3 Tage vor der zu erwartenden Menstruation begonnen wird, eventuell in Kombination mit Analgetica und Spasmolytica, können eine entscheidende Wendung bringen.«27
In diesem Produktmarketing zeigt sich eine enge Kopplung der Schmerzen, welche die Frauen erleiden, mit vermeintlichen damit einhergehenden 24 BAYER-Brief »Megaphen« an praktische Ärzte, Internisten, Gynäkologen und Neurologen vom 10.08.1956. 25 BAYER-Broschüre »Megaphen in der Allgemeinmedizin« (1955). 26 Kirk 1999. 27 BAYER-Broschüre »Megaphen in der Allgemeinpraxis« (1955), S. 6.
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Ängsten. Das psychische Leiden der Frauen an spezifisch weiblichen körperlichen Vorgängen wurde ins Zentrum der Werbung gestellt. Die Effekte des Megaphens vermarktete BAYER also vor allem in Bezug auf den fruchtbaren Leib der Frauen. Die geschilderten Komplikationen des (alltäglichen) Frauenlebens wurden so mit dem Versprechen der Freiheit von körperlichen und psychischen Leiden in Verbindung gebracht. Die Angriffspunkte dieses (fruchtbaren) Frauenkörpers bildete die Thematisierung der Menstruationsschmerzen, der Mühen der Schwangerschaft und der Geburt. Es verwundert also nicht, dass Megaphen auch eine einfache Geburt möglich machen sollte. Ein Schreiben, das die Firma BAYER an praktische Ärzte und Gynäkologen versandte, verdeutlich dies eindrücklich: »Sie können heute eine für Mutter und Kind wahrhaft königliche Geburt einfacher mit MEGAPHEN erreichen. Durch MEGAPHEN wird die Mutter psychisch beruhigt und ihr Schmerz gewissermaßen entpersönlicht.«28 Die Lösung des Schmerzes von seiner subjektiven Bedeutung, die schon in der eingangs ausgeführten Schmerzbekämpfung Erwähnung fand, bekommt hier mit der Geburt ein weiteres Anwendungsfeld zugewiesen. In den genannten Anwendungsbereichen, die die reproduktiven Tätigkeiten der Frauen betreffen, ist der kindliche Körper jedoch nicht wegzudenken. So wird von BAYER betont, das Medikament wirke auch gegen Säuglings- und Kleinkinderbrechen sehr gut.29 Ein eigens an Pädiater, Allgemeinärzte und Internisten verschicktes Schreiben verdeutlichte darüber hinaus auch die Erleichterung des stressigen (Behandlungs-)Alltags mit Kindern, indem das Schreiben Megaphen als idealen »stummen Assistenten« in jeder Arztpraxis preist.30
Zwischen Chirurgie, Gynäkologie und Allgemeinpraxis: die ersten Jahre des Megaphens Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Megaphen in den ersten Jahren kaum für den Bereich der Psychiatrie vermarktet wurde. Psychiatrische Indikationen werden in den Broschüren erst nachrangig erwähnt, sie sind zudem wenig speziell. Es existierte auch in der ersten Zeit keine einschlägige Produktbroschüre für das Medikament, die für einen Einsatz in der Psychiatrie wirbt. Ins Zentrum der Werbung stellte BAYER hingegen die verschiedenen Funktionen von Megaphen in der Chirurgie, der Anästhesie, der Inneren Medizin, sowie der Pädiatrie und Gynäkologie. Hier wurden die Effekte der Medikation offensichtlich als erfolgversprechender angesehen als im Bereich der Psychiatrie, wo man die Effekte erst sekundär 28 BAYER-Brief an praktische Ärzte und Gynäkologen vom 31.08.1956. Hervorhebungen im Original. 29 BAYER-Broschüre »Megaphen in der Allgemeinpraxis« (1955), S. 6. 30 BAYER-Brief an praktische Ärzte, Internisten und Pädiater vom 14.09.1956.
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vermarktete. Einen stabilen psychotropen Effekt messbar zu machen, war in der Psychiatrie in besonderer Weise problematisch, so dass ein pharmakologischen Kriterien genügender Wirksamkeitsnachweis in den ersten Jahren nicht gelang.31 Auch deshalb stellte BAYER in der Vermarktung vermutlich zunächst Reaktionen auf das Medikament in den Vordergrund, die man glaubte, objektiver fassen zu können. So wurde die Übererregbarkeit bei »Asthma bronchiale« für die Vermarktung der Substanz zunächst eine zentralere Indikation als die psychiatrische »Erregung«. Zwar lässt sich ein zweiseitiges Sammelreferat von 1955 finden, das auf die positiven Effekte im Bereich der Psychiatrie verweist,32 dies führte aber nicht zu einer Fokussierung des Marketings auf den Bereich der Psychiatrie. In diesem Bereich ließen sich zunächst auch kaum Beweise für die Wirksamkeit des Medikaments aufzeigen, die in hohem Maße von der Komplizenschaft der PatientInnen abhängig waren, die über die Effekte der Medikation auf ihr Erleben Auskunft zu geben hatten. Abbildung 2 verdeutlicht die vielfältigen Einsatzformen des Megaphens. Abb. 2: Dosierungsdrehscheibe der Firma Bayer für Megaphen Quelle: Unternehmensarchiv der Firma Bayer, Bestand Megaphen
Gleichzeitig lässt sich für das Jahr 1956 eine zweite »Sicherheitskrise« des Medikaments beobachten, die nun auch von der Firma BAYER registriert
31 Vgl. ausführlich Teil II, 2.3. 32 Sammelreferat »Megaphen in Psychiatrie und Neurologie«. Sonderdruck in: Therapeutische Berichte 1955, Bd. 27, Nr. 54, o. S.
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wurde. So formuliert ein Schreiben des Unternehmens an Ärzte, dass sich aus den USA die Berichte über Fälle von Gelbsucht nach Megaphenverabreichung häuften. Anlass für den Rundbrief an MedizinerInnen war der Artikel eines Arztes aus dem Stadtkrankenhaus Kassel in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift, in dem über einen tödlichen Zwischenfall nach der Verabreichung eines Medikamentencocktails mit Megaphen berichtet und die Substanz als »lebertoxisch« beschrieben wurde. BAYER bemühte sich in der Folge um Schadensbegrenzung. Dem geschilderten Schreiben wurden einige Sonderdrucke beigelegt, die belegen sollten, dass es durch Megaphen allein nicht zu einer schweren Leberschädigung komme. Was jedoch im Falle einer Vorschädigung der Leber unter anderem durch Alkohol zu tun sei, so wurde eingeräumt, könne man »schwer beantworten«.33 Die Effekte des Medikaments in der Psychiatrie überhaupt standardisierbar zu machen, sollte gerade in den 1960er Jahren ein zentrales Thema werden. Eine eigentliche Fokussierung des Produktmarketings auf den psychiatrischen Bereich lässt sich jedoch erst ab 1957 beobachten.
6 . 2 D a s Au f k o m m e n p s yc h i a t r i s c h e r I n d i k a t i o n e n in der Vermarktung ab 1957 Kurz nach der Jahreswende versuchte die Firma BAYER, sich einen Überblick über die Verwendung der Substanz in psychiatrischen Anstalten zu verschaffen. In einem internen Rundschreiben an die einzelnen Zweigstellen des Unternehmens formulierte die Marketingabteilung das Ziel, das Verkaufsjahr 1956 zu analysieren und bat die einzelnen Abteilungen, Lieferungen von Megaphen an Heil- und Pflegeanstalten aufzulisten.34 Zwar fanden sich keine entsprechenden Dokumentationen des Verbrauchs der Anstalten in der Überlieferung des BAYER-Archivs. Das Schreiben verdeutlicht jedoch, dass BAYER der psychiatrischen Verwendung mehr Beachtung zu schenken bereit war, wenngleich die Vermarktung der Substanz in diesem Bereich immer noch ziemlich vorsichtig ausfiel. Auch in E. Mercks Jahresberichten von 1954/1955 fand sich keine wesentliche Änderung zu den 1953 geschilderten Anwendungsbereichen.35 Erst in den Jahresberichten von 1956/1957 wurde über die Phenothiazine berichtet: »In jüngerer Zeit hat sich ein neues großes Indikationsgebiet herausge-
33 BAYER-Rundschreiben Nr. 4, »Betr.: Megaphen/Leberfunktion« vom 02.02.1957. 34 BAYER-Rundschreiben Nr. 9, »Betr: Megaphen/Heil- und Pflegeanstalten« vom 10.01.1957. 35 Merck 1955.
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schält, nämlich psychotische Krankheitsbilder in verschiedener Art und Schwere.«36 Ein von der Firma BAYER herausgegebenes Buch mit dem Titel »Megaphen. Forschung–Klinik–Praxis« aus dem Jahr 1958 schildert den Einsatz in der Psychiatrie dennoch nur kurz, während andere Bereiche wie die Chirurgie und Anästhesie, Gynäkologie und Geburtshilfe oder die Kinderheilkunde nach wie vor einen weit größeren Raum einnehmen.37 Schon die Einleitung des Artikels zur Psychiatrie, der vermutlich von Hans-Hermann Meyer verfasst wurde, problematisiert die stabile Erfassung der psychotropen Effekte der Substanz, wagt aber eine erste vorsichtige Einschätzung. So führt der Autor aus: »Die Beurteilung medikamentös-therapeutischer Maßnahmen auf psychische Erscheinungen ist schwierig und in vielen Fällen recht subjektiv. Es sind jetzt über 6 Jahre klinischer Erprobung der Wirkung der Phenothiazin-Derivate auf die Psychosen vergangen – eine ausreichend lange Zeit, um einen gewissen kritischen Überblick auf die Einwirkung dieser Stoffe auf psychotische Erscheinungen geben zu können.«38
In dem Artikel wird vor allem ein Effekt der Substanz auf »Zyklothymien« und die verschiedenen »schizophrenen Formen« konstatiert. Während für »Zyklothymien« die Effekte des Megaphens als am günstigsten auf »Manien« wirkend besprochen wurden und man zumindest depressive Angst und Erregungszustände mit der Substanz günstig zu beeinflussen meinte, bleibe die reine »Depression« nach Einnahme der Substanz unverändert. Im Bereich der Schizophrenien fänden sich hingegen sehr unterschiedliche Effekte des Medikaments auf die einzelnen Unterformen. Darüber hinaus glaubte Meyer eine – wenn auch in vielen Fällen symptomatische – Wirkung auf den Bereich der Schizophrenien beobachten zu können.39 Im gleichen Jahr brachte BAYER auch eine Produktbroschüre für den Bereich der Psychiatrie auf den Markt. Die Konzeption des Heftes richtete sich sowohl an AllgemeinärztInnen, die in ihrem Behandlungsalltag mit psychiatrischen Problemen konfrontiert waren, als auch an AnstaltspsychiaterInnen. Im Bereich der Allgemeinmedizin wurde die Substanz vor allem für die in den 1950er Jahren bedeutsamen sozialen Probleme vermarktet, mit 36 Merck 1957, S. 290. 37 So werden dem Einsatz von Megaphen in der Psychiatrie lediglich 12 Seiten eingeräumt, während der Einsatz in der Kinderheilkunde über 30 Seiten einnimmt (vgl. BAYER circa 1958). 38 BAYER circa 1958, S. 194. Der zusammengefasste Artikel ist inhaltlich deckungsgleich mit einem von Hans-Hermann Meyer im gleichen Jahr veröffentlichten Beitrag (vgl. Meyer 1958). 39 Vgl. BAYER circa 1958, S. 196.
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denen sich der praktisch tätige Arzt konfrontiert sah. Das Augenmerk richtete sich dabei vor allem auf die häusliche Pflege älterer und »psychisch kranker« Menschen. Für die Behandlung alter PatientInnen mit Megaphen hob die Broschüre hervor, dass diese sich mittels der Medikation wieder störungsfrei in die häusliche Umgebung einfügten. In diesem Sinne wird in der Broschüre propagiert: »Bei vorsichtig einschleichender Megaphen-Dosierung legt sich der Bewegungsdrang der ruhelosen alten Patienten. Die oft zu beobachtende Reizbarkeit, die Zornesausbrüche und die regulären Erregungszustände werden unter der Megaphen-Behandlung seltener, um schließlich ganz einer ausgeglichenen Ruhe Platz zu machen.«40
Die Werbung setzte dabei gezielt an den Problemen der Zeit an. Wie bereits beschrieben wurde, waren die Probleme des Alters aufgrund der stetig steigenden Lebenserwartungen im 20. Jahrhundert und einer großen Lücke im Bereich der mittleren Generation durch die Todesrate in den beiden Weltkriegen im Rahmen tradierter Familienstrukturen kaum noch zu bewältigen. Der gemeine »auffällig« gewordene alte Mensch sah sich nicht mehr einer ihn versorgenden Großfamilie gegenüber. Gleichzeitig nahm die Zahl der verwirrten Alten durch die höhere Lebenserwartung ständig zu. Die Versorgung als »schwierig« wahrgenommener alter Menschen war im Alltag der Allgemeinpraxis und der Angehörigen somit ein Feld, das eine hohe Absatzquote des Medikaments versprach. Doch wie sah es im übrigen Bereich der Psychiatrie aus? Auch hier lässt sich beobachten, dass die Pflegebereitschaft von ÄrztInnen und Angehörigen und ihre Bedürfnisse in den Mittelpunkt der Vermarktung gestellt wurden. So erläutert die Broschüre den Einsatz des Wirkstoffs in der psychiatrischen Allgemeinpraxis wie folgt: »Unter Berücksichtigung der Tatsache, daß sich geisteskranke Patienten beziehungsweise deren Angehörige oft sehr schwer zu einer stationären Behandlung in einer Nervenklinik oder Heilanstalt entschließen, gewinnt die Megaphen Therapie insofern an Bedeutung, als unter der neuroleptischen Wirkung eine schonende und erfolgreiche Behandlung auch ambulant möglich ist. [...] Da akute Erregungszustände prompt beherrscht werden können und somit praktisch kaum noch zum Ausbruch kommen, ist eine erfolgreiche Behandlung verschiedener Geistesstörungen entweder zu Hause oder aber in einem allgemeinen Krankenhaus statt einer Irrenanstalt möglich.«41
40 BAYER-Broschüre »Megaphen in der Psychiatrie« (1957), S. 8. 41 BAYER-Broschüre »Megaphen in der Psychiatrie« (1957), S. 9.
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Mit der Verwendung alter, eigentlich nicht mehr gebräuchlicher Begriffe wie »Irrenanstalt« knüpfte die Broschüre mit den geschilderten Ausführungen an die Ängste der Bevölkerung vor einer Einweisung in die psychiatrische Anstalt an. Thorsten Noack hebt hervor, dass eine Kritik an der stationären Psychiatrie in den 1950er Jahren ein zentrales Thema in zahlreichen populären Zeitschriften war. In den Artikeln wurde der Alltag in der Anstaltspsychiatrie meist als unmenschlich und grausam beschrieben und die Angst der Bevölkerung thematisiert, »unschuldig« in die Psychiatrie eingeliefert zu werden.42 Die Vermarktung der Substanz fokussierte damit zum einen auf die Angst der Bevölkerung vor einer Psychiatrieeinweisung, zum anderen aber auch auf die Bedürfnisse der pflegenden Angehörigen, denen der Schrecken der häuslichen Pflege mit dem Versprechen einer »schonenden« medikamentösen Behandlung der PatientInnen genommen werden sollte. Für die Behandelten bildete die häusliche Pflege durch Angehörige meist die einzige Alternative zu der Internierung in einer Heil- und Pflegeanstalt, da ambulante psychiatrische Einrichtungen in den 1950er Jahren in der BRD kaum existierten.43 Auch im Bereich der Anstaltspsychiatrie wagte die Marketingabteilung von BAYER inzwischen, das Mittel offensiv zu vermarkten.44 Hier wurden vor allem akute manische Erscheinungen als Hauptindikationsgebiet benannt und betont, dass auch bei chronischen Patienten die Heilung möglich sei. Weitere akute Psychosen würden ebenfalls gut auf die Behandlung ansprechen. Andere psychiatrische Indikationen erwähnte man eher beiläufig.45 Als Vorzug für den Patienten wurde die Minimierung von psychiatrischen Restraints wie Zwangsfixierungen beschrieben. Aber auch das Pflegepersonal könne mit einer Abnahme der Zerstörung von Einrichtungsgegenständen durch die erregten Patienten rechnen und auf ruhigeren Stationen die Vorzüge der Medikamentenwirkungen genießen. Zusammenfassend gesehen schildert die Broschüre die positiven Effekte der Medikation auch in diesem Fall vor allem aus dem Blickwinkel der Außen42 Noack 2006. 43 Schmiedebach et al. 2002. 44 »Nach den klinischen Erfahrungen der letzten Jahre kann Megaphen als eines der wirksamsten Medikamente bei den psychiatrischen Behandlungsmethoden bezeichnet werden. Die psychiatrische Therapie hat mit Megaphen eine wesentliche Bereicherung erhalten und damit wieder einen großen Auftrieb erfahren« (vgl. BAYER-Broschüre »Megaphen in der Psychiatrie« (1957), S. 13). 45 Die Broschüre enthält inhaltlich vor allem die schon im Buch »Megaphen. Forschung – Klinik – Praxis« beschriebenen Ergebnisse. Als weitere Anwendungsbereiche werden aufgeführt: »Psychotische Erregung bei organischen Hirnstörungen, Entziehungskuren (milderer Verlauf), Psychopathien, Neurosen (in Kombination mit Psychotherapie), Epileptische Dämmer- und Ausnahmezustände (nur zusammen mit Antiepileptika)« (vgl. BAYERBroschüre »Megaphen in der Psychiatrie« (1957), S. 14).
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welt. So wird pointierend am Ende des Abschnittes zusammengefasst: »Der Patient wird durch die Megaphenverabreichung in weit größerem Maße und schneller als früher für die Gesellschaft tragbar.«46 Im Verlauf des Jahres 1957 wagte man auch weitere Mischpräparate mit dem neuen Wirkstoff auszuprobieren. Mitte des Jahres lancierte die Firma BAYER Megaphen compositum, eine Kombination aus Chlorpromazin, Reserpin und Atosil.47 Dieses Produkt zielte von Anfang an direkt auf den psychiatrischen Markt ab und wurde als passgenau wirksam für die »großen Psychosen« beschrieben.48 Auch die Rote Liste führte seit der ersten Erwähnung der Substanz im Jahr 1959 vor allem psychiatrische Indikationen an.49 Mit der Entwicklung der Medikamentenmischung, die vor allem aus den zeitgenössisch bekannten ersten Neuroleptika Chlorpromazin und Reserpin bestand, zeigte die Firma BAYER, dass sie die Bedürfnisse der KlinikerInnen gekonnt in ihre Produktentwicklung aufzunehmen verstand, denn eine Kombination beider Substanzen war in der psychiatrischen Praxis in den ersten Jahren nach ihrer Entwicklung immer wieder ausprobiert worden. Das Unternehmen konnte so von der bereits bekannten klinischen Verwendung der Substanzen profitieren, was der Firma eine kostenintensivere eigene Erprobung ersparte. In einem Rundbrief des Unternehmens wurde bereits kurz vor Markteinführung der neuen Substanz festgehalten, dass ein Großteil der PsychiaterInnen sich bereits positiv über die neue Kombination ausgesprochen habe, »so daß eine längere Prüfung nicht erforderlich ist«.50 Die Entwicklung von Megaphen compositum zeigt aber auch, wie eng die pharmazeutische Industrie und die (psychiatrische) Klinik in der Produktentwicklung kooperierten. Dies ermöglichte BAYER, ein eigentlich schon bekanntes, aber einfacher zu handhabendes Mittel auf den Markt zu bringen, das sie gezielt auf die Bedürfnisse der PsychiaterInnen zuschnitten. Mitte der 1960er Jahre fasste BAYER die Verwendung von Megaphen und Megaphen compositum schließlich zusammen. Der Einsatzbereich in 46 BAYER-Broschüre »Megaphen in der Psychiatrie« (1957), S. 13. 47 Die Atosilbeimischung diente hier vor allem der Minimierung des Parkinsonsyndroms, dass man inzwischen auch bei BAYER selber problematisiert (vgl. BAYER-Rundbrief an die BAYER-Pharma Büros. »Betr.: MegaphenKombination II« vom 12.07.1957. Weitere Informationen finden sich in einer Produktbroschüre »Megaphen comp.« [circa 1957]). 48 BAYER-Rundbrief an die BAYER-Pharma-Büros. »Betr.: Megaphen-Kombination II« vom 12.07.1957, Produktbroschüre »Megaphen comp.« (circa 1957). 49 »Megaphen Compositum”. In: Rote Liste 1959, S. 516. Auch für das einfache Megaphen wird 1959 das erste Mal »Neurolepsie« als erste Indikation genannt (vgl. Rote Liste 1959, S. 515). 50 BAYER-Rundbrief an die BAYER-Pharma-Büros. »Betr.: Megaphen-Kombination II« vom 12.07.1957. Aus dem gleichen Grund meint man auch auf ein aufwendiges Exposé verzichten zu können.
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der Psychiatrie sei die primäre Indikation, wobei die Firma sich insbesondere auf die Endogenen Psychosen, Erregung und Verwirrung fokussierte. Erst als zweites Einsatzgebiet wurde die Chirurgie genannt. Im Folgenden werden die bekannten Anwendungsfelder der Geburtsvorbereitung, Inneren Medizin und Neurologie, Schmerzbekämpfung und Kinderheilkunde hervorgehoben. Megaphen selbst wurde abschließend als »Breitspektrumneuroleptikum« bezeichnet.51 Eine psychiatrische Verwendung als »Mittel gegen Psychosen« hatte sich durchgesetzt.
6.3 Indikationsänderungen und Marketing: Z u s a m m e n f a s s u n g u n d Au s b l i c k Entlang des Produktmarketings der Firma BAYER ließ sich zeigen, dass die »antipsychotischen« Effekte der Substanz zunächst keineswegs im Vordergrund der Werbung standen. Zunächst dominierte die Vermarktung der Substanz als Neuroplegicum und ein Einsatz in der Chirurgie, Anästhesie, Inneren Medizin und Frauen- und Kinderheilkunde wurde vorangetrieben. Diese Absatzbereiche schienen offenbar eine größere Akzeptanz zu versprechen als die Verwendung der Substanz in der Psychiatrie. Eine Konzentration auf nichtpsychiatrische Indikationen lässt sich auch mit der Anzahl an Veröffentlichungen in Verbindung bringen, die im ersten Jahr über den Wirkstoff in anderen Bereichen der Medizin erschienen. Diese überwogen die psychiatrischen Veröffentlichungen bei Weitem. Eine Analyse der publizierten Artikel über die psychiatrische Verwendung der Substanz zeigte eine eher zurückhaltende Einschätzung der Nützlichkeit des Medikaments für die Psychiatrie, wenngleich es einige Befürworter eines psychiatrischen Einsatzes gab. Positive Artikel aus allen Bereichen wurden von der Firma gesammelt und in Form von Sonderdrucken vervielfältigt.52 Jeremy Greene stellt für die US-Pharmazie heraus, dass ein pharmazeutisches Produktmarketing sich in den 1950er Jahren zunehmend auf die KlinikerInnen und ihre Forschung stützte. Anhand des Beispiels eines von ihm untersuchten Mittels gegen Bluthochdruck konnte er zeigen, dass die erprobenden ÄrztInnen genau ausgewählt wurden. Sie sollten einflussreiche Größen in ihrem Gebiet sein und andere KollegInnen zur Verwendung der Substanz anregen. Vor allem waren aber ihre Veröffentlichungen von großer Wichtigkeit für die Vermarktung des Produkts durch das pharmazeutische Unternehmen. Eine Verbreitung der Artikel in hausinternen Promotionsjournalen und die Verschickung einzelner Exemplare an Klini51 »Ärztejahrbuch«, BAYER 1965. 52 Hier sind zu nennen Meyer 1953a; Flügel 1953a; Flügel 1953b; Segerath 1954; Phillip 1955; Gäde/Heinrich 1955; von Ditfurth 1955; Loch 1956; Lieser 1956; Flügel 1957a; Wolff 1958; Gäde/Heinrich 1958; Krietsch 1961.
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kerInnen im ganzen Land sorgte dafür, dass die einzelnen Artikel erprobender ÄrztInnen, wie Green schildert, so eine sehr große Verbreitung fanden.53 Es ist also davon auszugehen, dass auch die gezielte Information der KlinikerInnen durch die Sonderdrucke, welche die Firma BAYER zur Verfügung stellte, einen großen Einfluss auf die Verschreibungsrate hatte. Die Zusammenarbeit erstreckte sich dabei im Fall von BAYER nicht nur auf die Vervielfältigung von Artikeln, sondern auch auf das Drehen von Filmen in Zusammenarbeit mit einzelnen ÄrztInnen.54 Wilhelm Bartmann zeigt, dass die als Werbekosten veranschlagten Aufwendungen für Ärztejahrbücher, Hauszeitschriften, Ausstellungen und wissenschaftliche Filme im Jahr 1959 ein Viertel der Marketingausgaben der Firma BAYER ausmachten.55 Visuelle Dokumentationen waren für das Produktmarketing von nicht zu unterschätzendem Wert, da sie meist eine Zielgruppe von anderen ÄrztInnen und StudentInnen erreichten, sich zum Teil aber auch an die Öffentlichkeit wandten. Ein erster von der Firma BAYER produzierter Film zur »Synergistischen Megaphen-Heilkrampfbehandlung« von 1955 zeigt dabei in kleinen Schritten, wie die Behandlung im Rahmen einer Elektroschockserie durchgeführt wurde und worauf dabei zu achten war.56 Ins Zentrum der Erzählstruktur des Films wurde dabei jedoch nicht die Wirksamkeit des Megaphens selbst gestellt, sondern es wurden vor allem die beruhigenden Effekte der Substanz hervorgehoben, die zu einer »Humanisierung« des in Verruf geratenen Elektroschocks führen sollten. Mit dem Autor des Films, dem Münchener Medizinalrat Lieser, drehte das Unternehmen in den folgenden Jahren weitere psychiatrische Filme. Diese fokussierten sich nicht mehr auf eine direkte Produktvermarktung, sondern thematisierten allgemeiner die Fortschritte der psychiatrischen Diagnostik oder den Wandel der »Psychosen« durch verschiedene psychiatrische Therapien. So zeigt der Film »Acta psychiatrica. Zur psychiatrischen Diagnose« verschiedene PatientInnen, die mittels genauer ärztlicher Beobachtung und neuer technischer Entwicklungen diagnostiziert werden.57 Im Film 53 Greene 2005. 54 Hier ist vor allem der Münchener Medizinalrat Lieser zu nennen, mit dem die Firma BAYER mindestens drei Filme produzierte. 55 Bartmann 2003, S. 326. Weitere Werbekosten gliederten sich wie folgt: Drucksachen 35 Prozent, Insertionen in wissenschaftlichen Zeitschriften 24 Prozent, Ärztemuster 12 Prozent, Schaufensterwerbung 3,5 Prozent, Werbegeschenke 1 Prozent. Insgesamt betrugen die direkten Werbekosten im Jahr 1959 8,3 Millionen DM, weitere Mittel für Ärztebesucher verschlangen 3,6 Millionen DM. Die Gesamtsumme für Werbung betrug so im Stichjahr gut 14 Millionen DM. 56 »Die synergistische Megaphen-Heilkrampfbehandlung.« Ein Film von Medizinalrat Dr. Lieser. Schwarz/weiß, stumm (1955). Produziert durch die BAYER-Filmstelle. 57 Vgl. zur psychiatrischen Diagnostik: »Acta psychiatrica. Zur psychiatrischen Diagnose. Ein Film von Medizinalrat Dr. Lieser« (1968). Weitere Angaben
304 | EINE GESCHICHTE DER PSYCHOPHARMAKA
»Das Gesicht der Psychosen und ihr Wandel durch die Therapie« dokumentierten PsychiaterInnen PatientInnen am Anfang ihres Klinikaufenthalts und nach einer längeren Behandlung in der Psychiatrie. Zuletzt werden die PatientInnen als geheilt präsentiert. Medikamentöse Behandlungsformen hob man in beiden Dokumentationen nicht weiter hervor.58 Beide Filme wendeten sich sowohl an die Ärzteschaft als auch an die Öffentlichkeit und dienten vermutlich vor allem einer Aufwertung des Images der bundesdeutschen Psychiatrie, indem sie zeigten, dass diese inzwischen eine ernst zu nehmende wissenschaftlich-medizinische Disziplin darstellte. Zu den Vermarktungsstrategien der Firma BAYER gehörte somit zunehmend nicht mehr nur die Vermarktung des Produkts, sondern auch das Imagemarketing der Psychiatrie. Diese wird als treffsicher diagnostizierende und erfolgreich behandelnde Disziplin inszeniert, was vermutlich dem Verkauf neu entwickelter Psychopharmaka dienlich war. .
zur Produzententätigkeit der Firma BAYER finden sich im Film und in der Filmbeschreibung nicht. 58 Vgl. »Das Gesicht der Psychose und sein Wandel durch die Therapie. Ein Film von H. Lieser« (1962). Schrifteinblendung am Ende des Films: »Diesen Film stellt die pharmazeutisch wissenschaftliche Abteilung der Farbfabriken BAYER AG Leverkusen der Ärzteschaft zur Verfügung«.
Zusa mme nfass ung Te il I: Der Proz ess einer Ex perimentalisierung
Pharmaziehistorische Theorien betonten häufig, dass die Indikationen neuer Medikamente erst über die Beobachtung am Krankenbett gefunden würden, die Effekte einer Substanz also eher zufällig als über eine gezielte Suche zu ihrem Verwendungszweck gelangten. Diese Form des Auffindens neuer medikamentöser Innovationen wird auch als Serendipity bezeichnet, ein Begriff dessen Bedeutung Zufall oder Glück im Unglück beinhaltet.1 Diese Darstellungen bleiben aber in der Regel eng an einen »Entdeckungsprozess« gebunden.2 Unhinterfragt vorausgesetzt erscheint dabei in der Regel, dass sich die nun gefundene Indikation – im Falle der Neuroleptika der antipsychotische Effekt – wirklich schnell durchsetzte. In 1
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Serendipity bezeichnet eine zufällige Beobachtung von etwas nicht ursprünglich Gesuchtem, das sich als neue und überraschende Entdeckung erweist. Manchmal wird diese auch als »glücklicher Zufall« gefasst. Serendipity betont dabei auch eine »intelligente Schlussfolgerung« oder Findigkeit. Erstmals verwendete der englische Autor Horace Walpole (1717–1797) den Ausdruck in einem Brief vom 28.01.1754 an Horace Mann. Er erläuterte darin, er habe ihn in Anlehnung an ein persisches Märchen mit dem englischen Titel »The Three Princes of Serendip« geprägt, in dem die drei Prinzen viele unerwartete Entdeckungen machten (vgl. Weber 1999, S. 26ff.). In diesem Sinne betrachtet auch Barbara Spohrer die Suche nach einer Indikation für Chlorpromazin, die sich jedoch eher als Nacheinander einer Abfolge von verschiedenen Anwendungsbereichen liest, bis man den richtigen Einsatz in der Psychiatrie fand (vgl. Spohrer 1996). Matthias M. Weber hingegen zweifelt in seiner Habilitation über die Geschichte der Psychopharmaka grundsätzlich an, dass es sich bei dieser Suche tatsächlich um Zufälle handelte, sondern stellt heraus, dass bestimmte Effekte erst aufgrund einer bestimmten naturwissenschaftlichen Denkform sichtbar wurden. Auch dieser Gedanke berührt vor allem die Sichtbarmachung des ersten sogenannten »antipsychotischen Effektes«. Scheinbar zufällige Erkenntnis aus gesteuertem Irrtum herzustellen sei eine unverzichtbare Normalität des Forschungsprozesses (vgl. Weber 1999, insbesondere S. 29).
306 | EINE GESCHICHTE DER PSYCHOPHARMAKA
meiner Analyse habe ich jedoch einen anderen Aspekt in den Mittelpunkt gestellt: den der Experimentalisierung als eines Prozesses des Suchens nach und der Stabilisierung von Effekten, die nicht einer einmaligen Beobachtung bedurften, sondern eine Reihe von Versuchen benötigten. Einen ähnlichen Gedanken formuliert Jeremy Green, wenn er hervorhebt, dass der von ihm untersuchte Wirkstoff, Diuril, weder als blutdrucksenkendes Mittel geplant wurde noch sich »zufällig« als solches durchsetzte, sondern erst durch ein gezieltes Zusammenführen von klinischen Studien und Marketingpraktiken seine spätere Indikation fand.3 Auch am Beispiel der deutschen Ersterprobung von Megaphen lassen sich in der klinischen Praxis die Schwierigkeiten der Stabilisierung und Etablierung beschreiben; ein Erfolg war vor allem in der Psychiatrie nicht einfach und stetig reproduzierbar. Eine Analyse der Heidelberger Krankenakten konnte zeigen, dass man schon im Jahr 1953 in der Psychiatrie mit der Erprobung der Substanz begann und ihre Verwendung in den folgenden Jahren ständig ausweitete. Die Konstruktion eines erfolgreichen Behandlungsfalles erwies sich jedoch als keineswegs einfach. Zwar wurde im ersten Stichversuch ein Schwerpunkt auf die »Schizophrenen Psychosen« gesetzt, gerade hier zeigten sich die gewünschten Effekte jedoch nicht. Ein primärer Erfolg konnte erst an einer eigentlich peripheren Diagnose, der Depression, deutlich werden. Die ersten behandelten PatientInnen zeigten im Rahmen der Heidelberger Erprobung nicht einfach die erwarteten Effekte des Medikaments auf. Weder schien eine »Besserung« des Verhaltens durch die ÄrztInnen beobachtbar zu sein noch gaben die PatientInnen bereitwillig über ihr Innenleben Auskunft. Erste »Besserungen« entpuppten sich häufig als falsche Hoffnungen; ein früher Todesfall und weitere Komplikationen dämpften darüber hinaus die Erwartungen. Es brauchte einige Zeit, um positive Effekte der neuen Medikation den ÄrztInnen erfahrbar zu machen. Das eigene Erleben einer erfolgreichen Behandlung benötigen ÄrztInnen Pressman zufolge jedoch, um eine beschriebene Therapieform legitimieren zu können.4 Vor allem durch die im Laufe der nächsten Jahre vorgenommene Ausweitung des Versuchscharakters der Erprobung konnten schließlich Erfahrungen an neuen Indikationen, aber auch ein Wissen über neue Kombinationsbehandlungen gewonnen werden. Immer wieder zeigte sich jedoch der Patient selbst dabei als zentrales Element einer psychopharmakologischen Wirksamkeitserfassung, der sich zu den erlebten Psychopharmakaeffekten in Beziehung setzte. Die neuroleptische Wirksamkeit erwies sich so als ein Hybrid, das von den vielfältigen Einflüssen der psychiatrischen Anstalt, insbesondere aber den
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Greene 2005, S. 761. Pressman 1998.
ZUSAMMENFASSUNG TEIL I | 307
subjektiven Aneignungsformen der PatientInnen nicht zu trennen und deshalb wenig zu stabilisieren war. Der berichtete neuroleptische Effekt war auf dieser Grundlage nicht stabil zu beobachten, obwohl er in den ersten fünf Jahren der Verwendung bereits bekannt war. Demgegenüber standen die scheinbar einfacher auch ohne eine Patientenaussage zu objektivierenden Wirkungen des Mittels als Antiemetikum oder im Bereich der Narkose zunächst im Vordergrund. Für die Etablierung des Medikaments benötigte man vor allem Effekte, die relativ eindeutig zu verifizieren waren. Es ist zu vermuten, dass auch aus diesem Grund die Substanz zunächst vor allem in anderen Bereichen der Medizin vermarktet wurde. Der Wechsel in der Marketingstrategie der Firma BAYER und eine Fokussierung auf den Bereich der Psychiatrie benötigte einige Jahre der Erprobung, obwohl der neuroleptische Effekt der Substanz schon lange als »entdeckt« galt. Es ist zu vermuten, dass die Firma BAYER sich später auf den psychiatrischen Einsatz konzentrierte, da dieses Feld am gewinnträchtigsten zu sein schien.5 Judith Szwazey berichtet, dass die Firma SMITH, KLINE AND FRENCH LABORATORIES bis 1970 etwa 116 Millionen Dollar an Chlorpromazin und anderen Phenothiazinderivaten verdiente.6 Obwohl die Verkaufszahlen unbekannt sind, ist hervorzuheben, dass die Firma BAYER das Medikament Megaphen in ihrem Jahresbericht von 1953 als besondere Innovation der Firma darstellte, in die augenscheinlich große Hoffnungen gesetzt wurden.7 Ich habe hervorgehoben, dass ÄrztInnen das Medikament seit 1953 in der Psychiatrie einsetzten, ohne jedoch einen stabilen psychotropen Effekt hervorbringen zu können. Die steigenden Absatzzahlen in der Psychiatrie standen so dem Problem einer stabilen Wirksamkeitserfassung in diesem Bereich gegenüber. Obwohl BAYER schließlich Ende der 1950er Jahre eine vollständig andere Richtung in der Vermarktung der Substanz einschlug, schien eine Stabilisierung der neuroleptischen Effekte ohne eine Anpassung des klinischen Versuchs an die Formen eines Experiments unmöglich zu sein. Diese Transformation ist wohl auch vor dem Hintergrund der Debatten um einen kontrollierten klinischen Versuchs zu betrachten, die bereits ab Mitte der 1950er Jahre zu einer Neuordnung des klinischen Versuchs in der US-Psychopharmakologie führen sollte. Bereits Mitte der 1950er Jahre beschäftigte sich in den USA eine große von der National Academy of Science finanzierte Konferenz mit der Evaluation der Effekte
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Auch Jeremy Greene hebt in seiner Geschichte des Diuril hervor, dass es vor allem der große Markt war, der schließlich dazu führte, dass der Wirkstoff als blutdrucksenkendes Mittel vermarktet wurde (vgl. Greene 2005). Swazey 1974, S. 3. BAYER 1953.
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neuer Psychopharmaka und propagierte in diesem Kontext eine notwendige Orientierung auf den kontrollierten klinischen Versuch.8 In der BRD hingegen war die Form einer Wirksamkeitserfassung noch lange an der unspezifischen Idee der Zeugenschaft orientiert. Erst in den 1960er Jahren wurde auch hier in der Wirksamkeitserfassung eine Bewegung sichtbar, die ich als Experimentalisierung bezeichnen möchte. Eine Stabilisierung des Wirksamkeitsbegriffs gelang erst, so meine These, als die ForscherInnen den Begriff der Wirksamkeit an die Form des Experiments anpassten, wobei sie ihn jedoch weitreichenden Transformationen unterzogen. In diesem Sinne möchte ich im Folgenden versuchen, die Objektivierungssysteme in den Blick zu nehmen, mit denen eine spezifische neuroleptische Wirksamkeit in der Psychiatrie konstituiert werden sollte.
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Cole/Gerard 1959.
Teil II Wirksamkeit im Experiment. Prüfverfahren in der klinischen Psychopharmakaforschung
Einleitung
Im vorherigen Kapitel wurde ausgeführt, wie sich die Beobachtung der Wirksamkeit als Zeugenschaft durch die Interaktionen zwischen ÄrztInnen und PatientInnen herstellte und in vielfältige Subjektivierungsfunktionen des Patienten eingebunden war. Gleichzeitig wurde deutlich, dass sich die ÄrztInnen vor der Schwierigkeit stehen sahen, die Effekte der neuen Psychopharmaka als stabile hervorzubringen. Das Wissen über die neuroleptischen Effekte benötigte nun einen Wirksamkeitsbeweis, der unabhängig von der individuellen Arzt-Patienteninteraktion existieren sollte. Mark D. Sullivan betont, dass für die Moderne die Trennung der Medizin in Kunst und Wissenschaft grundlegend sei. Die Kommunikation zwischen Arzt und Patient sei Teil der Kunst. Ein sich als wissenschaftlich verstehender Wirksamkeitsbegriff müsse also von dieser Interaktion abstrahieren. Das Resultat sei ein Wissen, das als kontextunabhängig erscheine.1 Die Ausführungen Sullivans beschreiben meines Erachtens treffend einen Prozess, der auch für die Psychopharmakologie entscheidend werden sollte. Wie ich dargestellt habe, war der bisherige Begriff des therapeutischen Werts vor allem ein im klinischen Anstaltsalltag hergestellter, der eng an den Kontext der konkreten Klinik und ihre Interaktionsformen gebunden war. Für die Konstruktion einer stabilen Evidenz benötigte man in der bundesdeutschen Psychopharmakaforschung, insbesondere in Anlehnung an die Forschungen in den USA, einen neuen Begriff der Wirksamkeit, den ich als Experimentalisierung bezeichnen möchte. Wie ich bereits ausgeführt habe, orientierte sich diese Umgestaltung des klinischen Versuchs vor allem an der Versuchsplanung eines naturwissenschaftlichen Experiments.2 Das Projekt der Entstehung und Etablierung einer »evidenzbasierten Medizin« warf jedoch Fragen auf: War es überhaupt möglich, in der Klinik Phänomene hervorzubringen, die sich kontrollieren ließen wie Effekte 1 2
Sullivan 1993, S. 227. Vgl. I.4.4.
312 | EINE GESCHICHTE DER PSYCHOPHARMAKA
im Labor?3 In welcher Weise müssten in einer als »klinischem Experiment« zu bezeichnenden Versuchsanordnung Aspekte wie Subjektivität und Emotionen, die nun als Störvariablen aufgefasst wurden, ausgeschlossen und kontrolliert werden? Diese Probleme möchte ich in den Blick nehmen, wenn ich die neue Form des Wissens über neuroleptische Effekte betrachte. Wie ich geschildert habe, verstärkte sich mit dem kontrollierten klinischen Versuch die Macht des als »Experimentator« fungierenden Arztes, denn nur er war über das Ziel des Experiments voll informiert. Gleichzeitig wurde jedoch ein sich auf die subjektive Einschätzung des Mediziners stützendes »Expertenwissen« in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts prekär. Für die US-Psychiatrie konnte Jack Pressman am Beispiel der Leukotomie zeigen, dass deren Beurteilung sich bereits Ende der 1940er Jahre immer weiter vom klinischen Eindruck des Psychiaters löste. Um die Standards der therapeutischen Praxis festzulegen, benötigten die ÄrztInnen zunehmend einen (natur-)wissenschaftlichen Beweis ihrer Effektivität, wozu sie das »kontrollierte Experiment« in der Klinik als wissensgenerierendes Instrument brauchten.4 Gerade für die Psychiatrie als Wissenschaft, die in besonderer Weise auf die Kommunikation zwischen ÄrztInnen und PatientInnen angewiesen war, schien eine solche Orientierung auf das Experiment durchaus schwierig. Pressman verdeutlicht jedoch, dass es zum Aufkommen evaluativer Verfahren in der Psychiatrie keine Alternative gab. Zu diesem Zeitpunkt stand für die Psychiatrie die Anerkennung als ernst zu nehmende wissenschaftliche Disziplin auf dem Spiel, wie er mit Blick auf die USA zuspitzt: »Should the profession fail to reach a consensus on how to evaluate psychiatric treatments scientifically or how to conduct a bona fide psychiatric experiment, no single faction could claim superior validity – and thus all would become equally suspect. Psychiatry’s development as a profession became dependent upon its further coevolution as a creditable science.«5
Auch wenn die Legitimität der Psychiatrie in der Bundesrepublik in der Nachkriegszeit nicht in gleicher Weise in Frage gestellt wurde wie in den USA, da sie sich in der BRD stärker als Teil der Medizin etablieren konnte, lässt sich im Verlauf der Evaluation der Psychopharmaka jedoch auch in der BRD eine zunehmende Orientierung am experimentellen Versuchsdesign nachzeichnen. Gleichzeitig stellten die klinischen Erprobungen Feldexperimente dar, deren Kontrollierbarkeit Grenzen gesetzt waren. Vor dem Hintergrund der Zunahme experimenteller Methodik im Bereich der 3 4 5
Hacking 1996, S. 391. Pressman 1998, S. 363. Pressman 1998, S. 364.
EINLEITUNG TEIL II | 313
Medizin und der Sozialwissenschaften versuchten Donald Campbell und Julian Stanley bereits Mitte der 1960er Jahre die Kernelemente »wahrer« experimenteller Versuchsanordnungen herauszuarbeiten. Neben der Beobachtung des von einer unabhängigen Variablen erzeugten abhängigen Effekts benötigten Experimente mit Menschen, wie die Autoren betonten, eine zufällige Aufteilung der VersuchsteilnehmerInnen in eine Versuchsund eine Kontrollgruppe, in der diese zeitlich vergleichbar eine Behandlung bekämen beziehungsweise nicht bekämen.6 In Feldexperimenten bestehe häufig eine mangelnde Kontrolle darüber, wann und was gemessen werde, und nicht alle experimentellen Stimuli seien kontrollierbar, da eine Randomisierung nicht immer durchführbar sei. Diese aus naturwissenschaftlicher Sicht unvollkommenen Experimente bezeichneten die Autoren als Quasi-Experimente, die dort experimentelle Versuchsanordnungen zur Anwendung kommen lassen sollten, wo bessere Versuchsbedingungen nicht zu erreichen seien.7 Diese Überlegungen verdeutlichen den Kontext, der es für die Medizin in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer wichtiger erscheinen ließ, sich an der Idee eines kontrollierten klinischen Versuchs zu orientieren, der die Effektivität der angewendeten Verfahren einer experimentellen Kontrolle unterzöge. Ein randomisiertes Kontrollgruppendesign wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schließlich zum Ausdruck einer Experimentalpraxis, die auch von zahlreichen Sozialwissenschaftlern und Psychologen verwendet wurde. 1969 versuchte beispielsweise der Experimentalpsychologe Donald T. Campbell mit einer Studie, die experimentelle Logik des Labors auf gesellschaftliche Reformen auszuweiten. In seiner Schrift »Reforms as Experiments« forderte er, sozialregulative Maßnahmen einem experimentellen Effektivitätsnachweis zu unterziehen, indem die ForscherInnen Vergleiche zwischen Experimental- und Kontrollgruppen anstellen sollten.8 Diese sozialen Experimente bildeten, wie Trudy Dehue herausarbeitet, zugleich aber auch die Effizienz und Unpersönlichkeit des Verfahrens ab.9 Die beschriebenen Entwicklungen in der Psychologie sind als Kontext für die Einführung des kontrollierten klinischen Versuchs in die Medizin zu betrachten. Sie verdeutlichen, dass die Orientierung am experimentellen Wissen als Maßstab für eine Objektivierung des Psychischen galt.
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Campbell/Stanley 1966, S. 13. Campbell/Stanley 1966, S. 34. Im Bereich der Medizin bezogen sich die Schwierigkeiten unter anderem auf den Spielraum des Forschers zu beurteilen, was ein wirklicher Effekt ist, die fehlende Kontrollierbarkeit bestimmter Stimuli im Feldexperiment und die problematische Vergleichbarkeit des Zeitpunktes zwischen Versuchs- und Kontrollgruppe, der im Verlauf einer »Krankheit« schwer zu bestimmen ist. Dehue 2004a und Dehue 2004b. Dehue 2004a, S. 89.
314 | EINE GESCHICHTE DER PSYCHOPHARMAKA
Zwischen Medizin und Pharmazie: der kontrollierte klinische Versuch als experimenteller Beweis von Wirksamkeit Auch für die Beurteilung des therapeutischen Werts eines Arzneimittels waren die ForscherInnen inzwischen darauf angewiesen, die Wirksamkeit der Medikamente unter Beweis zu stellen. Die zunehmende Entwicklung potenter therapeutischer Substanzen und ihre Einführung in die medizinische Praxis zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereiteten eine Wende vor, die häufig als »Therapeutische Revolution« beschrieben wird. Die Einführung und Verbreitung der neuen Arzneimittel war aufgrund fehlender Regulationsinstanzen zu Beginn des Jahrhunderts vor allem von zwei Instanzen bestimmt: dem Labor und dem Markt. Die weitgehend unkritische Aufnahme der neuen Substanzen ließ einige MedizinerInnen davor warnen, dass durch kommerzielle Interessen der pharmazeutischen Industrie der wissenschaftliche Status von Therapeutika beschädigt und der Wert wissenschaftlicher Journale herabgesetzt werden könnte. In der Mitte des 20. Jahrhunderts nahm diese Unsicherheit immer mehr zu. Wie Uffe Juul Jensen betont, waren die zunehmende Laborforschung, eine wachsende Pharmazeutische Industrie und neue Institutionen, die Kooperationsstudien erstellten, daran beteiligt, die Macht des Klinikers, an den klinischen Eindruck gebundene Beurteilungen vorzunehmen, zu minimieren. Es wurde deshalb international zunehmend der Ruf nach Institutionen und Methoden laut, die den wissenschaftlichen Wert therapeutischer Behandlungen bestimmen könnten.10 Im Zuge dieser Entwicklungen entstand der Wunsch nach einer »technischen Objektivität«, die sich durch das abstrakte Befolgen von Regeln, die innerhalb des Feldes aufgestellt würden, auszeichnete.11 Vor allem in den USA übernahmen in diesem Prozess StatistikerInnen und an einer quantifizierbaren Medizin interessierte ÄrztInnen eine wichtige Rolle. Der maßgebliche Impuls kam jedoch von der Food and Drug Administration (FDA), die eine Zulassung neuer Medikamente von einer einheitlichen Messung abhängig machen wollte.12 Wie ich zu Beginn der Arbeit dargestellt habe, hofften die Reformer unter den ÄrztInnen in diesem Kontext, den Ansatz der experimentellen Naturwissenschaften auf das therapeutische Wissen übertragen zu können, um einen Vergleich der Wirksamkeit verschiedener Behandlungen zu ermöglichen.13 Besonders in Zeiten der Unsicherheit hinsichtlich neuer Verfahren erwies sich der Effektivitätsnachweis als zentrales Anliegen. Dieser sollte durch eine experimentelle Gestaltung des klinischen Beobachtungsrahmens erbracht werden und 10 11 12 13
Jensen 2007, S. 104. Porter 1995, S. 4. Porter 1995, S. 206. Marks 1997, S. 29. Vgl. auch I.4.4.
EINLEITUNG TEIL II | 315
so den bloßen klinischen Eindruck in Zahlen übersetzbar machen. Diese Misstrauenstechnologien im Sinne Theodore Porters wurden auch für den kontrollierten klinischen Versuch immer wichtiger. Es galt dabei, das Urteil des Mediziners zu minimieren, indem die ForscherInnen standardisierte Messungen in den klinischen Versuch einführten.14 Mit der Einführung eines kontrollierten Versuchssettings entstand jedoch, wie Mark D. Sullivan hervorhebt, nicht nur eine neue Vorstellung von Wirksamkeit: Da die Methode jetzt die Heilung validieren sollte, erlangte die kontrollierte Versuchsanordnung eine neue Bedeutung.15 Die Suche nach einer vertrauenswürdigen Methode in der Arzneimittelevaluation wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum zentralen Anliegen. Bereits im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden statistische Methoden in der bundesdeutschen Medizin eingeführt. Auch in der Psychiatrie kamen erste statistische Erfassungen in der Evaluation medikamentöser Verfahren zum Einsatz.16 Diese Ideen wurden jedoch nicht systematisch umgesetzt. Zudem übersetzten bestehende Statistiken in der Psychiatrie meist nur einen klinischen Eindruck in Zahlen. Wie ich aufgezeigt habe, ist aber erst die Einführung der randomisierten Kontrollstudie als zentrales Element einer Experimentalisierung klinischer Praxis zu betrachten.17 Die mit der Einführung einer kontrollierten Versuchsanordnung verbundene statistische Umdeutung des klinischen Versuchs nahm national je unterschiedliche Formen an. Während sich Harry Marks auf die USamerikanischen Entwicklungen des klinischen Versuchs bezieht,18 sollen im Laufe des Kapitels vor allem die deutschen Versuche der Neuroleptikaerprobung nachgezeichnet werden. Die Evaluation klinischer Verfahren in den USA beruhte auf Konzeptionen des klinischen Versuchs, die stark von den deutschen Vorstellungen abwichen und in unterschiedlichem Maße eine Anpassung an experimentelle Bestimmungen nach sich zogen.19 Die Umformulierung des klinischen Versuchs setzte in der BRD zunächst sehr zögerlich ein. Mit Rheinberger/Hagner möchte ich die Frage stellen, zu 14 Porter 1995, S. 207. 15 Sullivan 1993, S. 220. 16 Matthias M. Weber führt aus, dass einzelne Ärzte die Grundregeln der klinischen Prüfung wie eine genaue Protokollierung des Versuchsablaufs, die Reproduzierbarkeit und Gleichheit der experimentellen Bedingungen, definierte Patientengruppen und die Testung von Reinsubstanzen schon im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts forderten, die Pharmakologie diese Evaluationsmethoden aber nur allmählich rezipierte (vgl. Weber 1999, S. 67). Vgl. auch II.3. 17 Vgl. I.4.4. 18 Marks 1997. 19 So nahmen US-Forscher mit ihren neuen Konzeptionen des klinischen Versuchs vor allem auf Henry Beecher Bezug, während man sich in Deutschland vor allem an Paul Martini orientierte (vgl. auch Teil II, 1.1 und Teil II, 2.2).
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welchem Zeitpunkt und in welchem Kontext die Experimentalisierung der Evaluationsforschung in der Psychopharmakologie einsetzte und welche epistemologischen Veränderungen die Versuchsanordnungen mit sich brachten.20 Betrachten möchte ich auch, ob und wenn ja, warum die beteiligten ForscherInnen eine Anpassung an den kontrollierten klinischen Versuch erwogen. Darüber hinaus möchte ich analysieren, welche Elemente des Experiments man in der Psychopharmakaforschung übernahm und welche einer modifizierenden Neuausrichtung unterzogen wurden. Ein kurzer Vergleich zwischen der US-amerikanischen und der deutschen Psychopharmakaforschung soll Unterschiede in der Gestaltung der Versuchsanordnungen aufzeigen. Dieser Vergleich wird auch die verschiedenen Konzeptionen der Methodik des klinisch-therapeutischen Versuchs einbeziehen müssen, wie ich unter Bezugnahme auf Austin Bradford Hill und Henry Beecher in den USA und Paul Martini in der BRD aufzeigen werde. Doch die Experimentalisierung des Wirksamkeitsbegriffs war nicht nur eine methodische Frage, sie veränderte auch den Begriff der neuroleptischen Wirksamkeit. Im Folgenden werden deshalb die Diskussionen um die Fassbarkeit der neuroleptischen Effekte, ihre Standardisierung und der Versuch, sie durch neue (experimentelle) Systeme sichtbar zu machen, im Zentrum stehen. Diese Bemühungen um eine verbindliche Versuchsanordnung sollten den ForscherInnen ermöglichen, die disparaten und vielfältigen psychotropen Effekte, die sich als besonders schwer zu kontrollieren erweisen sollten, in ein System von Wirksamkeiten als stabile Einheiten zu überführen. Der Begriff der Wirksamkeit setzte aber darüber hinaus einen klaren Krankheitsbegriff voraus. Mit der Überführung der »unkontrollierten« Psychopharmakaeffekte in ein System des kontrollierten klinischen Versuchs wurden deshalb auch Modifikationen der psychiatrischen Diagnostik und des Begriffs der Psychose notwendig, welche die psychiatrischen Krankheitsbegriffe an ein experimentelles System anschlussfähig machen sollten. Die Forderung nach einer Reformulierung der psychiatrischen Diagnostik unter experimentellen Gesichtspunkten traf jedoch gerade in Deutschland auf eine sehr eigenständige und ausgeprägte psychopathologische Tradition, die sich vielfach an phänomenologischen Konzepten orientierte und nicht einfach in ein experimentelles System überführbar war. Die Debatten um eine Neuordnung der psychiatrischen Diagnostik werden in dem zweiten Teil des Kapitels einer kurzen Analyse unterzogen. Psychopharmaka sind in diesem Zusammenhang als Substanzen, die auf das Denken und Fühlen der PatientInnen einwirken, zwei Besonderheiten ausgesetzt: Ihre Effekte sind zum einen wesentlich schwerer zu stabilisieren, da sich in ihnen immer auch die Denkformen und Verhaltens20 Rheinberger/Hagner 1993, S. 14.
EINLEITUNG TEIL II | 317
weisen der KonsumentInnen abbilden, zum anderen ist der Versuch ihrer Stabilisierung, so meine These, in neue Dispositive der Kontrolle und Normierung der PatientInnen eingebunden. Versteht man die Einführung eines experimentellen Designs in die klinischen Praxis im Sinne Latours als »Bereinigung« vom subjektiven Bias, so ist zu fragen, in welche neue Ordnung die subjektiven Äußerungen der PatientInnen transformiert werden. Obwohl der Versuch die individuellen Einflussgrößen eliminieren soll, kann er ohne die Emotionen und subjektiven Äußerungsformen der PatientInnen nicht auskommen.21 Sie mussten deshalb in der neuen Versuchsanordnung immer mehr zur »Störvariable« werden, deren Kontrolle unabdingbar war. Mit der Einführung des experimentellen Settings in die Klinik wurde das Verhältnis des Versuchsleiters zur Versuchsperson einer Modifikation unterzogen, denn die Rollen zwischen beiden Personen waren nicht mehr so austauschbar wie beispielweise in den pharmakopsychologischen Versuchen Emil Kraepelins.22 War schon durch die Verwissenschaftlichung der Arzt-Patientenbeziehung die Machtposition des Arztes gestärkt worden, legitimierte die Anwendung des kontrollierten klinischen Versuchs dieses Verhältnis weiter und sorgte für eine Verfestigung der ungleichen Rollen von Arzt und Patient. Sie erlaubte dem Arzt im klinischen Alltag nun in größerem Maße, eine Position als Wissenschaftler einzunehmen, der sich in der Anwendung neuer experimenteller Techniken üben durfte. Die Veränderungen im Verhältnis von Versuchsleiter und Versuchsperson spiegelten sich in der Psychopharmakaforschung in der Abgrenzung von pharmakopsychologischen und pharmakopsychiatrischen Experimenten wider, die andere Ausgangspunkte zur Bildung eines Wissens über die neuroleptische Wirksamkeit darstellten. Während im pharmakopsychologischen Experiment die »gesunden« Versuchspersonen einer experimentellen Anordnung unterworfen wurden, die ihre Handlungen weitreichend bestimmte, so blieben sie jedoch gleichzeitig in größerem Umfang AkteurInnen, die das Versuchssetting jederzeit wieder verlassen konnten. Im pharmakopsychiatrischen Experiment waren die PatientInnen, wie ich beschrieben habe, jedoch in viel größerem Ausmaß von der institutionellen Logik der psychiatrischen Ordnung abhängig, die ihre Aussagen hervorbrachte und den Bezugspunkt ihrer widerständigen Handlungen bildete. Zwar sollten die freien Äußerungen der PatientInnen im Versuchssetting minimiert werden, gleichzeitig war der Arzt jedoch von der Rede des Patienten abhängig, was den klinischen Versuch, wie David Armstrong es formuliert, zu einer »Quelle der Ungewissheit«
21 Will 2007, S. 96 äußert einen ähnlichen Gedanken, bezieht diesen jedoch mehr auf die ForscherInnen als auf die PatientInnen. 22 Vgl. zu den pharmakopsychologischen Versuchen Kraepelins und der Austauschbarkeit der Rollen II.2.2.
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werden ließ. Erst die Kontrolle dieses Verhältnisses definiere, so Armstrong, die Natur der professionellen Macht. Armstrong betrachtet die Einführung des kontrollierten klinischen Versuchs deshalb als eine Form, die Unsicherheit im Arzt-Patientenverhältnis zu minimieren.23 In diesem Sinne ist zu fragen, wie die Subjektivität der PatientInnen in diesen Verfahren repräsentiert wurde und welche Folgen diese neue Konstruktion eines neuroleptischen Wirksamkeitsbegriffs für die PatientInnen hatte. Im Folgenden möchte ich die Diskussionen um die neuroleptische Effektivität in der BRD vor dem Hintergrund der sie konstituierenden Verfahren, die eine neue Wirksamkeitsvorstellung hervorbrachten, anhand der veröffentlichten Diskussionen der Arbeitsgemeinschaft für Neuropsychopharmakologie (AGNP) verfolgen.24 Neben der Neuordnung des klinischen Versuchs werden dabei auch technische Instrumente in den Blick genommen, welche die Effekte sichtbar machen sollten. Da Letztere häufig nicht nur für die Neuroleptika, sondern für alle zu prüfenden Psychopharmaka entwickelt wurden, wird sich die Analyse nur an den Stellen auf Neuroleptika konzentrieren, wo spezifische Verfahren zu ihrer Analyse vorliegen. Der folgende Exkurs gibt zunächst einen Einblick in die US-amerikanische Debatte, die die später stattfindenden Diskussionen in der BRD maßgeblich beeinflusste. Wie ich zeigen werde, war die Wissensbildung über neuroleptische Wirksamkeit in der BRD in den 1950er Jahren noch stark an ein Modell der Zeugenschaft des Arztes als Experten gebunden. In den USA hingegen war eine Orientierung am »klinischen Experiment« bereits seit den 1930er Jahren diskutiert worden, nachdem der Kliniker und Statistiker Austin Bradfort Hill (1897–1991) auf die Wichtigkeit der medizinischen Statistik hingewiesen hatte. Eng an die Ausführungen Hills angelehnt veranstaltete die FDA in den 1950er Jahren eine Konferenz, in der Richtlinien für die Prüfung neuer Psychopharmaka entwickelt werden sollten. Ich möchte zunächst die zentralen Elemente einer Orientierung an der Beurteilung von therapeutischer Effektivität im kontrollierten klinischen Versuch aufzeigen, die Protagonisten wie Austin Bradford Hill und Henry Beecher vertraten. Dabei werde ich vor allem die Entwicklung von Verfahren nachzeichnen, die einer »technischen Objektivität« dienen und subjektive Merkmale ausschalten sollten.
23 Armstrong 2007, S. 73. Dieses geschieht seiner Meinung nach vor allem dadurch, dass man effektive und ineffektive Praktiken voneinander unterscheidet. 24 Diese Veröffentlichungen ergänze ich dabei durch kontextualisierende Veröffentlichungen, insbesondere diejenigen beteiligter ForscherInnen. Zusätzlich herangezogen werden einzelne psychiatrische Symposien, an denen die beschriebenen AkteurInnen beteiligt waren.
1 . Zum Problem der neuroleptischen Wirksamkeit: die Debatte in den US A
1 . 1 » T h e P ow e rf u l P l a c e b o « : H e n r y B e e c h e r , Au s t i n B r a d f o r d H i l l und die Experimentalisierung der klinischen Versuchsanordnung Die Einführung einer kontrollierten Versuchsanordnung zur Evaluation neuer therapeutischer Verfahren thematisierte erstmals der amerikanische Kliniker und Statistiker Austin Bradford Hill. Er forderte, die medizinische Forschung wie ein Experiment zu planen, was vor allem durch die Ausschaltung aller unkontrollierbaren Effekte durch eine Zufallsaufteilung erreicht werden sollte.1 1951 konstatierte Hill, die Schaffung gleicher Rahmenbedingungen könne nur durch den Vergleich einer Versuchsgruppe mit einer placebokontrollierten Kontrollgruppe umgesetzt werden. Darüber hinaus forderte er die Einführung eines doppelblinden Versuchsdesigns ein, in dem auch der Arzt nicht wisse, ob er ein aktives Medikament oder ein Placebo verabreiche.2 Die Idee des Doppelblindversuchs in der Medizin war schon 1946 von einem US-amerikanischen Kardiologen aufgebracht worden, aber erst durch die Ausführungen Hills zu größerer Verbreitung gelangt.3 Letzterer verfolgte dabei die Vorstellung einer Zufalls-
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Hill 1937. Im gleichen Jahrzehnt forderte auch der bekannte deutsche Methodiker des klinischen Versuchs, Paul Martini, die Einführung des Blindversuchs in die klinisch-therapeutische Forschung (vgl. Martini 1932). Sullivan 1993, S. 223. Lasagna/Healy 1998. Lasagna gibt an, dass der Kardiologe Harry Gold nicht so stark wahrgenommen wurde wie Hill, da er vor allem praktischer Arzt und kein Wissenschaftler war. Ein erster bekannter Doppelblindversuch wurde nach Jonathan Cole in den 1920er Jahren von einem Psychologen
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aufteilung von nach formalen Kriterien ausgewählten PatientInnen in Behandlungs- und Kontrollgruppen. Die an experimentellen Versuchsanordnungen ausgerichteten klinischen Rahmenbedingungen sollten quantifizierbare Aussagen liefern, mit denen man die Effektivität einer Behandlung beschreibbar und in statistische Zahlen übersetzbar machen konnte.4 Hill forderte also schon in den 1950er Jahren eine Gestaltung des klinischen Versuchs ein, die sich an einer experimentellen Versuchsanordnung orientierte. Dabei lehnte sich die Medizin an eine experimentelle Methodik an, die eigentlich aus der Psychologie stammte. So arbeitet Trudy Dehue heraus, dass die Vergleichs- und Kontrollgruppe erstmals in den 1920er Jahren in der schulpsychologischen Forschung eingeführt wurde.5 Zwar hatte Hill bereits um 1950 das Placebo als Teil einer kontrollierten Versuchsanordnung beschrieben, wirklich populär wurde es jedoch erst durch eine berühmt gewordene Veröffentlichung des Harvard Professors Henry K. Beecher (1904–1976) im Journal of the American Medical Association von 1955.6 Beecher hob hervor, dass schon der »Shorter Oxford Dictionary« von 1811 diejenigen Medikamente als Placebos bezeichnet hätte, die dem Patienten eher gegeben würden, um ihn zu erfreuen, als um ihm zu helfen.7 Erst seit kurzem sei der klinische Blick auf die psychologische und physiologische Funktion des Placebos gerichtet und ihre Bedeutsamkeit in der Unterscheidung von pharmakologischen Wirkungen und Effekten der Suggestion hervorgehoben worden.8 Beecher stellte heraus, gerade der Glaube des Patienten, dass der Arzt sich seiner Krankheit annehme und er ein wirksames Medikament erhalte, mache den Nutzen des Placebos aus. Etwa ein Drittel der beobachteten Besserungen waren für ihn nicht auf die aktive Substanz, sondern auf die suggestiven Effekte des Placebos zurückzuführen. Er forderte deshalb eine radikale Abwendung vom »klinischen Eindruck« des Arztes als Effektivitätsnachweis. In seinem berühmt gewordenen Artikel spitzte er dies folgendermaßen zu:
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durchgeführt, der für Coca Cola eine Studie über Koffein machte (vgl. Cole/Healy 1996, S. 239). Daemmrich 2004. Dehue verweist in diesem Kontext auf das 1923 erschienene Buch »How to Experiment in Education« von William A. McCall, dass den Vergleich zwischen verschiedenen Gruppen propagierte. Schon im Jahr 1907 hatte der Psychologe John Edgar Coover aus Kalifornien einen Versuch zu der Frage durchgeführt, ob das Lernen von Latein und formaler Mathematik mentale Kapazitäten vergrößere. Zur Beantwortung dieser Frage hielt er Kontrollpersonen für unabdingbar (vgl. Dehue 2005, S. 5ff.). Beecher 1955. Vgl. auch die Bedeutung des Wortes placebo (lat.): ich werde gefallen. Beecher 1955, S. 1602.
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»Many effective drugs have power only a little greater than that of a placebo. To separate out even fairly great true effects above those of a placebo is manifestly difficult to impossible on the basis of clinical impression. Many a drugs has been extolled on the basis of clinical impression when the only power it had was that of a placebo.«9
Die Lösung vom klinischen Eindruck des Arztes blieb auch für die Medikamentenbeurteilung durch die MedizinerInnen nicht ohne Folgen. Mit der Einführung von Doppelblindstudien, Randomisierung und der systematischen Aufnahme des Placebos in das Versuchsdesign musste – Beechers Forderungen entsprechend – der klinische Versuch an experimentelle Bedingungen angepasst und von allen subjektiven Einflussgrößen bereinigt werden. Damit sah die neue Versuchsanordnung aber auch eine Integration des Arztes als einen wesentlichen Faktor in einem System des Experimentierens vor, denn er sollte hier zur ausführenden Instanz einer vorgegebenen Versuchsanordnung werden. Sie entmachtete den Arzt jedoch nur vorläufig: Die Person des Arztes sollte zunächst in den Hintergrund treten, um den KlinikerInnen später eine durch die evidenzbasierte Medizin gestärkte Position zu ermöglichen.10 Für die US-amerikanische Psychopharmakologie spielte die Entwicklung des – nach den Vorstellungen Beechers gestalteten – kontrollierten klinischen Versuchs in der Entwicklung eines Epistems der neuroleptischen Wirksamkeit eine entscheidende Rolle. Gerade weil der klinische Versuch in der Psychopharmakologie für das Sichtbar-Machen neuroleptischer Effekte von zentraler Bedeutung war, sollten die methodischen Reflexionen seiner Neugestaltung in den USA ausgeprägte Formen annehmen.11 So kam auch ein experimentelles Versuchsdesign, das erst 1962 durch die Kefauver-Harris-Verordnung zum Goldstandard wurde, in der US-amerikanischen Psychopharmakologie schon früh zum Einsatz.12 Linford Rees bemerkte 1998 rückblickend, er selbst hätte schon auf der ersten internationalen Konferenz zu Chlorpromazin in Paris 1955 drei randomisierte Doppelblindstudien präsentiert, obwohl diese Form des Effektivitätsnachweises selbst im angloamerikanischen Raum, wie er betont, noch in keiner Weise Standard gewesen sei.13
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Beecher 1955, S. 1605 (Herv. i. O.). Daemmrich 2004. Rees/Healy 1998, S. 182. Lasagna/Healy 1998, S. 56ff. Die Kefauver-Harris-Verordnung führte neben der Anpassung an den kontrollierten klinischen Versuch als Standard auch zur Einführung des informierten Konsens sowie zur Forderung nach ausreichend Daten über Effektivität und Sicherheit der neuen Substanz (vgl. II.4). 13 Rees/Healy 1998, S. 172. Diese erste internationale Konferenz in Frankreich bezeichnet er als Beginn der Disziplin Psychopharmakologie.
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Eng an die von Hill und Beecher entwickelten Vorstellungen einer kontrollierten klinischen Versuchsanordnung angelehnt, nahm eine erste Evaluationskonferenz in der US-Psychopharmakologie Mitte der 1950er Jahre die Idee des kontrollierten klinischen Versuchs auf und führte einen experimentellen Begriff von Wirksamkeit nahezu zeitgleich mit dem Beginn der Chlorpromazinerprobung ein. Bereits ein Jahr nach der Einführung erster Neuroleptika im Jahr 1954 war vom U.S. Health Service die weite Verbreitung von Chlorpromazin und Reserpin, ohne dass ein entsprechender Effektivitätsnachweis vorliege, beklagt worden, und man forderte Messverfahren, die ihre Effekte abbildbar machen sollten.14 Auf dieser Grundlage initiierte die National Academy of Science im Jahr 1956 eine Evaluationskonferenz, die sich unter dem Titel »Psychopharmacology. Problems in Evaluation« mit der Kontrolle der vielfältigen Effekte der psychotropen Substanzen befasste.15 Ziel der Konferenz war es, Methoden zur Effektivitätsbeurteilung der neuen Psychopharmaka zu entwickeln. Ralph W. Gerard (1900–1974) stellte in seiner Eröffnungsrede der Konferenz fest, dass psychiatrische Effektivitätsstudien auch bei früheren psychiatrischen Therapieverfahren wie der Leukotomie und Elektroschocktherapie methodisch mangelhaft gewesen seien. Im Fall der neu eingeführten Neuroleptika scheine sich dieses Problem zu wiederholen, denn erste Veröffentlichungen hätten sich nicht an den von Hill aufgeworfenen Forderungen nach einer systematischen Versuchsanordnung orientiert. Der Direktor des 1950 gegründeten National Institute of Mental Health, Seymour Kety (1915–2000), hatte daraufhin vorgeschlagen, die stattfindende Evaluationskonferenz zu organisieren, die sich ausschließlich mit den methodischen Problemen eines Wirksamkeitsnachweises der neuen psychiatrischen Medikamente befassen und einem großen Teil der KlinikpsychiaterInnen ein Forum für einen Austausch bieten sollte.16 Zeitgleich mit der Planung der Konferenz wurde aber auch die Notwendigkeit eines staatlich finanzierten Psychopharmacological Service Center erkannt, das sich mit der Evaluation der neuen Medikamente beschäftigen und als Teil des National Institute of Mental Health fungieren sollte.17 Ziel der neu geschaffenen Institutionen war es, multidisziplinäre Forschungsprogramme
14 Gerard 1959b, S. 9; Healy 2002, S. 279 ff. 15 Cole/Gerard 1959. Auf der Konferenz waren mit 100 TeilnehmerInnen ein Großteil der US-ForscherInnen aus dem Gebiet der Psychopharmakologie anwesend und ihre Publikation umfasst 700 Seiten (vgl. Cole/Gerard 1959). Neben der National Academy of Science waren an der Konferenz auch das National Institute of Mental Health (NIMH) und die American Psychiatric Association (APA) beteiligt. 16 Gerard 1959a, S. 1. 17 Gerard 1959a, S. 3ff.
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für die Evaluierung der modernen Psychopharmaka zu schaffen und neue Leitlinien zur Wirksamkeitsbeurteilung zu erstellen. Die ersten Diskussionen um einen Wirksamkeitsbegriff, die eng an die staatlich überwachte Arzneimittelregulation in den USA gekoppelt waren, sollen im Folgenden am Beispiel der Debatten auf dieser Evaluationskonferenz nachvollzogen und im Kontext zeitgleich entstehender Veröffentlichungen analysiert werden. Sie sind als beispielhaft für die methodische Orientierung der Psychopharmakologie am »klinischen Experiment« zu verstehen. Zumindest in den Diskussionen zu Beginn der Konferenz scheint jedoch auf, dass ein durch Zeugenschaft gebildetes Wissen auch in der amerikanischen Diskussion zunächst viele Anhänger hatte und die Orientierung am kontrollierten klinischen Experiment nicht alle ForscherInnen als Evaluationsmodell überzeugte.
1 . 2 » P r o b l e m s i n E va l u a t i o n « – e r s t e D e b a t t e n u m k o n t r o l l i e r t e P s yc h o p h a r m a k a s t u d i e n »One of the psychopharmacology’s main impacts on psychology and medicine has been in the development of improved methodology. In response to the skepticism about chlorpromazine’s effectiveness, criticism coming mainly from psychodynamic and sociotherapeutic clinicians, the psychopharmacologist perfected the double blind experimental design, expanded the use of placebos, incorporated quantitative techniques for rating scales, and utilized advanced multivariate statistical techniques combined with the new computer technology developed in the 1950s.«18
Mit diesen Worten führte der Psychiater Gerald Klerman in den 1970er Jahren in die Bedeutung der ersten modernen Psychopharmaka für die Erneuerung des klinischen Versuchs ein. Gleichzeitig lesen sich die Ausführungen Klermans aber auch als beispielhafte Formulierung für die Aufnahme statistisch-experimenteller Innovationen in der Medizin als Misstrauenstechnologien im Sinne Theodore Porters, mit deren Hilfe man die KritikerInnen psychopharmakologischer Behandlungsansätze zum Verstummen bringen wollte. Mit der Einführung neuer experimenteller Techniken wurden neben einem Nachweis der Effektivität der neuen Substanzen auch politische Kämpfe um den Einfluss unterschiedlicher Berufsgruppen in der Psychiatrie sowie um die Frage nach biologischen und sozialen Faktoren in der Entstehung psychischer Abweichungen debattiert. Diese Diskussionen fanden in einem psychiatrischen Umfeld statt, in dem 18 Gerald L. Klerman: Drug therapy of Schizophrenia. Part 2. Current recommendations and future implications. In: Drug Therapy, Vol. 3, ohne Seitenangabe, zitiert nach Swazey 1974, S. 235.
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die Mehrheit der zeitgenössisch klinisch tätigen PsychiaterInnen sich an psychoanalytischen Konzepten orientierten. Wenn ForscherInnen in den 1950er Jahren über die Methoden der Wissensgenerierung stritten, verhandelten sie also – gerade in den USA – auch die Zukunft der Institutionen und Professionen. Auf der ersten Evaluationskonferenz wurden zunächst die klinischpsychiatrischen Berichte über die Effekte der Substanzen problematisiert, deren Uneinheitlichkeit und begriffliche Unklarheit einen schnellen Austausch über »Fakten« erschwerte, sodass eine Definition dessen, was eine wesentlicher Effekt sei, von Papier zu Papier differierte.19 Damit stand nicht nur das Hervorbringen von neuroleptischen Phänomenen, sondern auch ihre Stabilisierung als »Fakt« in Frage, die jedoch einen wesentlichen Teil jedes Experimentalisierungsprozesses ausmacht.20 Um die psychotropen Spuren besser aufzeigen zu können, bedurfte es eines Austauschs zwischen verschiedenen ForscherInnengruppen – PsychiaterInnen, PsychologInnen, InternistInnen und StatistikerInnen –, die eine Planung von Versuchsreihen mit stabilen Effekten ermöglichen sollten. Die sich an den Medizinischen Hochschulen Anfang der 1950er Jahre immer stärker ausbreitende Statistik sollte dabei eine große Rolle spielen.21 Die Probleme der Evaluation neuer psychiatrischer Medikamente fassten Jonathan Cole und seine Kollegen zu Beginn der Konferenz folgendermaßen zusammen: Zum einen entstehe ein Kontrollproblem, da es keine vergleichbaren Gruppe gebe. Zum anderen müsse eine Evaluierung der Effekte am Patienten besser fassbar gemacht werden, was aufgrund der mangelnden diagnostischen Übereinstimmung und des Fehlens von Skalierungssystemen kaum möglich erschien. Des Weiteren müsse auch der langfristige Effekt bedacht werden, wobei bislang Folgeuntersuchungen aber kaum möglich gewesen seien.22 Diese Probleme lassen sich meines Erachtens auch entlang folgender Merkmale beschreiben: Zunächst wurde hervorgehoben, dass die neuen psychiatrischen Medikamente subjektive Effekte erzeugten und schwer zu stabilisieren waren. Die Wirkungen der Psychopharmaka schienen gleichzeitig aber auch von einer Reihe sozialer Faktoren beeinflusst zu sein. Die Versuche, sie zu stabilisieren, waren zudem von einigen individuellen Eigenschaften der PatientInnen abhängig. So war es weder möglich, eine Standarddosierung anzugeben noch vorherzusagen, welcher Patient besonders gut auf die Medikation ansprechen würde. Im Zuge der Auseinandersetzung mit diesen Problemen wurde auch die Zeugenschaft des Arztes als
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Cole 1959a. Hacking 1996, S. 380. Marks 1997, S. 5ff. Cole/Ross/Bouthilet 1959.
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Messinstrument diskutiert. Es wird sich jedoch entlang meiner Darstellung der Diskussionen zeigen, dass die Subjektivität von ForscherInnen und PatientInnen in diesem Prozess des Wissensbildung zunehmende prekär werden und durch eine konsequente Anwendung der kontrollierten Versuchsanordnung ersetzt werden sollte. Zunächst möchte ich die Diskussionen um die individuellen Reaktionen als konstitutives Moment der Psychopharmaka betrachten.
Die subjektiven Effekte psychotroper Substanzen: Probleme der Stabilisierung Die Tatsache, dass die ForscherInnen die Effekte der psychotropen Substanzen nicht ohne den Patienten erfassen konnten, bildete sich auch in den Diskussionen um die Evaluation derselben als Konflikt ab. Hier wurden zunächst die individuellen Reaktionen der PatientInnen auf die Neuroleptikagabe problematisiert.23 Die neuroleptischen Einwirkungen würden, wie konstatiert wurde, immer auf unterschiedliche Persönlichkeitsdispositionen treffen.24 Offen blieb außerdem die Frage, wie eine chemisch vermittelte Wirkung auf psychopathologische Parameter überhaupt wissenschaftlich erklärt werden konnte, zumal diese Parameter von den verschiedenen psychiatrischen Schulen auf unterschiedliche Weise gefasst würden. Dieses Problem beeinflusse jedoch jede Messung, betonten einige ForscherInnen.25 Als Fehlerquelle eines Wirksamkeitsnachweises, die einer besonderen Kontrolle bedurfte, erwies sich auch das Wechselspiel zwischen Milieu und Psychopharmakatherapie. So waren für viele ForscherInnen der Patient, das Medikament, das Setting der Verabreichung, das medizinische Personal, das es verabreichte, und die BeobachterInnen nicht von den psychotropen Effekten zu trennen.26 Als Bedingung der Stabilisierung der neuroleptischen Effekte war deshalb, so meine These, eine Normierung der Handlungen der PatientInnen durchzusetzen. Die Konstruktion neuer Verfahren zur Erfassung des Verhaltens sollte auch die Reaktionen der PatientInnen kontrollieren.
23 Lasagna/Laties 1959, S. 85. 24 Freyhan 1960, S. 150. 25 Sarwer-Foner 1960a, S. 580. Umstritten blieb auch, ob das (typisierbare) physiologische Wirkprofil, welches ein Neuroleptikum besitze, Vorhersagen für dessen psychologische Effekte zulasse, die häufig eben nicht spezifisch und somit daraus ableitbar seien (vgl. Sarwer-Foner 1960a, S. 596). 26 Bowes 1960. Dieser führte aus, dass die Resultate der Psychopharmakastudien generell in geschlossenen Stationen der Krankenhäuser am besten zu erreichen seien. Zu den Problemen weiterer sozialer Variablen vgl. Schwarz 1959, S. 402ff; Schlesinger 1959, S. 431ff.
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Neuroleptische Effekte und ihre Kontrolle: Standardisierungen »The discrepancy of results obtained with the same drug in similar patients by different investigators was a persistent source of surprise for psychiatrists.«27
Mit diesem Satz fasst Anne Caldwell die Probleme zusammen, die sich im Laufe der Evaluation ergaben. Nur wenn die von Klinik zu Klinik variierenden Effekte der psychotropen Substanzen in ein Dispositiv der kontrollierten Anwendung überführt werden würden, konnten die Standardisierungsbemühungen zum Erfolg führen. Sie wurden im Folgenden zum Kulminationspunkt der Auseinandersetzung. Damit einher ging auch, wie Stefan Timmermans und Marc Berg herausarbeiten, die Entwicklung neuer technowissenschaftlicher Skripte, die verschiedene Spuren der Substanzen sichtbar machen sollten.28 Entlang der Diskussionen um die Schwierigkeiten der Fixierung psychotroper Effekte wurden so neue Versuchsformen verhandelt. Diese sollten in der Diskussion über eine »anerkannte wissenschaftliche Tatsache« in der Psychopharmakaforschung eine bedeutende Rolle spielen. Die Bedingung der Standardisierung eines neuen Medikaments setze, wie auf der Evaluationskonferenz in der Einführungsrede ausgeführt wurde, eine gleiche Behandlung der PatientInnen voraus, damit eine vergleichbare Messgrundlage geschaffen würde. Dass die Effekte der neuen Psychopharmaka ständig variierten, zeigte sich hingegen schon an den Debatten um die Verabreichungsmenge und dem Problem, die richtigen PatientInnen für die medikamentöse Behandlung auszuwählen.
Das Problem der »optimalen therapeutischen Dosierung« und der PatientInnenselektion Psychopharmaka richtig zu dosieren, war kein einfaches Unterfangen, denn die Effekte der Substanzen differierten von Patient zu Patient.29 Um dennoch Standardisierungseffekte erreichen zu können, wurde von einigen ForscherInnen gefordert, zumindest die durchschnittliche individuelle Dosis, die technischen Gründe der Verabreichung und die Auswahlkriterien für die Dosierung und Länge der Behandlung stets mit anzugeben.30 Dagegen wurde eingewandt, dass die Erstellung einer Dosierungskurve, wie sie für Wirksamkeitsnachweise in der Regel zentral sei, sich als faktisch unmöglich erweise, da man beispielsweise eine antiemetische, kaum aber 27 Caldwell 1970, S. 87. 28 Timmermans/Berg 1997. 29 Gerard 1959b; Freyhan 1959a, S. 376ff. Die Verabreichungsdosen für Chlorpromazin variierten zwischen 100–2.000 mg. 30 Cole/Ross/Bouthilet 1959.
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eine »antipsychotische« Dosierung bestimmen könne. Bei Psychosen vollzögen sich zudem Veränderungen langsamer und subtiler, und diese entzögen sich damit den harten Kriterien der Messbarkeit.31 Doch selbst bei individuell abgestimmter Dosierung sprach nicht jeder Patient auf die neuen Neuroleptika gleich gut an. Um herauszufinden, bei welchen PatientInnen eine entsprechende Verabreichung effektiv sein könnte, beschäftigte sich auf der ersten Evaluationskonferenz ein ganzes Komitee mit der »Patientenauswahl und Kontrolle«. Eine Wirksamkeitsbeurteilung der neuen psychotropen Substanzen stand zudem immer wieder vor dem Problem, dass es keinen »natürlichen Verlauf« gab, den man als Maßstab für eine Besserung verwenden konnte. Eine zufällige, spontan auftretende Veränderung konnte hier weniger als in anderen Bereichen der Medizin einer medikamenteninduzierten Besserung zugeschrieben werden.32 Aus diesem Grunde standen in den Diskussionen über die Kontrolle der Effekte die Bildung großer Stichproben und deren statistische Auswertung im Mittelpunkt. Über diese hoffte man, die instabilen Effekte als Fakten erhärtbar machen zu können. Trotzdem verwies schon die Gruppenbildung immer wieder auf die Schwierigkeiten ihrer Vergleichbarkeit: Die TeilnehmerInnen der Versuchsgruppen mussten nicht nur hinsichtlich der Diagnose, sondern auch in Bezug auf Alter und Geschlecht übereinstimmen. Schon die Einteilung in diagnostische Subgruppen, so wurde ausgeführt, liefere wesentliche prognostische Indikatoren. Aber auch der Zeitpunkt der Neuroleptikagabe innerhalb des als psychotisch definierten Prozesses sei entscheidend für die Wirksamkeit, da ein frühes Einsetzen der Medikation wesentlich bessere Prognosen verspräche.33 Gleichzeitig war schon die Definition der einzelnen Diagnosen Teil des zu lösenden Problems, da sie in ihrer Uneinheitlichkeit keinen Vergleichsmaßstab boten. Es zeigte sich zudem, dass die Prognose der psychiatrisierten PatientInnen häufig mehr auf sozialen Faktoren beruhte als auf den direkten Folgen einer pharmakotherapeutischen Intervention. Nach Angaben der National Academy of Science entwickelten sich 82 Prozent der Behandelten ihrer Vorhersage gemäß, und zwar unabhängig davon, ob sie eine spezifische Therapie erhielten oder nicht. Lediglich bei einem Zehntel der Fälle könne man durch eine Intervention eine Verbesserung, in genauso vielen Fällen hingegen auch eine Verschlechterung beobachten. Eine Erfassung der Wirksamkeit erschien deshalb ohne die Erfassung sozialer Variablen wie zum Beispiel des Einflusses der Familie als nahezu unmöglich.34 In diesen ersten Diskussionen bildeten sich schon einige wesentliche Parameter für
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Bayne 1959. Cole 1959b, S. 616ff. Ayd 1957. Cole 1959b, S. 616ff.
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eine Orientierung am »klinischen Experiment« ab, denn für einen experimentellen Beweis von Wirksamkeit benötigten die ForscherInnen stabile Umweltbedingungen, die sich an das Versuchsdesign des Labors anlehnten. Die systematische Orientierung an Versuchs- und Kontrollgruppe und die Möglichkeit, individuelle Differenzen über statistische Auswertungen zu kontrollieren, um die Substanzeffekte zu stabilisieren, war ein wesentliches Anliegen erster Evaluationsbemühungen. In der Diskussion über das Problem der PatientInnenkontrolle blieb strittig, ob nicht allein durch die Beruhigung der PatientInnen ein Sekundäreffekt ausgelöst werde, der eine Besserung bewirke. Diesen Folgeeffekt als Teil der Wirksamkeit des Medikaments zu bezeichnen, sei, wie einige ForscherInnen einwandten, schon Teil des Problems einer Beurteilung derselben.35 Offen blieb zudem die Frage, wie und von welcher Instanz die Effekte überhaupt erfasst werden sollten. Deshalb wurde auch der Rolle des Experimentators im Laufe der Diskussionen zunehmend mehr Aufmerksamkeit geschenkt.
Vom Versuchsleiter als Standardisierungsinstanz zur Ratingskala Als Experiment im sozialen Raum der Klinik sind der klinische Versuch und seine Erkenntnisproduktionen stets in Interaktionsformen von Arzt und Patient eingebunden. Für die Testung der Effektivität der Neuroleptika wurde von einzelnen ForscherInnen in der US-amerikanischen Debatte auch die Person des Arztes als relevante Größe anerkannt und postuliert, dass sie als Grundlage für eine Evaluation der Substanzen stets mit einbezogen werden müsse. So formulierten einzelne PsychiaterInnen, dass der Einfluss der Persönlichkeit des Arztes und seine bewussten und unbewußten Erwartungen mit keiner Methode ausgeschlossen werden können.36 Wenn aber der Arzt selbst als Teil der Wirksamkeit eines Arzneimittels gedacht werden muss, inwieweit konnten dann seine Anteile in der Beurteilung derselben mit eingeschlossen werden? Als Problematisierung dieses Sachverhalts fokussierte sich die amerikanische Debatte in den 1950er Jahren auf die Frage, in welcher Form der Einfluss des Arztes und seine Erwartungen als sogenannte Versuchsleitereffekte erfasst werden sollten. So wurde zunächst von einigen ForscherInnen angeführt, dass für die Beurteilung des klinischen Effekts der Kliniker als das nützlichste Instrumentarium zu betrachten sei, weil es keine
35 Diskussion des Panels »Patientenkontrolle und Selektion« in Cole 1959b, S. 616ff. 36 Cazzullo 1964, S. 537; Bayne 1959.
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Messungen gebe, welche die Interaktionen zwischen Persönlichkeit, Psychopathologie und Individualität fassen könnten.37 Diese Aussagen schlossen eng an einen Begriff der Zeugenschaft an. Schließlich setzten sich aber diejenigen ForscherInnen durch, die eine Kontrolle des Versuchsleitereffekts forderten. Durch die Konstruktion von Beurteilungsskalen sollten Versuchsleitereffekte schließlich weiter minimiert und neuroleptische Effekte stabilisiert werden. Checklisten und Ratingskalen waren, wie Richard Jenkins und Maurice Lorr berichteten, schon seit den 1940er Jahren für eine Symptomerfassung medizinischer Phänomene benutzt worden, um dem zunehmenden Interesse an der Objektivierung wissenschaftlichen Wissens gerecht zu werden.38 Skalen für die Beurteilung von »psychischer Besserung« benötigten jedoch generell eine Übersetzung des psychischen Befindens in Symptome. Hinsichtlich der Instrumente als Systeme zur Beurteilung eines »antipsychotischen« Effekts standen die PsychiaterInnen vor dem Problem, dass sich zeitgenössisch für die Gruppe der »Psychosen« keine mit anderen Krankheiten wie zum Beispiel der Tuberkulose vergleichbare klare Symptomatik festmachen ließ. Erst durch die Konstruktion von Skalen und Checklisten könnten, so Jenkins und Lorr, die verschiedenen Symptome in eine vergleichbare Form gebracht werden, indem sie in ein abstufbares System eingeordnet werden würden.39 Doch in der Diskussion um die Ratingskalen als neue Messinstrumente zur Erfassung psychotroper Effekte erschien schon deren symptomatische Grundorientierung einigen beteiligten WissenschaftlerInnen als Problem: Konnte mit Ratingskalen tatsächlich zwischen symptomatischen und verhaltensbezogenen Veränderungen unterschieden werden? War die Ratingskala ein geeignetes Schema zur Messung psychotroper Effekte? Oder bildete sie vor allem die Umgebungsvariablen ab? Als Messsysteme waren Ratingskalen, wie diese Fragen deutlich machen, eben kein Instrument zur gewünschten »gesäuberten« Beurteilung von psychotroper Wirksamkeit. Die Skalen bildeten lediglich einzelne Merkmale wie zum Beispiel »Überaktivität« in nach Graden abgestuften Zahlenreihen ab. Die Zuordnung des Verhaltens der PatientInnen zu einzelnen auf den Skalen abgebildeten Werten wurde in der Regel von PflegerInnen oder ÄrztInnen vorgenommen. Warum ein »Symptom« weniger stark ausgeprägt war, konnte auch
37 Freyhan 1959a, S. 377. 38 Der Begriff Ratingskala (Beurteilungsskala) bezeichnet eine mehrstufige Skala, auf der ein Beurteiler, in der Klinik in der Regel ÄrztInnen, PsychologInnen oder PflegerInnen, die Ausprägung eines Merkmals wie zum Beispiel Angst, einem vorher auf der Skala festgelegten Rang zuordnet. Die Abstände zwischen den verschiedenen Stufen sind in der Regel gleich groß und können sprachlich formuliert sein oder durch Zahlen symbolisiert werden. 39 Jenkins/Lorr 1959, S. 469ff.
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eine Ratingskala in der Regel nicht erfassen. Auch markierte die Fokussierung auf pathologisches Verhalten schon ein Bias, der als normal definiertes Verhalten nicht mehr messbar machte.40 Schon früh wurde in der Debatte auch auf die mangelnde Reliabilität von Ratingskalen hingewiesen, die von Anwender zu Anwender variierten.41 Wie man weiter kritisch anmerkte, werde das Urteil des Klinikers mit der Anwendung dieser Verfahren als Maßstab gesetzt, anstatt die Effektivitätsbeurteilung von den PatientInnen vornehmen zu lassen. Damit verdopple man aber auch den grundsätzlich in Ratingskalen enthaltenen Halo-Effekt.42 Die zeitgenössische Diskussion bestätigt damit die Idee des Wissenschaftshistorikers David Healy, der 1997 auf den Konstruktionscharakter solcher Ratingsskalen verwiesen hat. Die Ratingskalen wurden schließlich von den ForscherInnen als nützliches Instrument betrachtet, schlossen jedoch nicht alle individuellen Momente im Forschungsprozess aus.43 Ein weiteres Potential zur Lösung der Probleme sahen die ForscherInnen in der Einführung von Doppelblindstudien, die die subjektiven Elemente weiter minimieren sollten.
Vom mächtigen Placebo zum Doppelblindversuch Die Diskussionen um blinde Versuchsanordnungen auf der Evaluationskonferenz schlossen an frühere, erste Publikationen zu diesem Thema an. Bereits 1954 hatte das englische Ehepaar Elkes eine Doppelblindstudie zur Chlorpromazinevaluation für den angloamerikanischen Raum vorgelegt, die auch für die US-Rezeption einflussreich sein sollte.44 In der von dem Ehepaar beschriebenen Versuchsanordnung wurden zunächst alle Sedativa abgesetzt und die PatientInnen auf eine andere Station verlegt, wo sie zunächst zur Stabilisierung ohne Medikamente beobachtet wurden.45 Die Pa40 Diskussion zu Jenkins/Lorr 1959. 41 Harris 1959, S. 514ff. Auch andere ForscherInnen verwiesen später darauf, dass die Ratingskalen in der Regel unterstandardisiert und unreliabel waren (vgl. Murray 1989). 42 Murray 1989, S. 40ff. Dieser führt aus, dass klinische Ratingskalen nur selten mit Selbstberichten von PatientInnen ergänzt würden. Der Halo-Effekt bezeichnet in diesem Kontext den Effekt des so genannten Versuchsleiterbias, der kennzeichnet, dass dieser nur das wahrnimmt, was er zu sehen wünscht. 43 Healy 1997, S. 194ff. 44 Elkes/Elkes 1954. 45 Die vorherige längere Ruhephase hielten die AutorInnen für notwendig, da sie davon ausgingen, dass sich als schizophren diagnostizierte PatientInnen nach einem Ortswechsel ohnehin besserten. Diese den Umgebungsfaktoren zugerechneten Heileffekte mussten in einer Medikamentenevaluation systematisch ausgeschlossen werden, um von einer stabilen Basiskurve ausgehen zu können.
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tientInnen erhielten dann abwechselnd in gleichen Abständen Chlorpromazin und Placebos. Die Krankenschwestern wussten nicht, welches Mittel sie verabreichten, lediglich eine Beobachterin – in diesem Fall die Mitautorin – erhielt Informationen darüber, welche Substanzen die einzelnen PatientInnen einnahmen. Ihre täglichen Notizen wurden schließlich mit denen der Krankenschwestern verglichen und den wöchentlichen Interviews der ÄrztInnen mit den PatientInnen gegenübergestellt. In den Ergebnissen dieser Versuchsreihe wiesen die AutorInnen auf die Nützlichkeit der Versuchsanordnung mit einer Ruhephase zu Beginn und einer längeren Beobachtungsphase in der Medikamentenerprobung hin, um die sozialen Heileffekte auszuschalten. In Bezug auf einen zunächst fälschlicherweise angenommenen positiven Effekt der Medikation formulierten sie: »It seems likely that this illusory improvement was due to the unaccustomed daily attention which the patients were getting, and their knowledge that they were undergoing a new kind of treatment. The staff’s enthusiasm, too, soon found its own level, and as the weeks went by the effects of chlorpromazine could be more clearly distinguished.«46
Diese erste Doppelblindstudie wurde von vielen ForscherInnen zur Kenntnis genommen und sollte eine kontrollierte Beobachtung wie im Labor ermöglichen. Die vermeintliche Objektivität der Doppelblindstudien blieb jedoch in den 1950er Jahre im angloamerikanischen Raum zunächst nicht unumstritten. Wie angemerkt wurde, klärte sich auch mit der Einführung des doppelt blinden Versuchdesigns schließlich nicht, ob man die Wirkung wirklich der Droge oder der sozialen Umgebung zuzuschreiben hatte, denn in Krankenhäusern mit gutem therapeutischen Angebot waren die Erfolge der neuen Psychopharmaka weit weniger ausgeprägt. Auch stellte sich die ethische Frage, ob man die Doppelblindheit wegen der unerwünschten Wirkungen, wie zum Beispiel Bewegungsstörungen und Hautausschläge, aufrecht erhalten solle.47 Gleichzeitig fand die Ablösung vom subjektiven Eindruck des Arztes immer mehr Anerkennung.48 Im Zentrum der neuen experimentellen Versuchsanordnung standen nun keine Elemente mehr, die diese persönlichen Qualitäten des Arztes in den Vordergrund stellen und ihre positiven Effekte auf eine als hybrid verstandene Medikamentenwirkung unterstützen sollten. Vielmehr war das wichtigste Kriterium, das durch den Doppelblindversuch erreicht werden sollte, den Einfluss des
46 Elkes/Elkes 1954, S. 562. 47 Feldman 1959, S. 456ff. 48 Feldman 1956, S. 52.
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erprobenden Arztes auf das Ergebnis zu minimieren.49 Gleichzeitig wurde der Versuchsleiter zum zentralen Teil der Versuchsanordnung, da er mittels seiner klinischen Beurteilung alle anderen Faktoren als die Medikamentenwirkung auf den Patienten und dessen physiologische und psychologische Reaktionen kontrollieren sollte.50 Die positiven und negativen Einflüsse des Versuchsleiters auf die Effektivitätsbeurteilung auszuschalten, sollte ein zentrales Anliegen des Doppelblindversuchs werden, der sich mit der Neugestaltung des klinischen Versuchsdesigns schließlich auch in der Psychopharmakologie durchsetzte. Die systematische Anwendung des Doppelblindversuchs kennzeichnet genau die Form der Kontrolle, die zum Ausschluss des Versuchsleitereffekts aus der Studie führen sollte.51 Wie Klaus Holzkamp für das psychologische Experiment ausführt, mutiert der Versuchsleiter innerhalb der statistisch-experimentellen Fassung des Psychischen selbst zur Störquelle, sodass dessen eigene Subjektivität schließlich eliminiert werden muss.52
Standardisierte Wirksamkeitsstudien Die Effekte der neuroleptischen Substanzen wurden, wie einzelne Beiträge der analysierten Konferenz zeigten, in den USA zunächst – ähnlich wie in der Bundesrepublik Deutschland – im Sinne eines Zusammenspiels von natürlicher Wirkung der Substanz und kultureller Interaktion gedacht. Schließlich überlagerte jedoch die Vorstellung vom kontrollierten klinischen Versuch diese Diskussionen und die »Reformer« gewannen auf dieser ersten amerikanischen Evaluationskonferenz die Oberhand. Im Folgenden soll mit Marks argumentiert werden, dass sich mit der Evaluation der neuroleptischen Effekte in den USA letztlich die Vertreter einer »neuen Wissenschaftlichkeit« durchsetzten, die den Schwerpunkt von der klinischen Beobachtung zum »naturwissenschaftlichen« Beweis verlagerten. Die Einführung und Durchsetzung des klinischen Experiments zur Wirksamkeitserfassung, die sich auf dieser Konferenz vollzog, markierte aber, so meine These, zugleich die Abwendung von dem genannten Hybridbild. So fokussierte sich die Diskussion auf der Konferenz zunehmend auf die Kontrolle und den Ausschluss sozialer Effekte aus den Wirksamkeitsstudien. Diese Transformation der therapeutischen Praxis in einen Beweis, der nach statistischen Standards interpretiert werden konnte, markierte in den USA Marks zufolge eine in den 1950er Jahren neu definierte Grenze
49 50 51 52
Caldwell 1970, S. 97ff. Caldwell 1970, S. 90ff. Di Mascio 1960, S. 69ff. Holzkamp 1985, S. 20.
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dessen, was als wissenschaftlich und unwissenschaftlich galt. Diese Setzung implementierte auch ein Set an neuen historischen Normen und Glaubenssätzen: Erst indem ForscherInnen statistisch akzeptable Beweise erbrachten, wurden sie nun vollwertiges Mitglied der wissenschaftlichen Gemeinschaft. Doch was galt in der sich neu bildenden Disziplin der Psychopharmakologie als unvernünftiges Verhalten? Wo befanden sich die Grenzpunkte, an denen randomisiert werden musste? Wann sollte ein Versuch gestoppt werden? Wie weit sollte eine Generalisierung gehen?53 Es waren solche Fragen, die erste Planungen einer groß angelegten US-amerikanischen Wirksamkeitsstudie auf der Evaluationskonferenz begleiteten, die ein für alle Mal Zweifel über die Wirksamkeit der neuen psychotropen Substanzen beseitigen sollte. In der später als wegweisend geltenden Studie sollten folgende als wesentlich definierte Kriterien beachtet werden: Die erste Prüfgruppe sollte nur aus Frauen bestehen. Des Weiteren wurde darauf hingewiesen, dass Probleme des Alters und der Jugend herausgefiltert werden müssten; als Einschlusskriterien galten hingegen »akute funktionelle Psychosen« und erste Einweisungen. Geplant wurde, dass die Studie schließlich fünf Krankenhäuser umfassen und man die Patientinnen zufällig auf die verschiedenen Krankenhäuser aufteilen solle. Zur Beurteilung des Status der Patientinnen wurden PsychologInnen von außerhalb benötigt, um nach der Feststellung des Zustands der Behandelten mit einer 6-monatigen Chlorpromazin- und Reserpinbehandlung zu beginnen. Die Gesamtkosten einer solchen Studie wurden auf eine Millionen Dollar beziffert.54 Mit kleineren Änderungen wurde die beschlossene nationale neuroleptische Wirksamkeitsprüfung in den USA ab 1961 durchgeführt. Das eingerichtete Psychopharmacology Service Center, das die Studie im Auftrag des National Institute of Mental Health durchführte, wollte mit dieser Studie die Zweifel über die Effektivität der neuen neuroleptischen Medikation ausräumen und einen vorläufigen Schlusspunkt unter die Debatte über die Psychopharmakaevaluation setzen.55 In der schließlich in neun Kliniken durchgeführten Studie, in der Chlorpromazin, Thioridazin und Fluphenazin als Wirkstoffe miteinander verglichen wurden, standen folgende Fragestellungen im Vordergrund: Zum einen plante man die klinisch signifikan53 Marks 1997, S. 8ff. 54 Kline/Brill 1959. In der Diskussion dieser Studie wurden zwei Aspekte kritisiert: Zum einen sei ein Ortswechsel für eine Wirksamkeitsprüfung schädlich, da sich die PatientInnen meist in der Regel allein aufgrund dieses Effekts besserten. Zum anderen sei eine ausschließliche Fokussierung auf Frauen ein Bias zuungunsten einer positiven Wirksamkeitsbeurteilung, da Frauen wesentlich größere Probleme hätten, sich in das Leben außerhalb des Krankenhauses zu reintegrieren und auch ihre Wiedereinweisungsraten höher seien (vgl. Diskussion zu Klein/Brill 1959). 55 Zu dieser Studie vgl. Guttmacher 1964.
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te Änderung des Befindens nach einer Chlorpromazinbehandlung zu erfassen. Des Weiteren sollte ermittelt werden können, auf welche Symptome die einzelnen Komponenten wirkten. Drittens stellte sich die Frage, welches der Medikamente am effektivsten sei, ob diese sich signifikant von Placebos unterschieden und ob sie unterschiedliche unerwünschte Wirkungen hätten. Die Effekte der Besserung sollten von den ÄrztInnen mittels eines standardisierten Interviews56 und von Krankenschwestern per standardisierter Beobachtung im Krankensaal57 festgehalten werden. Als Ergebnis wurde festgestellt, dass sich der Zustand von drei Viertel der medikamentös Behandelten, aber nur derjenige von einem Viertel der Placebobehandelten »merklich verbesserte«. Dieser Befund erschien umso bedeutender, als andere Wirksamkeitsstudien, die als weniger gut randomisiert galten, zu wesentlich schlechteren Ergebnissen kamen. Auch glaubten die ForscherInnen mittels der Studie erstmals einen spezifischen Effekt auf spezielle »schizophrene« Symptome wie Denkstörungen und paranoide Gedanken beobachtet zu haben, so dass man die Substanzen nun erst auch als Antischizophrenika und Antipsychotika bezeichnete.58 Die beschriebene Studie des Psychopharmacological Service Center kennzeichnete die vollständige Übernahme der Versuchsanordnung des kontrollierten klinischen Versuchs in der US-Psychopharmakologie, in der auch die Einführung des Doppelblindversuchs als Goldstandard konsequent durchgesetzt wurde.59 Doch welche Folgen hatte die Anpassung des kontrollierten klinischen Versuchs für den Patienten? Wie veränderte sich der neuroleptische Wirksamkeitsbegriff im Prozess der experimentellen Neufassung in der US-amerikanischen Konzeption? Es sollen abschließend die Veränderungen betrachtet werden, die eine Anpassung des Wirksamkeitsbegriffs mit sich brachten.
1.3 Zur Konstruktion einer neuen Episteme der Wirksamkeit – vorläufige Zusammenfassung Die US-amerikanischen Evaluationsbemühungen um die modernen Psychopharmaka leiteten nach David Healy eine neue Periode in der psychiatrischen Forschung ein; sie markierten eine statistische Wende des klinischen Versuchs. Für die Evaluation neuer psychotroper Substanzen wurden vom staatlichen Psychopharmacological Service Center schon zu 56 Psychiatric Inpatient Rating Scale von Lorr. 57 Burdock Ward Behaviour Scale. 58 Die Debatte um die Spezifizität des Effektes sollte jedoch auch später nicht abbrechen (vgl. auch V.1). 59 Cole/Healy 1996, S. 239ff.
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Beginn der Medikamentenevaluation zwei Millionen US-Dollar zur Verfügung gestellt. Um der Zunahme neuer psychotroper Substanzen gerecht zu werden, wurde schließlich eine Early Clinical Drug Evaluation Unit (ECDEU) gebildet, die sich vor allem auf Sicherheitsaspekte und neue Dosierungsfragen konzentrieren sollte. Die Entwicklung von standardisierten klinischen Versuchsprotokollen, Ratingskalen und Codierungsmethoden stand im Zentrum der Bemühungen. Diese Neuausrichtung sollte die Experimente zur Wirksamkeitserfassung der Neuroleptika von jeder subjektiv gefärbten Vorhersage abtrennen. Erst nach einem erfolgten Wirksamkeitsnachweis wurden Theorien über die biologische Wirkung der Neuroleptika gebildet.60 Diese neue Form der Wissensgenerierung markierte nach Healy einen bedeutenden Wendepunkt, denn es war der klinische Versuch, der somit zum Fortschrittsmittel und technischen System mutierte.61 Im Kampf um eine statistisch-experimentelle Wende in der Psychiatrie erhielten die Debatten über die Wirksamkeit der Neuroleptika, die in den USA zwischen vorwiegend psychoanalytisch und vorwiegend biologisch ausgerichteten PsychiaterInnen ausgetragen wurden, zudem auch ein politisches Gewicht, denn mit der Debatte für oder gegen eine effektive Psychopharmakatherapie sollte in der Regel die Legitimiät der jeweiligen Forschung untermauert werden.62 Mit der Anpassung des klinisch-therapeutischen Versuchs an die Erfordernisse eines Experiments wurde die Vorstellung eines Begriffs von Wirksamkeit in ein Set von experimentellen »Variablen« übersetzt. Zu diesem Prozess gehörte die Umgestaltung der klinischen Praxis und ihre Annäherung an die Bedingungen des Labors, die eine kontrollierte Beobachtung ermöglichen sollten, aber auch die Anpassung von als psychische Abweichung gefassten Phänomenen an messbare Einheiten. Diese beiden Bewegungen ermöglichten ein stabiles Hervorbringen von neuroleptischen Effekten. Die Wirksamkeit der Neuroleptika als »natürliche Produkte« darzustellen, benötigte die Umgestaltung einer klinischen Praxis, die an den Kriterien experimenteller Theorienbildung ausgerichtet werden musste. Gerade die letzte Wende markierte jedoch einen sozialen Prozess, der für die einzelnen AkteurInnen nicht ohne Folgen blieb. Mit der Umgestaltung des klinischen Versuchs, wie er in der USPsychopharmakologie stattfand, wurde, wie ich weiter ausführen möchte, 60 Gerard 1959a, S. 3ff. 61 Healy 2002, S. 280ff. Die Einführung entsprechender Evaluationszirkel war kein Sonderweg der Psychopharmakologie, wenn auch die verhandelten Probleme hier vielfältiger waren als bei anderen Medikationsformen. Entsprechende von der National Academy of Science organisierte Zirkel fanden mit der Beteiligung von Pharmafirmen auch in anderen Bereichen der Medikamentenerprobung statt (vgl. Marks 1997, S. 144ff.). 62 Sarwer-Foner 1960; Healy 2002.
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auch eine neue Episteme der Wirksamkeit definiert. In dieser Definition von therapeutischer Effektivität und therapeutischem Wissen wurde das Placebo nicht mehr zur Befriedigung und »Heilung« der PatientInnen durch Suggestion verwendet. Vielmehr diente es als Grenzmarke für das, was als modernes therapeutisches Wissen gelten konnte.63 Diese Konstruktionsbedingungen modernen wissenschaftlichen Wissens blieben jedoch in der Definition eines Wirksamkeitsbegriffs der Neuroleptika in der Psychiatrie, der zwischen PsychologInnen, ÄrztInnen und PharmakologInnen ausgehandelt werden musste, als eingeschriebene Spuren bestehen. Darüber hinaus blieb die neuroleptische Wirksamkeit stets ein unscharfer Beg riff, da man sich kaum vorstellen konnte, wie ein chemisches Produkt normales Denken erzeugen sollte. Gerade die Spaltung zwischen Natur und Gesellschaft, die sich mit Hilfe der Placebokontrolle durchsetzen sollte, erscheint im Fall der neuen neuroleptischen Substanzen als paradox. In diesem Sinne plädierte der französische Wissenschaftsphilosoph Philippe Pignarre für einen anderen Wirksamkeitsbegriff der Psychopharmaka: »Psychologen begreifen nicht, dass ein Medikament nicht aufgrund einer stumpfsinnigen chemischen Wirkung heilt, sondern weil es auf eine subtile und präzise Art konstruiert ist, und zwar ausgehend von jener Art und Weise, wie die Psychiatrie eine wiedererzeugte Natur einerseits und – auf der anderen Seite – eine Gesellschaft, aus der Entnahmen durchgeführt wurden, zueinander ins Verhältnis setzt. Die subtil pharmakologisch induzierte Natur der Psychopharmaka erklärt ihre Wirksamkeit. Diese Modalitäten der Herstellung sind nicht gleichgültig: sie bestimmen diejenigen Stoffe, die aus dem Angebot von Testpräparaten ausgewählt werden. Mediziner und Biologen begreifen ihrerseits nicht, dass ihre Psychopharmaka nicht deshalb wirksam sind, weil sie chemisch aktiv sind, sondern weil sie an der Veränderung der Lage teilhaben, in der der Patient steckt [...] und dass einen Patienten zu heilen bedeutet, ihn zu verändern, sei es mit chemischen Substanzen oder anderen Mitteln.«64
Die beschriebene epistemologische Verschiebung, die mit der experimentellen Neugestaltung des klinischen Versuchs einherging, ist dabei aber nicht nur für eine Neuformulierung des Wissens in der Psychiatrie und den Begriff der psychotropen Wirksamkeit folgenreich. Vielmehr hat sie, so meine These, auch weitreichende Konsequenzen für den Patienten. War er in einem Begriff von Wirksamkeit als Zeugenschaft noch Zeuge und Störquelle zugleich, scheint mit der beschriebenen neuen Episteme der
63 Sullivan 1993, S. 224. 64 Pignarre 2006, S. 92. In diesem Sinne sind auch die Ausführungen von Fisher und Greenberg zu verstehen, die ausführen: »A biologically pure treatment for psychological disturbance has been and remains a mythic hope« (Fisher/Greenberg 1997a, S. 46).
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Wirksamkeit seine subjektive Erfahrung der Psychopharmaka nur noch Störquelle zu sein. Gerade die Einführung des Doppelblindversuchs markierte schließlich eine experimentelle Umdeutung, die ohne die Elemente der Erfahrung des Patienten auskommen sollte. Denn die mit einer doppelblinden Versuchsanordnung verbundene Standardisierung musste notwendig nicht nur die unterschiedlichen ärztlichen Blickwinkel vereinheitlichen, sondern auch die Subjektivität des Patienten aus einem Wirksamkeitsnachweis ausschließen.65 Dabei wurde es mit der Vorstellung des kontrollierten klinischen Versuchs für die Psychopharmakologie immer wichtiger, den Patienten als stabile Referenzgröße zu fassen, dessen einzelne durch Persönlichkeitsmerkmale hervorgerufene Schwankungen einer umfassenden Kontrolle unterzogen werden mussten.66 Die Kontrolle des Patienten scheint in die Hervorbringung eines experimentellen Wirksamkeitsbegriffs eingeschrieben zu sein. Mit der neuen Form der Wissensgenerierung wurde darüber hinaus eine neue Macht implementiert, die über das »unpersönliche« Verfahren die Macht des Arztes stärkte, die des Patienten hingegen schwächte. Während der Arzt die blinde Versuchsanordnung benutzte, um ihm als »objektiv« erscheinende Effekte der Medikation besser sehen und beobachten zu können, als »reine Substanzwirkungen«, wurde der Einflussbereich des Patienten letztlich minimiert, da seine Erlebnisse und Bedeutungszuschreibungen systematisch ausgeschlossen werden sollten. Die »moderne« Trennung von Natur und Kultur, die Bruno Latour beschreibt, wird am Beispiel der Versuche, die »modernen« Psychopharmaka zu evaluieren, in den Bemühungen der MedizinerInnen erkennbar, schließlich eine »natürliche« Wirkung sehen zu können. Mit dieser modernen Trennung nahm das Machtverhältnis zwischen Arzt und Patient eine neue Form an, indem die konkrete Arzt-Patienteninteraktion durch eine abstrakte Datengewinnung ersetzt wurde. Robert Castel bezeichnet diese neue Wissensgenerierung auch als eine Bewegung, die sich von der Klinik des Subjekts zu einer epidemiologischen Klinik hin verlagerte. Letztere zeichne sich dadurch aus, Subjekte in einzelne Faktoren zu zerlegen und statt des einzelnen Individuums Populationen zu untersuchen.67 Diese neue Form verschob eine Macht des einzelnen Arztes als Souverän auf präventive Politiken. Die standardisierten Wirksamkeitsstudien dienten somit auch als Vorhersage einer zu erwartenden Wirkung für den einzelnen Patienten. Die beschriebenen Elemente der Übersetzung der neuroleptischen Wirksamkeit in ein experimentelles Dispositiv trafen jedoch in Deutschland auf eine klinisch-psychiatrische Kultur, die sich stark von der ameri65 Sullivan 1993; Davidovitch 2004. 66 Lakoff 2007, S. 67. Vgl. dazu ausführlich Zusammenfassung Teil II. 67 Castel 1983.
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kanischen unterschied. Zu fragen bleibt deshalb, auf welche Referenzpunkte der US-Diskussion um eine statistisch-experimentelle Wirksamkeitserfassung der Neuroleptika sich die bundesdeutschen ForscherInnen bezogen und in welchen Punkten sie sich von diesen abgrenzten. Im Folgenden möchte ich also die Frage nach der bundesdeutschen Gestaltung des klinisch-therapeutischen Versuchs und ihrer Bedeutung für die Entwicklung einer nationalen Form der Wissensgenese über neuroleptische Wirksamkeit stellen.
2 . Die bundesde utsc he De batte um die ne urole ptisc he Effektivität
In den folgenden Analysen soll betrachtet werden, welche Formen der experimentellen Umgestaltung des klinischen Versuchs man in der BRD aufnahm beziehungsweise ablehnte und welche Folgen dies für einen Begriff der therapeutischen Effektivität der Psychopharmaka hatte. Waren die bundesdeutschen Evaluationsversuche nur als nachgängige Entwicklung gegenüber den hegemonialen amerikanischen Bestrebungen zu verstehen? Oder formulierten sie einen eigenständigen Wirksamkeitsbegriff? Erwiesen sich die spezifischen Erfahrungen der nationalsozialistischen Herrschaft für diesen Begriff als entscheidend? Welche Rolle spielten die in der Bundesrepublik kulturell unterschiedlich geprägten Rollen von staatlichen Regulationsbemühungen, Arzt und Patient in diesem Zusammenhang? Vor dem Hintergrund dieser Fragen möchte ich sowohl die unterschiedlichen Traditionen in der Diagnostik als auch im klinischen Versuch aufzeigen. Dabei soll zunächst die in der Bundesrepublik von der amerikanischen Psychopharmakologie stark abweichende Form der psychiatrischen Diagnostik ausführlicher in den Blick genommen und ihr Entstehungskontext näher beleuchtet werden.
2.1 Karl Jaspers, Kurt Schneider und d i e p s yc h i a t r i s c h e n S c h u l e n i n d e r B R D um 1950 Die bundesdeutschen Diskussionen über eine Effektivität der neuen Psychopharmaka konzentrierten sich zunächst viel stärker als diejenigen in den USA auf Probleme der psychiatrischen Diagnostik und Fragen nach der Bedeutung der Neuroleptika für eine (Weiter-)Entwicklung der Psychopathologie, denn Letztere bildete für die zeitgenössische bundes-
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deutsche Psychiatrie ein wesentlich zentraleres Forschungsfeld als die Beurteilung von (medikamentösen) Therapien. Dies ist auch vor dem Hintergrund zu erklären, dass die deutsche Psychiatrie bis in die 1950er Jahre vor allem aufgrund ihrer bedeutenden PsychopathologInnen weltweit bekannt war und die bundesdeutschen PsychiaterInnen in dieser Zeit in ihrem Selbstverständnis stark auf die Psychopathologie ausgerichtet waren.1 Am Anfang der bundesdeutschen Diskussionen um neuroleptische Effektivität stand deshalb die Frage, auf welche Formen psychischer Abweichungen die Neuroleptika einwirken sollten. Deshalb möchte ich zunächst die psychopathologischen Traditionen, die in der BRD eine starke Rolle spielten, näher analysieren, denn die Art und Weise, wie man psychische Abweichungen beschrieb, sollte auch für die Formen der Wissensbildung über eine neuroleptische Wirksamkeit entscheidend werden. Zunächst möchte ich den Blick auf die ersten Versuche richten, ein neues deutsches Klassifikationssystem zu bilden, um anschließend den Einfluss unterschiedlicher Schulen auf die psychiatrische Diagnostik und den Begriff der Psychosen zu beleuchten. Wie ich aufzeigen werde, ist die Entwicklung eines Dokumentationssystems, das bei der Lösung der speziellen Probleme der deutschen Psychopathologie helfen sollte, auch zu einem wichtigen Durchgangspunkt in der Erfassung neuroleptischer Wirksamkeit geworden.
Die Vorläufer einer psychiatrischen Klassifikation in Deutschland um 1950: der Würzburger Schlüssel Der Wandel psychiatrischer Klassifikationen lässt sich seit der Geburt der deutschen Psychiatrie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch als eine Geschichte der Bildung psychiatrischer Konventionen erzählen.2 Zum Zeitpunkt der Erprobung der ersten Psychopharmaka in den 1950er Jahren verwendeten die bundesdeutschen PsychiaterInnen noch das Klassifikationsmodell des Würzburger Schlüssels aus dem Jahr 1933. Hierbei handelte es sich um ein weitgehend nicht operationalisiertes Ordnungssystem, das lediglich Oberkategorien für die Einteilung »psychischer Krankheiten« bot.3 Das neue Schema wurde gebildet, nachdem die deutschen PsychiaterInnen bereits Ende der 1920er Jahre in Konflikt mit den 1
2 3
Hippius/Healy 1996, S. 190. Als bekannte Psychopathologen galten um 1950 vor allem die Psychiater Emil Kraepelin, Karl Jaspers und Kurt Schneider. Hippius führt aus, dass sich vor allem die Ordinarien der einzelnen Institute noch stark an der Psychopathologie als wichtigstem Feld der psychiatrischen Forschung ausrichteten. Vor allem die jüngere Generation von Psychiatern hätte sich stärker für die Therapie interessiert. Dörries 1999a, S. 188. Schneider 1932. Zum Würzburger Schlüssel vgl. Abbildung 1 im Anhang
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offiziellen Krankenstatistiken geraten waren, die auf der Reichsirrenstatistik von 1901 beruhten. Letztere bezog sich noch auf den alten Begriff der »Seelenstörung«, ohne psychische Abweichungen in Psychosen und Neurosen zu unterteilen. Aufgrund neuer nosologischer Einheiten, wie zum Beispiel dem immer populärer werdenden Begriff der Schizophrenie, konnte die bis zu diesem Zeitpunkt benutzte Reichsirrenstatistik jedoch keine relevanten Zahlen mehr für die Psychiatrie liefern. Die finanziellen Mittelzuweisungen des Staates waren hingegen eng an eine statistische Erfassung der Diagnosen gebunden. Die Neufassung der Reichsirrenstatistik besaß deshalb für die Legitimation und die finanzielle Absicherung der Kliniken eine große Bedeutung. Die Konstruktion eines neuen psychiatrischen Klassifikationssystems in Deutschland entsprang somit stärker sozialpolitischen Notwendigkeiten als dem wissenschaftlichen Interesse an einer gemeinsamen Krankheitslehre.4 Der Bildung des Würzburger Schlüssels ging eine mehrjährige professionspolitische Debatte voraus.5 Dabei wurde von einigen Kommissionsmitgliedern gefordert, die einzelnen Krankheitsbilder nach ätiologischen Gesichtspunkten in Haupt- und Untergruppen zu gliedern.6 Im Bereich der Psychosen erwies sich diese Unterteilung jedoch als problematisch. So wurde die Hauptgruppe der »Symptomatischen Psychosen« in drei Untergruppen unterteilt. Für eine weitere Gruppe der »Psychosen«, die »Schizophrenien«, gelang eine ähnliche Untergliederung jedoch nicht, obwohl bereits in den späten 1920er Jahren mehr als die Hälfte der PsychiatriepatientInnen dieser Kategorie zugeordnet wurden.7 Bereits an dieser Stelle wurde das Problem der mangelnden nosologischen Einheitlichkeit des Begriffs »Schizophrenie« erstmals evident: Man könne, wie Wilmanns betonte, den angenommenen Krankheitskern nicht von seinen mannigfaltigen Erscheinungsformen trennen. Vor diesem Hintergrund der Uneinheitlichkeit der Psychosebegriffe sei aber auch eine Unterteilung in verschiedene Formen nicht zu rechtfertigen, zumal diese Untergruppen je nach Beobachter unterschiedlich verwendet würden.8 Die Tatsache, dass 4 5
6 7 8
Dörries 1999a, S. 189. 1928 wurde zunächst der Deutsche Verband für psychische Hygiene gegründet. Ein Jahr darauf bildete die Jahrestagung des Deutschen Vereins für Psychiatrie eine Kommission zur Erarbeitung einer Klassifikation, in die unter anderem der Ordinarius der Charité Karl Bonhoeffer, der Leiter der Heidelberger Universitätspsychiatrie Karl Wilmanns und der zu dieser Zeit an der Münchener Forschungsanstalt für Psychiatrie tätige Psychiater Kurt Schneider berufen wurden. Wilmanns 1930, S. 223. Wilmanns 1930, S. 228ff. Wilmanns 1930, S. 228ff. Darüber hinaus verzichteten die PsychiaterInnen auch auf eine internationale Ausrichtung der Klassifikation, da sie annahmen, dass eine Ausweitung des Klassifikationssystems auf andere Länder
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mit dem Würzburger Schlüssel ein nach unterschiedlichen Schemata ordnendes Klassifikationssystem geschaffen wurde, wurde in der Diskussion um die Tabelle auch problematisiert. Insbesondere von Kurt Schneider wurde die Kritik geäußert, dass der Würzburger Schlüssel Diagnosen vor allem nach praktischen Gesichtspunkten ordne, diese Aufteilung für eine wissenschaftliche Anwendung aber nicht weiterführend sei.9 Der Würzburger Schlüssel wurde nach einer ausführlichen Diskussion trotz dieser Einwände im April 1933 auf der Jahrestagung des Deutschen Vereins für Psychiatrie angenommen. Er stellte eine Grundlage dar, die der deutschen Psychiatrie eine statistische Erfassung psychischer Abweichungen ermöglichen sollte. Diese neue Form der »Irrenstatistik« wurde für die in den 1930er Jahren immer bedeutsamer werdenden erb- und rassenhygienischen Maßnahmen genutzt und diente schließlich auch als Mittel für die Selektion im Rahmen der psychiatrischen Euthanasieaktionen.10 Die inhaltliche Fassung des Würzburger Schlüssels war aber gleichzeitig so offen, dass sie es den PsychiaterInnen in den Nachkriegsjahren ermöglichte, ihre in unterschiedlichen Schulen gebildeten diagnostischen Begrifflichkeiten in sein Schema einzuordnen. Doch welche Traditionen waren für die bundesdeutsche Psychiatrie in den 1950er Jahren bestimmend?
Die psychiatrische Diagnostik in der BRD nach dem Zweiten Weltkrieg Großen Einfluss auf das psychiatrische Denken der bundesdeutschen PsychiaterInnen nach 1945 hatte der Psychiater und Existenzphilosoph Karl Jaspers (1883–1969). Durch sein berühmt gewordenes Buch »Allgemeine Psychopathologie«, das erstmals im Jahr 1913 erschienen war, etablierte er die Psychopathologie als Grundlagenwissenschaft. Jaspers hatte das Buch in seiner Zeit als Volontär an der Heidelberger Universitätspsychiatrie verfasst und gehörte dort zum Kreis der Heidelberger Psychopathologen um Karl Wilmanns und Willy Mayer-Gross. Anders als diese wandte er sich jedoch von der Nosologie Kraepelins zunehmend ab.11 Sein Ziel war es, nicht wie seine Vorgänger vor allem Hirnprozesse zu untersuchen,
das Problem wegen der unterschiedlichen psychiatrischen Begrifflichkeiten noch vergrößern würde. Zu den Versuchen, eine internationale Klassifikation zu schaffen vgl. Teil II, 4.4. 9 Schneider 1932, S. 172. Eine Annäherung an international gebräuchliche Klassifikationssysteme gab es schließlich auch erst mit der Einführung der »International Classification of Disease« der WHO in den 1970er Jahren. Vgl. Teil II, 4.4. 10 Dörries 1999a, S. 193ff. 11 Bormuth 2002, S. 13ff.
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sondern die Seelenvorgänge wieder stärker in den Blick zu nehmen.12 Dabei stellte er die Kasuistik ins Zentrum seiner Wissensbildung über psychische Abweichungen. So betonte Jaspers: »Die Grundlage auch für die Forschung ist die mündliche Exploration des Kranken, das Versenken in ihr Gebaren, ihre Ausdrucksbewegungen, ihre Mitteilungen.«13 Die Analyse einzelner Fälle mittels verschiedener Quellen wie Selbstschilderungen der Patienten, Angehörigenbefragung und Behördenakten sei, so Jaspers, die Grundlage der Psychopathologie. Letztere könne nicht mit experimentellen Methoden erfasst werden, weshalb er sich deutlich von einer »Experimentellen Psychopathologie« abgrenzte.14 Als Aufgaben einer von ihm als »Phänomenologie« bezeichneten Nosologie verstand er eine Vergegenwärtigung seelischer Erlebnisse und Zustände. Sie müsste, so Jaspers, getragen sein von einer Idee der Ganzheit. In Anlehnung an den Gedanken der Gestaltpsychologie formulierte Jaspers, dass das Ganze eben nicht lediglich aus der Summe seiner Teile bestehe und deshalb nicht durch eine Analyse der einzelnen Elemente zu begreifen sei.15 Obwohl sich Jaspers deutlich von der experimentellen Erfassung des Psychischen in der Tradition Kraepelins abgrenzte, dessen »Elementenpsychologie« für ihn keine Anknüpfungspunkte bot, blieb Jaspers Psychopathologie durchaus einer naturwissenschaftlichen Denktradition verbunden. Dabei distanzierte er sich sowohl von einem naturwissenschaftlich gesetzten Primat des Hirns als auch von einer hermeneutischen »Psychomythologie«. Jaspers betonte, dass das Erkennen der Ursache der »psychischen Krankheiten« die Aufgabe der naturwissenschaftlichen Medizin sei.16 Dieses von ihm als »Erklären« bezeichnete Modell setzte für Jaspers den Blick von außen voraus und kennzeichnete die Grenzen des psychologischen Verstehens.17 Dem gegenüber stand das durch Einfühlung gewonnene psychologische Fassen aller Phänomene des Leidenden, das er als Verstehen bezeichnete. Die sich auf das ganze Erleben des Patienten beziehende phänomenologische Psychopathologie, wie sie nach Jaspers mit 12 Bormuth 2002, S. 34. 13 Jaspers 1973, S. 20. 14 Jaspers 1973, S. 20ff. Die Statistik blieb für ihn von sekundärem Interesse, weil sie über den Einzelfall nichts Bedeutsames oder Kausales sagen könne. Eine Relevanz habe sie vor allem für die Vererbungsforschung. 15 Jaspers 1973, S. 24ff. Die Idee der Ganzheit war seit der Jahrhundertwende zunehmend populär geworden und auch von der Gestaltpsychologie aufgenommen worden. Sie erlebte unter anderem durch den Einfluss und die Arbeiten des Heidelberger Psychosomatikers Viktor von Weizsäcker nach 1945 eine neue Konjunktur (vgl. Harrington 2002). Auch Jaspers war zwar der Idee der Ganzheit verpflichtet, grenzte sich aber entschieden von den Vorstellungen von Weizsäckers und dessen Nähe zur Psychoanalyse ab (vgl. Bormuth 2002, S. 233ff.; Roelcke 2004). 16 Bormuth 2002, S. 38. 17 Jaspers 1973, S. 22ff.
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den Methoden der Kasuistik gewonnen würde, sollte dabei jedoch ebenso wie das Erklären letztlich den Objektivitätsansprüchen von Vergleich und Wiederholbarkeit genügen. Die Psychopathologie sollte auf diese Weise nicht nur Kunst sein, sondern zur Wissenschaft werden. Nur die naturwissenschaftlichen Bezüge genügten nach Jaspers jedoch diesem Anspruch der wissenschaftlichen Theorienbildung, während die verstehenden psychologischen Elemente der Psychopathologie und ihre instinktive Kennerschaft ein vages und irrtumsanfälliges Erkenntnismittel blieben und sich jeder Systematisierung entzögen.18 In diesem Sinne übernahm Jaspers Kraepelins somatische Begründung der Psychosen, stellte dessen »objektiver Psychopathologie« aber eine »subjektive Psychopathologie« an die Seite.19 Sein Begriff der Psychosen war letztlich stark durch das Modell des Erklärens geprägt. Zwar sei das Verstehen psychischer Zustände unentbehrlich, aber es stoße überall an seine Grenzen, während das Erklären grenzenlos sei. Jaspers folgte mit diesen Ausführungen dem Postulat der körperlichen Verursachung von »Psychosen«. Die aus ihnen entstehenden Ausdrucksformen wie Halluzinationen seien mit den Mitteln des Verstehens nicht zugänglich, weil sie lediglich Folgen kausal wirksamer biologischer Mechanismen seien.20 Diese somatische Orientierung Jaspers’ brachte jedoch auch einen Verzicht auf das Verständnis des wahnsinnigen Erlebens der PatientInnen mit sich, da eine als psychotisch definierte Äußerung der Wahnsinnigen schnell als unverständlich bezeichnet wurde.21 Jaspers’ Lehre erlangte nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik Deutschland eine neue Popularität. Gerade seine kasuistische Methode ermöglichte es den PsychiaterInnen, eine Psychopathologie zu vertreten, die einer Ganzheitslehre folgte und sich von einer stark statistischen und erbbiologisch orientierten »kalten« NS-Psychiatrie abgrenzte. Damit stellte sie den bundesdeutschen PsychiaterInnen ein Modell zur Verfügung, das sich zwar durch die kasuistische Gestaltung von der kritisierten 18 Bormuth 2002, S. 43ff. Bormuth stellt fest, dass dieses Modell die Krankengeschichten letztlich zu einem Beiwerk mache, das eher einer Novelle als einer wissenschaftlichen Abhandlung gleichkomme. Bormuth veranschaulicht Jaspers’ Vorstellungen deshalb als Schichtenmodell einer Zwiebel. Im Inneren seien die kausalen Ursachen der psychischen Phänomene, die aber durch äußere Einflüsse pathoplastisch beeinflusst würden. Den psychologischen Einflüssen käme dabei aber keine ätiologische Reichweite zu. 19 Schmitt 1990, S. 123. 20 Jaspers 1963, S. 336. In diesem Sinne kritisierte er auch Theorien, die das Verstehen psychologischer Zusammenhänge zu sehr auf psychologische Ursachen der Geisteskrankheiten ausdehnten, wie er es in einigen Theorien der Vertreter einer dynamischen Psychiatrie wie Pierre Janet und Sigmund Freud zu beobachten glaubte. 21 Schmitt 1990, S. 124.
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NS-Medizin abhob, gleichzeitig aber Anknüpfungspunkte an eine naturwissenschaftliche Nosologie bot. Zudem war die stark an den klinischen Eindruck des Arztes gekoppelte Theorienbildung Jaspers’ auch mit der traditionell bedeutenden Stellung des Arztes in der klinischen und medizinischen Wissensbildung gut vereinbar. Vor diesem Hintergrund sind auch die Ausführungen Hans Heimanns (1922–2006) zu Karl Jaspers’ psychiatrischem Werk zu lesen, das vom ihm im Jahr 1950 in der Zeitschrift Psychiatrie und Neurologie mit Bezug auf alle Zweige der Psychopathologie gewürdigt wurde.22 Jaspers biete, betonte Heimann, Anknüpfungspunkte sowohl für eine radikalere phänomenologische Fassung psychischer Abweichungen in der Daseinsanalyse als auch für die Psychopathologie Kurt Schneiders.23 Gerade die Nosologie Schneiders bildete einen bedeutenden Bezugspunkt für die psychiatrische Diagnostik um 1950. Kurt Schneider entwickelte seine eigene Krankheitslehre in Anlehnung an die Psychopathologie Jaspers’. Die Verbindung von Jaspers und Schneider wird häufig als Heidelberger Schule bezeichnet.24 Schneiders Hauptwerk »Klinische Psychopathologie« hatte großen Einfluss auf die moderne Psychiatrie, seine Ideen fanden weltweit Beachtung und wurden unter anderem von der Weltgesundheitsorganisation WHO aufgenommen. Wie Jaspers orientierte sich Schneider auf das in der Klinik beobachtete Verhalten.25 Er war vor allem an der Diagnostik interessiert und wollte neue Beispiele für bereits bekannte psychopathologische Muster aufspüren.26 Dabei gab es für Schneider zwei Arten psychischer Abweichungen. Diese konnten entweder seelische Abnormitäten des Wesens oder Folgen von Krankheiten sein. Die Unterteilung seines Systems in diese beiden Aspekte hatte zur Folge, dass sich die Psychopathologie auf körperliche und psychopathologische Aspekte stützen musste. Der daraus resultierende »empirische Dualismus« sei, wie Schneider selbst betonte, häufig kritisiert worden.27 Wie aber lassen sich diejenigen Formen des Wahnsinns identifizieren, die Schneider als Krankheiten bezeichnet? Die medizinische Definition sehe dafür, wie Schneider ausführte, neben dem mangelnden Wohlbefinden vor allem krankhafte Organprozesse vor. Beides sehe man in der Psychiatrie aber selten. Dennoch legt er Psychosen diese medizinische Definition zugrunde.28 Für das Vorliegen von Krankheiten sprechen für 22 Heimann 1950, S. 1. 23 Heimann 1950, S. 14ff. 24 Schmitt 1990. Zu dieser Schule gehörte auch Emil Kraepelin, der für die Verbindung von Jaspers und Schneider an dieser Stelle aber nicht zentral ist. 25 Die Orientierung an einer klinisch-deskriptiven Psychopathologie verband Schneider auch mit Kraepelin. 26 Boyle 1990, S. 71ff. 27 Schneider 1959, S. 1ff. 28 »Hat man das Bedürfnis nach einem wissenschaftlich strengen Begriff für das, was eine ›Psychose‹ sei, so würden wir sagen: alle und nur die seeli-
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Schneider vor allem indirekte Zeichen wie die Erblichkeit, Bindung an Generationsvorgänge und der für ihn unbestreitbare Vorrang der somatischen Therapieformen. All diese Indizien führten schließlich zu seiner Annahme eines biologischen Substrats, die er selbst als Hypothese bezeichnete.29 Psychosediagnosen zu stellen hielt er für schwierig, PsychiaterInnen könnten nur durch eine genaue klinische Beschreibung zu einer passgenauen Bezeichnung gelangen.30 Die richtige klinische Verwendung der Diagnose »Schizophrenie« bezeichnete Schneider als besonders problematisch, denn der Begriff der Schizophrenie sei vage und lasse sich vor allem über eine genaue Zustandsbeschreibung stellen.31 Dabei ordnete er die verschiedenen Symptome in eine Rangfolge. Um eine »Schizophrenie« zu diagnostizieren, müsse man aber die Einheit ihrer Erscheinung voraussetzen. Einwandfrei erfasste Erlebnisse wie zum Beispiel Halluzinationen haben in seiner Systematik Vorrang vor den »Abnormitäten des Ausdruckes«.32 Diese von ihm als Symptome ersten Ranges gefassten Merkmale wie z.B. das Hören von Stimmen sind für ihn zentrale Indikatoren der Zuordnung des Verhaltens zu einer bestimmten Diagnose. Schneider betonte, man könne nur bei einer Häufung dieser Zeichen die Diagnose Schizophrenie stellen.33 Mit seinen Ideen schließt Kurt Schneider an Jaspers an, grenzt sich aber an einigen entscheidenden Stellen auch von diesem ab. So transformiert er Jaspers’ Idee der Verständlichkeit in die von Sinnzusammenhang, Kontinuität und Gesetzlichkeit.34 Die Sinnkontinuität konnte für Schneider in der Psychose durchbrochen werden, was ihre grundsätzlich andere Form des Erlebens ausmache. Trotzdem blieb auch diese Abschwächung der
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schen Abnormitäten, die in unsere Gruppe II fallen, also ›krankhaft‹ sind, was für uns auch die Folge von Mißbildungen umfaßt. Dann wäre also eine noch so starke abnorme Erlebnisreaktion keine Psychose, dagegen selbst die leichteste seelische Veränderung infolge einer Kopfverletzung und die mildeste zyklothyme Depression« (Schneider 1959, S. 3). Schneider 1959, S. 8. Schneider selbst bezeichnete seine Systematik auch als »Glaubensbekenntnis«, um die Endogenen Psychosen, die das »Ärgernis der Humanpsychiatrie« darstellten, besser fassen zu können (Schneider 1959, S. 10). Seine Krankheitshypothese wurde im Folgenden häufig kritisiert, da sie zwar keine Belege für ihre Theorie bieten konnte, gleichwohl aber als zentraler Bezugspunkt weiterer psychiatrischer Forschung diente (vgl. Boyle 1990). Schneider 1959, S. 85. Schneider 1959, S. 14. So gelangte Schneider selbst schon zu Beginn seiner Ausführungen zu dem Schluss, »von den Psychosen, deren körperliches Wesen man nicht kennt, zieht man die einigermaßen typisch zyklothymen ab – den bleibenden Rest heißt man Schizophrenien« (Schneider 1959, S. 5). Schneider 1959, S.126. Schneider 1959, S. 128. Schneider 1959, S. 8.
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Sinnkontinuität letztlich eng an das Jaspersche Postulat der Unverständlichkeit gebunden.35 Schneider hat sich auch aus diesem Grund nie als Teil einer primär subjektbezogenen Medizin verstanden und sich anthropologischen Ausrichtungen gegenüber bedeckt gehalten. Dies stellt sie in eine Tradition mit der Nosologie Jaspers’, der mit seiner Theorie nicht so weit ging, die Grenze zwischen einem naturwissenschaftlichen Erklären der Psychosen und einem psychologischen Verstehen prinzipiell aufzulösen. Damit grenzten sich Schneider und Jaspers von radikaleren Positionen ab, welche zeitgenössisch die Grenzen des Verstehens ausweiten wollten. Eine solche Position der ganzheitlichen Phänomenologie vertrat zum Beispiel der Psychiater und Neurologe Kurt Goldstein (1878–1965) schon in den 1920er Jahren; er machte sie anschlussfähig an die nach dem Zweiten Weltkrieg weitergeführte Psychosomatische Schule Viktor von Weizsäckers und Alexander Mitscherlichs.36 Sie sollte aber auch für eine Verstehende Anthropologie in der Psychiatrie um den Frankfurter Ordinarius Jürg Zutt (1893–1980) bestimmend werden. Demgegenüber war die Heidelberger Schule vor allem klinisch empirisch orientiert und vermied extreme Positionen in Wissenschaft und Praxis.37 Diese Offenheit machte Jaspers’ und besonders Schneiders Positionen in Deutschland anschlussfähig an eine Nachkriegspsychiatrie, die insgesamt durch eine mangelnde Einheit und Zersplitterung in unterschiedliche Schulen auffiel. Was aber war der Stand der bundesdeutschen Psychiatrie um 1950? Wie viel Einfluss hatte die Heidelberger Schule auf diese?
Das Problem der nosologischen Einheit in der Psychiatrie: zum Stand um 1950 In seinem Buch »Psychiatrische Systematik« würdigt Wolfgang de Boor die Bedeutung Kurt Schneiders für die Entwicklung der Psychopathologie und einen Begriff der Psychosen; eine grundlegende Änderung der Systematik Schneiders hält er für wenig sinnvoll.38 De Boors Äußerungen sind beispielhaft für die Mehrheit der PsychiaterInnen der Zeit, die betonen, dass Schneiders Lehre bis in die Mitte der 1950er Jahre für die bundesdeutsche Psychopathologie bestimmend gewesen sei.39 Auch unterschiedlichen sich im Laufe der Jahre etablierenden Schulen diente Schneiders Werk häufig als Ausgangspunkt einer erweiterten Analyse.40 35 36 37 38 39 40
Schmitt 1990, S. 125ff. Harrington 2002. Schmitt 1990, S. 129ff. De Boor 1954, S. 64. Zum Beispiel Conrad 1958; Glatzel 1974; Meyer 1961. Im Sinne einer klinischen Psychopathologie stellten sich diese Schulen somit auch in eine Tradition mit Emil Kraepelins Psychopathologie, grenzten sich
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Dies ließ jedoch nicht das Problem in den Hintergrund treten, dass um 1950 in der BRD kein gemeinsamer Begriff der Psychose existierte. Der Göttinger Ordinarius Klaus Conrad (1905–1961) stellte in seinem Hauptwerk »Die beginnende Schizophrenie«, mit dem er an die Denktradition von Jaspers und Schneider anknüpfen wollte, fest: »Die Diagnose der Schizophrenie ist förmlich ins Gleiten geraten. Niemand scheint auch nur Ähnliches zu meinen, der dieses Wort ausspricht und niemand weiß mehr vom anderen, was er eigentlich darunter versteht.«41 Ein Jahr später konstatierte Conrad, dass jeder Kliniker in der Bundesrepublik Deutschland inzwischen sein eigenes Klassifikationsschema verwende und man sich von der ursprünglichen Kraepelinschen Klassifikation weit entfernt habe. Entsprechend weit würden im Bereich der »Psychosen« die Anschauungen auseinander gehen.42 Der Psychiater Joachim-Ernst Meyer (1918–1998) gab Anfang der 1960er Jahre in der Reihe Psychiatrie der Gegenwart einen Überblick über die gebräuchlichsten Diagnoseschemata in Deutschland, die häufig von einzelnen Kliniken entwickelt worden waren und die unterschiedlichsten Traditionen innerhalb der deutschen Psychiatrie widerspiegelten.43 Manchen AutorInnen erschienen jedoch die verschiedenen Begrifflichkeiten der Psychosen derart unvereinbar, dass sie vorschlugen, die Suche nach einem einheitlichen und spezifischen Psychosebegriff zurückzustellen. Vielmehr solle man sich wieder mehr der Person und den an ihr zu beobachtenden Veränderungen zuwenden.44
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aber gleichzeitig von seiner elementenpsychologischen Sichtweise ab (vgl. Glatzel 1974, S. 585). Conrad 1958, S. Teil II, Conrad 1959, S. 489. Neben dem Würzburger Schlüssel zählt Meyer folgende Diagnoseschemata als gebräuchlich auf: Zum einen sei das 1956 von Conrad selbst entwickelte Diagnoseschema verbreitet, das Phänomenologie und Physiologie zu verbinden suche. Des Weiteren hätte das Schema des Freiburger Psychiaters R. Jung, in dem die psychiatrische und neurologische Systematik zusammengefasst sei, großen Einfluss gehabt. Die Westberliner Klinik unter Selbach hätte Krankenkarteien mit Randlochkarten entwickelt, die neben neurologischen auch psychiatrische Diagnosegruppen enthielten und in denen eine neue Kategorie der »Mischpsychosen« eingeführt worden sei. Darüber hinaus bestehe auch noch ein ostdeutsches Schema, das maßgeblich von den psychopathologischen Werken Leonards und Kleists beeinflusst sei (Meyer 1961, S. 137ff.). Für Beispiele einiger Diagnoseschemata vgl. Abbildung 1 im Anhang. Wyrsch 1960, S. 23. Der Autor arbeitete in seinen Ausführungen zum Stand der »Klinik der Schizophrenie« in der Psychiatrie der Gegenwart heraus, dass man sich in dem Versuch, einen Begriff der Psychosen zu bestimmen, durchaus eng an den Stand der Forschung aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg anlehne, auch wenn die Vielzahl von Theorien, die in der Nachkriegszeit bestehe, die die Psychopathologie zu einem kaum noch überschaubaren Feld mache (vgl. Wyrsch 1960).
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In diesen Kontext ist auch die Bedeutung einer zunehmend einflussreicher werdenden Verstehenden Anthropologie um den Frankfurter Ordinarius Jürg Zutt einzuordnen. In seinem Ende der 1950er Jahre erschienenem Werk »Das Paranoide Symptom in anthropologischer Sicht« formulierte Zutt in Abgrenzung zum Unverständlichkeitspostulat der Heidelberger Schule: »Aber wir glauben, dass dort, wo die Psychopathologie bisher sich begnügen muß, Unverstehbarkeit festzustellen, neue Horizonte des Verstehens eröffnet werden können.«45 Im Verlauf der 1950er Jahre hatte Zutt zahlreiche Aufsätze veröffentlicht, die seine Vorstellungen einer anthropologischen Psychiatrie darlegten.46 Zutt grenzte sich darin von dem Unverständlichkeitspostulat der Heidelberger Schule ab und wollte den »psychotischen Prozess« als Sinneinheit verstanden wissen.47 Damit grenzte er sich unter anderem von Conrad ab, der vor allem einen zwischen Erlebnis und Struktur vermittelnden (struktur-)psychologischen Ansatz vertrat, erteilte aber auch dem Unverständlichkeitspostulat der Heidelberger Schule eine klare Absage.48 Die Verstehende Anthropologie um Jürg Zutt war in den 1950er und 1960er Jahren in der bundesdeutschen Psychiatrie von erheblichem Einfluss,49 wenngleich auch sie nur als eine Schule unter vielen zu begreifen ist.50 Die Erweiterung des Begriffs der Psychose durch die Verstehende Anthropologie und die daraus folgende mangelnde Einheit ihrer Begriffe war für die von Conrad in den 1950er Jahren beschriebene »Krise der Psychopathologie« maßgeblich.51 Unabhängig davon, welche Formen der 45 Zutt 1958, S. 1. 46 Die Beiträge sind zusammen in einem Sammelband erschienen (vgl. Zutt 1963). 47 Zutt 1963a, S. 380 (erstmals erschienen 1956). Eine ähnliche, aber stark an eine medizinische Anthropologie orientierte Diagnostik vertrat der Freiburger Ordinarius Hanns Ruffin (1902–1979) (vgl. Ruffin 1959). 48 Conrad 1958, S. 5; Janzarik 1974, S. 40ff. Letztendlich glaubte Conrad, dass den «Psychosen« eine Hirnpathologie zugrunde liege. Die Kombination seiner Gestalttheorie mit dieser Annahme stellte Teile der Phänomenologie auf eine naturwissenschaftliche Grundlage. 49 Schönknecht 1999, S. 111. 50 Ähnliche Prämissen verfolgte Binswangers Daseinsanalyse, die in der BRD auch nicht ohne Einfluss blieb, als Schweizer Schule hier aber nicht weiter ausgeführt wird. Zum Einfluss der Daseinsanalyse insbesondere in den 1950er Jahren vgl. Glatzel 1974. 51 Conrad 1958, S. 4. Conrad beschrieb, dass auf der einen Seite zunehmend somatische Methoden in der Psychiatrie Einfluss erhielten, auf der anderen Seite aber neben der verstehenden Anthropologie auch die Psychoanalyse mehr Einfluss auf die Psychiatrie gewinne (vgl. Conrad 1958, S. 1). Letztere setzte sich jedoch erst in den 1960er Jahren durch den zunehmenden Einfluss der amerikanischen Psychiatrie vermehrt durch (vgl. Janzarik 1974, S. 44). Bekannte Vertreter einer tiefenpsychologisch orientierten Diagnostik waren unter anderem Karl-Peter Kisker und Christian Müller (vgl. Trenckmann
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Ätiologie sie zugrunde legten, handelte es sich bei den bestimmenden psychopathologischen Traditionen bis weit in die 1960er Jahre hinein meist um eher holistische Konzeptionen.52 Einer Vielzahl von PsychiaterInnen erschien die Fokussierung auf personale Aspekte des Wahnsinns angesichts wenig übereinstimmender Ergebnisse der »Psychoseforschung« als der erfolgversprechendere Weg. Dass in dieser »Krise der Psychopathologie« die Psychopharmakologie als Weg der experimentellen Erforschung von Psychosen weitere Entwicklungen der psychiatrischen Diagnostik mit sich bringen würde, schien noch Mitte der 1950er Jahre zweifelhaft, da mit psychotropen Substanzen die Schneiderschen Symptome ersten Ranges nicht erzeugt werden konnten. Wolfgang de Boor bringt diese Bedenken auf den Punkt, wenn er ausführt: »Die Möglichkeiten, mit Hilfe der Narkoanalyse psychopathologische Differentialdiagnostik zu treiben, sind also äußerst bescheiden, was nicht erstaunlich ist, wenn man bedenkt, daß man mit diesen Mitteln das sowieso schon unklare psychische Syndrom durch Hinzufügen neuer – toxischer – Züge noch kompliziert.«53
In dieser Phase der Unsicherheit sehnte sich deshalb mancher Psychiater wieder nach der Sicherheit messender Verfahren, welche die psychiatrische Nosologie der Nachkriegsjahre vermissen ließ. In Hinblick auf das Fehlen solcher Verfahren fasste schließlich auch Conrad den Stand der psychiatrischen Forschung zusammen: »Psychiatrische Diagnostik ist vorläufig reinste Kennerschaft und wenig Wissenschaft. Wir haben so gut wie keine Möglichkeit der Verifikation durch analytisch
1993, S. 276). Auch Janzariks Konzeption einer dynamischen Psychopathologie ist in diesem Kontext zu verorten (vgl. Glatzel 1974, S. 586). Andere AutorInnen arbeiten heraus, dass sich in den westdeutschen Universitätspsychiatrien daseinsanalytische, phänomenologisch-anthropologische und tiefenpsychologische Ansätze zunehmend mehr durchsetzen konnten (vgl. zum Beispiel Trenckmann 1993, S. 276). 52 Glatzel 1974. 53 De Boor 1956, S. 28; zu einer ähnlichen Position vgl. Jatzkewitz 1956; Hoff/Arnold 1959; Bleuler 1959 u. a.. Der Heidelberger Ordinarius Walter Ritter von Baeyer, der maßgeblich an der Neuroleptika-Einführung in Deutschland beteiligt war, äußerte schon Ende der 1950er Jahre den Wunsch, dass sich die Diagnostik stärker in den Dienst der Therapie stellen solle. Doch bei der erwiesenen Unspezifität der meisten Heilverfahren glaubte er nicht, dass die somatischen Therapien viel zur Umgestaltung der Diagnostik im ätiologischen Sinne beitragen könnten (vgl. von Baeyer 1959b, S. 509).
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messendes Vorgehen. Wir können nicht ›bestimmen‹, wie der Botaniker eine aufgefundene oder ihm zunächst nicht bekannte Pflanze ›bestimmt‹.«54
Die mangelnde Orientierung an einem messenden Vorgehen in der Psychiatrie muss aber auch im Kontext der zeitgenössischen bundesdeutschen Vorstellungen des klinischen Versuchs betrachtet werden. Hier sollten sich einige Konzepte wiederfinden, die auch für die psychiatrische Forschung bedeutsam waren. Die Entwicklung eines Begriffs der neuroleptischen Wirksamkeit soll deshalb auch vor dem Hintergrund bestehender Ideen des klinischen Versuchs in der gesamten Medizin beleuchtet werden.
2.2 Paul Martini, die Klinik und d i e P s yc h o p h a r m a k o l o g i e Auch in der bundesdeutschen Forschung wurde der klinische Versuch mit dem Aufkommen effektiver Arzneimittel zu Beginn des 20. Jahrhunderts einer neuen Ordnung unterzogen. Eine methodische Absicherung des klinischen Wissens wurde für die bundesdeutschen ÄrztInnen immer wichtiger, um im Zeitalter therapeutischer Innovationen ihre Autorität behaupten und ihre therapeutischen Ergebnisse wissenschaftlich legitimieren zu können. Mit der Neugestaltung des klinischen Versuchs wurde es den KlinikerInnen sowohl ermöglicht, ihre Kommunikation untereinander auf eine einheitliche Basis zu stellen, als auch außerhalb der Klinik die Verständigungsmöglichkeiten mit anderen ForscherInnen zu verbessern.55 In Deutschland gilt gemeinhin Paul Martini (1889–1964) als Begründer des kontrollierten klinischen Versuchs. Seine Konzeptionen der klinischtherapeutischen Forschung wiesen größere Abweichungen von den Vorstellungen Beechers und Hills auf. Zwar war die Bedeutung des Placebos und seine Anwendung in der Testung von Arzneimitteln auch im deutschsprachigen Raum schon lange bekannt.56 Eine im großen Maßstab durchgeführte Reflexion über die Bedeutung der Neuordnung des klinischen Versuchs, die auch für die nachfolgenden Jahrzehnte bestimmend sein sollte, unternahm aber erstmals Paul Martini mit seinem Buch »Methodenlehre der therapeutisch-klinischen Untersuchung«, dass zum ersten Mal in den 1930er Jahren erschien und 1953 in einer überarbeiteten und erweiter-
54 Conrad 1959, S. 490. 55 Daemmrich 2004, S. 45ff. 56 So berichtete Walter Pöldinger (1929–1992) über eine erste Anwendung des placebokontrollierten Versuchs an gesunden Versuchspersonen bereits Mitte des 19. Jahrhunderts (vgl. Pöldinger 1969, S. 425).
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ten Fassung herausgegeben wurde.57 Die Auflage von 1953 soll für die folgenden Ausführungen im Wesentlichen als Grundlage dienen, da sie als aktueller Bezugspunkt für die Debatte in den 1950er Jahren anzusehen ist und den Wissensstand der Zeit repräsentiert. In dieser Monographie hob Martini vor allem die Fortschritte der Chemotherapie hervor, welche die medizinischen Forscher, so Martini, zu neuen Überlegungen über die klinische Versuchsanordnung bewegen sollten. Als besonders dringlich betrachtete er die Verbesserung der Beweisführung in der Klinik selbst, deren methodologische Neudefinition den Kernpunkt seiner Arbeit bildete. Die Verbesserung der klinisch-therapeutischen Forschung benötigte seiner Meinung nach den Vergleich und die Wahrscheinlichkeitsberechnung.58 Insbesondere in der Auflage seines Buches aus dem Jahr 1953 versuchte Martini, sich wie Hill an den Elementen des klassischen naturwissenschaftlichen Experiments zu orientieren, wich aber in vielen Punkten auch von ihm ab. So zeigte er die Grenzen dieses Herangehens für den Bereich der Klinik auf und formulierte: »Im klassischen Experiment beobachtet der Naturforscher eine Materie, er steht als Subjekt einem leblosen Objekt gegenüber, mit dem er – wie es scheint – nach Belieben schalten kann. Aber wo hört das Leblose auf, wo fängt das Leben an?«59 Gerade im Bereich der Messung des Seelischen hielt Martini das Experimentieren für kaum noch erlaubt. Daraus folgend stellten sich ihm gerade für die Anwendung des klinischen Experiments zur Überprüfung eines Heilerfolgs weitreichende Fragen, da der Versuch in der Klinik zentrale Unterschiede zum naturwissenschaftlichen Experiment aufwies. Obwohl Erprobungen von Arzneimitteln am Menschen ohne deren Zustimmung bereits durch das Reichsgesetz von 1931 verboten worden waren, betonte Martini, der kontrollierte therapeutisch-klinische Versuch müsse das sonst für Experimente an Menschen unverzichtbare Element der Freiwilligkeit ausschalten.60 Zudem könne der klinische Versuch an PatientInnen dem 57 Martini 1932. Die dritte Auflage erschien 1953 unter dem leicht veränderten Titel «Methodenlehre der therapeutischen Forschung” (vgl. Martini 1953). Eine zweite Auflage des Buches war 1945 erschienen. 58 Martini 1953, S. 1ff. Die Wichtigkeit von Vergleich und Wahrscheinlichkeitsberechnung werden schon in der ersten Auflage betont (vgl. Martini 1932). 59 Martini 1953, S. 8 (Herv. i. O.). Ein ausführlicher einleitender Abschnitt über die «klinisch-therapeutische Forschung und das Experiment« bildet eine wesentliche Veränderung in der Auflage von 1953 (vgl. Martini 1953, S. 6– 17). 60 So formulierte Paul Martini: «Aber das therapeutisch-klinische ›Experiment‹ unterscheidet sich ganz grundsätzlich von jedem sonstigen, weil es das einzige Experiment am Menschen ist, bei dem das sonst ganz unverzichtbare Merkmal der Freiwilligkeit ausgeschaltet werden muß. Denn Freiwilligkeit wäre unvereinbar mit Unwissentlichkeit« (Martini 1953, S. 11).
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Kriterium der Wiederholbarkeit des Experiments nicht genügen.61 Darüber hinaus böten nur die wenigsten Krankheiten die Möglichkeit der absoluten und zahlenmäßigen Registrierung, die auch eine Verlaufsbeschreibung beinhalte. Letztere sei aber gerade für eine Arzneimittelprüfung unabdingbar, denn der Pharmakologe müsse wissen, wie die Krankheit ohne den Einfluss des Arzneimittels verlaufe, um Aussagen über ihre Wirksamkeit machen zu können.62 Trotz der geschilderten Probleme vertrat Martini jedoch eine klinisch-therapeutische Methodik, die sich letztlich an den Bedingungen des naturwissenschaftlichen Experiments orientierte. Die Neugestaltung des Versuchs bezeichnete Martini auch als »Hereintragen des Experimentes in das Krankenzimmer«.63 Schon in den 1930er Jahren forderte Martini die Einführung einer »unwissentlichen Versuchsanordnung« – besser bekannt als einfacher Blindversuch – für die Erprobung neuer Arzneimittel ein. Denn die Unkenntnis des Patienten über die Substanz, die er einnehme, sei die Voraussetzung für eine Arzneimittelprüfung. So formulierte Martini: »Im Bereich der therapeutischen Forschung müssen die Medikamente in einer Form oder Umhüllung dem Kranken gegeben werden, dass ihr spezieller Charakter nicht erkannt werden kann. Sie müssen getarnt werden. Zweck der Tarnung ist, den Kranken in Unkenntnis über den Beginn der Verabreichung des zu prüfenden Heilmittels, eventuell auch über die Tatsache der Verabreichung überhaupt zu lassen.«64
Ebenso wie Beecher betonte auch Martini die Notwendigkeit des Blindversuchs zur Ausschaltung subjektiver Einflussgrößen des Patienten auf die Medikamenteneffekte. Zudem erwog er die Vergabe eines »Scheinmittels«, um die subjektiven Reaktionen zu kontrollieren.65 Zwar forderte
61 «Ein therapeutischer Versuch kann von vornherein nicht mit dem Merkmal seiner Wiederholbarkeit rechnen. Denn diese Reproduktion hat zur Voraussetzung, dass sie unter genau den gleichen Bedingungen möglich wäre; das ist schon beim Gesunden nur in Annäherung möglich [...]. Erst recht ist keine reine Wiederholung unter krankhaften Bedingungen zu erwarten« (Martini 1953, S. 12, Herv. i. O.). Um die Vergleichbarkeit von therapeutischen Studien überhaupt zu gewährleisten, hatte Martini schon 1932 gefordert, auf die «Gleichheit der Versuchsbedingungen« zu achten (vgl. Martini 1932, S. 4). 62 Martini 1953, S. 13ff. Der Wichtigkeit des Verlaufs und der Vorbeobachtung betonte Martini schon in der ersten Auflage (vgl. Martini 1932, S. 1f). 63 Martini 1953, S. 14. 64 Martini 1953, S. 27. Das Zitat findet sich nicht in diesem Wortlaut, aber inhaltsgleich in der ersten Auflage seiner Monographie (vgl. Martini 1932, S. 9). 65 Martini 1953, S. 247.
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Martini eine Orientierung an der Statistik schon seit den 1930er Jahren,66 gleichzeitig war Martini aber anders als Hill nicht Statistiker, sondern vor allem Kliniker. Mit der Einführung neuer Testmethoden in die klinische Praxis wollte Martini nicht nur die Arzneimittelprüfung in Deutschland verbessern, sondern diese zugleich als Domäne retten, die weitestgehend der Kontrolle der ÄrztInnen unterlag.67 Mit einer Neugestaltung des klinischen Versuchs wurde die Versuchsanordnung zwar vom klinischen Eindruck zu ersten Formen der experimentellen Überprüfbarkeit hin verlagert, was den einzelnen Arzt entmachtete und in einzelnen Disziplinen wie der Psychopharmakologie nicht ohne Widerspruch blieb, den KlinikerInnen blieb jedoch die Kompetenz erhalten, über den therapeutischen Wert des Medikaments urteilen zu können. Gerade eine Effektivitätsbeurteilung der neuen Substanzen wurde in den USA in immer größerem Maß an StatistikerInnen abgegeben, welche die Versuchsplanung bestimmten. Zwar finden sich auch in Martinis in den 1950er Jahren wiederaufgelegtem Werk einige Anmerkungen dazu, dass es wünschenswert wäre, die PatientInnen nach zufälligen Gesichtspunkten auf eine Untersuchungs- und Kontrollgruppe zu verteilen.68 Den KlinikerInnen wurde in Martinis methodischen Überlegungen jedoch die Kompetenz zugestanden, selbst zu bestimmen, welche PatientInnen sie in eine Versuchsgruppe aufnehmen wollten und welche nicht, während in den USA die PatientInnen nach rein formalen Kriterien in eine Studie einbezogen und Zufallsgruppen zugeordnet wurden. Randomisierungen spielten, anders als in den Vereinigten Staaten, in der bundesdeutschen Arzneimittelforschung nach 1945 kaum eine Rolle, in der bundesdeutschen Neuroleptikaerprobung wurden sie bis in die 1970er Jahre gar nicht diskutiert. Martini selbst führte erst in der Neuauflage seines Buches von 1968 mit Bezug auf die Publikationen Hills die Notwendigkeit der systematischen Zufallsaufteilung ein.69 Die Offenheit von Martinis Konzeption ermöglichte den MedizinerInnen in der Nachkriegspsychiatrie darüber hinaus, den ganzen Patienten im Blick zu behalten und die Nachweise einer therapeutischen Effektivität zunächst vor allem an Kasuistiken festzumachen – eine Möglichkeit, von der die bundesdeutsche Psychopharmakaforschung ausführlich Gebrauch machen sollte.70 Martini betonte zwar einerseits die Notwendigkeit experimenteller Settings, sah aber gleichzeitig eine in den 1950er Jahre konstatierte »Krise der Medizin«, die er an einer zu einseitigen Orientierung der Klinik an den
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Martini 1932, S. 16ff. Daemmrich 2004, S. 52ff. Martini 1953, S. 32. Martini et al. 1968, S. 29. Dies wird auch in den frühen Evaluationsversuchen in der bundesdeutschen Psychopharmakologie deutlich (vgl. Teil II, 2.3 ).
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Naturwissenschaften festmachte.71 Diese Ausführungen Martinis knüpften vermutlich direkt an die Diskussionen zur »Krise der Medizin« in den 1920er Jahren an, die den Kontext für die erste Publikation zu seiner Methodenlehre bildete.72 Anders als die bundesdeutsche Evaluation orientierte sich die US-amerikanische Wirksamkeitserfassung der Neuroleptika, wie gezeigt wurde, schon früh an einer systematischen Quantifizierung neuroleptischer Effekte.73 Die Forderung Martinis, den klinischen Versuch der Form nach an das Experiment anzupassen, indem man einen einfachen Blindversuch einführte, stieß bei den MedizinerInnen der Nachkriegsära auf Widerstand, da sie diese Methodik als Beschneidung ihrer Kompetenzen wahrnahmen und als technisch nicht durchführbar erachteten. So formulierte Martini noch 1957, dass er zwar schon vor einem Vierteljahrhundert die Einführung einer »unwissentlichen Versuchsanordnung« gefordert habe, diese aber von der Mehrzahl der Kliniker nicht befolgt worden sei.74 Obwohl Martini sich im Verlauf dieses Artikels auf die US-amerikanische Debatte um die Einführung des Blindversuchs und des Placebos stützte, um seine eigene Methodik zu legitimieren, grenzte er sich gleichzeitig von der weiter reichenden Konzeption des Doppelblindversuchs ab. So formulierte er: »Die Unentbehrlichkeit des doppelten Blindversuches ist noch nicht einmal für subjektive Krankheitsmerkmale erwiesen. Ich sehe in der Literatur erst recht keine Beweise, daß er bei objektiven Merkmalen unentbehrlich 71 Martini 1954, S. 17. Mit der «Krise der Medizin« bezeichnete er das Misstrauen weiter Teile der Bevölkerung gegen eine klinische Praxis, die der Würde des Menschen nicht gerecht werden würde. Diese auch aufgrund der medizinischen Experimente im Nationalsozialismus entstandene Skepsis versuchte Martini in seine Konzeption der klinischen Forschung aufzunehmen: «Diese Qualität des Menschen macht es uns unmöglich, Experimente sensu strictiore mit ihm anzustellen und erschwert es uns darüber hinaus immer außerordentlich, ja verbietet es uns oft, unsere therapeutischen Anordnungen beim Kranken so zu ordnen, daß wir überhaupt einen Schluß aus ihnen oder den Aussagen und aus dem Ausgang oder der Dauer oder aus dem Verlauf einer Krankheit ziehen können« (Martini 1954, S. 19). 72 Vgl. Martini 1932. Die KritikerInnen warfen der naturwissenschaftlichen Medizin vor, sie würde die Seele des Menschen vernachlässigen, Krankheiten statt Kranke behandeln und sich oft nur für eine exakte wissenschaftliche Diagnostik statt empirisch begründbare Therapie interessieren (Klasen 1984, S. 110). Der letztgenannte Kritikpunkt war in den 1950er Jahren auch für die junge Generation von PsychiaterInnen zentral. Sie forderten die Hinwendung zur (medikamentösen) Therapie und einer Abkehr von einem Primat der Psychopathologie. Diese Entwicklung kann vor diesem Hintergrund auch als ein Aspekt der «Krise der Psychiatrie« gelesen werden. Ausführlicher zu den erneuten Diskussionen einer «Krise der Medizin« nach 1945 vgl. III.2.4. Zur Krise der Psychopathologie vgl. Teil II, 4.4. 73 Daemmrich 2004, S. 52ff. 74 Martini 1957, S. 597.
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wäre.«75 Martinis Ausführungen können vor dem Hintergrund der vorangegangenen Darstellung der Geschichte des klinischen Versuchs in den USA auch als Bemühen gelesen werden, die ärztliche Autorität zu untermauern, denn im Doppelblindversuch können auch die ÄrztInnen nicht mehr bestimmen, ob sie den einzelnen PatientInnen ein effektives Mittel gegeben haben. Damit ist jedoch auch der klinische Eindruck der MedizinerInnen entwertet und sie selber sind zu austauschbaren Teilen der Versuchsanordnung geworden. Martinis Konzeptionen wurden in der bundesdeutschen Psychopharmakologie in den 1950er Jahren unterschiedlich aufgenommen, fanden jedoch vor allem im Bereich der Pharmakopsychologie Zuspruch, die sich mehr an einer zu diesem Zeitpunkt stärker werdenden experimentellen Methodik der Psychologie ausrichtete als sich an dem Stand der psychiatrischen Wissenschaft zu orientieren. Auch die bundesdeutsche Psychologie befand sich in den 1950er Jahren in einer Phase der Krise und Neuorientierung. In der frühen Nachkriegszeit hatte sie zunächst an die Traditionen der Gestalt- und Ganzheitspsychologie aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts anknüpfen können, die sich in Abgrenzung zu Wilhelm Wundts experimenteller Psychologie entwickelt hatte. Insbesondere die Ganzheitspsychologie galt als phänomenologisch-beschreibendes und verstehendes Verfahren, das sich gegen die als Naturwissenschaft konzipierte Elementenpsychologie klar abgrenzte.76 Mitte der 1950er Jahre fand in der Psychologie ein »Methodenstreit« statt. Zu einem Zeitpunkt, als noch die Mehrheit der bundesdeutschen Ordinariate mit Vertretern der Gestalt- und Ganzheitspsychologie besetzt war,77 wurde von dem in den USA arbeitenden deutschen Psychologen Peter R. Hofstätter (1913–1994) in mehreren Veröffentlichungen eine Quantifizierung der Psychodiagnostik eingefordert. Die Herausgabe eines Lexikons der Psychologie, das 1957 in hoher Auflage erschien und sich am Behaviorismus orientierte, verschaffte Hofstätter eine große Aufmerksamkeit und leitete auch in der bundesdeutschen Psychologie eine experimentelle Wende ein.78 75 Martini 1957, S. 600. 76 Mattes 1985, S. 209. Ein weiterer Bezugspunkt war die Charakterologie, die mit der Praxis der Wehrmachtspsychologie Einfluss gewonnen hatte. Während sich die Gestaltpsychologie vor allem auf die Wahrnehmungsforschung konzentrierte und vorwiegend experimentell arbeitete, galt die Ganzheitspsychologie eher als intuitive denn als experimentelle Wissenschaft. 77 So waren von den 17 Ordinarien acht mit Vertretern der Ganzheitspsychologie und Charakterologie und vier mit Gestaltpsychologen besetzt (vgl. Mattes 1985, S. 219). 78 Mattes 1985, S. 220. Peter R. Hofstätter war ein Forscher, dessen Auffassungen und Lebensweg grundsätzlich nicht unumstritten waren. Von 1937 bis 1943 war er Wehrpsychologe der Heerestruppen und vertrat in dieser Funktion die nationalsozialistische Rassenlehre. Im Anschluss daran arbeite-
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Vor dem Hintergrund dieser Neuausrichtung der Psychologie müssen die Reaktionen der PharmakopsychologInnen auf Martinis Forderungen Mitte der 1950er Jahre verstanden werden, die sich stärker als die PsychiaterInnen an einer experimentellen Methodik orientierten. Manfred Pflanz gestand auf einem Kongressbeitrag über die Pharmakopsychologie schon 1954 ein, dass für die pharmakopsychiatrische Beurteilung eines Medikaments sowohl die Häufigkeit der Spontanremissionen des Zustandsbildes als auch die einer stabilen Basislinie des Verlaufs bekannt sein müssten, um eine Änderung im Krankheitsgeschehen nicht irrtümlich dem Medikament zuzuschreiben. Darüber hinaus forderte er die Einführung der »unwissentlichen Versuchsanordnung« zur Absicherung der Effekte neuer Psychopharmaka. So betonte Pflanz: »Hat auch der Vergleich mit PlaceboVersuchen den Nachteil, daß man hierdurch die Größe der Patientengruppe vermindert und somit statistisch signifikante Aussagen erschwert, so kann man auf ihn nicht verzichten. Ohne ihn ist ein Vergleich nicht möglich.«79 Pflanz ging dabei sogar über die Forderung Martinis hinaus und forderte die Durchführung von Doppelblindstudien ein. Nur wenn auch der Versuchsleiter nicht wisse, welches Medikament die Versuchsperson einnehme, bleibe diese von seinen Suggestionen über die Effektivität eines Arzneimittels unbeeinflusst. In der Diskussion seiner pharmakopsychologischen Ausführungen blieb seine Orientierung an experimentellen Versuchsanordnungen jedoch nicht unumstritten. So wurde in Redebeiträgen Kritik daran geübt, dass die aus den Naturwissenschaften übernommene Statistik nicht die einzige Möglichkeit sein könne, um pharmakopsychologische Untersuchungen auszuwerten, sondern man vielmehr auch eine Phänoanalyse der Befindensweise benötige. Auch wurde hervorgehoben, dass sich die Geschichtlichkeit der Person und die Einwirkungen des Ichs auf die psychotropen Effekte stets auf das wahrgenommene Erleben der Substanzen auswirkten. Insbesondere wurde die Wichtigkeit des Kontextes für eine psychotrope Wirkung betont. So formulierte ein Diskussionsteilnehmer seine Zweifel an einer kontextunabhängigen Wirkung der Medikamente mit folgenden Worten: »Es ist anzunehmen, daß ein Medikament in Amerika eine andere psychische Wirkung ausübt als in
te er im Reichsjustizministerium. Ungeachtet seiner Vergangenheit erhielt er 1945 einen Lehrauftrag an der Universität Graz, 1949 bis 1956 lehrte er als Dozent in den USA. Hofstätter wurde 1959 auf den Ordentlichen Lehrstuhl für Psychologie an der Universität Hamburg berufen und dort 1979 emeritiert. 1963 geriet er weltweit in die Schlagzeilen, weil er in einem Zeitungsartikel die Massenerschießungen von Juden ausdrücklich nicht als bestrafbare Morde, sondern als Kriegshandlungen bezeichnet hatte (vgl. Hofstätter 1963; Leonhardt 1963). 79 Pflanz 1954, S. 539.
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Deutschland oder Italien, daß aber auch ein Einzelexperiment andere Resultate als eine Gruppenuntersuchung erbringen kann.«80 Die Forderung Pflanz’ nach der Anwendung eines doppelten Blindversuchs blieb in der frühen Bundesrepublik kein Einzelfall.81 Auch ein weiterer bekannter Pharmakopsychologe berichtete über ein 1951 durchgeführtes Experiment des Psychologischen Instituts der Freien Universität Berlin zum Einfluss von Glutaminsäure auf »geistig zurückgebliebene« Kinder, in der zum ersten Mal eine doppelblinde Versuchsanordnung zum Einsatz gekommen sei. Der Autor appellierte in seinem Artikel an die ForscherInnen, die Durchführung von Doppelblindstudien zur Ausschaltung des Versuchsleitereffekts und die Einführung von vergleichbaren Kontrollgruppen zum Standard für die Testung von Psychopharmaka zu erklären.82 Diese insbesondere von PharmakopsychologInnen erhobene Forderung nach einer Ausschaltung der suggestiven Effekte des Versuchsleiters, in der Klinik also des Arztes selbst, ging aber vielen mit der Psychopharmakologie befassten PsychiaterInnen zu weit. Sie betonten die Unmöglichkeit, Doppelblindstudien in der psychiatrischen Klinik durchzuführen, um die Effekte der neuen Psychopharmaka zu evaluieren. So formulierte Wolfgang de Boor in seinem viel rezipierten Buch »Pharmakopsychologie und Psychopathologie« wohl die Angst vieler PsychiaterInnen, wenn er die Ausführungen der PharmakopsychologInnen folgendermaßen kommentierte: »Diese Forderung [nach der Einführung eines doppelten Blindversuchs als Standard] scheint uns doch zu weit zu gehen, da bei der Differenziertheit bestimmter psychopathologischer Fragestellungen eine Sichtung und Einengung auf bestimmte Phänomene einfach notwendig ist. Man kann auch beim besten Wille ohne diese thematische Begrenzung nicht alles erfassen und registrieren.«83
Die Ausführungen de Boors verweisen auf die Ablehnung vieler MedizinerInnen in den 1950er Jahren, ihren klinischen Eindruck einer experimentellen Wirksamkeitserfassung unterzuordnen. Auch der Heidelberger 80 Diskussionsbemerkung zu Pflanz 1954, S. 547. 81 Neben der Studie von Rudolf Bergius ist auch noch die Studie des Psychologen Gustav A. Lienert über «Die Bedeutung der Suggestion in pharmakopsychologischen Untersuchungen« aus dem Jahr 1955 zu nennen (vgl. Lienert 1955). Auch später versuchte Lienert im Rahmen der Diskussionen der Arbeitsgemeinschaft für Neuropsychopharmakologie (AGNP), den Doppelblindversuch als wichtiges Kriterium einer experimentellen Versuchsanordnung in der Psychopharmakologie zu stärken (vgl. Lienert/Thorgersen 1960). 82 Bergius 1954. 83 De Boor 1956, S. 13. Zum Einfluss von de Boor vgl. auch Hippius/Healy 1996; Balz/Schmitt 2007.
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Psychiater Hans-Hermann Meyer stellte die Probleme einer in Anlehnung an Martinis Konzeptionen vorgenommenen Umformulierung des therapeutisch-klinischen Versuchs in der Psychiatrie dar. Die Einwirkungen eines psychotropen Medikaments seien, wie Meyer betonte, vielfältig und in vielem sehr subjektiv. Auch er sah in der geforderten kontrollierten Versuchsplanung verschiedene Schwierigkeiten und hielt sie in der Psychiatrie für kaum durchführbar. So pointierte Meyer den Einfluss Martinis auf die Evaluation der Therapien symptomatischer Psychosen mit den Worten: »Die Berücksichtigung der Methodenlehre Martinis oder eine prophylaktische Statistik könnte gute Ergebnisse erzielen. Aber hierzu müßte vorher geplant und genaue Planungssysteme müßten vorher aufgestellt werden – alles in der praktischen klinischen Tätigkeit kaum durchführbare Anliegen, deren Verwirklichung aus vielerlei Gründen die Realisierbarkeit versagt ist und dies meist insbesondere auf dem Gebiet der meist empirisch gewonnenen Therapien der Psychosen.«84
Die unwissentliche Versuchsanordnung Martinis schien in den 1950er Jahren also in der Praxis des Klinikalltags ein kaum durchführbares Anliegen zu sein. Sie wurde vor allem von PsychologInnen gefordert, die mit dem experimentellen Versuchsdesign und den auftretenden Problemen des Versuchsleitereffekts schon lange vertraut waren. Auch der Einsatz von Placebos, welcher die Arzneimitteleffekte von den Worten und Handlungen des Arztes befreien sollten, wurde in der Bundesrepublik Deutschland vielfach als unethisch abgelehnt.85 Erst Ende der 1960er Jahre konstatierte Pöldinger, dass Placebos einen großen Eingang in die Evaluation vor allem psychotroper Medikamente gefunden hätten.86 Auch wurde von ihm die Nützlichkeit des Doppelblindversuchs für die Evaluation der Psychopharmaka betont. Vor dem Hintergrund der geschilderten Entwicklungen hatte die bundesdeutsche Psychiatrie der Nachkriegsjahre mit mehreren Problemen zu kämpfen, wenn sie einen Wirksamkeitsbegriffs bilden wollte. Zum einen war das Problem der mangelnden Einheitlichkeit ärztlichen Handelns für die Ausgestaltung des klinisch-therapeutischen Versuchs, aber auch für die psychiatrische Diagnostik zentral. Wie die Ausführungen zur Methoden84 Meyer 1956, S. 1257. 85 Pöldinger 1969. Der Autor gibt hier keinen Grund dafür an, warum die Gabe eines Placebos in der modernen Medizin als unethisch galt. In der Regel bezog sich die Kritik an der Verwendung von Placebos jedoch darauf, dass die PatientInnen diese nur zu Prüfungszwecken erhielten, um die Überlegenheit einer Therapie zu beweisen, ihnen aber im gleichen Zuge eine effektive medikamentöse Therapie vorenthalten würde. 86 Pöldinger 1969, S. 425. Unklar bleibt jedoch, ob er sich hier speziell auf den deutschsprachigen Raum bezog oder auf die als Maßstab der psychopharmakologischen Forschung dienenden US-amerikanischen Wirksamkeitsstudien.
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lehre Martinis zeigten, wurden einzelne Elemente eines kontrollierten experimentellen Settings – wie die Einführung des Blindversuchs und einer systematisch aufgelisteten Basislinie des Verlaufs – zwar gefordert, aber von den ÄrztInnen im Allgemeinen und den PsychiaterInnen im Besonderen nicht angewandt. Gerade in der Psychiatrie stieß die Beschreibung des Verlaufs an ihre Grenzen, da zur Beantwortung dieser Frage eine einheitliche Kategorie abweichenden Verhaltens hätte benannt werden müssen. Da jedoch in der zeitgenössischen psychiatrischen Psychopathologie, wie Conrad feststellte, »jeder siedelt wo ihm fruchtbares Weideland zu sein scheint«,87 rückte die Erstellung einer solchen Basislinie in weite Ferne. Darüber hinaus konnte eine Wirksamkeitserfassung nicht einfach messenden Verfahren unterzogen werden. Sowohl die Methodenlehre Martinis als auch die zeitgenössische Traditionen der bundesdeutschen Psychiatrie beruhten vor allem auf kasuistischen Darstellungen, die sich einer einfachen Quantifizierbarkeit entzogen. Vor diesem Hintergrund konnte man in der Neuroleptikaforschung auch nicht einfach die amerikanischen Evaluationsversuche übernehmen. Dieses Problem bildete sich in den ersten Evaluationsversuchen bundesdeutscher PsychiaterInnen ab, die im Folgenden beschrieben werden. Schließlich war auch die Rolle des Patienten in der bundesdeutschen Forschung eine besondere. Zum einen musste er insbesondere in der Psychopharmakologie zu einem starken Referenzpunkt werden, da er der einzige zuverlässige Zeuge war. Zum anderen wurde er jedoch in der bundesdeutschen Arzneimittelforschung in ein Modell eingebunden, in dem der Arzt für den Patienten sprach.88 Diese Dominanz des ärztlichen Blicks in der Arzneimittelevaluation wurde im Bereich der Psychiatrie noch verstärkt, da die wahnsinnigen Äußerungen der PatientInnen häufig unter das Postulat der Unverständlichkeit »psychotischer« Reaktionen subsumiert wurden. Die Orientierung einiger PsychiaterInnen an Jaspers und Schneider öffnete zwar phänomenologischen Beschreibungen die Tür, sorgte aber gleichzeitig dafür, dass PsychiaterInnen ein freundlich-distanziertes Verhältnis zu den PatientInnen pflegten. Vor diesem Hintergrund sind die ersten psychiatrischen Evaluationsbemühungen der primären Neuroleptika zu betrachten, die ich im Folgenden in den Blick nehmen werde.
87 Conrad 1959, S. 489. 88 Daemmrich 2004, S. 6.
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2 . 3 E r s t e O b j e k t i v i e r u n g s ve r s u c h e zwischen 1953 und 1959 Wie ausgeführt wurde, blieben die Diskussionen über die ersten Neuroleptika in Deutschland zunächst an die klinische Beobachtung und den klinischen Bericht gebunden. Dies lässt sich nicht nur an der meist kasuistischen Form der Veröffentlichungen in Fachzeitschriften festmachen, sondern auch an den Berichten in den Krankenakten, die häufig als Vorlage dieser Kasuistiken dienten und noch in weitgehend unstandardisierten Fließtexten geschrieben wurden. Diese sich an den ärztlichen Eindrücken orientierenden Beschreibungen der Arzneimitteltherapie wurden von führenden PsychopharmakologInnen der Zeit wie dem Erlanger Ordinarius Fritz Flügel gefördert. Da es im Bereich der Psychiatrie weder überzeugungskräftige tierexperimentelle Erprobungsmöglichkeiten noch, wie Flügel es formulierte, Reagenzglas, Waage oder sonstige physikalische Maßnahmen zur Beurteilung eines psychotropen Effekts gebe, sei die Psychiatrie hier auf die Beobachtung durch den Psychiater angewiesen. So führte er zur klinischen Beurteilung eines neuen Neuroleptikums aus: »Die Psychiatrie muß sich beschränken auf subtile Verhaltensbeobachtungen und die Ergebnisse der Exploration, wie sie im unmittelbaren Kontakt zwischen Krankem und Arzt gewonnen werden. Der Pharmakologe mag daher glauben, nicht befriedigt sein zu können von dem, was ihm der Psychiater an die Hand geben kann.«89
Flügel betont das differente Herangehen von PsychiaterInnen und PharmakologInnen bei einer ersten Beurteilung des therapeutischen Werts. Die einfache psychiatrisch-klinische Beobachtung stellte seines Erachtens ein trennscharfes Mittel dar, valide Ergebnisse zu erzielen. Die klinische Psychiatrie habe sich trotz der genannten Schwierigkeiten bemüht, »manches seelische Geschehen zu objektivieren und sogar meßbar zu machen«.90 Dies sei in einigen Testverfahren auch gelungen. Dass die Orientierung an der klinischen Beobachtung und Fallbeschreibung für die Psychiatrie Anfang der 1950er Jahre entscheidend war, verdeutlicht eindrücklich Flügels eigener Begriff der neuroleptischen Wirksamkeit, die er als Effekte auf die ganze Person des »psychisch Kranken« mit der Formel der »Harmonisierung der Persönlichkeit« beschrieb.91 Obwohl er sich mit seiner grundsätzlichen Forderung nach Objektivierung einer naturwissenschaftlichen Ausrichtung der Psychiatrie verpflich89 Flügel 1954, S. 68. 90 Flügel 1954, S. 68f. 91 Flügel in: Südwestdeutsche Neurologen und Psychiater 1953, S. 9.
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tet fühlte, wandte sich Flügel in den ersten Jahren deutlich gegen die Placebokontrolle und eine statistisch-experimentelle Fassung des klinischen Versuchs. Wenn es einen therapeutischen Effekt gebe, könne er ihn sehen und benötige keine »Zuckerpillen«, betonte Flügel noch 1955 auf einem Treffen mit der Firma BAYER zur Frage der Effektivitätsbeurteilung der neuen Medikamente. Während die Pharmakologen von BAYER auf einem statistisch-experimentellen Nachweis der Effektivität bestanden und darauf verwiesen, dass der Medikamenteneffekt signifikant größer sein müsse als der eines Placebos, wandte Flügel ein, jeder gute Kliniker könne beurteilen, ob ein Medikament effektiv sei. Schließlich verwahrte er sich gegen die »Amerikanisierung« der Debatte, als die er die Forderung des BAYER-Forschers Wolfgang Wirth (1898–1967), damals Chef der weltweiten klinischen Forschung und Entwicklung bei BAYER, nach einem statistisch-experimentellen Design empfand.92 Weiter reichte die Kritik einiger anthropologisch orientierter Psychiater, wie am Beispiel Walter Ritter von Baeyers deutlich wird. Wie ich bereits ausgeführt habe, stellten für von Baeyer die Neuroleptika eine sowohl körperlich als auch leiblich-seelisch vermittelte Therapiemethode dar.93 Die beiden Sichtweisen Flügels und von Baeyers geben die beiden Pole einer naturwissenschaftlichen, aber statistisch-skeptischen und einer anthropologischen psychiatrischen Position beispielhaft wieder. Im Unterschied zu diesen Positionen bemühten sich einige wenige KlinikerInnen schon ab 1956, eine Standardisierung voranzutreiben, indem sie die häufigsten Formulierungen über einen Patienten sammelten und unter einem Stichwort auswerteten.94 Diese frühen Standardisierungsversuche sind aber als Ausnahme von den in den 1950er Jahren noch wenig einheitlichen Evaluationsbemühungen zu fassen. Frühe psychiatrische Objektivierungsversuche orientierten sich in der Bundesrepublik Deutschland eher an einem unspezifischen Wirksamkeitsnachweis, indem sie zum Beispiel die Lautstärke auf den Teststationen in der Psychiatrie maßen. So berichtete ein Psychiater von einem Evaluationsversuch auf einer unruhigen Frauenstation. Hier wurden Geräuschmesser im Aufenthaltsraum installiert und eine Effektivität des Medikaments
92 Itil 1998, S. 157ff. Der Autor gehörte in den 1950er Jahren zur Forschergruppe um Fritz Flügel, die versuchte, erste Wirksamkeitsbeschreibungen der neuen Psychopharmaka vorzunehmen und sich dabei neben klinischen Beobachtungen vor allem an einer Beschreibung der Effekte über das EEG orientierte. Itil betonte, es habe in Deutschland noch Jahre gedauert, bis man die Placebokontrolle einführte. 93 Von Baeyer 1959a, S. 2 und von Baeyer 1963, S. 102. Vgl. ausführlicher zu von Baeyers Darstellung III.2.6. 94 Schmitt 1965.
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sollte über ein Abfallen des Geräuschpegels nachgewiesen werden.95 Die ausgesuchten Versuchspersonen, die individuell mit Megaphen dosiert wurden,96 zeigten, wie der Autor berichtete, ein deutlich ruhigeres Verhalten. Gleichzeitig wurde eine objektivierbare Beurteilung jedoch dadurch erschwert, dass zwei der Versuchspersonen sich wehrten, das Medikament einzunehmen und so zu einer erheblichen Lautstärkeerhöhung beitrugen. So scheiterte dieser Versuch an dem, wie Jeremy Green es formuliert, großen blinden Fleck jeder Wirksamkeitsprüfung, der Weigerung einzelner PatientInnen, das Neuroleptikum einzunehmen.97 Trotz der Einschränkungen, die der Autor seiner Form des Wirksamkeitsnachweises zugestand, forderte er weiter die Einbeziehung der Lautstärkemessung in die Wirksamkeitsprüfung. Zwar hatten einzelne AutorInnen schon einige Jahre zuvor versucht, Wirksamkeitsaspekte an einer Verkürzung der Krankenhausdauer festzumachen. Nur einzelne Gruppen von PatientInnen konnten nach Neuroleptikakonsum jedoch schneller entlassen werden.98 Die mangelnde statistische Fassbarkeit der Effekte wurde zunehmend auch von PsychiaterInnen kritisiert und problematisiert. So bemerkte Ederle, dass vorerst lediglich ein Urteil über die Wirkung der Substanzen auf bestimmte psychopathologische Syndrome möglich sei, da kritische Erfolgsstatistiken, wie sie für die Hypoglykämie- und Krampfbehandlung entwickelt worden seien, noch nicht vorlägen.99 Hans-Hermann Meyer spitzte diese Unmöglichkeit der experimentellen Fassbarkeit neuroleptischer Effekte zu, wenn er auf die Schwierigkeiten der psychiatrischen Diagnostik in den 1950er Jahren verwies. So bemerkte er zu den Problemen der Erfassung einer neuroleptischen Effektivität: »Die Methoden der modernen Medizinalstatistiken lassen uns hier im Stich. Selbst in Arbeiten mit Vergleichsserien und mit großen Zahlen gibt es Fehler, die nicht vermeidbar sind. Die Ursache liegt in der Schwierigkeit der Diagnostik, im Fehlen charakteristischer pathophysiologischer Veränderungen, in wechselhaften Verläufen, in Spontanremissionen und vielem anderen mehr. Ein Vergleich mit den Erfolgsberichten anderer Kliniken, insbesondere des Auslands, ist auf unse-
95 Wolff berichtet in dieser Untersuchung von 28 Frauen, an denen er die Wirksamkeit von Megaphen testete (vgl. Wolff 1958). 96 Maß für die Dosierung war, «daß sie in der Gemeinschaft erträglich wurden und arbeitstherapeutisch eingesetzt werden konnten« (vgl. Wolff 1958, S. 28). 97 Green 2004. 98 Gäde/Heinrich 1958. Diese heben die besondere Effektivität auf «paranoidhalluzinatorische Psychosen« hervor. 99 Ederle 1958, S. 288.
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rem Gebiet, vor allem bei den endogenen Psychosen, wegen der verschiedenartigen Diagnostik praktisch kaum möglich.«100
Meyers Zitat verdeutlicht, wie sehr die ForscherInnen noch Ende der 1950er Jahre auf ein lokales Wissen angewiesen waren und selbst von den Berichten anderer KlinikerInnen innerhalb der BRD nur eingeschränkt profitieren konnten. Die beschriebene Unmöglichkeit, in einfacher Weise zu einer Wirksamkeitsbestimmung der Neuroleptika zu gelangen, die an die Grundlagen der bundesdeutschen psychopathologischen Traditionen anschlussfähig war, ließ die bundesdeutschen PsychopharmakologInnen in ihren Netzwerken einen eigenen Weg beschreiten, der die naturwissenschaftlich-experimentelle Neufassung eines Begriffs der neuroleptischen Wirksamkeit vorbereiten sollte. Zwar wehrten sich die ForscherInnen gegen eine einfache Übernahme der amerikanischen Ergebnisse. Durch die engen Verbindungen, welche die bundesdeutschen ForscherInnen zu einzelnen ProtagonistInnen der US-Forschung wie Heinz Lehmann (geboren 1911) und Fritz Freyhan (1912–1982) hatten, die in der Zeit des Nationalsozialismus in die USA emigriert waren, waren die deutschen PsychiaterInnen jedoch sehr genau über die US-amerikanische Debatte informiert. Die beiden amerikanischen Autoren hatten nach den dort gültigen Vorstellungen der Arzneimittelevaluation verfasste Studien zu Chlorpromazin schon in den 1950er Jahren in der vielgelesenen psychiatrischen Fachzeitschrift Der Nervenarzt veröffentlicht.101 Auch der deutsche Psychiater Willy Mayer-Gross, der aufgrund seiner jüdischen Herkunft in den 1930er Jahren gezwungen gewesen war auszuwandern, machte die deutschen ForscherInnen wieder auf Kraepelins Arzneimittelstudien und seine Experimente aufmerksam. Aus dem englischen Exil veröffentlichte Mayer-Gross einen Artikel mit dem Titel »Kraepelins Arzneimittelstudien und die pharmakologische Psychiatrie der Gegenwart«, der die Bedeutung der Statistik für die angloamerikanische Psychologie und Psychiatrie betonte. Anhand der Innovationen im Bereich der Psychopharmakologie meinte der Autor, neue Anschlussmöglichkeiten an das Werk Emil Kraepelins aufzeigen zu können. So pointierte Mayer-Gross:
100 Meyer 1958, S. 278; zu einer ähnlichen Auffassung vgl. Mielke 1957, S. 117. 101 Freyhan 1957, Lehmann 1954. Freyhan war gleichzeitig mit einem Impulsreferat zur PatientInnenauswahl bei Medikamentenprüfungen an der ersten Evaluationskonferenz der National Academy of Science beteiligt (vgl. Freyhan 1959a), während Lehmann auf einer frühen internationalen Konferenz ebenfalls auf die Notwendigkeit der statistischen Neufassung und einer Orientierung auf den Doppelblindversuch hingewiesen hatte (vgl. Lehmann 1959).
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»Die jüngste Entwicklung von Pharmakologie und Biochemie auf der einen Seite, und von Beobachtungsmethoden in der Psychologie und ihrer statistischen Auswertung auf der anderen, haben ein neues Arbeitsgebiet erschlossen, das sich in der Grundhaltung eng an Kraepelins Pharmakopsychiatrie anschließt.«102
Dabei verwies Mayer-Gross auch auf die Notwendigkeit einer gut dokumentierten klinischen Beobachtung, die mit dem Verhalten der psychiatrischen PatientInnen vor der Medikation verglichen werden konnte.103 Die Forderungen der genannten Autoren müssen, obwohl sie nicht ungehört blieben, dennoch in ihrem Kontext als Versuche von emigrierten PsychiaterInnen betrachtet werden, in angloamerikanischen Ländern erfahrene Methoden auch in Deutschland zu integrieren. Die meisten bundesdeutschen PsychiaterInnen verorteten sich aber zeitgenössisch in einer anderen psychopathologischen Tradition. Doch auch wenn sich einige PsychiaterInnen zu dieser Zeit nicht in erster Linie an Kraepelin, sondern eher an der Psychopathologie Karl Jaspers’ und Kurt Schneiders orientierten, stellte der zunehmende internationale Druck hinsichtlich einer experimentellen Gestaltung des klinisch-psychiatrischen Versuchs auch für die deutschen ÄrztInnen eine immer größere Herausforderung dar, der sie in ihren eigenen Netzwerken zu begegnen hatten. Während die US-amerikanische Debatte auch als Kampf psychoanalytischer PsychiaterInnen gegen eine biologische Psychiatrie gefasst werden kann, bildeten in der Bundesrepublik Deutschland in den 1950er Jahren eher experimentelle Herangehensweisen und phänomenologische Konzeptionen Bezugspunkte für das psychiatrische Denken.
102 Mayer-Gross 1957, S. 97. 103 Mayer-Gross 1957, S. 99.
3 . Ein bundesde utsc hes Netzw erk : die Arbe its gemeinsc haft für Ne urops yc hopha rmak ologie
Während sich in den USA schon früh eine durch das National Institute of Mental Health gesteuerte Diskussion über die Evaluierung und Standardisierung der neuen Psychopharmaka durchsetzte, blieb in der BRD eine solche Debatte in den 1950er Jahren nachgeordnet. Erst Ende des Jahrzehnts entstand ein größeres Interesse der bundesdeutschen PsychiaterInnen an Standardisierungsthemen. Dies ist sicher auch durch die zunehmend mögliche Teilnahme an internationalen Kongressen ab 1955 zu erklären,1 welche die ForscherInnen mit den Schwierigkeiten der neuroleptischen Wirksamkeitserfassung vertraut machten. In seinen Erinnerungen an die Entwicklung moderner Psychopharmaka beschreibt Frank Ayd (1920– 2008) die Jahre zwischen 1951 und 1957 als die chaotischsten in der Geschichte der Psychiatrie überhaupt. Oft hätten die Psychiater weder Genaueres über die Krankheiten gewusst, die sie behandelten, noch seien sie sich über pharmakologische Wirkungen der eingesetzten Substanzen im Klaren gewesen. Noch 1957 stand die psychopharmakologische Debatte vor dem Problem, dass es keine international vergleichbare Klassifikation psychischer Störungen gab und die Berichte aus den einzelnen Ländern auf einer
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Hippius erläuterte, dass die deutschen PsychiaterInnen erst ab 1955 auch ins Ausland fahren und an internationalen Kongressen hätten teilnehmen können. In den ersten 10 Jahre nach Kriegsende hätten sie nicht zu den Kongressen im Ausland reisen können, weil sie konsequent weder als Sprecher noch Teilnehmer eingeladen worden seien. Aber auch das Reisen innerhalb der Bundesrepublik und der Austausch mit den Kollegen im eigenen Land sei aufgrund der unterschiedlichen Besatzungsmächte und der damit verbundenen Schwierigkeiten des Reisens problematisch gewesen. So hätte er auf einem Treffen 1955 in St. Anne auch einige seiner deutschen Kollegen zum ersten Mal getroffen (vgl. Hippius/Healy 1996, S. 199).
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völlig unterschiedlichen Ausgangsbasis beruhten.2 Mit dem Ziel, die Bildung eines psychopharmakologischen Netzwerkes anzuregen, wurde deshalb von dem Direktor des SANDOZ-Konzerns, Ernst Rothlin (1888– 1972), auf dem zweiten Weltkongress für Psychiatrie 1957 in Zürich ein informelles Treffen anberaumt. Zu diesem wurden die seiner Meinung nach wichtigsten Vertreter des neuen Fachgebiets eingeladen und die Gründung eines speziellen Forums, des Collegium Internationale NeuroPsychopharmacologicum (CINP), beschlossen.3 Schon 1957 fand ein erstes Treffen der neuen Gruppe statt, an dem 500 Delegierte aus 26 Nationen teilnahmen, unter ihnen auch einige bundesdeutsche ForscherInnen.4 Das sich etablierende Netzwerk regte jene zu weiteren Diskussionen in eigenen Netzwerken an. Bereits ab 1956 trafen sich in der BRD junge Psychiater aus fünf verschiedenen Universitätskliniken jährlich in Nürnberg.5 Darauf folgte schon 1959 ein erstes Treffen der deutschen Psychiater mit französischen PsychiaterInnen in Lyon, das schließlich 1960 bei einer weiteren Tagung in (West-)Berlin fortgesetzt wurde.6 Diese ersten »Französischdeutschen Gespräche über die psychiatrische Therapie«7 können auch als Gründungstreffen eines sich in Deutschland neu etablierenden Netzwerkes, der Arbeitsgemeinschaft für Neuropsychopharmakologie (AGNP)
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Zum Problem der psychiatrischen Klassifikation und ihren Transformationen vgl. Teil II, 4. Ayd 1998. Dieser betont die Wichtigkeit der Verbindung von Wissenschaft und Politik bei diesem Gründungstreffen. Die Einladung sei informell gewesen und habe sich nur auf von Rothlin ausgewählte Vertreter bezogen. Als Initiator schlug Rothlin sich zudem gleich als Präsident des neuen Forums vor. Edward Shorter kommt auf Grundlage dieser Gründungsgeschichte zu dem Schluss, dass die Gründung der Disziplin Psychopharmakologie eher der Pharmaindustrie als den KlinikerInnen zuzuschreiben sei (vgl. Shorter 2003, S. 399). Bradley 1959. Auf diesem Treffen kamen auch die deutschen Teilnehmer Dieter Bente, Fritz Flügel, Hanns Hippius, Toran Itil und Wolfgang Wirth zusammen. Letzterer war zu dieser Zeit weltweiter Chef der klinischen Forschung von BAYER. Es entstand die Idee, einen eigenen Zirkel zur Psychopharmakaforschung einzurichten (vgl. http:// www.agnp.de, letzter Zugriff am 10.12.2009). Hanns Hippius berichtet, diese hätten zunächst noch den Ruf von Outsidern gehabt, weil sie sich mit therapeutischer, anwendungsbezogener Forschung und dann auch noch mit medikamentöser Therapie beschäftigten (vgl. Hippius/Healy 1996). Die engen Handelsbeziehungen zwischen der französischen Firma RHÔNEPOULENC und der deutschen Firma BAYER und ihr Austausch von Daten bezüglich des ersten Neuroleptikums Chlorpromazin legte ein solches Treffen nahe. So der Titel der Tagung (vgl. Therapeutische Gespräche 1960).
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verstanden werden, einer Forschergruppe, die sich interdisziplinär aus PsychiaterInnen, PharmakologInnen und PsychologInnen zusammensetzte.8 Die verschiedenen Disziplinen bildeten einen »Bewegungsraum«9 für Verhandlungen über einen Begriff der neuroleptischen Wirksamkeit. Die enge Verbindung der beteiligten ForscherInnen mit dem Internationalen Netzwerk CINP sorgte dafür, dass die Arbeitsgemeinschaft als nationales Auswahlkomitee der Beiträge für das internationale Forum diente. Damit bildete sie faktisch das Tor der bundesdeutschen ForscherInnen zur internationalen Diskussion.10 Als westdeutsche Arbeitsgemeinschaft, die zudem auf ihren in den folgenden Jahren stattfindenden Tagungen Gäste aus Frankreich und den USA empfing, beschäftigte sich die AGNP vor allem mit Standardisierungsthemen. So fokussierten sich die ersten Treffen unter anderem auf die Methodik der klinischen Prüfung und einer entsprechenden Standardisierung, auf das Elektroenzephalogramm zur Sichtbarmachung der Effekte und auf die Entwicklung von pharmakopsychologischen Tests. Als neue Formen der Sichtbarmachung und Stabilisierung der bislang unsicheren neuroleptischen Effekte bildeten diese Diskussionen meines Erachtens wichtige Übersetzungsstellen, an denen versucht wurde, einen stabilen Begriff von Wirksamkeit herzustellen. Im Folgenden sollen deshalb insbesondere die Versuche der Erfassung einer psychotropen Wirksamkeit im Kontext sich neu etablierender Aufschreibsysteme betrachtet werden, die an einer Neufassung des Wissens beteiligt sind.11 Im Sinne von Stefan Timmermans und Marc Berg möchte ich in dieser Hinsicht argumentieren, dass sich solche Standardisierungen als Folge von lokalen Verhandlungen herausbilden und aus deren Wissensformationen und Infrastrukturen heraus entstehen. Vor diesem Hintergrund sind die Standardisierungsbemühungen der bundesdeutschen ForscherInnen nicht einfach als nachholende Entwicklung gegenüber der Diskussion in den USA zu verstehen, sondern als neue Produktionsformen eines Wissens, das sich erst in spezifischen nationalen und lokalen Netzwerken bildete.12
8
Therapeutische Gespräche 1960. Der Vorsitz des Netzwerkes wechselte zwischen PsychiaterInnen, PharmakologInnen und PsychologInnen. 9 Will 2007, S. 86 10 Hippius/Healy 1996. 11 Vgl. zur Rolle von Aufschreibsystemen in der Wissenschaftsgeschichte auch Hagner 2001 und Rheinberger/Hagner 1993. 12 Timmermans/Berg 1997, S. 274. Diese prägen für derartige Formen der Standardisierung medizinischen Wissens den Begriff der »lokalen Universalität«.
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3 . 1 D a s E E G i n d e r B e s t i m m u n g vo n W i r k s a m k e i t Während sehr frühe deutsche Evaluationsversuche der Neuroleptika in der Regel noch wenig an der Standardisierung des klinischen Versuchs orientiert waren, erprobten die beteiligten WissenschaftlerInnen gleichwohl neue Techniken der experimentellen Erfassung psychotroper Phänomene, unter denen das Elektroenzephalogramm (EEG) eine besondere Rolle einnehmen sollte. Als anerkannte wissenschaftliche Tatsache etablierte sich das schon in den 1930er Jahren von Hans Berger (1873–1941) in Jena erfundene EEG erst in den 1950er Jahren.13 Die neue Technik, die wissenschaftliche Aufklärung über das Denken versprach, war gerade in der Psychiatrie mit der Hoffnung verbunden, Gehirn- und Geisteskrankheiten entschlüsseln zu können, indem sie die psychologische und physiologische Ebene verband. In diesem Sinne formuliert Cornelius Borck: »Das EEG formte die Hirnströme zu einem ›elektrischen Gehirn‹, das nur zum Teil mit den Forschungsgegenständen anderer Zweige der Hirnforschung in Deckung zu bringen war. Ein wichtiges Merkmal des elektrischen Gehirns war seine Mittel- und Mittlerposition zwischen anatomischen Befunden und psychologischen Beobachtungen.«14
Die abzulesenden hirnphysiologischen Phänomene waren aber nach Borck nur scheinbar naturgegeben: Denn nur durch ein Netz von technischen Voraussetzungen und apparativen Zurichtungen wurde der Graph des EEGs zu einem »technischen Ding«, das Fragen aufwarf. Die Psychopharmakaforschung benötigte erst eine Methode zum Lesen der Kurven, um eine Wirksamkeit der Neuroleptika stabilisierbar zu machen. Über erste Versuche, psychotrope Effekte zu evaluieren, wurde bereits in den 1940er Jahren berichtet. Lindsley und Henry schilderten Experimente, mit denen sie probierten, die Wirksamkeit von Benzedrin in der Behandlung von verhaltensauffälligen Kindern nachzuweisen und diese durch das EEG abbildbar zu machen.15 In Deutschland wurde 1954 erstmalig ein Bericht über die Anwendung des EEGs zur »Entschlüsselung« der neuroleptischen Wirksamkeit veröffentlicht. Hier sollte zunächst der Wandel der psychischen Funktionen mit dem Hirnstrombild in den Bereich des Sichtbaren transformiert werden, um ihn erklärbar zu machen. Dabei standen zunächst vor allem Fragen der Abbildbarkeit von Wirkungen im Vordergrund: Welche Veränderungen in den Hirnfunktionen 13 Borck 2005a benennt als zentrales Ereignis in der Geschichte der Etablierung des EEGs die Verleihung des Nobelpreises an den EEG-Forscher Edgar Douglas Adrian. 14 Borck 2005a, S. 11f. 15 Lindsley/Henry 1942.
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folgten auf die Verabreichung von Megaphen allein oder zusammen mit anderen Mitteln, nach einmaliger oder chronischer Verabreichung?16 Vor dem Hintergrund des Fehlens einer neurophysiologischen Grundlage für als normal oder pathologisch definiertes menschliches Verhalten versprachen die ForscherInnen sich vom Einsatz des EEGs im Rahmen der Psychopharmakatherapie eine erste Sichtbarmachung physiologischer Effekte.17 Für Megaphen, das den meisten ForscherInnen als erstes Studienobjekt diente, wurde vor allem über eine Verlangsamung der EEG-Wellen ohne Amplitudenerhöhung berichtet.18 Diese konnte, wie die ForscherInnen betonten, aber immer nur im Verhältnis zur individuellen Ausgangsposition bestimmt werden, da die Frequenz der Amplituden individuellen Differenzen unterlag. Dieter Bente und Toran Itil beschrieben die ablesbare Wirkung von Megaphen als starke Dämpfungsvorgänge bei weitgehend intakten aktivierenden Wecksystemen, was für sie in enger Beziehung zu den klinischen Beobachtungen der »lethargieähnlichen Passivisierung« der PatientInnen bei gleichzeitig bestehender ständig möglicher Weckbarkeit stand.19 Man hielt die durch Megaphen erzeugten Schwingungen und die Erregungsmuster des Gehirns mit denen im Schlaf entstehenden für vergleichbar.20 Aufgrund der Ähnlichkeit des EEGs von Megaphen mit dem der »Somatischen Verfahren« glaubten die ForscherInnen zunächst, dass eine gemeinsame Wirkkomponente für die therapeutische Beeinflussung verantwortlich sei.21 Als klinisch-experimentelle Evaluationsform versprachen sie sich vom »elektrischen Bild« jedoch auch, die neuroleptischen Substanzen nach ihrer Wirkung klassifizieren zu können, denn die Versuche, diese nach strukturchemischen Kriterien und pharmakologischen Perspektiven einzuordnen, erschienen weitgehend sinnlos für die klinische Praxis.22 Während in den 1950er Jahren noch Versuche dominierten, die neuroleptisch erzeugten Kurven als Phänomene zu interpretieren, an denen man die Wirksamkeit ablesen konnte, wurde ab den 1960er Jahren problematisiert, wie man überhaupt zu einer Stabilisierung des EEGs gelangen könnte. Dabei sahen sich die beteiligten ExpertInnen vor mehrere Probleme gestellt. Zunächst musste eine Auswahl getroffen werden, welche Kurven
16 17 18 19 20 21
Bente 1954, S. 418. Burns 1957, S. 177ff. Unna/Matin 1957; für den deutschen Bereich vgl. Bente/Itil 1957b. Bente/Itil 1957b; Flügel/Itil 1961. Bente/Itil 1959. Bente/Itil 1957a. In diesem Zusammenhang wurde auch LSD zur Erklärung herangezogen, da die LSD-Wellen als den neuroleptischen Wellen entgegengesetzt betrachtet wurden (vgl. auch Bente/Itil 1959). 22 Itil 1961.
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überhaupt als repräsentativ zu betrachten seien. So wurden bei manchen Psychopharmaka im EEG abhängig von der Dosierung unterschiedliche Effekte und Bewegungen sichtbar. Auch war jede elektrische Kurve nur im Verhältnis zur Ausgangslage des Patienten zu interpretieren. Das EEG einer psychotropen Substanz sprach also keinesfalls für sich. Es konnte erst im Prozess der Abfolge mehrerer Bilder durch den geübten Arzt interpretiert werden, der eine Selektion relevanter Daten vornahm: »Dabei muß man allerdings aus der großen Zahl von Informationen einer Kurve einzelne auswählen und zu ihren Gunsten auf andere verzichten. Das visuelle Beurteilen des EEG durch den sachkundigen Kliniker wird dadurch weder unnötig noch einfacher.«23 Dieter Bente bezeichnete das Hirnstrombild schließlich als ein Gefüge von Elementen, deren Erfassung und Ordnung hauptsächlich der Gestaltwahrnehmung unterliege, das also zur Interpretation der Daten den beteiligten Kliniker notwendig als Konstrukteur brauchte.24 Für den Vergleich verschiedener Hirnstrombilder benötigten die ForscherInnen zudem das Modell eines für ein bestimmtes Medikament typischen EEG-Abbildes. Dieses herzustellen erwies sich jedoch als schwierig, da gleichzeitig die erzeugten Kurven stark von der individuellen Ausgangslage abhingen. Nicht alle Individuen waren gleich gut für die Registrierung von bestimmten Wellen geeignet und diese schienen je nach Persönlichkeitstyp zu variieren. Das Stabilisierungsproblem veranlasste schon in den 1930er Jahren ForscherInnen in der Zeitschrift Science zu der Frage »Do brain waves have individuality?«.25 Auch für die Bildung einer typischen Medikamentenkurve für die Neuroleptika musste man die individuellen Unterschiede des Ruhe-EEGs berücksichtigen. Die Hirnstrombilder unterschieden sich in der Praxis zudem nach Applikationsart. Es reiche eben nicht, wie Itil betonte, Versuchspersonen mit der gleichen Diagnose und Medikation auszuwählen, sondern man müsse auch die unterschiedlichen Reaktionstypen bedenken.26 Bei chronischer Medikation komme zu dem Problem der individuellen Differenzen erschwerend auch immer das 23 Finckh/Kugler 1961, S. 370. 24 Bente 1963, S. 75. 25 Lee Edward Travis und Abraham Gottlober 1936: Do brain waves have individuality? In: Science 84, S. 532–533, zitiert nach Borck 2005a, S. 234. Borck führt aus, dass das EEG auch schon in den 1940er Jahren zum festen Inventar der Persönlichkeitspsychologie gehörte und wahlweise mit Testpsychologie oder Psychoanalyse verbunden wurde. Zur Bedeutung der Persönlichkeitspsychologie für die Psychopharmakologie vgl. Teil II, 4.3. Die Erzeugung der Normkurven im Bereich der Persönlichkeitspsychologie stützte sich aber vor allem auf männliche Versuchspersonen, wie Borck pointiert zusammenfasst: »Das elektronische Gehirn hat kein Geschlecht, aber Charakter« (Borck 2005a, S. 239). 26 Itil 1961, S. 351.
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Problem der phasischen Schwankungen hinzu: So unterscheide sich das Hirnstrombild in der Anfangsphase der Medikation sehr vom späteren.27 Gerade das EEG zu Beginn der Neuroleptikaverabreichung wurde als »labil« bezeichnet. Die unspezifische Ausprägung der Kurve sei, wie Bente betont, mit der mangelnden Fassbarkeit und Dynamik des »psychotischen« Prozesses überhaupt zu vergleichen. Die Tatsache, dass das elektronische Hirnstrombild eben nicht nur mit der psychotropen Substanz, sondern auch mit allen denkbaren Umwelteinflüssen zusammenhing, machte es zu einer schwer fassbaren Größe. So pointierte Bente die Probleme des Hirnstrombilds für die Ablesbarkeit psychotroper Wirkung in folgendem Satz: »Die unter der Einwirkung psychotroper Medikamente erscheinenden EEGVeränderungen stellen demnach den Ausdruck eines bisher nur schwer durchschaubaren, multifaktoriellen Geschehens dar.«28 Die Individualität des Hirnstrombildes traf im Anwendungsbereich der Neuroleptikaforschung zusätzlich auf das Problem der individuellen, wenig vorhersagbaren Effekte der verabreichten Substanzen. War schon die elektrische Kurve an sich schwer zu standardisieren, vervielfachten sich die Schwierigkeiten durch die differenten Reaktionen der PatientInnen auf die Neuroleptika. In diesem Sinne war die Stabilisierung der Effekte im EEG der Notwendigkeit einer doppelten Normierung des Individuellen unterworfen. Erst durch die Schaffung einer prototypischen neuroleptischen Normkurve, die als Standard dienen konnte, erreichte das Hirnstrombild Aussagekraft. So häuften sich schließlich die Stimmen, die an der Möglichkeit der Gewinnung einer stabilen Wirksamkeitsbestimmung durch das EEG zweifelten. Abschließend wurde Anfang der 1960er Jahre zusammengefasst, es bestehe zwar kein Zweifel an der Beeinflussung elektroenzephalographisch fassbarer hirnelektronischer Aktivität durch die neuen psychotropen Substanzen. Gleichwohl könnte diese Beeinflussung nur schwer als einheitliche stabilisiert werden, da auch verschiedene Psychopharmaka mit vergleichbarer Dosierung ein unterschiedliches EEG-Potenzial bewirkten. Es stelle sich also die Frage, ob eine gewünschte Klassifikation der Substanzen über das EEG überhaupt möglich sei.29 Dieser Aspekt blieb in den 1960er Jahren zwar umstritten, denn der Wert eines Hirnstrombildes wurde eher in der Prognose und Substanzauswahl als in der Evaluation der Wirksamkeit gesehen.30 Letztendlich gelang es aber nicht, das EEG in der Wirksamkeitserfassung der Neuroleptika durchzusetzen. Dies ist nach Borcks Einschätzung mit dem Einsatz des EEGs in der Psychiatrie im
27 28 29 30
Itil 1961, S. 358; Bente 1963, S. 79. Bente 1963, S. 81. Bente 1963, S. 78ff. Montanini/Ravasini 1961, S. 396.
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Ganzen vergleichbar. Er betont, dass die zunehmende Ausbreitung des Elektroenzephalogramms auf immer weitere Kollektive psychiatrischer Institutionen auch in anderen Teilen der Psychiatrie nicht zu stabilen Befunden und Praktiken geführt habe und gerade in deren Kernbereichen weitgehend »stumm« geblieben sei. Zwar sei das EEG in der Psychiatrie auf alle möglichen Untersuchungsgegenstände angewendet worden, der Erfolg sei dennoch nicht als nennenswert zu bezeichnen.31
Das EEG als neue epistemologische Form Dass eine Stabilisierung der Fakten mit dem Einsatz des EEGs letztlich nicht erreicht wurde, soll nicht über die Relevanz der Diskussion um die Hirnströme für die bundesdeutsche Psychopharmakologie hinwegtäuschen. Indem sie eine völlig neue Form der Sichtbarmachung etablierten, produzierten die psychopharmakologischen ForscherInnen eine epistemologisch relevante neue Form von Aufzeichnungssystemen. Diese neue Art der Wissensproduktion mittels des EEGs war eng an eine Definition von Wissenschaft als Praxis gebunden, denn das Elektroenzephalogramm erklärte sich nicht aus sich selbst heraus. Es entstand erst mit der Praxis der Übersetzungsleistung der KlinikerInnen ein Prozess, in dem, wie Borck es formuliert, »aus Hirnströmen ein elektrisches Gehirn geformt wird«.32 In diesem Sinne könne man den Einsatz des EEGs in der Psychopharmakaforschung als eine erste Bewegung verstehen, die versuchte, aus den disparaten psychotropen Effekten eine stabile Wirkung zu bilden. Ihre enge Verzahnung mit den psychischen Prozessen solle sie zudem der Psychophysiologie des Menschen näherbringen. Mit dieser Transformation markierte der Einsatz in der Psychopharmakologie aber auch einen Wendepunkt, in dem Denken und Subjektivität in einem neuen Licht erschienen: Der Versuch, die psychotrope Wirksamkeit über das EEG sichtbar zu machen, war kennzeichnend für eine erste Abgrenzung vom vorherrschenden subjektiven Eindruck und stellte eine frühe technoforme Repräsentation von Wirksamkeit dar. Die psychopharmakologische Wirksamkeit, die zunächst in Deutschland vor allem in der Arzt-Patientenbeziehung hergestellt und ablesbar wurde, ordnete sich mit der Sichtbarmachung durch das Hirnstrombild nun erstmalig einem neuen Aufschreibsystem unter.
31 Borck 2005a, S. 231. 32 Borck 2005a, S. 13. Dieser bezeichnet den Versuch, das Gehirn mittels EEG, Neurophysiologie und mathematischer Logik empirisch-experimentell aufzuklären, in Ahnlehnung an McCulloch auch als »experimentelle Epistemologie«.
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3 . 2 D i e V e r b i n d u n g v o n P h a r m a k o p s yc h o l o g i e u n d P h a r m a k o p s yc h i a t r i e Versuche der Wirksamkeitserfassungen und -messungen gestalteten sich nicht nur für die pharmakopsychiatrische Forschung, die sich auf die Gabe von Psychopharmaka an psychiatrischen PatientInnen fokussierte, als zentral. Ihre Ergänzung durch die Erprobung an klassischen »gesunden« Versuchspersonen wurde zunehmend unerlässlich. Während sich die klinische Wirksamkeitserfassung faktisch auf ein »Experiment in der Klinik« mit seinen unkontrollierbaren Faktoren bezog, versuchte die Pharmakopsychologie, die Wirksamkeitserfassung der neuen Psychopharmaka im psychologischen Labor vorzunehmen. Dabei wurden neben verschiedenen anderen psychotropen Stoffen auch die psychiatrischen Psychopharmaka einer laborexperimentellen Prüfung unterzogen.33 Walter Ritter von Baeyer führte bereits in den 1950er Jahren den Begriff der psychischen Eigenwirkung für die Effekte eines psychiatrischen Psychopharmakons bei Gesunden ein. Hergeleitet wurde der Begriff aus seinen Erfahrungen mit den somatischen Therapieformen. Er bezeichnete nach von Baeyer die unmittelbaren kausalen Folgen einer biologischen Therapieform im Seelischen, unabhängig von der Art der (psychischen) Störung. Diesem stehe der klinische Effekt bei den wahnsinnigen PatientInnen gegenüber.34 Von Baeyer übertrug seine Konzeption schließlich auch auf die Überprüfung psychopharmakologischer Wirksamkeit, denn anders als andere Medikamente in der Medizin würden Psychopharmaka auch bei Gesunden eine »psychische Eigenwirkung« erzeugen, die aber nicht unbedingt der bei den PatientInnen beobachteten gleichen müsse. Die klinische Wirksamkeit könne die psychische Eigenwirkung überdauern, aber auch entgegengesetzt sein. Letztendlich sei es die Aufgabe der Pharmakopsychologie, die pharmakopsychologische Eigenwirkung eines Medikaments im psychologischen Experiment herauszuarbeiten, wie von Baeyer betonte.35 Mit der Einführung der modernen Psychopharmaka etablierte sich für die PsychologInnen ein eigenständiges wissenschaftliches Feld, in dem sie Theorien über die Effekte von neuen psychotropen Substanzen bildeten.
33 Janke 1964a führte aus, dass sich neben anderen Disziplinen auch die Psychologie mit der Wirksamkeit der Psychopharmaka im pharmakopsychologischen Experiment beschäftigte. Grundsätzlich definierte er die Pharmakopsychologie als ein Teilgebiet der Psychologie, das psychische und mit diesen korrelierende physiologische Wirkungen von natürlichen und synthetischen, in den Körper eingebrachten chemischen Substanzen (vorwiegend Psychopharmaka) bei gesunden Versuchspersonen oder Tieren untersucht (vgl. Janke 1971, S. 1606). 34 Von Baeyer 1951, S. 46. 35 Von Baeyer 1959a, S. 3.
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Erste pharmakopsychologische Debatten in der BRD Die bundesdeutsche Debatte um die Pharmakopsychologie erfuhr in den 1950er Jahren mit der Entwicklung der neuen Psychopharmaka einen Aufschwung. Auch Wolfgang de Boor verwies auf die Probleme der psychiatrischen Psychopharmaka und der Ordnung psychiatrischer Klassifikationen. In der Erfassung der psychotropen Wirksamkeit sah de Boor ein grundsätzliches Dilemma: »Diese wohl unlösbaren Schwierigkeiten sind in der alle Systematisierungen sprengenden Doppelnatur des Menschen begründet, die Soma und Psyche umfasst. Die Pharmakopsychologie muß ständig drei grundverschiedene Dimensionen berücksichtigen: die unbelebt-stoffliche, die leiblich-organismische und die psychische Dimension. Jede Betrachtungsweise böte die Möglichkeit einer systematischen Gliederung, der sich jedoch die Ansprüche der beiden anderen Dimensionen nur mit Zwang unterordnen ließen.«36
Die Pharmakopsychologie und die Pharmakopsychiatrie standen nach de Boor somit zum Teil vor ähnlichen Problemen, da sich beide mit der Kontrolle disparater psychotroper Effekte auseinandersetzen mussten, die jedoch auf verschiedenen Ebenen, auf der Ebene von Psyche und Soma, angesiedelt waren. Für de Boor und die meisten anderen deutschen PharmakopsychologInnen stellte das Werk Emil Kraepelins einen wichtigen Bezugspunkt dar, da Kraepelin in beispielhafter Weise versucht hatte, die Pharmakopsychologie und die Psychopathologie miteinander zu verbinden.37 Darüber hinaus hatte Kraepelin als erster Experimente durchgeführt, welche die psychotropen Effekte einiger Stoffe einer objektivierbaren Messung zugänglich machen sollten.38 Als Schnittstelle zwischen der Pharmakopsychiatrie als klinischer und der Pharmakopsychologie als experimenteller Wissenschaft sollte letzterer nun zunehmend die Rolle zukommen, stabile Skalierungsmethoden zur Wirksamkeitserfassung hervorzubringen. In diesem Sinne diskutierte Manfred Pflanz schon Anfang der 1950er Jahre verschiedene Methoden, mit denen die Pharmakopsychologie zu einer Verobjektivierung ihrer Fakten gelangen sollte. Als neue Messinstrumente diskutierte er zunächst Selbstbeobachtungsverfahren, die er jedoch kritisch beurteilte, da nur wenige
36 De Boor 1956, S. 2, Herv. i. O. 37 Vgl. II.2.2. 38 Debus 1992. Dieser erläutert, dass das Werk Kraepelins in der Pharmakopsychiatrie zunächst auf einigen Widerstand gestoßen sei und erst mit der Einführung der modernen Psychopharmaka in den 1950er Jahren neuen Anklang in der Psychiatrie fand (vgl. dazu auch Mayer-Gross 1957).
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Menschen für die subtile Eigenbetrachtung geeignet seien.39 Die Fremdbeobachtung als valides Verfahren setzte nach Pflanz dagegen einen geschulten und unvoreingenommenen Beobachter voraus. Weitere Testformen wie projektive Gestalt- und Rechentests versprächen nur für eingeschränkte Bereiche aussagekräftige Ergebnisse. Zudem habe, wie Pflanz hervorhob, der »chronische« Versuch eine besondere Bedeutung für die Testung der Neuroleptika: Denn in der Beurteilung von Wirksamkeit reiche die einmalige Verabreichung nicht aus. Für die Psychiatrie müsse man also eine pharmakopsychologische Testung auf Beobachtungsperioden von 2–4 Wochen ausdehnen, um spontane Schwankungen zu erfassen.40 Den Einsatz pharmakopsychologischer Tests auch für die Wirksamkeitsmessung der neuen Psychopharmaka nutzbar zu machen, stellte nun für die beteiligten PsychologInnen die Herausforderung dar.
Pharmakopsychologische Diskussionen um den Wirksamkeitsnachweis der Neuroleptika Während die im deutschen Netzwerk beteiligten PsychiaterInnen die Sichtbarmachung der Effekte im EEG erprobten, beschäftigten sich die anwesenden PsychologInnen mit dem Einsatz psychometrischer Tests in der pharmakopsychologischen und pharmakopsychiatrischen Diskussion. So berichtete Harald Friesewinkel (1926–2005) von ersten Versuchen mit projektiven Testverfahren, anhand derer die Befindlichkeit der Versuchspersonen in Abhängigkeit vom pharmakologischen und klinischen Wirkprofil untersucht werden sollte. Die Stabilisierung einer einheitlichen, auf die Psychopharmaka zurückzuführenden Veränderung des Befindens ließ sich aber in diesen Tests nicht erreichen, wie er selbstkritisch einräumte. Vielmehr schienen die Effekte von den dispositionellen Ausgangsfaktoren der Personen abhängig zu sein.41 Andere Pharmakopsychologen zogen den Einsatz von Fragebögen zur Prüfung der psychotropen Effekte vor. So hielt Wilhelm Janke diese Methode der psychiatrischen Exploration ohnehin für überlegen, da sie objektive, vergleichbare und zuverlässige Fakten schaffe. In der Psychopharmakaforschung, so führte er aus, komme in bestimmten Bereichen Selbstbeurteilungsfragebögen eine besondere Bedeutung zu. Mittels dieser ließen sich anhand der Selbstbeobachtungen der Versuchspersonen die Fragen darüber beantworten, wie sich die Versuchspersonen selber erlebten. Wie der Autor zugleich zu bedenken gab, sei
39 Dass Selbstbeobachtungen trotzdem zur Anwendung kamen, zeigte die Wichtigkeit des psychiatrischen Selbstversuchs. Vgl. II.2.2 und II.5.4. 40 Pflanz 1954. 41 Friesewinkel 1960. Dieser setzte in seinen pharmakopsychologischen Versuchen unter anderem Megaphen ein.
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deren Einsatz jedoch auf den Bereich der Antidepressivaforschung einzugrenzen. Für die Neuroleptikaforschung ergäben sich Einschränkungen durch die »Realitätsferne« der PatientInnen.42 Die erste Verwendung von Fragebögen zur Beurteilung psychotroper Effekte machte in den pharmakopsychologischen Diskussionen der AGNP neue Übersetzungsstellen deutlich. Sie transformierte die Exploration der PatientInnen in einzelne zu messende Faktoren. Die abgebildeten Erlebnisaspekte wurden mit jeweils einer Frage im Fragebogen erhoben und anhand einer graphischen Skala abgebildet.43 Bereits David Healy verweist auf die Bedeutsamkeit der Entwicklung neuer pharmakopsychologischer Skalen zur Erfassung psychotroper Effekte. Wie er am Beispiel der Hamilton Depression Ratingscale aufzeigt, die in der amerikanischen Psychiatrie das zentrale Instrument zur Erfassung der Wirksamkeit von Antidepressiva darstellt, bilden diese Messsysteme nicht einfach ein Wissen ab. Vielmehr wird im Prozess des skalierten Messens ein Begriff von depressivem Verhalten neu gebildet. Die Fokussierung der Skalen auf Verhaltensweisen, auf die psychotrope Effekte einwirken, bilden den Rahmen für das, was schließlich sichtbar gemacht wird.44 Neben den geschilderten produktiven Effekten verwiesen die Skalen auch stets auf die Probleme einer Standardisierung der PatientInnen. Durch die Transformation der Erlebnisse in Skalenwerte zeigten sich hier Normierungen der Behandelten, die neuen skalierten Formen der Befragung unterworfen wurden. Es erwies sich als schwierig, die Aussagen der PatientInnen im pharmakopsychiatrischen Experiment zu erfassen. Ihre Antworten ließen sich nicht in einfachen Ursache-Wirkungsrelationen abbilden, vielmehr zeigten sich die Ergebnisse im pharmakopsychologischen Experiment als stark von dem Verhalten der Probanden zu den Effekten abhängig. So postulierte Janke, dass die Versuchsperson als aktiv an der Verarbeitung der Pharmakawirkung beteiligt betrachtet werden müsse. Sie würde auf die besondere psychische Situation, die das Pharmakon setze, entsprechend ihres Selbstkonzepts reagieren.45 Gerade im Erlebnisbereich seien die qualitativen Unterschiede der Psychopharmaka besonders groß und variierten je nach Ausgangslage. Die psychische Verarbeitung der durch ein Psychopharmakon gesetzten Bedingungen sei deshalb als wesentliches Element pharmakopsychologischer Interpretation anzusehen. In diesem Sinne müsse man paradoxe Wirkungen auch nicht als Teil der toxischen Reaktionen, sondern als Verhalten der Versuchspersonen zu den 42 Vinar 1966. 43 Janke 1961 berichtete hier von einem 7-stufig skalierten Fragebogen, der nach bestimmten situativen Bedingungen fragte. 44 Healy 1997, S. 184ff. Zur Hamilton Depression Ratingscale vgl. Hamilton 1960. 45 Janke 1960, S. 222.
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Effekten betrachten. Deren psychische Bewältigung gestalte die psychotropen Effekte erheblich mit und erschwere die starre schematische Interpretation von Pharmawirkungen.46 Die Beteiligung der PatientInnen an den psychopharmakologischen Effekten wurde hervorgehoben und als eine psychologische Besonderheit der Substanzen problematisiert. Aus diesem Grund diskutierten die PsychologInnen vor allem die Möglichkeiten der Minimierung dieser subjektiven Effekte. Die Kontrolle der psychischen Reaktionen auf die psychotropen Effekte ist aber, wie ich bereits betont habe, nicht ohne eine Kontrolle der beteiligten PatientInnen denkbar. Ausgehend von dem geschilderten Problem versuchten einige Pharmakopsychologen herauszufinden, wie sich die von den PatientInnen wahrgenommenen psychotropen Phänomene mit den objektivierbaren Befunden deckten. Mittels einer standardisierten Befragung eruierte zum Beispiel Erika Balnus bei einigen psychiatrischen PatientInnen deren subjektives Erleben.47 Die starre Struktur der Fragestellung hätte die Verständigung aber erheblich erschwert, wie Balnus erläuterte, denn die PatientInnen hätten mit dem Wortlaut der Fragen häufig nichts anfangen können und hätten sich bei diesen Formulierungen nicht gemeint gefühlt.48 Zudem habe die für die Standardisierung notwendige Wiederholung zu Eigensinn49 und Ärger bei den beteiligten PatientInnen geführt. Eine auffallende Verbesserung oder Verschlechterung des Befindens sei den Aufzeichnungen nicht zu entnehmen gewesen. Auch habe es zwischen den Angaben der PatientInnen und den Beobachtungen der ÄrztInnen keine überzeugenden Übereinstimmungen gegeben. Am Schluss problematisierte Balnus selbst ihr Experiment: Durch den Versuch einer quantifizierbaren Erfassung der subjektiven Empfindungen der Versuchspersonen stoße man nicht nur auf das Problem einer mangelnden Übersetzbarkeit der Aussagen in Statistik. Vielmehr werde durch die quantitative Erfassung auch der Patient selbst beeinflusst und es würden bestimmte Aussagen erst durch die Befragung hervorgebracht.50 Balnus verwies damit auf die produktiven Elemente des Experiments in der Klinik, die auf das Erleben der PatientInnen zurückwirkten.
46 Janke 1964b, S. 31. Er bezog seine Aussagen hier vor allem auf Versuche mit Tranquilizern. 47 Balnus 1962. Die Autorin berichtete hier von PatientInnen, die Megaphen, Truxal oder Verophen einnahmen. 48 Als die PatientInnen irritierend wurde das Mitschreiben, das Benutzen einer Stoppuhr und ein stereotypes Fragen hervorgehoben. 49 Zum Begriff des Eigensinns vgl. Lüdtke 1993; im Rahmen von Klinik und Laborforschung vgl. Borck/Hess/Schmidgen 2005. 50 Balnus sah hier auch die Grenzen des pharmakopsychologischen Experiments in der Klinik.
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Stabilisierungen des Psychischen, Normierungen der PatientInnen Dem Problem der Transformation psychotroper Effekte in eine messbare Größenordnung sahen sich schließlich auch die PharmakopsychologInnen ausgesetzt. Zum einem erwies sich das Hervorbringen psychotroper Effekte als stabile Entitäten als schwierig. Zum anderen ergab sich mit der Übersetzung der klinischen, am Patienten gewonnen Daten in eine statistische Größe eine neue Herausforderung für Pharmakopsychiatrie und Pharmakopsychologie. Pointiert beschrieb Vinar die Probleme einer Wirksamkeitserfassung wie folgt: »Die Schwierigkeit besteht darin, daß in der gegenwärtigen Wissenschaft der Beweis meist mit Hilfe gewisser quantifizierter Daten geführt wird – in der Psychiatrie sind aber Messungen und Quantifizierungen schwieriger als in der Physik. Wir sehen gewöhnlich mit Bedauern, wie das mühsam erworbene klinische Material von den Statistikern behandelt wird: oft haben wir den Eindruck, dass gerade das Wesentliche verloren geht und die resultierende Information im Vergleich zum Ausgangsmaterial sehr bescheiden ist.«51
Die Übersetzung der Psychopharmakaeffekte in einen sich auch in der BRD langsam durchsetzenden statistisch untermauerten Beweis stellte die ForscherInnen vor neue Probleme in der Wissensgenerierung. Wie konnten die Daten und Fakten als stabile und quantifizierbare erfasst und hervorgebracht werden? In welcher Weise sollten die PsychologInnen das Problem lösen, dass die Effekte immer von der Reaktion von PatientInnen auf dieselben mitbestimmt erschienen? Welche neuen Formen der experimentellen Erfassung konnten das Problem angemessen beschreiben? Im Rahmen dieses Fragenkomplexes wurden neue standardisierte Formen der Erfassung diskutiert, die auf der Grundlage eines Aufschreibsystems stabile Daten für die Diskussion liefern sollten. Gelöst werden musste damit gleichzeitig aber auch das Problem der subjektiven Reaktionen der PatientInnen. Henning Schmidgen arbeitet mit Verweis auf frühe psychologische Verobjektivierungsversuche die Unmöglichkeit einer experimentellen Stabilisierung psychischer Effekte ohne einen besonderen Ein- oder Ausschluss der Versuchspersonen und ihrer individuellen Äußerungen heraus, denn die subjektiven Reaktionen waren im experimentellen Design nur als Störgrößen denkbar. Für die PsychologInnen bewegte sich, so Schmidgen,
51 Vinar 1966, S. 285.
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die Möglichkeit einer Wissensgenerierung deshalb zwischen den Polen »Gespräche[n] ohne Instrumente oder Experimente ohne Personen«.52 Diese Auflösung der Versuchsperson als handelnder Akteur in der Experimentalisierung psychotroper Wirksamkeitserfassung nahm für die psychiatrischen Psychopharmaka nun eine besondere Form an. Als Ort der Produktion eines stabilen Wissens über die psychopharmakologische Wirksamkeit brauchte die Psychopharmakaforschung die psychiatrische Anstalt. Zur Sichtbarmachung neuroleptischer Effekte benötigten die ForscherInnen hier aber immer auch die PatientInnen und die Befragung dieser. Die Exploration so zu gestalten, dass sie eine Grundlage für die Pharmakologie bieten konnte und in ein Schema von Wirksamkeit übersetzbar war, bildete ein schwerwiegendes Problem. Es sollten gleichzeitig die subjektiven Reaktionen der PatientInnen kontrolliert werden, die in einer experimentellen Erfassung eine »Störvariable« darstellten. Einen ersten Lösungsvorschlag bildete die Etablierung einer Stammkarte zur experimentellen Wirksamkeitserfassung in der psychiatrischen Klinik, die im Folgenden betrachtet werden soll. Diese markierte zugleich eine neue Art der Versuchsprotokollierung, welche die differenten Spuren von ÄrztInnen, PatientInnen und Instrumenten zusammenbringen und zur Kristallisationsinstanz eines neuen Wissens werden sollte.53
3.3 Die Geburt der Stammkarte: e i n n e u e s S ys t e m z u r W i s s e n s p r o d u k t i o n entsteht Vom ärztlichen Eindruck zum technischen Objekt: zur Entwicklung eines neuen klinischen Aufschreibsystems zur Wirksamkeitsbeurteilung Im Anschluss an die geschilderten Probleme wurde von PsychiaterInnen die Frage aufgeworfen, ob man durch die experimentelle Psychologie überhaupt Erkenntnisse über die psychopharmakologische Wirksamkeit gewinnen könne.54 In der psychiatrischen Klinik hingegen ergaben sich ganz eigene Probleme: Die erhobenen Daten variierten von Anstalt zu 52 Schmidgen 2005, S. 219. Er bezieht sich dabei auf Wundts psychophysiologische Laborstudien um 1900, die als Grundlage der experimentellen Psychologie anzusehen sind. 53 Timmermans/Berg 1997, S. 277. Diese verstehen unter Kristallisation den Prozess, in dem das Protokoll die impliziten Spuren in einer bestimmten Art und Weise explizit macht, durch die die Rollen der beteiligten Akteure sichtbar werden. Kristallisation betont dabei den kontingenten Charakter dieser Spuren. 54 Schmitt 1965, S. 62ff.
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Anstalt. Zunehmend rückte so eine einheitliche klinische Datenerfassung ins Zentrum des Interesses deutscher PsychopharmakaforscherInnen. Zur Erfassung neuroleptischer Effekte benötigten die ForscherInnen zunächst ein an die Klinik angepasstes Aufschreibsystem, mit dem die ÄrztInnen diese vergleichbar machen konnten. Ein solches System musste dabei die aufgenommenen Phänomene so formulieren, dass sie von PsychiaterInnen unterschiedlicher theoretischer Schulen anerkannt werden konnten. Wie ich geschildert habe, orientierten sich die Diskussionen in der Arbeitsgemeinschaft für Neuropsychopharmakologie an einer Standardisierung von Psychopharmakaeffekten.55 Innerhalb des Netzwerkes entwickelte sich Ende der 1950er Jahre eine Untergruppe von jüngeren Psychiatern aus fünf beteiligten Universitätskliniken, die sich später als 5er Club bezeichneten und sich insbesondere mit der Standardisierung des klinischen Versuchs in der Psychiatrie beschäftigten.56 Hierbei handelte es sich um die Psychiater Hanns Hippius (geboren 1925), Max P. Engelmeier (1921– 1993), Walter Schmitt (geboren 1920), Kurt Heinrich (geboren 1925) und Dieter Bente (1921–1983).57 Die fünf Psychiater machten es sich zur zentralen Aufgabe, ein Wissenssystem zu etablieren, das von den unterschiedlichen theoretischen Schulen in der Psychiatrie, die zeitgenössisch vorherrschend waren, abstrahierte. Doch schon unter diesem Konsens der Psychiater des Netzwerkes traten vier unterschiedliche Ausrichtungen zu Tage: Biochemische (Hanns Hippius) und enzephalographische (Dieter Bente) Schwerpunkte trafen auf eher phänomenologische (Kurt Heinrich, Walter Schmitt) und daseinsanalytische (Max P. Engelmeier) Strömungen.58 Es sollte sich zeigen, dass die Bildung eines neuen Systems zur Erfassung psychotroper Effekte gerade aufgrund dieser unterschiedlichen theoretischen Ausrichtungen eine mehrjährige Diskussion der beteiligten Psychiater des Netzwerkes benötigte, um eine gemeinsame Ausgangslage herzustellen. Im Prozess der Auseinandersetzung wurden zunächst unterschiedliche Aspekte der psychotropen Effekte debattiert. Als erster Schritt auf dem Weg zur Bildung eines neuen Wissens wurde dabei die Übersetzung der Erfahrungswerte in der Psychiatrie in statistische Untersuchungen diskutiert.
55 Vgl. Teil II, 3. 56 Hippius/Healy 1996; kurze Erwähnung findet der 5er Club auch bei Healy 2002. 57 Hippius beschreibt die Interessen dieser Gruppe folgendermaßen: Entwicklung neuer, wirksamer Therapieverfahren für psychiatrische Erkrankungen, »Entschlüsselung« der Wirkmechanismen der klinisch wirksamen Medikamente sowie PatientInnenuntersuchungen mit dem Ziel, eine klinische Psychopharmakologie zu entwickeln und Pathomechanismen psychiatrischer Erkrankungen zu untersuchen (vgl. Hippius 1994). 58 Diskussionsbemerkung von Engelmeier in Bente et al. 1962a.
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Die Notwendigkeit der Statistik Die ersten Diskussionen in der Klinik thematisierten die geschilderten, in den 1950er Jahren vornehmlich am Eindruck des Untersuchers festgemachten Evaluationsversuche, die eng an das Modell der Zeugenschaft gebunden waren und deshalb individuellen Schwankungen unterlagen.59 Die Vielfalt der Beobachtungen, die vom Eindruck des individuellen Betrachters losgelöst werden mussten, wollten die PsychiaterInnen nun einer statistischen Abstraktion unterziehen und so minimieren.60 Der Wissenschaftshistoriker Ian Hacking beschreibt diese Form der Wissensproduktion durch Statistik treffend als »Zähmung des Zufalls«.61 Als »gezähmte« Dinge wollte man nun auch die neuroleptischen Effekte strukturieren und sie experimentellen Bedingungen anpassen. Für die Bildung eines Begriffs der neuroleptischen Wirksamkeit bedeutete dies, wie die ForscherInnen herausarbeiteten, »primär zwingend die Forderung von möglichst zahlreichen Einzelinformationen aus den klinischen Experimenten zu erheben; denn nur über diesen methodischen Weg würden sich später Übereinstimmungen und Divergenzen, Wesentliches und Nebensächliches oder auch Indikationen und Kontraindikationen zu erkennen geben.«62
Mit der Notwendigkeit der genannten Erhebungen von Informationen aus dem »klinischen Experiment« benötigten die Psychiater jedoch auch eine Transformation des unkontrollierten klinischen Versuchs in ein kontrolliertes klinisches Experiment. Diese Umgestaltung markierte dabei die Schnittstelle für eine Neuordnung des Wissens, das sich auch in der Klinik zunehmend statistisch-experimentellen Bedingungen anpassen sollte. Die Übersetzung des Wissens in statistische Parameter bedurfte dabei neuer Erhebungsformen und einer neuen Form der Datenerfassung der Krankengeschichte, denn die erhobenen Daten mussten in standardisierter Form erstellt und einer statistischen Erfassung zugänglich gemacht werden.63 Diese Katalogisierung der an den PatientInnen erhobenen Daten stellte jedoch, wie einige PsychiaterInnen anmerkten, den zunächst schwierigsten Schritt dar.64 Sie benötigte zunächst eine einheitliche Vorstellung und
59 Beispielhaft zu der Tatsache, dass systematische statistische Untersuchungen zu diesem Zeitpunkt nicht existierten vgl. Bente et al. 1962a, S. 13. 60 Schmitt 1965, S. 58. 61 Hacking 1990. 62 Bente et al. 1962a, S. 14. 63 Schmitt 1960. Dieser bringt den Gedanken von Lochkarten ins Spiel, die von Rechenmaschinen ausgezählt werden. 64 Helmchen 1965.
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Beschreibung dessen, auf »was« die psychotropen Substanzen einwirken sollte. Damit wurde zugleich auf die Grundlagen und Probleme der psychiatrischen Diagnostik verwiesen.
Probleme der Diagnostik für eine erste Wirksamkeitserfassung Die Ende der 1950er Jahre formulierten Zweifel Hans-Hermann Meyers an der Möglichkeit, in der Psychiatrie einen statistischen Wirksamkeitsbegriff zu generieren, sollten die ForscherInnen auch in den 1960er Jahren noch beschäftigen. Die Zusammenarbeit zwischen StatistikerInnen und PsychiaterInnen brachte einige Probleme mit sich, da sich die von den PsychiaterInnen verhandelten Probleme nicht einfach einer statistischen Erfassung unterziehen ließen.65 Vor allem aber fehlte ein einheitlicher Begriff davon, auf welche Form des Wahnsinns die psychotropen Substanzen eigentlich einwirken sollten. Dies erwies sich als das grundsätzlichste Problem auf dem Weg zur Herstellung einer Wirksamkeitserfassung.66 In diesem Sinne benötigte ein System, das die Wirksamkeit der Neuroleptika effektiv beschreiben sollte, auch eine Neudefinition der zugrundeliegenden Diagnostik. Eine neue Befunddokumentation wurde so zum zentralen Teil eines Forschungssystems, das die neuroleptischen Effekte stabilisierbar und vergleichbar machen sollte. Besonders fiel in diesem Zusammenhang, wie Schmitt ausführte, die unterschiedliche Terminologie einzelner Schulen ins Gewicht. Zum einen brächten diese eine sehr unterschiedliche Kategorisierung der einzelnen Formen des »verrückten Verhaltens« mit sich, zum anderen seien sie zu sehr an der Beschreibung eines Gesamtbilds orientiert und ließen sich nicht in das Schema einer an einzelnen Symptomen orientierten Wirksamkeitserfassung der Medikamente übersetzen. In diesem Sinne formulierte er: »Wird aber unter Besinnung auf die speziell somatologisch noch nicht verifizierbaren nosologischen Einheiten innerhalb der endogenen Psychosen auf die konventionelle Bildung von diagnostischen Gruppen und Untergruppen
65 Immich zählt hier unter anderem auf: das Auftreten einer »Spontanremission«, deren Wahrscheinlichkeit mit 50 Prozent festgesetzt wurde, die Grundgesamtheit der diagnostischen Untergruppen, die nicht ermittelt werden konnten, die ungenaue Kennzeichnung, welches Verhalten der PatientInnen erfasst werden sollte und die mangelnde Operationalisierung von Begriffen wie »gebessert« (Immich 1966, S. 293). 66 Dieter Bente gab an, es mache sich zur Sicherung eines klinischen Effekts »als ein fundamentaler Mangel das Fehlen einer allerseits anerkannten klinisch-diagnostischen Systematik bemerkbar, welche sich auf scharf umgrenzte nosologische Einheiten stützen könnte« (Bente et al. 1960, S. 73).
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verzichtet und stattdessen eine bloße Deskription und Registrierung der einzelnen psychopathologischen Phänomene geübt, läßt sich eine wesentliche Fehlerquelle eliminieren.«67
Schmitt betonte weiter, dass die herkömmliche, am Gesamtbild orientierte Diagnostik zwar für den klinischen Alltag unentbehrlich sei, sich aber für eine psychopharmakologische Wirksamkeitserfassung nicht eigne.68 In diesem Sinne benötigte die Psychopharmakologie, wie der 5er Club ausführte, auch ein Schema quantifizierbarer Symptome, die Teil eines neuen Erfassungssystems werden sollten. So fassten für den 5er Club Bente et al. die Probleme folgendermaßen zusammen: »In der Situation, in der wir jetzt stehen, wird der weitere Fortschritt auf pharmakotherapeutischem Gebiet daher zu einem wesentlichen Teil davon abhängen, inwieweit es gelingt, uns auf ein System von Kriterien zu einigen, mit dem wir unabhängig von wechselnden diagnostischen Interpretationen bestimmte Indikationen hinreichend genau und verständlich beschreiben können.«69
Das Kernstück ihres Unternehmens sei, wie ausgeführt wurde, die totale symptomatologische Aufschlüsselung eines psychischen Befunds. Diese zu generieren und in die Sprache der Statistik zu übersetzen, war die zu lösende Herausforderung, der sich die Psychiatrie stellen musste, wollte sie sich am System einer experimentellen Wissenschaft orientieren. Denn die Auswertung statistischen Materials nach psychologischen und psychopathologischen Gesichtspunkten gestaltete sich ungleich schwieriger und aufwendiger als die Verarbeitung exakt messbarer Größen, wie sie im naturwissenschaftlichen Experiment gegeben zu sein schienen.70 Mittels der Einführung einer Stammkarte vor jeder Krankenakte sollte dabei eine neue Form der experimentellen Erfassung umgesetzt werden.71 Als Mittel zum Aufspüren eines neuen Wissens aus dem klinischen Versuch und seiner Anpassung an experimentelle Bedingungen ist das neue Aufschreibsystem zugleich als Teil eines Experimentalsystems zu verstehen, das die Produktionsformen bereitstellt, durch die der Begriff der Wirksamkeit erst materialisiert wird. Es sei daran erinnert, dass Experimentalsysteme nicht lediglich die Antworten auf vorher formulierte Fragen geben, sondern 67 Schmitt 1965, S. 15. 68 Ein ähnliches Argument hatte bereits Freyhan vorgebracht, indem er eine »doppelte Buchführung« einer sowohl an klinisch-typologischen als auch an Zielsymptomatiken orientierten Diagnostik vorschlug (vgl. Bente et al. 1960, S. 74). 69 Bente et al. 1960, S. 73. 70 Schmitt 1965, S. 15. 71 Einen visuellen Eindruck von dieser Karte vermittelt Abbildung 2 im Anhang.
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Vorrichtungen zur Materialisierung neuer Fragen bilden sollten. In diesem Sinne müssen Experimentalsysteme so offen sein, dass sie eine Neuordnung des Wissens ermöglichen. Meiner These nach ermöglichte die als Teil eines Experimentalsystems zu fassende Stammkarte, die vor allem die Funktion eines Aufschreibsystems erfüllte, auch eine neue Erfassung der Effekte bereits bekannter Neuroleptika, transformierte diese Effekte aber in einen differenten Begriff von Wirksamkeit, der sich von der ersten Erfassung der Effekte durch Zeugenschaft fundamental unterschied. Diese doppelte Funktion der Stammkarte als Standardisierungs- und Forschungsinstrument möchte ich im Weiteren betrachten.
Die Etablierung der Stammkarte Ziel der Diskussionen in der Arbeitsgemeinschaft für Neuropsychopharmakologie (AGNP) war die Entwicklung eines neuen klinischen Prüfungsverfahrens zur Erfassung der Wirksamkeit der Psychopharmaka durch eine Neufassung der Befunddokumentation, die dem Notieren von Effekten neuer und bereits bekannter Psychopharmaka dienen und eine an experimentellen Parametern orientierte, einheitliche Forschung vorantreiben sollte. Die Dokumentation wurde zunächst an den fünf Kliniken erprobt, an denen die Psychiater des 5er Clubs arbeiteten. Die wiederholte Anwendung des Systems als Forschungsinstrument sollte eine kontinuierliche Notation über verschiedene Zeiträume hinaus ermöglichen.72 Zu diesem Zweck bedienten die PsychiaterInnen sich der Lochkartentechnik. Es entstand so im Laufe des Diskussionsprozesses das System einer Befunddokumentation in Form einer Stammkarte als neuem Erhebungsinstrument, in dem 114 somatische und 110 psychopathologische Merkmale abgefragt und ihre »Schwankungen« erfasst werden sollten. Die Karte bot die quantifizierbare Ausgangsbasis für eine statistische Auswertung. Dabei richtete sie sich ausschließlich auf die Registrierung elementarer Symptome, nicht auf die, wie Bente et al. es formulierten, üblicherweise verwendeten »ganz(heitlich)en« psychiatrischen Diagnosen. Die zeitgenössischen Diagnosen seien, formulierten Bente et al., mehr »symbolische Repräsentationen« und Kennzeichen komplexer Gestaltcharaktere, die durch Anschauung und den Umgang mit PatientInnen gewonnen würden, als dass sie sich auf eindeutige Begriffselemente stützten.73 Mit der Einführung einer vereinfachten, auf einzelne Symptome abgestellten Beobachtungspraxis über die Orientierung an den Variablen des Systems wurde beabsichtigt, komplexe biographische Anamnesen, die einer solchen Fassung
72 Bente et al. 1960, S. 70ff. 73 Bente et al. 1966, S. 284.
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entgegenstünden, aus der formalisierten Befunderhebung des psychiatrischen Alltags zu entfernen und durch die Anwendung des Dokumentationssystems zu ersetzen.74 Als Ziel formulierten die beteiligten ForscherInnen die Genese von Indikationen für die Anwendung der Psychopharmaka aus der statistischen Analyse: »Es sollten sich dabei komplexe, numerisch determinierte Wirkungsprofile psychotroper Substanzen ergeben, die die Aufstellung klinisch-statistisch fundierter Indikationsmuster gestatten. Es könnte so ein System der Psychopharmaka geschaffen werden, in dem die klinische Position jeder Substanz exakter als bisher zu definieren wäre.«75
Eine solche statistisch-experimentelle Wende blieb jedoch in der Diskussion der AGNP nicht unwidersprochen. Zumindest zu Beginn der Etablierung der Stammkarte war ihre Einführung verschiedenen Widerständen ausgesetzt. So galt die Einführung neuer Messmethoden nicht allen PsychiaterInnen als angemessene Form der Wissensgenerierung in der Psychiatrie.76 Zudem wurde das Verschwinden der Arzt-Patientenbeziehung aus der Wirksamkeitsbeurteilung kritisiert. Allein dem Medikament die Wirkung zu überlassen, nähre eine Haltung, in welcher der Patient immer bedeutungsloser werde.77 In diesem Sinne pointierte einer der an der Diskussion teilnehmenden Psychiater derartige Ängste folgendermaßen: »Wie soll man diese in erster Linie psychologischen Probleme statistisch wiedergeben? [...] Alle Wissenschaften des Menschen tendieren heute dazu, diesen Punkt anzuerkennen, nur den Psychiater muß man manchmal stossen, ehe er es tut. Ich glaube, daß wir alle die Angst vor dem Patienten überwinden müssen. Wir sind, wie es hier gesagt worden ist, selbst in dem Symptom eingeschlossen. Wir verschreiben uns selbst mit dem Medikament.«78
Diese Anmerkungen verweisen darauf, dass sich viele PsychiaterInnen zentral auf psychiatrische Schulen bezogen, die personale Effekte in den Vordergrund rückten und das psychologische Verstehen sowie eine Begegnung zwischen Arzt und Patient beachtet wissen wollten.79
74 75 76 77 78 79
Schmitt 1965, S. 54ff. Bente et al. 1962b, S. 71. Diskussionsbeitrag von Neumann und Ziolko in Bente et al. 1962a. Diskussionsbeitrag von Vermorell und Balvet in Bente et al. 1962a. Diskussionsbeitrag von Israel in Bente et al. 1962a, S. 51. Seidel 1990, S. 27. Dieser betonte, dass in der frühen Bundesrepublik zumindest drei wichtige Lehrstühle der Universitätspsychiatrie mit Phänomenologen besetzt waren: die Lehrstühle in Frankfurt (Zutt), Heidelberg (von Baeyer) und Freiburg (Ruffin).
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Die in dem Zitat zum Ausdruck kommende Haltung stellt jedoch eine Position dar, die in der Psychopharmakologie schließlich zunehmend minoritär wurde. Die AGNP arbeitete weiter an der Entwicklung der Stammkarte, die sich als Methode der experimentell-statistischen Wirksamkeitserfassung schließlich durchsetzte. Gerade vor dem Hintergrund einer international wachsenden Standardisierung des klinischen Versuchs in der Psychopharmakologie – vor allem in den USA – hätte ein deutscher Sonderweg auch eine zunehmende Abkopplung von der internationalen Arzneimittelforschung bedeutet.80 Die Weiterentwicklung der Karte wurde seit dem Jahr 1965 zusammen mit schweizerischen ForscherInnen vorangetrieben und von 1969 an unter dem Namen AMP-System vorgestellt.81 Anfang der 1970er Jahre wurde das System erstmalig als Manual zur Dokumentation psychiatrischer Befunde veröffentlicht und sollte in verschiedenen überarbeiteten Formen bis heute in der Bundesrepublik eine bedeutende Methode der Befunddokumentation bleiben.82 Gleichwohl fand eine praktische Anwendung dieser Weiterentwicklung der Stammkarte zuerst
80 Ein Beharren der deutschen PsychiaterInnen auf einer anthropologischen Position hätte auch ihre Möglichkeiten der internationalen Partizipation stark eingeschränkt. So war es auf den internationalen Konferenzen der CINP schon in den 1960er Jahren kaum mehr möglich, neue Forschungsergebnisse in der Psychopharmakaforschung vorzustellen, ohne sich an einer statistisch ausgerichteten, standardisierten Beweisführung zu orientieren. Die starke Vormachtstellung der US-amerikanischen ForscherInnen wurde in diesem Bereich sehr bald zum Bezugspunkt der internationalen Forschung (vgl. Bradley 1959 und Bradley/Flügel/Hoch 1964). Durch die engen Verbindungen, welche die bundesdeutschen ForscherInnen zu einzelnen ihrer Protagonisten – wie zu Heinz Lehmann und Fritz Freyhan – hatten, die im Zweiten Weltkrieg in die USA emigriert waren, wurde dieser Einfluss noch verstärkt. 81 Angst et al. 1969. Die Abkürzung AMP steht für die Arbeitsgemeinschaft für Methodik und Dokumentation in der Psychiatrie. TeilnehmerInnen dieser Gruppe waren neben PsychiaterInnen aus allen schweizerischen Universitätskliniken auch zwei ForscherInnen aus der pharmazeutischen Industrie von CIBA-GEIGY (vgl. Fähndrich/Helmchen/Hippius 1983). Die starke Verbindung der psychiatrischen ForscherInnengruppe mit der pharmazeutischen Industrie in der Schweiz ist hier hervorzuheben. Grundsätzlich war besonders die pharmazeutische Industrie an der Etablierung eines Standardisierungssystems interessiert, das zugleich ein Forschungssystem für die Entwicklung neuer Indikationen darstellen sollte (vgl. Healy 1997). 82 Scharfetter 1971. Die heutige Verwendung des Systems stellt vor allem den Charakter der Befunddokumentation in den Vordergrund. Hervorhebenswert ist jedoch, dass in der Geschichte der Entwicklung des Systems die Standardisierung neuroleptischer Effekte im Zentrum des Interesses stand. Das AMP-System wurde schließlich weiterentwickelt und in das heute in der Psychiatrie gebräuchliche AMDP-System transformiert (vgl. Arbeitsgemeinschaft für Methodik und Dokumentation in der Psychiatrie 2000).
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nur zur Wirksamkeitsprüfung neuer Psychopharmaka im Rahmen von Arzneimittelerprobungen statt, als Stammkarte für die Erfassung jedes Patienten setzte sie sich nur zögerlich durch.83
Wirksamkeitskonstruktionen und Normierung des Patienten Die Genese der von Bente et al. entwickelten Stammkarte stellte den Endpunkt der seit Ende der 1950er Jahre andauernden praktischen Bemühungen und Verhandlungen zwischen bundesdeutschen PsychiaterInnen unterschiedlicher Schulen dar, zu einer Standardisierung und Erhärtung von Fakten über die Effekte der Neuroleptika zu gelangen. Erst am Ende dieses Aushandlungsprozesses ließ sich ein erster stabiler Begriff von Wirksamkeit fassen. In diesen flossen aber die Bedingungen mit ein, die mit der Schaffung dieser neuen instrumentellen Konstruktion verbunden waren und die meines Erachtens entscheidende Verschiebungen notwendig machten: So verlangte die Übersetzung der Wirksamkeitserfassung von einer kasuistischen Darstellung in eine symptomorientierte Diagnostik, dass das Verhalten der PatientInnen in ein einzelnes oder eine Reihe von Symptomen umgeschrieben wurde. Die Verschiebung der Diagnostik von einer kategorialen Entität in eine dimensionale und quantifizierbare Größe markierte aber eine qualitative Umdeutung des Erlebens und Verhaltens und der zugrunde liegenden psychiatrischen Krankheitskategorien, auf die das Neuroleptikum einwirken sollte. Die Überführung in ein skalierbares dimensionales System sollte zum einen die Messbarkeit der Symptome ermöglichen, zum anderen wurde durch diese Neuformulierung aber auch eine Öffnung der potenziellen Indikationen erreicht. Während vorher die »starren« kategorialen Diagnosen wenig Spielraum für die subtilen Effekte eines Medikaments boten, zeigte die Aufsplitterung in einzelne Symptome verschiedene neue Ordnungsmöglichkeiten auf. In diesem Sinne nahm die Stammkarte auch die entscheidende Funktion ein, die ein Aufschreibsystem innerhalb eines Experimentalsystem wahrnimmt: So hatte die Stammkarte die Funktion, eine Stabilität und Reproduzierbarkeit der einzelnen Elemente voranzutreiben. Gleichzeitig musste sie jedoch auch im Sinne eines Forschungssystems Differenzen produzieren und die Materialisierung neuer Fragen ermöglichen, denn die Effekte auf diese kleinsten Einheiten messbar zu machen, erlaubte auch, sie neu zu gruppieren und Indikationsverschiebungen vorzunehmen. Die »starre« Kategorisierung wurde so durch eine flexible Gruppierung neuer Symptome ersetzt, die
83 Fähndrich/Helmchen/Hippius 1983. Diese berichten von einer Anwendung des AMP-Systems als Standarddokumentation in Patientenakten für die Psychiatrische Universitätsklinik Berlin (FU) ab 1969, für die Psychiatrische Universitätsklinik München ab 1974.
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eine Öffnung von Anwendungsfeldern mit sich brachte. Erst diese Erweiterung ermöglichte eine Ausrichtung der psychiatrischen Diagnosebildung an den Effekten der Medikamente selbst. David Healy hat herausgearbeitet, dass die Psychopharmakologie für die Entwicklung von Innovationen skalierbare dimensionale Systeme, die lediglich die Effekte im Sinne eines größeren oder kleineren Erfolgs abbilden, durch die Bildung neuer kategorialer psychopathologischer Syndrome ersetzen muss. Erst durch diese Verschiebung, so Healy, würden sich Absatzfelder für neue Psychopharmaka bieten.84 Anhand der Entwicklung der Stammkarte ist zu erkennen, dass dieser Bewegung jedoch ein entscheidender Schritt vorausging: Erst die Transformation einer fixen kategorialen Ordnung in eine offenes symptomorientiertes System machte in Deutschland diese Neuordnung eines Begriffs der Wirksamkeit möglich. Zur Bildung eines Epistems der Wirksamkeit wurden jedoch nicht nur Modifikationen der psychiatrischen Diagnostik, sondern auch neue Objektivierungsformen im Umgang mit den PatientInnen benötigt. Hierfür bedurfte es einer Übersetzung der Anamnese und des biographischen Berichts einer psychiatrischen Exploration in eine Serie quantifizierbarer Einheiten. Diese Abstraktion von der Sprache der PatientInnen und ihre Anpassung an maschinell auswertbare Begriffe bezeichnet Lorraine Daston als eine neue Objektivierungsform, die sie mit dem Begriff der »wortlosen Objektivität« beschreibt. Die Loslösung von den Worten des Klinikers – und, wie ich in hinzufügen möchte, auch von denen des Patienten selbst – seien dabei, so Daston, kennzeichnend für eine neue epistemologische Form, in der die Sprache der Phänomene für sich selbst sprechen solle.85 Die Worte, beispielsweise diejenigen der Exploration, werden in Kreuze auf einem Symptomtableau überführt. Im Rahmen dieses Abstraktionsprozesses wurde der psychiatrische Patient in besonderer Weise zum Fall: Indem die PsychiaterInnen ihn einer an quantifizierbaren Einheiten zu messenden Beobachtung und Befragung unterwarfen, wurde er gleichzeitig einer disziplinierenden Normierung unterzogen.86 Die Verschiedenartigkeit der biographischen Erzählungen und die individuellen Reaktionen ließen sich nicht in das stabile Schema von Wirksamkeit übersetzen, das die Psychopharmakologie als klinische
84 Healy 1997, S. 213. 85 Daston 1994, S. 32. Dieser Vorstellung liege im Idealfall die Idee einer sich selbst erklärenden Kurve zugrunde. Daston betont, dass diese epistemologische Verschiebung die alten Verfahren nicht ersetze, aber anrüchig mache. 86 Eine Form der Wissensgenerierung aus dem psychiatrischen Anstaltsdispositiv heraus bezeichnete Michel Foucault als Disziplinarmacht, die für ihn aus einer Serie aus Subjektfunktion, somatischer Singularität, einem ständigen Blick, der Bestrafung und der Projektion der Psyche besteht (vgl. Foucault 2005, S. 93).
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Wissenschaft brauchte. Durch die in dieser Normierung angelegte Entindividualisierung und Parzellierung des Patienten sollten nun diejenigen Effekte kontrollierbar werden, die zuvor unkontrollierbar schienen. Die Stabilisierung der neuroleptischen Effekte und ihre Übersetzung in ein Epistem der Wirksamkeit, so meine These, können als »historisches Produkt eines Reinigungsprozesses«87 von den subjektiven Äußerungsformen der PatientInnen gelten.
3.4 Vom Effekt zur Wirksamkeit: eine Übersetzung und ihre Folgen Dass sich die psychotropen Effekte dennoch auch mittels der Einführung neuer Standardisierungssysteme nicht bezähmen ließen, sondern prekär blieben, zeigt sich allein schon an den weiter bestehenden Debatten über ihre diagnostischen Grundlagen, die man als »Science Wars« der Psychiatrie bezeichnen könnte. Mit der Einführung und Diskussion über die Stammkarte zur Erfassung der psychopharmakologischen Effekte setzte sich in der bundesdeutschen Psychiatrie ab Anfang der 1960er Jahre eine Standardisierungsform durch, welche die PsychiaterInnen an die internationale Diskussion anschlussfähig machten sollte und erste Schritte der Anpassung des klinischen Versuchs an einen experimentellen Wirksamkeitsnachweis durch den kontrollierten klinischen Versuch vorbereiteten, der sich erst Mitte der 1970er Jahre durchsetzen sollte.88 Mit der Einführung des neuen Dokumentationssystems wurden nun aber wesentliche, für die bundesdeutsche Diskussion bestimmende Merkmale verändert: Der ärztliche »Fallbericht« mit seinen Schilderungen einzelner PatientInnen verschwand während der statistischen Wende. Mit der von vielen PsychiaterInnen anerkannten Praxis der Einführung der Stammkarte veränderte sich auch die Praxis der Wissensgenerierung und das, was von dem Patienten erfasst und über den Patienten gesagt wurde. Indem die Karte eine neue Grundlage für die psychiatrische Exploration vorgab, strukturierte sie, so meine These, auch die klinische Praxis neu und wirkte auf den psychiatrischen Alltag zurück. Als Leitfaden für das, was über den Patienten gewusst werden soll, ist die Exploration immer auch Teil der Praxis und, wie Michel Foucault es formuliert, in die Mikrophysik der Anstaltsmacht und ihre subjektivierenden Befragungstechnologien eingebunden. Allerdings blieben die klinischen Experimentalsysteme
87 Rheinberger 2001, S. 23. 88 Vgl. Teil II, 5.
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immer auch offene Systeme, die einerseits einer stetigen Weiterentwicklung bedurften, andererseits aber dort ihre Grenzen hatten, wo sich in der Praxis eigensinnige AkteurInnen ihnen widersetzten.89 Für die ForscherInnen hingegen bildete die Stammkarte die Essenz eines neuen Wissenssystems, das die in der Exploration zusammengefassten klinischen Daten und Beobachtungen mit laborwissenschaftlichen Versuchsstrategien verbinden und somit zu einer Verwissenschaftlichung der klinischen Beobachtungen beitragen sollte.90 In diesem Sinne fassen Timmermans und Berg die Relevanz von Protokollen für die Klinik zusammen: »The Protocols, thus, turn practice itself into a laboratory: by prescribing highly detailed sequences of action, they become the means through which facts can be produced and, at the same time, a crucial part of the networks through which the facts can be performed.«91
89 Timmermans/Berg 1997. Zum Konzept des Eigensinns in den Geschichtswissenschaften vgl. auch Lüdtke 1993. Gerade für die neuere Psychiatriegeschichte ist der Status der PatientInnen als AkteurInnen zunehmend wichtiger geworden (vgl. Nolte 2003; Foucault 2005). 90 Hess 2000, S. 280ff. Wie ich herausgearbeitet habe, hatte diese Idee einer Anpassung und Strukturierung klinischer-psychiatrischer Beobachtungen an laborexperimentelle Bedingungen ihren Vorläufer in der Psychopathologie Emil Kraepelins (vgl. II.2.2). Wie ich schilderte, benutze Kraepelin eine Zählkarte als an die klinische Beobachtung angepasste Dokumentationsform, mit deren Hilfe aus der Masse von Informationen wichtige, klinisch relevante Fakten generiert werden sollten, die einer Evaluation zugänglich waren (vgl. Weber/Engstrom 1997, S. 378). Diese Karte ist als Vorform der Neustrukturierung eines Aufschreibsystems nach laborexperimentellen Gesichtspunkten zu betrachten. Ihr Verschwinden und das Fehlen solcher Erfassungsformen um 1950 markiert aber zugleich ein Abweichen von einer kontinuierlichen Struktur solcher Aufschreibsysteme. Erst mit der Einführung der Neuroleptika gewannen diese Aufschreibsysteme in der Psychiatrie wieder eine neue Bedeutung. Betrachtet man die Bedeutung Kraepelins für die Pharmakopsychologie, ist anzunehmen, dass eine solche Bedeutung von Aufschreibsystemen mit der Notwendigkeit einer Neufassung der Begrifflichkeiten zusammenhängt, welche die Beeinflussung mentaler Prozesse durch psychotrope Stoffe beschreiben. Die Diskussionen um und Transformation von bestehenden Wissenssystemen setzten sich in der AGNP zunächst ohne Bezug auf Kraepelin durch. Erst mit der Vorstellung des AMP-Systems wurde auf Kraepelin und die besondere Bedeutung seiner Stammkarten für eine systematische und breit angelegte Dokumentation psychiatrischer Befunde eingegangen. Die vorher fehlende Bezugnahme auf Kraepelin für die Dokumentation ist von AutorInnen unter anderem auf das Misstrauen in der deutschen Psychiatrie gegenüber mathematisch-statistischen Methoden zurückgeführt worden (vgl. Angst et al. 1969). 91 Timmermans/Berg 1997, S. 297.
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Durch die Entwicklung neuer klinischer Protokolle wurde in der bundesdeutschen Psychopharmakaforschung nun versucht, dass Wissen über die neuen neuroleptischen Substanzen aus dem Labor um ein klinisches Wissen zu erweitern: Nur über standardisierte Fakten konnten aus der Klinik heraus Wirksamkeitsstudien erstellt werden. Die später zum AMP-Manual weiterentwickelte Stammkarte wurde zum obligatorischen Durchgangspunkt einer Testung neuer Psychopharmaka.92 In den folgenden Jahrzehnten blieb das AMP-System die dominante bundesdeutsche Bewertungsskala zur Beurteilung neuer Stoffe in der Wirksamkeitsprüfung.93 Der mit der Anwendung des Manuals verbundene Abstraktionsprozess von der Rede des Patienten schaffte in der Neuroleptikaforschung aber eine grundsätzlich paradoxe Situation: Einerseits sollte die Einwirkung der psychotropen Substanzen am Denken und Fühlen der PatientInnen ansetzen, also an ihrer Subjektivität. Andererseits wurde erst durch den Ausschluss der subjektiven Erlebnisse der PatientInnen und ihrer Übersetzung in ein Set abstrakter, skalierbarer Emotionen eine Transformation der instabilen Effekte in Wirksamkeiten erreicht und den bundesdeutschen ÄrztInnen eine objektive Sprache ermöglicht, mittels derer sie sich nun schulenübergreifend über die PatientInnen verständigen konnten.94 Erst durch das Verschwinden der unkontrollierbaren subjektiven Rede des Patienten gelang der Neuroleptikaforschung so die Schaffung eines stabilen Aufschreibsystems, das sich an eine experimentelle Wirksamkeitsvorstellung anlehnte. Darüber hinaus bildete das Manual ein Forschungs- und Dokumentationssystem, das auch für eine neue Anordnung einzelner Symptome als »Wirkprofile« taugte, sich damit von der für eine Wirksamkeitserfassung ungeeigneten bundesdeutschen Diagnostik verabschiedete und für eine Neufassung der Diagnostik viele Anknüpfungspunkte bot. Die Übersetzung diagnostischer Begrifflichkeiten in eine Form, die eine experimentelle Überprüfbarkeit gewährleisten sollte, warf jedoch neue Fragen für die bundesdeutsche Psychopathologie selbst auf, wie ich im nächsten Abschnitt herausarbeiten möchte. 92 Law 2003, S. 7ff. bezeichnet jene Stellen in einem Forschungsnetzwerk als obligatorische Passagepunkte, die als Zentrum der Akkumulation dienen und die das zu erforschende Ding jedes Mal durchlaufen muss. Ein Beispiel hierfür sind Skalen. Diese machen das zu erforschende Objekt aus der Distanz heraus handhabbar, sind aber zugleich offene Systeme. 93 Dies machen auch die Bezüge des »Arbeitsseminars über die Planung von Psychopharmakaprüfungen in Jongny/Schweiz vom 16.–18.3.1977« auf das AMP-Manual als Forschungssystem zur Prüfung neuer Psychopharmaka deutlich (vgl. Arbeitsgemeinschaft für Neuropsychopharmakologie 1977). 94 Zur Abstraktion von subjektiver Erfahrung durch die Anwendung von Ratingskalen in der Bildung eines Wissens über neue Psychopharmaka (vgl. Lakoff 2007, S. 58). Meines Erachtens bezieht sich die subjektive Erfahrung hier aber auch auf die Subjektivität der PatientInnen selber.
4. Wirksa m in Bezug auf w as? Die Überführung der ps ychiatrischen Diagnostik in ein Pa pierw e rkze ug
In den vorangegangenen Diskussionen der Arbeitsgemeinschaft für Neuropsychopharmakologie (AGNP) wurde aufgezeigt, wie die bundesdeutsche psychiatrische Diagnostik in den 1960er Jahren zum Problem einer experimentellen Wirksamkeitserfassung wurde. Als zentrales Anliegen erwies es sich, die instabile und nach verschiedenen psychiatrischen Schulen differierende psychiatrische Diagnostik in ein Kategoriensystem zu überführen, das die Einwirkung der medikamentösen Effekte auf den Wahnsinn der PatientInnen messbar und in einen überdauernden Begriff von neuroleptischer Wirksamkeit möglich machte. Die Umformulierung psychopathologischer Begrifflichkeiten in die Sprache eines Experiments stellte eine Voraussetzung für diesen Prozess dar. Ursula Klein arbeitet heraus, dass neu entwickelte Klassifikationssysteme in den Naturwissenschaften nicht nur Repräsentationen des Wissens darstellten, sondern darüber hinaus auch Leerstellen füllten, die durch Experimente offen geblieben waren. Sie bezeichnet diese Werkzeuge als sichtbare, abstrakte Zeichen, die manipuliert werde könnten, um Repräsentationen wissenschaftlicher Objekte zu schaffen, die von allen beteiligten WissenschaftlerInnen geteilt würden. Klein betont, dass Papierwerkzeugen für die Analyse von Experimentalsystemen eine ebenso große Bedeutung zukomme wie den Instrumenten des Labors.1 Dieser Analyse folgend werde ich die Umformulierungen der psychiatrischen Diagnostik betrachten und entstehende neue Klassifikationsmanuale als Instrumente behandeln. Folgt man der These der Umgestaltung des klinischen Versuchs im Sinne einer Anpassung an die Bedingungen eines Experiments, so ist zu fragen, welche Angleichung die 1
Klein 2003.
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diagnostischen Systeme der Zeit um 1950 in der Bundesrepublik Deutschland benötigten, um die Begriffe von »Psychose« und »Schizophrenie« so zu formulieren, dass sie sich an eine experimentelle Beweisführung des kontrollierten klinischen Versuchs anpassen konnten. Im Folgenden möchte ich die Transformation der Psychopathologie in eine Diagnosebildung nach experimentellen Gesichtspunkten mit der Diskussion um die Anpassung der Diagnostik an die Bedingungen der Messbarkeit neuroleptischer Wirksamkeit in Beziehung setzen.
4 . 1 V o n g a n z e n D i a g n o s e n z u r L e i t s ym p t o m a t i k : e i n n e u e r P s yc h o s e b e g r i f f In einer frühen Kritik an der Verwendung neuroleptischer Medikamente betonte der amerikanische Psychiater Thomas Szasz, dass jeder Behandlung mit Psychopharmaka ein Modell psychischer Krankheiten vorausgehe. Letzteres entspreche aber in der Psychiatrie nicht körperlichen Krankheiten, sondern bilde lediglich Konventionen ab. Wenn psychische Krankheiten aber als Konstruktionen zu verstehen seien, so Szasz, stelle sich die Frage, inwieweit auch therapeutische Innovationen in neue Konzepte psychischer Abweichungen mit eingingen.2 In Anlehnung an diese Beobachtung stellt sich die Frage, welche Modifikationen an zeitgenössischen Konzepten der Psychose die PsychiaterInnen im Verlauf der weiteren Erprobung der Neuroleptika vornahmen und welcher Begriff sich schließlich durchsetzte. Die erwähnten Uneinheitlichkeiten des Psychosebegriffs erschwerten, wie ich dargelegt habe, die Beurteilung der Effektivität neuer psychiatrischer Medikamente erheblich. Gerade der Wunsch vieler PsychiaterInnen, einen spezifischen Effekt der Neuroleptika auf psychische Abweichungen beschreiben zu können, war somit eng an das Konzept der einheitlichen Beschreibung der Psychosen und ein spezifisches Krankheitsmodell gebunden.
4.2 Spezifisch wirksame Medikamente? Neuroleptika in der Diskussion Bereits Mitte der 1950er Jahre äußerten einige PsychiaterInnen Zweifel an den spezifischen Effekten der Neuroleptika auf »Psychosen«. Sie meinten, das Verschwinden von als Wahn bezeichneten Erscheinungen sei nicht eindeutig zu beobachten. Vielmehr sei das scheinbare Fehlen solcher
2
Szasz 1957, S. 87.
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Phänomene eher mit dem Misstrauen der PatientInnen zu erklären, nach der Medikamenteneinnahme noch offen von ihren Erlebnissen zu berichten.3 Wesentlicher war für die Frage nach einem kausalen Wirksamkeitsbegriff aber, ob ein spezifischer Krankheitskern durch die neuroleptische Therapie beeinflusst würde. Eine rationale Therapie im Sinne einer »magic bullet« sei, wie KritikerInnen äußerten, ohnehin eine fixe Idee, da es niemanden bisher gelungen sei, ein biologisches Agens der »Psychosen« zu identifizieren.4 Bestenfalls würden durch eine medikamentöse Therapie die Ziele erreicht, die auch durch eine Psychotherapie der Psychosen zu erreichen seien.5 Insgesamt war Ende der 1950er Jahre offensichtlich in der Bundesrepublik die erste Euphorie hinsichtlich der Neuroleptika verflogen, was auch in den folgenden Worten Hans-Hermann Meyers zum Ausdruck kommt: »Nachdem wir zu Beginn der ›Phenothiazinära‹ den therapeutischen Effekt zu hoch veranschlagten, weiß man heute, daß auch dieser Therapie Grenzen gesetzt sind.«6 In der amerikanischen Forschung setzte sich in den 1960er Jahren die Auffassung durch, dass eine Bezeichnung der Medikamente als »antipsychotics« im engeren Wortsinne nicht korrekt sei, da eine biochemische Ursache der »Psychosen« noch im Dunkeln liege. In diesem Sinne kommentierte ein Forscher den Wunsch, durch die Einführung der Neuroleptika zu naturwissenschaftlich fundierteren Krankheitsmodellen zu kommen, mit Skepsis: »In general medicine the use of drugs has often been the most important route to understand the pathological process of the disease. This has not yet occurred in psychiatry because psychological research is insufficiently related to clinical problems, and what little is known of normal psychology is still too remote from abnormal psychology.«7 3 4
5
6 7
Janzarik 1956, S. 641. Beispielhaft führt Max Müller für den Stand der Forschung in der Reihe Psychiatrie der Gegenwart aus: »Die Neuroleptika wirken damit in keiner Weise krankheitsspezifisch. Wenn Labhardt neuerdings einen antipsychotischen Effekt postuliert, der mit dem Dämpfungseffekt nicht oder nur teilweise parallel gehe, oder Janzarik von einer nosotropen Wirkung spricht, so stehen derartige Auffassungen im Widerspruch zum überwiegenden Teil des Erfahrungsgutes« (Müller 1960, S. 42). Arnold 1959, S. 272ff. Diese Auffassung führte in den USA zu langen Auseinandersetzungen über die Wirksamkeit von Neuroleptika gegenüber derjenigen einer Therapie. Um die Frage nach der größeren Effektivität eines der beiden Verfahren zu belegen, wurden in den 1960er Jahren eine Reihe von Studien durchgeführt (vgl. Healy 2002, S. 144ff.). Meyer 1959b, S. 270. Hamilton 1965, S. 102. Zu dieser Auffassung gelangte Hamilton, obwohl der Schwede Arvid Carlsson bereits 1963 die Hypothese veröffentlichte, »psy-
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Diese klinischen Probleme sieht der Kommentator in der großen interindividuellen Variabilität der Effekte begründet. Ehe man diese interindividuellen Unterschiede jedoch erklären könne, sei eine weitere Spekulation über die Spezifizität der Neuroleptika müßig.8 Auch wirkten die neuroleptischen Substanzen, wie Degkwitz zusammenfasste, nicht auf spezifische Symptome und Syndrome, weshalb man ihre Wirksamkeit in Bezug auf Psychosen nur grob beurteilen könne. Gleichzeitig solle man ihre Indikation aber streng begrenzen, da sie sonst häufig schon bei geringen Alterationen der Psyche zum Einsatz kämen.9 Zudem sei die Spezifizität der Effekte gerade bei Neuroleptika weit weniger ausgeprägt als bei anderen Psychopharmaka wie Antidepressiva und Tranquilizern.10 In der Bundesrepublik Deutschland wurde trotz des Fehlens eines körperlich begründbaren und spezifischen Wirksamkeitsbegriffs immer häufiger der Wunsch geäußert, durch eine Behandlung mit Neuroleptika zu einer »krankheitsspezifischen« Einteilung der »Psychosen« zu gelangen. So formulierten ForscherInnen auf einem in den frühen 1960er Jahren stattfindenden Kongress mit dem Titel »Neurolepsie und Schizophrenie«11 die Idee, durch die Verwendung neuroleptischer Medikamente klinische Zustandsbilder besser erkennen und so validere Beschreibungen durchführen zu können.12 Da aber die dynamischen Effekte der Psychopharmaka durchaus bekannt seien, solle auch die Umstrukturierung des psychischen Gefüges im Verlauf der Behandlung Aufschluss über die psychopathologischen Gesetzmäßigkeiten geben, welche den Psychosen zugrunde lägen.13 Diese Orientierung wurde von Vertretern wie Werner Janzarik (geboren 1920) auch als dynamische Psychopathologie bezeichnet, die sich von einer statistisch deskriptiven Psychopathologie abgrenzen könne.14 Eine solche Haltung ist aber eher als Minderheitenposition zu begreifen, die neben einer sich immer mehr an statistischen Erfordernissen ausrichtenden, symptomorientierten Diagnostik stand.
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chotische« Zustände seien durch eine Störung des Dopaminhaushaltes bedingt (vgl. Carlsson/Lindquist 1963). Hamilton 1965, S. 100. Degkwitz 1967, S. 1ff. Schmidlin 1978. Dies habe dazu geführt, dass zur Wirksamkeit von Neuroleptika weit mehr gearbeitet würde als zu den Effekten anderer Psychopharmaka. Kranz/Heinrich 1962. So formulierte Sattes, dass der Psychiater die Diagnose der Schizophrenie durchaus anzweifeln sollte, wenn der Patient nicht in erwarteter Weise auf das Medikament reagiert (Sattes 1962, S. 62). Janzarik 1962, S. 46ff. Janzarik 1965, S. 258.
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Die Genese der Zielsymptome In Abgrenzung zu einem kausal auf Krankheiten zielenden Wirksamkeitsbegriff hatte sich, wie führende Psychopharmakologen betonten, in der US-amerikanischen Forschung schon früh eine Fokussierung auf »Zielsymptome« durchgesetzt.15 Das Wort »Zielsymptom« verweist dabei auf die Orientierung an denjenigen Merkmalen, die durch eine neuroleptische Therapie beeinflusst werden sollten. Bereits Ende der 1950er Jahre hatte ein amerikanischer Forscher kritisiert, dass die Abnahme einer bestimmten »psychopathologischen« Erscheinung die Operationalisierbarkeit der zugrunde liegenden diagnostischen Kategorie voraussetze: »Although almost all evaluations of chlorpromazine in psychiatry have attempted to measure its effect in terms of changes in disturbed behavior, few investigators have actually defined in advance the specific abnormal behavior to be observed and then tested their data statistically to see whether specific changes in such behavior occurred when the drug was given.«16
Die beschriebenen Probleme ließen es naheliegend erscheinen, dass man einem Wirksamkeitsbegriff eben nicht mehr ganze »Krankheitseinheiten«, sondern spezifische Symptome zugrunde legte – eine Verschiebung, die auch schon die analysierte Stammkarte vornahm. Der amerikanische Psychiater Fritz Freyhan formulierte deshalb den Gedanken der Zielsymptomatik: Bei den Psychopharmaka handle es sich nicht um spezifische Therapien für bestimmte psychiatrische Erkrankungen, sondern um spezifische Einwirkungen auf psychopathologische Funktionsstörungen. Die neuroleptische Wirksamkeitserfassung benötige deshalb auch eine Abkehr von der Fixierung auf eine klinische Diagnose, sie müsse sich an »Zielsymptomen« orientieren.17 Diese Ausrichtung ermögliche auch, sich vor allzu weitgehenden Hoffnungen und Erwartungen hinsichtlich einer kausalen psychopharmakologischen Behandelbarkeit psychischer Abweichungen zu
15 Angst/Healy 1996, S. 297. 16 Cutler/Monroe/Anderson 1957, S. 616. 17 »Es ist deswegen auch nutzlos, die therapeutischen Indikationen mit klinischen Diagnosen verbinden zu wollen. Ein erregter und ein abgestumpfter Katatoner sind zwar beide schizophren, unterscheiden sich jedoch völlig in ihrer Ansprechbarkeit auf neuroleptische Therapien [...]. Für klinische Bewertungen bedarf es deswegen einer doppelten Buchführung, die neben den Diagnosen auch die ›Zielsymptome‹ (target symptoms) beschreibt, deren Modifikation Zweck der Therapie darstellt. Erst aufgrund so gewonnener Daten lassen sich psychopharmakologische Wirkungsweisen differenzieren und Untersuchungsergebnisse in der Literatur vergleichen« (Freyhan 1957, S. 504).
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schützen.18 In den Vereinigten Staaten lag die Orientierung an den »Zielsymptomen« schon der ersten nationalen Evaluationskonferenz zugrunde. Auch eine dort gängige Aufteilung der PatientInnen in Versuchs- und Kontrollgruppe wurde anhand derartiger Merkmale vorgenommen.19 In einem Vortrag über die Prinzipien experimenteller Pharmakotherapie auf dem zweiten Internationalen Kongress für Psychiatrie 1957 wurde schließlich eine internationale Ausrichtung der Evaluation der Medikamente an Leitsymptomen gefordert, da diagnostische Bezeichnungen in unterschiedlichen Ländern zu stark differierende Bedeutungen hätten.20 Der Gedanke der Leitsymptomatik wurde den bundesdeutschen PsychiaterInnen jedoch nicht nur auf internationalen Foren nahegebracht. Durch eine frühe deutschsprachige Veröffentlichung des aus Deutschland nach Amerika emigrierten Psychiaters Fritz Freyhan in der psychiatrischen Fachzeitschrift Der Nervenarzt war diese Idee bereits einer breiteren Anzahl von ÄrztInnen bekannt.21 Bis in die 1960er Jahre fanden Freyhans Gedanken aber in der BRD eine zwiespältige Aufnahme. Während Fritz Flügel auf dem dritten internationalen Treffen des Collegium Internationale Neuro-Psychopharmacologicum (CINP) die Zuordnung neuroleptischer Behandlungen noch nach klinischen Diagnosen und nicht nach Leitsymptomen vornahm,22 betonten andere deutsche PsychiaterInnen auf dem gleichen Treffen die Nützlichkeit einer Ausrichtung an Leitsymptomen.23 Doch auch jüngere Psychiater wie Walter Schmitt und Rudolf Degkwitz äußerten in ihren Lehrbüchern noch Mitte der 1960er Jahre Zweifel an der Methode der Zielsymptomatik. Während Degkwitz die Orientierung an Syndromen und Zustandbildern für eine Effektivitätsbeurteilung einforderte, statt sich an Zielsymptomen oder ganzen Diagnosen zu orientieren,24 gab Schmitt zu bedenken, dass dynamische Grundkonstellationen der Psychosen zu erstellen wären, auf die ein auszuwählendes Neuroleptikum wirken solle.25 Auch vor dem Hintergrund der Diskussionen um die beschriebene Stammkarte, die sich als Umsetzung der Orientierung der Freyhanschen Zielsymptomatik lesen lässt, blieb eine Übersetzung der Diagnostik in experimentelle Begriffe noch Teil der Diskussion. Die Transformation der Psychopathologie war auch deshalb eine schwerwiegende Entscheidung, weil die meisten PsychiaterInnen sie als Kernstück der Psychiatrie begriffen. Dementsprechend betonte Freyhan als besondere 18 19 20 21 22 23 24 25
Freyhan 1964. Comitee on Patients Selection 1959. Faurbye 1959, S. 248. Freyhan 1957. Flügel 1964. Hertrich 1964. Degkwitz 1967, S. 13. Schmitt 1965, S. 45.
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Leistung der Psychopharmakaforschung: »If psychopharmacology had achieved nothing else, it compelled psychiatrists to revive interest in clinical and experimental psychopathology.«26 Für die bundesdeutsche Psychopharmakaforschung sollte dieser Aspekt aber erst Ende der 1960er Jahre eine größere Rolle spielen.
Die Wiederentdeckung Kraepelins Die Orientierung an einem experimentellen Denken in der Psychopathologie setzte sich in der Bundesrepublik erst zögerlich und im Verhältnis zu den Vereinigten Staaten verspätet durch. Wie ich geschildert habe, war eine experimentelle Ausrichtung der Psychiatrie, wie sie von Emil Kraepelin bereits um 1900 gefordert worden war, in der bundesdeutschen Nachkriegspsychiatrie zunächst nicht anschlussfähig; man grenzte sich von Kraepelins elementenpsychologischer Aufsplitterung ab. Walter Schmitt betonte mit Bezug auf eine bis Mitte der 1960er Jahre vorherrschende psychiatrische Diagnostik, diese habe sich vor allem an ganzheitliche Entwürfe in der Tradition der Psychopathologie Kurt Schneiders gehalten. Schon im Jahr 1924 habe sich letzterer gegen Kraepelin und seine natürlich nachweisbaren Krankheitseinheiten abgegrenzt und eine Einteilung nach psychopathologischen Gesichtspunkten gefordert.27 In diesem Sinne formulierte Hans Heimann zum Stand der psychiatrischen Diagnostik Mitte der 1960er Jahre und dem Einfluss experimenteller Strömungen auf diese: »Diese Wertschätzung der experimentellen Methoden hat sich in allen Grundlagendisziplinen der Medizin durchgesetzt, mit Ausnahme der Psychopathologie. Hier kann man eher eine gegensätzliche Bewegung erkennen in dem Sinne, daß der wissenschaftliche Wert experimenteller Resultate mit philosophischen Argumenten über das Wesen des menschlichen Seins abgewertet wird. Psychopathologische Fragestellungen haben sich deshalb oft aus dem Feld der Empirie in dasjenige philosophischer Reflexionen verschoben, und es besteht heute eine große Kluft zwischen den Psychopathologischen Forschungsrichtungen und denjenigen der übrigen Grundlagendisziplinen der Medizin.«28
Heimann spielte in diesem Zitat auf die beschriebene Orientierung vieler PsychiaterInnen an neuen Formen der phänomenologischen Psychiatrie an, die nach dem Zweiten Weltkrieg immer einflussreicher wurden.29 Mit
26 Freyhan 1965, S. 250. 27 Schmitt 1965, S. 43. 28 Heimann 1967, S. 147. Eine Auseinandersetzung der Psychiatrie mit der Pharmakopsychologie Kraepelins hatte Heimann bereits 1964 wieder ins Gespräch gebracht (vgl. Heimann 1964). 29 Vgl. Teil II, 2.1.
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seinen Ausführungen versuchte er jedoch, nicht nur für eine Übernahme der experimentellen Methode in der Psychopathologie zu werben. Er setzte auch an den immer wieder geäußerten Ängsten der PsychiaterInnen an, nicht als Teil der Medizin wahrgenommen zu werden. Um das Jahr 1960 war die Wissenschaftlichkeit der Psychiatrie wegen ihrer ungenauen Diagnostik international immer wieder in Frage gestellt worden. Unter anderem hatte der amerikanische Psychiater Thomas Szasz eine erste Fassung seines Buchs »The myth of mental illness« veröffentlicht, in dem er die These vertrat, dass man psychische Abweichungen nicht nach dem Vorbild anderer körperlicher Krankheiten erklären könne. Zentraler Angriffspunkt in Szasz’ Essay war die Feststellung, dass die Psychiatrie ihre Diagnosen eben nicht nach den wissenschaftlichen Kriterien der übrigen Medizin bilde, weshalb er ihre Psychopathologie als »Mythos« bezeichnete.30 Szasz’ Buch war seit Anfang der 1960er Jahre auch in Deutschland bekannt. Auch wenn es vermutlich nicht die weite Verbreitung von Szasz’ Gedanken war, die eine Reform der Psychopathologie einleitete, stellte dennoch der Hinweis, dass die Psychiatrie sich durch eine Abkopplung von der experimentellen Methodik der übrigen Medizin selbst isoliere, ein schlagkräftiges Argument dar. Dennoch war die Übernahme einer in Anlehnung an Kraepelin formulierten experimentellen Psychopathologie den Vorbehalten ausgesetzt, eine Zerlegung aller psychopathologischen Erscheinungen in Elemente vorzunehmen, die von vielen PsychiaterInnen als inhuman kritisiert wurde. Doch auch diese Ängste versuchte Heimann in seinem programmatischen Artikel zu zerstreuen, in dem er die These vertrat, die Isolierung einzelner Phänomene werde durch die Weiterentwicklungen der experimentellen Methoden überwunden. So führte er weiter aus: »Die systematische Untersuchung von Bedingungszusammenhängen verschiedener Testleistungen lässt wohldefinierte Schwerpunkte der Störungen erfassen und gibt Einblicke in die Strukturzusammenhänge seelischer Funktionen, welche der vielberufenen und geschmähten ›Ganzheitlichkeit‹ des seelischen Lebens methodisch angepasst sind. Der noch von vielen Klinikern gegen die experimentelle Forschung vorgebrachte Einwand, daß sich seelisches Leben nicht in Elementarfunktionen auflösen lässt, verliert deshalb angesichts der modernen psychologischen Methodik an Gewicht.«31
Mit diesen Ausführungen verwies der Autor auch auf die zunehmende Wichtigkeit der psychologischen Methodik für einen stabilen Begriff von Wirksamkeit. Das Wechselverhältnis zwischen Psychopathologie und Psy30 Szasz 1961. Eine erste deutsche Übersetzung erschien Anfang der 1970er Jahre. 31 Heimann 1967, S. 150.
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chologie war auch nach dem Jahr 1945 noch ein enges.32 Als Disziplin war die bundesdeutsche Psychologie der Nachkriegszeit, anders als weite Teile der bundesdeutschen Psychiatrie, auch mit einer experimentellen Methodik vertraut. Der geschilderte Methodenstreit hatte in der Psychologie schon seit den 1950er Jahren zu einer Auseinandersetzung um quantifizierende faktorenanalytische Modelle in der Psychodiagnostik geführt, die aus dem amerikanischen Raum importiert worden waren. Alexandre Métraux arbeitet heraus, dass zwischen den Jahren 1960 und 1965 die »Amerikanisierung« der Psychologie ihren Höhepunkt erreichte. Er führt dies auf einen Generationswechsel innerhalb der ForscherInnen zurück, deren neue VertreterInnen sich auch von der vorangegangenen Generation abgrenzen wollten.33 Dieser Wechsel ging mit der Auseinandersetzung über zwei antagonistische Konzeptionen des Seelischen einher, die führende FachvertreterInnen noch Ende der 1950er Jahre mit großer Härte austrugen.34 Anders als in der Psychologie, in der sich quantifizierende Methoden und elementenpsychologische Aspekte zu dieser Zeit durchsetzten, konnte sich eine solche Bewegung in der Psychiatrie erst ab Mitte der 1960er Jahre etablieren. Der im Vergleich zur bundesdeutschen Psychologie späte Einsatz dieser Diskussionen ist auch damit zu erklären, dass die Psychiatrie trotz aller Kritik nicht in gleicher Weise in Frage gestellt wurde wie die Psychologie. Letztere sah sich in den 1950er Jahren immer mehr genötigt, mittels Praxis- und Evaluationsforschung ihren Stand und ihre Einsatzfelder auszuweiten und das Berufsfeld von PsychologInnen zu festigen.35 Diese Forschungsbemühungen umfassten aber vor allem das Gebiet der Erziehungsberatung und der Graphologie bzw. der Persönlichkeitsforschung.36 Dem32 Pauleikhoff 1987. 33 Métraux 1985, S. 225. Der Autor führt diese Wende auf eine Zunahme der StudentInnenzahlen und damit einer großen Zahl sich neu orientierender PsychologInnen zurück, die sich von der »Vätergeneration« abgrenzte. Auch die Ausbildung habe sich in dieser Zeit zunehmend mehr an die experimentelle Psychologie angepasst. 34 Métraux 1985, S. 243ff. Einflussreiche Gegner des Behaviorismus wie der Psychologieprofessor Albert Wellek verwehrten sich entschieden gegen diese Form des »Pseudoamerikanismus« und sahen in ihm gar einen Rückfall in die Methodenkrise der Psychologie (vgl. auch Wellek 1959). Auch Pauleikhoff markierte die behavioristische Wende in der Psychologie als Punkt, an dem sich die Psychologie endgültig von dem Status der Geisteswissenschaft verabschiedete (vgl. Pauleikhoff 1987, S. 383). 35 Métraux 1985. 36 Dies macht insbesondere eine Analyse der zwischen 1953 und 1967 veröffentlichten psychologischen Dissertationen deutlich (vgl. Geuter 1987). Die Klinische Psychologie war in dieser Zeit kein großes Betätigungsfeld für PsychologInnen. Dies sollte sich erst im Laufe der 1970er Jahre ändern (vgl. Hörmann/Nestmann 1985).
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gegenüber war in der Psychiatrie zu dieser Zeit Therapieforschung gegenüber der Beschäftigung mit Psychopathologie ein nachrangiges Thema.37 Es ist vermutlich auch als Zeichen der zunehmenden Bedeutung der Therapieforschung in Zeiten der Psychiatriekritik zu sehen, wenn sich die psychiatrische Forschung nun zunehmend den neuen Methoden in der Psychologie annäherte. Mit ihr erlangte aber auch die Rückbesinnung auf die Elementenpsychologie Kraepelins eine neue Konjunktur. Doch die Psychologie sollte nicht nur für die Strukturzusammenhänge seelischer Funktionen neue Ansätze liefern. Auch die psychologische Psychopharmakaforschung wurde ausgeweitet, indem die PsychiaterInnen sich zunehmend auf Kraepelin besannen, insbesondere im Bereich der Persönlichkeitsforschung. Bereits für die EEG-ForscherInnen hatte sich die Frage gestellt, ob die elektrischen Wellen eine eigene Individualität besäßen.38 Auch die Effekte der neuen Psychopharmaka auf das Erleben und Verhalten der PatientInnen schienen in höchstem Maße vom Individuum abzuhängen, das sie einnahm. Zunehmend sollte so die Person wieder in den Blick der ForscherInnen geraten.
4 . 3 Zw i s c h e n P s yc h o l o g i e u n d P s yc h i a t r i e : das Forschungsfeld Wirksamkeit und Persönlichkeit – ein Exkurs »Schon im Anfange hatte sich mir bei dem Studium meiner Zahlenreihen der auch wiederholt ausgesprochene Gedanke aufgedrängt, dass durch die uncontrolirbaren, nicht vom Medicament abhängigen Schwankungen unser inneren Zustände das Bild der experimentellen Veränderung vielfach verschleiert und verzerrt werde.«39
Als Emil Kraepelin diese Worte Ende des 19. Jahrhunderts niederschrieb, hatte er in seinen eigenen Arzneimittelstudien wiederholt die Einflüsse der Persönlichkeit beobachten können, welche die Erfassung eines psychotropen Effekts erschwerten. Kraepelins Arzneimittelstudien waren wegen ihres messenden Ansatzes in der bundesdeutschen Psychiatrie bis in die 1960er Jahre auf Ablehnung gestoßen.40 Neben den erwähnten Aufsätzen von Hans Heimann stellte insbesondere die Aufnahme von Kraepelins Pharmakopsychologie in das »Handbook of Abnormal Psychology« des international bekannten Persönlichkeitspsychologen Hans Jürgen Eysenck (1916–1997) im Jahr 1960 ein zentrales Ereignis für eine Psychopharma37 38 39 40
Hippius/Healy 1996. Borck 2005a, S. 234. Kraepelin 1892, S. 3. Debus 1992.
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kaforschung dar, die in Deutschland zu dieser Zeit vermehrt Bezug auf Kraepelins Differentielle Pharmakopsychologie nahm.41 Eysenck hatte sich im Laufe der Jahre immer intensiver mit für die Persönlichkeitsforschung relevanten Themen der Psychopharmakaforschung beschäftigt.42 In Anlehnung an sein neurophysiologisches Persönlichkeitsmodell untersuchte er vor allem die Effekte der Psychopharmaka auf seine Persönlichkeitsskalen der Extraversion/Intraversion, nahm dabei jedoch wenig die interindividuellen Unterschiede der Reaktionen in den Blick.43 Noch Mitte der 1960er Jahre betonte Eysenck auf dem dritten internationalen Treffen des Collegium Internationale Neuro-Psychopharmacologicum (CINP), dass die Methoden der Verhaltensbeobachtung im Rahmen der Wirksamkeitsmessungen der Psychopharmaka noch nicht genügend mit Persönlichkeitstheorie unterlegt seien.44 Bereits Ende der 1950er Jahre waren die individuell abweichenden Psychopharmakaeffekte auf die Einnahmebedingungen und die Persönlichkeitsstrukturen der Patientinnen zurückgeführt worden. Es wurde hervorgehoben, dass psychotrope Medikamente nur die grundsätzlich schon im Individuum angelegten Persönlichkeitsstrukturen verstärkten.45 Man räumte ein, das Subjekt und seine Persönlichkeit seien allerdings noch wenig systematisch und experimentell erforscht. Die Komplexität der Persönlichkeitsvariablen und ihre Auswirkungen auf die Medikamenteneffekte stünden einem Mangel an Messinstrumenten gegenüber, welche diese Aspekte objektivierbar und reproduzierbar machen könnten.46
41 Eysenck 1960. Das Buch ist Emil Kraepelin gewidmet. Bei Eysenck handelt es sich um einen Deutschen, der im Jahr 1934 nach England emigrierte. Während des Krieges arbeitete er an einem Nothospital, 1955 wurde er Psychologieprofessor in London und lehrte dort bis 1983. Er wurde vor allem als Persönlichkeitspsychologe bekannt und war ein großer Anhänger statistischer Methoden, mit deren Hilfe er seine faktorenanalytisch gewonnenen Persönlichkeitsmodelle bildete. Eysenck zufolge ließ sich Persönlichkeit vollständig auf den beiden Skalen Introversion/Extroversion und Labilität/Stabilität (Neurotizismus) abbilden. Eysenck war ein überzeugter Anhänger der Vererbungslehre, auch die Persönlichkeitsstrukturen waren seiner Auffassung nach genetisch bedingt (vgl. Deutsches Biographisches Archiv, S.33; http://erf.sbb.spk-berlin.de/han/474383180/db.saur.de/WBIS/basicText Document.jsf, Stand 01.09.2008). 42 Bereits im Jahr 1963 hatte Eysenck ein Buch mit dem Titel »Experiments with Drugs« herausgegeben. Die publizierten Artikel beschrieben pharmakopsychologische Experimente, die sich mit dem Verhältnis zwischen Persönlichkeitsdimensionen und den Wirkungen von Psychopharmaka beschäftigten (vgl. Eysenck 1963). 43 Janke 1964, S. 10ff. 44 Eysenck 1964, S. 15. 45 Phillips 1959; Arnold 1959. 46 Di Mascio/Klerman 1960, S. 65.
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Auch in Deutschland maßen PsychologInnen dem Einfluss der Persönlichkeit bereits Ende der 1950er Jahre eine entscheidende Bedeutung bei.47 Für die PharmakopsychologInnen stellte sich deshalb die Frage, inwieweit die interindividuell unterschiedlichen Effekte durch bestimmte Persönlichkeitsmerkmale erklärbar seien.48 Kraepelins Pharmakopsychologie liefere hierfür, wie betont wurde, erste Ansatzpunkte, wenngleich er eher die grundlegenden Probleme formuliere als zufriedenstellende Antworten gebe.49 Ein deutscher Pharmakopsychologe betonte, dass wohl der Affektivitätsgrad der ProbandInnen die Effekte neuer Psychopharmaka entscheidend mitbestimme, sodass die Versuchspersonen auf Schlafmittel am einförmigsten und auf Tranquilizer mit der größtmöglichen Variabilität reagieren würden.50 Besonders in der qualitativen Ausprägung und im Erlebnisbereich träten abweichende Ausprägungen der Psychopharmakaeffekte auf, die je nach Ausgangsbedingungen variierten. Daraus folgerte er, dass die psychische Verarbeitung von durch ein Psychopharmakon gesetzten Bedingungen ein wesentlicher Bestandteil jeder pharmakopsychologischen Interpretation sein müsse. In der Pharmakologie als paradoxe Reaktionen bezeichnete Effekte der Psychopharmaka seien vor diesem Hintergrund eher als Verhalten der Versuchspersonen zu den medikamentösen Einwirkungen zu sehen. Die psychische Verarbeitung medikamentöser Einwirkungen gestalte diese erheblich mit. Daraus folge aber, dass man die Effekte der Psychopharmaka nicht schematisch betrachten könne, sondern in den Kontext ihrer situativen Faktoren einbetten müsse.51 Schlussfolgernd wurde ausgeführt, dass die fortwährenden interindividuellen Differenzen der Psychopharmakaeffekte im pharmakopsychologischen Labor den ForscherInnen das Leben erschwerten. So erklärte ein Pharmakopsychologe auf dem psychiatrischen Symposion »Begleitwirkungen und Mißerfolge der psychiatrischen Pharmakotherapie«: »Die Erfahrungen des Laboratoriums zeigen immer wieder, daß selbst bei mit Sicherheit zu vermutenden differentiellen Wirkungsmomenten eines Pharmakons einzelne Versuchspersonen keiner der bislang identifizierten Gruppen
47 De Boor 1956, S. 28; Bente 1958. 48 Janke 1960. 49 Janke 1964, S. 1. So sei auch die Unterteilung der Versuchspersonen in »Gesunde« und »Kranke«, wie sie die Pharmakopsychologie vornehme, wenig hilfreich, wenn die zugrunde liegenden Persönlichkeitsstrukturen nicht beachtet würden. 50 Janke 1964, S. 18ff. Insbesondere die Reaktionsbreite für Tranquilizer und Neuroleptika hingen von den Ausprägungen bestimmter Persönlichkeitsmerkmale ab. 51 Janke 1964, S. 118ff.
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zugeordnet werden können. Hier erhebt sich dann die – zunächst intraindividuell gerichtete – Frage, ob die nicht kategorisierbare Reaktionsweise eine spezielle oder generelle ist.«52
Den immer wieder zu beobachtenden »Misserfolgen« einer pharmakopsychologischen Forschung sei, wie es der Autor ausführte, einfacher zu begegnen, wenn deutlich sei, auf welche Momente der Persönlichkeit das Medikament abziele. Denn dem Psychopharmakon als »Sender« von psychischem Modifikationspotenzial stehe im pharmakopsychologischen Experiment die Person gegenüber.53 Doch auch in der Klinik sollten die nach Persönlichkeit differierenden Untersuchungsergebnisse eine Quelle ständigen Ärgernisses bilden. So berichtete ein Psychiater auf demselben Kongress, dass die Aspekte der Persönlichkeit als ebenso wichtig für eine Wirksamkeit der Psychopharmaka zu betrachten seien wie die psychiatrische Diagnose. Weise ein Patient zu starre, persönlichkeitseigene Aspekte auf, bleibe die Therapie erfolglos.54 Diese Feststellung hatte sowohl für das pharmakopsychologische Experiment als auch für die psychiatrische Praxis große Auswirkungen. Man musste in beiden Bereichen bei der Auswahl der ProbandInnen bedenken, ob sie die richtigen Personen für das ausgewählte Medikament waren. Jede Ausgangsemotion konnte die Wirksamkeit des Psychopharmakons verändern, was für die Wirksamkeitsprüfung eine erhebliche Hürde darstellte.55 Doch gerade die PharmakopsychologInnen äußerten die Hoffnung, mittels moderner experimenteller Technik das Problem in den Griff bekommen zu können.56
»Den richtigen Patienten für das richtige Medikament auswählen«: personen- und situationenabhängige Psychopharmakaeffekte Wie ich gezeigt habe, wurden Probleme der persönlichkeits- und situationsabhängigen Psychopharmakaeffekte in der Bundesrepublik im Rahmen der AGNP immer wieder debattiert. Mit den Diskussionen dieser als nichtspezifische Faktoren zusammengefassten Elemente sollte sich auch in der bundesdeutschen Psychopharmakaforschung die Idee eines kontrollierten klinischen Versuchs durchsetzen. Dafür mussten die ForscherInnen zunächst die abweichenden Reaktionen der ProbandInnen identifizieren und feststellen, ob die Umweltbedingungen oder die im Individuum angelegten Strukturen für die Differenzen hinsichtlich der Effekte verantwortlich 52 53 54 55 56
Broeren/Schmitt 1964, S. 200. Broeren/Schmitt 1964, S. 197. Janzarik 1964. Janke 1965 Janke 1965, S. 124.
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waren.57 Außerdem musste der Frage nachgegangen werden, ob der untersuchte Patient eher zu den ProbandInnen gehörte, die reagierten, oder zu den Menschen, die nicht auf die Medikation antworteten. Einzelne ForscherInnen wollten das Problem der psychopharmakologischen Wirksamkeit zu fassen bekommen, indem sie zwischen der direkten pharmakodynamischen Wirkung und den Verhaltensänderungen unter Psychopharmaka unterschieden,58 denn, so gaben sie an, auf der psychologischen Ebene ließen sich keine therapeutischen Wirkungen messen, die im direkten kausalen Zusammenhang mit den somatischen Einwirkungen stünden. Deshalb sei auch die innere Einstellung des Patienten für die Psychopharmakaeffekte relevant.59 Die geschilderten Schwierigkeiten führten dazu, dass viele ForscherInnen forderten, vor der Verschreibung eines Medikaments eine Persönlichkeitsanalyse vorzunehmen, um das richtige Medikament für den richtigen Patienten auszuwählen.60 Dieses Vorgehen mache, wie Andrew Lakoff es formulierte, den Patienten aus Sicht der ForscherInnen immer mehr zum Medium der Droge, das es zu identifizieren gelte. So spitzt er diese von den UntersucherInnen vorgenommene Verschiebung folgendermaßen zu: »instead of seeking to test the drug on an established category of patients, they seek to find the right patient for the drug«.61 Der Patient bildete in solchen sich zunehmend auch in der BRD durchsetzenden Vorstellungen einen Referenzpunkt, denn eine stabile Wirksamkeitserfassung brauchte ProbandInnen mit vergleichbaren Persönlichkeitsmerkmalen. Die experimentellen Ausführungen mussten sich damit zunehmend auf die einzelnen PatientInnen konzentrieren, die zum Testplatz neuer Medikamente 57 Dafür wurde auch die vielfältige Anwendung von Persönlichkeitstests ausgeweitet. Am häufigsten war dabei eine Testung mittels des Minnesota Multiphasic Personality Inventory (MMPI). Bei dem Test handelt es sich um den im englischen Sprachraum am häufigsten verwendeten Persönlichkeitstest in der Psychologie, der erstmals im Jahr 1942 an den Kliniken der Universität von Minnesota entwickelt wurde. Der MMPI wurde mit dem Ziel geschaffen, Persönlichkeitsstörungen, soziale Probleme und Verhaltensstörungen bei PsychiatriepatientInnen zu identifizieren. Der Test liefert Informationen zur Problemidentifikation, Diagnose und Vorbereitung eines Behandlungsschemas für den Patienten. 58 Andere UntersucherInnen führten aus, dass die Umgebungsvarianten wie Unsicherheit, Angst vor Kontrollverlust, Verneinung des Drogeneffekts und der Krankenrolle einen großen Einfluss hätten (vgl. Cleveland 1989). 59 Heimann 1983, S. 46. 60 Cleveland 1989, S. 236. Heimann führte dazu auch aus, dass eine Lösung des Problems auch durch die Verwendung von Statistik und Doppelblindstudien bis zu diesem Zeitpunkt, also den frühen 1980er Jahren, noch nicht in Sicht sei: »Die Frage, welches Präparat unter vielen einer bestimmten Kategorie für den bestimmten Patienten das geeignetste ist, läßt sich zur Zeit noch nicht beantworten« (vgl. Heimann 1983, S. 48). 61 Lakoff 2007, S. 67.
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wurden. Mit der Stellung des Patienten wurde auch die Frage nach den Experimentalsubjekten mit gleichen Eigenschaften aktuell. Welche Formen der Klassifikationen konnten die unterschiedlichen PatientInnen unter für die Wirksamkeitserfassung relevanten Kategorien einordnen?62 Gerade für diese Frage sollte sich die Orientierung an Zielsymptomen als nützlich erweisen, aber auch Probleme aufwerfen. Die Zielgrößen der psychopharmakologischen Behandlung seien, wie Heimann formulierte, keine eindeutig quantifizierbaren Werte, sondern hochkomplexe Größen, in denen auch das Beobachterbias eine nicht zu unterschätzende Rolle spiele. Zudem ließen sich Zielsymptome nur ziemlich willkürlich von der Person des Patienten abstrahieren.63 Mit der Orientierung an Zielsymptomen wurde aber auch die Definition der zugrunde liegenden »psychischen Krankheiten« immer stärker durch dasjenige bestimmt, worauf die Symptome reagierten – in diesem Fall die verabreichten Psychopharmaka. Der klinische Versuch stellte aus dieser Logik heraus sowohl für die Bestimmung einer psychopharmakologischen Wirksamkeit als auch für die Neuformulierung der psychiatrischen Diagnostik das zentralen Feld der Wissensgenerierung dar.64 Vor diesem Hintergrund möchte ich die Entwicklung der psychiatrischen Diagnostik im internationalen Kontext betrachten und größere Verschiebungen in diesem Bereich nachzeichnen.
4.4 Neue Entwicklungen d e r p s yc h i a t r i s c h e n D i a g n o s t i k : ICD und DSM »Erst die Tatsache, dass eine bestimmte Behandlung wirkt, erlaubt zu sagen, dass man es mit einer bestimmten Krankheit zu tun hat. Man könnte dies den ›therapeutischen Beweis‹ nennen.«65
Mit dieser Zuspitzung formuliert Alain Ehrenberg die zentrale Funktion, die der Effektivität von Behandlungsformen in der Definition »psychischer Krankheiten« zukomme. Mit dem Aufkommen moderner Psychopharmaka 62 Lakoff 2007, S. 59. 63 Heimann 1983, S. 40ff. Dabei sollte die Orientierung an den Zielsymptomen auch die Verbindung zu einer zugrunde liegenden neurobiologischen Grundlage herstellen. Diese Hypothese blieb jedoch nicht unwidersprochen: »Gerade die Verbindung dieser im großen und ganzen noch hypothetischen Funktionskreise, die bei psychiatrischen Syndromen betroffen sind, mit der klinischen Ebene, der Beobachtung von psychischen Zielgrößen, bildet bis heute das zentrale und umstrittene Gebiet der Psychopharmakologie« (Heimann 1983, S. 40). 64 Lakoff 2007, S. 60. 65 Ehrenberg 2004, S. 21.
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wurde deshalb auch die Frage nach einer symptombasierten, medizinischen Diagnostik relevant, welche die Wirksamkeitsdefinition an eine einheitliche und stabile Erfassung zurückbinden konnte. Die Forderungen nach einem experimentell operationalisierbaren Begriff der Diagnose stellte nicht nur für die bundesdeutschen ForscherInnen ein Problem dar, wenngleich ihre speziellen psychopathologischen Traditionen in dieser Hinsicht besondere Schwierigkeiten mit sich brachten. Auch international waren die Psychiatrie und die psychiatrische Diagnostik nach 1945 in eine Krise geraten, die zu einer globalen Neuformulierung der Diagnosesysteme zwang.
Probleme der ersten Fassungen von DSM und ICD: ein Rückblick Das heute in Europa gebräuchliche System für die Klassifikation von Krankheiten wird auch als International Classification of Diseases (ICD) bezeichnet. Ihre Vorläufer sieht Robert Kendell in der seit Mitte des 19. Jahrhunderts vom Internationalen Statistischen Kongress entwickelten Nomenklatur zur Sterblichkeitserfassung, die am Beginn des 20. Jahrhunderts zur internationalen Liste der Todesursachen weiterentwickelte wurde.66 In den ersten Revisionen der ICD wurden psychische Abweichungen nicht erfasst. Zwar hatten bereits im Jahr 1937 PsychiaterInnen auf einem internationalen Kongress zur Frage der geistigen Gesundheit die Notwendigkeit einer internationalen Klassifikation für »psychische Störungen« propagiert, eine von einem französischen Psychiater vorgeschlagene Klassifikation war aber nur von Portugal und der Schweiz angenommen und bis Ende der 1950er Jahre verwendet worden.67 Erst mit der sechsten Auflage aus dem Jahr 1948 wurde die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegebene internationale Liste der Todesursachen auch auf Krankheiten ausgedehnt. Erstmals tauchte in dieser Fassung eine Untersektion zu »Verhaltensstörungen« auf.68 Unter dem Titel »Mental, Psychoneurotic and Personality Disorders« definierten die MedizinerInnen neben anderen psychischen Abweichungen zehn Kategorien für Psychosen.69 Der Begriff der schizophrenen Störungen wurde unter dem alten Kraepelinschen Begriff der »dementia praecox« in dieser Fassung wieder verwendet, blieb aber aufgrund seiner mangelnden Einheitlichkeit und Operationalisierung in der psychiatrischen Forschung 66 Kendell 1978, S. 91. 67 Kendell 1978, S. 90. Als deutsche Bemühungen um ein einheitliches Diagnosesystem sind die Diskussionen um den Würzburger Schlüssel zu betrachten (vgl. Teil II, 2.2). 68 Boyle 1990. 69 Kendell 1978, S. 92.
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wenig beachtet.70 In der Bundesrepublik wollten die PsychiaterInnen sich allerdings in dieser Zeit nicht an der neuen ICD orientieren, da man ihre Gliederung in Frage stellte.71 Weil die vorgeschlagene internationale Klassifikation in der Psychiatrie kaum Zuspruch fand, beauftragte die WHO im Jahr 1959 den englischen Psychiater Erwin Stengel (1902–1973) damit, die psychiatrischen Klassifikationssysteme in Europa zu untersuchen. In seinem abschließend vorgelegten Bericht arbeitete Stengel heraus, dass viele PsychiaterInnen in der Nachkriegszeit gegenüber neuen Formen von Klassifikationen zynisch geworden seien und eine Verwendung psychiatrischer Diagnosen national stark differiere. Weder gebe es einzelne Klassifikationen, die von allen Ländern als zufriedenstellend angesehen würden, noch würden die einzelnen, in den jeweiligen Ländern verwendeten Manuale dazu führen, dass die nationale psychiatrische Diagnostik vereinheitlicht würde. Vor diesem Hintergrund ist auch die ablehnende Haltung zu betrachten, die PsychiaterInnen internationalen Klassifikationen in der BRD der 1950er und 1960er Jahre entgegenbrachten. Klaus Conrad verdeutlichte dieses Unbehagen in seinem Artikel zur Lage der psychiatrischen Diagnostik, der im gleichen Jahr wie Stengels Report veröffentlicht wurde. So formulierte er: »Noch bestürzender würde dieses Bild [der mangelnden nosologischen Einheit in der Psychiatrie] zöge man die außerdeutsche Diagnostik mit in Betracht. Ich hatte ursprünglich die Absicht, in diesem Referat auch eine kurze Darstellung der französischen und angloamerikanischen Diagnostik mit aufzunehmen. Ich gab sie wieder auf, so hoffnungslos schien es mir, hier auch nur einen Überblick zu geben. Es ist wichtiger, uns zunächst einmal im deutschen Sprachraum zu einigen, erst dann könnte man versuchen, die Beziehungen zur außerdeutschen psychiatrischen Diagnostik abzuklären.«72
Ähnlich wie Conrad betrachtete auch Stengel es als primäre Aufgabe der WHO, das komplizierte und stark divergierende Feld der nationalen und 70 Boyle 1990. 71 Joachim-Ernst Meyer betont, dass fast alle nationalen Diagnoseschemata auf einer triadischen Einteilung nach organisch bedingten psychischen Störungen, endogenen Psychosen und abnormen Spielarten des seelischen Wesens beruhten. Die internationale Klassifikation verzichte auf eine klare Abgrenzung organisch bedingter psychischer Störungen, die sich so nicht mehr scharf von Psychoneurosen abgrenzen ließen (Meyer 1961, S. 142). Faktisch klassifizierten die PsychiaterInnen in dieser Zeit nach dem Würzburger Schlüssel und gelegentlich parallel dazu nach dem Schlüssel ihrer eigenen Schule. 72 Conrad 1959, S. 489. Der beschriebene Überblicksartikel Joachim-Ernst Meyers ist vor diesem Hintergrund auch als Versuch anzusehen, die immer weiter auseinander weichenden Schulen in Deutschland wieder zusammenzubringen (vgl. Meyer 1961).
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internationalen psychiatrischen Diagnostik zu vereinheitlichen. Er forderte deshalb, dass alle psychiatrischen Klassifikationen als wissenschaftliche Konstruktionen gleichen Regeln folgen und ihre operationalen Kriterien angeben müssten.73 Es sollte jedoch noch einige Jahre dauern, bis erste Schritte unternommen wurden, die Diagnostik entsprechend zu modifizieren. Eine weiterentwickelte achte Revision der ICD wurde im Jahr 1965 herausgegeben und im Jahr 1969 in Gebrauch genommen, enthielt aber erst seit 1972 das häufig geforderte Glossar zur Operationalisierung der Kriterien psychiatrischer Diagnosen.74 Es blieb jedoch zumindest fraglich, ob diese neue Fassung einen merklichen Einfluss auf das diagnostische Verhalten der klinisch tätigen PsychiaterInnen ausübte. Darüber hinaus wies das gesamte Diagnosehandbuch auch in dieser Auflage keine einheitliche Einteilung auf. Es wurde bei manchen psychiatrischen Diagnosen nach Symptomen, bei anderen nach Ätiologie klassifiziert, ein Vorgehen, das schon im Verlauf der Diskussionen um den Würzburger Schlüssel kritisiert worden war.75 Fast zeitgleich mit der Entstehung der ICD war es in den Vereinigten Staaten 1952 zur Entwicklung eines ersten US-amerikanischen psychiatrischen Klassifikationsmanuals gekommen, des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-I). Diagnostik war für die amerikanische psychiatrische Praxis der Nachkriegszeit keine besonders zentrale Aufgabe gewesen und der erstmals erschienene diagnostische Leitfaden bildete kein gemeinhin verbindliches Manual. In der ersten Fassung des DSM bildeten sich vor allem die Sichtweisen der dynamischen Psychiatrie ab, die Mitte des 20. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten dominant waren.76 Auch eine zweite Fassung des diagnostischen Manuals (DSM-II) aus dem Jahr 1968 blieb dieser theoretischen Ausrichtung treu.77 Sie unterschied sich damit in ihrer grundsätzlichen Ausrichtung stark von einer in der BRD gebräuchlichen Psychopathologie, die sich eher in der phänomenologischen Tradition Karl Jaspers’ und Kurt Schneiders verortete. Insgesamt beinhaltete die zweite Fassung des DSM nur 26 Diagnosen, die grobe Raster für Begriffe wie zum Beispiel Schizophrenie boten. Diese 73 74 75 76
Boyle 1990, S. 91. Kendell 1978, S. 95. Kendell 1978, S. 97ff. Mayes/Horwitz 2005, S. 248. Das DSM-I stand dabei vor allem in der Tradition des amerikanischen Psychiaters Adolf Meyer (1866–1950). Meyer hatte in der Schweiz bei Auguste Forel studiert und seine eigene psychiatrische Lehre vor allem auf den Gedanken der Psychobiologie fokussiert. Er glaubte, dass Nervenkrankheiten eher Ausdruck einer Persönlichkeitsstörung als einer Hirnkrankheit seien. Ein weiteres Interesse Meyers stellte die Standardisierung von Fallgeschichten dar (vgl. http://www.medicalarchives.jhmi.edu/ sgml/amg-d.htm, Stand 10.12.2009). 77 American Psychiatric Association 1968.
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wenig operationalisierten Kategorien ließen viel Raum für Beurteilungen und Interpretationen, sodass sie den einzelnen PsychopathologInnen in ihrer jeweiligen Klinik die Möglichkeit gaben, sie nach ihren Maßgaben zu füllen.78 Insgesamt fokussierte sich auch die zweite Fassung des DSM vor allem auf die ganze Person und betrachtete die Übergänge zwischen geistiger Gesundheit und Krankheit als fließend. Gerade nach dem Zweiten Weltkrieg war in den USA eine Klassifikation, die Spielräume für die Deutung psychischer Abweichungen als Lebensprobleme zuließ, sehr beliebt. Diese Öffnung machte die US-Psychiatrie jedoch auch angreifbar und isolierte sie mehr und mehr von anderen medizinischen Disziplinen. Daher forderte eine zunehmende Anzahl von PsychiaterInnen eine Vereinheitlichung psychiatrischer Begriffe. Auch das staatliche Krankenversicherungssystem (medicaid) drängte auf eine Grundlegung der Diagnostik in der US-Psychiatrie, welche die somatischen und therapeutischen Effekte besser messbar machen sollte. Durch die zunehmende Behandlung von Alltagsproblemen waren auch die durch Psychotherapie verursachten Kosten stark gestiegen, und eine ständig wachsende Zahl von PsychologInnen drängte auf den Markt. Durch die Öffnung der Psychiatrie für Lebensfragen ließ sich die Vormachtstellung der ÄrztInnen in dieser Disziplin kaum länger rechtfertigen, sodass eine Neufassung der Diagnostik eine stärkere Rückbindung an die medizinische Disziplin benötigte.79 Wie einige AutorInnen betonen, wandelte sich die US-Psychiatrie in den 1950er und 1960er Jahren von einer Disziplin, die Geisteskrankheit behandelte, zu einer Instanz, die sich mit Fragen rund um das »normale« Leben beschäftigte.80 Diese Definition öffnete auf der einen Seite Kritikern der Psychiatrie wie zum Beispiel Thomas Szasz mit seinem Buch zum »Mythos der Geisteskrankeiten«81 die Tür, die die Psychiatrisierung des Alltagslebens kritisierten. Auf der anderen Seite mussten selbst wichtige Vertreter des National Institute of Mental Health (NIMH) einräumen, dass es keinen haltbaren Begriff der »Schizophrenie« gebe, der als Grundlage für weitreichende Behandlungen herangezogen werden könne. So betonte Loren Mosher, der Leiter des NIMH, Anfang der 1970er Jahre, dass selbst ein Kernbegriff der Psychiatrie wie Schizophrenie umstritten sei. Die internationalen Untersuchungen der WHO förderten jedes Jahr völlig unterschiedliche Konzepte in den beteiligten Staaten zu Tage, und jeder Versuch, ein Herzstück der Schizophrenie zu definieren, sei bislang gescheitert.82 Diese 78 Carson 1997, S. 10ff. 79 Mayes/Horwitz 2005, S. 250ff. 80 Mayes/Horwitz 2005, S. 250ff. Diese Entwicklung der US-Psychiatrie wurde schon in den 1980er Jahren von Castel et al. treffend mit dem Wort »Psychiatrisierung des Alltags« beschrieben (vgl. Castel/Castel/Lovell 1982). 81 Szasz 1961. 82 Mosher/Feinsilver 1971, S. 6ff.
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Kritik wurde durch die als Rosenhan-Experiment bekannt gewordene Studie des amerikanischen Psychologieprofessors David Rosenhan (geboren 1928) noch zugespitzt. Dieser hatte mehrere seiner MitarbeiterInnen in psychiatrische Kliniken geschickt mit der Aufforderung, das Hören von Stimmen zu simulieren, die Worte wie »empty« oder »hollow« sagten. Obwohl die geschilderten »Symptome« in keine zeitgenössische psychiatrische Kategorie passten, wurden alle Versuchspersonen von den diensthabenden PsychiaterInnen als »schizophren« bezeichnet und in die Klinik eingewiesen. Auch nachdem die MitarbeiterInnen den Versuchscharakter ihres Besuchs offengelegt hatten, blieben sie gegen ihren Willen in der Anstalt interniert, da man ihnen vorwarf, nur zu dissimulieren. Die Versuchsergebnisse wurden Anfang der 1970er Jahre in der renommierten US-Zeitschrift Science veröffentlicht und sorgten für eine breite Diskussion der Reliabilität und Validität psychiatrischer Diagnostik.83 Zwar war die beschriebene Situation in den USA zumindest in den 1950er und 1960er Jahren nicht direkt auf die deutsche Situation übertragbar. Doch war die Psychiatrie auch in der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg in eine tiefe Krise geraten. Auch im deutschsprachigen Raum hatten die PsychiaterInnen schon seit den 1950er Jahren immer wieder Kritik an ihren Praktiken hinnehmen müssen. Die Verantwortlichkeit der Psychiatrie für die Ermordung zahlreicher PsychiatriepatientInnen im Rahmen der »Aktion T4« hatte die Disziplin starken Angriffen »von außen« ausgesetzt und auch unter den PsychiaterInnen selbst zu starken Zweifeln an der Integrität einzelner KollegInnen und Institutionen geführt. Mit dem Urteil zum Elektroschock und der Neufassung des Einweisungsrechts waren zudem auch die Praktiken der Psychiatrie in die Kritik geraten. Zwar war die bundesdeutsche Diagnostik nicht in gleicher Weise wie die US-amerikanische offen für eine Psychiatrisierung des Alltags, von der man sich in der Bundesrepublik noch entschieden abgrenzte,84 doch auch die bundesdeutsche Psychiatrie hatte sich nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmend mit PatientInnen auseinandersetzen müssen, die durch die psychischen Herausforderungen des Krieges belastet waren. So war die Psychiatrie in der Praxis unter anderem zu einer Institution der medizinischen Bearbeitung von psychischen Kriegsschäden geworden. Auch wenn sich
83 Rosenhan 1973. Zur Wichtigkeit des Rosenhanexperiments für eine Neufassung der Diagnostik in den USA vgl. Decker 2007, S. 344; Healy 2002, S. 299. 84 So führt Max Müller in der Reihe Psychiatrie der Gegenwart zum Verhältnis der deutschen gegenüber der amerikanischen Psychopathologie aus, dass die Kraepelinsche Systematik zwar erschüttert sei, es aber keine bessere Systematik gebe. Die vollständige Auflösung eines nosologischen Schemas, die er im amerikanischen Schriftentum sieht, lehnt er entschieden ab (vgl. Müller 1960, S. 30).
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die Lehrbücher in den 1950er Jahren kaum mit den psychischen Kriegsfolgen beschäftigten beziehungsweise sich nicht auf traumatisierte Soldaten, die so genannten »Kriegsneurotiker«, konzentrierten,85 kam es bei einzelnen PsychiaterInnen durchaus zu einer Auseinandersetzung mit den Veränderungen der psychiatrischen Praxis, die zu einer anderen Zusammensetzung des Krankenguts führte.86 Doch ihre Diagnostik war deshalb keineswegs präzise. So wurde auch in der frühen Bundesrepublik öffentlich über die Angst debattiert, zu Unrecht in die Psychiatrie eingewiesen zu werden, da die Psychiatrie über keine trennscharfe Diagnostik verfüge, die eine rechtmäßige von einer unrechtmäßigen Einweisung unterscheiden könne. Beispielhaft hierfür ist ein Prozess, der unter großer Anteilnahme und Presse-Echo stattfand: der Prozess um die Zwangseinweisung einer Patientin namens Lena Corten, die von ihrem Mann, einem bekannten Chirurgen, in die Psychiatrie eingewiesen worden war. Der Fall offenbarte unter anderem die Probleme zeitgenössischer psychiatrischer Klassifikationen, da die Eingewiesene von jedem Arzt eine andere Diagnose erhalten hatte, was die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Internierung erschwerte. Ein weiterer in den 1950er Jahren vorgenommener spektakulärer Versuch eines Reporters, psychiatrische Praktiken in Augenschein zu nehmen, liest sich fast als Vorgänger des Rosenhan-Experiments. Um die Zustände in der Psychiatrie zu untersuchen, ließ sich der für eine Illustrierte tätige Journalist mit der Diagnose Morphinismus in die Psychiatrie einweisen – er täuschte diesen mit sich selbst zugefügten Nadelstichen in den Unterarm vor. Doch auch nachdem er von einem Dritten enttarnt worden war und 85 Kloocke/Schmiedebach/Priebe 2005. 86 Der Freiburger Psychiater Hans Ruffin arbeitete heraus, dass die psychiatrische Diagnostik und Epidemiologie stark von den gesellschaftlichen Veränderungen der Kriege geprägt sei: »Hierfür kann man zunächst die bekannte Feststellung anführen, daß sich heute unser psychiatrisches Krankengut ganz anders als vor 30 Jahren zusammensetzt. Es gibt in unseren Kliniken mehr exogene Psychosen, Konfliktreaktionen, Neurosen und Menschen, die früher zum Seelsorger gingen und heute zu uns kommen. Die Schicksalsschläge und Erfahrungen der beiden Kriege, die Katastrophen und Unmenschlichkeiten und die hiermit im Zusammenhang stehenden Phänomene der Belastungen, Ausweglosigkeiten, Suizidversuche und Halbstarken haben uns zu andersartigem diagnostischen Befragen und therapeutischen Bemühungen geführt« (Ruffin 1959, S. 509). Unklar bleibt in dem Zitat, ob Ruffin sich ausschließlich auf Soldaten oder auch auf die »traumatisierte« Zivilbevölkerung bezieht. Wie Svenja Goltermann betont, mussten sich die PsychiaterInnen mit der Anerkennung des »erlebnisbedingten Persönlichkeitswandels« als echter Krankheit im Laufe der 1960er Jahre von der Definition eines naturwissenschaftlich fokussierten Krankheitsbegriffs, wie ihn Kurt Schneider vertreten hatte, lösen. Ab diesem Zeitpunkt habe sich immer mehr ein Konzept von Persönlichkeit als ein wandelbares Phänomen durchgesetzt, was auch die Auffassung von psychischem Leiden als Kriegsfolge, die somit entschädigungswürdig gewesen sei, erleichterte (vgl. Goltermann 2002).
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selber einräumte, dass er die Geschichte nur erfunden habe, wurde er nicht aus der Klinik entlassen, sondern blieb über Nacht in einem Keller eingesperrt. Seine Erlebnisse veröffentlichte der Reporter anschließend in der Illustrierten Kristall.87 Die infolge des Vorfalls breit in der Öffentlichkeit diskutierte Unsicherheit der psychiatrischen Diagnose brachte die Psychiatrie auch in der Bundesrepublik in die Defensive. Sie bildete eine Grundlage dafür, dass die Ergebnisse des Rosenhan-Experiments schnell aufgenommen und die durch den Versuch ausgelöste Kontroverse in einem Buch dokumentiert wurde.88 Auch aus der Häufung derartiger spektakulärer Fälle ergab sich die Notwendigkeit, neue reliable Formen der psychiatrischen Diagnostik zu entwickeln. International waren es die USA, die als erste Nation mit einer Umgestaltung ihrer Diagnosemanuale einen zentralen Schritt in diese Richtung vollzogen.
Vom DSM-II zum DSM-III: ein Ausblick Der Blick auf die Geschichte der psychiatrischen Diagnostik nach dem Jahr 1945 hat gezeigt, dass ihre Modifikation sich international im Spannungsfeld von Legitimation und Kritik der psychiatrischen Profession vollzog. In diesem Sinne ist auch die Umgestaltung der Diagnosemanuale als »verhandelte soziale Ordnung« zu begreifen. Es waren weniger wissenschaftliche Fortschritte in der Diagnostik, sondern vor allem politische und ökonomische Interessen, die Ende der 1970er Jahre zunächst in den USA, später jedoch auch in der Bundesrepublik Deutschland, eine Neufassung der Diagnostik notwendig machten. Denn auch das staatliche USKrankenversicherungssystem zweifelte zunehmend die psychiatrische Legitimität an und wollte die Frage, ob eine Person als »psychisch krank« zu bezeichnen sei, klar messbar beantwortet wissen. Diese Frage wurde für die USA auch deshalb zu einer relevanten Größe, weil die Kosten für Psychotherapie inzwischen dem staatlichen Gesundheitssystem kaum mehr hinnehmbar erschienen. Aber auch die zunehmende Verschreibung von Psychopharmaka erforderte verschiedene, unterscheidbare Krankheitseinheiten, auf die sie zu wirken hatten. Es sollten nun standardisierte und quantifizierende psychiatrische Diagnosen gebildet werden, die sowohl die Effektivität der Psychopharmaka als auch die anderer Behandlungen
87 Noack 2006, S. 324ff. Die Untersuchung der psychiatrischen Anstalten durch interessierte »Bürger« blieb kein Einzelfall. Auch der Lehrer Frank Fischer ließ sich in den 1960er Jahren in die Psychiatrie einweisen, um anschließend die dortigen Zustände zu skandalisieren (vgl. Fischer 1969). 88 Keupp 1979. Dem Buch war 1972 eine Diskussion des »Krankheitsmythos« in der Psychopathologie vorausgegangen (vgl. Keupp 1972).
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messbar machten.89 Die geschilderten Entwicklungen bildeten einen Rahmen dafür, das DSM als Forschungssystem zu etablieren, das vor allem reliabel sein sollte. Neue Fassungen der psychiatrischen Diagnostik sollten sich enger an der Diagnostik der übrigen Medizin orientieren, ohne wegen der ungeklärten Ätiologie der meisten psychischen Abweichungen ständig im Zentrum der Kritik zu stehen. Darüber hinaus war es wichtig, die Grenze zwischen »gesund« und »krank« wieder schärfer ziehen zu können. Eine neues amerikanisches Diagnosesystem sollte sich in Abgrenzung zu dem zeitgenössischen Diagnosemanual der WHO, der ICD-9, entwickeln, mit der die PsychiaterInnen die Probleme der psychiatrischen Diagnostik nicht gelöst sahen. Bereits Mitte der 1960er Jahre waren von dem US-amerikanischen Psychiater John Feighner (1937–2006) Kriterien gefordert worden, auf die sich jede psychiatrische Beschreibung beziehen sollte. Feighner forderte, dass sich jede Diagnosestellung auf eine klinische Beschreibung, zugrunde liegende Laborstudien, Ausschlusskriterien für PatientInnen mit anderen Krankheiten und eine Einbeziehung der Familiengeschichte der Untersuchten zentrieren solle. Der Autor veröffentlichte erstmals in den frühen 1970er Jahren zusammen mit anderen ForscherInnen eine detaillierte Beschreibung dieser als Feighner-Kriterien bekannt gewordenen Merkmale.90 Der US-Psychiater Gerald Klerman bezeichnete die Gruppe um Feighner auch als Neo-Kraepelinianer, deren zentrales Anliegen es sei, die Psychiatrie wieder stärker an den Rest der Medizin anzubinden.91 Die Gruppe wollte ein neues Klassifikationsmanual generieren, das nicht mehr – wie das DSM-II – aus der (psychoanalytischen) Theorie, sondern aus der Empirie entstehen sollte.92 Dabei orientierten sie sich an einigen Gedanken, die von Emil Kraepelin schon um 1900 in die Psychiatrie eingeführte worden waren. Zunächst mussten die beschriebenen Einheiten deskriptiv sein und als unterscheidbare Krankheiten erkennbar werden. Darüber hinaus sollte das neue diagnostische Manual vor allem empirisch vorgehen.93 Unter der 89 Mayes/Horwitz 2005, S. 250ff. 90 Decker 2007, S. 346; zu den Feighnerkriterien vgl. Feighner et al. 1972. 91 Klerman 1978, S. 104ff. Dabei stützen sich die Neokraepelinianer nach Klerman auf folgende Thesen: Die Psychiatrie sei Teil der Medizin, sie benutze wissenschaftliche Methoden und gründe ihre Praxis auf Wissenschaft. Es gebe psychische Krankheiten, ihre Heilung sei Aufgabe der Medizin, wobei der Fokus auf den biologischen Aspekten liegen solle. Gesundheit und psychische Krankheit seien klar abgrenzbare Kategorien, wobei die Psychiatrie nur Letztere behandle. Schließlich sollten Forschungskriterien an die Diagnostik angelehnt werden und mit statistischen Mitteln reliabel und valide gestaltet werden. 92 Kirk/Kutchins 1992, S. 7; Mayes/Horwitz 2005, S. 250. Allein die Anzahl der Seiten stieg von 134 des DSM-II auf 494 des DSM-III (vgl. American Psychiatric Association 1968 und 1983). 93 Kirk/Kutchins 1992, S. 5ff.
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Federführung von Robert Spitzer (geboren 1932) wurde das Manual mit mehreren Achsen versehen, die es zum Forschungssystem machen sollten. Im Mai 1975 wurde auf der Jahrestagung der American Psychiatric Association der erste Entwurf des DSM-III vorgestellt und in den darauffolgenden Jahren auf jeder Jahrestagung weiter diskutiert. Auf einem Sonderkongress im Juni 1976 wurde die Vorfassung des Manuals vor etwa 100 interessierten Mitgliedern zur Diskussion gestellt und deren Anregungen in die Neufassung des Diagnosehandbuchs aufgenommen.94 Das DSM -III leitete sich also nicht mehr aus der Theorie her, sondern seine Inhalte wurden in weit höherem Maße als diejenigen früherer Diagnosemanuale im Aushandlungsprozess in Akteursnetzwerken von PsychiaterInnen festgelegt. Im Zentrum der Bemühungen in der Entwicklung des neuen Diagnosemanuals stand dessen Anwendbarkeit durch die breite Masse der PsychiaterInnen, weshalb das DSM-III vor seinem ersten Erscheinen zwei Jahre im Feldversuch getestet wurde.95 Als Antwort auf die Vorbehalte der KritikerInnen, die sich im Laufe der ersten Testungen Gehör verschafft hatten, sollten auf den Achsen auch physische Störungen, psychosoziale Stressoren und Funktionsstörungen erfasst werden.96 Spitzer und seine Kollegen hofften, durch die konsequente Anwendung der Feighner-Kriterien die Reliabilität des Manuals zu erhöhen, um eine Antwort auf die am häufigsten vorgebrachte Kritik der mangelnden Messgenauigkeit psychiatrischer Diagnosen geben zu können.97 Die Angemessenheit der Kriterien, die man für Diagnosen wie Schizophrenie anlegte, wurden in der Entstehungsphase des DSM-III hingegen wenig diskutiert, da man vor allem die Forschungsaspekte in den Vordergrund stellte.98 Es wurde deshalb von einigen ForscherInnen kritisiert, dass
94 Köhler/Saß 1984a, S. 6. Zusätzlich wurden Vorfassungen des Manuals auf verschiedenen nationalen und internationalen Kongressen und Fachtagungen vorgetragen. 95 Köhler/Saß 1984a, S. 7. Diese Feldversuche fanden mit Unterstützung des National Institute of Mental Health vom September 1977 bis zum September 1979 statt. 96 So wurden auf den Achsen I und II »psychische Störungen«, auf der Achse III »körperliche Faktoren«, auf der Achse IV die »Schwere der psychischen Belastungsfaktoren« und auf der Achse V das »höchste Niveau der sozialen Anpassung im letzten Jahr« notiert (Köhler/Saß 1984a, S. 11). 97 Decker 2007, S. 352. Spitzer grenzte sich aber durchaus von den Zielen der Neo-Kraepelinianer ab, wenngleich er die Feighner-Kriterien konsequent anwendete. 98 So wird von den Herausgebern eine geringe Validität eingeräumt (Köhler/Saß 1984b, S. XIV).
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man mit dieser Herangehensweise der Wahrheit über die »psychischen Störungen« nicht näher käme.99 Obwohl das neue Manual atheoretisch vorging und auf Angaben zur Ätiologie verzichtete, richtete es sich an einer insbesondere für die Evaluation psychotroper Stoffe notwendigen Syndromorientierung aus.
4.5 Von der Wirkung zur Diagnose: ein Paradigmenwechsel in der Bestimmung p s yc h i s c h e r K r a n k h e i t e n »Weil sie regelmäßig und beständig wirken, können Krankheiten durch die ›pharmakologische Untersuchung‹ bestimmt werden. Die physiologische Therapie ist von fundamentaler Bedeutung für die psychiatrische Nosographie und die Suche nach den Ursachen und Mechanismen, die Geisteskrankheiten entstehen lassen. Die Psychiatrie hat einen zuverlässigen Zeugen gefunden: Die Reaktion eines Patienten auf eine Behandlung ist eine Methode, um die Richtigkeit der Diagnose zu prüfen. Die Geistesmedizin tritt in das Zeitalter der pharmakologischen Untersuchung ein.«100
Mit diesem Worten hebt Alain Ehrenberg die Bedeutung hervor, welche die Psychopharmaka für eine Neufassung der Diagnostik im DSM-III besaßen. Dabei waren, wie ich aufgezeigt habe, die Effekte der Psychopharmaka keineswegs so zuverlässige Zeugen, wie das Zitat zunächst suggeriert, denn die Reaktionen der PatientInnen zeigten große interindividuelle Differenzen. Gleichzeitig wurde aber der Nachweis eines direkten Effekts der Psychopharmaka für einen Wirksamkeitsnachweis im Laufe der Etablierung der neuen Substanzen immer zwingender und benötigte operationalisierbare psychiatrische Kategorien. Darüber hinaus wurde eine reliable Diagnostik zentral, um die Psychiatrie vor den Angriffen ihrer KritikerInnen zu schützen. Es lag also nahe, die psychiatrische Diagnostik so zu organisieren, dass sie eine experimentelle Basis für die Therapie bot. Schon in der ersten Ausgabe des DSM-III aus dem Jahr 1980 definierte die als Herausgeberin fungierende American Psychiatric Association (APA) die klinischen Kriterien zur Erstellung einer Diagnose maßgeblich als Identifizierung einer Gruppe von Zuständen, die valide im Sinne einer unterschiedlichen Reaktion auf somatische Therapien seien, wobei die PsychiaterInnen vor allem an die neuen Psychopharmaka dachten.101 Bereits 99 Vgl. unter anderem Boyle 1990, S. 114ff.; Carson 1997. Diese Diskussion lässt sich in dem Vorwurf zusammenfassen, dass das DSM-III die Reliabilität der Validität vorziehe. 100 Ehrenberg 2004, S. 68. 101 So führt die deutsche Übersetzung dazu aus: »Die Wirksamkeit verschiedener Therapieformen ist nur zu vergleichen, wenn die Patientengruppen
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wenig später wurde das DSM-III aufgrund seiner zentralen Bedeutung ins Deutsche übersetzt und sollte als Leitfaden für die psychiatrische Diagnostik dienen. Auch in der deutschen Ausgabe wurde auf die Wichtigkeit der Neufassung der Diagnostik bei der Beurteilung der Wirksamkeit somatischer Therapien hingewiesen. So führten die Herausgeber zur besonderen Bedeutung des Diagnosemanuals aus: »Vor allem aber wird die vom DSM-III ermöglichte diagnostische Präzision großen Einfluß darauf gewinnen, wie in Zukunft die psychiatrische Behandlung durchgeführt wird. Dies betrifft z. B. die Notwendigkeit, die zahlreichen heute verfügbaren psychotropen Substanzen spezifischer einzusetzen. Mit der Anwendung der DSM-III-Kategorien ist die Hoffnung verbunden, daß sich reliablere und validere Prädiktoren dafür bestimmen lassen, welche Typen von Patienten auf welche Klassen von Medikamenten günstig reagieren.«102
Indem die Neufassung des DSM sich vor allem um die Vergleichbarkeit bestimmter Symptome und die Bildung von Gruppen bestimmter PatientInnen bemühte, ermöglichte sie eine Messung der Wirksamkeit von Psychopharmaka und legitimierte diese als Therapieform vor den konkurrierenden Psychotherapien.103 Doch mit der neuen Diagnostik sollte auch die Beziehung zwischen Diagnose und Behandlung neu definiert werden. Eine erfolgreiche psychopharmakologische Therapie wurde so zum Synonym für eine gute Prognose, während eine nicht zu beobachtende Modifikation nach der Einnahme eines Medikaments zu der Idee führte, es trete keine Veränderung im Verhalten mehr ein.104 Die Verschiedenartigkeit der Effekte der Medikamente einer Klasse und die interindividuell unterschiedlichen Reaktionen der PatientInnen veränderten aber auch die Bilder abweichenden Verhaltens in den psychiatrischen Kliniken selbst. Dabei wurde zur Schlüsselfrage, ob die Psychopharmaka die Begriffe der »Geisteskrankheiten« umwälzten oder ob sie vor allem die »Krankheitsbilder« veränderten, mit denen die PsychiaterInnen zu tun hatten.105 Zunehmend wurde von KritikerInnen auch die Frage aufgeworfen, ob es sich beim DSMIII nicht weniger um ein klinisches Manual als um ein Forschungssystem für angewandte biologische Wissenschaften handle.106 Die sich ausschließlich auf Symptome und Symptomcluster fokussierende Diagnostik des DSM-III entsprach am ehesten der Orientierung an
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mit klar definierten diagnostischen Begriffen beschrieben werden« (Köhler/Saß 1984a, S. 3). Köhler/Saß 1984b, S. XIV. Pignarre 2006, S. 66. Boyle 1990, S. 95ff. Ehrenberg 2004, S. 111. Carson 1997.
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den in der Psychopharmakologie schon lange diskutierten Freyhanschen Zielsymptomen. Sie war in ihrer Ausrichtung gut anschlussfähig an Forschungssysteme wie das in der Bundesrepublik Deutschland entwickelte AMP-Manual. Vor allem bot aber die Neufassung der Diagnostik im globalen Kontext um das Jahr 1980 erstmals die Möglichkeit, psychiatrische Diagnosen in experimentelle Begriffe zu übersetzen. Sie stellte damit ein Papierwerkzeug107 dar, das die bislang bestehende Lücke zwischen den theoretisch begründeten psychiatrischen Diagnosen und den operationalisierbaren und quantifizierbaren Begriffen schloss, die die ForscherInnen für eine experimentelle Wirksamkeitserfassung der Psychopharmaka benötigten. Die dritte Fassung des DSM war deshalb gerade für die psychopharmakologische Forschung und die pharmazeutische Industrie von großer Bedeutung, da sie auf eine für alle verbindliche und staatlich anerkannte Weise die Testung neuer Substanzen ermöglichte.108 Doch das neue Manual veränderte auch den Status des Patienten. Das multiaxiale System erleichterte eine biopsychosoziale Bewertung. Dadurch musste sich der behandelnde Psychiater vor allem für Symptome und weniger für die Lebensgeschichte des Untersuchten interessieren, was die Befragungssituation in der Klinik entscheidend veränderte.109 Diese Herangehensweise wurde auch mit der Kraepelinschen Zergliederung der Seelenzustände im Labor in Verbindung gebracht, weshalb das DSM-III von seinen KritikerInnen schon in der Entstehungsphase des Antihumanismus bezichtigt wurde.110 Durch die zentrale Stellung, die der Statistik in der Generierung der Symptome zukam, wurden die Schwierigkeiten der Diagnostik von praktischen in technische Probleme transformiert.111 Diese Neufassung der Begriffe war aber weit entfernt von der klinischen Praxis, die mit den Unsicherheiten im Verhalten des Patienten umgehen musste und für die das neue System vor allem ein abstraktes, an experimentellen Forschungsinteressen orientiertes Gebilde darstellte, mit dem die Kliniker den Behandelten nicht mehr in den Blick bekamen. Das dem neuen Klassifikationssystem zugrunde liegende Denken löste sich von dem direkten Blick auf den Patienten und fokussierte vor allem auf eine als von ihm
107 Klein 2003. 108 Auch in Deutschland wurde in den 1980er Jahren eine Orientierung an funktionellen Klassifikationen gefordert, die klare Behandlungserfolge operationalisierbar machen und die klinische Diagnose ersetzen sollten (vgl. Buller/Maier 1990; Benkert/Maier/Rickels 1990). 109 Ehrenberg 2004, S. 186. Für eine ähnliche Transformation vgl. die Diskussionen um das AMP-Manual. 110 Decker 2007, S. 352. Wie Decker an dieser Stelle herausarbeitet, war auch Kraepelin oft für den Verlust der Humanität kritisiert worden, da er den Patienten nicht mehr als Individuum in den Blick nahm. 111 Kirk/Kutchins 1992, S. 13ff.
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abgetrennt erscheinende Störung oder Krankheit, die nicht mehr in den Kontext ihrer gesellschaftlichen Entstehungszusammenhänge gestellt wurde.112 Im globalen Kontext setzte sich somit eine Entwicklung durch, die in der BRD mit der Entwicklung des AMP-Systems bereits einige Jahre vorher in ersten Schritten vollzogen worden war. Durch die geschilderte Kritik der Öffentlichkeit hatte sich auch für die bundesdeutsche Psychiatrie die Notwendigkeit ergeben, Modifikationen der ungenauen Diagnostik vorzunehmen. Dies lässt sich auch daran erkennen, das anders als die vorherigen Auflagen des Manuals das DSM-III erstmals auch ins Deutsche übersetzt wurde und einen zentralen Einfluss auf die diagnostische Praxis der bundesdeutschen PsychiaterInnen ausübte.113 Das neugestaltete System wurde schließlich in seiner Systematik in der neuen Fassung des Manuals der WHO, der ICD-10, weitestgehend übernommen.114 In der Einleitung zur deutschen Ausgabe des DSM-III wurde der Paradigmenwechsel in der Psychiatrie betont, der mit der Einführung neuer Therapien verbunden war: »Eine empirische Orientierung, die auf der strengen naturwissenschaftlichen Methodologie beruht, wird heute in fast allen medizinischen Fachgebieten als selbstverständlich angesehen. In der Psychiatrie dagegen mit ihren vielfältigen Beziehungen zu den geistes- und gesellschaftswissenschaftlichen Fächern ist dies durchaus umstritten. Hier liegt einer der wesentlichen Gründe dafür, daß eine Reihe von Schulen in psychiatrischen Kreisen so bestimmend werden konnten und hier und da ihren Einfluß immer noch behaupten. [...] Seit dem zweiten Weltkrieg wurde zunehmend deutlich, daß auch die Psychiatrie dringend
112 Vgl. unter anderem Boyle 1990, S. 81. 113 American Psychiatric Association 1983. Durch eine frühe deutsche Übersetzung wurde es für den deutschsprachigen Raum ein zentrales Werk (vgl. Köhler/Saß 1984). So betonte ein Psychiater in seinem Vorwort der bereits im Jahr 1984 erschienenen deutschen Ausgabe des DSM-III: »Es spricht für die herausragende Bedeutung des 1980 in dritter und völlig veränderter Auflage erschienenen ›Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders’, daß schon vier Jahre später eine deutschsprachige Fassung, der Übersetzungen in andere Sprachen zuvorgekommen sind, keiner Empfehlung mehr bedarf. Für die mit Fragen der psychiatrischen Diagnostik und Systematik befaßten Autoren ist die Berufung auf das DSM-III bereits selbstverständlich geworden« (Janzarik 1984, S. V). Das DSM-II hingegen wurde nicht ins Deutsche übersetzt. 114 Die erste Fassung der ICD-10 wurde von der World Health Assembly 1990 verabschiedet und ab 1994 in den WHO-Mitgliederstaaten gültig (vgl. /www.who.int/classifications/icd/en/International Classification of Diseases (ICD), letzter Zugriff am 10.12.2009). Erstmalig erschien die zehnte Revision der »Internationalen Klassifikation psychischer Störungen« in Deutschland im Jahr 1991 (vgl. Dilling/WHO 1991).
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unabhängige Möglichkeiten benötigt, um die tradierten Überzeugungen der verschiedenen Schulen über die Ursachen der psychischen Störungen, ihre nosologische Gliederung und die Wirksamkeit der einzelnen Behandlungsmethoden empirisch zu analysieren.«115
Die Autoren führten aus, dass die Psychiatrie immer noch darauf angewiesen sei, entlang klinischer Beschreibungen zu klassifizieren, dazu jedoch empirische Konzepte benötige, die insbesondere hinsichtlich der Vorhersage des Ansprechens auf verschiedene Therapieformen Gültigkeit besäßen. Bei der bisherigen bundesdeutschen Diagnostik habe es sich im Wesentlichen um kategoriale und nosologische Einschätzungen gehandelt, die anders als Werte aus Schätzskalen und Persönlichkeitsfragebögen nicht in dimensionale Messsysteme übersetzbar seien. Die mangelnde Messgenauigkeit bestehender psychopathologischer Begrifflichkeiten habe schließlich zu einer erheblichen »Krise der psychiatrischen Diagnostik« geführt.116 Die neue Fassung des DSM ermögliche einen Ausweg aus dieser Krise, auch wenn dafür bestimmte psychopathologische Traditionen der bundesdeutschen Psychopathologie aufgegeben werden müssten, die PsychiaterInnen in der Nachkriegszeit zu bewahren versucht hätten. Schon im Titel der deutschen Ausgabe versuchten die AutorInnen jedoch derartige Ängste auszuräumen. Unter der Überschrift »Droht eine Amerikanisierung der deutschsprachigen Psychiatrie?«117 wurde dieser Furcht entgegengearbeitet, indem sie betonten, wie stark die Bezüge jenes neuen Diagnosemanuals zur deutschen psychopathologischen Tradition seien.118 Mit der Einführung des DSM-III, dessen Systematik im Großen und Ganzen auch die zukünftige Gestaltung der psychiatrischen Diagnosemanuale bestimmen sollte,119 war ein Wechsel von einer theoretisch orientierten zu einer empirischen und experimentellen psychiatrischen Diagnostik vollzogen worden. Gerade für die bundesdeutsche Psychopharmakaforschung wurde mit den Änderungen der Arzneimittelgesetzgebung vom
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Köhler/Saß 1984b, S. IX. Köhler/Saß 1984b, S. X; Köhler/Saß 1984b, S. XI. Köhler/Saß 1984b. So wurde betont, dass das DSM-III Erlebnissymptomen im Jasperschen Sinne einen großen Platz einräume, psychodynamische Aspekte entgegen der amerikanischen Tradition in diesem Bereich hingegen kaum berücksichtige. Darüber hinaus stelle das DSM-III im Prinzip einen Höhepunkt der Renaissance der Kraepelinschen Grundanschauungen über die affektiven Störungen und die Schizophrenie dar. Außerdem würden die Symptome ersten Ranges nach Schneider in der Diagnose der Schizophrenie wieder mehr Bedeutung erhalten (vgl. Köhler/Saß 1984b, S. XII). 119 So waren die ICD-10 und das DSM-IV nach dem Vorbild von DSM-III aufgebaut.
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Jahr 1976 ein nach experimentellen Kriterien definierbarer und stabilisierbarer Wirksamkeitsbegriff der Neuroleptika zentral. In den Diskussionen der AGNP hatten sich schon im Laufe der 1960er Jahre erste Aufschreibsysteme und eine an quantifizierbaren Parametern orientierte Datenerhebung immer weiter durchgesetzt. Diese Übersetzung der psychiatrischen Nosologie in experimentelle Begriffe bildete die Grundlage für die in der Psychopharmakologie dringend benötigten abstrakten Zeichen, die als Repräsentationen die Leerstellen eines zu generierenden Wirksamkeitsbegriffs füllen sollten. Sie bildeten die Voraussetzung dafür, weitere statistische Abstraktionen und Verschiebungen vornehmen zu können. Für einen experimentellen Wirksamkeitsbegriff war darüber hinaus eine Modifikation der Versuchsanordnung entscheidend, welche die Erprobung neuer Substanzen und die Beschreibung ihrer Effekte an die Erfordernisse eines Experiments anlehnen sollte. Doch wie sah es in den Diskussionen innerhalb der AGNP mit der Übernahme einer experimentellen Versuchsanordnung in der Psychopharmakaforschung aus? Wie ich herausgearbeitet habe, mussten die PsychiaterInnen in der BRD zunächst eine schrittweise Übersetzung der gängigen Psychopathologie in experimentelle Begriffe leisten.120 Dies bildete die Voraussetzung für die Frage nach einer weiter gehenden Ausrichtung des klinischen Versuchs an Erfordernissen eines Experiments in der Psychopharmakaforschung. Erst die Diskussionen um einen Wirksamkeitsbegriff im Kontext staatlicher Regulationsbemühungen des Arzneimittelmarktes ließen diese Frage wieder zentral werden. Die Debatten um die Wirksamkeit der Neuroleptika sollen deshalb vor dem Hintergrund der Arzneimittelregulation in der BRD nachgezeichnet werden, da das neue Arzneimittelgesetz aus dem Jahr 1976 einen Wirksamkeitsbegriff zur Diskussion stellte. Entlang der Debatten um die neuroleptische Wirksamkeit sollte auch der psychiatrische Krankheitsbegriff zum wiederholten Male in den Blick geraten.
120 Vgl. IV.3.3.
5 . Der Be griff der neuroleptischen Wirksamkeit im Spa nnungsfe ld der Disk uss ione n um ein neues Arzneimittelgesetz
»Das Fehlen eines praktikablen, auch logisch einigermaßen haltbaren psychiatrischen Krankheitsbegriffes muß als erheblicher Mangel empfunden werden. Eine solche begriffliche Grundlage wäre nicht nur für den Wirksamkeitsnachweis von Psychopharmaka, sondern auch für das praktische psychiatrische Handeln entscheidend notwendig, wie die gegenwärtigen Verhältnisse in psychiatrischen Anstalten zeigen.«1
Mit dieser Kritik brachte der anthroposophische Neurologe und Gesundheitspolitiker Gerhard Kienle (1923–1983) den Zusammenhang zwischen einem Wirksamkeitsnachweis der Psychopharmaka und den Problemen der zeitgenössischen psychiatrischen Diagnostik auf den Punkt. Bereits zu Beginn der 1970er Jahre hatte sich Kienle für einen Wirksamkeitsbegriff im deutschen Gesundheitswesen eingesetzt, der auch der homöopathischen und anthroposophischen Medizin gerecht werden sollte. In seiner Rolle als wissenschaftlicher Gutachter des Arzneimittelausschusses des Bundestages hatte er die methodenpluralistische Fassung des Arzneimittelgesetzes vom Jahr 1976 entscheidend mitzuverantworten.2 Kienles Auffassung zufolge ließ sich Wirksamkeit – als klinische Bedeutsamkeit eines Arzneimittels – nicht allein naturwissenschaftlich definieren. So sei gerade in der Psychiatrie der ihr zugrunde liegende Krankheitsbegriff nicht durch eindeutige Befunde zu stützen.3 Anders als die
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Kienle 1974, S. 264. Eschenbruch 2008. Kienle 1974, S.111. Bisher sei aber die Psychiatrie unter anderem an einem somatischen Begriff der Schizophrenie gescheitert.
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Wirkung – als direkt messbarer physiologischer Effekt eines Medikaments – benötige die Wirksamkeit einen klaren Krankheitsbegriff, der in der Psychiatrie jedoch fehle. Psychopharmaka stellten für Kienle somit einen Prototyp von Medikamenten mit Wirkung, aber ohne Wirksamkeit dar, da ihre Effekte nur symptomatisch zu nennen seien.4 Auch Ute Stapel arbeitet heraus, dass sich der Begriff der Wirksamkeit vor allem auf die Anwendungsgebiete fokussiere, in denen ein Medikament therapeutisch eingesetzt werde. Wirksamkeit sei in diesem Sinne in erster Linie ein ärztlich wertender Begriff, der Heilung definiere.5 Eine klare Unterscheidung der Begriffe der Wirkung und der Wirksamkeit wurde in der BRD erstmals mit dem Arzneimittelgesetz vom Jahr 1976 bedeutsam, denn in diesem wurde nicht mehr nur die Unschädlichkeit eines Medikaments, sondern auch dessen Wirksamkeit zur Zulassungsvoraussetzung gemacht.6 So nahmen im Laufe der 1970er Jahre die Anforderungen an die klinische Prüfung Schritt für Schritt zu und wurden vermehrt zum Diskussionsgegenstand, wie sich am Beispiel der bundesdeutschen Psychopharmakologie zeigen lässt. Schon Mitte der 1960er Jahre hatte eine neue EG-Richtlinie untersagt, Arzneimittel in den Verkehr zu bringen, wenn ein Nachweis ihrer Wirksamkeit fehle. Eine nationale Umsetzung des Gesetzes stieß beim Bundesgesundheitsamt jedoch auf Kritik, erst langsam setzte sich die Einsicht in die Notwendigkeit durch, vor der Zulassung eines Medikaments auch die therapeutische Effektivität zu überprüfen.7 Mit ihrer zunehmenden Wichtigkeit gerieten jedoch auch die verschiedenen methodischen Probleme einer Wirksamkeitserfassung in den Blick. Im Zentrum der Diskussion stand die Frage, welche Methoden der Überprüfung zu obligatorischen Durchgangspunkten für den therapeutischen Wert eines Arzneimittels werden sollten. Nicht ob, sondern wie die Beteiligten Wirksamkeit erfassen sollten, wurde dabei zum Streitpunkt. Abhängig von der wissenschaftlichen Ausrichtung gerieten dabei das Experiment, die Stellung ärztlicher Erfahrung und die Struktur der klinischen Prüfung besonders in den Blick. Dies geschah vor dem Hintergrund, dass pharmakologische Experimente 4 5 6 7
Kienle 1974, S. 108ff. Stapel 1988, S. 381. Zum Arzneimittelgesetz von 1961 vgl. II.4. Stapel 1988, S. 430. Wie bereits in Kapitel II.4. ausgeführt wurde, musste seit dem Jahr 1971 der Landesbehörde gemeldet werden, an welcher Einrichtung und unter wessen Leitung eine klinische Prüfung erfolge. Dabei wurde auch erstmalig die Testung neuer Medikamente in drei Phasen diskutiert: In der ersten Phase solle das Medikament an Gesunden erprobt, in der zweiten Phase an kleineren Krankheitsgruppen getestet und in der dritten Phase an einer entsprechend großen Zahl von PatientInnen verwendet werden. In einer vierten Phase sollten bereits zugelassene Substanzen weiter erforscht werden (vgl. Stapel 1988, S. 410ff.).
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nur Vermutungen über die therapeutische Wirksamkeit zuließen, während die einfache ärztliche Beobachtung international in Misskredit geraten war.8 Die politische Diskussion über einen Wirksamkeitsbegriff konzentrierte sich im Zuge der Entwicklung eines neuen Arzneimittelgesetzes auch in der BRD nun auf den kontrollierten klinischen Versuch. Dieser machte den Nachweis zur methodisch begründeten Wahrscheinlichkeitsaussage, die den Spielraum für die subjektive Erfahrung von Arzt und Patient minimieren sollte. In der Folge dieser den gesamten Arzneimittelmarkt in der BRD betreffenden Entwicklung stellte sich die Frage, wie die PsychopharmakologInnen sich in der Diskussion um die richtige Methodik des klinischen Versuchs verorteten. Diese Diskussionen um eine richtige Beweisführung sind besonders deshalb interessant, weil der bundesdeutsche Staat die Richtlinien für einen Wirksamkeitsnachweis nicht einfach festsetzte. Vielmehr sollten nach den Forderungen des Gesetzgebers vor Inkrafttreten des Arzneimittelgesetzes im Januar 1978 einzelne Disziplinen in Medizin und Pharmazie neue Methoden der Medikamententestung entwickeln.9 Gleichzeitig wurde aber die Wichtigkeit einer staatlich überprüfbaren Wirksamkeitsbeschreibung Mitte des Jahrzehnts auch der deutschen Psychopharmakaforschung immer bewusster, wenngleich ein Wirksamkeitsbegriff weitgehender als in den USA von den Interessen der beteiligten pharmazeutischen Industrie und der Ärzteschaft gesteuert war.10 Schon Anfang der 1960er Jahre war eine zunehmende Zahl neuer Psychopharmaka produziert worden, auf deren klinische Erprobung die pharmazeutische Industrie drängte und deren Existenz eine Einigung über die Formen des klinischen Versuchs notwendig erscheinen ließ.11 In den 1970er Jahren spitzte sich das Problem weiter zu, denn die Fülle von Veröffentlichungen war kaum noch zu überschauen, und die psychiatrischen Angaben über Befund und Therapie waren immer noch so divergent, dass sie eine genaue Beschreibung der Effekte
8 Stapel 1988, S. 400 und 418. 9 Daemmrich 2004, S. 40ff. 10 Murswieck 1983, S. 291ff betonte, dass ein Gesetzgebungsmandat erst dann erteilt würde und als durchsetzbar erscheine, wenn sich zwischen den beteiligten professionellen Akteuren weitgehende Übereinstimmung ergeben hätte (vgl. auch II.4). 11 So formulierte Kranz schon im Jahr 1962 in der Einleitung zum Symposium »Neurolepsie und Schizophrenie«, dass die »Überschüttung« der Kliniker mit neuen Psychopharmaka durch die pharmazeutische Industrie in den ersten Jahren nach der Einführung des Megaphens immens gewesen sei (Kranz 1962, S. 1, Herv. i. O.). Dies habe auch zur Folge, dass man nicht mehr täglich Pharmavertreter auf der Station treffe, wie Kranz ausführte. Vor diesem Hintergrund sei aber auch die große »Flut zum Teil ganz unzureichender Beobachtungspublikationen« zu kritisieren, welche die Wirksamkeitsbeschreibungen bislang bestimmten (Kranz 1962, S. 2).
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der Medikamente unmöglich machten.12 Zunehmend erkannt wurde auch die Dringlichkeit, eigene verbindliche Standards zu entwickeln, mit denen die bundesdeutschen ForscherInnen ihre Unabhängigkeit in der Definition eines als wissenschaftlich geltenden Beweises durchsetzen konnten. So wurde 1975 in einer Mitteilung über die »Entwicklung von Richtlinien für die klinische Prüfung von Psychopharmaka« in der Zeitschrift Pharmakopsychiatrie, einem Publikationsorgan der AGNP, eingeräumt, dass Normen für die Wirksamkeitsprüfung von psychoptropen Medikamenten bislang höchstens in Ansätzen vorhanden seien. Der Gesetzgeber könne deshalb versucht sein, auf internationale Standards, insbesondere die FDARichtlinien, zurückzugreifen, wenn man sich in der bundesdeutschen Psychopharmakaforschung nicht auf einen wissenschaftlich akzeptablen Prüfstandard einige. Die Autoren der Mitteilung forderten daher die PsychiaterInnen auf, sich an der Ausformulierung eines Wirksamkeitsbegriffs zu beteiligen und dies nicht Staat und Industrie zu überlassen.13 Mit dem Wandel der gesetzlichen Regelungen geriet aber auch der Arzt als »Prüfinstrument« zunehmend in den Blick. Wie Hans Heimann bereits Ende der 1960er Jahre betonte, gewinne die erst nachträglich vorgenommene Bewertung der Effektivität eines Medikaments, die Ärzte anhand des Durchblätterns der Krankenakten vornähmen, nicht an Objektivität, indem sie die aus der unstrukturierten klinischen Beobachtung zusammengetragenen Eindrücke in Prozentzahlen übersetzen.14 Der Autor spitzte diese Feststellung wie folgt zu: »Klinische Fallschilderungen mögen für den Schreiber von großer Überzeugungskraft sein, sie waren sicher auch wertvoll bei der Entdeckung der ersten Thymolytika; für den kritischen Leser haben sie heute nur eine sehr geringe wissenschaftliche Gültigkeit.«15 Anfang der 1970er Jahre nahm sich auch der Freiburger Ordinarius Rudolf Degkwitz der Frage nach einer Wirksamkeit der Psychopharmaka an und prüfte zahlreiche Veröffentlichungen bundesdeutscher PsychiaterInnen auf die Vergleichbarkeit ihrer Ergebnisse hin. Dabei stellte er fest, dass die in den Artikeln verwendeten Daten hinsichtlich Diagnostik, Beurteilungskriterien und Therapiekombinationen stark differierten, so dass man über Nutzen von Neuroleptika und Antidepressiva also wenig Verbindliches sagen könne. Gleichzeit gelte, wie Degkwitz ausführte, der Stand der Psychopharmakaforschung inzwischen als so gesichert, dass ein 12 Helmchen/Hippius 1974, S. 1. 13 Helmchen/Müller-Oerlinghausen 1975b, S. 179. Aus diesem Grund nahmen die beiden Autoren auch an einer internationalen Tagung über die klinische Prüfung psychotroper Medikamente teil, wo unter anderem die neusten Richtlinien diskutiert wurden, die das FDA in Zusammenarbeit mit der NIMH entwickelt hatte. 14 Heimann 1969, S. 879. 15 Heimann 1969, S. 878.
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Gutachten der Deutschen Forschungsgemeinschaft das Absetzen von Psychopharmaka zur Beurteilung medikamentenbedingter Schäden als nicht vertretbar bewerte da ihre Wirksamkeit inzwischen als bewiesen vorausgesetzt werde.16 War es also unethischer, nicht auf Wirksamkeit geprüfte Medikamente zuzulassen oder bestimmte Prüfverfahren anzuwenden, wie Helmchen und Müller-Oerlinghausen es zuspitzten?17 Eine solche an PsychiaterInnen gerichtete Forderung nach einer Wirksamkeitsprüfung bedurfte allerdings einer Gratwanderung, um nicht den Eindruck zu erwecken, die bisherige Leistung der Ärzteschaft in der Entwicklung pharmakologischer Innovationen schmälern zu wollen. So bemühten sich die beiden Autoren des Beitrags von 1975 zwar deutlich, die Notwendigkeit neuer Verfahren zu fordern, gleichzeitig aber auch die bisher erzielten Wirksamkeitsvorstellungen nicht kleinzureden, indem sie die wissenschaftlichen Erkenntnisse bisher gemachter somatischer Verfahren in der Psychiatrie priesen.18 Im Zuge der politischen Diskussionen um ein neues Arzneimittelgesetz entspannen sich eine Vielzahl von Diskussionen, deren Argumentationen ich mit einem Fokus auf zwei Symposien der Arbeitsgemeinschaft für Neuropsychopharmakologie (AGNP) verfolgen werde. Die Veranstaltungen beschäftigten sich in der Zeit zwischen der Verabschiedung und dem Inkrafttreten des Gesetzes mit der Frage einer Neuordnung der klinischen Prüfung.19 Entlang der Konferenzen möchte ich vor allem die Diskussionen um die Anwendung neuer Instrumente und die Frage nach der Einführung eines experimentellen Wirksamkeitsnachweises durch den kontrollierten klinischen Versuch in den Blick nehmen. Im Folgenden werde ich deshalb die epistemologischen Verschiebungen einer Vorstellung von neuroleptischer Wirksamkeit einer Analyse unterziehen.
5.1 Befunddokumentationen und Ratingskalen: zur Entwicklung neuer Messinstrumente Das Arzneimittelgesetz vom Jahr 1976 eröffnete mit der Forderung eines Wirksamkeitsnachweises auch die Möglichkeit, erneut zu fragen, wie die Effektivität eines Medikaments zu beurteilen sei. So sollte die Zulassung einer Substanz nur noch bei präzise nachweisbaren Indikationen erfolgen, die vom Hersteller angegeben werden mussten. Wie aber sollte ein 16 17 18 19
Degkwitz 1972. Helmchen/Müller-Oerlinghausen 1975a. Helmchen/Müller-Oerlinghausen 1975a, S. 397. Vgl. Arbeitsgemeinschaft für Neuropsychopharmakologie 1977; Heimann 1978; Helmchen 1978; Schmidlin 1978; Schilkrut et al. 1978; Steuber et al. 1978; Woggon/Angst 1978.
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Medikament beurteilt werden, das nur einzelne »Krankheitsmerkmale« beeinflusste?20 Wie sollten ForscherInnen in der bundesdeutschen Psychopharmakakologie eine klare medizinische Indikation angeben können, wenn die Merkmale psychiatrischer Kategorien nicht einheitlich fassbar und operationalisierbar waren? Ausgehend von diesen noch ungelösten Problemen stellte sich für die bundesdeutsche Psychiatrie die Frage nach Ratingskalen und anderen Befunddokumentationen, welche die erst wenig quantifizierbaren psychiatrischen Diagnosen in messbare Einheiten verwandeln sollten. Wie ich ausführlich geschildert habe, war bereits die Entwicklung einer neuen quantifizierbaren Befunddokumentation, des AMP-Systems, der erste Schritt in diese Richtung. Das neu geschaffene Dokument sollte sich in den 1970er Jahren schließlich auch praktisch als Forschungssystem zur Beurteilung neuer Psychopharmaka durchsetzen. Im Rahmen der Forderung nach einem experimentell überprüfbaren Wirksamkeitsbegriff mussten die Beteiligten zunächst Begriffe schaffen, die einer quantifizierbaren Überprüfung zugänglich waren. Diese Voraussetzung rief aber auch Gegner auf den Plan, die daran festhielten, dass sich die klinische Erfahrung, die aus dem Arzt-Patientenverhältnis entstehe, nicht quantifizieren lasse. Die PsychiaterInnen mussten also Überzeugungsarbeit dafür leisten, dass dem Verlust an phänomenologischer Schärfe ein Gewinn an Wissenschaftlichkeit folgen werde, die der Psychopharmakologie als eigener Disziplin einen höheren Status ermögliche.21 Zu diesem Zweck diente zunächst die neu geschaffene Befunddokumentation, man diskutierte im Folgenden jedoch auch über die Anwendung verschiedener Ratingskalen. Letztere zu konstruieren brachte aber verschiedene Nachteile mit sich: Zum einen mussten die ÄrztInnen noch weiter von den einzelnen klinischen Erscheinungen und den konkreten PatientInnen abstrahieren.22 Dies machte sie bei den KritikerInnen einer Quantifizierung nicht unbedingt beliebter. Zum anderen waren die bestehenden Skalen häufig aus dem amerikanischen Raum importiert.23 Die noch in den 1970er Jahren vorherrschende mangelnde Übereinstimmung in der Diagnostik, die erst mit einer internationalen Anwendung des DSM-III gelöst werden sollte, ließ eine Anwendung von Ratingskalen in der Bundesrepublik häufig sinnlos erscheinen. Da die deutschen PsychiaterInnen nicht über identische 20 Stapel 1988, S. 435. 21 Heimann 1969, S. 879ff. 22 Heimann 1969. Dieser führte aus, dass am Ende der Objektivierung eines Wirksamkeitsbegriffs der Psychopharmaka standardisierte Interviews ständen. 23 Als Beispiele oft verwendeter Skalen sei hier nur auf die Hamilton Depression Rating Scale oder die Wittenborn Psychiatric Rating Scale verwiesen (vgl. Wittenborn 1964; Hamilton 1960; zur Bedeutung der Hamilton Rating Scale für die amerikanische Psychopharmakaforschung vgl. Healy 1997, S. 98ff.).
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Konzepte von psychischen Abweichungen verfügten, konnten sie folglich mit diesen Instrumenten auch nicht das Gleiche messen. Die Benutzung von Ratingskalen erschien deshalb meist nur dann sinnvoll, wenn die Ärzte Teile davon den bundesdeutschen psychopathologischen Begrifflichkeiten anpassten.24 Auch im Rahmen der Diskussionen um die Standards der klinischen Prüfung im internationalen Kontext wurde vor einer bloßen Übernahme psychiatrischer Skalen aus dem US-amerikanischen Raum gewarnt. So widersprachen die an einer Tagung zur internationalen methodischen Neugestaltung des klinischen Versuchs beteiligten deutschen ForscherInnen den Bestrebungen, bestimmte amerikanische Ratingskalen als Standard der Wirksamkeitserfassung in der Psychopharmakaforschung festzuschreiben: »Von europäischer Seite wurde hingegen betont, daß derartige Spezifikationen nicht in unserem Interesse sein können, da hierdurch die Flexibilität der Forschung eingeschränkt und die Entwicklung besserer Meßinstrumente in außeramerikanischen Ländern behindert werden könnte.«25 Die PsychopharmakologInnen benötigten also nationale Forschungsvorhaben, die sich auf die weitere Entwicklung von Messsystemen fokussieren sollten. Im Zuge des Arzneimittelgesetzes wurde im Rahmen der AGNP schließlich die Konstruktion angemessener klinischer Prüfinstrumente zu einem Schwerpunktthema. Ziel war es, die Diskussionen breiter zu öffnen, als der sich weitgehend an US-amerikanische Normen orientierende Standard es erlaubte. In einem im Jahr 1977 veranstalteten Symposium nahm man deshalb die verschiedenen Möglichkeiten der Wirksamkeitserfassung in den Blick. Dabei wurde neben der Sache selbst auch der Einfluss der einzelnen Professionen, die auf die Gestaltung von Instrumenten zur Wirksamkeitserfassung im klinischen Versuch Einfluss nehmen sollten, mit verhandelt. Immer noch waren PsychologInnen, PsychiaterInnen und PharmakologInnen die HauptakteurInnen der Verhandlungen in der AGNP, ihr Einfluss sollte in der Folgezeit durch die zunehmende Wichtigkeit der StatistikerInnen in der BRD minimiert werden.26 In Bezug auf die Entwicklung neuer Messsysteme wurde von den beteiligten PsychologInnen eingewandt, dass die bisherigen Selbst- und Fremdratings nicht ausreichten, sondern man ein engmaschigeres Netz an objektiven Tests und Verhaltensbeobachtungen benötige. Ziel war die Entwicklung einer Methodik, die mehrere Ebenen umfasste, um überhaupt einen psychotropen Effekt sinnvoll fixieren zu können.27 Andere Psycho24 Vgl. Linden/Bergener 1972. 25 Helmchen/Müller-Oerlinghausen 1975b, S. 180. 26 Zu dem zunehmenden Einfluss der StatistikerInnen auf den klinischen Versuch vgl. Marks 1997, S. 140ff. 27 Baumann/Seidenstücker 1977, S. 165ff. Diese verwiesen auch auf die Probleme, die sich dadurch ergeben hatten, dass die PsychiaterInnen die Verände-
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logInnen forderten darüber hinaus, dass die Forschung sich generell mehr auf eine quantitative Erfassung des Verhaltens als auf verbale Äußerungen fokussieren sollte.28 PsychiaterInnen grenzten sich jedoch gegen weitgehende Forderungen der Versuchsplanung ab und wollten sich vor allem auf eine Erweiterung des AMP-Manuals konzentrieren, dem sie ein strukturiertes klinisches Interview beifügen wollten. Die Erweiterung des Manuals zielte auch darauf ab, die Ungenauigkeit der Diagnostik dadurch abzumildern, dass PsychiaterInnen auf die Feighnerkriterien als Beschreibungsgrundlage verwiesen.29 In weiteren Diskussionen über angemessene Instrumente zur Wirksamkeitserfassung wurden die unterschiedlichen Positionen noch deutlicher. Auf der einen Seite forderten PsychologInnen die Verwendung einer höheren Anzahl von Messsystemen, die verschiedene Facetten des Wirksamkeitsbegriffs in den Blick nehmen sollten. Auf der anderen Seite wurde von PsychiaterInnen immer wieder eine Eingrenzung von Ebenen und der Anzahl der verwendeten Verfahren diskutiert, da man sich auf das klinisch Mögliche beschränken müsse. Wie von den PsychiaterInnen eingeräumt wurde, konnte man bis zu diesem Zeitpunkt aber nicht ausschließlich einem Test trauen. Man verwendete deshalb häufig eine Vielzahl von Methoden, um sich einer Wirksamkeitsbeschreibung zu nähern. Die PharmakologInnen betonten hingegen, dass man vor allem ein einzelnes Verfahren etablieren müsse, da die Registrierungsbehörden in der Regel ebenso wie die pharmazeutische Industrie Routineverfahren bevorzugten.30 Verschiedene Referate des Symposiums diskutierten zudem, dass bei vielen Fragebögen ungenau angegeben werde, ob der Arzt, der Patient oder das Pflegepersonal die Referenzquelle sei. Auch seien die Ergebnisse der verschiedenen Instrumente so unterschiedlich, dass sie kaum eine Vergleichbasis böten.31 Darüber hinaus blieb zwischen den ForscherInnen die Frage umstritten, wer die Erfolge eines Therapiezieles, das sie zuvor definiert hatten, beurteilen solle. Musste der Patient sich besser fühlen? Oder sollte eine objektiv messbare Änderung eingetreten sein? Wie sollten ForscherInnen mit dem Problem der sozialen Integration der Betroffenen als »Besserungskriterium« umgehen?32 Zusammenfassend wurde betont, dass gerade mittels Ratingskalen gewonnene Kennwerte sehr heterogene Faktoren
28 29 30 31 32
rungen des Verlaufs in den Griff zu bekommen versuchten, indem sie zu verschiedenen Zeitpunkten Statusdiagnostik betrieben, obwohl sie für die Erfassung eines Prozesses eine andere Diagnostik benötigten. Ulrich 1977. Busch 1977, S. 160ff. Stoll 1977, S. 183. Heinrich 1977, S. 163. Stoll 1977, S. 184.
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enthielten, die eine Wirksamkeitserfassung durch diese Methoden schwierig machten.33 Die Psychiatrie blieb also auch Ende der 1970 Jahre mit der Frage beschäftigt, mit welchen Messsystemen sie ihre Effekte zählbar machen sollte. Vor diesem Hintergrund wurden weitere Schritte der Anpassung der Wirksamkeitserfassung an die Bedingungen eines Experiments diskutiert. Die offenen Fragen, die sich in Bezug auf die Erfassung psychotroper Effekte ergaben, ließen die weitere Anpassung des klinischen Versuchs an das Experiment zunächst als kaum durchführbar erscheinen. So betonte Schmidlin in einer resümierenden Podiumsdiskussion: »Unter dieser Optik wurde die Frage in die Diskussion geworfen, ob wir mit dem Verfahren des Doppelblindversuchs eigentlich nicht eine Methode benutzen, deren Anwendung verfrüht ist.«34 Doch es sollte sich im Laufe der Jahre auch in der bundesdeutschen Psychopharmakologie schließlich eine Verblindung durchsetzen.
5.2 Das Subjekt als Störfaktor im klinischen Versuch: d i e An w e n d u n g d e s D o p p e l b l i n d v e r s u c h s und Studien gegen Placebos Die Wirksamkeit eines Psychopharmakons war, wie ausgeführt wurde, nicht nur durch eine richtige Messung der Substanzeffekte zu kontrollieren, denn die Effektivität eines Pharmakons beruhte zu großen Teilen auf einem Set von nicht-medikamentösen Einflussfaktoren. Je stärker die Psyche des Patienten Teil der durch das Medikament zu beeinflussenden Größe war, desto stärker würden auch Umgebungsvariablen mit in einen Begriff von Wirksamkeit einfließen, wie pharmazeutische ForscherInnen zunehmend feststellten. Diese Bedeutung nicht-medikamentöser Einflussfaktoren stand jedoch zunächst im deutlichen Missverhältnis zu den experimentellen Methoden, die den reinen Substanzeffekt messen sollten. Die kontrollierte Gabe eines Placebos, einer Wirksubstanz, die ihre Effektivität nur durch die Einflüsse der Umgebung entfalten konnte, sollte den unkontrollierbaren Rest in der Arzneimittelforschung wieder einer experimentellen Forschung zugänglich machen und den subjektiven Einfluss beseitigen.35 Die Ausschaltung subjektiver Effekte benötigte aber darüber hinaus auch eine hinsichtlich einiger Aspekte für den Arzt wie für den Patienten unbekannte Versuchsanordnung. 33 Diese mangelnde Spezifizität von Ratingskalen für Psychopharmakaeffekte war in den USA schon in den 1950er Jahren diskutiert worden (vgl. Teil II, 1.2). 34 Schmidlin 1977, S. 130. 35 Stapel 1988, S. 471.
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Im Laufe der 1960er Jahre gewann in der deutschen Psychopharmakaforschung das doppelblinde Versuchsdesign zunehmend mehr an Gewicht. Der Psychiater Hanfried Helmchen schilderte, dass die Berliner Universitätspsychiatrie bereits im Jahre 1966 erstmals zusammen mit sechs anderen Kliniken an einer Doppelblindstudie teilgenommen und darüber auf einer Tagung der CINP im gleichen Jahr berichtete habe. Die praktischen Probleme in der Klinik ließen die beteiligten ÄrztInnen jedoch zunächst zögern, solche Verfahren langfristig in der Klinik zum Standard zu erheben. In der Reflexion des Versuchs wurde insbesondere hervorgehoben, dass eine ablehnende Haltung des Arztes gegenüber solchen Versuchsmethoden, die seine klinische Kompetenz ausschalteten, sich negativ verzerrend auf den zu beurteilenden Effekt auswirkten. Auch das Pflegepersonal lehnte sich häufig gegen solche Untersuchungen auf, die nur zum Zweck der Prüfung gedacht zu sein schienen, und meinte, häufig schon nach kurzer Zeit einen Eindruck gewinnen zu können, mit welchem anderen Verfahren dem Patienten besser zu helfen sei.36 Hans Heimann spitzte zu, dass die Anwendung eines »blinden« Versuchsdesigns vor allem für minimale Abweichungen in der Wirksamkeitsbeschreibung relevant sei, wohingegen zahlreiche Probleme in der Klinikhierarchie dem Einsatz dieser Versuchsanordnungen entgegenstünden. Kritische ForscherInnen stellten zudem die Frage, ob der aus dem Doppelblindversuch gewonnene Psychopharmakaeffekt nicht besser durch ein unabhängiges Forscherteam evaluiert werden solle als vom behandelnden Arzt selbst, denn Letzterer sei zu vielen verzerrenden Einflussgrößen ausgesetzt.37 Gleichzeitig war die Durchführung von Doppelblindversuchen in der bundesdeutschen Praxis meist nicht auf den Vergleich mit einem Placebo angelegt, da dieses Versuchsdesign, anders als in den angloamerikanischen Ländern, als ethisch nicht gerechtfertigt und als wissenschaftlich nicht notwendig betrachtet wurde.38 Erst im Rahmen der Diskussionen um die methodische Neugestaltung der klinischen Prüfung wurde in den 1970er Jahren auch in der Bundesrepublik über die Verwendung des doppelblinden Versuchsdesigns breiter diskutiert. Mit der Einführung dieser Versuchsanordnung sollten insbesondere beeinflussende Persönlichkeitsstrukturen des Arztes als Versuchsleiter in den Blick geraten – einige PsychiaterInnen hielten darüber hinaus Doppelblindstudien zu deren Kontrolle für unerlässlich. Zur Minimierung eines solchen Effekts reichte das blinde Versuchsdesign vielen ForscherInnen nicht aus. So wurde gefordert, die ÄrztInnen vor der 36 Helmchen 1969, S. 881ff. 37 Heimann 1969, S. 880. 38 Helmchen/Müller-Oerlinghausen 1975b, S. 180; Woggon 1977, S. 141. Auch Martini grenzte sich in der Neuauflage seines Werkes zum klinischen Versuch aus dem Jahr 1968 von der Nutzung eines Placebos deutlich ab (vgl. Martini/Oberhofer/Welte 1968, S. 67).
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Durchführung einer Studie auf relevante Persönlichkeitsmerkmale wie Exaktheit und Ordentlichkeit, Motivation und Fähigkeit zur Methodenkritik zu testen, weil für die Durchführung eines klinischen Versuchs diese Charaktereigenschaften als zentral galten. KlinikerInnen mit wenig beeinflussbaren Persönlichkeitsmerkmalen sollten von der Mitarbeit an einer Wirksamkeitsstudie ausgeschlossen werden.39 Doch es wurden von einigen ForscherInnen auch die Grenzen des doppelblinden Versuchsdesigns betont, denen zufolge sich durch diese Versuchsanordnung nur globale Wirkungskomponenten einigermaßen befriedigend nachweisen und die Heterogenität von Patientenpopulationen nicht ausschalten ließen. Die Wahl des richtigen Psychopharmakons würde damit keinesfalls einfacher werden.40 Zudem hätten, hob man hervor, auch doppelblinde Studien Versuchsleitereffekte. Darüber hinaus sei die Wirkung des Placebos nicht stabil, sondern nehme bei Veränderungen in der Umgebung zu. Das Ergebnis werde maßgeblich durch die Dauer der Prüfung bestimmt.41 Wie abschließend bemerkt wurde, könnten die ForscherInnen eine Fokussierung auf doppelblinde Versuchsanordnungen aber ohnehin nicht gewährleisten. Die von der pharmazeutischen Industrie gestellten Fragen, die darauf ausgerichtet seien, zu evaluieren, ob und bei welcher Dosierung die Substanz auf das Zielsymptom wirke, benötigten vor allem offene Versuche an PatientInnen, die solche Veränderungen sichtbar machten, und keine blinden Versuchsanordnungen. Trotz dieser Einwände wurde eine grundsätzliche Orientierung am doppelblinden Versuchsdesign nicht mehr angezweifelt.42 Die Einführung des Doppelblindversuchs blieb jedoch nicht die einzige Modifikation, die PsychiaterInnen vornahmen, um den experimentellen Bedingungen zu entsprechen. Mittels einer blinden Versuchsanordnung sollten nur die subjektiven Einflüsse von Arzt und Patient auf die Psychopharmakaeffekte minimiert werden. Darüber hinaus war aber die gesamte Anstaltsumgebung und die Geschichte der PatientInnen voller Einflussgrößen, für deren experimentellen Ausschluss die ForscherInnen nur einen Weg sahen: sie zufällig zu verteilen.
39 Busch 1977, S. 152ff. 40 »Zuverlässige prognostische Kriterien für die Wahl eines bestimmten Neuroleptikums oder eines bestimmten Antidepressivums, von den Minor Tranquilizern ganz zu schweigen, besitzen wir bis heute nicht« (Heimann 1977, S. 128). 41 Woggon 1977, S. 141. 42 Hier grenzte man sich deutlich von Martinis Konzeption ab. Martini selbst blieb auch in der Neuauflage seines Buchs gegenüber dem Doppelblindversuch skeptisch (vgl. Martini/Oberhofer/Welte 1968, S. 62ff.).
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5 . 3 D i e E i n f l ü s s e d e r U mw e l t a u s s c h a l t e n : Randomisierung und statistische Versuchsplanung Mit dem Wert, den die PsychopharmakologInnen der Minimierung unkontrollierbarer Störgrößen einräumten, erlangte auch die Versuchsplanung ein größeres Gewicht. Mit der Monographie über die »Methodenlehre der therapeutisch-klinischen Forschung« hatte Paul Martini bereits im Jahr 1968 eine Neufassung seines Werkes vorgelegt, in der, abweichend von vorherigen Ausgaben, die in weit geringerem Ausmaß einer Zufallsaufteilung Rechnung getragen hatten, die Bedeutung der Randomisierung betont wurde.43 Nur so könnten die Ärzte, wie Martini betonte, die zufälligen Größen in einer experimentellen Betrachtung des Versuchs wirklich ausschalten.44 Die formalisierte und rein zufällige Aufteilung der PatientInnen auf unterschiedliche Gruppen brachte aber wissenschaftsimmanente und ethische Probleme mit sich. Auf der einen Seite wurden von den PsychiaterInnen die Bedürfnisse der PatientInnen thematisiert. So war die Zuteilung zu einer bestimmten Psychotherapie- oder Medikationsform fragwürdig, wenn der Arzt sicher zu wissen glaubte, dass der individuelle Patient vor allem von einer anderen Behandlungsform profitieren würde. Auch die Beschränkung auf nur ein Medikament sei, wie angemerkt wurde, zwar im Sinne einer Versuchsplanung korrekt, aber hinsichtlich der konkreten Situation des Patienten nicht hinnehmbar.45 Auf der anderen Seite wurden aber auch in der BRD Stimmen von StatistikerInnen und PsychologInnen laut, die auf eine an experimentelle Erfordernisse angepasste Versuchsanordnung drängten. Von Seiten der StatistikerInnen wurde eine präzise Fragestellung gefordert, die anhand von Hypothesen experimentell überprüfbar sein sollte. Dazu müssten die Fragen am besten als dichotome gefasst und die in den Fragebögen formulierten Kriterien voneinander unabhängig sein, was in gängigen Ratingskalen nicht der Fall war.46 Wie angemerkt wurde, sei der Psychiater selbst jedoch die Hauptstörquelle, da die ÄrztInnen unterschiedlich zählten und dosierten und sich dadurch die Anzahl der »Versuchsfehler« vergrößere. Man müsse deshalb vor allem den »Störfaktor Psychiater« isolieren, um die experimentelle Anordnung einigermaßen 43 Martini/Oberhofer/Welte 1968. 44 Martini/Oberhofer/Welte 1968, S. 28 ff. Neben der Randomisierung nennt Martini hier die Stratifikation – die Untergruppenbildung bei nur scheinbaren »Krankheitseinheiten« – als der Randomisierung vorgeordneten Schritt. Diese sei besonders wichtig, wenn die Krankheiten nur ähnliche Symptome aufwiesen und die Behandlung nicht spezifisch wirke (vgl. Martini/Oberhofer/ Welte 1968, S. 27). 45 Helmchen/Müller-Oerlinghausen 1975a. 46 Immich 1977, S. 187.
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stabil zu halten.47 Auch Paul Martini hatte in der Neuauflage seines Buches die Notwendigkeit einer perfekten Kontrolle der Versuchsanordnung betont, hinter welcher der Forscher zurücktreten müsse.48 War der Arzt mit seinen klinischen Erfahrungen in den früheren Jahren noch das Hauptelement von Martinis klinischen Forschungsanordnungen gewesen, wurde in der Neufassung seines Werkes dem Statistiker ein vergleichbar großer Platz eingeräumt, wenngleich der Arzt weiterhin als Versuchsleiter fungieren sollte.49 VertreterInnen der pharmazeutischen Industrie forderten, der klinische Psychopharmakaversuch sei im Großen und Ganzen an drei Bedingungen der experimentellen Methodik anzupassen, um nicht bewusste Störgrößen zu eliminieren. Zunächst müsse eine Wiederholbarkeit des Versuchs gewährleistet werden. Dies sei nur möglich, wenn der Versuch unter Beachtung der Streuung und Konstanthaltung der experimentellen Bedingungen betrachtet würde. Zudem müsse es für die einzelnen PatientInnen eine wirklich zufällige Chance geben, unterschiedlichen Versuchsgruppen zugeordnet zu werden. Doch auch diese randomisierte Form der Aufteilung schließe bestimmte Einflussgrößen nicht aus. Deshalb solle man letztlich ähnliche PatientInnen zu Blöcken zusammenfassen, um die Sensibilität des untersuchten Psychopharmakons klarer aufscheinen zu lassen.50 Wie betont wurde, stehe und falle die Glaubwürdigkeit einer Wirksamkeitsstudie mit der Erstellung eines Versuchsplans. Dieser solle sowohl das Ziel der Untersuchung formulieren als auch das Dosierungsregime angeben, Störfaktoren ausbalancieren und geeignete, messbare Wirksamkeitsparameter festlegen. Erst vor diesem Hintergrund sei eine objektive Beurteilung von Medikamenteneffekten und ihre statistische Auswertung möglich.51 Obwohl die Orientierung an einem experimentellen Versuchsdesign von Seiten der VersuchsplanerInnen deutlich vernehmbar eingefordert wurde, 47 Immich 1977, S. 185. Um die Einflussgröße »Psychiater« einigermaßen stabil zu halten, wurde gefordert, dass derselbe Psychiater vom Anfang bis zum Ende der Versuchsreihe die Studie verfolgen müsse. Auch andere StatistikerInnen verwiesen darauf, dass eine variable Behandlungsdauer, unterschiedliche Dosierungsvorschriften und Begleitmedikationen zu minimierende Störgrößen seien (vgl. Ferner 1977). 48 Martini/Oberhofer/Welte 1968, S. 69. Martini betonte, dass es hierfür bestimmter Charaktereigenschaften des forschenden Arztes wie Großmut und eines Verzichts auf Selbstgeltung bedürfe. 49 »Der ›Leiter‹ eines solchen gemeinsamen Unternehmens muß unbedingt selbst erfahrener Arzt sein. Optimal ist [...], wenn er Arzt und Statistiker in einer Person ist. Das dürfte allerdings nur selten erreichbar sein« (Martini/Oberhofer/Welte 1968, S. 70). Den Methoden der Statistik, der Informationsverarbeitung und Dokumentation widmet Martini in der Fassung seines Werkes von 1968 gleich einen ganzen neuen Abschnitt. 50 Ferner 1977, S. 133ff. 51 Ferner 1977.
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räumten die PsychopharmakologInnen ein, dass die spezifischen Probleme einer Evaluation psychotroper Medikamente nicht einfach experimentell lösbar seien, denn die Zielgrößen der Psychopharmaka ließen sich schwer quantifizieren und seien zudem in ihrer Ausprägung von dem subjektiven Erleben der PatientInnen abhängig. Die Vielzahl von Skalen und anderer Messinstrumente machte die Beurteilung zudem nicht einfacher. Aus diesem Grund, erklärte U. Ferner, könne man auch die statistisch notwendige Anzahl der PatientInnen nicht so einfach berechnen, wie es die Versuchsplanung erfordere. Zudem stehe der mangelnden Schärfe der Daten das Problem gegenüber, dass statistisch signifikante Ergebnisse häufig noch nicht klinisch relevant seien.52 Von weiteren ForscherInnen der pharmazeutischen Industrie wurde eingeräumt, dass auch durch die Randomisierung die tatsächliche Heterogenität der PatientInnen nicht ausgeräumt werden könne und deshalb die Gefahr bestehe, nur »scheinhomogene Vergleichsgruppen« zu bilden.53 Gerade die Fragen der Versuchsplanung wurden in ihren detaillierten Forderungen von den KlinikerInnen zunächst skeptisch betrachtet und für klinisch kaum umsetzbar befunden. Am Ende der Tagung stellten die PsychopharmakologInnen jedoch fest, dass mit den neuen Diskussionen um die klinische Prüfung der Psychopharmaka der Trias von PsychiaterInnen, PsychologInnen und PharmakologInnen wohl ein weiteres Glied, die StatistikerInnen, hinzugefügt würde.54 Mit den Verhandlungen um einen Wirksamkeitsnachweis im Rahmen der Diskussionen um ein neues Arzneimittelgesetz näherte sich das Modell der klinischen Wissensgenerierung aber auch innerhalb der bundesdeutschen Psychopharmakaforschung zunehmend der Idee eines kontrollierten klinischen Versuchs an. Entlang der Diskussionen um die amerikanischen Evaluationsversuche habe ich herausgearbeitet, dass die Erfassung der Psychopharmakaeffekte eine immer breitere Anpassung der Klinik an die Bedingungen des Labors benötigte. Die Transformationen der untersuchten Phänomene waren hierfür eine ebenso entscheidende Bedingung wie die Gestaltung des klinischen Versuchs als eines »kontrollierten Beobachtungsraums«. Auch in der BRD geriet in den 1970er Jahren die (experimentelle) Versuchsanordnung in den Fokus der Auseinandersetzung. Mittels einer bedeutsamer werdenden Versuchsplanung wurde in der Psychopharmakaforschung versucht, 52 Ferner 1977, S. 137ff. 53 Schmidlin 1977, S. 130. Schon Kraepelin hatte herausgearbeitet, dass PatientInnen insbesondere bezüglich der klinischen Erscheinungsformen eines Medikaments in verschiedener Hinsicht heterogen seien. Zudem gebe es intraindividuell die schon erwähnten zustandsbedingten Schwankungen. Hinzu komme das Problem, dass einige PatientInnen überhaupt nicht reagierten (vgl. Heimann 1977, S. 123ff.). 54 Netter 1977, S. 201ff.
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sich den Vorstellungen eines kontrollierten klinischen Versuchs weiter anzunähern. Die zunehmende Anwendung des Doppelblindversuchs in der BRD passte sich damit einerseits den amerikanischen Entwicklungen an und grenzte sich zunehmend mehr von dem in den 1950er und 1960er Jahren vorherrschenden klinischen Eindruck ab. Dies kommt besonders darin zum Ausdruck, dass die ForscherInnen nun bereit waren, auch den Psychiater als Störquelle in den Blick zu nehmen, eine Haltung, hinter der man noch in den vorangegangenen Jahren eine klinische Kompetenzbeschneidung und Entmachtung der ÄrztInnen vermutet hätte. Andererseits war der im Zuge des Arzneimittelgesetzes geschaffene Wirksamkeitsnachweis so offen, dass er den bundesdeutschen PsychiaterInnen auch weiterhin abweichende Konzeptionen der klinischen Prüfung von Psychopharmaka ermöglichte. Trotz der genannten Einschränkungen war die Ausdehnung des kontrollierten klinischen Versuchs nicht nur für eine epistemologische Verschiebung des Begriffs von Wirksamkeit von entscheidender Bedeutung, denn die Abgrenzung von einem Begriff der Wirksamkeit als Zeugenschaft hatte auch für den ersten Zeugen, den Patienten, weitreichende Folgen. Auch er wurde nun zur Störquelle. Die Anwendung des kontrollierten klinischen Versuchs in der Psychiatrie muss, wie David Armstrong herausarbeitet, auch als ein Versuch gelesen werden, die Ungewissheit im Arzt-Patientenverhältnis zu minimieren, die sich darin ausdrückte, dass der Arzt den Patient als »zuverlässigen Zeugen« benötigte.55 Es ist demzufolge nicht als zufällig zu betrachten, dass mit der zunehmenden Etablierung des kontrollierten klinischen Versuchs auch die Rolle des Patienten in dieser Versuchsanordnung wichtiger wurde. Wie ich im Folgenden zeigen werde, verhandelten die PsychopharmakologInnen im Zuge der Arzneimittelgesetzgebung deshalb nicht nur die Anpassung des klinischen Versuchs an experimentelle Bedingungen, sondern auch den Status des Patienten neu.
5 . 4 D i e E i nw i l l i g u n g d e r V e r s u c h s p e r s o n e n Wie ich im vorangegangenen Kapitel ausgeführt habe, war die Information des Patienten im Rahmen der Medikamentenerprobung bereits in den 1950er und 1960er Jahren erneut zum Thema geworden. Es fehlte jedoch zu dieser Zeit ein verbindlicher Rechtsstandard über die Aufklärungspflicht im Rahmen einer Arzneimittelerprobung und Anwendung, wenngleich einzelne Gerichtsurteile bereits die Notwendigkeit der Aufklärung hervorgehoben hatten.56 Die vom Weltärztebund beschlossene Deklaration 55 Armstrong 2007, S. 73. 56 Vgl. hierzu ein erstes Gesetz zum klinischen Versuch am Menschen von 1931, aber auch die Gerichtsurteile in den 1950er Jahren (vgl. II.4).
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von Helsinki aus dem Jahr 1964 und ihre Revision von Tokio aus dem Jahr 1975 schrieben nun zum ersten Mal die Einwilligungspflicht des Patienten zu medizinischen Versuchen verbindlich vor.57 Mit der Einführung des Arzneimittelgesetzes von 1976 sollte auch in der nationalen Rechtsprechung eine solche Beteiligung als Standard fixiert werden. Der Patient musste nun der klinischen Prüfung zustimmen und über Nutzen und Risiken der neuen Therapieform schriftlich aufgeklärt werden. Dabei traten neue Fragen in den Mittelpunkt der Diskussion. Konnte der Patient das Risiko vollständig erfassen? War der Arzt in dieser Phase wirklich in der Lage, gefährliche Effekte zu beurteilen?58 Gleichzeitig stellte sich mit der Einführung statistisch-experimenteller Versuchsanordnungen und der zufälligen Medikamentenvergabe im Doppelblindversuch, die von den Bedürfnissen des einzelnen Patienten abstrahierte, auch die Frage nach der Legitimität, einzelne PatientInnen als Versuchsperson zu verwenden, denn die Teilnahme an einer (placebokontrollierten) doppelblinden Studie hatte für den Patienten selbst meist wenig unmittelbaren Nutzen. Sie legitimierte sich nur durch ihre Bedeutung für eine »Grundgesamtheit« zukünftiger PatientInnen, denen neue Psychopharmaka zur Verfügung stehen sollten. Dieses Vorgehen wurde als ein auf dem »Solidaritätsprinzip« beruhendes bezeichnet.59 Dadurch rückte aber auch die Frage nach der Fähigkeit insbesondere von PsychiatriepatientInnen wieder in den Blickpunkt, einer medikamentösen Behandlung zuzustimmen, denn ernst zu nehmende Solidarität setzte die Entscheidung des Patienten dafür voraus, wenn sie ihn nicht lediglich zum Objekt der biologischen Forschung machen wollte.60 Insbesondere in der Psychiatrie nahm der Patient aber eine Grenzposition ein, in der er zum Objekt der Forschung gemacht wurde, gerade weil seine Zustimmungsfähigkeit ein ständiger Streitpunkt war. Auch in der Psychopharmakaforschung wurde ab Mitte der 1970er Jahre die Aufklärung des Patienten wieder thematisiert. Wie einige ForscherInnen hervorhoben, sei die Zustimmung des Patienten zur somatischen Behandlungsform in der Psychiatrie bisher selten gewesen. Weder im Rahmen von Klaesis Schlaftherapie noch bei Binis Elektroschockversuchen sei eine Zustimmung der PatientInnen eingeholt worden, da die 57 58 59 60
Weltärztebund 1979/1964 und 1979/1975. Vgl. auch II.4. Stapel 1988, S. 428. Wagner 1991, S. 186. Gerade vor dem Hintergrund psychiatrischer Forschungen im Nationalsozialismus zum Zweck der »Volksgesundheit«, die vielen PatientInnen das Leben kosteten, wurde von MedizinhistorikerInnen die Frage des individuellen Nutzens der PatientInnen in den Vordergrund gestellt und eine Orientierung der Forschung an Interessen des »Gemeinwohls«, die von Seiten der ÄrztInnen postuliert wurde, problematisiert (vgl. Hohendorf/Roelcke/Rotzoll 1997) . Zu den Standpunkten von PatientInnen zu dieser Frage in den 1980er Jahren vgl. V.2.
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PsychiaterInnen die Versuche wegen der zu erwartenden Erfolge als ethisch voll gerechtfertigt angesehen hätten.61 Wie eingeräumt wurde, stand diesem Vorgehen in den 1970er Jahren aber vor allem wegen der zunehmenden Masse an psychiatrischen Medikamenten ein stärker abzusicherndes Recht des Individuums auf Selbstbestimmung gegenüber. Wie einige Autoren betonten, wurde die Möglichkeit, die PatientInnen aufzuklären, unter anderem dadurch beeinträchtigt, dass der therapeutische Wert einer Substanz zunächst ungeklärt sei.62 Diese Aussage verdeutlicht vor allem die Offenheit der klinischen Erprobung zu ihrer Anfangszeit, in der der »experimentelle« Charakter des Heilversuchs im Vordergrund stand. Mit der größeren Relevanz der Einwilligung von PatientInnen stellte sich nun auch die Frage nach deren Zustimmungsfähigkeit neu. So wurde hervorgehoben, dass der psychiatrische Patient die Zustimmung nicht erteilen oder verweigern könne, wenn er sie nicht richtig verstehe. Die Verantwortung, so wurde geschlossen, solle am besten beim Arzt verbleiben.63 Gegen die Forderungen im Jahr 1975, zwangsuntergebrachte psychiatrische PatientInnen in das Untersuchungsdesign einzubeziehen, wurden jedoch von der Humanistischen Union im gleichen Jahr erhebliche Einwände geltend gemacht, die neben den PsychiaterInnen auch die bundesdeutschen Printmedien beschäftigten. Die Humanistische Union erklärte, die Einbeziehung stationär untergebrachter »psychisch Kranker« in die Arzneimittelprüfung sei eine Absurdität und wie im Fall von Strafgefangenen höchst problematisch, da keine Einwilligungsfähigkeit vorliege. Einen entsprechenden Änderungsantrag des Bundesrates in Bezug auf das neue Arzneimittelgesetz, der eine Erprobung neuer Arzneistoffe auch an diesen Gruppen vorsah, bezeichnete die Humanistische Union als »Rückfall in die Praktiken des Hitler Faschismus«.64 Die von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung publizierte Debatte erreichte eine breite Öffentlichkeit und veranlasste die AGNP zusammen mit der Deutschen Gesellschaft für Nervenheilkunde zu einer Stellungnahme, die unter anderem in der 61 Helmchen/Müller-Oerlinghausen 1975a. Unerwähnt blieb in den Ausführungen, dass gerade Klaesis Schlaftherapie zahlreichen PatientInnen in der ersten Versuchsreihe das Leben kostete und deshalb als Beleg für die mangelnde Notwendigkeit der Zustimmung der PatientInnen ein denkbar schlechtes Beispiel darstellte (vgl. auch II.3). 62 Helmchen/Müller-Oerlinghausen 1975a, S. 400. Die beiden Autoren verwiesen darauf, dass lieber der Arzt die Verantwortung übernehmen und sich durch eine Ethikkommission Unterstützung suchen solle. 63 Helmchen/Müller-Oerlinghausen 1975a. Auch eine zu diesem Zweck eingerichtete gesetzliche Betreuung könne das Problem nicht lösen, da diese weit über die Arzneimittelprüfung hinaus ihre Gültigkeit behalten und weitreichende Folgen für die PatientInnen haben würde. 64 Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenheilkunde/Arbeitsgemeinschaft für Neuropsychopharmakologie und Pharmakopsychiatrie 1975, S. 327.
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Zeitschrift Pharmakopsychiatrie abgedruckt wurde. Beide Verbände rechtfertigten die Erprobung an zwangsweise untergebrachten PatientInnen mit dem Argument, dass man nicht die von den stärksten psychischen Leiden Betroffenen von der Arzneimittelerprobung ausnehmen könne. Zugleich wurde die mangelnde Zustimmungsfähigkeit der PatientInnen differenziert und eingeschränkt. Die PsychiaterInnen hoben nun hervor, dass auch zwangseingewiesenen PatientInnen situativ die Möglichkeit zukomme, einer Medikamentenbehandlung zuzustimmen.65 Obwohl ein Ausschluss der genannten Gruppen aus der Arzneimittelerprobung nicht durchgesetzt wurde, sollten die Einwände der Humanistischen Union die bundesdeutsche Psychiatrie über längere Zeit beschäftigen.66 Noch Mitte der 1980er Jahre begann der Ordinarius der Psychiatrischen Universitätsklinik der Freien Universität Berlin, Hanfried Helmchen (geboren 1933), eine Debatte über die Legitimität der Einbeziehung von PsychiatriepatientInnen in die Arzneimittelprüfung mit einem Bezug auf die durch die Humanistische Union angefachte Diskussion. Die Einwilligungsfähigkeit des Patienten und ihre Auslegung blieb in der bundesdeutschen Psychiatrie weiterhin ein strittiges Thema. Helmchen betonte in seinen Ausführungen, dass im klinischen Alltag der Psychiatrie eine nicht mehr vorliegende Einwilligungsfähigkeit oft an der Stelle angenommen werde, an der der Patient eine Maßnahme ablehne, die vom behandelnden Arzt für notwendig gehalten werde.67 Im Rahmen der Arzneimittelgesetzgebung erlange dabei auch die gesetzliche Regelung der Zustimmung eine neue Dimension, wie Helmchen betonte. Art und Umfang der Aufklärung müssten in Abwägung mit der Belastbarkeit des Kranken erfolgen und könnten nach den Neuregelungen im Arzneimittelgesetz unterbleiben, wenn der »Behandlungserfolg« als Ganzes gefährdet sei. Die alternativ zur Einwilligung des Patienten einzuholende Zustimmung eines gesetzlichen Vertreters zu einem klinischen Arzneimittelversuch war zwar möglich, blieb aber nicht unumstritten.68 Wie Helmchen schlussfolgerte, sei die Ethik eines klinisch-psychiatrischen Arzneimittelversuchs vor allem dadurch herzustellen, dass die ForscherInnen die Daten veröffentlichen, da nur so im Ergebnis alle Versuche von Öffentlichkeit, Staat und Industrie kontrolliert werden könnten.69 Die Einwilligung der PatientInnen und ihre Zustimmung zu einem »psychopharma65 Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenheilkunde/Arbeitsgemeinschaft für Neuropsychopharmakologie und Pharmakopsychiatrie 1975. 66 So grenzte sich auch Der Spiegel in einem Artikel von der Erprobung an PsychiatriepatientInnen und Strafgefangenen ab und betonte, entsprechende Patientenschutzregelungen seien vor allem durch Interventionen der pharmazeutischen Industrie durchlöchert worden (»Experiment gelungen, Patienten tot«. In: Der Spiegel vom 11.09.1978, S. 63). 67 Helmchen 1986. 68 Helmchen 1978. 69 Helmchen 1978.
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kologischen Experiment« blieben also weiterhin problematisch. Dass in diesem Prozess die Stimmen der PatientInnen kaum Gehör fanden, spiegelte aber auch die speziellen Formen der bundesdeutschen Arzneimittelgesetzgebung wider: Die PatientInnen waren im bundesdeutschen Regulationsprozess keine bedeutende Kraft.70 In den USA hingegen hatten nationale PatientInneninitiativen wie Gruppen von Menschen, die von seltenen Krankheiten oder Brustkrebs betroffen waren, vor allem in den 1980er Jahren eine große öffentliche und staatliche Aufmerksamkeit erhalten. Insbesondere Aids-AktivistInnen gelang es in dieser Zeit, durch ihre fortgesetzten Proteste dafür zu sorgen, dass Medikamente, die für die Betroffenen lebenswichtig waren, schneller zugelassen werden konnten.71 Für die BRD sind die mangelnde Aufklärung von Behandelten und die nachgeordnete Orientierung an den Stimmen von PatientInnengruppen für die Entwicklung einer evidenzbasierten Arzneimittelevaluation als umstrittene Punkte zu bewerten. Während die Anwendung des kontrollierten klinischen Versuchs sich zu einer Technologie entwickelte, die vor allem den Arzt ermächtigte, nun als »objektiv« erscheinende Effekte der Arzneimittel besser sehen zu können, blieb dem Patienten eine Ausweitung seiner Mitsprache im klinischen Experiment verwehrt.
5.5 Die bundesdeutsche P s yc h o p h a r m a k a f o r s c h u n g a m S c h e i d ew e g : »Erfahrung« oder »Experiment«? Die Geschichte der bundesdeutschen Versuche, einen objektiv fassbaren Wirksamkeitsbegriff der Neuroleptika zu generieren, erreichte mit den politischen Diskussionen um das neue Arzneimittelgesetz von 1976 eine neue Dimension. Da erstmalig von politisch-administrativer Seite der wirksamkeitsnachweis des Arzneimittels als Zulassungsvoraussetzung gefordert wurde, geriet auch der kontrollierte klinische Versuch in den Blick, dessen Gestaltung eine neu zu verhandelnde politische Ordnung darstellte, denn im Laufe der Etablierung des neuen Arzneimittelgesetzes fanden heftige Auseinandersetzungen über die Anforderungen an den kontrollierten klinischen Versuchen und seine Objektivität statt. Anders als in den USA, wo die Methoden der klinischen Beweisführung gesetzlich strenger vorgegeben waren, blieben in der Bundesrepublik Deutschland
70 Murswieck 1983, S. 290. 71 Daemmrich 2004, S. 30.
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Gestaltungsmöglichkeiten offen.72 Es gab also keine Zwangsläufigkeit, sich auch in der Psychopharmakologie einem experimentellen Begriff von Wirksamkeit anzupassen. So reklamierten VertreterInnen besonderer Therapierichtungen wie zum Beispiel der Homöopathie einen größeren Spielraum mit dem Argument, dass ein zu sehr an das klinischen Experiment gebundener Wirksamkeitsnachweis nicht mit den Grundprinzipen ihrer Therapien in Einklang zu bringen sei. Sie verlangten deshalb besondere gesetzliche Regelungen, die sie schließlich auch erhielten. Wie homöopathische KritikerInnen anmerkten, seien gerade diejenigen Heilmittelanwendungen, in denen die Besonderheiten des Individuums eine große Rolle spielten, nicht objektivierbar. Sie benötigten vielmehr ein kasuistisches, »erfahrungswissenschaftliches« Herangehen. Auf die Effektivität des Medikaments im konkreten Einzelfall lasse der aus dem klinischen Versuch erbrachte Wirksamkeitsnachweis nicht schließen, denn er mache nur eine Wahrscheinlichkeitsaussage möglich.73 Dieser Einwand traf auch auf die Schwierigkeiten der bundesdeutschen PsychopharmakologInnen zu, wie die vorangegangenen Ausführungen gezeigt haben. Nicht zuletzt, um den Besonderheiten einzelner Arzneimittel gerecht zu werden, ließ man in dem verabschiedeten Gesetz deshalb einen relativ unspezifischen Wirksamkeitsbegriff gelten, der nicht allein auf Statistik beruhte.74 Ein Wirksamkeitsnachweis sollte der Regelung zufolge nur noch nach dem Stand der jeweiligen Wissenschaft geprüft werden und beschränkte sich auf die nur mit einiger Sicherheit anzunehmende positive Wirkung eines Medikaments.75 Die Methodik des zu erbringenden Wirksamkeitsnachweises wurde dabei nicht
72 So zitierte Der Spiegel folgende Ausführungen des Gesundheitsausschusses der BRD: »Der Wirksamkeitsnachweis ist bereits dann vom Hersteller als erbracht anzusehen, wenn anhand der von ihm vorgelegten Unterlagen nachgewiesen wird, daß bestimmte Indizien für die im Zulassungsantrag behauptete Wirksamkeit sprechen. Vom Antragsteller darf jedoch nicht zwingend der Beweis der Wirksamkeit eines Arzneimittels im Sinne eines jederzeit reproduzierbaren Ergebnisses eines nach einheitlichen Methoden ausgerichteten naturwissenschaftlichen Experimentes verlangt werden« (Bundesgesundheitsausschuss zitiert nach »Experiment gelungen, Patienten tot«. In: Der Spiegel vom 11.09.1978, S. 58). 73 Stapel 1988, S. 449. 74 Stapel 1988, S. 469. Damit wurden die Kriterien für einen Wirksamkeitsbegriff jedoch sehr offen gehalten. Dieser flexible, differenzierte Wirksamkeitsbegriff wurde von einigen KritikerInnen auch scharf angegriffen und als Abkehr von internationalen Standards interpretiert (vgl. Murswieck 1983, S. 301). Murswieck arbeitete heraus, dass die Positionen in Hinblick auf den Wirksamkeitsnachweis vor allem von interessenpolitischen Positionen der Pharmaindustrie und der Ärzteschaft bestimmt seien (vgl. Murswieck 1983, S. 312). 75 Stapel 1988, S. 468.
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näher festgelegt. Auf dieser Grundlage forderten einige WissenschaftlerInnen wie zum Beispiel der Anthroposoph und Neurologe Gerhard Kienle auch eine besondere Regelung für die Psychopharmaka ein. In seinem bekannten Buch »Arzneimittelsicherheit und Gesellschaft. Eine kritische Untersuchung« kritisierte Kienle scharf die Transformation der normalen therapeutischen Situation in eine künstliche experimentelle Versuchsanordnung, die er in dem kontrollierten klinischen Versuch sah. So führte er aus: »Während der Patient in der gewöhnlichen therapeutischen Situation als ›Subjekt‹, als Gegenüber in der Bewertung des Behandlungserfolges mitwirkt, soll er wegen der Unsicherheit seiner ›subjektiven Aussagen‹ in der Versuchsanordnung als ›Objekt‹ behandelt werden. Für den Arzt, der einen doppelten Blindversuch leitet, tritt somit ein Objektwechsel ein: während er in der therapeutischen Situation sein Hauptaugenmerk auf das Leiden des Patienten und die Möglichkeit der Hilfe richtet, gilt sein Interesse als Leiter eines doppelten Blindversuches dem Versuch selbst – und der Patient wird vom Subjekt zum Objekt, aus der persönlichen Hilfeleistung wird ein Experiment.«76
Kienle betonte dabei stets, dass die experimentelle Situation mit der therapeutischen nicht identisch und eine Übertragbarkeit der Ergebnisse aus dem Experiment auf die reale Situation in hohem Maße fragwürdig sei. Mit der Gültigkeit dieser Annahme stehe und falle aber die Methodenlehre des kontrollierten klinischen Versuchs. In einzelnen Psychopharmakastudien sei jedoch nachgewiesen worden, dass diese Übertragbarkeit so nicht gegeben sei.77 Als Alternative zum Doppelblindversuch schlug Kienle deshalb vor, dass der Patient selber zwei Medikamente an sich testen solle, um dann zu beurteilen, welches Medikament er bevorzuge. Dieses Vorgehen mache den Patienten wieder zum Subjekt des Verfahrens und seine Bewertung werde zum Hauptgegenstand der Untersuchung.78 76 Kienle 1974, S. 173. 77 Kienle 1974, S. 180ff. Kienle spitzte diese Position mit folgenden Worten zu: »Wenn unter den Bedingungen des doppelten Blindversuchs ein Arzneimittel verschiedene und widersprechende Effekte zu zeigen vermag, wenn die persönlichen Faktoren und die Versuchsanordnung die Wirkungen von Placebo und Wirksubstanz unterschiedlich beeinflussen können, und wenn Placebo einen signifikant höheren Effekt als die Wirksubstanz oder eine entgegengesetzte Wirkung erzielen kann, so ist daraus nur zu folgern, daß der doppelte Blindversuch tatsächliche Wirkungen verschleiern und scheinbare Wirkungen vortäuschen kann« (Kienle 1974, S. 194). 78 Kienles Ansicht nach würden damit auch die Probleme der Placebowirkung minimiert und die Beeinflussung durch Persönlichkeitsmerkmale ausgeschaltet (vgl. Kienle 1974, S. 191). Auch David Healy verweist auf die Notwendigkeit, dass die PatientInnen die Psychopharmaka selber bewerteten, was im Gesundheitssystem zu dieser Zeit nicht möglich sei (vgl. Healy 2000b, S. 406).
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Kienle selbst war in den Diskussionen um den Wirksamkeitsbegriff im Rahmen des Arzneimittelgesetzes eine prominente Figur und hatte für die HomöopathInnen einen Wirksamkeitsbegriff durchgesetzt, der nicht den experimentellen Kriterien entsprach.79 Wie die dargestellten Diskussionen deutlich machten, wurden im Bereich der Psychopharmakaforschung Kienles Anregungen jedoch nicht aufgenommen. In der Zusammenfassung eines Symposiums der AGNP, das 1978 stattfand, wird deutlich, dass die PsychopharmakologInnen keinen Sonderweg planten, sondern sich trotz aller Schwierigkeiten dem Weg der experimentellen Wirksamkeitserfassung durch den kontrollierten klinischen Versuch anpassen wollten. Dabei traten aber auch die unterschiedlichen Interessen der beteiligten Disziplinen zu Tage. Die klinisch tätigen PsychiaterInnen hätten die Prüfung zwiespältig aufgenommen, wie Brigitte Woggon mit Bezug auf das Arzneimittelgesetz ausführte. Gleichzeitig hätten aber die methodischen Entwicklungen, welche die Psychopharmakologie mit sich brachte, am meisten zur Entwicklung der Psychiatrie beigetragen. Gerade die industrieunabhängigen klinischen Prüfergruppen, die eine Methodenentwicklung in den Vordergrund stellten, seien deshalb zu begrüßen.80 Aus diesen Ausführungen ist zu schlussfolgern, dass die Einführung experimenteller Versuchsanordnungen einer Psychiatrie, die in den 1970er Jahren wiederholt mit Kritik an ihren Praktiken zu kämpfen hatte, letztlich eine Statusaufwertung versprach. Für die bundesdeutsche pharmazeutische Industrie war die neugeschaffene gesetzliche Grundlage ambivalent. Zum einen bot die experimentelle Versuchsanordnung die lange geforderte Sicherheit eines Wirksamkeitsnachweises. Auf der anderen Seite war der pharmazeutischen Industrie bewusst, dass die Methodik die Zielinhalte präformiert. Zudem sorgten die gestiegenen Ansprüche an den kontrollierten klinischen Versuch dafür, dass sich die »Investition« in neue Psychopharmaka kaum noch lohnte, denn die Zeit und die Kosten für die Entwicklung der Substanzen nahmen ständig zu. Umfangreichere Dokumentationen und langwierige Wirksamkeitsnachweise erschwerten Innovationen, die durch härteren Wettbewerb und die anhaltende Kritik der »Laienpresse« ohnehin kaum noch möglich seien, wie von Seiten der PharmazeutInnen hervorgehoben wurde.81 Bekannte Zeitungen wie das Nachrichtenmagazin Der Spiegel hatten im 79 Eschenbruch 2008. 80 Woggon/Angst 1978. 81 Schmidlin 1978. Schmidlin betonte, dass alle wichtigen Entdeckungen in der Psychopharmakologie in den ersten sechs Jahren nach der Einführung des Chlorpromazins gemacht worden seien. Auch der Entwicklungsgrad der Neuroleptika sei im Großen und Ganzen noch der gleiche. Die Unbekanntheit der Genese sogenannter psychischer Krankheiten erschwere die Entwicklung neuer Psychopharmaka darüber hinaus.
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Rahmen der Diskussionen um das neue Arzneimittelgesetz von 1976 auch kritisch über die Einführung eines Wirksamkeitsnachweises durch den kontrollierten klinischen Versuch berichtet und KritikerInnen wie Kienle viel Raum gegeben. So spitzte das Blatt unter dem Titel »Experiment gelungen, Patienten tot« eine öffentliche Kritik an dem kontrollierten klinischen Versuch zu: »Menschenopfer und Menschenversuche sind alltägliche Praxis in Universitätskliniken und Krankenhäusern der Bundesrepublik. Verursacht wird die Test-Wut durch den Karrieredrang und die wissenschaftliche Neugierde von MedizinTechnokraten, die alles Menschliche, Erkrankung wie Gesundung, für messbar und machbar halten. Forciert wird der Versuchsbetrieb von Bürokraten in den Krankenkassen und im Bundesgesundheitsamt, die durch immer neue Medikamenten-Tests die Arzneimittelsicherheit fördern zu können glauben.«82
Aus Sicht des Bundesgesundheitsamtes markierte das Gesetz vor allem die Grenze staatlicher Eingriffe und steckte das Feld ab, in dem die klinischen PrüferInnen und die pharmazeutische Industrie in eigener Verantwortung für die Arzneimittelsicherheit und Wirksamkeit handelten. Der im neuen Arzneimittelgesetz geforderte Wirksamkeitsnachweis, erklärte Hans Heimann, sei so schwach, dass die Hauptlast bei den erprobenden Akteuren bleibe, weshalb die Einrichtung von Ethikkommissionen zu empfehlen sei.83 Diese Äußerungen verdeutlichten noch einmal die Gestaltungsspielräume, welche die Psychopharmakologie in der Fassung eines neuen Wirksamkeitsbegriffs hatte. In der Diskussion über die Anwendung des kontrollierten klinischen Versuchs warfen einzelne DiskussionsteilnehmerInnen darüber hinaus die Frage auf, ob man aus einer experimentell festgestellten psychotropen Wirkung auf eine therapeutische Wirksamkeit schließen könne.84 War diese Kritik in den frühen 1960er Jahren noch einflussreich gewesen, blieb sie in den 1970er Jahren von marginaler 82 »Experiment gelungen, Patienten tot«. In: Der Spiegel vom 11.09.1978, S. 55. Auftrieb erlebte derartige Kritik durch das Buch »Gesunde Geschäfte – die Praktiken der Pharmaindustrie«. Dort wurden unter dem Titel »Der mißbrauchte Patient – Versuchskaninchen Mensch« die tödlichen Folgen einer technokratischen Medizin beschrieben (vgl. Langbein et al. 1981, S. 117). 83 Heimann 1978. So musste der Leiter der klinischen Prüfung mit dem neuen Gesetz auch erstmalig von der pharmazeutischen Industrie über die Ergebnisse und Risiken der präklinischen Untersuchung unterrichtet werden. 84 Heimann 1978, S. 1534. Murswieck betonte, dass das Arzneimittelgesetz von 1976 insgesamt von der Pharmazeutischen Industrie begrüßt würde, weil es die gängige Praxis formalisiere und keine Bedarfslenkung des Arzneimittelmarktes versuche. Den Ärzten hingegen habe das Gesetz einen Statusgewinn gesichert, da sie ihren Einfluss in der Wirksamkeitsprüfung geltend machen konnten (vgl. Murswieck 1983, S. 316ff.).
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Bedeutung. Hanfried Helmchen sollte später ausführen, ein wissenschaftliches Wissen in der Psychiatrie sei als experimentelles Wissen zu verstehen und übersteige das Erfahrungswissen jedes einzelnen Arztes.85 In der bundesdeutschen Psychopharmakaforschung setzte sich damit die Etablierung eines experimentellen Wirksamkeitsnachweises durch und die VertreterInnen einer »neuen Wissenschaftlichkeit«86 wurden schließlich hegemonial.
85 Helmchen 1986, S. 174ff. 86 Marks 1997.
Zusa mme nfass ung Te il II: Episte mologisc he Versc hie bunge n in der bundesdeutschen Ps yc ho pharmak ologie
Im Rahmen der Erfassung neuroleptischer Effekte und der Bildung eines Begriffs von Wirksamkeit benötigte die Psychiatrie in der BRD im Laufe der Etablierung weiterer Psychopharmaka neue Erkenntnisformen, die für die Gestaltung der Psychiatrie von entscheidender Bedeutung sein sollten. Diese veränderten aber auch die verschiedenen Erfassungsformen der psychotropen Substanzen und bewirkten eine Neuformulierung der experimentellen Psychopharmakologie, die meines Erachtens eng mit einer Experimentalisierung der Psychiatrie verbunden war. Die entstehende »experimentelle Epistemologie«1 stellte eine Wende dar, die sich in der deutschen Psychiatrie schon Ende des 19. Jahrhunderts vorbereitet hatte und nun mit der Einführung der neuen Psychopharmaka eine neue Konjunktur erhielt.2 Am Anfang des Kapitels habe ich die Frage formuliert, ob und wie sich der klinische Versuch in der bundesdeutschen Psychiatrie an die Bedingungen des Experiments anpasste. Entlang dieser Hypothese habe ich analysiert, in welcher Weise sich Forschungsprobleme, Theorien, Messinstrumente und Versuchsanordnungen in ein zu generierendes Konzept von neuroleptischer Wirksamkeit einschrieben. Dabei habe ich die
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Borck 2005a, S. 13. Genannt seien hier unter anderem die schon in den 1920er und 1930er Jahren durchgeführten Experimente mit den psychiatrischen Schockverfahren (Cardiozol-, Insulin- und Elektroschock) und den Malariafiebertherapien. Für einen Überblick über diese Verfahren und ihre Bedeutung für die experimentellen Denkformen in der Psychiatrie vgl. Weber 1999.
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Versuchsbedingungen untersucht, welche das epistemische Objekt der neuroleptischen Wirksamkeit erst hervorbringen. Zunächst habe ich die Debatte um neuroleptische Wirksamkeit als Experiment anhand der amerikanischen Diskussionen um den klinischen Versuch dargestellt. Wie Harry Marks in seinem Buch »Progress of Experiment« verdeutlicht, war die Gestaltung des klinischen Versuchs schon seit Ende der 1940er Jahre eng an das Modell eines Experiments gebunden.3 So habe ich herausarbeiten können, dass die PsychopharmakologInnen in den USA zeitgleich mit dem Aufkommen der neuen neuroleptischen Verfahren auch ihre Evaluation an den kontrollierten klinischen Versuch anpassten. In der BRD hingegen blieben erste Vorstellungen über die Effekte der neuen Substanzen zunächst an kasuistische Beschreibungen und die Deskription der Effekte auf die ganze Person fokussiert. Erst im Rahmen der Diskussionen um ein neues Arzneimittelgesetz setzten sich Aspekte einer experimentellen Versuchsanordnung durch. Mit der Ausschaltung subjektiver Effekte von Patient und Versuchsleiter durch den Doppelblindversuch und der Randomisierung von Störgrößen lösten die ForscherInnen die Bildung eines neuroleptischen Wirksamkeitsbegriffs weiter von den Handlungen und dem Erleben des Patienten. Wirksamkeit wurde auch in Deutschland schließlich zu einem Begriff, den man erst durch die Einführung einer Reihe von Instrumenten und Aufschreibsystemen auf der einen Seite und die Anpassung der zu erfassenden klinischen Praxis an die Erfordernisse einer experimentellen Versuchsplanung auf der anderen Seite herstellen konnte. Durch diese technischen Bedingungen trat eine Episteme von Wirksamkeit hervor, die eine neue Wissensform etablierte.4 Dieser experimentelle Wirksamkeitsbegriff unterschied sich deutlich vom Konzept eines durch Zeugenschaft gewonnenen Wirksamkeitsnachweises, denn Experimentalsysteme beziehen ihre Dynamik aus der Produktion von Differenzen. Die klinischen Experimente und mit ihnen entstehende neue Versuchsanordnungen erzeugten also die Emergenz eines neuen Wirksamkeitsbegriffs. Dieser in der psychiatrischen Psychopharmakaforschung ab den 1970er Jahren entstehende experimentelle Wirksamkeitnachweis galt nun als verlässliches klinisches Wissen. Die beschriebene Setzung abstrahierte aber erstens davon, dass solche Wirksamkeitsnachweise schon aus strukturellen Gründen nicht stetig reproduzierbar waren. Zweitens gerieten auch die materiellen Bedingungen ihrer Produktion aus dem Blick, obwohl doch
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Marks 1997, S. 140ff. Rheinberger 2001, S. 25. Es sei darauf hingewiesen, dass der Bezug auf Rheinbergers Theorien hier partiell bleibt und nur einzelne Aspekte seiner Idee von Experimentalsystemen umfasst.
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gerade die an naturwissenschaftlichen Experimenten orientierten Versuchsanordnungen vorgeblich Kontrolle gewähren sollten. Der Wirksamkeitsbegriff löste sich damit nicht von den ihn hervorbringenden Versuchsanordnungen, sondern brachte sie nur zum Verstummen, indem er seine Bindung an sie leugnete.5 Der entstehende wortlose Nachweis unterschied sich fundamental von den durch die PatientInnen erfahrenen Psychopharmakaeffekten, unterwarf sie später jedoch gleichzeitig den durch die experimentelle Abstraktion gewonnenen Erkenntnissen. Doch warum setzten sich diese Standardisierungsbemühungen und die Einführung experimenteller Techniken erst mit dem Arzneimittelgesetz von 1976 durch? Oder wie man andersherum fragen könnte: Was waren die Gründe, die letztlich für einen experimentellen Wirksamkeitsnachweis sprachen, obwohl die gesetzlichen Vorgaben auch andere Fassungen ermöglicht hätten? Die Anwendung des kontrollierten klinischen Versuchs setzte in der Bundesrepublik auch in anderen medizinischen Disziplinen verhältnismäßig spät ein und blieb im Gegensatz zu den angloamerikanischen Ländern, wo er sich schnell durchsetzte, nicht unumstritten.6 Zeitliche Verzögerungen der Vereinheitlichungsbemühungen sind zum einen mit einer Angst der deutschen ÄrztInnen vor dem Vorwurf, die PatientInnen zu verobjektivieren, zu erklären, da ein solcher Umgang an die Verbrechen des Nationalsozialismus erinnerte.7 Zum anderen liegt es nahe, dass die späte Neufassung auch entscheidend durch die hegemoniale Position der ÄrztInnen in der bundesdeutschen Wirksamkeitserfassung der Medikamente mitbestimmt war. Eine Unterordnung des subjektiven Eindrucks des Arztes unter standardisierte Erfassungsverfahren schwächte zunächst auch dessen Position in der Beurteilung psychotroper Effekte. Dieser Machtverlust wurde mit der aufkommenden Dominanz nichtärztlicher WissenschaftlerInnen wie PsychologInnen und StatistikerInnen noch 5 6
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Rheinberger 2001, S. 9. So wurde die Haltung der bundesdeutschen ForscherInnen von bekannten Verfechtern des randomisierten, kontrollierten klinischen Versuchs kritisiert. Der englische Forscher Archie Cochraine, der mit seiner Monographie »Effectivness and Efficiency. Random Reflections on Health Services« in England bereits in den 1970er Jahren für die Einführung von kontrollierten klinischen Studien warb, schildert, dass die Deutschen auch noch zu diesem Zeitpunkt hervorhöben, dass der randomisierte klinische Versuch ethisch fragwürdig sei und als von der pharmazeutischen Industrie beeinflusst gelte (vgl. Wahlberg/McGoey 2007, S. 2). Daemmrich 2004; Weber 1999; Roelcke 2004. Einflussreich für diese Haltung der ÄrztInnen war sicherlich auch der Bericht über die Nürnberger Ärzteprozesse von Alexander Mitscherlich, der die Verbrechen der deutschen Ärzteschaft im Nationalsozialismus der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hatte (vgl. Mitscherlich/Mielke 1990/1947). Das Buch von Mitscherlich wurde schon im Jahr 1947 erstmalig publiziert, fand aber erst einige Jahre später eine breite Rezeption.
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verstärkt, die in der Nachkriegszeit eine zunehmend wichtigere Rolle in der Entwicklung neuer Erfassungsformen einnahmen.8 Erst spät erkannten die PsychiaterInnen, dass ein experimenteller Wirksamkeitsbeweis die Macht der Profession stärken könnte. Ein weiterer Erklärungsansatz ist das Beharren der bundesdeutschen PsychiaterInnen auf national typischen und kulturell etablierten Deutungsmustern. Letztere hatten ihre eigene nationale Bedeutung in der Geschichte der Psychiatrie und viele PsychiaterInnen verwehrten sich gegen den zunehmenden Einfluss der US-amerikanischen Psychiatrie. Dass sich eine Standardisierung der Neuroleptikaeffekte aus der Psychiatrie heraus in den 1960er und den 1970er Jahren doch durchsetzte, hing mit den Möglichkeiten zusammen, die diese experimentelle Neufassung des Wirksamkeitsbegriffs einer durch Legitimationsprobleme belasteten bundesdeutschen Nachkriegspsychiatrie bot, die sich nicht nur mit dem Nationalsozialismus, sondern auch mit den mangelnden therapeutischen Erfolgen ihrer Disziplin auseinandersetzen musste. Die Einführung eines stabilen experimentellen Beweises für die Effektivität der Neuroleptika versprach der Psychiatrie also eine neue Legitimationsbasis, die sie wieder an andere medizinische Disziplinen anschlussfähig machte. Die Macht, die die bundesdeutsche Psychiatrie durch die »stumme« Verabreichung und die quantifizierbare Darstellung der Effektivität neuer Psychopharmaka erreichte, erwies sich der »wortreichen« Legitimationskraft der eher anthropologisch orientierten, sich an individuelle Beobachtungen anlehnenden Beweisführung schließlich als überlegen.9 Gerade die eigensinnigen PatientInnen verdeutlichten aber die paradoxe Situation, der die Etablierung einer »wortlosen Objektivität« in der Psychiatrie ausgesetzt war. Aufgrund der fundamentalen Bedeutung, welche die biographische Rede des Patienten für die Erkenntnisse über den Wahnsinn und seine Behandlung hatte, blieb die Psychiatrie an die Äußerungen der Behandelten 8
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Marks 1997. Dieser arbeitet heraus, dass in den USA mit der statistischen Wende in der Medizin die Macht der ÄrztInnen zunehmend von der Macht der StatistikerInnen und PsychologInnen – also jenen Berufsgruppen, die neue Skalierungsverfahren entwickelten – abgelöst wurde. Mit Blick auf die Angst der ÄrztInnen, selbst zum Opfer solcher Standardisierungen zu werden, argumentieren auch Timmermans und Berg. Eine durchgesetzte Standardisierung berge nämlich immer auch die Gefahr, dass der Arzt selbst schließlich zum »Koch« degradiert werde, dessen eigene Fertigkeiten für die Behandlung kaum noch notwendig erscheinen würden, sondern nur noch eine mechanisierte Behandlung nach Rezept vorgesehen sei (vgl. Timmermans/Berg 1997). Dass die Psychopharmaka auch in der bundesdeutschen Psychiatrie der 1970er und 1980er Jahre schließlich von PatientInnenbewegungen als das bedeutendste Symbol der psychiatrischen Macht angesehen wurden, veranschaulicht unter anderem das bekannte Buch des Psychiatriekritikers Peter Lehmann mit dem Titel »Der chemische Knebel. Warum Psychiater Neuroleptika verabreichen« (Lehmann 1986).
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gebunden.10 Diese Sonderstellung verlieh der Subjektposition des Patienten eine große Bedeutung. Die Übersetzung in Messsysteme erwies sich in der bundesdeutschen Psychiatrie als keinesfalls einfach. Sie war der Schwierigkeit unterworfen, Begriffe in Abstraktion von dem Akteursstatus des Patienten zu bilden, dessen Subjektposition gleichzeitig in der Psychiatrie fortwährend auf die Konstitution des Wissens zurückwirkte. Die Experimentalisierung der Psychopharmakologie musste so einer doppelten Entwicklung folgen: In der psychiatrischen Klinik standen die zur Anwendung gelangenden Subjektivierungstechnologien, welche die PatientInnen zum Sprechen brachten, nun neben den Objektivierungstechnologien, mit denen eine eindeutige Wirksamkeit konstruiert werden sollte. Nur aus diesen Objektivierungstechnologien heraus konnte in der Genese des Wissens eine neue Abstraktionsform entstehen, welche die disparaten Effekte in eine experimentelle und somit anerkannte, stabile Sprache übersetzbar machte. Aus diesem Wirksamkeitsbegriff entschwanden neben unerwünschten und paradoxen Wirkungen jedoch auch die Stimmen der PatientInnen selbst. Im letzten Teil meiner Arbeit sollen deshalb ausgeschlossene Aspekte eines experimentellen Wirksamkeitsbegriffs in den Blick geraten.
10 Dieser Zwang zur Biographie und die psychiatrischen Techniken, den Patienten zum Sprechen zu bringen, sind nach Foucault konstitutive Techniken der psychiatrischen Wissensproduktion (vgl. Foucault 2005).
Teil III Diskussionen: Ausgeschlossene Wirksamkeitsaspekte – Neuroleptika in der Öffentlichkeit
1 . Solle n Ps yc hopha rmaka ve rbote n w erden? Neuroleptika im Spiegel der Debatten um ihre unerw ünschten Effekte
»Now we need urgently new advances in psychoses chemotherapy: the future of Psychopharmacolgy seems in question.«1
Mit diesen deutlichen Worten beschloss Pierre Deniker seine Eröffnungsrede des vierten Weltkongresses für Biologische Psychiatrie im Jahr 1985. Unter dem Titel »Are the antipsychotic drugs to be withdrawn ?« widmete der als »Entdecker« der Neuroleptika geltende Psychiater den ersten Vortrag der internationalen Tagung einer Verteidigung der Errungenschaften psychiatrischer Medikamente. Wie konnte es dazu kommen, dass Deniker gut ein Vierteljahrhundert nach der Einführung der Psychopharmaka glaubte, sie in einer öffentlichen Diskussion legitimieren zu müssen? Denikers Ausführungen bildeten den Höhepunkt einer internationalen Diskussion, innerhalb derer insbesondere Neuroleptika immer mehr in die Kritik geraten waren. Im Vorfeld zu seinem Vortrag hatte die FDA alle Neuroleptika in eine Warnklasse eingestuft und mitgeteilt, dass ein Verbot dieser Substanzklasse geprüft werde.2 Größere Zweifel an der Ungefährlichkeit von Neuroleptika hatte es bereits gegeben, nachdem das als erstes »atypisch«3 geltende Neuroleptikum Leponex (Clozapin) eine Dekade zuvor zurückgerufen werden musste, weil einige Todesfälle aufgrund einer
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Deniker 1985, S. 9. Deniker 1985, S. 1. Das Wort »atypisch« wurde gewählt, weil Clozapin als erstes Neuroleptikum die als für ein Neuroleptikum typisch geltenden extrapyramidalen Störungen nicht mehr oder nicht mehr in gleichem Maße hervorrief.
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von dem Medikament ausgelösten Agranulocytose4 bekannt geworden waren.5 Ein Antidepressivum, das in Frankreich vom Markt genommen werden musste, bildete für Denikers Rede einen weiteren wichtigen Anlass.6 Auch in Deutschland wurde Anfang der 1980er Jahre im Nachrichtenmagazin Der Spiegel von der Marktrücknahme eines Medikaments gegen Depressionen berichtet, weil die ersten klinischen Tests nach dessen Einnahme auftretende schwerste Lähmungserscheinungen nicht aufgezeigt hatten.7 Hintergrund dieser Verbotsdiskussionen war aber nicht nur der Rückruf einzelner Medikamente. Vielfältige unerwünschte Wirkungen brachten insbesondere die Neuroleptika in Misskredit. So plädierte Pierre Deniker unter anderem wegen des Auftretens von tardiven Dyskinesien8, die sich auch nach dem Absetzen der Medikation nicht zurückbildeten, für einen moderaten und niedrigdosierten Einsatz.9 Vor allem im US-amerikanischen Raum waren die Neuroleptika ins Zentrum einer Kritik geraten, die immer mehr in der Öffentlichkeit ausgetragen wurde. Beispielhaft für eine öffentliche Diskussion über die Psychopharmaka war der Auftritt des Psychiaters und Psychiatriekritikers Peter Breggin in der Oprah Winfrey Show im Jahr 1987. Breggin stellte in der Sendung vor einem Millionenpublikum das Auftreten von tardiven Dyskinesien als größtes Problem der Neuroleptika dar und hob hervor, dass man diese zum Teil irreversiblen Störungen bei jedem dritten Patienten beobachten könne, 4 5
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Plötzlicher Abfall weißer Blutkörperchen. Deniker 1985, S. 9. Über diese Todesfälle war bereits im Jahr 1975 berichtet worden, nachdem Clozapin in Finnland eingeführt worden war und acht PatientInnen an den Folgen von Sekundärinfektionen verstorben waren, die sie sich aufgrund nicht rechtzeitig behandelter Agranulozytosen entwickelt hatten. Auf diese als »Finnische Epidemie« bezeichnete Episode folgte in einigen Ländern das Verbot von Clozapin, in anderen durfte es nur unter strikten Auflagen weiter verwendet werden. Erst Ende der 1970er Jahre wurden diese Restriktionen teilweise gelockert (vgl. Stille/Fischer-Cornelssen 1988, S. 343). Deniker 1985, S. 1. Der Spiegel vom 03.10.1983, S. 62. Unter dem Titel »Nur Mut«, der von dem übersetzten Markennamen des zurückgerufenen Medikaments »Normud« des schwedischen Wallenberg-Konzerns abgeleitet worden war, konstatierte das Nachrichtenmagazin »ein schwarzes Jahr für die PharmaIndustrie«. Der Begriff tardive Dyskinesie bedeutet wörtlich übersetzt »verspätete motorische Störung«. Die darunter gefassten extrapyramidalen Bewegungsstörungen können im Gesichtsbereich auftreten und äußern sich durch Zuckungen, Schmatz- und Kaubewegungen, aber auch durch unwillkürliche Bewegungen der Extremitäten. Deniker 1985. Aber auch das Auftreten von Gelbsucht nach Chlorpromazineinnahme und die Häufigkeit extrapyramidaler Störungen wurden einer Analyse unterzogen.
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wenn dieser über einen längeren Zeitraum Neuroleptika eingenommen hätte. Als Referenzquelle für seine Behauptung diente ihm ein internes Papier der American Psychiatric Association. Letztere leugnete in der Öffentlichkeit die Bedeutung des Problems jedoch strikt. Breggin wurde nach seiner publikumswirksamen Anschuldigung von der National Alliance on Mental Illness (NAMI) mit dem Verlust seiner Zulassung als Psychiater gedroht. Aufgrund der Fürsprache einiger PsychiaterInnen blieb er schließlich jedoch Mitglied der Scientific Community.10 Breggins Beispiel zeigt, dass die Kritik an Neuroleptika innerhalb und außerhalb der Psychiatrie immer mehr zu einem Politikum wurde. Bereits im Jahr 1983 hatte der umstrittene Psychiater ein Buch mit dem Titel »Psychiatric Drugs. Hazard to the Brain« veröffentlicht, in dem er die körperlichen und seelischen Schäden einer Neuroleptikabehandlung aufzeigte.11 Er war darin zu ähnlichen Schlussfolgerungen gekommen wie der schwedische Arzt und Wissenschaftler Lars Martensson, der im Jahr 1984 auf einer internationalen Konferenz der World Federation for Mental Health einen Vortrag mit dem Titel »Should Neuroleptic Drugs be banned?« hielt, in dem er ein Verbot derselben forderte. Martenssons Ausführungen waren in der schwedischen Tagespresse breit rezipiert worden und in der Öffentlichkeit auf große Zustimmung gestoßen.12 Sollten Neuroleptika also verboten werden? Während Martensson dies bejahte, sah Deniker in seinem zeitgleich erscheinenden Artikel lediglich die Notwendigkeit, ihre Anwendung stärker zu kontrollieren. Beide Beiträge ließen die Prekarität der Neuroleptika international ins öffentliche Bewusstsein treten. Einerseits galten die Neuroleptika in der Psychiatrie inzwischen als unbestritten wirksam, andererseits arbeiteten US-amerikanische ForscherInnen Ende der 1980er Jahre heraus, dass die Wahrscheinlichkeit einer unerwünschten Wirkung, die sie bei den Neuroleptika mit gut zwei Dritteln bezifferten, größer sei als diejenige
10 Karon 1989, S. 107. 11 Breggin 1983. Breggin hatte in dem Buch nicht nur ausführlich die schweren unerwünschten Wirkungen von Neuroleptika hervorgehoben, sondern auch drei Grundannahmen als Mythen bezeichnet. Zunächst zeigten Neuroleptika nicht den gewünschten spezifischen »antipsychotischen« Effekt. Zudem sei die wissenschaftliche Forschung in diesem Bereich trotz der Debatten um den klinischen Versuch nicht »objektiv«. Schließlich hätten sich die Anstalten tatsächlich nicht geleert (vgl. Breggin 1983, S. 52ff.). Zudem griff er die Abhängigkeit der Psychiatrie von der Pharmaindustrie und ihren Medikamenten an und forderte medikamentenfreie, nutzerInnenkontrollierte Alternativen zur Psychiatrie ein (vgl. Breggin 1983, S. 255ff.). 12 Martensson 1988. Der Artikel ist die Übersetzung eines im Jahr 1985 in einer Kongresspublikation erschienenen Beitrags. Er wurde international mehrfach veröffentlicht, unter anderem 1988 von der Schweizerischen Zeitschrift Pro Mente Sana als Leitartikels eines Schwerpunktheftes über das Für und Wider von Psychopharmaka.
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einer erwarteten klinische Reaktion.13 Diese Diskussionen verdeutlichen auch die Schwierigkeiten, die Wirksamkeit eines Medikaments von den nicht erwünschten Effekten zu trennen. Erika Hickel zeigt bezüglich der Geschichte der Pharmazeutika, dass die Akzeptanz der Arzneimittelnebenwirkungen paradigmatisch für einen Arzneimittelbegriff der Moderne sei. Erst Louis Lewins (1850–1929) im Jahr 1890 erschienenes Werk »Die Nebenwirkungen der Arzneimittel« habe die Vorstellung hervorgebracht, man könne Haupt- und Nebenwirkungen überhaupt trennen beziehungsweise kontrollieren.14 Neben der weiteren Erforschung chemischer Reaktionen und der Etablierung von Tiermodellen sollten nach Lewin vor allem epidemiologische Studien helfen, die erwünschten von den unerwünschten Effekten zu unterscheiden. Mit der Akzeptanz des zunehmend statistischen Nachweises von erwünschten und unerwünschten Effekten eines Arzneimittels im Laufe des 20. Jahrhunderts wurden aber auch die Grenzen dieser mathematischen Methode deutlich, denn es wurde zunehmend schwieriger, überhaupt zu definieren, was eine bedeutsame unerwünschte Wirkung war. Neben der Frage nach der richtigen Methode der Arzneimittelevaluation15 stellte sich aber gerade in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit dem Aufkommen neuer sozialer Bewegungen auch die »Demokratiefrage« neu. Wer definierte, was schwerwiegende und was in Kauf zu nehmende unerwünschte Effekte seien?16 Welche Effekte waren aus wessen Sicht erwünscht und welche nicht? Abschließend möchte ich in den Blick nehmen, welche Rolle die unerwünschten Wirkungen in der bundesdeutschen Diskussion spielten und wie sie öffentlich wahrgenommen wurden. Vor dem Hintergrund dieser Fragen sollen zunächst die Diskussionen über unerwünschte Effekte aus der Sicht von PsychiaterInnen, Öffentlichkeit und PatientInnen beleuchtet werden.
13 Dewan/Koss 1989. 14 Hickel 1994, S. 53. Hickel gibt mit Bezug auf Lewin an, diese Unterscheidung habe wohl vor allem dazu gedient, die Ärzte in Gerichtsprozessen vor Schadensersatzforderungen zu schützen, indem behauptet worden sei, »typische« Arzneimittelwirkungen zeigten eben auch manchmal »unkontrollierbare« Abweichungen. 15 Nach Hickel umfassen die strittigen Themen der Arzneimittelevaluation die Akzeptanz des Tiermodells, den Sinn und die Grenzen statistischer Erhebungen, die Abgrenzung von Idealen der individualisierenden und teilnehmende Beobachtung und die Erfassung von Risiken als ethisches Problem (vgl. Hickel 1994). 16 Hickel 1994, S. 55.
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Erste psychiatrische Publikationen über »Nebenwirkungen« Fast zeitgleich mit der Beobachtung erwünschter Effekte von Chlorpromazin in der Psychiatrie wurden auch nicht erwünschte Effekte notiert.17 Ohnehin lässt sich entlang der Indikationsfindung der Phenothiazine verfolgen, dass die Definition eines Effekts als eines erwünschten allein vom Blickwinkel des zu beeinflussenden Phänomens abhing, denn aus der Sicht der ÄrztInnen wurden beispielsweise die sedierenden Eigenschaften der Phenothiazine bei AllergikerInnen als störend, bei psychiatrischen PatientInnen hingegen als erwünschte bezeichnet. Der amerikanische Psychiater Frank Ayd hatte bereits Anfang der 1960er Jahre eine vielzitierte Studie zu unerwünschten Effekten von Neuroleptika vorgelegt. Extrapyramidale Bewegungsstörungen waren nach Ayd die bekanntesten unerwünschten Wirkungen, deren Häufigkeit er mit gut einem Drittel angab.18 Als häufigste extrapyramidale Reaktion gab Ayd die Akinesie an. Diese Störung sei durch die Abnahme der willentlichen Bewegungen gekennzeichnet und lasse den Patienten müde und apathisch wirken. Aber auch das Auftreten von Dyskinesien – einer Störung, die gekennzeichnet ist durch ein abruptes unwillentliches Bewegen von Armen und Beinen oder ein unkontrollierbares »Grimassieren« – konnte er vergleichbar häufig beobachten.19 Ayd brachte die Ausprägung der unerwünschten extrapyramidalen Symptome mit der Potenz der verabreichten Neuroleptika, also der gewünschten Beeinflussung psychischer Phänomene, in Verbindung. Auch in der bundesdeutschen Psychiatrie wurde zunächst die Auffassung vertreten, dass die ausgeprägten extrapyramidalen Störungen Voraussetzungen erwünschter Wirkungen seien. Insbesondere der Psychiater Fritz Flügel hielt diese Phänomene, die er als akinetisch-abulisches Syndrom bezeichnete, für unabdingbar. Gerade eine von Flügel als besonders effektiv bezeichnete Kombinationsbehandlung der beiden gängigen Neuroleptika, Chlorpromazin und Reserpin, ließ die Zahl der Bewegungsstörungen
17 Zu den beobachteten unerwünschten Effekten in den frühen 1950er Jahren vgl. III.5.4. 18 Das Auftreten extrapyramidaler Syndrome ist nach Deniker in verschiedene Stadien zu untergliedern. Zunächst würden die Neuroleptika eine reversible, lethargische Somnolenz auslösen (akinetisches Syndrom), danach könne man in einer Übergangsphase Dyskinesien und Hyperkinesien beobachten. Schließlich sei das Auftreten von Parkinsonismus sowie Akathisie zu beobachten. Insgesamt weise das Erscheinungsbild enge Parallelen zur Encephalitis auf (vgl. Deniker 1988, S. 124; Steck 1954). 19 Ayd 1961, S. 154ff.
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jedoch zunehmen.20 Die von vielen PsychiaterInnen geteilte Haltung Flügels verdeutlichte die Untrennbarkeit von erwünschten und unerwünschten Effekten in einem Begriff der neuroleptischten Wirksamkeit am Beginn ihrer psychiatrischen Verwendung.21 Auch wenn nicht alle PsychiaterInnen annahmen, dass unerwünschte Wirkungen für einen therapeutischen Effekt notwendig seien, bildete diese Auffassung in der frühen BRD die Mehrheitsmeinung.22 Gleichzeitig räumte Flügel ein, dass die unerwünschten Effekte ein ernst zu nehmendes Problem in der Behandlung psychiatrischer PatientInnen darstellten. So führte er aus: »Manche Nebenwirkungen bereiten jedoch einer allgemeinen routinemäßigen Behandlung in der psychiatrischen Praxis noch gewisse Schwierigkeiten. Auch nach dem Absetzen dieser Mittel halten derartige Nebenwirkungen häufig an, und man kann oft erhebliche individuelle Unterschiede in der Wirkung sehen.«23
Die erwähnten individuellen Schwankungen in Hinblick auf erwünschte und unerwünschte Effekte zeigten sich jedoch nicht nur als abhängig von Person und Situation, sondern auch vom Geschlecht der einnehmenden PatientInnen.
Unerwünschte Wirkungen haben ein Geschlecht Schon gegen Ende der 1950er Jahre wurde deutlich, dass unerwünschte Wirkungen der Neuroleptika sich unterschiedlich auf die Geschlechter verteilen. In der Regel waren Frauen davon wesentlich häufiger betroffen als Männer. Schon zu Beginn der Verwendung von Chlorpromazin wies jede zehnte Patientin, aber nur jeder fünfzigste Patient die beschriebenen Hautekzeme auf. Beim Pflegepersonal, das durch eine ungeschützte Berührung mit den Chlorpromazintabletten ebenfalls einen Hautausschlag bekommen konnte, war jede zweite Pflegerin davon betroffen, während das Problem 20 Flügel et al. 1958. Flügel gab die Häufigkeit extrapyramidaler Störungen bei der Kombinationsbehandlung mit den beiden Substanzen mit 77 Prozent an. Die Kombination wurde von der Firma BAYER auch als Megaphen compositum vertrieben, da PsychiaterInnen sie regelmäßig in psychiatrischen Anstalten verwendeten (vgl. III.7.2). 21 Die Einheit spiegelt sich auch in der Namensgebung wider. Denn Neuroleptika bedeutet wörtlich »welche das Nervensystem weich machen«. Dieser Begriff stieß auf Zustimmung und Ablehnung. So zog die FDA den Begriff der »major Tranquilizer« vor, da sich der Begriff der Neuroleptika vor allem durch die unerwünschten Wirkungen definiere (vgl. Deniker 1988, S. 23). Einen ersten Bericht über die Gemeinsamkeit beider bis dahin bekannter Neuroleptika, extrapyramidale Syndrome auszulösen, veröffentlichte Steck bereits im Jahr 1954 (vgl. Steck 1954). 22 Zu einer ablehnenden Haltung vgl. Hiob/Hippius 1959; Meyer 1957a. 23 Flügel et al. 1958, S. 445.
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bei männlichem Personal nahezu unbekannt war.24 Auch ein durch die Verabreichung von Neuroleptika ausgelöster Parkinsonismus sei, wie Freyhan angab, bei Frauen zweimal so häufig wie bei Männern. Diese Tatsache erschien umso verblüffender, da der Parkinsonismus ansonsten häufig als »Krankheit des Mannes« galt. Im Hinblick auf die geschlechtsspezifischen Unterschiede der extrapyramidalen Störungen stellte Freyhan schließlich fest: »Die neurophysiologische Klärung dieser neuroleptischen Effekte dürfte von weitreichender Bedeutung sein.«25 Wie Ayd herausarbeitete, waren zwei Drittel der PatientInnen, die extrapyramidale Störungen zeigten, weiblich. Lediglich bei den Dyskinesien sei die Häufigkeit des Auftretens bezüglich des Geschlechts der PatientInnen umgekehrt verteilt.26 Auch nahmen Frauen durch die Neuroleptikabehandlung leichter an Gewicht zu als Männer, was von vielen Frauen ebenfalls als unerwünschte Wirkung erlebt wurde.27 Insgesamt erhielten Frauen nach Ansicht einiger ForscherInnen Neuroleptika in höherer Dosierung, zeigten durch die medikamentöse Behandlung eine höhere »Besserungsrate«, litten aber gleichzeitig unter einer zwei- bis zehnmal so großen Anzahl von unerwünschten Wirkungen.28 Die Diskussionen über unerwünschte Wirkungen wiesen deshalb auch starke geschlechtersensible Aspekte auf, denn hinter den vom Geschlecht abstrahierenden, in den Veröffentlichungen angegebenen Durchschnittswerten steckten in der Regel unterschiedliche Realitäten für Männer und Frauen. Da es in den 1950er Jahren überwiegend männliche Psychiater waren, die über unerwünschte Wirkungen und ihre Verhältnismäßigkeit hinsichtlich einer zu erwartender »Besserung« debattierten, müssen diese Diskussionen nicht nur vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Perspektiven von Arzt und Patient gelesen werden, sondern sie reflektieren auch eine Dominanz des männlichen Blicks.
Psychiatrische Diskussionen über »Nebenwirkungen« in der Bundesrepublik Deutschland Unerwünschte Wirkungen zu beobachten und systematisch zu melden, war in der BRD in den 1950er Jahren jedoch weitgehend in das Belieben des 24 Hiob/Hippus 1959. 25 Freyhan 1957, S. 504; Freyhan 1960. 26 Ayd 1961. Diese kamen umso häufiger vor, je jünger die PatientInnen waren. 27 Freyhan 1957. 28 Denber 1959, S. 62. Dies galt insbesondere für jüngere Frauen. Die angeführte höhere Besserungsrate muss gleichzeitig vor dem Kontext betrachtet werden, dass man die Frauen aus sozialen Gründen trotzdem häufig nicht entlassen konnte und eine Wirksamkeitsprüfung an Frauen deshalb als schwieriger galt (vgl. III.3.5).
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einzelnen verabreichenden Arztes gestellt. Ihre Erfassung war keine staatlich überwachte Aufgabe, und sie nahm im Bewusstsein der ÄrztInnen keine allzu große Rolle ein. In Martinis im Jahr 1953 neu aufgelegter »Methodenlehre der therapeutisch-klinischen Forschung« wurden unerwünschte Wirkungen überhaupt noch nicht erwähnt.29 Setzt man voraus, dass Martinis Monographie die einflussreichste Konzeption des klinischen Versuchs in der Bundesrepublik zu dieser Zeit war, liegt die Vermutung nahe, dass die unerwünschten Wirkungen in der Wahrnehmung der ÄrztInnen in der Regel keine große Rolle spielten.30 Einen markanten Wendepunkt für diese Auffassung bildete der »Conterganskandal«. Nachdem die Öffentlichkeit als Folge des rezeptfrei erhältlichen Schlafmittels die Geburt von Babys mit missgebildeten Extremitäten beobachten konnte, wurden ÄrztInnen und Öffentlichkeit drastisch deutlich, dass schon eine einzige Tablette gravierende Folgen haben konnte.31 In Folge dieser wohl größten deutschen Arzneimittelkatastrophe diskutierten deutsche ÄrztInnen seit dem Jahr 1963 verstärkt über eine Erfassung unerwünschter Arzneimittelwirkungen.32 Im Jahr 1964 wurde von der Arzneimittelkommission deutscher Ärzteschaft erstmalig ein Formblatt zur Erfassung von »Arzneimittelnebenwirkungen« herausgegeben und jeder Arzt dazu aufgefordert, therapeutisch unerwünschte Effekte der Medikation genau anzugeben.33 Ab Mitte der 1960er Jahre versuchte die Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft, diese Angaben zentral zu sammeln.34 Auch Martinis Neuauflage der Methodenlehre wies nun ein gut zehnseitiges Unterkapitel zur »Rolle der Nebenwirkungen in der therapeutischen Forschung« auf.35 Martini führte aus, dass man zwar nicht grundsätzlich neue Gesetze für die pharmakologische Prüfung benötige, räumte aber ein, dass Ärzte in den vergangenen Jahren aufgrund der zunehmenden Masse an Medikamenten viel häufiger in die Lage versetzt worden seien, zwischen Nutzen und
29 Martini 1953. 30 In der Neuroleptikaforschung wurde dies auch durch die Haltung Flügels deutlich, erwünschte und unerwünschte Arzneimittelwirkungen als Einheit zu betrachten. 31 Zum Conterganskandal vgl. Kirk 1999; Daemmrich 2004. 32 Daemmrich 2004, S. 130. 33 Koller 1964. Bereits im Jahr 1963 hatte Koller auf die Notwendigkeit der Statistik und Dokumentation hingewiesen und gefordert, dass sich alle medizinischen Erhebungen an einer statistischen Auswertung orientieren sollten (vgl. Koller 1963, S. 1923). 34 Daemmrich 2004, S. 130. Daemmrich arbeitete heraus, dass die Erfassung den einzelnen ÄrztInnen aber sehr viel mehr Spielraum in der qualitativen Beurteilung eines unerwünschten Effektes ließ als vergleichbare amerikanische Vorgaben. Die Kompetenz zu bestimmen, was eine wesentliche Nebenwirkung war, blieb so bei den ÄrztInnen. 35 Martini/Oberhofer/Welte 1968, S. 73ff.
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Schaden einer medikamentösen Behandlung abzuwägen.36 Dass die Einnahme von Medikamenten in großem Maße unerwünschte Folgen haben könnte, war den bundesdeutschen ÄrztInnen schlagartig bewusst geworden. In der bundesdeutschen Psychopharmakaforschung wurde zeitgleich mit den aufkommenden Diskussionen über Arzneimittelschäden in der Ärzteschaft eine erste Monographie über »Therapeutisch unerwünschte Wirkungen der Neuroleptika« vorgelegt.37 Auch der Autor dieser Studie verwies auf die signifikante Häufung des als »chemische Zwangsjacke« beschriebenen Parkinsonismus bei Frauen.38 Neben den die PatientInnen sehr belästigenden dyskinetischen Reaktionen zählte Wagensommer vor allem Akathisie,39 Parkinsonismus,40 eine erhöhte Bereitschaft zu Krampfanfällen bei Epileptikern und weitere unerwünschte Wirkungen wie zum Beispiel das Auftreten von Agranulocytose auf. Auch einige Todesfälle seien zu beobachten gewesen. Gerade für die Psychopharmaka sei jedoch eine von den PatientInnen als unangenehm erlebte psychische Wirkung wesentlich, wie Wagensommer herausarbeitete. Da PsychiaterInnen aber das Wesen der psychopathologischen Syndrome nicht kennen würden, könnten sie die unerwünschten psychischen Wirkungen eines Arzneimittels in der Psychiatrie kaum erfassen.41 Untrennbar schien deshalb gerade eine nicht gewünschte psychische Beeinflussung mit einer gewünschten psychopharmakologischen Reaktion verbunden zu sein. Im Jahr 1964 beschäftigte sich in der Bundesrepublik erstmalig eine Konferenz mit den »Begleitwirkungen und Mißerfolge[n] der psychiatrischen Pharmakotherapie«.42 Auf dem an der Universitätsklinik Mainz stattfindenden Symposion wurde auch der inzwischen weit verbreitete Einsatz von Neuroleptika kritisiert. So erklärten einige Forscher, in einzelnen Fällen könne man nicht mehr von Nebenwirkungen sprechen, sondern erst der Medikamenteneinsatz habe »überreizte Menschen« in klinisch behandlungsbedürftige Fälle verwandelt.43 Zum ersten Mal wurden auch choreioforme Dauerhyperkinesien nach neuroleptischer Behandlung erwähnt. Diese traten meist erst nach jahrelanger Verabreichung auf und waren bis 36 37 38 39 40
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Martini/Oberhofer/Welte 1968, S. 83. Wagensommer 1963. Wagensommer 1963, S. 6. Allgemeine motorische Unruhe, die sich in der Unfähigkeit äußert, still zu sitzen. Gruppe von krankhaften Erscheinungen, die Symptome der Parkinsonschen Krankheit zeigen, ohne deren Ursache zu haben. Symptome des Parkinsonismus sind zum Beispiel ein Verlust der Mimik, ein Zittern der Hände in Ruhestellung (Ruhetremor) oder eine Minderung des Antriebs. Wagensommer 1963, S. 32. Kranz/Heinrich 1964. Allert 1964.
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zu diesem Zeitpunkt als Folge des Neuroleptikakonsums in der BRD unbekannt.44 Der neuroleptischen Dauerbehandlung, so folgerte Haddenbrock schon in den 1960er Jahren, seien wegen ihrer ernst zu nehmenden Schäden ärztliche Grenzen zu setzen.45 Aber auch unerwünschte psychische Einflüsse der Neuroleptika machten den PsychiaterInnen zu schaffen. So beobachteten sie zwar durch die Verabreichung von Neuroleptika eine Abnahme »positiver Symptome«, unter denen man verschiedene Formen des Wahns fasste, demgegenüber standen aber die unter dem Begriff »Negativsymptomatik« zusammengefassten Phänomene wie Kontaktarmut, Konzentrationsstörungen und Insuffizienzgefühle. Letztere hatten bei den PatientInnen durch die Neuroleptika teilweise noch zugenommen. Wie hervorgehoben wurde, habe gerade das Gefühl, nicht zu genügen, das Leben der PatientInnen in den Familien nach der Klinikentlassung trotz einer verabreichten Erhaltungsmedikation erschwert. Wegen der Niedergeschlagenheit nach einer Neuroleptikaeinnahme müsse jeder fünfte Patient, wie ein Autor herausarbeitete, ohnehin zusätzlich ein Antidepressivum einnehmen.46 Gerade die zusätzliche Gabe von Antidepressiva könne aber delirante Episoden auslösen. Wie Hanns Hippius und Hanfried Helmchen ausführten, wurden in solchen Fällen die vorher ruhigen Kranken »innerhalb von Minuten bis zu wenigen Stunden unruhig, bettflüchtig, verlieren die Orientierung, verkennen die Situation, haben optische und akustische, selten auch haptische Trugwahrnehmungen«.47 Die Autoren gaben an, das wenig steuerbare Delir könne mitunter auch zum Tod führen und die PsychiaterInnen sollten ihm mit einem sofortigen Absetzen der Medikation begegnen. Unklar blieb, ob die Ärzte die PatientInnen über diese Delire als Folge der Medikation aufklären müssten,48 denn eine Information über solche Medikamentenfolgen könne auf die »Therapietreue« der PatientInnen erhebliche Auswirkungen 44 Haddenbrock 1964. Er bezeichnet die Spätdyskinesien im Unterschied zu den dyskinetischen Reaktionen als chronische Stammhirntoxikation, die auf hochdosierte Langzeitbehandlungen zwischen den Jahren 1956 und 1962 zurückzuführen sei. 45 Haddenbrock 1964, S. 62. 46 Heinrich 1964. 47 Helmchen/Hippius 1964, S. 31. In der Regel sei in diesen Zustand das Gesicht der PatientInnen rot und der Blutdruck erhöht, und das Delir könne mit apathischen Stadien abwechseln. 48 Diskussion zu Helmchen/Hippius 1964. Die Angaben zur Häufigkeit des Auftretens von Deliren schwankten zwischen 1 Prozent und 20 Prozent. Unklar blieb, ob die Delire durch eine zu schnelle Dosissteigerung am Anfang mitbedingt gewesen waren. Die Häufigkeitsangaben waren von großer klinischer Relevanz, da der Bundesgerichtshof schon zu diesem Zeitpunkt geurteilt hatte, dass der Patient über Komplikationen, die über einer Wahrscheinlichkeit von einem Hundertstel lagen, vom Arzt aufgeklärt werden und der Therapie zustimmen müsse.
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haben. Ohnehin erlebten viele PatientInnen nach Angaben einiger Psychiater die unerwünschten Wirkungen als Strafe, welche die Abhängigkeit vom Arzt erhöhe.49 Wie Helmchen und Hippius herausarbeiteten, bedürfe es deshalb einer psychischen »Führung des Kranken, um ihm die Harmlosigkeit der Dyskinesien zu erklären und die Notwendigkeit der Therapie zu erläutern«.50 Auch die Anzahl der Todesfälle war nicht so gering, wie man zunächst vermutet hatte, erreichte nach Häfners Angaben aber nicht eine aufklärungspflichtige Rate.51 Während unerwünschte Effekte der Neuroleptika in psychiatrischen Fachkreisen seit Beginn der 1960er Jahre vermehrt diskutiert wurden, waren sie jedoch der Mehrzahl der verabreichenden ÄrztInnen nicht bekannt. Noch im Jahr 1967 sah sich die Arzneimittelkommission deutscher Ärzteschaft veranlasst, auf das Auftreten von extrapyramidalen Störungen nach dem Neuroleptikakonsum aufmerksam zu machen, da sie von den meisten verabreichenden ÄrztInnen nicht erkannt würden.52 Noch wichtiger schien es der Arzneimittelkommission, auf die zunehmende Verabreichung von Neuroleptika außerhalb der Psychiatrie zum Zwecke der psychischen Sedierung hinzuweisen.53 Bereits Mitte der 1960er Jahre hatte ein Psychiater herausgearbeitet, dass die Verbreitung der Neuroleptika zur Bekämpfung von »Lebensproblemen« außerordentlich häufig sei. Es entstünde der Eindruck, dass diese auch zur Beeinflussung leichter Angst- und Unruhezustände gebraucht würden. So spitzte der Autor zu: »Vom Standpunkt des Klinikers kann die Verordnung starker neuroleptischer Medikamente mit ausgesprochen antipsychotischer, aber viel weniger ataraktischer Wirkung in der freien Praxis in derartigem Ausmaß keinesfalls gutgeheißen [werden]. Im Rahmen nichtpsychotischer Desequilibrierungen des autonomen Nervensystems [...] wird aber oft genug mit Kanonen auf Spatzen geschossen und oft genug vorbeigeschossen.«54 49 Böszormenyi/Kardos 1964. 50 Helmchen/Hippius 1964, S. 36. Ausführlicher zum sich vor allem in den 1980er Jahren etablierenden Begriff der »Therapietreue« beziehungsweise »Compliance« vgl. V.2. 51 Häfner 1964. Er gibt die Rate mit 0,7 Prozent an. Die Todesfälle seien vor allem auf Thrombolien und Infarkte zurückzuführen. 52 Arzneimittelkommission deutscher Ärzteschaft 1967, S. 2330. Meist würden die extrapyramidalen Störungen irrtümlich für Tetanus, Enzephalomyelitis oder epileptische Anfälle gehalten und die unerwünschte Effekte minimierenden Begleitmedikationen deshalb verhindert. Bei einer nichtpsychiatrischen Indikation solle man beim Auftreten der unerwünschten Wirkungen ohnehin auf eine weitere Verwendung verzichten. 53 Arzneimittelkommission deutscher Ärzteschaft 1967, S. 2330. 54 Kranz 1965, S. 151. In der Häufigkeit der Verschreibung von Neuroleptika in der Allgemeinpraxis führe bei den mäßig starken Neuroleptika Megaphen (31,8 Prozent) vor Taxilan (18,1 Prozent). Bei den hochpotenten Mitteln
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Zunehmend unklarer wurde angesichts der vermehrten Verwendung der »Antipsychotika« bei leichteren Angstzuständen aber auch die Unterscheidung von Neuroleptika und Tranquilizern in der ärztlichen Anwendung.55 Aufgrund des noch nicht hinreichend geklärten Vorkommens nicht erwünschter Wirkungen bezeichneten einige PsychiaterInnen wie zum Beispiel Rudolf Degkwitz die Verabreichung neuroleptischer Substanzen an weite Kreise der Bevölkerung als »Massenexperiment«.56 In seinen eigenen Studien, in denen er die Neuroleptika absetzte, konnte Degkwitz beobachten, dass sich die Hälfte der beschriebenen Parkinsonsyndrome nicht zurückbildete. Er merkte an, dass eine bisher von den ForscherInnen noch nicht in Betracht gezogene Toleranzentwicklung sehr kritisch zu prüfen sei.57 Bisher war das Absetzen von Psychopharmaka in der BRD jedoch nur unter dem Aspekt des Wiederauftauchens oder plötzlichen Verschwindens unerwünschter Verhaltensweisen nach dem plötzlichen Stoppen der Medikation betrachtet worden.58 Dass das Absetzen von Neuroleptika folgenreich sein und auch der Konsum dieser Substanzen abhängig machen konnte, war jedoch in den USA schon einige Jahre vorher bekannt geworden. Bereits Ende der 1950er Jahre war im American Journal of Psychiatry berichtet worden, dass das Absetzen von Neuroleptika schwere Entzugserscheinungen hervorrufen könne. Wie der Autor darlegte, seien in einem klinischen Versuch, in dem Chlorpromazin und Reserpin abrupt abgesetzt worden seien, plötzlich Symptome aufgetreten, die von einer Langzeitanwendung von Morphin nicht zu unterscheiden gewesen wären. Diese Erscheinungen nähmen zu, je länger der Absetzprozess andauere. Der Autor warnte davor, die über längere Zeit bestehenden Absetzphänomene irrtümlich lediglich einem Wiederauftauchen der alten Symptomatik zuzuschreiben.59 Insgesamt hatte sich die psychiatrische Wahrnehmung der Neuroleptika in der BRD im Laufe der 1960er Jahre verändert. Während PsychiaterInnen in den 1950er Jahren den Einsatz der neuen psychotropen Medika-
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werde Fluphenazin (78,1 Prozent) weit häufiger als Haloperidol verschrieben. In den 1970er und 1980er Jahren wurde ihr Konsum deshalb von einigen Kritikern zusammen gefasst (vgl. unter anderem Komo 1978; Sichrovsky 1984). Degkwitz 1972, S. 369. Degkwitz 1972, S. 371. Tölle 1964. Brooks 1959, S. 932. 12 seiner 20 PatientInnen, die Neuroleptika abrupt absetzten, zeigten starke Muskelschmerzen, kalte Schweißausbrüche und mussten sich häufig übergeben. Diese Absetzphänomene wurden im Wesentlichen in einer Chlorpromazinstudie von Hollister bestätigt. Dieser bezeichnete diese durch Neuroleptika hervorgerufenen Phänomene als Abhängigkeit ohne Missbrauchspotenzial (vgl. Hollister/Healy 1998, S. 227).
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mente vor allem wegen ihrer Ungefährlichkeit gepriesen hatten, wurden Neuroleptika auch in der Wahrnehmung dieser Berufsgruppe zunehmend stärker zu »gefährlichen Stoffen«.60 Wie schon in der Diskussion zu dem Symposium im Jahr 1964 angemerkt wurde, berge die Behandlung mit dieser Gruppe von Psychopharmaka Risiken, die nur bei einer Behandlung von »Psychotikern« angebracht seien. Man befürchtete ansonsten eine starke Ablehnung der Bevölkerung in Bezug auf Psychopharmaka.61 Diese Angst schien berechtigt, da sich auch die Rechtssprechung Ende der 1970er Jahre mit den Folgen einer zunehmend breiteren Anwendung von Psychopharmaka beschäftigte. In der Monographie »Die verordnete Intoxikation« befasste sich der Jurist Emil Komo mit der strafrechtlichen Kontrolle von Psychopharmakaschäden. Bei diesen handle es sich, wie der Autor hervorhob, nicht um Nebenwirkungen im Sinne des Arzneimittelgesetzes von 1976. Folgeschäden von Psychopharmaka manifestierten sich in der Regel schleichend, träten bei langfristiger Einnahme regelmäßig auf und könnten als massive Gesundheitschädigung gelten. Der ärztlich verordnete Massenkonsum dieser Substanzen sei also durchaus strafrechtlich relevant. Obwohl Komo sich in seiner Untersuchung insbesondere auf die Tranquilizer konzentrierte, bezog er Neuroleptika ausdrücklich in seine Analyse mit ein.62 Er forderte unter anderem, das Verschreibungsrecht der Ärzte dahingehend einzuschränken, dass die in erheblichem Umfang verschriebenen Psychopharmaka den Bestimmungen des Betäubungsmittelgesetzes unterstellt oder unter »Missbrauchsaufsicht« gestellt würden.63 Nicht nur die verbreitete Verschreibung der Neuroleptika in Allgemeinpraxen, auch die Verwendung dieser Substanzen in psychiatrischen Kliniken selbst geriet zunehmend in die Kritik. Asmus Finzen spitzte diesen Sachverhalt in seinem Ende der 1980er Jahre erschienenen Lehrbuch folgendermaßen zu:
60 Zur Diskussion über die Gefährlichkeit psychiatrischer Behandlungsformen vgl. II.3. 61 Diskussion zu Allert 1964. 62 Komo 1978, S. 1. Komo fasste Neuroleptika und Tranquilizer zusammen, da ihr Gebrauch in der Praxis ähnlich sei. So hob er hervor, dass Neuroleptika neben ihrem beruhigenden Effekt auch häufig als Schlafmittel verschrieben würden, da ihre Wirkung auch einen schlafanstoßenden Effekt habe. 63 Komo 1978, S. 77. Bei der Missbrauchsaufsicht orientierte Komo sich an Verfahren der FDA. So forderte er insbesondere von den Bundesgesundheitsämtern eine entsprechende Überwachung ein. Weitere Forderungen Komos betrafen das Verbot der Werbung und des Verteilens von Ärztemustern. Zudem forderte er eine Lenkung des Arzneimittelmarktes durch das »medizinische Bedürfnis«. Dieses fehle regelmäßig, wenn ein Medikament sich in seinen Effekten nur unwesentlich von einem bereits zugelassenen Medikament unterscheide (vgl. Komo 1978, S. 78ff.).
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»Unkritische Verordnungsweisen, mißbräuchliche Anwendung und Unübersichtlichkeit des Marktes haben die Psychopharmaka zu Problemmedikamenten gemacht. Die Medikamentenbehandlung ist in den letzten Jahren zu einem Hauptansatz der Psychiatriekritik geworden.«64
Diese Kritik war in den 1980er Jahren zu einem großen Thema in öffentlichen Debatten geworden, die kurz skizziert werden sollen.
Neuroleptika in der öffentlichen Diskussion Bereits seit Beginn der 1970er Jahren hatte das Nachrichtenmagazin Der Spiegel die »brutale Wirklichkeit« in den psychiatrischen Kliniken kritisiert.65 Die Einführung der modernen Psychopharmaka wurde dabei vor allem als Repressionstechnologie begriffen, wie das folgende Zitat deutlich macht: »Aus den Tollhäusern früherer Jahre wurden dann Schlaf- und Dämmeranstalten, nachdem vor 30 Jahren die Psychopharmaka entdeckt wurden [...]. Mit dem 1952 als Beruhigungsmittel eingeführten Chlorpromazin ließen sich vor allem die wegen ihrer Hospitalisierung tobenden Patienten ›innerhalb kürzester Zeit ruhigstellen‹ (Enquete); die der Therapie hinderliche Abwehr konnte unterdrückt, der Patient ›disponibel‹ gemacht werden. Trotz bedenklicher Nebenwirkungen werden auch heute noch Psychopharmaka, etwa Haldol, Schizophrenen und stark depressiven Patienten täglich in hohen Dosen verabreicht.«66
Es war nicht nur eine Kritik an der Masse der verabreichten Medikamente, sondern auch an mangelnden langfristigen Erfolgen einer Therapie mit Neuroleptika, die im Spiegel-Artikel auch als »Drehtürpsychiatrie« beschrieben wurde. Bereits Anfang der 1970er Jahre hatte der amerikanische Psychiater Loren Mosher in einer Studie für das National Institute of Mental Health darauf hingewiesen, dass sich in den Vereinigten Staaten zwar nach der Einführung der Neuroleptika die Entlassungsrate erhöht habe, die PatientInnen aber häufiger wiederkehrten als vor der Ära der modernen psychiatrischen Medikamente. Die Tatsache, dass sich die PatientInnen kürzer, aber häufiger in der Psychiatrie aufhielten, nannte Mosher »Drehtüreffekt«.67 Auch wenn kritisch zu hinterfragen ist, ob eine Abnahme der 64 Finzen 1987, S. 14. 65 »Brutale Wirklichkeit«. In: Der Spiegel vom 10.09.1973. Zur Psychiatriekritik in den Jahren zuvor vgl. beispielhaft »Eia-popeia, bitte nicht schlagen!«. In: Der Spiegel vom 26.07.1971; »Sanfter Zwang im Interesse des Kranken«. In: Der Spiegel vom 28.10.1968. 66 »Schizophrenie austragen wie Schnupfen«. In: Der Spiegel vom 20.11.1978, S. 197. 67 Mosher/Feinsilver 1971, S. 1.
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PatientInnenpopulation in den USA wirklich auf die Einführung der Neuroleptika zurückzuführen ist,68 lasen sich die hohen amerikanischen Entlassungsraten nach der Einführung der Psychopharmaka aus der Sicht des Spiegel-Lesers als Beschreibung eines Zustands, von dem die bundesdeutsche Psychiatrie nur träumen konnte. Wie Der Spiegel betonte, blieben immer noch fast zwei Drittel der PatientInnen mehr als zwei Jahre in bundesdeutschen Psychiatrien, während fast ein Drittel sogar länger als ein Jahrzehnt hinter Anstaltsmauern verbringe. Dem gegenüber stehe eine quälend langsame Umsetzung der von der Expertenkommission erarbeiteten Reformvorschläge.69 Obwohl Der Spiegel die Situation in der Psychiatrie nicht selten mit deutlichen Worten kritisierte, stellte sich das Nachrichtenmagazin in den 1970er Jahren mit seiner Berichterstattung an vielen Stellen in den Dienst einer Reform der Psychiatrie.70 Dies sollte sich erst um 1980 ändern, als die Psychopharmaka ins Zentrum der Berichterstattung des Spiegels rückten.
»Ein sanfter Mord«71: Psychiatriekritik in den 1980er Jahren In den 1980er Jahren erreichte die Kritik an Neuroleptika in der BRD ihren vorläufigen Höhepunkt. Insbesondere das Jahr 1980 war für die bundesdeutschen PsychopharmakologInnen Kulminationspunkt einer Auseinandersetzung um die Legitimität der Behandlung mit Neuroleptika geworden. Der Psychiater Christian Müller bezeichnete diese Kontroversen in seinem psychiatriehistorischen Buch »Vom Tollhaus zum Psychozentrum« als »letzten Schrei«72 und führte zu den öffentlichen Angriffen lediglich aus: »Die Psychiater, denen es obliegt, als Seelenärzte für das Wohl der Schwächsten und Armseligsten in unserer Gesellschaft zu kämpfen und durch Forschung auf
68 Vgl. zu einer kurzen Darstellung des Verhältnisses von Sozialpsychiatrie und Psychopharmakakonsum I.1. 69 »Dürftige Vorlage«. In: Der Spiegel vom 29.01.1979. 70 So hatte der Spiegel in seiner Berichterstattung auch auf die Reformversuche einiger Psychiater hingewiesen. Einigen sozialsychiatrischen Ansätzen widmete das Nachritenmagazin in den 1960er und 1970er Jahren sogar ganze Artikel. Zu Kulenkampffs ersten Nachtkliniken in Frankfurt vgl. »Tag und Nacht«. In: Der Spiegel vom 08.08.1962; zu Häfners Mannheimer Institut für Seelische Gesundheit vgl. »Abends Tanz«. In: Der Spiegel vom 20.03.1970. 71 »Pillen in der Psychiatrie – ein sanfter Mord«. In: Der Spiegel vom 17.03.1980. 72 Müller 1993, S. 264.
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immer bessere Behandlungsmöglichkeiten zu stoßen, haben schon ganz andere Stürme erlebt und werden auch diese Quacksalberutopien überstehen.«73
Die psychiatrische Disziplin und die öffentliche Berichterstattung schienen sich angesichts des Streits über medikamentöse Behandlungen in der Psychiatrie nahezu unversöhnlich gegenüberzustehen. Was aber war geschehen, dass Müller zu derart harten Worten griff? Der Spiegel hatte sich ein weiteres Mal dem Thema Psychopharmaka in der Psychiatrie zugewandt und es diesmal sogar zum Schwerpunkt eines Hefts gemacht. Unter dem Titel »Pillen in der Psychiatrie – ein sanfter Mord« ließ das Blatt diesmal ausführlich psychiatriekritische ForscherInnen und Gruppen sowie PsychiatriepatientInnen selbst zu Wort kommen. Gerade Neuroleptika lösten, wie in dem Leitartikel ausgeführt wurde, »schwere, oft tödliche Nebenwirkungen« aus.74 Es wurden Angehörige von PatientInnen zitiert, welche die Neuroleptikabehandlung mit dem Tod ihrer Verwandten in Beziehung brachten. Ein Mitglied der Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte e.V. bezeichnete die Behandlung mit Neuroleptika gar als »psychiatrischen Holocaust«.75 PatientInnen berichteten über das Gefühl, gelähmt und wie »unter Wasser« zu sein. Es wurden jedoch nicht nur die unerwünschten Effekte der Neuroleptika beklagt, welche die bundesdeutschen PsychiaterInnen prinzipiell schon seit den 1960er Jahren kannten. Es wurde auch skandalisiert, dass sich pharmakogene »Psychosen« ausbilden würden, die nur mit einer fortgesetzten Medikation kontrollierbar seien. Der Spiegel stützte sich dabei auf eine Veröffentlichung amerikanischer ForscherInnen im American Journal of Psychiatry, die auch PsychiaterInnen erstmalig auf dieses Problem aufmerksam machte.76 Wie Der Spiegel abschließend konstatierte, seien Neuroleptika gefährliche Stoffe, deren Einsatz in der Psychiatrie die immer noch unhaltbaren Zustände in den Anstalten nur verdecken solle.77
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Müller 1993, S. 265. »Ins Nichts gerissen«. In: Der Spiegel vom 17.03.1980, S. 98. »Ins Nichts gerissen«. In: Der Spiegel vom 17.03.1980, S. 100. Chouinard/Jones 1980. Beispielhaft für die Unversöhnlichkeit, mit der Psychiater in Leserbriefen auf diesen Artikel reagierten, sei hier die Antwort eines Klinikleiters wiedergegeben: »Nach diesem Artikel werden die Patienten systematisch, langsam und brutal umgebracht [...]. Den Beweis dafür sollte der Spiegel in der Öffentlichkeit führen.« (Prof. E. Fünfgeld, Ärztlicher Direktor des Psychiatrischen Krankenhauses Marburg, in einem Leserbrief zu dem Artikel »Leid mit Leidenden«. In: Der Spiegel vom 31.03.1980, S. 7). Aber auch Rechtsvertreter grenzten sich zunehmend von einer psychopharmakologischen Behandlung ab, wie folgendes Zitat verdeutlicht: »Die Pillenpraxis in der heutigen Psychiatrie ist wohl nur mit Hitlers Endlösung auf Raten vergleichbar. Der Disziplinierungseffekt ist hervorragend – und spart« (Hans E. Hoff-
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Bundesdeutsche PsychiaterInnen gerieten durch solche Berichterstattungen zunehmend unter Rechtfertigungsdruck, denn auch in den folgenden Jahren blieben Psychopharmaka und ihre nicht erwünschten Wirkungen im Zentrum der Kritik in der Spiegel-Berichterstattung. Es seien nicht nur unnötig viele Psychopharmaka auf dem bundesdeutschen Arzneimittelmarkt, oft würden die vorhandenen auch wegen zu großer »Nebenwirkungen« negativ bewertet.78 Insbesondere bestehende Verbindungen zwischen pharmazeutischer Industrie und ÄrztInnen wurden in den Artikeln vermehrt kritisiert.79 Eine Gegenbewegung, über die Der Spiegel ausführlich berichtete, bildeten auch »bewertende Arzneimittelindexe«, die von ÄrztInnen erstellt wurden, die sich als unabhängig bezeichneten.80 Auch wenn sich die Kritik in den folgenden Jahren auf Tranquilizer konzentrierte, riss die öffentliche Diskussion über einen zunehmenden Psychopharmakakonsum nicht ab.81 Die Kritik an Psychopharmaka war zunehmend zum Politikum geworden und von einer Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen nicht zu trennen. Dies verdeutlicht die in der Bundesrepublik der 1980er Jahre steigende Zahl von Büchern, die sich mit dem zunehmenden Psychopharmakakonsum beschäftigten. Die Veröffentlichungen wurden häufig als politische Kampfschriften verstanden, die eine radikale Umwälzung gesellschaftlicher Verhältnisse forderten.82 Ein Ausdruck der Politisierung
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mann, Oberstaatsanwalt, in einem Leserbrief zu dem Artikel »Leid mit Leidenden«. In: Der Spiegel 1980, S. 7). »Überwiegend negativ«. In: Der Spiegel vom 04.07.1983. Hier stützte sich Der Spiegel vor allem auf das bereits 1981 veröffentlichte Buch »Gesunde Geschäfte. Die Praktiken der Pharmaindustrie« (vgl. Langbein et al. 1981). Vgl. Greiser 1983. Auch in einem weiteren Artikel wurden ÄrztInnen und Pharmaindustrie direkt angegriffen (»Teurer als Gold«. In: Der Spiegel vom 28.05.1973, S. 149). Weitere Artikel, die sich ausschließlich mit Tranquilizern beschäftigen, werden hier nicht beachtet. Sie erschienen gerade in den 1980er Jahren zahlreich. In der öffentlichen Wahrnehmung und zum Teil im ärztlichen Verständnis und Gebrauch wurden Tranquilizer und Neuroleptika nicht unterschieden. Dies drückte sich unter anderen darin aus, dass auch Pharmazeuten wie Peter Sichrovsky in kritischen Ratgebern Tranquilizer und Neuroleptika zu einer Einheit zusammenfassten (vgl. Sichrovsky 1984, S. 60). Auch die amerikanische Bezeichnung »minor tranquilizer« und »major tranquilizer« verdeutlicht die Wahrnehmung eines lediglich graduellen Unterschieds. Die starke Trennung beider Substanzgruppen in den Folgejahren ist damit zu erklären, dass Tranquilizer auch bei ÄrztInnen zunehmend in die Kritik gerieten und zudem gesetzlich reglementiert wurden. Umso wichtiger erschien es deshalb in den Folgejahren, Begriff und Gebrauch klarer voneinander abzugrenzen. Dies belegt unter anderem der Fall des Mediziners und Journalisten Jürgen Stössel, der 1973 ein Buch mit dem Titel »Psychopharmaka – die verordnete Anpassung« publizierte (Stössel 1973). Stössel war vor der Veröffentlichung
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öffentlicher Auseinandersetzungen war die zunehmende Bedeutung, die eine Psychiatriekritik und eine Ablehnung von Psychopharmaka in politischen Stellungnahmen bekam. So formulierte die Bundesarbeitsgemeinschaft »Soziales und Gesundheit« der Partei Die Grünen Ende des Jahres 1984 eine Stellungnahme zur »Abschaffung und Überwindung der Psychiatrie«.83 Der Titel »Gegen das Atomkraftwerk im Innern!« bezog sich vor allem auf die Gabe von Psychopharmaka, die in der Stellungnahme vehement abgelehnt wurde. Sofort und total zu verbieten seien, wie Die Grünen forderten, neben älteren somatischen Verfahren84 vor allem Zwangsbehandlungen und Menschenversuche mit Psychopharmaka in der psychiatrischen Klinik. Außerdem müsse eine Auflage an psychiatrische Dienste ergehen, den Verbrauch von Psychopharmaka jährlich um die Hälfte zu reduzieren.85 Die Kritik der Grünen richtete sich vor allem gegen eine Sozialpsychiatrie, die sie als »gescheitert« bezeichneten. Unfähig, ihre eigene Tätigkeit mit dem Abbau der Anstaltsbetten zu verbinden, und ausgestattet mit Pflegeheimen, die eher an Lager erinnerten, bildete sie, wie Die Grünen formulierten, ein System mit der Anstaltspsychiatrie.86 Die Schließung der Anstalten, so Die Grünen, müsse nun sofort und ohne Wenn und Aber beginnen und bestehende Gelder schon jetzt zu einem Viertel auf alternative Hilfsformen umgewidmet werden.87 Diese Kritik blieb von führenden Vertretern der Sozialpsychiatrie wie Erich Wulff (geboren 1926) nicht unwidersprochen. So räumte dieser zwar einige Mängel bei der Umsetzung der Reformen ein, die nicht in der nötigen Radikalität vorangetrieben würden. Gerade bezüglich körperlicher Behandlungsformen in der Psychiatrie gab es jedoch stark abweichende Vorstellungen. Wulff führte aus, dass sich Die Grünen zwar zu Recht gegen den zu extensiven Neuroleptikakonsum wehrten, der eher einer Normalisierung als Befreiung gedient hätte, dennoch grenzte er sich deutlich von einer vollständigen Ablehnung derselben ab, wenngleich er eine langjährige Psychopharmakatherapie für ebenso schädlich hielt wie die kritisierte Elektroschocktherapie.88
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leitender Euromed-Redakteur gewesen, wurde in Folge seiner Veröffentlichung jedoch vom Verlag entlassen. Hintergrund war die Auffassung, Stössel habe sich mit seinem Buch gegen die »herrschende Gesellschaftsform« gewandt – eine Kritik, die nach einer Sondervereinbarung des Verlags als Entlassungsgrund galt (vgl. »Teurer als Gold«. In: Der Spiegel vom 28.05.1973). Die Grünen 1986. Gemeint waren an dieser Stelle die Elektroschockbehandlung, der Kardiozol- und Insulinschock sowie die Lobotomie. Die Grünen 1986, S. 7. Die Grünen 1986, S. 4. Die Grünen 1986, S. 9. Wulff 1986, S. 15.
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Die Forderung der Grünen nach einer Abschaffung von körperlichen Behandlungsformen erinnerte an die eingangs geschilderten Debatten über ein Verbot der Neuroleptika. Einzelne Landesverbände der Grünen forderten auch ein vollständiges Verbot der Neuroleptika in psychiatrischen Anstalten.89 Doch nicht nur die Öffentlichkeit zwang die Psychiatrie in den 1980er Jahren, sich zunehmend mit einer Kritik an Neuroleptika zu beschäftigen. Die mediale Aufmerksamkeit richtete sich auch vermehrt auf PatientInnen, die sich gegen eine zwangsweise Einnahme insbesondere von Neuroleptika wehrten. Die unterschiedlichen Sichtweisen von ÄrztInnen und PatientInnen in der Frage nach Legitimität und Wirksamkeit der Neuroleptika sollen im Folgenden deutlich werden.
89 So brachte die Fraktion der Grünen in Oberbayern am 24.10.1988 folgenden Antrag in das Landesparlament ein: »1. In den Bezirkskrankenhäusern des Bezirkes Obb. werden keine hochpotenten Neuroleptika, keine Depotneuroleptika und keine Mao-Hemmer mehr eingesetzt. Der Einsatz dieser Mittel ist mit der Würde des Menschen nicht vereinbar, da sie persönlichkeitszerstörende Wirkungen haben« (Die Grünen 1989, S. 35). Vorgelegt und unterzeichnet wurde der Antrag von Ingrid Häusler, Gabriele Bucerius sowie den ÄrztInnen Josef Zehentbauer und Carola Burkhardt. Unklar ist, ob es sich bei der Erklärung der Grünen von 1986 nicht ohnehin um eine Stellungnahme von Psychiatriebetroffenen handelte, welche die Grünen als basisdemokratische und gegenüber derartigen Bewegungen offene Partei übernahmen. Für diese Interpretation spricht, dass in dem 1986 erschienenen Buch »Der chemische Knebel« des Psychiatriekritikers und ehemaligen Psychiatriepatienten Peter Lehmann die Erklärung fast wortgleich abgedruckt wurde. Lehmann schilderte darüber hinaus, dass die Verbände von Betroffenenorganisationen gerade dabei seien, gegen den Widerstand von psychiatrischen Professionellen in der Partei einen Sprechervertrag mit den Grünen zu Frage der Psychiatrie und der psychiatrischen Versorgung auszuhandeln (vgl. Lehmann 1986, S. 387).
2 . Pa tie ntInnenbew egung und Ps yc hopha rmak a – Complia nce und Nonc omplia nc e
»In der Psychiatrie zahlt man einen hohen Preis für ein Wissen, das ohne Wissen des Patienten zustandekommt. In der Gesamtheit der Arzneimittel könnte man Psychopharmaka wohl als diejenige Produktklasse definieren, bei der die Patienten immer gute Gründe haben, nicht mit den Experten übereinzustimmen. [...]. Wozu man nicht in der Lage zu sein scheint, ist die Anerkennung, ist die Konstruktion einer Psychiatrie, die das systematisieren könnte, was doch den obligatorischen Ausgangspunkt für jede psychiatrische Praxis bildet: die Anerkennung der Autorität des Patienten in diesem Bereich.«1
Anhand dieser Ausführungen von Philippe Pignarre lassen sich pointiert die verschiedenen Standpunkte von ÄrztInnen und PatientInnen beschreiben, die entlang der Debatte über Psychopharmaka zu Tage traten. Während aus ärztlicher Sicht das Problem der Tranquilizer vor allem in einer zu großen Nachfrage begründet war, galt die Sorge bei den Neuroleptika vor allem der Einnahmeunwilligkeit der PatientInnen. In einem Überblicksartikel trug ein deutscher Forscher in den 1990er Jahren verschiedene Untersuchungen über die Ablehnung von Neuroleptika durch die PatientInnen zusammen. Er verwies auf zwei Studien, die angaben, dass bis zu 50 Prozent der PatientInnen die ihnen verschriebenen Neuroleptika gar nicht oder nur teilweise schluckten.2 Die tatsächlichen Einnahmeratenvariierten stark nach dem Setting ihrer Verabreichung. Während im stationären Bereich weniger als jeder Fünfte eine Neuroleptikaeinnahme verweigerte, waren es der Studie zufolge in der Tagesklinik schon mehr 1 2
Pignarre 2006, S. 177f., Herv. i. O. Andere Studien verwiesen, wie ich dargelegt hatte, auf bis zu 80 Prozent (vgl. I.1).
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als ein Drittel. Im ambulanten Bereich nahm fast jeder zweite Patient Neuroleptika schon nach sechs Wochen nicht mehr ein.3 Je freier die PatientInnen also über eine Einnahme der Neuroleptika entscheiden konnten, desto weniger waren sie bereit, diese Substanzen zu schlucken. Im Zuge einer in der BRD in den 1980er Jahren erstmals im größeren Maß ausgebauten ambulanten Psychiatrie wurde die Frage nach der Bereitschaft ehemaliger PatientInnen, die Substanzen auch weiterhin einzunehmen, immer wichtiger. Kritische Bewegungen ehemaliger PsychiatriepatientInnen, im Folgenden Psychiatriebetroffenenbewegungen genannt, brachten insbesondere in den 1980er Jahren ihre Kritik an der Neuroleptikabehandlung zum Ausdruck.4 Wie ich entlang meiner Analyse der Wissensbildung über Wirksamkeit im Experiment aufgezeigt hatte, waren durch die Orientierung an einer experimentellen, doppelblinden Versuchsanordnung der Patient und seine Erfahrungen in der Wissensbildung immer weiter zurückgetreten. Unterschiedlich bewertet wurde von den Beteiligten die Frage nach einer informierten Einwilligung in die Arzneimittelerprobung. Während die MedizinerInnen eine nicht durch den Patienten autorisierte Erprobung neuer Medikamente zum Teil wegen zu »erwartender therapeutischer Erfolge«5 als gerechtfertigt ansahen, wehrten sich ehemalige PatientInnen zunehmend lautstark und öffentlichkeitswirksam gegen eine Behandlung mit Neuroleptika ohne ihre Zustimmung. Sie erlebten diese als »schleichende Vergiftung«, die nicht nur ihre eigenen Erfahrungen überdecken sollte, sondern wegen der im Vorangehenden diskutierten unerwünschten Wirkungen auch langfristige körperliche Schädigungen mit sich brachten.6 Das Sozialistische Patientenkollektiv Heidelberg war wohl die erste größere PatientInnenenbewegung in der Bundesrepublik Deutschland, welche die Ablehnung der Neuroleptika öffentlichkeitswirksam äußerte. Ende der 1970er Jahre veröffentlichte das Kollektiv in verschiedenen Zeitungen auch eine »Medikamentenstreikerklärung«, mit der sie sich gegen eine Behandlung mit Psychopharmaka wehrten, die sie als »Vergiftungstherapie« bezeichneten. In der erwähnten Erklärung formulierten die beteiligten PatientInnen:
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Stieglitz 1992, S. 338ff. Ich werde mich in diesem Abschnitt auf Kritik aus den 1980er Jahren beschränken, da der historische Rahmen der Untersuchung in diesem Zeitraum endet. Unabhängig davon gab es auch in den 1990er Jahren zahlreiche Publikationen von Betroffenen, die zu einer Neuroleptikabehandlung kritisch Stellung nahmen (vgl. Hölling 1999; Lehmann 1998; Kempker 1991; Kempker 1993; von Trotha 1995a; von Trotha 1995b u. a.). Vgl. Helmchen/Mueller-Oerlinghausen 1975a. Lehmann 1986, S. 327ff.
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»Hiermit versage ich meine Zustimmung zur Behandlung mit Neuroleptika und anderen Psychopharmaka durch die Ärzte und Pfleger des Psychiatrischen Landeskrankenhauses Wiesloch. [...] Was jeder weiß, habe ich als Versuchsobjekt am eigenen Leib erfahren müssen: Die mir verabreichten Medikamente, die allenfalls das Krankheitsbild stabilisieren oder die Symptome überdecken, können meine Krankheit nicht heilen, da sie nicht an den Ursachen meines Leidens ansetzen. [...] Ich weiß, daß die dreimal täglich verabreichte chemische Zwangsjacke mich langsam aber sicher in einen willenlosen Roboter verwandeln soll, der gerade noch taugt, Schrauben zu drehen und Bretter zu hobeln. Durch die tägliche Vergiftungsaktion des PLK Wiesloch schwindet die Aussicht, einmal bedingt entlassen zu werden, von Jahr zu Jahr. Bremsung der Gedankenbildung, Fettleibigkeit, Impotenz, Augen wie ein toter Fisch: Das ist nicht meine Krankheit, sondern Resultat der mörderischen Behandlung.«7
In den Ausführungen werden die Folgen einer langjährigen Neuroleptikabehandlung aus der Sicht einiger PatientInnen deutlich. Die Schilderungen wecken auch Assoziationen zum Spiegel-Titelblatt, das, angeregt durch PatientInnenberichte, die Psychopharmakabehandlung als »sanften Mord« beschrieben hatte. Nicht nur die radikalen körperlichen Folgen, sondern auch die von den Betroffenen empfundene Unmöglichkeit, sich selbst unter dem Einfluss der Neuroleptika adäquat wahrzunehmen und sich mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen, wurde von Selbsthilfebewegungen thematisiert. So berichtete Tina Stöckle in ihrem Buch »Die Irrenoffensive. Erfahrungen einer Selbsthilfe-Organisation von Psychiatrieopfern« davon, dass die Betroffenen sich selbst als unter Betäubung stehend erlebten: »Solange die Betroffenen unter psychiatrischem Einfluß und speziell unter ›pharma‹-kologischer Dämmerwirkung stehen, ist es ihnen grundsätzlich unmöglich, an ihre eigenen Gefühle heranzukommen und damit den Sinn ihres Verrücktseins und -werdens aufzuspüren. Denn erst dann, wenn sie aus dem künstlichen Winterschlaf erwacht sind, sind sie fähig, selbst und mit Hilfe anderer ihre blockierten Bedürfnisse freizusetzen.«8
Das Zitat verdeutlicht, dass die Behandlung mit Neuroleptika von einigen Betroffenen häufig als dumpfe Unterdrückung der eigenen Bedürfnisse erlebt wurde. Der »künstliche Winterschlaf«, einst aus der Sicht der PsychiaterInnen Hoffnungsträger einer therapeutischen Revolution, wurde in den Schilderungen von Betroffenenbewegungen in den 1980er Jahren zum Symbol einer Unterdrückung, aus deren Gefangenschaft sich ehemalige 7
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Patientenfront/Huber 1990, S. 81. Diese berichten, dass diese Erklärung seit Mitte der 1970er Jahre im Psychiatrischen Landeskrankenhaus Wiesloch zirkulierte und im Jahr 1979 in verschiedenen Zeitungen abgedruckt wurde. Stöckle 1983, S. 142.
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PatientInnen zu befreien suchten. »Wirkung« und »Erfahrung« scheinen hier diametral entgegengesetzt. Der Psychiatriekritiker Peter Lehmann, der in den 1970er Jahren selbst in der Psychiatrie mit Neuroleptika behandelt worden war, bezeichnete in dem wohl bekanntesten bundesdeutschen Werk zu dieser Thematik die Effekte der Neuroleptika als »chemischen Knebel«.9 Die Schaffung von psychopharmakafreien Alternativen zur Psychiatrie war dabei ein gemeinsames Anliegen der beschriebenen Betroffenenbewegungen. Dabei grenzten sich die Betroffenenbewegungen gegenüber einer sich nach der Psychiatrieenquête in Deutschland etablierenden Sozialpsychiatrie ab. In ihren Ausdifferenzierungen sah man lediglich eine neue Form der Sicherstellung der Komplizenschaft der PatientInnen bei der Einnahme von Neuroleptika und anderen Psychopharmaka.10 Die von den Psychiatriebetroffenenbewegungen artikulierten Erfahrungen mit Neuroleptika standen in zunehmendem Maße einem durch den kontrollierten klinischen Versuch generierten Wirksamkeitsbegriff gegenüber, der vor allem durch eine Abstraktion von den Erlebnissen des Patienten zustande kam. Standardisierte Wirksamkeitsstudien verdeckten, wie auch der Psychiater Klaus Windgassen problematisierte, zunehmend von den PatientInnen erfahrene Psychopharmakaeffekte. Windgassen konstatierte, dass das Erleben der medikamentösen Behandlung in den Jahrzehnten zuvor kaum Thema psychiatrischer Publikationen gewesen sei. In seinem Buch »Schizophreniebehandlung aus der Sicht des Patienten« befragte er deshalb Ende der 1980er Jahre PsychiatriepatientInnen, wie sie ihre Neuroleptikabehandlung empfänden.11 In seinem Buch stellte Windgassen
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Lehmann 1986. Dies symbolisiert auch der Titel des Buchs »Der chemische Knebel: warum Psychiater Neuroleptika verabreichen«. Peter Lehmann war schon vor dem Erscheinen des Buches bekannt geworden, weil er sich über mehrere Rechtsinstanzen die Einsicht in seine psychiatrische Krankenakte erstritten hatte. Dass ehemalige PsychiatriepatientInnen ihre Krankenakten auch nach einem Psychiatrieaufenthalt nicht einsehen durften, war in der Geschichte der deutschen Psychiatrie immer wieder ein Streitthema gewesen (vgl. III.4.5). Das Verbot, Krankenakten selbst anschauen zu können, wurde für PsychiatriepatientInnen teilweise aufgehoben und geurteilt, dass die »naturwissenschaftlich objektivierbaren Befunde und Behandlungsfakten« eingesehen werden dürften. Wie ausgeführt wurde, enthalte gerade die Psychiatrische Krankenakte aber wegen der besonderen Interaktion zwischen dem Arzt und dem Patienten »zwangsläufig nicht nur naturwissenschaftlich Nachprüfbares« (»Mythologische Wurzeln«. In: Der Spiegel vom 24.10. 1983, S. 58). Zwar bleibe, wie Der Spiegel anmerkte, das Gericht dabei hinter seinen Möglichkeiten zurück, doch insbesondere die Verabreichung von Psychopharmaka ließe sich nun überprüfen, weil sie zu den offenbarungspflichtigen Fakten gehöre. 10 Lehmann 1986, S. 25ff. 11 Windgassen 1989.
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abschließend fest, dass unerwünschte Wirkungen der Neuroleptika für die PatientInnen stärker spürbar seien als eine »heilbare« Wirkung.12 Die schwindende Einnahmehäufigkeit bestimmter Psychopharmaka erwies sich für die Psychiatrie zunehmend als Problem. Ungefähr zeitgleich mit der Artikulation einer Ablehnung der Neuroleptika durch Betroffenenbewegungen vor allem in den 1980er Jahren mehrten sich auch in der Bundesrepublik die Debatten darüber, wie PsychiaterInnen und Pflegende einem therapieunwilligen Verhalten der PatientInnen begegnen könnten. Der sich zunehmend durchsetzende Begriff der »Compliance«, im Deutschen vor allem als »Therapietreue« bezeichnet, definierte dabei das Ausmaß, in welchem der Patient bereit war, den Anweisungen des Arztes zu folgen. Wie KritikerInnen anmerkten, würde mit dem Begriff jedoch auch die Autorität des Arztes gegenüber einer Expertise des Patienten in der Beurteilung eines Medikamenteneffekts gerechtfertigt.13 Der Begriff Patientencompliance stellte einen neuen terminus technicus dar, der vor allem auf eine Kontrolle der Medikamenteneinnahme abzielte. Ursprünglich war der Begriff im anglo-amerikanischen Raum vor allem im Rahmen der exekutiven Gewalt diskutiert worden.14 Erst Ende der 1950er Jahre wurde der Begriff zunächst in der angloamerikanischen Medizin, zunehmend aber auch in der Bundesrepublik Deutschland vermehrt verwendet. Insbesondere mit den medikamentösen Innovationen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die Einnahmewilligkeit der PatientInnen aus der Sicht der MedizinerInnen zum zentralen Problem für einen pharmakologischen Fortschritt. Gleichzeitig kennzeichnete der Begriff, der das Verhalten schwieriger, »therapieunwilliger« PatientInnen beschreiben sollte, eine Bewegung, die sich immer mehr von dem Kontext der Erfahrungen des Patienten löste.15 In der Psychiatrie bekam der Begriff der Komplizenschaft eine sich von derjenigen in anderen Bereichen der Medizin abhebende Bedeutung, weil insbesondere als »psychotisch« bezeichnete PatientInnen in großem Umfang als nicht einwilligungsfähig galten. Die Medikamente nicht einzunehmen, wurde im psychiatrischen Setting gerade als Ausdruck des zu 12 13
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Windgassen 1989, S. 125. Van der Geest/Whyte/Hardon 1996, S.166. Kritiker wie Lehmann bezeichneten den Begriff der Compliance auch als »Umarmung/Unterwerfung« (Lehmann 1986, S. 327). Greene 2004, S. 330. Er wurde insbesondere im Zusammenhang mit Haftentlassenen thematisiert, die wieder ins Gefängnis sollten, wenn sie nicht »compliant« waren. In diesem Zusammenhang ist jedoch auch die Bedeutung des Begriffs für ehemalige PsychiatriepatientInnen zu beachten, denen durch eine mangelnde Komplizenschaft eine Wiedereinweisung in die Psychiatrie drohte. Greene 2004, S. 329. Der Begriff fand in den 1970ern Eingang in den Index Medicus.
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behandelnden Zustands gedeutet. Während sich im übrigen Bereich der Medizin also vermehrt Möglichkeiten der Aushandlungen ergaben, indem der Arzt aufklären und der Patient eine Behandlung ablehnen konnte, war dies in der stationären Psychiatrie sehr erschwert. Die Forderung von ÄrztInnen, im Rahmen einer stationären psychiatrischen Behandlung die Medikamente in der Erprobung und in ihrer weiteren Verwendung letztendlich auch ohne Einwilligung und Aufklärung einsetzen zu können, zeigte das in der Psychiatrie radikal ungleiche Kräfteverhältnis zwischen dem Arzt und dem Patienten auf.16 In den USA war diese Haltung Ende der 1970er Jahre rechtlich jedoch in Frage gestellt worden. Anlass dazu gab die Entscheidung eines Richters, der einen Patienten des Boston State Hospitals zur Verweigerung seiner Behandlung autorisiert hatte.17 Gleichzeitig wurde in den USA in unterschiedlichen Untersuchungen zu dem Thema der Einwilligung von PatientInnen nach der informierten Einwilligung und den Rechten und Fähigkeiten von psychiatrischen PatientInnen in der Klinik gefragt. So konnte ein Psychiater aufzeigen, dass nur 8 Prozent der stationär behandelten PatientInnen überhaupt wussten, was sie einnahmen. Nach der Einwilligung und Einwilligungsfähigkeit, so wurde gefolgert, sei aber nicht nur dann zu fragen, wenn der Patient die Medikation verweigere. In diesem Sinne wurde in der Studie zusammenfassend angemerkt: »If a patient refuses his medication, the question of competency is raised. If he takes his medication, his competency is never questioned. Is it ethical to seek consent by proxy for individuals who exhibit incompetent refusal but to ignore the requisite patient or proxy participation in cases where incompetent consent is given?«18
Zum wiederholten Mal geriet mit diesen Ausführungen die Einwilligungsfähigkeit der PatientInnen ins Zentrum des Interesses. Gleichzeitig wurde es zu einem zentralen Forschungsanliegen, Zustimmung und Ablehnung gegenüber den Neuroleptika zu erforschen. Hintergrund dieser Studien war aber in der Regel das Ziel, eine kontinuierliche Einnahme von Neuroleptika sicherzustellen, da ihre Wirksamkeit durch den kontrollierten klinischen 16
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Vgl. zu den Diskussionen um den informierten Konsens im Rahmen der Arzneimittelgesetzgebung auch Helmchen/Müller-Oerlinghausen 1975a; Helmchen 1986 und Teil II, 5.4. Zu einer Kritik von Psychiatriebetroffenenbewegungen an diesem ungleichen Verhältnis vgl. Lehmann 1986, S. 328ff. »This court concludes, therefore, that committed mental patients are presumed competent to make decisions with respect to their treatment in nonemergencies« (vgl. das Urteil Roger v Okin, 478 F Supp 1342 (D Mass 1979), S. 1364, zitiert nach Geller 1982, S. 613). Geller 1982, S. 615.
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Versuch inzwischen als bewiesen galt. Gerade in der Psychiatrie waren mit der Einführung des Chlorpromazins Studien über typische »Verneiner« wichtig geworden, die zunächst im angloamerikanischen Raum erschienen waren und in denen verschiedene Tests zur Kontrolle der Medikamenteneinnahme vorgeschlagen wurden.19 Auch in Deutschland wurde das Problem der Einnahmeunwilligkeit der PatientInnen bereits Anfang der 1960er Jahre im Rahmen der Diskussionen innerhalb der AGNP artikuliert. Mit den ersten Ideen des Aufbaus einer »Außenfürsorge« in den 1960er Jahren stellte sich auch die Frage nach der weiteren Kontrolle der Medikamenteneinnahme entlassener PatientInnen. Die zu ergreifenden Maßnahmen sollten dafür Sorge tragen, dass die in dieser Zeit permanent überfüllten psychiatrischen Kliniken geleert würden. So führte ein Psychiater zu dem Problem der kontinuierlichen Einnahme der Psychopharmaka aus: »Im Vorgriff auf die weiteren Ausführungen sei vermerkt, daß es in Zukunft wahrscheinlich die Hauptaufgabe jeder nachgehenden Fürsorge der Psychiatrischen Landeskrankenhäuser sein wird, die Dauermedikation entlassener schizophrener Kranker zu überwachen, um möglichst viele Kranke draußen halten zu können [...]. Je mehr also eine noch aufzubauende Außenfürsorge die Dauermedikation entlassener schizophrener Kranker überwachen kann, um so bessere Voraussetzungen hat man dadurch für die Behandlung der stationären Kranken geschaffen.«20
In den Problematisierungen des Psychiaters spielte die Zusammenarbeit der KlinikärztInnen mit dem Hausarzt, den Angehörigen und den Krankenkassen eine Rolle, um einnahmeunwillige PatientInnen zu einer medikamentösen Therapie zu bewegen. Unerwähnt blieb in diesen Überlegungen jedoch der Patient selbst.21 Erst in den 1970er Jahren bildete sich eine größere »Complianceforschung« heraus, die sich vor allem in den USA entwickelte. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte diese Bewegung, als Mitte der 1970er Jahre eine nationale Konferenz stattfand, die eine eigene Forschungsagenda zu diesem Thema formulieren sollte.22 Die frühe Forschung über die Compliance psychiatrischer PatientInnen bei der Einnahme von Medikamenten beschäftigte sich noch weitgehend mit Überwachungstechnologien der Medikamenteneinnahme.23 Zunehmend verschob sich die Forschung jedoch hin zu der Frage nach den Gründen der Ablehnung der Psychophar19 20 21 22 23
Haynes 1982. Neumann 1961, S. 328f. Neumann 1961, S. 332. Greene 2004, S. 338; Haynes 1982. So wurden zum Beispiel erste Tests entwickelt, welche die Medikamentenkonzentration im Urin messen konnten.
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maka durch die PatientInnen. Der prominenteste Vertreter dieser auch in Deutschland rezipierten Forschungsrichtung war der Psychiater Theodore van Putten, der sich insbesondere mit der Frage beschäftigte, warum PatientInnen die ihnen verordneten Neuroleptika nicht einnahmen.24 Dass rund jeder zweite Patient eine Therapie mit diesen Substanzen verweigerte, empfand van Putten als »ruinös« für die psychiatrische Profession. Wie er feststellte, lehnten die Behandelten die Einnahme psychiatrischer Medikamente insbesondere wegen der sie belästigenden extrapyramidalen Störungen ab.25 In weiteren Untersuchungen zeigten van Putten und seine KollegInnen darüber hinaus auf, dass insbesondere hartnäckige VerweigerInnen ihre eigenen »verrückten« Erlebnisse als beglückend erlebten und sie einer Sedierung durch die Medikation vorzögen.26 Eine subjektiv als unangenehm empfundene Wirkung der Psychopharmaka sei der beste Indikator für eine spätere Behandlungsverweigerung.27 Van Puttens Arbeiten verdeutlichten in den USA schon früh die Gründe eines Behandlungsabbruchs durch die PatientInnen, wenngleich das Ziel seiner Forschung vor allem der Erhöhung der Therapiewilligkeit der PatientInnen diente. Das Problem der mangelnden Therapietreue von PatientInnen erreichte ein solches Ausmaß, dass in der ersten Revision des DSM-III eine eigene Kodierung für das Nichtbefolgen medizinischer Behandlungen eingeführt wurde.28 In der BRD wurde der Begriff der Compliance ab Mitte der 1970er Jahre vermehrt debattiert.29 Den Hintergrund bildeten die sich zunehmend etablierenden gemeindepsychiatrischen Einrichtungen, durch die eine fortgesetzte Behandlung mit Neuroleptika erschwert schien, weil die PatientInnen nicht mehr so eng kontrollierbar waren wie in den psychiatrischen Anstalten. Darüber hinaus waren aber, wie Jeremy Greene beobachtet hatte, die zunehmenden Studien über die »Therapietreue« der PatientInnen in den USA eng an das Aufkommen des kontrollierten klinischen Versuchs als wissensgenerierendes System in der Arzneimittelforschung gebunden. Diese abstrakte Form der Datengewinnung, die sich von den individuellen 24 25 26 27
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Van Putten 1974. Vgl. auch III.4.5. Van Putten 1974. Van Putten/Crumpton/Yale 1976. Van Putten/May/Marder 1984. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen auch Hogan und seine MitarbeiterInnen. Sie empfehlen erstmals eine Skala zu Messung der individuellen Befindlichkeit, die eine Therapietreue der PatientInnen vorhersagen soll (vgl. Hogan/Awad/Eastwood 1983). Stieglitz 1992, S. 339. Im Jahr 1975 produzierte beispielsweise die Firma BAYER einen Film mit dem Thema Arzt-Patienten-Compliance, in dem verschiedene ExpertInnen zu Wort kommen, um Lösungsvorschläge für das Problem der mangelnden Einnahmehäufigkeit vorzustellen. Vgl. zu diesen Ausführungen »Arzt-Patienten-Compliance« (1975), ein Film der FARBENFABRIKEN BAYER AG.
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Erfahrungen von Arzt und Patient löste, sollte auch eine Kontrolle über die disparaten Effekte der medikamentösen Therapien bringen. In der experimentellen Logik des Versuchs bildete die mangelnde Einnahmebereitschaft der PatientInnen aber eine ebenso große Störvariable wie ihre individuellen Reaktionen. Eine hohe Verweigerungsrate galt auch als Beleg für die mangelnde Effektivität der verabreichten Substanzen.30 Auch in der BRD ist in den 1980er Jahren eine Zunahme der Debatten zu beobachten. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich der kontrollierte klinische Versuch in der Psychopharmakaforschung als Folge der Diskussionen um einen Wirksamkeitsnachweis im neuen Arzneimittelgesetz schließlich durchgesetzt. Um 1980 hatten sich aber auch vermehrt Gruppen ehemaliger PsychiatriepatientInnen zu Wort gemeldet, die eine Behandlung mit Neuroleptika ablehnten. Eine Therapieform zu besitzen, die nach den Maßgaben der evidenzbasierten Medizin wirksam war, gleichzeitig aber von den PatientInnen nicht befolgt wurde, war auch für die bundesdeutschen PsychiaterInnen zunehmend problematisch. Vor dem Hintergrund der geschilderten Erfordernisse des kontrollierten klinischen Versuchs und des Ausbaus gemeindepsychiatrischer Angebote spitzte sich die Debatte um den Begriff der Compliance in der BRD seit Anfang der 1980er Jahre zu. Eine erste Übersetzung des in den 1970er Jahren in den USA erschienenen Standardwerkes über Compliance wurde in der Bundesrepublik im Jahr 1982 veröffentlicht.31 Überhaupt stützte sich die Complianceforschung weitgehend auf geschilderte US-amerikanische Arbeiten. Im Vorwort zur deutschen Ausgabe wurde darauf verwiesen, dass es in der Bundesrepublik bis zu diesem Zeitpunkt kaum eine Auseinandersetzung mit dem Begriff der »Compliance« oder der »Therapietreue« gegeben habe.32 Der Begriff kennzeichne schon dem Wort nach ein schwieriges Verhältnis zwischen Arzt und Patienten.33 Brian Haynes arbeitete in der deutschen Ausgabe heraus, dass PsychiaterInnen neben LungenfachärztInnen in Amerika die erste Gruppe gewesen seien, die sich mit dem Thema der Komplizenschaft der PatientInnen beschäftigt hätte. Die Störung der öffentlichen Ordnung, die von den Tuberkulosekranken und den PsychiatriepatientInnen auszugehen schien, führte in der Realität häufig zu drakonischen Maßnahmen wie der Isolierung und Injektionsbehandlung ambulanter PatientInnen.34 Auch in Deutschland richtete sich der Blick mehr auf
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Greene 2004, S. 340. Haynes/Schrey 1982. Schrey. In: Haynes/Schrey 1982. Haynes 1982, S. 11. Haynes 1982, S. 14. Im Bereich der Psychiatrie wurde vorgeschlagen, die Komplizenschaft der PatientInnen zu erhöhen, indem man die Einnahmehäufigkeit herabsetzte. Dies war jedoch häufig auch mit einer Abnahme
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die stimmungsdämpfenden Effekte der Neuroleptika, die für eine Ablehnung noch entscheidender schienen als die extrapyramidalen Störungen.35 Gleichzeitig wurde aber auch weiterhin für eine Beurteilung der Effektivität der Neuroleptika durch Beobachterskalen plädiert, da PsychiaterInnen inbesondere »psychotische« PatientInnen für nicht fähig erachteten, ihre Gefühle selbst zu bewerten.36 In den Blick geriet damit das »risikoreiche« Verhalten des Patienten, der eine Medikamenteneinnahme verweigerte. Robert Castel und seine KollegInnen hatten in ihrem Buch zur »Psychiatrisierung des Alltags« die »Gefährlichkeit« der Behandelten vor dem Hintergrund einer Risikoprophylaxe devianten Verhaltens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hervorgehoben. Die Debatte um die Einnahmewilligkeit der PatientInnen scheint jene Diskussion widerzuspiegeln.37 Die Tatsache, dass es Maßnahmen bedurfte, die eine Therapietreue erzeugen sollten, verdeutlichte aber vor allem die neue Wendung, die der Wirksamkeitsbegriff genommen hatte. Indem Wirksamkeit zu einem technischen Problem geworden war, das man mit experimentellen Mitteln und unter Ausschluss individueller Wahrnehmungen des PatientInnen herzustellen suchte, wurden auch die Maßnahmen ausgefeilter, mit denen PsychiaterInnen den PatientInnen begegneten. Die Wirksamkeit der Neuroleptika war zum Problemfall geworden, der schließlich in dem Versuch endete, sie durch gesetzliche Zwangsmaßnahmen zu regeln. Die Arbeit wird deshalb mit einem kurzen Blick auf eine aktuelle Diskussion enden.
Zwangsbehandlung mit Neuroleptika? Eine Kontroverse an ihrem Endpunkt Mit der geschilderten Vorlage eines Gesetzesentwurfs zur Erweiterung des Betreuungsrechts, der eine präventive Behandlung mit Neuroleptika auch gegen den Willen der Betroffenen ermöglichen sollte, erreichte die Debatte über Psychopharmaka im Jahr 2002 einen vorläufigen Höhepunkt.38 Die Verabreichung insbesondere von Neuroleptika zur Heilbehandlung wollte der Gesetzgeber mit der Erweiterung des Gesetzes nun auch dann ermöglichen, wenn keine konkrete »Gefährdungslage« vorlag, die eine stationäre Unterbringung der Betreuten gegen ihren Willen zuließ.39 Die Diskussio-
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erwünschter und einer Zunahme unerwünschter Effekt verbunden, so dass diese Maßnahme umstritten blieb (vgl. Blackwell 1982). Brenner 1986. Maier/Bech 1990, S. 110. Zum einen würden PatientInnen, wie angeführt wurde, nicht unbedingt bedeutsame Antworten geben, zum anderen wiesen die Antworten von PatientInnen in der Beurteilung von Psychopharmaka eine größere Breite auf als die Antworten von ExpertInnen. Castel/Castel/Lovell 1982; Castel 1983. Vgl. zu diesem Prozess die Einleitung der Arbeit. Http://www.markus-kurth.de/presse/30108.html, Stand 10.12.2009.
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nen um eine Zwangsbehandlung mit Neuroleptika sollen deshalb abschließend näher betrachtet werden. Vorausgegangen war dem genannten Gesetzesentwurf ein Urteil des Bundesgerichtshofs vom 11.10.2000, in dem die Möglichkeit einer zwangsweisen ambulanten Therapie zunächst abgelehnt wurde. Geklagt hatte ein ehemaliger Psychiatriepatient, der unter gesetzlicher Betreuung stand. Dieser war von seinem »Vormund« regelmäßig gegen seinen erklärten Willen zur kurzfristigen Behandlung mit Neuroleptika in einer psychiatrischen Klinik untergebracht worden, um dort eine Depotspritze zu erhalten. Der Kläger betonte, dass er einer Behandlung mit Neuroleptika nicht zustimme, weil er ihre Begleiterscheinungen als unerträglich erlebe und im Fall einer erneut notwendig werdenden Psychiatrieunterbringung einen längeren stationären Aufenthalt der Behandlung mit Neuroleptika vorziehen würde. Das Gericht entsprach seiner Einlassung und erklärte, eine kurzfristige Unterbringung des Betroffenen nur zum Zweck einer als medizinisch notwendig erachteten Maßnahme sei ebenso unzulässig wie eine ambulante Behandlung des Klägers mit Psychopharmaka gegen seinen Willen. Eine psychiatrische Zwangseinweisung, die lediglich der Zuführung des Patienten zur medikamentösen Therapie diene, sei unverhältnismäßig und eine entsprechende Rechtsgrundlage nicht gegeben.40 Dieses Urteil führte den Landesregierungen das Fehlen von Gesetzen vor Augen, die eine regelmäßige ambulante Verabreichung von Psychopharmaka auch gegen den Willen der Betroffenen regelten und regte die Politiker dazu an, eine Reform des Betreuungsrechtes zu propagieren. Der Initiative einer Erweiterung des § 1906 BGB schlossen sich schließlich verschiedene Landesregierungen an. Die eingeführte Ergänzung, der § 1906a, sah vor, dass der Betreute nach einer Genehmigung durch das Vormundschaftsgericht vom gesetzlichen Betreuer zwangsweise der ambulanten ärztlichen »Heilbehandlung« zugeführt werden könne. Dies solle dann möglich sein, wenn der Betreute zum Beispiel aufgrund einer »psychischen Krankheit« die Notwendigkeit der Behandlung nicht erkennen oder nicht dementsprechend handeln könne und die Gefahr bestehe, dass er sich der notwendigen ambulanten ärztlichen »Heilbehandlung« entziehe.41
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Vgl. Urteil des Bundesgerichtshofs vom 11.10.2000 (BGH Beschluss XII ZB 69/00), Volltext auch unter http://lexetius.com/2000,2337, Stand 10.12.2009. Zum Urteil und seiner Bedeutung für die Psychiatrie vgl. Marschner 2005. Vgl. auch http://www.psychiatrie.de/dgsp/stellungnahmen/article/Stellung 1906.html, Stand 10.12.2009.
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Die Neuregelung des Gesetzes, die zunächst ohne Anhörung verschiedener Fach- und Betroffenenbewegungen stattfinden sollte, stieß jedoch auf Protest von verschiedenen Seiten. Zunächst verwehrten sich Betroffenenverbände, unter anderem die Irrenoffensive, aber auch der Bundesverband Psychiatrieerfahrener (BPE) deutlich gegen eine solche Verankerung der »ambulanten Zwangsbehandlung« und stellten die Frage, zu wessen Wohl die erzwungene Medikation sein solle, wenn sie von PatientInnen doch so entschieden abgelehnt werde.42 Nachdem die Betroffenenverbände ihre Empörung kundgetan hatten, sah sich auch die Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie zu einer ablehnenden Stellungnahme veranlasst. In einer Erklärung des Verbands wird hervorgehoben, dass mit der Neuordnung des Betreuungsgesetzes eine von Seiten der ÄrztInnen postulierte Behandlungsnotwendigkeit über das Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen gestellt werde. Damit gerate aber auch der gesetzliche Betreuer in eine Konfliktlage, zu wessen Wohl er sich eigentlich verhalten solle.43 In Folge der entfachten Kontroverse wurde der eingebrachte Gesetzesentwurf schließlich im Bundestag von allen Fraktionen abgelehnt.44 Lediglich einzelne Bundesländer wie Bremen beschäftigten sich noch mit einer entsprechenden Neuregelung des Unterbringungsgesetzes auf Landesebene, auch diese Versuche wurden aber schließlich aufgegeben.45 Die Debatte um eine ambulante Behandlung mit Psychopharmaka gegen den Willen von Betroffenen markiert einen Kulminationspunkt in der rechtlichen Beurteilung psychiatrischer Behandlungsformen, der am Ende der Geschichte der Neuroleptika steht. Der Streit um die Zustimmung zur »Heilbehandlung« sollte sich, nachdem das Begehren einer Erweiterung des § 1906 gescheitert war, auf eine Medikamentenbehandlung gegen den Willen von Betroffenen in der stationären Psychiatrie konzentrieren.46 Die Diskussion um die zwangsweise Verabreichung von Psychopharmaka verdeutlicht aber auch einen Konflikt, der sich im Laufe der Geschichte im42 43
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Vgl. http://www.bpeonline.de/infopool/recht/bpe/ambu_zwang.htm, Stand 10.12.2009. Stellungnahme zum § 1906a BGB »Ambulante Zwangsbehandlung« der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie vom Dezember 2003, vgl. auch http://www.psychiatrie.de/dgsp/stellungnahmen/article/Stellung1906.html, Stand 10.12.2009. Zur Anhörung und den Stellungnahmen der einzelnen Parteien im Bundestag zu dem Vorhaben vgl. http://www.psychiatrie-erfahrene-nrw.de/ lesungBundestag20040304.html, Stand 10.12.2009. Zur Aufgabe eines entsprechenden Gesetzesvorhabens vgl. die tageszeitung Bremen vom 22.06.2005 (http://www.taz.de/pt/2005/06/22/a0292.nf/text, Stand 10.12.2009). Marschner 2005.
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mer weiter zugespitzt hatte. Die Debatte zeigt, dass die Wirksamkeit der Neuroleptika zu einem streitbaren Gegenstand geworden war und sich die PsychiaterInnen, die eine Neuroleptikabehandlung befürworteten, auf der einen Seite und die ablehnenden Gruppen von Betroffenen auf der anderen Seite nahezu unversöhnlich gegenüberstanden.47
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Zu einer aktuellen Kritik des deutschen Psychiaters Volkmar Aderhold, die mit der Kritik der Betroffenverbände sympathisierte vgl. Aderhold 2007. Aderhold stieß mit seiner Kritik auch in Fachkreisen auf große Resonanz und löste Diskussionen aus. Zu einer Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft »Biologische Psychiatrie« der Bundesdirektorenkonferenz vgl. Laux et. al. 2007; eine Antwort von Volkmar Aderhold zu diesen Einwänden findet sich unter http://beautiful-mindz.org/Aderhold%20zu%20BDK.pdf.
Faz it: Zw isc he n Wirk ung und Erfahrung – die Wirksa mke it a ls tec hnisc he s Proble m?
Die Arbeit endete damit aufzuzeigen, dass die Wirksamkeit der Neuroleptika zwischen PsychiaterInnen auf der einen Seite und Betroffenen auf der anderen Seite zu einem Streitthema geworden war. Insbesondere Letztere artikulierten dabei die Kritik, dass die von ihnen erfahrenen Psychopharmakawirkungen keinesfalls mit dem aus den kontrollierten klinischen Versuchen gebildeten Wissen in Einklang zu bringen waren. Auf welche historischen Entwicklungen geht diese Divergenz zurück? Was lässt sich zusammenfassend aus der skizzierten Geschichte der Neuroleptika über die Herausbildung eines neuen Wirksamkeitsbegriffs folgern? Die Arbeit begann mit der These, dass Psychopharmaka keine eindeutigen, kausalen »Wirkungen« entfalten, sondern ihre durch den Patienten erlebten und verkörperten Effekte prinzipiell hybride sind. In den »Wirksamkeitsstudien«, wie ich die Erzeugung des Wissens über Psychopharmaka aus dem kontrollierten klinischen Versuch bezeichne, ging und geht es vor allem um die Kontrolle dieser hybriden Effekte. Die Struktur des neuen Wissens über Wirksamkeit ist, wie ich gezeigt habe, genau aus diesem Grund paradox. Im ersten Teil der Arbeit habe ich herausgearbeitet wie sich die »vormodernen« Psychopharmaka von den in den 1950er Jahren neu entstehenden »modernen« Psychopharmaka unterschieden. Die Differenzierung zwischen Drogen und Psychopharmaka wurde zunächst nicht über den Substanztyp, sondern vor allem über den Gebrauch vorgenommen. Gemeinsam war den verwendeten psychotropen Stoffen ihre prinzipielle Gefährlichkeit, weshalb ihre Anwendung auch zeitgenössisch umstritten blieb. Gegen die ersten psychiatrischen Medikamente hatten sich die neu entstehenden Psychopharmaka, insbesondere die Neuroleptika, nicht nur durch ihre überlegene Effektivität abzugrenzen. Wesentlicher war es
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zunächst, ihre größere Sicherheit zu beweisen. Ein Blick in die (staatlichen) Regulationsbemühungen nach 1945 verdeutlichte, dass Sicherheit und Wirksamkeit in der Steuerung des Arzneimittelwesens wesentliche Parameter bildeten. Hier zeigte sich, dass der Begriff der Sicherheit eines Medikaments insbesondere in den Nachkriegsjahren eine wesentlich größere Rolle spielte als der Begriff der Wirksamkeit. Letzterer wurde in der Bundesrepublik erst in den 1970er Jahren im Zuge der neuen Arzneimittelgesetzgebung zu einem Kernbegriff. Eine kurze Stoffgeschichte des Chlorpromazins verdeutlichte, dass erst im klinischen Versuch die später als »neuroleptisch« und »antipsychotisch« beschriebenen Effekte des Wirkstoffs und ein psychiatrischer Einsatz sichtbar wurden. Insbesondere die Effekte der Substanzen auf das spezifisch menschliche Denken, Handeln und Fühlen, auf die Subjektivität des Menschen, waren erst an der Erprobung am Menschen zu eruieren. Ein wichtiger erster Schritt für die beteiligten ForscherInnen war es deshalb, sich die Substanzwirkungen des Chlorpromazins selbst »erfahrbar« zu machen. Letzteres schien am besten in Selbstversuchen möglich, in denen die PsychiaterInnen neue psychotrope Stoffe am eigenen Leib erprobten. Erste bekannte Versuche des Selbstexperimentierens im psychiatrischen Feld wurden bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgt. So hatte bereits Moreau de Tours mit seinen Haschischexperimenten den PsychiaterInnen eine Darstellung seiner eigenen »Erfahrung« des Wahnsinns hinterlassen. Kraepelins Versuche mit unterschiedlichen psychotropen Stoffen an sich selbst und seinen Kollegen verdeutlichten unter anderem die außerordentliche Variabilität der Effekte, die auch durch eine genau geplante experimentelle Anordnung nicht zu kontrollieren war. Das Erleben der Substanzwirkung am eigenen Leib war zudem notwendig, um erste Eindrücke über die psychotropen Effekte des Chlorpromazins zu gewinnen. Obwohl die PsychiaterInnen sich durchaus darüber im Klaren waren, dass es prinzipielle Unterschiede zwischen den an sich selbst vorgenommenen Beobachtungen und den von PatientInnen erlebten Effekten gab, sollten die Selbstversuche als erste Spuren auf der Suche nach einer Erklärung der Reaktionen der PatientInnen dienen. Darüber hinaus mußten die Ärzte die psychotropen Spuren selbst im klinischen Alltag beobachten und somit sich selbst in lokalen Räumen erfahrbar machen können. Dafür benötigten sie eigene Versuche an PatientInnen. Im zweiten Teil der Arbeit habe ich versucht, die sich dabei vollziehende Wissensgenerierung aus der psychiatrischen Praxis einer genaueren Analyse zu unterziehen. Primäre Vorstellungen über die Effekte der Neuroleptika zu entwickeln war nur durch die Anwendung von Subjektivierungstechnologien möglich. Erst durch diese Techniken hervorgebrachte, spezielle Interaktionsformen flossen in einen ersten durch Zeugenschaft gebildeten Begriff von neuroleptischer Wirksamkeit mit ein. Am Beispiel des ersten Neuroleptikums Chlorpromazin, das in der BRD unter dem
FAZIT: W IRKSAMKEIT ALS TECHNISCHES PROBLEM | 493
Handelsnamen Megaphen vertrieben wurde, habe ich den Weg der Substanz von RHÔNE-POULENC zur Firma BAYER und von dort in die Heidelberger Klinik, in der erste Erprobungen des neuen Medikaments stattfanden, nachgezeichnet. Zunächst habe ich den Kontext der Klinik zwischen ihrer Verstrickung in die psychiatrische »Euthanasie«-Aktionen im Nationalsozialismus auf der einen Seite und ihrer Rolle im Zuge erster sozialpsychiatrischer Reformbemühungen auf der anderen Seite beleuchtet. Um die Erprobungen an psychiatrischen PatientInnen näher in den Blick zu bekommen, wurden die Krankenakten als Quelle einer »Wissenschaft als Praxis« analysiert. Anschließend betrachtete ich die Verwendung von Megaphen in der Heidelberger Klinik. In ihrer frühen Form war die Wirksamkeit des Megaphens, wie ich feststellte, vor allem ein Begriff, der durch die unmittelbare Zeugenschaft des Arztes gebildet wurde. Um eine Vorstellung von den psychotropen Effekten zu bekommen, benötigten die PsychiaterInnen aber gleichzeitig den Patienten als zuverlässigen Zeugen – eine Rolle, die er in der Praxis keinesfalls immer einnahm. Wie ich herausgearbeitet habe, war Wirksamkeit in den 1950er und frühen 1960er Jahren ein innerhalb verschiedener Interaktionen von Arzt, medizinischem Personal und Angehörigen produzierter Effekt. Diese Herstellung von Wirksamkeit als einem Effekt, der erst aus dem psychiatrischen Handeln entsteht, habe ich als Subjektivierung bezeichnet. Eine Mikroanalyse der ersten PatientInnen-Kasuistiken in der Erprobungsreihe von 1953 hob die vielfältigen Interaktionsformen, Selbst- und Fremddeutungen hervor, die in eine Vorstellung des therapeutischen Wertes des ersten Neuroleptikums mit eingingen. Wirksamkeit war, so eines meiner Ergebnisse, ein Effekt der Situation. Damit machte die Mikroanalyse erster Wirksamkeitsfeststellungen auch die gesellschaftlichen Probleme der Zeit deutlich, die eine lokale Wissensbildung mit bestimmten. Die ausführlich beschriebenen ersten Versuche markierten in besonderer Weise die Suchbewegungen, Hoffnungen und Befürchtungen, die eine Erprobung der neuen Substanz begleiteten. Wie eine Analyse der ersten »Fälle«, an denen die Substanz verwendet wurde, verdeutlicht hat, zeigte sich in diesem Zeitraum auch der »experimentelle« Charakter des Heilversuchs, denn der epistemologische Status des Wissens war hier noch in besonderer Weise offen. Weder konnte zunächst eindeutig festgelegt werden, auf was die psychotropen Substanzen einwirken sollten, noch waren die in anderen Publikationen berichteten Erfolge einfach zu reproduzieren. Vielmehr gelang es den beteiligten ÄrztInnen zunächst nur eingeschränkt und mittels verschiedener (diagnostischer) Umdeutungen, sich die Effekte des neuen, schon bald als »Wunderdroge« beschriebenen Medikaments selbst erfahrbar zu machen. Darüber hinaus wurde deutlich, dass die von den PatientInnen erlebten Effekte des neuen Wirkstoffs häufig von den durch die Ärzte beschriebenen Wirksamkeiten abwichen. Ihre verkörperten Erlebnisse drückten sich unter
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anderen in Verweigerungen und Beschwerden der PatientInnen aus. Wie ich in Anlehnung an Foucault argumentiert habe, lässt sich ein Begriff von Wirksamkeit als Zeugenschaft auch als Produkt einer Serie disziplinierender Verfahren beschreiben, mit denen die PatientInnen normalisiert und an die Bedingungen des Versuchssettings angepasst wurden. Zu dieser Versuchsanordnung gehörte auch, dass die Psychiatrisierten zum Sprechen über die Effekte gebracht werden mussten. Es wurden an dieser Stelle aber auch die Schwierigkeit einer Beschreibung von Wirksamkeit deutlich, da die PatientInnen die Psychopharmakaeffekte nicht nur passiv erfuhren, sondern aktiv mit gestalteten. In die Herstellung der neuroleptischen Effekte gingen die verschiedenen Perspektiven der im Anstaltsalltag an der Aushandlung von Wirksamkeit Beteiligten – also die Perspektiven der ÄrztInnen, des Pflegepersonals, der Angehörigen und insbesondere der PatientInnen – ein. Mit anderen Worten bedurfte ein Begriff von Wirksamkeit als Zeugenschaft nicht nur disziplinierender Verfahren, sondern auch einer subjektiven Aneignungsweise der psychotropen Effekte durch die Behandelten. Anhand der Analyse der ersten Versuchsreihe konnte ich zugleich aufzeigen, dass die Erprobung eines neuen medikamentösen Verfahrens in der Psychiatrie weder die »sauberen Ergebnisse« eines Laborexperiments noch die »bereinigten Erfolge« einer Veröffentlichung hervorbrachte. Bei Einsicht der PatientInnenakten wird deutlich, dass am Anfang der jeweiligen Akte in den Beschreibungen noch diverse Spuren der Erzählungen von Arzt, Angehörigen und PatientInnen sichtbar sind, während sich am Ende der Akte eine Krankengeschichte findet, die als Fallgeschichten in eine wissenschaftliche Publikation eingehen konnte. Dafür mussten jedoch verschiedene Filterungen vorgenommen werden. Zunächst benötigte man eine Abstraktion der Erzählung in eine vom Arzt verfasste Kasuistik. Dabei verschwand der Kontext der erlebten Psychopharmakaeffekte aus dem Blick. Die Beschreibungen reduzierten sich auf einige von dem Arzt als wesentlich erachtete Aspekte, ließen jedoch für eine Sichtbarkeit des Erlebens der PatientInnen kaum noch Spielraum. Mit dieser Übersetzung in eine Form, die eine wissenschaftliche Veröffentlichung benötigte, wurden auch die von Arzt, Patient und Angehörigen geschilderten, disparaten Erlebnisse in einen ersten, einheitlichen Begriff umgeschrieben. Zudem zeigte die Analyse der klinischen Praxis, dass eine erste Beschreibung der neuroleptischen Effekte häufig als Produkt mehrfacher Umdeutungen der ursprünglich gestellten psychiatrischen Diagnose vorgenommen wurde. Ein zu generierender Wirksamkeitsbegriff der neuen Psychopharmaka war dabei von dem Stand des immer auch kulturell definierten psychiatrischen Krankheitsbegriffs mitbestimmt und bestimmte wiederum diesen mit. Die in den ersten Jahren vorgenommenen Megaphenversuche an psychiatrischen PatientInnen wiesen darüber hinaus auch Spuren des Ex-
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perimentierens mit der neuen Substanz auf. Insbesondere die Analyse der Akten von 1955 verdeutlichte, dass die ersten Jahre der Erprobung vor allem darauf ausgerichtet waren, die Handlungsspielräume der psychiatrischen Behandlungen zu erweitern. Dabei ging es nicht nur um eine weitere Erprobung verschiedener psychiatrischer Therapien, sondern auch um neue Formen der Verabreichung. Wie ich aufgezeigt habe, diente die Behandlung mit Megaphen nicht immer einer Wirksamkeitsbeschreibung des Medikaments selbst. Vielmehr wurde sie auch dazu benutzt, die Effekte anderer körperlicher Behandlungsformen in der psychiatrischen Klinik zu stabilisieren. Die damit verbundene stärkere Annäherung an den Rest der klinischen Medizin versprach der Psychiatrie dabei offensichtlich eine Statusaufwertung. Auch schienen messbare Effekte hier augenscheinlich einfacher zu belegen und die Unsicherheit, die mit der Zeugenschaft des Patienten verbunden waren, fiel weniger schwer ins Gewicht. Der Einsatz in anderen Teilen der Medizin wurde medial zunächst auch stärker wahrgenommen und präsentiert. Diese größere Akzeptanz lässt sich aufzeigen, wenn man den Weg des Megaphen von der Klinik und wieder zurück in die Labore der Firma BAYER verfolgt. Ein Produktmarketing der Firma hob zunächst nicht den Einsatz der Substanz in der Psychiatrie hervor, denn die Effekte des Medikaments ließen sich hier nicht einfach stabilisieren. Beworben wurde die Verwendung der Substanz anfangs vor allem für andere Bereiche der Medizin, in denen eine »erfolgreiche« Anwendung des Medikaments einfacher aufzuzeigen war. Einen stabilen, klar messbaren und experimentell reproduzierbaren Begriff von Wirksamkeit hervorzubringen, ließ sich mit den gängigen Methoden der Zeugenschaft jedoch nicht bewerkstelligen. Man benötigte ein Set an neuen Methoden, mit denen man die Effekte der neuen Substanzen in wiederholbarer Form messbar machen konnte. Im zweiten Teil der Arbeit nahm ich deshalb die Objektivierungstechnologien in den Blick, die für die Herstellung eines stabilen Wissens über neuroleptische Effekte notwendig waren. Dabei habe ich die Wissensbildung innerhalb neuer Versuchsanordnungen beschrieben, die ich als Wirksamkeit im Experiment bezeichnet habe. In diesem Zusammenhang wurde die Geschichte des kontrollierten klinischen Versuchs als wissensgenerierenden Systems in den Blick genommen. Die Genese und Anwendung desselben orientierte sich dabei, wie ich in Anlehnung an Harry Marks aufgezeigt habe, in ihrer Struktur und Form an den Vorstellungen eines Experiments. Klinische Wissensbildung sollte damit ebenso »wissenschaftlich« werden wie die Forschung des Labors. Während die Geschichte des kontrollierten klinischen Versuchs schon häufiger beschrieben wurde, geriet seine politische und epistemische Relevanz für die Bestimmung der Wirksamkeit eines Medikaments selten in den Blickpunkt von Untersuchungen. Damit verschwanden auch die an der Aushandlung des Wissens beteiligten
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AkteurInnen und ihre Kontexte aus den Analysen, die für eine Beschreibung der Wissensgenerierung als »kultureller Praxis« von großer Bedeutung waren. Denn mit den neuen Versuchsanordnungen gingen auch vielfältige Übersetzungs- und Standardisierungsprozesse einher, in denen das entstehende Wissen transformiert und neu kodiert wurde. In Anlehnung an die Vorstellung des kontrollierten klinischen Versuchs als wissensproduzierenden Systems formulierte ich die Frage, inwieweit der Begriff der neuroleptischen Wirksamkeit selbst im Rahmen dieser Modifikationen einer Neuordnung unterzogen wurde. Dabei arbeitete ich heraus, dass sich – zunächst in den Vereinigten Staaten, im Zuge der Arzneimittelgesetzgebung von 1976, aber auch in Deutschland – die Befürworter einer »neuen Wissenschaftlichkeit« durchsetzten, die eine Orientierung am kontrollierten klinischen Versuch propagierten. Dieser näherte sich in seiner Grundstruktur in der Folge immer mehr dem »naturwissenschaftlichen« Experiment an. Zunächst erhoben die »Reformer« des klinischen Versuchs in den USA ihre Stimme und forderten – in Anlehnungen an die Impulse der Mediziner Henry Beecher und Austin Bradford Hill – eine neue Form der klinischen Wissensgenerierung in der Psychopharmakologie. Die ForscherInnen entwickelten die entstehenden Versuchsanordnungen vor allem in Abgrenzung von den MedikamentenkritikerInnen und wollten die Überlegenheit der neuen Psychopharmaka mit den experimentellen Methoden »zweifelsfrei« beweisen. Es hatte sich gezeigt, dass ein durch die Zeugenschaft der ÄrztInnen gebildeter Begriff von Wirksamkeit nicht zuverlässig reproduzierbar war. Vielmehr erwiesen sich die neuroleptischen Effekte, die durch die Subjektivität und Interaktion von ÄrztInnen und PatientInnen mitbestimmt waren, als in hohem Maße variabel. Die Entwicklung von standardisierten klinischen Versuchsprotokollen, Ratingskalen und Kodierungsmethoden, mit denen die WissenschaftlerInnen die Wirksamkeitserfassung der Neuroleptika von jeder subjektiv gefärbten Vorhersage abtrennen wollten, stand deshalb in der US-Psychopharmakologie im Zentrum der Bemühungen. Darüber hinaus sollte die konsequente Anwendung des Doppelblindversuchs dafür sorgen, dass die subjektiven Elemente der Interaktion von Arzt und Patient aus einem »experimentell« erzeugten Wissen über die neuroleptische Wirksamkeit verschwanden. Das neue Vorgehen sollte den ForscherInnen ermöglichen, die disparaten und vielfältigen psychotropen Effekte als stabile Einheiten in ein System von Wirksamkeiten zu überführen. Standardisierte Wirksamkeitsstudien, die sich durch Randomisierung, Verblindung und einer weitgehenden Orientierung an einer statistisch-experimentellen Versuchsplanung auszeichneten, wurden dabei in der US-Psychopharmakologie zum obligatorischen Durchgangspunkt eines als wissenschaftlich geltenden Wissens. Die Orientierung an den amerikanischen Forschungen diente den bundesdeutschen
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PsychiaterInnen als Bezugs- und Abgrenzungspunkt zugleich. Die Anpassung des klinischen Versuchs an die Bedingungen experimenteller Wissenserzeugung, die sich zunächst im US-amerikanischen Raum durchgesetzt hatte, brachte aber auch Veränderungen eines Begriffs von neuroleptischer Wirksamkeit mit sich. Mit der Anpassung des Versuchs an die Erfordernisse eines Experiments wurde schließlich auch der zu bildende Begriff von Wirksamkeit in ein Set von »Variablen« übersetzt. In diesem Zuge nahmen die ÄrztInnen eine Angleichung der klinischen Praxis an die Bedingungen des Labors vor, die eine kontrollierte Beobachtung ermöglichen sollte. Als psychische Störungen bezeichnete Phänomene wurden dabei an messbare Einheiten angepasst. Mit der Konstruktion des Wissens über neuroleptische Effekte durch den kontrollierten klinischen Versuch abstrahierte man weiter vom Erleben der beteiligten ÄrztInnen und PatientInnen. Im weiteren Verlauf der Arbeit habe ich die ersten bundesdeutschen Bemühungen verfolgt, einen Begriff von neuroleptischer Wirksamkeit zu generieren. Dabei konnte ich einige Besonderheiten aufzeigen. Zunächst trafen die ersten Bemühungen, den therapeutischen Wert der Substanz zu beschreiben, auf eine andere Kultur des klinischen Versuchs als in den USA. Eine erste Monographie, die sich mit der Theorie und Praxis des klinischen Versuchs in der Deutschland beschäftigte, legte der Arzt Paul Martini vor. Dabei nahm er ähnlich wie sein amerikanischer Kollege Austin Bradford Hill vor allem die Versuchsanordnungen und -auswertungen methodisch in den Blick. Seine Konzeptionen wichen aber in einigen wesentlichen Punkten von Hills Vorstellungen ab. Mit der Einführung neuer Testmethoden in die klinische Praxis verbesserte Martini nicht nur die Arzneimittelprüfung in Deutschland, sondern etablierte sie zugleich als Domäne, die weitestgehend der Kontrolle der ÄrztInnen, und nicht der von StatistikerInnen und PharmakologInnen, unterlag. Die von Martini geforderte Neugestaltung des klinischen Versuchs verlagerte die Versuchsanordnung dennoch weg vom klinischen Eindruck hin zu ersten Formen experimenteller Überprüfbarkeit. Dieses Vorgehen entmachtete den einzelnen Arzt zunächst und blieb in einzelnen Disziplinen wie der Psychopharmakologie nicht ohne Widerspruch. Dem Kliniker blieb durch diese Konzeption jedoch die Kompetenz erhalten, über den therapeutischen Wert des Medikaments bestimmen zu können und sich nicht im gleichen Maße wie in den USA den StatistikerInnen unterordnen zu müssen. Die als Kernelemente einer experimentellen Versuchsanordnung geltenden Methoden wie beispielsweise die Randomisierung fanden erst Ende der 1960er Jahre Eingang in die bundesdeutsche Forschung, da die Angst einer zu einseitigen Orientierung an den Naturwissenschaften ihre Einführung begleitete. Die Anpassung des klinischen Versuchs an die Idee eines Experiments erfolgte also in der BRD keineswegs gradlinig. Diese Umwege auf
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dem Weg zur experimentellen Erfassung waren für einen ersten Begriff von neuroleptischer Wirksamkeit folgenreich, denn die Offenheit von Martinis Konzeption ermöglichte den MedizinerInnen in der Nachkriegspsychiatrie, den »ganzen Patienten« im Blick zu behalten und die Nachweise einer therapeutischen Effektivität vor allem an Kasuistiken festzumachen. Von dieser Möglichkeit machte die bundesdeutsche Psychopharmakaforschung in den 1950er Jahren auch ausführlich Gebrauch. Dementsprechend glichen erste Veröffentlichungen über die neuroleptischen Effekte noch eher kasuistischen Beschreibungen, die sich an einem »Gesamtbild« der psychischen Erscheinungen orientierten und in ihrer Form noch sehr den Aufzeichnungen aus der Krankenakte ähnelten. Im Laufe der Jahre bildete sich, auch vor dem Hintergrund einer Zunahme neu eingeführter Psychopharmaka, ein deutsches Netzwerk heraus, die Arbeitsgemeinschaft für Neuropsychopharmakologie (AGNP). Die Arbeitsgruppe beschäftigte sich vor allem mit der Standardisierung des klinischen Versuchs in der Psychiatrie. Das Netzwerk setzte sich aus verschiedenen jüngeren »Reformern« zusammen, die auf der einen Seite in der »alten« deutschen Tradition des psychiatrischen Denkens verhaftet waren, gleichzeitig aber Verbindungen zur »neuen« amerikanischen Tradition herstellen wollten. Seit den 1960er Jahren veranstaltete die AGNP zahlreiche Symposien, die als erste Bemühungen um eine Wirksamkeitserfassung durch neue technische Systeme gelesen werden können. Zunächst bedienten die ForscherInnen sich der Technik des EEGs, um die Effekte der Neuroleptika klarer zu fassen. Doch es ließen sich mit den ersten Hirnstrombildern keine klaren Kurven stabilisieren, die Auskunft über die Wirksamkeit der Substanzen gegeben hätten. Auch erste Versuche von PharmakopsychologInnen, Skalen und Befragungen zur stabilen Erfassung psychotroper Phänomene zu entwickeln, führten nicht zu den gewünschten Erfolgen. Die Probleme einer Wirksamkeitserfassung ließen sich, wie den ForscherInnen deutlich wurde, mit den bisherigen Mitteln nicht lösen. Deshalb benötigten sie ein neues klinisches Aufschreibsystem, das eine besondere, bundesdeutsche Form der Standardisierung darstellte und zum obligatorischen Durchgangspunkt für die Prüfung neuer Substanzen wurde. Es entstand eine »Stammkarte« zur Wirksamkeitserfassung, die vor jede Patientenakte geheftet werden sollte und als Vorgabe zur einheitlichen Erfassung der Effekte psychoptroper Medikamente diente. Um eine einheitliche Befragung zu gewährleisten, mussten zunächst die Reaktionen der PatientInnen in kleinere Teile zerlegt werden – während sich die Wirksamkeitserfassung vorher eher am »Gesamtbild« und an »ganzen Diagnosen« orientiert hatte. Diese Übersetzungen ermöglichten eine erste statistisch-experimentelle Wirksamkeitserfassung. Damit transformierte sich die Abhängigkeit der Definition des Begriffs der Wirksamkeit vom ärztlichen Eindruck zum technischen Objekt. Darüber hinaus wurde die klinische Praxis selbst
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zunehmend in eine Laborpraxis verwandelt. Mit der von vielen PsychiaterInnen anerkannten Praxis der Einführung der Stammkarte veränderte sich die Praxis der Wissensgenerierung und das Wissen über den Patienten, denn die Stammkarte gab eine neue Form der psychiatrischen Exploration vor und strukturierte damit auch die klinische Praxis neu. Die Stammkarte, die später auch als AMP-System bezeichnet wurde, war aber auch ein Forschungssystem, das für eine neue Anordnung einzelner Symptome als »Wirkprofile« benutzt wurde und sich damit von den für eine Wirksamkeitserfassung ungeeigneten Aspekten einer »alten« bundesdeutschen Psychopathologie verabschiedete. Sie bot damit viele Anknüpfungspunkte für eine Neufassung der Diagnostik. Wie deutlich wurde, war die Frage der Wirksamkeit der Neuroleptika eng an die Übersetzung diagnostischer Begrifflichkeiten in eine neue Form gebunden, die eine experimentelle Überprüfbarkeit gewährleisten sollte, denn eine Vorstellung von Wirksamkeit setzte einen klaren Krankheitsbegriff voraus. Mit der Überführung der erzeugten Psychopharmakaeffekte in ein System des kontrollierten klinischen Versuchs wurden deshalb auch Modifikationen der psychiatrischen Diagnostik und des Begriffs der Psychosen notwendig, die psychiatrische Krankheitsbegriffe an ein experimentelles System anschlussfähig machten. Ursula Klein bezeichnet die neugeordneten Klassifikationen im Rahmen einer Experimentalisierung auch als »Papierwerkzeuge«, welche die Lücken schließen sollten, die im Rahmen einer solchen Neuerung offen blieben.1 Am Beispiel der bundesdeutschen Diskussionen über die Bedeutung der psychiatrischen Diagnostik für eine präzise Wirksamkeitserfassung habe ich aufgezeigt, dass sich parallel zur Etablierung des AMP-Systems Ende der 1960er Jahre neue Formen der psychiatrischen Diagnostik entwickelten. In weiten Teilen waren sich die ForscherInnen darüber einig, dass Neuroleptika nicht »spezifisch« auf ganze »Krankheitseinheiten« wie beispielsweise Schizophrenien wirkten. Um ihre spezifischen Effekte sichtbar zu machen, benötigte man vielmehr Zielsymptome, die kleinere Verhaltenseinheiten markierten. Diese Umformulierungen der psychiatrischen Diagnostik stellten aber auch eine Abkehr von bisher viel beachteten Traditionen wie der Psychopathologie Karl Jaspers’, Kurt Schneiders und anderer PsychiaterInnen der 1950er Jahre dar. Die genannte Gruppe von PsychiaterInnen hatte sich eher auf die personalen Aspekte des Wahnsinns konzentriert, nachdem eine Einigung auf spezifische »Krankheitsbegriffe« angesichts der »Krise der psychiatrischen Diagnostik« in der Nachkriegszeit kaum möglich erschienen war. Die neue Orientierung auf Zielsymptome ließ die PsychiaterInnen Ende der 1960er Jahre die Psychopathologie Emil Kraepelins wiederentdecken. Kraepelins
1
Klein 2003.
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Krankheitslehre ließ sich mit einer experimentellen Erfassung neuer therapeutischer Verfahren wesentlich besser vereinbaren als viele in den 1950er Jahren vorherrschende psychiatrische Schulen, da sie Anknüpfungspunkte für eine Aufschlüsselung des Wahnsinns in kleine Teile bot. Mit der Wiederentdeckung der Kraepelinschen Diagnostik kamen auch die Ideen seiner Pharmakopsychologie wieder in den Blick, denn die Effekte der »modernen« Psychopharmaka erwiesen sich als äußerst variabel und stark von der einnehmenden Person und der Situation abhängig. So zeigte sich, dass die Persönlichkeit und die Umgebungsfaktoren einen größeren Einfluss auf die Wirksamkeit moderner Psychopharmaka hatten als die Krankheitsdiagnose, die als Ausgangspunkt für die Einnahme des Medikaments diente. Neben der psychiatrischen Diagnostik mussten somit auch die »Umgebungsvariablen« experimentell fassbar werden. Wie ich herausgearbeitet habe, waren es aber nicht nur »Fortschritte« der Therapie, die eine größere Reliabilität der psychiatrischen Diagnostik notwendig machten. Sowohl in den USA als auch in der BRD war die Psychiatrie der Nachkriegszeit immer wieder einer Kritik ausgesetzt, die neue Legitimationen erforderlich machten. Die psychiatrische Diagnostik galt nach 1945 in beiden Staaten als so unsicher, dass von der Bevölkerung immer wieder die Angst artikuliert wurde, zu Unrecht in die Psychiatrie eingeliefert zu werden. Zusätzlich machte eine Vielzahl neu auf dem Markt kommender Substanzen eine Orientierung an einem einheitlichen Krankheitsbegriff unabdingbar. Es lag deshalb nahe, dass sich auch im globalen Kontext mit der Genese von DSM-III ein Diagnosemanual durchsetzte, das sich vor allem an der Reliabilität psychiatrischer Diagnosen orientierte, um sich vor den Angriffen von KritikerInnen zu schützen. DSMIII fand schließlich auch in Deutschland eine breite Akzeptanz, da PsychiaterInnen in dem neuen Manual einen Ausweg aus der »Krise der Psychopathologie« der 1950er Jahre sahen. Gleichzeitig verschob die Neugestaltung der psychiatrischen Diagnostik jedoch auch die Vorstellungen davon, auf »was« die Medikamente einwirkten. Die Vorteile, die eine Anpassung der psychiatrischen Diagnostik an experimentelle Begriffe für eine Umsetzung des kontrollierten klinischen Versuchs bot, ließen sich in der BRD entlang der Diskussionen um einen »Wirksamkeitsnachweis« aufzeigen, der mit dem Arzneimittelgesetz von 1976 als Beweis der therapeutischen Nützlichkeit notwendig wurde. Die mit den neuen Regulationsbemühungen einhergehenden Debatten stellten einen wichtigen Bezugspunkt für die Bildung eines Begriffs von neuroleptischer Wirksamkeit dar, denn es stellte sich die Frage, ob die PsychopharmakologInnen sich weitgehend an die Formen der Wissenserzeugung durch den kontrollierten klinischen Versuch anpassen oder neue Methoden eines Wirksamkeitsnachweises entwickeln sollten. Ende der 1970er Jahre diskutierten die ForscherInnen deshalb auch noch einmal die Frage nach
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neuen Messinstrumenten. Zunächst stand die Anwendung von Befunddokumentationen und Ratingskalen im Zentrum des Interesses. Einerseits einigten die ForscherInnen sich zu diesem Zeitpunkt auch in Deutschland auf eine Erfassung neuroleptischer Effekte mit diesen Systemen. Andererseits wollten sie aber die amerikanischen Ratingskalen nicht einfach übernehmen, um sich nicht ausschließlich an einer stark von eigenen nationalen Gepflogenheiten abweichenden Diagnostik zu orientieren. Auch die Anwendung des Doppelblindversuchs löste ein geteiltes Echo aus und wurde als mit der Ethik des klinischen Versuchs nicht vereinbar angesehen. Dafür kamen zunehmend Elemente der Randomisierung und statistischen Versuchsplanung zur Anwendung, die als entscheidende Variablen für eine »experimentelle« Versuchsanordnung galten. Mit der neuen Form der Versuche, die dem kontrollierten klinischen Versuch nach USamerikanischen Vorbild ähnelten, wurde die Frage nach der Einwilligung der Versuchspersonen immer dringender. Die Teilnahme an einer (placebokontrollierten) doppelblinden Studie hatte für den Patienten selbst meist wenig unmittelbaren Nutzen. Sie legitimierte sich nur durch ihre Bedeutung für zukünftige PatientInnen, denen neue Psychopharmaka zur Verfügung stehen sollten. Die Stimmen der PatientInnen fanden jedoch in den bundesdeutschen Regulationsbemühungen weit weniger Gehör als in den US-amerikanischen. Anders als in den Vereinigten Staaten blieben in der Bundesrepublik Deutschland hingegen Gestaltungsmöglichkeiten des klinischen Versuchs gegeben, da die Methode des Wirksamkeitsnachweises in der BRD weniger streng vorgeschrieben war. Es gab also keine Zwangsläufigkeit, sich auch in der Psychopharmakologie einem experimentellen Begriff von Wirksamkeit anzupassen. So hoben einige anthroposophische Kritiker die Unangemessenheit eines Wirksamkeitsnachweises in der Psychopharmakologie durch den placebokontrollierten Doppelblindversuch hervor, weil das Individuum bei der Erzeugung der medikamentösen Effekte eine große Rolle spielte. Für die Psychiatrie wurde von dieser Seite eine »erfahrungsorientierte« Wissensbildung gefordert. Im Streit um ein »erfahrungswissenschaftliches« und ein »experimentelles« Wissen über Neuroleptika gewannen die Befürworter des kontrollierten klinischen Versuchs aber letztlich Ende der 1970er Jahre die Oberhand. Als Ergebnis der ersten beiden Hauptteile lässt sich festhalten, dass die Bildung eines Begriffs von Wirksamkeit, der sich an den Grundstrukturen einer experimentellen Wissensbildung orientierte, weitreichende epistemologische Verschiebungen mit sich brachte. Erstens modifizierten sich mit den Änderungen in der psychiatrischen Diagnostik die Vorstellungen darüber, auf »was« man mittels der Medikation einwirken wollte. Dadurch ergaben sich nicht nur Veränderungen innerhalb der psychiatrischen Diagnostik, sondern auch Modifikationen des Begriffs von Wirksamkeit. Die
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Effekte sollten sich nun vor allem auf Zielsymptome begrenzen lassen, die neue Cluster von »Wirkprofilen« ermöglichen sollten. Zweitens sollten durch den kontrollierten klinischen Versuch die individuellen Differenzen der neuroleptischen Effekte minimiert werden. Macht man sich bewußt, dass Experimentalsysteme Differenzen erzeugen, wird deutlich, dass die experimentelle Konstruktion eines Begriffs von Wirksamkeit selbst Differenzen hervorbrachte, die die geschilderte neue Vorstellung von Wirksamkeit entstehen ließen. Drittens führten die ForscherInnen in diesem Prozess die unterschiedlichen erlebten Effekte der Neuroleptika zu einem einheitlichen Begriff zusammen, der die Grundlage für weitere Forschungen bildete. BefürworterInnen und KritikerInnen eines Einsatzes der Neuroleptika mussten sich nun dieser experimentellen Beweisführung anpassen. Das Wissen über neuroleptische Effekte hatte sich damit weitgehend von seinem Status als »Erfahrungswissen« gelöst. Diese Abstraktion von der Zeugenschaft bezog sich auf zwei unterschiedliche Ebenen. Zum einen verloren sich erste Spuren der Wissensbildung des Arztes mittels des Selbstexperiments, in dem er sein Erleben psychotroper Effekte noch frei erzählte. Auch die in der Akte erfassten Beobachtungen der neuroleptischen Effekte am Patienten waren meist disparat und wurden erst im Zuge einer Beschreibung im Arztbrief einer Vereinheitlichung unterzogen. Eine weitere Abstraktion von den erlebten Effekten stellte die Schilderung des Wissens durch kasuistische Beschreibungen dar, die zwar Offenheiten für die besonderen Reaktionen des einzelnen Patienten ließen, gleichzeitig aber die Differenzen psychotroper Effekte minimierten. Die weitreichendste Verschiebung war aber die Transformation des durch Zeugenschaft gebildeten Begriffs über neuroleptische Effekte in eine experimentelle Erfassung neuroleptischer Wirksamkeiten. Mit den letzten Neuordnungen ging auch eine Verschiebung des Fokusses vom Individuum auf die Population einher. Robert Castel hatte diese Abstraktion von der konkreten ArztPatienteninteraktion zu einer sich an Aufzeichnungen orientierenden Expertise auch als Übergang einer Klinik des Subjekts in eine epidemiologische Klinik bezeichnet. Diese Änderung bringe, wie Castel hervorgehoben hat, jedoch auch eine Transformation der wahrgenommenen Verhaltensweisen von PatientInnenen von einer »Gefährlichkeit« zum »Risiko« mit sich.2 Die geschilderten Abstraktionen wirkten auch auf die Erfahrungen der PatientInnen zurück. Zum einen mussten zunächst die vielfältigen und unterschiedlichen subjektiven Äußerungen der PatientInnen vereinheitlicht und normiert werden. Zum anderen lösten sich, indem neuroleptische Effekte in experimentelle Begriffe übersetzt wurden, die Vorstellungen über psychotrope Effekte in immer größerem Maße von der Rede des Patienten 2
Castel 1983, S. 52.
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ab. In der experimentellen Aufschlüsselung seiner Antworten fanden sich nur noch wenige Spuren seines subjektiven Erlebens. Der Patient, der Neuroleptika einnahm, stand in der psychiatrischen Praxis einem Wirksamkeitsbegriff gegenüber, der seine »gelebten Psychopharmakaerfahrungen« nicht (mehr) abbildete. Gleichzeitig wurden auf der Grundlage dieses Wissens, das die ForscherInnen aus dem kontrollierten klinischen Versuch bildeten, aber vermehrt Wirksamkeitsstudien erstellt, die als »Risikostudien« fungierten. So galt es zunehmend durch die auf Statistik gestütze Medizin als gesichert, dass eine statistisch klar zu benennende Zahl der PatientInnen durch den Neuroleptikakonsum eine Verbesserung ihres Zustands zeigte. Kennzeichnend für diese »Risikostudien«, so Castel, sei eine abstrakte Datengewinnung, die immer stärker das konkrete Subjekt der Intervention verschwinden lasse.3 In der Praxis wurde der Patient damit einer Leitlinie unterworfen, die nicht mit seinem Erleben der Psychopharmakaeffekte korrespondierte. Die Behandelten fanden sich damit in einer paradoxen Situation wieder, denn die durch Abstraktion von ihrem Akteursstatus gebildeten Vorstellungen dienten als Grundlage für eine Dauermedikation. Aus dem experimentell gebildeten Wirksamkeitsbegriff entschwanden, neben unerwünschten und paradoxen Wirkungen, damit auch die Stimmen der PatientInnen. Im letzten Teil der Arbeit nahm ich deshalb ausgeschlossene Aspekte eines experimentellen Wirksamkeitsbegriffs in den Blick, die insbesondere in der Öffentlichkeit verhandelt wurden. Zunächst schilderte ich die Debatten um ein Verbot der Neuroleptika, die als Folge ihrer prekären unerwünschten Effekte in den 1980er Jahren geführt wurden. Erbittert stritten hier BefürworterInnen und KritikerInnen über die Legitimität des Einsatzes der Neuroleptika in der Praxis. Im Sinne des Lebenszyklus’ psychotroper Medikamente, den Toine Pieters und Stephen Snelders beschrieben haben, könnte man diese Zeit auch als »Phase der Kritik« bezeichnen.4 Zum einen waren, wie ich geschildert habe, seit den 1960er Jahren vor dem Hintergrund des Conterganskandals auch in psychiatrischen Diskussionen die »Nebenwirkungen« der Neuroleptika diskutiert worden. Auch in der öffentlichen Diskussion, die ich entlang einer Analyse der Berichterstattung des Nachrichtenmagazins Der Spiegel rekonstruiert habe, nahmen die Debatten über die Legitimität der neuen psychiatrischen Medikamente einen großen Raum ein. Sie wurden immer stärker als »Disziplinierungstechnologie« wahrgenommen und mit den als unhaltbar beschriebenen Zuständen in bundesdeutschen psychiatrischen Anstalten in Verbindung gebracht. Es war aber nicht nur die Öffentlichkeit im Allgemeinen, die sich um 1980 von einem Einsatz der Neuroleptika distanzierte. Zur 3 4
Castel 1983, S. 61. Snelders/Kaplan/Pieters 2006; Seige 1912. Vgl. auch I.2.2
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gleichen Zeit äußerten sich auch immer mehr VertreterInnen einer PatientInnenbewegung, die sich durch die Verwendung neuroleptischer Substanzen behindert sahen und eine weitere Einnahme ablehnten. Sie forderten und fordern bis heute psychopharmakafreie Alternativen zur Psychiatrie und eine Wissensbildung über neuroleptische Effekte ein, die sich an ihrem Erleben orientieren. Parallel zu den ablehnenden Äußerungen vielerPatientInnen nahmen in der Psychiatrie die Debatten über die »Compliance« der PatientInnen zu. Die Diskussionen verfolgten das Ziel, eine kontinuierliche Einnahme von Neuroleptika sicherzustellen, da ihre Wirksamkeit durch den kontrollierten klinischen Versuch inzwischen als bewiesen galt. Die Komplizenschaft der PatientInnen nahm hingegen mit einer Zunahme an Freiheit, die bei der Einnahme der Neuroleptika bestand, ab. Dieses Verhalten wurde mit dem Ausbau gemeindepsychiatrischer Einrichtungen zu einem immer größeren Problem, das in die geschilderten Diskussionen über eine »ambulante Zwangsbehandlung« mündete. Wie Robert Castel betonte, sollte mit der Herausbildung eines Risikobegriffs des Verhaltens die Logik der Disziplinierung durch eine der Effizienz ersetzt werden, die an der Prävention bestimmter Verhaltensweisen ansetzte.5 In der Geschichte der Neuroleptika scheinen sich die beiden Modi jedoch eher zu ergänzen, denn ein »Zwang zur Prävention« sollte die Probleme schließlich lösen. Dies verdeutlichen die Debatten um eine ambulante Zwangsbehandlung im 21. Jahrhundert, mit denen die Arbeit endete. Unerwünschte Verhaltensweisen der PatientInnen standen also am Ende einer Wissensbildung, die sich weitgehend von ihren subjektiven Erfahrungen gelöst hatte und zu einer »wortlosen Objektivität« mutierte. Das Wissen über Neuroleptika war zwar einerseits zu einer »gesicherten Erkenntnis«, andererseits aber zu einem paradoxen Wissen geworden. Einher mit dieser Entwicklung ging schließlich die Kontrolle eines risikoreichen Verhaltens des Patienten, das dem Einsatz einer als effektiv beschriebenen Therapie entgegenstand.
5
Castel 1983, S. 70.
Ab bildunge n
Abbildung 1 (Teil 1-6): Einige um 1950 gebräuchliche Diagnoseschemata. Quelle: Meyer, J.E.: »Diagnostische Einteilungen und Diagnosenschemata in der Psychiatrie«, in: Gruhle, H.W.; Jung, R.; Mayer-Gross, W.; Müller, M. (Hg.): Psychiatrie der Gegenwart: Forschung und Praxis, Berlin, Göttingen, Heidelberg: Springer 1961 (Bd. III: Soziale und angwandte Psychiatrie), S. 155-160.
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Abbildung 1, Teil 1
ABBILDUNGEN | 507
Abbildung 1, Teil 2
508 | EINE GESCHICHTE DER PSYCHOPHARMAKA
Abbildung 1, Teil 3
ABBILDUNGEN | 509
Abbildung 1, Teil 4
510 | EINE GESCHICHTE DER PSYCHOPHARMAKA
Abbildung 1, Teil 5
ABBILDUNGEN | 511
Abbildung 1, Teil 6
512 | EINE GESCHICHTE DER PSYCHOPHARMAKA
Abbildung 2 (Teil 1-3): »Stammkarte« zur Wirksamkeitserfassung von Psychopharmaka. Aus: Schmitt, W.: Psychiatrische Pharmakotherapie. Experiment und klinische Grundlagen eines Klassifizierungsversuches, Heidelberg: Dr. Alfred Hüthig 1965 (Theoretische und klinische Medizin in Einzeldarstellungen; Bd.21), S. 56-58.
ABBILDUNGEN | 513
Abbildung 2, Teil 1 (Stammkarte)
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Abbildung 2, Teil 2 (Ergänzungskarte A)
ABBILDUNGEN | 515
Abbildung 2, Teil 3 (Ergänzungskarte B)
Ta be lle n
Tabelle 1 Erfasste Krankenakten der Heidelberger Universitätspsychiatrie im Stichmonat Mai von 1953 bis 1957, inklusive der Vergleichsstichprobe von 1959 n= 1034
250 200 150 100 50 0 1953
1954
1955
1956
1957
1959
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Tabelle 2 Zahl der von 1953 bis 1957 in der Heidelberger Universitätspsychiatrie mit Megaphen behandelten Männer im Stichmonat Mai n= 40
14 12 10 8 6 4 2 0 1953
1954
1955
1956
1957
Tabelle 3 Zahl der von 1953 bis 1957 in der Heidelberger Universitätspsychiatrie mit Megaphen behandelten Frauen im Stichmonat Mai n = 27
14 12 10 8 6 4 2 0 1953
1954
1955
1956
1957
TABELLEN | 519
Tabelle 4 Diagnosen der mit Megaphen Behandelten von 1953 n= 23
20 15 10 5 0 t n a n ie ns -Suc h k ose o i e s i m res yk l. M zo Tre BT M reot ox p i e h Z m Sc l. D l ir iu T hy Z yk De en ph r
ie
520 | EINE GESCHICHTE DER PSYCHOPHARMAKA
Tabelle 5 Diagnosen der im Stichmonat Mai mit Megaphen Behandelten von 1955 bis 1957 n= 58
30 25 20 15 10 5 0
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op hiz
n hre
ie Z
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on s si
Su
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An
re de
Ab k ürz ungs ve rz eic hnis
APA ICD DSM CINP AGNP NIMH NAMI PUH PA VA WHO FDA AMP
American Psychiatric Association International Classification of Diseases Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders Collegium Internationale Neuro-Psychopharmacologicum Arbeitsgemeinschaft für Neuropsychopharmakologie National Institute of Mental Health National Alliance on Mental Illness Psychiatrische Universitätsklinik Heidelberg Patientenakten Verwaltungsakten World Health Organisation Food and Drug Administration Arbeitsgemeinschaft für Methodik und Dokumentation in der Psychatrie
Archi valien
Psychiatrische Universitätsklinik Heidelberg, Altaktenarchiv Heidelberg-Wieblingen Patientenakten/Krankenakten: PA 53/1-53/800 PA 54/1-54/250 PA 55/1-55/250 PA 56/1- 56/250 PA 57/1-57/250 PA 59/1-59/250 Psychiatrische Universitätsklinik Heidelberg, Historisches Archiv Verwaltungsakten (I-X) Findbuch Sonderdrucke H.H. Meyer Universitätsarchiv Homburg/Saar Nachlass H.H. Meyer (insbesondere Schriftenverzeichnis) Bundesarchiv Koblenz Bestand 1432 (Stopverordnung) Unternehmensarchiv der Firma Bayer AG, Leverkusen Bestand Megaphen: Sonderdrucke Rundschreiben Produktbroschüren Weitere Werbematerialien
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Filmische Quellen »Die synergistische Megaphen Krampfbehandlung«, produziert von dem Münchener Medizinalrat H. Lieser an der Psychiatrischen Landesklinik München-Haar und der Bayer Filmstelle, 18 min, stumm, s/w, 1955. »Zentralwirksame Phenothiazinderivate«: Grundlagen und Anwendung in der Medizin, ein Film der Pharmazeutisch-wissenschaftlichen Abteilung der Farbfabriken Bayer-Leverkusen AG in Zusammenarbeit mit verschiedenen Kliniken der Chirurgie, Inneren Medizin und Psychiatrie. Buch/Regie: Eberhard Stock, 32 min, 1959. »Das Gesicht der Psychose und sein Wandel durch die Therapie«, produziert von H. Lieser und der pharmazeutisch wissenschaftliche Abteilung der Farbfabriken BAYER AG, 1962. »Acta psychiatrica: Zur psychiatrischen Diagnose«, produziert von dem Münchener Medizinalrat H. Lieser, 20 min, 1968. »Arzt-Patienten-Compliance«, ein Film der Farbenfabriken Bayer AG, 30 min, 1975. Zeitzeugeninterview Viola Balz/Walter Schmitt vom 02.04.2007
Litera tur
»Keine ambulante Zwangsbehandlung«, http://www.taz.de/pt/2005/06/22/ a0292.nf/ text 22.06.2005. »Largactilsymposium in der psychiatrischen Universitätsklinik Basel am 28. November 1953«, in: Schweiz Arch Neurol Psychiatr 73 (1954), S. 288-369. Chlorpromazine and Mental Health: Proceedings of the Symposium held under the Auspices of Smith, Kline & French Laboratories, June 6, 1955, Philadelphia, Pennsylvania London: Kimpton 1955. »Therapeutische Gespräche deutscher und französischer Psychiater, 2122.11. 1959, Hopital du Vinatier, Lyon«, in: La Revue Lyonnaise de Médecine Sonderausgabe (1960). »Nur Mut«, in: Der Spiegel vom 03.10.1983, S. 62-65. »Überwiegend negativ«, in: Der Spiegel vom 04.07.1983, S. 140-145. »Menschenrechte für die Gulags im Westen«, in: Der Spiegel vom 07.04. 1980, S. 252-262. »Tag und Nacht«, in: Der Spiegel vom 08.08.1962, S. 58-59. »Etwas unternommen«, in: Der Spiegel vom 09.11.1981, S. 97-99. »Brutale Wirklichkeit«, in: Der Spiegel vom 10.09.1973, S. 52-53. »Das Nickerchen«, in: Der Spiegel vom 10.11.1965, S. 53-54. »Experiment gelungen, Patienten tot«, in: Der Spiegel vom 11.09.1978, S. 54-65. »Das Pulver 4560«, in: Der Spiegel vom 15.04.1953, S. 26. »Zeugen aus 9 I«, in: Der Spiegel vom 15.07.1968, S. 42-43. »Die Cocktail-Kur«, in: Der Spiegel vom 17.02.1960, S. 68-70. »Ins Nichts gerissen«, in: Der Spiegel vom 17.03.1980, S. 98-124. »Pillen in der Psychiatrie – ein sanfter Mord«, in: Der Spiegel vom 17.03. 1980. »Abends Tanz«, in: Der Spiegel vom 20.03.1970, S. 103-105. »Schizophrenie austragen wie Schnupfen«, in: Der Spiegel vom 20.11. 1978, S. 195-201.
526 | EINE GESCHICHTE DER PSYCHOPHARMAKA
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