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German Pages [160] Year 2010
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© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525358955 — ISBN E-Book: 9783647358956
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Deutschland in der Welt Weichenstellungen in der Geschichte der Bundesrepublik
Herausgegeben von Andreas Rödder und Wolfgang Elz
Vandenhoeck & Ruprecht
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Umschlagabbildung: Adenauer in den USA 1953 / Washington D.C. © akg-images
Mit 17 Abbildungen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-35895-5 eISBN 978-3-647-35895-6
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Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Michael Kißener Westbindung 1955. Die politische Koordinatenverschiebung . . . . . . . . . . . . .
13
Joachim Scholtyseck Mauerbau 1961. Zwei Welten in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
29
Jan Kusber Ostverträge 1970/72. Überwindung oder Zementierung der Teilung Europas? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
47
Tim Schanetzky Ölpreisschock 1973. Wendepunkt des wirtschaftspolitischen Denkens . . . . .
67
Harald Biermann NATO-Doppelbeschluss 1979. Westliche Defensive
oder Todesstoß für den Osten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
83
Andreas Rödder Wiedervereinigung 1989/90. Deutsche Revolution und internationale Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
97
Andreas Lutsch / David Schumann Maastricht 1992. Europäischer »Staatenverbund« auf dem Weg zum Bundesstaat? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Helga Haftendorn Einsatz im Kosovo 1999. Das vereinte Deutschland und die Welt . . . . . . . . . 131 Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 Herausgeber, Autorin und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
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Einleitung
»Die Politik ist das Schicksal« – was Napoleon im Oktober 1808 zu Goethe sagte, gilt in Deutschland jedenfalls für die internationale Politik. Denn die Staatenordnung war immer wieder von entscheidender Bedeutung für die deutsche Frage, die Europa und die Welt über Jahrhunderte in Atem hielt. In der Frühen Neuzeit diente das territorial große, politisch aber zersplitterte Reich in der Mitte des Kontinents als »diplomatisches Glacis im Frieden« und als »europäisches Kriegstheater im Konfliktfall« (Hagen Schulze). Im Kampf gegen Napoleon wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts die moderne deutsche Nationalstaatsbewegung geboren; die nationale Einheit wurde aber, Jahrzehnte später, erst nach weiteren Kriegen in der internationalen Konstellation der »Krimkriegssituation« (Andreas Hillgruber) möglich. Die Reichsgründung von 1871 veränderte die europäischen Kräfteverhältnisse grundlegend, und es war die Labilität der internationalen Ordnung im Zeitalter des Imperialismus und des Kolonialismus, die sich 1914 im Ersten Weltkrieg entlud. Mit jener »Urkatastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts« (George F. Kennan) zerbrachen die großen Entwicklungschancen, die sich in der ebenso dynamischen wie unsicheren Übergangszeit der Hochindustrialisierung eröffnet hatten. Stattdessen gingen Deutschland und Europa mitten hinein in das Zeitalter der Katastrophen: Traumatisiert durch den Krieg und die Niederlage von 1918, als Großmacht aber nicht vernichtet, endeten die Versuche, Deutschland wieder Gleichberechtigung zu verschaffen, schlussendlich im welthistorischen Abgrund des nationalsozialistischen Vernichtungskrieges. Als die deutsche Herausforderung der Welt vernichtend zurückgeschlagen war, bestimmte eine andere Konstellation die Weltpolitik: Schon seit 1917, seit dem amerikanischen Eintritt in den Ersten Weltkrieg und der Russischen Oktoberrevolution, war der ideologische Dualismus zwischen westlich-bürgerlicher Demokratie und Marktwirtschaft auf der einen und kommunistisch-kollektivistischer Planwirtschaft und Diktatur auf der anderen Seite angelegt. Nachdem die Kontrahenten für kurze Zeit zur gemeinsamen Abwehr Hitler-Deutschlands zusammengefunden hatten, zerbrach diese Koalition bereits ein Jahr nach dem Zweiten Weltkrieg, und der offene Ost-West-Konflikt brach aus. Er stand am Anfang der Teilung Deutschlands – und an ihrem Ende: Denn abermals war es 1989/90 mit dem revolutionären Zusammenbruch des Ostblocks eine fundamentale Veränderung der weltpolitischen Rahmenbedingungen, die der deutschen Frage Möglichkeiten eröffnete und Grenzen setzte.
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Einleitung
Mit der deutschen Einheit von 1990 wurde die deutsche Frage endgültig beantwortet: Zum ersten Mal in der deutschen Geschichte fanden Freiheit und Einheit im Inneren mit äußerem Frieden und der grundsätzlichen Übereinstimmung mit den Nachbarn zusammen. Doch auch danach ließ die Weltpolitik das Land in der Mitte Europas nicht los – im Gegenteil stellte sich alsbald heraus, dass die Deutschen während des Ost-West-Konflikts an der Nahtstelle zwischen Ost und West, im Schatten der Weltpolitik vergleichsweise unbehelligt hatten leben können. 1990 aber brach – anders als seinerzeit erwartet – kein neues Zeitalter von Frieden und Demokratie in der Welt an. Vielmehr taten sich bald neuartige, scharfe und blutige Konflikte auf, in denen nunmehr Deutschlands Engagement gefordert wurde. Seit 2001 beteiligt sich Deutschland am militärischen Einsatz in Afghanistan, und schließlich wurde auch das seit dem Zweiten Weltkrieg Unaussprechliche offen ausgesprochen: das Wort vom Krieg. Dass die Politik, zumal die Weltpolitik – nicht allein, aber unter anderem – »das Schicksal« war und ist, schlägt sich freilich in der deutschen Öffentlichkeit kaum nieder. Seit den Auseinandersetzungen um den NATO-Doppelbeschluss zu Beginn der achtziger Jahre ist kaum mehr eine wirklich grundlegende gesellschaftlich-politische Debatte über die deutsche Außenpolitik geführt worden. Auf der Beliebtheitsskala deutscher Politiker rangiert der Außenminister, unabhängig von Partei und Person, traditionell zumeist ganz oben – man mag sich fragen, ob dies daher rührt, dass sich kaum jemand für die wirklichen Probleme hinter der bildmächtigen Repräsentation interessiert. Dabei sind die internationalen Beziehungen, wie sich spätestens in Afghanistan zeigt, alles andere als eine Kuschelecke – und es mag sein, dass sich diese Debattenlage mit der weiteren Entwicklung dieses Einsatzes grundlegend ändert. In jedem Fall ist es nicht nur hilfreich, sondern notwendig, in solchen Debatten die historischen Hintergründe zu kennen. Auch in den Geschichtswissenschaften hat das Interesse an Außenpolitik allerdings in den letzten Jahrzehnten deutlich nachgelassen. Während die ältere, historistische Geschichtsschreibung dazu neigte, Nationen als personale Entitäten mit unwandelbaren, vorgegebenen Interessen aufzufassen und Geschichte einseitig unter dem »Primat der Außenpolitik« im Zeichen der großen Männer zu schreiben, ging die Auffassung von Geschichte als »historischer Sozialwissenschaft« seit den siebziger Jahren in das andere Extrem über, dem Eigengewicht des internationalen Systems und der Eigenlogik von Außenpolitik allzu wenig Aufmerksamkeit zu widmen. So schlug die vormalige Dominanz der Außenpolitik in ein wahres Schattendasein um, während an vielen Stellen der Welt eine lebendige historische Forschung der internationalen Politik betrieben wurde. Mit dem Ende der ideologischen Konfrontationen haben sich aber auch in Deutschland die – sachlich ohnehin wenig produktiven – scharfen historiographischen Frontstellungen verloren, und mit dem Vordringen der Kulturgeschichte sind
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Einleitung
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neue Fragen an und neue Perspektiven auf den Gegenstand der Außenpolitik und der internationalen Beziehungen entwickelt worden. Zugleich zeigt die jüngste Entwicklung der internationalen Politik nur umso deutlicher, dass auch die klassischen Fragen ihre Bedeutung keineswegs verloren haben. In einem solchen, perspektivisch offenen und breiten Verständnis wollen die folgenden Beiträge anhand von zentralen internationalen Entscheidungen und Ereignissen Meilensteine in der Geschichte der Bundesrepublik und mithin ihren Weg in unsere Gegenwart abschreiten. Letztlich geht es – wie im Grunde aller Geschichtsschreibung – darum, die eigene Gegenwart im Lichte einer möglichst unparteiisch beleuchteten Vergangenheit besser zu verstehen. Nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands am 8. Mai 1945 bedurfte die deutsche Frage einer völlig neuen Antwort. Da die alliierten Siegermächte allerdings keine gemeinsame Lösung zu finden vermochten, sondern ihrerseits in den Ost-West-Konflikt gerieten, wurde Deutschland schließlich gleichsam aus Verlegenheit geteilt: Die Gebiete östlich von Oder und Neiße wurden zum nach Westen verschobenen Polen bzw. zur Sowjetunion geschlagen, in der sowjetischen Besatzungszone samt Ost-Berlin wurde der sozialistische deutsche Staat unter Vorherrschaft der Sowjetunion errichtet und aus den drei Westzonen die Bundesrepublik gebildet. Dieser westdeutsche Teilstaat vollzog mit der politischen Westbindung eine historische Umorientierung, nachdem sich Deutschland seit Bismarcks Reichsgründung stets als Makler oder Mitte Europas verstanden hatte. Den Zäsurcharakter dieser Westbindung betont der Beitrag von Michael Kißener, der die Optionen der Westdeutschen auslotet und dabei nicht nur auf die Bonner Regierungspolitik schaut, sondern zugleich die unterstützenden und grundlegenden Kräfte auf regionaler und lokaler Ebene ins Blickfeld rückt. Dass Westbindung und Wiedervereinigung unter den Bedingungen des Kalten Krieges nicht zusammengingen, stellte sich immer deutlicher heraus, als die Zweistaatlichkeit länger anhielt, als zumindest die Westdeutschen ursprünglich gedacht hatten. Die Magnettheorie, also die Vorstellung von einer zwangsläufig zustande kommenden Wiedervereinigung aufgrund der ökonomischen Überlegenheit, funktionierte zwar nicht; nichtsdestoweniger entwickelte sich die Bundesrepublik zu einem Magneten, der die Ostdeutschen hunderttausend-, ja millionenfach anzog. Um den Flüchtlingsstrom zu stoppen, wurde die innerdeutsche Grenze abgeriegelt und schließlich, am 13. August 1961, die Berliner Mauer gebaut. Joachim Scholtyseck zeigt, dass die Initiative für den Mauerbau dabei vom Kreml auf die Ost-Berliner Führung überging. Die Mauer vermochte die fragile DDR in der Tat zu stabilisieren, wenn auch von Moskaus Gnaden – zumal die Westmächte keinerlei Neigung verspürten, wegen der deutschen Frage einen Krieg zu riskieren. Damit war zugleich die Tendenz der Entspannungspolitik in den sechziger Jahren etabliert. Zu ihren Grundlagen gehörte die gegenseitige Anerkennung des
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Einleitung
Status quo, mithin auch der deutschen Teilung (und der Abtrennung der deutschen Ostgebiete), wozu die Bonner Politik sich lange nicht in der Lage zeigte. Erst die sozial-liberale Koalition tat schließlich den Schritt zur politischen Anerkennung der »bestehenden wirklichen Lage«, wie es im Moskauer und im Warschauer Vertrag hieß – und Willy Brandt, am Rande der Vertragsunterzeichnung, den Kniefall in Warschau, der inzwischen zu einer Bildikone der Nachkriegsgeschichte geworden ist. Jan Kusber beschreibt die sozial-liberale Ostpolitik als Ergänzung zur Westpolitik Adenauers, die Ängste vor Deutschland im östlichen Europa zerstreute und der bundesdeutschen Politik zugleich größere Handlungsspielräume eröffnete. Die Hoffnungen der Entspannungspolitik gipfelten in der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte von Helsinki am 1. August 1975, als jedoch die internationalen Schwierigkeiten auf politischer ebenso wie auf ökonomischer Ebene schon wieder rasch zunahmen. Mit dem endgültigen Zusammenbruch des Weltwährungssystems von Bretton Woods und dem ersten Ölpreisschock ging 1973 der lange Boom der Nachkriegszeit in den westlichen Industriegesellschaften zu Ende. Tim Schanetzky analysiert diesen zentralen Wendepunkt in der vierzigjährigen Geschichte der »alten« Bundesrepublik auf ökonomischer, politischer und sozialkultureller Ebene. Von weitreichender Bedeutung war dabei – wie es mehr als vier Jahrzehnte danach deutlich vor Augen steht –, dass sich das wirtschaftspolitische Denken von der »Gesellschaft« auf den »Markt« verlagerte. Ende der siebziger Jahre herrschte in der Bundesrepublik und in den westlichen Industriegesellschaften allgemeine Krisenstimmung: Der zweite Ölpreisschock beförderte eine neuerliche Konjunkturkrise mit abermals steigenden Arbeitslosenzahlen, auf europäischer Ebene herrschte die »Eurosklerose«, und die Ost-West-Beziehungen erlebten mit dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan und dem NATO-Doppelbeschluss einen veritablen Wettersturz, mit dem das Tauwetter der Entspannung in den »zweiten Kalten Krieg« (Fred Halliday) umschlug. Warum die amerikanische Außenpolitik in weiten Teilen der westlichen Öffentlichkeit als größere Bedrohung für den Frieden eingeschätzt wurde denn die sowjetische, erklärt der Beitrag von Harald Biermann ebenso wie die Bedeutung des NATO-Doppelbeschlusses für den amerikanischen Sieg im OstWest-Konflikt. Als im Herbst 1983 die ersten amerikanischen Mittelstreckenraketen in Deutschland eintrafen, hätte niemand damit gerechnet, dass keine sieben Jahre später die DDR der Bundesrepublik beigetreten und damit die zwei Jahrhunderte alte deutsche Frage binnen kürzester Zeit staats- und völkerrechtlich endgültig beantwortet wäre. Gerade die Wiedervereinigung, die Andreas Rödder in ihren internationalen Zusammenhängen analysiert, belegt die historische Erfahrung, dass alles oft anders kommt als gedacht. Das gilt auch für die Zeit nach 1990, als sich abermals unerwartete Probleme auftaten: die Beteiligung deutscher Soldaten an internationalen Kampfeinsätzen, die Probleme mit dem Fortgang des europäi-
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Einleitung
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schen Integrationsprozesses zwischen Erweiterung und Vertiefung sowie unkontrollierbar eskalierende Krisen auf den liberalisierten Finanzmärkten im Rahmen der ökonomischen Globalisierung. Der Prozess der europäischen Integration hatte bereits in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre schubartig an Schwung gewonnen. Er stand freilich, zumal nach der Zeitenwende von 1989/90, in der steten Spannung zwischen Erweiterung und Vertiefung, zwischen politischer und wirtschaftlicher Union, zwischen intergouvernementaler und supranationaler Integration, wie Andreas Lutsch und David Schumann darlegen. Nicht Bundesstaat, aber auch nicht nur Staatenbund, bezeichnete das Bundesverfassungsgericht die Europäische Union des Vertrags von Maastricht in seinem Urteil aus dem Jahr 1993 als »Staatenverbund« – in dem die Souveränität freilich bei den Einzelstaaten verbleibe und ihre Völker »die Subjekte demokratischer Legitimation bleiben«, wie dasselbe Gericht sechzehn Jahre später in seinem Urteil zum Lissabon-Vertrag postulierte. Und mehr noch setzte es dem Integrationsprozess deutliche Grenzen: »Die europäische Vereinigung […] darf nicht so verwirklicht werden, dass in den Mitgliedstaaten kein ausreichender Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse mehr bleibt.« Die von der griechischen Staatsverschuldung angestoßene Euro-Krise schuf freilich 2010 gleichsam über Nacht neue Herausforderungen und Tatbestände. Europäische Integration, Finanzmärkte und Globalisierung, Sicherheitspolitik und Kampfeinsätze – am Ende des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts bündelten sich die Probleme, die sich nach der Wiedervereinigung in einem gewandelten internationalen Umfeld stellten. Die »Rückkehr Deutschlands in die Weltpolitik« auf sicherheitspolitischer Ebene thematisiert Helga Haftendorn ausgehend vom Kosovo-Konflikt, dem ersten bewaffneten Einsatz der Bundeswehr. In der Haltung der Regierung Schröder zum amerikanischen Krieg im Irak im Jahr 2002 wurde unterdessen deutlich, dass die deutsche Politik neben der traditionellen Selbstbeschränkung verstärkt zu Gesten der Selbstbehauptung griff, die den deutschen Handlungsspielraum auf internationaler Ebene letztlich allerdings eher einschränkten. Deutschland zögere, so Haftendorns Resümee, seiner gewachsenen Bedeutung in der Welt durch die Übernahme entsprechender Verantwortung gerecht zu werden, und habe seine Rolle in der Welt noch nicht gefunden. Vor diesem Hintergrund nehmen Otto Depenheuer, Herfried Münkler und Peter Struck unter Moderation von Peter Voß abschließend eine Bestandsaufnahme von nationalen Interessen und internationaler Integration aus deutscher Perspektive vor. Dabei wird deutlich, wie komplex dieser gesamte Gegenstandsbereich geworden ist, zumal sich strategische Gesichtspunkte und internationale Solidarität in einer unübersichtlicher gewordenen Weltordnung überlagern. In Afghanistan zeigt sich zugleich das Dilemma von internationaler Politik und nationaler Kommunikation: Da strategische Interessen allein als nicht hinrei-
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Einleitung
chend erschienen, wurde der Einsatz in der deutschen Öffentlichkeit zusätzlich mit humanitären Zielen begründet, die sich freilich als kaum einlösbar herausstellten – und in der Folge die Legitimation des gesamten Einsatzes gefährden. Anders liegen die Probleme im Falle der europäischen Integration: Weil sie ohne ernsthafte gesellschaftlich-politische Debatte seitens der politischen Eliten implementiert wurde, mangelt es der Europäischen Union neben demokratischer Legitimation auch an Verankerung in den nach wie vor national verfassten politischen Öffentlichkeiten Europas. Über diesen Strukturproblemen ist freilich der historische Gewinn der europäischen Einigung nicht zu vergessen, mit dem Peter Struck die Diskussion beschließt: »Es ist doch das Wichtigste überhaupt, dass wir keine Angst vor dem Angriff irgendeines anderen Landes mehr haben müssen. Das ist ein wirklich hohes Gut, für das auch Europa steht.« Diese Debatte geht auf eine Podiumsdiskussion in Mainz zurück, die eine neunteilige »Universität im Rathaus« unter dem Titel »Deutschland in der Welt. Weichenstellungen in der Geschichte der Bundesrepublik« im Wintersemester 2009/10 beschloss. Die Vorträge dieser Reihe bilden auch, ergänzt um zusätzliche Beiträge, die Grundlage dieser Publikation, für die der essayistische Stil bewusst beibehalten worden ist. Dabei dient das in der Überschrift genannte Ereignis jeweils als Ausgangspunkt, um den Problemzusammenhang in historischer Perspektive zu entfalten. Möglich gemacht haben diese Veranstaltung und mithin die Publikation, in Verbindung mit der Stresemann-Gesellschaft e.V., die Stadt Mainz sowie die Johannes Gutenberg-Universität, deren Präsidium regen Anteil an der Reihe genommen hat. Möglich geworden ist die gesamte Veranstaltung durch das große Engagement von Petra Giegerich, der Leiterin der Stabsstelle Kommunikation und Presse der Universität. Auf Seiten des Verlages konnten wir einmal mehr auf die bewährte Zusammenarbeit mit Martin Rethmeier und Daniel Sander bauen. Last not least geht unser Dank für die redaktionelle Unterstützung am Lehrstuhl an Liselotte Görg, Anna Kranzdorf und Felix Posnien. Mainz, im Juni 2010
Andreas Rödder Wolfgang Elz
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Michael Kißener
Westbindung 1955 Die politische Koordinatenverschiebung
Erfolgreiche politische Projekte haben es in der Historiographie manchmal nicht leicht. In ihrer Zeit und in den ersten Jahren danach bestimmt die politische Kontroverse über das Projekt zumeist dessen Wahrnehmung so sehr, dass sich seine Reichweite und Bedeutung oft nicht genau definieren lässt. Aus der langen historischen Distanz wiederum erscheint vieles dann allzu leicht zwangsläufig, geradlinig: Was sich ex ante als unerhört und riskant darstellte und deshalb heftig umstritten war, wird ex post schnell zu einer Zwangsläufigkeit, ja zu einem Punkt unter vielen anderen im langen Strom der Geschichte. Damit verblasst die Zäsur, die Wegmarke leicht. So scheint es auch mit den politischen Grundfestlegungen zu sein, die in den ersten rund zehn Nachkriegsjahren in Westdeutschland unter dem Stichwort »Westbindung« getroffen wurden. Die mit dem Deutschlandvertrag und dem NATO-Beitritt der Bundesrepublik gekrönte feste Verankerung Deutschlands in der Gemeinschaft der demokratischen Staaten Westeuropas und im transatlantischen Sicherheitssystem hat Sebastian Haffner einmal ganz richtig als »einleuchtend bis zur Unvermeidlichkeit«1 bezeichnet und dabei doch ihre Umstrittenheit und das Wagnis, das sie bedeutete, allzu sehr nivelliert. Eben deshalb hat HansPeter Schwarz gemahnt, nicht zu verkennen, wie oft dieses politische Projekt gefährdet war, und Arnulf Baring hat erst kürzlich beklagt, dass gerade die erste Phase der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland zwar die »tüchtigsten und optimistischsten Jahre der Republik« gewesen seien, dass das in dieser Zeit mühsam erarbeitete internationale Ansehen aber von den nachfolgenden Generationen bis heute als viel zu selbstverständlich betrachtet werde.2 Vor diesem Hintergrund erscheint es zweckmäßig, die politischen Rahmenbedingungen zu rekapitulieren, von denen das erste Nachkriegsjahrzehnt bestimmt wurde, um sodann die politischen Optionen zu erwägen, die in diesem Rahmen denkbar waren. So können der Standort und der Zäsurcharakter vielleicht am besten verdeutlicht werden, den die Westbindung in der Geschichte der deutschen Außenpolitik im 19. und 20. Jahrhundert einnimmt. Die wesentlichen Entwicklungsetappen, die die Westbindung konstituierten, sind ohne Anspruch auf Vollständigkeit nur zu erwähnen, wichtiger noch scheint ein abschließender Blick auf Wurzeln und Träger dieses Konzeptes.
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Michael Kißener
I. Die Politiker, die nach 1945 daran gingen, eine neue deutsche Staatlichkeit aufzubauen und im internationalen Rahmen zu verankern, waren alles andere als zu beneiden. Im Grunde glichen sie Bauherren, die aus einer zerschossenen Ruine ein neues Haus aufbauen sollten, ohne dass ihnen brauchbares Baumaterial zur Verfügung stand. Bauherren, die von gleich mehreren Bauaufsichtsbehörden kontrolliert wurden, welche untereinander über die Eigentumsrechte an diesem Haus so zerstritten waren, dass sie sich nicht einmal über eine Baugenehmigung einigen konnten und sich deshalb behinderten, ja einander drohten, dem anderen das Erbaute sogleich wieder einzureißen. Bauherren, die von dem Rat gleich mehrerer Architekten abhängig waren, welche über die rechte Bauweise in schwere Zerwürfnisse geraten waren und mit Arbeitern das Werk beginnen wollten, die deprimiert, hungrig und orientierungslos waren. Jeder vernünftige Mensch würde einen solchen Versuch wohl als unrealistisch einstufen. Deutschland glich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis weit in die fünfziger Jahre hinein einer gespenstischen Trümmerwüste – das in seinem historischen Stadtkern zu über 80 Prozent zerstörte Mainz mag nur als eines von vielen Beispielen gelten. Die Menschen hausten zu großen Teilen buchstäblich auf der Straße und hungerten so sehr, dass ihre Arbeitsfähigkeit deutlich eingeschränkt war. Die Säuglingssterblichkeit stieg, und in der Pfalz fanden noch im Sommer 1948 Hungerdemonstrationen der ausgemergelten, verzweifelten Menschen statt. Deutschland war 1945 vollständig besiegt und geschlagen, ohne jede eigene staatliche Ordnung und durch die Verbrechen des NS-Staates mit einer erdrückenden moralischen Schuld beladen. Das Land stand unter der Herrschaft von vier Besatzungsmächten, die es in z. T. hermetisch voneinander abgeschlossenen Zonen ihrer Verwaltung unterworfen hatten. Wie die meisten geschlagenen Wehrmachtssoldaten richtig vermutet hatten, waren die Lebensbedingungen in den von Briten und Amerikanern beherrschten westlichen Zonen noch am besten, weshalb jeder, wenn er nur konnte, sich dahin zu retten suchte. Wenn man so will, war das eigentlich schon die erste Abstimmung mit den Füßen für den Westen. In der französischen Zone bestimmte die Erinnerung an den drei Mal von Deutschen nach Frankreich getragenen Krieg sowie eine harte Besatzung durch die deutsche Wehrmacht von 1940 bis 1944 nebst zahlreichen Verbrechen an französischen Staatsbürgern zunächst das Verhältnis zu den Besiegten. »Sécurité et charbon« forderte deshalb die Mehrzahl der Franzosen von den Deutschen. Ganz ähnlich waren die Verhältnisse in der sowjetischen Besatzungszone, wo sich die Rotarmisten zunächst einmal für die von der Wehrmacht verübten Verbrechen im Russlandfeldzug an der deutschen Bevölkerung schadlos hielten und das besetzte Land sodann zum Nutzen der eigenen Wirtschaft ausbeuten wollten. Im Unterschied zu Frankreich allerdings suchte der sowjetische Diktator
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Westbindung 1955
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Stalin weit darüber hinaus die Situation für die Ausdehnung des kommunistischen Herrschaftsbereichs zu nutzen und schuf Zug um Zug in Richtung Westen einen Gürtel von kommunistischen Satellitenstaaten um die Sowjetunion: 1947 erhielt Bulgarien eine Verfassung nach sowjetischem Muster, Rumänien wurde eine Volksrepublik, in Polen setzten sich die Kommunisten, von Moskau gestützt, immer mehr durch. Anfang 1948 fand ein kommunistischer Staatsstreich in der Tschechoslowakei statt, 1949 wurde Ungarn eine kommunistische Volksrepublik, und während in Griechenland ein blutiger Bürgerkrieg zwischen bürgerlichen und kommunistischen Kräften um die Macht im Lande tobte, wurde bekannt, dass auch die Russen die Atombombe nun besaßen. Alles sprach dafür, dass als nächstes Opfer Deutschland dem kommunistischen Machtbereich einverleibt zu werden drohte, denn als im Juni 1948 eine Währungsreform in den Westzonen durchgeführt wurde, um der neuen deutschen Wirtschaft auf die Beine zu helfen, blockierte die UdSSR Berlin, das nun rund ein Jahr lang von den Westalliierten aus der Luft versorgt werden musste. Allein dies macht deutlich, wie unmittelbar die sich bald nach Kriegsende entwickelnden Spannungen zwischen dem Westen und der Sowjetunion auf das deutsche Schicksal durchschlagen mussten, wie sehr der politische Handlungsspielraum eines nur allmählich und zögerlich zugelassenen neuen politischen Lebens in Deutschland eingeengt war. Diese neue deutsche politische Partizipation entstand in den Westzonen von unten, von den Kommunen her und erreichte 1946 allmählich die Ebene der Länder mit der Ausarbeitung von Verfassungen und der Durchführung von demokratischen Wahlen. Auch hier hinkte die französische Zone gewissermaßen nach, das Bundesland RheinlandPfalz etwa wurde durch die Ordonnance Nr. 57 vom 30. August 1946 gleichsam »verordnet« und trat am 18. Mai 1947 ins Leben. Zu diesem Zeitpunkt hatte der politische Zusammenschluss in der amerikanischen und britischen Zone bereits weitere Fortschritte gemacht: durch die Bildung der Bizone Anfang 1947, durch die Einführung eines gemeinsamen Wirtschaftsrates, der bereits weitere übergeordnete politische Strukturen vorprägte, und durch die gemeinsamen Konferenzen der Ministerpräsidenten der britischen und amerikanischen Zone, die begannen, in dem ihnen vorgegebenen Rahmen länder- und zonenübergreifende politische Verantwortung für Deutschland zu übernehmen. Die Ministerpräsidenten der deutschen Länder wuchsen so als »Treuhänder des deutschen Volkes«3 in die gleichsam außenpolitische Verantwortung für ganz Deutschland gegenüber den Alliierten hinein, auch wenn man hier – in der Phase vor der Gründung der Bundesrepublik Deutschland – definitorisch streng genommen noch nicht von einer wirklichen deutschen Außenpolitik sprechen kann. Beispielhaft sichtbar wird die prekäre, deprimierende Lage bei der autoritativen Forderung der Westalliierten zur Gründung eines westdeutschen Teilstaates, die nach der Londoner Sechsmächtekonferenz im Frühjahr 1948 erhoben und den deutschen Ministerpräsidenten der westlichen Besatzungszonen in
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Michael Kißener
den Frankfurter Dokumenten am 1. Juli 1948 in schroffem Ton mitgeteilt wurde. Die vom 8. bis 10. Juli 1948 auf dem Rittersturz bei Koblenz tagenden Ministerpräsidenten durften einesteils froh sein über die in Aussicht gestellte Wiedererlangung weiterer Souveränitätsrechte, doch zugleich sollte man akzeptieren, dass diese Souveränität auf unbestimmte Zeit durch ein noch von den Alliierten zu beschließendes Besatzungsstatut eingeschränkt sein würde, und der Fortschritt, den man schon um einer besseren Versorgung der Bevölkerung willen erstreben musste, schien zugleich doch nur mit der Preisgabe der Deutschen in der sowjetischen Besatzungszone zu erkaufen. Und dass Frankreich von diesen von Briten und Amerikanern favorisierten Plänen offensichtlich nicht begeistert war, machte die Situation noch komplizierter. Wie sollte man in einer solchen historischen Situation, die aus der Zeitperspektive der politisch Handelnden nur sozusagen die »Wahl zwischen Pest und Cholera« ließ, entscheiden? Die Berliner Bürgermeisterin Louise Schröder, die die verzweifelte Lage ihrer von den Sowjets blockierten Stadt vor Augen hatte, beschwor denn auch die auf dem Rittersturz versammelten Ministerpräsidenten, nur ja keine Festlegungen zu treffen, die den Deutschen im Osten zum Nachteil gereichten und sie dem sowjetischen Zugriff schutzlos ausliefern könnten. In ihrer Not versuchten die Ministerpräsidenten zu lavieren und den Westalliierten zwar durch grundsätzliche Akzeptanz einer Weststaatsgründung entgegenzukommen, aber dies bei gleichzeitiger Betonung des Provisorischen einer solchen Lösung sowie dem Versuch einer Beschränkung des angekündigten Besatzungsstatuts. Doch schon dieser Versuch, politischen Handlungsspielraum zu gewinnen, stieß sofort an die Grenzen des Möglichen: Der amerikanische Militärgouverneur Lucius D. Clay explodierte regelrecht, als er von der Zurückhaltung der Deutschen erfuhr, und machte den Ministerpräsidenten seiner Zone Vorhaltungen, sie spielten den Franzosen in die Hände, die ohnehin keine deutsche Souveränität wollten und an eine jahrzehntelange Besatzung dächten, sie dienten dem russischen Expansionsinteresse und bräuchten sich deshalb letztlich nicht zu wundern, wenn am Ende wegen ihrer zögerlichen Haltung Deutschland den Russen in die Hände fiele.
II. Wie war aus diesem drückenden Dilemma herauszukommen, wo sollte man außenpolitisch ansetzen, wie sollte man die mannigfachen Hindernisse umschiffen, um den Menschen im Land zu helfen und Deutschland wieder eine Zukunft zu geben? Es lag nahe, sich auf die Traditionen der deutschen Außenpolitik zu besinnen. Doch bei genauer Prüfung war daraus keine Handlungsanleitung für die Gestaltung der Zukunft mehr zu gewinnen.
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Die alten nationalen, machtstaatlichen Ziele des wilhelminischen Deutschland – sie schienen nun völlig obsolet, der Machtwahn des Nationalsozialismus und seine Verbrechen hatten jeden Gedanken in diese Richtung endgültig diskreditiert. Man sollte freilich nicht unterschätzen, dass es auch in der totalen Niederlage immer noch einige gab, die die Tatsache eines zwölfjährigen Weges in den Untergang nicht wahrhaben wollten und trotzig an eingebildeten Rechten einer stolzen deutschen Nation festhielten. Doch machte schon die historisch bemerkenswerte, gleichsam offizielle Auflösung des Landes Preußen durch die Alliierten im Februar 1947 deutlich, dass diesem Denken in traditionellen national- und machtstaatlichen Bahnen der entschiedene Widerstand aller Siegermächte entgegenschlagen würde. Auch für eine fein ziselierte Bündnispolitik nach Bismarckschem Strickmuster, die Deutschland in der Mitte Europas vielleicht hätte absichern können, fehlte in dem geschlagenen, machtlosen und besetzten Land jegliche Voraussetzung. Ansprüche konnte Deutschland wahrhaft nicht mehr erheben, und Angebote hatte es erst recht nicht zu machen. Sich selbst vielleicht wie Bismarck als »ehrlicher Makler« zwischen Ost und West zu empfehlen, musste bei einem Land, das soeben unter der NS-Herrschaft einen skrupellosen Expansionismus betrieben und dabei Massenverbrechen zu verantworten hatte, ebenso wenig überzeugend wirken. Dem widersprach im Übrigen auch das Sicherheitsbedürfnis Frankreichs, das Deutschland eine solche Rolle wohl kaum freiwillig zugestanden hätte, sowie vor allem das aggressive kommunistische Ausgreifen, das sich von dem eben erst geschlagenen Deutschland wohl kaum hätte zügeln lassen. Gleichwohl gab es politische Ansätze, die genau diese Politik empfahlen, vor allem um die Reichseinheit zu wahren. Der CDU-Mitbegründer Jakob Kaiser etwa formulierte: »Mir scheint für Deutschland die große Aufgabe gegeben, im Ringen der europäischen Nationen die Synthese zwischen östlichen und westlichen Ideen zu finden. Wir haben Brücke zu sein zwischen Ost und West.«4 Der ehemalige Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus unterschätzte damit die Last der Geschichte, die Deutschland zu tragen hatte, und scheiterte schließlich auch geradezu notwendig als CDUVorsitzender in der SBZ am rigiden Durchsetzungswillen der Sowjetmacht, die ihn aus dem Land trieb. Wie wenig eine Abweichung von der kommunistischen Linie im Innern hingenommen wurde, sollte dann ja auch die Niederschlagung des Volksaufstandes in der DDR am 17. Juni 1953 zeigen. Nicht weit entfernt von dieser Position, aber mit einem zusätzlichen Element versehen, lagen Überlegungen, die die traditionelle Mittellage Deutschlands betonten und auf Lösung des Problemknäuels durch eine strikte Neutralität und womöglich fundamentalen Pazifismus hofften. Der spätere Bundespräsident Heinemann etwa dachte in diesen Bahnen und fand in dem Historiker Ulrich Noack einen Weggefährten, der 1948 propagierte: »Wenn die anderen unbedingt schießen wollen, dann machen wir uns klein und lassen sie über uns hinwegschie-
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ßen«. Auch dies war allenfalls ein frommer Wunsch und entbehrte allen politischen Realitätssinnes. Freilich wusste die Sowjetunion um solche Neigungen und nutzte sie für eigene taktische Vorstöße, wie die Stalin-Note von 1952 zeigt, die ein geeintes, aber blockfrei neutralisiertes Deutschland anzubieten schien. Schließlich wäre auf dem Markt der traditionellen politischen Möglichkeiten deutscher Außenpolitik auch das in der Weimarer Republik erprobte Finassieren zwischen Ost und West zu finden gewesen, dessen Zielstellung die Erlangung von außenpolitischem Handlungsspielraum durch die stets virulente Möglichkeit einer immer auch noch denkbaren anderen außenpolitischen Option war. Aber diese Option hätte in der Situation der Jahre nach 1945 wohl nichts anderes als ein höchst gefährliches Spiel mit dem Feuer bedeutet. Denn der kommunistische Osten ließ nicht an seiner expansiven Entschlossenheit zweifeln, und andererseits beschwor jedes Einlassen mit den Russen die Gefahr eines Rückzugs der Westmächte hinter den Rhein und damit die Preisgabe Deutschlands an den kommunistischen Machtbereich herauf – oder aber eine Einigung der Alliierten über Deutschland, ohne die Deutschen daran zu beteiligen. Nur vor dem Hintergrund dieser dramatisch verfahrenen, teils unkalkulierbaren und unüberschaubaren Situation wird das Gewicht jener Entscheidung für die Westbindung deutlich, für die vorrangig der erste Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, Konrad Adenauer, verantwortlich zeichnete. Nicht zu Unrecht hat Klaus Hildebrand denn auch Adenauers außenpolitischen Entwurf als »revolutionär« und eine ganz neue Tradition deutscher Außenpolitik begründend bezeichnet.6 Ansatzpunkt der Adenauerschen Konzeption war eine sehr frühe Einsicht in die Entwicklung der Ost-West-Konfrontation nach dem Krieg und eine folgerichtige Ableitung der für Deutschland daraus zu bestimmenden außenpolitischen Strategie. Bereits 1945, als an die Gründung eines westdeutschen Teilstaates noch gar nicht zu denken war, formulierte Adenauer: Rußland entzieht sich immer mehr der Zusammenarbeit mit den anderen Großmächten […]. In den von ihm beherrschten Ländern herrschen schon jetzt ganz andere wirtschaftliche und politische Grundsätze als in dem übrigen Teil Europas […]. Der nicht von Rußland besetzte Teil Deutschlands ist ein integrierter Teil Westeuropas. Wenn er krank bleibt, wird das von schwersten Folgen für ganz Westeuropa, auch für England und Frankreich sein. Es liegt im eigensten Interesse nicht nur des nicht von Rußland besetzten Teiles Deutschlands, sondern auch von England und Frankreich, Westeuropa unter ihrer Führung zusammenzuschließen [durch] wirtschaftliche Verflechtung von Westdeutschland, Frankreich, Belgien, Luxemburg, Holland […]. Wenn England sich entschließen würde, auch an dieser wirtschaftlichen Verflechtung teilzunehmen, so würde man dem doch so wünschenswerten Endziele ›Union der westeuropäischen Staaten‹ ein sehr großes Stück näher kommen.7
In Adenauers Perspektive zeichnete sich also eine Reihe welt- und europapolitischer Entwicklungen so klar ab, dass sie schlicht als vorerst unveränderbare Fakten in jedes politische Konzept einzubauen waren:
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1. Dass die kommunistische Sowjetunion einen expansiven Kurs steuerte und in ihrem Machtbereich diktatorische Regime errichtete, die bürgerliche Freiheit nicht zuließen, war für ihn ebenso eine Tatsache wie die Schlussfolgerung, dass dies nur machtstaatlich begrenzt werden konnte. Da kein europäischer Staat allein über die dafür notwendigen Machtmittel verfügte, war nur eine westeuropäische Einigung unter dem Schutz der sowie eine feste Allianz mit den Vereinigten Staaten in der Lage, jenes Machtpotential aufzubauen, das zur Eindämmung der russischen Expansion erforderlich war. Hier lagen die Chancen für die Westdeutschen, zumal mit dem Beginn des Koreakrieges 1950, der gerne als »Vater aller Dinge« bezeichnet wird, eine zusätzliche Dynamik in die internationale Politik kam. Ohne Westdeutschland war ein solcher Sicherheitsverbund nicht zu schmieden, freilich nur mit einem Deutschland, das sich ganz neu orientierte, das durch im Voraus geleistete Selbstbeschränkung das so wichtige neue Vertrauen erwarb und in den dazu entstehenden Strukturen die Rolle zu spielen bereit war, die die westlichen Siegermächte ihm zuteilten. Um dieses Ziel zu erreichen, war Adenauer auch bereit, einen eigenen Wehrbeitrag zu leisten, der nicht nur im Ausland (in Frankreich und der Sowjetunion), sondern vor allem im Innern höchst unpopulär war. 2. Damit Westdeutschland in diesen Prozess einbezogen werden konnte, waren klare, kalkulierbare außenpolitische Positionen vonnöten; eine Schaukelpolitik zwischen Ost und West, auch nur das Aufkommen eines Verdachtes, Westdeutschland könne nicht wie selbstverständlich nach Westen hin orientiert sein, ließ sofort die Gefahr einer dem deutschen Interesse entgegenstehenden Verständigung der Alliierten über Deutschland hinweg, einer Annäherung Frankreichs an die UdSSR oder gar des Desinteresses der Amerikaner an den unkalkulierbaren europäischen Entwicklungen hervortreten. Das musste aus Adenauers Sicht unter allen Umständen vermieden werden. Eben deshalb formulierte er in seiner ersten Regierungserklärung als Bundeskanzler unmissverständlich: »Es besteht für uns kein Zweifel, daß wir nach unserer Herkunft und nach unserer Gesinnung zur westeuropäischen Welt gehören.«8 3. Den Preis, der für einen solchen Kurs zu zahlen war, glaubte Adenauer bezahlen zu müssen. Der Preis bestand zunächst in der Zurückstellung der deutschen Wiedervereinigung. Die Hoffnung allerdings war, dass ein deutscher Weststaat, einbezogen in westliche politische Strukturen, große Anziehungskraft entfalten könnte und bei einer Änderung der politischen Gesamtlage eines Tages doch die Wiedervereinigung möglich sein würde. In diesem Sinne argumentierte damals auch der Berliner Bürgermeister Ernst Reuter. Dennoch war gerade dieser Punkt in der historischen Forschung lange Zeit intensiv umstritten und der Vorwurf virulent, Adenauer habe den Osten Deutschlands preisgegeben und ausgeliefert. Zum Zweiten bestand der Preis in der Hinnahme manch diskriminierender Vorbehalte in den Verträgen mit den Westalliierten, die ganz einfach ertragen werden mussten, wenn man wieder Vertrauen schaffen und zu einem akzeptierten Akteur auf der internationalen Bühne werden wollte.
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4. Eine glaubhafte Westorientierung der Bundesrepublik verlangte sodann unzweideutige Signale des Willens zur Aussöhnung mit Frankreich als Voraussetzung einer europäischen Integration, an der sich Deutschland beteiligen musste. Die Wiedererlangung deutscher Souveränität setzte gleichsam die Bereitschaft zum zumindest partiellen Souveränitätsverzicht zugunsten europäischer Strukturen voraus. Das war politisch nicht leicht zu vermitteln, zumal die Frage des Saargebiets, das Frankreich ja 1945 an seine eigene Wirtschaft angebunden hatte, oder die Frage der von Franzosen schlicht okkupierten Stadt Kehl ungelöste politische Probleme darstellten mit einem hohen politischen Sprengpotential. Adenauer war hier konsequent bereit, den Franzosen weitgehend entgegenzukommen, Strittiges im europäischen Rahmen möglichst aufzuheben, um Vertrauen zu schaffen, die Westintegration zu befördern und so etwas wie die »Vereinigten Staaten von Europa« zu schaffen, in deren Rahmen alleine nach Adenauers Ansicht auf einen deutschen Wiederaufstieg zu hoffen war. Oft ist schon – vermutlich zu Recht – festgestellt worden, dass diese Politik nicht zuletzt von der Furcht vor einem Wiederaufleben des Nationalismus in der deutschen Bevölkerung getragen gewesen sei. Tatsächlich misstraute Adenauer den Deutschen und hatte auch keine hohe Meinung von ihrem Verhalten in der Zeit des Dritten Reiches. 5. Begleitet sein musste diese Politik, wenn sie denn glaubhaft sein sollte, schließlich auch von einer überzeugenden Abkehr vom nationalsozialistischen Ungeist und der Übernahme der daraus resultierenden Verantwortung. Hier setzte Adenauer mit dem Luxemburger Abkommen vom 10. September 1952 an, das Warenlieferungen im Umfang von 3 Milliarden DM an Israel und eine Globalzahlung von 450 Millionen DM an die Conference on Jewish Material Claims against Germany vereinbarte. Zudem anerkannte die Bundesrepublik im Londoner Schuldenabkommen vom 27. Februar 1953 Schuldansprüche von 65 Gläubigerstaaten in einer Höhe von 14 Milliarden DM.
III. Vor dem Hintergrund dieser Prämissen entwickelte sich die deutsche Außenpolitik des ersten Nachkriegsjahrzehnts, freilich nicht im Sinne eines »Masterplanes«, den der Kanzler nun ausführte, sondern vielmehr im Sinne einer Grundorientierung, die auf die Bewältigung der vielfältigen unkalkulierbaren Krisen und außenpolitischen Entscheidungssituationen ziemlich unbeirrbar angewandt wurde. Nur einige wichtige Stationen seien genannt: Am 31. Oktober 1949 durfte die eben erst gegründete Bundesrepublik in die OEEC, die Planungsbehörde für die Marshallplanhilfen, eintreten. Es folgte Unpopuläres mit langfristigen positiven Folgen: Am 22. November 1949 trat
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die Bundesrepublik Deutschland im Petersberger Abkommen der internationalen Ruhrbehörde bei und erkaufte sich damit unter hitzigen innenpolitischen Auseinandersetzungen die Einstellung der Demontagen. Dass Adenauer hier im Geheimen verhandelt hatte, trug ihm beim Bekanntwerden der Ergebnisse heftige Vorwürfe ein: Er sei ein »Bundeskanzler der Alliierten«, wetterte SPDChef Kurt Schumacher. Doch der Mut zu unpopulären Entscheidungen lohnte sich, wie sich am 9. Mai 1950 zeigte, als der französische Außenminister Robert Schuman vorschlug, die deutsche und französische Kohle- und Stahlproduktion gemeinsam zu organisieren und auch andere Europäer zur Teilnahme an dieser Kooperation zu ermuntern. Adenauer griff das Angebot umgehend und gerne auf, weil es seinen alten, schon in den zwanziger Jahren entworfenen Plänen entsprach, weil es die Aussöhnung mit Frankreich voranbrachte und eben jenen Wirtschaftsaufschwung zu befördern versprach, dessen das darniederliegende Deutschland unabdingbar bedurfte, um dem Westintegrationskonzept überhaupt zum Erfolg zu verhelfen. Der ursprünglich von Jean Monnet ausgearbeitete Plan bezweckte natürlich auch die fortwährende Kontrolle über die deutsche Montanindustrie, aber er diente doch eben auch dem Zweck der europäischen Integration und damit einer Sicherung gegen etwaige neue Kriege in Europa. Es dauerte kein Jahr bis zur Unterzeichnung des Vertrages (18. April 1951), in dem Deutschland nun bereits wieder als selbständiger Staat erscheint und ziemlich gleichberechtigter Partner in der inneren Organisation der dann sog. Montanunion wurde. Am 15. Juni 1950 war Deutschland schließlich auch in den Europarat aufgenommen worden. Die im Zeichen des Koreakrieges immer präsentere Gefahr der kommunistischen Expansion erhöhte den Druck auf die europäische Integration und ließ bereits kaum fünf Jahre nach Kriegsende die Diskussion um eine deutsche Wiederbewaffnung entstehen. Im Rahmen dieses deutschen Wehrbeitrages entstand ein Plan, der die Europäer vielleicht so nahe an den Wunschtraum einer politischen Europäischen Union heranführte wie seitdem nicht mehr. Als der französische Ministerpräsident Pleven im Oktober 1950 vorschlug, eine gemeinsame Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) und eine Europäische Politische Gemeinschaft (EPG) zu schaffen, schien gleichsam alles im Sturmschritt möglich. Auch hier griff Adenauer begeistert zu und unterzeichnete am 27. Mai 1952 die entsprechenden Verträge, nicht nur weil er einen deutschen Verteidigungsbeitrag zur Abwehr des Kommunismus für nötig erachtete, der sich für ihn ganz selbstverständlich nicht auf nationaler, sondern nur auf europäischer Ebene vollziehen konnte, sondern weil dies ein wirklich großer Schritt auf dem Weg zur Schaffung der Vereinigten Staaten von Europa gewesen wäre. Überhaupt war das Jahr 1952, wie Manfred Funke einmal gemeint hat, eine Art »Revolutionsjahr«9 auf dem Weg zur Westintegration, weil neben dem Genannten so viele andere einschlägig wichtige Entscheidungen getroffen wurden: In dieses Jahr fallen auch die Ablehnung der Stalinnote, der Luxemburger Vertrag, der Beginn der Aushandlung des
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Deutschland-Vertrages mit den Alliierten, die Aufnahme in den Internationalen Währungsfonds und die Internationale Bank für Aufbau und Entwicklung etc. etc. Letztlich allerdings überforderten diese Anläufe, insbesondere das EVGProjekt, das durch den Krieg noch wunde französische Nationalbewusstsein. Die EVG scheiterte denn auch am 30. August 1954 an der französischen Nationalversammlung. Das Scheitern von EVG und EPG jedoch sollte sich letztlich nicht negativ auf Adenauers Kurs auswirken. Die Sorge um die transatlantischen Beziehungen und das als unbedingt notwendig erachtete Engagement der USA in Europa zur Abwehr des Kommunismus bewegte die Westeuropäer zu den Pariser Verträgen vom 23. Oktober 1954, in denen der Bundesrepublik wieder Souveränität übertragen und das Tor zur neugeschaffenen WEU wie zur NATO mit einem eigenständigen deutschen Wehrbeitrag geöffnet wurde. Das hierfür notwendige weitgehende Entgegenkommen Adenauers, etwa in der Saarfrage, war heftigst umstritten, und dennoch stimmte der Bundestag im Februar 1955 dem Vertrag zu, der am Ende die Rückkehr als nahezu gleichberechtigtes Mitglied in die Staatengemeinschaft möglich machte. So war durch konsequente »Amerikanisierung« Westdeutschlands, wie Hans-Peter Schwarz es formuliert hat, das Sicherheitsproblem für Deutschland gelöst und durch konsequente »Europäisierung« das Wirtschaftsproblem.10 Beide Maßnahmen zusammen machten den Wiederaufstieg zu einer souveränen Macht aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs erst möglich. An Adenauers Konzeption änderte das Erreichen des zunächst wichtigsten Zieles, der Wiedererlangung der Souveränität, nichts, wie die fortwährende engagierte europäische Integrations- und Versöhnungsarbeit beweist: 1957 wurde die für alles Weitere so grundlegend wichtige EWG geschaffen und 1963 im ÉlyséeVertrag die Aussöhnung mit Frankreich auch vertraglich besiegelt, um nur zwei Beispiele zu nennen.
IV. Da Konrad Adenauer als erstem Bundeskanzler die Realisierung des Westbindungskurses zufiel und er unbeirrt an diesem Konzept festhielt, erscheint die Westbindung oft ausschließlich als seine genuine Idee, sein Werk und sein Erfolg. Es ist jedoch nicht zu übersehen, dass der Gedanke, das unruhige Reich in der Mitte Europas durch eine konsequente Einbindung in europäische Strukturen zu bändigen und damit einen dauerhaften europäischen Frieden zu schaffen, nicht völlig neu war. Nicht nur Adenauer selbst hatte diese Vision schon in den zwanziger Jahren propagiert, viele andere dachten in die gleiche Richtung. Bereits im Widerstand gegen den Nationalsozialismus hatten Einzelne unter dem Eindruck der NS-Verbrechen ähnliche Gedanken formuliert. Dass ohne eine fundamentale
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Abb. 1: Transatlantische Allianz und Antikommunismus: Konrad Adenauer im Gespräch mit US-Präsident Dwight D. Eisenhower am 28. Oktober 1954.
Neuorientierung und moralische Neuausrichtung der deutschen Außenpolitik keine Zukunft vorstellbar sei, erklärte z. B. 1942 schon Helmuth James Graf von Moltke seinem englischen Freund Lionel Curtis: »Für uns ist Europa nach dem Kriege weniger eine Frage von Grenzen und Soldaten, von komplizierten Organisationen oder Plänen. Europa nach dem Kriege ist die Frage: Wie kann das Bild des Menschen in den Herzen unserer Mitbürger aufgerichtet werden.«11 Bemerkenswert konkret analysierte auch die studentische Widerstandsgruppe »Weiße Rose« in München neue Maximen außenpolitischen Handelns. Im fünften ihrer Flugblätter z. B. hieß es: Trennt Euch rechtzeitig von allem, was mit dem Nationalsozialismus zusammenhängt! Nachher wird ein schreckliches, aber gerechtes Gericht kommen über die, so sich feig und unentschlossen verborgen hielten. Was lehrt uns der Ausgang dieses Krieges, der nie ein nationaler war? Der imperialistische Machtgedanke muss, von welcher Seite er auch kommen möge, für alle Zeit unschädlich gemacht werden. Ein einseitiger preussischer Militarismus darf nie mehr zur Macht gelangen. Nur in grosszügiger Zusammenarbeit der europäischen Völker kann der Boden geschaffen werden, auf welchem ein neuer Aufbau möglich sein wird.12
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Freilich mussten diese grundlegenden, richtungweisenden Ideen noch in ein pragmatisches, politisches Programm übersetzt werden. Dieses Verdienst kann als einer der ersten der zunächst in die Türkei, dann in die Schweiz emigrierte Nationalökonom und Soziologe Wilhelm Röpke für sich beanspruchen, der in seinem 1945 erschienenen Buch »Die deutsche Frage« bereits sehr plastisch den westdeutschen Kurs in die Westbindung als Weg aus der Krise beschrieben hat. Nicht zufällig wohl findet man auch bei genauem Hinsehen ähnliche Programme im rheinischen Katholizismus am häufigsten, eher selten in der SPD, die unter ihrem ersten Vorsitzenden Kurt Schumacher national orientiert die deutsche Wiedervereinigung für das vorrangige politische Ziel hielt und – so Schumacher – eher ein sozialistisches deutsches Reich in einem europäischen sozialistischen Staatenverbund anstrebte. Ganz ähnlich wie Adenauer »dachten« damals der einflussreiche »Rheinische Merkur« und seine Redakteure. Der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Altmeier etwa setzte selbst diese Ideen in sein politisches Handeln um. Schon seine ersten Reden im Jahr 1946 zeigen die entscheidenden Elemente des radikalen Bruchs mit der Außenpolitik der Vergangenheit, die strikte Westorientierung, die Aussöhnung mit Frankreich und als wichtiges Mittel dazu wirtschaftliche Verflechtung mit dem Westen, in dessen Rahmen Sicherheit vor der kommunistischen Bedrohung gefunden werden sollte. So verdeutlichte Altmeier in einer Rede vom Mai 1946: Vom Westen [des Reiches, d.Verf.] gingen einstens in der Blütezeit abendländischer Kultur Impulse in das Reich aus, und so hat er auch jetzt, da wir an die Neuordnung herangehen, wieder seinen Platz in der abendländischen Geschichte und seine große Aufgabe, das schlagende Herz eines friedlich, gedeihlich zusammenwirkenden Europas zu erfüllen«.13
Ende 1946 forderte er in der Beratenden Landesversammlung eine »neue konstruktive Ordnung der europäischen Wirtschaft« und sprach den Wunsch aus, dass die deutsche Wirtschaft in eine »Verbindung […] mit der unserer westeuropäischen Nachbarn« gebracht werde, denn nur eine »solche Wirtschaftseinheit« könne die anstehenden Probleme lösen.14 In der gleichen Rede erklärte er die deutsche Katastrophe recht einseitig, aber in unserem Zusammenhang doch erhellend als die Folge einer Verlagerung des politischen Schwerpunktes nach Preußen, die unbedingt rückgängig gemacht werden müsse. Wir stehen nunmehr vor der Notwendigkeit […] einer völligen Neuorientierung unserer deutschen Politik. […]. Als Menschen von Rhein und Pfalz, die niemals das abendländische Geisteserbe und die traditionelle Verbindung mit den Völkern Westeuropas verleugnet haben, bekennen wir uns auch heute wieder aus innerster Überzeugung zu unserer Verpflichtung, den geistigen und politischen Kern der deutschen Neuordnung zu bilden und damit zugleich die Eingliederung Deutschlands in die Gemeinschaft der europäischen Völkerfamilien zu vollziehen.
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Abb. 2: Bundes- und landespolitische Dimension der Westbindung: Konrad Adenauer und der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Peter Altmeier im Mai 1957.
Die besondere Aufgabe des Bundeslandes Rheinland-Pfalz sah er in diesem Konzept in der Herstellung »einer Vertrauensatmosphäre«, insbesondere zu dem westlichen Nachbarn Frankreich, wie er beim ersten CDU-Landesparteitag 1947 formulierte.15 Und in der Frage der deutschen Einheit legte er ein Bekenntnis ab, das Konrad Adenauer wohl nicht anders formuliert hätte: Wir bewundern den heroischen Kampf, den insbesondere unsere Freunde der CDU der russischen Zone gegen den Terror eines doktrinären Marxismus mit vorbildlichem Mut und unter großen Wagnissen führen. Wir wünschen, daß dieser Kampf erfolgreich sein möge […]. Aber wir lassen keinen Zweifel daran aufkommen, daß wir uns jeder politischen Lösung widersetzen, die in ihrer praktischen Konsequenz dazu führen würde, die Herrschaft des kollektivistischen Marxismus auf unser Land auszudehnen und so die christlichen Lebensgrundlagen unserer Kultur zu untergraben. Es gibt für uns auch in der Politik eine Rangordnung der Werte, und an der Spitze dieser Werteordnung steht für uns der Gedanke von der Freiheit des Christenmenschen.16
Vor diesem Hintergrund ist es schließlich nicht verwunderlich, dass Altmeier im Kreise der Ministerpräsidenten in der Zeit vor der Gründung der Bundesrepublik mitverantwortlich zeichnete für Entscheidungen, die praktisch Adenauers West-
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bindungspolitik bereits vorbereiteten und dabei wiederum abhängig waren von Festlegungen, die die Besatzungsmächte getroffen hatten. Die moderne Besatzungsforschung geht davon aus, dass bereits Mitte 1946 die Westzonen im Zuge der amerikanischen Besatzungspolitik praktisch abgeschlossene Wirtschaftsgebiete darstellten, die die weitere politische Entwicklung präfigurierten. Ein weiterer wichtiger Schritt war vor diesem Hintergrund die Annahme der Marshallplanhilfe durch die Ministerpräsidenten der französischen, britischen und amerikanischen Besatzungszone am 3. April 1948 sowie die Währungsreform im Juni 1948: auch dies bereits entscheidende Schritte auf dem Weg zur Westbindung, weil so die westdeutsche Wirtschaft in die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen Westeuropas eingepasst wurde. Und erst recht war die Entscheidung der Ministerpräsidenten auf dem Rittersturz im Juli 1948, überhaupt einen westdeutschen Teilstaat, und sei es nur als Provisorium, zu gründen, ein Weg in die Westbindung, weil der zu gründende westdeutsche Teilstaat damit aus eigener Entscheidung das Angebot einer Rückkehr in die westliche Wertegemeinschaft praktisch annahm. Weit darüber hinaus hat die Mehrzahl der deutschen Ministerpräsidenten das Westbindungskonzept dann in der Folgezeit auch im Bundesrat unterstützt. Gleichwohl: Westbindung und Westintegration in der außerordentlich scharfen innenpolitischen Kontroverse durch- und umgesetzt zu haben, bleibt das Verdienst des ersten Bundeskanzlers. Und nicht zu unterschätzen ist auch die Totalität der Westbindungsansätze, die Adenauer umsetzte. Ganz gleich ob es die Sicherheits- oder Wirtschaftspolitik anbelangt, ob Kultur oder Rechtswesen: In jeder Hinsicht wurde das neue Westdeutschland mit wechselnden Partnern in immer neuen Konstellationen im Westen verankert. Am Ende galt den Deutschen sogar in ihrem Lebensstil, in Musik und Kunst bis hin in das Alltagsleben nur das als modern, was aus dem Westen kam. So wurden aus den Westdeutschen Westeuropäer. Und damit bezeichnen gerade die fünfziger Jahre eine entscheidende Zäsur in der politischen Geschichte Deutschlands. Literatur Hans-Peter Schwarz, Vom Reich zur Bundesrepublik. Deutschland im Widerstreit der außenpolitischen Konzeptionen in den Jahren der Besatzungsherrschaft 1945–1949, Stuttgart 1980. Hans-Peter Schwarz, Die Ära Adenauer 1949–1957. Gründerjahre der Republik, Stuttgart 1981 (Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2). Helga Haftendorn, Deutsche Außenpolitik zwischen Selbstbeschränkung und Selbstbehauptung 1945–2000, Stuttgart 2001. Klaus Hildebrand, Integration und Souveränität. Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland 1949–1982, Bonn 1991. Heiner Timmermann, Adenauers Westbindung und die Anfänge der europäischen Einigung, hg. von der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V., Sankt Augustin 2009.
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Anmerkungen 1 Zit. nach Dirk Bavendamm, Bonn unter Brandt. Machtwechsel oder Zeitenwende, Wien 1971, S. 56. 2 Vgl. http://www.kas.de/proj/home/pub/94/1/year-2009/dokument_id-16978/index.html (letzter Zugriff: 4.1.2009). 3 So der bayerische Ministerpräsident Hans Ehard in einer Rundfunkrede am 14. Mai 1947. Zit. nach: Walter Strauß, Die gesamtdeutsche Aufgabe der Ministerpräsidenten während des Interregnums 1945 bis 1949, in: Festschrift zum 70. Geburtstag von Dr. Hans Ehard, hg. v. Hanns Seidel, München 1957, S.85–96, hier S. 96. 4 Christian Hacke (Hg.), Jakob Kaiser. Wir haben Brücke zu sein. Reden, Äußerungen und Aufsätze zur Deutschlandpolitik, Köln 1988, S. 90, Dok. 6. 5 Zit. nach Joachim Fest, Die deutsche Frage. Das offene Dilemma, in: Wolfgang Jäger / Werner Link (Hg.), Die Republik im Wandel 1974–1982. Die Ära Schmidt, Stuttgart 1987 (Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 5,2), S. 433–446, hier S. 442. 6 Klaus Hildebrand, Integration und Souveränität. Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland 1949–1982, Bonn 1991, S. 12. 7 Anlage zum Schreiben an Oberbürgermeister Dr. Heinrich Weitz, Duisburg, »Meine Einstellung zur außenpolitischen Lage«, in: Adenauer, Briefe 1945–1947, bearb. von Hans Peter Mensing, Berlin 1983, S. 130, Dok. 127A. 8 Aus der Regierungserklärung des Bundeskanzlers, Adenauer, in der 5. Sitzung des Deutschen Bundestages, in: Dokumente zur Deutschlandpolitik, hg. vom Bundesministerium des Innern unter Mitwirkung des Bundesarchivs. II. Reihe, Bd. 2: Die Konstituierung der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik. 7. September bis 31. Dezember 1949. Veröffentlichte Dokumente, bearb. v. Hanns Jürgen Küsters, München 1996, S. 38, Dok. 13. 9 Manfred Funke, Die Ära Adenauer. Eine Profilskizze zu Politik und Zeitgeist 1949–1963, in: Jürgen Aretz / Günter Buchstab / Jörg-Dieter Gauger (Hg.), Geschichtsbilder. Weichenstellungen deutscher Geschichte nach 1945, Freiburg 2003, S. 33–51, hier S. 34. 10 Hans-Peter Schwarz, Die Fünfziger Jahre als Epochenzäsur, in: Jürgen Heideking / Gerhard Hufnagel / Franz Knipping (Hg.), Wege in die Zeitgeschichte. Festschrift zum 65. Geburtstag von Gerhard Schulz, Berlin 1989, S. 473–496, hier S. 483. 11 Brief an Mr. Lionel Curtis, in: Europa-Föderationspläne der Widerstandbewegungen 1940–1945. Eine Dokumentation, gesammelt u. eingel. von Walter Lipgens, München 1968, S. 130, Dok. 36. 12 Rudolf Lill (Hg.), Hochverrat? Neuere Forschungen zur »Weißen Rose«, Konstanz 1993, S. 205f. 13 Peter Altmeier, Reden 1946–1951, ausgew. u. hg. v. Karl Martin Graß / Franz-Josef Heyen, Boppard 1979 (Veröffentlichungen der Kommission des Landtags für die Geschichte des Landes RheinlandPfalz, 2) Boppard 1979, S. 4. 14 Ebda. S. 10f. 15 Ebda. S. 18f, S. 70. 16 Ebda. S. 73f.
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Joachim Scholtyseck
Mauerbau 1961 Zwei Welten in Deutschland
Anlässlich der zwanzigjährigen Wiederkehr des Mauerfalls im Jahr 2009 sind zahlreiche Studien erschienen, die sich eingehend auch mit den Hintergründen des Mauerbaus beschäftigt haben. Neben diesen Werken, deren Adressaten ein gebildetes und historisch interessiertes Publikum ist, finden die Vorgänge des Jahres 1961 jedoch auch in den aktuellen Gesamtdarstellungen einen gebührenden Platz. Die Entstehungszusammenhänge der Mauer, dieses Symbols der deutschen Teilung und der Ost-West-Auseinandersetzung, erfuhren eine notwendige Würdigung. Dennoch ist bemerkenswert, dass trotz der sprudelnden Quellen einige historisch relevante Fragen noch ungeklärt sind. Die Forschung ist beispielsweise viel besser über die Entscheidungsprozesse im Westen als über diejenigen jenseits des Eisernen Vorhangs unterrichtet. Obwohl sich in Ost-Berlin und Moskau zahlreiche Institutionen mit der Mauer und der Grenzsicherung befassten, fällt es bis heute schwer, verifizierbare Aussagen über die Stufen hin zum Mauerbau zu machen. Dies verweist auf ein grundsätzliches Charakteristikum der politischen Entscheidungsfindung im sowjetischen Machtbereich. Dass viele Fragen offenbleiben müssen, hängt »mit dem Charakter einer Diktatur zusammen, der eben nicht auf Durchschaubarkeit und Nachvollziehbarkeit von Entscheidungen angelegt war«.1
I. Vor dem Mauerbau sind etwa drei Millionen Menschen aus der DDR geflohen. Retrospektiv betrachtet war es wenig verwunderlich, dass die SED-Diktatur eine Mauer bauen musste, um ihre Bevölkerung zum Verbleib auf ihrem Territorium zu zwingen. Schon der Anfang war kein gutes Omen gewesen. Die Truppen der »Roten Armee« verhielten sich bei der Eroberung Deutschlands 1945 anders als die Soldaten der anderen Besatzungsmächte. Etwa zwei Millionen Vergewaltigungen durch russische Soldaten hat es beim Einmarsch gegeben. Über die Gründe hierfür wird in der Forschung nach einer langen Tabuisierung des Themas inzwischen vermehrt geforscht. Die brutalen Misshandlungen wurden von Stalin zunächst nicht unterbunden; dies konnte kein Eintrittsbillet für eine einvernehmliche Zusammenarbeit der ostdeutschen Bevölkerung mit den Sowjets sein.2 Auch die Demontagen und die Entnahmen aus der laufenden Produktion
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standen im deutlichen Kontrast zur Aufbauhilfe, die die westlichen Zonen mit dem Marshall-Plan erhielten. Die Stalinisierung der SBZ vor 1949 ging in die forciert einsetzende Sozialisierung nach der Gründung der DDR über, was die ökonomische Leistungsfähigkeit des Regimes zusätzlich schwächte. Der Eiserne Vorhang hatte sich inzwischen bereits über Europa gesenkt. Die DDR beteuerte immer wieder den Wunsch nach einer Wiedervereinigung. Das waren nicht nur Lippenbekenntnisse, aber ihre Politik bedingte ein Gesamtdeutschland unter sozialistischen Vorzeichen. Freie Wahlen waren nicht vorgesehen, wie die Stalin-Note im Jahr 1952 offenbarte.3 Wenn es freie Wahlen gegeben hätte, wäre die SED hinweggefegt worden, und das lag jenseits des Vorstellungshorizonts der Machthaber in Moskau und Ost-Berlin. Alle Ausführungen Ost-Berlins über eine mögliche Wiedervereinigung blieben Makulatur, weil das Element der Freiheit und Demokratie nicht vorgesehen war. Der Arbeiter- und Volksaufstand vom 17. Juni 1953 war sodann der erste große Lackmustest für den Zustand der SED-Diktatur. Das Regime konnte nur durch die sowjetischen Panzer gerettet werden – eine traumatische Erfahrung, die noch bis 1989 nachwirken sollte und die berechtigten Ängste der Funktionäre schürte, zumal der JuniAufstand den Auftakt für periodisch wiederkehrende Aufstände innerhalb des Ostblocks bildete. Schon 1952 riegelte das Regime die Grenze zu den Westzonen ab. Dies erfolgte in Form einer fünf Kilometer breiten »Sperrzone« und, direkt an der Zonengrenze, durch einen zehn Meter breiten »Kontrollstreifen« und einen fünfhundert Meter breiten »Schutzstreifen«. Begleitet wurde dies bald darauf von Zwangsumsiedlungen und Schießbefehlen. Trotzdem blieb der Weg über die »Grüne Grenze« in den folgenden Jahren unter den erschwerten Bedingungen noch möglich. Auch die Flucht nach West-Berlin, noch eine freie Stadt und sozusagen das »Schaufenster des Westens«, blieb eine attraktive Alternative. Monatlich verließen zwischen 20 000 und 58 000 Menschen den sogenannten »Arbeiter- und Bauernstaat«, vornehmlich gut ausgebildete junge Leute, Facharbeiter, Ärzte und Ingenieure, denen die Tristesse des Sozialismus keine Perspektiven bot. Die DDR wurde seit 1955/56 durch den Warschauer Vertrag fest im »roten Bündnis«4 verankert. Sie blieb aber politisch und wirtschaftlich innerlich noch so schwach, dass die Sowjetunion sie – mit den Worten Julij Kwizinskijs gesprochen – »wie ein kleines Kind« bemutterte.5 Trotz der Pose einer moralischen Überlegenheit und der proklamierten sozialistischen Siegesgewissheit agierte die SED-Diktatur ausgesprochen unsouverän, weil sie, durch »Paternalismus und Paranoia«6 gleichermaßen gekennzeichnet, ein höchst unsicheres Staatswesen war, das gerade deshalb verbissen um die mangelnde Legitimität kämpfte.
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II. Die exponierte Position Berlins als Insel des Westens im sowjetisch dominierten Osten schuf angesichts der weitgehend offenen innerstädtischen Grenze eine besondere Lage, zumal die vier Mächte niemals zweifelsfreie Zugangsregelungen für Berlin ausgehandelt hatten. Chruschtschow löste mit einem Ultimatum vom November 1958 die zweite Berlinkrise aus.7 Der Kreml-Chef, der sich durch den technischen Prestigeerfolg des erfolgreichen Sputnik-Starts in einer Triumphstimmung befand, forderte einen Friedensvertrag für Deutschland, den Abzug der Alliierten aus Berlin und die Umwandlung in eine »Freie Stadt«. Er drohte, die sowjetischen Rechte an Ost-Berlin zu übertragen, wenn der Westen sich nicht einsichtig zeige. Ulbricht und Chruschtschow kamen in ihren Gesprächen seit November 1958 überein, verschiedene Ziele in der Berlin-Angelegenheit zu erreichen: als Maximalziel einen Friedensvertrag der vier Mächte, die völkerrechtliche Anerkennung beider deutscher Staaten und die Schaffung einer »Freien Stadt« Berlin. Wenn dies, wie zu erwarten war, nicht erreicht werden konnte, sollte eine Interimslösung erzielt oder – dies war die dritte Alternative – ein Friedensvertrag abgeschlossen werden, verbunden mit der einseitigen Anerkennung der DDR durch die Sowjetunion und ihre Verbündeten, was der DDR in Konsequenz Zugangsrechte nach West-Berlin verschafft hätte. Allerdings ließ Chruschtschow, den bisweilen auch wieder der Mut verließ, die Ultimaten immer wieder verstreichen. Hierdurch mitbedingt übernahm im Lauf der folgenden Monate zunehmend Ost-Berlin die Initiative in der BerlinAngelegenheit. Die amerikanische Historikerin Hope Harrison hat dieses für einen abhängigen Staat durchaus ungewöhnliche Verhalten mit der Wendung ausgedrückt, dass »the tail wagged the dog«, der Schwanz also in diesem Fall mit dem Hund gewedelt habe.8 John Lewis Gaddis wiederum hat diese Strategie im Kalten Krieg als »tyranny of the weak« bezeichnet – die Großmächterivalität verstärkte die Einflussmöglichkeiten der DDR, weil diese in der Lage war, durch die Drohung mit dem eigenen Kollaps Druck auf die Supermacht UdSSR auszuüben: »The ›superpowers‹, during the Cold War, were not at all that ›super‹.«9 Einmal mehr zeigte sich hierin der »große Einfluss kleiner Alliierter«10 als das Scheitern der Kontrolle der Klienten durch die Großmächte.11 In den USA war zu diesem Zeitpunkt die Idee der »massive retaliation«, der massiven Vergeltung mit Nuklearwaffen, die gültige Militärdoktrin. Allerdings waren inzwischen die Zweifel an ihr immer offener geäußert worden. Gleichsam als Konsequenz aus der Doppelkrise von 1956, in Suez und Budapest, erschien ein alternatives Modell attraktiver. Die »flexible response«, eine abgestufte, flexible Reaktion im Falle einer sowjetischen Aggression, sollte den Westen schützen. Einem Angriff des Warschauer Paktes sollte zunächst mit konventionellen Mitteln, im Wesentlichen denjenigen der europäischen Verbündeten, begegnet wer-
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den. Die amerikanische Führungsmacht sollte sich – das war die Ratio der neuen Militärdoktrin – bis zum Äußersten die Möglichkeit zu einem Ausgleich mit der Sowjetunion offenhalten. Ziel war es, die kriegerische Handlungsfähigkeit unterhalb der Schwelle zum Nuklearkrieg wiederzuerlangen, also der Sowjetunion auf konventioneller Ebene wieder die Stirn bieten zu können, ohne gleich einen nuklearen Schlagabtausch auszulösen. Man muss allerdings hinzufügen, dass die Überlegungen hierzu in der Zeit der Mauerbau-Krise noch im Fluss waren. Die »flexible response« konnte in der NATO erst nach dem Ausscheiden Frankreichs aus der integrierten Streitkräftestruktur der Atlantischen Allianz im Jahr 1966 umgesetzt werden, da Paris vorerst nicht auf die »trip wire«-Strategie verzichten wollte, die als Auslöser für einen Nuklearschlag der NATO gedacht war. Freilich, und das ist im Zusammenhang der Mauerbau-Krise von Bedeutung, gab es bereits 1962 Pläne für eine abgestufte Verteidigung Berlins, die der Idee der »flexible response« entsprachen.12 Die Hoffnung, im Fall einer militärischen Auseinandersetzung in einem Gegenstoß auch die Staaten Osteuropas zu befreien, war ad acta gelegt. Während der amerikanische Präsident Eisenhower an der Hoffnung festhielt, irgendwann in näherer Zukunft eine Lösung für Berlin zu finden, und sogar die Idee ventilierte, die zivile und militärische Sicherheit der Stadt der UNO zu überantworten, war für Ost-Berlin und Moskau ein solcher Plan inakzeptabel. Der Vorschlag, das durch Chruschtschows Ultimaten auf der internationalen Tagesordnung stehende Berlinproblem bei einem Treffen der vier Besatzungsmächte im Mai 1960 zu beraten, scheiterte, weil zwei Wochen vor Konferenzbeginn über der Sowjetunion ein amerikanisches U2-Spionageflugzeug abgeschossen wurde und Chruschtschow dies zum Anlass nahm, den Gipfel platzen zu lassen. Während die westlichen Mächte fürchteten, nun habe der Kreml endlich einen Grund für eine lange schon gesuchte Kraftprobe gefunden, war dieser zu einer Konfrontation weniger bereit, als es die Machthaber in seinem Satellitenstaat DDR waren. Chruschtschow machte bei einem Besuch in Ost-Berlin im Mai 1960 der SEDFührung klar, dass er nicht bereit war, dem Wunsch der DDR nach einer gewaltsamen Lösung des Berlinproblems nachzugeben. Er verkündete stattdessen einen weiteren Aufschub des Ultimatums. Die SED-Diktatur hingegen war in erster Linie daran interessiert, ihre ökonomische Misere nicht noch zu verschlimmern. Am 30. November 1960 machte Ulbricht Chruschtschow darauf aufmerksam, dass das höhere Einkommen in West-Berlin besonders auf Facharbeiter und Akademiker anziehend wirke: Warum erhöhen wir für diese Gruppierungen nicht die Löhne? Erstens haben wir hierfür nicht die Mittel. Zweitens, selbst wenn wir Löhne anheben würden, könnten wir mit unseren Waren die Kaufkraft dieser Menschen nicht befriedigen und sie würden mit dem Geld Waren in Westberlin kaufen.13
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Der Wunsch der SED-Führung nach verstärkter Hilfe Moskaus wurde mit sowjetischen Vorwürfen gekontert, sich nicht in genügendem Maß von Westdeutschland isoliert zu haben. Diese Anschuldigungen hatten Retourkutschen Ulbrichts zur Folge. Er warf der Sowjetunion entnervt vor, Reparationen von Ostdeutschland verlangt zu haben, während die USA den Westen Deutschlands unterstützt habe: »Die erfolgreiche Wirtschaft in Westdeutschland, die für jeden DDR-Bürger sichtbar ist, ist der Hauptgrund dafür, daß innerhalb von 10 Jahren zwei Millionen Menschen unsere Republik verlassen haben«,14 teilte Ulbricht Chruschtschow am 18. Januar 1961 mit. Ökonomisch sah sich die DDR wieder einmal vor die Existenzfrage gestellt. Die DDR-Führung sprach von einem Wirtschaftskrieg der Bundesrepublik gegen sie. Walter Ulbricht behauptete in seiner verzerrten Weltsicht allen Ernstes, eine Aggression der Bundesrepublik stehe unmittelbar bevor. In Wirklichkeit war die desolate Wirtschaftslage für die Schräglage des Regimes verantwortlich. Ulbricht gestand in dem bereits erwähnten Brief an Chruschtschow vom 18. Januar 1961 ein, dass die optimistischen Planziffern nicht erreichbar seien. Noch schlimmer: Die DDR gestand eine zeitweise Zahlungsunfähigkeit im Jahr 1960 ein. In einem Brief vom 4. August 1961 erinnerte Ulbricht daran, die hohe Verschuldung der DDR in den kapitalistischen Ländern habe auch damit zu tun, dass die DDR einen hohen Prozentsatz ihrer Anlagen und Maschinen in die anderen sozialistischen Länder exportieren musste. Aufgrund der prekären Lage plädierte die SED-Führung für eine Umwandlung West-Berlins in eine entmilitarisierte »Freie Stadt« und für Verhandlungen zwischen beiden Staaten mit der Perspektive einer zukünftigen Wiedervereinigung. Ulbricht machte zugleich unmissverständlich auf die eigentliche Ursache für den Mauerbau aufmerksam: Die offenen Grenzen zwangen die DDR, den Lebensstandard schneller zu erhöhen, als es den Kräften der Planwirtschaft entsprach. Genau dieses Problem hatte der sowjetische Botschafter in Ost-Berlin, Michail Perwuchin, bereits zwei Jahre zuvor mit der notwendigen diplomatischen Dosierung angesprochen: Der Umstand der in Berlin offenen und kaum kontrollierten Grenze zwischen den sozialistischen und kapitalistischen Welten ermöglicht es der Bevölkerung unwillkürlich, einen Vergleich zwischen den beiden Teilen der Stadt zu ziehen, und dieser Vergleich fällt leider nicht immer zugunsten des demokratischen Teils Berlins aus.15
Selbst die Eingeständnisse der eigenen Schwäche entsprachen nicht der ganzen Wahrheit. Ein weiterer Schwachpunkt trat hinzu: Die DDR-Wirtschaft litt neben der massiven Fluchtwelle auch darunter, dass die Kosten für den Machterhalt unverhältnismäßig hoch waren. Die Apparate von Partei und Massenorganisationen und die Subventionierung der volkseigenen Wirtschaft verschlangen Unsummen von Geld, das gar nicht zur Verfügung stand. Der Anteil dieser unproduktiven Kosten betrug 1959/60 zwischen 25 und 30 Prozent, und dieses Geld musste auf Kosten der privaten Haushalte aufgebracht werden. Die Folgen waren natürlich vorhersehbar. Wie in den Stimmungsberichten der SED und des
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Ministeriums für Staatssicherheit nachzulesen ist, stieg die Unzufriedenheit über die allgemeine Lebenssituation seit 1960 stetig an. Es kam wie 1953 zu vereinzelten Arbeitsniederlegungen und verstärkter Kritik an Parteifunktionären. Selbst innerhalb der Parteikader wuchs die Verdrossenheit. Als dann auch vereinzelt der Ruf nach freien Wahlen zu hören war, weckte dies bei der SED-Führung das tiefsitzende Trauma eines neuen 17. Juni. Auf einer Tagung der Warschauer-PaktStaaten im März 1961 plädierte Ulbricht daher für eine sofortige Absperrung West-Berlins bzw. für etwas, was er als »Grenzsicherung« bezeichnete. Auf einem Gipfeltreffen mit Kennedy in Wien Anfang Juni 1961 ließ Chruschtschow sein Berlin-Ultimatum erneuern und setzte eine Frist von sechs Monaten. Zugleich kündigte die DDR öffentlich im Regierungsorgan »Neues Deutschland« eine Regelung des Berlinproblems »noch in diesem Jahr« an. Chruschtschow drehte halb freiwillig, halb durch die Umstände gezwungen ebenfalls die Daumenschrauben an. Zu einer Ansprache, in der er mitteilte, dass der Abschluss eines deutschen Friedensvertrages nun keinen Aufschub mehr dulde, erschien er vor den Fernsehkameras in der martialischen Uniform eines Generalleutnants, des Rangs, den er im Zweiten Weltkrieg zuletzt bekleidet hatte. En passant teilte er dem britischen Botschafter in London bei dieser Gelegenheit mit, sechs Atombomben würden ausreichen, um Großbritannien zu zerstören, für Frankreich benötige man wohl neun Sprengköpfe. In dieser aufgeheizten Atmosphäre trat die Festlegung der Einflusssphären in Europa in ihre letzte Phase ein. Nun ging die Initiative endgültig von der KPdSU auf die DDR-Führung über, die sich entschlossen zeigte, den Flüchtlingsstrom zu stoppen, der im Jahr 1960 mit 199 000 Flüchtlingen zum bedrohlichen Massenexodus geworden war. Allein im April 1961 gingen 30 000 Menschen für immer in den Westen. Die »worst-case«-Szenarien, die die Staatliche Planungskommission der DDR für das Jahr 1961 über mögliche Fluchtzahlen vorgelegt hatte, waren schon längst von der Realität eingeholt worden. Als Walter Ulbricht am 15. Juni einer westdeutschen Journalistin auf eine entsprechende Frage antwortete, niemand habe die Absicht, eine Mauer zu errichten, führte dies verständlicherweise zu einem weiteren Anstieg der Flüchtlingszahlen. Die DDR-Führung befand sich in einer prekären Lage, weil es hauptsächlich die gut ausgebildeten Facharbeiter waren, die das Land verließen. Chruschtschow hat später berichtet, dass er in dieser Lage Ulbrichts Wunsch abgelehnt habe, Arbeitskräfte aus der UdSSR abzuordnen, um dem Arbeitskräftemangel entgegenzuwirken. Er habe Ulbricht aber auch die Gründe für die Ablehnung des Wunsches mitgeteilt: Genosse Ulbricht, stell Dir vor, wie sich der sowjetische Arbeiter fühlen würde. Er hat den Krieg gewonnen, und nun soll er Eure Toiletten sauber machen. Das wäre nicht nur demütigend – es würde eine heftige Reaktion in unserem Volk hervorrufen. Wir können das nicht machen. Findet selbst eine Lösung.16
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Am 8. Juli 1961 gab Chruschtschow eine Erhöhung des sowjetischen Militärbudgets bekannt. Die USA reagierten postwendend. Der amerikanische Präsident Kennedy erhöhte seinerseits den Militäretat und ordnete die Mobilisierung von Reserven an. Der NATO-Ministerrat hatte schon im Mai 1961 Minimalforderungen des Westens für eine Berlinregelung formuliert: die Garantie der Freiheit der Bevölkerung West-Berlins, die Anwesenheit westlicher Truppen in West-Berlin und der ungehinderte Zugang dorthin. Der Westen signalisierte damit deutlich, dass Chruschtschow, wenn er den Flüchtlingsstrom unterbrechen wollte, dies nur innerhalb des Ostsektors tun konnte. In einer Rede am 25. Juli führte Kennedy aus, dass die USA ihr Wort gegeben hätten, einen Angriff auf Berlin als einen Angriff auf den Westen zu betrachten. Wenn ein Krieg anfange, werde er in Moskau begonnen haben, nicht in Berlin. In dieser Rede formulierte er »three essentials«. Er nannte erstens das Recht der Alliierten auf Anwesenheit in Berlin, zweitens das Recht auf freien Zugang zur Stadt und drittens das Recht der West-Berliner auf Selbstbestimmung. Damit hatte er Garantien für West-Berlin abgegeben und implizit dem östlichen Bündnis signalisiert, dass für den Westen die Territorien im sowjetischen Machtbereich »off limits« waren. Somit war zugleich de facto die Teilung Berlins schon vorweggenommen. Der Bau der Mauer wenige Wochen später betonierte, so könnte man überspitzt formulieren, eine bereits vorhandene stille Übereinkunft der beiden Supermächte und entsprach der politischen Großwetterlage. Schon der Ungarn-Aufstand 1956 hatte gezeigt, dass die Machtsphären in Europa abgesteckt und unverrückbar waren. Die bisherigen Erfahrungen sprachen gegen eine Intervention der Demokratien. Warum sollte der Westen einen Atomkrieg für ein Land riskieren, das selbst durch die Entfachung zweier Weltkriege dazu beigetragen hatte, dass die aktuelle Konfrontation sich hatte entwickeln können? Kennedy stimmte insgeheim dieser Denkauffassung zu: »Es wäre wohl eine ausgesprochene Dummheit«, gab er zu bedenken, das Leben von einer Million Amerikanern wegen einer Auseinandersetzung über Zugangsrechte zu einer Autobahn zu riskieren […] oder weil die Deutschen wollen, dass Deutschland wiedervereinigt wird. Wenn ich Russland mit einem Atomkrieg drohe, dann nur um bedeutenderer und schwerwiegenderer Gründe willen als diesen.17
Amerikanische Stellen ließen nun inoffiziell ihre Ansicht durchblicken, die ostdeutsche Regierung werde ihr Flüchtlingsproblem wohl durch die Errichtung eines strikten Grenzsystems zu lösen versuchen. Die DDR stand mit dem Rücken zur Wand und musste ihre existentielle Not beseitigen. Der stellvertretende sowjetische Ministerpräsident Anastas Mikojan nannte im Juni 1961 ostdeutschen Gesprächspartnern die Gründe dafür, dass Moskau nun dem Drängen Ulbrichts nachgab: Die DDR ist […] der westliche Vorposten des sozialistischen Lagers […]. In der DDR hat sich unsere Weltanschauung, unsere marxistisch-leninistische Theorie beweisen müssen
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[…]. Die DDR, Deutschland, ist das Land, in dem sich entscheiden muß, daß der Marxismus-Leninismus richtig ist, daß der Kommunismus auch für die Industriestaaten die höhere, bessere Gesellschaftsordnung ist. Und weil das so ist, deshalb ist die Bewahrung des Sozialismus in Deutschland nicht nur Eure Sache allein. […] Und gegenüber Westdeutschland können und dürfen wir uns einen Bankrott nicht leisten. Wenn der Sozialismus in der DDR nicht siegt, wenn der Kommunismus sich nicht hier als überlegen und lebensfähig erweist, dann haben wir nicht gesiegt.«18
Die Initiative zum Mauerbau ging von Ost-Berlin aus, aber Moskau stimmte dieser Entscheidung zähneknirschend zu. Chruschtschow war zwar merklich ungehalten, weil die vollmundige Ankündigung der SED-Führung aus dem Jahr 1959, die Bundesrepublik bis 1961/62 zu überholen, so offenkundig falsch gewesen war, aber er sah angesichts des Offenbarungseids Ulbrichts keine Alternative zur Abriegelung.
III. Ulbricht hatte mit seinem Drängen schließlich Erfolg. Die Sowjetführung gab auf einer Tagung der Warschauer-Pakt-Staaten vom 3. bis 5. August 1961 endgültig grünes Licht für das Vorhaben der DDR.19 Bemerkenswert ist allerdings, dass die SED-Führung unter Leitung von Erich Honecker, dem ZK-Sekretär für Sicherheitsfragen, schon einige Tage zuvor mit streng geheimen Vorbereitungen für den Mauerbau begonnen hatte. Eingeweiht war nur der engste Führungszirkel der SED. Im Ost-Berliner Polizeipräsidium wurde ein Haupteinsatzstab unter Leitung Honeckers gebildet. Ihm gehörten – neben dem 1. Sekretär der Berliner SED-Bezirksleitung, Paul Verner, und dem stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrates, Willi Stoph – alle beteiligten Ressortchefs an: Staatssicherheitschef Mielke sowie die Innen-, Verteidigungs- und Verkehrsminister, daneben auch zwei in den Protokollen nicht namentlich genannte sowjetische Vertreter: einer aus der Botschaft, der andere von den Streitkräften. Am selben Tag rief das Ministerium für Nationale Verteidigung eine operative Gruppe ins Leben. Diese wurde beauftragt, Einsatz-, Alarm- und Truppenverlegungspläne auszuarbeiten. Außerdem wurden zwei Schützendivisionen aus den Bezirken Schwerin und Potsdam in den nördlichen und südlichen Teil Berlins verlegt. Die Soldaten glaubten, sie würden eine Übung durchführen. Am 11. August kündigte Erich Mielke den leitenden Kadern seines Ministeriums »entscheidende Maßnahmen« für die nächsten Tage an und verlangte »höchste Einsatzbereitschaft«. Honeckers Haupteinsatzstab hatte eine Mammutaufgabe vor sich, die mit geradezu preußischer Disziplin und Präzision erledigt wurde. Polizei-, Pionier- und Kampfgruppeneinheiten hatten über Nacht 45 Kilometer innerstädtische Grenze und 160 Kilometer rund um West-Berlin abzurie-
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geln. Eine Staffel aus Einheiten der Grenz- und Bereitschaftspolizei, Betriebskampfgruppen und Polizeischulen war für die unmittelbaren Abriegelungsmaßnahmen vorgesehen. Schutzpolizeiformationen sollten ihnen den Rücken freihalten und eventuelle Menschenansammlungen unterbinden. Eine zweite Staffel von regulären NVA-Verbänden sollte das rückwärtige Gebiet sichern und im Notfall, etwa bei Grenzdurchbrüchen, eingreifen. Für den Ernstfall einer militärischen Auseinandersetzung mit den Westalliierten hielten sich die sowjetischen Streitkräfte in Bereitschaft. In der Nacht vom 11. auf den 12. August legte die SEDFührung ihre Pläne den verantwortlichen sowjetischen Diplomaten und Militärs vor. Nach deren Zustimmung unterzeichnete Ulbricht – wahrscheinlich um 16 Uhr des folgenden Tages – als Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates die entsprechenden Einsatzbefehle. Am späten Abend des 12. August trat der Einsatzstab zusammen. Der SED war es gelungen, die ganze Operation geheim zu halten, obwohl der westdeutsche Geheimdienst BND, wie heute bekannt ist, genügend Indizien für die bevorstehenden Maßnahmen gesammelt und nach Bonn weitergeleitet hatte.20 Um ein Uhr in der Nacht vom 12. auf den 13. August gingen an der Zonengrenze die Lichter aus – der Einsatz begann. Jetzt wurde auch der von Ulbricht befohlene Alarm für die Berliner Einsatzleitungen ausgelöst und damit die Mobilisierung der Kampfgruppen eingeleitet. Laut Befehlslage standen den eingesetzten Polizei- und Militäreinheiten ganze 30 Minuten zur Schließung und weitere 180 Minuten zur pioniertechnischen Absperrung von 68 der insgesamt 81 Übergangsstellen nach West-Berlin zur Verfügung. Gegen halb zwei Uhr nachts besetzte die Volkspolizei die Bahnhöfe an den Sektorengrenzen. Wenig später wurde der S- und U-Bahnverkehr zwischen Ost- und West-Berlin gekappt. Der Durchgangsverkehr wurde unterbrochen, die S-Bahnhöfe wurden für den Intersektorenverkehr gesperrt und zahlreiche U-Bahnhöfe ganz geschlossen. Reisezüge aus dem Westen fuhren nur noch bis zum Bahnhof Friedrichstraße. Etwa zur gleichen Zeit begannen die »pioniertechnischen« Absperrmaßnahmen. Spanische Reiter wurden aufgestellt, Drahtsperren errichtet sowie Betonschwellen gelegt und Straßen aufgerissen. Hunderte von Transportpolizisten unterstützten die Abriegelungen, die um sechs Uhr morgens im Wesentlichen abgeschlossen waren. Diese vorläufige Abriegelung West-Berlins wurde in den folgenden Tagen verstärkt; Schritt für Schritt ersetzten Betonteile die provisorischen Hindernisse. Die Ost-Berliner Nachrichtenagentur ADN meldete, die DDR ergreife Maßnahmen, um eine »zuverlässige Bewachung und eine wirksame Kontrolle« der Grenze zu Berlin und den Westsektoren zu ermöglichen. Das »Neue Deutschland« berichtete am 13. August: Zur Unterbindung der feindlichen Tätigkeit der revanchistischen und militaristischen Kräfte Westdeutschlands und Westberlins wird eine solche Kontrolle an den Grenzen der Deutschen Demokratischen Republik einschließlich der Grenze zu den Westsektoren von GroßBerlin eingeführt, wie sie an den Grenzen jedes souveränen Staates üblich ist. Es ist an den
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Abb. 1: Die zunächst provisorische Abriegelung der Sektorengrenze in Berlin mit Stacheldraht wird noch im August 1961 durch Betonblöcke verstärkt. Westberliner Grenzen eine verläßliche Bewachung und eine wirksame Kontrolle zu gewährleisten, um der Wühltätigkeit den Weg zu verlegen. Diese Grenzen dürfen von Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik nur noch mit besonderer Genehmigung passiert werden. Solange Westberlin nicht in eine entmilitarisierte neutrale Freie Stadt verwandelt ist, bedürfen Bürger der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik für das Überschreiten der Grenzen nach Westberlin einer besonderen Bescheinigung.
IV. Den Amerikanern war daran gelegen, die Krise zu bagatellisieren. Am Tag des Mauerbaus, als in Westdeutschland die Wellen der Empörung hochschlugen, ging Kennedy vor der Küste Neuenglands zum Segeln, und Außenminister Dean Rusk schaute sich ein Baseballspiel an. Auch Bundeskanzler Konrad Adenauer rührte sich nicht. In West-Berlin war man empört. Der Regierende Bürgermeister Willy Brandt hat sich später noch an diese Untätigkeit erinnert: Zwanzig Stunden vergingen, bis die erbetenen Militärstreifen an der innerstädtischen Grenze erschienen. Vierzig Stunden verstrichen, bis eine Rechtsverwahrung beim sowjetischen Kommandanten auf den Weg gebracht war. Zweiundsiebzig Stunden dauerte es, bis – in Wendungen, die kaum über die Routine hinausreichten – in Moskau protestiert wurde.21
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Polemisch formulierte es auch die »Bild«-Zeitung in ihrer Schlagzeile vom 16. August: »Der Westen tut nichts! US-Präsident Kennedy schweigt … Macmillan geht auf Jagd … und Adenauer schimpft auf Brandt.« Die Kritik an Adenauers dilatorischem Kurs nach dem Mauerbau war groß. In der wissenden Rückschau und unter Kenntnis der Akten weiß man heute, dass es kaum eine Alternative zu seiner Politik des »Krisenpoker«22 gegeben hat, wenn man einmal von der rein hypothetischen und von niemand ernsthaft erwogenen Möglichkeit des Rückzugs aus ganz Berlin absieht. Als Anhänger einer harten Berlinpolitik hatte Adenauer die undankbare und kaum lösbare Aufgabe, die aus übergeordneten weltpolitischen Überlegungen auf Konzessionen drängenden USA und die auf Konfrontationskurs befindliche SED-Führung gegeneinander auszubalancieren. Aber in der Sache hatte der Staatsmann Adenauer recht. Einem Bekannten vertraute er an: »Stellen Sie sich vor«, so Adenauer, 14 Tage vor dem [Mauerbau] sprach ich mit dem Bundespräsidenten [Lübke], der auch gleichlautende Nachrichten von einem bevorstehenden Aufstand in Ostdeutschland bekommen hatte. Lübke meinte ›Ja, dann können wir doch einfach losmarschieren, und die Zone übernehmen‹. So einfach, erwiderte ich Lübke, ist das ja nun nicht. Hätten wir das getan, so hätte bestimmt der 3. Weltkrieg begonnen.23
Aber auch die von vielen gewünschte Neuformulierung der Deutschlandpolitik war zumindest 1961 noch kaum möglich, weil keineswegs klar war, wie sich die Dinge weiterentwickeln würden. Während die »Bild«-Zeitung in einer allgemein pessimistischen und von Kriegsfurcht gekennzeichneten Stimmung angesichts der Nachgiebigkeit der westlichen Großmächte am 25. September mit der Schlagzeile aufmachte »Wird Deutschland jetzt verkauft?«, wäre ein sofortiges Reagieren, erst recht ein deutschlandpolitischer Kurswechsel Bonns nicht nur ein falsches Signal, sondern zugleich politischer Selbstmord gewesen. In den Tagen des Mauerbaus waren übrigens auch die führenden SPD-Politiker kaum bereit, unpopuläre Entscheidungen zu treffen, die als ein auch nur partielles Nachgeben gegenüber Ost-Berlin hätten interpretiert werden können. Die Mauer gehörte fortan bis zum November 1989 zur bitteren Realität nicht nur Berlins, sondern auch der Zonengrenze. Die Deutschen erwachten aus ihrem Traum, dass der Westen alles daran setzen würde, ihre Freiheit zu bewahren. Ganz so offen konnte Kennedy dies den Deutschen natürlich nicht sagen. Aber in einem Brief an den Regierenden Bürgermeister von West-Berlin, Willy Brandt, drückte Kennedy diese Ansicht fünf Tage nach dem Mauerbau doch recht unmissverständlich aus.24 Und auch sonst ließ er keinen Zweifel, dass ihm keine Schritte zur Verfügung standen, eine wesentliche Änderung erzwingen zu können. Es handle sich offensichtlich um eine grundlegende sowjetische Entscheidung, die nur durch einen Krieg rückgängig gemacht werden könne. Im Angesicht der Alternativen war er sich sicher,
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nicht anders handeln zu können: »It’s not a very nice solution, but a wall is a hell of a lot better than a war.«25 Auch Meinungsumfragen zeigten, dass die Neigung in den USA, in Frankreich und England gering war, durch das Niederreißen der Mauer einen Krieg auszulösen. Die westlichen Demokratien waren zwar durchaus gewillt, die Freiheit der Stadt gegen offene Aggression zu verteidigen, waren sich aber darüber uneins, wie sie unterhalb dieser Schwelle reagieren sollten, und waren sich auch nicht darüber einig, was man unter Aggression eigentlich verstehen sollte. Kennedy legte jedenfalls sogleich nach dem Mauerbau fest, dass nach seiner Ansicht dieser unfreundliche Akt nicht als Aggression zu gelten habe. Die Entsendung des amerikanischen Vizepräsidenten Lyndon B. Johnson nach Berlin und ein demonstrativer Konvoi einer alliierten Kampfgruppe auf der Autobahn von Helmstedt in Niedersachsen nach Dreilinden, also quer durch die DDR, waren nicht viel mehr als eine Propagandaaktion zur Beruhigung der westdeutschen Öffentlichkeit. Auch Kennedys Worte »Ich bin ein Berliner« mochten Balsam auf die Wunden der Hauptstadtbewohner sein, zeigten jedoch einmal mehr, dass machtpolitisch nichts anderes übrig blieb, als durchzuhalten und darauf zu warten, dass die Prognose George F. Kennans eintreffen werde, das östliche Bündnis werde schließlich zusammenbrechen, wenn der demokratische Westen nur die Kraft habe zusammenzustehen. Auch Adenauer ließ mitteilen, es sei nicht erwünscht, Berlin durch einen Atomkrieg zu verteidigen – das wäre aber, nach allem, was wir wissen, die einzige Möglichkeit gewesen, die Teilung der Stadt wieder aufzuheben. Adenauer verzichtete in den folgenden Tagen, Wochen und Monaten auf jede kriegerische Geste. Trotz aller Empörung über das Unrecht hielt er sich staatsmännisch zurück, sicherlich auch deshalb, weil er befürchtete, durch eine verbale Aufheizung der Atmosphäre den langfristigen Zielen Deutschlands nur zu schaden. Adenauers Misstrauen gegenüber dem seiner Meinung nach unerfahrenen und geradezu entspannungssüchtigen amerikanischen Präsidenten war, so zeigen die Akten, nicht gerade gering. Er kam erst neun Tage nach dem Bau der Mauer nach Berlin, was vernünftig war, weil alles andere ohnehin keinen Unterschied mehr gemacht und nur falsche Hoffnungen geweckt hätte. Gewürdigt wurde die Zurückhaltung aber damals nicht, ganz im Gegenteil: Sie hat Adenauer viele Sympathien gekostet und war ganz wesentlich mit dafür verantwortlich, dass die CDU/CSU ihre absolute Mehrheit bei der Bundestagswahl im Herbst 1961 verlor.
V. 1961 wurde damit das »Jahr des Schocks«, wie Marion Gräfin Dönhoff es genannt hat. Die Errichtung der Berliner Mauer, so abstoßend der Vorgang auch sein mochte, klärte in vielerlei Hinsicht die internationale Konstellation. Endgültig
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zerstoben alle Illusionen, die sich bereits am 17. Juni 1953 beim Volksaufstand in der DDR zum Großteil verflüchtigt hatten, wonach im deutschen Sonderkonflikt des Kalten Krieges mit der Sowjetunion vielleicht eine Sonderlösung gefunden werden konnte. Die Mehrheit der Bevölkerung der DDR reagierte auf die »Einbetonierung« des Landes nicht mit lautstarken Protesten, sondern mit stiller Verbitterung und Resignation. Da ihnen nun jede Fluchtmöglichkeit in den Westen genommen war, richteten sich viele gezwungenermaßen in dem diktatorischen System ein und arrangierten sich mit den Verhältnissen. Die DDR-Führung nutzte zudem ihre neue Handlungsfreiheit dazu aus, die verbliebenen Gegner noch stärker zu isolieren und zu verfolgen. Die Zahl der Häftlinge stieg von insgesamt 24 000 im Juli 1961 auf etwa 38 000 im Dezember 1961. Etwa 75 000 Menschen wurde in der DDR der Prozess wegen versuchter »Republikflucht« gemacht, und dennoch erreichten bis zum Ende des Grenzregimes etwa 235 000 Menschen den freien Teil Deutschlands. Mehr als 5000 von ihnen gelang in Berlin die Flucht; allerdings sank die Zahl der erfolgreichen Fluchtversuche in den ersten Jahren nach dem Bau der Mauer drastisch, weil die Sperranlagen Zug um Zug perfektioniert wurden. Hunderte von Menschen starben beim Versuch, dennoch die Mauer zu überwinden – letzte Sicherheit über die genaue Zahl wird sich wahrscheinlich nie ergeben, weil die SED-Diktatur die Vorgänge bewusst verschleierte. Der Mauerbau verschaffte dem ostdeutschen Teilstaat damit die dringend notwendige Atempause und führte zur Stabilisierung des fragilen Gebildes von Moskaus Gnaden. Wirtschaftsreformen wie das »Neue Ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft« (NÖSPL) sollten seit 1963 marktwirtschaftliche Elemente in die Planungsmodelle einbringen und als eine »Simulation des Marktes«26 wirken. Die DDR – mittlerweile zur zweitstärksten Industriemacht des Ostblocks geworden – präsentierte sich in ökonomisch-technologischer Hinsicht fortan in der »Musterknabenrolle«,27 die auch für die sozialistischen Nachbarländer Vorbildcharakter haben und als Motor des östlichen Bündnisses dienen sollte, auch wenn in den osteuropäischen »Bruderländern« bald wieder die bekannten Klagen über deutsche Überheblichkeit zu hören waren. Die wirtschaftlichen Reformversuche der DDR werden heute als ein von Beginn an hoffnungsloses Unterfangen beurteilt. Ulbricht sah den Bau der Mauer nur als »Zwischenstufe« auf dem Weg zu einem separaten Friedensvertrag mit der Sowjetunion, mit dessen Unterzeichnung er weiterhin rechnete. Sein Ziel war nach wie vor, den alliierten Status Berlins und die Rechte der Westmächte schrittweise abzubauen, um schließlich die Kontrolle des Westteils der Stadt zu übernehmen. Ost-Berlin reagierte entsprechend enttäuscht, als Chruschtschow auf weiteren politischen Druck verzichtete und im Oktober 1961 sein Ultimatum zurücknahm. Letztlich war die Sowjetunion nicht daran interessiert, der DDR mit der Berlin-Frage den Hebel zu belassen, um nach Belieben außenpolitische Krisen auszulösen. Neben anderen Streitpunkten führten die gegensätzlichen Beurteilungen über das weitere Vorgehen im Jahr
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Abb. 2: Der 18-jährige Ost-Berliner Peter Fechter verblutet während eines Fluchtversuchs im August 1962 an der Berliner Mauer.
1963 zu schweren atmosphärischen Verstimmungen zwischen Ost-Berlin und Moskau. Sie kulminierten 1965 in einem regelrechten »Tauziehen«, das die DDR schließlich verlor. Die UdSSR ließ »den kleineren, aber recht selbstbewusst auftretenden Bündnispartner DDR nachhaltig spüren […], wer am längeren Hebel saß und die Bedingungen gegebenenfalls diktieren konnte«.28 Aber trotz aller sowjetischen Verärgerung sekundierte die Sowjetunion ihrem Schützling DDR gegenüber der Bundesrepublik, indem Moskau der von Bonn seit 1963 eingeleiteten Politik der »selektiven Normalisierung« der Beziehungen zu den Ostblockstaaten – auf dem Umweg über die Handelspolitik – ein Ende bereitete, sobald die Sowjetunion die dahinter stehende Absicht einer Isolierung der DDR erkannt hatte. Konrad Adenauer – ein Mann von inzwischen Mitte achtzig – erschien jetzt erst recht als ein Mann der Vergangenheit. Die Hallstein-Doktrin blieb zwar noch
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eine Zeitlang ein probates Mittel gegen die völkerrechtliche Anerkennung der DDR. Die optimistischen Erwartungen Ost-Berlins, den Alleinvertretungsan-
spruch Bonns aus eigener Kraft überwinden zu können, erwiesen sich noch als voreilig, zumal der reputationsschädigende Mauerbau das geradezu verzweifelte Bemühen um internationale Anerkennung behinderte. Weil die Bundesrepublik wirtschaftlich stärker war, brauchte sie im »diplomatischen Krieg«29 häufig nicht einmal ökonomische Druckmittel anzuwenden, um die DDR politisch zu isolieren, bis die Bundesrepublik selbst im Zuge der aufkommenden Entspannungspolitik auf ihre Anwendung ganz verzichtete. Die »Détente« war auch Folge der unerbittlichen Erkenntnis, dass die territorialen Konsequenzen des Kalten Krieges mit dem Mauerbau bestätigt worden waren. Bei allen Vorteilen, die die Entspannungspolitik hatte, hatte sie auch bedenkliche Effekte. Das Menschenverachtende der sowjetischen Herrschaft geriet zunehmend in den Hintergrund, und der antitotalitäre Konsens der westlichen Demokratien geriet in Misskredit: Wer noch gegen das »Regime von Pankow« wetterte und von der »Zone« oder dem »Zonenregime« sprach, geriet in Gefahr, als »Kalter Krieger« politisch nicht mehr ernst genommen zu werden. Das Diktum von Walter Jens, dass »die CDU die Mauer selbst gebaut« habe,30 war zwar grundfalsch, wurde jedoch von vielen Westdeutschen inzwischen geteilt. Weitgehend unbeachtet blieb dagegen die 1964 ausgesprochene Warnung Richard Löwenthals, »daß die Sowjets mit dem Sonnenschein der Entspannung das erreichen könnten, was der kalte Wind ihrer Drohungen nicht vermocht hat: die legale Konsolidierung der deutschen Teilung und den Zerfall des atlantischen Bündnisses.«31 Weil anders als in Großbritannien oder Frankreich der Rückhalt eines intakten Nationalstaats fehlte, war es angesichts des Realität eines »zweiten deutschen Staates« für viele Westdeutsche relativ einfach, die scheinbar unveränderbaren Gegebenheiten des Ost-West-Konflikts zu akzeptieren und den kompromittierenden »Nationalismus« aufzugeben, zumal die europäischen Nachbarn von einer Neutralisierung Gesamtdeutschlands ebenso wenig hielten wie von einer Wiedervereinigung (auch wenn dies in Westeuropa nur hinter vorgehaltener Hand gesagt wurde). Ein »unverkrampfteres« Umgehen mit den Gegebenheiten des Kalten Krieges schien vielen westdeutschen Politikern, aber auch vielen Intellektuellen32 das Gebot der Stunde. »Im Schatten der Mauer«33 wurde die DDR – das war die Folge der normativen Kraft des Faktischen – zunehmend respektiert, zum Teil sogar als attraktive Konkurrenzgesellschaft akzeptiert. Angesichts verschiedener Reformversuche galt sie manchen sogar als experimentierfreudig und modern. Die Politik der SED-Diktatur war in dieser Hinsicht zumindest mittelfristig durchaus erfolgreich. Beflügelt durch den Zeitgeist gelang es ihr, wie Jochen Staadt herausgearbeitet hat, sich durch die intensive Einflussnahme auf westdeutsche Parteien und Institutionen Gehör zu verschaffen, was sich spätestens in den siebziger Jahre politisch ummünzen ließ.34
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Literatur Hans-Hermann Hertle, Die Berliner Mauer – Monument des Kalten Krieges, Berlin 2007. Rudolf Steininger, Der Mauerbau. Die Westmächte und Adenauer in der Berlinkrise 1958–1963, München 2001. Frederick Taylor, Die Mauer. 13. August 1961 bis 9. November 1989, Berlin 2009. Matthias Uhl / Armin Wagner (Hg.), Ulbricht, Chruschtschow und die Mauer. Eine Dokumentation, München 2003. Gerhard Wettig, Chruschtschows Berlin-Krise 1958–1963. Drohpolitik und Mauerbau, München 2006. Edgar Wolfrum, Die Mauer. Geschichte einer Teilung, München 2009.
Anmerkungen 1 Monika Kaiser, Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker. Funktionsmechanismen der SED-Diktatur in Konfliktsituationen 1962 bis 1972, Berlin 1997, S. 100. 2 Norman Naimark, Die Russen in Deutschland. Die sowjetische Besatzungszone 1945 bis 1949, Berlin 1997. 3 An dieser Stelle müssen die jahrzehntelangen Kontroversen um die Ernsthaftigkeit der StalinNote nicht vertieft werden. In der Forschung herrscht inzwischen kaum noch ein Zweifel, dass die Initiative des Kreml-Chefs ausschließlich der Destabilisierung des westlichen Bündnisses diente. Ein Verzicht auf die DDR, der eine unausweichliche Folge freier Wahlen gewesen wäre, war in den sowjetischen Szenarien nicht vorstellbar. Vgl. Peter Ruggenthaler (Hg.), Stalins großer Bluff. Die Geschichte der Stalin-Note in Dokumenten der sowjetischen Führung, München 2007. 4 Frank Umbach, Das rote Bündnis. Entwicklung und Zerfall des Warschauer Paktes 1955 bis 1991, Berlin 2005. 5 Julij A. Kwizinskij, Vor dem Sturm. Erinnerungen eines Diplomaten, Berlin 1993, S. 165. 6 Mary Fulbrook, Anatomy of a Dictatorship. Inside the GDR 1949–1989, Oxford 21997, S. 22. 7 Gerhard Wettig, Chruschtschows Berlin-Krise 1958–1963. Drohpolitik und Mauerbau, München 2006. 8 Hope Harrison, Driving the Soviets Up the Wall. Soviet-East German Relations, 1953–1961, Princeton 2003, S. 139. 9 John Lewis Gaddis, On Starting All Over Again. A Naïve Approach to the Study of the Cold War, in: Odd Arne Westad (Hg.), Reviewing the Cold War. Approaches, Interpretations, Theory, London 2000, S. 27–42, hier S. 32. 10 Robert O. Keohane, The Big Influence of Small Allies, in: Foreign Policy 2 (1971), S. 161–182. 11 Benno-Eide Siebs, Die Außenpolitik der DDR 1976–1989. Strategien und Grenzen, Paderborn 1999, S. 108. 12 Vgl. Gregory W. Pedlow, Allied Crisis Management for Berlin. The LIVE OAK Organization, 1959– 1963, in: William W. Epley (Hg.), International Cold War Military Records and History. Proceedings of the International Conference on Cold War Military Records Held in Washington D.C. 21–26 March 1994, S. 87–116; Jane Stromseth, The Origins of Flexible Response. NATO’s Debate over Strategy in the 1960’s, London 1988, S. 26–41; Reiner Pommerin / Johannes Steinhoff, Strategiewechsel. Bundesrepublik und Nuklearstrategie in der Ära Adenauer – Kennedy, Baden-Baden 1992, S. 72–81. 13 Aufzeichnung des Gesprächs zwischen Chruschtschow und Ulbricht vom 30. November 1960, zitiert nach Hope Harrison, Ulbricht and the »Concrete Rose«. New Archival Evidence on the Dynamics of Soviet-East German Relations and the Berlin Crisis, 1958–1961, in: Cold War International History Project, Working Paper 5 (Mai 1993), Anhang A. 14 Ulbricht an Chruschtschow vom 18. Januar 1961, in: ebd., Anhang B. 15 Zitiert nach Harrison, Driving the Soviets Up the Wall [wie Anm. 8], S. 99f. 16 Zitiert nach Khrushchev Remembers. The Glasnost Tapes, hg. v. Strobe Talbott, Boston 1990, S. 169f.
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17 Zitiert nach Michael R. Beschloss, The Crisis Years. Kennedy and Krushchev, 1960–1963, New York 1991, S. 225. 18 Zitiert nach Harrison, Driving the Soviets Up the Wall [wie Anm. 8], S. 178f. 19 Bernd Bonwetsch / Alexei Filitow, Chruschtschow und der Mauerbau. Die Gipfelkonferenz der Warschauer-Pakt-Staaten vom 3.–5. August 1961, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 48 (2000), S. 155–198. 20 Matthias Uhl / Armin Wagner, »Die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen nachrichtendienstlicher Aufklärung«. Bundesnachrichtendienst und Mauerbau, Juli–September 1961, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 55 (2007), S. 681–725. 21 Willy Brandt, Begegnungen und Einsichten. Die Jahre 1960–1975, Hamburg 1976, S. 13. 22 Hans-Peter Schwarz, Die Ära Adenauer. Epochenwechsel 1949–1957, Wiesbaden 1981 (Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2), S. 253. 23 Adenauer. Briefe 1959–1961, bearbeitet von Hans Peter Mensing, Paderborn 2004, S. 547. 24 Diethelm Prowe, Der Brief Kennedys an Brandt vom 18. August 1961. Eine zentrale Quelle zur Berliner Mauer und der Entstehung der Brandtschen Ostpolitik, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 33 (1985), S. 373–383, hier S. 382–383. 25 Zitiert nach Beschloss, The Crisis Years [wie Anm. 17], S. 278. 26 Klaus Schroeder, Der SED-Staat. Geschichte und Struktur der DDR. Partei, Staat und Gesellschaft 1949–1990, München 1998, S. 178. 27 Fred Oldenburg, Die Autonomie des Musterknaben. Zum politischen Verhältnis DDR – UdSSR, in: Richard Löwenthal / Boris Meissner (Hg.), Der Sowjetblock zwischen Vormachtkontrolle und Autonomie, Köln 1984, S. 153–197, hier S. 174. 28 Kaiser, Machtwechsel [wie Anm. 1], S. 100. 29 Werner Kilian, Die Hallstein-Doktrin. Der diplomatische Krieg zwischen der BRD und der DDR 1955–1973. Aus den Akten der beiden deutschen Außenministerien, Berlin 2001. 30 Walter Jens an Hans Werner Richter vom 31. Oktober 1961, in: Hans Werner Richter, Briefe von und an Hans Werner Richter 1947–1978, hg. von Sabine Cofalla, München 1997, S. 373. 31 Richard Löwenthal, Weltpolitischer Szenenwechsel, in: Der Monat (September 1963), wiederabgedruckt in: ders., Weltpolitische Betrachtungen. Essays aus zwei Jahrzehnten, hg. und eingel. von Heinrich August Winkler, Göttingen 1983, S. 61–76, Zitat S. 73. 32 Joachim Scholtyseck, Mauerbau und Deutsche Frage. Westdeutsche Intellektuelle und der Kalte Krieg, in: Dominik Geppert / Jens Hacke (Hg.), Intellektuelle Debatten in der Bundesrepublik 1960–1980, Göttingen 2008, S. 69–90. 33 Vgl. Heinrich Potthoff, Im Schatten der Mauer. Deutschlandpolitik 1961 bis 1990, Berlin 1999. 34 Jochen Staadt, Die geheime Westpolitik der SED 1960–1970. Von der gesamtdeutschen Orientierung zur sozialistischen Nation, Berlin 1993; vgl. auch Hubertus Knabe, Die unterwanderte Republik. Stasi im Westen, Berlin 1999.
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Ostverträge 1970/72 Überwindung oder Zementierung der Teilung Europas?
Am 20. Oktober 1971 sprach das norwegische Preiskomitee Bundeskanzler Willy Brandt den Friedensnobelpreis für seine Politik der Versöhnung insbesondere gegenüber Osteuropa zu. Brandt hatte diese Politik als Außenminister in der Großen Koalition begonnen und als Kanzler der sozialliberalen Koalition fortgesetzt. In den »Erinnerungen« Willy Brandts nimmt der 10. Dezember 1971, der Tag der Verleihung des Friedensnobelpreises, keinen großen Raum ein. Nur ein Absatz ist diesem Tag gewidmet, an dem Willy Brandt zu Gast in der Universität von Oslo war und den Friedensnobelpreis entgegennahm. Brandt schrieb: »Im Dezember 1971 nahm ich in Oslo den Friedensnobelpreis entgegen – eine Anerkennung, die mir naheging.«1 Ein Europa des Friedens zu organisieren und den Weltfrieden zu erhalten – das waren die großen außenpolitischen Ziele der sozialliberalen Regierung Ende der sechziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts. In seinen Dankesworten anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises nannte Brandt die Bausteine seiner außenpolitischen Arbeit noch einmal: Aber der Abbau der Spannungen, Zusammenarbeit der Völker, Reduzierung der Truppen und Kontrolle der Rüstungen, Partnerschaft mit den bisher Benachteiligten, gemeinsamer Schutz gegen die gemeinsame Gefahr des Untergangs – das muss möglich sein, daran müssen wir arbeiten.«2
Die Verleihung des Friedensnobelpreises an Brandt war die wohl bedeutendste Anerkennung, die ihm widerfuhr, aber beileibe nicht die einzige. Zuvor hatte ihm das »Time Magazine« den Titel »Man of the Year« für das Jahr 1970 zuerkannt, andere internationale Zeitschriften urteilten ähnlich. Brandt erhielt den Nobelpreis für eine Reihe von bereits abgeschlossenen und zur Ratifizierung im Bundestag anstehenden Verträgen; er hatte seine Leitlinien der Politik, die dem Nobelkomitee preiswürdig erschien, also bereits implementiert. Hierin ist sicher ein Unterschied zu Barack Obama zu sehen, dem der Friedensnobelpreis 2009 eher für seine weltpolitischen Vorstellungen als für deren Realisierung in friedensstabilisierenden Vertragswerken verliehen worden ist. Ähnlich wie Obama in Kongress, Senat und Öffentlichkeit stieß Brandt auf massiven Widerstand für seine Politik, sowohl im Bundestag als auch in großen Teilen der bundesdeutschen Öffentlichkeit. Dies bezog sich auf alles, was sich an Reformeuphorie hinter dem Stichwort »Wir wollen mehr Demokratie wagen« an Programmatik verbarg. Hiervon wird nicht zu handeln sein, auch nicht von der
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Polarisierung, die vor dem Hintergrund von Reformeuphorie und 1968er-Bewegung in der bundesrepublikanischen Gesellschaft zu Tage trat. Die Kritik bezog sich aber nicht zuletzt auf seine Deutschland- und Europapolitik, die unter dem Stichwort »Neue Ostpolitik« in die Geschichte eingegangen ist. Es gehörte zu den Überzeugungen Brandts und seiner politischen Partner (hier wären vor allem Egon Bahr, aber auch Walter Scheel zu nennen), dass man in der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland von den gegebenen Tatsachen – dem durch das nationalsozialistische Deutschland verlorenen Krieg – ausgehen müsse, wenn man diese verändern wolle. Veränderte Realitäten nicht anzuerkennen, könne sich über den Tag hinaus nur leisten, wer von diesen nicht betroffen sei – das galt in ihren Augen vor allem auch für die Deutschlandpolitik. Diese stellte Brandt in der Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969, in der sich die mit denkbar knapper Mehrheit zustande gekommene sozialliberale Koalition Brandt / Scheel dem Parlament präsentierte, prominent heraus. Vor dem Bundestag führte Brandt, begleitet von Zwischenrufen Rainer Barzels und anderer, aus: Aufgabe der praktischen Politik in den jetzt vor uns liegenden Jahren ist es, die Einheit der Nation dadurch zu wahren, daß das Verhältnis zwischen den Teilen Deutschlands aus der gegenwärtigen Verkrampfung gelöst wird. Die Deutschen sind nicht nur durch ihre Sprache und ihre Geschichte – mit ihrem Glanz und Elend – verbunden; wir sind alle in Deutschland zu Haus. Wir haben auch noch gemeinsame Aufgaben und gemeinsame Verantwortung: für den Frieden unter uns und in Europa. 20 Jahre nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland und der DDR müssen wir ein weiteres Auseinanderleben der deutschen Nation verhindern, also versuchen, über ein geregeltes Nebeneinander zu einem Miteinander zu kommen. Dies ist nicht nur ein deutsches Interesse, denn es hat seine Bedeutung auch für den Frieden in Europa und für das Ost-West-Verhältnis.3
Brandt erkannte die Arbeit der »Großen Koalition«, in der er mit Bundeskanzler Kiesinger selbst für eine Ausdehnung außenpolitischer Handlungsspielräume gearbeitet hatte, an: Die Bundesregierung setzt die im Dezember 1966 durch Bundeskanzler Kiesinger und seine Regierung eingeleitete Politik fort und bietet dem Ministerrat der DDR erneut Verhandlungen beiderseits ohne Diskriminierung auf der Ebene der Regierungen an, die zu vertraglich vereinbarter Zusammenarbeit führen sollen. Eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR durch die Bundesregierung kann nicht in Betracht kommen. Auch wenn zwei Staaten in Deutschland existieren, sind sie doch füreinander nicht Ausland; ihre Beziehungen zueinander können nur von besonderer Art sein.4
Und mit Blick auf Osteuropa fügte er hinzu: Unser nationales Interesse erlaubt es nicht, zwischen dem Westen und dem Osten zu stehen. Unser Land braucht die Zusammenarbeit und Abstimmung mit dem Westen und die Verständigung mit dem Osten.
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Aber auf diesem Hintergrund sage ich mit starker Betonung, daß das deutsche Volk Frieden braucht – den Frieden im vollen Sinne dieses Wortes – auch mit den Völkern der Sowjetunion und allen Völkern des europäischen Ostens. […] Dabei geben wir uns keinen trügerischen Hoffnungen hin: Interessen, Machtverhältnisse und gesellschaftliche Unterschiede sind weder dialektisch aufzulösen, noch dürfen sie vernebelt werden. Aber unsere Gesprächspartner müssen auch dies wissen: Das Recht auf Selbstbestimmung, wie es in der Charta der Vereinten Nationen niedergelegt ist, gilt auch für das deutsche Volk.5
Ausgehend von diesem programmatischen Text soll im Folgenden eine Wanderung durch die außenpolitisch einschneidende und turbulente Zeit des Abschlusses der sogenannten Ostverträge unternommen werden. Innerhalb verhältnismäßig kurzer Zeit schloss die Regierung Brandt / Scheel Verträge unter anderem mit Moskau, Warschau, Ost-Berlin und Prag, die je ihre eigene Spezifik besaßen. Zugleich diktierten die Beziehungen der Supermächte zueinander und auch die Positionen der Alliierten des Zweiten Weltkrieges mit ihren noch immer existenten Vorrechten und Verantwortlichkeiten gerade mit Blick auf die Situation Berlins die Handlungsspielräume. Sie wurden jedoch in der Zeit seit 1969 mit geradezu atemberaubender Geschwindigkeit genutzt, stellt man die Vielzahl der Akteure in Rechnung, die es einzubeziehen galt. Zu recht hat Edgar Wolfrum festgestellt, dass alle Verträge unauflösbar miteinander zusammenhingen: Verschiedene Akteure mit unterschiedlichen Interessen – Deutsche aus West und Ost, die vier Siegermächte des Zweiten Weltkrieges und mehrere osteuropäische Staaten – saßen einander am Verhandlungstisch gegenüber; die einen Deutschen wollten den Status quo langfristig verändern, die anderen wollten ihn festschreiben und zielten auf eine völkerrechtliche Anerkennung ihres Staates, der DDR. Die westlichen Siegermächte verbanden Entspannung und Stabilität mit einer Eindämmung der Sowjetunion; dieser wiederum lag an Entspannung und Status-quo-Bewahrung in Europa auch deshalb, um ihre Aktivitäten auf die Dritte Welt richten zu können.6
1. Voraussetzungen und Grundlagen der »Neuen Ostpolitik« Was heute aus der Rückschau an der Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 als selbstverständlich anmutet, war es für die Zeitgenossen nicht ohne weiteres. Nicht zu Unrecht wollten ihre Macher, und die Historiker sind ihnen darin gefolgt, mit Traditionen brechen. Gustav Heinemann, auseinandersetzungsfreudiger Bundespräsident und Erfinder des Wortes vom »Machtwechsel«, schwor schon vor der Bundestagswahl die bundesdeutsche Öffentlichkeit darauf ein, sich bei der Frage nach einer Wiedervereinigung Deutschlands und nach den verlorenen Ostgebieten nicht in die Tradition des Kaiserreiches, der Weimarer Republik
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oder gar des Nationalsozialismus zu stellen. Damit polarisierte er wie so oft in seiner Amtszeit, hatte aber mit Blick auf die historischen Aufladungen einer Ostpolitik zweifellos Recht: Weder ließ sich Bismarcks »Draht nach Rußland«, der ja im Wesentlichen auf Kosten des geteilten Polen funktioniert hatte, noch ließ sich der »Geist von Rapallo«, jene deutsch-sowjetische Verständigung aus der Niederlage im Ersten Weltkrieg, schon gar nicht die nationalsozialistische Konzeption eines zu unterwerfenden Ostens als Vorbilder gebrauchen. Stichworte wie »Generalplan Ost« standen für Unterwerfung und Vernichtung von Millionen, bei der es viele Mittäter gegeben hatte. Die wissenschaftliche Ostforschung hat vor und im Zweiten Weltkrieg das ihre getan und dem ideologischen Rassenwahn Vorschub geleistet. Dies waren gute Gründe, um in den Staaten des östlichen Europas, die alle in das sowjetische Vorfeld integriert wurden, sehr genau zu schauen, wie die jeweiligen bundesdeutschen Regierungen ihre Politik gegenüber Osteuropa initiierten und wie sie sie argumentativ begründeten. So wurden der strikte Antikommunismus und die konsequente Westbindung Adenauers zur Kenntnis genommen, auch wenn diese fallweise höchst pragmatisch ausfielen – man denke an Adenauers Reise nach Moskau 1955 und die dort erfolgende Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der Sowjetunion. Auf der anderen Seite war bei den bundesdeutschen Nachbarn im Osten über die Stichworte »Osten«, »Ostforschung« und »Ostpolitik« jederzeit eine Propagandaschlacht zu initiieren – in der DDR, die sich in Sachen Aufarbeitung des »Dritten Reiches« als der »bessere deutsche Staat« zu präsentieren suchte, aber auch in Polen, wo in den fünfziger und sechziger Jahren jede Thematisierung der Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg im Zuge der von den Alliierten beschlossenen Westverschiebung weitgehend unmöglich war. Das »Neue« an der Ostpolitik war also hier zu betonen, um Dialogfähigkeit herzustellen. Dies bedeutete notabene auch für die SPD, Positionen zu räumen, die Brandt als Berliner Regierender Bürgermeister oder Herbert Wehner mit seinen phasenweise sehr engen Kontakten zu den Vertriebenenverbänden lange mit dem Schlagwort »Verzicht ist Verrat«7 umschrieben hatten. Und der Dialog wurde bereits gesucht, bevor Brandt das Mikrofon zur Regierungserklärung 1969 nahm: Er selbst hatte sich als Regierender Bürgermeister von Berlin durch pragmatische Verhandlungen über Passierscheinabkommen bemüht, die Mauer wenigstens in der geteilten Stadt durchlässiger zu gestalten. Seit 1962 hatte es auch in den CDUgeführten Bundesregierungen eine vorsichtige Politik der Kontaktaufnahme mit den osteuropäischen Staaten Rumänien, Bulgarien, Ungarn und Polen, insbesondere durch die Errichtung von bundesdeutschen Handelsmissionen, gegeben. Diese Staaten wurden deshalb als geeignete Verständigungspartner betrachtet, weil man sie als noch vergleichsweise unabhängig von der Sowjetunion ansah. Das Unternehmen scheiterte einerseits, weil man die DDR ausklammerte, vor allem aber auch deshalb, weil die Kontakte mit Rücksicht auf die Hallstein-Dokt-
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rin, jene Doktrin, die einen bundesdeutschen diplomatischen Alleinvertretungsanspruch vorsah, unterhalb der Ebene offizieller diplomatischer Beziehungen geblieben waren. Erst in der Zeit der Großen Koalition unter Kiesinger / Brandt begann eine langsame Verabschiedung der Hallstein-Doktrin. Zugleich platzte in diese Bemühungen ein Konflikt, der die Welt insgesamt in Atem hielt: Der Prager Frühling des Jahres 1968 und seine gewaltsame Beendigung durch sowjetische Panzer ließen den Gedanken an eine Entspannung scheinbar in weite Ferne rücken, zumal nach der Verkündung der so genannten Breschnew-Doktrin. Es war umso erstaunlicher, dass die Supermächte USA und UdSSR unmittelbar nach diesem Konflikt die Signale so bald wieder auf Abrüstung und Entspannung stellten. Für die USA war es der Vietnamkrieg, für die UdSSR der Grenzkonflikt mit China, der das Interesse an einer Detente in Europa bedingte. Aber auch in der innenpolitischen Diskussion der Bundesrepublik mehrten sich die Stimmen, die auf eine Aussöhnung mit den osteuropäischen Nachbarn und die Forcierung des Dialogs setzten. Schon 1964 waren die »Zeit«-Redakteure Marion Gräfin Dönhoff und Theo Sommer durch die DDR gereist und schrieben Reportagen aus »einem unbekannten Land«. Was sie damit meinten, waren das Auseinanderleben der beiden deutschen Gesellschaften und die Unkenntnis voneinander. Und sie plädierten für einen verstärkten politischen Dialog. Am 1. Oktober 1965 veröffentlichte die Evangelische Kirche in Deutschland eine Denkschrift, die wesentlich auf Ludwig Raiser zurückging und den Titel »Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinem östlichen Nachbarn« trug. Sie setzte sich sorgfältig mit dem Schicksal der Vertriebenen auseinander, ordnete es jedoch gleichzeitig in die historischen Zusammenhänge ein und ließ keinen Zweifel daran, dass auch »das menschliche und geschichtliche Schicksal des östlichen Nachbarn Deutschlands«8 mit ins Auge gefasst werden sollte. Besatzungsherrschaft und Holocaust wurden in diesem Zusammenhang offen angesprochen. Die Denkschrift mahnte zur »Besonnenheit« in der Verwendung völkerrechtlicher Argumente und stellte auch das Schicksal der polnischen Bevölkerung dar, die durch die Westverschiebung in den verlorenen deutschen Ostgebieten zwangsangesiedelt worden war. Es war insgesamt von einer Schuldverflechtung beider Völker, der Deutschen und Polen, die Rede. Diese Denkschrift löste eine intensive innerkirchliche und außerkirchliche Debatte aus (freilich nicht in der DDR) und traf sich mit der Versöhnungsinitiative der katholischen Bischöfe Polens, die ihren deutschen Amtskollegen die Hand reichten. Am Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils, in dessen Verlauf deutsche und polnische Vertreter miteinander in Dialog traten, kam es zu jenem denkwürdigen Brief vom 18. November 1965, in dem mit Blick auf die Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs der Satz stand: »Wir vergeben und bitten um Vergebung.«9 Dieser unter Christen eigentlich selbstverständliche Satz – es sei doch undenkbar, so meinte der Erzbischof von Krakau und spätere Papst Karol Wojtyla, dass
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man einander nicht vergebe – überforderte die deutschen Bischöfe. Sie reagierten zurückhaltend, um erst später den Diskussionsfaden wieder aufzunehmen. Der Brief machte aber auch klar, dass man nicht von homogenen Ansichten im östlichen Europa ausgehen durfte. Auch hier ist das Beispiel der polnischen Bischöfe lehrreich. Ihr Brief, der auch eine antikommunistische Komponente enthielt, indem er an die gemeinsamen abendländisch-lateinischen Wurzeln erinnerte, die Deutsche und Polen hätten, wurde von der polnischen Parteiführung um Władisław Gomułka benutzt. Es kam zu einem Kesseltreiben gegen die katholische Kirche in Polen und ihre Hierarchen, gerade um die 1000-Jahrfeier des Aktes von Gnesen herum, also der Christianisierung Polens, die wiederum der polnische Primas Kardinal Wiszinski zu einer Machtdemonstration der Kirche nutzte. Als er den berühmten Satz des Briefes fast wörtlich wiederholte, antworteten ihm einige 100 000 Gläubige zustimmend.
2. Moskau, August 1970 Dieses starke Signal, eine beginnende Diskussion auch in den Vertriebenenverbänden und manch weitere Äußerung von Intellektuellen bereiteten den Weg für das, was in der SPD noch zu Oppositionszeiten vorgedacht worden war. Es war Egon Bahr, Willy Brandts Vertrauter aus Berliner Zeiten, der das Grundkonzept dieser Vorstellungen prägnant auf einer Rede im Juli 1963 in Tutzing formuliert hatte: Heute ist klar, daß die Wiedervereinigung nicht ein einmaliger Akt ist, der durch einen historischen Beschluß an einem historischen Tag auf einer historischen Konferenz ins Werk gesetzt wird, sondern ein Prozeß mit vielen Schritten und vielen Stationen. Wenn es richtig ist, was Kennedy sagte, daß man auch die Interessen der anderen Seite anerkennen und berücksichtigen müsse, so ist es sicher für die Sowjetunion unmöglich, sich die Zone zum Zwecke einer Verstärkung des westlichen Potentials entreißen zu lassen. Die Zone muss mit Zustimmung der Sowjets transformiert werden.10
Dies bedeutete, nachdem man die Regierung angetreten hatte – Bahr nun im Kanzleramt Architekt der »Neuen Ostpolitik« –, dass es ohne oder gegen die UdSSR kein Verhandlungsergebnis geben konnte. Und die Bundesregierung drückte aufs Tempo. Bereits im Dezember 1969, also wenige Wochen nach der eingangs zitierten Regierungserklärung, fanden erste Gespräche zwischen dem bundesdeutschen Botschafter Helmut Allardt und dem sowjetischen Außenminister Andrej Gromyko statt. Gromyko, knallharte Sphinx der sowjetischen Außenpolitik, lehnte den Wunsch der Bundesrepublik, über Erleichterungen im Berlin-Verkehr, die Beziehungen der DDR und auch über gutnachbarschaftliche Beziehungen zu Polen zu reden, ab. Daher entschloss sich Brandt schon im Januar
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1970, Egon Bahr nach Moskau zu schicken, der dort in einem Marathon von 14 Unterredungen eben nicht nur mit Gromyko, sondern auch mit dem Ministerpräsidenten Kossygin sprach. Hierbei stellte sich heraus, dass die sowjetische Seite die Messlatte für eine Gesprächsaufnahme mit ihrem machtpolitischen Vorfeld hoch hängen wollte. Diese Messlatte war zunächst, auf Wunsch Ost-Berlins, die völkerrechtliche Anerkennung der DDR, im Verlauf der Gespräche aber dann die Anerkennung des Status quo der Nachkriegsordnung in territorialer Hinsicht. Dies war der feine Unterschied, der den Durchbruch brachte. In dem so genannten »Bahrpapier« wurde bereits die Substanz für die Einigung mit Moskau und die noch anstehenden Verhandlungen mit Warschau gelegt. In die finalen Verhandlungen wurde schließlich auf deutscher Seite auch Walter Scheel eingebunden, der sich bereits zu diesem Zeitpunkt von Hans-Dietrich Genscher vorwerfen lassen musste, er habe sich das Heft des Handelns aus der Hand nehmen lassen. Als der Vertrag am 12. August 1970 mit Andrej Gromyko und Kossygin unterzeichnet wurde, gehörte er freilich neben Willy Brandt zu den Unterzeichnern. Nach einem allgemeinen Passus über die unbenommenen Rechte der Siegermächte waren insbesondere die Formulierungen, dass man von der wirklichen Lage in Europa ausgehe, von Bedeutung. Sie mündeten in den Artikel 3, der auch für die anstehenden Verhandlungen mit Warschau leitend werden sollte: In Übereinstimmung mit den vorstehenden Zielen und Prinzipien stimmen die Bundesrepublik Deutschland und die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken in der Erkenntnis überein, daß der Friede in Europa nur erhalten werden kann, wenn niemand die gegenwärtigen Grenzen antastet. – Sie verpflichten sich, die territoriale Integrität aller Staaten in Europa in ihren heutigen Grenzen uneingeschränkt zu achten; – sie erklären, daß sie keine Gebietsansprüche gegen irgendjemand haben und solche in Zukunft auch nicht erheben werden; – sie betrachten heute und künftig die Grenzen aller Staaten in Europa als unverletzlich, wie sie am Tage der Unterzeichnung dieses Vertrages verlaufen, einschließlich der OderNeiße-Linie, die die Westgrenze der Volksrepublik Polen bildet, und der Grenze zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik.11
Das waren Festlegungen, die die Aufgabe von Positionen bedeuteten, wie sie von den CDU-geführten Bundesregierungen vertreten worden waren. Konrad Adenauers Vereinbarung mit Moskau aus dem Jahre 1955 sollte sicher nicht den Weg ebnen zu einer Anerkennung der Grenzen. Was sich jedoch im Vertragstext nun als gesetzt las, wurde relativiert durch einen Brief, den Brandt – nicht ungeschickt – vor der Vertragsunterzeichnung übergab und in dem es hieß, dass der Vertrag nicht im Widerspruch zu dem Ziel der Bundesrepublik stünde, auf einen Frieden in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlange. Dieser Brief hatte mindestens so sehr die bundesrepublikanische Öffentlichkeit im Blick wie die sowjetische Führung. Ausschließ-
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lich der medialen Begleitung diente die Fernsehansprache Brandts noch aus Moskau, in der er den Bundesbürgern die Notwendigkeit des Vertrages und seiner Inhalte erläuterte.
3. Warschau, Dezember 1970 Der Moskauer Vertrag wurde bekanntermaßen kontrovers aufgenommen und führte zum Wiederaufleben jener Kampagnen, die Willy Brandt vor dem Hintergrund seiner Vita als vaterlandslosen Gesellen brandmarken sollten. Sie legten die Bruchlinien offen, die in der bundesrepublikanischen Gesellschaft über den Umgang mit den Folgen von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg sowie deren Relevanz für die Außenpolitik gegenüber den Nachbarn in Osteuropa herrschten. Dabei standen die umstrittensten Verhandlungen noch bevor: In den Gesprächen der Warschauer Führung um Władisław Gomułka und Józef Cyrankiewicz musste ausgehandelt werden, was in Moskau vorgedacht und vorfestgelegt war: die Anerkennung der Grenzziehung der Sieger. Die DDR hatte in einem Vertrag von 1950 (Görlitzer Abkommen) die Oder-Neiße-Linie bereits als Grenze zwischen den sozialistischen Bruderstaaten anerkannt, und als Gomułka 1969 sein Gesprächsangebot an die Bundesrepublik Deutschland unterbreitete, war diese Anerkennung für ihn die Voraussetzung für jedweden Dialog. Die Bundesregierung stand vor dem Dilemma, dass sowohl die deutsche Frage als auch die Einheit der Nation offengehalten werden mussten und dass zugleich galt, dass erst eine geeinte deutsche Nation abschließend über die getroffenen Grenzregelungen befinden könne. Auch im bundesdeutschen Diskurs, nicht zuletzt von kirchlichen Kreisen, wurde freilich immer wieder betont, dass Polen seinerseits mit dem Verlust seiner Ostgebiete, mit der Vertreibung von Millionen von Polen und deren Zwangsumsiedlung Opfer Stalins geworden sei. Es fiel natürlich sehr viel leichter, über diese Form der Begründung von Grenzanerkennungen zu reden, was zumal mit den polnischen Bischöfen einfacher war als mit der polnischen KP, als über irgendwelche »piastischen« Polenkonzeptionen der Zwischenkriegszeit, die oft zur Begründung der territorialen Erstreckung Polens bemüht wurden. Zugleich war in Polen die deutsche Besatzungsherrschaft mit ihren mehr als sechs Millionen Opfern unvergessen, und die Bundesregierung war sich dessen sehr wohl bewusst. Besatzung und polnische Opfer waren gleichsam die Vorgeschichte der Vertreibungen der Millionen Deutschen aus dem Osten, die in der Nachkriegszeit so viele individuelle Biographien und daraus folgend große Teile der Sozial- und Gesellschaftspolitik der Bundesrepublik Deutschland prägten – ganz anders als in der DDR, wo es keine institutionalisierte Repräsentanz der Vertriebenen gab.
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Schuld, Moral, Verstrickung, die Frage nach Tätern und Opfern – diese schwierigen Themenkreise, weder in Deutschland noch in Polen aufgearbeitet, prägten Vorfeld und Geschehen der Verhandlungen und die Stimmung in der bundesdeutschen und polnischen Gesellschaft Ende 1970. Am Tag der Vertragsunterzeichnung bezog Bundeskanzler Willy Brandt zu diesen Fragen eindeutig Position. Bei einer Kranzniederlegung am Denkmal für die Opfer des Warschauer Ghettoaufstands kam es zu seinem berühmten Kniefall Für die Journalisten überraschend, ordnete der Kanzler nicht nur kurz die Ehrenschleifen, sondern sank für eine halbe Minute auf die Knie, um dann ebenso energisch wieder aufzustehen. Das Bild vom knienden Bundeskanzler ist zu einem »deutschen Erinnerungsort« geworden. Hagen Schulze und Etienne François haben es mit guten Gründen in ihre diesbezügliche Sammlung aufgenommen.12 In dem Kniefall verdichtete sich der moralische Aspekt der Aussöhnung mit Polen und den Staaten Osteuropas überhaupt. Brandt selbst meinte darüber später: Zu Hause in der Bundesrepublik fehlte es weder an hämischen noch an dümmlichen Fragen, ob die Geste nicht ›überzogen‹ gewesen sei. Auf polnischer Seite registrierte ich Befangenheit. Ich schloß daraus, daß auch andere diesen Teil der Geschichte noch nicht verarbeitet hatten.13
Aber wer ihn, so Brandt in anderem Zusammenhang, hätte verstehen wollen, der habe ihn verstanden. Dass ein deutscher Bundeskanzler um Vergebung für die Verbrechen der Deutschen bat, verstanden in der Tat nicht alle Deutschen. Nach einer Meinungsumfrage des »Spiegel« unmittelbar nach dem Kniefall hielten 48 Prozent der befragten Brandts Verhalten für unangemessen, 41 Prozent für angemessen, und 11 Prozent waren unentschieden. Die nüchternen Zahlen dieser Umfrage zeigen die Polarisierung der bundesdeutschen Gesellschaft über diesen symbolischen Akt ebenso deutlich wie die Kontroversen, die in der Öffentlichkeit und im Bundestag losbrachen. Aber auch in Polen war die Geste des Kniefalls umstritten. Marek Edelmann, einer der Anführer des Ghettoaufstandes von 1943, erinnerte sich hochbetagt kurz vor seinem Tode im Oktober 2009 voller Respekt an Brandts Verhalten. Die polnische Regierung unter Ministerpräsident Cyrankiewicz ignorierte hingegen die Geste fast völlig, und dies lag nicht zuletzt am Ort des Geschehens. Ein Denkmal für die Opfer des Warschauer Aufstandes von 1944 gab es zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Nach polnischer Lesart war der Aufstand 1944 gegen die Deutschen nur deshalb gescheitert, weil die sowjetische Armee nicht zum Entsatz vorgerückt war, und die Sowjetunion wollte einen Denkmalsort vermeiden, der antisowjetisch codiert werden konnte. Der Bundeskanzler wollte mit seiner Geste der Opfer beider Aufstände gedenken. Brandt wurde dennoch von manchem unterstellt, er gedenke nur der jüdischen Opfer des Holocausts und nicht der
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Abb. 1: Willy Brandt am Denkmal für die Gefallenen des Ghetto-Aufstandes in Warschau – Darstellung in der polnischen …
Ermordung aller polnischen Opfer. Dies wog in manchen Kreisen umso negativer, als 1968 durch die polnische KP und die Gesellschaft, wie jüngst Hans-Christian Petersen noch einmal herausgearbeitet hat,14 eine Welle des Antisemitismus ging – mit dem Ausschluss von Kadern, Berufsverboten und anderem mehr. Dies war der Grund, warum mit einiger Verzögerung in wenigen polnischen Zeitungen ein Bild des knienden Brandt gezeigt wurde, aber aus einer Perspektive, die den Ort des Denkmals für die Opfer des Ghettotaufstandes nicht erkennen ließ. Über diese Ereignisse geriet die Vertragsunterzeichnung am 7. Dezember 1970 beinahe in den Hintergrund, um dann jedoch innenpolitisch umso höhere Wellen zu schlagen: Die Bundesrepublik erkannte wie zuvor die DDR die OderNeiße-Linie an. Der Vertrag sprach davon, die Grenze jetzt und in Zukunft nicht in Frage stellen zu wollen. Viele nahmen diesen Vertrag so wahr wie der Karikaturist Hanns Erich Köhler, der 1970 Willy Brandt die Grenze als dicken, gleichermaßen als Schlussstrich ziehen ließ. Die CDU/CSU-Opposition warf Bundeskanzler Brandt vor, dass er deutsche Interessen preisgebe und die Bundesrepublik vor Abschluss eines Friedensver-
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Abb. 2: … und in der westdeutschen Presse.
trages gar nicht berechtigt sei, auf die Gebiete östlich der Oder-Neiße-Linie zu verzichten. Bei der Ratifizierung der Verträge im Bundestag sollte die Bundesregierung dieser Haltung in gewisser Weise Rechnung tragen. Um zumindest eine Enthaltung der Opposition zu erreichen, wurde im Parlament gleichzeitig eine Entschließung verabschiedet, die den Moskauer und Warschauer Vertrag einschränkte: Ein endgültige Anerkennung blieb einem wiedervereinigten deutschen Staat vorbehalten, eine Linie, die in dem Moskauer Brief Brandts bereits angelegt worden war und die Helmut Kohl 1989/1990 weiterverfolgen sollte.
4. Ost-Berlin, Dezember 1972 Seit dem 26. März 1970 tagten die Botschafter der vier Siegermächte – USA, UdSSR, Großbritannien und Frankreich – im Gebäude des ehemaligen Alliierten Kontrollrats in West-Berlin. Es ging um die Sicherung der Zugangswege von und nach West-Berlin, um den Besucherverkehr und um die Anwesenheit von Behörden der Bundesrepublik im Westteil der geteilten Stadt. Zentraler Streitpunkt war der Status von Berlin: Die Westmächte bezogen die Viermächte-Zuständigkeit auf die ganze Stadt, während die Sowjets sie allein auf West-Berlin beschränkt wissen wollten. Die Bundesregierung konnte nur über die Alliierten auf die Ver-
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handlungen einwirken, und hier stellte sich die Frage nach der Einbindung der Alliierten in die »Neue Ostpolitik«. Letztlich erreichte die Regierung Brandt/Scheel von den Verbündeten das, was Gottfried Niedhardt treffend als »Zustimmung und Irritation«15 bezeichnete: Beharren auf den Berlin-Prärogativen, Zustimmung insbesondere zum Vertrag mit Warschau, aber auch Irritation über das, was man in Frankreich und England, aber auch in der Administration Nixon als Alleingänge empfand. Für Richard Nixon war Brandt letztlich nur ein »damn socialist«. Walter Ulbricht hingegen, mit dem ja eine Einigung erzielt werden sollte, wandte sich an seine Vormacht in Moskau, die Bundesregierung plane gerade in Bezug auf Berlin »eine Aggression auf Filzlatschen«.16 Nach der Unterzeichnung des Moskauer Vertrages betonte die Bundesregierung, dass dessen Ratifizierung nur bei positiven Ergebnissen in Berlin erfolgen werde, und dieser sanfte Druck hatte Erfolg. Am 3. September 1971 unterzeichneten die Botschafter das Viermächte-Abkommen über Berlin. Erstmals seit 1945 garantierte die Sowjetunion darin den ungehinderten Transitverkehr auf Straße, Schiene und zu Wasser zwischen der Bundesrepublik Deutschland und WestBerlin. In Verträgen zwischen beiden deutschen Staaten sollten die Einzelheiten geregelt werden. Moskau akzeptierte mit dem Viermächte-Abkommen nun seinerseits die entstandene Lage, nämlich die faktische Zugehörigkeit West-Berlins zur Wirtschafts-, Gesellschafts- und Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland. Gleichzeitig wurde jedoch auch festgeschrieben, dass der Westteil Berlins kein integraler Bestandteil der Bundesrepublik sei. Bonn fuhr daraufhin seine Repräsentanz und seine symbolischen Akte, etwa Bundestagsitzungen oder Bundespräsidentenwahlen in Berlin, zurück. Dies änderte jedoch nichts daran, dass die DDR weiterhin »mauerte«. Nach den Treffen von Brandt mit Ministerpräsident Willy Stoph in Erfurt und Kassel wollte die Führung der DDR eine Denkpause, auch weil die Ablösung Walter Ulbrichts bis zum Mai 1971 die Kräfte der DDR-Führung absorbierte. Mit Erich Honecker kam aber nun jemand an die Spitze der SED, der viel mehr als Ulbricht auf das Wohlwollen der Sowjetunion bei der Etablierung seiner Position angewiesen war. Dies war zumindest auch die Einschätzung der Bundesregierung, die versuchte, die stockenden Gespräche über Leonid Breschnew persönlich wieder in Gang zu bringen. Am 17. September 1971 trafen sich Willy Brandt und Egon Bahr mit dem sowjetischen Parteichef Breschnew in dessen Ferienhaus auf der Krim am Schwarzen Meer. Während des dreitägigen Aufenthalts sprachen Brandt und Breschnew über Abrüstung, europäische Sicherheit und das Verhältnis zwischen Bonn und Ost-Berlin. Die Atmosphäre war nun anders als in Moskau fast privat. Brandt und Breschnew gingen gemeinsamen schwimmen, die Bilder von einer Bootsfahrt, bei der die beiden Staatsmänner die reizvolle Küstenlandschaft der
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Abb. 3: Noch keine »Freundschaft«: Brandt und Breschnew bei einer Bootsfahrt vor der Halbinsel Krim im September 1971.
Krim erkundeten, gingen um die Welt. Beeindruckend, so schilderte es Brandts Begleiter Egon Bahr, war die persönliche Annäherung: »Der Abbau von Vorurteilen und Feindbildern, gegenseitig, war mit Händen zu greifen.« Als Breschnew, so erinnerte sich Egon Bahr weiter, in das Abschlusskommuniqué des Besuches jedoch das Wort »Freundschaft« aufnehmen wollte, lehnte Bahr dies ab, und Brandt wich Breschnew aus. »Das sei ein zu großes Wort, um es schon jetzt für unsere Beziehungen zu verwenden.«17 Erst Helmut Kohl konnte dies etwa fünfzehn Jahre später tun, hatte zu diesem Zeitpunkt aber auch einen anderen Partner – Michail Gorbatschow. Mit seiner Reise avancierte Brandt für die westlichen Partner der Bundesrepublik zum »Breschnewexperten«: Die bundesdeutsche Außenpolitik wurde als eigenständiger anerkannt. Dies kam der Bundesregierung im Umgang beispielsweise mit dem sowjetischen Außenminister Gromyko ebenso zugute wie im Verhältnis zu den Amerikanern: Im Dezember 1971 ließ sich Richard Nixon in Key Biscayne von Willy Brandt die Haltung Breschnews und das mögliche Programm der sowjetischen Führung erläutern. Die Opposition rügte hingegen den Ausflug Brandts auf die Krim ebenso wie die zuvor bereits abgeschlossenen Verträge: Warum habe sich Brandt nach Oreanda auf die Krim einladen lassen, liege doch dieser Ort in unmittelbarer Nachbarschaft zu Jalta und damit zu jenem Zarenschloss, in dem die »Großen Drei« im
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Februar 1945 die Dreiteilung Deutschlands verabredet hatten? Der »Rheinische Merkur« sprach giftig davon, dass die Reise Brandts »den Stempel der Preisgabe trage.«18 Das bundesdeutsch-sowjetische Einvernehmen erbrachte aber auch für die Verhandlungen in Ost-Berlin den entscheidenden Rückenwind. Verhandlungsführer in diesen deutsch-deutschen Gesprächen waren dem Wesen der Beziehungen nach nicht die Außenminister, sondern die Staatssekretäre Egon Bahr für die Bundesrepublik und Michael Kohl für die DDR. Im Blick war ein Vertrag, der die Beziehungen der beiden Staaten, die füreinander nicht Ausland waren – so die Auffassung der Bundesregierung –, verrechtlichen sollte. Er sollte auch ein Auseinanderdriften der deutschen Nation, wie es nicht nur Brandt, Bahr und Scheel fürchteten, verhindern. Nach zähen Verhandlungen wurde der »Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik« am 21. Dezember 1972 in Ost-Berlin unterzeichnet. Egon Bahr warnte jedoch auch nach dem Durchbruch vor allzu großen Hoffnungen: »Bisher hatten wir keine Beziehungen, jetzt werden wir schlechte haben – und das ist der Fortschritt.« Die Vertragspartner verpflichteten sich, »normale gutnachbarliche Beziehungen zueinander auf der Grundlage der Gleichberechtigung« zu entwickeln und sich dabei von den Prinzipien der »souveränen Gleichheit aller Staaten, der Achtung der Unabhängigkeit, Selbständigkeit und territorialen Integrität, dem Selbstbestimmungsrecht, der Wahrung der Menschenrechte« leiten zu lassen. Dies bedeutete aus Sicht der Bundesregierung jedoch keine völkerrechtliche Anerkennung der DDR, weshalb beide Seiten auch nicht die Einrichtung von Botschaften, sondern nur von »ständigen Vertretungen« vereinbarten. Artikel 7 des Vertrages steckte jenen Rahmen ab, in dem Bonner und Ostberliner Regierung in den folgenden Jahren nach 1972 so lange und so zäh verhandeln sollten: Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik erklären ihre Bereitschaft, im Zuge der Normalisierung ihrer Beziehungen praktische und humanitäre Fragen zu regeln. Sie werden Abkommen schließen, um auf der Grundlage dieses Vertrages und zum beiderseitigen Vorteil die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Wirtschaft, der Wissenschaft und Technik, des Verkehrs, des Rechtsverkehrs, des Post- und Fernmeldewesens, des Gesundheitswesens, der Kultur, des Sports, des Umweltschutzes und auf anderen Gebieten zu entwickeln und zu fördern.19
Offen blieb die Frage der Staatsangehörigkeit: Aus Sicht der Bundesrepublik gab es entgegen der Auffassung der SED keine besondere DDR-Staatsbürgerschaft. Wie schon beim Moskauer Vertrag überreichte Bahr einen »Brief zur deutschen Einheit«, in dem die Bundesregierung feststellte, dass der Grundlagenvertrag nicht im Widerspruch zum Ziel der Wiedervereinigung stünde. Was war von diesem Vertrag zu halten, der die Anerkennung einer Zweistaatenregelung, nicht aber die völkerrechtliche Anerkennung bedeutete? Immerhin
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zog in der DDR die Zwei-Nationen-Theorie in die Präambel ihrer Verfassung von 1974 ein; es habe sich, so die dort artikulierte Rechtsauffassung, in der DDR eine sozialistische Nation gebildet. Ideologisch ging die DDR-Führung von »Klassennationen« aus, und die Deutschen in der Bundesrepublik gehörten zur kapitalistischen deutschen Nation. Dagegen stand der Grundlagenvertrag, der die Offenheit der deutschen Frage und damit auch der Frage nach der deutschen Nation in seiner Präambel andeutete – gleichsam im letzten Moment, bevor die DDR sich von einer gemeinsamen Nation endgültig abwenden wollte. Ihre Verfassung konnte die DDR jederzeit ändern, den Grundlagenvertrag nicht. Die CDU/CSU-Opposition lehnte den Vertrag zunächst ab und warf der Regierung vor, zu nachgiebig verhandelt zu haben. Der Hoffnung auf gutnachbarliche Beziehungen der Regierung hielt sie die immer stärker gesicherte Mauer und den Schießbefehl entgegen. Auf Antrag Bayerns sollte das Bundesverfassungsgericht den Grundlagenvertrag überprüfen. In ihrem Urteil vom 31. Juli 1973 stellten die Karlsruher Richter zwar die Vereinbarkeit des Vertrages mit dem Grundgesetz fest, doch verpflichteten sie die Politik erneut, am Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes festzuhalten. Eine pragmatischere Haltung hatte sich bei der Opposition teilweise bereits bei der Ratifizierung der Verträge mit Moskau und Warschau durchgesetzt. CDU und CSU enthielten sich bei der Schlussabstimmung über den Grundlagenvertrag am 17. Mai 1972 der Stimme, nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund des kurz zuvor gescheiterten Misstrauensvotums gegen Willy Brandt. Und nicht zuletzt wurden auch die Bundestagswahlen Ende 1972, im Vorfeld der abschließenden Verhandlungen über den Grundlagenvertrag, zu einem Plebiszit. Erstmals wurde die SPD mit 45 Prozent der Stimmen stärkste Fraktion. Die Regierung Brandt / Scheel sah sich mit ihrem Kurs der »Neuen Ostpolitik« bestätigt. Aber es gab auch noch ein anderes Ergebnis dieser Politik: Nicht nur die Bundesrepublik genoss neue außenpolitische Freiheit, sondern auch die DDR. Im September 1973 nahmen beide als frisch aufgenommene Staaten an der UN-Vollversammlung teil.
5. Ausblick Die »Neue Ostpolitik« war die folgerichtige und ebenso konsequent betriebene Ergänzung der Westpolitik Konrad Adenauers. Es war ihr historisches Verdienst, die Angst im östlichen Europa vor einem Deutschland, das die Grenzen der Nachkriegsordnung in Frage stellt, zerstreut und gleichzeitig größere Handlungsfreiheit für die bundesdeutsche Außenpolitik erlangt zu haben, ohne die Westbindung je zur Disposition zu stellen.
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Willy Brandt als Person konnte mit seiner Vita diese Politik sicher überzeugender durchführen, als andere es gekonnt hätten. Er sah Deutschland als von den Alliierten befreit und ordnete die Abfolge der Ereignisse, die zum Verlust des deutschen Ostens geführt hatten, in der notwendigen Reihenfolge: Erst erfolgte der deutsche Überfall auf die Staaten Europas, vor allem Osteuropas, dann folgten die Besatzungsherrschaften der Deutschen und der Holocaust an den europäischen Juden mit ihren Millionenopfern, und daraus ergab sich die deutsche Niederlage mit territorialen Verlusten und unrechtmäßigen Vertreibungen. Diese Sicht wurde von kirchlichen Kreisen, aber auch von Frontoffizieren wie Richard von Weizsäcker und Helmut Schmidt, seinerzeit dezidiert geteilt, war aber vor dem Hintergrund eigenen Erlebens von Vertreibung einerseits und Verdrängung deutscher Schuld andererseits nicht unumstritten. Die Angriffe gegen Brandt machten ihn vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen als Kämpfer gegen das »Dritte Reich«, als Regierender Bürgermeister von Berlin konsequent an der Seite der USA und schließlich im Ringen um das Miteinander mit den Bürgern der DDR in der konkreten Politik zu einem biographisch ebenso glaubwürdigen Repräsentanten deutscher Politik wie Konrad Adenauer. Erst nachdem das Schreckgespenst des Revanchismus gewichen war und sich die Wahrnehmung der Bundesrepublik als einer zwar ökonomisch starken, aber grundfriedlichen Macht durchsetzte – hier folgten Helmut Schmidt und Helmut Kohl auf pragmatische Weise dem Visionär Brandt –, gewann Westdeutschland als Gesellschaftsmodell, gleichsam für den Westen stehend, eine noch stärkere Attraktivität für die Menschen in der DDR und in Osteuropa. Die Mauer fiel nicht, aber es wurde über sie hinweg kommuniziert. »Wandel durch Annäherung«, jenes Konzept von Egon Bahr, ging freilich nicht in allem auf. Die erhoffte Liberalisierung der kommunistischen Diktaturen blieb aus. »Der Westen«, so formulierte es Timothy Garton Ash einmal, konnte nie so viel Besänftigung anbieten, daß die kommunistischen Machthaber sich entspannten, denn die inneren Spannungen dieser Staaten waren durch das Wesen ihrer Systeme und nicht nur durch die äußeren Spannungen des Kalten Krieges bestimmt.20
Die Ereignisse beispielsweise in Polen um die Solidarność illustrieren dies: Es war in gewisser Weise auch ein moralisches Dilemma, das nach dem Ende des Kommunismus von denen aufgegriffen wurde, die dazu beitrugen, den Kommunismus zu stürzen. Tadeusz Mazowiecki, der erste nichtkommunistische Ministerpräsident Polens nach dem Ende des Kommunismus, brachte es auf den Punkt: War es nicht ein Problem gewesen, mit der Entspannungspolitik und der engen wirtschaftlichen Kooperation die Regime Ostmittel- und Osteuropas faktisch zu stützen? Die Bundeskanzler Schmidt und Kohl sollten die Auffassung vertreten, dass diese Politik auch den Menschen zugutegekommen sei. Kredite für die DDR und Polen, eine konsequent betriebene humanitäre Hilfe und eine vorsichtige
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Bewertung der Solidarność-Bewegung in Polen, eine Fortführung des Gesprächfadens auch in den Zeiten des Kriegsrechts in Polen, Erich Honecker 1987 als Staatsgast in Bonn – diese und andere Umstände bedeuteten auch eine öffentliche Aufwertung der Regime und hatten eben bis in die späten achtziger Jahre hinein nicht zu einem Wandel der Gesellschaftssysteme geführt, auf den Brandt und Bahr gesetzt hatten. Es waren auch diese Vorbehalte, die Tadeusz Mazowiecki und Lech Wałęsa im Jahre 1989 unerfreut reagieren ließen, als Helmut Kohl am 9. November einen als große Versöhnungsgeste geplanten Staatsbesuch in Polen unterbrechen musste, weil sich in Berlin die Tore der Mauer geöffnet hatten. Aber die »Neue Ostpolitik« blieb, gerade weil sie durch ihre pazifistischen Ansätze von allen »Ostpolitiken«, die Deutschland während des Kaiserreiches, der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus verfolgt hatte, so grundverschieden war, nicht ohne Strahlkraft auf die Oppositionsbewegungen. Polens erster Botschafter im wiedervereinigten Deutschland, Janusz Reiter, würdigte mit Blick auf sein Land Willy Brandts Werk, ohne ihn zu nennen: Wir neigen heute sehr stark dazu, das Jahr 1989 als den Beginn der europäischen Entwicklung zu betrachten, im Grund genommen als den Beginn unserer politischen Neuzeit. Das ist die Wende in Europa, und das stimmt auch. Aber im politischen Sinn, wenn man den Blick etwas weiter öffnet, dann war das Jahr 1970 die Wende im deutsch-polnischen Verhältnis.21
In mancher Hinsicht war auch die KSZE-Schlussakte des Jahres 1975 von Helsinki Ausfluss der »Neuen Ostpolitik« im Kontext der internationalen Entspannungsbemühungen. Dort wurden neben den Aspekten der Sicherheit und Zusammenarbeit auch die Menschen- und Grundrechte als allgemeingültig über Systemgrenzen hinweg anerkannt. Dies half der Solidarność; dies half der Gruppe Charta 77; mit ihr argumentierte der lange internierte Andrej Sacharov auf dem sowjetischen Volksdeputiertenkongress im Sommer 1989 in Moskau. Insofern ist Timothy Garton Ash in seinem Urteil teilweise zu revidieren. Der Hauptanstoß für den Zusammenbruch des Kommunismus und die Wiedervereinigung Deutschlands in den Jahren 1989/1990 ging jedoch von der Sowjetunion selbst aus. So wie der Weg zu den Ostverträgen mit der Übereinkunft in Moskau begann, so stand auch am Anfang des Weges zur deutschen Wiedervereinigung die sowjetische Politik, als der »imperial overstretch« der Supermacht und die dies erkennende Politik Michail Gorbatschows der Perestrojka und Glasnost’ die Lösung der deutschen Frage ermöglichten, den Kommunismus unfreiwillig beerdigten, sich Gesellschaften und Bündnissysteme neu ordneten – bis hin zur Integration der ostmittel- und nordosteuropäischen Staaten in die Europäische Union und in die NATO. Das Ende des Kommunismus bedeutete aber auch die völkerrechtliche Fixierung des Warschauer Vertrages für das ganze Deutschland. Die Regierung Kohl schloss Ende 1990 einen Friedensvertrag, der die Brandtsche Anerkennung der
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Oder-Neiße Linie aufgriff und in eine umfassende friedensvertragliche Absicherung für Deutschland überführte. Als über diesen Vertrag abgestimmt wurde, waren etwa zwei Jahrzehnte nach der Ratifizierung des Warschauer Vertrages die gesellschaftspolitischen Stimmungen wie die Rahmenbedingungen andere. So stimmten lediglich wenige Abgeordnete der Union um Erika Steinbach dem Vertragswerk nicht zu. Der Grundgedanke der »Neuen Ostpolitik« des Miteinanders sowie gutnachbarschaftlicher Beziehungen und die Akzeptanz der Ergebnisse des Jahres 1945 waren Konsens geworden. Literatur Dieter Bingen, Die Polenpolitik der Bonner Republik von Adenauer bis Kohl 1949–1997, Baden-Baden 1998. Friedhelm Boll / Wiesław Wysocki / Klaus Ziemer (Hg.), Versöhnung und Politik. Polnisch-deutsche Versöhnungsinitiativen der 1960er Jahre und die Entspannungspolitik, Bonn 2009 (Archiv für Sozialgeschichte, Beiheft 27). Thomas Brechenmacher / Michael Wolffsohn, Denkmalsturz? Brandts Kniefall, München 2005. Stefan Creuzberger, Westintegration und Neue Ostpolitik. Die Außenpolitik der Bonner Republik, Berlin 2009 (Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert, Bd. 14). Basil Kerski / Thomas Kycia / Robert Zurek, »Wir vergeben und bitten um Vergebung«: Der Briefwechsel der polnischen und deutschen Bischöfe 1965, Osnabrück 2006. Gottfried Niedhardt / Oliver Bange, Die »Relikte der Nachkriegszeit« beseitigen. Ostpolitik in der zweiten außenpolitischen Formationsphase der Bundesrepublik Deutschland im Übergang von den Sechziger- zu den Siebzigerjahren, in: Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), S. 415–448. Christoph Schneider, Der Warschauer Kniefall. Ritual, Ereignis und Erzählung, Konstanz 2006.
Anmerkungen 1 Willy Brandt, Erinnerungen, Frankfurt 51993, S. 238. 2 Willy Brandt, Frieden. Reden und Schriften des Friedensnobelpreisträgers, Bonn 1971, S. 166. 3 Seine Regierungserklärung zitiert nach: http://www.bwbs.de/UserFiles/File/PDF/Regierungserklaerung691028.pdf (letzter Zugriff: 25.1.2010). 4 Ebda. 5 Ebda. 6 Edgar Wolfrum, Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bonn 22007, S. 294. 7 Diese Formulierung wurde 1970 gegen Brandt selbst gewendet. Brandt, Erinnerungen [wie Anm. 1], S. 216f. 8 http://www.ekd.de/EKD-Texte/45952.html (letzter Zugriff: 25.1.2010). 9 http://www.berlin.polemb.net/index.php?document=312 (letzter Zugriff: 25.1.2010). 10 Bahrs Rede in Tutzing zitiert nach: http://www.1000dokumente.de/index.html?c=dokument_ de&dokument=0091_bah&object=translation&st=&l=de (letzter Zugriff: 19.2.2010). 11 Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 8. Dezember 1970, Nr. 171, S. 1815. 12 Adam Krzemiński, Der Kniefall, in: Etienne François / Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 1, München 52003, S. 638–653. 13 Brandt, Erinnerungen [wie Anm. 1], S. 214f. 14 Hans-Christian Petersen, Der polnische März 1968. Nationales Ereignis und transnationale Bewegung, in: Osteuropa 58 (2008), H. 7, S. 71–87. 15 Gottfried Niedhardt, Zustimmung und Irritationen: Die Westmächte und die deutsche Ostpo-
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Ostverträge 1970/72
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litik 1969/70, in: Ursula Lehmkuhl / Clemens Wurm / Hubert Zimmermann (Hg.), Deutschland, Großbritannien, Amerika. Politik, Gesellschaft und Internationale Geschichte im 20. Jahrhundert. Festschrift für Gustav Schmidt zum 65. Geburtstag, Stuttgart 2003, S. 227–245, hier S. 227. Die Zeit vom 24. Dezember 1965, Nr. 52. Egon Bahr, Zu meiner Zeit, München 1996, S. 415. Zitiert nach: Peter Merseburger, Willy Brandt, 1913–1992. Visionär und Realist, Stuttgart 2002, S. 621. Quelle: http://www.1000dokumente.de/pdf/dok_0023_gru_de.pdf (letzter Zugriff: 10.3.2010). Timothy Garton Ash, Im Namen Europas. Deutschland und der geteilte Kontinent, München 1993, S. 549. Janusz Reiter, zitiert nach: Deutsche Welle, Kalenderblatt 7.12.1970, http://www.kalenderblatt.de/ index.php?what=thmanu&page=1&manu_id=731&tag=7&monat=12&year=2008&dayisset=1&la ng=de (letzter Zugriff: 18.1.2010).
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Tim Schanetzky
Ölpreisschock 1973 Wendepunkt des wirtschaftspolitischen Denkens
Im Oktober 2007 plauderte der Deutschen liebster Kanzler mit »Zeit«-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo über die Frage, wann es Regierungen erlaubt sei, Ängste zu schüren. Helmut Schmidt sah darin nur ein legitimes Mittel der Politik, wenn besondere sachliche Gründe seinen Einsatz rechtfertigen würden. Die erste Ölpreiskrise sei so eine Situation gewesen. Als direkte Reaktion auf den JomKippur-Krieg hatten die arabischen OPEC-Staaten im Spätherbst 1973 ihre Liefermengen gedrosselt, um die Verbündeten Israels unter Druck zu setzen. Dass die Bundesregierung für mehrere Sonntage allgemeine Fahrverbote verhängte, zielte vor allem auf die Öffentlichkeit. »Wir wollten klarmachen: Weil das ein ernster Abschwung ist, können wir manche der Dinge, die wir versprochen haben, gegenwärtig nicht finanzieren«, erinnerte sich Schmidt.1 Kaum ein politisches Symbol in der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik hat sich als so wirksam und folgenreich erwiesen wie dieses Sonntagsfahrverbot. Leere Autobahnen machten abstrakte Veränderung von Preisrelationen ganz unmittelbar erfahrbar, und so begegneten die Westdeutschen dem ersten autofreien Sonntag mit einer »Art von Luftschutzkeller-Solidarität«. Ausgenommen war davon die Mineralölindustrie, deren Kundschaft sich über vervierfachte Preise bei gutgefüllten Lagern ärgerte. Unschöne Erinnerungen an die Not der Nachkriegsjahre weckte eine Tankstellenpächterin am Mainzer Kaiser-WilhelmRing: »Wen ich nicht kenne, der kriegt nichts.« Im Westerwald zeigte sich ein Tankwart konzilianter und wollte einem unbekannten Kunden 15 Liter zuteilen. Dem Fahrer eines silbergrauen Mercedes 280 SE war das entschieden zu wenig – er zückte seine Pistole und verließ das idyllische Wallmerod mit 72,1 Litern Super. Nach dem ersten autofreien Sonntag vom 25. November 1973 berichtete der »Spiegel« aber nicht nur von der Tankstellenfront, sondern schilderte auch die Wiederinbetriebnahme von Dampflokomotiven, Holzvergasern oder Brauereipferden. Mokant verwiesen die Reporter auf das Vorbild eines pensionierten Chemielehrers in Jackson im US-Bundesstaat Michigan. Nur »etwas Druck und Hitze« benötigte Floyd Wallace, um aus Gartenabfällen sein eigenes Benzin zu destillieren.2 Schon den damaligen Beobachtern war bewusst, wie weit die Ereignisse über das Faktum einer plötzlich lahmgelegten Gesellschaft hinauswiesen, und mehr noch als die zeitgenössische Wahrnehmung stützt die geschichtswissenschaftliche Thematisierung der Ölkrise das Diktum vom symbolpolitischen Erfolg der Sonntagsfahrverbote. Einmütig erkennen die Zeithistoriker in den Krisenjahren
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Abb. 1: »Grenzen des Wachstums«: Fußgänger auf der Autobahn während des Sonntagsfahrverbots für Kraftfahrzeuge im Herbst 1973.
von 1973 bis 1975 den wohl tiefsten Einschnitt in der vierzigjährigen Geschichte der »alten« Bundesrepublik. In diese Phase fiel nicht nur jener Kanzlerwechsel von Brandt zu Schmidt, mit dem sich das politische ebenso wie das intellektuelle Klima grundlegend wandelte, sondern auch ein wirtschafts- und sozialpolitischer Umbruch. Dauerarbeitslosigkeit, staatliche Haushaltsdefizite und ein geschärftes Bewusstsein für die Endlichkeit der Ressourcen lösten die saturierte Prosperität der Wirtschaftswunderjahre ab. Auch verebbte die Reformeuphorie der Ära Brandt, während der von Schmidt verkörperte Pragmatismus gut in eine Zeit zu passen schien, die immer weniger Hoffnung in die Geltung staatlicher oder wissenschaftlicher Autorität setzte und damit zugleich die Grundlage für eine »Sorgen- und Schwermutsperiode«3 schuf, geprägt von Terrorangst und einem geschärften Bewusstsein für die Risiken von Atomenergie oder Nachrüstung. Die ganze Tragweite der Ölpreiskrise von 1973 wird freilich nicht ermessen können, wer sie nur als Symbol begreift, das eine Vielzahl allgemeiner Wandlungsprozesse lediglich repräsentiert. Und obgleich die Internationalität des Ereignisses leicht zu einer solchen Sicht verführt, war der Ölpreisschock auch kein Startpunkt für die Globalisierung. Wohl aber trug er maßgeblich zu einem fundamentalen Wandel der wirtschaftspolitischen Leitbilder bei, der im Folgenden genauer betrachtet wird. In einem ersten Schritt muss zunächst nach den wirtschaftspolitischen Handlungsoptionen der frühen siebziger Jahre gefragt werden – der Keynesianismus wurde bereits vor der Krise in Frage gestellt, und
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Ölpreisschock 1973
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zwar von internationalen Entwicklungen. In einem zweiten Schritt gilt es die Alternativen genauer zu betrachten. Aus der Ölpreiskrise folgte eine konjunkturelle Lage, die monetaristischen und angebotsökonomischen Alternativen zum Durchbruch verhalf; nun verschob sich der Fokus nachhaltig vom Staat auf den Markt. Besonders in dieser Hinsicht war die Krise langfristig folgenreich und schuf jene institutionellen Arrangements, von denen das Phänomen der Globalisierung überhaupt ermöglicht wurde.
1. Agonie des Weltwährungssystems Fragt man nach der weltwirtschaftlichen Verflechtung der Bundesrepublik und ihren daran eng geknüpften politischen Handlungsspielräumen, so muss der Ölpreisschock vom Spätherbst 1973 mit einem Ereignis in Zusammenhang gebracht werden, das weder in der zeitgenössischen Wahrnehmung noch aus heutiger Sicht auch nur annähernd an die Prominenz der Ölkrise heranreicht – wohl weil es an vergleichbaren politischen Symbolen ebenso mangelte wie an der nötigen Anschaulichkeit. Am 19. März 1973, ein halbes Jahr vor dem Jom-Kippur-Krieg, nahmen die westeuropäischen Devisenbörsen nach fast dreiwöchiger Zwangspause ihr Geschäft wieder auf – unter völlig neuen Bedingungen, die das Weltwährungssystem grundlegend veränderten. In gewisser Weise war erst jetzt die Nachkriegszeit zu Ende gegangen. Um die ganze Tragweite des Ereignisses zu erfassen, muss weit zurückgeblendet werden, und zwar bis in das letzte Jahr des Zweiten Weltkrieges, als die Finanzminister und Notenbankgouverneure von fast fünfzig Staaten in New Hampshire zusammenkamen und einen institutionellen Rahmen für die Zeit nach dem Krieg aushandelten. Mit der Vertragsunterzeichnung vom 22. Juli 1944 entstand eine Weltwirtschaftsordnung, die ganz auf die USA zugeschnitten war und von der die Nachkriegsjahre im westlichen Block entscheidend geprägt werden sollten – nach dem Namen des Tagungsortes in den White Mountains sprach man bald nur noch kurz vom Bretton-Woods-System. In dessen Zentrum stand ein ganz auf den Dollar ausgerichtetes Regime fester Wechselkurse. Während sich die nationalen Notenbanken verpflichteten, den Außenwert ihrer Währungen durch Interventionen am Markt stabil zu halten, wurde der Dollar mit Gold unterlegt. Darüber hinaus verständigte man sich auf die Gründung der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds. Das Bretton-Woods-System, an dessen Zustandekommen der britische Ökonom John Maynard Keynes als Politikberater maßgeblich mitgewirkt hatte, reflektierte die wirtschaftspolitischen Probleme der Zwischenkriegszeit – Inflation, Wechselkursrisiken, Zollprotektionismus – und sollte eine enge weltwirtschaftliche Verflechtung fördern. Stabile Wechselkurse, die den Regierungen ebenso wie
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den Unternehmen langfristige Planungssicherheit boten, waren dafür ein zentrales Instrument, und die Vorzüge lassen sich exemplarisch an der Bundesrepublik studieren, deren »Wirtschaftwunder« ja keineswegs nur auf den Fleiß der Aufbaugeneration oder auf die richtigen politischen Entscheidungen zurückzuführen ist. Fast alle Staaten Europas erzielten in den ersten beiden Nachkriegsdekaden ungewöhnlich hohe Wachstumsraten. Ökonomen und Historiker führen sie neben den Bedürfnissen des Wiederaufbaus vor allem auf die technologische Lücke zurück, die zwischen Europa und den USA schon während der zwanziger Jahre aufgerissen war. Für den Aufholprozess war die stabile Ordnung des Bretton-Woods-System die wichtigste Grundlage – auch in der Bundesrepublik. Dort liefen zwar Teile der Devisenbewirtschaftung noch bis 1958 weiter. Schon die Festsetzung des Wechselkurses auf 4,20 Mark je Dollar und die Mitgliedschaft bei Währungsfonds und Weltbank, spätestens aber die Regelung der deutschen Altschulden aus Vorkriegszeiten im Londoner Abkommen vom 27. Februar 1953 brachten die westdeutsche Wirtschaft wieder auf den Weltmarkt. Dabei zeigt das Beispiel des westdeutschen Exports, worin die besonderen Vorzüge des Festkurssystems lagen. Der Außenwert der D-Mark war gegenüber dem Dollar von Anfang an sehr niedrig angesetzt worden. Westdeutsche Produkte waren auf dem Weltmarkt deshalb (und zunächst auch wegen der niedrigen Lohnkosten) besonders wettbewerbsfähig. So erklärt sich ein dramatischer Anstieg des Außenhandels ab 1950, dessen Beitrag zum Bruttosozialprodukt binnen zehn Jahren von 20 auf 30 Prozent emporschnellte. Getragen wurde dieser Entwicklungssprung vom Export, dessen Anteil sich bis 1960 beinahe verdoppelte. Weitere zehn Jahre später trugen Im- und Export 34,3 Prozent zum Bruttosozialprodukt bei. Das westdeutsche Exportwachstum verlangsamte sich während der sechziger Jahre, und nun begannen jene strukturellen Nachteile des BrettonWoods-Systems hervorzutreten, die am Anfang der Siebziger schließlich zum Kollaps der Weltwirtschaftsordnung führen sollten. Der Exportboom brachte der Bundesrepublik hohe Zahlungsbilanzüberschüsse ein. Auf einem freien Devisenmarkt hätten sie zwangsläufig zur Aufwertung der D-Mark geführt; deutsche Güter würden sich im Ausland verteuert und sinkende Exporterlöse nach sich gezogen haben. Freilich stand die Vermeidung derartiger Wechselkursschwankungen ja gerade im Zentrum des Bretton-Woods-Systems. Deshalb fiel diese Lösung zwar nicht fort; sie wurde aber dadurch erschwert, dass die Regierungen über Anpassungen der Währungsparitäten zu entscheiden hatten. In der Bundesrepublik waren Aufwertungen extrem unpopulär – sie drohten Arbeitsplätze in der Exportwirtschaft zu vernichten und stießen bei den Interessenverbänden von Banken und Industrie, aber auch bei den Gewerkschaften auf energischen Widerstand. Deshalb blieb die D-Mark im Ausland zu lange zu billig, und dieses Zögern war nur um den Preis einer importierten Inflation zu haben. Weil es bei den Zahlungsbilanzüberschüssen blieb, erhöhten die Exporterlöse die inländische Geldmenge und dort über kurz oder lang auch die Preise.
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Genau davor warnte eine Reihe prominenter Ökonomen bereits im Frühjahr 1957. Der wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium forderte schon damals eine erste Aufwertung der D-Mark. Im Wahljahr verschwand seine Expertise allerdings in den Schubladen des Ministeriums, und als sich die Bundesregierung dann nach langen Auseinandersetzungen im März 1961 doch noch zu einer Aufwertung durchrang, kam diese zu spät und fiel mit 20 Pfennigen je Dollar viel zu zaghaft aus. Folglich stieg die Inflationsrate in der ersten Hälfte der sechziger Jahre auf knapp über drei Prozent, und schon im Sommer 1968 begann der nächste Aufwertungsstreit. Er sollte sich bis zur Bundestagswahl des nächsten Jahres soweit verschärfen, dass daran die Große Koalition zu zerbrechen drohte. Nach der Wahl wurde dann erneut moderat aufgewertet, und der Dollar kostete nun 3,68 Mark. Derlei politische Konflikte machten deutlich, dass der Außenwert der D-Mark rein instrumentell betrachtet wurde – entscheidend war Wirtschaftspolitikern und Finanzhütern vielmehr das Problem der Geldentwertung, die in der Bundesrepublik vor dem Hintergrund der Erfahrung zweier Währungsreformen unter besonders aufmerksamer Beobachtung stand. Und gerade mit Blick auf die Inflation trug das System von Bretton Woods maßgeblich zu einem politischen Dilemma bei: Die unabhängige Bundesbank hatte zwar den Vorzug, die Wählergunst bei ihren Entscheidungen nicht berücksichtigen zu müssen – aber als Hüterin der Geldwertstabilität konnte sie nur in einem engen Rahmen auftreten. Hob sie die Leitzinsen im Kampf um den Geldwert zu stark an, drohte die Zinsdifferenz ausländische Mittel ins Land zu locken. Demgegenüber besaßen die Wirtschafts- und Finanzpolitiker der Bundesregierung zwar die effektiveren Werkzeuge: Steuern konnten erhöht, Staatsausgaben gesenkt, eine weitere Aufwertung der Mark konnte beschlossen werden. Aber dies blieben theoretische Optionen, weil alle Maßnahmen politisch höchst unpopulär waren und auf den Widerstand von Verbänden und Gewerkschaften stießen. Schon während der Währungskrisen der späten sechziger Jahre wurde zudem immer deutlicher, dass der internationale Inflationsdruck noch eine weitere Ursache hatte: Die USA finanzierten den Krieg in Vietnam mit hohen Schulden und betrieben eine legere Geldpolitik. Das Bretton-Woods-System erleichterte diese Strategie, weil der Dollar als wichtigste Reservewährung diente. Das zwang die Notenbanken, einen Teil der neu geschaffenen Dollar zu kaufen, um auf diese Weise den jeweiligen nationalen Wechselkurs zu verteidigen – zumindest auf absehbare Zeit. Schon 1970 begann die Flucht aus dem Dollar, und nun zeigte sich auch die ganze Wucht spekulativer Währungsgeschäfte. Der Zinsdifferenz wegen flossen 1971 allein in den ersten fünf Monaten Dollar im Wert von fast 20 Milliarden Mark in die Bundesrepublik, eine Summe, die rund 6,5 Prozent des westdeutschen Bruttoinlandsprodukts entsprach. Der sozialdemokratische Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller gab den D-Mark-Dollar-Kurs daraufhin probeweise frei. Als die USA ihre Währung am 15. August 1971 endgültig vom Gold
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lösten, folgten die meisten Staaten dem deutschen Beispiel. Erst im Dezember gelang die einstweilige Rückkehr zu festen Kursen; der Dollar kostete nun 3,27 Mark. Weil die USA an ihrer laxen Finanzpolitik festhielten, ging die Währungskrise weiter und führte zur dauerhaften Übertragung der Kursfindung auf den Markt. Der im März 1972 in der EWG gestartete europäische Wechselkursverbund (»Währungsschlange«) war eine unmittelbare Antwort auf diese Entwicklung, doch auch ihm gelang zunächst keine dauerhafte Stabilisierung, und im Sommer 1972 griff die Bundesregierung sogar zum letzten Mittel dirigistischer Kapitalverkehrskontrollen. Anfang 1973 brach das Festkurssystem dann vollends zusammen. Die »Gewalt spekulativer Kapitalbewegungen«4 konnte am 1. März 1973 beobachtet werden, als die Bundesbank an einem einzigen Tag Dollar im Wert von 7,5 Milliarden Mark aufkaufte. Nach der Schweiz und Japan gaben nun immer mehr Nationen ihren Dollarkurs frei. Der Wechselkurs ließ sich nicht mehr länger gegen den Markt verteidigen, und so mussten die Devisenbörsen schließen. Danach gaben die Staaten der »Währungsschlange« ihre Außenkurse gegenüber dem Dollar frei; er kostete nun 2,83 Mark.
2. Monetaristische Wende Es war diese Dauerkrise, die den weltwirtschaftlichen Rahmen für eine innenpolitische Zuspitzung abgab, ohne die das Drama des ersten Ölpreisschocks nicht verständlich wäre. Zwar brachte der Aufwertungsdruck der sozialliberalen Koalition den erbitterten Widerstand der Wirtschaft ein, verteuerten sich zwischen 1969 und 1973 doch die in Dollar abgerechneten Exporte um ein Drittel. Aber das entscheidende politische Problem war die Hilflosigkeit gegenüber der Geldentwertung. Die Inflationsrate stieg von zwei Prozent im Jahr 1969 bis 1971 auf knapp fünf Prozent und erreichte dann 1973 fast sieben Prozent, wobei der Preisanstieg der Mineralölprodukte dabei statistisch noch gar nicht voll zur Geltung kam. Der Bundesbank hingegen waren im Festkurssystem die Hände gebunden; ihr Leitzins stand längst am oberen Ende des internationalen Korridors, und auf einem überfluteten Eurodollar-Markt konnte sie die Liquidität der Banken kaum noch wirkungsvoll beschränken. Auch die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung war nicht dazu angetan, dem Inflationsdruck wirkungsvoll zu begegnen – im Gegenteil: Die Reformpolitik des Kabinetts Brandt kostete viel Geld, und so erhöhte sich das Volumen der öffentlichen Haushalte von 1970 bis 1973 jährlich um durchschnittlich 12,3 Prozent. Im gleichen Zeitraum nahm die Verschuldung um 9,75 Prozent pro Jahr zu, obwohl mehr Steuern eingenommen wurden. Weil der Staat aus dem Vollen schöpfte, mochten auch die Arbeitnehmer nicht zurückstehen. Die Bruttolohn- und
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Gehaltsumme je Beschäftigtem wuchs zwischen 1969 und 1974 durchschnittlich um 11,8 Prozent, allein 1970 um sagenhafte 16 Prozent, und in Teilen von SPD und DGB sprach man ganz offen davon, die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft testen zu wollen. Eine kaum aufzulösende Paradoxie prägte die sozialliberale Reformpolitik: Sie bewirkte einerseits die konjunkturunabhängige Ausdehnung der öffentlichen Haushalte, wodurch sie die Wirksamkeit einer antizyklischen Konjunktursteuerung systematisch untergrub. Andererseits setzte sie die Fähigkeit des Staates voraus, per keynesianischer Globalsteuerung auch künftig jederzeit hohes Wachstum zu schaffen. Die zeitgenössische Wahrnehmung freilich war weniger komplex – die Inflationsrate wurde bald zum alleinigen Gradmesser für die Überforderung der Wirtschaftspolitik. Schon 1972 schaukelte sich das Bedrohungsszenario zu einer regelrechten Hysterie auf. Dazu trug besonders die innenpolitische Zuspitzung nach dem gescheiterten Misstrauensvotum gegen Willy Brandt bei. Im Wahlkampf griffen die Unionsparteien die tief im kollektiven Gedächtnis verankerte Angst vor dem Geldwertschwund immer wieder auf und spielten sogar auf die Währungsreform von 1948 an. Außerdem kalkulierten die Bürger den Geldwertschwund inzwischen fest ein und handelten entsprechend. Beispielhaft zeigte das der Bauboom der Jahre 1970 bis 1973. Die Geldanlage in »Betongold« schien Sicherheit zu bieten, obwohl die gewaltige Immobiliennachfrage ihren Teil zur Inflation beitrug; so war der Bau einer Sozialwohnung 1972 nominell gut 50 Prozent teurer als drei Jahre zuvor. Nun rächten sich Entscheidungen, die noch gar nicht lange zurücklagen. Gerade die Wirtschaftspolitiker hatten wesentlich zum allgemeinen Planungsoptimismus beigetragen und 1967 im Stabilitäts- und Wachstumsgesetz klare gesamtwirtschaftliche Ziele festgeschrieben: stetiges Wirtschaftswachstum, geringe Arbeitslosigkeit, außenwirtschaftliches Gleichgewicht, stabiles Preisniveau. Am »magischen Viereck« mussten sich die Konjunktur- und Währungspolitiker ebenso messen lassen wie an dem hohen Maßstab, den sie an ihr eigenes Verhalten angelegt hatten. Die Konjunkturpolitik gab vor, »wissenschaftlich« zu sein, sich an nüchternen Lageanalysen zu orientieren und lediglich die aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht jeweils »richtigen« Instrumente zum Einsatz zu bringen. Wer dieses Denken angesichts der offensichtlichen Überforderung durch die Geldentwertung in Frage zu stellen begann, fand Orientierung bei einem amerikanischen Ökonomen, der nun von der Peripherie ins Zentrum seiner Zunft rückte. Milton Friedman hatte bereits seit vielen Jahren verkündet, dass die wissenschaftliche Entscheidungsvorbereitung des keynesianischen Regierens wertlos sei, weil Politiker fast immer zu spät und unzureichend handeln würden. Statt die Konjunktur zu stabilisieren, verstärke die Globalsteuerung die zyklischen Ausschläge. Friedman rückte die Geldmenge ins Zentrum. Wenn ihr Wachstum strikt beschränkt und verstetigt werde, löse das automatisch alle übrigen Pro-
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bleme: Inflation, Konjunkturschwankungen, Währungskrisen. Der Monetarismus versprach einfache Lösungen für die täglich sichtbare Ineffizienz der keynesianischen Politik. Wenn Politiker das aus ökonomischer Sicht »Richtige« nicht umsetzten, musste ihnen die Pflicht zur permanenten Intervention genommen werden. »Rules versus authority« – das war der Kern der monetaristischen Botschaft, die in der Bundesrepublik bemerkenswert früh gehört wurde. Das wichtigste wirtschaftspolitische Beratungsgremium griff sie schon im Spätherbst 1972 auf. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung forderte eine zentrale Rolle der Geldpolitik bei der Inflationsbekämpfung, und wer die Expertise genau las, konnte sehen, dass hier die grundlegende Neuordnung der wirtschaftspolitischen Kompetenzen skizziert wurde. Weil die Stabilisierung von Konjunktur und Geldwert gescheitert war, sollte künftig die »wirksame autonome Kontrolle der Geldversorgung« im Mittelpunkt stehen, und dazu waren dauerhaft flexible Wechselkurse notwendig. Anders gesagt: Die Wirtschafts- und Finanzpolitik sollte entmachtet werden, und zwar vom konjunkturpolitischen Steuerungsanspruch ebenso wie von der Zuständigkeit für den Außenwert der Währung. Beides sahen die Wirtschaftsweisen besser in den Händen der Bundesbank aufgehoben, die auf die Wählergunst keine Rücksicht zu nehmen hatte. Allerdings glaubten die Experten längst nicht mehr an eine reibungslose Rückkehr zu stabilen Preisen, die sie von der Bereitschaft abhängig machten, »notfalls auch vorübergehend geringe Abstriche bei den Zielen Wachstum und hoher Beschäftigungsstand zu machen«.5 Die Berater wollten die Gewöhnung an die Inflation brechen – auch dann, wenn dies auf eine Stabilisierungskrise hinauslief, und die politische Konstellation des Winters 1972/73 erleichterte die monetaristische Wende. Überzeugte Keynesianer wie Karl Schiller, die Wirtschafts-Staatssekretäre Klaus-Dieter Arndt und Johann Schöllhorn, aber auch der Finanzminister Alex Möller hatten der Bundesregierung längst den Rücken gekehrt. Als das »Superministerium« für Wirtschaft und Finanzen nach der Wahl vom 19. November 1972 wieder aufgeteilt wurde, übernahm mit Hans Friderichs ein typischer Vertreter des FDP-Unternehmerflügels das Wirtschaftsressort. Er signalisierte sofort Sympathie für eine veränderte Funktion der Geldpolitik, und auch Finanzminister Helmut Schmidt deutete an, dass er die Entlastung der Haushaltspolitik von übertriebenen Erwartungen nur begrüßen könne. Es war ganz offensichtlich: Auf dem Fundament einer stabilen parlamentarischen Mehrheit wollte die sozialliberale Regierung gegen die Geldentwertung einschreiten. Aber erst als die Geldpolitik im März 1973 nach der Freigabe des Dollarkurses und dem Untergang des Bretton-Woods-Systems über den nötigen internationalen Handlungsspielraum verfügte, war der Weg für die monetaristische Wende frei. Sofort hob die Bundesbank die Leitzinsen an, so dass der Diskontsatz bereits im Juni bei sieben Prozent stand. Die Bundesregierung unterstützte die Zentral-
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bank demonstrativ, indem sie zwei finanzpolitische Stabilitätsprogramme auf den Weg brachte. Schon in der zweiten Jahreshälfte zeigte diese Notbremse Wirkung. Das Konjunkturklima kühlte sich ab, und der Boom drohte in eine hausgemachte Rezession umzuschlagen – im Herbst war bereits eine Zunahme von »Kurzarbeit, Entlassungen und Betriebsstilllegungen«6 zu beobachten. Trotz des Ölpreisschocks rieten die wissenschaftlichen Berater aber nicht nur dazu, den Bremskurs beizubehalten, sondern dabei bis »an die Grenze« zu gehen. Aus ihrer Sicht war die Krise das einzige Mittel gegen die »Dauerinflation«.7 Die Berater, das Bundesbankpräsidium, Spitzenbeamte in Wirtschafts- und Finanzministerium, aber auch die Ressortchefs Friderichs und Schmidt – sie alle hatten eine Reinigungskrise im Sinn. Anders ließen sich die Ansprüche der reformfreudigen Parteiflügel und der Gewerkschaften offenbar nicht mehr zurückweisen, und anders schien auch der Teufelskreis aus Geldentwertung und Erwartung weiterer Inflation nicht mehr durchbrochen werden zu können. Die monetaristische Theorie schuf zum einen die Möglichkeit, den Prozess der sich über Erwartungsbildung selbst verstärkenden Inflation überhaupt als Problem formulieren zu können. Zum anderen lieferte sie einfache Antworten auf die brennenden Fragen der Jahre 1972/73, und diese hatten den Vorzug, die härtesten Entscheidungen auf die vom Wählervotum unabhängige Bundesbank zu übertragen.
3. Wachstum als Mittel und Aufgabe Gleichwohl verschob sich mit dem Ölpreisschock des Winters 1973/74 der wirtschaftspolitische Erwartungshorizont in dramatischer Weise. Alle Debatten der frühen siebziger Jahre hatten Wachstum und preiswerte Energie als Selbstverständlichkeiten vorausgesetzt und den Fokus ausschließlich auf die politische Steuerung des Booms gelegt. Als sich das Öl zwischen Oktober 1973 und Januar 1974 von drei auf elf Dollar je Barrel verteuerte, konnte sich kaum ein Wirtschaftsbereich den Auswirkungen entziehen: Überall, wo Öl zum Einsatz kam, drohten steigende Kosten, so dass ein genereller Preisanstieg folgen musste. In der Kalkulation der Unternehmen belasteten die gestiegenen Rohstoff- und Energiekosten die Erlöse und ließen den Spielraum für Investitionen sinken. Das traf Branchen wie die Textil-, Leder- und Schuhindustrie besonders schwer, da diese längst unter verminderter internationaler Wettbewerbsfähigkeit litten. Auch die Überkapazitäten der Stahl- und Schiffbauindustrie traten nun unverhüllt zu Tage, und der Absatz der Automobilindustrie brach sofort zusammen. Im Zusammentreffen des strukturellen Wandels mit der Kostenexplosion lag die eigentliche Brisanz des Ölpreisschocks. Die Wirtschaftspolitik befand sich in einem Zielkonflikt, weil die heraufziehende Konjunkturkrise nach Wachstumsimpulsen verlangte, die hohe Geld-
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entwertung aber eigentlich eine Fortführung des Bremskurses erforderte. Dem begegneten Bundesregierung und Zentralbank anfangs mit einer widersprüchlichen Strategie aus moderat expansiver Finanzpolitik und weiter scharf restriktiver Geldpolitik. Aussicht auf Erfolg hatte sie nur, wenn auch die Gewerkschaften mitmachten. Diese zeigten sich jedoch unnachgiebig. Weil die öffentliche Hand mit schlechtem Beispiel voranging und mit der ÖTV einen Pilotabschluss über elf Prozent aushandelte, trat zum äußeren Impuls der Energie- und Rohstoffpreise nun noch der interne Effekt drastischer Lohnsteigerungen hinzu. Angesichts der extrem knappen Geldversorgung konnten die Unternehmen die steigenden Lohnkosten aber nicht mehr auf die Preise abwälzen und mussten sparen – etwa an den Arbeitskosten, indem sie Stellen strichen. Als sich ab 1973 die Arbeitslosenquote jährlich verdoppelte, um 1975 fast fünf Prozent zu erreichen, war das nach Jahren der Vollbeschäftigung der schwerste Schock. Die eigentümliche Kombination aus monetaristischer Geld- und keynesianischer Konjunkturpolitik, deren ganze Tragweite 1974 noch undeutlich geblieben war, hatte die Lage fraglos verschärft. Vor allem die zweistelligen Tariferhöhungen folgten noch ganz der Logik der inflationären Lohn-Preis-Spirale und spekulierten auf einen schnellen Kurswechsel der Bundesbank – eine Fehleinschätzung. Derlei Anwendungsprobleme der monetaristischen Theorie hatten die wirtschaftswissenschaftlichen Experten schlicht übersehen; sie rieten nun eilends dazu, den geldpolitischen Kurs künftig »im voraus allen bekannt«8 zu machen. Tatsächlich verkündete die Bundesbank für 1975 erstmals ein Geldmengenziel, an dem sich Regierung und Tarifparteien orientieren sollten. Taten sie dies nicht, war ein weiterer Anstieg der Arbeitslosigkeit unvermeidbar – erst damit kam die »monetaristische Konterrevolution«9 zum Abschluss. Freilich: So effektiv die Zentralbank die Konjunktur 1973 bremsen konnte, so hilflos zeigte sie sich danach bei der Überwindung der Krise. Seit Oktober 1974 senkte sie die Leitzinsen, und die Finanzpolitik hatte schon im Sommer die Zügel gelockert. Dennoch schlitterte die Wirtschaft in die Stagflation, so dass einem Wachstum von real nur noch 0,5 Prozent eine Inflationsrate von beinahe 7 Prozent gegenüberstand. Im Jahr darauf rutschte die Konjunktur wegen der wegbrechenden Auslandsnachfrage dann endgültig ab. Bei nahezu unveränderter Geldentwertung (6,1 Prozent) sank das Bruttosozialprodukt 1975 um 1,6 Prozent, und das, obwohl die Fiskalpolitik bis an die Grenzen des »deficit spending« ging. Allein der Bund nahm 1975 neue Kredite von fast 30 Milliarden Mark auf, und die Schulden von Bund, Ländern und Gemeinden nahmen gegenüber dem Vorjahr um 69 Milliarden Mark zu. Nicht die Verschuldung als solche war problematisch, obschon sie einen immer größeren Anteil künftiger Staatshaushalte mit dem Schuldendienst belastete. Entscheidend war vielmehr, dass die antizyklische Konjunkturpolitik über große Ausgabenprogramme ebenso wenig zum Ziel kam, wie es die Zinssenkungen der Geldpolitik taten – beides führte nicht zur Belebung der unternehmeri-
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schen Investitionen. Sie war jedoch dringend erforderlich, um stärkeres Wirtschaftswachstum und neue Arbeitsplätze zu schaffen. Weil unternehmerische Entscheidungen aber nicht direkt zu beeinflussen sind, begannen zunächst die Experten des Sachverständigenrates mit der Entwicklung einer »angebotsorientierten Therapie«, der es darum ging, »die Bedingungen für das Investieren und den Wandel der Produktionsstruktur« zu verbessern. Geldwertstabilität sollte künftig die unhinterfragbare Grundvoraussetzung sein, und weil von den Unternehmen subsidiär getroffene Entscheidungen der politischen Steuerung überlegen waren, hatte der Staat sich zurückziehen. Die »Gewinnerwartungen« der Unternehmen rückten nun ganz in den Mittelpunkt, und deshalb sollte sich die Wirtschaftspolitik darauf beschränken, Rahmenbedingungen für ein positives »Investitionsklima« zu schaffen – etwa durch steuerliche Anreize oder Senkung von Ertragsteuern. Spätestens 1976 war die Umstellung der wirtschaftspolitischen Programmatik abgeschlossen, und im Kern hatte sie nur ein Ziel: Wachstum. Nach einer fast 25-jährigen Phase, in der hohes Wirtschaftswachstum den Westdeutschen zur Gewohnheit geworden war, rückte die Schaffung einer neuen Wachstumsdynamik nun wieder ganz in den Mittelpunkt. Dieser Zusammenhang wird häufig übersehen, weil die eingängigen Bilder des Ölpreisschocks – leere Autobahnen, Pferdefuhrwerke inmitten der autogerechten Stadt – die Wahrnehmung bis heute bestimmen und überdies in den Zusammenhang mit dem viel zitierten Bericht des »Club of Rome« über die »Grenzen des Wachstums« gestellt werden. Fraglos war die Ölkrise ein Wendepunkt, der die Entstehung eines breiten öffentlichen Bewusstseins für die Endlichkeit der Ressourcen und eine Schonung der Umwelt einleitete. Dieses verdichtete sich nicht nur in einem »alternativen« Lebensstil und in der Erweiterung des Drei-Parteien-Systems um die »Grünen«, sondern ging auch mit einer intensiven Debatte über Konzepte alternativen Wirtschaftens und die Chancen einer Gesellschaft im »Null-Wachstum« einher. Dennoch: Die etablierten Einrichtungen der ökonomischen Politikberatung vollzogen zu dieser Zeit eine klare Abkehr vom Keynesianismus und wandten sich angebotsökonomischen Alternativen zu. Auch aus Sicht der Regierung war Wachstum unverzichtbar, und so sorgte schon die Machtbalance des sozialliberalen Bündnisses für die Umsetzung des neuen Kurses – längst nicht nur auf Betreiben des liberalen Wirtschaftsministers und einer in der Wählergunst kräftig zulegenden FDP, die immer die Option einer schwarz-gelben Koalition besaß, sondern durchaus mit der Rückendeckung des Kanzlers. Ein erstes Signal dafür waren massive Steuerentlastungen für Unternehmergewinne mit der Körperschaftsteuerreform vom Juni 1976, und bis 1980 folgte eine Vielzahl steuerlicher Entlastungen für Unternehmen und Selbständige. Bis zur Hegemonie des neoliberalen Diskurses um die Jahrtausendwende war es zwar noch ein weiter Weg, und gegen das neue Paradigma wandten sich sofort Gegenexperten, Gewerkschafter und intellektuelle Kritiker aus den Sozialwissen-
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schaften. Letztlich unterstrich ihre Kritik aber den Eindruck, dass Mitte der Siebziger ein neuer Ton in die Debatten über die westdeutsche Wirtschaft gekommen war. Monetarismus und Angebotspolitik schalteten zwischen Individuum und Wirtschaftspolitik ausschließlich die Logik von Markt, Preis und Wettbewerb. Damit war nicht mehr die Gesellschaft in ihrer unübersichtlichen Gesamtheit der eigentliche Gegenstand der wirtschaftspolitischen Steuerung, sondern der anonyme Markt. Staatliche Wirtschaftspolitik sollte sich fortan auf Regulierung der über den Markt vermittelten Selbstregulierung beschränken – diese Überzeugung begann sich bereits im Zuge der Wirtschaftskrise von 1974/75 durchzusetzen, und auf lange Sicht liegt dort die folgenreichste Wirkung des ersten Ölpreisschocks.
4. Folgen Die Suche nach wirtschaftspolitischen Alternativen spiegelte eine tiefe Enttäuschung über das Versagen des Keynesianismus, dem die Krise das »Stigma des Misserfolgs« aufgeprägt hatte, wie Hans Friderichs im Dezember 1975 bündig resümierte. Die Leitbilder seiner Vorgänger erschienen ihm als »veraltete Konzepte«, deren Scheitern er auf »übersteigerte Erwartungen« und einen »unfundierten Glauben an eine weitgehende Machbarkeit der Politik« zurückführte.10 Zwar ging es nicht nur dem liberalen Wirtschaftsminister so: Gerade die internationalen Risiken der Wirtschaftskrise schufen ein verbreitetes Gefühl der Unsicherheit und ließen den wirtschaftspolitischen Einflussverlust des Staates offensichtlich werden. Aber vollständig wird das Bild erst, wenn die Erfolge der bundesdeutschen Krisenpolitik und vor allem ihre internationale Anerkennung nicht ausgeblendet werden. Dass die SPD 1976 mit dem Slogan »Weiterarbeiten am Modell Deutschland« in den Bundestagswahlkampf ziehen konnte, hing damit eng zusammen. Im Wahljahr wuchs die westdeutsche Wirtschaft nach ihrer tiefsten Krise wieder um 5,6 Prozent, und erstmals seit fünf Jahren sank die Inflationsrate wieder unter die Marke von 5 Prozent. Das waren beachtliche Erfolge – jedenfalls gemessen an den zweistelligen Steigerungsraten der Preisindizes, die zur selben Zeit Frankreich, Großbritannien und Italien verzeichneten, verbunden mit beträchtlichen Zahlungsbilanzproblemen und einer Zuspitzung der Verteilungskämpfe zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Auch in dieser Hinsicht wirkte die Bundesrepublik wie ein Hort der Stabilität, so dass gerade die breite Konsensbasis der bundesdeutschen Wirtschaftspolitik international besonders bewundert wurde. Dies verhalf Helmut Schmidt erst zu jenem Ansehen, das die Grundlage seiner Weltwirtschaftspolitik war: Im November 1975 begann mit dem ersten Weltwirtschaftsgipfel in Rambouillet der Versuch einer internationalen Koordi-
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Abb. 2: Wahlplakat der SPD im Bundestagswahlkampf 1976.
nierung zwischen den Regierungschefs der großen Industrienationen. Letztlich war die Gipfeldiplomatie der Versuch, verlorenen staatlichen Einfluss zurückzugewinnen. Auch die Idee eines Europäischen Währungssystems, die Schmidt und der französische Präsident Valéry Giscard d’Estaing einige Jahre später lancierten, folgte dieser Logik. Das Projekt diente dem Ziel stabiler Wechselkurse in Westeuropa, und zugleich bezweckte es eine Rückeroberung politischen Einflusses in der Währungspolitik – letzteres erklärt den erbitterten Widerstand der Bundesbank. Die Bundesrepublik kam im internationalen Vergleich nicht nur erstaunlich gut durch die Krise, sondern profitierte davon auch politisch. Fraglos ging dies auch auf die bemerkenswert frühe Adaption neuer ökonomischer Theorien zurück, denn bis Monetarismus und Angebotsökonomie auch in den USA oder in Großbritannien zum neuen Leitbild wurden, dauerte es noch eine Reihe von Jahren. Trotz gewaltiger wirtschaftlicher Probleme – Großbritannien stand seit Ende 1976 faktisch unter der Aufsicht des Internationalen Währungsfonds – hielten die
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dortigen Regierungen lange am keynesianischen Politikmodell fest, während der Glaube an die Steuerbarkeit der Konjunktur in der Bundesrepublik tief erschüttert war. Diese Ungleichzeitigkeiten prägten die Gipfeldiplomatie in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts, und erst die Zuspitzung der Lage führte ab Ende der Siebziger dann zu umso radikaleren Kurswechseln – von US-Notenbankpräsident Paul Volcker mit einer strikten Politik der Geldwertstabilisierung eingeleitet, die zum Fundament für »Thatcherism« und »Reaganomics« wurde. Zu den Widersprüchen und Ungleichzeitigkeiten gehört auch, dass die Programmatik von Monetarismus und Angebotsökonomie in der Bundesrepublik danach keine auch nur annähernd vergleichbare Prominenz erlangte wie in den angloamerikanischen Staaten. Obwohl auch in Westdeutschland die Diskurshoheit eindeutig bei den Programmatikern des Neoliberalismus lag, zumal nach der »Wende« von 1982, blieb es in der politischen Praxis bei einem pragmatischen und nach wie vor auf Konsens zielenden »Policy Mix« – so hatte ein Spitzenbeamter im Wirtschaftsministerium die Linie bereits kurz nach dem Regierungswechsel vom Herbst 1982 genannt.11 Erst die Sachzwänge der Globalisierung verhalfen diesem Diskurs auch in Deutschland zu hegemonialer Geltung, und hier wird man den Startpunkt unmöglich auf die Krise der Jahre 1974/75 legen können. Komplexe Prozesse lassen sich kaum exakt messen, aber als groben Anhaltspunkt wird man einen Index heranziehen können, mit dem Wissenschaftler an der ETH Zürich unterschiedliche Faktoren der Globalisierung erfassen. Er zeigt, dass die ökonomische Globalisierung in der Bundesrepublik erst während der achtziger Jahre an Fahrt aufnahm.12 Gerade deshalb ist es nicht ohne Ironie, dass die Ideologie von der Überlegenheit des Marktes erst mit reichlich Verspätung und gewissermaßen als Re-Import in die Bundesrepublik zurückkehrte, dorthin, wo wichtige Kernelemente bereits im Zuge des ersten Ölpreisschocks auf die politische Agenda gekommen waren. Literatur Barry Eichengreen, The European Economy since 1945. Coordinated Capitalism and Beyond, Princeton 2007. Jens Hohensee, Der erste Ölpreisschock 1973/74. Die politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen der arabischen Erdölpolitik auf die Bundesrepublik Deutschland und Westeuropa, Stuttgart 1996. Johannes von Karczewski, »Weltwirtschaft ist unser Schicksal«. Helmut Schmidt und die Schaffung der Weltwirtschaftsgipfel, Bonn 2008. Tim Schanetzky, Die große Ernüchterung. Wirtschaftspolitik, Expertise und Gesellschaft in der Bundesrepublik 1966–1982, Berlin 2007. Fritz W. Scharpf, Sozialdemokratische Krisenpolitik in Europa, Frankfurt a. M. 1987.
Anmerkungen 1 Zeit-Magazin vom 18. Oktober 2007, S. 62. 2 Alle Zitate in: Der Spiegel vom 26. November 1973, S. 28–33. 3 Die Zeit vom 5. Dezember 2002, S. 5.
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4 Harold James, Rambouillet, 15. November 1975. Die Globalisierung der Wirtschaft, München 1997, S. 153. 5 Sachverständigenrat, Jahresgutachten 1972/73, Ziff. 346. 6 Vetter an Brandt, 19. Oktober 1973, in: DGB-Archiv im Archiv der Sozialen Demokratie, 24/4942. 7 Sachverständigenrat, Jahresgutachten 1973/74, Ziff. 282–320. 8 Sachverständigenrat, Jahresgutachten 1974/75, Ziff. 316. 9 Thomas Schlüter, Zu einigen Aspekten der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik, in: Gert-Joachim Gläßner / Jürgen Holz / Thomas Schlüter (Hg.), Die Bundesrepublik in den siebziger Jahren. Versuch einer Bilanz, Opladen 1984, S. 95–112, hier: 104. 10 Hans Friderichs, Die Illusionen der Macher, in: Manager-Magazin 12/1975, S. 16–20. 11 Otto Schlecht, Konjunkturpolitik in der Krise, Tübingen 1983, S. 33f. 12 Axel Dreher, Does Globalization Affect Growth? Evidence from a new Index of Globalization, in: Applied Economics 38 (2006), S. 1091–1110.
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Harald Biermann
NATO-Doppelbeschluss 1979 Westliche Defensive oder Todesstoß für den Osten?
»Ein bißchen Frieden« – als die deutsche Sängerin Nicole mit ihrem Lied im April 1982 völlig überraschend den Grand Prix d’Eurovision gewann, hatte es den Anschein, als stehe die Sowjetunion unmittelbar vor einem großen außenpolitischen Triumph. Der Erfolg der gebürtigen Saarländerin versinnbildlichte die tiefe Friedenssehnsucht der Westeuropäer. Sie standen damals im Begriff, den kollektiven Widerstandswillen gegen die kommunistische Bedrohung aus dem Osten als ein Relikt der Vergangenheit zu bewerten. Anfang der achtziger Jahre wurde in weiten Teilen der westeuropäischen Öffentlichkeit die amerikanische Außenpolitik unter der Führung von Präsident Ronald Reagan als größere Bedrohung für den Frieden angesehen als die Kremlherrn um Leonid Breschnew. Wie konnte es dazu kommen?1
I. Zunächst ein Blick zurück auf den Januar 1969. Der Kalte Krieg hatte bereits seit mehr als zwanzig Jahren den Takt der Weltpolitik bestimmt, als Präsident Richard M. Nixon und sein Sicherheitsberater Henry A. Kissinger daran gingen, das Koordinatensystem der amerikanischen Außenpolitik grundlegend zu verändern. Das seltsame Gespann zielte auf eine völlige Umgestaltung des internationalen Systems. Vor dem Hintergrund der sich abzeichnenden Niederlage in Vietnam sowie in Anbetracht der Tatsache, dass die Sowjetunion Ende der sechziger Jahre Parität bei den strategischen Nuklearwaffen erreicht hatte, beschlossen die beiden Männer im Weißen Haus, den Grad der Konfrontation mit der kommunistischen Supermacht zu reduzieren. Als oberstes Ziel sahen Nixon und Kissinger die Vermeidung eines Nuklearkrieges an. Beide waren davon überzeugt, dass der Ausbruch eines Dritten Weltkrieges ihre ultimative Fehlleistung sein würde. Aber beide wollten nicht nur den ›Aufstieg zum Äußersten‹ – wie Carl von Clausewitz es genannt hat – vermeiden, sondern darüber hinaus ein festes Fundament für eine stabile Friedensordnung legen. Nixon und Kissinger wollten das internationale System auf eine neue Basis stellen. Sie waren gewillt, alte Zöpfe des Kalten Krieges abzuschneiden. Beide meinten zu spüren, an der Schwelle zu einer neuen Zeit zu stehen. Nixon und Kissinger wollten eine neue Friedensordnung etablieren, in welcher der Kalte
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Krieg viel von seinem Schrecken verlieren würde. Es war ihr Bestreben, das System der weltanschaulichen Dauerkonfrontation durch einen Frieden zu ersetzen, der auf Gleichgewicht aufgebaut war. Ihr Plan war äußerst ambitioniert. Denn er bedeutete in seiner Essenz nichts weniger als eine grundsätzliche Veränderung der außenpolitischen und damit der innenpolitischen Verfasstheit der Sowjetunion. Nixon und Kissinger wollten die UdSSR von einer revolutionären Macht zu einer Status-quo-Macht transformieren und auf diese Weise in eine stabile Ordnung einbinden. Doch damit nicht genug. Aus ihrer Perspektive standen auch auf amerikanischer Seite Veränderungen ins Haus. Die Außenpolitik der Vereinigten Staaten sollte ihrer »ostensiblen Missionsidee an die Menschheit«2 entkleidet werden. Mit den Worten von Henry Kissinger: »Unser Ziel war es, unserer Außenpolitik alle Sentimentalitäten auszubrennen.«3 Die ideologische Konfrontation mit dem weltpolitischen Gegenspieler sollte zurückgefahren werden, um dringend benötigten Manövrierraum zu gewinnen. Nixon und Kissinger setzten auf Realpolitik. Ihr Zauberwort hieß Entspannung. Mit dieser Parole fanden die beiden Männer große Resonanz in der Weltöffentlichkeit. Allerdings setzten sie nicht – wie vielfach angenommen wurde und zum Teil noch immer angenommen wird – auf ein Ende der Konkurrenz mit der Sowjetunion, sondern suchten lediglich nach einem weniger gefährlichen Weg, um den Wettbewerb zu organisieren. Dass dieser Entspannungskurs mit vielen Risiken verbunden war, stand den beiden Männern im Weißen Haus klar vor Augen. Die Liste ihrer Sorgen war lang: Zuerst galt es zu klären, ob die amerikanischen Bürger überhaupt gewillt waren, die weiterhin bestehende Dauerkonkurrenz mit der Sowjetunion ohne die weltanschauliche Konfrontation fortzuführen. Darüber hinaus wussten Nixon und Kissinger, dass ihr Entspannungskurs die Fundamente der amerikanischen Allianzen unterspülen würde. Denn gleichsam über Nacht erschien der Kreml nun nicht mehr als todbringende Bedrohung aus dem Osten, sondern als beinahe normaler Verhandlungspartner. Kurzum: Der allianzpolitische Kitt der NATO ging Schritt für Schritt verloren. Dies zumal, da die europäischen Partner – allen voran die von Willy Brandt geführte Bundesrepublik Deutschland – ebenfalls eigenständige Entspannungsschritte unternahmen, die allerdings mit weniger skeptischem Realismus durchtränkt waren als die amerikanischen Initiativen. Ferner zeichnete sich perspektivisch ein Problem ab, das zu Beginn der achtziger Jahre den inneren Zusammenhalt der europäischen NATO-Staaten hochgradig gefährden sollte: das offenkundige Misstrauen großer Teile der Bevölkerung in die Notwendigkeit der atomaren Abschreckung. Die Sicherheit Westeuropas hatte im Atomzeitalter in letzter Konsequenz stets auf dem Schutz durch amerikanische Kernwaffen beruht. Die nukleare Abschreckung hatte sich über die Jahrzehnte der Konfrontation zu einem höchst komplizierten System entwickelt, in welchem der vielfach apostrophierte »gesunde Menschenverstand« kaum mehr weiterhalf, ja sogar hinderlich sein konnte, um
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die allseits angestrebte Stabilität der »mutual assured destruction« – also der wechselseitigen Gewissheit eines immer noch tödlichen Zweitschlages des jeweiligen Widersachers – zu garantieren. Besonders für den potenziellen Kriegsschauplatz Europa hatte sich die NATO auf eine Doktrin verständigt, welche den Ersteinsatz von Nuklearwaffen axiomatisch festschrieb. Die Planer in den Stäben – und die Politiker sind ihnen darin gefolgt – versuchten auf diese Weise, die konventionelle Überlegenheit der Truppen des Warschauer Pakts zu konterkarieren. Vor allem für die Vereinigten Staaten war es essenziell, dass die NATO auch auf diesem nuklearen Pfeiler ruhte, denn seit den frühen Jahren des Nordatlantikpaktes lautete der amerikanische Glaubenssatz: »No nukes, no troops!« Im Umkehrschluss ist festzuhalten, dass eine Entnuklearisierung Europas unweigerlich einen amerikanischen Rückzug zur Folge gehabt hätte – ein Szenario, das die westeuropäischen Staatsmänner regelmäßig in Furcht und Schrecken versetzt hat.
II. Auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs wurde der mögliche Abzug der amerikanischen Truppen aus Europa naturgemäß vollständig anders bewertet: Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war die Trennung des alten Kontinents von der Neuen Welt eines der Hauptziele der sowjetischen Außenpolitik. Von Josef Stalin bis Konstantin Tschernenko – also von 1945 bis 1985 – verfolgten die Kremlherren diese Maxime, die auch für die Anfangszeit von Michail Gorbatschow ihre Gültigkeit behalten sollte. Sie war für die sowjetischen Außenpolitiker im Laufe des Kalten Krieges zu einer »unspoken assumption«4 geworden: Die Männer im Kreml sprachen vielleicht selten über die Vertreibung der Amerikaner vom europäischen Festland, doch ohne Berücksichtigung dieser übergeordneten Zielsetzung bleibt die sowjetische Außenpolitik letztlich unerklärlich. Die Entspannungspolitik von Nixon und Kissinger traf in der UdSSR nicht nur auf offene Ohren, sondern fand in Leonid Breschnew sogar einen begeisterten Partner. Détente war für den Generalsekretär der KPdSU zu einem persönlichen Anliegen geworden. Zutiefst geprägt durch seine Erlebnisse während des Zweiten Weltkriegs unternahm Breschnew alles, um den Ausbruch eines großen Krieges zu vermeiden. Auch ihm erschien Entspannung als bester Weg zu diesem Ziel, auch er bewertete Détente nicht als Ende der harten Dauerkonkurrenz mit den Vereinigten Staaten, sondern als besonders geschickten Weg, um diese Konfrontation langfristig für die Sowjetunion zu entscheiden. Als überzeugter Kommunist glaubte Breschnew nämlich fest daran, dass der Triumph der sowjetischen Ideologie nur eine Frage der Zeit sei. Allerdings nur unter einer Prämisse, näm-
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lich dann, wenn es ihm tatsächlich gelänge, Frieden mit den Vereinigten Staaten von Amerika zu halten. Das Politbüro-Mitglied Andrej P. Kirilenko brachte Mitte der siebziger Jahre die in Moskau vorherrschende Sichtweise auf den Punkt: »Détente […] schafft günstige Voraussetzungen für nationale Befreiungskämpfe und für den sozialen Fortschritt.«5 Der Kreml hatte – anders als Nixon und Kissinger gehofft hatten – weder die ideologische Auseinandersetzung eingestellt noch in die Bewahrung des Status quo eingewilligt. Dass die Entspannungspolitik ausgerechnet in der Dritten Welt Schiffbruch erlitt, kann aus der Rückschau nicht überraschen. Im Gegensatz zu Europa waren auf der südlichen Hemisphäre die Grenzen zwischen den Einfluss- und Machtbereichen der beiden Supermächte fließend. In den Konflikten um diese Grauzonen zerbrach die Entspannungspolitik. Nach der blutigen Niederlage der Vereinigten Staaten in Vietnam und vor dem Hintergrund der strukturellen Schwächung der amerikanischen Präsidenten in den siebziger Jahren entwickelte sich in der Sowjetunion eine ideologisch grundierte Euphorie. Es schien, als sei die UdSSR unaufhaltsam auf dem Vormarsch. Der Sieg des Kommunismus lag gleichsam in der Luft. Ohne Zweifel war Moskau in der Offensive, folgerichtig verharrte Washington in der Defensive. Offensive und Defensive sind zwei Kernelemente des internationalen Systems, sie sind dynamisierende Faktoren der Staatenkonkurrenz auf höchster Ebene. Klein- und Mittelstaaten spielen auf dieser Stufe übrigens in aller Regel keine Rolle. Offensive und Defensive können bereits existierende Entwicklungen beschleunigen oder abbremsen. Auch in der anarchischen Staatenwelt ist nichts erfolgreicher als der Erfolg. Nur ein Beispiel: Ein aufsteigender Staat wird viel leichter Gefolgschaft finden als sein absteigender Konkurrent. Kein Regierungschef der Welt wird beispielsweise das Schicksal seines Staates an eine Macht knüpfen, von der er befürchten muss, dass sie in naher Zukunft nicht mehr in der Lage sein wird, ihren Verpflichtungen nachzukommen. Daher ist es nur folgerichtig, dass Staaten in der Offensive leichter Bündnispartner gewinnen als Mächte, die in der Defensive verharren müssen. Der wellenförmige Verlauf des Kalten Krieges und die wechselhaften Konjunkturen der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten sind Ausdruck dieses übergreifenden Phänomens, das unzweifelhaft im psychologischen Bereich angesiedelt ist. Abschließend sei zur Unterstreichung des hohen Grades an Subjektivität noch angemerkt, dass zwei Beobachter mit identischen Informationen zu höchst unterschiedlichen Bewertungen gelangen können. Bestes Beispiel hierfür sind die diametral entgegensetzten Beurteilungen von aufeinander folgenden Präsidenten im Januar 1961: Während der alternde General Dwight D. Eisenhower die USA auf dem Höhepunkt ihrer Macht sah, glaubte sein Nachfolger John F. Kennedy daran, dass die Vereinigten Staaten mit dem Rücken zur Wand stünden. Der unerfahrene Berufspolitiker aus Massachusetts war gewiss, dass die »Stunde der höchsten Bedrohung«6 unmittelbar bevorstehe.
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Ein ähnlich zerrissenes Bild ließe sich für die Mitte der siebziger Jahre entwerfen: Während die Sowjetunion Erfolg an Erfolg zu reihen schien, gerieten die Vereinigten Staaten immer tiefer in einen Abstiegsstrudel, der sich scheinbar noch verstärkte, als Präsident Jimmy Carter am 20. Januar 1977 das Ruder in Washington übernahm. Erst aus der Rückschau wird offensichtlich, was der finnische Historiker Jussi M. Hanhimäki hellsichtig herausgearbeitet hat: Das im Schatten der Entspannungspolitik vorangetriebene Ausgreifen der UdSSR in die Dritte Welt überdehnte die im Vergleich zu den Vereinigten Staaten ohnehin weitaus schmalere Machtbasis der Sowjetunion vollständig.7 Diese außenpolitischen Abenteuer trugen zweifelsohne massiv zur Existenzkrise der UdSSR in den achtziger Jahren bei. Dass die Entspannungspolitik – vollständig im Gegensatz zu den eigentlichen Intentionen – zum Sturz des Kommunismus beigetragen hat, ist somit eine der ganz grundsätzlichen Paradoxien des Kalten Krieges.
III. Doch davon war im Herbst 1977 nichts zu spüren, im Gegenteil: Als Helmut Schmidt während einer Rede in London auf das Ungleichgewicht bei den Mittelstreckenraketen in Europa aufmerksam machte, schien dies für viele Beobachter nur ein weiteres Indiz für die fortgesetzte sowjetische Offensive. Die Aufrüstung der UdSSR mit SS-20-Raketen beunruhigte den sozialdemokratischen Bundeskanzler. Er befürchtete, dass die Kremlführung – interessanterweise dachte er bei dieser Einschätzung nicht in erster Linie an Leonid Breschnew, sondern an einen potenziellen Nachfolger vom Schlage eines Hasardeurs wie Nikita Chruschtschow – die eklatante Überlegenheit bei den Mittelstreckenwaffen nutzen werde, um die europäischen NATO-Staaten politisch erpressen zu können. Am Ende seiner Schreckensvision stand die Bundesrepublik ohne den atomaren Schutz der Vereinigten Staaten einer sowohl konventionell als auch nuklear übermächtigen Sowjetunion gegenüber. Der kühle Hanseat machte sich keinerlei Illusionen über den Ausgang einer solchen Konfrontation. Die tiefe Sorge Schmidts wurde noch verstärkt durch sein abgrundtiefes Misstrauen gegenüber Jimmy Carter. Der Bundeskanzler fühlte sich dem amerikanischen Präsidenten nicht nur turmhoch überlegen, sondern ließ es den Mann im Weißen Haus auch deutlich spüren. »Das Zerwürfnis«8 lag allerdings nicht nur in der Unfähigkeit und dem Wankelmut Carters begründet, wie von deutscher Seite immer unterstellt worden ist, sondern auch Schmidt und seine Mannen trugen ein hohes Maß an Mitverantwortung für diese Entwicklung. Die deutschen Positionen waren in vielen Einzelfragen nicht so eindeutig und keineswegs so stringent, wie es der Bundeskanzler zeitgenössisch dargestellt hat.
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Der Konflikt entzündete sich an der wichtigsten Frage im bilateralen Verhältnis überhaupt: an der Rolle der Atomwaffen. Schon traditionell stellten sich die schwersten Auseinandersetzungen innerhalb der NATO bei Nuklearfragen ein. Die großen Verwerfungen der sechziger Jahre hatten durch die Einsetzung der »Nuclear Planning Group« 1966 sowie durch die Festschreibung der »flexible response« ein Jahr später einigermaßen beigelegt werden können, wobei jedoch dem Prinzip der »abgestuften Antwort« eine gewisse Konturlosigkeit anhaftete. Denn wie sich rasch herausstellte, waren die europäische – in erster Linie die deutsche – Interpretation und die amerikanische Deutungsweise nur äußerst schwer zur Deckungsgleichheit zu bringen. Während die deutsche Seite – verkürzt gesprochen – auf einen möglichst frühen Einsatz von Nuklearwaffen setzte, um die inhärente Abschreckungswirkung zu erhöhen, plädierte die amerikanische Seite für ein möglichst langes Hinauszögern des atomaren Ersteinsatzes – nicht zuletzt deshalb, weil sie befürchtete, dass das Überschreiten der nuklearen Schwelle eine unweigerliche Eskalation nach sich ziehen würde und damit auch die Vereinigten Staaten zum Ziel sowjetischer Angriffe würden. Dass diese Unterschiede auf der hohen Regierungsebene in der Hochphase der Entspannungspolitik in den frühen siebziger Jahren keine große Rolle gespielt haben, liegt auf der Hand. Dies gilt zumal, da sich die Ausführungsbestimmungen aus dem Jahre 1969 eng an die europäische Sichtweise anlehnten. Gleichwohl sind diese fundamentalen Interpretationsunterschiede in den Stäben und bei den strategischen Vordenkern niemals in Vergessenheit geraten. Zudem erbte Carter die Waffenprogramme, die seine Vorgänger initiiert hatten. Während sich der neue Mann im Weißen Haus relativ rasch gegen den von ihm als überflüssig angesehenen B-1-Bomber entschied, blieben andere Waffensysteme vom Regierungswechsel unberührt, darunter die Entwicklung der »Pershing II« sowie der »Cruise Missiles«. Ein anderes Waffenprogramm, das ebenfalls seit geraumer Zeit vorangetrieben wurde, erwies sich dann ab Sommer 1977 als erster großer Stolperstein der Regierung Carter. Die Kontroverse um die sogenannte »Neutronen-Bombe« belastete nicht nur das Verhältnis des Präsidenten zu seinen engsten Beratern, sondern wirkte sich äußerst negativ auf das westliche Bündnis aus. Kurzum: »Der Zusammenhalt im Bündnis war zerbrochen.«9 Was war geschehen? Ohne diese Krise in allen Einzelheiten ausbreiten zu wollen, kann doch festgehalten werden, dass Präsident Carter, der dem Waffensystem von vornherein skeptisch gegenübergestanden hatte, in dem Moment unilateral auf die Produktion dieser »enhanced radiation weapon« verzichtete, als Bundeskanzler Schmidt im April 1978 sein gesamtes Gewicht in die Waagschale geworfen hatte, um eine Stationierung in der Bundesrepublik gegen scharfen innenpolitischen Widerstand durchzusetzen. Die Bundesregierung war entsetzt; vor allem Helmut Schmidt fühlte sich persönlich hintergangen. Von dieser – zumindest taktischen – Fehlentscheidung Carters, die er gegen die eindringliche
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Empfehlung seiner Berater getroffen hatte, erholte sich das Verhältnis zwischen Präsident und Bundeskanzler nie mehr. Auf zwei Ebenen war dieses Präludium für den NATO-Doppelbeschluss von zentraler Bedeutung: Zum einen tauchten in der Diskussion um die »NeutronenBombe« bereits wichtige Faktoren auf, die im Ringen um die Stationierungsentscheidung zu den US-Mittelstreckenwaffen von großer Wichtigkeit werden sollten – so zum Beispiel der zweigleisige Ansatz, der Verhandlungen und Aufrüstung koppelte, sowie das hartnäckige Beharren Bonns auf der Vermeidung einer bundesrepublikanischen Sonderrolle als einzigem Stationierungsland für das neue Waffensystem. Zum anderen erkannte Washington, dass die Diskussion um die »Neutronen-Bombe« die NATO in eine Zerreißprobe getrieben hatte. Nach dem April 1978 ging es Carter und seiner Mannschaft darum, den inneren Zusammenhalt des westlichen Bündnisses zu stärken. Sie waren gewillt, aus ihren eigenen Fehlern zu lernen – keine kleine Leistung für jede Regierung. Gleichzeitig forderte der Kalte Krieg seinen Tribut. Nach anfänglicher Euphorie hatte sich relativ rasch herausgestellt, dass die Vereinigten Staaten nicht unilateral das Ende der Supermächtekonfrontation erklären konnten, denn die Sowjetunion war bei ihrer Interpretation der Entspannungspolitik geblieben. Vor allem das vermeintliche Ausgreifen der Sowjetunion in die Dritte Welt wurde von Sicherheitsberater Zbignew Brzezinski mit großem Misstrauen beobachtet. Anfang Juni 1978 reagierte Präsident Carter auf diese besorgniserregenden Signale. In seiner Rede vor den Absolventen der Marineakademie in Annapolis feuerte er einen ersten Warnschuss: »Die Sowjetunion kann entweder Konfrontation oder Kooperation wählen. Die Vereinigten Staaten sind sehr wohl auf jede Entscheidung vorbereitet.«10 Ganz abgesehen davon, dass diese Erklärung die Initiative vollständig der Kremlführung überließ, war eines allerdings klar geworden: Die bilateralen Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion begannen sich einzutrüben. Rückblickend ist leicht zu erkennen, dass ein Verfallsprozess einsetzte, der, nur unterbrochen von kurzen Zwischenhochs wie der Unterzeichnung des SALT II-Vertrages im Juni 1979, bis zum absoluten Tiefpunkt am Jahreswechsel 1979/1980 kontinuierlich fortschreiten sollte. Kurzum: Der sowjetische Einmarsch in Afghanistan zu Weihnachten 1979 war nur der allerletzte Sargnagel für die Entspannungspolitik auf der Supermächteebene. Danach setzte Carter auf Konfrontation und kehrte zur bewährten Eindämmungspolitik zurück. Dass die US-Regierung im Sommer 1978 ihre Haltung zu den »Long Range Theater Nuclear Forces« grundsätzlich überdachte und innerhalb weniger Wochen eine Kehrtwende vollzog, hatte allerdings äußerst wenig mit der Eintrübung des bilateralen Verhältnisses zur Sowjetunion zu tun. Ursprünglich waren Carter und seine engsten Berater im Weißen Haus nämlich davon ausgegangen, dass die Stationierung der SS-20-Raketen keine neue Dimension der Bedrohung darstellte. Die Modernisierung der sowjetischen Raketenpotenziale machte somit
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auch keine Entsendung amerikanischer Mittelstreckenwaffen auf das europäische Festland notwendig. Das Weiße Haus glaubte sogar nach der Londoner Rede Bundeskanzler Schmidts im Oktober 1977 an die ausreichende Abschreckungskraft der strategischen Triade der Vereinigten Staaten. Im Juni 1978 griff das Weiße Haus nun das Ansinnen strategischer Experten auf beiden Seiten des Atlantiks und in den Stäben der NATO auf, die seit geraumer Zeit auf eine Verbesserung des Abschreckungskontinuums und auf eine effektive Ausgestaltung der »flexible response« gedrängt hatten. Hinzu kam die Eigendynamik der bereits im Herbst 1977 eingesetzten »High Level Group«, die sich seit dem Frühjahr 1978 intensiv mit der Modernisierung der Mittelstreckenwaffen beschäftigte. Das »Presidential Review Memorandum 38« vom 22. Juni 1978 wies dann die amerikanischen Regierungsstellen an, eine abgestimmte Position zu der Frage der »Long Range Theater Nuclear Weapons« zu entwickeln. Zwei Monate später entschied Präsident Carter, den Empfehlungen der »High Level Group« zu folgen und die Dislozierung neuer US-Waffensysteme auf dem europäischen Festland anzustreben. Was hatte diese Kehrtwende motiviert? An erster Stelle stand nach dem Desaster um die »Neutronen-Bombe« die Sorge um den Zusammenhalt der NATO. Es ging um die Funktionstüchtigkeit der westlichen Allianz und um die Führungsstärke Präsident Carters, die in Europa allerorten massiv bezweifelt wurde. Die zusätzliche sowjetische Bedrohung durch die SS-20-Raketen spielte für Washington eine untergeordnete Rolle, wobei allerdings die Verschlechterung in den bilateralen Beziehungen nicht übersehen werden darf. Für Carter kamen innenpolitische Gründe hinzu, denn er gedachte, den auf diese Weise neu gewonnenen Zusammenhalt im Bündnis für eine Unterstützung in der zu erwartenden Auseinandersetzung im USSenat über die Ratifizierung des SALT II-Abkommens zu instrumentalisieren. Nach manchen Zwischenschritten kam es dann zum NATO-Doppelbeschluss vom 12. Dezember 1979, der festlegte, dass das Bündnis bei einem Fehlschlag in der fest terminierten Verhandlungsphase mit der UdSSR, in der um die Abrüstung der SS-20-Raketen gerungen werden sollte, mit der Stationierung von 108 »Pershing II«-Raketen und 464 »Cruise Missiles« beginnen würde. Präsident Carter, der am 20. Januar 1981 nach nur vier Jahren das Weiße Haus verlassen musste, hinterließ seinem Amtsnachfolger Ronald Reagan nicht nur in dieser Hinsicht kein leichtes Erbe.
IV. Der neue Mann im Weißen Haus glaubte nicht nur an die Überlegenheit des »American way of life« gegenüber allen anderen Gesellschaftsentwürfen, sondern bezweifelte zudem, dass die Sowjetunion überhaupt ein Recht habe zu existieren.
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Größer konnte der Gegensatz zu dem Ansatz von Nixon und Kissinger nicht sein: Während die beiden Realpolitiker auf die Zusicherung der wechselseitigen Legitimität setzten, um den Kalten Krieg einzuhegen, war Ronald Reagan fest davon überzeugt, dass der Kommunismus sowjetischer Prägung eine bedauerliche Verirrung der Menschheitsgeschichte sei. Bereits 1975 hatte Reagan den Kommunismus als »eine Form des Wahnsinns«11 bezeichnet. Der ehemalige Gouverneur von Kalifornien war Anfang der achtziger Jahre instinktiv zu der Auffassung gelangt, dass die Supermächtekonfrontation noch während seiner Präsidentschaft mit einem amerikanischen Triumph würde enden können. Das neue Selbstbewusstsein in Washington sowie die aggressive Rhetorik Reagans stießen in Europa auf Skepsis in Regierungskreisen. Doch als weitaus problematischer erwies sich die Tatsache, dass große Teile der westeuropäischen Öffentlichkeit tiefes Misstrauen gegenüber der neuen amerikanischen Regierung empfanden. In der alten Welt hatte man sich weithin mit dem Status quo abgefunden. Die Teilung des Kontinents und die Unfreiheit der osteuropäischen Völker wurden als gleichsam gottgegeben angesehen. Dies zumal, da sich das Bild der Sowjetunion in den siebziger Jahren grundsätzlich gewandelt hatte: Mit Moskau konnte man verhandeln, und Moskau hielt sich auch an Verträge. Die Entspannungspolitik hatte – wie schon von Nixon und Kissinger befürchtet – tatsächlich zu einer grundsätzlichen Veränderung in der Bedrohungsanalyse der Westeuropäer geführt. Entspannung war für sie teilbar geworden. Während die USA bereits unter Carter auf Konfrontationskurs eingeschwenkt waren und Reagan diesen noch verstärkte, glaubten beispielsweise Helmut Schmidt und Valery Giscard d’Estaing noch immer daran, das Übergreifen der neuen weltpolitischen Eiszeit auf Europa vermeiden zu können. Doch damit überschätzten die europäischen Staatsmänner ihre Statur sowie ihr weltpolitisches Gewicht. Während des gesamten Kalten Krieges orientierte sich die Sowjetunion in allen grundlegenden Fragen ausschließlich an den Vereinigten Staaten von Amerika. Die statusbewussten Männer im Kreml taten dies schon deshalb, weil sie endlich als gleichberechtigte Supermacht wahrgenommen werden wollten. Kurzum: Nicht der deutsche Bundeskanzler und nicht der französische Präsident bestimmten den Takt des Kalten Krieges, sondern der amerikanische Präsident und der Generalsekretär der KPdSU. Auf der Ebene der Supermächtebeziehungen hatte sich nämlich gezeigt, dass die Entspannungspolitik nur eine »peinliche Episode«12 in der ganz grundsätzlichen Konfrontation zwischen Demokratie und Diktatur, zwischen »pursuit of happiness« und kommunistischer Gesellschaftsdrangsalierung geblieben war. Das Gefühl der Macht- und Hilflosigkeit wurde von den westeuropäischen Völkern viel intensiver empfunden als von den Entscheidungsträgern in Bonn, Paris und London. Vor allem in der Bundesrepublik Deutschland entwickelte sich aus dieser Ohnmacht sowie aus dem Glauben, den Launen eines alternden Schauspielers ausgeliefert zu sein, ein trotziger Anti-Amerikanismus, der durch-
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Abb. 1: Der NATO-Doppelbeschluss zählt zu den kontroversesten Streitfragen in der Geschichte der Bundesrepublik – im Bundestag (hier am 26. Mai 1981) …
tränkt war mit moralisch aufgeladenem Pazifismus. Angst beherrschte viele Zeitgenossen. Entweder die Menschheit würde an einem von Ronald Reagan mutwillig vom Zaun gebrochenen Atomkrieg zugrunde gehen, oder die allseits zu beklagende Umweltverschmutzung würde die Menschen dahinraffen. Die Zukunft erschien jedenfalls nur mehr als Apokalypse vorstellbar. Die tief verwurzelte Angst entlud sich in einer gesellschaftlichen Mobilisierung, die es bis dahin in der Bundesrepublik Deutschland noch nicht gegeben hatte. Die Friedensbewegung war Anfang der achtziger Jahre ein machtvoller Akteur der westdeutschen Innenpolitik. Sie führte nicht nur Gruppierungen vom linken Rand der Gesellschaft zusammen, sondern wirkte bis weit in die bürgerliche Mitte. Vor allem die SPD hatte große Probleme, einen tragfähigen Kurs gegenüber dieser Herausforderung zu bestimmen. Zermahlen zwischen der an Regierungsnotwendigkeiten orientierten Politik der Regierung Schmidt sowie sozialistisch-pazifistischen Träumen des linken Flügels um Oskar Lafontaine und Erhard Eppler, um nur zwei Protagonisten zu nennen, verlor die SPD ihre Regierungsfähigkeit. Bundeskanzler Helmut Schmidt war die eigene Partei davongelaufen. Die SPD sollte nach der Niederlage beim konstruktiven Misstrauensvotum im Deutschen Bundestag am 1. Oktober 1982 sechzehn Jahre in der Opposition verharren. Mit dem Amtsantritt von Helmut Kohl verschärfte sich die innenpolitische Konfrontation nochmals. Der neue Bundeskanzler setzte vollständig auf die Wie-
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Abb. 2: … und in der Öffentlichkeit, hier bei einer Demonstration der Friedensbewegung an der »Bannmeile« des Bonner Regierungsviertels (21. November 1983).
derherstellung des aus seiner Sicht zerrütteten Verhältnisses zu den Vereinigten Staaten und machte die Bündnistreue zur NATO erneut zum archimedischen Punkt der westdeutschen Staatsräson. Dass diese klare und unzweideutige Ausrichtung auf die westliche Führungsmacht gleichsam automatisch die Umsetzung des NATO-Doppelbeschlusses bedeutete, stand damals allen Bundesbürgern klar vor Augen. Der Wahlkampf zur Bundestagswahl am 6. März 1983 wurde auf beiden Seiten verbissen geführt. Die Alternative war eindeutig benannt: Auf der einen Seite die Regierung aus CDU/CSU und FDP, die sich für die Durchführung des Stationierungsteils einsetzte, falls die Gespräche endgültig scheitern sollten, und auf der anderen Seite die SPD, die Grünen sowie viele Friedens- und Umweltgruppierungen, die sich gegen die sogenannte Nachrüstung stemmten. Die Entscheidung des Souveräns fiel eindeutig aus. Die Regierungskoalition unter Helmut Kohl erhielt ein klares Mandat, um die von ihr propagierte Politik in die Tat umzusetzen. Es hatte sich bei den Bundestagswahlen gezeigt, dass die Nachrüstungsgegner zwar lautstark und medial wirksam ihre Forderungen zu lancieren wussten, doch gleichzeitig war offenbar geworden, dass sie keine Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung hinter sich hatten versammeln können. Diese schmerzliche Niederlage wurde noch intensiver empfunden, weil die Unterlegenen der festen Auffassung waren, dass sie nicht nur für die richtige Sache standen, sondern dass es gleichsam um Leben und Tod ging. Dieser vermeintlich
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hohe Einsatz ist ein wichtiges Motiv für den moralischen Furor der damaligen Anschuldigungen: Wer für die Nachrüstung war, wollte letztlich Krieg; wer sich dagegen aussprach, der kämpfte für Frieden. Die auftrumpfende Selbstgerechtigkeit hätte zeitgenössisch etwas gemildert werden können durch eine Einsicht, welche die Geschichtswissenschaft seit Öffnung der SED-Archive zutage gefördert hat: Weite Teile der Friedensbewegung waren nicht nur kommunistisch unterwandert, sondern wurden in letzter Konsequenz aus Ost-Berlin – das hieß im Kalten Krieg eigentlich aus Moskau – gesteuert. Hunderttausende Demonstranten waren – ohne es zu wissen oder auch nur zu ahnen – lediglich Figuren auf dem globalen Schachbrett der Supermächtekonfrontation. Die Machthaber im Kreml setzten auf die Kraft der Friedensbewegung, um die Stationierung von amerikanischen Mittelstreckenwaffen zu vereiteln. Es war »ein Krieg mit anderen Mitteln«13. Mit der Stationierungsentscheidung des Deutschen Bundestages am 22. November 1983 endete eine der größten Auseinandersetzungen in der westdeutschen Geschichte. Rückblickend wird rasch deutlich, dass die ab Januar 1984 gegen gewaltigen öffentlichen Widerstand vollzogene Stationierung der US-Mittelstreckenwaffen in Europa aus militärischer Sicht tatsächlich »ein völlig unnötiges Beispiel von Überversicherung«14 gewesen war. Doch übersah der große Militärhistoriker Michael Howard bei diesem Diktum einen wichtigen, ja den entscheidenden Faktor: Der NATO-Doppelbeschluss hatte eine Eigendynamik entwickelt, in der es nicht mehr um Arcana der Abschreckungstheologen ging, sondern letztlich um die Handlungsfähigkeit der westlichen Welt. Nach dem Scheitern der Verhandlungen war die Stationierung von essenzieller Bedeutung. Sie war der Lackmustest des Bündnisses. Dies wurde vom Kreml deutlich erkannt, und daher unternahm die Sowjetunion alles, um diesen Beweis der Vitalität der NATO zu vereiteln. Wie bei so vielen wichtigen Entscheidungen während des Kalten Krieges ging es beim NATO-Doppelbeschluss und seiner Durchsetzung weniger um harte Fakten als um psychologische Größen. Es ging um die Einschätzung des Gegners und der Verbündeten sowie um die Eigenwahrnehmung. Seit 1945 hatte die nukleare Revolution die Bedeutung dieser wenig greifbaren Faktoren, die im internationalen System stets eine große Rolle gespielt hatten, nochmals exponentiell gesteigert. Keine der beiden Supermächte konnte dieses Faktum während des Kalten Krieges ignorieren.
V. Dass die Mittelstreckenraketen auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs kaum vier Jahre nach der amerikanischen Stationierung verschrottet werden konnten, ist vor allem zwei Umständen zuzuschreiben: dem vielbeschworenen Faktor Gor-
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batschow sowie der Lernfähigkeit von Ronald Reagan. Das Zusammenspiel dieser beiden Staatsmänner ermöglichte den Abschluss des INF-Vertrages vom 8. Dezember 1987. Erstmals einigten sich die beiden Staaten auf einen wirklichen Abrüstungsvertrag, der eine gesamte Waffengattung – die Nuklearsysteme mit einer Reichweite von 500 bis 5000 Kilometern – abschaffte. Sowohl für den Generalsekretär der KPdSU als auch für den amerikanischen Präsidenten war dieser Vertragsabschluss einer der Höhepunkte ihres Wirkens. Gleichwohl muss aus der Rückschau darauf hingewiesen werden, dass sich die Rahmenbedingungen des internationalen Systems bereits grundlegend gewandelt hatten: Gorbatschows Reformpolitik entwickelte eine immer größere Eigendynamik, welche die ursprünglichen Ziele der Erneuerung und Verbesserung der Sowjetunion vollkommen in ihr Gegenteil verkehrte. Schlussendlich mutierte die UdSSR wirklich zu – wie Helmut Schmidt einmal bemerkt hat – »Obervolta mit Raketen«. Gorbatschow und der sowjetischen Nomenklatura war der Wille zur Herrschaft abhanden gekommen. Als selbst die Nachfolger Lenins und Stalins nicht mehr an die allein seligmachende Kraft des Kommunismus glaubten, spürten die unterdrückten Völker in Ost- und Ostmitteleuropa, dass sich eine einmalige Gelegenheit bot, um die kommunistische Herrschaft abzuschütteln. Sie ergriffen diese historische Chance im Epochenjahr 1989/90. Abschließend sei klar und unmissverständlich darauf hingewiesen, dass die UdSSR nicht von den Vereinigten Staaten von Amerika totgerüstet worden ist. Der NATO-Doppelbeschluss war in diesem Sinne nicht ausschlaggebend für den amerikanischen Triumph im Kalten Krieg. Allerdings war die Stationierung der amerikanischen Raketen und Marschflugkörper in Europa in einem anderen Sinne von überragender Bedeutung für den weiteren Verlauf der Supermächtekonfrontation. Sie war ein klares Signal an Moskau, dass die Vereinigten Staaten von Amerika und ihre europäischen Verbündeten noch immer gewillt waren, ihre Freiheit zu verteidigen. Wäre die Stationierung gescheitert, hätte die Weltgeschichte leicht einen anderen Verlauf nehmen können. Literatur Melvyn P. Leffler, For the Soul of Mankind. The United States, the Soviet Union, and the Cold War, New York 2007. Joachim Scholtyseck, The United States, Europe, and the NATO Dual-Track Decision, in: Matthias Schulz / Thomas A. Schwartz (Hg.), The Strained Alliance. U.S.-European Relations from Nixon to Carter, Washington, D.C. 2009, S. 333–352. Gerhard Wettig, Entspannung, Sicherheit und Ideologie in der sowjetischen Politik 1969 bis 1979. Zur Vorgeschichte des NATO-Doppelbeschlusses, in: Militärgeschichtliche Zeitschrift 68 (2009), S. 75–116. Gerhard Wettig, Die Sowjetunion in der Auseinandersetzung über den NATO-Doppelbeschluss 1979–1983, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 57 (2009), S. 217–259. Vladislav M. Zubok, A Failed Empire. The Soviet Union in the Cold War from Stalin to Gorbachev, Chapel Hill 2007.
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Anmerkungen 1 Zur ersten Orientierung: Melvyn P. Leffler, For the Soul of Mankind. The United States, the Soviet Union, and the Cold War, New York 2007, sowie Vladislav M. Zubok, A Failed Empire. The Soviet Union in the Cold War from Stalin to Gorbachev, Chapel Hill 2007. 2 Ludwig Dehio, Deutschland und die Weltpolitik im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1961, S. 83. 3 Henry Kissinger, White House Years, Boston 1979, S. 191. 4 James Joll, 1914. The Unspoken Assumptions, in: Hannsjoachim W. Koch (Hg.), The Origins of the First World War. Great Power Rivalry and German War Aims, London 1972, S. 307–328 [erstmals veröff. 1968]. 5 Kirilenko sprach am 5. Dezember 1977 ausgerechnet in der angolanischen Hauptstadt Luanda. Zitiert nach Raymond L. Garthoff, Détente and Confrontation. American-Soviet Relations from Nixon to Reagan. Revised Ed., Washington, D.C. 1994, S. 588. 6 So John F. Kennedy während seiner Vereidigungsrede am 20. Januar 1961, in: Public Papers of the Presidents of the United States, John F. Kennedy, 1961, Washington, D.C. 1962, S. 1–3, hier S. 3. 7 Jussi M. Hanhimäki, Ironies and Turning Points: Détente in Perspective, in: Odd Arne Westad (Hg.), Reviewing the Cold War. Approaches, Interpretations, Theory, London 2000, S. 326–342. 8 Klaus Wiegrefe, Das Zerwürfnis. Helmut Schmidt, Jimmy Carter und die Krise der deutsch-amerikanischen Beziehungen, Berlin 2005. 9 Thomas Risse-Kappen, Cooperation among Democracies. The European Influence on U.S. Foreign Policy, Princeton 1995, S. 188. 10 Public Papers of the Presidents of the United States, Jimmy Carter, 1978, Bd. 1, Washington, D.C. 1979, S. 1052–1057, hier S. 1054. 11 Kiron K. Skinner / Anneliese Anderson / Martin Anderson (Hg.), Reagan in his own Words, New York 2001, S. 10. 12 Vojtech Mastny, Superpower Détente: US-Soviet Relations, 1969–1972, in: David C. Geyer / Bernd Schäfer (Hg.), American Détente and German Ostpolitik, 1969–1972, Bulletin of the German Historical Institute. Supplement No. 1 (2003), S. 19–25, hier S. 24. 13 Jeffrey Herf, War by other Means. Soviet Power, West German Resistance, and the Battle of the Euromissiles, New York 1991. 14 Michael Howard, The Causes of War and other Essays, London 21983, S. 280.
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Wiedervereinigung 1989/90 Deutsche Revolution und internationale Ordnung
So etwas hätte sich »nicht einmal Hitler erlaubt«, wetterte der sowjetische Außenminister. Am 5. Dezember 1989 erlebte Hans-Dietrich Genscher, im sechzehnten Jahr an der Spitze der bundesdeutschen Außenpolitik, seine »unerfreulichste Begegnung«1 mit Eduard Schewardnadse und Michail Gorbatschow. Ein »Ultimatum«, wetterte der Kremlchef, sei Kohls Zehn Punkte-Programm zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas vom 28. November gewesen, eine »äußerst dreiste Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates.« In einem fort ereiferte sich Gorbatschow, Kohl kommandiere einfach herum, führe sich auf »wie ein Elefant im Porzellanladen« und sei »offenbar bereits davon überzeugt, dass seine Musik, sein Marsch gespielt wird, und er hat bereits angefangen, dazu zu marschieren.«2 Was zur selben Zeit in den Regierungszentralen in Paris und London gesprochen wurde, klang nicht sehr viel freundlicher: »Man befinde sich in der Situation der führenden Politiker Frankreichs und Englands vor dem Kriege, die nicht reagiert haben«, so wird der französische Präsident François Mitterrand im Gespräch mit der britischen Premierministerin Margaret Thatcher überliefert: »Was geschieht, macht uns bereit zu einer neuerlichen Allianz zwischen Frankreich, Großbritannien und der Sowjetunion gegen Deutschland, genau wie 1913« – so Mitterrand weiter. »Es ist nötig, besondere Beziehungen zwischen Frankreich und Großbritannien herzustellen, wie 1913 und 1938.«3 Auch das war starker Tobak. Mitte Dezember 1989, fünf Wochen nach dem Fall der Mauer, hatte sich die internationale Situation so zugespitzt, dass Helmut Kohl offenkundig für einen Moment überlegte, der Sowjetunion ein Moratorium in der Frage einer deutschen Wiedervereinigung anzubieten.4
I. Die deutsche Wiedervereinigung war nicht nur ein deutsches Schauspiel. Sie spielte zugleich auf der internationalen Bühne. Anders wäre sie auch gar nicht möglich gewesen. Denn auf der internationalen Ebene lagen die ersten Ursachen der deutschen Revolution von 1989/90. Was in diesem dramatischen Jahr geschah, wäre noch zehn Jahre zuvor schlechterdings undenkbar gewesen. 1979 war der Kalte Krieg mit dem NATO-
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Doppelbeschluss und dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan in eine zweite, hocherhitzte Phase getreten. Und als im Herbst 1983 die Stationierung der amerikanischen Mittelstreckenraketen in Westeuropa begann, fürchteten viele, die Welt stehe am Rande eines Atomkrieges. Nur vier Jahre später jedoch, im Dezember 1987, schlossen Washington und Moskau das INF-Abkommen über den vollständigen Abbau der atomaren Mittelstreckenwaffen, und der Herr des Kreml sprach in New York von einer »Entideologisierung der zwischenstaatlichen Beziehungen«5. Damit war jener ideologischen Auseinandersetzung zweier unvereinbarer Systeme mit universalem Geltungsanspruch, zwischen bürgerlicher, parlamentarisch-demokratischer Marktwirtschaft auf der einen und kollektivistisch-planwirtschaftlicher Diktatur des Proletariats auf der anderen Seite, damit war dem Ost-West-Konflikt, der die Welt beherrscht und geteilt hatte, die Grundlage entzogen. Verantwortlich dafür war in erster Linie Michail Gorbatschow. Als er im März 1985 in das Amt des mächtigsten Mannes der östlichen Welt gewählt wurde, ging er von der Diagnose einer schweren wirtschaftlichen Krise der Sowjetunion aus, und als Therapie verordnete er Reformen. Das Rezept setzte voraus, den Patienten für heilbar zu halten, und ebendies tat Gorbatschow. Ziel seiner Reformpolitik war keineswegs, ein moribundes System endgültig in den Kollaps zu treiben, sondern es zu retten und den Kommunismus zu verbessern. Kein ideologieentleerter Zyniker, ebenso wenig freilich ein marktwirtschaftlicher Demokrat westlicher Prägung – oder gar ein Freund der deutschen Wiedervereinigung –, war Gorbatschow vor allem ein reformkommunistischer Idealist. Nur im festen Vertrauen auf den Sozialismus war er zu seiner weitreichenden Reformpolitik überhaupt in der Lage. Diese Reformpolitik freilich setzte einen ungeplanten Prozess in Gang, der innerhalb weniger Jahre in den Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums und der Sowjetunion selbst führte und die deutsche Wiedervereinigung erst möglich machte. Um Spielräume für seine wirtschaftlichen Reformen zu gewinnen, suchte Gorbatschow die äußeren Überbürdungen der Sowjetunion zu reduzieren. Die »Entideologisierung« der internationalen Beziehungen sollte die Spannungen mit dem Westen abbauen, mithin die selbstmörderisch hohen Militärausgaben reduzieren und zugleich Kooperationen mit dem Westen ermöglichen. Noch unmittelbarere Konsequenzen hatte die »Entideologisierung der zwischenstaatlichen Beziehungen« für das Verhältnis zu den sowjetischen Satelittenstaaten in Ostmittel- und Südosteuropa. Denn das Grundgesetz dieses Imperiums, die »Breschnew-Doktrin«, ruhte auf keinem anderen als einem ideologischen Fundament, indem nämlich die Gefolgsstaaten bei Androhung militärischer Sanktionen auf die sowjetische Führung nach außen und den orthodoxen marxistisch-leninistischen Sozialismus im Innern verpflichtet wurden. Auch diese Herrschaft band durch die Stationierung von Streitkräften in den Staaten des Warschauer Paktes immense sowjetische Mittel, und so lag es in der Konsequenz der
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Reformpolitik Gorbatschows, die »Breschnew-Doktrin« im Juli 1989 offiziell zu widerrufen. Damit gab die Sowjetunion freilich ihren Herrschaftsanspruch über ihr Imperium auf, das sie nach dem Zweiten Weltkrieg errichtet hatte. Die Folge war indessen nicht – wie Gorbatschow in seinem sozialistischen Optimismus gehofft hatte –, dass sich diese Staaten seinem reformkommunistischen Vorbild auf der Basis freiwilliger Gefolgschaft anschlossen. Als sie ihre Freiräume realisierten, wandten sie sich vielmehr ab von der verhassten sowjetischen Herrschaft. Den Anfang machten die Polen 1988, wo die 1981 unterdrückte Gewerkschaftsbewegung Solidarność dem kommunistischen Regime die Herrschaft zu entwinden begann. Ihnen folgte Ungarn, wo die Krise der kommunistischen Herrschaft aus der Partei selbst heraus erwuchs. 1989 dann sprangen die Funken weiter und setzten die sozialistischen Regime in Ost-Berlin, in Prag und in Bukarest in Brand. Innerhalb von wenigen Wochen, zwischen Anfang Oktober und Anfang November, brach die Herrschaft der SED in der DDR wie ein Kartenhaus zusammen. Dieser unerhörte und völlig unerwartete Vorgang hatte mehrere Ursachen, ohne die er nicht möglich gewesen wäre: In der Bürgerbewegung fand sich eine erstarkte ältere Oppositionsbewegung mit einer Massenbewegung von Menschen zusammen, die in einem plötzlichen Schub der Politisierung die resignierte Fügsamkeit gegenüber der staatsparteilichen Obrigkeit unter der Führung alter Männer ablegten. Diese vermochten, zweitens, nicht zu verstehen, was jene friedlichen Demonstranten, die mit Kerzen in der Hand »Wir sind das Volk« riefen, eigentlich wollten, und entpuppten sich sich im entscheidenden Moment als völlig hilflos und konfus – zumal sie, drittens, nicht mehr auf die Unterstützung der Sowjetunion zählen konnten, die dem SED-Regime bis dahin, durch die Breschnew-Doktrin, das Überleben garantiert hatte. Der Verzicht des Kreml auf die Herrschaft über sein Imperium war die erste Ursache der deutschen Revolution von 1989/90. Denn bei allen existentiellen wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Sowjetunion: Solche existentiellen Gefahren hatte es auch vorher gegeben, ohne dass Moskau seinen Herrschaftsanspruch aufgab. Und hätte eine noch so krisengeschüttelte Sowjetunion konsequent an ihrem Willen zur Macht festgehalten, wäre kein noch so erstarrtes SED-Regime durch keine noch so mutige Bürgerbewegung gestürzt worden. Dass die sowjetische Führung ihr Interesse von den europäischen Verhältnissen in ihrem Westen abwandte und damit eine tiefgreifende politische Umgestaltung des Kontinents möglich machte, hatte eine bezeichnende historische Parallele: Ebenso war es nämlich auch nach dem Ende des Krimkriegs gegen die westeuropäischen Mächte 1856 gewesen. Als sich das Zarenreich politisch aus Mitteleuropa zurückzog, öffneten sich die Handlungsspielräume für die erfolgreiche kriegerische Politik Otto von Bismarcks, die zur Reichseinigung von 1871 führte. Und ebenso wie die internationale Politik an der Wiege des Reiches stand, so besiegelte sie auch sein Ende im Untergang gegen die Alliierten im Zweiten Welt-
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krieg – und weil sich die vier Alliierten nicht einigen konnten, was aus dem besiegten Deutschland werden sollte, stand sie auch am Anfang der deutschen Teilung. Bis zur Wiedervereinigung war die internationale Konstellation in allen historischen Entscheidungssituationen von zentraler Bedeutung für die deutsche Frage.
II. Dass die deutsche Frage im Herbst 1989 auf die Tagesordnung der Weltpolitik geriet, war freilich weder absehbar noch war es international erwünscht. Der ehemalige britische Premierminister Edward Heath etwa bekannte freimütig, dass man den westdeutschen Wunsch nach Wiedervereinigung stets unterstützt habe, weil man wusste, »dass sie nicht passieren würde.«6 Als aber im Sommer 1989 die Fluchtbewegung der Ostdeutschen über Ungarn einsetzte, da begann in der Bundesrepublik sogleich eine publizistische Diskussion. Bundeskanzler Kohl erklärte im August, die deutsche Frage stehe – »entgegen dem, was hier und da auch bei uns gesagt wird – nach wie vor auf der Tagesordnung der internationalen Politik.«7 Zugleich aber – und diese Verbindung von Programmatik und Praxis ist für die Deutschlandpolitik seiner Regierung bis 1989 charakteristisch – blieb Bonn bei der Politik einer pragmatischen Kooperation mit Ost-Berlin. Kohl betrieb keine operative Wiedervereinigungspolitik, im Gegenteil: Er fürchtete bis weit in den Herbst hinein, dass dies eine gefährliche innere Destabilisierung in der DDR befördern könnte und internationalen Aufruhr schüren würde. Anfang Oktober ging die Flüchtlingskrise in eine Regimekrise über. Als OstBerlin die Botschaftsflüchtlinge aus Prag in Sonderzügen über das Territorium der DDR ausreisen ließ, holte die SED-Führung die Krise endgültig ins Land. Wenn es dort nun nicht mehr hieß »wir wollen raus«, sondern »wir bleiben hier«, so klang dies mit einem Mal wie eine Drohung. Am 9. Oktober 1989, dem entscheidenden Tag der deutschen Revolution, kapitulierte die Staatsmacht in Leipzig vor der schieren Zahl von 70 000 friedlichen Demonstranten. Als die Sicherheitskräfte sich nicht trauten, die Demonstration mit harter Gewalt und scharfer Munition zu unterbinden, war der Damm gebrochen. Neun Tage später wurde Erich Honecker nach achtzehn Jahren an der ostdeutschen Macht gestürzt. Statt sich unter neuer Führung zu stabilisieren, versank die derangierte SED im Chaos. Zugleich verbreitete sich die Bürgerbewegung über das ganze Land. Als am 4. November über 500 000 Menschen zur größten Demonstration in der Geschichte der DDR auf dem Ost-Berliner Alexanderplatz zusammenkamen, sah die Oppositionsbewegung wie die Siegerin der deutschen Revolution aus. Fünf Tage später jedoch kam abermals alles anders als gedacht. Mit dem Fall der Mauer stand das Tor nach Westen offen – und die deutsche Frage, die Frage
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Wiedervereinigung 1989/90
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Abb. 1: Nationale Wende der deutschen Revolution: Nach dem Fall der Mauer wird die Forderung nach Wiedervereinigung auf den Straßen der DDR laut.
einer Wiedervereinigung stand im Raum. Während die führenden Vertreter der Oppositionsbewegung in der DDR »eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik«8 suchten, skandierten die Anhänger der Massenbewegung: »Wir sind ein Volk« und »Deutschland einig Vaterland«. Über der Frage der deutschen Einheit zerbrach die Einheit der Bürgerbewegung in der DDR. Am 4. Dezember beschimpften sich Vereinigungsbefürworter und Vereinigungsgegner in Leipzig gegenseitig als »Rote« bzw. als »Nazis«.9 Während Kohl auch nach dem Fall der Mauer und der Öffnung der Grenze zögerte, das Thema Wiedervereinigung öffentlich anzusprechen, schaukelte sich die Diskussion in der deutschen Öffentlichkeit auf. Immer lauter wurde die Forderung an die Bundesregierung, etwas zu tun. »Die deutsche Politik von heute«, so ätzte der Herausgeber der »Welt« am zweiten Sonntag nach der Maueröffnung, ist unvorbereitet, weil sie Ideen, die über die westdeutsche Existenz und deren Besitzstand hinausweisen, fürchtet. […] Und so kann es sein, daß der Mantel der Geschichte an ihr vorüberrauscht und sie glaubt, ein lästiger Windstoß habe gerade ein paar Aktenpapiere vom Schreibtisch gefegt.10
»Die internationale wie die innenpolitische Diskussion über die Chancen einer Wiedervereinigung Deutschlands ist voll entbrannt und nicht mehr aufzuhalten«, vermerkte Horst Teltschik, Kohls außenpolitischer Berater, in seinen tage-
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buchförmigen Erinnerungen unter dem Datum des 20. November 1989. Kohls engste Umgebung drängte den Kanzler, endlich in die Offensive zu gehen und »öffentlich die Meinungsführerschaft im Hinblick auf die Wiedervereinigung [zu] übernehmen.«11 Kohl willigte schließlich ein und landete seinen ersten vereinigungspolitischen Coup: Ohne sich vorher national und international abzustimmen, verkündete er am 28. November 1989 vor dem Deutschen Bundestag im Bonner Wasserwerk sein »Zehn Punkte-Programm zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas«.12 In der Sache war nichts davon neu oder spektakulär, und inhaltlich war alles nach allen Seiten abgesichert. Im Herbst 1989 aber gewannen alte Sprachformeln neues Leben. Nicht das Was war entscheidend, sondern das Dass. Nun stand die deutsche Einheit nicht nur im Raum, sondern auch auf der politischen Tagesordnung. Die Meinungsführerschaft zu übernehmen, war Kohl mit den Zehn Punkten in der Tat gelungen. Sie fanden ein Echo wie Donnerhall, der auf internationaler Ebene freilich sämtliche Ressentiments erschallen ließ, die schon während des Herbstes angeklungen waren. Am Tag nach dem Fall der Mauer hatte Gorbatschow eine je nach Lesart wahlweise besorgte oder auch drohende Botschaft an Helmut Kohl gerichtet, es könne »eine chaotische Situation mit unübersehbaren Folgen entstehen.«13 Und als François Mitterrand eine Woche später in seiner Eigenschaft als Ratspräsident die Regierungschefs der EG zu einem außerordentlichen Gipfel-Abendessen in Paris empfing, spürten die deutschen Vertreter in aller Deutlichkeit, »daß das Mißtrauen gegen uns Deutsche wieder da« war, vor allem in Paris und Den Haag, in Rom und London. Kohl suchte die europäischen Nachbarn mit der Ankündigung zu beruhigen, es werde keinen deutschen nationalen Alleingang geben – und verschärfte vor diesem Hintergrund mit seiner Zehn Punkte-Initiative die Vorbehalte erst recht. Hatte beim Pariser Diner ein »frostiges, gereiztes Klima« geherrscht, so fand der EG-Gipfel in Straßburg am 8. und 9. Dezember in »eisiger Atmosphäre«, als »fast tribunalartige Befragung« statt; Unterstützung fand Bonn allein bei der spanischen und bei der irischen Regierung14 – und in Washington. Schon einen Tag nach Kohls Zehn Punkte-Programm gab die US-Regierung »vier Prinzipien« bekannt, auf deren Grundlage sie eine deutsche Wiedervereinigung unterstützen würde. Das wichtigste war die fortgesetzte Zugehörigkeit auch eines vereinten Deutschlands zur Europäischen Gemeinschaft und zur NATO. Was die Regierung Bush anstrebte, war nichts anderes als eine deutsche Wiedervereinigung zu westlichen Maximalkonditionen – den endgültigen Sieg des Westens im Ost-West-Konflikt. Damit wandelte sie auf ganz schmalem Grat zwischen Ideologie und Realpolitik, zwischen erwünschter Veränderung und erforderlicher Stabilität. Freilich sorgten sich selbst die wohlwollenden Amerikaner, ob Kohl mit seinen Zehn Punkten nicht zu stürmisch vorangeprescht sei, und rieten Bonn, »vorsichtiger mit den Sowjets, Briten und Franzosen umzugehen.«15
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Abb. 2: »Schlüsselerlebnis« auf dem Weg zur Wiedervereinigung: Kohls Begegnung mit der Einheitsbewegung vor der Ruine der Dresdner Frauenkirche am 19. Dezember 1989.
Als Kohl vor diesem Hintergrund Mitte Dezember 1989 den Gedanken eines temporären Wiedervereinigungs-Moratoriums erwog, gingen innerdeutsche und internationale Entwicklung auseinander wie nie davor und nie danach in der deutschen Revolution. Während sich nämlich die äußeren Widerstände aufbauten, lief die innere Entwicklung immer schneller in Richtung Wiedervereinigung. Spürbar wurde dies am 19. Dezember, als Kohl nach Dresden reiste. Nicht das Gespräch mit Ministerpräsident Modrow, den die SED im November als letzte Hoffnung aufgeboten hatte, auch nicht die Begegnung mit den Oppositionsvertretern waren dabei von zentraler Bedeutung, sondern Kohls Kontakt mit der breiten Bevölkerung und vor allem seine Rede vor der Ruine der Frauenkirche. Dass an diesem schicksalsträchtigen Ort in winterlicher Abendstimmung manches inszeniert war, änderte nichts daran, dass Kohl in einem Akt der quasirituellen Akklamation von den Ostdeutschen gleichsam als Heilsbringer begrüßt wurde, deren mehrheitlichen Willen der Kanzler wiederum instinktiv erfasste. »Dresden« wurde für Kohl zu einem »Schlüsselerlebnis«, die informelle Koalition zwischen dem Kanzler aus der Bundesrepublik und der Massenbewegung in der DDR zum Motor auf dem Weg zur deutschen Einheit. Mit der nationalen Wende hatte die deutsche Revolution ihre Richtung geändert. Statt sich zu radikalisieren wie viele andere Revolutionen – z. B. die Franzö-
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sische von 1789 oder die Russische von 1917 –, ging sie vom Sturz des SED-Regimes in die geregelten Bahnen der Wiedervereinigung über. Die Wochen um die Jahreswende 1989/90 markieren die Scharnierzeit zwischen beiden Phasen, in der auch die bestimmenden Akteure wechselten. Während die Bürgerbewegung in der kollabierenden DDR an Kraft verlor und die Oppositionsbewegung mit ihren Vorstellungen einer reformierten eigenständigen DDR auf ein totes Gleis fuhr, übernahm die Bonner Regierung innerhalb von wenigen Wochen das deutschdeutsche Kommando – auf innerdeutscher und auf internationaler Ebene. Um den französischen Ressentiments zu begegnen, reiste Kohl Anfang Januar 1990 mit kleinem Gefolge – darunter aber, immer im Bewusstsein der Macht von Bildern, der Fotograf Konrad Müller – nach Latché in der Gascogne, wo ihn François Mitterrand auf seinem Landsitz empfing. Nachdem der französische Sozialist und der deutsche Christdemokrat in den achtziger Jahren zu einer besonderen deutsch-französischen Partnerschaft gefunden hatten, wurden im Verlauf der deutschen Revolution die »Grenzen der Freundschaft«16 sichtbar. Mitterrand war eine Sphinx, in deren Brust zwei Seelen wohnten. Als französischer Nationalist verstand er einerseits den deutschen Wunsch nach nationaler Einheit. Zugleich aber war er von der Furcht vor dem unberechenbaren und potentiell übermächtigen Nachbarn im Osten, vor den incertitudes allemandes beseelt. Und schließlich war er Realist: Wenn die deutsche Einheit nicht zu verhindern sei, dann, so sein Kalkül, sollte ein vereintes Deutschland im französischen Interesse fest in ein vertieft integriertes Europa eingebunden werden. Dass Mitterrand damit eine eigene konstruktive Zielperspektive gegenüber der deutschen Wiedervereinigung besaß, unterschied ihn von Margaret Thatcher. »Letztlich stellt er die Bedingungen«, so sein Generalsekretär Hubert Védrine, »während sie dagegen ist.«17 Damit war eine »anglo-französische Achse«18 schon im Ansatz zerbrochen, und die »neuerliche Allianz zwischen Frankreich, Großbritannien und der Sowjetunion gegen Deutschland, genau wie 1913«, von der Mitterrand im Dezember gegenüber Thatcher gesprochen hatte, scheiterte an mangelnder Koordination mit Moskau. Im Kreml allerdings herrschte ein kaum glaubliches Chaos. Von einem »surrealistischen Wust von Ideen« sprach Julij Kwizinski, der vormalige sowjetische Botschafter in Bonn.19 Man sei offensichtlich, so beschrieb ein Vertrauter Gorbatschows die eklatante Naivität der Reformer, »an die neue Revolution [gemeint ist Gorbatschows Reformpolitik; AR] etwas romantisch herangegangen und habe unterschätzt, welch große Widerstände auf ihrem Weg entstehen.«20 Unterdessen brannte es in der Sowjetunion, von Aserbaidschan bis zum Baltikum, an allen Ecken und Enden; der Auflösungsprozess des Ostblocks griff auf die Sowjetunion selbst über. Und dennoch war sie noch immer die zweite atomare Supermacht, und sie verfügte nach wie vor über Möglichkeiten, um den Prozess in Deutschland in
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ihrem Sinne zu beeinflussen – von einem Angebot der Wiedervereinigung zu sowjetischen Bedingungen an die Deutschen, sprich gegen den Austritt aus der NATO, bis zu harter Obstruktion. Von allen Instrumenten probierte der Kreml manche, tat aber nichts richtig. Die Moskauer Führung konzentrierte sich auf die Probleme in der Sowjetunion selbst, und demgegenüber waren die DDR und ihr zerfallendes Imperium nur von nachrangiger Bedeutung. Von den verfügbaren Optionen wurde letztlich diejenige realisiert, die den sowjetischen Interessen am wenigsten entsprach: die Dinge geschehen zu lassen und sich den Entwicklungen anzupassen. Aus sowjetischer Perspektive war die deutsche Wiedervereinigung ein Spiel, so nochmals Julij Kwizinski, »in dem wir von Tag zu Tag einen Trumpf nach dem anderen verloren.«21 Nach der Abfuhr für Genscher Anfang Dezember wurde die deutsche Frage in Moskau nicht wirklich thematisiert. Und dann war es nicht das Politbüro, sondern eine informelle Runde in Gorbatschows Büro, die schließlich am 26. Januar beschloss, die deutsche Einheit nunmehr als unausweichlich hinzunehmen. »Hauptsache ist«, so formulierte Gorbatschow das wichtigste Ziel, »dass niemand sich darauf Hoffnung machen darf, dass das wiedervereinigte Deutschland der NATO beitreten wird.« Statt auf strikte Ablehnung wie im Dezember setzte er nun darauf, »Zeit zu gewinnen« und den Prozess zu verzögern.22 Der rasende Gang der Ereignisse machte freilich auch dieses sowjetische Kalkül zunichte.
III. Mit dem sowjetischen Einverständnis waren die Weichen auf internationaler Ebene in Richtung deutsche Einheit gestellt – keine sechs Wochen, nachdem Kohl angesichts der äußeren Widerstände die Idee eines Moratoriums erwogen hatte. Äußere und innere Ebene, die in diesen entscheidenden Wochen so sehr auseinandergedriftet waren, kamen wieder zusammen. Die internationalen Widerstände waren unter der Wucht der Entwicklung und mangels Entschlossenheit und Koordination der Opponenten zusammengebrochen – zumal die Ostdeutschen mit den Volkskammerwahlen vom 18. März 1990 – den ersten und letzten freien Parlamentswahlen in der DDR – ihr Selbstbestimmungsrecht mit überwältigender Mehrheit zugunsten einer schnellen deutschen Wiedervereinigung ausübten. Es war, wie der »Spiegel« titelte, »Kohls Triumph«23, der die Entwicklung abermals beschleunigte. Bereits Mitte Februar war der »Zwei-plus-Vier-Prozess« eingesetzt worden: eine Konferenz der Außenminister beider deutscher Staaten sowie der vier Siegermächte, um dem internationalen Prozess ein geordnetes Verfahren zu geben und eine Regelung der äußeren Aspekte der Vereinigung zu finden. Das Zweiplus-Vier-Forum tagte auf Ministerebene schließlich viermal. Zum Gremium der
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wesentlichen Entscheidungen wurde es freilich nicht. Diese fielen vielmehr auf »Zwei-plus-Eins«-Ebene, im Dreieck Washington–Moskau–Bonn. Knapp zwei Wochen nach der Grundsatzentscheidung im Kreml, sich mit der deutschen Wiedervereinigung abzufinden, reiste der amerikanische Außenminister James Baker in die sowjetische Hauptstadt. Im Nachhinein ist wiederholt behauptet worden, Baker habe der sowjetischen Führung bei dieser Gelegenheit versprochen, die NATO nicht nach Osten auszudehnen24 – was bedeuten würde, dass die NATO später mit der Aufnahme der ehemaligen Ostblockstaaten die Zusage an Moskau gebrochen habe. Allerdings waren die militärpolitischen Positionen zu diesem Zeitpunkt noch solchermaßen im Fluss, dass konkrete Vereinbarungen noch gar nicht getroffen werden konnten und zudem auch nicht verbindlich fixiert wurden. Als James Baker Moskau verließ, trafen Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher dort ein, um mit der Kremlführung die grundsätzliche Übereinkunft über die deutsche Einheit zu besiegeln. Als große Streitfrage stellte sich dabei die Bündniszugehörigkeit eines vereinten Deutschlands heraus. Hier lagen wiederum die besonderen Interessen der Regierung in Washington, der keineswegs entgangen war, dass sich Bonn in dieser Frage bis dahin nicht sehr klar geäußert hatte und insbesondere Genscher mit Ideen einer faktischen Neutralität des Territoriums der DDR sympathisierte. Und so besiegelten Bush und Baker Ende Februar 1990, als Kohl – ohne seinen Außenminister – zu vertraulichen Gesprächen nach Camp David kam, einen »historischen Handel««25, wie es Bushs Sicherheitsberater formulierte: die volle Aufrechterhaltung der deutschen NATO-Verpflichtungen gegen die amerikanische Abschirmung des Vereinigungsprozesses nach außen. Kohl willigte ein und erahnte dabei den weiteren Verlauf der Verhandlungen: Der Bundeskanzler fragt, ob es nicht denkbar wäre, daß die Sowjetunion so spiele, daß sie zunächst einmal Gespräche im Rahmen Zwei plus Vier führen und dann ein letztes Wort mit dem Präsidenten der USA im Juni bei dem Gipfel haben wolle. […] Aus seiner Sicht ist jetzt viel Prestige im Spiel. Die Sowjetunion habe aus der Sicht Gorbatschows in Wahrheit nur einen Partner, nämlich die USA.26
Bevor aber die Bündnisfrage beantwortet wurde, taten sich auf internationaler Ebene zwei andere Probleme auf: die Frage der deutsch-polnischen Grenze und die Frage der europäischen Integration. Die polnische Regierung des ersten nichtkommunistischen Ministerpräsidenten Mazowiecki akzeptierte das Recht der beiden deutschen Staaten auf eine Wiedervereinigung. Zugleich aber forderte sie ausreichende Garantien der OderNeiße-Grenze und eine völkerrechtlich verbindliche Regelung noch vor der Vereinigung. Tief saßen die polnischen Ängste um die Westgrenze des Landes. Während die Regierung der DDR die Grenze zu Polen bereits im Görlitzer Vertrag vom Juli 1950 definitiv anerkannt hatte, rechnete auch die Regierung Adenauer
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seit den fünfziger Jahren nicht mehr damit, die Ostgebiete wirklich wiederzugewinnen. Die Anerkennung des Status quo sprach aber erst die sozial-liberale Koalition im Jahr 1970 mit den Ostverträgen aus, und auch dies nur in einem politischen, nicht im strikt völkerrechtlichen Sinne. Die Bundesregierung vertrat den Standpunkt, dass die völkerrechtliche Anerkennung nur ein vereintes und vollständig souveränes Deutschland aussprechen könne Dass Kohl daran 1990 zäh festhielt, hatte freilich nicht nur einen juristischen, sondern vor allem einen politischen Grund: die Rücksicht auf die Vertriebenen, deren Dachorganisation, der »Bund der Vertriebenen«, eine Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze ablehnte und dazu eine Position bezog, die zwar völkerrechtlich schlüssig, politisch-historisch aber völlig aus der Welt war. Allerdings stellten die Vertriebenen einen nicht unerheblichen Machtfaktor innerhalb der CDU/CSU dar, und deren Verlust hätte ihre Mehrheitsfähigkeit gefährdet. Kohl versuchte sich an einer Politik der Diagonale: Verbale Zusicherungen an Polen, niemand in Deutschland wolle die Vereinigung mit »der Verschiebung bestehender Grenzen« verbinden27, kombinierte er mit dem Willen, die Vertriebenen mit in die Wiedervereinigung zu nehmen und die Anerkennung der Grenze vorzunehmen, ohne die Vertriebenen für die Union zu verlieren. Dieses Kalkül ging jedoch zunächst nicht auf, da sich an der Grenzfrage die nach wie vor verbliebenen Vorbehalte gegen die Bonner Vereinigungspolitik kristallisierten, auf innerer wie auf äußerer Ebene. Vor allem Paris machte sich dabei zum Advokaten Warschaus und gab sich mit den Bonner Zusicherungen nicht zufrieden. Der Kanzler, so notierte Horst Teltschik, »sieht die außenpolitischen Zwänge und die innenpolitische Kampagne vor dem Hintergrund der acht in diesem Jahr bevorstehenden Wahlen. Er weiß, daß er sich weiter bewegen muß, aber eigentlich will er nicht.«28 Anfang März 1990 eskalierte der Streit um eine Sache, die in der Sache letztlich gar nicht strittig war, als Kohl vorschlug, die beiden deutschen Parlamente sollten bindende Resolutionen beschließen, die der französischen und der polnischen Regierung jedoch nicht weit genug gingen. So überzogen misstrauisch die polnischen Forderungen gegenüber Bonn sein mochten, so wenig zeigte Kohl, der sonst so viel auf Psychologie in der Politik hielt, ein Gespür für die psychologische Seite der polnischen Sorgen und auch nicht für die internationale Brisanz der Gesamtsituation. Mit den Volkskammerwahlen allerdings entspannte sich die Situation schlagartig. Unter Vermittlung Bushs einigten sich Kohl und Mazowiecki, die Formulierungen für einen nach der Wiedervereinigung zu schließenden deutsch-polnischen Grenzvertrag vorab zu vereinbaren und öffentlich zu bekunden. Als der Bundestag die entsprechende Entschließung am 21. Juni 1990 annahm, stimmten 15 Unionsabgeordnete dagegen – was für Kohl bedeutete, dass er sein Ziel im Hinblick auf die Vertriebenen weitestgehend erreicht hatte. Damit war der deutsche Abschied von den Ostgebieten so definitiv wie möglich besiegelt – eine unumgängliche Anerkennung historisch-politischer Reali-
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täten von freilich historischer Tragweite: Jahrhundertelang deutsch besiedeltes Gebiet von einer Fläche, die größer war als die der DDR, wurde nunmehr endgültig aufgegeben. Damit wurde nicht nur eine Folge des verlorenen deutschen Angriffskrieges besiegelt, sondern ebenso der sowjetische Anteil am Hitler-Stalin-Pakt zur vierten Teilung Polens von 1939, um dessen Einbehaltung willen der sowjetische Diktator 1945 die ›Westverschiebung‹ des Landes verfügt hatte. Wenn im Osten die endgültige Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze und der Verlust der Ostgebiete der Preis für die Einheit war – dann stellt sich die Frage, ob auf der westlichen Seite etwas Ähnliches galt: Opferte Kohl die D-Mark für die Wiedervereinigung? So einfach ist die Sache nicht, und wie fast immer liegt das Wesen der Geschichte in der Differenzierung. Die europäische Integration hatte seit den mittleren achtziger Jahren einen enormen Schub erfahren, und im Juni 1989 hatten sich die Staats- und Regierungschefs in Madrid auf einen dreistufigen Ausbau der Europäischen Gemeinschaft zu einer Wirtschafts- und Währungsunion geeinigt. Zudem hatten sie die Umsetzung der ersten Stufe, den Abbau aller Beschränkungen im Kapital- und Devisenverkehr, zum 1. Juli 1990 beschlossen. Ob die europäische Wirtschafts- und Währungsunion wirklich eingeführt würde, war damit allerdings noch nicht unumkehrbar festgelegt. Entscheidender nämlich als die erste Stufe waren die zweite und die dritte: die Angleichung der Finanz- und Währungspolitiken der Mitgliedsstaaten in einem System fester Wechselkurse sowie die Einführung der einheitlichen Währung. Darüber waren in Madrid noch keine definitiven Beschlüsse gefasst worden, und darüber herrschten erhebliche französisch-deutsche Differenzen. Für Paris hatte die europäische Wirtschafts- und Währungsunion oberste Priorität, um die D-Mark einzubinden und ihre Dominanz in Europa zu brechen, unter der die Nachbarstaaten in den achtziger Jahren stöhnten. Bonn hingegen setzte, ohne die Wirtschafts- und Währungsunion abzulehnen, den Primat auf politischer Ebene. Die Bundesregierung zielte auf institutionelle Reformen der Europäischen Gemeinschaft sowie auf eine (supra-)staatliche Integration mit dem Ziel einer politischen Union Europas, ohne freilich ein genaues Bild der konkreten Gestalt und Mechanismen zu besitzen, während Mitterrand vorrangig für intergouvernementale, zwischenstaatliche Kooperation plädierte. Zu den Differenzen über Richtung und Fortgang der europäischen Integration kamen unterschiedliche Vorstellungen über das weitere Vorgehen hinzu. Wie es sich entwickeln würde, war offen, als die deutsche Revolution hereinbrach. Kurz gesagt war das Ende der Geschichte, wie es im Februar 1992 in Maastricht vertraglich fixiert wurde, dieses: Die Bundesregierung stimmte der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion zu, ohne vergleichbare Konzessionen für das eigene Ziel der politischen Union zu gewinnen, deren Gestalt freilich – mit Ausnahme gestärkter Rechte für Parlament und Kommission – nie klar umrissen worden war. Insofern lässt sich sagen, dass die konkrete Zustimmung zum ent-
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scheidenden Schritt hin zur europäischen Währungsunion eine deutsche Konzession an Frankreich im Zuge der Wiedervereinigung war. Das aber bedeutet nicht, dass Kohl für die französische Zustimmung zur deutschen Einheit die D-Mark aufgegeben hätte. Denn dies geschah im Rahmen eines Prozesses, der bereits vor der Wiedervereinigung grundsätzlich beschlossen und in Gang gesetzt worden war und den auch die Bundesregierung anstrebte. Sie konnte ihre Vorstellungen allerdings nicht wie gewünscht durchsetzen, weil sie ihre Konzessionsmasse für die Wiedervereinigung benötigte. Und dies war nicht alles: Darüber hinaus nämlich trugen die permanenten Bonner Bekenntnisse zur verstärkten Fortsetzung der europäischen Integration während des deutschen Wiedervereinigungsprozesses dazu bei, dem forcierten Einigungsprozess in den neunziger Jahren, über Maastricht hinaus, seinen geradezu selbstläufigen Antrieb zu verleihen. Blieb die Bündnisfrage. Wie hatte Kohl Ende Februar 1990 in Camp David gemutmaßt: Gorbatschow werde die entscheidende Konzession auf Supermächteebene beim Gipfel in Washington direkt gegenüber der anderen Weltmacht machen. Genau so kam es, freilich dann doch unerwartet, nachdem die Sowjetunion monatelang ihre scharfe Ablehnung einer gesamtdeutschen NATOMitgliedschaft kundgetan hatte, und auf sehr ungewöhnliche Weise. Direkt am Verhandlungstisch im Kabinettssaal des Weißen Hauses nämlich vollzog Gorbatschow, zum Entsetzen der sowjetischen und zur völligen Verblüffung der amerikanischen Delegation, am 31. Mai eine glatte Kehrtwende. Er stimmte George Bush zu, dem vereinten Deutschland selbst die Wahl des militärischen Bündnisses zu überlassen, dem es angehören wolle – und dass dies die NATO sein würde, war kein Geheimnis. Kohls Szenario aus Camp David war Realität geworden. Die Zeitgenossen aber reagierten ungläubig: Als Bush den Bundeskanzler in Ludwigshafen telefonisch informierte und ihn, wenn auch zunächst »eher beiläufig«, über Gorbatschows zentrale Konzession in Kenntnis setzte, reagierte Kohl so zurückhaltend, dass Bush den Eindruck gewann, »that Kohl had not caught the point«.29 Der Durchbruch in der Bündnisfrage fand also in Washington statt, nicht im Kaukasus beim sowjetisch-deutschen Gipfel im Juli 1990, wie die deutschen Erinnerungen nahelegen. Dort blieb freilich die konkrete Gestaltung auszuhandeln, und der Teufel saß einmal mehr im Detail. Nach windungsreichen Verhandlungen sagte die Sowjetunion schließlich zu, binnen vier Jahren ihre Truppen – immerhin 400 000 Mann – vom Territorium der DDR abzuziehen, das mit einigen Sonderregelungen in die NATO überführt wurde, während die deutsche Seite zusagte, die Obergrenze ihrer Streitkräfte auf 370 000 Mann zu reduzieren. Alles in allem lag die Vereinbarung nahe an der Maximalposition des Westens, wie sie Washington mit den »vier Prinzipien« bezogen hatte, und sie übertraf alle ursprünglichen Erwartungen bei weitem. Am 12. September wurden diese Vereinbarungen mit dem »Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland« auch multilateral kodifi-
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ziert. Dieser »Zwei-plus-Vier-Vertrag« war kein formeller Friedensvertrag, doch er übernahm die Funktion dieses Dokuments, das nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zwar angekündigt, aber nie realisiert worden war. Somit stellte der »Zwei-plus-Vier-Vertrag« den völkerrechtlichen Abschluss der Nachkriegszeit dar. Zugleich regelte er auf internationaler Ebene die zwei Jahrhunderte alte deutsche Frage: Innerhalb der Grenzen von Bundesrepublik und DDR, die mit dem Vertrag als Außengrenzen endgültig festgeschrieben wurden, und mit der Zustimmung seiner Nachbarn fand das Land in der Mitte Europas am 3. Oktober 1990 zum ersten Mal in der Geschichte seine staatliche Einheit in Frieden und Freiheit.
IV. Innerhalb von weniger als einem Jahr war die gesamte europäische Nachkriegsordnung mitsamt der Spaltung Europas und der Teilung Deutschlands zusammengebrochen. Unter den Zeitgenossen kursierten in diesem Moment eine große Hoffnung und eine große Sorge: die Hoffnung auf ein neues »Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit« in Europa, wie es in der Charta von Paris im November 1990 hieß30, und die mindestens in Europa vorhandene Sorge vor einer neuerlichen Übermacht des größer gewordenen Deutschland. Diese Sorge erwies sich freilich als unbegründet. Denn einerseits hinderten die unerwartet schweren und völlig unterschätzten Lasten der Wiedervereinigung das Land an einem ökonomischen und politischen Höhenflug. Und andererseits blieb Deutschland der bundesdeutschen Tradition multilateraler Einbindung, auch unter Verzicht auf nationale Souveränitätsrechte, treu – das galt in erster Linie für die europäische Integration, aber ebenso für die NATO. Freilich wurde bald offenbar, dass mit dem Kalten Krieg zugleich eine Friedensordnung verschwunden war, dass sich neue weltpolitische Herausforderungen stellten und dass die Staatengemeinschaft von den Deutschen mehr erwartete als die Fortsetzung der »Scheckbuchdiplomatie«. 1994 gab das Bundesverfassungsgericht grünes Licht für Auslandseinsätze der Bundeswehr, von denen sich die Deutschen in Zeiten der Teilung völlig entwöhnt hatten. Was dann mit der Beteiligung am Einsatz der NATO im Kosovo 1999 Realität wurde, verwandelte sich in Afghanistan zur Gewissheit: In einer instabiler und unübersichtlicher gewordenen Welt haben, vom internationalen Terrorismus über die Menschenrechte bis zum Klima, die Bedrohungen und Herausforderungen zugenommen – und die Frage von Krieg und Frieden ist zurück auf der deutschen Tagesordnung.
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Literatur Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90, München 1998. Andreas Rödder, Deutschland einig Vaterland. Die Geschichte der Wiedervereinigung, München 2009. Philip Zelikow / Condoleezza Rice, Sternstunde der Diplomatie. Die deutsche Einheit und das Ende der Spaltung Europas, Berlin 1997 (zuerst Engl. u. d. T. Germany Unified and Europe Transformed. A Study in Statecraft, Cambridge, Mass. 1995).
Anmerkungen 1 Hans-Dietrich Genscher, Erinnerungen, Berlin 1995, S. 683. 2 Gorbatschow und Schewardnadse gegenüber Genscher in Moskau am 5. Oktober 1989, zit. nach Alexander Galkin / Anatoli Tschernjajew (Hg.), Michail Gorbatschow i germanski wopros. Sbornik dokumentow. 1986–1991 [Michail Gorbatschow und die deutsche Frage. Eine Dokumentensammlung 1986–1991], Moskau 2006, S. 273–284 (Zitate: 276–279 und 283), dort allerdings nicht das Hitler-Zitat; vgl. dafür Alexander von Plato, Die Vereinigung Deutschlands – ein weltpolitisches Machtspiel. Bush, Kohl, Gorbatschow und die geheimen Moskauer Protokolle, Berlin 2002, S. 132, sowie Philip Zelikow / Condoleezza Rice, Sternstunde der Diplomatie. Die deutsche Einheit und das Ende der Spaltung Europas, Berlin 1997, S. 199f. und S. 553f. Anm. 98. 3 Jacques Attali, Verbatim. Tome III: Chronique des années 1988–1991, Paris 1995, S. 370; vgl. auch Margaret Thatcher, The Downing Street Years, London 1993, S. 796f., und Robert L. Hutchings, American Diplomacy and the End of the Cold War. An Insider’s Account of U.S. Policy in Europe, 1989–1992, Washington, D.C. 1997, S. 96 mit Anm. 22; vgl. auch den Brief von Charles Powell, dem Private Secretary der britischen Premierministerin für Außenpolitik, vom 8. Dezember 1989, in: Documents on British Policy Overseas, Series III, Vol. II (German Unification 1989–1990), London 2009, Dok. 71, S. 164–166. 4 Vgl. Horst Teltschik, 329 Tage. Innenansichten der Einigung, Berlin 1991, S. 83; zur Andeutung im Gespräch mit dem ungarischen Ministerratsvorsitzenden Németh am 16. Dezember 1989 s. Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90, München 1998, Dok. 124, S. 656. 5 Michail Gorbatschow, Rede vor den Vereinten Nationen am 7. Dezember 1988, in: Europa-Archiv 44 (1989), D 27. 6 Vgl. Der Spiegel vom 25. September 1989, S. 17. 7 Texte zur Deutschlandpolitik, hg. vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Bd. III/7, S. 225. 8 Aufruf »Für unser Land« vom 26. November 1989, zit. nach Matthias Judt (Hg.), DDR-Geschichte in Dokumenten. Beschlüsse, Berichte, interne Materialien und Alltagszeugnisse, Bonn 1998, S. 544. 9 Zit. nach Karsten Timmer, Vom Aufbruch zum Umbruch. Die Bürgerbewegung in der DDR 1989, Göttingen 2000, S. 345. 10 Herbert Kremp, Lassen wir uns die Wiedervereinigung von anderen vorformulieren?, in: Welt am Sonntag vom 19. November 1989. 11 Teltschik, 329 Tage [wie Anm. 4], S. 49. 12 Kohl, Bundestagsrede vom 28. November 1989, in: Verhandlungen des Deutschen Bundestages Stenographische Berichte. 11. Wahlperiode, 177. Sitzung, S. 13502–13514; die Zehn Punkte-Erklärung S. 13510–13514. 13 Botschaft Gorbatschows an Kohl, 10. November 1989, zit. nach den Akten von Egon Krenz, in: Gerd-Rüdiger Stephan / Daniel Küchenmeister (Hg.), »Vorwärts immer, rückwärts nimmer!« Interne Dokumente zum Zerfall von SED und DDR 1988/89, Berlin 1994, Dok. 49, S. 242.
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14 Helmut Kohl, »Ich wollte Deutschlands Einheit.« Dargestellt von Kai Diekmann und Ralf Georg Reuth, Berlin 1996, S. 150 und 195–198; Genscher, Erinnerungen [wie Anm. 1], S. 663. 15 Zelikow / Rice, Sternstunde [wie Anm. 2], S. 209. 16 Teltschik, 329 Tage [wie Anm. 4], S. 171. 17 Hubert Védrine, Les mondes de François Mitterrand. À l’Élysée 1981–1995, Paris 1996, S. 441. 18 Thatcher, The Downing Street Years [wie Anm. 3], S. 796. 19 Julij A. Kwizinskij, Vor dem Sturm. Erinnerungen eines Diplomaten, Berlin 1993, S. 12. 20 Vermerk über ein Gespräch von Gregor Gysi, Vorsitzender der SED, mit Alexander Jakowlew, Politbüromitglied und Sekretär des ZK der KPdSU, am 14. Dezember 1989 in Berlin, in: Detlef Nakath / Gero Neugebauer / Gerd-Rüdiger Stephan (Hg.), »Im Kreml brennt noch Licht«. Die Spitzenkontakte zwischen SED/PDS und KPdSU 1989–1991, Berlin 1998, Dok. 14, S. 108. 21 Kwizinskij, Vor dem Sturm [wie Anm. 19], S 40. 22 Erörterung der deutschen Frage in einer Besprechung im engen Kreis im Zimmer des Generalsekretärs des ZK der KPdSU am 26. Januar 1990, in: Galkin / Tschernjajew (Hg.), Michail Gorbatschow i germanski wopros [wie Anm. 2], S. 307–311, Zitat: S. 311. 23 Der Spiegel vom 19. März 1990, S. 1. 24 Mary Sarotte, 1989. The Struggle to Create Post-Cold War Europe, Princeton 2009, S. 204–208. 25 So Bushs Sicherheitsberater Scowcroft in einer Vorlage vom 22. Februar 1990, in: Zelikow / Rice, Sternstunde [wie Anm. 2], S. 297. 26 Aufzeichnung des Gesprächs zwischen Bush und Kohl in Camp David, 25. Februar 1990, Dokumente zur Deutschlandpolitik [wie Anm. 4], Dok. 193, S. 877. 27 Vortrag Kohls vor dem Institut français des relations internationales (IFRI) in Paris am 17. Januar 1990, zit. nach Werner Weidenfeld, Außenpolitik für die deutsche Einheit, Stuttgart 1998 (Geschichte der deutschen Einheit, Bd. 4.), S. 483. 28 Teltschik, 329 Tage [wie Anm. 4], S. 164. 29 Philip Zelikow / Condoleezza Rice, Germany Unified and Europe Transformed. A Study in Statecraft, Cambridge, Mass. 1995, S. 280. Ein deutsches Protokoll dieses in Ludwigshafen geführten Telefonats war nicht zu ermitteln (vgl. Dokumente zur Deutschlandpolitik [wie Anm. 4], S. 1178 Anm. 1 und S. 175 Anm. 587). 30 Charta von Paris für ein neues Europa vom 21. November 1990, in: Europa-Archiv 1990, D 656– 664.
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Maastricht 1992 Europäischer »Staatenverbund« auf dem Weg zum Bundesstaat? I. Von den ersten Tagen der Bundesrepublik Deutschland an bildete die europäische Integration – neben der transatlantischen Bindung an die USA – die zweite Säule jener Politik der Westbindung, die für die Bonner Republik zum Kern ihrer »Staatsräson« wurde1 und die nach der globalpolitischen Wende der Jahre 1989/1990 in modifizierter Form auch für die Berliner Republik weitergalt. Das ›Projekt Europa‹ zeichnete sich dabei von Beginn an durch einen eigentümlichen Doppelcharakter aus: Es entwickelte sich einerseits aus dem – bald zum Mythos gewordenen – Willen der Westeuropäer, Europa aus den Trümmern eines verheerenden Krieges zu Frieden, Freiheit und wirtschaftlicher Prosperität zu führen. Gerade für das deutsch-französische Verhältnis war es von besonderer Bedeutung, die tiefen Gräben zwischen den beiden Völkern zu überwinden, wobei zumindest für die unmittelbare Nachkriegszeit auch das Ziel eines europäischen Bundesstaates eine politisch angestrebte Perspektive bildete. Hinzu trat andererseits eine dezidiert machtpolitische Komponente, die wiederum zwei Bestandteile aufwies: Nicht nur übten die USA in Zeiten des sich verschärfenden Ost-West-Konflikts auf die Westeuropäer maßgeblichen Druck aus, der zur Implementierung der europäischen Einigung disziplinierte und von dem sich die Europäer wiederum im Wege ihres partiellen Schulterschlusses alsbald zu emanzipieren suchten. Auch für die Westeuropäer war es von elementarer Bedeutung, die Bundesrepublik Deutschland als Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reiches durch Integration in supranationale und zwischenstaatliche Strukturen einzufassen und zu domestizieren. Dies wiederum traf mit der deutschen realpolitischen Einsicht und dem Willen zur staatlichen »Selbstbehauptung« durch »Selbstbeschränkung«2 zusammen, der zugleich mit einer dezidierten Bereitschaft zur Aussöhnung gepaart war. Konnten die fünfziger Jahre in der Geschichte der europäischen Integration – trotz des Scheiterns der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) – durch die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) sowie der Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM) als europäische Dekade bezeichnet werden, so verlor der Prozess der europäischen Integration seit den sechziger Jahren an Dynamik und ging im Laufe der siebziger Jahre in eine zunehmende Krise über. Dem zeitgenössischen Beobachter bot sich daher Anfang der achtziger Jahre das Bild der
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sogenannten »Eurosklerose«, die sich in die allgemeine Krisenhaftigkeit der globalpolitischen Großwetterlage einpasste. Mehrere Probleme hatten sich dabei zu einer scheinbar unüberwindbaren Mauer aufgebaut: Die Volkswirtschaften Europas stagnierten, die Inflationsraten waren gefährlich hoch, und starke Außenhandelsungleichgewichte belasteten die Wirtschaftsbeziehungen der Mitgliedsstaaten. Protektionismus und nationalstaatliche Alleingänge häuften sich. Auf den Gipfeltreffen der Europäischen Gemeinschaften (EG) bestimmten Streitigkeiten über die Agrarpolitik, die den größten Haushaltstitel im gemeinsamen Etat beanspruchte, die Tagesordnung. Steigende Ausgaben aufgrund von Mindestpreisen und Absatzgarantien für Agrarprodukte verschärften die ohnehin prekäre Finanzierungsgrundlage der EG weiter. Zudem forderte die britische Premierministerin Margaret Thatcher immer vehementer einen Ausgleich für den als zu hoch empfundenen Beitrag Großbritanniens zum EG-Haushalt. Das Vereinigte Königreich profitierte zwar nur in geringem Maße von den umfangreichen Agrarsubventionen der EG, hatte aber gleichzeitig überdurchschnittlich hohe Abgaben zu leisten. Die Blockaden sowohl bei der Agrarpolitik als auch bei den Haushaltsstreitigkeiten offenbarten ein weiteres Problemfeld der EG: die Notwendigkeit institutioneller Reformen. Denn nach dem von Frankreich unter Präsident Charles de Gaulle im Jahre 1966 erzwungenen ›Luxemburger Kompromiss‹, der faktisch das Einstimmigkeitsprinzip für alle als wichtig deklarierten Entscheidungen im EG-Ministerrat vorsah, war die Entscheidungsfähigkeit jenes zentralen Organs der EG zuweilen vollständig gelähmt. Dass die europäische Integration vor allem seit der zweiten Hälfte der achtziger Jahre und unter maßgeblicher deutscher Beteiligung ungeahnte Rasanz aufnehmen würde, lag zwar zu Zeiten der ›Wende‹ zur liberal-konservativen Regierung unter Bundeskanzler Helmut Kohl im Jahr 1982 perspektivisch noch in weiter Ferne. Aber schon im Juni 1983 sollte es auf der Tagung des Europäischen Rates in Stuttgart unter deutschem Vorsitz gelingen, das Rad der europäischen Integration wieder in Bewegung zu bringen: »Stärkung und weiterer Ausbau der Gemeinschaften« firmierten dabei als zentrale Ergebnisse des Gipfels und gingen als europapolitische Maximen in die mit programmatischem Titel überschriebene Stuttgarter »Deklaration zur Europäischen Union«3 ein. Die sich hierin bereits andeutende Bereitschaft zu Reformen der EG-Institutionen manifestierte sich indes erst nach der Einigung in den dringlichen Fragen der Gemeinsamen Agrarpolitik sowie in der Bereitschaft der europäischen Partner, Großbritannien den nachdrücklich geforderten Beitragsrabatt zu gewähren. Begünstigt wurde die Lösung der verfahrenen Lage durch eine anziehende Konjunktur, die es vor allem der Bundesrepublik ermöglichte, sich überproportional an entstehenden Mehrkosten europäischer Kompromisspakete zu beteiligen – ein Verfahren, das katalysatorisch auf den Prozess der europäischen Integration wirken und in den achtziger Jahren noch mehrfach mit Erfolg angewandt werden sollte.
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Im Laufe der achtziger Jahre sollte dann – wie bereits zu Beginn der fünfziger Jahre – vor allem das deutsch-französische Tandem – stets öffentlichkeitswirksam und »in geradezu ritueller Form«4 inszeniert durch Helmut Kohl und den französischen Staatspräsidenten François Mitterrand – den europäischen Integrationsprozess erneut in Bewegung setzen. Nicht nur griffen beide den Impuls der Stuttgarter Deklaration auf und präsentierten anlässlich des Treffens des Europäischen Rates in Mailand im Juni 1985 einen gemeinsamen Vertragsentwurf zur Gründung einer Europäischen Union. Beide setzen vielmehr gegen die Stimmen Dänemarks, Großbritanniens und des 1981 den Europäischen Gemeinschaften beigetretenen Griechenlands auch die Einberufung einer Regierungskonferenz durch, die die schrittweise Verwirklichung einer europäischen Union aushandeln und vor allem auf die Vollendung des europäischen Binnenmarktes hinwirken sollte. Und so erarbeitete die auf dem Mailänder Gipfel einbestellte Regierungskonferenz, die im September 1985 in Luxemburg zusammentrat, ein zukunftsträchtiges Ergebnis: die Einheitliche Europäische Akte (EEA), die am 17. Februar 1986 unterzeichnet wurde. Aus historischer Perspektive dokumentierte sie den Umschwung hin zur grundlegenden Reform der Europäischen Gemeinschaften, die mit dem Abschluss des Vertrages von Maastricht vom 7. Februar 1992 ihren vorläufigen Höhepunkt finden sollte. Mit der EEA gelang den europäischen Partnern neben Änderungen und Ergänzungen der europäischen Vertragswerke vor allem eine Einigung darüber, die Vollendung des europäischen Binnenmarktes als Zone des freien Verkehrs von Waren, Dienstleistungen, Personen und Kapital bis Ende des Jahres 1992 zu verwirklichen. Freilich lag dieser Einigung ein hochkomplexes Motivbündel zu Grunde. Im Hinblick auf Deutschland, Frankreich und Großbritannien kristallisierten sich jedoch zentrale Interessen heraus: Während sich Bonn durch den Binnenmarkt vor allem eine Stärkung der eigenen Volkswirtschaft versprach und darin überdies eine Etappe auf dem Weg zur Errichtung einer europäischen politischen Union erblicken wollte, verfolgte Paris neben der Sicherstellung seiner wirtschafts- und agrarpolitischen Interessen vor allem das politisch-strategische Ziel, die Bundesrepublik als wirtschaftlichen Riesen durch eine Europäisierung einzuhegen. Damit korrespondierte auch das französische Interesse, die dominante Stellung der D-Mark in Europa aufzubrechen. Großbritannien indes war trotz grundlegender Vorbehalte gegenüber weiteren Integrationsschritten bereit, die EEA mitzutragen, lag doch die Vollendung des gemeinsamen europäischen Marktes auch zuvörderst im britischen Interesse. Überdies erfuhr der europäische Integrationsprozess nachdrückliche Unterstützung durch den im Dezember 1984 ernannten Präsidenten der Europäischen Kommission, Jacques Delors. Unter seiner Federführung legte die EGKommission im unmittelbaren Vorfeld der EEA ein ›Weißbuch zur Vollendung des Binnenmarktes‹ vor, welches in den Hauptstädten der EG die Diskussion
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um den gemeinsamen Binnenmarkt maßgeblich anstieß. Dass Delors in jener Gunst der Stunde auch zugleich die sich bietende Chance zur Steigerung des Einflusses der Kommission erkannte und daher nachdrücklich den Kurs des Ausbaus und der Intensivierung der europäisch-supranationalen Integration unterstützte, deutet zugleich auf ein Spezifikum der Geschichte der europäischen Integration hin: Die Kombination aus forcierter Europapolitik seitens einiger Nationalstaaten und hieran anknüpfender – sowie den Integrationsprozess beschleunigender – Aktivität seitens der europäischen Institutionen war im Stande, eine Bewegungsdynamik in Gang zu setzen, deren Sogwirkung sich selbst interessenpolitisch gegenläufig agierende Mitgliedsstaaten nicht grundsätzlich entziehen konnten.
II. Besonders Frankreich war es dann Ende der achtziger Jahre, das – einmal mehr in enger Verzahnung mit der europäischen Kommission – dem Plan des gemeinsamen Binnenmarktes die Errichtung einer europäischen Währungsunion zur Seite stellen wollte. Nachdem jenes Ziel erstmals im gescheiterten Werner-Plan 1970 umzusetzen versucht worden war, konkretisierte sich das Projekt Ende der achtziger Jahre: Ein im Juni 1988 durch den Europäischen Rat von Hannover eingesetzter Ausschuss unter dem Vorsitz Jacques Delors’ erarbeitete den ›DelorsBericht‹, der wiederum durch den Europäischen Rat von Madrid im Juni 1989 gebilligt wurde. Der Bericht sah einen Plan zur Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) in drei Stufen vor, wobei sich der Madrider Rat nur auf die erste Stufe, die Liberalisierung des Kapitalverkehrs und die Abstimmung der Wirtschafts- und Währungspolitik ab dem 1. Juli 1990, einigen konnte. Zwar hatte man die Grundsätze der beiden weiteren Stufen, die zur Vollendung der Währungsunion mitsamt einheitlicher Währung führen sollten, positiv beschieden, aber ihre konkrete Umsetzung und vor allem der dazugehörige Zeitplan waren offengeblieben. Hatte also der Prozess der europäischen Integration von der Mitte der achtziger Jahre bis zum Madrider Gipfel im Juni 1989 enorm an Fahrt aufgenommen, so dass auch das Ziel einer politischen Einigung Europas konkret im Raum stand, so sollte die kurze Zeit später völlig unvorhergesehen hereinbrechende »Revolution der Staatenwelt«5 diesbezüglich geradezu katalytische Wirkung entfalten: Die durch den Zusammenbruch des Ostblocks und die deutsche Einheit eruptiv hervortretenden Destabilisierungs- und Desintegrationspotentiale sowohl für das internationale Staatensystem als auch für das ›Projekt Europa‹ lösten zusammen mit den europapolitischen Impulsen der achtziger Jahre den stärksten Integrationsschub seit den fünfziger Jahren aus.
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Mit dem Fall der Mauer und Kohls »Offensive der Zehn Punkte« am 28. November 1989, endgültig aber seit der Volkskammerwahl in der DDR am 18. März 1990 trat in den Hauptstädten der Welt – und vor allem in den Hauptstädten Westeuropas – Schritt für Schritt ins Bewusstsein, dass ein wiedervereinigter deutscher Nationalstaat in geopolitischer wie volkswirtschaftlicher Hinsicht wohl die dominierende »Zentralmacht Europas«7 werden würde. Fürchtete die britische Premierministerin Margaret Thatcher in Anbetracht jener Zukunftserwartung einmal mehr den »deutschen Moloch«, so lag es denn auch im Blick auf eine mögliche Neuauflage der incertitudes allemandes im vitalen Interesse Frankreichs, wie Thatcher das Konzept des französischen Staatspräsidenten Mitterrand beschrieb, »den europäischen Einigungsprozess voranzutreiben, um den deutschen Riesen zu bändigen«8. Gegenüber jener in Paris und London dominierenden Sichtweise trat indes besonders deutlich der Kontrast zur regierungsamtlichen Politik Bonns während jener turbulenten Jahre 1989/1990 hervor. So verkündete Bundeskanzler Kohl, der sich Konrad Adenauers europapolitischem Erbe verpflichtet fühlte, welches er – trotz schillernder konzeptioneller Vielschichtigkeit – auf das Ziel der Errichtung der Vereinigten Staaten von Europa konzentriert sah, am 4. Oktober 1990 im Berliner Reichstag, wo einen Tag, nachdem der deutsche Nationalstaat seine vollständige Souveränität erlangt hatte, erstmals das gesamtdeutsche Parlament zusammentrat: »Kontinuität und Neubeginn – das vereinte Deutschland steht für das eine wie für das andere.« Die deutsche Einheit erweise sich als »die Chance«: »Wir wollen die politische Union in Europa.«9 Was hierin zum Ausdruck kam, war also nichts Geringeres als die dezidierte politische Bereitschaft, die soeben vervollkommnete deutsche Staatsgewalt auf einen künftigen europäischen Bundesstaat zu transferieren. Für den Europäer Helmut Kohl war dabei zweierlei grundlegend: Einerseits galt es, »durch unauflösliche Integration einen Rückfall in die Jahrhunderte andauernden Kriege zwischen den Staaten Europas ein für allemal [zu] verhindern«. Andererseits erkannte Kohl zugleich das akute Sicherheitsbedürfnis der europäischen Partner gegenüber dem vereinten deutschen Nationalstaat und versuchte daher zunächst, die deutsche »Akzeptanz im europäischen Staatensystem« europapolitisch abzusichern.10 So sehr jedoch die integrationsfreudige Haltung der Bundesregierung wie auch speziell ihr bekundeter Wille, die europäische Föderation anzustreben, in den Hauptstädten Westeuropas als beruhigend wahrgenommen werden mochte, so unterschätzte man deutscherseits gleichzeitig die Dauerhaftigkeit der Nationalstaaten (inklusive des eigenen) im europäischen Staatensystem. Aus genereller Perspektive auf die lange Geschichte der europäischen Integration mag man daher mit John Gillingham konstatieren: »No big country except Germany wants federalism.«11 Dieser Zielkonflikt in Bezug auf die Finalität Europas, der bereits Frankreich, besonders aber Großbritannien von der Bundesrepublik konzeptionell unter-
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schied, änderte jedoch wenig an der allgemeinen Dynamik, mit der die europäische Integration seit Jahresende 1990 weiter voranschritt: In komplizierten Verhandlungen, die am 7. Februar 1992 in der Unterzeichnung des MaastrichtVertrages über die Europäische Union gipfelten, nahmen die europäischen Partner eine spezifische Austarierung zwischen Elementen supranationaler Nationalstaatstranszendierung und bloß intergouvernementaler Politikkoordination vor, die fortan die Rechtsgrundlage der EU bildete. Der Vertrag von Maastricht – oder auch Vertrag über die Europäische Union (EUV) – führte in Form der sogenannten ›Tempelkonstruktion‹ der EU die existierenden supranationalen europäischen Institutionen, also EG (vormals: EWG) und EURATOM, in einer ersten Säule zusammen und stellte dieser zwei weitere, intergouvernemental organisierte Säulen – Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) sowie Inneres und Justiz – zur Seite. Des Weiteren erzielte man noch ausstehende Einigungen zur Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion, die zum 1. Januar 1999 zur Einführung der neuen europäischen Währung führen sollten. Gerade im Bereich der Währungspolitik versinnbildlichte sich der ausgeprägte deutsche Wille zu Integration und Souveränitätsverzicht in besonderem Maße. Denn tatsächlich hatte die Bereitschaft der Bundesregierung zur Aufgabe der stabilen D-Mark zugunsten einer europäischen Währung bereits vor der Wiedervereinigung bestanden, auch wenn die konkrete Einwilligung hierzu durchaus eine signifikante »deutsche Konzession an Frankreich während des Wiedervereinigungsprozesses darstellte«12. Allerdings hatte die Bundesregierung schon bei der Verabschiedung des ›Delors-Berichts‹ bezüglich der herzustellenden Währungsunion auf die Wahrung zentraler Prinzipien der deutschen Geldpolitik gedrängt, die letztlich auch Berücksichtigung fanden: In der Summe ging es dabei um die Errichtung einer am Vorbild der Deutschen Bundesbank ausgerichteten, unabhängigen und der Geldwertstabilität verpflichteten Europäischen Zentralbank. In seiner politischen Bewertung des Vertragswerkes von Maastricht am 13. Dezember 1991 vor dem Deutschen Bundestag betonte Kanzler Kohl ostentativ die »Irreversibilität« des erreichten Stands der europäischen Integration: der Weg zur EU wie die Umsetzung der WWU seien »unumkehrbar«. Zwar sei in Anbetracht der beiden intergouvernementalen Säulen der EU »der Wunsch, noch mehr zu erreichen, verständlich.« Er werde auch von ihm geteilt. Aber der EUVertrag werde eine »säkulare Veränderung unseres Kontinents« bewirken: »vieles von dem, was in Amtsstuben in ganz Europa – ich schließe dabei Deutschland nicht aus – heute noch gedacht wird, […] wird durch die Entwicklung hinweggefegt werden«.13 Unüberhörbar klang damit zweierlei an: Einerseits war man aus deutscher Sicht mit dem Vertragsresultat nicht vollauf zufrieden. Vor allem gegenüber Frankreich, das die EU als Staatenbund verwirklicht sehen wollte, und erst recht gegenüber Großbritannien, das jeder Form des nationalstaatlichen Souveräni-
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Abb. 1: Ein Schritt zum europäischen Bundesstaat? François Mitterrand und Helmut Kohl am 15. November 1991 auf einer Bonner Pressekonferenz im Vorfeld des Europäischen Rates von Maastricht.
tätstransfers gen ›Brüssel‹ höchst kritisch, wenn nicht ablehnend gegenüberstand, favorisierte man in Bonn »im Bewusstsein der eigenen föderalistischen Rechtschaffenheit«14 nach wie vor »ein föderal aufgebautes Europa«15. Andererseits offenbarte der Hinweis Kohls auf das in seiner Rede implizit als atavistisch kritisierte ›Amtsstuben-Denken‹ in der Kategorie der Nationalstaatlichkeit einmal mehr seinen europapolitischen Idealismus, der sich hinsichtlich seiner Teleologie durchaus mit dem Topos der »anachronistischen Souveränität«16 der Nationalstaaten verband, wie er vor allem seit den siebziger Jahren in der politischen Öffentlichkeit und zuweilen auch in der Wissenschaft beschworen worden war. Rein analytisch betrachtet bedeutete der Maastricht-Vertrag in seiner Summe »eine Auflösung tragender Elemente tradierter Staatlichkeit«17, worin auch der eigentliche Grund für jene schwere Krise gesehen werden muss, in die der Ratifikationsprozess während der Jahre 1992/1993 geriet. Nur mühsam gelang die Inkraftsetzung des EU-Vertrages zum 1. November 1993, nachdem in Dänemark 1992 zunächst ein diesbezügliches Referendum gescheitert und erst im Mai 1993 – nach dem Zugeständnis einiger Opting-out-Klauseln bezüglich des Vertragswerkes – ein weiteres Referendum positiv ausgefallen war. Auch in weiteren europäischen Staaten konnte die Zustimmung nur nach harten innenpolitischen Auseinandersetzungen erreicht werden. In Großbritannien etwa
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ereignete sich ein wahrer »Ratifizierungskrimi«18: Trotz im Vertragswerk von Maastricht bereits gewährter Sonderregelungen erhielten die Europaskeptiker im Zuge des gescheiterten Referendums in Dänemark wieder Aufwind. Erst nach größten Anstrengungen konnte im Juli 1993 in der regierungstragenden Conservative Party eine ausreichende Mehrheit im britischen Unterhaus gebildet werden. Und auch in der Bundesrepublik Deutschland brach sich eine breitere europapolitische Debatte in der Öffentlichkeit Bahn. Zudem unterlag der Vertrag von Maastricht zunächst der Verfassungskonformitätsprüfung durch das Bundesverfassungsgericht, bevor die Bundesrepublik noch am Abend des 12. Oktober 1993, am Tag der höchstrichterlichen Entscheidung, bei der italienischen Regierung die Ratifikationsurkunde hinterlegen lassen konnte. In ihrem Urteil verkündeten die Richter die Vereinbarkeit des Vertrages von Maastricht mit dem deutschen Grundgesetz. Allerdings verdeutlichten sie zugleich aus staats- und verfassungsrechtlicher Perspektive – und unter Verwendung einer gerade von Bundeskanzler Kohl oft verwandten Vokabel –, dass der EU-Vertrag auf »eine Dynamik stetiger und unumkehrbarer Kompetenzausweitung angelegt sei« und dass »in der Chiffre der ›Europäischen Union‹« bereits angedeutet sein mochte, »wohin ein europäischer Integrationsprozess nach weiteren Vertragsänderungen letztlich führen soll«, auch wenn dies vertraglich offenbleibe. In unzweideutigen Worten hielt das Gericht gegenüber den sich an dieser Stelle anschließenden staatspolitischen Implikationen fest: »Der UnionsVertrag begründet einen Staatenverbund zur Verwirklichung einer immer engeren Union der – staatlich organisierten – Völker Europas […], keinen sich auf ein europäisches Staatsvolk stützenden Staat.« Die Herrschaftslegitimation gehe im demokratischen Staat der Bundesrepublik Deutschland nach wie vor vom »Staatsvolk« aus. Die Entscheidungsbefugnisse des Deutschen Bundestages, des am höchsten legitimierten Staatsorgans, seien zwar angesichts der umfassenden Europäisierung durch den EU-Vertrag nicht in verfassungswidriger Weise entleert worden. Aber dem Bundestag müssten aus verfassungsrechtlicher Sicht jedenfalls »Aufgaben und Befugnisse von substantiellem Gewicht verbleiben«19. Im Tenor jener Bundesverfassungsgerichtsentscheidung mochte also bereits eine implizite verfassungsrechtliche Limitierung eines fortwährenden europäischen Integrationsprozesses unter beständigem Kompetenzzuwachs ›Europas‹ angelegt sein. Dennoch blieben die politischen Entscheidungsträger – jeder parteipolitischen Couleur, besonders aber solche, die den Unionsparteien angehörten – im wiedervereinigten Deutschland der neunziger Jahre perspektivisch der – mittlerweile schon traditionsreich und zugleich selbstreferentiell gewordenen – europapolitischen Maxime verhaftet, »es sei im genuin deutschen Interesse, Europa kontinuierlich zu vertiefen und zu erweitern«20.
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III. Bezog sich dabei der Begriff der ›Vertiefung‹ auf die Ausweitung des acquis communautaire (des europarechtlichen Gemeinschaftsbesitzstandes) sowie insbesondere auf die Expansion der Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaften, so zielte der Begriff der ›Erweiterung‹ auf den geographischen Raum, den die EU umfasste. Beide Dimensionen stellten in der Geschichte der europäischen Integration stets zwei Seiten ein und derselben Medaille dar. Denn mit jeder Erweiterungsstufe stieg in den europäischen Gemeinschaften zugleich auch der Grad an Heterogenität, die die gemeinsame Beschlussfassung prinzipiell erschwerte. Dass man aber – wie auch in Art. N EUV schon angekündigt – eine Reform des für die europäische Integration bahnbrechenden Vertrages von Maastricht in Erwägung ziehen musste, als dieser noch nicht einmal in Kraft getretenen war, war einem weiteren Resultat der globalpolitischen Umwälzungsprozesse der ausgehenden achtziger und frühen neunziger Jahre und damit einhergehend einer Erweiterungsperspektive der Superlative geschuldet: Die Erosion der machtpolitischen Dominanz der 1991 untergegangenen Sowjetunion hatte die vormals sowjetisch beherrschten Staaten Mittel- und Osteuropas in die nationale Selbstbestimmung entlassen. Diese zunächst politisch labil anmutenden Staaten strebten mehrheitlich die Aufnahme in die EU an. Der Europäische Rat formulierte daher bereits im Juni 1993 auf seiner Tagung in Kopenhagen einen umfassenden Kriterienkatalog, dessen Erfüllung die Grundlage für den Beitritt der ostmitteleuropäischen Interessenten bilden sollte, der allerdings erst zum 1. Mai 2004 sowie zum 1. Januar 2007 vollzogen wurde. Aus der Sicht der Mittel- und Osteuropäer versprach die Zugehörigkeit zur EU – das »object of Eastern desires«21 schlechthin – Unterstützungs- und Hilfeleistungen beim Aufbau der Demokratie sowie Partizipationsmöglichkeiten am europäischen Binnenmarkt, damit auch volkswirtschaftliche Prosperitätsperspektiven und überdies politische Sicherheit vor einer in Zukunft möglicherweise revisionistisch agierenden Nuklearmacht Russland. Beim Blick der EU-Partner auf Ostmitteleuropa wog zudem die jüngste desillusionierende Erfahrung schwer, die sich durch die Rückkehr des Krieges nach Europa eingestellt hatte, seit Jugoslawien 1991 in einem kriegerischen Auflösungsprozess begriffen war. Daher verfolgten alle EU-Staaten – neben handfesten außenhandelspolitischen Interessen, deren erhebliche Bedeutung keineswegs gemindert werden soll – nun zuvörderst das Ziel einer nachhaltigen Stabilisierung Ostmitteleuropas. Gerade hierzu bot sich die Ausdehnung der Europäischen Union an, die sich als Gemeinschaft des Friedens, der Rechtsstaatlichkeit sowie der internationalen Kooperation erwiesen hatte und vor allem den Krieg zwischen den vormaligen europäischen Großmächten längst effektiv gebannt hatte. Vor allem aus der Sicht der Ost- und Mitteleuropäer war eindeutig: »This is the greatest single accomplishment to which European Integration has contributed.«22
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Zu jenem generellen Stabilisierungsinteresse traten weitere teils nationalstaatlich orientierte Interessen und Motive einzelner EU-Länder, die den gemeinsamen Willen zur Integration der ostmitteleuropäischen Staaten in die EU zusätzlich bestärkten: Während etwa Großbritannien maßgeblich und mit geradezu taktischem Vorsatz Lobby für die ›Osterweiterung‹ betrieb, »calculating that an enlarged Union would inevitably be diluted into the pan-European free trade area of British dreams«23, war für die Bundesrepublik Deutschland mitunter auch die historische Perspektive auf die eigene Geschichte wichtig gewesen, weswegen sie ihr politisches Gewicht für die ›Osterweiterung‹ besonders nachdrücklich geltend machte. Denn so wie man einst selbst durch Westbindung und supranationale Integration Schutz und Unterstützung erfahren hatte und zu einer stabilen und wirtschaftlich blühenden Demokratie hatte werden können, sollte dies zukünftig auch den Osteuropäern möglich sein. Von einer rein altruistischen Haltung der Bundesrepublik konnte indes keine Rede sein. Vielmehr begriff gerade Bonn seine östlichen Anrainer wie auch die weiter östlich gelegenen Staaten in besonderem Maße als willkommene Handelspartner, die es unbedingt in den europäischen Binnenmarkt zu integrieren galt. Zudem verstand man es als »fundamentales Interesse«, das ostmitteleuropäische »Ordnungsproblem« durch europäische Integration zu lösen, um einen »Rückfall in das instabile Vorkriegssystem und die Rückkehr Deutschlands in die alte Mittellage« zu verhindern. Man strebe an, so war in einem europapolitisch bedeutsamen Positionspapier des Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Wolfgang Schäuble, und des außenpolitischen Sprechers der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Karl Lamers, aus dem Jahr 1994 zu lesen, »zur ruhigen Mitte Europas zu werden«24. Neben den Reflexionen in Sachen ›Osterweiterung‹ diagnostizierte das SchäubleLamers-Papier: »Der europäische Einigungsprozess ist an einen kritischen Punkt seiner Entwicklung angelangt.« Es drohe die Gefahr, dass die Union zu einer »gehobenen Freihandelszone« degeneriere, da ihre Institutionen chronisch überdehnt seien und sich die Interessen der Mitgliedsstaaten im Zeichen der »Zunahme eines ›regressiven Nationalismus‹« ausdifferenziert hätten. In Anbetracht der Lage sei daher die Ausbildung einer »Kerneuropa-Gruppe« anzustreben, die aus Frankreich, den Benelux-Staaten und Deutschland bestehen solle. Sie würde den beschriebenen zentrifugalen Kräften als »starkes Zentrum« entgegenwirken und den Kern des fortzusetzenden europäischen Einigungsprozesses in Richtung einer europäischen Föderation bilden.25
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IV. Mitte der neunziger Jahre schritt der europäische Reformprozess weiter voran und erbrachte – nach Einberufung einer qua Art. N EUV vorgesehenen Regierungskonferenz – mit der Unterzeichnung des Vertrages von Amsterdam am 2. Oktober 1997 einen Etappenerfolg, der sich jedoch kaum mit dem europapolitischen Ertrag des Maastricht-Vertrages messen ließ. Zwar floss durch die Einführung des Instrumentes der ›Verstärkten Zusammenarbeit‹ ein mit dem »Kerneuropa«-Gedanken eng verwandter Ansatz im Sinne des ›Europa der zwei Geschwindigkeiten‹ in die Reform mit ein. Bereits zeitgenössisch dominierte aber im Blick auf den Amsterdamer Vertrag die Sicht auf die sogenannten ›leftovers‹, also auf jene grundlegenden Probleme der institutionellen Ausgestaltung in Bezug auf die Größe der EU-Kommission und die Abstimmungsmodalitäten im Ministerrat, die aufgrund gegenläufiger Interessen der mittlerweile fünfzehn EU-Mitgliedsstaaten keiner Regelung zugeführt werden konnten. Dieser Probleme nahm sich wenige Jahre später – jedoch wieder in Form eines Minimalkonsenses – der am 26. Februar 2001 unterzeichnete Vertrag von Nizza an, dem besonders die Vorbereitung der EU auf die nahende ›Osterweiterung‹ oblag; nach harten Verhandlungen erbrachte die neue Abmachung unter anderem eine Veränderung bei der Ministerrats-Abstimmungsregel vom Einstimmigkeitserfordernis hin zur vermehrten Anwendung der sogenannten qualifizierten Mehrheitsregel, die die Entscheidungsfindung im Ministerrat erleichtern sollte. Die zähen und zuweilen wenig ergiebigen Verhandlungen zu den Verträgen von Amsterdam und Nizza hatten die Probleme jenes Prozesses der zunehmenden Heterogenisierung der Interessen der europäischen Partner besonders deutlich offenbart. Die härtere Gangart der europäischen Partner untereinander, die sich mittlerweile in den Verhandlungen etabliert zu haben schien, hatte auch die integrationswillige Bundesrepublik Deutschland erfasst. Denn trotz beharrlichen Festhaltens am Ziel des europäischen Bundesstaates drosselte die Bundesregierung noch zu Zeiten der Kanzlerschaft Helmut Kohls in ihrer praktischen Politik die europapolitische Fahrt. So verhinderte man beispielsweise im Rahmen der Verhandlungen des Amsterdamer Vertrages die Überführung der Innen- und Justizpolitik in den Entscheidungsmodus des Ministerrats nach Mehrheitsprinzip, beharrte also für den besagten Politikbereich auf dem Einstimmigkeitsprinzip, was die Wahrung nationalstaatlicher Interessen garantierte. Anders gewendet mochte man hierin zugleich erkennen, »dass die mit dem Machtzuwachs verbundenen Rollenerwartungen […] an die neue ›Zentralmacht‹ Europas« mittlerweile »einen nationalen Reflex« auszulösen begannen26 – ein Trend, der sich im Blick auf die deutsche Europapolitik nach dem Regierungswechsel des Jahres 1998 noch verstärkte. Ähnlich wie die Regierung Kohl bei den Verhandlungen zum Vertrag von Amsterdam verhinderte nämlich auch die rot-grüne Bundesregierung im Vor-
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feld des Vertrages von Nizza die Überführung der Asyl- und Einwanderungspolitik in das Mehrheitsentscheidungsprinzip im Ministerrat und zeigte dadurch an, dass sie nicht bedingungslos den Weg der supranationalen Vergemeinschaftungspolitik zu gehen bereit war. Ergänzung fand diese Europapolitik dabei in der regierungsamtlichen Rede vom ›Ende der Scheckbuchdiplomatie‹, die von einer geringeren Zahlungsbereitschaft in Sachen europäischer Integration kündete und letztlich offenbarte, dass man seitens der Bundesregierung mittlerweile ein eher »pragmatisch-instrumentelles Verhältnis zu Brüssel«27 eingenommen hatte. Allerdings trat auch die rot-grüne Europapolitik nicht durchgängig in solcher Dezidiertheit zu Tage, sondern blieb vielmehr ambivalent. Denn durchaus in Kontinuität zu früheren europapolitischen Konzepten nahm nun auch der Außenminister der rot-grünen Regierung, Joseph Fischer, die zum Stillstand gekommene Debatte zur Frage der Finalität der EU wieder auf und suchte nach einem europäischen Weg »vom Staatenverbund zur Föderation« – so der programmatische Titel seiner vielzitierten Rede vom 12. Mai 2000 an der Humboldt-Universität zu Berlin. Vor dem Hintergrund der anstehenden EU-›Osterweiterung‹ und der begrenzten Fortschritte bei der Reform der Handlungsfähigkeit der EU seit dem Vertrag von Maastricht plädierte Fischer für den »Übergang vom Staatenverbund der Union hin zur vollen Parlamentarisierung in einer Europäischen Föderation«. Allerdings empfehle sich zunächst ein »möglicher Zwischenschritt« (dessen konzeptionelle Grundlage cum grano salis derjenigen des »Kerneuropas« früherer Tage entsprach): Es müsse ein europäisches »Gravitationszentrum« gebildet werden, das sich als »Avantgarde« einer »neuen europäischen Grundordnung« unterstellen solle. Diese könne sodann als »Nukleus einer Verfassung der Föderation« fungieren, die wiederum dereinst im Wege eines »bewussten politischen Neugründungsaktes« konstituiert werden solle.28 Aus historischer Perspektive betrachtet, löste Fischers Appell einen umfassenden Reformimpuls aus, der eine grundsätzliche Revision des Vertragswerkes von Maastricht samt seiner materiellen Ergänzungen und Modifikationen in den Verträgen von Amsterdam und Nizza in Aussicht stellte. So setzte der Europäische Rat von Laeken am 15. Dezember 2001 statt einer weiteren Regierungskonferenz nun einen »Konvent«29 ein, der einen europäischen Verfassungsvertrag erarbeitete, welcher am 29. Oktober 2004 in Rom unterzeichnet wurde. Nicht nur sollte die EU nunmehr eigene Rechtspersönlichkeit erhalten und als politisches System vielfachen organisatorischen und institutionellen Veränderungen unterliegen. Vielmehr schien auch der bisherige »Staatenverbund« EU als Rechtsgebilde sui generis durch den Vertrag über eine Verfassung für Europa (VVE) in ein gänzlich neues Entwicklungsstadium transferiert zu werden, in dem der EU originäre Attribute souveräner Staatlichkeit zukommen sollten, worauf gerade Symbolbegriffe wie ›Verfassung‹, ›Hymne‹, ›Flagge‹, EU-›Außenminister‹ und ›Präsident des Europäischen Rates‹ hinzudeuten schienen.
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Gerade die letztlich jedoch nebulös gebliebene Frage nach einem möglichen Staatlichkeitscharakter der EU gab – wie schon zu Zeiten der Ratifikationskrise des Maastricht-Vertrages – den Ausschlag dafür, dass in den EU-Mitgliedsstaaten eine erneute Kontroverse um die Annahme des Verfassungsvertrages entbrannte, der am Ende unter dem Druck ablehnender Referenden in Frankreich und in den Niederlanden im Mai und Juni 2005 scheiterte und den Prozess einer weiteren Vertiefung der EU zunächst stoppte. Die in den Hauptstädten der EU-Partner in der Folge selbst verordnete ›Denkpause‹ erwies sich in der darauffolgenden Zeit tatsächlich nur als retardierendes Moment im Prozess der weiteren europäischen Vertiefung. Schon am 25. März 2007 fassten die Staats- und Regierungschefs der mittlerweile 27 EU-Mitgliedsstaaten den Beschluss, »die Europäische Union bis zu den Wahlen zum Europäischen Parlament 2009 auf eine erneuerte gemeinsame Grundlage zu stellen«30, wie die ›Berliner Erklärung‹ anlässlich des 50. Jahrestages der Unterzeichnung der Römischen Verträge programmatisch festhielt, die unter der Ägide der deutschen EU-Ratspräsidentschaft zustande gekommen war. Und mit geradezu atemberaubender Geschwindigkeit folgte unter dieser Maßgabe bereits am 16. Dezember 2007 die Unterzeichnung des Lissaboner Vertrages, der im Vergleich zum VVE gerade auf kritische Aspekte wie den Begriff der ›Verfassung‹ sowie auf weitere Staatssymbole verzichtete. Zugleich inkorporierte er wesentliche institutionelle Regelungen des gescheiterten Verfassungsvertrages und warf daher auch erneut die Frage nach dem Rechtscharakter der Europäischen Union auf. Vor diesem Hintergrund und angesichts der Geschichte der europäischen Integration bzw. ihrer Interruptionen kaum verwunderlich, geriet auch der Ratifikationsprozess des Lissaboner Vertrages – angesichts dessen intransparent erscheinender Komplexität sich der britische Historiker Timothy Garton Ash an eine »Bedienungsanleitung für Gabelstapler«31 erinnert fühlte – durch ein ablehnendes Plebiszit in der Republik Irland am 12. Juni 2008 in eine elementare Krise. Zu diesem Zeitpunkt oblag auch bereits die Frage einer etwaigen Verfassungswidrigkeit des Vertragsbeitritts der Bundesrepublik – wieder einmal – einem Votum des Bundesverfassungsgerichts, nachdem noch am 23. Mai 2008, am Tag der Zustimmung des Deutschen Bundesrats zur Vertragsratifikation, in Karlsruhe Klagen eingegangen waren. Am 30. Juni 2009 stellte das Gericht in dezidierter Kontinuität zu seiner Rechtsprechung zum Maastricht-Vertrag die grundsätzliche Vereinbarkeit des Lissaboner Vertrages und des deutschen Grundgesetzes fest, betonte allerdings deutlicher als im Maastricht-Urteil auch spezifische Grundvorbehalte und sogar erstmals verfassungsrechtliche Grenzen in Bezug auf die europäische Integration. Die Entscheidung, ein »Markstein für den demokratischen Verfassungsstaat«32 von historischer Bedeutung, betonte aus herrschaftslegitimatorisch-demokratietheoretischer Sicht, dass die Ermächtigung deutscher Staats-
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Abb. 2: Garant demokratischer Verfassungsstaatlichkeit? Sowohl bezüglich des MasstrichtVertrages als auch des Lissaboner Vertrages übte das Bundesverfassungsgericht seine verfassungsrechtliche »Integrationsverantwortung« aus.
organe zur politischen Willensbildung in der EU prinzipiell nur »bis zur Grenze der unverfügbaren Verfassungsidentität des Grundgesetzes« gelte. Deutsche Staatsorgane seien nicht durch den Inhaber der staatlichen Souveränität, den deutschen demos, ermächtigt, »durch einen Eintritt in einen Bundesstaat das Selbstbestimmungsrecht des Deutschen Volkes in Gestalt der völkerrechtlichen Souveränität Deutschlands aufzugeben«. Ein solcher Schritt, das heißt die Gründung einer europäischen Föderation unter Aufgabe des deutschen Grundgesetzes, sei verfassungsrechtlich allein dem »Willen des Deutschen Volkes vorbehalten«. Überdies müsse der Bundesrepublik jedoch selbst unter der Geltung des Lissabon-Vertrages »ausreichender Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse« bleiben, der nicht durch europäische Rechtsetzungsakte materiell ausgehöhlt werden dürfe.33
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V. An der Schwelle zur Gegenwart – so mag man nach dieser tour d’horizon der Geschichte der europäischen Integration seit den Tagen der ›Eurosklerose‹ resümieren – scheint sich im Blick auf den Entwicklungsprozess des ›Projekts Europa‹ die Frage zu stellen, ob sich das Verhältnis zwischen »post-moderne[m] Nationalstaat«34 und europäischem »Staatenverbund« einzupendeln beginnt. Angesichts eines bemerkenswerten Prozesses des zuweilen rasanten Wachstums und Kompetenzausbaus auf europäischer Ebene erodierte das Machtmonopol der demokratischen Nationalstaaten im europäischen Staatensystem insbesondere nach der europäischen Zeitenwende von 1989/90 in außergewöhnlichem und dabei stets zunehmendem Maße: Die »Schale der nationalen Souveränität«35 der europäischen Staaten bröckelt de facto seit langem. Weggefallen oder europäisch substituiert ist sie allerdings bis heute nicht. So scheinen die europäischen Staaten im Allgemeinen und auch die wiedervereinigte Bundesrepublik Deutschland im Speziellen auf mittlere Sicht »in reduzierter Gestalt und in Konkurrenz mit anderen Instanzen weiterleben«36 zu müssen. Wie auch immer die Geschichte der europäischen Integration weiterzuschreiben sein wird, ob und wann ›Europa‹ den Punkt einer geographischen und institutionellen Saturiertheit erreichen oder ob ›Europa‹ sein Ziel erst mit der Ausbildung des europäischen Bundesstaats finden wird, bleibt unabsehbar. Unvorhergesehen-eruptiv hereinbrechende Krisen indes, wie etwa die jüngsten Verwerfungen um die gemeinsame Euro-Währung samt ihrer Tendenz zur Ausbildung einer europäischen ›Transferunion‹, könnten auch weiterhin unvorhersehbare Potentiale zur dynamischen Vertiefung der Integration in sich bergen – oder auch ihr Gegenteil. Nach Lage der Dinge bleibt aber für die Bundesrepublik Deutschland aus historischer Perspektive zu konstatieren, dass die Hürden zur Errichtung des europäischen Bundesstaates heute höher denn je, wenn nicht gar unüberbrückbar hoch aufzuliegen scheinen. Literatur Gerhard Brunn, Die Europäische Einigung von 1945 bis heute. 3., überarb. u. aktual. Aufl., Stuttgart 2009. Gabriele Clemens / Alexander Reinfeldt / Gerhard Wille, Geschichte der europäischen Integration. Ein Lehrbuch, Paderborn 2008. Stefan Fröhlich, Die Europäisierung der Bundesrepublik, in: Hans-Peter Schwarz (Hg.), Die Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz nach 60 Jahren, München 2008, S. 511–530. Pierre Gerbet, La construction de l’Europe, Paris 42007. John Gillingham, European Integration 1950–2003. Superstate or New Market Economy?, Cambridge 2003. Jürgen Mittag, Kleine Geschichte der Europäischen Integration. Von der Europaidee bis zur Gegenwart, Münster 2008. Derek Urwin, The Community of Europe. A History of European Integration since 1945, London 2 2003. Werner Weidenfeld (Hg.): Die Staatenwelt Europas. Aktual. Neuaufl., Bonn 2008.
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Ders. (Hg.), Die Europäische Union. Politisches System und Politikbereiche. Aktual. Neuaufl., Bonn 2008.
Anmerkungen 1 Hans-Peter Schwarz, Die Politik der Westbindung oder die Staatsräson der Bundesrepublik, in: Zeitschrift für Politik 22 (1975), S. 307–337. 2 Helga Haftendorn, Deutsche Außenpolitik zwischen Selbstbeschränkung und Selbstbehauptung 1945–1990, Stuttgart 2001. 3 Feierliche Deklaration zur Europäischen Union, von den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft auf der Tagung des Europäischen Rates in Stuttgart am 19. 6. 1983 unterzeichnet, in: Europa-Archiv 1983, S. D420–427, Zitat: S. D421. 4 Andreas Wirsching, Stationen auf dem Weg nach Maastricht, in: Günter Buchstab / Hans-Otto Kleinmann / Hanns Jürgen Küsters (Hg.), Die Ära Kohl im Gespräch. Eine Zwischenbilanz, Köln 2010, S. 119–131, Zitat: S. 129. 5 Klaus Hildebrand, Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland 1949–1989, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 45 (1994), S. 611–625, Zitat: S. 625. 6 Andreas Rödder, Deutschland einig Vaterland. Die Geschichte der Wiedervereinigung, München 2009, S. 137. 7 Hans-Peter Schwarz, Die Zentralmacht Europas. Deutschlands Rückkehr auf die Weltbühne, Berlin 1994. 8 Margaret Thatcher, Downing Street No. 10. Die Erinnerungen, Düsseldorf 31993, S. 1103 u. 1105. 9 Regierungserklärung Bundeskanzler Helmut Kohls am 4. Oktober 1990, in: Verhandlungen des Deutschen Bundestages. 11. Wahlperiode. Stenographische Berichte, Bd. 154. 8. August 1990 bis 22. November 1990, Bonn 1990, S. 18018–18029, Zitate: S. 18020 u. 18026. 10 Hans-Peter Schwarz, Reformimpulse in den neunziger Jahren oder: Der Reformer Helmut Kohl. Beobachtungen und Fragen, in: Buchstab [u.a.] (Hg.), Die Ära Kohl [wie Anm. 4], S. 557–578, Zitate: S. 574. 11 John Gillingham, European Integration 1950–2003. Superstate or New Market Economy?, Cambridge 2003, S. 484. 12 Rödder, Deutschland einig Vaterland [wie Anm. 6], S. 270. 13 Regierungserklärung Helmut Kohls am 13. Dezember 1991, in: Verhandlungen des Deutschen Bundestages. 12. Wahlperiode. Stenographische Berichte, Bd. 159. 6. November 1991 bis 13. Dezember 1991, Bonn 1991, S. 5797–5803, Zitate: S. 5798 u. 5799. 14 Hans-Peter Schwarz, Republik ohne Kompass. Anmerkungen zur deutschen Außenpolitik, Berlin 2005, S. 177. 15 So Kohl in seiner bereits zitierten Bundestagsrede vom 13. Dezember 1991 [wie Anm. 13], S. 5800. 16 So bereits der programmatische Titel von Ernst-Otto Czempiel (Hg.), Die anachronistische Souveränität. Zum Verhältnis von Innen- und Außenpolitik, Köln 1969. Jenes normative Sprachmuster erfuhr im Laufe seiner Geschichte eine steigende Bedeutung. Hiervon kündet auch eine These aus jüngster Zeit, wonach sich die nationalstaatliche Souveränität der europäischen Staaten in Zeiten von »Globalisierung, Entstaatlichung und Denationalisierung« im Prozess der Auflösung befände, vgl. Christoph Möllers, Der vermisste Leviathan. Staatstheorie in der Bundesrepublik, Frankfurt a. M. 2008, Zitat: S. 9. 17 Andreas Rödder, Die Bundesrepublik Deutschland 1969–1990, München 2004, S. 8. 18 Gerhard Brunn, Die Europäische Einigung von 1945 bis heute. 3., überarb. u. aktual. Aufl., Stuttgart 2009, S. 275. 19 BVerfGE 89, 155 (173, 189, 156). 20 Schwarz, Republik ohne Kompass [wie Anm. 14], S. 52. 21 Tony Judt, Postwar. A History of Europe since 1945, New York 2005, S. 721. 22 Gillingham, European Integration [wie Anm. 11], S. xi. 23 Judt, Postwar [wie Anm. 21], S. 719.
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24 Vgl. Kap. II: »Deutschlands Interesse«, in: »Überlegungen zur europäischen Politik« [›SchäubleLamers-Papier‹]. Online unter: http://www.cducsu.de/upload/schaeublelamers94.pdf (letzter Zugriff: 7.5.2010). 25 Ebda., vor allem Kap. I: »Die Lage« sowie Kap. III,2: »Den festen Kern weiter festigen«. 26 Stefan Fröhlich, Die Europäisierung der Bundesrepublik, in: Hans-Peter Schwarz (Hg.), Die Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz nach 60 Jahren, Köln 2008, S. 511–530, Zitat: S. 529. 27 Ebda., S. 516. 28 Rede Joseph Fischers, online unter: http://www.hu-berlin.de/pr/veranstaltungen/reden (letzter Zugriff: 5.5.2010). 29 Erklärung von Laeken, online unter: http://european-convention.eu.int/pdf/LKNDE.pdf (letzter Zugriff: 7.5.2010). 30 Erklärung anlässlich des 50. Jahrestages der Unterzeichnung der Römischen Verträge [›Berliner Erklärung‹], online unter: http://www.eu2007.de/de/News/download_docs/Maerz/0324-RAA/ German.pdf (letzter Zugriff: 6.5.2010). 31 Timothy Garton Ash, Hässlich, aber nützlich, in: Süddeutsche Zeitung vom 15. Dezember 2007. 32 Paul Kirchhof, Demokratie in Europa, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4. Juli 2009. 33 BVerfGE 123, 267 (268, 347f., 267). 34 Schwarz, Zentralmacht [wie Anm. 7], S. 86. 35 Schwarz, Republik ohne Kompass [wie Anm. 14], S. 38. 36 Wolfgang Reinhard, Geschichte des modernen Staates. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 2007, S. 123.
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Helga Haftendorn
Einsatz im Kosovo 1999 Das vereinte Deutschland und die Welt
Vor zwanzig Jahren, nach dem Fall der Berliner Mauer und während der Zweiplus-vier-Verhandlungen über die deutsche Vereinigung, wurde in der Öffentlichkeit des In- und Auslandes die Frage aufgeworfen, welchen Weg das vereinte Deutschland in der Welt künftig einschlagen werde. Bestand die Gefahr, dass es zu den politischen Traditionen und Verhaltensweisen zurückkehren könnte, die Europa im letzten Jahrhundert zwei Mal in das Verderben gestürzt hatten? Oder würde es die neue Chance nutzen und – ähnlich wie die alte Bundesrepublik – ein berechenbarer und verantwortungsbewusster Partner in den internationalen Institutionen sein? Als die staatliche Einheit am 3. Oktober 1990 erreicht war, erklärten Regierung und Parlament, dass Deutschland als »normaler Staat« auf die internationale Bühne zurückkehren und den anderen Staaten im Bewusstsein seiner Verantwortung in der Welt »auf Augenhöhe« gegenübertreten wolle.1 Ist dies gelungen? Diese Frage bildet den Kern des Beitrages.
1. Deutschlands Rückkehr in die Weltpolitik Andreas Rödder schreibt in seinem Buch »Deutschland einig Vaterland«: »Die deutsche Vereinigung von 1990 fand […] erstmals im Einklang mit den Nachbarn und nicht [im] Zeichen kriegerischer Gewalt statt.«2 Dies ist eine wichtige Aussage; sie markiert die Voraussetzung dafür, dass Deutschland mit der Vereinigung neue Möglichkeiten gewinnen und künftig freier und unbeschwerter Weltpolitik treiben konnte. Die Vereinigung hat Deutschland große Chancen eröffnet, ihm aber auch neue Lasten aufgebürdet. Nach der Überwindung der Teilung und dem Erlöschen der alliierten Vorbehaltsrechte konnte Deutschland seinen außenpolitischen Handlungsspielraum erweitern; es sah sich jedoch auch mit der gestiegenen Erwartung konfrontiert, künftig ein größeres Maß an internationaler Verantwortung zu übernehmen. Um die Befürchtung zu zerstreuen, Deutschland könnte mit seiner Politik Europa erneut ins Verderben führen, haben alle Bundesregierungen die Kontinuität der deutschen Politik betont. Sie erklärten, dass das vereinte Deutschland ein verantwortungsbewusster und berechenbarer Partner auf der internationalen Bühne sein werde.
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Helga Haftendorn
2. Das »Europäische Projekt« als Schwerpunkt deutscher Politik Aus zwei Gründen hat sich die deutsche Politik nach der Vereinigung vorrangig auf das »Europäische Projekt« konzentriert. Zum einen führten die Vertiefung der Europäischen Gemeinschaften (EG) und ihre Fortentwicklung zu einer Europäischen Union zu einer europäischen »Einbindung Deutschlands«. Dies war eine Bedingung Frankreichs, von der die französische Regierung ihre Zustimmung zur Vereinigung Deutschlands abhängig gemacht hatte. Mit der deutschen Bereitschaft zur Einführung des »Euro«, dem Abschluss des Vertrages von Maastricht und der Gründung der Europäischen Union wurde diese Zusage eingelöst. Zugleich versprach das »Europäische Projekt« Deutschland vielfältige Vorteile und neue Aktionsmöglichkeiten. Der erweiterte europäische Wirtschaftsraum ermöglichte eine bessere Absorbierung der ökonomischen Vereinigungskosten; die größere politische Handlungsfähigkeit der Europäischen Union (EU) nach dem Inkrafttreten des Vertrages von Maastricht 1993 und der mit der »Charta von Paris« zur Organisation aufgewerteten Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE, dann OSZE) sollte die Europäer in die Lage versetzen, Konflikte auf dem europäischen Kontinent künftig mit eigener Kraft zu lösen. Waren die Europäer aber dazu in der Lage, und was bedeutete das für Deutschland? Der Balkan-Konflikt und besonders der Kosovo-Krieg waren erste Bewährungsproben. Bei ihnen blieb es aber nicht; weitere Herausforderungen und Krisen kamen hinzu.
3. Der Schock der Balkankriege Während sich die beiden deutschen Staaten in der Mitte Europas vereinigten, zerfiel auf dem Balkan der jugoslawische Bundesstaat. Nach dem Tod Titos wuchsen die zentrifugalen Tendenzen. In dieser Situation wollte der serbische Ministerpräsident Slobodan Milošević, der damals turnusgemäß auch Präsident der jugoslawischen Föderation war, diese in ein Großserbien verwandeln und ihr Auseinanderfallen aufhalten. Das Vorpreschen MiloŠevićs bewirkte jedoch das Gegenteil. Als Reaktion auf seine Pläne wuchs in Slowenien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina das Verlangen nach staatlicher Unabhängigkeit. Die Föderationsregierung reagierte darauf mit Zwangsmaßnahmen und dem Einsatz der jugoslawischen Volksarmee (JVA), denen jedoch die Heimatschutzverbände der Teilstaaten Slowenien und Kroatien heftigen Widerstand entgegensetzten. Weder der Europäischen Gemeinschaft noch der OSZE gelang es, dem Bürgerkrieg auf dem Balkan Einhalt zu bieten und eine politische Lösung für die
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Probleme Jugoslawiens zu finden. Die EG setzte sich weiter für den Erhalt des jugoslawischen Gesamtstaates ein, beschränkte sich in der Praxis aber darauf, Kommissionen zur Klärung der Lage einzusetzen (z. B. die Badinter-Kommission zur Neustrukturierung Jugoslawiens) und einen Rahmen für die Koordinierung der europäischen Politik zu bieten. Der deutsche Außenminister, Hans-Dietrich Genscher, ging jedoch darüber hinaus und wurde nicht müde, die Notwendigkeit einer Einhaltung der Menschen- und Minderheitenrechte zu betonen; vor allem setzte er sich dafür ein, dass auch die Völker Jugoslawiens ein Recht auf Selbstbestimmung erhielten. Auf Drängen Genschers beschlossen die EG-Außenminister im Dezember 1991, die Unabhängigkeit derjenigen Teilstaaten anzuerkennen, die sich zur Einhaltung von Rechtsstaatlichkeit, demokratischen Strukturen, Schutz von Minderheiten und Unverletzlichkeit der Grenzen verpflichteten. Um den Konflikt auf die internationale Ebene zu heben und damit eine rasche Einstellung der Feindseligkeiten zu erreichen, sprach Deutschland die Anerkennung Slowenien und Kroatien bereits am 24. Dezember 1991 aus, obwohl die EG-Minister als Termin dafür den 15. Januar 1992 vereinbart hatten. Der Botschafteraustausch mit Slowenien und Kroatien erfolgte jedoch erst zum vereinbarten Termin. Trotzdem sah sich die deutsche Politik wegen ihres Vorpreschens heftiger Kritik der Partner ausgesetzt, die vor neuen »deutschen Sonderwegen« warnten. Das deutsche Vorgehen hatte kurzfristig Erfolg; Milošević sog die JVA aus Slowenien und Kroatien ab. Bald nahmen die Kämpfe aber wieder zu, sie verdichteten sich zu einem blutigen Bürgerkrieg, vor allem in den serbisch besetzten Regionen Kroatiens und in Bosnien-Herzegowina. Dieser hatte Massenvertreibungen der muslimischen Bevölkerung zur Folge. Die ernüchternde Bilanz lautete, dass weder EG/EU noch OSZE in der Lage waren, die Kämpfe zu beenden – letztere trotz eines neuen Mechanismus zur Krisenregelung. In dieser Situation riefen die Europäer den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen an, der eine humanitäre Mission, »UNPROFOR«, in das Kampfgebiet entsandte. Die Geiselnahme von UN-Beobachtern durch serbische Streitkräfte wurde zum Sinnbild der Machtlosigkeit auch der Weltorganisation. Daraufhin verstärkte die NATO ihre Einsätze. An der Luftüberwachung beteiligte sich die Luftwaffe der Bundeswehr mit AWACS-Flugzeugen. Dieses deutsche Engagement veranlasste die Opposition und die FDP (die der Regierungskoalition angehörte) zur Anrufung des Bundesverfassungsgerichts. Sie wollten geklärt wissen, ob die Teilnahme der Bundeswehr an friedenssichernden Operationen außerhalb des Bündnisgebietes mit dem Grundgesetz vereinbar sei, das in Art. 87a GG als Aufgabe der Streitkräfte die Verteidigung nennt. Gleichzeitig heißt es in Art. 24 GG, die Bundesrepublik könne sich zur Wahrung des Friedens einem System kollektiver Sicherheit einordnen. In seinem Urteil erklärte das Gericht 1994, dass die Einsätze der Bundeswehr im Rahmen der NATO mit dem Grundgesetz vereinbar seien; es band künftige Engagements jedoch an eine vorherige Zustimmung des
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Deutschen Bundestages. Deshalb wird auch häufig von der Bundeswehr als einer »Parlamentsarmee« gesprochen. Außerdem wandten sich die Europäer an die USA und forderten diese auf, eine Führungsrolle bei den Bemühungen zur Beendigung des Konfliktes zu übernehmen. Zunächst zögerte Washington aber, sich auf dem Balkan zu engagieren, zumal die Europäer bislang betont hatten, dass sie den Konflikt mit eigener Kraft lösen wollten. Das Blutbad auf dem Marktplatz von Sarajewo und die Tötung von 8000 Muslimen in der UN-Enklave Srebrenica riefen schließlich jedoch die USA auf den Plan. Mit begrenzten Luftangriffen versuchten die USA den Vormarsch der serbischen Truppen zu stoppen und die Not der Bevölkerung durch den Abwurf von Lebensmitteln zu lindern. Mit einer Kombination von begrenzten Lufteinsätzen und hohem politischen Druck gelang es Washington im Dezember 1995 schließlich, Serbien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina zum Frieden von Dayton zu zwingen. Obwohl Amerika im Auftrag der Jugoslawien-Kontaktgruppe handelte, der neben den vier Vetomächten des UN-Sicherheitsrates – USA, Russland, Großbritannien und Frankreich –– auch Deutschland und Italien angehörten, wurden die Europäer nicht an den Verhandlungen beteiligt. Das Fazit ist für die Europäer wenig schmeichelhaft: Weder ist es ihnen gelungen, Jugoslawien aus eigener Kraft zu befrieden, noch kehrte mit dem Vertrag von Dayton in Südosteuropa wieder Frieden ein.
4. Der Krieg kam wieder nach Europa zurück Im Sommer 1998 verschärfte Serbien seine Zwangsmaßnahmen im Kosovo und leitete die Vertreibung großer Teile der albanischen Bevölkerung ein. Um eine menschliche Katastrophe zu verhindern, drohte die NATO Serbien mit Sanktionen und gegebenenfalls militärischen Schritten. Um diesen Drohungen Nachdruck zu verleihen, bereiteten die Außenminister im Herbst 1998 geeignete Maßnahmen vor, an denen sich auch Deutschland beteiligen sollte. Dem amerikanischen Sonderbotschafter Richard Holbrooke gelang es zwar noch einmal, Milošević zu einem teilweisen Abzug seiner Streitkräfte aus dem Kosovo zu veranlassen, er erhielt aber keine darüber hinausgehenden Zusagen. Die militärischen Planungen der NATO liefen daher weiter. Die Aufforderung der Alliierten an die Bundesregierung, sich an den Luftschlägen gegen Serbien zu beteiligen, erreichte die deutsche Politik zu einem sehr ungünstigen Zeitpunkt. Am 27. September 1998 hatten Bundestagswahlen stattgefunden und eine Mehrheit für eine Koalition aus SPD und Grünen erbracht. Die zukünftige Regierung wollte die Entscheidung über eine Mitwirkung an einer militärischen Intervention verständlicherweise bis zum verfassungsgemä-
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ßen Zusammentritt des neuen Bundestages Ende Oktober aufgeschoben sehen. Angesichts des hohen internationalen Druckes trat aber der alte Bundestag am 16. Oktober 1998 noch einmal zusammen und stimmte – nach enger Konsultation mit den künftigen Regierungspartien – einer deutschen Beteiligung an der NATO-Aktion gegen Serbien zu. Die Mehrzahl der Politiker ging jedoch noch davon aus, dass diese Aktion unter einem UN-Mandat erfolgen würde. Als im Frühjahr 1999 serbische Truppen erneut die albanische Bevölkerung im Kosovo zu vertreiben suchten, begann die NATO mit den Luftangriffen gegen Ziele im Kosovo und in Serbien. Damit führte die Allianz zum ersten Mal in ihrer Geschichte einen »heißen« Krieg. Bundeskanzler Gerhard Schröder sah zu Recht in der Wiederkehr des Krieges nach Europa und der Beteiligung deutscher Streitkräfte an diesem eine entscheidende Zäsur in der Geschichte der Bundesrepublik. Deutsche Politiker rechtfertigten die NATO-Aktion – der aber angesichts des Widerstandes der russischen und der chinesischen Regierung im Sicherheitsrat ein UN-Mandat fehlte – vor allem mit der Verantwortung dafür, dass die Allianz der Vertreibung der Albaner im Kosovo Einhalt bieten und verhindern müsse, dass es dort zu einem neuen »Auschwitz« käme.3 Als die serbische Führung auch unter dem Druck der NATO-Angriffe nicht einlenkte, war wieder die Politik gefragt. Ein Versuch der Jugoslawien-Kontaktgruppe unter Führung der USA, auf einer Konferenz in Rambouillet die Zustimmung der serbischen Regierung zu einem amerikanischen Friedensplan zu erreichen, scheiterte. Dem neuen deutschen Außenminister Joschka Fischer gelang es schließlich, das Interesse Moskaus an einem von ihm entwickelten Friedensplan zu wecken und für diesen auch die Unterstützung der EU-Außenminister zu erhalten.4 Die Staats- und Regierungschefs der G-8, die im Mai 1999 in Bonn zusammengekommen waren, beauftragten den russischen Diplomaten Viktor Tschernomyrdin und den EU-Ratspräsidenten Martti Ahtisaari, neue Verhandlungen mit Serbien aufzunehmen. Den Unterhändlern der G-8 glückte es tatsächlich, Milošević nicht nur zum Abzug seiner Truppen aus dem Kosovo zu veranlassen, sondern auch seine Zustimmung für eine UN-Interimsverwaltung (UNMIK) zu erhalten. Diese war aber an die Bedingung geknüpft, dass das Kosovo Teil Serbiens bliebe.5 Milošević hatte erkannt, dass er nicht länger auf russische Unterstützung zählen konnte und eine vollständige politische Isolierung riskierte, wenn er nicht rasch in einen Waffenstillstand einwilligte. Eine langfristige völkerrechtliche Lösung für das Kosovo, die sowohl der Bedingung Belgrads nach Verbleib desselben bei Serbien als auch dem Wunsch des Kosovo nach staatlicher Unabhängigkeit Rechnung trug, wurde jedoch auch in den Folgejahren nicht erreicht. Unter dem Protest Serbiens erklärte sich der Kosovo im Jahr 2008 für unabhängig. Die UNO erkannte die Unabhängigkeit des Kosovo jedoch nicht an; die EU war aber bereit, den Aufbau staatlicher Institutionen in der ehemaligen serbischen Provinz mit einer Rechtshilfe-Mission,
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Abb. 1: Deutsches Militär wieder auf internationaler Bühne: Soldaten der KFOR-Schutztruppe vor dem Hauptquartier des deutschen Heereskontigents im Kosovo (August 1999).
»EULEX«, zu unterstützen. Längerfristig wollte die EU die UN-Verwaltung UNMIK ebenso wie die KFOR-Truppe durch eigene Kräfte ablösen. Die völkerrechtliche Situation des Kosovo ist aber weiterhin offen, da neben Serbien auch zahlreiche andere Staaten die Unabhängigkeit des Kosovo nicht anerkennen. Würde der Kosovo-Krieg ein Präzedenz für künftige Interventionen sein? Welche Lehren zogen die Hauptbeteiligten aus dem Krieg? Sehr bald zeigte sich, dass diese Lehren sehr unterschiedlich waren. Die innenpolitische Kritik an der Beteiligung der Bundeswehr am Einsatz im Kosovo veranlasste die Bundesregierung zu der Zusage, dass sie sich künftig an militärischen Aktionen nur im Rahmen eines UN-Mandats beteiligen werde. Frankreich und Großbritannien unternahmen ihrerseits Schritte, um die militärische Handlungsfähigkeit der EU zu stärken. Die französisch-britische Vereinbarung von St. Malo vom Dezember 1998 führte zur Entwicklung einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) und zum Aufbau geeigneter militärischer Kapazitäten der EU. Die US-Administration beschloss ihrerseits, sich nach Möglichkeit künftig nicht mehr an Gemeinschaftsaktionen zu beteiligen, wenn diese zu einem »government by committee« – d. h. zeitraubenden Abstimmungen mit den Bündnispartnern – und zur Einschränkung ihrer Handlungsfreiheit führen würden.
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Die Balkan-Kriege haben gezeigt, dass die Beendigung des Ost-West-Konflikts nicht das Ende militärischer Auseinandersetzungen bedeutete. Im Kalten Krieg wurden die Konflikte in Europa durch die Rivalität der Weltmächte unter dem Deckel gehalten; sie begannen aber erneut mit großer Intensität zu brodeln, als diese kein unmittelbares Interesse mehr an einem Eingreifen hatten, da ihre Sicherheit nicht länger auf dem Spiel stand. Jetzt waren die im militärischen Konfliktmanagement bisher wenig erfahrenen Europäer für deren Einhegung verantwortlich. Wie der Kosovo-Konflikt gezeigt hat, gelang ihnen dies aber nur mit Hilfe der USA und Russlands, also jener Mächte, von denen sie sich gerade emanzipieren wollten.
5. Der Schock der Anschläge vom 11. September 2001 Die Terroranschläge am 11. September 2001 auf die Zwillingstürme des World Trade Centers in New York und das Pentagon nahe Washington leiteten eine neue Phase der Sicherheitspolitik ein. In den folgenden Jahren musste die Bundesregierung mehrfach über ihre Beteiligung an militärischen Einsätzen entscheiden. Unter dem Eindruck der Attentate vom 11. September versicherte Bundeskanzler Gerhard Schröder US-Präsident George W. Bush, dass sich Deutschland mit den USA solidarisch fühle. Auch das Atlantische Bündnis aktivierte seine Beistandsklausel des Art. 5 – zum ersten Mal seit seinem Bestehen! –, um die USA militärisch unterstützen zu können. Ohne Zögern sagte Deutschland seine Mitwirkung an einer internationalen Stabilisierungstruppe für Afghanistan (ISAF) zu. Damit beteiligte sich die Bundeswehr zum ersten Mal an einem militärischen Einsatz außerhalb Europas. Auf einer auf deutsche Initiative hin einberufenen Afghanistan-Konferenz im Dezember 2001 auf dem Petersberg bei Bonn stellte die Bundesregierung einen substantiellen Beitrag zum zivilen Aufbau des Landes in Aussicht. Im Rahmen der internationalen Arbeitsteilung übernahm sie die Ausbildung der afghanischen Polizei. 2003 ging der Oberbefehl über die ISAF von den beteiligten Nationen an die NATO über; im gleichen Jahr stellte Deutschland eigene Aufbauteams (sog. PRTs = Provincial Reconstruction Teams) in Kundus und Faizabad im Norden Afghanistans auf. Im folgenden Jahr übernahm die Bundesrepublik den Oberbefehl über den gesamten und zunächst relativ ruhigen Nordsektor. Als sich im Süden des Landes die Anschläge auf die Truppen der NATO-Partner häuften, geriet die Bundeswehr infolge eines durch den Bundestag begrenzten Einsatzmandats zunehmend in die Kritik. Ihr wurde vorgeworfen, sie handele im Gegensatz zu dem von Deutschland entwickelten Konzept der »vernetzten Sicherheit«, wenn sie die Einsätze der Streitkräfte räumlich beschränkte. In der Folge verschärfte sich die Sicherheitslage auch im Norden; die relative »Ruhe« hatte ein Ende.6
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Ein europäischer, allerdings nicht mit der NATO abgestimmter, kurzer Einsatz war die Mission Artemis in der Ituri-Region im Osten des Kongo. Sie diente vor allem Frankreich als Ausweis der unabhängigen Handlungsmöglichkeiten der ESVP. Schon zuvor hatte sich die EU im Zusammenwirken mit der NATO an militärischen Aktionen beteiligt, z. B. in Mazedonien, in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo. Mit dem Berlin-Plus-Abkommen war die Möglichkeit geschaffen worden, gemeinsame europäische militärische Aktionen durchzuführen,7 bei denen die EU-Truppen nicht dem Oberbefehl der NATO unterstanden, aber auf Fähigkeiten und Ressourcen der Allianz zurückgreifen konnten. Zur Bewährungsprobe für ein unabhängiges europäisches Handeln wurde im Sommer 2006 die Kongo-Mission. Mit einer nach Kinshasa und in das benachbarte Gabun entsandten europäischen Truppe sollten die Präsidentenwahlen in der Demokratischen Republik Kongo (DRC) gesichert werden. Die operative Führung dieses nicht mit der NATO abgestimmten Einsatzes lag beim Einsatzführungsstab der Bundeswehr, während Frankreich den örtlichen Befehlshaber im Kongo stellte. Mit viel Glück gelang es der auf vier Monate befristeten Aktion, offene Konflikte zwischen den verfeindeten Parteien im Kongo zu verhindern und den ersten substantiellen europäischen Einsatz in Afrika erfolgreich abzuschließen.
6. Irak: Versuch eines »deutschen Weges« Als die Vereinigten Staaten und Großbritannien 2002/03 eine Militärintervention in den Irak vorbereiteten, mit welcher der irakische Diktator Saddam Hussein gestürzt und vermutete irakische Kernwaffen vernichtet werden sollten, weigerte sich die Bundesregierung, an der Aktion teilzunehmen. Ihre Haltung entsprach der innenpolitischen Stimmung – unmittelbar vor Bundestagswahlen – ebenso wie dem politischen Interesse Deutschlands. Aus Sicht Schröders sollten »aufgeklärte Eigeninteressen« die deutsche Politik nun auch gegenüber den USA bestimmen. Der Bundeskanzler erklärte, er werde selbst dann nicht von dieser Position abgehen, wenn der UN-Sicherheitsrat eine militärische Aktion mandatieren würde. Mit dieser Haltung – nicht mit der Ablehnung einer Teilnahme an der Intervention im Irak, sondern mit seiner Proklamation eines »deutschen Weges«8! – widersprach der Bundeskanzler der von allen früheren Regierungen hochgehaltenen »Strategie des Multilateralismus«. Zur bisher praktizierten Politik der Selbstbeschränkung traten nun Gesten der Selbstbehauptung hinzu. Schröder wies mehrfach darauf hin, dass Deutschland eine »erwachsene Nation« geworden sei, die sich niemandem über- oder unterlegen fühle sollte.9 Die Folge der halbherzigen deutschen Weigerung, sich am Irak-Krieg zu beteiligen – halbherzig deshalb, weil die Bundesrepublik die US-Truppen insgeheim
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logistisch unterstützte, dies aber vor der Weltöffentlichkeit und der eigenen Bevölkerung zu verschleiern suchte – war die Isolierung Deutschlands in den transatlantischen Beziehungen ebenso wie in Europa. Die Bundesrepublik musste Frankreich in der EU-Finanzpolitik und in der Agrarpolitik kostspielige Zugeständnisse machen. Verhandlungen »auf gleicher Augenhöhe« mit Washington blieben eine Illusion; der Anspruch auf einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat scheiterte. Der offene Konflikt mit den USA schränkte den deutschen Handlungsspielraum stärker ein – auch gegenüber den europäischen Partnern und Russland –, als dass er diesen erweiterte. Nach den Wahlen von 2005 bemühte sich die neue Bundeskanzlerin, Angela Merkel, mit einem bis zur Selbstverleugnung gehenden Maß an persönlichem »good will«, die belasteten Beziehungen zu Washington zu reparieren. Sie hatte erkannt, dass unabhängig von den jeweiligen Führungspersönlichkeiten und ihren Überzeugungen enge deutsch-amerikanische Beziehungen auch im 21. Jahrhundert essentiell waren. Ein weiteres Ziel der schwarz-roten Koalition war die Stärkung Europas. Nur wenn dieses mit einer Stimme sprach, hatte es eine Chance, in der Welt ernst genommen zu werden. Nur dann hatte auch die Bundesregierung die Möglichkeit, Politik nach ihren Vorstellungen zu gestalten. Erforderlich war aber eine enge Abstimmung mit Frankreich und den anderen Partnern, vor allem mit Polen und Großbritannien. Langfristiges deutsches Ziel war die Stärkung der europäischen Exekutive, die in die Lage versetzt werden sollte, eine wirksame europäische Außen- und Sicherheitspolitik zu führen. Es bleibt abzuwarten, ob dies nach dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon am 1. Dezember 2009 gelingen wird.
7. Herausforderung durch Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/2009 wurde die globale Finanz- und Wirtschaftskrise zu einer Bewährungsprobe für die Regierung Merkel. Die Große Koalition orientierte sich weiterhin am Modell der Sozialen Marktwirtschaft, wobei beide Komponenten ebenso wie die Koalitionspartner in einem Spannungsverhältnis zueinander standen. Das Bemühen um angemessene und fiskalpolitisch verantwortbare weltweite Lösungen führte bald zu internationalen Konflikten mit den Partnern. Da die Bundesregierung das Haushaltdefizit begrenzt halten wollte und zunächst milliardenschwere Konjunkturprogramme ablehnte, wurde ihr unfaires Verhalten vorgehalten. Ihre Absicht, eine Wiederholung der Krise mit einem über den Tag hinausreichenden, globalen ordnungspolitischen Konzept zu verbinden, scheiterte am Widerstand der Staaten, die wie die USA und Großbritannien ihre wirtschaftpolitische Handlungsfähigkeit nicht durch internationale Regelungen eingeschränkt sehen wollten.
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Die Krise zeigte deutlich, dass Deutschland globale Herausforderungen nur zusammen mit seinen Partnern bewältigen kann. Angesichts der unterschiedlichen ökonomischen und politischen Strukturen in Deutschland und in den USA gibt es aber für beide keine identischen Lösungen. Wichtiger als die Vermeidung von Spannungen, die sich aus den unterschiedlichen Vorgehensweisen ergeben, ist jedoch die Entwicklung von Möglichkeiten für eine konstruktive Konfliktregelung. Diesem Ziel sollten die neue G-20-Diplomatie und die Gipfel in Washington und in London dienen. Anfang 2010 hat es den Anschein, dass die Weltwirtschaft allmählich die Rezession überwindet und wieder einen Wachstumspfad beschreitet – ohne dass aber die für einen erfolgreichen Gang und die Vermeidung künftiger Krisen erforderlichen Schutzzäune errichtet worden sind.
8. Afghanistan: Der Realität ins Auge schauen Der Verlauf des Afghanistan-Konflikts zeigt, dass auch die sicherheitspolitischen Herausforderungen nur von den Verbündeten gemeinsam bewältigt werden können. Dies ist nicht einfach. In der langfristigen Zielsetzung der Afghanistan-Politik hat sich zwar die Position der USA derjenigen der Europäer angenähert. Die USA wollen am Hindukush nicht länger eine Westminster-Demokratie errichten, sondern vor allem sicherstellen, dass das afghanische Territorium Al Qaida nicht mehr als Zufluchtsort dienen kann. Sie wollen nun die Aufständischen mit einer Kombination von verstärkten militärischen Anstrengungen und zivilem Aufbau zähmen. Zu diesem Zweck kündigte US-Präsident Barack Obama im November 2009 eine massive Verstärkung der amerikanischen Truppen an und forderte die Europäer auf, ihre Streitkräfte und ihre zivile Hilfe in Afghanistan ebenfalls aufzuwerten. Aus zwei Gründen richtete sich diese Aufforderung besonders an die Deutschen: Zum einen hatte die Bundesrepublik in den »Bonn Accords« 2001 die Verantwortung für die Polizeiausbildung übernommen, aber bisher aus einer Mischung von Personalmangel und deutschem Perfektionismus nur dürftige Resultate erzielt; zum anderen forderten amerikanische Beobachter, dass Deutschland gegenüber der NATO die Schuld dafür begleichen solle, dass die Allianz vierzig Jahre lang den Frieden am Eisernen Vorhang bewahrt und Deutschland erfolgreich beschützt habe.10 Der vormalige Verteidigungsminister, Peter Struck, hatte den deutschen Einsatz damit gerechtfertigt, dass die Sicherheit Deutschlands auch am Hindukush verteidigt werden müsste. Mit dieser Begründung kann die Bundesregierung jedoch heute die Skepsis der Bevölkerung gegenüber dem Afghanistan-Einsatz nicht länger überwinden. Seit der Zunahme der Kämpfe im Norden und dem Anstieg der militärischen und zivilen Opfer lässt sich die Behauptung eines Wie-
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Abb. 2: Realität im Auge: Gerhard Schröder mit Splitterschutzweste im ISAF-Hubschrauber beim Truppenbesuch in Afghanistan (Oktober 2004).
deraufbau- und Stabilisierungseinsatzes nicht mehr aufrechterhalten. Besonders nach der von einem deutschen Offizier befohlenen Bombardierung von zwei von den Taliban entführten Tanklastzügen am Kundus-Fluss, die eine hohe Zahl ziviler Opfer zur Folge hatte, wuchs die Ablehnung des Afghanistan-Einsatzes. Inzwischen fordern fast 70 Prozent der Deutschen einen raschen Rückzug der Bundeswehr aus Afghanistan. Die Rationalität der Regierenden ist damit zur einzigen Stütze der europäischen Präsenz geworden. Anfang 2010 steht die Bundesrepublik in Afghanistan vor einer Bewährungsprobe. Mühsam hat sich die deutsche Politik dazu durchgerungen, von einem »nicht-internationalen bewaffneten Konflikt« statt von einer reinen Wiederaufbaumission zu sprechen.11 Auf der Afghanistan-Konferenz in London Ende Januar 2010 sagte die Bundesregierung der Allianz die Erhöhung des deutschen Truppenkontingents um 500–850 Mann und eine wesentliche Intensivierung der Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte zu. Sie will künftig einen flexibleren militärischen Einsatz mit einem stärkeren Engagement beim zivilen Aufbau verbinden. So bald wie möglich soll die Regierung in Kabul die Verantwortung für die innere Sicherheit in Afghanistan übernehmen und den deutschen Truppen die Perspektive für einen baldigen Abzug eröffnet werden.12 Die Bundesregierung kostet es immer mehr Mühe, ihre Afghanistan-Strategie durchzuhalten; sowohl in Deutschland als auch in den USA und den andern Part-
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nerstaaten wächst der Druck in Richtung auf einen raschen Abzug. Nachdem die wahre Natur der Herausforderungen in Afghanistan deutlich geworden ist – eine schwache und korrupte Zentralregierung, War Lords und Drogenbarone in den Provinzen, gewaltbereite Taliban im gesamten Land – bleibt nur die Hoffnung, dass die Zeit reicht, um die Dynamik des Krieges umkehren und mit Aussicht auf Erfolg die Verantwortung für ein gewisses Maß an Stabilität am Hindukush den Afghanen übertragen zu können. Um das zu erreichen, muss Angela Merkel den Deutschen aber auch noch besser erklären, warum sie in Afghanistan Krieg führen.
9. Deutschland als »zaghafte Macht« Ist Deutschland nach der Vereinigung ein »normaler Staat« geworden, der auf der internationalen Bühne mit Selbstbewusstsein agiert und seinen Partnern »auf Augenhöhe« begegnet? Das zögerliche Verhalten Berlins im Afghanistan-Konflikt weckt daran Zweifel; es verweist eher darauf, dass Deutschland seine Rolle in der Welt noch nicht völlig gefunden hat. Dies gilt vor allem für seine Bürger, die wie selbstverständlich davon ausgehen, dass die Partner Deutschland mit Respekt begegnen, aber nicht erkannt haben, dass dies eine klare Definition der Interessen und die Bereitschaft zur Übernahme größerer Verantwortung – auch militärischer mit den entsprechenden Kosten bzw. Opfern – voraussetzt. Der Kosovo-Konflikt hat nicht nur den Krieg wieder nach Europa zurückgebracht, sondern auch gelehrt, dass sich Deutschland an der Seite seiner Partner militärisch engagieren muss, wenn es seine Glaubwürdigkeit als verlässlicher Bündnispartner nicht verspielen will. Diese Lehre hat Deutschland im Irak-Krieg nur unbefriedigend beherzigt. Die Weigerung, an der Intervention im Irak an der Seite der Koalitionstruppen teilzunehmen, entsprach zwar deutschen Interessen. Die Art, wie diese Position der Öffentlichkeit vermittelt wurde, führte jedoch zu einer schweren Belastung der transatlantischen Beziehungen und zur Isolierung Deutschlands innerhalb Europas. Verhandlungen »auf gleicher Augenhöhe« mit Washington blieben ebenso eine Illusion wie die angestrebte Aufwertung im UNSicherheitsrat. Die in der Frühzeit der europäischen Union an den Tag gelegte Begeisterung für Europa und der Wille, dieses konstruktiv zu gestalten, sind einer realistischeren Einschätzung der Möglichkeiten Europas gewichen. Die Ablehnung des EUVerfassungsvertrages durch zwei Mitgliedstaaten und die mühsame Ratifizierung des Lissabonner Reformvertrages haben gezeigt, dass Europa-Politik weniger im Besteigen von Gipfeln als vielmehr im langwierigen Gang durch die Mühen der Ebene besteht. Das Scheitern der EU bei der Friedenssicherung auf dem Balkan und die Unmöglichkeit, im Irak-Krieg zu einer gemeinsamen Position in Europa zu gelangen, haben zusätzlich ernüchternd gewirkt.
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Auch künftig braucht Deutschland die NATO als gemeinsamen Handlungsrahmen mit den USA. Die größte Gefahr für die Zukunft der Atlantischen Allianz besteht darin, dass die Europäer in einer entscheidenden Frage sich der Zusammenarbeit mit den USA verweigern und dass eine frustrierte US-Administration einseitige und gegen die europäischen Interessen gerichtete politische Schritte unternimmt. Völlig offen ist, welchen Stellenwert Washington künftig der NATO zumessen wird. Auf dem Jubiläumsgipfel Anfang April 2009 beschworen beide Seiten zwar nochmals die atlantische Solidarität; es ist aber nicht ausgeschlossen, dass Washington in Zukunft Koalitionen der Willigen den Vorzug vor den mühseligen Abstimmungsprozessen im Bündnis geben wird. Auch künftig werden die transatlantischen Beziehungen nicht konfliktfrei sein. Divergenzen ergeben sich aus den verschiedenen Strukturen, in denen die USA und Europa international agieren, und aus den unterschiedlichen innenpolitischen Anforderungen, die auf die Regierungen auf beiden Seiten des Atlantiks einwirken. Wichtig ist jedoch, dass beide Seiten sich den Respekt füreinander bewahren und nach Möglichkeiten suchen, ihre Meinungsverschiedenheiten einvernehmlich zu regeln. Wie ist heute die Rolle des vereinten Deutschlands in der Welt zu bewerten? In der Eigenperspektive handelt es als ein »normaler Staat« und befleißigt sich eines aufrechten Ganges. Deutschland hat aber noch nicht gelernt, mit Kritik und Forderungen der Partner angemessen umzugehen; weder eine »Basta-Politik« à la Gerhard Schröder noch die verdrückte Zurückhaltung einer um Vermittlung bemühten Angela Merkel reichen aus. So bietet Deutschland das Bild einer »zaghaften Macht«, die gegenüber der eigenen Bevölkerung und den internationalen Partnern zögert, ihre gewachsene Bedeutung in der Welt durch die Übernahme entsprechender Verantwortung auszufüllen. Literatur Außen- und Sicherheitspolitik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zu Das Parlament, Heft 43/2008 [auch in: www.das-parlament.de/2008/43/index.html (letzter Zugriff: 23.2.2010)]. Ivo H. Daalder, Getting to Dayton: The Making of America’s Bosnia Policy, Washington 2000. Ivo H. Daalder / Michael E. O’Hanlon, Winning Ugly: NATO’s War to Save Kosovo, Washington 2001. Helga Haftendorn, Deutsche Außenpolitik zwischen Selbstbeschränkung und Selbstbehauptung, 1945–2000, Stuttgart 2001. Karl Kaiser (Hg.): Zur Zukunft der Deutschen Außenpolitik. Reden zur Außenpolitik der Berliner Republik, Bonn 1998 (Schriften des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik). Joachim Krause, Die deutsche Politik in der Kosovo-Krise, in: ders. (Hg.), Kosovo. Humanitäre Intervention und kooperative Sicherheit in Europa, Opladen 2000, S. 103–119. Hans-Peter Schwarz, Die Zentralmacht Europas auf Kontinuitätskurs, in: Internationale Politik, Heft 11/1999, S. 1–10.
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Anmerkungen 1 Vgl. Peter Bender, Deutschlands Wiederkehr. Eine ungeteilte Nachkriegsgeschichte 1945–1990, Stuttgart 2007. 2 Andreas Rödder, Deutschland einig Vaterland. Die Geschichte der Wiedervereinigung, München 2009, S. 378. 3 Joschka Fischer, »Ich habe gelernt: Nie wieder Auschwitz«, in: Süddeutsche Zeitung vom 24. Januar 2005. 4 Vgl. Die Initiative der deutschen Bundesregierung für Kosovo, 16. April 1999, in: Internationale Politik 54 (1999), Heft 5, S. 135–136. 5 Vgl. Joachim Krause, Die deutsche Politik in der Kosovo-Krise, in: ders. (Hg.), Kosovo. Humanitäre Intervention und kooperative Sicherheit in Europa, Opladen 2000, S. 103–119. 6 Zur aktuellen Situation in Afghanistan siehe unten, Kap. 8. 7 Vgl. EU-NATO Declaration on ESDP, Press Release, 16. Dezember 2002, in: www.nato.int/docu/ pr/2002/p02–142e.htm (letzter Zugriff: 23.2.2010). 8 Gerhard Schröder, Außenpolitische Verantwortung Deutschlands in der Welt, Rede am 2. September 1999 vor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Berlin, in: Internationale Politik, Heft 10/1999, S. 70. 9 Vgl. z. B. die Rede des niedersächsischen Ministerpräsidenten und Kanzlerkandidaten Gerhard Schröder zum Tag der Deutschen Einheit in Hannover am 3. Oktober 1998, in: http://www2. hu-berlin.de/francopolis/ConsIV98–99/D.Einheit.htm (letzter Zugriff: 23.2.2010); ähnlich in der Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag im November 1998, in: Bulletin der Bundesregierung, Nr.74, 11. November 1998. 10 Vgl. William Drozdiak, NATO’s Last Stand. Germany owes the Atlantic alliance too much to let it fall, in: IP Global Edition 11 (2010), Heft 1, S. 10–15; Judy Dempsey, U.S. and NATO allies facing hard questions, in: International Herald Tribune vom 18. März 2009. 11 Vgl. Guttenberg will Afghanistan-Einsatz neu definieren, in: Zeit online vom 8. Januar 2010 (http://www.zeit.de/politik/ausland/2010–01/guttenberg-afghanistan-bundeswehr [letzter Zugriff: 23.2.2010]); Gerd Appenzeller, Einen Krieg gewinnen ohne ihn zu führen, in: Tagesspiegel vom 14. Januar 2010, S. 8. 12 Weitere 500 Soldaten nach Afghanistan – Abzug soll 2011 beginnen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28. Januar 2010, S. 1.
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Nationale Interessen und internationale Integration Eine Diskussion mit Otto Depenheuer, Herfried Münkler und Peter Struck unter der Leitung von Peter Voß* Peter Voß: Wenn wir nach dem möglichen Unterschied zwischen nationalen Interessen und übernationaler Integration fragen, so ist das für Deutsche vielleicht noch etwas gewöhnungsbedürftig. Zumindest hat die politische Klasse lange Zeit geglaubt, die beiden Dinge seien identisch. Einer der Punkte, an denen sich diese Frage festmacht, Herr Struck, ist sicherlich Afghanistan. Würden Sie diesen schönen Satz mit dem Brustton der Überzeugung »Deutschland wird am Hindukusch verteidigt« heute auch noch so sagen? Peter Struck: Erst einmal habe ich damals gesagt: »Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt«. Das war die Antwort auf die Frage eines Journalisten, ob unser Afghanistan-Einsatz mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Ich würde den Satz heute auch noch so sagen. Ich bin nämlich der festen Überzeugung, dass unsere Sicherheit dann bedroht wird, wenn wir nicht versuchen, die so genannten failed states, zu denen Afghanistan gehörte und zu denen heute z. B. Somalia und Pakistan gehören, zu stabilisieren und zu verhindern, dass sie sichere Häfen für Terroristen bieten. Deshalb sage ich: Der Satz gilt auch heute noch. Ich will aber gleich hinzufügen: Als wir den Einsatz Ende 2001 im Bundestag entschieden haben, haben wir naiverweise geglaubt, dass wir in ein oder zwei Jahren das Afghanistan-Engagement beendet haben würden. Dass es sich so ganz anders entwickeln würde, konnte eigentlich niemand vorhersehen. Otto Depenheuer: Und in den neunziger Jahren konnte man noch nicht einmal voraussehen, dass es verfassungsrechtlich überhaupt einmal zulässig sein könnte, Deutschlands Freiheit in Afghanistan zu verteidigen. Anfang der neunziger Jahre war es einhellige Annahme nahezu des gesamten politischen, militärischen und verfassungsrechtlichen Establishments, dass die Bundeswehr nicht einen Millimeter außerhalb des NATO-Gebietes eingesetzt werden dürfe. Das führte zu der ebenso absurden wie kabarettreifen Situation, dass eine Regierungspartei das Bundesverfassungsgericht mit dem Ziel anrief, der eigenen (!) Regierung zu verbieten, sich im Auftrag der UN an militärischen Überwachungsmaßnahmen der NATO im Mittelmeer zu beteiligen. Verfassungsrechtlich ging der Streit um die Frage, ob ein solcher Außeneinsatz der Bundeswehr »Verteidigung« gemäß *
Die Diskussion im Rathaus der Stadt Mainz am 9. März 2010 wird hier in einer redaktionellen Bearbeitung wiedergegeben.
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Artikel 87a des Grundgesetzes sei. Die Politik konnte oder wollte dieses Problem nicht lösen und hat, wie häufig, das Bundesverfassungsgericht Politik machen lassen. Das Gericht hat sich diese Chance nicht nehmen lassen, den Streit entschieden, indem es nicht Artikel 87a, sondern Artikel 24 für diese Frage als maßgeblich erachtete. Rechtspraktische Folge: Wenn ein System kollektiver Sicherheit, z. B. die NATO oder die UNO, um einen Einsatz der Streitkräfte nachsucht, darf Deutschland diesem Ansinnen Folge leisten und die Bundeswehr überallhin senden, was sie denn auch seit dieser Zeit tut. Problematisch daran ist eine erste Eigentümlichkeit der Deutschen Sicherheitsdiskussion: Bis 1994 waren alle Außeneinsätze verfassungsrechtlich verboten, seither sind alle überall erlaubt. Kohärente und konsistente, verlässliche und berechenbare Sicherheitspolitik sieht anders aus. Eine weitere Eigentümlichkeit der Sicherheitsdiskussion in Deutschland: Wir diskutieren verfassungsrechtliche Rechtsfragen und scheuen uns, politische Interessen zu thematisieren. Was z. B. sollen wir in Afghanistan? Eben ist das Stichwort failed state gefallen. Wollen wir wirklich allen failed states auf die Beine helfen? Das ist gut universalistisch gedacht, aber wenn wir das als deutsches Sicherheitsinteresse definieren, dürften wir unsere militärischen Kapazitäten sehr schnell deutlich überdehnen. Also muss man schon etwas deutlicher und konkreter definieren, welche Bedrohungen der Sicherheit Deutschlands oder der westlichen Staatenfamilie es gibt, die es rechtfertigen, den Tod deutscher Soldaten in Kauf zu nehmen. Und da hat es den unschönen Anschein, dass die Frontlinie tatsächlich an einer Kulturgrenze in der Welt verläuft: Bosnien, Irak, Somalia, Iran, Afghanistan, Pakistan. Immer das gleiche Muster: freiheitliche Verfassungsstaaten der westlichen Welt gegen islamistisch-fundamentalistische Bewegungen. Das damit angedeutete Problem – Verteidigung universalistischer Prinzipien oder konkreter Sicherheitsinteressen Deutschlands – ist jüngst anlässlich der Einweihung des – längst überfälligen – Ehrenmals für die Gefallenen der Bundeswehr deutlich geworden. Bei dessen Einweihung sagte der Bundespräsident: »Die Soldaten stehen mit Leib und Leben für unser aller Sicherheit und für unsere Werte ein«. Ähnlich universalistisch ist die Inschrift des Ehrenmals selbst: »Den Toten unserer Bundeswehr. Für Frieden, Recht und Freiheit«. Diese Werte in der ganzen Welt militärisch begleitet implementieren zu wollen, erscheint mir allerdings ziemlich frivol zu sein. Daher kann ich dem neuen Verteidigungsminister Freiherrn zu Guttenberg nur dankbar zustimmen, wenn die ideellen Ansprüche, mit denen wir uns den Afghanistaneinsatz lange Jahre schön geredet haben, als völlig illusorisch bezeichnet hat. Tatsächlich werden wir dort keine blühende und freiheitliche Demokratie mit Rechtsstaat und Verfassungsgerichtsbarkeit hinterlassen, sondern ein islamistisches System, das nach seinen eigenen Regeln operiert. Wir könnten schon froh sein, wenn dieses Afghanistan nicht erneut mittelbar oder unmittelbar unsere Sicherheit beeinträchtigt.
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Fazit: Die verfassungsgerichtliche Aufweichung des Verteidigungsbegriffs zusammen mit der politischen Ausweitung des Sicherheitsbegriffs auf unsere universalistischen Werte bringt uns zunehmend in Situationen, derer wir nicht mehr Herr werden. Mein Appell gegen diese Tendenz: Ja zum Einsatz militärischer Gewalt, wenn es um die Verteidigung unserer nationalen Sicherheit im Rahmen des atlantischen Bündnisses geht, nein, wenn es um den Export unserer Werte von Demokratie und Grundrechten in andere Kulturen geht. Voß: Herr Münkler, in meiner damaligen Wahrnehmung hat sich nach dem Anschlag auf die Twin Towers vom 11. September 2001 die amerikanische Politik verändert. Ganz naiv gefragt: Konnten wir damals vielleicht gar nicht anders, als an der Seite der Amerikaner wenigstens in Afghanistan mitzumachen, da wir im Irak unsere Unterstützung verweigert hatten? So stellt sich jetzt nämlich nicht mehr die Frage »Warum sind wir eigentlich rein?«, sondern: »Wie kommen wir wieder raus, ohne dass der Schaden zu groß wird?« Ich habe das Gefühl, keiner ist heute eigentlich glücklich darüber, dass wir dabei sind. Aber einseitig abspringen können wir nicht, denn dann gibt es wirklich einen Scherbenhaufen im westlichen Bündnis. Herfried Münkler: Erstens: Was Sie Solidarität mit den USA nennen, umfasst immer auch eine Dimension internationaler Verpflichtungen und deren Verknüpfungen mit unseren nationalen Interessen. Denn gelegentlich muss man bei etwas mitmachen, obwohl man möglicherweise an dem Ort des militärischen Engagements gar keine unmittelbaren Interessen hat. Man beteiligt sich, um innerhalb der Organisation, in der man sich befindet, weiterhin ein Wort mitreden zu können. Denn wenn man immer nur sagt: »Da machen wir nicht mit«, marginalisiert man auf die Dauer seinen Einfluss. Es ist also auch eine Anzahlung auf bündnispolitische Solidarität. Ein anderes Beispiel dafür wäre der Bundeswehreinsatz im Kongo im Jahr 2006. Dafür gab es eigentlich gar keine Gründe, denn der Kongo war als Kolonie belgisch und französisch gewesen. Aber man ist dennoch mitgezogen, weil man nach der dezidierten Absage an eine Beteiligung im Irak im Schwitzkasten der Franzosen war. Gegenüber dem großen Druck von Seiten der USA musste man sicherstellen, dass einem wenigstens die Franzosen zur Seite standen. Das zeigt, wie komplex die Frage nach den nationalen Interessen geworden ist. Sie kann nicht nur unter dem Aspekt beantwortet werden: »Haben wir in Afghanistan strategische Interessen?«, sondern muss auch berücksichtigen: »Wieviel Solidarität, wieviel Einflussnahme wollen wir in den internationalen Organisationen und vor allem im zentralen Bündnis der NATO haben?« Zweitens: Das Problem der Verteidigung ist sehr viel komplexer geworden als zur Zeit des Kalten Krieges, als man Verteidigung im Hinblick auf den Raum denken konnte. Verteidigung hieß damals: Was wir verteidigen, ist die Grenze – mit einer gewissen Flexibilität der Bewegung der Einheiten muss dort Widerstand
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beginnen, und damit der Widerstand erst gar nicht real beginnen muss, muss dem Gegner plausibel sein, dass er dort beginnen würde. Der 11. September ist unter anderem auch ein Zeichen dafür, dass an die Stelle der Raumverteidigung ganz andere Fragen von Verteidigung getreten sind. Es wird sehr viel komplizierter in dem Moment, in dem es – failed states als Stichwort – irgendwo in der Welt Organisationen gibt, die bevorzugt von zerfallenden/zerfallenen Staaten aus Anschläge planen, gegen die man sich wehren muss. In solchen Fällen kann man nicht sagen, dass man mit der Verteidigung dann beginnt, wenn der Angreifer mit seinen Panzerdivisionen die Grenze überschreitet, sondern die Verteidigung wird komplexer, sie wird gewissermaßen zu einem virtuellen Spiel. Drittens: Unser Problem ist, dass es so schwer vermittelbar ist, warum wir in Afghanistan präsent und engagiert sein sollen, denn was hat Deutschland mit Afghanistan zu tun? Zwar war Afghanistan während des Ersten Weltkriegs einmal strategisches Interessengebiet des Deutschen Reiches als mögliche Angriffsbasis auf Britisch-Indien; und 1939/45 gab es noch einmal einen Kontakt – aber danach eben nicht mehr. Also steht die Politik, die das Afghanistan-Engagement legitimieren muss und die nicht immer nur bärbeißig sagen kann: »Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt«, unter dem Zwang, legitimatorisch draufzusatteln. Dann werden Dinge in die Diskussion eingebracht, wie die Beendigung des Burka-Zwangs oder die Gleichberechtigung von Knaben und Mädchen, die Einführung der Demokratie usw. Man läuft damit jedoch unbedarft in eine Falle, die man sich selbst aus legitimatorischen Zwecken gestellt hat, um die Unterstützung für den Einsatz bei der eigenen Bevölkerung zu erhalten. Denn anstatt zu sagen: »Wir beenden, was uns bedroht, und dann verschwinden wir auch wieder«, macht man daraus ein Riesenprojekt – Demokratisierung, Stabilisierung, Prosperität, Fortschritt und Gleichberechtigung für Afghanistan –, aus dem man anschließend nicht mehr hinauskommt. Das ist dann auch der Grund dafür, warum es so lange dauert. Und in mancher Hinsicht sind wir als die deutschen Demokraten, die eine ordentliche Politik von der afghanischen Regierung erwarten, auch selbst das Problem dieser Politik. Denn diese Politik hat Ziele und Erwartungen geweckt, die sie nun in irgendeiner Weise einlösen muss, die aber von vornherein zu hoch und vor allem unrealistisch gewesen sind. Struck: Wir haben Ende 2001 entscheiden müssen, wie wir die Bitte der USA bewerten, die nach Artikel 5 des NATO-Vertrages den Bündnisfall ausrufen ließen. Die Amerikaner haben also gesagt: »Wir sind angegriffen worden, und Ihr müsst uns helfen«. Diese Verpflichtung Deutschlands im Rahmen der NATO ist das Erste. Das Zweite ist: Wir leben nicht allein auf der Welt. Und drittens: Wir haben die Vereinten Nationen als unser oberstes Gremium auf der Welt, die zwar keine eigene Armee haben, die aber entschieden hatten: »Wir intervenieren in Afghanistan; es gibt ein Afghanistanengagement der Vereinten Nationen«. Und wen fragen die Vereinten Nationen um militärischen Beistand? Sie fragen die
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NATO und die Europäische Union. Ein anderes Militärbündnis als die NATO gibt
es seit dem Ende des Warschauer Paktes weltweit nicht mehr. Nun sind wir in beiden Gremien, in der NATO und der EU, ein führender Staat. Wir haben eine gute Armee, die besser ist als die US-Armee. Wir sind ein wirtschaftlich starkes Land. Wir können uns solchen Fragen überhaupt nicht verschließen. Wir können, um nochmals auf Herrn Depenheuer zu kommen, immer entscheiden: Engagieren wir uns, ja oder nein? Im Fall Afghanistans lautete die Entscheidung: ja. Die Gründe waren der 11. September und das Ziel der Zerschlagung von 130 al-Qaida-Ausbildungslagern. Wir sind nicht nach Afghanistan gegangen mit dem Ziel, dort die Gleichstellung von Mann und Frau oder die Riester-Rente einzuführen. Aber dann kommt das, was Herr Münkler völlig zu Recht gesagt hat: Es baute sich langsam eine andere Argumentationskette auf. Ich will auch noch einmal sagen: Man kann als Wissenschaftler natürlich über solche Engagements diskutieren und Aufsätze schreiben; aber die Praxis ist schon etwas anders. Die Praxis in Afghanistan war doch folgendermaßen: Wir sind mit einem kleinen Kontingent reingegangen, wir haben Karzai von den Afghanen als Präsident in Kabul installiert und wollten dann Kabul stabilisieren und danach weitersehen. Das war die Zielrichtung. Wir hatten am Anfang dort weniger als 1000 deutsche Soldaten, danach wurden es mehr. Dann haben wir gesagt: Gut, wir müssen unsern Einflussbereich erweitern bis hin zur Verteilung von bestimmten Regionen im Land. Insofern musste ich einfach als Politiker Entscheidungen treffen. Und ich will noch hinzufügen: Es hat sich ja niemand leichtgemacht, das Afghanistan-Engagement im Bundestag zu beschließen. Ich habe in meiner Fraktion, obwohl ich sonst stets auf Disziplin Wert lege, bei dieser Frage die Abstimmung immer freigegeben. Es gab immer eine Reihe von Gegenstimmen von Kolleginnen und Kollegen, die sagten: »Ich mache das nicht, weil da Deutsche sterben können«. Und jedes Jahr, jedes Mal bei der Verlängerung kam wieder die gleiche Frage auf. Wir können natürlich auch sagen: »Nein, wir hören jetzt auf damit«. Aber ich glaube, letztlich sagt keine ernstzunehmende politische Gruppierung: »Raus jetzt, sofort!« Voß: Herr Struck hat gerade gesagt, Wissenschaftler können analysieren, aber Politiker müssen die harten Entscheidungen treffen. Herr Depenheuer, verteidigen Sie Ihre Wissenschaftlerehre! Depenheuer: Da muss sich niemand verteidigen, aber alle Beteiligten sollten wechselseitig und zum eigenen Vorteil anerkennen, dass man verschiedene Rollen spielt: Der Politiker entscheidet unter Zeitdruck und Sachzwangbedingungen, der Wissenschaftler analysiert aus der Beobachter- oder Beraterrolle heraus, der Soldat kämpft, und die Bürger schauen zu. Diese verschiedene Perspektiven ergänzen sich: Politiker fragen ab und zu auch einmal wissenschaftlichen Sachverstand nach, Theoretiker verschaffen sich gerne beim Praktiker Sachinforma-
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tionen und Problembewusstsein. Zur Sache: Alles, was hier bisher dazu gesagt wurde, ist zutreffend. Tatsächlich sind wir ziemlich blauäugig nach Afghanistan hineingegangen. Jedenfalls hat sich die Politik nicht getraut, den Menschen in aller Deutlichkeit zu sagen, dass es dort zu kriegsähnlichen Szenarien kommen kann. Stattdessen wurde eine Entwicklungshilfepolitik vorgegaukelt, zu der nur nicht die Präsenz bewaffneter Truppen passen wollte. Von »Krieg« zu sprechen, war amtlich geächtet. »Wir sind nicht im Krieg«, lautete die Parole. Inzwischen normalisiert sich die terminologische Lage. Die Bundesregierung anerkennt jetzt, dass wir es mit einem »nichtinternationalen bewaffneten Konflikt« zu tun haben. Rechtsfolge: Kriegsrecht. Unser nach wie vor bestehendes Problem ist nur: Weil die Politik über Jahre hinweg zu feige war, den Menschen die Wahrheit zu sagen, hat sie jetzt das heikle Problem, die zunehmenden Verluste an Menschenleben plausibel mit dem einstmals propagierten Kriegsziel zu erklären. Und tatsächlich: Es ist schon frivol, zu glauben, man könne einen failed state im Wege des state building in zehn oder zwanzig Jahren in einen modernen funktionierenden Rechtsstaat verwandeln – ganz abgesehen davon, dass man eine Stammesgesellschaft nicht einfach als failed state abqualifizieren kann. Es ist geradezu vermessen zu glauben, man könne ein mittelalterliches Herrschaftsgebilde in dieser Zeit in einen modernen Staat verwandeln. Europa hat dafür Jahrhunderte gebraucht. Es ist das Recht jeder Kultur, sich dafür auch etwas Zeit zu nehmen. Muslimische Stammesgesellschaften sollen, wenn sie denn wollen, muslimische Stammesgesellschaften bleiben können. Allerdings haben sie auch kein Recht, uns mit ihren mittelalterlichen Sitten und Gebräuchen gewaltsam zu überziehen. Man mag in Afghanistan die Scharia leben; hier dürfen, ja müssen wir unsere kulturellen Standards gegen die Zumutungen einer fundamentalistischen Herausforderung verteidigen. Und da ist es schon eine pikante Ironie der bundesdeutschen Diskussion, dass wir unsere Soldaten für Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit nach Afghanistan schicken, während das Bundesverfassungsgericht es den Sicherheitsbehörden gleichzeitig verbietet, einen Angriff nach dem Muster des 11. September wegen der Menschenwürde der tatunbeteiligten und unschuldigen Passagiere abwehren zu dürfen. Eine Politik, die militärisch flankierte Missionen in Sachen Menschenrechte nach außen betreibt, gleichzeitig aber keinen Willen zur Selbstbehauptung nach innen erkennen lässt, bedarf dringend einer Nachjustierung ihrer elementaren politischen Grundkoordinaten. Münkler: Wir müssen sehen, dass es sich bei der internationalen Sicherheit um ein sogenanntes kollektives Gut handelt, also ein Gut, von dem alle profitieren, aber bei dem man nicht unbedingt einzahlen muss, um profitieren zu können. Folglich besteht eine starke Neigung, Trittbrettfahrer zu werden, also zu sagen: »Soll sich doch der Nachbar um dieses kollektive Gut der internationalen Sicherheit kümmern – wir am besten nicht, wir sagen gar nichts, dann merkt keiner, dass es uns gibt.« Und je mehr das sagen, desto problematischer wird die Sache.
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Zwei Trittbrettfahrer kann man noch ganz gut verkraften, aber wenn es mehr werden, wenn alle nur noch auf den Trittbrettern stehen wollen und keiner mehr zieht und schiebt, dann entsteht ein Problem. Also muss man den Leuten klar machen, warum wir unsere Soldaten schicken sollen, obwohl es sich um ein Problem handelt, das auch Andere betrifft. Das ist in der Tat ein ungeheuer schwieriges Problem, weil natürlich die Trittbrettfahrerposition immer die bequemere, kostengünstigere und schickere Stellung ist. Struck: Ich will noch anfügen, dass wir natürlich in einer realpolitischen Situation handeln mussten, als wir 2001 den Einsatz entschieden haben. Wir konnten uns überhaupt nicht heraushalten. Ich will auch ergänzen, dass es für mich als Verteidigungsminister immer die schlimmsten Ereignisse waren, wenn ich gestorbene oder gefallene Soldaten in Köln-Wahn ›empfangen‹ und dann mit den Angehörigen reden musste. Ich habe in meiner Ministerzeit nie einen Hehl daraus gemacht, dass, erstens, unsere Soldaten dort sterben können und dass sie, zweitens, auch in die Lage kommen könnten, andere töten zu müssen; das wollte nur niemand hören. Mir war aber völlig klar, dass in Deutschland ganz andere Diskussionen begonnen worden wären, wenn wir ein wirklich dramatisches Ereignis gehabt hätten; dann hätte es geheißen: »Was haben wir dort zu suchen? Lasst uns dort sofort rausgehen!« Wenn sich die deutsche Politik heute entscheidet, bei einem UN-Mandat mitzugehen, dann müssen die deutschen Bürger wissen, welchen Preis das kosten kann. Voß: Es gibt ja den Begriff der »postheroischen Gesellschaft«, den Sie, Herr Münkler, in ganz besonderem Maße auf Deutschland anwenden. Ich erinnere mich noch an meine Schulzeit nach dem Krieg in Lübeck. Unsere alten Pauker waren konservative Knochen. Es gab unter ihnen ein oder zwei alte Nazis; die anderen waren nicht in der Partei gewesen, aber an der Front, und daher waren sie Pazifisten. Adenauers Wiederbewaffnung ist damals gegen eine Grundstimmung in der Bevölkerung durchgesetzt worden. Und etwas von diesem Gefühl »Nie wieder Krieg«, das ja tatsächlich eine der Folgen des Zweiten Weltkrieges ist, war in Deutschland besonders ausgeprägt und ist immer noch da. Liegt nicht die Vorsicht der Politik, dies auch verbal offenzulegen, eben darin begründet, dass man das Gefühl hat, dafür ohnehin keine Mehrheit zu bekommen? Münkler: Natürlich gibt es eine Neigung der Politik, die Probleme, in die man hineingeraten ist, dadurch klein zu halten, dass man bestimmte Begriffsstrategien wählt, also das K-Wort meidet wie der Teufel das Weihwasser. Alle westlichen Gesellschaften sind im Kern postheroische Gesellschaften, und das aus zwei Gründen: Erstens hängt das mit der demographischen Reproduktionsrate zusammen. Wenn Familien ein Kind, allenfalls zwei Kinder haben, dann ist in jedem Kind – ganz technisch gesprochen – mehr emotionale Energie gebunden
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als in Gesellschaften, wo Familien elf bis zwölf Kinder haben; dort ist klar: Wenn eines den Märtyrer-Weg geht, dann kommt das der restlichen Familie zugute, aber es zerstört sie nicht in ihrem Bestand, weil noch so viele Geschwister da sind. Zweitens kommt das Absinken der religiösen Energie hinzu. Der Opfergedanke ist ja ein zutiefst religiöser Gedanke, der in Ideologien wie dem Nationalismus auch verweltlicht werden kann; aber wenn man diese religiöse Energie – und sei es für die Nation – nicht mehr hat, dann ist es mit dem Opfern schwierig: Wozu soll man sich eigentlich opfern? Das gilt für alle Gesellschaften. Der Unterschied zu unsern Nachbarn ist, dass die deutsche Gesellschaft diese Entwicklung zudem als eine endlich gelernte Lektion der deutschen Geschichte begreift: Nie wieder Krieg. Wir haben das mit guten Gründen getan. Zugleich aber stellt es ein Problem dar, bei dem man wieder ein bisschen ›entlernen‹ muss, zumal auch die Amerikaner zu uns kommen und sagen: »So große Pazifisten solltet ihr eigentlich nicht werden. Das haben wir nicht so vorgehabt.« Doch das lässt sich dann schlecht umstellen – die französische Schule der Annales sagt: Mentalitäten sind die Gefängnisse der langen Dauer, ihre Änderung benötigt mindestens dreißig bis vierzig Jahre. Wenn dann einige Politiker sagen: »Das ›Nie wieder Krieg‹ übertrumpfen wir, indem wir sagen: ›Nie wieder Auschwitz‹«, so kommt der normative Überbietungsmechanismus in Gang, der einer postheroischen Gesellschaft klarmachen soll: Es gibt eben doch Opfer, die man bringen muss. Aber da arbeiten wir uns zunächst an unserer eigenen Geschichte ab, indem wir geschichtspolitische Umsortierungen vornehmen. Voß: Lassen Sie mich kurz zu resümieren versuchen, was Sie zur Frage nach der Berechtigung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr gesagt haben. Herr Depenheuer sagt: Eigentlich ist eher Vorsicht und Zurückhaltung angebracht. Wir können die Menschenrechte nicht exportieren, und wir sollten auch gar nicht so tun, als ob wird das könnten, sondern eher etwas zurückhaltender sein im Sinne des nationalen Interesses. Herr Struck sagt als Politiker ganz pragmatisch: Dieser Entscheidung war nicht auszuweichen, der Bündnisfall war gegeben. Man muss sich als Politiker entscheiden, ohne im Augenblick der Entscheidung die Möglichkeit zu haben, alles analytisch zu durchdringen und das Ende vorherzusehen. Ob es auch wirklich am Ende richtig war oder nicht, sieht man erst später. Depenheuer: Wenn wir unter den gegebenen internationalen Bedingungen unsere nationalen Interessen in den Blick nehmen, so kann das natürlich auch dazu führen, dass man sich im Rahmen eines Bündnisses an einem Krieg beteiligen muss, selbst wenn man ihn nicht für zwingend hält. Aber als Mitglied eines Bündnisses partizipiert man nicht nur von den Sicherheitsgarantien des Bündnisses, man ist zuweilen auch zur Solidarität für andere verpflichtet. Und diese Solidarität im Rahmen des westlichen Verteidigungsbündnisses ist denn auch grundsätzlich angezeigt. Die Staaten der westlichen Welt sehen sich nämlich erst-
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mals in ihrer Geschichte einer Herausforderung gegenüber, die sie bisher nicht für möglich gehalten hätten. Wir hier in Deutschland und Europa leben auf der politischen und ökonomischen Sonnenseite der Welt. Wir genießen seit über sechs Jahrzehnten unsere Freiheit und Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Sozialstaatlichkeit und Wohlstand. Es gibt also reichlich Anlass, weniger glücklichen Völkern von unseren Errungenschaften zu erzählen, dafür zu werben, ihnen zu helfen, etwas Vergleichbares aufzubauen. Das alles tun wir mit einer Selbstverständlichkeit und einem Selbstbewusstsein, weil wir uns gar nicht vorstellen konnten, dass andere Menschen nicht nur nichts von unserer Freiheiten wissen wollten, sondern im Gegenteil sie uns im Namen eines religiösen Fundamentalismus diese Errungenschaften nehmen wollen. Darin, in dieser selbstbewussten und grundsätzlichen Absage an die Idee individueller und liberaler Freiheit, liegt die säkulare Bedeutung des 11. September: Zum ersten Mal werden wir mit der Tatsache konfrontiert, dass es Menschen auf dieser Welt gibt, die partout nicht so leben wollen wie wir. Im Gegenteil: die uns zeigen wollen, wie man auch leben kann, nämlich aus einer religiösen Wahrheit heraus. Sie präsentieren uns das Gegenkonzept zur säkularen, freiheitlich-demokratischen Staatlichkeit, den religiös-geschlossenen Einheitsstaat, und sind darauf auch noch stolz. Diese Tatsache muss erst einmal begriffen werden: dass unsere universalistischen Werte angegriffen werden von Werten, die sich in gleicher Weise auch als universalistische Wahrheitsansprüche ausgeben. Wir werden uns in Zukunft also daran gewöhnen müssen, dass unsere Art zu leben, anders als die meisten gedacht haben, kein historischer oder weltpolitischer Selbstläufer ist. Es gibt die selbstbewusste Absage an unsere politische Kultur, und wir werden diese möglicherweise gegen terroristische Angriffe verteidigen müssen, wenn wir denn dieses Leben weiterführen wollen. Und so bitter es ist, so wenig kann man es leugnen: Wenn wir für unsere politische Kultur gegen die terroristische Herausforderung einer totalitären Kultur zu kämpfen bereit sind, dann werden wir uns an den Gedanken des Opfers gewöhnen müssen. Voß: Sie sagten: »Die Muslime sollen so leben, wie sie es wollen«. Die Frage ist nur: Kann es in einer sich globalisierenden Welt, die wirklich zusammenwächst, am Ende gegensätzliche Wertordnungen geben? Wenn der Islam zur Unterdrückung der Frau oder zu Ähnlichem beiträgt, sind doch die Gegensätze nicht zu leugnen. Muss man also letztlich alles dafür tun, dass sich unser Konzept durchsetzt, weil am Ende nur eine der beiden Wertordnungen siegen kann? Es gibt ja nun einmal die Menschenrechte. Sie sind an sich universal, aber jede Kultur will sie konkret anders definieren. Roman Herzog hat dazu einmal geäußert: »Das überzeugt mich erst, wenn ich den ersten Chinesen treffe, der sagt: ›Ja, wir sind eine andere Kultur, ich bin deshalb damit einverstanden, dass ich gefoltert werde oder dass ich Sklavenarbeit leisten muss‹«.
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Depenheuer: Ich bin überzeugt davon, dass unsere politische Kultur, unsere Art und Weise, in Freiheit und Toleranz zu leben, sich langfristig weltweit durchsetzen wird, und zwar deshalb, weil sie von der Idee der Freiheit des Individuums ausgeht. Nachdem dieser Gedanke mit Renaissance, Reformation und Aufklärung in Europa zur bestimmenden politischen Leitschnur des Denkens geworden ist, war der Weg zu Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaat nicht mehr aufzuhalten, auch wenn es ein paar Jahrhunderte gedauert hat. Anders gewendet: Wenn sich erst einmal das süße Gift der Freiheit in den Köpfen der Menschen, wo immer sie leben, festsetzt, lässt es sie nicht mehr los. Es wurde eben von einem Zeitraum von dreißig bis vierzig Jahren gesprochen, innerhalb dessen sich in einer Gesellschaft die grundlegenden Orientierungsparameter ändern können. Ich bin da skeptischer und denke eher an längere Zeiträume: Auch wir Deutschen haben unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung nicht an einem Wochenende in einem Seminar kennengelernt, sondern es waren Jahrhunderte, bis wir uns ihr Stück für Stück angenähert, uns ihr anverwandelt und mit ihr zu leben gelernt haben. Wenn erst einmal dieser eine Gedanke gedacht werden kann – »Das Individuum ist frei. Es hat Rechte. Es stellt die Legitimationsfrage, warum das, was ist, ein Recht darauf hat, so zu sein, wie es ist« –, dann werden alle rational nicht rechtfertigungsfähigen Gebilde, Autokratien und Monarchien nach und nach delegitimiert werden und letztlich zusammenbrechen. Wir müssen dieses süße Gift der Freiheit nur auslegen und sehr geduldig warten. Wir sollten unsere politische Kultur jedenfalls nicht selbst dadurch diskreditieren, dass wir diesen Prozess im Hauruckverfahren, und dann auch noch militärisch begleitet, durchsetzen wollen. Voß: Hängt die Freiheit davon ab, wie mächtig ein Land ist? Einem kleineren Land klopft man als Europäer oder NATO-Mitglied bei Verstößen gegen die Menschenrechte schon mal eher auf die Finger. Wenn dies aber China oder Russland betrifft, gibt es ein paar strenge Worte, die jedoch nicht fruchten. Und im Übrigen machen wir unsere Geschäfte. Struck: Ganz so hart würde ich es nicht formulieren, aber den Grundsatz, der dahinter steht, will ich nicht bestreiten, dass es nämlich eine Rolle spielt, über welches Land man nachdenkt. Herr Depenheuer hat völlig Recht, wenn er von dem Gift der Freiheit spricht. Betrachten Sie es nur am Beispiel der Rolle der Frau in Afghanistan. Dass viele Frauen in Afghanistan nicht mehr so unterdrückt werden wie zu Taliban-Zeiten, hat natürlich auch etwas damit zu tun, dass sie von diesem Gift gekostet haben. Wir haben beispielsweise dafür gesorgt, dass Frauen jetzt plötzlich einen Rundfunksender betreiben können. Das ist zwar nur ein kleiner Schritt, und es dauert Jahre, die Rolle der Frau gänzlich zu ändern. Trotzdem ist dieser Weg der richtige.
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Münkler: Ich will in der Frage des süßen Giftes widersprechen. Was China anbetrifft, ist das natürlich richtig, und für die Tigerstaaten gilt es ohnehin. Das sind alle diejenigen, die auf das Stichwort »Prosperität« hin sagen: »Wir auch!« Aber was uns ja so frappiert hat, war die Gegenposition jener, insbesondere in der muslimischen Welt, die auf die Frage: »Willst du mehr Prosperität?«, antworten: »Nein! Sünde!« oder »Verderbnis! Wir sind dagegen!« Und den Prozess des ›Dekadenzexportes‹ – ich übersetze das, was Sie ›das süße Gift‹ genannt haben, in deren Sichtweise – stoppen sie durch das demonstrative Opfer ihres eigenen Lebens. In dieser Situation ist dann auch das, was der amerikanische Politikwissenschaftler Joseph Nye »Softpower« genannt hat, wirkungslos, nämlich die Überzeugungskraft von Freiheit, Selbstbestimmung, Wohlstand und derlei mehr. Das ist die eigentliche Herausforderung, und es ist eine Herausforderung wesentlich durch die muslimische Welt, jedenfalls durch Wahabismus und Salafismus in der arabisch-islamischen Welt. Und ich bin mir nicht sicher, ob wir uns auf die Vorstellung des 18. und 19. Jahrhunderts verlassen können, dass der Prozess der europäischen Aufklärung, wenn auch mit Widerständen, sich dann doch durchsetzt – das glaube ich nicht. Voß: Lassen Sie uns den Blick auf dieses Europa lenken. Ich bekenne mich als ein unzufriedener Europäer. Im Europäischen Parlament geht es weniger nach politischen Gefechtslinien, wie es in nationalen Parlamenten üblich ist. Kein Mensch hört sich diese Debatten an; die Kompetenzen sind begrenzt; die Nationalstaaten verstecken sich hinter Brüssel, Brüssel versteckt sich hinter den Nationalstaaten; vor Referenden haben wir Angst, das Volk wird sicherheitshalber nicht gefragt. Eigentlich bräuchten wir doch gar kein Europaparlament. Wir haben mit dem Lissabon-Vertrag das Prinzip der doppelten Mehrheit. Warum kommen nicht alle Vorschläge der Kommission in die nationalen Parlamente und werden öffentlich diskutiert? Dann sieht man ja, ob eine doppelte Mehrheit, also der Bevölkerung und nach der Zahl der Staaten, zustande kommt. So, wie es jetzt läuft, erleben wir eine wachsende Entfremdung und haben das Gefühl: Wir Deutschen gehen in Europa auf, aber unser Interesse, als Demokraten artikulieren und mitwirken zu können, geht dabei völlig verloren. Münkler: Warum haben wir eigentlich geglaubt, dass wir, erstens, ein Europaparlament brauchen, und zweitens, dass wir es nicht von unseren nationalen Parlamenten wählen lassen, sondern per Direktwahl? Weil wir geglaubt haben, man bekomme mehr Demokratie, wenn man demokratisiert. Das ist aber nicht unbedingt richtig. Richtig ist vielmehr, dass gelegentlich Schritte der Demokratisierung gemacht werden, die dann nicht auf ihnen entgegenkommende Bedingungen treffen, also in diesem Fall auf eine europäische Öffentlichkeit, und die darum ins Leere führen, womöglich in den Abgrund. Es gibt ja keine europäische Zeitung. Alle Zeitungen sind national. Man ist ja auch hinreichend damit
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beschäftigt, einigermaßen über sein eigenes Land informiert zu sein. Aber über den Rest Europas derart Bescheid zu wissen, dass man eine verantwortliche Entscheidung, auch in Übereinstimmung mit den eigenen Interessen, treffen kann, das tun wir eigentlich nicht. Insofern war die Direktwahl des Europaparlaments im Nachhinein betrachtet keine gute Idee. Das verfasste Europa und die europäische Wirtschaftsgemeinschaft waren ein Elitenprojekt, das man sich als solches leisten konnte, weil die dafür erforderliche Zustimmung auf der Ebene der Nationen oder der einzelnen Staaten demokratisch eingeholt wurde. Im Unterschied zur NATO war die Europäische Union in dieser Frage immer sauber und hatte keine schmutzigen griechischen Obristen oder portugiesische Diktatoren als Mitglieder. Aber die Schaffung des Europaparlaments war eine Illusion, die dem Maximierungsimperativ folgte, der da lautet: je mehr Demokratie, desto besser. Das funktioniert aber nicht so. Es gibt eher ein Optimum, und das Maximum war falsch. So hat man das System überfordert und überreizt, und jetzt wissen wir nicht so genau, wie wir damit umgehen sollen. Wenn das nur in der Wissenschaft so wäre, Herr Struck, dann wäre das nicht schlimm, die hat ja dann noch zehn Jahre Zeit, darüber nachzudenken. Ich habe aber den Eindruck, die Politik weiß auch nicht, was sie in dieser Situation machen soll. Und die Politik hat diese zehn Jahre nicht, tut aber so, als hätte sie diese Zeit. Depenheuer: Das Problem der Europa-Debatte in Deutschland scheint mir zu sein, dass es eine solche Debatte grundsätzlich nicht gibt. In Bezug auf Europa gibt es weder kohärente Konzepte noch politischen Streit. Alle sind für Europa, und genau das ist unser Problem. Weil es keine Debatte gibt, können Alternativen weder gedacht noch diskutiert werden. Politik lebt aber nun einmal von Alternativen. Europa wurde und wird in Deutschland wie die Erfüllung aller Träume gefeiert, und jede Kritik an Europa, und selbst die aus Karlsruhe, wird entsprechend kritisch und ablehnend kommentiert. Doch alle politischen Ordnungen sind fragil, erst recht herbeigeredete und mit gutem Willen zusammennormierte Ordnungen. Historiker wissen das, Politiker sollten es wissen. Wehe, wenn eine solche Ordnung zusammenbricht, und die Politik würde über kein alternatives Orientierungsmodell verfügen! Münkler: Die CIA hat für das Jahr 2020 das Szenario eines zerfallenden Europas durchgespielt. Das sind Erwägungen einer Weltmacht USA, die sich möglicherweise um die Scherben zu kümmern hat. Dabei hat auch die Frage eine Rolle gespielt, welches Sprengpotenzial sich entwickeln kann, wenn man eine einheitliche Währung hat, aber unterschiedliche Wirtschaftsmentalitäten und wenn die Möglichkeit des Auf- und Abwertens von Währungen nicht mehr vorhanden ist. Das hätten wir uns eigentlich auch selbst denken können. Aber der Prozess der Erweiterung Europas ist durch die Rhythmik einer sich beschleunigenden Geschichte bestimmt worden. Zunächst gab es die tiefe Dankbarkeit dafür, dass
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diese südeuropäischen Staaten endlich ihre Diktaturvergangenheit hinter sich gelassen hatten. Und Europa als Demokratiegarantie hat auch bei der Osterweitung eine wichtige Rolle gespielt, bei der ja nicht so sehr strategische Gesichtspunkte – das war das Thema der NATO – von Bedeutung waren, sondern eher die Frage im Mittelpunkt stand, wie wir das Pflänzchen Demokratie, das dort jetzt keimt, entsprechend begießen können. Deswegen hat man sich beide Male für die Erweiterung entschieden. Aber irgendwann ist eben Schluss damit. Die Frage, ob Europa vertieft oder erweitert werden solle, ist 1993/94 nicht als Alternative beantwortet worden, sondern mit einem Sowohl-als-auch. Dieses Sowohl-alsauch hat ein Sprengpotenzial in die Europäische Union hineingebracht, von dem ich mir nicht sicher bin, ob es nicht möglicherweise doch dazu führen wird, dass diese CIA-Analysen zutreffen werden. Struck: Ich möchte noch einen positiven Aspekt betonen. Seit dem Irakkrieg, in dem Europa außenpolitisch auseinandergefallen ist, gibt es eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik Europas. Das ist natürlich ein großes Gut. Als jemand, der noch im Krieg geboren ist, kann ich nur sagen: Es ist doch das Wichtigste überhaupt, dass wir keine Angst vor dem Angriff irgendeines anderen Landes mehr haben müssen. Das ist ein wirklich hohes Gut, für das auch Europa steht.
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Herausgeber, Autorin und Autoren
Harald Biermann, Dr. phil., geb. 1966, Privatdozent für Neueste Geschichte an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und Abteilungsdirektor der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn Otto Depenheuer, Dr. iur., geb. 1953, Professor für Allgemeine Staatslehre, Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Universität Köln Wolfgang Elz, Dr. phil., geb. 1956, Akademischer Direktor an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Helga Haftendorn, Dr. phil., geb. 1933, Univ.-Professorin (em.) für Internationale Beziehungen an der Freien Universität Berlin Michael Kißener, Dr. phil., geb. 1960, Professor für Zeitgeschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Jan Kusber, Dr. phil., geb. 1966, Professor für Osteuropäische Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Andreas Lutsch, M.A., geb. 1984, Doktorand der Neuesten Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Herfried Münkler, Dr. phil., geb. 1951, Professor für Theorie der Politik an der Humboldt-Universität Berlin Andreas Rödder, Dr. phil., geb. 1967, Professor für Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Tim Schanetzky, Dr. phil., geb. 1973, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Friedrich-Schiller-Universität Jena Joachim Scholtyseck, Dr. phil., geb. 1958, Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
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Herausgeber, Autorin und Autoren
David Schumann, M.A., geb. 1983, Doktorand der Neuesten Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Peter Struck, Dr. iur., geb. 1943, Bundesminister der Verteidigung a. D., Vorsitzender der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag 1998–2002 und 2005–2009 Peter Voß, geb. 1941, Intendant a. D. des Südwestrundfunks, Professor an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe, Präsident der Quadriga Hochschule Berlin
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