Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik Deutschland 3658421231, 9783658421236, 9783658421243

Dieses Buch beschreibt den Stand der deutschen Wirtschaftspolitik. Die für die behandelten Politikbereiche relevanten th

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German Pages 482 Year 2023

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Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
1: Wirtschaft und Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik Deutschland
1.1 Wirtschaft und Wirtschaftspolitik in der unmittelbaren Nachkriegszeit
1.2 Das westdeutsche Wirtschaftswunder – Jahre 1949–1960
1.3 Auf dem Weg in die westdeutsche Normalität – 1961–1990
1.4 Der Sonderweg der DDR
1.5 Von der Wiedervereinigung bis heute
Literatur
2: Wirtschaftsverfassung und ökonomische Theorie der Verfassung
2.1 Wirtschaftsverfassung in Deutschland
2.1.1 Staatsfundamentalnormen als Staatsziele?
2.1.1.1 Rechtsstaatsprinzip
2.1.1.2 Sozialstaatsprinzip
2.1.1.3 Demokratieprinzip
2.1.1.4 Bundesstaatsprinzip
2.1.1.5 Republik
2.1.2 Wirtschaftliche relevante Grundrechte
2.1.2.1 Berufsfreiheit
2.1.2.2 Eigentumsfreiheit
2.1.2.3 Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit
2.1.2.4 Allgemeine Handlungsfreiheit
2.1.2.5 Allgemeiner Gleichheitssatz
2.1.2.6 Umweltschutz
2.2 Ökonomische Theorie der Verfassung
2.2.1 Kontrakttheoretische Legitimation des Staates
2.2.2 Das Interdependenzkostenkalkül
2.2.3 Verfassungsregeln für eine marktwirtschaftliche Ordnung
2.2.3.1 Grundregeln der Verfassungsebene
2.2.3.2 Ordoliberale Ansatz
Literatur
3: Wettbewerbspolitik
3.1 Wettbewerbstheoretische Grundlagen
3.2 Überblick über das deutsche und europäische Wettbewerbsrecht
3.3 Horizontale Vereinbarungen und Kartellverbot
3.4 Horizontale Unternehmenszusammenschlüsse
3.5 Vertikale Zusammenschlüsse und Vereinbarungen
3.6 Missbrauchsaufsicht über marktbeherrschende Unternehmen
Literatur
4: Rentenpolitik
4.1 Alterssicherung in Deutschland
4.1.1 Gesetzliche Rentenversicherung
4.1.2 Beamtenversorgung und Riesterrente
4.2 Ökonomik der Alterssicherung
4.2.1 Ziele, Gestaltungselemente und Marktversagen bei der Altersvorsorge
4.2.2 Kapitaldeckungs- und Umlageverfahren im Modell
4.3 Kapitaldeckungs- und Umlageverfahren im Vergleich
Literatur
5: Gesundheitspolitik
5.1 Gesetzliche Krankenversicherung in Deutschland
5.2 Ökonomik des Gesundheitswesens
5.2.1 Das Gut Gesundheit
5.2.2 Marktversagen in Gesundheitsdienstleistungsmärkten
5.2.3 Marktversagen in Krankenversicherungsmärkten
5.2.3.1 Vorteile der Existenz eines Krankenversicherungsmarktes
5.2.3.2 Trittbrettfahrerverhalten
5.2.3.3 Asymmetrische Informationsverteilung zu Lasten der Versicherer
5.2.3.4 Externes moralisches Risiko oder anbieterinduzierte Nachfrage
5.2.3.5 Opportunismusgefahren oder das Prämienrisiko
Literatur
6: Umweltpolitik
6.1 Deutsche Umweltpolitik im Überblick
6.2 Umweltökonomische Grundlagen
6.2.1 Ökonomische Umwelt – Die anthropozentrische Sicht
6.2.1.1 Umweltökonomisches Grundmodell
6.2.1.2 Ressourcenökonomisches Grundmodell
6.2.2 Ethische Grundlagen der Umweltökonomik Naturalistische Moralphilosophien und das Konzept der Nachhaltigkeit
6.3 Umweltökonomische Instrumente
6.3.1 Auflagen, Abgaben und Zertifikate
6.3.2 Statische Effizienz
6.3.3 Dynamische Anreizwirkung
6.3.4 Ökologische Treffsicherheit
6.3.5 Politische Durchsetzbarkeit
6.4 Exkurs: Das internationale Klimaproblem
Literatur
7: Energiepolitik
7.1 Energiepolitik in Deutschland
7.2 Exkurs: Einzelne Energieträger
7.2.1 Kohle
7.2.2 Erdöl
7.2.3 Erdgas
7.2.4 Uran/Kernkraft
7.2.5 Erneuerbare Energien
7.3 Elektrizitätswirtschaft
7.3.1 Ökonomik des Strommarktes
7.3.2 Regulierung und Deregulierung des deutschen Strommarktes
7.4 Gaswirtschaft
Literatur
8: Verkehrspolitik
8.1 Verkehrspolitik in Deutschland
8.2 Ökonomik des Verkehrswesens
8.2.1 Positive wirtschaftliche Aspekte des Verkehrs
8.2.2 Negative Aspekte des Verkehrs
8.2.3 (Besondere) Funktionsweise des Verkehrs
8.2.4 Nicht-bestreitbare natürliche Monopole im Verkehr
8.3 Exkurs: Wettbewerb und Regulierung im Eisenbahnverkehrsmarkt
8.3.1 Intramodaler Wettbewerb
8.3.2 Intermodaler Wettbewerb
8.3.3 Entgeltregulierung der DB AG
8.3.4 Trennung von Netz und Betrieb
Literatur
9: Arbeitsmarktpolitik
9.1 Arbeitslosengeld I
9.2 Bürgergeld
9.3 Ökonomik der Arbeitslosenversicherung
9.4 Ökonomik der Grundsicherung
9.5 Exkurs: Für und Wider des Bedingungslosen Grundeinkommens
Literatur
10: Bildungspolitik
10.1 Grundzüge der deutschen Bildungspolitik
10.2 Ökonomik der Bildung
10.2.1 Humankapitaltheorie
10.2.2 Screening und Signaling bei Bildungsinvestitionen
10.2.3 Bildung als öffentliches Gut bzw. das Auftreten von Externalitäten?
10.2.4 Weitere Aspekte
10.3 Ausgewählte Fragen der Bildungspolitik
10.3.1 Schülerleistungen im Vergleich
10.3.2 Soziale Herkunft und Bildungschancen
10.3.3 Studiengebühren aus ökonomischer Sicht
Literatur
11: Familienpolitik
11.1 Notwendigkeit, Ziele und Instrumente der deutschen Familienpolitik
11.2 Ehe und Familie aus der Sicht der Ökonomik
11.2.1 Heirat in der Theorie komparativer Kostenvorteile
11.2.2 Ökonomische Theorie der Fertilität
11.2.3 Neuere familienökonomische Ansätze
11.3 Ehegattensplitting – Fluch oder Segen?
11.4 Einmal Zahnarztgattin, immer Zahnarztgattin?*
Literatur
12: Stabilisierungspolitik
12.1 Postkeynesianisches versus neoklassisches Paradigma
12.2 Makroökonomische Grundlagen
12.3 Stabilisierungspolitik als antizyklische Fiskalpolitik
12.3.1 Globalsteuerung in der Bundesrepublik Deutschland
12.3.2 Implementierungsprobleme der antizyklischen Fiskalpolitik
12.4 Erfolgreiches Revival der antizyklischen Fiskalpolitik?
12.4.1 Finanzmarkt- und Weltwirtschaftskrise 2008–2010
12.4.2 Corona-Krise 2020
Literatur
Stichwortverzeichnis
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Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik Deutschland
 3658421231, 9783658421236, 9783658421243

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Thomas Wein

Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik Deutschland

Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik Deutschland

Thomas Wein

Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik Deutschland

Thomas Wein Leuphana Universität Lüneburg Lüneburg, Deutschland

ISBN 978-3-658-42123-6    ISBN 978-3-658-42124-3 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-42124-3  

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Isabella Hanser Springer Gabler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany Das Papier dieses Produkts ist recyclebar.

Vorwort

Volkswirtschaftliche Lehrveranstaltungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz sind zunehmend geprägt durch internationale, englischsprachige Lehrbücher, und dies seit Jahrzehnten sowie mit steigender Tendenz. Vorteil dieser Entwicklung ist, dass Studierenden in der Volkswirtschaftslehre einen international anerkannten Kanon an Theorien, Methoden und Herangehensweisen vermittelt bekommen. Naturgemäß können diese Lehrbücher institutionelle Besonderheiten, Themen und historisch-politische Pfadabhängigkeiten der Länder nicht beleuchten. Für das Verständnis und die Möglichkeit, die wirtschaftspolitische Debatte im jeweiligen Heimatland nachvollziehen zu können, gibt es somit eine Lücke. Diese Lücke existiert natürlich auch für den deutschsprachigen Raum, insbesondere für Deutschland. Ziel dieses Lehrbuches ist es daher, diese Lücke zu schließen und damit die Studierenden in die Lage zu versetzen, wirtschaftspolitische Themen in ihrer konkreten, deutschen Ausformung wahrnehmen zu können, den Kern der jeweiligen Streitfragen zu erkennen und aktuelle Diskussionen kritisch bewerten zu können. Darüber hinaus geht der Autor dieses Lehrbuchs von der festen Überzeugung aus, dass wirtschaftspolitische Fragestellungen auch von den wirtschaftsgeschichtlichen Entwicklungen des jeweiligen Landes geprägt sind. • Gerade für Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, aufgrund der kriegsbedingten Zerstörung, der enormen demografischen Verschiebungen und nicht zuletzt aufgrund der wettbewerbsfeindlichen Einstellungen in der Weimarer Republik sowie in den Zeiten der Herrschaft des Nationalsozialismus, gab es eine einzigartige Startgrundlage, auf deren Basis es zu enormen wirtschaftlichen Wachstum kam, es gab aber auch Krisen (1966/67, 1973/74, 1979/80, 1993/94, 2008/2009 und 2020/21). Die Krisen 2008/09 und 2020/21 wurden jedoch relativ leicht und schnell überwunden, zumindest im Vergleich zu anderen Ländern. • Die in der Summe sicherlich erfolgreiche wirtschaftspolitische Entwicklung Deutschlands war immer und zunehmend durch „äußere“ Einflüsse geprägt: Die wirtschaftliche Integration in den europäischen Wirtschaftsraum mit dem europäischen Binnenmarkt und „vollendet“ mit der europäischen Währungsunion. Die europapolitische Integration hat aber auch dazu geführt, dass die nationale Wirtschaftspolitik zunehmend in V

VI

Vorwort

„Brüssel“ entschieden wurde und wird; die deutsche Wirtschaftspolitik wurde spätestens Ende der 1980er-Jahre zum „Ausführungsorgan“ europäischer Richtlinien und Regulierungen. • Die deutsche Wirtschaftspolitik in Westdeutschland ist selbstverständlich auch beeinflusst durch die sowjetisch geprägte Zentralverwaltungswirtschaft in der ehemaligen DDR, was nach der Wiedervereinigung 1990 zu erheblichen Veränderungen in der ehemaligen DDR und zumindest fiskalisch für den Gesamtstaat Deutschland geführt hat. Viele Politikbereiche, die im Rahmen dieses Lehrbuches vorgestellt werden, zeugen von diesen unterschiedlichen Triebkräften der Nachkriegszeit, der europäischen Integration und der (post)zentralverwaltungswirtschlichen DDR.  Insofern gilt die These, dass die wirtschaftspolitischen Debatten von gestern, von heute, und vermutlich auch von morgen nur verstanden werden können, wenn sie auch in die wirtschaftsgeschichtliche Entwicklung und damit auch in den gewachsenen institutionellen Möglichkeitsraum Deutschlands eingebettet sind. Für an Universitäten Lehrenden geschieht es vermutlich öfters, dass man über Sachverhalt doziert, die man selbstverständlich als bekannt voraussetzt, sei es, weil man „mit dabei war“ oder man diese Kenntnisse in der Schule oder Hochschule selbst vermittelt bekommen hat. Mit zunehmender Dauer der Lehrtätigkeit erntet man jedoch vermehrt Unverständnis in dem Sinne, dass gerade als bekannt Vorausgesetztes nicht bekannt ist. Diese vom Lehrenden meist lauthals beklagte Unwissenheit könnte man unter der Rubrik „Arbeitsleid“ des Hochschullehrers abtun, wenn dieses Wissen nicht wie hier in der Wirtschaftspolitik inhaltlich fehlen würde. Dieses Lehrbuch versucht, diese Wissenslücken zu schließen, zumindest insoweit, wie es für das Verständnis der heutigen Wirtschaftspolitik notwendig ist. Ich bitte bereits hier an dieser Stelle um Entschuldigung, dass diese Eingrenzung auf das Nötige nicht immer konsequent genug durchgehalten wird. Die Grundphilosophie dieses Lehrbuchs schlägt sich auch in seinem Aufbau nieder. Kapitel eins dieses Lehrbuches stellt die wirtschaftliche und wirtschaftspolitische Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland vor. Hierzu gibt es einen Überblick über die wichtigsten wirtschaftlichen Zahlenreihen sowie die markantesten wirtschaftspolitischen Entscheidungen bis zur Gegenwart. Kapitel zwei wendet die ökonomische Theorie der Verfassung auf die Verfassung Deutschlands, also das Grundgesetz, an. Es zeigt sich, dass viele Elemente der ökonomischen Theorie der Verfassung Anknüpfungspunkte im Grundgesetz haben. Der wirtschaftsverfassungsrechtliche Teil des Grundgesetzes hat jedoch auch erhebliche Auswirkungen auf die in diesem Buch beschriebenen Politikbereiche. Nach diesen beiden einleitenden Kapiteln werden insgesamt zehn Bereiche der Wirtschaftspolitik vorgestellt, in dem die wichtigsten aktuellen Regelungen beschrieben werden, auch ein kurzer Abriss der Entwicklung bis zum heutigen Stand, um darauf aufbauend die relevanten ökonomischen Ansätze in diesem Feld vorzustellen. Zwar sollen die folgenden zehn Kapitel eigenständig verwendet werden können, sie wurden jedoch in der Reihenfolge geschrieben, dass das Verständnis erleichtert wird, wenn in der Reihenfolge des Buches die Kapitel abgearbeitet werden.

Vorwort

VII

Kapitel drei ist die Basis der deutschen Wirtschaftspolitik, da hier die Sicherung des Wettbewerbes im Rahmen der Wettbewerbspolitik thematisiert werden soll. Das vierte Kapitel beschreibt die deutsche Rentenpolitik, das fünfte die Gesundheitspolitik. Umweltpolitische Fragestellungen werden im sechsten Kapitel behandelt. Im siebten Kapitel geht es um die Energiepolitik, wobei der Schwerpunkt in der Stromwirtschaft liegt. Im achten Kapitel findet sich ein Überblick zur Verkehrspolitik. Kapitel neun gibt einen Überblick zur Arbeitsmarktpolitik, insbesondere zur Arbeitslosenversicherung und zur Grundsicherung. Bildungspolitische Fragestellungen, wie sie von Ökonomen vor dem Hintergrund deutscher Bildungspolitik diskutiert werden, kommen im zehnten Kapitel zur Sprache. Familienpolitische Themen werden zunehmend auch in der Volkswirtschaftslehre aufgegriffen, das elfte Kapitel beleuchtet dies im Blick auf die deutsche Familienpolitik. Die in den sechziger und siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts dominierenden Fragen der Stabilitätspolitik haben mit den Konjunkturpaketen der Finanz- und Coronakrisen neue Relevanz gewonnen, Kapitel zwölf fasst diesen Themenkomplex zusammen. Grundsätzlich soll jedes Kapitel den Stoff einer Veranstaltungswoche umfassen, was für die Kapitel drei und sechs bis neun vermutlich nicht ganz zu schaffen sein wird. Plustexte in den jeweiligen Kapiteln fügen Stoffinhalte hinzu, die nicht zwingend behandelt werden müssen. Die Inhalte der Kasten sind ebenfalls verzichtbar, vertiefen aber Sachverhalte, die im Fließtext kurz vorgestellt werden. Unterkapitel, die als Exkurs bezeichnet werden, können bei Zeitnot ebenfalls weglassen werden. Unter Auslassung aller Exkurs-­ Unterkapitel, Plustexte und Kasten müsste das Buch in einem Semester „lehrbar“ sein. Grundsätzlich geht dieses Lehrbuch davon aus, dass die Studierenden die grundlegenden Lehrveranstaltungen zu Mikro- und Makroökonomik besucht haben und daher mit den wichtigsten ökonomischen Instrumentarien vertraut sind. Leitschnur aller didaktischen Überlegungen ist es, die Inhalte verbal und mithilfe von Grafiken zu verdeutlichen; formal mathematische Konzepte werden nur in Ausnahmefällen verwendet. Auf der Seite SpringerLink.com finden Sie auf der Produktseite zum Buch unter https://link.springer.com/book/10.1007/978-3-658-42123-6 Lösungsmaterialien, PowerPoint-­Folien und Zusatzmaterialien, die Sie nach Kapiteln geordnet herunterladen können. Teile des Lehrbuchs waren über Jahre hinweg Gegenstand wirtschaftspolitischer Lehrveranstaltungen an der Leuphana Universität Lüneburg. Studierenden in diesen Lehrveranstaltungen und die Lehrveranstaltungen mitbetreuende Wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben durch Hinweise, Fragen und Kommentare zu einer Verbesserung der Lehrinhalte und damit dieses Buches beigetragen. Einzelne Kapitel dieses Lehrbuches wurden von M.A. Mats Kahl, Maike Mente, Dr. Marianne Schumacher, Dr. Fabian Wein und M. Sc. Konstantin Wein kritisch gelesen und haben erheblich zur Verbesserung der Texte beigetragen. Wertvolle Hinweise kamen auch von meiner Lektorin, Dr. Isabella Hanser, und von Merle Schäfer, beide Springer Gabler Verlag. Allen Beitragenden sei hiermit herzlich gedankt. Verbleibende Fehler und Unzulänglichkeiten gehen natürlich allein zu meinen Lasten. Meinem Freund und ehemaligen Kollegen, Prof. Dr. Tim Dornis verdanke ich die „Aufarbeitung“ von vielen aktuellen wirtschaftspolitischen Debatten, sowohl aus ­ökonomischer

VIII

Vorwort

als auch juristischer Sicht; ihm steht auch Dank zu, weil er mich auf die Möglichkeit der elektronischen Texterfassung hinwies, was zu deutlichen Zeitersparnissen geführt hat. Großen Dank gebührt natürlich auch meiner Frau, meinen Kindern und Schwiegerkindern, die sich teilweise über Jahrzehnte hinweg meine wirtschaftspolitischen Erkenntnisse, Anekdoten und apodiktischen Schlussfolgerungen anhören mussten und mehr oder weniger zustimmend wertschätzen sollten. Wenn vieles davon jetzt einmal aufgeschrieben ist, besteht für sie eine gewisse Hoffnung, in der Zukunft entlastet zu werden. Lüneburg, Deutschland Mai 2023

Thomas Wein

Inhaltsverzeichnis

1 Wirtschaft  und Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik Deutschland������    1 1.1 Wirtschaft und Wirtschaftspolitik in der unmittelbaren Nachkriegszeit������    2 1.2 Das westdeutsche Wirtschaftswunder – Jahre 1949–1960 ������������������������    8 1.3 Auf dem Weg in die westdeutsche Normalität – 1961–1990����������������������   14 1.4 Der Sonderweg der DDR����������������������������������������������������������������������������   24 1.5 Von der Wiedervereinigung bis heute ��������������������������������������������������������   25 Literatur����������������������������������������������������������������������������������������������������������������   35 2 Wirtschaftsverfassung  und ökonomische Theorie der Verfassung����������������   37 2.1 Wirtschaftsverfassung in Deutschland��������������������������������������������������������   37 2.1.1 Staatsfundamentalnormen als Staatsziele? ������������������������������������   38 2.1.2 Wirtschaftliche relevante Grundrechte��������������������������������������������   44 2.2 Ökonomische Theorie der Verfassung��������������������������������������������������������   58 2.2.1 Kontrakttheoretische Legitimation des Staates������������������������������   59 2.2.2 Das Interdependenzkostenkalkül����������������������������������������������������   64 2.2.3 Verfassungsregeln für eine marktwirtschaftliche Ordnung������������   68 Literatur����������������������������������������������������������������������������������������������������������������   74 3 Wettbewerbspolitik��������������������������������������������������������������������������������������������   77 3.1 Wettbewerbstheoretische Grundlagen��������������������������������������������������������   78 3.2 Überblick über das deutsche und europäische Wettbewerbsrecht��������������   92 3.3 Horizontale Vereinbarungen und Kartellverbot������������������������������������������   96 3.4 Horizontale Unternehmenszusammenschlüsse������������������������������������������  105 3.5 Vertikale Zusammenschlüsse und Vereinbarungen������������������������������������  110 3.6 Missbrauchsaufsicht über marktbeherrschende Unternehmen ������������������  118 Literatur����������������������������������������������������������������������������������������������������������������  125 4 Rentenpolitik������������������������������������������������������������������������������������������������������  127 4.1 Alterssicherung in Deutschland������������������������������������������������������������������  128 4.1.1 Gesetzliche Rentenversicherung ����������������������������������������������������  130 4.1.2 Beamtenversorgung und Riesterrente ��������������������������������������������  138

IX

X

Inhaltsverzeichnis

4.2 Ökonomik der Alterssicherung ������������������������������������������������������������������  140 4.2.1 Ziele, Gestaltungselemente und Marktversagen bei der Altersvorsorge��������������������������������������������������������������������������������  140 4.2.2 Kapitaldeckungs- und Umlageverfahren im Modell����������������������  143 4.3 Kapitaldeckungs- und Umlageverfahren im Vergleich ������������������������������  150 Literatur����������������������������������������������������������������������������������������������������������������  159 5 Gesundheitspolitik ��������������������������������������������������������������������������������������������  161 5.1 Gesetzliche Krankenversicherung in Deutschland��������������������������������������  162 5.2 Ökonomik des Gesundheitswesens������������������������������������������������������������  169 5.2.1 Das Gut Gesundheit������������������������������������������������������������������������  169 5.2.2 Marktversagen in Gesundheitsdienstleistungsmärkten������������������  172 5.2.3 Marktversagen in Krankenversicherungsmärkten��������������������������  174 Literatur����������������������������������������������������������������������������������������������������������������  198 6 Umweltpolitik ����������������������������������������������������������������������������������������������������  201 6.1 Deutsche Umweltpolitik im Überblick ������������������������������������������������������  203 6.2 Umweltökonomische Grundlagen��������������������������������������������������������������  210 6.2.1 Ökonomische Umwelt – Die anthropozentrische Sicht������������������  210 6.2.2 Ethische Grundlagen der Umweltökonomik Naturalistische Moralphilosophien und das Konzept der Nachhaltigkeit����������������  219 6.3 Umweltökonomische Instrumente��������������������������������������������������������������  222 6.3.1 Auflagen, Abgaben und Zertifikate ������������������������������������������������  222 6.3.2 Statische Effizienz��������������������������������������������������������������������������  232 6.3.3 Dynamische Anreizwirkung�����������������������������������������������������������  235 6.3.4 Ökologische Treffsicherheit������������������������������������������������������������  237 6.3.5 Politische Durchsetzbarkeit������������������������������������������������������������  239 6.4 Exkurs: Das internationale Klimaproblem��������������������������������������������������  240 Literatur����������������������������������������������������������������������������������������������������������������  253 7 Energiepolitik ����������������������������������������������������������������������������������������������������  255 7.1 Energiepolitik in Deutschland��������������������������������������������������������������������  258 7.2 Exkurs: Einzelne Energieträger������������������������������������������������������������������  260 7.2.1 Kohle����������������������������������������������������������������������������������������������  260 7.2.2 Erdöl������������������������������������������������������������������������������������������������  261 7.2.3 Erdgas ��������������������������������������������������������������������������������������������  264 7.2.4 Uran/Kernkraft��������������������������������������������������������������������������������  266 7.2.5 Erneuerbare Energien����������������������������������������������������������������������  268 7.3 Elektrizitätswirtschaft ��������������������������������������������������������������������������������  272 7.3.1 Ökonomik des Strommarktes����������������������������������������������������������  272 7.3.2 Regulierung und Deregulierung des deutschen Strommarktes ������  284 7.4 Gaswirtschaft����������������������������������������������������������������������������������������������  300 Literatur����������������������������������������������������������������������������������������������������������������  308

Inhaltsverzeichnis

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8 Verkehrspolitik��������������������������������������������������������������������������������������������������  311 8.1 Verkehrspolitik in Deutschland������������������������������������������������������������������  311 8.2 Ökonomik des Verkehrswesens������������������������������������������������������������������  316 8.2.1 Positive wirtschaftliche Aspekte des Verkehrs��������������������������������  317 8.2.2 Negative Aspekte des Verkehrs ������������������������������������������������������  321 8.2.3 (Besondere) Funktionsweise des Verkehrs�������������������������������������  325 8.2.4 Nicht-bestreitbare natürliche Monopole im Verkehr����������������������  331 8.3 Exkurs: Wettbewerb und Regulierung im Eisenbahnverkehrsmarkt����������  342 8.3.1 Intramodaler Wettbewerb����������������������������������������������������������������  343 8.3.2 Intermodaler Wettbewerb����������������������������������������������������������������  344 8.3.3 Entgeltregulierung der DB AG�������������������������������������������������������  347 8.3.4 Trennung von Netz und Betrieb������������������������������������������������������  349 Literatur����������������������������������������������������������������������������������������������������������������  354 9 Arbeitsmarktpolitik ������������������������������������������������������������������������������������������  357 9.1 Arbeitslosengeld I ��������������������������������������������������������������������������������������  361 9.2 Bürgergeld��������������������������������������������������������������������������������������������������  362 9.3 Ökonomik der Arbeitslosenversicherung����������������������������������������������������  365 9.4 Ökonomik der Grundsicherung������������������������������������������������������������������  372 9.5 Exkurs: Für und Wider des Bedingungslosen Grundeinkommens ������������  377 Literatur����������������������������������������������������������������������������������������������������������������  386 10 Bildungspolitik ��������������������������������������������������������������������������������������������������  389 10.1 Grundzüge der deutschen Bildungspolitik������������������������������������������������  391 10.2 Ökonomik der Bildung ����������������������������������������������������������������������������  393 10.2.1 Humankapitaltheorie������������������������������������������������������������������  394 10.2.2 Screening und Signaling bei Bildungsinvestitionen ������������������  399 10.2.3 Bildung als öffentliches Gut bzw. das Auftreten von Externalitäten?����������������������������������������������������������������������������  402 10.2.4 Weitere Aspekte��������������������������������������������������������������������������  406 10.3 Ausgewählte Fragen der Bildungspolitik��������������������������������������������������  406 10.3.1 Schülerleistungen im Vergleich��������������������������������������������������  407 10.3.2 Soziale Herkunft und Bildungschancen��������������������������������������  409 10.3.3 Studiengebühren aus ökonomischer Sicht����������������������������������  411 Literatur����������������������������������������������������������������������������������������������������������������  417 11 Familienpolitik ��������������������������������������������������������������������������������������������������  419 11.1 Notwendigkeit, Ziele und Instrumente der deutschen Familienpolitik������������������������������������������������������������������������������������������  422 11.2 Ehe und Familie aus der Sicht der Ökonomik������������������������������������������  431 11.2.1 Heirat in der Theorie komparativer Kostenvorteile��������������������  431 11.2.2 Ökonomische Theorie der Fertilität��������������������������������������������  433 11.2.3 Neuere familienökonomische Ansätze����������������������������������������  434

XII

Inhaltsverzeichnis

11.3 Ehegattensplitting – Fluch oder Segen?����������������������������������������������������  437 11.4 Einmal Zahnarztgattin, immer Zahnarztgattin?* ��������������������������������������  442 Literatur����������������������������������������������������������������������������������������������������������������  445 12 Stabilisierungspolitik ����������������������������������������������������������������������������������������  447 12.1 Postkeynesianisches versus neoklassisches Paradigma����������������������������  449 12.2 Makroökonomische Grundlagen��������������������������������������������������������������  452 12.3 Stabilisierungspolitik als antizyklische Fiskalpolitik�������������������������������  457 12.3.1 Globalsteuerung in der Bundesrepublik Deutschland����������������  458 12.3.2 Implementierungsprobleme der antizyklischen Fiskalpolitik������  462 12.4 Erfolgreiches Revival der antizyklischen Fiskalpolitik?��������������������������  463 12.4.1 Finanzmarkt- und Weltwirtschaftskrise 2008–2010 ������������������  463 12.4.2 Corona-Krise 2020����������������������������������������������������������������������  466 Literatur����������������������������������������������������������������������������������������������������������������  471 Stichwortverzeichnis��������������������������������������������������������������������������������������������������  473

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Wirtschaft und Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik Deutschland

Fast acht Dekaden sind seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges vergangen. In dieser Zeit kam es in Deutschland zu grundlegenden wirtschaftlichen Veränderungen. Nach Ende des Weltkrieges stand Deutschland vor dem Nichts. Es war unklar, wie sich der politische Zustand des in Besatzungszonen geteilten Landes weiterentwickeln würde. Infrastruktur und private Güter, insbesondere der Wohnungsbestand, waren erheblich zerstört; die Frage, ob das einzuführende Wirtschaftssystem markt- oder zentralverwaltungswirtschaftlich zu organisieren sei, war hochgradig umstritten. Vielleicht tendierte gar die deutsche Öffentlichkeit dazu, sich vom Kapitalismus abzukehren. Die Teilung Deutschlands führte dann in den Nachkriegsjahren zu einer sehr unterschiedlichen wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Entwicklung in den drei Westzonen bzw. der sowjetisch besetzten Zone, fortgesetzt in den sich gründenden und sich gegeneinander abgrenzenden beiden deutschen Staaten, Bundesrepublik Deutschland (BRD) und Deutsche Demokratische Republik (DDR). Blickt man zunächst nur auf die Bundesrepublik, so kam es dort zu einer rasanten, nicht erwarteten wirtschaftlichen Erholung mit einer fast unvorstellbaren Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen. Ende der 1950er-Jahre war die Wiederaufbauphase zu Ende, es kam zu einer Stabilisierung auf hohem Niveau, die staatlichen Aufgaben wurden deutlich erweitert, der Sozialstaat wurde auf- bzw. ausgebaut. Erste Krisen Mitte der Sechzigerjahre sowie die Zäsur der ersten Ölpreiskrise 1973/74 leiteten zu ungewohnten wirtschaftspolitischen Situationen über: Mit jeder Krise in den folgenden Jahren kam es zu einem erheblichen Anstieg der Arbeitslosigkeit, teilweise auch mit dauerhaft relativ hohen Inflationsraten. Die in den sechziger Jahren sorgsam entwickelten Instrumente der Konjunktursteuerung schienen die Probleme der Zeit nach 1973 nicht zu lösen. Spätestens mit dem Regierungswechsel zu einer CDU/CSU/FDP-Koalition im Herbst 1982 wurde das Ergänzende Information Die elektronische Version dieses Kapitels enthält Zusatzmaterial, auf das über folgenden Link zugegriffen werden kann [https://doi.org/10.1007/978-3-658-42124-3_1]. © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 T. Wein, Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42124-3_1

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1  Wirtschaft und Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik Deutschland

Paradigma der Globalsteuerung als Antwort auf auftretende wirtschaftspolitische Pro­ bleme aufgegeben und zu einer angebotsseitigen Wirtschaftspolitik übergewechselt. ­Wirtschaftstheoretisch ging diese Entwicklung mit einem deutlichen Rückgang makroökonomischer Debatten hin zu einer Fundierung der Wirtschaftspolitik mit Hilfe der Mikroökonomik einher. Mit der Wiedervereinigung im Jahre 1990 kamen völlig neue Fragestellungen in der Wirtschaftspolitik auf, die sich im Kern um die Transformation einer Zentralverwaltungswirtschaft in eine in den Welthandel eingebettete Marktwirtschaft drehten. Strukturell kam es mit der Agenda 2010 in der Mitte der 2000er-Jahre zu einem erheblichen Umbau des bundesdeutschen Sozialstaates. Finanzkrise und Coronakrise stellten die deutsche Wirtschaft und damit die in Deutschland verfolgte Wirtschaftspolitik vor völlig neue Fragen. In Abschn.  1.1 wird die wirtschaftliche Entwicklung nach Ende des Zweiten Weltkrieges bis zur Gründung der Bundesrepublik im Jahre 1949 beschrieben; hierbei wird auch auf die wichtigsten wirtschaftspolitischen Maßnahmen der westdeutschen Besatzungsmächte, insbesondere Währungsreform 1948 und Marshallplan, eingegangen. Unter Abschn. 1.2 stelle ich die Wiederaufbauphase Westdeutschlands wiederum in seinen wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Dimensionen vor (1949 bis 1960). Die nächsten zu behandelnden Zeitabschnitte umfassen die drei Dekaden von 1961–1990, also die Stabilisierung und die Phase der ersten Krisen in Westdeutschland. Der Abschn. 1.3 zieht auch eine kurze Zwischenbilanz der ersten 40 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Im Rahmen eines Exkurses wird die „Sonderentwicklung“ der damaligen DDR nachgezeichnet, auch weil diese maßgeblich für die wirtschaftliche Entwicklung im vereinten Deutschland war (Abschn. 1.4). Im Abschn. 1.5 wird von 1991 bis heute beschrieben, wie sich Deutschland nach der Vereinigung wirtschaftlich „geschlagen“ hat, welche wichtigen wirtschaftspolitischen Maßnahmen diskutiert und umgesetzt wurden, wobei hier die europäische Wirtschaftspolitik eine bedeutende Rolle spielte.

1.1 Wirtschaft und Wirtschaftspolitik in der unmittelbaren Nachkriegszeit Infolge des Zweiten Weltkrieges kam es in Deutschland zu vielfältigen Zerstörungen. So wurde der private Kapitalstock massiv entwertet, weil beispielsweise Fabrikanlagen, Kaufhäuser oder sonstige Produktionsstätten teilweise oder ganz unbrauchbar waren. Die Infrastruktur war insbesondere in den großen Städten massiv zerstört, Straßen waren nicht benutzbar, Eisenbahnanlagen defekt und der innerstädtische Nahverkehr vielfach beschädigt. Bei den privaten Haushalten kam es vor allem durch die Zerstörung von Wohnraum zu massiven Einschränkungen. Aus der Sicht der damaligen Zeitgenossen erschien der vollständige Wiederaufbau in weiter Ferne zu liegen. Allerdings zeigte die Entwicklung nach wenigen Jahren, dass zumindest in Westdeutschland die Wirtschaft wie ein „Phönix aus der Asche“ aufstieg, man sprach sehr schnell vom „Wirtschaftswunder“ (zur Übersicht und zu Folgendem Spoerer & Streb, 2013, S. 209–217).

1.1  Wirtschaft und Wirtschaftspolitik in der unmittelbaren Nachkriegszeit

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Der verlorene Weltkrieg zog erhebliche Gebietsverluste bzw. Gebietsänderungen zu Lasten des ehemaligen Deutschen Reiches nach sich: Weite Teile des östlichen Polens und das nördliche Ostpreußen wurden offiziell unter sowjetische Verwaltung gestellt, Polen erhielt als „Kompensation“ Gebiete in Ostpreußen bzw. im Osten des Deutschen Reiches, offiziell wiederum „nur unter polnischer Verwaltung“. In der Summe gingen ca. 24 % des Reichsgebietes „verloren“, was auch einer „Einbuße“ in Höhe von etwa einem Viertel der landwirtschaftlichen Nutzfläche entsprach. Tab.  1.1 macht dies deutlich, indem sie die Veränderungen bei der Fläche und bei der Bevölkerung dokumentiert. Gerade die abgetrennten Ostgebiete waren dünn besiedelt (nur 13,8 % der Bevölkerung auf einem Viertel des ehemaligen Reichsgebiets); diese Ostgebiete erzeugten bedeutsame Agrarüberschüsse, die für die Versorgung im Westen des Reiches große Bedeutung hatten. Das sehr niedrige Pro-Kopf-Volkseinkommen in den Ostgebieten im Jahre 1936 (736 RM) war sicherlich auch der großen Bedeutung des Agrarsektors geschuldet. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges wurde das verbleibende Restgebiet des Deutschen Reiches in vier Besatzungszonen aufgeteilt, die sowjetische im Osten Deutschlands, die britische im Norden und Westen Deutschlands, die französische im Südwesten Deutschlands und die amerikanische in der Mitte bzw. im Süden Deutschlands; die ehemalige Reichshauptstadt Berlin wurde entsprechend in vier Sektoren verwaltet. Die Pro-Kopf-Volkseinkommen der vier besetzten Zonen waren relativ nah beieinander, nur Berlin mit seiner starken industriellen Basis und als Reichshauptstadt stach hier besonders hervor. Ebenfalls am unteren Ende der Einkommenssituation lag das von der Montanindustrie geprägte Saargebiet, dass von 1919–1935 mit Frankreich über das Völkerbundsmandat personell verbunden war, 1946 wiederum über eine Zollunion an Frankreich „angeschlossen“ wurde. Aus Wahlen 1947, in der nur die kommunistische Partei und Parteien, die keine Separation von Frankreich forderten, zugelassen waren, ging ein Parlament hervor, dass eine Saarverfassung Tab. 1.1  Fläche, Bevölkerung und Pro-Kopf-Einkommen in den deutschen Besatzungszonen Pro-­ Kopf-­VE Personen Prozent Personen Prozent 1936 RM 69.316.526 100 65.151.019 100 978 15.157.123 21,9 17.313.734 26,6 978 14.296.974 20,6 17.254.945 26,5 919a 5.270.241 7,6 5.077.893 7,8 19.785.488 28,5 22.304.509 34,2 983

Bevölkerung 1937

Dt. Reich Sowj. Zone US-Zone Frz. Zone Britische Zone Saargebiet Berlin Verl. Ostgebiete Bizone Trizone

Fläche 1937 in qkm bzw. Prozent 470.544 22,8 % 22,8 % 8,5 % 20,8 %

Bevölkerung 1946

0,5 % 0,2 % 24,4 %

908.219 4.338.756 9.559.725

1,3 6,3 13,8

851.615 3.199.938

4,9

43,6 % 52,2 %

34.082.462 39.252.703

49,2 56,8

39.559.454 44.637.347

60,7 68,5

766 1555 732

954

VE = Volkseinkommen; anur gemeinsamer Wert für die US- und die französische Zone verfügbar. Quelle: Spoerer und Streb (2013, S. 210)

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1  Wirtschaft und Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik Deutschland

verabschiedete. In dieser Verfassung war die Abtrennung vom Deutschen Reich ­festgeschrieben. Das Saargebiet sollte im Rahmen einer Währungsunion mit dem französischen Franc wirtschaften, und Frankreich sollte die außenpolitische Vertretung des Saarlandes wahrnehmen. Die vier Besatzungszonen wurden zunächst autonom verwaltet. Der wirtschaftliche Austausch zwischen den Sektoren wurde entlang der Zonengrenzen stark erschwert, wenn nicht sogar unmöglich gemacht. Insgesamt hing die deutsche Vorkriegswirtschaft stark vom industriellen Sektor und vom Bergbau ab, es wurde extrem arbeitsteilig produziert und die Wirtschaft war interregional hoch verflochten. Folglich konnten nun viele Vorprodukte kaum noch beschafft werden bzw. die Kundenkreise der Unternehmen beschränkten sich auf die eigene Zone. Erst durch die Gründung der Bizone (Zusammenschluss der amerikanischen und britischen Zone) 1947 und später die Erweiterung zur Trizone (Beitritt der französischen Zone zur Bizone März 1948) kam es zu einer partiellen Integration des westdeutschen Wirtschaftsraumes. Die unmittelbare Nachkriegszeit war jedoch auch durch viele Beschränkungen aus der Zeit des Nationalsozialismus geprägt: Es gab viele Preisreglementierungen und die Löhne wurden nach oben hin begrenzt; alle Besatzungsmächte hielten zunächst an diesen Beschränkungen fest. Mit diesen Beschränkungen konnten sich einerseits die Unternehmen nicht durch Überbieten anderer Unternehmen wichtige Vorprodukte beschaffen, und sie konnten andererseits die hohen Zahlungsbereitschaften der Kunden nicht abschöpfen. Somit spiegelten die regulierten Güterpreise und Löhne die realen Knappheitsverhältnisse nicht wider; die wichtige Markträumungsfunktion des Preismechanismus war außer Kraft gesetzt. Hätte man in dieser Phase einfach die Preise freigegeben, so wäre es vermutlich zu einem explosionsartigen Preisanstieg gekommen, wie man dies nach dem Ersten Weltkrieg beobachten konnte. Die nationalsozialistische Kriegswirtschaft hatte einen riesigen Reichsmarkbestand bei den Haushalten erzeugt, dem ein geringes Warenangebot gegenüberstand. Es lag eine zurückgestaute Inflation vor. Bereits zu Kriegszeiten hatten sich an viele Orten und für viele Güter Schwarzmärkte gebildet, die nach dem Zusammenbruch der staatlichen Ordnung nicht mehr begrenzt werden konnten. Es bildete sich die Zweitwährung Zigaretten heraus, die leicht lagerbar und gut transportiert war, „notfalls“ konnte man sie auch konsumieren. Dem Großteil der Bevölkerung war der letzte Währungsschnitt vom 19. November 1923, also vor gut 20 Jahren, in schlechter Erinnerung. Insbesondere wusste die Bevölkerung, dass ein solcher Währungsschnitt vor allem zu Lasten der Geldbesitzer gehen würde. Insbesondere der Zusammenschluss in der Bizone vom Juli 1946 löste zwar einige infrastrukturelle Probleme, nicht jedoch die Preis- und Währungsprobleme. Der extrem strenge Winter 1947/48 erzeugte gravierende Versorgungsprobleme bei der Ernährung. Tab.  1.2 erläutert die Nahrungsmittelversorgung der westdeutschen Nachkriegsbevölkerung in den Jahren 1945–1948. Vor Beginn des Zweiten Weltkrieges konnte sich der deutsche Normalverbraucher mit knapp 3000 kcal durchschnittlich ernähren. Während des Krieges kam es nur gegen Ende zu Schwierigkeiten in der Nahrungsmittelversorgung, auch weil Nahrungsmittel aus den besetzten Gebieten ins Deutsche Reich gebracht wur-

1.1  Wirtschaft und Wirtschaftspolitik in der unmittelbaren Nachkriegszeit

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Tab. 1.2 Tägliche Nahrungsmittelrationen für Normalverbraucher (Kilokalorien)  – Deutsches Reich Mai 1945 Juni 1945 Oktober 1945 April 1946 Oktober 1946 Mai 1947 Dezember 1947 März 1948 Juni 1948 Juli 1948

Britische Zone 1945 1470 1476 1042 1542

US-Zone 1460  850 1384 1270 1541

Bizone

1120 1400 1298 1542 1990

Quelle: Spoerer und Streb (2013, S. 213)

den. Unmittelbar am Ende des Krieges sank die Versorgung der westdeutschen Normalverbraucher auf ca. 1400 kcal, im Vergleich zum Vereinigten Königreich mit 2800 oder mit Belgien mit ca. 2000 kcal. Tab. 1.2 zeigt, wie sich die Versorgungslage in der britischen bzw. amerikanischen Zone, anschließend der Bizone, weiter verschlechterte. Im Frühjahr 1947 erreichte die Ernährungskrise ihren Höhepunkt, im Ruhrgebiet und in anderen großen Städten sank die Versorgungslage auf etwa 800 kcal, im Vergleich zu dem Bedarf bei leichter körperlicher Arbeit, der für Frauen etwa bei 2200 und bei Männern auf etwa 2700 kcal geschätzt wird. Erst im Juni und Juli 1948 war die unmittelbare Versorgungskrise beendet. Da die landwirtschaftliche Produktion 1945/46 beispielsweise in der amerikanischen und französischen Zone auf 940 bzw. in der britischen Zone auf 400 kcal sank, mussten die Alliierten Nahrungsmittel ins Deutsche Reich importieren, um Hungersnöte und infolgedessen große Seuchen zu verhindern. Der in den 1950er-Jahren rasant einsetzenden wirtschaftliche Aufschwung in Westdeutschland wurde in der Wahrnehmung der damaligen Bevölkerung als Wirtschaftswunder angesehen: Ursächlich seien für diese Entwicklung gewesen, dass es 1948 eine Währungsreform gegeben habe, die mit der Freigabe von vielen Preisen im Zusammenhang gestanden habe, und nicht zuletzt durch die Hilfen aus dem Marshallplan bewirkt worden sei. Zunehmend schrieb die wirtschaftlich aktive Bevölkerung in Westdeutschland diese Entwicklung dem eigenen Fleiß, der geübten Lohnzurückhaltung und nicht zuletzt den Segnungen der Sozialen Marktwirtschaft zu. Um dieses „Wunder“ erklären zu können, ist es sinnvoll, genauer auf die Ausgangslage Ende der 1940er-Jahre einzugehen. Für die Startbedingungen des wirtschaftlichen Aufschwungs waren die materiellen Verluste durch Bombenangriffe bedeutend. Regional konnte man beobachten, dass vor allem der Nordwesten des Deutschen Reiches vom Bombenkrieg betroffen war, weil vor allem dorthin relativ leicht alliierte Bomber fliegen konnten. Ferner waren Bombenschäden umso größer, je bedeutsamer dort die deutsche Rüstungsproduktion war. Im Gebiet der späteren Bundesrepublik waren etwa 18 % des Wohnungsbestandes des Jahres 1939 voll-

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1  Wirtschaft und Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik Deutschland

ständig zerstört, zwischen einem Fünftel und einem Viertel aller Wohnungen waren durch Bomben schwer beschädigt worden. Die Großstadt Köln war vermutlich am meisten betroffen, etwa 70 % des dortigen Wohnungsbestandes von 1939 war nicht nutzbar. Noch stärker zerbombt waren manche mittelgroßen Städte, wie zum Beispiel Hanau, Bocholt, Paderborn und Düren, die zwischen 89 und 99 % ihres Wohnungsbestandes verloren hatten. Die daraus resultierende Wohnungsnot wurde durch Zuwanderung bzw. durch den Zuzug von Vertriebenen aus den deutschen Ostgebieten deutlich verschärft. Bei der Volkszählung 1950 wurden 7,88  Mio. Menschen aus den Ostgebieten („Heimatvertriebene“) und etwa 1,56 Mio. Bürger aus der sowjetischen Besatzungszone gezählt, diese Gruppen waren mehr als ein Fünftel der westdeutschen Bevölkerung. In Westdeutschland stieg die Bevölkerung gegenüber der Vorkriegszeit um fast 25 % an. Die Behörden lenkten die Vertriebenen vor allem in gewerblich wenig entwickelte Räume oder in ländliche Gegenden mit dünner Besiedlung. Vor allem das Land Schleswig-Holstein, das östliche Niedersachsen sowie der Freistaat Bayern nahmen den Großteil der Vertriebenen auf; im Herbst 1950 beliefen sich die jeweiligen Anteile der Vertriebenen an der Gesamtbevölkerung auf 38,2  % (Schleswig-Holstein), 32,7  % (Niedersachsen) und 23,6  % (Bayern). Dagegen wurde in der französischen Zone ein Zuzugsverbot für Vertriebene erlassen. Kriegsbedingte Zerstörungen und der Zuzug der Vertriebenen bewirkten ein großes Wohnungsproblem; für 1950 wurde vermutet, dass es an 4,8 Mio. Wohnungen fehlte. Für den Start der Wirtschaft im Nachkriegsdeutschland war natürlich auch das Ausmaß am Abbau von Produktionskapazitäten und Infrastruktur (Demontage) bedeutsam. Empirisch ist die Relevanz der Demontage insbesondere in den jeweiligen Besatzungszonen schwierig zu erfassen. Grob formuliert kann man sagen, dass in den westlichen Zonen die Demontage eine relativ geringe Rolle spielte, allerdings waren dort die Kriegsschäden deutlich höher. Für die ostdeutsche Zone war es eher umgekehrt: Viel Demontage, weniger Kriegsschäden. Die wirtschaftliche Spitzenstellung der ehemaligen Reichshauptstadt Berlin wurde massiv durch die Abwanderung von (innovativen) Großbetrieben beeinträchtigt. Berlin als wichtigster Standort der deutschen Elektroindustrie verlor das Unternehmen Siemens/ Halske nach München, AEG wanderte nach Frankfurt am Main ab. Nachkriegsbedingt büßte Berlin auch seine Führungsposition im deutschen Flugverkehr ein. 1937 wurde über 40 % des deutschen Passagieraufkommens über Berlin abgewickelt, dagegen entfielen nur 13 % des Aufkommens auf Frankfurt. Nach dem Zweiten Weltkrieg stieg Frankfurt zum unangefochtenen Drehkreuz des deutschen Flugverkehrs auf, Frankfurt als Hauptstandort und Anlaufstelle des amerikanischen Militärs sowie seine Rolle bei der Berliner Luftbrücke haben hierfür sicherlich prägend gewirkt. Der wirtschaftliche Aufschwung Westdeutschlands hing jedoch auch mit der im Zeitablauf stark steigenden Auslastung des Anlagevermögens zusammen. In der ersten Jahreshälfte des Jahres 1948 lag die Auslastung noch bei 36 %, nach der Währungsreform und der Preisfreigabe im Sommer stieg die Auslastung im zweiten Halbjahr auf 51 % an, 1949 wurden bereits 61 % realisiert. Zwei Jahre später, 1951, erreichte die Auslastung des An-

1.1  Wirtschaft und Wirtschaftspolitik in der unmittelbaren Nachkriegszeit

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lagevermögens 80 %. Eine bessere Nutzung des vorhandenen Potenzials erlaubte natürlich ebenfalls eine schnellere wirtschaftliche Gesundung des Landes. Das vom damaligen US-amerikanischen Außenminister George Marshall 1947 angeregte Wiederaufbauprogramm (Marshallplan, Abb. 1.1) stellte insgesamt 13 Mrd. $ zur Verfügung (1), federführend über die OEEC (Organisation for European Economic Co-Operation, daraus später OECD (Organisation for Economic Cooperation and Development)). Von den Gesamtmitteln entfielen 1,4 Mrd. $ auf Westdeutschland (3). Diese Mittel gingen vorrangig an Importeure von landwirtschaftlichen Erzeugnissen und Rohstoffen, bezogen aus den USA (4). Den amerikanischen Exporteuren wurde der jeweilige Rechnungsbetrag in Dollar ausgezahlt (5). Die Zahlungen der deutschen Importeure wurden mit ihrem D-Mark-Gegenwert als European-Recovery-Program-(ERP)Sondervermögen bilanziert (6). Aus diesem Sondervermögen heraus konnten vor allem Investitionen in der Elektrizitätswirtschaft, im Bergbau sowie für den Verkehr finanziert werden (7). In diesen Sektoren bestehende Wachstumshemmnisse konnten abgebaut werden. Zins und Tilgung der ERP-Kredite flossen wiederum dem Sondervermögen zu. Aufbauend auf das ERP-Sondervermögen konnte die neu gegründete, staatliche Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) Mittelstandskredite ausreichen bzw. Entwicklungshilfeprojekte finanzieren. Der zu Beginn des Marshallplans eingeräumte Devisenkredit wurde im Rahmen des Londoner Schuldenabkommens teilweise aus Steuermitteln zurückgezahlt. Ökonomisch stärkte der Marshallplan den Handel innerhalb Europas und hatte darüber hinaus eine nicht zu unterschätzende positive psychologische Wirkung.

Devisenkredit (1)

US Regierung

Organisation for European Economic Co-Operation

Teilweise Tilgung (9)

Deutsche Regierung

Dollar (5) US Exporteur

Verteilung auf die Mitgliedsländer (2)

Franz. Regierung

Zuteilung (3)

Ware (4)

Deutscher Importeur DM (6) ERP-Sondervermögen

Kreditvergabe (7)

Kredittilgung (8)

Engpasssektoren

Abb. 1.1  Marshall-Plan. (Quelle: Spoerer & Streb, 2013, S. 216)

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1  Wirtschaft und Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik Deutschland

Mit der am 21.06.1948 in den drei westlichen Zonen in Kraft getretenen Währungsreform kam es zu dem von vielen erwarteten Währungsschnitt. Die Reform wurde aber zeitlich mit der Freigabe vieler Güterpreise verbunden, nicht jedoch für „elementare“ Güter wie Wohnen, Verkehr oder Energie. Die Währungsreform selbst wurde von der amerikanischen Besatzungsregierung eigenständig vorbereitet und generalstabsmäßig umgesetzt. Am Sonntag, den 20.06.1948 konnte jeder Erwachsener 40 Reichsmark in 40 DM umtauschen (Kopfquote). Zusätzlich konnte er in den folgenden zwei Monaten weiterhin 20 DM für 40 Reichsmark erhalten. Alle darüber hinaus gehenden Bargeldbestände sowie Reichsmark-Guthaben wurden jeweils in ein Konto überführt und alle Reichsmark-­ Bestände im Verhältnis 10 RM : 1 DM umgestellt. Die erste Hälfte dieses Kontos war sofort frei verfügbar, die zweite Hälfte wurde zunächst auf unbestimmte Zeit blockiert. Für die Planer der Währungsreform war nämlich unklar, wie hoch der Geldmengenüberhang tatsächlich war und wie stark deshalb der Geldmengenschnitt ausfallen sollte. Bei stark ansteigenden Preisen konnte man das Festgeldkonto länger blockieren oder einen zusätzlichen Geldschnitt anordnen. Am 04.10.1948 wurde die zweite Hälfte des Festgeldkontos bewirtschaftet, indem 70 % des Bestandes ersatzlos gestrichen wurde, 20 % freigegeben wurden und die restlichen 10  % weiterhin blockiert blieben. Am Ende des Währungsschnitts ergab sich ein Umtauschkurs von 100 RM zu 6,5  DM.  Die rechtlich von der Währungsreform losgelöste Preisreform wurde im Leitsätzegesetz durch den zonalen Wirtschaftsrat auf Betreiben des damaligen Vorsitzenden Ludwig Erhard beschlossen. Am 25.06.1948 wurden die Preise für gewerblich erzeugte Produkte freigegeben, fünf Tage später entfielen die zugehörigen Rationierungsmaßnahmen. Insofern wurde für diese Güter der Preismechanismus über Nachfrage und Angebot in Kraft gesetzt. Die Bürger ­Westdeutschlands konnten von einem Tag auf dem anderen volle Schaufenster „bewundern“; viele Warenanbieter haben wohl die Währungsreform vorausgesehen und deshalb Waren zurückgehalten. Trotz der öffentlichkeitswirksamen Preisfreigabe gab es weiterhin Preiskontrollen, für Grundnahrungsmittel, Kohle, Eisen und Stahl, Wohnungsmieten und öffentliche Versorgungsleistungen (Elektrizität, Gas, Wasser). Diese Preisvorgaben galten noch für viele Jahre weiter.

1.2 Das westdeutsche Wirtschaftswunder – Jahre 1949–1960 Die Tab.  1.3 zeigt die Entwicklung der wichtigsten ökonomischen Kennzahlen für die Bundesrepublik im ersten Jahrzehnt ihres Bestehens. Berlin aufgrund seines alliierten Sonderstatus und das Saarland, das sich erst politisch 1955 definitiv für Deutschland entschied und erst gegen Ende der 1950er-Jahre in die westdeutsche Wirtschaft integriert wurde, bleiben zunächst außerhalb der Betrachtung. Blickt man auf die Entwicklung des Bruttoinlandsproduktes, so sieht man von 1950–1960 eine nahezu Verdreifachung des nominalen Bruttoinlandsproduktes, also der in Geldeinheiten gemessenen Waren und Dienstleistungen. Gerechnet in Preisen von 1991 war es immer noch mehr als eine Verdopplung. Die Wachstumsraten im genannten Zeitraum reichten vielfach an die 10 %-Punkte-Grenze

1.2  Das westdeutsche Wirtschaftswunder – Jahre 1949–1960

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Tab. 1.3  Wirtschaftsdaten 1950–1960 Westdeutschland ohne Berlin (West) und Saargebiet1

1949 1950 1951 1952 1953 1954 1955 1956 1957 1958 1959 1960

Bruttoinlandprodukt in Mrd. DM/€ in Preisen von in jewei- 19911 ligen Preisen ∆2 – – – 97,19 426,70 – 119,31 468,11 9,7 136,42 511,80 9,3 146,53 557,39 8,9 157,27 600,69 7,8 179,72 673,39 12,1 198,67 725,40 7,7 216,55 769,40 6,1 232,65 803,71 4,5 254,86 866,90 7,9 285,63 941,50 8,6

ErRegis­ werbstä- trierte tige (In- Arbeitsland) lose Jahresdurchschnitt in Tsd. – – 19.997 1869 20.520 1714 20.910 1652 21.425 1491 21.995 1411 22.830 1074 23.435 876 23.940 754 24.124 769 24.385 540 26.247 271

Preisindex Arbeitslosenquote – 11,0 10,4 9,5 8,4 7,6 5,6 4,4 3,7 3,7 2,6 1,3

28,2 26,4 26,4 28,4 29,0 28,5 28,6 29,0 29,8 30,4 31,1 31,8

∆2 – − 6,4 7,6 2,1 − 1,7 0,4 1,4 2,8 2,0 2,3 0,6 1,6

Durchschnittsbruttomonatseinkommen

DM – 293 297 319 332 344 364 393 422 444 467 514

∆2 – – 1,3 7,2 4.3 3,5 5,7 8,1 7,5 5,1 5,3 10,0

Zur Methodik der Zeitreihenberechnung Heilemann und Kaufhold (2020). 2Veränderung g. d. VJ in vH. Quelle: Heilemann und Kaufhold (2020, S. 391–393)

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heran, niedrige Werte lagen 1957 und 1958 vor, in denen „nur“ 4,5 bzw. 6,1 % erreicht wurden. Herausragend war das Jahr 1955 mit mehr als 12 % Zuwachs. Die Zahl der im Inland Erwerbstätigen stieg von knapp 20 Mio. auf über 26 Mio. im Jahre 1960. Die Zahl der registrierten Arbeitslosen fiel von knapp 1,9 Mio. im Basisjahr 1950 auf gut eine Viertelmillion 1960, korrespondierend dazu sank die Arbeitslosenquote von 11 % auf das „Vollbeschäftigungslevel“ von 1,3 %. Der Preisindex ging innerhalb dieser Zehnjahresfrist nur moderat nach oben, von 28,2 auf 31,1. Nur in der Anfangszeit (1951) stieg die Inflationsrate stark an, danach blieb sie in etwa bei ca. ein bis zwei Prozent des Vorjahreswertes. Die Durchschnittseinkommen der Bevölkerung nahmen in dieser Zeit um etwas mehr als 50 % zu; die jährlichen Zuwachsraten lagen hier im Durchschnitt bei über 5 %. Wirtschaftlich ging es also den Westdeutschen deutlich besser, der Arbeitsmarkt entwickelte sich in Richtung Vollbeschäftigung, obwohl ja viele Vertriebene in den Arbeitsmarkt integriert werden mussten; die Preise gingen nur moderat nach oben, die bei den Beschäftigten ankommenden Einkommen stiegen zwar erheblich, aber weniger als die Wachstumsrate des Sozialprodukts. Das allgemeine Wirtschaftswunder blühte, im eigenen Garten waren jedoch die Früchte (noch) etwas kümmerlich. Das zu beobachtende Wirtschaftswunder war sicherlich auch Ergebnis der politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen in der neu gegründeten Republik; Tab. 1.4 dokumentiert die wichtigsten Ereignisse in den ersten Jahren (zur Übersicht Heilemann & Kauf-

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1  Wirtschaft und Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik Deutschland

Tab. 1.4  Zeittafel 1949–1953 Datum 24.05.1949 15.09.1949 07.10.1949 September 1950 10.04.1951 18.04.1952 18.07.1952 30.07.1952 30.01.1953 27.02.1953

Ereignis Inkrafttreten des Grundgesetzes Adenauer Bundeskanzler, Koalition aus Union, FDP und DP1 Gründung der DDR, SED dominiert Europäische Zahlungsunion Mitbestimmung im Bergbau, in der Eisen- und Stahlindustrie Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) Lastenausgleichsgesetz Betriebsverfassungsgesetz Bundesrepublik/IWF: 1 $ = 4,20 DM Londoner Schuldenabkommen

Zu den Daten: Heilemann und Kaufhold (2020). IWF: Internationaler Währungsfonds, 1Deutsche Partei

hold, 2020 und zu Details Spoerer & Streb, 2013, S.  235–246). An der europäischen Zahlungsunion, gegründet als multilateraler Clearingmechanismus zur Einsparung knapper Dollarreserven, nahmen viele westeuropäische Länder, aber auch zum Beispiel andere Länder des Sterling-Blocks teil. Zunächst gab es bilaterale Verrechnungskonten, in denen Devisentransaktionen bis zum Monatsende auf Kredit abgewickelt werden konnten. Am Monatsende wurden nur die Nettogrößen bezüglich des Dollars ausgeglichen. Freilich wurde nur ein Teil der Nettoströme tatsächlich mit dem Austausch von Dollar-Devisen glattgestellt, ein Teil wurde über Kreditverträge fortgeschrieben. Die einzelnen Teilnehmerländer hatten dann im multilateralen System Obergrenzen als Quoten. Für die junge Bundesrepublik kam es Anfang der Fünfzigerjahre durch den starken Anstieg der Importe, fakturiert in Dollar, zu einem Erschöpfen der zulässigen Quote. Gerade Ende September 1950 wurde der „überfordernde“ Warenimport in Dollar offenkundig. Analog zur Zahlungsunfähigkeit Griechenlands in der europäischen Schuldenkrise viele Jahrzehnte später stand damals Westdeutschland ebenfalls am Rande des Abgrundes. Erst durch die steigenden Exporte der deutschen Industrie verschwand dieses Problem und zwar dauerhaft. Gesellschaftspolitisch waren die wirtschaftliche Situation im Bergbau sowie in der Eisen- und Stahlindustrie von großer Bedeutung, bereits beginnend mit der Industrialisierung im Deutschen Reich. Besonders wichtig war die Lage der Montanindustrie für die dort Beschäftigten. Für die Akzeptanz der marktwirtschaftlichen Ordnung im westdeutschen Teilstaat war daher die im Frühjahr 1952  in Kraft getretene Montanmitbestimmung erheblich, im zehnköpfigen Aufsichtsrat gab es somit eine paritätische Vertretung durch fünf Arbeitnehmer- und fünf Arbeitgebervertreter, zuzüglich einer weiteren, neutralen Person als „Zünglein an der Waage“. Ferner normierte die Montanmitbestimmung, dass der für Personalfragen zuständige Arbeitsdirektor nicht gegen den Willen der Arbeitnehmervertreter in sein Amt kommen konnte. Mit der fast zeitgleich stattfindenden Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) wurden

1.2  Das westdeutsche Wirtschaftswunder – Jahre 1949–1960

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die Produktionskapazitäten in diesen Sektoren einer gemeinsamen Behörde unterstellt. Zugang zu Kohle und Stahl waren gerade für Deutschland und Frankreich politisch eminent wichtig und nicht zuletzt auch militärisch von großer Bedeutung; die Entstehung beider Weltkriege ist sicherlich auch vor diesem Hintergrund zu sehen. Frankreich wies nach Ende des Zweiten Weltkrieges eine Überproduktion bei Stahl auf, es mangelte ihm jedoch an Kohle und Koks. Mit dieser Gemeinschaft, die als Keimzelle der in den Folgejahrzehnten entstehenden europäischen Institutionen anzusehen ist, wurde die Hohe Behörde mit erheblichen Eingriffsmöglichkeiten gegründet: Diese Behörde konnte Höchstpreise festlegen, die sich an den Grenzkosten des durchschnittlichen Anbieters orientierten, und Ausgleichszahlung durchsetzen, um effizientere Anbieter zu kompensieren. Neben der Montanmitbestimmung wurden für alle anderen Betriebe die Mitwirkungsund die Mitentscheidungsmöglichkeiten der Arbeitnehmer gestärkt, in dem ebenfalls das im Juli 1952 in Kraft getretene Betriebsverfassungsgesetz die Möglichkeiten zur Gründung eines Betriebsrates auf die Unternehmensgröße fünf und mehr Beschäftigte senkte und für alle Kapitalgesellschaften die Drittelmitbestimmung (ein Drittel der Mitglieder in Aufsichtsgremien von der Arbeitnehmerseite bestimmt) einführte. Beide Mitbestimmungsregeln erweiterten die Teilhabemöglichkeiten der Arbeitnehmer für Fragen, die nicht Gegenstand des Tarifvertrags waren. Die ökonomischen Folgen des Krieges waren in Deutschland sehr ungleich verteilt, in manchen Gegenden, vor allem in Städten, waren Fabriken und Wohnungen im erheblichen Maße zerstört. Die Vertriebenen und Geflüchteten mussten häufig erhebliche Sachwerte zurücklassen. Mit dem Lastenausgleichsgesetz, in Kraft getreten im Juli 1952, sollten die „Gewinner“ des Krieges die „Verlierer“ entschädigen: 50 % der errechneten Vermögenswerte der Gewinner, die sich in Folge des Krieges ergeben hatten, sollten über die Lastenausgleichsabgabe an die Verlierer weitergegeben werden. Die Lastenausgleichsabgabe wurde in Form von 120 Quartalszahlungen festgelegt, sodass die Zahler diese Kompensation annähernd über 30 Jahre strecken konnten. Mit der unvorhergesehenen wirtschaftlichen Aufwärtsentwicklung reduzierte sich diese Last in den Folgejahren erheblich. Die Verlierer erhielten ihre Lastenausgleichszahlungen entsprechend ihrer Verluste, wobei die Hauptentschädigung für Vermögensschäden teilweise sehr langsam festgesetzt und ausgezahlt wurde. Darlehen oder andere kurzfristige Überbrückungshilfen wurden jedoch zügig gewährt. Anfang 1953 wurde der Wechselkurs zwischen US-Dollar und D-Mark auf 4,20 DM festgesetzt. Dieser feste Wechselkurs verteuerte zwar die Importe, wirkte aber in den Folgejahren als wesentlicher „Exportbeschleuniger“. Erhebliche Bedeutung für die junge Republik hatte auch das Londoner Schuldenabkommen, welches im Februar 1953 geschlossen wurde. Der große, aufgelaufene Schuldenberg, teilweise auch noch mit Schulden aus der Zeit der Weimarer Republik, wurde erheblich reduziert. Die Rückzahlungszeiträume wurden deutlich verlängert. Die Gläubiger berücksichtigen damit die zu diesem Zeitpunkt geringe Leistungsfähigkeit der westdeutschen Wirtschaft. In der Summe ergab sich damit ein Schuldenschnitt, der etwa 50  % der aufgelaufenen Schulden umfasste.

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1  Wirtschaft und Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik Deutschland

Tab. 1.5  Zeittafel 1953–1957 Datum 09.10.1953 05.05.1955 15.10.1955 23.10.1955 20.12.1955 23.02.1956 17.01.1957 08.02.1957 25.03.1957 04.07.1957 19.07.1957

Ereignis Adenauer erneut Bundeskanzler, Koalition aus Union, FDP, DP und GB/BHE1 Auflösung der Alliierten Hohen Kommission GB/BHE verlässt Regierungskoalition Ablehnung des Saarstatuts Anwerbeabkommen für italienische Arbeitnehmer FDP scheidet aus Regierungskoalition aus; die vier Minister der FDP verbleiben in Regierung BVerfG sieht geltende Zusammenveranlagung von Ehegatten mit Schutz von Ehe und Familie für nicht vereinbar Neuregelung der Arbeiter- und Angestelltenrentenversicherung Römische Verträge zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) Bundesbank wird Rechtsnachfolger der Bank deutscher Länder Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen

Zu den Daten: Heilemann und Kaufhold (2020). 1Gesamtdeutscher Block/Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten

Tab. 1.5 beschreibt die (wirtschafts-)politische Entwicklung der Bundesrepublik in der zweiten Amtszeit der Regierung Adenauer (zur Übersicht Heilemann & Kaufhold, 2020 und zu Details Spoerer & Streb, 2013, S. 235–246). Wirtschaftlich bedeutsam war, dass mit der Ablehnung des Saarstatuts das Wirtschaftsgebiet Westdeutschlands Ende der Fünfzigerjahre um das Saarland erweitert wurde. Die sich bessernde wirtschaftliche ­Entwicklung schlug zunehmend auf den Arbeitsmarkt durch, Arbeitskräfte wurden knapp. Folglich wurde kurz vor Weihnachten 1955 ein Anwerbeabkommen in Bezug auf italienische Arbeitnehmer abgeschlossen; insgesamt sollten vier Millionen Arbeitskräfte aus Italien nach Deutschland kommen. Für 1956 waren es 12.000 Menschen, danach 20.000 pro Jahr, zuerst aus Nord-, später auch aus Süditalien. Es sollte das Rotationsprinzip gelten, wonach angeworbene Arbeitskräfte nach zwei Jahren der Beschäftigung in Deutschland wieder in ihr Heimatland zurückkehren sollten, und dafür sollten andere Mitarbeiter nach Deutschland kommen. Sie sollten also zwei Jahre „zu Gast“ sein und gleichzeitig hier arbeiten (Gastarbeiter). Im Januar 1957 urteilte das Bundesverfassungsgericht, dass die damalige Zusammenveranlagung von Ehegatten in der Einkommensteuer mit dem grundgesetzlichen Schutz von Ehe und Familie nicht vereinbar wäre. Durch die im Einkommensteuerrecht zur Anwendung kommende Progressionsbesteuerung würde in verfassungswidriger Weise die Entscheidungen der Ehegatten, wie sie Erwerbs- und Familienarbeit untereinander aufteilen, verzerren. Es müsse den Ehegatten freigestellt sein, ob nur ein Partner erwerbstätig wäre und darüber das Familieneinkommen generiert würde oder ob sich beide Partner Erwerbstätigkeit und Familienarbeit teilen würden; im Falle einer progressiven Besteuerung würde jedoch der Haushalt mit nur einem Erwerbstätigen stärker besteuert werden als mit einer geteilten Erwerbstätigkeit. Der Gesetzgeber hat darauf reagiert, indem er das Ehegattensplitting bei der Einkommensteuer eingeführt hat.

1.2  Das westdeutsche Wirtschaftswunder – Jahre 1949–1960

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Anfang 1957 kam es zu einem Paradigmenwechsel in der Rentenpolitik. Bis dorthin waren die Rentner in Westdeutschland nur relativ schlecht versorgt, die Rentenkasse war aufgrund des wirtschaftlichen Zusammenbruchs nach Kriegsende leer und die Rentner partizipierten kaum an der sich deutlich verbessernden wirtschaftlichen Situation im aufkommenden Wirtschaftswunderland. Die vor allem von Union und der oppositionellen SPD getragene Rentenreform legte den Grundstein für ein Rentensystem, das auf dem Umlageverfahren beruhte und Renten garantieren sollte, die sich entsprechend der Bruttolöhne fortentwickelten. Kurzfristig wurden die Renten um 65 % erhöht, freilich stieg auch der Beitragssatz von elf auf 14 %. Die europäische Einigung erklomm einen wichtigen Meilenstein, in dem die Staaten Belgien, Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande mit den Römischen Verträgen im Frühjahr 1957 die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) gründeten. Institutionell wurde die Parlamentarische Versammlung, der Vorläufer des heutigen Europäischen Parlamentes, sowie der Europäische Gerichtshof geschaffen. Ziel der EWG war es, zwischen den Mitgliedstaaten einen wirtschaftlichen Zusammenschluss zu erreichen und dabei auch binnen zwölf Jahren zu einer Zollunion zu kommen. Im Sommer des gleichen Jahres wurde die Bundesbank als Rechtsnachfolger der Bank deutscher Länder gesetzlich errichtet; politisch, auch von Seiten der Bundesregierung, war die in diesem Gesetz festgeschriebene Unabhängigkeit der Bundesbank umstritten. Ebenfalls im Juli 1957 wurde das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen beschlossen. Für die junge Republik war dies ein Meilenstein: Die Wirtschaft der Weimarer Republik und natürlich noch viel mehr in der Zeit des Nationalsozialismus war stark kartelliert; wettbewerbsfeindliche Absprachen wurden mit dem Grundsatz der Vertragsfreiheit gerechtfertigt. Insbesondere die angelsächsischen Besatzungsmächte, unterstützt vom damaligen Wirtschaftsminister Erhard, drängten auf ein Anti-Kartellgesetz. Widerstand kam aus der Wirtschaft, insbesondere vom Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI). Insofern mag es auch nicht verwundern, dass es im „Wettbewerbsgrundgesetz“ nur ein mit sehr vielen Ausnahmen normiertes Kartellverbot gab und keinerlei Regelung für wettbewerbsbeschränkende Fusionen vorgesehen war. Die dritte Amtszeit des Bundeskanzlers Adenauer fasst in seinen Grundzügen die Tab. 1.6 zusammen (zur Übersicht Heilemann & Kaufhold, 2020 und zu Details Spoerer & Streb, 2013, S. 235–254). Die westeuropäischen Länder, die nicht der EWG beitreten wollten (Vereinigtes Königreich, die skandinavischen Länder Dänemark, Schweden und Norwegen, Österreich, die Schweiz und Portugal) bildeten 1959 eine „kleine“ europäische Freihandelszone (EFTA). Im Sommer 1960 wurde damit begonnen, die bestehenden Preisbindungen für Altbauwohnungen (schwarze Kreise) aufzuheben. Noch etwa fünf Millionen Altbauwohnungen waren zu diesem Zeitpunkt preisgebunden, eine vollständige Freigabe sollte bis Jahresanfang 1966 erreicht werden. Es kam zu Mieterhöhung in Höhe von etwa 15 %. Die Lage der Deutschen Bundesbahn war 1960 relativ schlecht, es musste ein Sanierungsprogramm des Bundes zu ihren Gunsten aufgelegt werden, dabei verzichtete der Bund auch auf ca. 2,2 Mrd. DM an Forderungen gegenüber der Bundesbahn.

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1  Wirtschaft und Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik Deutschland

Tab. 1.6  Zeittafel 1957–1961 Datum Ereignis 22.10.1957 Adenauer erneut Bundeskanzler, absolute Mehrheit der Union, trotzdem DP mit in Koalition 26.10.1959 Saarland übernimmt DM als gesetzliches Zahlungsmittel und wird Bestandteil des deutschen Zollgebietes 20.07.1959 Nicht-der-EWG-Beitretende (UK, DK, N, SWE, A, CH und POR) bilden EFTA 10.06.1960 Mietpreisbindung für Altbauwohnungen wird sukzessive aufgehoben 15.06.1960 Sanierungsprogramm des Bundes für Bundesbahn, u. a. Verzicht auf 2,2 Mrd. DM 06.03.1961 Aufwertung der DM, neue Parität 1 $ : 4 DM 26.05.1961 Bundessozialhilfegesetz 30.06.1961 Krankengeld zu 100 % bis zu 6 Wochen, zuvor nur 90 % 14.06.1961 Kindergeld für das 2. Kind 13.08.1961 Bau der Berliner Mauer Zu den Daten: Heilemann und Kaufhold (2020)

Im Frühjahr 1961 kam es zu einer Aufwertung der D-Mark gegenüber dem US-Dollar, die neue Parität wurde mit 1 $ zu 4 DM festgelegt. Wichtiger Meilenstein in der Sozialpolitik war die Verabschiedung des Bundessozialhilfegesetzes im Mai 1961. Hierbei handelt es sich um eine Neuordnung des Fürsorgerechtes, welches zuletzt grundlegend 1924 angepasst wurde. Mit der Sozialhilfe sollte Bedürftigen eine Hilfe zum Lebensunterhalt und in besonderen Lebenslagen erhalten. Diese Sozialleistungen wurden von den Kommunen finanziert. Das Ziel des Gesetzes war, einerseits den Hilfebeziehern ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, aber andererseits in der Zukunft auch ohne den Bezug von Sozialhilfe wirtschaften zu können. Mitte 1961 wurde das Krankengeld auf 100 % des letzten Nettolohnes im Falle einer Krankheit festgesetzt, wenn die Krankheit nicht länger als sechs Wochen dauerte. Die ersten Krankheitstage galten als Karenztage (keine Lohnfortzahlung), nicht jedoch im Falle eines Unfalles oder eines Krankenhausaufenthaltes. Das gesamte Krankengeld wurde jedoch von der zuständigen Krankenkasse ausbezahlt. Im Sommer gewährte nun der Staat auch für das zweite Kind ein Kindergeld in Höhe von 25 DM je Monat, allerdings nur, wenn das Einkommen der Eltern pro Jahr nicht höher als 7200 DM war.

1.3 Auf dem Weg in die westdeutsche Normalität – 1961–1990 Die wirtschaftliche Entwicklung Westdeutschlands in den sechziger Jahren kann man anhand von Tab. 1.7 gut erkennen. Nominal verdoppelte sich das Bruttoinlandsprodukt, in realen Preisen stieg es um etwa das 1,5-fache an. Die Wachstumsraten waren in diesem Zeitraum bei etwa 5 % oder darüber. Vor allem 1966/67 gab es einen wirtschaftlichen Einbruch, der sich sogar 1967 in einen sehr kleinen Rückgang von 0,3 % zeigte. Weiterhin befand sich der Arbeitsmarkt in sehr guter Verfassung, die Beschäftigung lag von 1961–1970 meist über 26 Mio. Erwerbstätige, nur im Krisenjahr 1967 und im Folgejahr blieb die Be-

Erwerbstätige (In- Registrierte land) Arbeitslose Jahresdurchschnitt in Tsd. 26.591 181 26.690 155 26.744 186 26.753 169 26.887 147 26.801 161 25.950 459 25.968 323 26.356 179 26.668 149 Arbeitslosenquote 0,8 0,7 0,8 0,8 0,7 0,7 2,1 1,5 0,9 0,7 32,6 33,5 34,5 35,3 36,5 37,8 38,4 38,8 39,6 40,9

Preisindex

∆2 2,5 2,8 3,0 2,3 3,4 3,6 1,6 1,0 2,1 3,3

DM 563 620 659 716 788 839 851 898 1003 1136

∆2 9,5 10,1 6,3 8,6 10,1 6,5 1,4 5,5 11,8 13,3

Durchschnittsbruttomonatseinkommen

1 Zur Methodik der Zeitreihenberechnung Heilemann und Kaufhold (2020). 2Veränderung g. d. VJ in vH. Quelle: Heilemann und Kaufhold (2020), S. 391–393

1961 1962 1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970

Bruttoinlandprodukt in Mrd. DM/€ in Preisen von 19911 in jeweiligen Preisen ∆2 331,71 1046,29 4,6 360,77 1095,11 4,7 382,36 1125,89 2,8 420,17 1200,90 6,7 459,17 1265,21 5,4 488,23 1300,51 2,8 494,36 1296,50 − 0,3 533,28 1367,20 5,5 596,66 1469,20 7,5 675,31 1543,21 5,0

Tab. 1.7  Wirtschaftsdaten 1961–1970 Westdeutschland

1.3  Auf dem Weg in die westdeutsche Normalität – 1961–1990 15

16

1  Wirtschaft und Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik Deutschland

schäftigung knapp unter 26 Mio. Die Zahl der Arbeitslosen lag meist zwischen 150.000 und 200.000, nur 1967/1968 wurden etwa 400.000 pro Jahr gezählt. Insofern blieb die Arbeitslosenquote meist unter einem Prozentpunkt. In den beiden Krisenjahren wurden 1,5 bzw. 2,1 % als Arbeitslosenquote gemessen, was für damalige Verhältnisse allerdings als großes Problem wahrgenommen wurde. Die Inflation in dieser Dekade lag im Durchschnitt bei etwa 2,5  %. Das Durchschnittseinkommen verdoppelte sich, die jährlichen Wachstumsraten der Einkommen lagen häufiger bei 10 %. Das Wirtschaftswunder Westdeutschlands blühte also weiter, im eigenen Garten wurde es bunter und die Ernte war reichlicher als in der Dekade vorher. Wirtschaftspolitisch bewegte sich die Bundesrepublik in zunächst relativ ruhiger See (Tab. 1.8; zur Übersicht Heilemann & Kaufhold, 2020 und zu Details Spoerer & Streb, 2013, S. 235–254). Sehr stark auf Drängen der Französischen Republik, die relativ stark agrarisch orientiert war, kam es Anfang 1962 zur gemeinsamen Agrarpolitik in der EWG. Einerseits um Preisschwankungen aufgrund von guten bzw. schlechten Ernten zu verhindern und andererseits um stabile Einkommen der Landwirtschaft zu sichern wurde damit begonnen, für verschiedene Agrarprodukte Mindestpreise festzulegen (Agrarmarktordnungen). Die Kosten dieser Politik wurden europäisch getragen. Auch auf Wunsch des damaligen Wirtschaftsministers Erhard wurde im Sommer 1963 der unabhängige Sachverständigenrat gegründet, er sollte jährlich ein Gutachten zur gesamtwirtschaftlichen Lage und zu der erwarteten Entwicklung der Gesamtwirtschaft abgeben. Im Frühjahr 1964 wurde mit 40 DM das Kindergeld für das dritte Kind eingeführt, falls das Einkommen der Eltern nicht höher als 600 DM pro Monat war. Ab dem 01. Juli 1964 wurden die Kosten dafür aus dem Bundeshaushalt getragen, davor bezahlte der Arbeitgeber das Kindergeld für das dritte und jedes weitere Kind. Mit dem Beginn der GATT-Zoll-Runde im Mai 1964 war das Ziel verbunden, die Zölle zwischen den USA und der EWG um 50 % zu senken. Im September 1964 stieg die Zahl der Gastarbeiter auf über eine Million. Ende des Jahres 1964 sicherte der Bund Mindestabsatzmengen für Steinkohle zu (140 Mio. t p. a.), auf die Tab. 1.8  Zeittafel 1961–1964

Datum 07.11.1961

Ereignis Adenauer erneut Bundeskanzler, Union/FDP-Koalition 14.01.1962 Gemeinsame Agrarpolitik in der EWG 26.06.1963 Gesetz zur Bildung des Sachverständigenrates 10./30.10.1963 Adenauer tritt zurück/Erhard wird Bundeskanzler 20.03.1964 Kindergeld für das dritte Kind 04.05.1964 Beginn der GATT-Zollrunde 19.09.1964 Zahl der Gastarbeiter über 1 Mio. 13.11.1964 Bundesregierung sichert Mindestabsatzmenge für Steinkohle zu Zu den Daten: Heilemann und Kaufhold (2020)

1.3  Auf dem Weg in die westdeutsche Normalität – 1961–1990

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Einfuhr von Kohle wurde ein Zoll erhoben, eine Heizölsteuer wurde eingeführt, und es wurde verstärkt begonnen, Steinkohle für die Energiegewinnung und Wärmeerzeugung zu verwenden. Die sich abzeichnende Wirtschaftskrise 1966/67 trug sicherlich mit dazu bei, dass es erstmals in der Bundesrepublik eine Große Koalition gegeben hat (Tab. 1.9, zur Übersicht Heilemann & Kaufhold, 2020 und zu Details Spoerer & Streb, 2013, S. 254–265). Schnell verständigte sich die neue Regierung darauf, die auftretende Lücke im Bundeshaushalt durch Kreditaufnahme zu schließen. Makroökonomisch bekannte sich die neue Regierung zunehmend zur Idee der keynesianisch geprägten Globalsteuerung. Auf Drängen des neuen Wirtschaftsministers Karl Schiller kam im Februar 1967 erstmals die „konzertierte Aktion“ zusammen, eine Gesprächsrunde von Regierung, Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden, Bundesbank und Sachverständigenrat mit dem Ziel, sich über die gegenwärtige gesamtwirtschaftliche Lage zu verständigen und gemeinsam für eine Stabilisierung der Wirtschaft zu sorgen. Im Juni folgte das grundlegende Stabilitäts- und Wachstumsgesetz, in dem der Staat auf die wichtigen wirtschaftspolitischen Ziele „Vollbeschäftigung, Preisniveaustabilität, außenwirtschaftliches Gleichgewicht und stetiges bzw. angemessenes Wachstum“ verpflichtet wurde. Steuerpolitisch wurde im April 1967 der Übergang von der Brutto-Allphasenumsatzsteuer (Steuersatz 4 %) auf die Nettoumsatzsteuer (Mehrwertsteuer; Steuersatz 10 %, ermäßigt 5 %) beschlossen. Die Gesamtsteuerbelastung sollte jedoch gleichbleiben. Die Allphasenumsatzsteuer wirkte wettbewerbsverzerrend bzw. konzentrationsfördernd, weil integrierte Unternehmen geringer steuerlich belastet wurden im Vergleich zu einer Produktion, bei der Vorprodukte an ein anderes Unternehmen weiterveräußert wurden. Um die defizitäre Bundesbahn zu schützen, wurde Tab. 1.9  Zeittafel 1965–1969 Datum 20.10.1965 27.10.1966 01.12.1966 19.01.1967 14.02.1967 26.04.1967 20.06.1967 27.11.1967 09.05.1969 10.07.1969

11.07.1969 Herbst 1969

Ereignis Erhard erneut Bundeskanzler, Union/FDP-Koalition FDP scheidet aus Koalition aus Kurt Georg Kiesinger wird Bundeskanzler, Union/SPD-Koalition Deckungslücke im Bundeshaushalt wird auch durch Kreditaufnahme ausgeglichen Erstmals „Konzertierte Aktion“ tritt zusammen Übergang von Brutto-Allphasenumsatzsteuer (Steuersatz 4 %) auf Nettoumsatzsteuer (Mehrwertsteuer; Steuersatz 10 %, ermäßigt 5 %) Stabilitäts- und Wachstumsgesetz Besteuerung des Straßengüterfernverkehrs „Vergemeinschaftung“ der Einkommen-, Körperschaft- und Umsatzsteuer Gemeinschaftsaufgabe „Regionale Wirtschaftsstruktur“ Gemeinden an Lohn- und Einkommensteueraufkommen beteiligt, dafür teilweise Abführung von Gewerbesteuereinnahmen Lohnfortzahlung im Krankheitsfall Wilde Streiks in Montan- und Stahlindustrie

Zu den Daten: Heilemann und Kaufhold (2020)

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1  Wirtschaft und Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik Deutschland

der gewerbliche Straßengüterfernverkehr pro Tonnenkilometer besteuert; das politische Ziel der Verlagerung des Verkehrs auf die Schiene wurde in den Mittelpunkt gestellt. Mit der großen Mehrheit im Rücken wurde von der Koalition im Mai 1969 das Grundgesetz ­dahingehend geändert, dass das Steueraufkommen aus der Einkommen-, Körperschaftund Umsatzsteuer auf Bund und Länder verteilt wurde (Vergemeinschaftung der Steuereinnahmen). Mit dem Ziel, gleichwertige Lebensverhältnisse im Raum zu schaffen, wurde im Juli 1969 die Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur im Grundgesetz verankert, davor waren allein die Länder für die regionale Wirtschaftsförderung verantwortlich. Auch um die Konjunkturabhängigkeit der gemeindlichen Gewerbesteuereinnahmen abzumildern, wurden nunmehr die Gemeinden (indirekt über die Länder) an dem Aufkommen der Lohn- und Einkommensteuer beteiligt. Ebenfalls im Juni 1969 wurde die Finanzierung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall auf die Arbeitgeber übertragen, die Krankenkassen blieben nur für Lohnersatzleistungen zuständig, wenn der Arbeitnehmer länger als sechs Wochen erkrankt war. Im Herbst 1969 kam es erstmals in Westdeutschland zu wilden (aufgrund der noch geltenden Friedenspflicht des laufenden Tarifvertrages) Streiks, vor allem in der Montan- und Stahlindustrie; die Streiks wurden mit Lohnerhöhungen für acht Millionen Beschäftigte „belohnt“. Die Tab. 1.10 beschreibt die wirtschaftliche Entwicklung in den Jahren ab 1970 bis zur Wiedervereinigung. Von 1971 an bis 1974 setzte sich der wirtschaftliche Boom in Westdeutschland fort, nominal stieg das Bruttoinlandsprodukt um etwa ein Drittel an, die Wachstumsraten lagen bei 6–7 %. In dieser Phase war die Beschäftigung weiter stabil und die Arbeitslosenzahlen lagen auf niedrigem Niveau (zwischen 150.000 und 273.000 Arbeitslose). Die Arbeitslosenquote betrug rund ein Prozent. Allerdings gab es eine relativ hohe Inflationsrate, zwischen fünf und sieben Prozent. Stark stiegen in dieser Zeit die Durchschnittseinkommen, ungefähr um 10 % pro Jahr. Spätestens ab dem Jahr 1975 kann man eine deutliche Zäsur erkennen, nominal stieg das Bruttoinlandsprodukt deutlich langsamer, die Wachstumsraten fielen meist unter 5 %, die Arbeitslosenquote sprang deutlich über 4 %, sie ging langsam zurück, um dann bei der nächsten Krise auf ein neues „Rekordhoch“ von annähernd 10 % anzusteigen. Erst langsam bewegte sich die Arbeitslosenquote wieder nach unten, jedoch nicht auf die Levels der Vorkrisenperioden. Das Bruttoinlandsprodukt wuchs deutlich langsamer, Wachstumsraten von unter 3 % waren in den achtziger Jahren „normal“. Die Inflationsraten nach der ersten Krise 1973/74 wurden langsam geringer, insbesondere ab 1984 erreichte man Werte rund um 2 %, vereinzelt auch deutlich darunter. Die Durchschnittseinkommen folgten der allgemeinwirtschaftlichen Entwicklung: Mit abnehmendem Wachstum des Sozialproduktes ging ein langsameres Wachstum der Durchschnittseinkommen in Richtung drei Prozent einher. Kurz nach dem ersten Regierungswechsel im Oktober 1969 (Tab. 1.11, zur Übersicht Heilemann & Kaufhold, 2020 und zu Details Spoerer & Streb, 2013, S. 235–254) wurde die D-Mark gegenüber dem US-Dollar leicht aufgewertet (1 US-Dollar gleich 3,66 DM). In Anwendung des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes wurde im Sommer 1970 ein auf ein Jahr befristeter zehnprozentiger Zuschlag auf die Einkommen- und Körperschaftsteuerschuld erhoben. Ziel dieser Maßnahme war, die überschäumende Konjunktur zu

Erwerbstätige (In- Registrierte land) Arbeitslose Jahresdurchschnitt in Tsd. 26.772 185 26.875 246 27.160 273 26.829 582 26.110 1074 25.974 1060 26.008 1030 26.219 993 26.652 876 27.059 889 27.033 1272 26.275 1833 26.347 2258 26.393 2266 26.593 2304 26.960 2228 27.157 2229 27.366 2242 27.761 2038 28.486 1883 Arbeitslosenquote 0,8 1,1 1,2 2,6 4,7 4,6 4,5 4,3 3,8 3,8 5,5 7,5 9,1 9,1 9,3 9,0 8,9 8,7 7,9 7,2 43,0 45,3 48,4 51,7 54,8 57,2 59,2 60,7 63,0 66,3 70,5 74,3 76,7 78,5 80,1 79,9 80,0 80,9 83,2 85,5

Preisindex

∆2 5,1 5,3 6,8 6,8 6,0 4,4 3,5 2,5 3,8 5,2 6,3 5,4 3,2 2,3 2,0 − 0,2 0,1 1,1 2,8 2,8 DM 1258 1367 1516 1668 1778 1926 2067 2185 2327 2490 2613 2730 2824 2920 3024 3141 3258 3391 3517 3675

∆2 10,7 8,7 10,9 10,1 6,6 8,4 7,3 5,7 6,5 7,0 4,9 4,5 3,4 3,4 3,5 3,9 3,7 4,1 3,7 4,5

Durchschnittsbruttomonatseinkommen

1

Zur Methodik der Zeitreihenberechnung Heilemann und Kaufhold (2020). 2Veränderung g. d. VJ in vH. Quelle: Heilemann und Kaufhold (2020), S. 391–393

1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990

Bruttoinlandprodukt in Mrd. DM/€ in Preisen von 19911 in jeweiligen Preisen ∆2 782,80 1335,84 7,6 853,47 1396,38 4,5 950,47 1484,34 6,3 1028,81 1592,33 7,3 1077,68 1682,56 5,7 1168,41 1738,19 3,3 1244,96 1792,09 3,1 1327,89 1855,63 3,5 1442,17 1935,02 4,3 1542,21 2040,50 5,5 1615,10 2125,70 4,2 1682,42 2223,08 4,6 1756,86 2285,50 2,8 1842,39 2330,96 2,0 1925,34 2380,95 2,1 2028,45 2451,89 3,0 2083,21 2483,27 1,3 2083,21 2483,27 1,7 2196,96 2525,25 2,9 2348,29 2597,95 3,4

Tab. 1.10  Wirtschaftsdaten 1971–1990 Westdeutschland1

1.3  Auf dem Weg in die westdeutsche Normalität – 1961–1990 19

20

1  Wirtschaft und Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik Deutschland

Tab. 1.11  Zeittafel 1969–1973 Datum 21.10.1969 24.10.1969 15.07.1970 17.12.1971 21.03.1972 27.04.1972 06.10.1972 14.12.1972 01.01.1973 10.– 12.02.1973

Ereignis Willy Brandt wird Bundeskanzler, SPD/FDP-Koalition Aufwertung der DM: 1 $: 3,66 DM Auf ein Jahr befristeter rückzahlbarer zehnprozentiger Zuschlag auf Einkommenund Körperschaftssteuer Betriebsverfassungsgesetz Europäischer Währungsverbund (Währungsschlange) Konstruktives Misstrauensvotum gegen Brandt scheitert Rentenreformgesetz Brandt erneut Bundeskanzler, SPD/FDP-Koalition EWG der Neun (+ DK, UK und Irland) Schließung der Devisenbörsen; Aufwertung der DM: 1 $: 2,9003 DM

Zu den Daten: Heilemann und Kaufhold (2020)

bremsen. Mit der Novelle des Betriebsverfassungsgesetzes (Dezember 1971) wurden die Mitspracherechte der Betriebsräte gestärkt, sie waren nunmehr in allen sozialen und personellen Angelegenheiten umfassend einzubinden, Arbeitsplatzgestaltung und -ablauf mussten mit ihnen abgesprochen werden. Aufgrund der zunehmenden Irrelevanz des amerikanischen Dollars kam es zur Gründung des europäischen Währungsverbundes (Währungsschlange). Die Wechselkurse zwischen den Mitgliedstaaten der Währungsschlange durften nur noch in einer Bandbreite von +/− 2,5 % voneinander abweichen. Mit dem Rentenreformgesetz vom Herbst 1972 wurde die flexible Altersgrenze (Rente u. U. nach 35 Versichertenjahre) eingeführt und die gesetzliche Rentenversicherung für Selbstständige, mithelfende Familienangehörige und nicht-berufstätige Frauen geöffnet. Zum Jahreswechsel 1973 kam es zu einer Erweiterung der EWG, in dem Dänemark, das Vereinigte Königreich und die Republik Irland beitraten. Am Wochenende vom 10. bis 12. Februar 1973 kam es in Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Japan zu einer Schließung der Devisenbörsen; die D-Mark wertete weiter auf. Im Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung, der im Februar 1973 veröffentlicht wurde, ging es vor allem um die Dämpfung der überhitzten Konjunktur (Tab. 1.12, zur Übersicht Heilemann & Kaufhold, 2020 und zu Details Spoerer & Streb, 2013, S. 235–254). Es wurde eine zehnprozentige Stabilitätsabgabe auf die Körperschaft- und Einkommensteuerschuld angekündigt, Investitionen sollten besteuert werden. Im EWG-Ministerrat wurde im März 1973 die Interventionspflicht gegenüber dem Dollar aufgehoben; Deutschland, die Beneluxstaaten, Dänemark und Frankreich gingen zum Block-Floating über, die Wechselkurse untereinander sollten nur in geringen Breiten untereinander schwanken. Im Oktober 1973 kam es zum Krieg zwischen Ägypten/Syrien und Israel (Jom-KippurKrieg). Die ölexportierenden arabischen Staaten verknappten die angebotenen Rohölmengen, die erste Ölpreiskrise schockte die Weltwirtschaft; der durchschnittliche Rohölpreis verdreifachte sich in relativ kurzer Zeit. Die Bundesrepublik reagierte mit Maßnahmen zum Energieeinsparen, am Sonntag, den 25.11.1973 und an den drei

1.3  Auf dem Weg in die westdeutsche Normalität – 1961–1990

21

Tab. 1.12  Zeittafel 1973–1976 Datum 17.02.1973

Ereignis Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung: Dämpfung der überhitzten Konjunktur 11.03.1973 EG-Ministerrat: Block-Floating 16.10.1973 Beginn der ersten Ölpreiskrise, durchschnittliche Rohölpreise von 4,2 $ auf 11,8 $ pro Barrel 19.11.1973 Sonntagsfahrverbot und für die drei darauffolgenden Sonntage 23.11.1973 Anwerbestopp 06./16.05.1974 Rücktritt Brandt, Helmut Schmidt wird Bundeskanzler; weiterhin SPD/ FDP-Koalition 25.09./13.12.1974 Konjunkturprogramme 25.09.1975 Programm zur Stärkung von Bau- und anderen Investitionen 28.01.1976 Zusätzliche Arbeitsförderungsmaßnahmen Zu den Daten: Heilemann und Kaufhold (2020)

darauffolgenden Sonntagen wurde ein allgemeines Fahrverbot für Kraftfahrzeuge erlassen. Auch aufgrund der sich stark eintrübenden wirtschaftlichen Lage wurde im November 1973 ein Anwerbestopp für ausländische Arbeitskräfte verhängt, nicht jedoch für Arbeitnehmer aus der EWG; zur Arbeitsmigration in Westdeutschland insgesamt siehe auch Plustext 1.1. Im Herbst und Winter 1974 beschloss die Bundesregierung zwei Konjunkturprogramme (1,1 Mrd. und 1,7 Mrd. DM), im Herbst 1975 folgte ein weiteres Programm zu Stärkung von Bau- und anderen Investitionen (5,75 Mrd. DM), gefolgt von zusätzlichen Arbeitsförderungsmaßnahmen für Schwervermittelbare im Januar 1976 (0,3 Mrd. DM). Plustext 1.1: Gastarbeiter in Westdeutschland (Spoerer & Streb, 2013, S. 235–254) Das hohe Wirtschaftswachstum in den 1950/60er-Jahren führte in Westdeutschland zu einem starken Rückgang der Arbeitslosigkeit bzw. einer starken Zunahme des Arbeitskräftebedarfs. Spätestens 1960 war Vollbeschäftigung erreicht, trotz des Zuzugs von Flüchtlingen aus den deutschen Ostgebieten und der DDR. Bei der Anwerbung von Gastarbeitern war die Idee, dass diese zusätzlichen Arbeitskräfte nur als „Puffer“ für den temporären Mehrbedarf dienen sollten. In den Einreisebestimmungen wurde auch festgelegt, dass die Arbeitskräfte nur für zwei Jahre nach Deutschland kommen sollten, danach sollten sie in ihr Heimatland zurückkehren, und andere Arbeiter sollten „ihre Stellen“ einnehmen. Insbesondere aufgrund des Wunsches der Wirtschaft wurde jedoch von diesem Prinzip abgewichen und routinemäßig eine Verlängerung des Aufenthaltsrechts gewährt. Ausländische Arbeitskräfte sind nicht selten auch nur dann in ihr Heimatland zurückgekehrt, wenn sie vermuteten, dass sie später wieder nach Deutschland zurückkehren konnten. Nach dem Anwerbestopp Ende 1973 blieben daher jetzt auch viele ausländische Arbeitskräfte dauerhaft; der Familiennachzug nahm jetzt erst richtig Fahrt auf. In Zahlen kann man die Entwicklung an dem Anteil der Gastarbeiter an den Beschäftigten in Westdeutschland festmachen: 1960 1,4 %, 1966 5,7 %, im Krisenjahr 1967 „nur“ 4,8 % und der Höchststand im Jahre 1973 mit 10,8 %. Von der Absolutzahl der 3,8 Mio. Gastarbeiter entfielen in absteigender Reihenfolge 29,5 % auf die Türkei, 22,7 % auf das damalige Jugoslawien, 13,2 % auf Griechenland und 9,3 % auf Spanien.

22 Tab. 1.13 Zeittafel 1976–1982

1  Wirtschaft und Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik Deutschland Datum 15.12.1976

Ereignis Schmidt erneut Bundeskanzler, Fortsetzung SPD/FDP-Koalition 16.12.1976 Bundesbank beschließt Geldmengenziel 24.06.1977 Krankenversicherungskostendämpfungsgesetz 06./07.07.1978 Neuer europäischer Währungsverbund 16.12.1978 Beginn der zweiten Ölpreiskrise 10.02.1979 Letzte Rate der Vermögensabgabe aus Lastenausgleichsgesetz wird fällig 16.06.1979 Benzinpreis erstmals über 1 DM/l 05.11.1980 Schmidt erneut Bundeskanzler, Fortsetzung SPD/FDP-Koalition 09.09.1982 Lambsdorff-Papier Zu den Daten: Heilemann und Kaufhold (2020)

Im Dezember 1976 leitete die (unabhängige) Bundesbank die wirtschaftspolitische Wende ein, indem sie die bisherige keynesianische Politik aufgab und zu einem angebotstheoretischen-­monetaristischen Geldmengenziel überwechselte (Tab. 1.13; zur Übersicht Heilemann & Kaufhold, 2020 und zu Details Spoerer & Streb, 2013, S.  235–254). Mit dem ersten Krankenversicherungskostendämpfungsgesetz im Juni 1977 wurde e­ rstmals auf die „sozialpolitische Bremse“ getreten. Die Ausgaben für Leistungen der niedergelassenen Ärzte sowie für Arzneimittel wurden gedeckelt. In der ersten Juliwoche 1978 wurde ein neuer europäischer Währungsverbund vereinbart. Auch infolge der politischen Krise im Iran kam es im Dezember 1978 zum Beginn der zweiten Ölpreiskrise; die OPEC setzte Preissteigerungen durch, der Rohölpreis stieg bis Oktober 1979 um 14,5 % an. Im Februar 1979 war die letzte Rate der Vermögensabgabe aus dem Lastenausgleichsgesetz fällig. Im Juni 1979 stieg erstmals der Benzinpreis über eine D-Mark pro Liter. Spätestens mit dem Lambsdorff Papier, indem Kürzungen im Staatshaushalt, Eingriff in das soziale Netz und Deregulierungsmaßnahmen gefordert wurden, zerbrach der wirtschaftspolitische Konsens der seit 13 Jahren regierenden sozialliberalen Koalition. Die im Oktober 1982 ins Amt kommende liberal-konservative Regierung aus Union und FDP wechselte auf ein angebotspolitisches Wirtschaftskonzept, so wie es in Teilen im Lambsdorff-Papier bereits skizziert wurde (Tab. 1.14; zur Übersicht Heilemann & Kaufhold, 2020 und zu Details Spoerer & Streb, 2013, S. 235–254). Die Gewerkschaften forderten dagegen, als Mittel gegen die hohe Arbeitslosigkeit Arbeitszeitverkürzungen ohne Lohnausgleich umzusetzen. Nach einem zwölfwöchigen Arbeitskampf setzte die IG Druck und Papier die schrittweise Einführung der 35-Stunden-Woche ohne Lohnausgleich durch. Im Sommer 1987 verlängerte die Regierung die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld auf 36 Monate, um der dauerhaft hohen Arbeitslosigkeit Rechnung zu tragen. Um den weiterhin steigenden Ausgaben im Gesundheitswesen Einhalt zu gebieten, wurde kurz vor Weihnachten 1988 das Gesundheitsreformgesetz verabschiedet. Mit diesem Gesetz muss-

1.3  Auf dem Weg in die westdeutsche Normalität – 1961–1990

23

Tab. 1.14  Zeittafel 1982–1989 Datum Ereignis 17.09./01.10.1982 Bruch der SPD/FDP-Koalition, Helmut Kohl wird über konstruktives Misstrauensvotum zum Bundeskanzler gewählt; Union/FDP-Koalition 29.03.1983 Kohl erneut Bundeskanzler; Union/FDP-Koalition IG Druck und Papier setzt nach zwölfwöchigem Arbeitskampf 35-Stunden-­ 06.07.1984 Woche mit vollem Lohnausgleich durch 26.04.1986 Kernkraftwerksunglück in Tschernobyl 11.03.1987 Kohl erneut Bundeskanzler, Union/FDP-Koalition 05.06.1987 Bezugsdauer von ALG bis auf 36 Monate verlängert 16.12.1988 Gesundheitsreformgesetz 26./27.06.1989 Delors-Bericht gute Grundlage für Wirtschafts- und Währungsunion zum 01.07.1990 09.11.1989 Fall der Berliner Mauer Zu den Daten: Heilemann und Kaufhold (2020)

ten die Versicherten für bestimmte medizinische Leistungen monetäre Eigenleistungen (Selbstbehalte) erbringen. Mit dem Delors-Bericht, der im Juni 1989 veröffentlicht wurde, sahen die europäischen Regierungschefs eine gute Grundlage für eine europäische Wirtschafts- und Währungsunion. Mit dem Fall der Mauer im November 1989 ging in Westdeutschland die eigenständige Entwicklung der Wirtschaft und der Wirtschaftspolitik zu Ende. Blickt man summarisch auf die 40 Jahre der westdeutschen Republik zurück (Paqué 2018), so sieht man, dass sich das Bruttoinlandsprodukt verfünffacht hat, die Arbeitslosenquote in den fünfziger Jahren von 10 % auf Vollbeschäftigung fiel, in den sechziger Jahren mit Ausnahme der 1966/67-Krise weiterhin ein blendender Arbeitsmarkt herrschte und erst mit Beginn der ersten Ölpreiskrise Arbeitslosigkeit wieder zu einem wirtschaftspolitischen Problem wurde; jede Folgekrise trieb die Arbeitslosigkeit nach oben, ohne dass nach Abflachen der Krise das Vorkrisenlevel bei den Arbeitslosenzahlen erreicht wurde („Treppenfunktion“ der Arbeitslosigkeit). Das Problem der Preisniveaustabilität spielte in den fünfziger Jahren eine moderate Rolle, allerdings wurde es in den sechziger und bis Anfang der siebziger Jahre zunehmend relevant. Die westdeutsche Wirtschaft zeichnete sich durch einen fulminanten Erfolg in Bezug auf die Exportquote aus; ausgehend von etwa 10 % stieg sie relativ stetig auf fast 20 % Anfang der siebziger Jahre an, um in den achtziger Jahren immer wieder an der 25  % Marke zu kratzen. Die Leistungsbilanz (Warenex-/Warenimporte, Dienstleistungsbilanz, Bilanz der Erwerbs- und Vermögenseinkommen plus Bilanz der laufenden Übertragungen) war in den ersten 40 Jahren meist positiv, nur kurz zu Beginn der Republik, in der Krise 1966/67 sowie in der zweiten Ölpreiskrise war sie defizitär. Die Reallöhne erhöhten sich bis Anfang der siebziger Jahre um etwa das Vierfache, danach ging die Entwicklung bei den Löhnen nur noch leicht nach oben, sogar etwas weniger als beim Bruttoinlandsprodukt.

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1  Wirtschaft und Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik Deutschland

1.4 Der Sonderweg der DDR Das (wirtschafts-)politische Ende der DDR wurde im Jahre 1990 besiegelt. Mit der ersten freien Volkskammerwahl und der dort zutage tretenden klaren Mehrheit für Marktwirtschaft und Wiedervereinigung nahm der Zug zur Einheit endgültig Fahrt auf (Tab. 1.15 und zur Übersicht Heilemann & Kaufhold, 2020). Im Mai 1990 wurde der Vertrag zur Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion geschlossen. Mit dem Einigungsvertrag wurde vereinbart, die westdeutsche Rechtsordnung vollständig zu übernehmen, es wurde der Fonds Deutsche Einheit aufgelegt und das Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung bei Immobilien“ wurde festgezurrt. Um die Aufgabe, die sich für die ehemalige DDR nach der Wiedervereinigung stellte, zu verstehen, muss man nachvollziehen, wie im Grundsatz die ostdeutsche Wirtschaft funktionierte (siehe auch Paraskewopoulos, 2017). In der dortigen Zentralverwaltungswirtschaft bestand die Fiktion, dass das gesamte wirtschaftliche Geschehen zentral geplant, gelenkt und verwaltet werden sollte, um die politischen und wirtschaftlichen Zielvorstellungen der staatlichen Entscheidungsträger umzusetzen. Für die damalige DDR bedeutete dies, dass der Ministerrat, die staatliche Plankommission sowie die Ministerien von oben nach unten eine industrielle Jahresplanung implementierten. Der Ministerrat legte für die DDR einen Entwicklungsplan vor, der auch in enger Abstimmung mit den Plänen der anderen osteuropäischen Länder des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) entstand. Die Plankommission leitete daraus konkrete Produktionsziele (Planaufgaben) ab, woraus die einzelnen Fachministerien Produktionsauflagen für die Kombinate generierten. In den Kombinaten wurden daraus Kennziffern entwickelt, die in den Kombinaten unterstellten Betrieben (VEB volkseigene Betriebe, Kombinatsbetriebe und private Handwerksbetriebe) umzusetzen waren. Die Kombinatsbetriebe im weiteren Sinne entwickelten daraus konkrete Produktionsvorgaben und Detailpläne, diskutierten sie mit der Belegschaft und planten daraus die vorzunehmenden Investitionen. „Rückwärts gesehen“ wurden daraus Finanzierungsvereinbarungen abgeleitet und Austauschbeziehungen mit anderen Betrieben fixiert. Ferner konnten – zumindest auf dem Papier – die Bezirke (Ersatz für die Länder in der DDR) über die Bezirksplanungskommission und den Bezirkswirtschaftsrat Einfluss nehmen.

Tab. 1.15  Zeittafel 1990 Datum Ereignis 18.03./12.04.1990 Erste freie Volkskammerwahl/Lothar de Maiziére wird Ministerpräsident, Koalition aus CDU/DSU1/DA2/SPD und BFD3 18.05.1990 Vertrag zur Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion; vollständige Übernahme der westdeutschen Rechtsordnung; Fonds Deutsche Einheit; Rückgabe vor Entschädigung 23.08.1990 Volkskammer erklärt um 3 Uhr in der Nacht Beitritt der DDR zur BRD 31.08.1990 Einigungsvertrag 03.10.1990 Neue Bundesländer treten der BRD auf der Grundlage von Art. 23 GG bei Zu den Daten: Heilemann und Kaufhold (2020). 1Deutsche Soziale Union, 2Demokratischer Aufbruch, 3Bund Freier Demokraten

1.5  Von der Wiedervereinigung bis heute

25

Im Vergleich zu Westdeutschland kann man die wirtschaftliche Entwicklung in Ostdeutschland gut nachvollziehen (Paqué, 2018). Zu Beginn der DDR lag ihr Bruttoinlandsprodukt je Einwohner bei ca. 40 % des Westniveaus. In den folgenden zwei Dekaden verbesserte sich die Lage nur leicht, auf etwa 45 % zu Beginn der siebziger Jahre. In der zweiten Hälfte der Siebzigerjahre und in den Achtzigerjahren verringerte sich die Lücke zu Westdeutschland auf etwa 50 % bis 55 %. Vielleicht waren diese Zahlen aber zu optimistisch, da die Qualität der ostdeutschen Produkte aufgrund der fehlenden Orientierung an den Wünschen der Konsumenten und dem fehlenden Druck des Weltmarktes tatsächlich geringer war. Wie auch in den anderen planwirtschaftlichen Staaten versuchte man, die Mängel der Zentralverwaltungswirtschaft ad hoc zu überwinden. In der DDR blieb es aber immer bei einer Mangelwirtschaft, zumindest in der Wahrnehmung der ostdeutschen Bevölkerung. Die wirtschaftliche Entwicklung der DDR war lange von den Fluchtmöglichkeiten in den Westen bedroht, insbesondere nach dem 17. Juni Aufstand 1953 bis Anfang der Sechzigerjahre. Netto sind etwa zwei Millionen Bürger bis 1961 von Ost nach West ausgewandert. Insofern ging in dieser Zeit etwa 10 % der Bevölkerung der DDR in den Westen, vor allem die gut qualifizierten Arbeitnehmer. Nach dem Mauerbau im August 1961 brachen in Ostdeutschland „goldene Zeiten“ an. Der Lebensstandard stabilisierte sich, langlebige Konsumgüter wie Fernseher, Gefriertruhen und Waschmaschinen waren verfügbar, freilich musste man noch lange auf ein neues Kraftfahrzeug warten. In den politischen Eliten der DDR bestand immer noch die Hoffnung, dass ein Schließen der Lücke zum Westen möglich wäre. Walter Ulbricht, Generalsekretär der SED, hoffte Ende der Sechzigerjahre, dass die Elektronik als neue Technologie alles „umschmeißen“ würde. Man träumte vom „Überholen ohne Einzuholen“. Nach der Machtübernahme durch Erich Honecker Anfang der Siebzigerjahre sollten die Zeiten noch besser werden. Mit der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik (1974/75) sollte sich der private Konsum deutlich verbessern: Die allgemeine Versorgungslage sollte angehoben und der Wohnungsbau massiv ausgedehnt werden. Mindestens im Nachhinein wurde klar, dass diese Politik die ostdeutsche Wirtschaft überforderte und mit einer zunehmenden Überschuldung, gerade gegenüber dem Westen, einherging. Vergleicht man dazu die Entwicklung in Westdeutschland, wo „unter den Schmerzen des Strukturwandels und der hohen Arbeitslosigkeit“ eine neue Welt mit neuen Produkten, Prozessen, Umweltstandards und ersten Ansätzen zur Digitalisierung entstand, blieb in Ostdeutschland alles beim Alten: Produkte und Prozesse wurden fortgeschrieben, Umweltstandards spielten fast keine Rolle und von Digitalisierung konnte keine Rede sein. Unter dieser Ausgangslage war die Wirtschafts- und Währungsunion 1990 eine große Schocktherapie.

1.5 Von der Wiedervereinigung bis heute Die wirtschaftliche Entwicklung im vereinten Deutschland bis heute kann man anhand der Tab. 1.16 nachvollziehen. Nach dem Boom „Wiedervereinigung bis 1992/93“ kam es zu einer „Vereinigungskrise“; die Wachstumsraten in realen Preisen sanken auf unter 2 %. Auch Ende der Neunzigerjahre wurde es nicht besser. Selbst aber in den Jahren nach 2000

1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013

Bruttoinlandprodukt in Mrd. DM/€ in Preisen von 2015a in jeweiligen Preisen ∆2 1579,8 – – 1695,3 1616,3 – 1748,6 1685,4 4,2 1830,3 1792,8 6,3 1898,9 1857,7 3,6 1926,3 1910,1 2,7 1967,1 1955,7 2,4 2018,2 2000,7 2,3 2064,9 2052,4 2,6 2116,5 2119,3 3,3 2179,9 2144,7 1,2 2209,3 2168,2 1,1 2220,1 2182,6 0,6 2270,6 2237,7 2,5 2300,9 2279,0 1,8 2393,3 2375,6 4,2 2513,2 2456,2 3,4 2561,7 2523,6 2,7 2460,3 2401,4 − 4,8 2580,1 2548,1 6,1 2703,1 2664,8 4,6 2758,3 2705,1 1,5 2826,2 2757,1 1,9

Tab. 1.16  Wirtschaftsdaten 1991–2023 Deutschland1 Erwerbstätige (In- Registrierte land) Arbeitslose Jahresdurch-schnitt in Tsd. 38.790 2602 38.283 2979 37.786 3419 37.798 3698 37.958 3612 37.969 3965 37.947 4384 38.407 4281 39.031 4100 39.917 3890 39.809 3853 39.630 4061 39.200 4377 39.337 4381 39.326 4861 39.635 4487 40.325 3761 40.856 3259 40.892 3415 41.020 3239 41.577 2976 42.061 2897 42.339 2950 Arbeitslosenquote 7,3 8,5 9,8 10,6 10,4 11,5 12,7 12,3 11,7 10,7 10,3 10,8 11,6 11,7 13,0 12,0 10,1 8,7 9,1 8,6 7,9 7,6 7,7 65,6 68,8 71,9 73,8 75,1 76,1 77,6 78,3 78,8 79,9 81,5 82,6 83,5 84,9 86,2 87,6 89,6 91,9 92,2 93,2 95,2 97,1 98,5

Preisindex

∆2 – 5,0 4,5 2,6 1,8 1,3 2,0 0,9 0,6 1,4 2,0 1,3 1,1 1,7 1,5 1,6 2,3 2,6 0,3 1,1 2,1 2,0 1,4 € 1832 2003 2103 2185 2281 2344 2389 2447 2518 2551 2617 2701 2783 2846 2901 2950 3023 3103 3141 3227 3311 3391 3449

∆2 – 9,3 5,0 3,9 4,4 2,8 1,9 2,4 2,9 1,3 2,6 3,2 3,0 2,3 1,9 1,7 2,5 2,6 1,2 2,7 2,6 2,4 1,7

Durchschnitts-­ bruttomonatseinkommenb

26 1  Wirtschaft und Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik Deutschland

2938,3 3048,6 3159,8 3277,3 3386,0 3473,3d 3405,4d 3601,8d 3854,9d 4069,2d

2873,7 2971,0 3093,7 3218,8 3299,2 3400,9 3345,0 3494,9 3665,8 –

4,2 3,4 4,1 4,0 2,5 3,3 − 1,6 1,3 4,8 –

42.671 43.071 43.642 44.269 44.838 45.277 44.915 44.980 45.530 45.619

2898 2795 2691 2533 2340 2267 2695 2613 2422 2498

7,5 7,1 6,8 6,3 5,8 5,5c 6,5 c 6,5 c 5,8 c –

99,5 100,0 100,5 102,0 103,8 105,3 105,8 109,1 117,9a 126,6a

1,0 0,5 0,5 1,5 1,8 1,5 0,5 6,3 8,8 8,7

3527 3612 3703 3771 3880 3975 3994 4100 – –

2,3 2,4 2,5 1,8 2,9 2,4 0,4 2,7 – –

a

1

bis 2018: Heilemann und Kaufhold (2020), S. 391–393, wenn nicht anders angegeben. 2Veränderung g. d. VJ in vH Destatis (2023b) bvollzeitbeschäftigte Arbeitnehmer (statista 2023a, 2023b) in Deutschland von 1991 bis 2021, cDestatis (2023a). dAb 2019 (SVR) 2022, 2022–2023 Projektionen SVR (2022)

2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022 2023

1.5  Von der Wiedervereinigung bis heute 27

28

1  Wirtschaft und Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik Deutschland

blieb das Wachstum relativ gering, meist mehr oder weniger deutlich unter 2 %. 2008 mit der Finanzkrise und 2020 mit der Corona-Pandemie gab es ebenfalls noch mal einen deutlichen Einbruch. Noch deutlicher wird die wirtschaftliche Entwicklung anhand der ­Arbeitsmarktdaten. Gerade ab 1994 sprang die Arbeitslosenquote über 10 %, bevor sie ab 2008 immer weiter zurückging; nur der Sonderfaktor Finanzkrise in 2009 führte noch zu einem Anstieg. Noch aussagekräftiger ist der Blick auf die Beschäftigtenzahl, die in den neunziger Jahren zunächst sank und dann ziemlich stetig auf immer höhere Werte kam. Wirtschaftlich und auf dem Arbeitsmarkt kann man für die 2010er-Jahre von goldenen Zeiten sprechen. Mit dem Blick auf die Inflationsrate zeigt sich, dass mit Ausnahme der Jahre 1992/93 das Thema Inflation kaum noch eine Rolle spielte. Auf der Ebene der Entwicklung der Durchschnittseinkommen sieht man überwiegend eine relativ begrenzte Zunahme, nur in der Zeitperiode 1992–1995 war dies etwas besser. Finanzmarkt-/Weltwirtschaftskrise sowie die Corona-Pandemie 2020–2022 mit den Einbrüchen beim Bruttoinlandsprodukt 2009 und 2020 haben sich in Deutschland wirtschaftlich nur temporär ausgewirkt. Insbesondere kam es zu keinen Beschäftigungseinbrüchen. Infolge des Ukraine-Kriegs seit Februar 2022 kam es zu einem massiven Anstieg bei den Verbraucherpreisen. Zurückgehend zur wirtschaftspolitischen Entwicklung nach der Wende in Gesamtdeutschland wurde im Dezember 1991 der Maastricht-Vertrag beschlossen, in dem grundsätzlich die Weichen für eine europäische Währungsunion gestellt wurden (Tab. 1.17; zur Übersicht Heilemann & Kaufhold, 2020 und zu Details Spoerer & Streb, 2013,S. 241–244). Im April 1994 wurde der Sozialstaat in Deutschland erstmals wieder seit langer Zeit mit der Einführung der gesetzlichen Pflegeversicherung strukturell erweitert. Diese Versicherung startete mit einem Beitragssatz von einem Prozent, der ab 1996 auf 1,7 % stieg. Mit dieser Sozialversicherungsreform kam es aber auch zu einer Entlastung bei den Staatsausgaben, da Pflegeleistungen nunmehr deutlich seltener über die Sozialhilfe finanziert werden mussten. Mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt, der im Dezember 1996 beTab. 1.17 Zeittafel 1991–1998

Datum 17.01.1991

Ereignis Kohl als Bundeskanzler wiedergewählt; Union/FDP-Koalition 09./10.12.1991 Maastricht-Vertrag: EU mit Währungsunion 29.04.1994 Einführung der gesetzlichen Pflegeversicherung 15.11.1994 Kohl als Bundeskanzler wiedergewählt; Union/FDP-Koalition 14.12.1996 Stabilitäts- und Wachstumspakt 11.12.1997 Einführung des Demografiefaktors in der Rentenversicherung 02./03.05.1998 EU-Rat für dritte Stufe der WWU zum 01.09.1999 für 11 Länder Zu den Daten: Heilemann und Kaufhold (2020)

1.5  Von der Wiedervereinigung bis heute

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schlossen wurde, kam man den Bedenken der bundesdeutschen Stimmbürger entgegen; der Euro sollte genauso stabil werden, wie dies die D-Mark in den vergangenen Jahrzehnten war. Nach diesem Pakt sollten nur Staaten aufgenommen werden, die maximal 60 % des Bruttoinlandsproduktes an Staatsschulden aufwiesen, deren jährliche Neuverschuldung maximal 3 % des Bruttoinlandsproduktes betrug und die Entwicklung der Zinssätze bzw. Inflationsraten sollten in einem Korridor des europäischen Durchschnitts bleiben. Im Dezember 1997 verankerte die Regierungskoalition aus Union und FDP den Demografiefaktor in der Rentenversicherung, mit diesem Faktor sollten auch die Rentner einen Teil der Verschlechterung im demografischen Aufbau der Bundesrepublik durch geringere Rentenanstiege mitfinanzieren. Der Europäische Rat beschloss in seiner Mai-Sitzung 1998, dass die Euro-­Einführung mit elf Ländern in Form der Fixierung der Wechselkurse zueinander zum 01.01.1999 stattfinden sollte. Mit diesem Datum wurde der Euro zum europäischen Buchgeld, dem die Bargeld-Einführung zum 01.01.2002 folgte. Im Frühjahr 1999 startete die ökologische Steuerreform, die Mineralölsteuer wurde angehoben, Benzin- und Dieselpreise stiegen steuerbedingt um sechs Pfennig, Heizöl um vier Pfennig und Erdgas um 0,32 Pfennig (Tab. 1.18; zur Übersicht Heilemann & Kaufhold, 2020). Gleichzeitig wurde eine Stromsteuer in Höhe von zwei Pfennig pro Kilowattstunde erhoben. Mit dieser Reform konnte der Beitragssatz in der Rentenversicherung um 0,8 Prozentpunkte auf 19,5 % gesenkt werden. Im Mai 2001 kam es in der Rente zu erheblichen Veränderungen: Mit der Riester-Rente wurde der Einstieg in die kapitalgedeckte Alterssicherung beschlossen und der zwischenzeitlich wieder abgeschaffte Demografiefaktor der Vorgängerkoalition unter dem Namen Nachhaltigkeitsfaktor wiedereingeführt. Im März 2003 verkündete Bundeskanzler Schröder die Agenda 2010, mit der grundlegende Reformen des Arbeitsmarktes und des sozialen Sicherungssystems vollzogen werden sollten. Mit der Föderalismusreform I wurde eine Entflechtung der Zuständigkeiten zwischen Bund und Länder im Grundgesetz verankert, teilweise wurden Regelungen, die von der ersten großen Koalition 1966–1969 verabschiedet wurden, wieder

Tab. 1.18  Zeittafel 1998–2009 Datum 27.10.1998 03.03.1999 10.12.1991 11.05.2001 22.10.2002 14.03.2003 22.11.2005 07.07.2006 25.09./ 05.10.2008 05.03.2009

Ereignis Gerhard Schröder wird zum Bundeskanzler gewählt; SPD/Grünen-Koalition Einstieg in die ökologische Steuerreform Maastricht-Vertrag: EU mit Währungsunion Rentenreform mit kapitalgedeckter Alterssicherung Schröder wieder gewählt; SPD/Grünen-Koalition Schröder verkündet Agenda 2010 Angela Merkel zur Bundeskanzlerin gewählt; Union/SPD-Koalition Föderalismusreform I Lehman Brothers geht Konkurs/Merkel und Steinbrück garantieren Bankeinlagen Förderalismusreform II mit Schuldenbremse

Zu den Daten: Heilemann und Kaufhold (2020)

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1  Wirtschaft und Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik Deutschland

„zurückgedreht“. Ziel dabei war auch, den Anteil der zustimmungspflichtigen Gesetze durch den Bundesrat zu reduzieren. Eine nicht zu unterschätzende Neuerung lag beim Besoldungs- und Dienstrecht vor, sodass nun die Länder in diesem Bereich eigene Wege gehen konnten. Mit dem Zusammenbruch der amerikanischen Bank Lehman Brothers im Herbst 2008 wurde die weltweite Finanzmarktkrise offenkundig. Kurz darauf verkündeten Bundeskanzlerin Merkel und Finanzminister Steinbrück die Sicherheit aller Bankeinlagen, um einen sich abzeichnenden Bankenrun zu verhindern. Für die Finanzindustrie wurde aus Steuergeldern ein Rettungspaket geschnürt, um den Zusammenbruch der systemrelevanten Banken („keine Kernschmelze im Bankensektor“) zu verhindern. Die Bundesrepublik wurde gerade aufgrund ihrer hohen Exportabhängigkeit von der Finanzmarktkrise stark getroffen, konnte sich aber relativ schnell aus der Krise wieder heraus bewegen. Mit der Föderalismusreform II wurde im Grundgesetz die Schuldenbremse eingeführt, die nach einer Übergangsfrist den Bund im Normalfall auf eine sehr geringe Neuverschuldung pro Jahr verpflichtete, die Bundesländer sollten danach ab 2020 überhaupt keine Neuverschuldung mehr tätigen. Im Mai 2010 machte die Euro-Schuldenkrise aus Sicht der europäischen Entscheidungsträger ein Rettungspaket für Griechenland unausweichlich (Tab. 1.19; zur Übersicht bis 2020 Heilemann & Kaufhold, 2020). Im weiteren Verlauf dieser Schuldenkrise erklärte im August 2012 der damalige Präsident der EZB, Mario Draghi, die Entscheidung für den Tab. 1.19 Zeittafel 2009–2022

Datum 28.10.2009 Anfang Mai 2010 14.03.2011 02.08.2012 17.12.2013 19.08.2015 31.08.2015 14.03.2018 18.03.2020 08.12.2021 24.02.2022 16.12.2022

Ereignis Angela Merkel wiedergewählt; Union/ FDP-Koalition Rettungspakt für Griechenland 2010 Merkel verkündet Ausstieg aus der Kernenergie EZB-Präsident Draghi erklärt Entscheidung für Euro für unumkehrbahr Merkel wiedergewählt; Union/SPD-­ Koalition 2. Griechenland „rettung“ Merkel „Wir schaffen das“ Merkel wiedergewählt; Union/SPD-­ Koalition Corona-Krise; Angela Merkel „Die Lage ist ernst“ Olaf Scholz zum Bundeskanzler gewählt; SPD/Grüne/FDP-Koalition Russland beginnt Krieg gegen Ukraine Bürgergeld ersetzt Arbeitslosengeld II (Hartz IV)

Zu den Daten bis 2020: Heilemann und Kaufhold (2020)

1.5  Von der Wiedervereinigung bis heute

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Euro für unumkehrbar und dass daher die EZB alles tun würde, um sein Scheitern zu verhindern. Im Mai 2015 kam es zur zweiten „Griechenland Rettung“, der wie immer zu gestaltende Austritt Griechenlands aus dem Euro wurde abgewandt. Nach einer für die Bundesrepublik noch nie dagewesenen Zuwanderung von Flüchtlingen über die Balkanroute erklärte die Bundeskanzlerin, dass vor dem Hintergrund der in Deutschland in den letzten Jahrzehnten bewältigten Aufgaben auch die Integration der Flüchtlinge machbar sei („Wir schaffen das.“) Im März 2020 erreichte das Coronavirus die Bundesrepublik, das öffentliche Leben wurde erheblich beschränkt. Im weiteren Verlauf der Coronakrise kam es zu weiteren Lockdowns, wirtschaftlich betroffene Betriebe wurden aus Steuergeldern unterstützt, Kurzarbeitergeldregelungen wurden vereinfacht und zeitlich ausgedehnt, ein Konjunkturpaket wurde geschnürt. Infolge des Ukraine-Kriegs kam es zu einem massiven Anstieg bei den Verbraucherpreisen (Rückkehr der Inflation). Nach über 30 Jahren seit der Wiedervereinigung lohnt es sich, für Ostdeutschland eine Bilanz in Bezug auf die Transformation der Zentralverwaltungswirtschaft in die im Welthandel eingebettete Marktwirtschaft zu ziehen (Paqué, 2018). Ein besonderes Augenmerk war auf die Befürchtung gerichtet, dass Ostdeutschland zur „deindustrialisierten Zone“ werde. Vergleicht man die Entwicklung der Industrie zwischen Ost- und Westdeutschland, so zeigt sich, dass zu Beginn der Wiedervereinigung die Bruttowertschöpfung der ostdeutschen Industrie von vier auf 3,5 % im Jahre 1993 fiel, um anschließend bis etwa 2008 auf über 8  % im Vergleich zur westdeutschen Industrie anzusteigen; danach stagnierte diese Anteilswert leicht über 8 %. Bezogen auf den Anteil der Erwerbstätigen in der ostdeutschen Industrie fiel der Anteil von anfänglich ca. 17 % auf etwa 11 % 1993. Danach verharrte dieser Anteil für etwa eine Dekade auf diesem niedrigen Niveau, bevor er ab Ende der 2000er-Jahre leicht über zwölf Prozent anstieg. In der Summe sieht man also für das verarbeitende Gewerbe in Bezug auf die Bruttowertschöpfung ein deutliches Aufholen, das sich aber bei der Beschäftigtenanzahl nicht so stark niederschlug. Schaut man auf die Entwicklung der Arbeitsproduktivität, so stieg sie im Vergleich zu Westdeutschland von niedrigen Werten unter 30 % relativ schnell auf ca. 65 % Mitte der Neunzigerjahre an, um sich danach langsam in Richtung des 80  %-Wertes zu bewegen. Im verarbeitenden Gewerbe startete bei der Arbeitsproduktivität die ostdeutsche Wirtschaft bei weniger als einem Fünftel des Westniveaus, um dann relativ kontinuierlich auf etwas mehr als 70 % des Westniveaus bis Mitte der 2000er-Jahre anzusteigen; danach fiel der Wert für Ostdeutschland wieder teilweise unter 70 %. Das ostdeutsche Leistungsbilanzdefizit lag zu Beginn der Wiedervereinigung bei ca. 80 Mrd. €, erreichte Mitte der Neunzigerjahre den Höchstwert von ca. 110 Mrd. € und ging dann bis Ende der 2000er-­Jahren auf unter 60 Mrd. € zurück, was dann auch für die Folgejahre in etwa weiter galt. Bezogen auf den Anteil am Bruttoinlandsprodukt ging das Leistungsbilanzdefizit kontinuierlich von etwas unter 80 % auf unter 20 % zurück. Das hohe Leistungsbilanzdefizit zu Beginn der Wiedervereinigung ergab sich aus den Finanzierungströmen der Sozialversicherung und dem Solidarpakt II, der 2019 ausgelaufen ist. Das heutige Defizit wird über den für alle Länder geltenden Länderfinanzausgleich finanziert. Blickt man auf die Kennzahlen zu Forschungs- und Entwicklung-Aktivitäten in Ostdeutschland, so sieht man, dass in Bezug auf

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1  Wirtschaft und Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik Deutschland

die F&E-Ausgaben 2016 die alten Bundesländer 3,1 % an der Bruttowertschöpfung der privaten Wirtschaft erreichten, die neuen Bundesländer nur 1,3 %. Beim F&E-Personal lag der Anteil im Westen bei 1,5 %, im Osten dagegen nur bei 0,6 %. In der Summe weist Ostdeutschland leider immer noch ein Produktivitätsgefälle auf, das sich im Zeitablauf nicht abbaut. Beispielsweise lag 2017 die Bruttowertschöpfung je Erwerbstätigen in Ostdeutschland bei ca. 78 % und in der Indus­trie bei rund 69 %. Ursächlich für diese sich nicht schließende Lücke scheint das Portfolio der ostdeutschen Produkte zu sein; mit dieser Güterpalette scheint man auf dem hoch kompetitiven Weltmarkt „nicht mehr ausrichten zu können“. Mit anderen Worten: Solange es auf dem Weltmarkt nicht zu disruptiven Veränderungen kommt, in deren Lücken dann ostdeutsche Unternehmen hineinstoßen könnten, bleibt das Produktivitätsgefälle bestehen. Rückblickend hätte wohl weder eine alternative Politik der Treuhandanstalt, vergleiche Plustext 1.2, noch eine andere Wirtschaftsförderungspolitik in Ostdeutschland etwas ändern können. Insofern sollte man bedauerlicherweise sehr skeptisch sein, ob eine wie auch immer gelagerte Wirtschaftspolitik hier etwas Substanzielles in der Zukunft ändern könnte. Plustext 1.2: Treuhandanstalt und „blühende“ Landschaften (Paqué, 2018) Die noch in Zeiten der Eigenstaatlichkeit der DDR 1990 gegründete Treuhandanstalt hatte das Mandat, die volkseigenen Betriebe und nicht benötigte staatliche Vermögenswerte (möglichst schnell) zu verkaufen. In der Anfangszeit bestanden noch erhebliche Hoffnungen, dass aus diesem Verkauf Erlöse entstünden, die in irgendeiner Form an die Bürger der ehemaligen DDR „vererbt“ werden könnten. Ende des Jahres 1994 war ein Großteil der 14.000 Unternehmenseinheiten durch die Treuhand privatisiert. Strittig war, ob damit ein industrieller Kern der ostdeutschen Wirtschaft geschaffen wurde, der als zukunftsfähig gelten konnte. Die von den Investoren gemachten Investitions- und Beschäftigungszusagen wurden im Wesentlichen eingehalten, die meisten der damals privatisierten Unternehmen arbeiten heute profitabel. Die Schattenseiten dieses Prozesses liegen bei einem aufgelaufenen Defizit von 200 Mrd. DM und dem Verlust von ca. 2,5 Mio. Arbeitsplätzen. Teilweise kam es sicherlich auch zu kriminellen Machenschaften. Unstrittig haben viele Ostdeutsche der Treuhandanstalt die Schuld zugewiesen, dass die erhofften „blühenden Landschaften“ nicht oder zumindest nicht so schnell wie erwartet eingetreten sind. Ökonomisch muss man die Bilanz der Treuhand jedoch vor den Hintergründen sehen, dass die ostdeutsche Wirtschaft mit einem veralteten Kapitalstock arbeitete, keine oder zumindest zu wenige Weltmarktprodukte „übernommen“ werden konnten, im Weltmarkt keine freien Marktnischen einfach zu besetzen waren und die ostdeutsche Wirtschaft systematisch an einem Innovationsdefizit krankte. Strittig war und ist, ob dieser Zustand durch zu hohe Löhne, sei es durch die Umstellung der Löhne eins zu eins oder durch zu hohe Tarifabschlüsse, strategisch begünstigt durch westdeutsch-dominierte Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften, herbeigeführt oder zumindest verstärkt wurde. Gegen die These der zu hohen Tariflöhne spricht, dass es in Ostdeutschland geradezu im Vergleich zum Westen zu einer ungekannten Tarifvertragsflucht gekommen ist. Insofern ist fraglich, ob die (zu hohen) Tariflöhne als bindend anzusehen waren.

Die Transformation der ostdeutschen Wirtschaft wurde staatlicherseits durch eine umfangreiche Wirtschaftsförderung begleitet. Zum einen ging es um die dringend notwendige Renovierung und den Ausbau der Infrastruktur. Viele Straßen, seien es kommunale Straßen, Land- und Bundesstraßen, oder Autobahnen, wurden von Grund auf saniert. Darüber

1.5  Von der Wiedervereinigung bis heute

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hinaus wurden viele überregionale Verkehrswege der Straße und der Schiene neu geplant und dann zügig erbaut, Lücken im Verkehrsnetz wurden geschlossen. Die Infrastruktur für die Telekommunikation war neu aufzustellen; nicht nur der eigene Neuwagen, sondern auch das eigene Telefon war in der ehemaligen DDR lange Zeit ein Luxusgut. Weniger offenkundig, mindestens genauso wichtig war aber der Aufbau von effizienten Verwaltungsstrukturen. Gerade der Zustand in den Grundbuchämtern der DDR war in Verbindung mit dem Grundsatz „Rückgabe vor Entschädigung“ ein wichtiger Grund, warum in Ostdeutschland der wirtschaftliche Aufbruch nicht so in Fahrt kam wie erhofft. Mit erheblichen Steuermitteln wurde eine Förderkulisse für private Investitionen aufgebaut, man wollte damit Anreize für Erweiterungsinvestitionen sowie für die Neuansiedlung von (gewerblichen) Unternehmen geben. Die Investitionsförderung führte Anfang der Neunzigerjahre zu einem regelrechten Bauboom, insbesondere bei Gewerbeimmobilien. Es kam daher vielfach zu Leerständen. Insofern hat die Förderung nicht perfekt funktioniert. Die Förderung stand auch dahingehend in der Kritik, dass zu viele Investitionen insgesamt angeregt wurden und damit ein überhöhter Kapitalstock geschaffen worden sei. Auf jeden Fall positiv hervorzuheben ist, dass diese Subventionen grundsätzlich nur einmalig gewährt wurden und damit eine Dauersubventionierung von unrentablen Unternehmen verhindert wurde. Gerade vor dem Hintergrund der wirtschaftspolitischen Befunde für Ostdeutschland bis heute sind keine nennenswerten Anknüpfungspunkte erkennbar, wonach eine anders geartete Wirtschaftsförderung substanziell mehr Erfolg gehabt hätte. Vielleicht wäre es wirtschaftspsychologisch auf jeden Fall besser gewesen, von Anfang an die Begrenztheit staatlicher Wirtschaftsförderung zu akzeptieren und vor allem in der Öffentlichkeit zu kommunizieren. Vielleicht wäre damit das Ausmaß an vorhandenen Enttäuschungen kleiner ausgefallen.

Fazit und Ausblick

Die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg unter der Maßgabe, Marktwirtschaft mit sozialen Aspekten zu verbinden, ist im Wesentlichen eine Erfolgsgeschichte. Die negativen Folgen des Zweiten Weltkriegs wurden viel schneller überwunden als damals gedacht, die Zuwanderung von Vertriebenen und Flüchtlingen, aber auch die Arbeitsmigration aus den Mittelmeerstaaten gelang, zumindest im Arbeitsmarkt. Die Integration der zu transformierenden ostdeutschen Wirtschaft ist gelungen, weniger als erhofft, aber vielleicht konnte man realistisch gesehen nicht mehr erwarten. Die erwähnten Schlaglichter der wirtschaftspolitischen Chronik zeigen eine nicht unerhebliche Wandelung des institutionellen Rahmens. In den Folgekapiteln dieses Lehrbuches wird es auch darum gehen, in den Beispielen der behandelten Wirtschaftspolitiken zu fragen, was sich im Detail dort geändert hat, ob die Änderungen aus ökonomischer Sicht plausibel und ausreichend zukunftsgerichtet waren und für die Zukunft die richtigen Weichen gestellt sind. Zumindest für die Bereiche der Rente und des Gesundheitswesens droht eine finanzielle Über-

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1  Wirtschaft und Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik Deutschland

forderung des Staates. Für den Schutz der natürlichen Ressourcen, insbesondere des Klimas, wird zu diskutieren sein, ob die bisherigen wirtschaftspolitischen Maßnahmen langfristig tragfähig sind. Ein wichtiger Pluspunkt für Deutschland ist, dass der Staat finanziell relativ „gut aufgestellt“ ist. In den fünfziger Jahren, Anfang der Sechziger sowie im Übergang zu den siebziger Jahren erwirtschaftete der Staat insgesamt einen Überschuss. Erst substanziell zu Beginn der ersten großen ökonomischen Krise 1973/74 kam es zu staatlichen Finanzierungsdefiziten, die meist aber zumindest im Vergleich zu anderen Ländern gering waren. Mit Ausnahme von wenigen Jahren (Mitte der 2000er-Jahre, direkt nach der Finanzkrise und in der Corona-Krise) war und wäre die europäisch gesetzte Zielmarke von maximal 60  % Schuldenstand kein Problem gewesen. Zu guter Letzt muss auch erlaubt sein, darauf hinzuweisen, dass die privaten Haushalte zumindest in der Summe nach annähernd 80 Jahren wirtschaftlicher Prosperität auf erheblichen Vermögensbeständen „sitzen“.

Übungsaufgaben

1. Beschreiben Sie die geldpolitische Lage in Westdeutschland vor der Währungsreform 1948. Wie ist die Währungsreform 1948 umgesetzt worden? Bewerten Sie hierzu auch das Video auf: https://www.youtube.com/watch?v=5rc7YAlzgZo. 2. Was war der Inhalt des Marshall-Plans und welche Bedeutung könnte er für die wirtschaftliche Entwicklung Westdeutschlands gehabt haben? Ergänzend Informationen finden sich auch unter: https://www.kfw.de/%C3%9Cber-­die-­KfW/Newsroom/Themen-­kompakt/Archiv-­(ab-­2013)/Marshallplan/. 3. Beschreiben Sie den Weg Westdeutschlands bis zur Verabschiedung des GWBs? 4. Ordnen Sie die beiden Ölpreiskrisen der 1970er in die wirtschaftspolitische Entwicklung der Bundesrepublik ein. Zum Überblick siehe auch: https://www.ardmediathek.de/video/morgenmagazin/zeitreise-­o elkrise-­1 973/das-­e rste/Y3JpZDovL2Rhc2Vyc3RlLmRlL21vcmdlbm1hZ2F6aW4vM2YyOTVhNDMtMzQ3OC00YjllLTgyOGQtNDA4ZDViMDBlM2Jm. 5. Vergleichen Sie die Wirtschaftskrisen 1967/68 mit der Krise 1973–1980. 6. Beschreiben Sie die wirtschaftspolitische Aufgabe der Transformation Ostdeutschlands in die Marktwirtschaft. Gehen Sie dabei auch auf die Rolle der Treuhand ein, siehe auch https://www.youtube.com/watch?v=SsiYyT2qYHI.

Kommentierte Literaturhinweise Heilemann und Kaufhold (2020) stellen eine hervorragende Quelle dar, um die wichtigsten gesamtwirtschaftlichen Zahlen für die Bundesrepublik Deutschland über einen längeren Zeitraum zu entnehmen; ferner haben sie akribisch und auf den Tag genau die wich-

Literatur

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tigsten politischen und wirtschaftspolitischen Ereignisse, Beschlüsse und Gesetze sowie Fakten zusammengetragen. Spoerer und Streb (2013) belegen eindrucksvoll die Wirtschaftsgeschichte in Deutschland, insbesondere für die Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Ein beeindruckendes Resümee für die Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik und in der DDR zieht Paqué (2018), der wie kaum ein anderer aufgrund seiner wirtschaftswissenschaftlichen Expertise und seiner politischen Erfahrung als ehemaliger Finanzminister Sachsen-Anhalts die Lage in der DDR vor und nach der Wende beurteilen kann.

Literatur Destatis. (2023a). Registrierte Arbeitslose, Arbeitslosenquote nach Gebietsstand. https://www.destatis.de/DE/Themen/Wirtschaft/Konjunkturindikatoren/Lange-­R eihen/Arbeitsmarkt/ lrarb003ga.html. Zugegriffen am 07.03.2023. Destatis. (2023b). VGR des Bundes – Bruttowertschöpfung, Bruttoinlandsprodukt (nominal/preisbereinigt): Deutschland, Jahre. https://www-­genesis.destatis.de/genesis/online?operation=previous&levelindex=&step=&titel=&levelid=&acceptscookies=false. Zugegriffen am 07.03.2023. Heilemann, U., & Kaufhold, M. (2020). Wirtschaftspolitische Chronik der Bundesrepublik Deutschland. UVK. Paqué, K.-H. (2018). Die Rückkehr der Mitte Europas. Perspektiven der Wirtschaftspolitik, 19(4), 269–301. Paraskewopoulos, S. (2017). Von der sozialistischen Zentralverwaltungswirtschaft über die Treuhand zur sozialen Marktwirtschaft. In G. Heydemann & K.-H. Paqué (Hrsg.), Planwirtschaft – Privatisierung  – Marktwirtschaft, Wirtschaftsordnung und -entwicklung in der SBZ/DDR und den neuen Bundesländern 1945-1994 (S. 93–114). Vandenhoeck & Ruprecht. Spoerer, M., & Streb, J. (2013). Neue deutsche Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts. Oldenbourg. Statista. (2023a). Durchschnittlicher Bruttomonatsverdienst von vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmern in Deutschland von 1991 bis 2021. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/237674/ umfrage/durchschnittlicher-­bruttomonatsverdienst-­eines-­arbeitnehmers-­in-­deutschland/. Zuge­ griffen am 07.03.2023. Statista. (2023b). VGR des Bundes  – Bruttowertschöpfung, Bruttoinlandsprodukt (nominal/preisbereinigt): Deutschland, Jahre. https://www-­genesis.destatis.de/genesis/online. Zugegriffen am 07.03.2023. SVR Sachverständigenrat. (2022). Konjunktur in Deutschland und Arbeitsmarkt. https://www. sachverstaendigenrat-­wirtschaft.de/publikationen/daten-­indikatoren.html. Zugegriffen am 07.03.2023.

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Wirtschaftsverfassung und ökonomische Theorie der Verfassung

Die ökonomische Theorie der Verfassung wägt Kosten und Nutzen von Entscheidungsprozessen ab, um daraus abzuleiten, welche Entscheidungsregeln zur Anwendung kommen sollen. Im Rahmen einer Wirtschaftsverfassung werden ebenfalls Regeln normiert, die festlegen, in welchem Rahmen wirtschaftliche Aktivitäten stattfinden dürfen. Das vielfältige Geflecht der deutschen Wirtschaftsverfassung beinhaltet selbstverständlich ebenfalls viele normsetzende Regelungen, deren Kosten und Nutzen entsprechend abgewogen werden können. Abschn. 2.1 stellt die in der Bundesrepublik Deutschland geltenden Wirtschaftsverfassung vor, beschreibt dazu auch, welche grundsätzlichen Regeln zur Anwendung kommen, und gibt einen kurzen, exemplarischen Abriss, wie das Bundesverfassungsgericht diese im Laufe der Zeit interpretiert hat. Unter Abschn. 2.2 steht ein Überblick, welche Grundsätze aus der ökonomischen Theorie der Verfassung folgen, um ein (Wirtschafts-)Rechtssystem sinnvoll aufzubauen.

2.1 Wirtschaftsverfassung in Deutschland Unter einer Wirtschaftsverfassung kann man alle wirtschaftsordnenden Rechtsnormen der obersten Ebene auffassen (zum Überblick Manger-Nestler & Gramlich, 2020, Kap. 2). Für Deutschland sind dies die wirtschaftsordnenden Regeln des Grundgesetzes (GG) und des Verfassungsrechts der Europäischen Union (EU-Verträge). In den Artikeln 151–166 der Weimarer Reichsverfassung (WRV) wurde das Wirtschaftsleben explizit geregelt. Im GG von 1949 fehlt eine explizite Regelung zur Wirtschaftsordnung, aber das Grundrecht der Berufsfreiheit (Art. 12, Abs. 1), die grundrechtliche Eigentumsgarantie (Art. 14, Abs. 1), Ergänzende Information Die elektronische Version dieses Kapitels enthält Zusatzmaterial, auf das über folgenden Link zugegriffen werden kann [https://doi.org/10.1007/978-3-658-42124-3_2]. © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 T. Wein, Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42124-3_2

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2  Wirtschaftsverfassung und ökonomische Theorie der Verfassung

das Grundrecht der Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit (Art. 9, Abs. 1 und 3), die grundrechtlich abgesicherte allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2, Abs. 1) und das g­ rundrechtliche Verbot der Diskriminierung (Art. 3, Abs. 1) schlagen wichtige Pflöcke ein, zwischen denen sich wirtschaftliche Aktivitäten nur „bewegen“ dürfen. Freilich gibt es sogar auch im Grundgesetz die Möglichkeit der Sozialisierung von Grund und Boden, Naturschätzen und Produktionsmitteln (Art. 15). Verfassungsrechtlich gab es in der Anfangszeit der Bundesrepublik eine intensive Debatte, inwieweit das Grundgesetz wirtschafts-(ordnungs-)politisch neutral sei (MangerNestler & Gramlich, S. 18). Hans-Carl Nipperdey (1954) vertrat die Auffassung, dass aus dem Grundgesetz eine institutionelle Garantie der sozialen Marktwirtschaft folge, insbesondere präjudiziere dies Art. 2, Abs. 1 und das Sozialstaatsgebot (Art. 20, Abs. 1). Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ist in seiner Rechtsprechung dieser Auffassung nicht gefolgt. Bereits mit der Entscheidung zum Investitionshilfegesetz (1954) stellte das Gericht die wirtschaftspolitische Neutralität der Verfassung heraus; mit dem Urteil zum Mitbestimmungsgesetz (1979) wurde diese Auffassung fortgeführt, ergänzt um die selbst auferlegte Verpflichtung, die Verletzung der Grundrechte anhand des Einzelfalls zu prüfen. Mit dem Vertrag von Lissabon (2007 geschlossen, in Kraft 2009) wurde auf der Ebene der Europäischen Union die Zielsetzung der offenen Marktwirtschaft und des freien Wettbewerbs festgeschrieben (Manger-Nestler & Gramlich, 2020, S. 20 f.). Mit diesem Vertrag wurden aber auch viele andere Ziele wie die Förderung des Umweltschutzes, des Fortschritts, der sozialen Gerechtigkeit und der Solidarität verankert. Für die Wirtschaftspolitik vermutlich weitaus wichtiger sind die vier Grundfreiheiten, die im Rahmen des europäischen Binnenmarktes verwirklicht wurden: Kapitalverkehrs-, Niederlassungs-, Dienstleistungsfreiheit und Arbeitnehmerfreizügigkeit. Im folgenden Abschn.  2.1.1 werden die sogenannten Staatsfundamentalnormen vorgestellt. In diesem Zusammenhang gehe ich auch auf Art. 20a ein, wonach der Staat eine besondere Verantwortung für die natürliche Umwelt zugewiesen bekommen hat. Anschließend werden die wirtschaftlich relevanten Grundrechte auf ihre wirtschaftspolitische Relevanz hin „abgeklopft“ (Abschn. 2.1.2).

2.1.1 Staatsfundamentalnormen als Staatsziele? Art. 20 des Grundgesetzes setzt fest, dass die Bundesrepublik Deutschland die sogenannten Staatsfundamentalnormen: Demokratie, Sozialstaat, Rechtsstaat, Bundesstaat und Repu­ blik achten muss (Manger-Nestler & Gramlich, 2020, S.  21–23). Diese Fundamentalnormen können auch mit Mehrheiten, die ausreichend für eine Grundgesetzänderung wären, nicht aufgehoben werden („Ewigkeitsgarantie des Grundgesetzes“, Art. 79, Abs. 3 GG). Gleiches gilt für die Grundrechte, die in ihrem Wesensgehalt bestehen bleiben müssen (Art. 19, Abs. 2 GG). Später ist mit Art. 20a der Schutz der mit natürlichen Lebensgrundlagen in Verantwortung für die künftigen Generationen hin zugestellt worden.

2.1  Wirtschaftsverfassung in Deutschland

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Art. 20 (1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. (2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt. (3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden. Art. 20a Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung. Art. 19 (2) In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden. Art. 79 (1) Das Grundgesetz kann nur durch ein Gesetz geändert werden, das den Wortlaut des Grundgesetzes ausdrücklich ändert oder ergänzt. (2) Ein solches Gesetz bedarf der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages und zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates. (3) Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.

2.1.1.1 Rechtsstaatsprinzip Das Rechtsstaatsprinzip (Manger-Nestler & Gramlich, 2020, S.  23–27) leitet sich unmittelbar aus Art. 1 (3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht. und Art. 20, Abs. 3 ab. Daraus folgt, dass staatliches Handeln objektiv bewertbar und kontrollierbar sein muss. Die persönlichen Bewertungen und Hintergründe dürfen nicht bei staatlichen Entscheidungen und Maßnahmen durchschlagen, sondern das Recht muss zentral für die staatliche Gewalt sein („Rule of law, not of man“). Der Rechtsstaat kann eine staatsgewährleistende Ordnung übernehmen, in der staatlichen Macht begrenzt und Verfahren sowie Kompetenzen festgelegt werden. Die rechts-

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2  Wirtschaftsverfassung und ökonomische Theorie der Verfassung

gewährende Ordnung richtet sich stattdessen auf das Ziel aus, materielle Gerechtigkeit zu gewährleisten. Im Rechtsstaat: • • • • •

unterliegt die Verwaltung dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit, müssen Kompetenzen bestimmt sein, gilt der Grundsatz der Rechtssicherheit (auch das Rückwirkungsverbot), darf staatliches Handeln nicht über das Erforderliche hinausgehen (Übermaßverbot), gilt die Rechtsschutzgarantie gemäß Art.  19 IV, auch bei Streitigkeiten zwischen Rechtssubjekten (Art. 92), und • wirken Grundrechte als Abwehr- bzw. Schutzrecht. Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips ist auch der Grundsatz des Vorrangs des Gesetzes, wonach die staatliche Verwaltung auf der Grundlage bestehender Rechtsnormen handeln muss. Davon abzugrenzen ist der Vorbehalt des Gesetzes, bei dem ein bestimmtes Verwaltungshandeln einer ausdrücklichen gesetzlichen Grundlage bedarf. Mit rechtlichen Normen wird aufgezeigt, was als richtiges menschliches Verhalten gelten soll bzw. welche Folgen/Sanktionen bei Missachtung folgen sollen. Damit Bürger ihr Handeln nach dem Gesetz ausrichten können, sollen die Normen des Rechtsstaates bestimmt sein. Dieser Bestimmtheitsgrundsatz geht soweit, dass die Regelungen so weit zu konkretisieren sind, wie es vor dem Hintergrund des zukünftigen Sachverhaltes möglich ist. Nicht auf das zukünftige Verhalten wie beim Bestimmtheitsgrundsatz, sondern mit dem Prinzip der Rechtssicherheit wird auf die Bestandskraft bestehender Rechtspositionen gezielt. Dabei gilt das Rückwirkungsverbot, wonach eine nachträglich eintretende Verschlechterung der Rechtslage grundsätzlich nicht hinzunehmen ist. Für den Bürger soll damit Vertrauen geschaffen werden, dass Rechtsvorschriften berechenbar bleiben und Kontinuität gewahrt wird. Zumindest berechtigte Erwartungen sind vom Rechtsstaat zu schützen. Daraus folgt der Grundsatz, dass die sogenannte echte Rückwirkung, die Rückbewirkung von Rechtsfolgen auf bereits in der Vergangenheit liegende, abgeschlossene Sachverhalte, unzulässig ist; nur wenn die Rechtslage unklar, verworren, lückenhaft, etc. ist, kann eine Abweichung von diesem Grundsatz gelten. Wenn jedoch eine Rechtsnorm einen noch nicht abgeschlossenen Sachverhalt mit Wirkung für die Zukunft anders regelt, ist dies zulässig (tatbestandliche Rückanknüpfung, unechte Rückwirkung). Rechtsstaatliches Handeln unterliegt auch dem sogenannten Übermaßverbot (Grundsatz der Verhältnismäßigkeit i.  w.  S.). Danach muss bei einer Begrenzung von Grundrechten ein angemessenes Verhältnis zwischen dem Zweck der Beschränkung und dem Einsatz der Mittel hergestellt werden. Dies gilt jedoch darüber hinaus für alle staatlichen Aktivitäten, bei denen der Staat gestaltet, lenkt oder plant; insofern soll die Freiheit des Einzelnen nur insoweit eingeschränkt werden, wie es aus Gemeinwohlinteressen unerlässlich ist.

2.1  Wirtschaftsverfassung in Deutschland

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Konkretisiert wird das Übermaßverbot durch folgende Kriterien: • Geeignetheit. Die Maßnahme muss eine Wirkung beim verfolgten Zweck erzielen; wäre die Wirkung gleich Null, fehlt es bereits am Tatbestand der Geeignetheit. Das Gericht prüft je nach Sachverhalt, ob eine nennenswerte Wirkung besteht, wobei das Verfassungsgericht gerade bei Regelungen, die in das Wirtschaftsgeschehen eingreifen, dem Gesetzgeber einen weiten Beurteilungsspielraum zubilligt. • Erforderlichkeit. Bei der Abwägung verschiedener Handlungsalternativen muss das mildeste Mittel eingesetzt bzw. der geringstmögliche Eingriff gewählt werden. • Angemessenheit. Es geht hier um eine Bewertung der Ziel-Mittel-Relation, d. h. die Vor- und Nachteile der zu wählenden Alternative sind in ihrer Gesamtheit zu sehen. Vor diesem Hintergrund kommt es auch auf die Betroffenheit des Einzelnen an: Seine „Nachteile“ sind mit den zu erwartenden Wirkungen für die Allgemeinheit abzuwägen. Im Rechtsstaatsprinzip ist auch der Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes angelegt. Gerichte müssen unabhängig sein, und die Justizgrundrechte (gesetzliche Zuständigkeit, rechtliches Gehör und die Überprüfbarkeit des Urteils in einer höheren Instanz) müssen gewährleistet werden.

2.1.1.2 Sozialstaatsprinzip Das Sozialstaatsprinzip (Manger-Nestler & Gramlich, 2020, S. 27–30) wird aus Art. 20 ( 1) Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muss den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen. und Art. 28, Abs. 1, S. 1 abgeleitet. Im Kern geht es hierbei um ein Gebot der Fürsorge für schwächere, hilfsbedürftige und unmündige Personen bzw. Gruppen. Regionalpolitisch wird darunter auch die Zielsetzung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Raum gesehen bzw. die Verpflichtung abgeleitet, Deutschland als gesamtstaatliche Wirtschaftseinheit (Art.  72, Abs.  2) zu behandeln. Denkbar, und so auch vielfach formuliert, wird, dass sozialstaatlich begründete Grundversorgungspflichten zum Beispiel bei Energie, Wasser oder Nahverkehr bestehen. Als Teilgebiete des Sozialstaatsprinzips kann man die Gewährung des Existenzminimums (Art. 1, Abs. 1 und 2, Abs. 2) bzw. des Zugangs zu (Aus-) Bildungseinrichtungen ansehen. Hier greift dann die gesetzliche Schulpflicht (auch Art. 7) mit dem dann daraus folgenden Recht auf (gebührenfreien) Unterricht. Der Zugang insbesondere zur Hochschule kann begrenzt werden, falls die vorhandenen Kapazitäten nicht ausreichen (Numerus-Clausus). Finanziell überforderte Bevölkerungsgruppen kann als Ausfluss des Sozialstaatsprinzips ein Anspruch auf finanzielle Unterstützung gewährt werden, wie es mit dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) im Grundsatz erfolgt ist. Diskutiert wird auch, inwieweit aus diesem Prinzip eine staatliche Pflicht zur Daseinsvorsorge bzw. Grundversorgung (z.  B.  Gesundheitswesen, Not- und Katastrophenhilfe)

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besteht, für welche Bereiche dies dann gelten soll und wie sie konkret umgesetzt werden soll. Unstreitig folgt aus dem Sozialstaatsprinzip die Errichtung eines Sozialsystems, um die spezifischen Lebensrisiken (Bedürftigkeit im Alter, Krankheit, Pflegebedürftigkeit und Unfall, Arbeitslosigkeit, sowie wie Mutterschutz bzw. Elternschaft) (partiell) abzusichern. Möglicherweise genügt es auch, bestimmte Personenkreise zum Vorhalten eines Sozialversicherungsverhältnisses zu verpflichten (Sozialversicherungspflicht). Verbindungslinien bestehen auch zum Grundsatz der Koalitionsfreiheit (Art. 9, Abs. 3), wonach Arbeitnehmer über die Gestaltung des Arbeitsplatzes mitbestimmen dürfen (Betriebsräte, Mitbestimmung auf der Leitungsebene des Unternehmens) bzw. kollektiv die Lohnbedingungen über den Abschluss von Tarifverträgen aushandeln können.

2.1.1.3 Demokratieprinzip Das Demokratieprinzip (Manger-Nestler & Gramlich, 2020, S.  33  f.) fußt auf Art.  20, Abs. 1 und 2, S. 1. Die (mündigen) Staatsbürger bestimmen die in einer Gesellschaft geltenden Rechtsregeln durch Wahlen und Abstimmungen (Volksherrschaft), wobei allerdings die Minderheit die Möglichkeit behalten soll, ihre andere Auffassung auszudrücken, auch geschützt durch Meinungs- und Demonstrationsfreiheit. So bleibt auch denkbar, dass aus der heutigen Minderheit die morgige Mehrheit wird. In der Bundesrepublik Deutschland greifen vielgestaltige Organisations- und Verfahrensregeln, die die Volksherrschaft durch Wahlen konkretisieren. Wahlen finden meist indirekt statt, indem Parteien bzw. Politiker gewählt werden; nur selten und vor allem auf kommunaler Ebene wird über Sachfragen abgestimmt. Wahlen folgen dem Grundsatz einer allgemeinen, gleichen, freien, geheimen und unmittelbaren Wahl. Für den Bundestag und die Landtage gelten Fünfprozentklauseln, wonach nur Parteien mit mindesten fünf Prozent der abgegebenen Stimmen in die Parlamente einziehen dürfen. Kommunalvertretungen und das Europaparlament weisen keine solche Klauseln auf, auch weil dort nicht aus der Mitte des Gremiums heraus eine Regierungsbildung erfolgt. Der Deutsche Bundestag wird auf vier Jahre gewählt, mit Ausnahme von Bremen wurden die Wahlperioden in den Ländern auf fünf Jahre ausgedehnt. Der Bundeskanzler wird mit Mehrheit der gewählten, nicht nur der anwesenden Bundestagsabgeordneten gewählt (Kanzlermehrheit, Art. 63, Abs. 2); nur im dritten Wahlgang reicht eine relative Mehrheit, falls der Bundespräsident den Gewählten ernennt (Art. 63, Abs. 4). Die Mehrheit der gewählten Abgeordneten kann einen Bundeskanzler nur abwählen, indem sie mit Kanzlermehrheit einen Nachfolger wählt (konstruktives Misstrauensvotum, Art. 67). Der Bundeskanzler kann dem Bundestag die Vertrauensfrage stellen; verfehlt er diese, kann der Bundespräsident den Bundestag auflösen und Neuwahlen ansetzen (Art. 68). Gesetze werden grundsätzlich mit der Mehrheit des Bundestages (nur die der Anwesenden) und des Bundesrates beschlossen. Verweigert der Bundesrat seine Zustimmung, kann der Bundestag bei nicht-zustimmungspflichtigen Gesetzen mit „gleicher“ Mehrheit das Veto des Bundesrates zurückweisen. Bei zustimmungspflichtigen Gesetzen greift das Veto des Bundesrates durch, eine Einigung kann jedoch über den Vermittlungsausschuss erfolgen (Art.  76  f.). Gesetze, die eine Änderung des Grundgesetzes erfordern, benötigen eine Zweidrittelmehrheit der gewählten Abgeordneten des Deutschen Bundestages sowie eine Zweidrittelmehrheit der Stimmen im Bundesrat.

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2.1.1.4 Bundesstaatsprinzip Das Bundesstaatsprinzip (Manger-Nestler & Gramlich, 2020, S.  34–36) wird durch Art. 20, Abs. 1 und Art. 28, Abs. 1, S. 1 normiert. • Unmittelbar folgt daraus, dass mindestens zwei Länder existieren müssen; ein Einheitsstaat wäre somit auf der Basis des Grundgesetzes unzulässig. Insbesondere die unheilvollen Erfahrungen am Ende der Weimarer Republik („Preußenschlag“: Aushebelung der geschäftsführenden preußischen Landesregierung 1932 durch die Reichsregierung und „Nutzung“ der preußischen Polizeigewalt durch die Nationalsozialisten ab 1933) haben diese Staatsfundamentalnorm in ihrer Entstehung geprägt. • Das Bundesstaatsprinzip steht auch in unmittelbarer Nähe zur kommunalen Selbstverwaltung (Art. 28, Abs. 2). Art. 71 f. legen fest, welche Rechtsgebiete einer ausschließlichen oder konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz unterliegen. Ausschließlich bedeutet, dass nur der Bund den jeweiligen Sachverhalt per Gesetz regeln darf; bei einer konkurrierenden können die Länder Gesetze erlassen. Wird der Bund dort jedoch gesetzgeberisch tätig, verdrängt er die Landesgesetze. In der Regel liegt jedoch die Aus- und Durchführung der Gesetze bei den Ländern. Insbesondere in der politischen Praxis ist strittig, inwieweit sich die Länder in einem Wettbewerbsföderalismus zueinander befinden sollen, ob beispielsweise die Länder durch Steuerhoheit und Ausgabeverhalten versuchen sollten, finanzkräftige Steuerzahler oder ertragreiche Unternehmen anzuziehen. Das Konnexitätsprinzip (Art.  104a, Abs.  1) fordert, dass die (finanzwirksamen) Ausgaben nur von jener Gebietseinheit beschlossen werden, die auch dafür finanziell aufkommt (Bestellerprinzip: „Wer bestellt, zahlt auch.“). Mit der Schuldenbremse (Art. 115, Abs. 2), die im Rahmen der Föderalismusreform II in das Grundgesetz 2009 eingefügt wurde, wurde die Möglichkeit der Schuldenaufnahme des Bundes in Normalzeiten sehr beschränkt, die Länder dürfen jedoch seit 2020 keine neuen Schulden mehr aufnehmen. • Strittig und äußerst komplex ist der Länderfinanzausgleich, insbesondere die „Zahlerländer“ fordern immer wieder Reformen und setzen sie auch partiell durch (Art. 106 f.). Tendenziell werden die Zahlungen zwischen den Ländern zunehmend verringert, teilweise schließt der Bund die entsprechend Lücke. Weniger öffentlichkeitswirksam umstritten ist der Finanzausgleich zwischen den Ländern und den Gemeinden. • Eine Neugliederung der Länder ist grundgesetzlich zulässig, wenn die Neugliederung im Rahmen von Volksabstimmungen befürwortet werden (Art.  118). Zu Beginn der Bundesrepublik bestand durchaus die Erwartung, dass sich hier eine Tendenz zu Fusionen ergeben würde. Allerdings kam es nur in Baden-Württemberg 1952 zum Zusammenschluss der Länder Südbaden, Nordbaden/Nordwürttemberg und Südwürttemberg/Hohenzollern; die Fusion des Stadtstaates Berlin mit dem Flächenland Brandenburg scheiterte in den 1990er-Jahren in einer Volksabstimmung.

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2.1.1.5 Republik Die Staatsfundamentalnorm Republik (Manger-Nestler & Gramlich, 2020, S.  36) ist in Art. 20, Abs. 1 und Art. 28, Abs. 1, S. 1 niedergelegt. Mit der Ausrufung der Republik am 09.11.1918 wurde die Monarchie des Hohenzollernhauses abgeschafft. Auf der Basis des Grundgesetzes wäre eine Rückkehr zur Monarchie nicht denkbar. Materiell mag man mit dieser Norm auch die Zielvorstellung verbinden, dass den Bürgern eine uneingeschränkte Mitsprache der Bürger für ihre Angelegenheiten zugesprochen wird.

2.1.2 Wirtschaftliche relevante Grundrechte Neben den Staatsfundamentalnormen kommen für eine wirtschaftsverfassungsrechtliche Prägung der Bundesrepublik die Grundrechte der ersten 20 Artikel des Grundgesetzes in Frage. Plustext 2.1: Funktionen der Grundrechte (Manger & Nestler, S. 36–45) Grundrechte können verschiedene Funktionen übernehmen:

• Als Abwehrrecht (status negativus) schützt das Grundrecht den Einzelnen gegen übermäßige staatliche Eingriffe. Der Bürger kann sich vor Gericht gegen eine unzulässige Beeinträchtigung des eigenen Lebens bzw. der eigenen Lebensgestaltung durch den Staat erwehren (Abwehrrecht im bilateralen Verhältnis). Im Normalfall kann dieses Abwehrrecht nicht direkt auf Privatrechtsverhältnisse übertragen werden (keine unmittelbare Drittwirkung), freilich spielen die Grundrechte bei der Auslegung von Normen eine Rolle (s.  u.: wertentscheidende Grundsatzentscheidungen). Eine unmittelbare Drittwirkung muss durch das Gesetz explizit angeordnet sein, bisher ist dies nur bei der Koalitionsfreiheit (Art. 9, Abs. 3) geschehen. Aus diesem Abwehrrecht folgen aber keine Rechte gegenüber dem Staat dahingehend, dass der Staat bestimmte Leistungen „ausschütten“ oder bestimmte Teilhaberechte gewährleisten muss. Das Grundrecht auf Sicherung des Existenzminimums wird erst durch das einfachgesetzliche Sozialhilferecht gewährleistet. • Mitwirkungsrechte (status activus) stellen Einflussmöglichkeiten am demokratischen Willensbildungsprozess sicher (Staatsbürgerrechte). Grundsätze, wie man an Wahlen teilnehmen darf, fallen hierunter. • Aus einer objektiv-rechtliche Dimension folgt eine Einrichtungsgarantie für bestimmte Rechtsinstitute. Privates Eigentum, das Erbrecht oder das Tarifvertragssystem dürfen beispielsweise nicht aufgehoben werden. • Aus Grundrechten können sich wertentscheidende Grundsatzentscheidungen ergeben, wie z. B. der Berufsbetätigung (Art. 12) oder zum Eigentumsgebrauch (Art. 14), was dann zu Ausstrahlungseffekten in das Öffentliche Recht und das Zivilrecht führt. Die Grundrechte können objektiv-rechtliche Maßstäbe für staatliche Einrichtungen und Verfahren generieren. Bei den einzelnen Grundrechten sind meist mehrere Funktionen betroffen.

Die Grundrechtsprüfung erfolgt im Allgemeinen unter dem Dreiklang „Schutzbereich, Eingriff und verfassungsrechtliche Rechtfertigung“. Im Schutzbereich kommt es auf den persönlichen (wer ist Träger des Grundrechts? Natürliche und juristische Personen

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(z.  B.  AG oder GmbH)) oder den sachlichen Schutzbereich (welche Tätigkeiten, Verhaltensweisen oder Rechtsgüter werden geschützt?)) an. Für die Frage des Eingriffs ist entscheidend, wie weitreichend bzw. mit welcher Intensität der Staat eingreift. Das Verfassungsgericht entwickelt daraus die Kriterien, dass der Eingriff der hoheitlichen Sphäre zurechenbar sein muss, die Folgen des Eingriffs müssen typisch bzw. vorhersehbar sein, die Einengung des geschützten Freiheitsbereichs muss eine schwere, unzumutbare Beeinträchtigung darstellen (hinreichend intensiv). Die verfassungsrechtliche Rechtfertigung stellt voran, dass Grundrechte nicht grenzenlos zugewiesen werden, sondern Einschränkungen unterliegen („Schranken“). Es muss zu einer Abwägung der Einschränkung des individuellen Grundrechts mit den Grundrechten anderer oder anderer Verfassungsbestimmungen kommen (praktische Konkordanz), wobei die Anwendung der Schranke erneut einer Verfassungsmäßigkeitsprüfung zu unterziehen ist (Schranken-Schranken). Neben der formellen Verfassungsmäßigkeit (Schranke nach einfachen/qualifizierten Gesetzesvorbehalt) kommt es auf die materielle Verhältnismäßigkeit an, die u. a. prüft, ob ein legitimer Zweck verfolgt wird, ob die Maßnahme geeignet ist (generelle Zwecktauglichkeit), ob sie als erforderlich angesehen werden kann (geringstmöglicher Eingriff) bzw. ob sie angemessen (verhältnismäßig i. e. S.; zumutbar für den Einzelnen im Verhältnis zur verfolgten Zweck-Mittel-Relation) ist.

2.1.2.1 Berufsfreiheit Das Grundrecht der Berufsfreiheit (Manger-Nestler & Gramlich, 2020, S. 45–49) ist geregelt in Art. 12 ( 1) Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen. Die Berufsausübung kann durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes geregelt werden. Berufsausübung bzw. Arbeitsaufnahme stellen für den Einzelnen regelmäßig eine Lebensaufgabe dar und werden zur Lebensgrundlage. Insofern ist für ihn fundamental, ein individuelles Abwehrrecht gegen hoheitliche Maßnahmen zu haben, welche die berufliche Freiheit einschränken. Objektiv-rechtlich ergeben sich staatliche Schutzpflichten zur Förderung des Arbeits- und Berufslebens, um missbräuchliches Verhalten „übermächtiger Privatpersonen“ zu verhindern. Als Organisations- und Verfahrensrecht räumt Art.  12, Abs.  1 nicht unerhebliche Beurteilungsspielräume ein, z.  B. bei der Kontrolle von Prüfungsentscheidungen. Der Schutzbereich des Art. 12, Abs. 1 ist personell als Deutschengrundrecht anzusehen, was im Europäischen Binnenmarkt gleichermaßen für Unionsbürger greift. Sachlich wird die Berufswahl (S. 1) sowie die Berufsausübung (S. 2) geschützt, ohne eine klare Trennung zwischen beiden Bereichen ziehen zu können. Die Rechtsprechung verlangt eine gewisse Dauerhaftigkeit der Berufstätigkeit, allerdings sind auch gelegentliche Tätigkeiten umfasst, nicht jedoch reine Liebhaberei. Der Beruf soll eine Lebensgrundlage schaffen

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bzw. erhalten, nebenberufliche Tätigkeiten fallen ebenfalls unter den Schutzbereich, und es reicht aus, dass die Lebensgrundlage als Ziel angestrebt wird. Berufsfreiheit schützt auch die Betätigung im Wettbewerb, allerdings nicht die Wettbewerber vor dem Auftreten von Konkurrenz.

Kasten 2.1: Apothekenurteil 1958 (BVerfG 7, 377)

Sachverhalt: Der seit 1940 approbierten Apotheker Karl-Heinz R. war nach seiner Rückkehr aus dem Zweiten Weltkrieg Verwalter, später Staatspächter einer Apotheke in der sowjetischen Besatzungszone. 1955 verließ er diese Zone und wurde in einer Apotheke in Traunstein als Apotheker angestellt. Im Sommer 1956 beantragte er bei der Behörde die Erteilung einer Betriebserlaubnis, um in Traunreut eine eigene Apotheke zu eröffnen. Die Regierung von Oberbayern verweigerte 1956/57 die Betriebserlaubnis. Der Apotheker klagte vor dem BVerfG auf die Erteilung der Betriebserlaubnis, da die Verweigerung derselben eine Verletzung seiner Berufsfreiheit nach Art. 12, Abs. 1 Grundgesetz darstelle. Gründe: Nach dem bayerischen Apothekengesetz (ApothekenG) musste eine behördliche Erlaubnis vorliegen, um eine neue Apotheke aufzumachen, eine geschlossene wieder zu eröffnen oder eine bestehende übernehmen zu können. Die Betriebserlaubnis wurde nur erteilt, wenn der Antragsteller approbiert und Deutscher war, wenn er für eine gewisse Zeit als approbierter Apotheker tätig war und als persönlich zuverlässig bzw. geeignet gelten konnte. Nach § 3, Abs. 1 dieses Gesetzes wurde für neue Apotheken geprüft, ob diese neue „zur Sicherung der Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln im öffentlichen Interesse liegt“, die wirtschaftlichen Grundlagen der neuen Apotheke gesichert sind, ohne dabei die wirtschaftlichen Grundlagen der benachbarten Apotheken soweit zu beeinträchtigen, dass ein ordnungsgemäßer Apothekenbetrieb nicht mehr möglich wäre. Die Behörde hatte auch die Möglichkeit, die Betriebserlaubnis mit der Auflage zu verbinden, die Apotheke an einem anderen Ort zu errichten. Die Regierung von Oberbayern führte in ihrem ablehnenden Bescheid aus, dass von einer Apotheke in Traunreut etwa 6000 Menschen mit Arzneimitteln zu versorgen seien, die bereits vorhandene Apotheke sei hier völlig ausreichend. Die Behörde ging von 7–8000 Einwohner je Apotheke aus, um die wirtschaftliche Mindestgröße zu erreichen. Wirtschaftlich gefährdete Apotheker seien geneigt, eher nicht-­ verschreibungspflichtige Medikamente abzugeben und Opiate „fahrlässig“ Patienten zu überlassen. Auch müsse der Antragsteller davor bewahrt werden, eine nicht-­ lebensfähige Apotheke aufbauen zu wollen. Der grundgesetzliche Wesensgehalt des Art. 12, Abs. 1 GG sei ebenfalls nicht verletzt, da jeder Apotheker eine der mehr als 1300 bayerischen Apotheken kaufen, pachten oder in eine Personengesellschaft eintreten könne. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts war die entscheidende

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Frage, ob ohne die Niederlassungsbeschränkungen des bayerischen Apothekengesetzes die Arzneimittelversorgung wahrscheinlich so gestört würde, dass die Volksgesundheit gefährdet wäre. Zunächst betonte das Gericht, dass in vielen vergleichbaren Ländern eine Niederlassungsfreiheit bestehe, ohne dass die Volksgesundheit erkennbar gefährdet sei. Gerade in Europa gäbe es wissenschaftlich vorgebildete Apotheker mit strengen Berufspflichten und staatlich festgesetzten Preisen; die Verbrauchsgewohnheiten seien ähnlich und überall gäbe es die Tendenz, durch die Apotheker selbst gemischte Medikamente durch industriell verpackte Medikamente zu ersetzen. Auch in den herangezogenen Ländern stünden die Apotheken in gewisser Konkurrenz zu Drogerien oder anderen, ähnlich ausgerichteten Verkaufsstellen. In der vertieften Analyse für Deutschland, insbesondere für Bayern, sah das Gericht keine Gefahr einer starken Zunahme von vor Ort tätigen Apotheken: • Die zu diesem Zeitpunkt vorherrschende Anzahl von Apotheken sei nach Sachverständigenurteil mit einem erträglichen Verhältnis zwischen Apothekenanzahl und zu versorgender Bevölkerung verbunden; neu errichtete Apotheken würden nicht binnen kurzer Zeit wieder geschlossen, Apothekenkonkurse waren nicht feststellbar und nur in Ausnahmefällen kamen einzelne Betriebe in die Nähe der Konkursreife. Bei der Zulassung von neuen Apotheken würden die „Gründer“ sehr wohl die Risiken des wirtschaftlichen Scheiterns berücksichtigen, sie würden Marktanalysen durchführen, auch unter Einschaltung der Apothekervereine und -kammern sowie der Behörden. Ferner sei die Eröffnung einer neuen Apotheke mit erheblichen Investitionsbedarf (etwa zwischen 50.000 und 75.000 DM) verbunden und das Vorhandensein der notwendigen Geräte und Einrichtungen würde durch die Behörde vorab geprüft. Ferner sah das Gericht keinen großen Pool an approbierten Apotheker, die darauf warteten, in Bayern eine neue Apotheke zu eröffnen. • Selbstverständlich sei zu erwarten, dass unter einer Niederlassungsfreiheit mehr Apotheken in großen Städten existieren würden als auf dem Land oder in Kleinstädten. Es sei aber nicht zu erkennen, dass neu eintretende Apotheken die relativen Chancen in diesen Regionen systematisch falsch einschätzen würden. • Das Gericht vertrat die Ansicht, dass die Gefahren der „hemmungslosen Vermehrung“ von Apotheken überschätzt würde. Betriebswirtschaftliche Rentabilitätsschwellen seien nicht so einfach objektiv bestimmbar. Gerade für die sogenannten Einmann-Apotheken seien die wirtschaftlichen Verhältnisse sehr unterschiedlich. Die sich anschließende Gefahr, dass eine ansteigende Anzahl von Apotheken die Berufsmoral der vorhandenen Apotheker untergrabe, wurde nicht gesehen, da in vielen anderen Berufen ebenfalls Konkurrenz bestehe, ohne dass die Berufsmoral daran zerbreche. Moralisches Fehlverhalten könne auch in

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geschützten Märkten auftreten. Der Gesetzgeber könne auch Berufsausübungsregeln erlassen, die in Auslegung des Art.  12, Abs.  1 weitaus weniger in die Berufsfreiheit eingreifen und daher relativ leicht die Hürde der Verfassungsmäßigkeit überspringen können. • Das Problem des Inverkehrbringens von gesundheitsgefährdenden Medikamenten, insbesondere von Suchtpräparaten, sei besser über die Zulassung von Medikamenten bzw. der Ausgestaltung der Regeln zur Apothekenpflichtigkeit zu bekämpfen. In der Summe verneinte das BVerfG, dass die mit dem ApothekenG verfolgte Beschränkung der Niederlassungsfreiheit mit hinreichend wahrscheinlichen Gründen der Gefährdung des Rechtsgutes „Volksgesundheit“ belegt worden sei. Entscheidung: Mit diesem Urteil hob das BVerfG zwei Bescheide der Regierung von Oberbayern aus den Jahren 1956 und 1957 auf, in denen die Behörde, gestützt auf § 3 I des ApothekenG, verfügt hatte, dass die Eröffnung der geplanten Apotheke nicht im öffentlichen Interesse sei bzw. keine ausreichende wirtschaftliche Grundlage für diese Apotheke vorliege. Für den Beschwerdeführer wurde daher keine Möglichkeit eingeräumt, die gewünschte Apotheke zu betreiben. Das Verfassungsgericht sah keine hinreichende Begründung für eine wahrscheinliche Gefährdung der Volksgesundheit, die eine einschneidende Beschränkung der Niederlassungsfreiheit rechtfertige; die Verweigerung der Betriebserlaubnis sei als einen verfassungswidrigen Verstoß gegen Art. 12, Abs. 1 zu werten, die Regierung von Oberbayern habe daher die Zulassung zu erteilen.

Für die verfassungsrechtliche Prüfung von Eingriffen in die Berufsfreiheit hat das BVerfG mit dem Apothekenurteil die sogenannte Drei-Stufen-Theorie entwickelt. Mit ansteigender Intensität postuliert das Gericht die Unterteilung in Berufsausübungsregeln (1. Stufe), subjektive Zulassungsbeschränkungen (2. Stufe) sowie objektive Zulassungsbeschränkungen (3.  Stufe). Für eine Beschränkung auf der ersten Stufe genügen vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls, für die zweite muss der Schutz wichtiger Gemeinschaftsgüter ins Feld geführt werden können und für die dritte müssen überragend wichtige Gemeinschaftsgüter gegen nachweisbare oder höchstwahrscheinlich schwere Beeinträchtigungen geschützt werden.

2.1.2.2 Eigentumsfreiheit Das Grundrecht der Eigentumsfreiheit (Manger-Nestler & Gramlich, 2020, S. 49–54) gewährleistet

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Art. 14 (1) Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt. (2) Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allge­ meinheit dienen. (3) Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig. Sie darf nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes erfolgen, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt. Die Entschädigung ist unter gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten zu bestimmen. Wegen der Höhe der Entschädigung steht im Streitfalle der Rechtsweg vor den ordentlichen Gerichten offen. Neuerdings mit der Berliner Enteignungsinitiative für große private Wohnungsunternehmen ist der Sozialisierungsartikel nach Art. 15 wieder in die öffentliche Diskussion geraten. Art. 15 Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden. Für die Entschädigung gilt Art. 14, Abs. 2, S. 3 und 4 entsprechend. Art.  12 schützt die Möglichkeit des Einzelnen, seine individuellen Erwerbsmöglichkeiten auszuspielen (schützt den „Erwerb“), dagegen sichert Art. 14 die Verwendung von Vermögen, das „Erworbene“, ab. Insofern geht es um den individuellen Schutz von vermögenswerten Rechten und Rechtspositionen, seien sie aufgrund der Nutzung der Privatautonomie erworben oder ererbt worden. Elementare Bestände vermögensrechtlicher Bereiche der Privatrechtsordnung unterliegen einer sogenannten Institutsgarantie, wonach sie nicht zur Gänze abgeschafft werden dürfen; z. B. keine Einziehung aller Sparguthaben durch den Staat. Die Sozialisierung des Art.  15 als Vergesellschaftung dürfte praktisch eine sehr begrenzte Anwendbarkeit haben, allein schon, weil eine Vergesellschaftung eine Entschädigungspflicht nach sich ziehen würde. Das Grundrecht der Eigentumsfreiheit steht in seinem personellen Schutzbereich jedermann zu, eine Eingrenzung auf Deutsche findet also nicht statt. Auch juristische Personen des Privatrechts, nicht jedoch die des öffentlichen Rechts, unterliegen dem Schutzbereich des Art.  14. Juristische Personen des öffentlichen Rechts bleiben bei dem Schutz aus Art. 14 außen vor, weil der Staat ansonsten einerseits geschützt, andererseits gegebenenfalls zum Ersatz verpflichtet wäre. Sachlich werden konkrete, vermögenswerte Rechte wie Eigentum, Besitz, schuldrechtliche Ansprüche, etc. geschützt. Öffentlich-rechtliche Ansprüche und Anwartschaften unterfallen nur dem Schutzbereich dieses Grundrechtsartikels, wenn sie durch eigene Leistung wie z. B. entrichtete Beiträge erworben wurden (nicht davon zwingend abgedeckt ist die Frage, wie hoch die Ansprüche dann sind). Ferner

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schützt das Grundgesetz nicht den Wert des Vermögens, sondern die dahinterstehende Rechtsposition: Der Eigentumsanteil an der Aktie ist geschützt, natürlich nicht der Kurswert bei Veräußerung. Noch rechtlich ungeklärt ist, ob die Gesamtheit eines konkreten Gewerbebetriebes (Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb) grundrechtlich geschützt ist. Für die Fragen des Eingriffs und der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung unterscheidet das Grundgesetz zwei Formen des Eingriffs: Die Inhalts- und Schrankenbestimmung nach Art. 14, Abs. 1, S. 2 und Abs. 2 sowie die Enteignung nach Art. 14, Abs.  3. Mit dem Naßauskiesungsbeschluss folgte das BVerfG der sogenannten Trennungstheorie, dass beide Eingriffe in einem Alternativverhältnis zueinanderstehen; die Verwaltung muss sich somit vorab entscheiden, welchen Weg man zu beschreiten gedenkt. Die nach Art.  14, Abs.  1, S.  2 und Abs.  2 vorzunehmende Inhalts- und Schrankenbestimmung setzt voraus, dass der normausfüllende Schutzbereich der Eigentumsfreiheit durch Hoheitsakt umrissen ist und daraus sich abstrakt-generelle Regelungen von Rechten bzw. Pflichten ergeben. Der Eingriff in oder die Verkürzung der Eigentumsposition muss ein Nebenfolge sein. Sowohl bei der Inhalts- als auch bei der Schrankenbestimmung wird dem Gesetzgeber einen erheblichen Prognose- und Beurteilungsspielraum zugebilligt. Bei der Frage der Verhältnismäßigkeit kommt es auf die Abwägung zwischen Privatnützigund Sozialpflichtigkeit an. Der Gesetzgeber darf umso mehr eingreifen, je mehr das Eigentumsobjekt einen sozialen Bezug aufweist. Aufgrund der Sozialbindung des Eigentums (Art.  14, Abs.  2) sind dann die Eingriffe entschädigungslos hinzunehmen, nur bei besonderen Härten (Belastung des Einzelnen wäre nicht mehr angemessen/unverhältnismäßig; Sonderopfer) kommt es zu einer Entschädigung; nur in atypischen Einzelfällen wäre die Entschädigung eine Ultima Ratio.

Kasten 2.2: Mitbestimmung 1979 (1 BvR 532/77; 1 BvR 533/77, 1 BvR 419/78; 1 BvL 21/78)

Sachverhalt: Das mit großer Mehrheit im Deutschen Bundestag 1976 verabschiedete Mitbestimmungsgesetz (MitBestG) wurde von drei Gruppen als verfassungswidrig angesehen und im Rahmen von Verfassungsbeschwerden dem BVerfG vorgelegt. Beschwerdeführer I waren Aktiengesellschaften (AGs) und Gesellschaften mit beschränkter Haftung (GmbHs), die meist mehr als 2000 Arbeitnehmer beschäftigten, teilweise befand sich das Grundkapital der betroffenen Gesellschaften in Streubesitz, teilweise waren es ausschließlich Familienunternehmen oder zumindest mehrheitlich im Familienbesitz befindliche Unternehmen. Ferner waren einige der beschwerdeführenden Unternehmen an Konzerngesellschaften beteiligt, für die wiederum das MitBestG galt. Beschwerdeführer der Gruppe II waren tariffähige Arbeitgebervereinigung aus der Metallindustrie, der chemischen Industrie sowie aus dem

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Banken- und Versicherungssektor. Meist waren die klagenden Unternehmen der Gruppe II unmittelbar mitbestimmte Unternehmen und hatten maßgeblichen Einfluss auf die Tarif- und Verhandlungskommissionen der Arbeitgeberseite. Beschwerdeführer I und II stützen sich auf ein Rechtsgutachten der Professoren Badura, Rittner und Rüthers („Kölner Gutachten“). Die Deutsche Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz beteiligte sich als Beschwerdeführer III am Verfahren. Sachlich gilt das MitBestG für AGs, Kommanditgesellschaften auf Aktien (KGaAs), GmbHs und bergrechtlichen Gewerkschaften, falls diese mehr als 2000 Beschäftigte aufweisen. Ausgeschlossen von diesem Gesetz sind auch Unternehmen, die der Montanmitbestimmung unterlegen. Für Unternehmen, auf die weder das MitbestG noch die Montanmitbestimmung anwendbar ist, gelten ausschließlich die Regeln des Betriebsverfassungsgesetzes. Das MitBestG sieht ein Aufsichtsrat vor, der zur Hälfte von den Anteilseignern bestimmt wird, die andere Hälfte kommen von den Arbeitern und Angestellten des mitbestimmten Betriebes, inklusive der leitenden Angestellten. Die Arbeitnehmervertreter müssen zu einem bestimmten Anteil aus den betroffenen Gewerkschaften kommen, das zahlenmäßige Verhältnis von Arbeitern und Angestellten im Unternehmen muss sich auch im Aufsichtsrat widerspiegeln; mindestens ein Arbeiter, ein Angestellter und ein leitender Angestellter muss Mitglied des Aufsichtsrates sein. Der Vorsitzende des Aufsichtsrates wird aus der Mitte des Aufsichtsrates gewählt; im ersten Wahlgang müssen Vorsitzender und Stellvertreter zwei Drittel der Stimmen erreichen. Gelingt dies nicht, wählen die Anteilseigner den Vorsitzenden und die Arbeitnehmer den Stellvertreter. Für Beschlüsse des Aufsichtsrates kommt es im Normalfall auf die Mehrheit der abgegebenen Stimmen an, bei Stimmengleichheit zählt die Stimme des Vorsitzenden doppelt. Der für Personalangelegenheiten zuständige Arbeitsdirektor wird ebenfalls mit Mehrheit des Aufsichtsrates gewählt; für seine Bestellung kann also die Gesamtheit der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat eine wirksame Vetoposition einnehmen. Gründe: Die Beschwerdeführer I und III sahen sich in ihren Grundrechten bezüglich der Eigentumsgarantie (Art.  14, Abs.  1), der Vereinigungsfreiheit (Art.  9, Abs. 1), der Berufsfreiheit (Art. 12, Abs. 1) und der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art.  2, Abs.  1) beeinträchtigt. Mit der Mitbestimmungsregel würden Eigentumspositionen in einer Weise geschmälert, ohne dies aus der Privatnützigkeit des Eigentums ableiten zu können. Die Vereinigungsfreiheit würde verletzt, weil die freie Bildung des Gesellschaftswillens unzulässig eingeschränkt würde. Die unternehmerischen Beschwerdeführer aus Gruppe I sahen ihre Gewerbe- und Unternehmerfreiheit als Teil der Berufsfreiheit verfassungswidrig beschnitten. Alle Beschwerdeführer führten an, dass die aus der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2, Abs. 1 abzuleitende Wirtschaftsfreiheit in nicht gerechtfertigter Weise reduziert würde.

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Das Bundesverfassungsgericht griff den Begriff der Parität auf, wonach im Verhältnis zweier Partner keiner eine von ihm gewünschte Entscheidung ohne die Zustimmung der anderen erzwingen kann. Das angegriffene MitBestG bliebe unterhalb dieser Parität, da im Aufsichtsrat zunächst eine Einigung zwischen den verschiedenen Vertretern angestrebt wird, im Konfliktfall sich jedoch über die zweite Stimme des Aufsichtsratsvorsitzenden, der ja aufgrund der Wahlregeln im zweiten Wahlgang nicht gegen den Willen der Anteilseigner in sein Amt kommen kann, die Seite der Anteilseigner durchsetzen kann. Der im Rahmen der Verfassungsbeschwerde vorgebrachte Kaskadeneffekt, wonach sich der Einfluss der Anteilseigner über „Konzern/konzernabhängiges Unternehmen“ unzulässiger Weise noch weiter verdünne, wies das Gericht zurück. Den Anteilseigner stünden auf jeder Stufe die Möglichkeit zu, maßgeblichen Einfluss durchzusetzen. Auch das Nebeneinander von Betriebsverfassungsgesetz und MitBestG greife die Eigentumsgarantie nicht weiter an, da unterschiedliche Sachverhalte in beiden Gesetzen der arbeitnehmerseitigen Teilhabe zugeführt würden. Auch für die übrigen Grundrechte sah das Gericht keine Verfassungswidrigkeit. Entscheidung: Das Bundesverfassungsgericht sah das MitBestG vom 4.  Mai 1976 mit den Grundrechten der Gesellschafter, der Anteilseigner und den Möglichkeiten der Arbeitgeber, Koalitionen bilden zu können, vereinbar. Mit dieser Entscheidung trat letztendlich eine Befriedungswirkung ein, als die Frage der Mitbestimmung weitgehend aus der politischen Kontroverse verschwunden ist.

Bei der Enteignung nach Art. 14, Abs. 3 geht es um einen vollständigen oder teilweisen Entzug individueller Eigentumspositionen, um öffentliche Aufgaben zu erfüllen. Der Entzug kann entweder per Gesetz (S. 1, Legalenteignung) oder aufgrund eines Gesetzes (S. 2, Administrativenteignung) erfolgen. Für die verfassungsrechtliche Rechtfertigung kommt es auf eine (parlaments-)gesetzliche Grundlage an. Die Enteignung muss aus Gründen des Gemeinwohls erfolgen, das Gesetz muss die Art und das Ausmaß der Entschädigung enthalten (Junktim-Klausel), und die Enteignung muss verhältnismäßig sein (Übermaßverbot). Die Enteignung ist als Ultima Ratio staatlichen Handelns anzusehen.

2.1.2.3 Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit Die Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit (Manger-Nestler & Gramlich, 2020, S. 54–56) folgt aus Art. 9 ( 1) Alle Deutschen haben das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden. (3) Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig,

2.1  Wirtschaftsverfassung in Deutschland

53

hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig. Maßnahmen nach den Artikeln 12a, 35 II und III, Artikel 87a IV und Artikel 91 dürfen sich nicht gegen Arbeitskämpfe richten, die zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen von Vereinigungen im Sinne des Satzes 1 geführt werden. Die Abs. 1 und 3 schützen jeweils das Recht, Vereinigungen zu bilden. Beide Rechte sind als sogenannte Doppelgrundrechte ausgelegt: Sie schützen sowohl die individuelle Ausübung des Grundrechts als auch die Ausübung im Kollektiv. Mit dem Abs. 1 wird gewährleistet, dass Vereine und Gesellschaften gebildet werden können, mit dem Abs. 3 wird die Bildung von Koalitionen, also von Vereinen mit speziellem Vereinigungszweck, zugesagt. Mit der Vereinigungsfreiheit nach Art. 9, Abs. 1 wird es Deutschen ermöglicht, Vereine und Gesellschaften zu bilden, die sich auf den wirtschaftlichen und nicht-wirtschaftlichen Bereich beziehen können. Im Hinblick auf den wirtschaftlichen Bereich geht es um die Gründung von Personen- und Kapitalgesellschaften, handels- bzw. gesellschaftsrechtliche Rechtsformen werden somit ermöglicht. Wiederum sind juristische Personen des öffentlichen Rechts, zum Beispiel Anstalten, Stiftungen oder Körperschaften, von diesem Grundrecht ausgeschlossen, weil der öffentlichen Hand ein individuelles Abwehrrecht nicht zustehe. Als Individualgrundrecht garantiert es einzelnen Personen Vereinigungen zu gründen, in ihnen zu wirken und darin zu verbleiben (positive Vereinigungsfreiheit). Mit der negativen Vereinigungsfreiheit wird zugesichert, privatrechtlichen Vereinigungen fernzubleiben oder sie wieder zu verlassen. Darüber hinaus kann die Vereinigung selbst das Grundrecht zur Bildung einer Vereinigung ausüben (Kollektivgrundrecht). Mit dem Grundrecht der Koalitionsfreiheit nach Art. 9, Abs. 3 werden Aktivitäten zur „Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbeziehungen“ geschützt. Unter Koalitionen werden Vereinigung verstanden, die gegnerfrei bzw. gegnerunabhängig agieren können und wohl überbetrieblich organisiert sein müssen; letzteres sei erforderlich, um die spezifischen Belange (den Vereinigungszweck) verfolgen zu können. Die Koalitionsfreiheit steht jedermann zu, also auch Nichtdeutschen. Wiederum gibt es ein Individualgrundrecht als positive und negative Vereinigungsfreiheit, also der Koalition beizutreten oder es zu lassen. Auf kollektiver Ebene gehört auch dazu, Tarifverträge abzuschließen, sich nach außen darzustellen sowie Arbeitskampfmaßnahmen (Streiks und Aussperrungen) zu ergreifen. Alle drei Staatsgewalten müssen dafür Sorge tragen, dass dieses Grundrecht ausgeübt werden kann. Ferner wird durch den Wortlaut des Artikels die Koalitionsfreiheit auf das Verhältnis von Privatrechtsubjekten übertragen, ohne dass durch Privatrechtsvereinbarung diese Freiheit ausgeschlossen werden könnte (unmittelbare Drittwirkung). Verfassungsimmanente Schranken könnten vorliegen, wenn Grundrechte Dritter (Aufrechterhaltung lebenswichtiger Einrichtungen, Berufsbeamtentum) unverhältnismäßig beeinträchtigt würden.

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2  Wirtschaftsverfassung und ökonomische Theorie der Verfassung

2.1.2.4 Allgemeine Handlungsfreiheit Als Auffanggrundrecht findet sich die Allgemeine Handlungsfreiheit (Manger-Nestler & Gramlich, 2020, S. 56–58) im: Art. 2 ( 1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt. Kurz gesagt gilt, dass mit der allgemeinen Handlungsfreiheit jeder tun und lassen kann, was er will. Diese allgemeine Handlungsfreiheit steht natürlichen Personen, Personenvereinigungen des Privatrechts und privatrechtlichen Unternehmen mit staatlichen Anteilseignern zu, wenn keine öffentliche Aufgabe wahrgenommen wird oder keine maßgebliche staatliche Beteiligung vorliegt. Ökonomisch geht es um die wirtschaftliche Betätigungsund Entfaltungsfreiheit, insbesondere um die Vertragsfreiheit (Verträge abzuschließen oder nicht, Verträge in ihrer Form, in ihrem Inhalt und ihrer Gestalt in zivilrechtlichen Angelegenheiten frei zu bestimmen), die Unternehmensfreiheit (Unternehmen zu gründen, zu verändern, zu schließen und in angemessener Weise unternehmerisch aktiv zu werden) und die Wettbewerbsfreiheit (in einem freien, unverfälschten und ohne ungerechtfertigte staatliche Eingriffe beschränkten Wettbewerb agieren zu können). Selbstverständlich geht es auch um die Freiheit der informationellen Selbstbestimmung im Wirtschaftsverkehr (Datenschutz). Als Eingriff ist jede staatliche Maßnahme, also belastende Ge- und Verbote der öffentlichen Hand, anzusehen, wenn es sich um eine Beeinträchtigung von erheblichem Gewicht handelt. Verfassungsrechtlich sind Beschränkungen der allgemeinen Handlungsfreiheit zulässig, wenn sie unter dem zweiten Halbsatz des Artikels, der ­sogenannten Schrankentrias, fallen: Die Rechte anderer werden verletzt oder ein Verstoß gegen die verfassungsmäßige Ordnung bzw. das Sittengesetz liegt vor. Schranken der Schranken sind dabei jedoch zu beachten, d. h. der Wesensgehalt des Grundrechts muss erhalten bleiben (19, Abs. 2) und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (legitimer Zweck, Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit der Schranke) muss gewahrt werden.

2.1.2.5 Allgemeiner Gleichheitssatz Der Allgemeine Gleichheitssatz (Manger-Nestler & Gramlich, 2020, S. 58–60) steht in Art. 3 ( 1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. (2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin. (3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.

2.1  Wirtschaftsverfassung in Deutschland

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Mit diesem Artikel soll Ungleichbehandlungen durch die öffentliche Gewalt verboten werden bzw. nur bei Vorliegen besonderer Voraussetzungen eine Ungleichbehandlung zugelassen werden. Der Abs. 1 wird als allgemeiner Gleichheitssatz bezeichnet, die Abs. 2 und  3 stellen spezielle Gleichheitsgrundrechte dar. Im Wirtschaftsverkehr geht es vor allem um den Abs.  1, wonach es um eine Gleichbehandlung geht, wenn Wirtschaftssubjekte zueinander in einer Konkurrenz- oder Wettbewerbssituation stehen. Beispielsweise wenn begrenzte Zugangsrechte (Kontingente) vergeben, knappe Güter auktioniert oder Subventionen gewährt werden. Abs. 1 stellt alle natürlichen Personen und alle juristischen Personen des Privatrechts unter Schutz. Sachlich geht es darum, wesentlich Gleiches gleich bzw. wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Die Gleichheit von Personen oder Gruppen liegt vor, wenn sie einen gemeinsamen Bezugspunkt aufweisen oder einem gemeinsamen Oberbegriff (Vergleichsgruppe) zugeordnet werden können. Anders als bei den übrigen Grundrechten mit der Prüffolge „Schutzbereich, Eingriff und verfassungsmäßige Rechtfertigung“ ist hier materiell allein zu prüfen, ob ein sachlicher Grund für die Ungleichbehandlung vorliegt. Es muss also ein sachlich einleuchtender Grund vorhanden und damit eine willkürliche Abgrenzung ausgeschlossen sein. Ein sachlicher Grund ist gegeben, wenn der differenzierende Rechtsakt, das Gesetz oder der Verwaltungsakt, ein verfassungslegitimes Differenzierungsziel verfolgt, ein Differenzierungskriterium vorhanden ist und die Beziehung zwischen Ziel und Zweck als verhältnismäßig (geeignet, erforderlich und angemessen) angesehen werden kann.

2.1.2.6 Umweltschutz Mit dem Art. 20a wurde als neues Staatsziel der Umweltschutz (Manger-Nestler & Gramlich, 2020, S.  31–33) eingeführt. Mit ihm sollen die natürlichen Lebensgrundlagen aus Sorge für die Um-, Mit- und Nachwelt im ökologischen Systemzusammenhang geschützt werden. Bedrohte Umweltmedien können das Wasser, die Luft, der Boden, Flora und Fauna sowie das Klima sein. Politisch hat das Umweltschutzstaatsziel sicherlich eine überragende Bedeutung gewonnen, allerdings gehört dieses Ziel nicht zu den nach Art. 79, Abs.  3 von der Ewigkeitsgarantie des Grundgesetzes geschützten Fundamentalnormen. Dem Umweltschutzstaatsziel kann man die Rechtsgrundsätze der Vorsorge, der Sparsamkeit und das Vorsichtsprinzip zuordnen. Nach dem Grundsatz der Vorsorge soll nicht nur die gegenwärtige Lage der Umweltmedien in die Betrachtung eingehen, sondern auch, welche Wirkungen für die zukünftige Umwelt und damit auf die zukünftigen Generationen zu erwarten sind. Nach dem Grundsatz der Sparsamkeit sollen gerade erschöpfliche, nicht-erneuerbare Ressourcen begrenzt verwendet werden. Aus dem Vorsichtsprinzip folgt, dass Risiken der Zukunft abzuschätzen sind und wenn nicht völlig unwahrscheinlich ein Schaden eintreten könnte, diese Risiken in die gesellschaftliche Abwägung einzubeziehen sind.

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2  Wirtschaftsverfassung und ökonomische Theorie der Verfassung

Kasten 2.3: Klimabeschluss, BVerfG (April 2021) (1 BvR 2656/18; 1 BvR 78/20; 1 BvR 96/20; 1 BvR 288/20)

Sachverhalt: Im Rahmen von Verfassungsbeschwerden haben eine Reihe von Einzelpersonen, darunter auch einige Minderjährige, sowie einzelne klageberechtigte Umweltverbände den Bundesgesetzgeber und die Bundesregierung vor dem Bundesverfassungsgericht verklagt, dass das Bundesklimaschutzgesetz von Dezember 2019 nicht ausreichend sei, um den nach Art.  20a GG vorgegebenen Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen zu gewährleisten, insbesondere vor dem Hintergrund der anzustrebenden Klimaneutralität. Darüber hinaus unterlasse es der Bundesgesetzgeber und die -regierung, „geeignete und prognostisch genügende Maßnahmen zur Einhaltung des verbleibenden nationalen und nach Bevölkerungsanteilen bemessenen CO2-Budgets (3465 Gigatonnen CO2 im Jahr 2020) zu ergreifen“ (Rn. 5–7). Gründe: Das BVerfG interpretiert die vorliegenden Verfassungsbeschwerden dahingehend, dass bisher Bundesregierung und Bundestag keine ausreichenden Vorkehrungen getroffen hätten, um ausreichend Treibhausgase, insbesondere CO2, so zu reduzieren, dass die Temperaturschwelle von 1,5 °C eingehalten würde. Zentrale Bedeutung komme hierbei dem verbleibenden Restbudget an CO2 zu, dass der Bundesrepublik auf dem Weg zur versprochenen Klimaneutralität noch zu stehe. Die Beschwerdeführer begründen ihre Klage mit der Verletzung grundrechtlicher Schutzpflichten aus Art. 2, Abs. 1 und Abs. 2, S. 1 (Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit), Art. 14, Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20a und Art. 1, Abs. 1, S. 1 (Menschenwürde). Insbesondere leiten hieraus die Beschwerdeführer ein Grundrecht auf ein ökologisches Existenzminimum ab, flankiert mit sogenannten „Rationalitätspflichten“, also Ermittlungs- und Darlegungspflichten des Gesetzgebers in diesem Sachzusammenhang. Grundsätzlich hat das Gericht die Verfassungsbeschwerden der natürlichen Personen für zulässig erklärt. Zum einen, weil nicht ausgeschlossen werden könne, dass die Grundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit sowie das Eigentumsgrundrecht durch unzureichende Klimaschutzmaßnahmen, insbesondere bei nicht hinreichenden Minderungen von Treibhausgasemissionen, verletzt würden. Diese grundrechtliche Beeinträchtigung könne auch die Beschwerdeführer aus Bangladesch und Nepal treffen, „weil nicht von vornherein auszuschließen ist, dass die Grundrechte des Grundgesetzes den deutschen Staat auch zu ihrem Schutz vor Folgen des globalen Klimawandels verpflichten“ (Rn. 90). Die in Deutschland lebenden Beschwerdeführer können zum anderen dahingehend in ihren Grundrechten verletzt sein, falls die bis 2030 gesetzlich zulässigen Treibhausemissionsgasmengen zu großzügig bemessen sind und daher die nach 2030 erforderlichen Emissionsmengenbegrenzungen so drastisch ausfallen, dass sie erhebliche Minderungslasten und damit verbundene Begrenzungen ihre Freiheit hinnehmen müssten.

2.1  Wirtschaftsverfassung in Deutschland

Hinsichtlich der vom deutschen Gesetzgeber getroffenen Schutzvorkehrungen urteilt das Gericht, dass sie nicht offensichtlich ungeeignet sind und der vorgesehene Schutz nicht völlig unzulänglich wäre; die streitigen Regelungen blieben gerade nicht erheblich hinter dem gebotenen Schutz von Leben und Gesundheit zurück. Die Streitfrage, ob zu Begrenzung des Klimawandels unzweifelhaft eine Begrenzung des Temperaturanstieges auf 1,5 °C erforderlich sei, könne so eindeutig nicht beantwortet werden. In Bezug auf die Gefährdung des Eigentums kann das Gericht nicht absehen, „dass in Deutschland belegenes Eigentum … so sehr gefährdet würde, dass dies nicht durch Schutzmaßnahmen in verfassungsrechtlich vertretbaren Maßen gehalten werden könnte“ (Rn. 172). Ebenso sieht das Bundesverfassungsgericht keine unzulässige Grundrechtsbeschränkung gegenüber den Beschwerdeführern aus Bangladesch und Nepal, erstens weil die getroffenen Maßnahmen gegenüber den Inländern nicht offensichtlich ungeeignet, völlig unzulänglich und erheblich hinter dem gebotenen Schutz von Leben und Gesundheit zurückbleiben, zweitens weil das Schutzgebot gegenüber nicht im Inland lebenden geringer ausfallen kann als gegenüber Inländern und drittens weil die Bundesrepublik quasi über den „Hebel“ von internationalen Vereinbarungen ebenfalls zu deren Schutz beitragen kann. Die vom Gesetzgeber vorgesehenen Emissionsminderungspfade bis 2030 seien vor dem Hintergrund der zu erwartende Entwicklung nach 2030 zu bewerten. Die Entwicklung nach 2030 dürfe nicht so sein, dass der dann zu erfolgende verfassungsrechtlich gebotene Klimaschutz auf erheblich reduzierte Restemissionsmengen treffen würde. Gerade in Auslegung des Art. 20a sei der Gesetzgeber verpflichtet, die Freiheitschancen zukünftiger Generationen zu achten. Insofern müsse der Gesetzgeber bereits heute Regelungen treffen, wie die Restemissionsmengen auf die Zeiträume vor und nach 2030 zu verteilen seien. Der Gesetzgeber müsse Sorge tragen, dass die Emissionsminderungen nach 2030 generationengerecht ausfallen: Es muss so sein, „dass die damit verbundenen Freiheitseinbußen trotz steigender Klimaschutzanforderungen weiterhin zumutbar ausfallen und die Reduktionslasten über die Zeit und zwischen den Generationen nicht einseitig zulasten der Zukunft verteilt sind“ (Rn. 192). Die „heutigen“ Generationen dürften nicht „zu leicht davon kommen“ bzw. die nächste Generation darf nicht radikal belastet werden. „Weil die Weichen für künftige Freiheitsbelastungen aber bereits durch die aktuelle Regelung zulässige Emissionsmengen gestellt werden, m uss deren Auswirkung auf künftige Freiheit und heutiger Sicht und zum jetzigen Zeitpunkt – in dem die Weichen noch umgestellt werden können –verhältnismäßig sein“ (Rn. 192). Entscheidung: Das BVerfG gibt in Teilen den Verfassungsbeschwerden Recht. Das Gericht stellt zwar ausdrücklich nicht fest, dass der Gesetzgeber „seine aus den Grundrechten folgenden Schutzpflichten verletzt hat, die Beschwerdeführenden vor den Gefahren des Klimawandels zu schützen“ (Rn. 142). Grundrechtsverletzend sei

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2  Wirtschaftsverfassung und ökonomische Theorie der Verfassung

jedoch, dass „es infolge der Emissionsmengen, die das Klimaschutzgesetz für den aktuellen Zeitpunkt zulässt, in späteren Zeiträumen zu hohen Emissionsminderungslasten kommen kann“ (Rn. 142). Im konkreten fehle es „an den hier grundrechtlich zu Freiheitssicherung über Zeit und Generationen hinweg gebotenen Vorkehrungen zur Abmilderung der hohen Emissionsminderungslasten, die der Gesetzgeber mit den angegriffenen Vorschriften auf Zeiträume nach 2030 verschoben hat und die er dann wegen Art.  20a GG und wegen des grundrechtlich gebotenen Schutzes vor klimawandelbedingten Schädigung (auch) die Beschwerdeführer wird auferlegen müssen“ (Rn. 142). Der Gesetzgeber muss die Reduktion nach 2030 so ausgestalten, „dass sie hinreichende Orientierung und Anreiz für die Entwicklung sowie die umfassende Implementierung klimaneutraler Techniken und Praktiken bieten. Hieran fehlt es bislang.“ (Rn. 195).

2.2 Ökonomische Theorie der Verfassung Staatsfundamentalnormen und die aufgeführten Grundrechte bilden in ihrer Gesamtheit die Wirtschaftsverfassung der Bundesrepublik Deutschland. Immer wieder sieht man dabei, dass der Grundgesetzgeber eine ausdifferenzierte Abwägung zwischen Gemeinwohlinteressen und individuellen Rechten vornimmt. Quasi wird mit der Verhältnismäßigkeitsprüfung im weiten Sinne eine weitere „Schutzschicht drüber gezogen“. Der Rechtsstaat sorgt somit für eine Begrenzung staatlicher Eingriffe zulasten des Einzelnen. Freilich stehen die Grundrechte des Einzelnen immer in Abwägung mit den Grundrechten der anderen („praktische Konkordanz“). Die Volksherrschaft durch Wahlen (Demokratie) wird durch vielfältige „Verfahrensregeln“ kanalisiert, meist gilt der Grundsatz der indirekten Demokratie, Wahlen müssen anerkannten Prinzipien folgen, Gesetzgebungskompetenzen werden zwischen Bund und Länder aufgeteilt, einfache Gesetze werden mit einfachen Mehrheiten beschlossen, zustimmungspflichtige Gesetze müssen auch im Bundesrat eine positive Mehrheit finden und für Änderungen des Grundgesetzes bedarf es sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat einer Zweidrittelmehrheit bei den insgesamt vorhandenen Abgeordneten bzw. der Gesamtzahl der Bundesratsstimmen. Grundlegende Sachverhalte des gesellschaftlichen Zusammenlebens fallen in Deutschland unter die sogenannte Ewigkeitsgarantie des Grundgesetzes, d.  h. sie dürfen selbst mit verfassungsgebenden Mehrheiten nicht verändert werden. Diese Ewigkeitsgarantie greift auch für die elementaren Inhalte der Grundrechte (Wesensgehalt). Weitere zentrale Rechtsnormen für die Ausgestaltung der Wirtschaftspolitik in Deutschland ist das sogenannte Sozialstaatsgebot, wonach die (deutschen) Staatsbürger vor den „Gefahren des Lebens“ in gewisser Weise zu schützen sind. Wie konkret dieser Schutz gestaltet sein soll, bleibt der Ausformulierung der Einzelgesetze und damit dem politischen Prozess mit demokratischen Mehrheiten überlassen.

2.2  Ökonomische Theorie der Verfassung

59

Mit der ökonomischen Theorie der Verfassung wird der Frage nachgegangen, wie aus ökonomischer Sicht eine (Wirtschafts-)Verfassung zu gestalten wäre und welche Regeln in welcher Weise darin implementiert werden sollten. In der kontrakttheoretischen Legitimation des Staates wird gezeigt, dass die Verfassungsbürger von sich aus der Entstehung eines Staates zustimmen würden, um von ihm Leistungen zu erhalten, die ansonsten unerreichbar wären (Abschn. 2.2.1). Verfassungsregeln kann man aus dem Interdependenzkostenkalkül, der gleichzeitigen Berücksichtigung von Konsensfindung- und Diskriminierungskosten, ableiten (Abschn. 2.2.2). Konkrete Vorschläge für Verfassungsregeln in einer marktwirtschaftlichen Ordnung finden sich im Abschn. 2.2.3.

2.2.1 Kontrakttheoretische Legitimation des Staates Rationale Individuen werden durch „freiwilligen Tausch“ Eigentumsrechte setzen und auch zur Not unter Zwang durchsetzen; dieser Tausch stellt für die Bürger zumindest eine Pareto-Verbesserung dar, da zumindest ein Individuum mit dem Tausch bessergestellt werden kann, ohne dass sich ein anderes Individuum schlechter stellen würde. Die Entstehung des Staates beruht also auf einem Kontrakt, dem jeder Einzelne freiwillig zustimmen würde (Buchanan & Tullock, 1962; zur Übersicht Schmidt, 2019, S. 14–17). Ausgangspunkt ist der Hobbesche Naturzustand der Anarchie, in der einige Bürger eigene Güter herstellen würden und andere die produzierten Güter rauben würden. Es bestehe eine Situation, in der manche produzieren und andere rauben („natürliche Verteilung“). Diese Ausgangslage ist aus Sicht der einzelnen unbefriedigend (instabil), da sie erkennen, dass ein Abkommen mit dem Ziel der (wirksamen) Anerkennung von Eigentumsrechten für jeden von ihnen besser wäre. Fragwürdig ist aber, ob eine solche Anerkennung selbst stabil ist. Abb. 2.1 geht von zwei Individuen, A und B, aus. Beide können entscheiden, ob sie die vereinbarten Eigentumsrechte akzeptieren (Kooperation) oder verletzen (Defektion). Beide Entscheidungsträger treffen diese Wahl gleichzeitig, d. h. sie wissen nicht, wie sich der andere Entscheidungsträger entschieden hat; ferner treffen sie diese Entscheidung mit ihrem gegenüber nur einmalig (einmaliges, simultanes Spiel). Würden sich beide Individuen dafür entscheiden, dass das Eigentumsrecht des anderen auf jeden Fall respektiert würde, könnten beide sich auf die Güterproduktion konzentrieren, Schutzmaßnahmen vor dem Raub des anderen könnten entfallen. In der Abb. 2.1 wird unterstellt, dass der A stärker von dieser kooperativen Lösung profitiere und eine Auszahlung von 19 Geldeinheiten (GE) erhalte; der B käme in diesem Falle auf eine Auszahlung in Höhe von 7 GE. Unter Vernachlässigung des Problems der Unmöglichkeit des interpersonellen, kardinalen Nutzenvergleiches erreichen beide Parteien zusammen einen Nutzen von 26 GE, was der insgesamt höchstmöglichen Auszahlung in der Abbildung entspricht. Würde nur eine Partei das Eigentumsrecht respektieren und die andere Partei vor Raub nicht zurückschrecken, würde der Räuber gewinnen und der „Respektierende“ verlieren: Ersterer, weil er die Früchte des Raubes genießen könnte, ohne fürchten zu müssen, selbst beraubt zu werden,

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2  Wirtschaftsverfassung und ökonomische Theorie der Verfassung B

Eigentumsrechte A

respektieren Eigentumsrechte verletzen

Eigentumsrechte

Eigentumsrechte

respektieren

verletzen

19/7

3/11

22/3

9/4

Abb. 2.1  Auszahlungsmatrix bei Verletzung der Eigentumsrechte. (Quelle: Schmidt, 2019, S. 15)

und letzterer, weil er beraubt würde. Ist der A jene Partei, die das Eigentum achtet, und der B jene, die das Eigentum verletzt, so soll der Nutzen des A auf 3 GE fallen und der des B auf 11  GE ansteigen. Respektiert B und A raubt, erzielt A einen Nutzen in Höhe von 22 GE und B nur noch von 3 GE. Im Falle, dass beide Parteien Eigentumsrechte nicht akzeptieren, verlieren beide an Nutzen, sei es, weil sie beraubt werden oder weil sie in „unproduktive“ Schutzmaßnahmen investieren müssen. Für beide Parteien sinkt der Nutzen, hier für A auf 9 GE und für B auf 4 GE. In der Summe erzielen sie ein Gesamtnutzen von 13  GE, der schlechteste Gesamtwert aller vier denkbaren Konstellationen. Rechnet A damit, dass B die Eigentumsrechte respektiert, ist für A Verletzen die bessere Alternative (22 > 19). Geht A von einer Verletzung der Eigentumsrechte durch B aus, stellt sich A mit der Missachtung des Eigentumsrechtes ebenfalls besser (9 > 3). Für A ist die Verletzung des Eigentumsrechts immer die bessere Alternative; Defektion ist für ihn eine dominante Strategie. Gleiches gilt für B: Gegeben, A respektiert das Eigentum, so ist es für B besser, das Eigentumsrecht zu ignorieren (11 > 7 GE); gegeben, A verletzt das Recht, so ist es für B besser, ebenfalls das Recht zu missachten (4 > 3 GE). Wiederum ist für B die Defektion die dominante Strategie. Schlussendlich wählen beide die Verletzung des Rechts, obwohl sich beide bei einer Achtung des Rechtes besserstellen würden. Man sagt: Die Verfolgung individueller Rationalität führt zu kollektiver Irrationalität. Folglich bedarf es einer Institution, die verbindlich durchsetzt, dass Eigentumsrechte respektiert werden. Der sogenannte Rechtsschutzstaat (protective state) mit Polizeigewalt, Gerichtsbarkeit und Strafvollzug kann diese Aufgabe übernehmen. Abb. 2.2 verdeutlicht die grundsätzliche Wirkungsweise eines Rechtsschutzstaates, der die Verletzung von Eigentumsrechten wirksam sanktioniert. Würde der B die Eigentumsrechte verletzen, würde er „bestraft“ werden, sei es zivilrechtlich mit der Verpflichtung zum Schadensersatz oder strafrechtlich mit einer Geld- oder Freiheitsstrafe. Achtet A von sich aus die Eigentumsrechte und B verletzt sie, so soll die Auszahlung des A bei 3 GE verbleiben und die des B von 11 auf 5 GE sinken. Respektiert B die Eigentumsrechte und A verletzt sie, soll die Auszahlung für A von 22 auf 13 GE fallen, die des B bleibt bei 3 GE. Verletzen beide „gleichzeitig“ die Eigentumsrechte, sollen beide jeweils nur noch eine Auszahlung in Höhe von einer Geldeinheit erhalten. Abb. 2.2 zeigt, dass für beide jetzt die bessere Alter-

2.2  Ökonomische Theorie der Verfassung

61 B

Eigentumsrechte A

respektieren Eigentumsrechte verletzen

Eigentumsrechte

Eigentumsrechte

respektieren

verletzen

19/7

3/5

13/3

1/1

Abb. 2.2  Auszahlungsmatrix bei Existenz des Rechtsschutzstaates. (Quelle: Schmidt, 2019, S. 16)

native ist, die Eigentumsrechte zu respektieren: Wenn A unterstellt, dass B die Eigentumsrechte respektiert, so achtet A das Eigentumsrecht, da 19 GE > 13 GE ist. Erwartet A dagegen, dass B die Eigentumsrechte missachtet, ist es für A trotzdem besser, selbst die Rechtsordnung einzuhalten (3 GE > 1 GE). B verhält sich ebenfalls nunmehr gesetzestreu, da 7 GE > 5 GE (A achtet Rechte) bzw. 3 GE > 1 GE (A verletzt Rechte). Beide Parteien haben mit der Alternative „Eigentumsrechte respektieren“ jeweils eine dominante Strategie. Das erwünschte, gesamtwirtschaftlich vorteilhafte Ergebnis einer sich durchsetzende Rechtsordnung wird erreicht, obwohl die Entscheidungsträger weiterhin ihren eigenen Nutzen maximieren. Der rechtsnormensetzende und -durchsetzende Staat verhindert, dass ein Dilemma wie in Abb. 2.1 eintritt. Auf der Basis der Analyse des individuellen Verhaltens der Entscheidungsträger (methodologischer Individualismus) und eigennützigen Verhalten der Betroffenen werden somit die Bürger einen freiwilligen Gesellschaftsvertrag abschließen und damit auch die Beschränkungen, dass die Nichtbeachtung der Rechtsordnung staatlicherseits sanktioniert wird, ex ante freiwillig hinnehmen. Die Vorteile eines solchen Vertrages könnten so groß sein, dass alle Bürger ex ante dem Vertrag zustimmen würden (Einstimmigkeit). Neben dem Schutzstaat kann als weitere Staatsaufgabe der Leistungsstaat (productive state) hinzukommen. Im Leistungsstaat geht es um die Bereitstellung von Gütern, die in Märkten mit gewinn- bzw. nutzenmaximierenden Individuen nicht bereitgestellt werden, obwohl sie gesamtgesellschaftlich sinnvoll wären. Diese sogenannten öffentlichen Güter kennzeichnen sich durch die Charakteristika der Güter aus, nämlich Nichtrivalität im Konsum und Nichtausschließbarkeit vom Konsum. Nichtrivalität bedeutet, dass die Nutzung des öffentlichen Gutes durch einen weiteren Nutzer zu keinen Nutzenverlusten bei den bisher Konsumierenden führt. Das Auto, das in die fast leere Innenstadtstraße einbiegt, beeinträchtigt nicht den Verkehrsfluss für die anderen Autos. Mit Nichtausschließbarkeit meint man, dass Nutzer das Gut konsumieren können, ohne dafür einen Beitrag leisten zu müssen (Trittbrettfahrerverhalten). Für die Nutzung der Innenstadtstraßen kann also keine Gebühr erhoben werden; unentgeltliche Nutzer könnten sich also darauf verlassen, dass andere Nutzer die Finanzierung der Innenstadtstraßen übernehmen. Gerade jedoch das Beispiel der Innenstadtstraßen zeigt, dass eine unentgeltliche Nutzung nicht zwingend ist

62

2  Wirtschaftsverfassung und ökonomische Theorie der Verfassung

(Abschn. 8.2.4). Insofern gilt, dass die Frage der fehlenden Ausschließbarkeit von den vorhandenen technischen Lösungen zum Ausschluss und den damit verbundenen Ausschlusskosten zu beantworten ist. Gibt es keine Ausschließbarkeit, würde – im Extremfall – der Anreiz, zu konsumieren ohne zu zahlen, dazu führen, dass niemand zahlt; das öffentliche Gut würde nicht bereitgestellt. Analog zur Abb. 2.2 bedarf es auch hier eines staatlichen Zwangs, der eine gemeinsame Finanzierung des Gutes sicherstellt. Freilich kann man beobachten, dass in kleinen Gruppen, in denen man zum Beispiel Nichtzahler leicht erkennen kann, eine Finanzierung auch ohne staatlichen Zwang gelingen kann. Der Wunsch, ein bestimmtes öffentliches Gut gemeinsam bereitzustellen, mag so groß sein, dass auch hier die Bürger unter Einstimmigkeit einen „Vertrag“ schließen, der die Bereitstellung des öffentlichen Gutes sichert. Sowohl auf der Ebene des Schutz- als auch auf der Ebene des Leistungsstaates mag eine Einstimmigkeit auch deswegen erreicht werden, da die Bürger ex ante nicht wissen, ob sie die Vorteile des Staates nutzen wollen. Insbesondere wenn die Vorteile erst in der weiten Zukunft relevant werden, können viele nicht abschätzen, ob sie zu den Gewinnern oder Verlierern der staatlichen Aktivität gehören werden. Der Bürger weiß vielleicht nicht, ob für ihn in 20 Jahren eine gut ausgebaute Verkehrsinfrastruktur relevant sein wird und er deshalb bereits heute auch „gerne“ Steuern bezahlt. Zu Beginn der beruflichen Karriere weiß man vielleicht nicht, ob man mit der eigenen Qualifikation dauerhaft einen gut bezahlten Arbeitsplatz bekommen wird. Folglich wird man heute durchaus dem Staat die Aufgabe im Rahmen des Leistungsstaates zuweisen, im Falle der Arbeitslosigkeit Lohnersatzleistungen auszureichen oder staatlich finanzierte Weiterbildungsaktivitäten vorzuhalten. Hinter diesem Rawlsschen (1971) „Schleier der Unwissenheit“ steigt die Wahrscheinlichkeit an, freiwillig Staatsaufgaben zu begründen. Plustext 2.2: Sozio-ökonomische Evolution zur Legitimation des Staates Im Gegensatz zur kontrakttheoretischen Herleitung der Notwendigkeit eines staatlichen Gebildes betont der sozio-ökonomische, evolutorische Ansatz, dass die Regeln über den Staat sich quasi von selbst herausbilden (zur Übersicht Schmidt, 2019, S. 17–19). Maßgeblich stützte Friedrich August von Hayek diesen Ansatz, indem er zwischen spontanen und gemachten Ordnungen unterschied. Gemachte Ordnungen werden „von außen“ heraus geschaffen (exogen), sie sind relativ einfach angelegt bzw. wenig komplex, sie werden fixiert/kodifiziert und dienen vielfach einem bestimmten Zweck. Die Entstehungsgeschichte des deutschen Grundgesetzes enthält einige Elemente einer gemachten Ordnung (Möllers, 2009): Auf „Anregung“ der westlichen Alliierten entsandten die westdeutschen Landesregierungen Verfassungsexperten zum sogenannten Herrenchiemsee-­Konvent, aus diesen Vorarbeiten heraus entwickelte der Parlamentarische Rat das Grundgesetz, welches dann am 23. Mai 1949 verkündet wurde. In Bezug auf den Zweck kann man sicherlich auch sagen, dass die „Mütter“ und „Väter“ des Grundgesetzes sich im Ziel einig waren, Fehler und Fehlentwicklungen, die dann die zwölfjährige Naziherrschaft ermöglichte, von vornherein zu verhindern. Gemachte Ordnungen sind somit Ergebnis menschlichen, bewussten Entwurfs. Im Gegensatz dazu entwickeln sich spontane Ordnungen aus einer bestimmten gesellschaftlichen Situation heraus (endogen). Sie müssen nicht komplex sein, sondern geben häufig pragmatische Antworten auf anstehende Fragen. Die Geschichte des britischen Parlamentarismus mag geradezu prototypisch ein Beispiel einer spontanen Ordnung sein. Hayek betonte vor allem, dass aufgrund ihrer Endogenität spontane Ordnungen keine konkreten Zweckbestimmungen entwickeln könnten. Die spontane Ordnung entsteht zwar

2.2  Ökonomische Theorie der Verfassung

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auch, zumindest partiell, aufgrund menschlichen Handelns, sie ist aber weit weniger Ergebnis menschlichen Entwurfs. Vielleicht ist auch die Gegenüberstellung von gemachter und spontaner Ordnung irreführend, weil konkrete Verfassungsregeln häufig sich an im Zeitablauf entwickelten Traditionen orientieren, aber auch vor dem Hintergrund historischer Einschnitte (Diktaturen, Kriege, Rebellionen) Regeln bewusst neu konzipiert werden. Strittig ist, ob spontane Ordnungen zwangsläufig zu effizienten Verfassungsregeln führen. Im Sinne der Effizienzhypothese würde man erwarten, dass effiziente Regeln zu besseren Ergebnissen führen und damit Gesellschaften mit effizienteren Regeln sich eher durchsetzen können als mit ineffizienten. Es gibt zwar historische Beispiele, in denen überkommene, unvorteilhafte Regeln verdrängt wurden (Auflösung von Ressourcen im Gemeinschaftsbesitz zu privaten Eigentumsstrukturen). Ob sich diese Beispiele verallgemeinern lassen, ist umstritten. Bei den gemachten Ordnungen ist die „Achillesferse“ des Ansatzes die Skepsis, ob sich in einer Gesellschaft hinreichend Wissen befindet, wie eine solche Ordnung effizient zu gestalten wäre.

Plustext 2.3: Legitimation staatlichen Handelns auf der Basis der Verhaltensökonomie Im Rahmen der Verhaltensökonomik gibt es seit einigen Jahrzehnten Forschungsergebnisse, die ergänzende Begründungen liefern, warum ein Staat existieren soll und welche Regeln im Staat gelten sollen (zur Übersicht Schmidt, 2019, S. 19–21). Die bisher in Experimenten vor allem gefundene Evidenz deutet darauf hin, dass sich Individuen nicht nur von nutzenmaximierenden Entscheidungskalkülen leiten lassen. Die hinter diesen Ergebnissen liegenden psychologischen Erklärungsmustern könnten Hinweise geben, wie man staatliche Eingriffe zielorientierter ausrichten könnte. Im sogenannten Ultimatumspiel erhält ein Spieler einen festen Betrag, den er für sich behalten oder ganz bzw. teilweise seinem Mitspieler zukommen lassen kann. Der Mitspieler kann entscheiden, ob er dem Vorschlag des „Aufteilers“ folgt oder den Vorschlag komplett zurückweist. Entscheidet er sich für die Annahme, so erhält er den ihm zugedachten Geldbetrag, der Aufteiler wird natürlich entsprechend seines Vorschlags „entlohnt“. Weist der Mitspieler den Vorschlag des Aufteilers zurück, bekommen beide Spieler nichts. Unter der Annahme strikter Rationalität würde der Aufteiler nur einen sehr kleinen Betrag dem Mitspieler überlassen wollen; weil selbst ein sehr kleiner Betrag für den Mitspieler besser als nichts ist, wird der Mitspieler „zähneknirschend“ der Aufteilung zustimmen. In den vorliegenden Experimentergebnissen kommt es jedoch zu deutlich abweichenden Resultaten. Die Aufteiler bieten meist ca. zwei Fünftel des Betrages an, die Mitspieler lehnen vielfach Angebote unterhalb von einem Fünftel ab. In der Erweiterung des Ultimatumspiels kann nur noch der Aufteiler seine Aufteilungsentscheidung treffen, der Mitspieler muss passiv abwarten, „ob er was abbekommt“ (Diktatorspiel). Selbst in diesem Spiel gehen die meisten Aufteiler nicht so weit, dass sie ihrem Gegenüber weniger als ein Fünftel zukommen lassen wollen. Die Verhaltensökonomik begründet diese im Widerspruch zur Rationalitätsannahme stehenden Ergebnisse mit sogenannten Verhaltensanomalien. Diese Anomalien mögen entstehen, weil insbesondere die Probanden moralische Normen wie Fairness, Gerechtigkeit oder Großzügigkeit für wichtig erachten und damit die Orientierung ausschließlich am eigenen Nutzen abgelehnt oder zumindest nicht praktiziert wird. Denkbar wäre daher, allgemein die Präferenzordnungen von Individuen um soziale Standards wie Fairness, Gerechtigkeit und Gleichheit zu erweitern. Freilich kann man diese Erweiterungen auch wieder „einfangen“, indem man unterstellt, dass Individuen einen Nutzen daraus ziehen, wenn sie sich fair verhalten, für eine gerechte Lösung eintreten oder sich mehr Gleichheit wünschen. Insofern ist keineswegs sicher, dass man in der ökonomischen Theorie der Verfassung auf die Rationalitätsannahme verzichten muss. Verwendet man darüber hinaus den Ansatz von Rawls zum Schleier der Unwissenheit, so kommt man zu ähnlichen Ergebnissen in Bezug auf die Frage, welche Aufgaben der Staat verfolgen soll: Er soll fair sein, weil ich vielleicht

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2  Wirtschaftsverfassung und ökonomische Theorie der Verfassung

darauf angewiesen bin, in der Zukunft fair behandelt zu werden; er soll für Gerechtigkeit und Gleichheit eintreten, auch weil ich auch davon „profitieren“ will. Unabhängig davon kann man aber die Experimentergebnisse auch dahingehend interpretieren, dass es nicht nur auf die Outcomes der Verfassungsregeln ankommt, sondern dass die Art und Weise des Zustandekommens staatlicher Eingriffe und deren Umsetzung fair sein soll, als gerecht wahrgenommen werden kann und Gleichheitsaspekte einen Wert an sich darstellen. Bisher gibt es allerdings in der Literatur kaum Ansätze, wie diese Schlussfolgerungen konkret in die Gestaltung von Verfassungsregeln einfließen sollten. Darauf aufbauend mag es sogar eine Präferenz der Bürger geben, dass diese erweiterten Präferenzen durch Verfassungsregeln den Einzelnen „unentrinnbar“ vorgegeben werden (Selbstbindung). Eine solche Selbstbindung mag sicherstellen, dass auch tatsächlich bestimmte Normen und Verhaltensweisen umgesetzt werden, die ansonsten in der eher kurzfristig orientierten kollektiven Entscheidungsfindung untergehen. Man mag beispielsweise für ein starkes Asylrecht eintreten, um zu verhindern, dass in kritischen Situationen vorschnell auf dieses als fair und gerecht angesehene Instrument verzichtet wird.

2.2.2 Das Interdependenzkostenkalkül Ebenfalls zurückgehend auf Buchanan und Tullock (1962) (zur Übersicht Schmidt, 2019, S. 21–24) kann man die Kosten der Entscheidungsfindung gegen die Kosten des Einzelnen, durch Mehrheitsentscheid zu einem etwas Unerwünschten gezwungen zu werden, abwägen; beides zusammen ergibt dann eine optimale Abstimmungsregel. Wie bereits im Abschn. 2.1.1 gesehen gibt es auch in deutschen Verfassungsrecht unterschiedliche Mehrheitsregeln, die einfache Mehrheit für das einfache Gesetz, die Kanzlermehrheit, zwei Drittel der Mitglieder des Bundestages/der Stimmen im Bundesrat für eine Verfassungsänderung und die Einstimmigkeit, um die in der „Ewigkeitsgarantie“ des Grundgesetzes verankerten fundamentalen Prinzipien ändern zu können. Vereinfachend kann man unterschiedliche Regeln mit dem Zustimmungserfordernis z beschreiben (Abb. 2.3). Ich beginne mit der theoretischen Möglichkeit, dass nur eine Ja-Stimme zur Annahme eines Sachverhalts ausreicht. Je weiter ich auf der Abszisse der Abb. 2.3 nach rechts gehe, umso mehr Ja-Stimmen sind zur Annahme erforderlich. Die Betrachtung auf dieser Achse endet bei der Einstimmigkeit, bei der alle Entscheidungsträger, Bundestagsmitglieder, Länder oder Stimmbürger eines Landes, für den Vorschlag stimmen müssten. Von der Einstimmigkeit nach links gehend können die Kosten eines Einzelnen abgetragen werden, wenn er im Rahmen einer Abstimmung eine Niederlage erleidet: Die wie auch immer zu definierende Mehrheit beschließt ein Gesetz oder eine andere Regel, die den Einzelnen zu etwas verpflichtet, was er nicht tun möchte. Dies könnte beispielsweise die Pflicht sein, auf sein Vermögen eine (Sonder-)Steuer zu zahlen oder ein körperliches Opfer erbringen zu müssen. Mit der von rechts unten nach links oben laufenden Diskriminierungskostenfunktion (DIS) wird angedeutet, dass diese potenzielle Möglichkeit zur Minderheit zu werden, umso größer wird, je geringer das Zustimmungserfordernis festgesetzt wird. Im Falle der Einstimmigkeit sind natürlich die Diskriminierungskosten gleich Null, weil jeder Einzelne eine Entscheidung, die ihn benachteiligen könnte, per Veto blockieren kann. Mit der Abb. 2.3 wird unterstellt, dass mit abnehmendem Zustimmungserfordernis die Folgen der „Minderheitendiskriminierung“ immer größer ausfallen.

2.2  Ökonomische Theorie der Verfassung

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€ DIS

0

1

Abstimmungsregeln z Einstimmigkeit

Abb. 2.3  Diskriminierungskosten. (Sehr ähnlich Schmidt, 2019, S. 23)

Neben den Diskriminierungskosten fallen Kosten an, um eine Entscheidung herbeizuführen: Kosten, um die Abstimmenden zu informieren; Kosten, um schwankende Entscheider zu überzeugen; Kosten möglicherweise, um die letzten Stimmen für eine Mehrheit einzusammeln; Kosten, um die Abstimmung durchzuführen. In der Abb.  2.4 wird unterstellt, dass bei der Regel „eine Ja-Stimme reicht“ nur sehr geringe Entscheidungsfindungskosten (ENT) entstehen. Mit zunehmenden Zustimmungserfordernis dürften

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2  Wirtschaftsverfassung und ökonomische Theorie der Verfassung

€ ENT

0

1

Abstimmungsregeln z Einstimmigkeit

Abb. 2.4  Entscheidungsfindungskosten. (Sehr ähnlich Schmidt, 2019, S. 23)

diese Kosten ansteigen und zwar mit zunehmender Rate. Denkbar wäre sogar, dass bei der Einstimmigkeitsregel die Entscheidungsfindungskosten unendlich hoch wären, weil sich der Veto-Spieler seine Zustimmung extrem teuer „erkaufen“ lässt. Gesamtwirtschaftlich gesehen sind beide Kostenarten in dem Sinne relevant, dass sie quasi auf dem Reißbrett der Verfassungsentstehung gleichermaßen Bedeutung haben. Mathematisch bedeutet dies, dass beide Kostenarten zusammengezählt werden müssen (Ordinatenaddition, Abb.  2.5). Beispielsweise addiert man bei den Zustimmungserfordernis 10 die Diskriminierungskosten in Höhe der Strecke a zu den Entscheidungs-

2.2  Ökonomische Theorie der Verfassung

67



DIS

INT ENT

c f

a

g

d

b e

d

a

0

1

10

Z*

30

Abstimmungsregeln z Einstimmigkeit

Abb. 2.5  Interdependenzkosten. (Quelle: Eigene Darstellung)

findungskosten an dieser Stelle in Höhe der Strecke b; die Strecken a und b zusammen ergeben die sogenannten Interdependenzkosten (INT), hier in Höhe von c. Bei einem Zustimmungserfordernis in Höhe von 30, entstehen ENT = e, dagegen DIS = d, in der Summe also INT = f. In der Abb. 2.5 soll sich ergeben, dass die Gesamtheit der Kosten bei z* minimiert werden. Das Minimum der Interdependenzkosten wird somit gleich g sein. Es ist denkbar und sogar sehr wahrscheinlich, dass je nach Inhalt der festzulegenden Verfassungsregeln beide Kostenarten sehr unterschiedlich ausfallen. Beispielsweise ist offenkundig eine Verfassungsregel, die in die körperliche Unversehrtheit des Einzelnen

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2  Wirtschaftsverfassung und ökonomische Theorie der Verfassung

eingreift, mit sehr hohen Diskriminierungskosten verbunden. Regeln, wie zum Beispiel Links- oder Rechtsverkehr, dürften für die meisten von uns unproblematisch sein, wenn die Mehrheit sich für Linksverkehr entscheidet, obwohl man selbst gerne „rechts unterwegs ist“; nach einer gewissen Zeit wird man sich leicht anpassen können. Die Entscheidungsfindungskosten werden vermutlich stark durch die Heterogenität der Stimmbürger-­Präferenzen geprägt: Je unterschiedlicher die Auffassungen über den richtigen Weg sind, umso schwerer wird es sein, eine gemeinsame Linie zu finden. Gerade das Zusammenspiel von Staatsfundamentalnormen/Grundrechten auf der einen Seite und der einfache Gesetzgebungsprozess, auch unter Einbeziehung des Bundesrates, auf der anderen Seite, könnte ein Beispiel für klug gewählte, differenzierte Zustimmungserfordernisse sein. Noch weitergehend greift wohl hier auch die ebenfalls auf Buchanan/Tullock zurückgehende Idee, Regeln des Schutzstaates und Grundregeln des Leistungsstaates auf der Verfassungsebene mit Einstimmigkeit fest zu zurren und die Ausgestaltung des Leistungsstaates dem laufenden politischen Prozess („klein/ klein“ im Bundestag/Bundesrat) zu überlassen. Von Hayek hat ergänzend vorgeschlagen, zwischen dem Parlament heutiger Gestalt und einer Verfassungsversammlung zu trennen (Hayek, 1994). Für die Verfassungsversammlung sollen spezielle aktive und passive Wahlrechte gelten: Wahlberechtigt sind nur Stimmbürger zwischen 40 und 55 Jahren, die Amtszeit beträgt nur 15 Jahre, eine Wiederwahl wäre selbstverständlich nicht möglich, und gewählt werden kann nur, wer dieser Altersgruppe angehört. Die untere Altersbegrenzung soll wohl die notwendige „Reife“ bei Wählern und Gewählten, die obere Begrenzung eine hinreichende Zukunftsperspektive der Entscheidungsträger sicherstellen; der Ausschluss einer Wiederwahl könnte auch dahin wirken, das langfristig Richtige zu tun.

2.2.3 Verfassungsregeln für eine marktwirtschaftliche Ordnung Die bisherigen Ausführungen können für eine marktwirtschaftliche Ordnung im Folgenden noch stärker konkretisiert werden. Es werden einerseits weitere Grundregeln diskutiert, die auf der Verfassungsebene zu beachten seien (zur Übersicht Schmidt, 2019, S. 24–26). Die ordoliberale Sichtweise (Walter Eucken, Franz Böhm, Ludwig Erhard) hat in ihrer Konzeption für den Wiederaufbau des deutschen Wirtschaftssystems „Grundwahrheiten“ herausgestellt, die für die dauerhafte Funktionsfähigkeit des Marktes und des Wettbewerbs einzuhalten und gegebenenfalls auf der Verfassungsebene abzusichern sind (zur Übersicht Schmidt, 2019, S. 26–33).

2.2.3.1 Grundregeln der Verfassungsebene Individuelle Grundrechte sichern einerseits jedem Einzelnen ein Vetorecht zu und schützen ihn vor Willkür und Freiheitsbeschränkungen. Wie bereits gesehen besteht die Gefahr, in kollektiven Abstimmungen zur unterliegenden Minderheit zu gehören. Insofern ist es wichtig, dass jeder das Recht hat, die Gesellschaft zu verlassen (Abstimmung mit Füßen

2.2  Ökonomische Theorie der Verfassung

69

oder nach Hirschman, 1970: Exit). Mit der Möglichkeit zur freien Meinungsäußerung und damit auch zur Stimmabgabe (Voice, Hirschman, 1970) kann der Einzelne versuchen, kollektive Entscheidung in seinem Sinne zu beeinflussen. Mit der Exit-Option wird auch in einem demokratischen System die Handlungsmacht des Staates begrenzt: Ist der Bürger mit dem Angebot an öffentlichen Gütern unzufrieden oder betrachtet er die zu tragende Steuerlast als ungerechtfertigt, kann er das Gemeinwesen verlassen; auf die kollektiven Entscheidungsträger wird Druck ausgeübt, „das Rad nicht zu überdrehen“. Im Sinne von Tiebout (1956) kommt es im besten Falle zu einer effizienten Lösung, wonach die Stimmund Steuerbürger genau in die Regionen wandern, in der die von ihnen gewünschte Kombination aus Steuersatz und Menge des öffentlichen Gutes realisiert wird. Wanderungshemmnisse wie fehlende Sprachkenntnisse, im Zielland nicht verwendbares Humankapital oder personelle Bindungen im Heimatland begrenzen natürlich die Exit-Optionen. Insofern ist es zumindest wichtig, dass der rechtliche Rahmen des jeweiligen Landes einen Exit überhaupt zulässt. Zu der Bedeutung, wie man Willkür und Freiheitsbeschränkungen verhindern kann, sei auf die ausführliche Erörterung des Rechtsstaatsprinzips und der Grundrechte im Abschn. 2.1.1 verwiesen. Mit dem Äquivalenzprinzip als Verfassungsregel wird ein Zusammenhang zwischen Nutzern, Zahlern und Entscheidungsberechtigten gezogen. Im Idealfall sind Nutzer, Zahler und Entscheider eine Einheit. Mit dieser Einheit wäre sichergestellt, dass der Nutzer einerseits die Vorteile der kollektiven Entscheidung berücksichtigt, aber andererseits auch für die finanziellen Konsequenzen seiner Entscheidung einstehen muss. Wenn die Bürger einer Gemeinde ein Schwimmbad nutzen wollen, so sollten sie auch im Grundsatz das Schwimmbad finanzieren. Nur wenn noch andere Gründe vorliegen, zum Beispiel dass das Schwimmbad Nutzen bei Nichtzahlern induziert, sollte man (partiell) vom Äquivalenzprinzip abweichen. Im Zweifel würde sogar das Äquivalenzprinzip fordern, dass nicht-zahlungsfähige Nutzer von der Nutzung ausgeschlossen werden. Es wird sicherlich Fälle geben, in denen gerade aus verteilungspolitischen Gründen trotzdem eine Nutzung ermöglicht werden soll. Kinder einkommensschwacher Familien sollen trotzdem schwimmen lernen und öffentliche Bäder nutzen können. Auf Verfassungsebene mag es daher hilfreich sein, genau zu definieren, wann das Äquivalenzprinzip zur Anwendung kommen soll oder nicht. Das aus der katholischen Soziallehre stammende Subsidiaritätsprinzip propagiert, dass Aufgaben so weit wie möglich auf der untersten Ebene zu erledigen seien. Im Rahmen der Sozialpolitik würde dies bedeuten, dass im Falle einer Notlage zunächst die Familie unterstützend eingreifen soll, bevor der Sozialstaat eingreifen würde. Für allgemeine Verfassungsregeln kann man dieses Prinzip auf die Frage anwenden, wie die Aufgaben auf die Gebietskörperschaften aufzuteilen wären: Sollte also eine staatliche Aufgabe auf der kommunalen Ebene, bei den Bundesländern, auf der Ebene des Nationalstaates oder auf der Ebene der Europäischen Union erfüllt werden? Im Art. 5, Abs. 2 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) wurden die sogenannten Erfordernis- und Besserklauseln festgeschrieben. Eine Aufgabe soll nur dann europäisch erledigt werden, wenn eine europäische Zusammenarbeit erforderlich ist und wenn die Aufgabe europäisch

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2  Wirtschaftsverfassung und ökonomische Theorie der Verfassung

besser erledigt werden kann als national. Der bisherige Umgang mit diesen Klauseln scheint eher zurückhaltend zu sein, vielleicht weil andere Mitgliedstaaten mit geringerer Tradition zum Föderalismus als Deutschland mit der Idee des Subsidiaritätsprinzips weniger anfangen können. Selbst in einem demokratischen Gemeinwesen bedarf es wohl dem Schutz des Einzelnen vor dem Machtmonopol des Staates. Rechtsstaatsprinzip und die Grundrechte als Abwehrrechte wurden bereits weiter oben ausführlich beschrieben. Allgemeiner könnte man dem Prinzip der Gewaltenteilung in Exekutive, Legislative und Judikative eine wichtige Funktion zur Begrenzung potenziellen Machtmissbrauchs zuschreiben.

2.2.3.2 Ordoliberale Ansatz Die ordoliberale Theorie stellt zentral die Wichtigkeit von langfristig ausgerichteten Regeln heraus. In der Wirtschaftsverfassung sollen gerade die Spielräume der Teilnehmer im Wirtschaftsprozess definiert werden, einschließlich der dazu notwendigen Institutionen. Diese Theorie stellt den Wettbewerb als entscheidendes Prinzip heraus, der Wettbewerb sei einerseits als Institution zu schützen und andererseits die Freiheit des Wettbewerbers müsse sichergestellt werden. Der Wettbewerb als prägende Institution sei Garant für den Wohlstand der Volkswirtschaft. Der Individualschutz dagegen stellt die Freiheit des Einzelnen in den Mittelpunkt, sich im Wettbewerb zu betätigen. Aus diesen allgemeinen Regeln ergeben sich dann sogenannte konstituierende und regulierende Prinzipien. Die konstituierenden Prinzipien einer marktwirtschaftlichen Ordnung gliedern sich wie folgt: 1. Preisniveaustabilität. Eine inflationäre Wirtschaft führe zu unerwünschten Umverteilungsprozessen. Die Besitzer von Sachgütern und Schuldner werden begünstigt, Gläubiger und Arbeitnehmer werden benachteiligt, letztere vor allem, wenn Tarifverträge nicht schnell oder nicht ausreichend genug Reallohnverluste ausgleichen. Verdecken inflationäre Prozesse die wahren Knappheiten bei Gütern, kann der Preis seine Steuerungsfunktion nicht oder nicht ausreichend ausführen. Beispielsweise wird zu sehr in Immobilien, Kunstwerken oder Wohnmobile investiert („Flucht in Betongold“). Wird im Einkommensteuerrecht der Steuertarif nicht an die inflationär ausgedehnten Löhne angepasst, kommt es zu einem steuerbedingten realen Einkommensverlust (kalte Progression). 2. Offenheit der Märkte. Der Staat sollte keine unnötigen Marktzugangsbeschränkungen erlassen und im Rahmen der Wettbewerbspolitik gegen private Beschränkungen des Marktes vorgehen. Zur Offenheit der Märkte gehört auch, dass der grenzüberschreitende Handel nicht durch protektionistische Eingriffe behindert wird. Offene Märkte stellen sicher, dass etablierte Anbieter den Druck besserer Unternehmen verspüren. Selbst nur die Möglichkeit des Marktzutritts kann ausreichen, um zu disziplinieren. 3. Privateigentum. Der Schutz des Privateigentums wurde bereits weiter oben als eine zentrale Aufgabe des Staates hergeleitet. Unter dem Recht des Privateigentums dürfen

2.2  Ökonomische Theorie der Verfassung

71

Unternehmen grundsätzlich frei entscheiden, welche Produktionsfaktoren sie einsetzen und in welchem Ausmaß. Es gilt der Grundsatz der Investitionsfreiheit. Bei dem Produktionsfaktor Arbeit sind die besonderen Regeln des Arbeitsrechts wie zum Beispiel Kündigungsschutz oder Tarifverträge zu beachten. Aus der Sicht der Konsumenten folgt aus dem Grundsatz des Privateigentums auch die Konsumfreiheit. 4. Vertragsfreiheit. Vertragsfreiheit meint, dass jeder frei entscheiden kann, ob er einen Vertrag eingehen möchte (Abschlussfreiheit) und welche Inhalte im Vertrag geregelt werden sollen (Inhaltsfreiheit). Zur Vertragsfreiheit gehört natürlich auch, frei zu entscheiden, ein Unternehmen zu gründen oder zu schließen. Vertragsfreiheit unterliegt natürlich ebenfalls rechtlichen Schranken, zum Beispiel dem Verbraucherschutzrecht oder öffentlich-rechtlichen Immissionsschutzbestimmungen (Abschn. 6.1). Aus ökonomischer Sicht korrespondiert die Vertragsfreiheit mit der Idee des pareto-optimalen Tausches: Wirtschaftssubjekte gehen Tauschbeziehungen ein, wenn sie sich daraus einen Vorteil versprechen, zumindest sich mit ihm nicht schlechter stellen; diesen Tauschbeziehungen liegen Verträge zugrunde. 5. Haftung. Vor allem Unternehmen, die für sich Privateigentum und Vertragsfreiheit in Anspruch nehmen, müssen als Pendant dazu die Haftung für ihr Handeln übernehmen. Verluste aus der unternehmerischen Tätigkeit gehen daher zunächst zu Lasten der Eigentümer, das Eigenkapital wird aufgebraucht, im Extremfall wird das Unternehmen geschlossen. Gewinne aus Innovationen stehen grundsätzlich zur Verfügung, um a) die Kosten der Innovation zu decken und b) Verluste aus gescheiterten Innovationen zu tragen. Der Staat sollte grundsätzlich keine Verluste der Unternehmen übernehmen. Nur wenn die gesamtwirtschaftlichen Schäden eines Unternehmenszusammenbruchs groß sind („Systemrelevanz“), kommt eine Unternehmensrettung in Frage. Erfolgt die Rettung, ist zu prüfen, ob der Staat nicht bei Wiedergesundung des Unternehmens am Erfolg partizipieren kann. Insofern mag es sogar grundsätzlich besser sein, sich an kränkelnden Unternehmen als Eigentümer zu beteiligen als Kredite zu vergeben: Im Erfolgsfall partizipiert der Staat über den gestiegenen Unternehmenswert. Das Risiko einer solchen Übernahme liegt aber u.  a. darin, dass der Staat „vergisst“, die Unternehmensanteile wieder zu veräußern. Zu selten wird diskutiert, ob der Grundsatz der Haftung nicht auch auf der Seite der Konsumenten Bedeutung haben sollte: Selbst bei Verbraucherentscheidungen wie zum Beispiel der Aufnahme eines Konsumentenkredits muss gesellschaftlich entschieden werden, inwieweit man grundsätzliche finanzmathematische Zusammenhänge wie Zins und Tilgung zu wissen hat. Wenn ja, bleiben die Folgen von Fehlentscheidungen dann grundsätzlich beim Konsumenten „liegen“. 6. Konstanz der Wirtschaftspolitik. Viele Entscheidungen in einer Marktwirtschaft fallen unter Unsicherheit. Die Wirtschaftspolitik sollte diese Unsicherheit nicht noch weiter vergrößern, indem sie oft und stark die Rahmenbedingungen des wirtschaftlichen Handelns ändert. Die regulierenden Prinzipien einer marktwirtschaftlichen Ordnung beschreiben die laufenden Aufgaben der Wirtschaftspolitik:

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2  Wirtschaftsverfassung und ökonomische Theorie der Verfassung

1. Wettbewerbsaufsicht. Marktteilnehmer tendieren dazu, nach Wegen zu suchen, um den Wettbewerb auszuschalten. Sie schließen Kartelle mit Konkurrenten, sie versuchen, Konkurrenten zu behindern, sie versuchen, ihre Marktmacht auszunutzen und über Unternehmenszusammenschlüsse zu Marktbeherrschung zu kommen. Die Wettbewerbspolitik muss hier dauerhaft gegensteuern (Kap. 3). 2. Einkommenspolitik. In einem nicht durch Marktmacht verzerrten Wettbewerb erhalten die Marktteilnehmer Faktorleistungen wie Löhne und Gewinne entsprechend ihrer Marktleistung. Ihre Marktleistung wird jedoch nicht nur vom individuellen Anstrengungsniveau bestimmt, sondern die Knappheit in dem jeweiligen Markt ist auch entscheidend. Wenn man mit diesen Marktergebnissen nicht immer zufrieden ist, wofür es sicherlich innerhalb der Gesellschaft grundsätzlich einen breiten Konsens gibt, kann der Staat durch die Einkommenspolitik dauerhaft eingreifen, sei es durch das umverteilende Steuersystem oder durch staatliche Einkommenstransfers. 3. Internalisierung externer Effekte. Nicht selten verursachen Aktivitäten in Märkten Kosten bei anderen oder werden auch Nutzen für andere erzeugt (negative oder positive) technologische externe Effekte (Abschn. 6.2.1.1). Die Kosten bei anderen entstehen außerhalb des Marktsystems, der Verursacher trägt nur einen Teil der gesellschaftlichen Kosten, er übt diese Tätigkeit zu häufig aus. Die Verbrennung fossiler Brennstoffe durch Haushalte und Unternehmen erzeugen eine Klimaerwärmung, wodurch es zu vermehrten Dürren oder zu mehr Niederschlägen/Unwettern kommt. Die Kosten dieser Fehlentwicklung werden ohne staatliches Eingreifen von Verursachern nicht getragen. Aufgabe des Staates mag hier sein, durch Verbote, Steuern und handelbare Schädigungsrechte einzugreifen (Kap. 6). Nutzen bei anderen erzeugt eine Impfung, wenn die Impfung die Ansteckungswahrscheinlichkeit bei Dritten senkt oder zumindest die Schwere des Krankheitsverlaufes herabsetzt. Der sich Impfende vergleicht nur seine Vorteile des Impfens (nicht oder nicht schwer krank zu werden) mit den Kosten des Impfens (die Risiken kurzfristiger Beschwerden, die relativ bald auftretenden Impfschäden und die möglicherweise weit in der Zukunft sich erst offenbarenden Spätschäden). Wenn der Impfende nicht altruistisch die Vorteile des Impfens bei Dritten berücksichtigt, wird systematisch zu wenig geimpft; das tatsächliche Impfverhalten liegt unterhalb der gesamtgesellschaftlich optimalen Impfneigung. Eine Subventionierung der Impfwilligen, eine Besteuerung der Impfverweigerer oder gar eine konsequent durchgesetzte Impfpflicht mag sinnvoll sein. Weitere positive externe Effekte drohen, wenn Innovatoren ihr Wissen nicht schützen können und Imitatoren durch einen scharfen Preiswettbewerb verhindern, die Kosten der Innovation zurückzuverdienen. Der Staat kann hier helfend eingreifen, indem er Patentregister aufbaut, pflegt und Patentrechtsverletzungen sanktioniert. Die ordoliberalen Prinzipien nehmen eine Mittelstellung zwischen Verfassungsprinzipien und konkreten Hinweisen zu einzelnen Wirtschaftspolitiken ein. Sie sind historisch als die Antwort führender deutschsprachiger Ökonomen am Ende des Zweiten Weltkrieges zu verstehen, wie eine bessere Wirtschaftsverfassung und -ordnung auszugestalten wäre.

2.2  Ökonomische Theorie der Verfassung

73

I­ nsofern ist es nicht verwunderlich, dass die heutigen Debatten differenzierter als damals stattfinden. Trotz alledem bleibt festzuhalten, dass die damals postulierten Prinzipien auch heute noch ihre Gültigkeit haben.

Zusammenfassung und Fazit

Die einführende Darstellung der Staatsfundamentalnormen und der wirtschaftlich relevanten Grundrechte bilden das Fundament unserer marktwirtschaftlichen Ordnung heute. Die ökonomische Theorie der Verfassung gibt eine Reihe von Hinweisen, wie unter Berücksichtigung von Kosten und Nutzen eine Wirtschaftsverfassung zu gestalten ist. Dies geht sogar so weit, dass sinnvollerweise zwischen laufenden politischen Prozess und Verfassungsebene zu trennen sei. Der ökonomische Ansatz zeigt auch auf, dass es aus individueller Sicht plausibel ist, durch unterschiedliche Abstimmungshürden die Minderheit vor der Mehrheit zu schützen, gleichzeitig aber auch Handlungsmöglichkeiten des Staates zu eröffnen. In der Zusammenschau beider Ansätze ergeben sich (vielleicht überraschenderweise) eine Vielzahl von wichtigen Erkenntnissen: • Diskriminierungs- und Entscheidungsfindungskosten können gut erklären, warum wir im Grundgesetz unterschiedliche Mehrheitsregeln anwenden. Wenn die negativen Folgen von der Mehrheit überstimmt zu werden besonders groß sind, macht es Sinn, Grundrechte in ihren Wesensgehalt unantastbar zu machen und Staatsfundamentalnormen einer parlamentarischen Abschaffung zu entziehen. Beispielsweise schützt das Demokratieprinzip davor, dass Entscheidungen autokratisch stattfinden. Das Sozialstaatsprinzip sichert dem Einzelnen zu, dass es, wenn es besonders schlecht läuft, nicht alleingelassen wird. • Die Verästelungen des Rechtsstaatsprinzips und dabei besonders die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit schützen einerseits den Einzelnen vor einem übergreifenden Staat, andererseits kann der Staat sinnvolle Eingriffe trotz allem rechtfertigen. Die Prüffolge, Schutzbereich, Eingriff und Rechtmäßigkeit senkt Diskriminierungskosten. • Einschränkungsmöglichkeiten aufgrund eines Gesetzes eröffnen Spielräume des laufenden politischen Prozesses; sie senken Konsensfindungskosten, da nicht immer vorab alle denkbaren Sachverhalte parlamentarisch geklärt sein müssen. Sicherlich kann und muss man diskutieren, ob das Grundgesetz und die damit verbundene Wirtschaftsverfassung nicht verbesserungsfähig wäre. Gerade im Bereich des gelebten Föderalismus werden häufig Grundsätze des Äquivalenzprinzips und des Subsidiaritätsprinzips missachtet. Zum Beispiel gibt es immer wieder Vorschläge, den Ländern eigene Steuerquellen zu eröffnen, die tatsächlich die Länder in

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2  Wirtschaftsverfassung und ökonomische Theorie der Verfassung

die Lage versetzen würden, staatliche Ausgaben mit den staatlichen Einnahmen abzuwägen. Die beiden Föderalismusreformen der 2000er-Jahre haben sicherlich noch nicht den großen Umschwung gebracht. Insgesamt jedoch sollte man nicht geringschätzen, wie prinzipiell die individuelle Freiheit des Einzelnen geschützt wird, ohne sinnvolle staatliche Lösungskompetenz auszuschließen. Die „schnöde Realität“ verblasst ohne Zweifel gegenüber dem Idealbild eines perfekt balancierten Staates nach den Grundsätzen der ökonomischen Theorie (Nirvana-Fehlschluss; Demsetz, 1969), aber auch die Theorie ist unvollständig.

Übungsaufgaben

1. Diskutieren Sie, ob mit dem Grundgesetz die soziale Marktwirtschaft als Wirtschaftssystem festgeschrieben ist. Gehen Sie hierzu auch auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Investitionshilfegesetz ein (BVerfGE, 20.07.1954). 2. Beschreiben Sie, unter welchen rechtlichen Voraussetzungen die Anzahl der Immobilienmakler in einer Region beschränkt werden könnte. 3. Erläutern Sie spieltheoretisch die Notwendigkeit eines Leistungsstaates. 4. Geben Sie jeweils zwei Beispiele für Staatsaufgaben, die nach dem Subsidiaritätsprinzip europäisch oder national erledigt werden sollten.

Kommentierte Literaturhinweise Manger-Nestler und Gramlich (2020, S. 17–72) geben einen hervorragenden Einblick in die juristische Diskussion der Staatsfundamentalnormen und der Grundrechtsprüfung; auch für Ökonomen wird deutlich, wie die öffentlich-rechtliche Normenabwägung funktioniert und insbesondere dabei der Ausgleich zwischen Individualinteressen und Gemeinwohl erfolgt. Schmidt (2019, S. 1–40) referiert in hinreichender Tiefe die ökonomische Theorie der Verfassung. Erlei et al. (2007, S. 494–517) weisen deutlich auf die Schwächen der deutschen Wirtschaftsverfassung hin, aus meiner Sicht wäre hier etwas mehr Milde durchaus vertretbar.

Literatur Buchanan, J. M., & Tullock, G. (1962). The calculus of consent: Logical foundations of constitutional democracy. University of Michigan Press. Demsetz, H. (1969). Information and efficiency: Another viewpoint. The Journal of Law and Economics, 12(1), 1–22.

Literatur

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Erlei, M., Leschke, M., & Sauerland, D. (2007). Neue Institutionenökonomik (2., überarb. u. erw. Aufl., S. 494–517). Schäffer-Poeschel. von Hayek, F.  A. (1994). Freiburger Studien: gesammelte Aufsätze (2.  Aufl., Nachdruck der 1. Aufl.). Mohr. Hirschman, A. (1970). Exit, voice, and loyalty: Responses to decline in firms, organizations, and states. Harvard University Press. Manger-Nestler, C., & Gramlich, L. (2020). Öffentliches Wirtschaftsrecht klipp & klar (S. 17–72). Springer Fachmedien. Möllers, C. (2009). Das Grundgesetz: Geschichte und Inhalt. Beck. Schmidt, A. (2019). Theorie der Wirtschaftspolitik. In T.  Apolte et  al. (Hrsg.), Kompendium der Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik III (S. 1–40). Springer Gabler. Tiebout, C. M. (1956). A pure theory of local expenditures. Journal of Political Economy, 64(5), 416–424.

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Wettbewerbspolitik

Eine wichtige Erkenntnis aus der wirtschaftlichen Entwicklung in der Weimarer Republik und der Zeit des Nationalsozialismus war, dass der Wettbewerb zwischen privatwirtschaftlichen Akteuren dazu neigt, sich selbst abzuschaffen. Eine staatliche Wettbewerbspolitik ist daher zwingend erforderlich. Mit dem Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB), seit dem 1. Januar 1958 in Westdeutschland in Kraft, und den Regelungen des EWG-Vertrages, heute im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) mit insbesondere den Artikeln 101 und 102, wurden wesentliche rechtliche Grundlagen geschaffen. Im weiteren Sinne kann man unter Wettbewerbspolitik alle rechtlichen Regeln und staatlichen Maßnahmen verstehen, die die Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs zum Ziel haben. Denkbar wäre zum Beispiel, dass der Staat eine Gründungsförderung betreibt, um zusätzliche Wettbewerber in den Markt zu bringen. Ferner könnte der Staat bestehende Großunternehmen zerschlagen, damit mehr Konkurrenz entstehen würde. Im Extremfall könnte er eine sogenannte optimale Wettbewerbsintensität anstreben, indem er die Zahl der Wettbewerber aktiv gestaltet, die Transparenz in Märkten optimiert oder dynamisch das optimale Ausmaß an Innovationen plant. Heutzutage besteht weitgehende Einigkeit, dass eine Verengung der Wettbewerbspolitik darauf sinnvoll ist, wie man rechtliche Regeln, die Beschränkungen des Wettbewerbs bekämpfen, entwickelt und durchsetzt. Beschränkungen des Wettbewerbs können verursacht werden, wenn sich Marktteilnehmer abstimmen. Insbesondere wenn sie sich auf einen gemeinsamen Preis einigen, die anzubietende Menge künstlich klein halten oder Gebietsabsprachen treffen, schließen sie ein verbotenes Kartell: Unsicherheiten im Markt, ob man preislich unterboten wird, welche Mengen von Konkurrenten in den Markt eingebracht werden und wie sich der räumliche Ergänzende Information Die elektronische Version dieses Kapitels enthält Zusatzmaterial, auf das über folgenden Link zugegriffen werden kann [https://doi.org/10.1007/978-3-658-42124-3_3]. © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 T. Wein, Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42124-3_3

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3 Wettbewerbspolitik

Wettbewerb gestaltet, werden ausgeschlossen; die wichtige Disziplinierungsfunktion des Wettbewerbs unterbleibt. Die Anbieter zielen mit der Vereinbarung darauf ab, sich wie ein einzelner (marktmächtiger) Monopolist verhalten zu können. Betrifft die Absprache Unternehmen im Horizontalverhältnis, d. h. sie bieten auf der gleichen Marktstufe an, so sind diese Vereinbarungen rechtlich unwirksam, können erhebliche Bußgelder nach sich ziehen, unter speziellen Bedingungen strafrechtlich relevant werden und zivilrechtlich zu Schadenersatzzahlungen führen. Vereinbarungen von Unternehmen, die zueinander in einem Vertikalverhältnis stehen (zum Beispiel Lieferant und Produzent), sind wettbewerbspolitisch differenziert zu betrachten. Haben die Nachfrager hinreichend Möglichkeiten, zwischen Produkten zu wählen, die von unterschiedlichen vertikal gestuften Unternehmens „verbänden“ angeboten werden (wirksamer Interbrand-Wettbewerb), sind derartige Vereinbarungen wettbewerbspolitisch unerheblich. Fehlt es jedoch an einem wirksamen Interbrand-Wettbewerb, so bedarf es einer ausdifferenzierten Prüfung, ob die mit der Vereinbarung einhergehenden Vorteile die zu erwartenden Nachteile überwiegen. Wettbewerbspolitisch ebenfalls bedenklich wäre es, wenn marktmächtige Unternehmen ihre Macht ausspielen, um Wettbewerber zu behindern oder die Nachfrageseite auszubeuten. Die Marktmacht kann jedoch auch auf der Nachfrageseite liegen, sodass Anbieter auf vorgelagerten Stufen behindert oder aufgrund von Marktmacht zu günstigen Konditionen „erpresst“ werden. Durch Unternehmenszusammenschlüsse kann jedoch erst Marktmacht entstehen oder bestehende Macht verstärkt werden. In der Fusionskontrolle ist dies zu prüfen und mit wettbewerbsverbessernden Wirkungen der Fusion abzuwägen. Im Rahmen der Ministererlaubnis soll der Wirtschaftsminister prüfen, ob die gesamtwirtschaftlichen Vorteile des Zusammenschlusses die Wettbewerbsbeschränkungen aufwiegen oder ein überragendes Interesse der Allgemeinheit an der Fusion vorliegt. In der Europäischen Fusionskontrolle kann die Europäische Kommission diese Fragen im Rahmen des normalen Verfahrens berücksichtigen. Abschn. 3.1 beschreibt die grundsätzliche Funktionsweise eines Monopols bzw. von marktmächtigen Unternehmen und macht klar, warum gesamtwirtschaftlich gesehen ein Monopol bzw. Marktmacht schädlich ist. Hierzu werden auch zwei einfache Modelle, das mikroökonomische Angebotsmonopol und das industrieökonomische Cournot-­ Oligopolmodell, vorgestellt. Unter Abschn. 3.2 findet sich ein Überblick über das deutsche und europäische Wettbewerbsrecht. Mit Abschn. 3.3 werden horizontale Vereinbarungen wettbewerbsrechtlich analysiert und ökonomisch bewertet. Horizontale Zusammenschlüsse werden unter Abschn. 3.4 aufgegriffen. Vertikale Zusammenschlüsse und Vereinbarungen sind Gegenstand des Abschn.  3.5. Die Missbrauchsaufsicht über marktbeherrschende Unternehmen fasse ich in Abschn. 3.6 zusammen.

3.1 Wettbewerbstheoretische Grundlagen Referenzstandard für die folgenden Überlegungen ist das Modell des vollkommenen Wettbewerbs (Kerber, 2019, S. 120–123). Abb. 3.1 wird auf der Abszisse die Gütermenge X abgetragen, auf der Ordinate stehen Geldeinheiten, hier in €. Es gelte die typischerweise

3.1  Wettbewerbstheoretische Grundlagen

79

€ B

N

C

P2

G

P3 P4

P1

A E

M 0

X2

GK/DK

L

X3

X1

X

GE

Abb. 3.1  Wettbewerb und Monopol. (Ähnlich Kerber, 2019, S. 122)

fallende Nachfragekurve N, vereinfachend linear verlaufend unterstellt. Alle ­Unternehmen in diesem Markt sollen zu konstanten und gleichen Grenzkosten GK produzieren; folglich verlaufen die Durchschnittskosten ebenfalls konstant (DK). Unter Wettbewerb bieten die Unternehmen entsprechend ihrer Grenzkosten an, damit entspricht hier die Angebotskurve der Grenzkostenkurve GK. Es ergibt sich im Wettbewerbsgleichgewicht der Punkt A mit den Gleichgewichtspreis P1 und der -menge X1. Das Dreieck BAP1 beschreibt die Konsumentenrente der Nachfrager, also die den tatsächlichen Preis übersteigenden Zahlungsbereitschaften der Konsumenten. Unter Vernachlässigung von Einkommenseffekten kann man die Konsumentenrente als monetäre Wertgröße für den Nutzen der Konsumenten heranziehen, der ihnen aus dem Konsum der Menge X1 zuwächst, wenn man die dafür

80

3 Wettbewerbspolitik

anfallenden Ausgaben P1AX10 abzieht. Da in der Abb. 3.1 eine konstante Grenzkostenkurve unterstellt wird, fällt hier keine Produzentenrente an. Nimmt man an, dass ein Angebotsmonopol vorliegt, ändert sich in Abb. 3.1 nur ein Sachverhalt: Der Monopolist ist dazu in der Lage, jeden Preis auf der Nachfragekurve zwischen den Punkten B und L zu wählen (Preisdifferenzierung bleibt ausgeschlossen). Je nach gesetztem Preis ergibt sich dann die nachgefragte Menge durch Herunterloten auf die Abszisse. Zum Preis von P2 würde beispielsweise die Menge X2 und zum Preis von P3 die Menge X3 nachgefragt. Die Nachfragekurve wird zur Preisabsatzfunktion. Senkt beispielsweise der Monopolist den Preis von P2 auf P3, kommt es zu zwei gegenläufigen Effekten: Die bisher konsumierten Menge X2 erzielt geringere Umsatzerlöse entsprechend des Rechtecks P2CKP3, durch den geringeren Preis P3 werden jedoch auch z.  B. neue Kundengruppen erreicht, der Umsatz steigt entsprechend des Rechtecks KGX3X2. Wie man in der Abb. 3.1 leicht sieht, ist der Umsatzzuwachs größer als der Umsatzrückgang, insgesamt liegt ein positiver Grenzerlös (GE) vor. Diese Überlegung kann man für eine Vielzahl von Preisänderungen durchführen, die „Nettogröße“ Grenzerlös (GE) ergibt sich dann in der Abb. 3.1. Bei linearer Nachfragekurve schneidet die Grenzerlöskurve die Abszisse bei der halben Sättigungsmenge (Punkt M); die Sättigungsmenge L entspricht der nachgefragten Menge bei kostenloser Abgabe des Gutes. Zur Menge M gehört der Preis P4, bei einer marginalen Preissenkung gleichen sich hier gerade die Umsatzverluste bei den bisherigen Mengen mit den zusätzlichen Umsätzen aufgrund der Preissenkung aus. Der Angebotsmonopolist wird jetzt sein Gewinnmaximum dort erreichen, wo sich die Grenzerlös- und die Grenzkostenkurve schneiden, in der Abb.  3.1 entspricht dies dem Punkt E, bei dem GK gleich GE ist. Hochgelotet auf die Preisabsatzfunktion ergibt sich der Cournotsche Punkt C, mit dem Monopolpreis P2 und nach unten gelotet der Monopolmenge X2. In einer weiteren Überlegung lässt sich auch in einer Grafik zeigen, dass der Punkt E das Gewinnmaximum bestimmt (Abb. 3.2). Würde der Angebotsmonopolist statt X2 eine um den kleinen Betrag ε erhöhte Menge produzieren und absetzen, hätte er zusätzliche Kosten in Höhe des Rechtecks LNX2+εX2. Diesen Kosten stehen zusätzliche Umsatzerlöse in Höhe der Fläche LQX2+εX2 gegenüber. Netto erleidet der Angebotsmonopolist durch die Mengenausdehnung einen Verlust in Höhe des Dreiecks LNQ. Für jede beliebige Menge ε, die mehr erzeugt würde, würde ein Verlust eintreten. Verringert man die Menge um ε, spart der Angebotsmonopol Kosten und zwar in Höhe von SLX2X2−ε ein, dem stehen jedoch Umsatzverluste in Höhe von TLX2X2−ε gegenüber. Wieder kommt es zu einer Gewinneinbuße, hier in Höhe von TLS. Somit gilt auch für alle beliebigen Mengen von ε, um die X2 vermindert wird, dass eine Gewinnschmälerung droht. Insofern konnte gezeigt werden, dass X2 genau die gewinnmaximale Menge des Angebotsmonopolisten ist. Nicht nur ein Angebotsmonopolist, sondern auch ein Kartell wird danach streben, sich wie ein Monopolist zu verhalten, um damit seinen gemeinsamen Gewinn zu maximieren.

3.1  Wettbewerbstheoretische Grundlagen

81



N

C

P2

T P1

N S L

GK/DK

Q

X2-ε X2 X2+ε

X GE

Abb. 3.2  Gewinnmaximum im Monopol. (Quelle: Eigene Darstellung)

Die Folgen der Monopolpreissetzung kann man auch anhand der Abb. 3.3 erläutern. Zunächst analysiere ich, welche Folgen für die Restmenge X2 eintreten. Das Dreieck BCP2 war vorher Konsumentenrente und ist es auch unter Monopolbedingungen. Das Rechteck P2CEP1 fällt unter Wettbewerb als Konsumentenrente an. Durch die Monopolpreissetzung wird diese Konsumentenrente in einen Monopolgewinn umgewandelt. Die Konsumenten verlieren also, der Monopolist und damit die dahinterstehenden Eigentümer gewinnen. Um die Wohlfahrtswirkung dieser Umverteilung gesellschaftlich bewerten zu können, müsste man die Nutzengewinne des Monopolisten, genauer gesagt die der Eigner des Monopolisten, mit den Nutzenverlusten der Konsumenten verrechnen können; ein inter-

82

3 Wettbewerbspolitik

€ B N

C

P2

A P1

0

E

X2

X1

GK/DK

X

GE

Abb. 3.3  Wohlfahrtswirkungen des Monopols. (Quelle: Eigene Darstellung)

personeller Nutzenvergleich müsste möglich sein. Aus der mikroökonomischen Theorie weiß man jedoch, dass dies gerade nicht möglich ist. Insofern kann man diese Umverteilung verteilungspolitisch bedauern oder auch nicht (Eigner des Monopols könnten ­natürlich auch theoretisch arme Bevölkerungsgruppen sein), wohlfahrtsökonomisch bleibt diese Frage ungelöst. „Spannender“ wird es, wenn man den Mengenrückgang von X1 nach X2 betrachtet. Eine Interpretation wäre hier, dass es aufgrund des Mengenrückgangs zu einem Verlust an Konsumentenrente entsprechend des Dreiecks CAE kommt. Dies wird auch als toter Wohlfahrtsverlust des Monopols (deadweight loss) bezeichnet, häufig auch als Harberger-Dreieck (amerikanischer Ökonom mit empirischen Untersuchungen zu diesem Thema; Harberger, 1954) benannt. Den toten Wohlfahrtsverlust kann man auch noch in einer anderen Art und Weise erklären: Der Rückgang der Menge von X1 nach X2 impli-

3.1  Wettbewerbstheoretische Grundlagen

83

ziert einerseits entfallende Nutzen bei den Konsumenten in Höhe der Fläche CAX1X2, für die Gesellschaft eindeutig eine Wohlfahrtseinbuße; andererseits bedeutet der Mengenrückgang natürlich auch, dass weniger Ressourcen eingesetzt werden müssen, in mone­ tären Größen entspricht dies dem Rechteck EAX1X2. Die Nutzeneinbußen auf ­Konsumentenseite überwiegen die Ressourcenersparnisse auf der Produktionsseite genau wieder um die Fläche CAE. Die verzerrte Allokation mit X2 statt X1 stellt das Basisargument für eine Wettbewerbspolitik dar, weil letztendlich alle Formen der Beschränkung des Wettbewerbes im Kern darauf zielen, Zusatzgewinne wie P2CEP1 zu erreichen, was mit Wohlfahrtsverlust wie CAE einhergeht. Neben diesen sogenannten statischen Wohlfahrtsverlusten kann man aber auch beobachten, dass Monopolisten Innovationen, die gesellschaftlich sinnvoll wären, „verschlafen“: Die Monopolisten unterliegen nicht dem Druck der Konkurrenz, Kunden haben vielfach keine Alternativen, warum sich also dem Risiko einer scheiternden Innovation aussetzen? Dies kann man als dynamischen Wohlfahrtsverlust bezeichnen. Häufig wird jedoch im Zusammenhang mit Innovationen die Argumentation eingebracht, dass dem Monopolisten auskömmliche Preise zugestanden werden müssten, um technische Neuerungen der Zukunft finanzieren zu können. Die statischen Wohlfahrtsverluste seien daher als Preis für Neuerungen hinzunehmen. Letztendlich ist dies eine schwierige Frage, die die Wettbewerbs- und noch häufiger die Regulierungsbehörde vor großen Abwägungsentscheidungen stellt. Darüber hinaus kann der fehlende Wettbewerbsdruck dazu führen, dass die Anreize, Kosten effizient zu produzieren, geschmälert werden; die Grenzkostenkurve verschiebt sich dann nach oben (technische Ineffizienz; X-Ineffizienz nach Leibenstein, 1966). Marktmacht kann natürlich nicht nur durch ein Angebotsmonopol entstehen, sondern mag auch die Folge von wenigen Anbietern in einem Markt sein. Das folgende (einfache) Cournot-Mengen-Oligopolmodell (Nechyba, 2018, Kap.  25) zeigt beispielhaft eine solche Situation auf. In Abb.  3.4 wird wiederum auf der Abszisse die Menge X dargestellt und auf der Ordinate werden Geldeinheiten in € abgetragen. Es gelte die Gesamtnachfragekurve N. Im Cournot-Modell wird unterstellt, dass sich die Anbieter in einem Mengenwettbewerb befinden. Im Cournot-Wettbewerb ist die entscheidende strategische Variable die angebotene Menge, beispielsweise, weil es einen relativ langen Zeitraum dauert, Güter zu produzieren. Weiter wird hier unterstellt, dass die Anbieter simultan über ihre Mengen entscheiden müssen; sie wissen nicht, für welche Mengen sich ihre Konkurrenten entscheiden werden. Im Folgenden wird angenommen, dass es nur zwei Anbieter gibt, Unternehmen A und Unternehmen B.  Zunächst soll Unternehmen A annehmen, dass der Konkurrent B die fixe Menge X B setzen würde. Folglich wüsste A, dass für ihn maximal Preismengenkombinationen entlang der Restnachfragekurve RNA = N- X B zur Verfügung stehen. Gewinnmaximierend wird sich dann A wie ein Monopolist verhalten und daher die Grenzerlöskurve GEA berechnen. Bei seinen konstanten Grenzkosten GKA wäre dann die optimale Menge aus dem Schnittpunkt von GEA und GKA (Punkt E) ableitbar: Unternehmen A würde somit die Menge XA* an-

84

3 Wettbewerbspolitik



N

N-

P*

E

0

XA*

GKA

GEA

X*

X

Abb. 3.4  Oligopol – Eine feste Menge eines Anbieters. (Quelle: Eigene Darstellung)

bieten, Unternehmen B bleibt bei seiner fixen Menge X B ,  insgesamt würde X* angeboten, was mit dem Preis von P* verbunden wäre. Abb.  3.5 erweitert diese Sichtweise, indem unterschiedlich gegebene Mengen von Unternehmen A durchgespielt werden. Unterstellt A, dass B gar nichts anbietet, wird die Nachfragekurve N zur Restnachfragekurve N0. Auf der linken Seite der Abb. 3.5 gilt in diesem Falle die Grenzerlöskurve GE0, die dem des Monopols entsprechen würde. F ­ olglich würde A aus dem „Abgleich“ mit seinem Grenzkosten die Monopolmenge XM bzw. XA0 setzen. Dieses Oligopolergebnis wird im rechten Teil der Abb.  3.5, in der die bereitgestellten Mengen von Unternehmen A und B abgetragen werden, als Punkt a bezeichnet. Die in Abb. 3.4 dargestellte Situation wurde auf die Abb. 3.5 übertragen, die fixe Menge X B wird jetzt als X B1 in der rechten Seite eingezeichnet. Mit der optimalen Menge des A,

3.1  Wettbewerbstheoretische Grundlagen

85



XA NN-

N=N0 1

XA0 a

2

GE2

N-

3

GE1

b

XA1

GKA GE0

RFA(XB) c

XA2

GE3 0

d XA2XA1

XA0

XW

X

0

1

2

3

XB

Abb. 3.5  Mengenwettbewerb bei gegebenen Mengen des B. (Quelle: Eigene Darstellung)

X*, aus Abb. 3.4, die links in Abb. 3.5 als XA1 repräsentiert wird, ergibt sich folglich rechts Punkt b. Eine größere Menge als X B1 wie zum Beispiel X B 2 verschiebt die Restnachfragekurve zu N- X B 2 ,  es ergibt sich die gewinnmaximale Menge für A als XA2; rechts wird Punkt c erreicht. Wird die Restnachfragekurve noch weiter nach links verschoben, weil zum Beispiel X B 3 gelte, würde Unternehmen A nichts mehr anbieten, da der Schnittpunkt der zugehörigen Grenzerlös- mit der Grenzkostenkurve bei der Nullmenge erreicht wird. Mit anderen Worten: Muss A annehmen, dass B die Menge auf jeden Fall auf den Markt bringt, die sich im Wettbewerb insgesamt nur absetzen ließe ( X B 3  = XW), bleibt A nur die ­Möglichkeit, „Platz zu machen“. Im rechten Teil der Abb. 3.5 entspricht diese Situation dem Punkt d. Die Verbindungslinie der Punkte a bis d stellen die Reaktionsfunktion des A auf gegebene Mengen des B dar (RFA(XB)). Man kann nun die gleichen Überlegungen für das Unternehmen B anstellen, wie sich B optimal auf gegebene Mengen des A einstellen könnte. Es ergibt sich die Reaktionsfunktion des B, gegeben die Menge des A (RFB(XA)). Abb. 3.6 beinhaltet beide Reaktionsfunktionen.

86

3 Wettbewerbspolitik

XA

RFB(XA)

RFA(XB)

0

XB

Abb. 3.6  Reaktionsfunktionen. (Quelle: Eigene Darstellung)

Kasten 3.1: Mathematische Herleitung der Reaktionsfunktionen im Cournot-Duopol

Unternehmen A und B bieten jeweils die Mengen XA und XB im Duopolmarkt an, die Gesamtmenge im Markt sei daher XA + XB = X. Vereinfachend wird unterstellt, dass beide Anbieter keine Grenzkosten tragen müssen (GKA = GKB = 0). Die indirekte Nachfragefunktion sei linear und entspreche der Gleichung:

P  10  X.

(3.1)

Die Menge von A und B eingesetzt, ergibt:

P  10   X A  X B  .

(3.2)

3.1  Wettbewerbstheoretische Grundlagen

87

Aufgelöst:

P  10  X A  X B . (3.3)

Die Umsatzfunktion des A (UA) ist somit gleich

U A  10  X A  X B  X A .

(3.4)

Ausmultipliziert:

U A  10 X A  X A 2  X B X A . (3.5)

Diese Gleichung nach XA abgeleitet, ergibt die Grenzerlösfunktion des A:

U′A = GE A = 10 − 2X A − X B . (3.6)

Gewinnmaximierung setzt voraus, dass Grenzerlös gleich Grenzkosten ist. Bei unterstellten Grenzkosten von Null ergibt sich somit als Bedingung erster Ordnung für ein Gewinnmaximum:

10  2 X A  X B  0. (3.7)

Umgeformt:



5

XB  XA . 2

(3.8)

Dies entspricht der Reaktionsfunktion RFA(XB), die entsprechend in der Abb.  3.7 eingezeichnet wurde. Da die Bedingungen für B symmetrisch sind, ergibt sich die Reaktionsfunktion RFB(XA) als:



5

XA  XB. 2

(3.9)

Umgeformt:

10  2 X B  X A . (3.10)

Diese Reaktionsfunktion RFB(XA) findet sich ebenfalls in Abb. 3.7.

88

3 Wettbewerbspolitik

XA

10

RFB(XA)

5

RFA(XB)

0

5

10

XB

Abb. 3.7  Reaktionsfunktionen des A und B bei konkreten Nachfragefunktionen. (Quelle: Eigene Darstellung)

Abb. 3.8 beschreibt die Gleichgewichtsüberlegungen im Duopol, aufbauend auf die Abb. 3.6 und 3.7. Geht Unternehmen B ex ante davon aus, dass Unternehmen A mit der Menge a im Markt agieren wird, ist für B entsprechend der eigenen Reaktionsfunktion RFB(XA) die Menge b gewinnmaximierend. Würde jedoch A voraussehen, dass B mit der Menge b „arbeitet“, wäre A’s optimale Reaktion die Menge c. Mengen a und c stimmen nicht überein, die Erwartungen des B werden nicht erfüllt: B würde sein Verhalten anders ausrichten, wenn er gewusst hätte, dass c und nicht a realisiert wird. Geht Unternehmen A ex ante von der Menge d aus, die B simultan produziert, wäre für A die Menge e optimal. Rechnet B jedoch mit der Menge e von A, würde sich B für f entscheiden. Wiederum gilt, dass die erwartete und die optimale Menge des B nicht übereinstimmen (f ≠ d); es besteht kein Gleichgewicht. Nur wenn von Anfang an Unternehmen A die Menge g und Unternehmen B die Menge h setzt, kommt es zu einem Gleichgewicht in GG, bei dem sich die jeweiligen Erwartungen auch erfüllen würden.

3.1  Wettbewerbstheoretische Grundlagen

89

XA

10

RFB(XA) a

5 c GG

g

RFA(XB)

e

0

b

h

f

d

5

10

XB

Abb. 3.8  Gleichgewicht bei Reaktionsfunktionen. (Quelle: Eigene Darstellung)

Kasten 3.2: Rechenbeispiel Oligopol, Monopol und Wettbewerb

Den Schnittpunkt beider Reaktionsfunktionen, kann man berechnen, indem man beispielsweise die Reaktionsfunktion RFA(XB) in die Reaktionsfunktion RFB(XA) einsetzt:



xA   5  2  , XA  5   2

(3.11)

was zu



X AC =

10 3

(3.12)

90

3 Wettbewerbspolitik

führt. Aus Gründen der Symmetrie gilt:



X BC =

10 . 3

(3.13)

XAC + XBC können in Abb. 3.9 links eingezeichnet werden. Es ergibt sich dann die Gesamtmenge (Abb. 3.9 rechts)



XC =

20 , 3

(3.14)

Eingesetzt in die indirekte Nachfragefunktion, ergibt sich der Marktpreis:



PC =

10 . 3

(3.15)

Im Vergleich dazu wäre im Monopol mit der Preisabsatzfunktion P = 10 – X die Umsatzfunktion:

U  10  X  X  10 X  X 2 ,

(3.16)

U   GE  10  2 X.

(3.17)

daraus der Grenzerlös

Da die Grenzkosten hier gleich Null sind, ergibt sich als Gewinnmaximum

10  2 X  0

(3.18)



X M = 5.

(3.19)

Teilen sich die Duopolisten die Monopolmenge auf, gilt (Abb. 3.9 links)



M M X= X= A B

5 , 2

(3.20)

Der Monopolpreis wäre dann PM = 5. Im Wettbewerb würde gelten: P = GK. Bei GK = 0 wäre der Preis (PW) gleich 0, die Sättigungsmenge X wäre die Marktmenge (XW = 10). Bei hälftiger Aufteilung würden beide 5 (XAW = XBW) anbieten (Abb. 3.9 links).

3.1  Wettbewerbstheoretische Grundlagen

91

XA



10

10 N

RFB(XA)

.

5 10 3 5 2

.

PM=5

GG

PC=

M

0

W

5 10 2 3

RFA(XB)

5

XB

PW=0 XM=5

20 3

XW=10

X

Abb. 3.9  Vergleich Mengen-Oligopol/Monopol/Wettbewerb. (Quelle: Eigene Darstellung)

Abb. 3.9 rechts fasst noch einmal die Ergebnisse zusammen. Man sieht sehr deutlich, dass im Monopolfall der höchste Preis gesetzt und die geringste Menge angeboten wird. Insofern erzeugt dort die Marktmacht den größten Wohlfahrtsverlust. Beim oligopolistischen Cournot-Mengenwettbewerb ist der Preis immer noch zu hoch und die Menge immer noch zu klein, jeweils im Vergleich zur Wettbewerbslösung. Insofern entsteht weiterhin ein Wohlfahrtsverlust. Steigt die Anzahl der im Cournot-Wettbewerb tätigen Anbieter an, lässt sich zeigen, dass der Preis fällt und die Menge steigt, die Monopolmacht nimmt ab und der Wohlfahrtsverlust wird kleiner. Lässt man im Mengenwettbewerb einen Anbieter als Erster über die angebotene Menge entscheiden und der Zweite kann sich daran nur anpassen, sieht man, dass der Marktpreis gegenüber dem Cournot-Wettbewerb höher ausfällt und dann die Menge in geringerem Maße angeboten wird; der Erste stellt sich besser gegenüber Cournot, der Zweite schlechter (Stackelberg-Modell, Nechyba, 2018, Kap. 25). In einem Oligopolmodell (Bertrand-Modell mit homogenen Gütern, Nechyba, 2018, Kap. 25), in dem die Anbieter über den Preis konkurrieren, ergibt sich die Wettbewerbslösung, die Marktmacht und der Wohlfahrtsverlust verschwindet komplett. Die einfachen industrieökonomischen Modelle zeigen, dass in Oligopolmärkten keine eindeutigen wettbewerbspolitischen Schlussfolgerungen bezüglich des Auftretens von Marktmacht möglich sind. Insofern verwundert auch nicht, dass im Wettbewerbsrecht oligopolistischen Strukturen sehr differenziert geregelt sind (Abschn. 3.4).

92

3 Wettbewerbspolitik

Jenseits der industrieökonomischen Modelle wurde in den vergangenen Jahrzehnten versucht, Märkte eher verbal, man kann sogar sagen qualitativ, zu erfassen. Das vielleicht am Weitesten entwickelte Konzept hierzu ist das des funktionsfähigen Wettbewerbs (workable competition; Clark, 1940; Kantzenbach, 1966; Robinson, 1933, zusammenfassend Kerber, 2019, S. 124–127). In Abkehr vom Modell des vollkommenen Wettbewerbs soll anhand der Kriterien „Marktstruktur, Marktverhalten und Marktergebnis“ jeder Markt für sich beurteilt werden, ob er funktionsfähig ist oder nicht; bei Funktionsunfähigkeit müsste die Wettbewerbspolitik eingreifen. Zur Marktstruktur gehören alle Variablen, die vom Unternehmen nicht veränderbar sind und von denen man ausgeht, dass sie kurz- oder zumindest mittelfristig konstant sind. Beispielsweise sei die Anzahl der Wettbewerber und das Verhältnis ihrer Marktanteile zueinander konstant (gegebene Anbieterkonzentration), die Hürden zum Markteintritt bzw. zum Marktaustritt würden sich nicht verändern, auf der Marktgegenseite (Nachfrageseite) käme es zu einer fest gefügten Marktlage, die beiden Parteien seien (in etwa) über die Zeit hinweg gleichartig informiert, die gehandelten Güter werden weder stärker ausdifferenziert noch mehr vereinheitlicht, die Unternehmen können wie im bisherigen Maße ihre Produktionsmöglichkeiten umstellen oder Größenvorteile verändern sich nicht. Diese Strukturmerkmale sollen (maßgeblich) das Verhalten der Unternehmen determinieren, d.  h. aus diesen Merkmalen folgt, welche Preise und Mengen gewählt, welche neuen Produkte oder Verfahren im Markt eingesetzt werden, etc. Diese Verhaltensparameter bestimmen dann wesentlich, welches Marktergebnis sich in den jeweiligen Märkten einstellen würde; das Preis- bzw. Gewinnniveau wäre dann gegeben, die Rate des technischen Fortschritts, die Qualität und Vielfalt der Produkte ebenso. Das Struktur-Verhalten-Ergebnis-Paradigma konnte die hohen Erwartungen nicht erfüllen, zum einen, weil die genannten Kriterien zu breit gefasst sind und damit vieldeutig werden; zum anderen, weil in den konkreten Märkten die Sachverhalte doch vielfach spezifischer sind, als sie von diesem Konzept erfasst werden.

3.2 Überblick über das deutsche und europäische Wettbewerbsrecht Im Allgemeinen können Wettbewerbsbeschränkungen von Seiten des Staates ausgehen oder durch private Akteure hervorgerufen werden (Kerber, 2019, S.  138–140). Bei den staatlichen Wettbewerbsbeschränkungen geht es um den Ausschluss von Konkurrenz (Monopole, staatlich vergebene Monopolrechte und Marktzutrittsbeschränkungen) und gegenüber dem Ausland gerichtete Zölle und handelserschwerende, nicht direkt über den Preis wirkende (nicht-tarifäre) Beschränkungen sowie Subventionen, wenn sie (gezielt) die Kosten der inländischen Anbieter herabsetzen. Bei privaten Beschränkungen geht es erstens um die ex-ante Koordination von Wettbewerbern: Man einigt sich vorab, welchen Preis man setzen wird, welche Mengen man anbieten wird, usw.; man wird daher vom Marktgeschehen „nicht mehr überrascht“. Diese Ex-anteKoordination kann zwischen An-

3.2  Überblick über das deutsche und europäische Wettbewerbsrecht

93

bietern der gleichen Marktstufe (horizontal) oder vertikal (zum Beispiel Lieferant-­ Produzent) erfolgen. Zweitens kann man durch Unternehmenszusammenschlüsse eine Marktbeherrschung begründen oder verstärken, sei es zwischen Anbietern, die gleichartige Produkte herstellen (horizontal), die in einem vor- und nachgelagerten Verhältnis zueinanderstehen (vertikal) oder die auf einem komplett anderen Markt agieren (diagonal oder konglomerat). Drittens kann ein Unternehmen versuchen, Konkurrenz zu behindern oder die Marktgegenseite auszubeuten. Im Grundsatz können diese privaten Beschränkungen auch von der Nachfrageseite ausgehen, um damit den angebotsseitigen Wettbewerb auszuschalten. Grundsätzlich kann die Wettbewerbspolitik an der Marktstruktur, am Marktverhalten und am Marktergebnis anknüpfen sowie eher Regel basiert oder diskretionär ausgerichtet sein (Kerber, 2019, S. 141). Regelbasiert (per se-Regeln) heißt, dass die wettbewerblichen Tatbestände allgemein gelten, die Umstände des Einzelfalls spielen keine Rolle. Beispielsweise wäre ein horizontales Per-se-Kartellverbot dahingehend zu interpretieren, dass alle Absprachen und abgestimmte Verhaltensweisen zwischen Anbietern der gleichen Wertschöpfungsstufe verboten sind; etwaige Effizienzvorteile, die zum Beispiel bei der Festlegung von Standards oder der Zusammenarbeit in Forschung und Entwicklung möglich sind, können per Gesetz nicht als Rechtfertigung akzeptiert werden. Dagegen berücksichtigen diskretionäre Wettbewerbsregeln (rule of reason) die Bedingung des jeweiligen Einzelfalles. Nur bei einer nachgewiesenen oder zumindest vermuteten Beeinträchtigung des Wettbewerbs und unter Berücksichtigung von denkbaren Effizienzvorteilen kommt es zu einem Verbot. Diskretionäre Wettbewerbsregeln stellen hohe Informationsanforderungen an die entscheidende Behörde, (industrie-)politisch motivierte Entscheidungen werden leicht möglich. Im Falle einer regelbasierten Politik kann man nicht ausschließen, dass gesamtwirtschaftlich sinnvolle Wettbewerbstatbestände untersagt werden. Abb. 3.10 stellt die grundsätzliche Frage, welche Fehler die Wettbewerbsbehörde überhaupt machen kann. Liegen keine Wettbewerbsbeschränkung vor und die Behörde erkennt dies bzw. die Behörde stellt zu Recht eine Wettbewerbsbeschränkung fest, ist die Wettbewerbspolitik auf dem richtigen Weg. Der Fehler 1. Art greift, wenn die Behörde wettbewerbliches Verhalten unterbindet, obwohl eine Beschränkung nicht vorliegt. Man kann sagen, dass die Behörde über das Ziel „hinausschießt“. Lässt sie bei den Marktteilnehmern bestimmte Aktivitäten zu, obwohl sie gegen den Wettbewerb gerichtet sind, greift der Fehler 2. Art. Tendenziell könnte man vermuten, dass eine diskretionäre Wettbewerbspolitik zum Fehler 2. Art tendiert, da Effizienzvorteile eher überschätzt werden. Per-se-Regeln sind vielleicht zu starr und neigen daher zum Fehler 1. Art. Wesentliche (historische) Bezugspunkte für das deutsche Wettbewerbsrecht sind die US-amerikanischen Regeln und das europäische Recht (Kerber, 2019, S.  141  f.). Mit dem Sherman Act (1890), Clayton Act (1914) und Federal Trade Commission Act (1914) wurden Vorschriften erlassen, um abgestimmtes Verhalten bzw. Kartelle zu verhindern und gegen die Monopolisierung von Märkten vorzugehen. In Europa kam es erst nach dem Zweiten Weltkrieg zu wesentlichen gesetzgeberischen Maßnahmen, um

94

3 Wettbewerbspolitik Realität: Wettbewerbsbeschränkung liegt vor

Wettbewerbsbeschränkung liegt nicht vor

WettbewerbsbeWettbe-

schränkung

werbs-

liegt vor

behörde

Wettbe-

stellt fest:

werbsbeschränkung

richtig

Fehler 1. Art

Fehler 2. Art

richtig

liegt nicht vor Abb. 3.10  Fehler 1. und 2. Art in der Wettbewerbspolitik

den Wettbewerb zu schützen. Zwar waren die wettbewerbsrechtlichen Regelungen bereits in den Römischen Verträgen von 1957 enthalten, aber erst durch die wegweisende Cassis-de-Dijon-­Entscheidung des EuGHs von 1979 und dem Binnenmarktprogramm der EG-Kommission in den 1980er-Jahren kommt dem europäischen Recht eine zen­ trale Rolle zu. Mit der EuGH-Entscheidung wurde der Zielpunkt, alle Regelungen europäisch zu vereinheitlichen, aufgegeben: In der Regel reicht es seither aus, wenn die Mitgliedstaaten die Rechtsregeln der anderen Staaten als hinreichenden Mindeststandard akzeptieren. Das Deutsche Reich bzw. die Bundesrepublik Deutschland waren quasi „Spätzünder“ in der Kartellgesetzgebung (Kerber, 2019, S.  142). Das Reichsgericht betonte in der Weimarer Zeit, dass der Abschluss von Kartellverträgen Ausdruck einer nicht zu beschränkenden Vertragsfreiheit sei; in dieser Zeit kam es daher zu einer umfassenden Kartellierung der deutschen Wirtschaft. Während des Nationalsozialismus wurden sogenannte Zwangskartellgesetze erlassen, die Wettbewerb noch mehr ausschlossen. Insbesondere die beiden angelsächsischen Besatzungsmächte sahen in der kartellierten Wirtschaft einen „Fehler“, der zumindest in Westdeutschland schnellstmöglich zu korrigieren sei. Die dem Ordoliberalismus nahestehenden wirtschaftspolitisch sehr einflussreichen Ökonomen plädierten ebenfalls für ein starkes Kartellrecht. Die deutsche Wirtschaft, insbesondere der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), bekämpfte vehement die sich abzeichnenden Gesetzgebungspläne. Es kam zwar 1957 zur Verabschiedung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB), dass aber zu wesentlichen Teilen „durchlöchert“ war: Dem allgemeinen Kartellverbot wurden zahlreiche Ausnahmetatbestände entgegengesetzt, und wesentliche Bereiche der Wirtschaft,

3.2  Überblick über das deutsche und europäische Wettbewerbsrecht

95

Verkehr, Energie, Bank- und Versicherungswesen, waren in weiten Teilen von den allgemeinen Kartellregeln ausgenommen ­ (Ausnahmebereiche). Erst 1973 wurde dem GWB die Fusionskontrolle hinzugefügt. Im Januar 2021 wurde die bisher letzte, die 10. Novelle des GWBs in Kraft gesetzt. Heutzutage kommt in Deutschland sowohl deutsches als auch europäisches Wettbewerbsrecht zur Anwendung. Tab. 3.1 gibt einen Überblick (Kerber, 2019, S. 142–144), bevor in den Folgeabschnitten die wichtigsten Vorschriften einzeln behandelt werden. Von der Grundstruktur ist das deutsche Recht im Laufe der Jahrzehnte weitgehend an das europäische Wettbewerbsrecht angelehnt worden. Nur Besonderheiten wie die Preisbindung für Zeitschriften o.ä. oder die Sonderregelung bei relativer oder überlegener Marktmacht sind noch originär durch den deutschen Gesetzgeber geregelt. Der §19a (Missbrauch bei überragender marktübergreifender Bedeutung) ist auf europäischer Ebene über den Digital Markets Act einer sehr ähnlichen, aber weitergehenden Regulierung zugeführt worden (Zimmer & Göhls, 2021). Die Bekämpfung staatlicher Wettbewerbsbeschränkungen ist ausschließlich europäisch geregelt. Da jedoch in der Rechtsanwendung meist ein europä­ ischer Bezug besteht, ist diese „Lücke“ im nationalen Recht meist unerheblich. Tab. 3.1  Deutsches und europäisches Wettbewerbsrecht Regelungsart Kartellverbot Ausnahmen

Fusionskontrolle Missbrauchsverbot für marktbeherrschende Unternehmen

Bekämpfung staatlicher Wettbewerbsbeschränkungen Quelle: Kerber (2019, S. 143)

GWB § 1 Allgemeines Kartellverbot (horizontale und vertikale Vereinbarungen) § 2 Ausnahmen vom Kartellverbot § 3 Mittelstandskartelle § 30 Preisbindung für Zeitschriften §§ 35–43a § 19 § 19a missbräuchliches Verhalten bei überragender marktübergreifender Bedeutung § 20 verbotenes Verhalten bei relativer oder überlegener Marktmacht § 21 Boykottverbot, Verbot sonstigen wettbewerbs-­ beschränkenden Verhaltens

AEUV Art. 101 I allgemeines Kartellverbot (horizontale und vertikale Vereinbarungen) Art. 101 III Ausnahmen

Fusionskontrollverordnung (139/2004) Art. 102

Art. 106 Staatliche Monopole und öffentliche Unternehmen Art. 107–109 Beihilfenkontrolle

96

3 Wettbewerbspolitik

3.3 Horizontale Vereinbarungen und Kartellverbot Für die wettbewerbsrechtliche Praxis ist es im konkreten Fall häufig nicht einfach, zwischen unerlaubten Kartellvereinbarungen/abgestimmten Verhalten und zulässigem Parallelverhalten zu unterscheiden (auch Kerber, 2019, S. 145). Unbestritten ist nämlich, dass Anbieter im gleichen Markt auf Änderungen in ihrem Markt gleichartig reagieren dürfen, wenn sie ebenfalls von diesen Änderungen betroffen sind. Steigt beispielsweise für alle ein Inputpreis an, so dürfen sie dies auch in gleicher Höhe an ihre Abnehmer weitergeben. Das Parallelverhalten wird somit die Reaktion auf parallel auftretende Änderungen. Treffen aber die Veränderungen nicht alle Unternehmen in gleicher Weise, wenn sie zum Beispiel unterschiedliche Laufzeitkonditionen aufweisen, dann wäre ein gleich gerichtetes Verhalten mindestens ein starkes Indiz für eine tatsächlich stattgefundene Abstimmung untereinander. Liegt ein Vertrag vor, indem die Übereinkunft hinsichtlich der auszuschaltenden Wettbewerbsparameter fixiert wird, ist dies für die Wettbewerbsbehörde ein einfacher Fall. Gerade aber, wenn sich die Übereinkunft auf Preise, Mengen oder Gebiete bezieht (sogenannte „Hardcore-Kartelle“), wäre die Vereinbarung eindeutig rechtswidrig und damit rechtlich nicht durchsetzbar. In der Anfangszeit das GWBs war rechtlich umstritten, ob in Bezug auf die Kartellabsprache ein Vertrag im Sinne einer übereinstimmenden Willenserklärung vorliegen muss. Eine übereinstimmende Erklärung liegt zum Beispiel vor, wenn man verabredet, zeitgleich die Preise zu erhöhen. Fraglich war, ob die einseitige Ankündigung der Preiserhöhung in einer Besprechung der Anbieter untereinander vom Tatbestand des Vertrages erfasst wird. Der deutsche Gesetzgeber hat dann Anfang der siebziger Jahre nachgezogen und das allgemeinere Kriterium des abgestimmten Verhaltens im Gesetz verankert. Insofern bleibt heute nur noch die Trennlinie zwischen abgestimmten Verhalten und Parallelverhalten. Aus der Sicht der Kartellisten ist die zentrale Frage, ob eine Vereinbarung, gemeinsam Preise zu erhöhen, gemeinsam die angebotene Menge zu begrenzen oder abgegrenzte Verkaufsgebiete zu achten, dauerhaft eingehalten wird, gerade auch, weil der Staat mit seiner Gerichtsbarkeit als Durchsetzungsinstanz nicht zur Verfügung steht. Als Ausgangspunkt bietet sich ein industrieökonomisches Modell an, in dem zehn identische Unternehmen im Markt agieren (Knieps, 2008, S. 115–118). Würde in diesem Markt vollkommener Wettbewerb herrschen, würde jedes Unternehmen so lange anbieten, bis die Bedingung „P  =  GK“ erfüllt ist. Somit ergibt sich als unternehmensindividueller Output xi aus GKi = P. Die Marktangebotskurve GK entspricht den horizontal aufsummierten Grenz10 kostenkurven der einzelne Anbieter in Abb. 3.11 ( ∑ i =1GK i ).  Unter Wettbewerb würde im Marktgleichgewicht A, also dem Schnittpunkt der Nachfragekurve N mit GK, die Menge XW zum Preis von PW angeboten. Die Gesamtmenge XW ergibt sich aus den Mengen der n Anbieter, also hier 10xw. In einem perfekten Kartell würden die Kartellisten die Monopollösung anstreben, also die Grenzerlöskurve GE mit der Grenzkostenkurve GK schneiden. Die Monopolmenge XM würde zum Monopolpreis PM bereitgestellt. Jeder der zehn identischen Kartellmitglieder erhält dann als zulässige Menge

3.3  Horizontale Vereinbarungen und Kartellverbot

97



GK

N

PM A

PW

0

10xM=XM

GE

X

10xW=XW

Abb. 3.11  Kartell(ideal)lösung. (Quelle: Knieps, 2008, S. 117)



xiM =

XM 10

(3.21)

zugeteilt, was weniger ist als die auf den Einzelnen entfallende Menge



xiW =

XW . 10

(3.22)

Problematisch ist jedoch hier, dass jedes einzelne Unternehmen gerne eine Einheit mehr produzieren und anbieten würde, solange der Preis nicht verfällt. Jedes dieser Unternehmen hätte jedoch diesen Anreiz, sodass quasi „in der ersten Runde“ allein schon zehn Einheiten mehr auf den Markt kommen würden.

98

3 Wettbewerbspolitik

In der Abb. 3.12 ist die Kartelllösung aus der Abb. 3.11 noch einmal rechts wiedergegeben. Wenn jetzt ein beliebiges Kartellmitglied i glaubt, dass sich die Monopollösung einstellen wird und daher der Preis PM gegeben sei, hat jedes Mitglied den Anreiz, seine Menge um eine Einheit zu erhöhen (xM1 + 1, rechts). Für das einzelne Kartellmitglied wird eine typische s-förmige Kostenkurve unterstellt, sodass die u-förmige Grenzkostenkurve GKi die u-förmige Durchschnittskostenkurve im Minimum schneidet. Das Rechteck PMABC entspricht dem Gewinn des einzelnen Kartellmitgliedes, wenn es sich an die Kartellabsprache hält. Würde das einzelne Mitglied jedoch die zulässige Menge um 1 überschreiten, ergibt sich für ihn der Gewinn PMDEF. Abb.  3.13 fasst noch einmal das Ergebnis zusammen, wenn man auf das einzelne Kartellmitglied schaut und nur noch die Nettoflächen betrachtet. In der Abb. 3.13 sieht man, dass die Mengenabweichung für den Einzelnen vorteilhaft ist, da die von links unten nach rechts oben schraffierte Fläche größer ist als die von links oben nach rechts unten. Diesen positiven Nettoeffekt kann man als „Cheating“-Anreiz im Kartell bezeichnen. M. a. W.: Dies ist der individuelle Anreiz, das Kartell in Bezug auf die Mengenvereinbarung zu missachten. Unter den Annahmen, dass nur zwei Anbieter beteiligt sind (Duopol), beide Anbieter gleichzeitig entscheiden und die Entscheidungssituation nur einmalig auftritt, kann man die Frage, ob ein Kartell geschlossen wird (Knieps, 2008, S. 119–122), anhand von Tab. 3.2: entscheiden. Knieps unterstellt eine lineare Nachfragefunktion und eine quadratische Kostenfunktion wie in den Abb.  3.12 und  3.13, die die üblichen Eigenschaften aufweisen. Schaffen es beide Unternehmen, sich auf eine Kartellver-





Kartellmitglied i GKi

PM

A

F C

0

B

xM

D

Gesamtkartell N

DKi

GK

PM

E

xM+1

X

0

XM

X GE

Abb. 3.12  Anreiz zur Mengenausweitung. (Quelle: Knieps (2008), S. 118)

3.3  Horizontale Vereinbarungen und Kartellverbot



Kartellmitglied i

99

GK

DK

PM

xM

xM+1

x

Abb. 3.13  Cheating-Anreiz. (Quelle: Knieps, 2008, S. 118) Tab. 3.2 Kartelldilemma

Unternehmen 1

„cheating“ Kooperation

Unternehmen 2 „cheating“ 137,5/137,5 66/266

Kooperation 266/66 200/200

Quelle: Knieps (2008), S. 121

einbarung zu einigen und diese auch durchzusetzen, kommen sie zum Marktergebnis wie im Falle eines Monopols: Beide Anbieter erhalten einen Gewinn in Höhe von 200 Geldeinheiten (GE). Scheitern beide Unternehmen daran, die Kartellvereinbarung wirksam werden zu lassen, ergibt sich ein Cournot-Mengen-Duopol: Der Gewinn ­beträgt jetzt jeweils nur noch 137,5  GE.  Wenn sich das eine Unternehmen an die Kartellvereinbarung hält und deshalb „stur“ nur die Kartellmenge bereitstellt, kann das andere Unternehmen „den Geist“ des Kartells unterlaufen und die Menge gewinnmaximierend ausdehnen („cheating“). Das „Cheating“-Unternehmen steigert den Gewinn

100

3 Wettbewerbspolitik

auf 266 GE, das „ehrliche“ fällt auf 66 GE zurück. Würde Unternehmen 1 unterstellen, dass Unternehmen 2 „cheating“ verfolgt, wäre für Unternehmen 1 die beste Wahl ebenfalls, die Kartellvereinbarung zu ignorieren (137,5 GE > 66 GE). Vermutet Unternehmen 1 ein kooperatives Verhalten des zweiten Unternehmens, ist es für das Unternehmen 1 trotzdem vorteilhaft, dass Kartellversprechen zu brechen: 266 GE > 200 GE. Man sieht also, dass für das 1. Unternehmen die Missachtung des Kartells immer besser ist; „cheating“ ist die dominante Strategie des 1. Unternehmens. Da die Auszahlungen für das Unternehmen 2 symmetrisch sind, hat dieses Unternehmen ebenfalls „cheating“ als dominante Strategie. Beide Parteien würden sich durch ein wirksames Kartell besserstellen. Die Anreize, sich durch eine Mengenausdehnung einen Vorteil zu verschaffen, sind jedoch so stark, dass die Kartellvereinbarung nicht (freiwillig) eingehalten wird. Die „Instabilität“ des Kartells schadet den Kartellisten, wettbewerbspolitisch wird jedoch in wünschenswerter Weise das gesamtwirtschaftlich schädliche Kartell vermieden. Plustext 3.1: Rolle der Außenseiterkonkurrenz Die Wirksamkeit eines Kartells hängt auch maßgeblich von der Bedeutung von Anbietern ab, die sich keinesfalls am abgestimmten Verhalten beteiligen. Sogenannte „competitive frings“ (Außenseiterkonkurrenz, Randwettbewerb) können die preiserhöhende Wirkung des Kartells deutlich abschwächen, da den Kartellanten nur übrigbleibt, die (festen) Mengen der Außenseiterkonkurrenz in ihr Kalkül einzubeziehen (Knieps (2008), S. 123–125). Abb. 3.14 stellt links das Kalkül der Außenseiter dar, rechts werden die Verhältnisse für die Kartellmitglieder betrachtet. In der Abb.  3.14 wird links die übliche Nachfragekurve N als Marktnachfragekurve eingezeichnet; rechts wird sie nur gestrichelt skizziert, da noch zu klären sein wird, welche Abschnitte der Marktnachfragekurve für die Mitglieder des Kartells relevant sind. Die Außenseiter verhalten sich wie Unternehmen im Wettbewerb, d. h. sie bieten so lange Güter an, bis Preis = Grenzkosten erfüllt ist. Links wird daher die Angebotskurve der Nicht-Kartellmitglieder ANK dargestellt, die sich wiederum aus der horizontalen Aggregation der individuellen Grenzkostenkurven der Nicht-Kartellmitglieder ergibt. Rechts ist die Grenzkostenkurve der Kartellanten GKK eingezeichnet. Unter der Annahme, dass sie den gleichen Kostenstrukturen wie die Außenseiter unterliegen und gleich viel Kartellanten wie Außenseiter existieren, entspricht ANK  =  GKK. Zum Preis von P würden die Außenseiter x NK bereitstellen, was der Gesamtmenge des Marktes entspricht. Folglich geht für die Kartellmitglieder zu diesem Preis P die „Restnachfrage“ auf 0 zurück. Beim Preis P oder geringer würden die Außenseiter nichts bereitstellen, rechts wird die Marktnachfragekurve zur Restnachfragekurve. Liegt der Preis zwischen den beiden genannten Extremen, zum Beispiel bei P1 kommt von den Außenseitern auf jeden Fall xNK1 in den Markt, für das Kartell bleibt nur noch die Menge XK1 übrig. Auf der rechten Seite der Abbildung wird die Menge XK1 dem Preis P1 zugeordnet. Aus den zugehörigen Mengen aus P , P und Preisen dazwischen wie P1 kann man den zweiten, den flacheren Teil der Restnachfragekurve RN herleiten. Das Kartell optimiert unter der Bedingung der gegebenen Restnachfragekurve, in dem man die Grenzerlöskurve GERN bestimmt und sie mit der Grenzkostenkurve GKK gleichsetzt (Die Grenzerlöskurve, die bei einem Preis unter P gelten würde und sich aus der Marktnachfragekurve ableiten lassen würde, ist ökonomisch irrelevant (Grenzerlöse wären hier auf jeden Fall negativ)). Die Kartellanten wählen daher in der Abb. 3.15 rechts den Punkt C, loten auf die Restnachfragekurve hoch und setzen daher den Preis P*; ihre optimale Menge ist XK*. Zu diesem Preis P* ist es für die Außenseiter am besten, XNK* anzubieten. Insgesamt wird somit XK* und xNK* in den Markt gebracht, was X* rechts entspricht.

3.3  Horizontale Vereinbarungen und Kartellverbot €

101

€ ANK

GKK

N

N

RN P1

P1

0

xNK1

x

0

XK1

x

Abb. 3.14  Herleitung der Restnachfragekurve. (Sehr ähnlich Knieps, 2008, S. 124) Je flacher die Angebotskurve der Nicht-Kartellisten verläuft, weil viele Nicht-Kartellisten im Spiel sind oder je geringer ihre Grenzkosten ausfallen, umso flacher wird der „interessante“ Teil der Restnachfragekurve. Eine flachere Restnachfragekurve würde den monopolistischen Spielraum des Kartells beschränken. Die Notwendigkeit einer restriktiven Wettbewerbspolitik nimmt ab. Aus dem Modell wird auch deutlich, dass offene Märkte mit guten Möglichkeiten zur Außenseiterkonkurrenz in gleicher Richtung wirken.

Kartelle entstehen umso leichter bzw. sind umso stabiler (Kerber, 2019, S. 147), je • geringer der Anreiz ist, von den bestimmten Preisen nach unten hin abzuweichen. • schneller andere Unternehmen die Preisabweichung nach unten erkennen können und darauf z. B. mit „Bestrafungs“-mechanismen reagieren können. • länger die Kartellanten im gleichen Markt agieren. Mit zunehmender Dauer der Marktbeziehung geht meist eine steigende Wahrscheinlichkeit einher, dass gleichartige Transaktionen „auftauchen“ und damit mehr potenzielle Kooperationsgewinne des Kartells realisierbar werden. Der abweichende Kartellant hat viel mehr zu verlieren, wenn umfangreiche Kartellrenten verloren gehen könnten. • weniger Anbieter im Markt agieren; die Koordination im Kartell wird leichter möglich.

102

3 Wettbewerbspolitik



€ ANK

N

GKK N

P*

P*

RN C

GERN xNK* 0

xNK*

x

0

XK*

X*

x

Abb. 3.15  Außenseiterkonkurrenz im Kartell. (Sehr ähnlich Knieps, 2008, S. 124)

• ähnlicher sich die Anbieter untereinander sind (Symmetrie der Anbieter). Gleichartige Kostenbedingung beispielsweise führen zu gleichartigen Gewinnen des abgestimmten Verhaltens, umso eher zieht man an einem Strang. • transparenter der Markt ist. In einem transparenten Markt kann man auch als Anbieter relativ leicht erkennen, wann sich ein Kartellmitglied nicht an die vereinbarte „Preisdisziplin“ gehalten hat. Der Undisziplinierte muss mit schnelleren und/oder stärkeren Sanktionen der anderen Kartellmitglieder rechnen. Deshalb sind auch sogenannte Preismeldestellen, in denen die Kartellanten nur ihre Markttransaktionen bekannt geben (welche Mengen zu welchen Preisen?), kartellrechtlich eindeutig verboten. • geringer die Wahrscheinlichkeit für wirksame Außenseiterkonkurrenz ist. Je höher die gesetzlichen oder strukturellen (im Markt gegebene Nachteile für neue Anbieter wie zum Beispiel Mindestgrößeneffekte) Marktzutrittsschranken ausfallen, umso eher bleiben neue Anbieter außen vor; die Relevanz von Außenseiterkonkurrenz nimmt ab. • seltener neuartige Verfahren oder Produkte in den Markt eingeführt werden. Eine steigende Innovativität könnte dazu führen, dass die Interessen der Akteure im Kartell auseinanderlaufen und damit abgestimmtes Verhalten schwieriger wird. Teilweise wird auch vertreten, dass Kartelle zu besseren Ertragslagen der beteiligten Unternehmen führen und deshalb Innovationen leichter finanzierbar wären.

3.3  Horizontale Vereinbarungen und Kartellverbot

103

• schlechter die allgemeine wirtschaftliche Lage ist bzw. je stärker Konjunkturschwankungen eine Rolle spielen. Bei einer schlechten wirtschaftlichen Lage würden sich darniederliegende Unternehmen leichter auf abgestimmtes Verhalten einlassen (Kartelle – „Kinder der Not“). Ein stärkeres Auf und Ab der Konjunktur könnte die Koordination untereinander erschweren. Zu diskutieren wäre darüber hinaus, ob diese Konstellationen ebenfalls auf abgestimmte Verhaltensweisen ausgehend von der Nachfrageseite anzuwenden sind. Zumindest im Lebensmitteleinzelhandel, der immer wieder Gegenstand der Arbeit des Bundeskartellamtes (z. B. 2014) ist, wird dies diskutiert. Wie bereits im Abschn. 3.1 gezeigt sind Vereinbarungen über Preise und Mengen mit gesamtwirtschaftlichen Nachteilen verbunden; gleiches gilt für Vereinbarungen über bestimmte Verkaufsgebiete, wodurch implizit die Mengen untereinander aufgeteilt werden. Denkbar ist, dass spezielle Kartelle in Abhängigkeit vom Einzelfall positive Auswirkungen haben (Kerber, 2019, S. 148–150): • Horizontal zueinander im Wettbewerb stehende Unternehmen treffen gemeinsamen Regelungen, um ihre Produktion zu rationalisieren oder sich auf bestimmte Produkte zu spezialisieren. Ziel solcher Vereinbarung ist es, Größenvorteile zu heben. Gerade wenn in derartigen Märkten die Anbieter unter besonderem (Preis-)Druck stehen, entsteht schnell der Ruf nach solchen Kartellvereinbarungen. • Kleinere und mittlere Unternehmen sollen grundsätzlich vom allgemeinen Kartellverbot ausgenommen werden, um Nachteile gegenüber großen Unternehmen auszugleichen. Durch ihre „geringe Größe“ bestünde auch keine Gefahr, den Wettbewerb zu schädigen. Insbesondere kleine und mittlere Unternehmen im Handel sollen sich zu Einkaufsgemeinschaften zusammenschließen dürfen. Derartige Gemeinschaften können günstigere Lieferantenkonditionen herausholen, insbesondere niedrige Preise aushandeln. Wirken Einkaufsgemeinschaften im Umfeld zu mächtigen Großunternehmen, wie zum Beispiel im Lebensmitteleinzelhandel, ist eine Verbesserung des Wettbewerbsergebnisses durchaus plausibel. • Arbeiten konkurrierende Unternehmen bei der Entwicklung neuer Produkte oder Verfahren zusammen, können sie wechselseitig auf ihre Kompetenzvorteile bauen, kostenintensive Parallelentwicklungen vermeiden und/oder unentgeltliche Nutzungen von Wissen (Spill-over-Effekte) ausschließen. Gemeinsam etwas Neues vorantreiben schließt aus, dass alternative Ansätze ausprobiert werden. Ferner ist darauf zu achten, dass sich der Ausschluss des Wettbewerbes auf Forschung bzw. Entwicklung beschränkt und nicht auf die nachfolgenden Wettbewerbsstufen überspringt. • Geistige Eigentumsrechte, also Patente oder Urheberrechte, können im Rahmen von Lizenzverträgen an Konkurrenten zur (Mit-)Nutzung übertragen werden. Das Einbringen derartiger Lizenzen in Pools, die wechselseitige Gewährung von Lizenzverträgen (cross licensing) oder die Übereinkunft auf standard-essenzielle Patente (hierzu auch Wein, 2022) sind Spielarten der Lizenzgewährung.

104

3 Wettbewerbspolitik

All die genannten, denkbaren gesamtwirtschaftlich sinnvollen Kartellvereinbarungen stehen unter dem Vorbehalt, dass sie auch tatsächlich „empirisch“ zu den genannten Vorteilen führen und nicht zugleich den Wettbewerb schädigen. Sowohl das deutsche (§§ 1 f GWB) also das europäische Wettbewerbsrecht (Art. 101 I, III AEUV) verfolgt die Logik, Kartelle sind grundsätzlich verboten; nur in Sonderfällen mit Vorteilen, die die Nachteile überwiegen, und deren Vorteile auch beim Nachfragenden ankommen, gibt es eine Erlaubnis. Sonderfälle, in denen die beteiligten Unternehmen keine Marktmacht erreichen (gemessen über die Marktanteile), werden als Regelfall vom Kartellverbot ausgenommen, solange es keine Mengen-, Preis- oder Gebietsabsprachen betrifft. Vor allem bei Mengen-, Preis- oder Gebietskartellen („Hardcore“-Kartellen) droht den Kartellanten, dass sie von den Geschädigten für Schäden, die das Kartell bei ihnen verursacht hat, zivilrechtlich in Anspruch genommen werden (§§ 33-33 h GWB). GWB § 1Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, die eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs bezwecken oder bewirken, sind verboten. § 2 (1) Vom Verbot des § 1 freigestellt sind Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen oder aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, die unter angemessener Beteiligung der Verbraucher an dem entstehenden Gewinn zur Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung oder zur Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts beitragen, ohne dass den beteiligten Unternehmen 1. Beschränkungen auferlegt werden, die für die Verwirklichung dieser Ziele nicht unerlässlich sind, oder 2. Möglichkeiten eröffnet werden, für einen wesentlichen Teil der betreffenden Waren den Wettbewerb auszuschalten. AEUV Art. 101 (1) Mit dem Binnenmarkt unvereinbar und verboten sind alle Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, welche den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind und eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Binnenmarkts bezwecken oder bewirken, insbesondere • die unmittelbare oder mittelbare Festsetzung der An- oder Verkaufspreise oder sonstiger Geschäftsbedingungen; • die Einschränkung oder Kontrolle der Erzeugung, des Absatzes, der technischen Entwicklung oder der Investitionen;

3.4  Horizontale Unternehmenszusammenschlüsse

105

• die Aufteilung der Märkte oder Versorgungsquellen; • die Anwendung unterschiedlicher Bedingungen bei gleichwertigen Leistungen gegenüber Handelspartnern, wodurch diese im Wettbewerb benachteiligt werden; • die an den Abschluss von Verträgen geknüpfte Bedingung, dass die Vertragspartner zusätzliche Leistungen annehmen, die weder sachlich noch nach Handelsbrauch in Beziehung zum Vertragsgegenstand stehen. (3) Die Bestimmungen des Absatzes 1 können für nicht anwendbar erklärt werden auf Vereinbarungen oder Gruppen von Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse oder Gruppen von Beschlüssen von Unternehmensvereinigungen, aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen oder Gruppen von solchen, • die unter angemessener Beteiligung der Verbraucher an dem entstehenden Gewinn zur Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung oder zur Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts beitragen, ohne dass den beteiligten Unternehmen Beschränkungen auferlegt werden, die für die Verwirklichung dieser Ziele nicht unerlässlich sind, oder • Möglichkeiten eröffnet werden, für einen wesentlichen Teil der betreffenden Waren den Wettbewerb auszuschalten.

3.4 Horizontale Unternehmenszusammenschlüsse Unternehmen der gleichen Marktstufe können sich nicht nur untereinander absprechen, um gemeinsam die Preise oder Mengen festzulegen, sondern sich auch zusammenschließen (Fusion). Als fusionierte Unternehmen können sie leichter Preise oder Mengen gemeinsam bestimmen; sie üben Marktmacht aus bzw. begründen oder verstärken eine marktbeherrschende Stellung. Marktmacht liegt vor, wenn die Marktgegenseite nur beschränkte Ausweichmöglichkeiten besitzt, also beispielsweise der Konsument auf die Leistung des Anbieters oder der Anbieter „angewiesen“ ist. Hierzu muss zum einen festgelegt werden, um welche Leistung es geht (relevanter Markt), und zum anderen geklärt sein, welche Ausweichmöglichkeiten bestehen (Höhe der Marktmacht). Die Bestimmung des relevanten Marktes erfolgt grundsätzlich nach dem Konzept der sachlichen Marktabgrenzung (Kerber, 2019, S.  152–154). Bei der sachlichen Marktabgrenzung steht der verständige Verbraucher im Vordergrund: Zum relevanten Markt gehören alle Produkte, die aus seiner Sicht gleichwertig sind. Gleichwertigkeit bezieht sich also darauf, dass subjektiv die Erwartung besteht, ein bestimmtes Bedürfnis erfüllen zu können. Beispielsweise ist zu klären, ob aus Sicht des verständigen („normalen“) Verbrauchers Telefonie über das Mobilfunknetz zu gleichartigem Nutzen führt wie die Nutzung des Festnetzes. Qualitätskriterien wie Verständlichkeit oder Schnelligkeit bei der Datenübermittlung können hier zur Anwendung kommen. Strittig ist, ob sich die Gleichwertigkeit auch auf den Preis bezieht, wonach nur preislich vergleichbare Angebote für den Verbraucher in Betracht kommen. Man kann jedoch durchaus argumentieren, dass die

106

3 Wettbewerbspolitik

Gleichwertigkeit nur die Produkteigenschaften umfassen sollte. Die sachliche Marktabgrenzung setzt sich jedoch auch auf der Angebotsseite fort, als zu prüfen ist, inwieweit andere Anbieter das aus Sicht des Konsumenten gleichwertige Produkt anbieten oder anbieten könnten. Je größer die Umstellungsflexibilität der Anbieter, umso weiter geht die relevante Marktabgrenzung.

Kasten 3.3: Hypothetischer Monopolistentest

Der hypothetische Monopolistentest oder SSNIP (small, but significant non-­ transitory increase in price)-Test prüft, inwieweit bei einer fünf- bis zehnprozentigen Preiserhöhung, die mindestens für ein Jahr gelten soll, die Kunden zu einem anderen Produkt wechseln würden. Aus Sicht der Konsumenten besteht somit offensichtlich eine gewisse Gleichwertigkeit, das andere Produkt ist deshalb Teil des relevanten Marktes. Möglicherweise gibt es noch weitere Produkte, die bei einer erneuten Preiserhöhung als subjektive „Kandidaten“ für die Bedürfnisbefriedigung infrage kommen. Derartige Produkte wären dann ebenfalls dem relevanten Markt zuzuordnen. Erst wenn keine weiteren Alternativen mehr in Betracht gezogen werden, wäre der Markt sachlich richtig abgegrenzt.

Der sachliche Vergleichsmarkt kann im Einzelfall um eine sachlich-räumliche bzw. sachlich-zeitliche Dimension erweitert werden. Sachlich-räumlich bezieht sich auf die Frage, ob Konsumenten nur lokale oder regionale Angebote in ihre Auswahlerwägung einbeziehen, z.  B. weil sie keine hohen Transportkosten tragen wollen. Sprachbarrieren mögen dafür verantwortlich sein, nur nationale Anbieter zu beachten, z. B. bei der Nutzung von Hotelbuchungsportalen. Insbesondere bei gewerblichen Nachfragern, z. B. nach Investitionsgütern, dürfte eine weltweite Marktabgrenzung plausibel sein. Sachlich-­ zeitlich geht es um Märkte, die nur für einen bestimmten Zeitraum relevant sind. Übernachtungsmöglichkeiten in Hotels während einer Messe sind anders einzuschätzen als frei verfügbare Hotelbetten am Messeort über das ganze Jahr verteilt. Für die Abschätzung der Marktmacht kommt den Marktanteilen der Anbieter zumindest in der Praxis eine überragende Bedeutung zu (Kerber, 2019, S. 154). Marktanteile werden über die Umsatzanteile einzelner Unternehmen bzw. Unternehmensgruppen in Relation zu allen Anbietern im relevanten Markt berechnet. Die gebräuchlichsten Marktanteilskennziffern sind Konzentrationsrate (CRx mit x größten Anbietern) und der Herfindahl-­ Hirschman-Index (HHI). CR3 beispielsweise summiert die drei marktanteilstärksten Unternehmen eines Marktes auf. Gegeben, Unternehmen A habe einen Marktanteil von 30 %, B von 20 % und C von 10 %, so entspricht CR3 = 0,6. Bei sechs Unternehmen mit jeweils 10 % Marktanteil ergibt sich als CR6 ebenfalls 0,6. Beim HHI werden die Marktanteile aller Unternehmen quadriert, aufsummiert und mit 10.000 multipliziert. Im Falle der drei Unternehmen von vorhin berechnet sich der HHI als (0,32 + 0,22 + 0,12) × 10.000 = 1400, falls keine weiteren Unternehmen im Markt sind. Für einen Markt mit nur sechs

3.4  Horizontale Unternehmenszusammenschlüsse

107

gleich großen Unternehmen mit einem jeweiligen Marktanteil von 10 % wäre der HHI (6 × 0,12) × 10.000 = 600. Nach der US-Kartellbehörde z. B. gelten Märkte mit einem HHI unter 1500 als gering konzentriert, bis zu 2500 als mäßig konzentriert und ab 2500 als hoch konzentriert. Einschränkend muss man jedoch zugestehen, dass diese „Schwellenwerte“ wissenschaftlich nicht eindeutig begründbar sind. Insofern sollte man dieses Konzentrationsmaß, aber auch andere mit Augenmaß anwenden. Steigende Unternehmenskonzentration kann durch Marktaustritte, internes Unternehmenswachstum oder Unternehmenszusammenschlüsse bewirkt werden. Im Rahmen der Wettbewerbspolitik stehen naturgemäß die Unternehmenszusammenschlüsse im Mittelpunkt, die im Rahmen der Fusionskontroll-Verfahren auf ihre Zulässigkeit geprüft werden können. Eine wettbewerbsbehördliche Auflösung (Entflechtung) marktmächtiger Unternehmen, die durch z. B. internes Unternehmenswachstum entstanden sind, ist weder im deutschen noch im europäischen Recht vorgesehen; im US-amerikanischen Recht gibt es diese Möglichkeit. Die Nachteile horizontaler Zusammenschlüsse liegen in überhöhten Preisen und zu geringen Mengen, was bereits mit der Abb. 3.2 verdeutlicht wurde. Die überhöhten Preise können allein dadurch entstehen, dass sich die Wirkungsweise des Wettbewerbes an sich verschlechtert, ohne dass vermehrt Absprachen getroffen werden (nicht-koordinierte, „unilaterale“ Wirkungen), oder, dass Absprachen leichter möglich werden (koordinierte Wirkungen wie bei einem Kartell) (Kerber, 2019, S.  155–157). Aus dem Abschn.  3.1 wurde bereits deutlich, dass sich allein durch einen Cournot-Mengen-Wettbewerb im Oligopol ein höherer Preis als unter Wettbewerb einstellen kann. Tendenziell gleichartige unilaterale Wirkung ergibt sich, falls ein Oligopolist einseitig die Menge setzen kann und seine Konkurrenten diese als gegeben hinnehmen müssen (Stackelberg-Modell). Ebenso kann das Entstehen einer dominanten Firma preiserhöhend wirken, was formal dem Modell eines Kartells mit Außenseiterkonkurrenz (Abschn. 3.3) entspricht. Konkurrieren jedoch im Oligopolmarkt die Anbieter über den Preis und bieten homogene Güter an (Bertrand-­Modell), kommt es zu keinem unilateralen Effekt. In der wettbewerbspolitischen Praxis versucht man, die unilateralen Effekte über Marktanteile bzw. Konzentrationsmasse, über die Relevanz von Preis- bzw. Mengenwettbewerb, über das Ausmaß an Produktheterogenität, über die Stärke des aktuellen bzw. potenziellen Wettbewerbs sowie über weitere Kriterien wie Marktphase, Finanzkraft oder Zugang zu Absatz- oder Beschaffungsmärkten zu erfassen. Eine besondere Rolle spielt auch, wenn in einzelnen Märkten die Marktmacht auf der Nachfrageseite liegt. Neuerdings kommt das Kriterium der digitalen Marktmacht hinzu, wonach im Internet Unternehmen mit besonderen Vorteilen in der Datennutzung Marktmacht ausspielen könnten. Für die Einschätzung koordinierter Wirkungen gelten die bereits entwickelten Überlegungen zu Kartellen, die ja vor allem in marktbeherrschenden Oligopolsituationen zu erwarten sind. Den Nachteilen eines horizontalen Zusammenschlusses sind jedoch auch denkbare Effizienzvorteile gegenüberzustellen (Kerber, 2019, S.  157–160). Hierzu kann man die Abb. 3.1 aufgreifen und fortentwickeln, es ergibt sich Abb. 3.16. Es sei angenommen, dass

108



3 Wettbewerbspolitik

B N

P3

G

A

P1

GK1/DK1 GK2/DK2

0

X1

X3

X

GE

Abb. 3.16  Effizienzwirkung einer horizontalen Fusion. (Quelle: Kerber, 2019, S. 122/157)

es aufgrund des horizontalen Unternehmenszusammenschlusses Kosteneinsparungseffekte gibt, wodurch die horizontal verlaufende Grenz- bzw. Durchschnittskostenfunktion nach unten verschoben wird (GK2/DK2 statt GK1/DK1). Die Marktmacht des fusionierten Unternehmens erlaubt eine Monopolpreissetzung; gewinnmaximierend ist daher der Schnittpunkt aus Grenzerlöskurve GE und Grenzkostenkurve GK2, Preis P3 und Menge X3 wird realisiert, nicht mehr Punkt A mit P1/X1. Durch einen Vorher-/Nachhervergleich zeigt sich, dass die koordinierten/nicht-koordinierten Effekte des höheren Preises einen Wohlfahrtsverlust in Höhe des Dreiecks GAH herbeiführen, dem gesamtwirtschaftlich relevante Effizienzvorteile in Höhe des Vierecks P1HFJ gegenüberstehen. Für die Effizienzvorteile können verschiedene Faktoren relevant sein, z.  B. können bestehende Anlagen oder andere Unternehmensteile für größere Mengen genutzt werden (mehr Fixkostendegression), Skaleneffekte und Verbundvorteile werden gehoben, verborgene Synergien werden umgesetzt oder das Unternehmen wird insgesamt besser geführt. Allerdings zeigen empirische Untersuchungen zu erfolgten Fusionen, dass sich vielfach die avisierten Effizienzvorteile der Fusion nicht oder nur teilweise realisiert haben. Möglicherweise werden die Vorteile ex ante überschätzt oder die Nachteile wie inkompatible Unternehmenskulturen unterschätzt. Und nicht zu vernachlässigen: Für eine Fusionserlaubnis müssen die Effizienzvorteile die Wohlfahrtsverluste, ex ante übersehbar, überwiegen, und man

3.4  Horizontale Unternehmenszusammenschlüsse

109

muss erwarten können, dass die Vorteile auf der Konsumentenseite auch ankommen. In besondere Vorhersageprobleme gerät man darüber hinaus, wenn man potenzielle ­Wirkungen der Fusion in Bezug auf das Innovationsgeschehen abschätzen muss. Nach der Neo-Schumpeter-Hypothese sollen größere bzw. marktmächtigere Unternehmen innovativer sein als kleine, ohne Marktmacht; empirisch deutet vieles darauf hin, dass mit steigender Unternehmensgröße vermehrte Innovationsaktivitäten einhergehen, ab einer bestimmten Größe wären sie wieder rückläufig. Wettbewerbsrechtlich werden (horizontale) Unternehmenszusammenschlüsse nach den Vorschriften des deutschen GWB in den §§  35–43a sowie nach der Europäischen Fusionskontrollverordnung von 2004 (FKV0 139/2004) bewertet, wobei im Grundsatz kaum materielle Unterschiede zwischen den beiden Rechtskreisen bestehen. Insbesondere in Abhängigkeit vom Umsatz in den jeweiligen Marktgebieten greifen so genannte Aufgreifkriterien, nach denen sich überhaupt die Wettbewerbsbehörde den angemeldeten Zusammenschluss anschaut. Wenn durch die Fusion eine marktbeherrschende Stellung entsteht oder verstärkt wird, kann die Wettbewerbsbehörde (Bundeskartellamt und Europäische Kommission) den Zusammenschluss untersagen. Systematisch wird diese Abwägungsentscheidung zunehmend im Rahmen des SIEC-(Significant Impediment to Effective Competition)-Test getroffen. Für diese erhebliche Beeinträchtigung des wirksamen Wettbewerbs kommt es auf die nicht-koordinierten und koordinierten Wirkungen auf die Konsumentenwohlfahrt an (Kerber, 2019, S. 161 f.). Trotz negativer Wettbewerbswirkungen der Fusionen kann eine Genehmigung erfolgen, falls zu erwartende Wettbewerbsverbesserungen in anderen Bereichen auftreten und überwiegen. Die Wettbewerbsbehörden können die Fusion untersagen, genehmigen oder die Genehmigung mit Auflagen erteilen. In Deutschland kann der Bundesminister für Wirtschaft eine Ministererlaubnis aussprechen, falls gesamtwirtschaftliche Vorteile der Fusion überwiegen oder überragende Interessen des Gemeinwohls betroffen sind; im europäischen Verfahren fließen derartige Überlegungen direkt in die Bewertung der Europäischen Kommission ein. GWB Aufgreifkriterien § 35 Geltungsbereich der Zusammenschlusskontrolle Die Vorschriften über die Zusammenschlusskontrolle finden Anwendung, wenn im letzten Geschäftsjahr vor dem Zusammenschluss 1. die beteiligten Unternehmen insgesamt weltweit Umsatzerlöse von mehr als 500 Mio. € und 2. im Inland mindestens ein beteiligtes Unternehmen Umsatzerlöse von mehr als 50  Mio.  € und ein anderes beteiligtes Unternehmen Umsatzerlöse von mehr als 17,5 Mio. € erzielt haben. … Eingreifkriterien § 36 (1) Ein Zusammenschluss, durch den wirksamer Wettbewerb erheblich behindert würde, insbesondere von dem zu erwarten ist, dass er eine marktbeherrschende Stellung begründet oder verstärkt, ist vom Bundeskartellamt zu untersagen. Dies gilt nicht, wenn 1. die beteiligten Unternehmen nachweisen, dass durch den Zusammenschluss auch Verbesserungen der Wettbewerbsbedingungen eintreten und diese Verbesserungen

110

3 Wettbewerbspolitik

die Behinderung des Wettbewerbs überwiegen, oder 2. die Untersagungsvoraussetzungen ausschließlich auf Märkten vorliegen, auf denen seit mindestens fünf Jahren Waren oder gewerbliche Leistungen angeboten werden und auf denen im letzten Kalenderjahr im Inland insgesamt weniger als 20 Mio. € umgesetzt wurden, … Plustext 3.2: Daimler-Benz/MBB (1989) (Schmidt & Haucap, 2013, S. 372–376) Ende der 1980er-Jahre plante die Daimler-Benz AG 50 % des Stammkapitals der Messerschmitt-­ Bölkow-­Blohm GmbH (MBB) zu übernehmen. Im Zuge dieser Übernahme sollte die Konzernholding Daimler-Benz AG entstehen, in denen alle Aktivitäten bezüglich der Herstellung von Personenwagen und Nutzfahrzeugen, in der Luftfahrt, in der Raumfahrt und in der Wehrtechnik gebündelt werden sollten. Das Bundeskartellamt untersagte den Zusammenschluss aus mehreren Gründen. Im Bereich der Wehrtechnik (Märkte für Wehrelektronik, militärische Fluggeräte sowie Militärflugzeuge, Hubschrauber, Lenkwaffen und Triebwerke) würde eine marktbeherrschende Stellung entstehen bzw. verstärkt werden. Insbesondere da in den Beschaffungsvorgängen des Bundes der Grundsatz der Systemführerschaft, wonach der Systemführer für die technische und funktionale Integrität der Beschaffung einstehen muss, verfolgt würde, käme es zu einer Marktbeherrschung durch die Daimler-Benz AG.  Im Bereich der Luft- und Raumfahrt würden auf den Märkten für Raumfahrttechnik, für nicht-kommerzielle Orbital- und Trägersysteme sowie für wissenschaftliche Satelliten marktbeherrschende Stellungen entstehen. Auch im Bereich der Luft- und Raumfahrt spiele der Grundsatz der Systemführerschaft eine wichtige Rolle. Darüber hinaus wurde dort explizit eine nationale wissenschafts-, forschungs-, technologie- und industriepolitische Strategie verfolgt. Auf den Märkten für leichte und schwere Lastkraftwagen würde mit der Fusion die überragende Marktstellung von Daimler-Benz weiter zunehmen. Ferner war das Bundeskartellamt nicht davon überzeugt, dass die erwarteten Vorteile für den Wettbewerb bei zivilen Großraumflugzeugen die genannten Nachteile überwiegen. Nach der ablehnenden Entscheidung des Bundeskartellamtes beantragte die Daimler-Benz AG die sogenannte Ministererlaubnis. Im Rahmen des üblichen Verfahrens nahm die Monopolkommission zu dieser geplanten Fusion Stellung. Mehrheitlich empfahl die Kommission dem Minister die Fusion mit Auflagen zu genehmigen. Die Kommission war sich aber insgesamt uneinig: Ein Kommissionsmitglied hätte den Zusammenschluss ohne Auflagen genehmigt, der Vorsitzende stimmte gegen die Mehrheitsmeinung und trat von seinem Amt zurück. Im Ergebnis folgte der Bundesminister für Wirtschaft der Mehrheitsmeinung und genehmigte mit Auflagen den Zusammenschluss. Danach kam es anders. Die Kreditanstalt für Wiederaufbau musste früher als geplant ihren Minderheitsanteil an der Deutschen Airbus GmbH aufgeben, der Marinetechnik-­Geschäftsbereich der vormaligen AEG sowie die Marine- und Drohnen-Aktivitäten von MBB mussten veräußert werden, und MBB musste seine Beteiligung an der Panzerbaufirma Krauss-­Maffei aufgeben. Die intendierte Fusion konnte somit in wesentlichen Teilen nicht umgesetzt werden.

3.5 Vertikale Zusammenschlüsse und Vereinbarungen Wenn Unternehmen aus vor- und nachgelagerter Wertschöpfungsstufe sich zusammenschließen, spricht man von einer vertikalen Fusion; bleiben diese Unternehmen rechtlich und wirtschaftlich unabhängig, legen sich aber gemeinsam Wettbewerbsparameter wie Endkundenpreise oder Vertriebsstrukturen fest, treffen sie eine vertikale Vereinbarung. Vertikale Fusionen unterliegen der allgemeinen Fusionskontrolle. Vertikale Verein-

3.5  Vertikale Zusammenschlüsse und Vereinbarungen

111

barungen stellen ein abgestimmtes Verhalten dar, die unter bestimmten Voraussetzungen wettbewerbsrechtlich erlaubt sind (zum Überblick Kerber, 2019, S. 164–167). Abb. 3.17 stellt als Beispiel für ein Vertikalverhältnis den Automobilmarkt dar. Der Zulieferer als sogenannte Upstream-Anbieter liefert vorgefertigte Teile wie zum Beispiel Bremsen oder Kabelbäume an den Automobilbauer, der als Downstream-Anbieter aufgefasst werden kann. Der Automobilhersteller tritt mit dem Endkunden in Kontakt und ­verkauft das (komplette) Fahrzeug. Eine vertikale Fusion würde vorliegen, wenn Zulieferer und Automobilbauer unter eine wirtschaftliche Leitung kommen würden; die Fusion wird in der Abb. 3.17 als gestricheltes Rechteck dargestellt. Im Falle einer vertikalen Vereinbarung könnte der Zulieferer mit dem Automobilbauer vereinbaren, dass der Automobilhersteller ausschließlich beim Zulieferer die infrage stehenden Teile bezieht. Beide Maßnahmen könnten den Wettbewerb beispielsweise auf den Zulieferermarkt beeinträchtigen. Im Falle der vertikalen Fusion wird die Markttransaktion zwischen Zulieferer und Automobilbauer durch eine unternehmensinterne Transaktion ersetzt, was zu verschiedenen gesamtwirtschaftlichen Vorteilen führen kann (zur Übersicht Kerber, 2019, S. 164). Die Kosten der Marktnutzung (Coase, 1937) in Form von Anbahnungs-, Vertragsund Durchsetzungskosten entfallen. Insbesondere wenn eine Marktseite aufgrund von spezifischen Investitionen auf die ordnungsgemäße Erfüllung des Vertrages angewiesen ist (Gefahr des Opportunismus, hold up), können diese Transaktionskosten von großer Bedeutung sein und deshalb eine Fusion nahelegen (Williamson, 1975, 1985). Durch eine bessere Abstimmung von Upstream- und Downstream-Ebene oder die Nutzung von VerAbb. 3.17  Vertikale Fusion und Vereinbarung im Automobilmarkt Zulieferer

Automobilbauer

Endkunde

112

3 Wettbewerbspolitik

bundvorteilen könnte das fusionierte Unternehmen effizienter wirtschaften, die Konsumenten könnten kostengünstiger versorgt werden. Haben auf beiden Wertschöpfungsstufen die Anbieter Möglichkeiten, Monopolpreise oder monopolähnliche Preise zu setzen, verlangen sie bei getrennter Preissetzung zu hohe Preise (doppelte Marginalisierung), als fusioniertes Unternehmen wären sie dazu in der Lage, den einheitlichen, gewinnmaximalen Preis zu setzen (Waldman & Jensen, 2013, S. 585 f.). In Abb. 3.18 wird das Endprodukt X hergestellt, Upstream-Anbieter U liefert an Down­stream-Anbieter D. Der Output in U wird in einem festen Verhältnis in D eingesetzt. Zum Beispiel wird ein Schienenkilometer, der vom Netzbetreiber pro gegebene Zeiteinheit bereitgestellt wird, vom Diensteanbieter für eine Beförderungsleistung in diesem Zeitraum auf dieser Strecke verwendet. Beide Anbieter sind Angebotsmonopolisten, die auch keine potenzielle Kon€

NX B

PD

G

D

PU

GKD

PW

GKU

0

XU/D

XW

XF/VB GEU

GED=NU

Abb. 3.18:  Doppelte Marginalisierung. (Ähnlich Waldman & Jensen, 2013, S. 585)

X

3.5  Vertikale Zusammenschlüsse und Vereinbarungen

113

kurrenz fürchten müssen. Der Upstream-Monopolist produziert zu konstanten Grenzkosten GKU; der Downstream-Monopolist sollen vereinfachend ohne (eigene) Kosten produzieren können, GKD  =  0. Die Endnachfrage, der sich der Down­ stream-Anbieter gegenübersieht, entspricht NX, entsprechend gilt seine Grenzerlöskurve GED. Diese Grenzerlöskurve entspricht der Nachfragekurve des Upstream-Anbieters (NU), da der Downstream-Anbieter nach dieser Kurve seine Mengenentscheidung treffen wird. Folglich wird der monopolistische Upstream-­Anbieter daraus sein Grenzerlöskurve als GEU ableiten. Gleichgesetzt mit seiner Grenzkostenkurve GKU, ergibt sich sein optimaler Preis PU mit der Menge XU/D. Der Preis PU wird zum Inputpreis für den Downstream-Anbieter, also bildet dieser seine abgeleiteten Grenzkosten GKD. Folglich werden die Grenzkosten gleich den Grenzerlösen gesetzt (Punkt D). Der Endkundenpreis beläuft sich auf PD. Der Downstream-Anbieter macht einen Gewinn in Höhe des Rechtecks PDBDPU, für den Upstream-Anbieter wird der Gewinn PUDFPW erreichbar. In der Summe wird PDBFPW als Gewinn eingestrichen, der Wohlfahrtsverlust im Vergleich zum Wettbewerbspreis PW beträgt BHF. Würden beide Anbieter ein Unternehmen bilden (Fusion) oder sich auf eine gemeinsame Preispolitik ­einigen (vertikale Preisbindung), würde der Preis auf PU fallen und die Menge auf XF/VB steigen, der gemeinsame Gewinn steigt auf PUGEPW, der Wohlfahrtsverlust geht auf GHE zurück. Man sieht also, dass aus gesamtgesellschaftlicher Sicht eine vertikale Fusion oder eine vertikale Preisbindung besser ist als die doppelte Marginalisierung. Vertikale Zusammenschlüsse können jedoch auch zu gesamtwirtschaftlichen Nachteilen führen (Kerber, 2019, S. 164 f.): • Möglicherweise wird die Monopolmacht im Upstream-Bereich auf den Downstream-­ Bereich übertragen oder umgekehrt (Leverage-Effekt). Gelingt es jedoch die Marktmacht vollständig im Monopolmarkt auszuspielen, so kann in anderen Bereichen kein weiterer Vorteil des Monopols realisiert werden. Man kann die Monopolrente nur einmal verdienen. • Das marktbeherrschende Unternehmen, welches vertikal integriert ist, kann einen Anreiz haben, Konkurrenten auf vor- und nachgelagerten Märkten durch ungünstige Konditionen zu behindern (Foreclosure-(Marktausschließungs-)effekt). Ein Netzmonopolist verlangt zu hohe Zugangspreise, wettbewerbliche Dienstleister müssen diese Zugangspreise tragen (raising rivals` cost). Selbst wenn das Tochterunternehmen des Netzmonopolisten ebenfalls diese Preise entrichten muss, hat das integrierte Unternehmen einen Vorteil, zum Beispiel die Tochter an anderer Stelle zu entlasten. Der Wettbewerb in den vor- oder nachgelagerten Märkten kommt im Extremfall ganz zum Erliegen. • Vertikale Integration mag auch den Marktzutritt von neuen Anbietern erschweren. Markteintretende müssen dann nicht nur in einem Teilmarkt Fuß fassen, sondern in allen (relevanten) Teilmärkten. Die Wettbewerbsbehörde muss also im Rahmen des Genehmigungsverfahrens prüfen, ob eine marktbeherrschende Stellung entsteht oder verstärkt wird und dabei insbesondere auf

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3 Wettbewerbspolitik

die koordinierten und nicht-koordinierten Effekte eingehen, die Folgewirkungen auf vorbzw. nachgelagerten Märkten berücksichtigen und die (vorgebrachten) Effizienzvorteile auf ihre Stichhaltigkeit hin bewerten. Diese Prüfaufgabe kann sehr schnell sehr komplex werden und muss in relativ kurzer Zeit abgeschlossen sein, letzteres weil die rechtlichen Vorschriften enge Zeitvorgaben machen. Die Zeitvorgaben sind verständlich, weil die fusionierten Unternehmen möglichst bald wissen sollten, ob sie die gewünschte Fusion umsetzen dürfen oder nach alternativen Strategien suchen müssen. Nicht selten verhandeln die beiden Parteien, Fusionswillige und Behörde, bereits vor dem offiziellen Fristbeginn, um relativ geräuschlos die wettbewerbsrechtlichen Probleme der Fusion abzuschätzen. Neben der vertikalen Fusion gibt es sogenannte vertikale Vereinbarungen oder vertikale Bindungen, die ähnlich wie Fusionen wettbewerbspolitisch ambivalent einzuschätzen sind (zur Übersicht Kerber, 2019, S. 165–167). Zu den vertikalen Vereinbarungen gehören folgende Gestaltungsvarianten: • Die vertikalen Partner einigen sich auf eine gemeinsame Preispolitik. Insbesondere legen sie fest, welchen Preis der Downstream-Anbieter gegenüber dem Endkunden ­setzen darf. Im Handelsbereich bezeichnet man dies als Preisbindung der zweiten Hand. Bis 1973 durften Hersteller von Markenartikeln ihren Händlern per Vertrag vorschreiben, welchen Endkundenpreis diese (mindestens) verlangen mussten. Seit 1974 gilt nur noch die Preisbindung für Verlagserzeugnisse (Bücher, Zeitschriften, Zeitungen; § 30 GWB). • Treten einzelne Unternehmen im Rahmen eines Franchisevertrages auf, zum Beispiel mit einer vorgegebenen Ladenausstattung, eindeutig vorgeschriebenen Produkten und einheitlichem Marketingauftritt, so stellen diese Regelungen ebenfalls vertikale Vereinbarungen dar, die wettbewerbsrechtlich unzulässig sein können. Zulässig können freilich solche Vereinbarungen sein, um spezifische Investitionen der Vertragsbeziehung zu schützen. • Alleinbezugs- und Alleinvertriebsvereinbarungen binden einzelne Abnehmer an eine Bezugsquelle bzw. einzelne Lieferanten an einen spezifischen Abnehmer (im Falle einer wechselseitigen Vereinbarung dieser Art liegt eine Ausschließlichkeitsbin­ dung vor). • Im Bereich des Kfz-Handels waren über lange Zeit hinweg Automobilhersteller und Kfz-Handelsbetriebe/-Werkstätten eng miteinander verwoben, die Händler durften nur Fahrzeuge ihrer Marke anbieten, nur Ersatzteile, die vom Hersteller autorisiert waren, einsetzen und mussten restriktiven Vorgaben, in welcher Weise Neuwagen anzupreisen sind, folgen. Eine spezielle europäische Rechtsverordnung wurde dafür geschaffen, in den letzten Jahren sind jedoch diese Vorschriften erheblich zurückgenommen worden (ausführlich Jaenecke, 2022). In ihrer ökonomischen Bewertung treffen für vertikale Vereinbarungen ähnliche Argumente zu wie für die vertikale Fusion: Vertikale Vereinbarungen können Effizienzvorteile ermöglichen, aber auch den Wettbewerb behindern.

3.5  Vertikale Zusammenschlüsse und Vereinbarungen

115

Der erste Effizienzvorteil besteht darin, dass durch eine Vertikalvereinbarung die doppelte Marginalisierung verhindert wird: Nicht jeder Anbieter setzt auf seiner Wertschöpfungsstufe Grenzerlöse gleich -kosten, sondern man einigt sich auf den gemeinsamen, gewinnmaximierenden Preis; die am Markt gehandelte Menge steigt an, der Wohlfahrtsverlust aufgrund von Marktmacht wird kleiner. Zweiter Effizienzvorteil ist, dass vertikale Externalitäten verhindert werden bzw. Trittbrettfahrerverhalten unterbunden wird (Waldman & Jensen, 2013, S.  586–590). Downstream-­Anbieter können Serviceleistungen wie z. B. Beratung anbieten, die von den Endkunden geschätzt werden. Folglich sind die Endkunden bereit, einen höheren Preis zu zahlen. Kann man jedoch das Endprodukt auch bei einem Downstream-Anbieter, der keine Serviceleistung anbietet (z. B. nicht berät wie bei einer Onlineplattform), erwerben, besteht ein Anreiz zum „Trittbrettfahren“: Beratung bei einem Anbieter, Kauf zum billigeren Preis beim anderen. Mit Hilfe einer Vertikalvereinbarung kann u. U. dieses Dilemma überwunden werden: Downstream- und Upstream-Anbieter vereinbaren die Erbringung der Serviceleistung durch den Downstream-Anbieter. Jeder Abnehmer des Upstream-­ Anbieters verpflichtet sich, den kostendeckenden Preis mit Serviceleistungen nicht zu unterbieten. Zumindest über die Flanke, Service einzusparen und damit preisgünstiger zu werden, kommt es somit zu keiner Konkurrenz mehr. Dritter Effizienzvorteil könnte darin liegen, dass der Interbrandwettbewerb gestärkt wird. Grundlage des Interbrandwettbewerbs ist das Modell der monopolistischen Konkurrenz (Chamberlin, 1933; Robinson, 1933 und zum Überblick Nechyba, 2018, Kap.  26 bzw. Knieps, 2008, S. 183–189). Wiederum geht es um die Bereitstellung des Gutes X mit der Nachfragekurve N1, der sich das Unternehmen 1 gegenübersehen soll (Abb.  3.19, links). Das Unternehmen produziert mit der u-förmigen Durchschnittskostenkurve DK1, die in ihrem Minimum durch eine ebenfalls u-förmige Grenzkostenkurve GK1 geschnitten wird; ein solcher Kurvenverlauf ergibt sich bei einer kurz- bzw. langfristigen Kostenkurve mit s-förmigem Verlauf (Abschn. 7.3.2). Weil die Konsumenten des Unternehmens 1 dessen Produkte besonders schätzen, d. h. in gewissem Maße für diese Marke mehr auszugeben bereit sind als für andere Produkte, weist das Unternehmen 1 einen Monopolspielraum auf. Wie im Monopol kann dieses Unternehmen entlang der Nachfragekurve einen beliebigen Preis wählen und induziert damit eine bestimmte nachgefragte Menge. Folglich kann Unternehmen 1 für sich aus der Nachfragekurve die Grenzerlöskurve GE1 ableiten (links in Abb. 3.19). Aus dem Schnittpunkt der Grenzerlöskurve GE1 mit der Grenzkostenkurve GK1 in Punkt C ergibt sich der gewinnmaximale Preis P1 und die gewinnmaximale Menge X1. Unternehmen 1 erzielt somit einen Gewinn in Höhe des Rechtecks P1BED. Dieser „Extragewinn“ lockt andere Anbieter in diesen Markt, indem sie Produkte einführen, die für bestimmte Kundengruppen ebenfalls als (neue) Marke wahrgenommen werden. Für Unternehmen 1 bewirkt dieser Marktzutritt, dass sich ihre Nachfragekurve nach links unten verschiebt bzw. zunehmend flacher verläuft; Konsumenten wandern ab bzw. werden preissensibler. Marktzutritte finden so lange statt, bis die Extragewinne bei Unternehmen 1 verschwunden sind. Grafisch zeigt dieses neue Gleichgewicht die rechte Seite der Abb.  3.19: Der Preis dürfte geringer ausfallen als vor den

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3 Wettbewerbspolitik € C

€ C N1 GK1

GK1

DK1

DK1

B

P1

P1n D

E

N1n 0

X

X1

0

X1N

GE1

GE1n

X

Abb. 3.19  Monopolitische Konkurrenz. (Ähnlich Knieps 2008, S. 185 f.)

Marktzutritten, zum Beispiel P1n, ebenso die Menge (X1n). Entscheidend ist, dass die neue Nachfragekurve N1n gerade noch die Durchschnittskostenkurve DK1 berührt, was Nullgewinne anzeigt. Es kommt also zu einem Wettbewerb zwischen verschiedenen Marken, in denen die Markenanbieter zwar wie ein Monopolist Grenzerlös gleich Grenzkosten setzen, aber im Ergebnis keine Extragewinne realisieren können. Werbeaktivitäten für Marken oder Servicestandards werden viertens in Franchiseverträgen zwischen dem Upstream „Franchisegeber“ und dem Downstream „Franchisenehmer“ festgelegt, um die bereitgestellte Marke mit hoher Qualität abzusichern. Vertikale Vereinbarungen können sich jedoch auch auf dem Wettbewerb negativ auswirken (Kerber, 2019, S. 166). Wird erstens über die Vereinbarung der Endkundenpreis festgeschrieben, wird der Preis als wettbewerblicher Aktionsparameter zwischen diesen Parteien ausgeschaltet, der Intrabrandwettbewerb entfällt. Strittig ist, ob diese Maßnahme zu höheren Preisen führt, wie man das üblicherweise bei einem Preiskartell beobachten kann. Zweitens beschränken Alleinvertriebsvereinbarungen den regionalen Wettbewerb. Drittens mag die Beschränkung des Wettbewerbs auf der Downstream-Ebene den Wettbewerb auf der Upstream-Ebene beeinträchtigen, wenn sich die Anbieter dadurch leichter koordinieren können. Viertens ist nicht auszuschließen, dass mit der vertikalen Vereinbarung Marktmacht auf andere Wertschöpfungsstufen übertragen bzw. der Zugang zum Absatz- oder Beschaffungsmarkt erschwert wird. In der Literatur ist man sich jedoch einig, dass negative Effekte nicht zu erwarten sind, wenn die Vereinbarungen von Unternehmen ohne Marktmacht getroffen werden. Kunden können dann leicht ausweichen, die Vereinbarung bleibt wirkungslos.

3.5  Vertikale Zusammenschlüsse und Vereinbarungen

117

Rechtlich werden vertikale Vereinbarungen nach §  2 GWB bzw. gleichlautend nach Art. 101 III AEUV beurteilt (Kerber, 2019, S. 166 f.) Die wettbewerblichen positiven Wirkungen (Effizienzvorteile) müssen vorliegen und glaubhaft gemacht werden, die wettbewerbsschädlichen Auswirkungen müssen dahinter zurückbleiben und die Effizienzvorteile müssen beim Endkunden auch ankommen. Vereinbarungen können dann vom allgemeinen Kartellverbot freigestellt werden, entweder im Rahmen einer Einzelfallbetrachtung bzw. für typische, gleichartige Fälle über eine sogenannte Gruppenfreistellung, wie es sie im europäischen Rahmen für vertikale Vereinbarungen seit langem gibt und auch in regelmäßigen Abständen aktualisiert werden. Das Thema der Marktmacht wird dahingehend gelöst, dass eine Vereinbarung in einem Markt, in dem die beteiligten Unternehmen weniger als 30 % Marktanteil aufweisen, zulässig ist. Grundsätzlich dürfen sich die Vereinbarungen jedoch keinesfalls auf die Preise oder Mengen beziehen oder Marktgebiete abschotten; diese sogenannten „schwarzen Klauseln“ sind immer unzulässig. Plustext 3.3: Bestpreisklauseln Booking.com (Bundesgerichtshof Beschluss vom 18.05.2021 – KVR 54/20) Hotelbuchungsportale wie Booking.com vermitteln Hotelzimmer in einem zweiseitigen Plattformmarkt: Die Hotelbesitzer stellen ihre verfügbaren Hotelzimmer über einen Vermittlungsauftrag auf die Plattform, im Falle einer Hotelbuchung zahlen sie eine Vermittlungsprovision an die Plattform. Zimmersuchende Kunden nutzen die Plattform, um im gewünschten Zielort nach freien Zimmern zu suchen, vergleichen die angezeigten Optionen und buchen dann das Hotel über die Plattform. Hotelbuchungsportale wie Booking.com oder HRS hatten in der Vergangenheit teilnehmenden Hotels „auferlegt“, eine sogenannte Bestpreisklausel zu akzeptieren. Nach dieser Klausel durften Hotels ihre Zimmer nicht günstiger vermieten, z. B. über andere Hotelbuchungsplattformen, über die eigene Homepage oder gar direkt über Telefon oder vor Ort (weite Bestpreisklausel). In der engen Bestpreisklausel verpflichtet sich das Hotel, nicht auf der eigenen Internetseite günstiger anzubieten; in anderen Portalen konnte man günstiger sein, auch „offline“, falls dies nicht online publik gemacht wurde. Das Bundeskartellamt hat im Dezember 2015 die enge Bestpreisklausel untersagt und verfügt, dass sie ab 01. Februar 2016 nicht mehr verwendet werden durfte. Booking.com akzeptierte zwar diese Verfügung, legte aber gegen den Beschluss des Bundeskartellamtes Beschwerde ein. Das OLG Düsseldorf folgte im Juni 2019 der Beschwerde, da sie die enge Klausel als notwendige Nebenklausel des Vermittlungsvertrages ansah und hob den Beschluss der Behörde auf. Im Mai 2021 folgte jedoch der Bundesgerichtshof (BGH) der Ansicht des Bundeskartellamtes und setzte deren Verfügung wieder in Kraft. Der BGH sah in der (engen) Bestpreisklausel keine objektiv zwingende Nebenabrede, die vom Art. 101 I AEUV nicht erfasst gewesen wäre. Der Gerichtshof sah des Weiteren keine Möglichkeit der Freistellung nach Art.  101 III: Eine Gruppenfreistellung wurde verneint, da Booking.com im nationalen Buchungsportalmarkt einen Marktanteil von über 30  % erreiche. Eine Einzelfreistellung nach Art. 101 III sei unter Berücksichtigung des ersten Tatbestandes, des Effizienzvorteils, denkbar: Portale, die gleichzeitig die Aufgaben des Suchens, des Vergleichens und des Buchens übernähmen, stellten aus der Sicht des Verbrauchers ein attraktives D ­ ienstleistungspaket zur Verfügung. Die eine Freistellung rechtfertigende Gefahr des Trittbrettfahrens, wonach Suchende über das Portal das geeignete Hotel fänden und billiger dann direkt beim Hotel buchen würden, sei zwar vorstellbar, aber die florierenden Hotelbuchungsportale würden darauf hindeuten, dass das Geschäftsmodell Portal ohne Bestpreisklausel auch funktionieren würde.

118

3 Wettbewerbspolitik

Kritisch muss man hier darauf hinweisen, dass es durchaus sein könnte, noch mehr Transaktionen über Buchungsportale zu generieren, falls Bestpreisklauseln zulässig wären. Möglicherweise zahlen heute die Zeche des Verbots die Hotelbesitzer über überhöhte Vermittlungsprovisionen. Ökonomisch und rechtlich wäre aber vor allem zu prüfen, ob es ein milderes Mittel geben könnte, das Dienstleistungspaket „Hotelbuchungsportal“ bereit zu stellen, ohne das Trittbrettfahrerproblem zu riskieren.

3.6 Missbrauchsaufsicht über marktbeherrschende Unternehmen Falls es die Fusionskontrolle nicht schafft, die Entstehung marktbeherrschender Stellung zu verhindern, falls es zu Marktbeherrschung durch Unternehmenswachstum kommt oder Fusionskontrollregelungen erst nach der Verfestigung einer Marktbeherrschung eingeführt werden (wie es in Deutschland vor 1973 und in Europa vor 1998 war), kann die Wettbewerbspolitik entweder versuchen (Kerber, 2019, S.  167  f.), die Marktbeherrschung „rückabzuwickeln“ (Entflechtung) oder die Marktbeherrschung in ihren schädlichen Auswirkungen zu begrenzen (Missbrauchsaufsicht). Im deutschen und europäischen Recht ist eine Entflechtung nicht vorgesehen, vermutlich aufgrund des damit verbundenen hohen Aufwandes. Bei der Missbrauchsaufsicht geht es einerseits darum, marktmächtige Unternehmen in ihrem Verhalten so einzuschränken, dass sie keine Konkurrenten behindern (Behinderungsmissbrauch), und andererseits Marktergebnisse nicht zu tolerieren, die bei wirksamem Wettbewerb gerade nicht eingetreten wären (Ausbeutungsmissbrauch). Insofern akzeptiert die Wettbewerbspolitik die bestehende Marktstruktur, greift aber korrigierend bei Marktverhalten und -ergebnis ein. Die Missbrauchsaufsicht bei marktbeherrschenden Unternehmen verläuft national (§  19 GWB) und europäisch (Art.  102 AEUV) praktisch gleichförmig, die rechtlichen Bestimmungen sind weitgehend identisch und werden materiell ähnlich ausgelegt. AEUV, Art. 102 Mit dem Binnenmarkt unvereinbar und verboten ist die missbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung auf dem Binnenmarkt oder auf einem wesentlichen Teil desselben durch ein oder mehrere Unternehmen, soweit dies dazu führen kann, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen. Dieser Missbrauch kann insbesondere in Folgendem bestehen: a. der unmittelbaren oder mittelbaren Erzwingung von unangemessenen Einkaufsoder Verkaufspreisen oder sonstigen Geschäftsbedingungen; b. der Einschränkung der Erzeugung, des Absatzes oder der technischen Entwicklung zum Schaden der Verbraucher; c. der Anwendung unterschiedlicher Bedingungen bei gleichwertigen Leistungen gegenüber Handelspartnern, wodurch diese im Wettbewerb benachteiligt werden;

3.6  Missbrauchsaufsicht über marktbeherrschende Unternehmen

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d. der an den Abschluss von Verträgen geknüpften Bedingung, dass die Vertragspartner zusätzliche Leistungen annehmen, die weder sachlich noch nach Handelsbrauch in Beziehung zum Vertragsgegenstand stehen. In Deutschland greifen mit den §§ 19a, 20 und 21 GWB noch weitere Regelungen, die besonderen Schutz versprechen sollen. Nach § 20 sollen erstens Unternehmen geschützt werden, die sich einer relativen Marktmacht (Absatz I) gegenübersehen: Relative Marktmacht bedeutet, dass es der Marktgegenseite an ausreichenden und zumutbaren Ausweichmöglichkeiten fehlt (zum Beispiel auf die Belieferung bestimmter Markenartikel angewiesen zu sein). Mit dem eingefügten Absatz 19a wird zweitens konkretisiert, dass gerade in Bezug auf den Zugang zu Daten eine solche relative Marktmacht gegeben sein könnte. Drittens dürfen Anbieter mit überlegener Marktmacht kleine und mittlere Unternehmen nicht unbillig behindern, insbesondere in dem sie Waren unter Einstandspreisen verkaufen oder von Abnehmern höhere Preise fordern, als man selbst von Kunden verlangt, die sich auf der gleichen Stufe befinden wie die des Abnehmers (margin squeeze). Für den Kraftstoffmarkt wurde dies vor Jahren befürchtet, empirisch deutet wenig daraufhin (Kleineberg & Wein, 2018). §  21 postuliert, dass ein Unternehmen andere Unternehmen aufruft, Liefer- oder Bezugssperren mit dem Ziel zu verhängen, sie unbillig zu beeinträchtigen, bzw. andere zu drängen, wesentliche Regeln des Wettbewerbsrechtes zu missachten. Mit dem § 19a wurde eine Spezialvorschrift eingeführt, um Fehlverhalten von Digitalkonzernen (Unternehmen mit überragender marktübergreifender Bedeutung für den Wettbewerb) wirksam bekämpfen zu können, da das bisherige Instrumentarium nicht ausreichend und/oder nicht schnell genug sei. Marktbeherrschung kann einzelnen Anbieter die Möglichkeit verschaffen, zu hohe Preise zu verlangen, auf „unangemessene“ Gegenleistungen zu pochen oder unterschiedliche Preise zu setzen (Preisdiskriminierung), ohne dass hierfür sachliche Gründe vorliegen (Kerber, 2019, S.  168). Marktmacht führt also zu einer Ausbeutung der ­Marktgegenseite. Überantwortet man nun der Wettbewerbsbehörde die Aufgabe, korrigierend einzugreifen, stellt sich die Frage des geeigneten Maßstabes: Wie hoch wäre der Preis gewesen, wenn Wettbewerb geherrscht hätte („Als-ob-Wettbewerbspreis“), was wäre eine angemessene Gegenleistung, oder würden auch unter Wettbewerb Preise differenziert? Gerade wenn man akzeptiert, dass Ergebnisse des Wettbewerbs schwer vorherzusehen sind („Wettbewerb als Entdeckungsverfahren“), wird klar, welche Informationsanforderungen man der Kartellbehörde aufbürdet. Um pragmatisch aus dieser „Klemme“ herauszukommen, hat man die Idee entwickelt, nach vergleichbaren Märkten zu suchen und, wenn dort Wettbewerb herrscht, deren Ergebnisse als Vergleichsmarkt zu verwenden. Liegt beispielsweise der Preis im Vergleichsmarkt bei 100 Geldeinheiten und im vermachteten Markt bei 150 Geldeinheiten, so wäre der Preis um 50 Geldeinheiten zu hoch. Vermutlich wird es jedoch keine Vergleichsmärkte gegeben, die in allen relevanten Punkten die gleichen Ausprägungen haben wie der Markt, in dem Marktmacht besteht. Man wird dann versuchen, für unterschiedliche Faktoren zu kontrollieren. Kennt man theoretisch die relevanten Faktoren und sind diese empirisch-ökonometrisch plausibel messbar?

120

3 Wettbewerbspolitik

Denkbar wäre auch, den gleichen Markt mit seinen heutigen Ergebnissen mit denen in anderen Perioden zu vergleichen, in denen hoffentlich Marktmacht keine oder eine geringere Rolle gespielt hat. Auch hier muss man kritisch hinterfragen, ob sich nicht andere, von der Marktmacht unabhängige Faktoren verändert haben. Die Erfahrungen der Wettbewerbsbehörden zeigen, dass eine klare und justiziable Umsetzung des Ausbeutungsmissbrauchskonzeptes vielfach an erhebliche Grenzen gestoßen ist. Insofern ist wenig verwunderlich, dass die Wettbewerbsbehörden heutzutage meist auf die Einleitung derartiger Verfahren verzichten. Plustext 3.4: Valium (Schmidt & Haucap, 2013, S. 361–363) 1974 hatte das Bundeskartellamt die Firma Hoffmann-La Roche aufgefordert, ihre Herstellerabgabepreise für Valium um 40 % und für Librium um 35 % zu senken. In dieser Verfügung argumentierte das Amt, dass Hoffmann-La Roche im relevanten Markt der Tranquilizer einen Marktanteil von 53,3 % gehabt hätte, wenn man den Vertriebsweg öffentliche Apotheken unterstellte, und von ca. 85 %, wenn man Krankenhäuser zugrunde legte. Diese Marktanteile lagen weit über den im Gesetz vorhandenen Marktbeherrschungsvermutungskriterium von einem Drittel. Die Preissenkungsanforderung begründete das Amt mit einem internationalen Preisvergleich in den Pharmamärkten anderer EG-Staaten. Insbesondere seien die Preise in Italien, Frankreich und Großbritannien deutlich geringer gewesen. In den Folgejahren kam es zu mehreren Entscheidungen des Berliner Kammergerichts, damals zuständig als erste Instanz, und des Bundesgerichtshofs. Neben der Frage der Marktbeherrschung ging es vor allem um das Argument, ob die anderen europäischen Pharmamärkte mit dem deutschen vergleichbar seien. Zum Beispiel wurde argumentiert,

• dass in den billigeren Ländern das Gesundheitssystem staatlich organisiert sei, • dass Pharmaprodukte anders verteilt würden (Großpackungen für den Apotheker, der dann das Medikament einzeln verteilt, anstatt Einzelpackungen wie in Deutschland), • dass sich im unterschiedlichen Maße Billiganbieter an den Rechtsrahmen halten und • dass Pharma-Unternehmen im unterschiedlichen Ausmaße Forschung und Entwicklung betreiben würden. Diese strukturellen Unterschiede versuchte man durch Zu- und Abschläge auf die Vergleichspreise „einzuebnen“. In seinem abschließenden Urteil hat der Bundesgerichtshof 1980 diese Kalkulationsschemata als nicht mehr geeignet angesehen, um unterschiedliche Märkte vergleichbar zu machen. Die Missbrauchsverfügung des Amtes wurde daher abschließend als rechtswidrig verworfen.

Wesentlich häufiger führen Wettbewerbsbehörden Verfahren gegen marktbeherrschende Unternehmen durch, um Verhaltensweisen zu unterbinden, die andere Unternehmen der gleichen Wertschöpfungsstufe oder in vor- bzw. nachgelagerten Stufen behindern (Kerber, 2019, S.  168–171). Instrumente wie Kampfpreisstrategien, Ausschließlichkeitsvereinbarungen, Kopplungsbindungen, Rabattsysteme, Verweigerung des Zugangs zu einer Essential Facility sowie die Verweigerung einer Lieferung bzw. einer Lizenzvergabe können im Einzelfall durchaus geeignet sein, Marktmacht aus einer Wertschöpfungsstufe auf die andere zu übertragen (Leveraging effect) bzw. Konkurrenten vom Markt fernzuhalten (foreclosure effect).

3.6  Missbrauchsaufsicht über marktbeherrschende Unternehmen

121

Kampfpreise (predatory pricing) dienen dazu, Konkurrenten mit sehr niedrigen Preisen aus dem Markt zu verdrängen, um später selbst erhöhte Preise zu setzen. Abb. 3.20 beschreibt die grundsätzliche Vorgehensweise der Kampfpreissetzung (Knieps, 2008, S. 171–181). Für das Gut X liegt die Nachfragekurve N vor. Das Unternehmen 1, das eine Kampfpreisstrategie verfolgen will, weist horizontale Grenzkosten GK1 auf, die natürlich auch den Durchschnittskosten DK1 entsprechen. Zu einem Preis entsprechend der Grenzkosten (PGK) könnte somit Unternehmen 1 gerade seine Kosten decken. Mit dem verdrängenden Preis PV, der unterhalb der Grenzkosten liegt, würde das Unternehmen 1 die Menge XV absetzen können. Mit PV wäre ein Verlust PGKABPV verbunden. Setzt sich dieser niedrige Preis im Markt durch und können Konkurrenten mit ihren Kosten (langfristig) nicht mithalten, treten sie aus dem Markt aus. Bleibt der Verdränger allein im Markt, kann



N

PM

PGK

C

D

GK1/DK1

PV

0

B

XV

XM GE

Abb. 3.20  Kampfpreisstrategie. (Ähnlich Knieps, 2008, S. 172)

X

122

3 Wettbewerbspolitik

er sich als Monopolist verhalten und deshalb die Grenzerlöse (GE) mit den Grenzkosten GK1 schneiden, es ergibt sich der Monopolpreis PM und die Monopolmenge XM. Der Monopolgewinn PMCDPGK wird erzielt. Kurzfristig verliert also der Verdrängende durch seinen Unterkostenpreis, langfristig winkt jedoch der Monopolgewinn (Recoupment). Ob eine solche Strategie tatsächlich wettbewerbspolitisch eine große Bedeutung hat, ist aus mehreren Gründen fraglich. Erstens kann das Recoupment nicht eintreten, wenn neue Anbieter aufgrund der ansteigenden Preise in diesem Markt angelockt werden. Zweitens kann man das Setzen eines zu niedrigen Preises sicherlich nur dann rechtlich ahnden, wenn damit bewusst die strategische Absicht der Verdrängung verbunden ist, was vermutlich nicht einfach nachweisbar ist. Drittens ist schwer feststellbar, was Preise unter den Kosten bedeuten: Sind der Maßstab die Grenzkosten, die durchschnittlichen variablen Kosten oder die (langfristigen) Durchschnittskosten? Viertens stellt sich die Frage der Unterkostenpreise immer wieder neu, wenn es innerhalb kurzer Frist zu veränderten Preisen kommt. Insofern verwundert es nicht, dass die Kartellbehörden sehr spärlich Verfahren mit dem Ziel anstrengen, verdrängende Preise zu unterbinden. Mit Ausschließlichkeitsvereinbarungen können marktbeherrschende Unternehmen andere zwingen, nur über sie Leistungen zu beziehen. Der Marktzutritt zu vor- und nachgelagerten Märkten würde damit erschwert. Möglicherweise liegen aber Effizienzvorteile vor, zum Beispiel die Inputqualität kontrollieren zu können und damit Reputationsschäden zu vermeiden. Bei Kopplungsbindungen verlangt das marktbeherrschende Unternehmen, weitere Produkte jenseits des Gutes, für das eine Marktbeherrschung besteht, bei ihm zu beziehen. Beispielsweise verlangte der alleinige Hersteller von hochwertigen Kopiergeräten, bei ihm ebenfalls das Kopierpapier zu beschaffen (Tom, 2000). Möglicherweise werden mit solchen Kopplungsverträgen unterschiedliche Nachfrageintensitäten abgebildet, um Preise differenziert setzen zu können. Alle Nutzer von Kopiergeräten zahlen eine einheitliche Leasingrate, die Zahlungsbereitschaftsunterschiede aufgrund unterschiedlicher Kopierbedarfe werden über die Kopierpapiermenge abgeschöpft. Möglicherweise ist aber auch das alleinige Ziel, die Marktmacht vollständig auszuspielen, was überhöhte Preise im nachgelagerten Markt verlangt. Rabattsysteme können die Marktbeherrschung eines Unternehmens verstärken. Mengenrabatte sind zwar vielfach üblich, insbesondere, wenn damit Kostenvorteile größerer Mengen weitergegeben werden. Problematisch sind sogenannte Gesamtumsatz- und Treuerabattsysteme. Rabattierungsgrundlage ist dann nicht die einzelne Bestellung, sondern die Gesamtbestellmenge des jeweiligen Unternehmens bzw. der Umsatz, der pro Quartal oder Jahr gemacht wird. Diese beiden Systeme erzeugen eine Sogwirkung dahingehend, dass Abnehmer allein, um den speziellen Rabatt zu bekommen, beim marktbeherrschen Unternehmen bestellen; andere Lieferanten mit geringen Umsatzvolumina fallen als relevante Lieferanten komplett aus. Die Verweigerung des Zugangs zu einer wesentlichen Einrichtung (essential facility) sperrt Konkurrenten, die Leistungen auf der Grundlage der wesentlichen Einrichtung anbieten wollen, vom Markt aus. Betriebe, die Eisenbahnverkehrsdienstleistungen unter

3.6  Missbrauchsaufsicht über marktbeherrschende Unternehmen

123

Nutzung des Schienennetzes anbieten wollen, sind auf die Nutzung des Schienennetzes angewiesen (Abschn.  8.3.3). Für sie ist es nicht zumutbar, eine eigene Schieneninfrastruktur aufzubauen. Gesamtwirtschaftlich wäre dies auch eine unerwünschte Duplizierung der wesentlichen Einrichtung. Die Gewährung des Zugangs wird schnell hochkomplex, zum Beispiel welche Nutzungszeiten stehen den Konkurrenten und welche der Dienstetochter des Netzbetreibers zu, oder wer hat Priorität in der Nutzung, wenn es zu Verzögerungen kommt? Die Zugangsgewährung kann einerseits eine Frage des Wettbewerbsrechts sein, insbesondere wenn es eher um eine Frage des Einzelfalls geht; stellen sich diese Fragen regelmäßig, so spricht vieles für eine spezielle Behörde, was in Deutschland durch die Bundesnetzagentur wahrgenommen wird. Ein Fall des Behinderungsmissbrauchs kann auch vorliegen, wenn marktbeherrschende Unternehmen sich weigern zu liefern (refusal to deal) oder eine Patentlizenz zu erteilen. Im Grundsatz gilt die Vertragsfreiheit, d. h. jeder Marktakteuer kann selber entscheiden, mit wem er Verträge abschließen will. Bei Marktbeherrschung mag die Vertragsfreiheit eingeschränkt sein. Folgeproblem jedoch ist, dass die Einzelheiten der Lieferung bzw. der Lizenz ebenfalls konkretisiert werden müssen. Insbesondere eine zu hohe Lizenzgebühr oder ein überhöhter Lieferpreis würde den Liefer- bzw. Lizenzzwang faktisch leerlaufen lassen. Die nicht abschließenden Beispiele des Behinderungsmissbrauchs zeigen die Ambivalenz dieses wettbewerbspolitischen Instruments. Einerseits gibt es gute Argumente, weshalb bei Marktbeherrschung bestimmte Verhaltensweisen unzulässig sind. Andererseits sind auch Effizienzvorteile denkbar, die derartige Verhaltensweisen notwendig machen. Die Wettbewerbsbehörde muss diese Abwägungsentscheidung treffen und kann dazu das marktbeherrschende Unternehmen verpflichten, glaubwürdig Argumente für vorgebrachte Effizienzvorteile vorzubringen. Das Wettbewerbsrecht wirkt aber auch auf die Marktakteure direkt durch, als hier benachteiligte Konkurrenten vor Zivilgerichten gegen Behinderungen von marktbeherrschenden Unternehmen klagen können. In diesem Falle müssen die Zivilrechtsparteien entsprechend der üblichen Beweislastregel die für sie günstigen Tatbestände beweisen, was ohne spezifische Expertise der Wettbewerbsbehörde für die Parteien, aber auch für die Zivilgerichte eine besondere Herausforderung darstellt.

Zusammenfassung und Fazit

Die Wettbewerbspolitik setzt rechtliche Regeln, um Beschränkungen des Wettbewerbs zu bekämpfen, was im Wesentlichen für Deutschland über das GWB und über die Art. 101 und 102 AEUV erfolgt. Horizontale Absprachen über Preise, Mengen oder Absatzgebiete stellen sogenannte Hardcore-Kartelle dar, die grundsätzlich verboten sind. Ziel der Kartellisten ist, sich wie ein Monopolist zu verhalten und damit den höchstmöglichen Gewinn abzuschöpfen, Wohlfahrtsverluste entstehen. Die Kartellbehörde kann derartige Kartelle mit Bußgeldern ahnden, zivilrechtliche Schadensersatzzahlungen zu Gunsten der Kartellgeschädigten sind ebenfalls denk-

124

3 Wettbewerbspolitik

bar. Absprachen im Vertikalverhältnis sind wettbewerbspolitisch differenziert zu betrachten. Beim wirksamen Interbrand-Wettbewerb sind derartige Vereinbarungen wettbewerbspolitisch unerheblich. Ohne wirksamen Interbrand-Wettbewerb kommt es zunächst darauf an, ob die mit der Vereinbarung einhergehenden Vorteile die zu erwartenden Nachteile überwiegen. Wettbewerbspolitisch ebenfalls bedenklich wäre es, wenn marktmächtige Unternehmen ihre Macht ausspielen, um Wettbewerber zu behindern oder die Nachfrageseite auszubeuten. Ausbeutung nachzuweisen stellt sich als extrem schwierig heraus, deshalb spielt diese Frage in der Wettbewerbspolitik kaum noch eine Rolle. Behinderungen können eine Übertragung von Marktmacht bewirken oder den Wettbewerb auf vor- oder nachgelagerten Märkten schädigen; vielfach liegen jedoch auch Argumente für Effizienzvorteile vor. Durch Unternehmenszusammenschlüssen kann jedoch erst Marktmacht entstehen oder bestehende Macht verstärkt werden. In der Fusionskontrolle ist dies zu prüfen und mit wettbewerbsverbessernden Wirkungen der Fusion abzuwägen. Im Rahmen der Ministererlaubnis kann abgewogen werden, ob die gesamtwirtschaftlichen Vorteile des Zusammenschlusses die Wettbewerbsbeschränkungen aufwiegen oder ein überragendes Interesse der Allgemeinheit an der Fusion vorliegt.

Übungsaufgaben

1. Erläutern Sie, auch mit Hilfe einer Grafik, warum ein Monopolist für sein Gewinnmaximum Grenzerlös gleich Grenzkosten setzt. 2. Berechnen Sie für die in den Kasten 3.1 und 3.2 gegebenen Funktionen die Marktergebnisse (Preise, Mengen und Gewinne) im Cournot-Oligopol, im Monopol oder im Wettbewerb, falls für die Kostenfunktion 2x unterstellt wird. 3. Beschreiben Sie, auch mit Hilfe von Zeichnungen, den Anreiz eines Kartellisten, die Kartellvereinbarung über einen Monopolpreis zu brechen. Diskutieren Sie anschließend, welche Faktoren trotz alledem die Stabilität eines Preiskartells voraussagen. 4. Zeigen Sie die potenziellen Vor- und Nachteile einer horizontalen Fusion auf, auch unter Verwendung einer geeigneten Zeichnung. 5. Beschreiben Sie die jüngsten Beschlüsse des Bundeskartellamtes in Bezug auf a) ein Preiskartell, b) einer horizontalen Fusion und c) einer vertikalen Bindung, indem Sie die Informationen des Amtes im Internet zu diesen Fragen auswerten. Gehen Sie dabei schwerpunktmäßig auf den Sachverhalt, die ökonomischen Abwägungen und die Entscheidung ein.

Literatur

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Kommentierte Literaturhinweise Einen hervorragenden Überblick über alle wesentlichen Fragen der Wettbewerbspolitik liefert Kerber (2019). Knieps (2008) beschreibt die umfangreichen industrieökonomischen Grundlagen der Wettbewerbspolitik. Schmidt und Haucap (2013) verzahnen vorzüglich die ökonomischen bzw. wettbewerbsrechtlichen Aspekte des Kartellrechts und geben einen unschlagbaren Einblick in die wichtigsten wettbewerbsrechtlichen Fälle, die in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten entschieden wurden. Für Deutschland besteht eine lange Tradition der Konzentrationsmessung. Insbesondere die Monopolkommission hat über Jahrzehnte hinweg bahnbrechend Konzentrationsmaße für einzelne Sektoren berechnet. Durch die zunehmende Globalisierung scheint eine differenzierte Erfassung der nationalen Konzentrationsmasse nicht mehr so zielführend zu sein. Die Monopolkommission beschränkt sich daher in ihrem jüngsten Hauptgutachten von 2020 (Monopolkommission, Tzn.  252–269) auf eine aggregierte sektorale Betrachtung von Konzentrationsmassen und baut darauf eine empirische Messung der vermeintlich marktmachtbedingten Preisaufschläge auf. In den letzten beiden Jahrzehnten ist jedoch in Deutschland die Unternehmenskonzentration nicht signifikant angestiegen.

Literatur Bundeskartellamt. (2014). Sektoruntersuchung Lebensmitteleinzelhandel. http://bundeskartellamt. de/Sektoruntersuchung_LEH.pdf%3F__blob%3DpublicationFile%26v%3D7. Zugegriffen am 25.04.2022. Chamberlin, E. (1933). The theory of monopolistic competition (2. print). Harvard University Press. Clark, J. M. (1940). Toward a concept of workable competition. The American Economic Review, 30, 241–256. Coase, R. H. (1937). The nature of the firm. Economica, 4, 386–405. Harberger, A.  C. (1954). Monopoly and resource allocation. The American Economic Review, 44(2), 77–87. Jaenecke, M. S. (2022). Funktion und Wirkung der GVOs 1400/2002, 330/2010 und 461/2010 in den Bereichen Mehrmarkenvertrieb – Service und Vertrieb – Ersatzteilmarkt. Diss. Leuphana Universität Lüneburg. Kantzenbach, E. (1966). Die Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs. Vandenhoeck u. Ruprecht. Kerber, W. (2019). Wettbewerbspolitik. In T.  Apolte et al. (Hrsg.), Kompendium der Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik III: Wirtschaftspolitik (S. 15–187). Gabler. Kleineberg, C., & Wein, T. (2018). Relevanz von Margin-Squeeze-Preissetzung: Ein empirischer Test für den deutschen Kraftstoffmarkt. WUW: Wirtschaft und Wettbewerb, 68(7), 382–389. Knieps, G. (2008). Wettbewerbsökonomie: Regulierungstheorie, Industrieökonomie, Wettbewerbspolitik (3., durchgeseh. u. akt. Aufl.). Springer. Leibenstein, H. (1966). Allocative efficiency vs. „X-efficiency“. The American Economic Review, 56, 392–415. Monopolkommission. (2020). 23. Hauptgutachten. https://www.monopolkommission.de/de/gutachten/hauptgutachten/330-­xxiii-­gesamt.html. Zugegriffen am 24.05.2022.

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3 Wettbewerbspolitik

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4

Rentenpolitik

Die Rente nimmt eine zentrale Bedeutung im Rahmen der Sozialpolitik ein. Die gesetzliche Rente in Deutschland hat historisch gesehen drei verschiedene Schutzzwecke. Erstens soll sie erlauben, im Alter den eigenen Lebensunterhalt bestreiten zu können, ohne erwerbstätig sein zu müssen. Zweitens soll sie sicherstellen, dass im Falle einer krankheitsbedingt wegfallenden Möglichkeit zum Erwerb von Haushaltseinkommen über das eigene Arbeitsangebot (Invalidität, Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit) Ersatzeinkommen gewährt wird. Drittens sollen Hinterbliebene (Witwen/Witwer und Waisen) versorgt werden, falls der Einkommensbezieher verstirbt. In Deutschland übernimmt zu wesentlichen Teilen die gesetzliche Rentenversicherung seit mehr als 100 Jahren diese Aufgabe. Darüber hinaus gibt es noch die Beamtenversorgung durch Zahlung von Pensionen, berufsständische Versorgungswerke und eine spezifische Alterssicherung für Landwirte. Ökonomisch gesehen ist die Alterssicherung als eine Vorsorgeleistung zu sehen, für die während der Erwerbstätigenphase vorgesorgt werden kann (sparen). Insofern geht es um eine intertemporale Konsumentscheidung, wann gespart und wann entspart werden soll. Der Schutz gegen Invalidität und für Hinterbliebene zeigt jedoch auch, dass der „Schadens“eintritt unsicher ist und damit eine klassische Versicherungsfunktion relevant wird. Selbst bei der Alterssicherung greift ebenfalls das Versicherungselement, da die Rente bis zum Lebensende gezahlt wird, im Falle individuellen Sparens kann der Einzelne nicht absehen, wann er verstirbt und welche Summe daher bis zum Lebensende ausreichend ist (Langlebigkeitsrisiko). Auch der letzte Punkt zeigt, dass Alterssicherung eine kollektive Entscheidung ist und der Einzelne, nicht für sich allein ein ausreichendes, effizientes Sicherungssystem aufbauen kann.

Ergänzende Information Die elektronische Version dieses Kapitels enthält Zusatzmaterial, auf das über folgenden Link zugegriffen werden kann [https://doi.org/10.1007/978-3-658-42124-3_4]. © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 T. Wein, Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42124-3_4

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128

4 Rentenpolitik

Ein Dauerbrenner der Rentenpolitik ist die Frage, ob das Umlage- oder das Kapitaldeckungsverfahren besser geeignet ist, die vielfältigen Ziele der Rentenpolitik zu erreichen. Und eine weitere Debatte zieht sich bis heute durch: Reicht die gesetzliche Rente zur ­Sicherstellung eines angemessenen Lebensunterhalts im Alter, und werden die zukünftigen Beitragszahler durch die zu erwartenden Beitragssätze nicht überfordert? Im Abschn. 4.1 werden die Grundzüge der Alterssicherungspolitik in Deutschland vorgestellt, wobei der Schwerpunkt auf der dominierenden Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) ruht. Die wichtigsten grundsätzlichen ökonomischen Fragen für die Ausgestaltung der Rentenpolitik werden im Abschn. 4.2 diskutiert. Abschn. 4.3 wägt die Vor- und Nachteile des Umlage- bzw. Kapitaldeckungsverfahrens gegeneinander ab.

4.1 Alterssicherung in Deutschland Als dritte und letzte Säule der Bismarck Sozialversicherungsgesetzgebung wurde 1889 das Gesetz betreffend der Invaliditäts- und Alterssicherung verabschiedet (Althammer et al., 2021, S. 64). Mit diesem Gesetz wurden alle Arbeiter ab dem 16. Lebensjahr versicherungspflichtig. Altersrenten wurden ab dem 71. Lebensjahr ausbezahlt, falls der Betreffende 30 Beitragsjahre vorweisen konnte (Nachweise wurden über auszugebende Beitragsmarken erbracht; die Restlebensdauer der Rentner war meist nicht viel höher als bis zum Alter von 70 Jahren). Erwerbsunfähigkeitsrenten setzten die Erwerbsunfähigkeit (Invalidität) und fünf Beitragsjahre voraus. Eine Versorgung der Witwen oder Waisen war nicht vorgesehen. Wie bei allen Leistungen der damaligen Sozialversicherungsgesetzgebung war das Niveau so gering, dass oft allein darüber keine Existenzsicherung möglich war. Finanziert wurde diese Sozialversicherung durch hälftige Beiträge der Arbeitgeber und Arbeitnehmer sowie durch einen Reichszuschuss. Mit der Reichsversicherungsordnung von 1911 wurde die Alters- und Erwerbsunfähigkeitssicherung auf Angestellte mit einem Jahresgehalt zwischen 2000 und 5000 Mark erweitert, da man auch diese Gruppe als hilfsbedürftig ansah; erwerbsunfähige Arbeiterwitwen erhielten ab diesem Zeitpunkt ebenfalls eine Rente; 1916 wurde die Altersgrenze auf 65 Jahre reduziert (Althammer et al., 2021, S. 68). 1923 wurden Alters-, Invaliden- und Krankenversicherung bei Bergleuten reichseinheitlich in der Knappschaft-Versicherung zusammengefasst (Althammer et al., 2021, S. 74). 1957 wurde im Rahmen der großen Rentenreform das Umlageverfahren eingeführt, die Bruttolohnbezogenheit der Rente (Rentenniveau steigt mit dem Zuwachs der Bruttolöhne) festgeschrieben und allgemein die Leistungen, aber auch die Beitragssätze erhöht (Althammer et al., 2021, S. 86). Mit dem Rentenreformgesetz von 1992 wurde für Männer und Frauen die Regelaltersgrenze auf 65 Jahre angesetzt, vorzeitige Rentenbezüge führten zu Rentenabschlägen und die Renten sollten nur noch mit der Entwicklung bei den Nettolöhnen ansteigen (Althammer et al., 2021, S. 88). Einen Überblick über die verschiedenen Alterssicherungssystemen, die es in Deutschland gibt, bietet Tab. 4.1 (Ott, 2019, S. 355 f.). Vielfach wird vom 3-Säulen-Modell der Alterssicherung gesprochen: Die GRV, die betriebliche Alterssicherung und die private Altersvorsorge. Über 80  % der Bevölkerung ist Teil der GRV, darunter befinden sich

Quelle: Ott (2019, S. 356)

Öffentlicher Dienst Privatwirtschaft Abhängig Beschäftigte Selbstständige Beamte Arbeiter und Angestellte Handwerker Künstler Sonstige Freie Berufe Regelsysteme Beamtenver- Gesetzliche Rentenversicherung (GRV) Berufsständische sorgung Deutsche Rentenversicherung HandKünstlersozialver- Freiwillig oder Versorgungswerke Bund werker-ver- sicherung pflichtversichert Zusatzsysteme ZusatzverBetriebliche sicherung sorgung (VBL) Altersversorgung Private Staatliche Förderung bestimmter Versorgungsformen („Riester“-Rente, nur Pflichtversicherte) Vor-sorge Lebensversicherungen, private Rentenversicherungen, Ersparnisse (zum Teil steuerlich gefördert: sog. „Basis“-Rente)

Tab. 4.1  Alterssicherung verschiedener Bevölkerungsgruppen

Landwirte. Altershilfe für Landwirte.

4.1  Alterssicherung in Deutschland 129

130

4 Rentenpolitik

Arbeiter und Angestellte, sowie selbstständige Handwerker, Künstler und Sonstige. Arbeiter und Angestellte finden sich seit einigen Jahren unter dem Dach der Deutschen ­Rentenversicherung Bund, davor waren Arbeiter bei den Landesversicherungsanstalten (LVAs) und Angestellte bei der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) rentenversichert. Beamte erhalten im Ruhestand Pensionsbezüge, die aus dem laufenden Steueraufkommen finanziert werden. Selbstständige als Freiberufler oder als Landwirte haben eigenständige berufsständische Versorgungswerke bzw. fallen unter die Altershilfe für Landwirte. Im öffentlichen Dienst abhängig Beschäftigte mit dem Status des Arbeiters oder Angestellten, die beim Bund oder den meisten Bundesländern beschäftigt sind, erhalten eine Zusatzversorgung (VBL), mit der die Versorgungsunterschiede zwischen Tarifbeschäftigten und Beamten verringert werden sollen. In der Privatwirtschaft tätige Arbeiter und Angestellte konnten und können über die betriebliche Altersversorgung eine Betriebsrente als Zusatzrente erhalten, diese Zusage ist freiwillig und wurde vor allem in Zeiten des sich ausbreitenden Sozialstaats gewährt. In der dritten Säule können die Bürger privat vorsorgen, zum Beispiel indem sie Ersparnisse bilden, Lebensversicherungsverträge abschließen, eine private Rentenversicherung nachfragen oder in Immobilien investieren. Pflichtversicherte können bestimmte Anlageformen der privaten Vorsorge mit einer Zulage bzw. Steuervorteilen begünstigen lassen („Riester“-Rente). Andere Formen der privaten Vorsorge werden zum Teil steuerlich gefördert („Basis“-/„Rürup“-Rente).

4.1.1 Gesetzliche Rentenversicherung In der GRV tragen sowohl die Arbeitgeber als auch die Arbeitnehmer durch bruttolohnbezogene Beiträge wesentlich zur Finanzierung des Rentenversicherungssystems bei (Althammer et al., 2021, S. 215–221), die jeweils hälftig erhoben werden. Gegenwärtig liegt der Beitragssatz bei 18,6 %, sodass die Arbeitnehmer 9,3 % auf das sozialversicherungspflichtige Bruttoeinkommen entrichten (Arbeitnehmeranteil) wie auch die Arbeitgeber mit 9,3 % (Arbeitgeberanteil) beitragen müssen. 1970 lag noch der Beitragssatz bei 17,0 %, der dann in der zweiten Hälfte der Siebzigerjahre auf 18  % und 1985 auf 19,2  % angestiegen ist; Mitte bis Ende der 2000er-Jahre wurde der Höchstwert von 19,5 % erreicht. Vielfach wurden 20 % als Obergrenze genannt. Für alle Versicherten gilt die sogenannte Beitragsbemessungsgrenze: Wer z. B. im Jahre 2022 mehr als 7050 € pro Monat im Westen verdient, muss für den weiteren Verdienst keine Beiträge an die Rentenversicherung überweisen (lassen), weiteres Einkommen wird nicht „verbeitragt“. Freilich wirkt sich damit auch ein darüber hinausgehendes Einkommen nicht rentenerhöhend aus. Für viele Bevölkerungsgruppen besteht in Deutschland eine Pflicht zur Versicherung in der GRV (Althammer et al., 2021, S. 242 f.). Zunächst unterliegen Arbeitnehmer und Auszubildende einer derartigen Pflicht, soweit sie nicht in einem Beamtenverhältnis stehen. Geringfügig Beschäftigte, vor allem sogenannte 450  € Jobs („Minijobs“), sind versicherungspflichtig, die betroffenen Arbeitnehmer können sich jedoch von dieser Pflicht befreien lassen. Bestimmte Gruppen von Selbstständigen, wie zum Beispiel Handwerker, selbstständige Lehrer und Erzieher, Künstler oder Kinder- und Krankenpfleger, unter-

4.1  Alterssicherung in Deutschland

131

liegen ebenfalls der Versicherungspflicht. Um die sogenannte Scheinselbstständigkeit zu ­bekämpfen, wurden Selbstständige, die im Wesentlichen nur für einen Auftraggeber tätig sind und keine versicherungspflichtigen Arbeitnehmer einsetzen, ebenfalls einer Versicherungspflicht unterworfen. Pflichtversichert sind beispielsweise nicht-erwerbstätige Mütter und Väter bis zu drei Jahre nach der Geburt des Kindes, ebenso Bezieher von Lohnersatzleistungen sowie Wehr- und Zivildienstleistende. Ähnliches gilt für nicht-erwerbstätige Pflegepersonen. Selbstständige haben die Option, bis zu fünf Jahre nach Aufnahme der Selbstständigkeit der GRV beizutreten. Die Institution „Deutsche Rentenversicherung Bund“ übernimmt folgende Aufgaben (Althammer et al., 2021, S. 244 f.): • Mit Rehabilitationsleistungen soll die Erwerbsfähigkeit der Versicherten wiederhergestellt werden. Eine Rehaleistung wird jedoch frühestens nach einer 15-jährigen Beitragszeit (Wartezeit) gewährt. Als Leistungen kommen vor allem medizinische Angebote und berufsfördernde Maßnahmen in Frage. Während der Rehamaßnahme besteht ein Anspruch auf Einkommensersatz, der unterhalb des ansonsten erzielten Nettolohnes bleibt und sich nach dem Familienstand staffelt; Lohnfortzahlungsansprüche gegenüber dem Arbeitgeber bleiben jedoch davon unberührt. • „Kern des Geschäfts“ der GRV ist die Gewährung von Renten, um nicht mehr erzielbares oder wegfallendes Arbeitseinkommen zu ersetzen: Erstens erhalten Arbeitnehmer, die aus gesundheitlichen Gründen keiner Erwerbstätigkeit mehr nachgehen können, eine Erwerbsminderungsrente, wenn sie eine fünfjährige Wartezeit erfüllen und in den fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre lang Pflichtbeiträge entrichtet haben. Wer weniger als drei Stunden täglich erwerbstätig sein kann, bezieht eine Vollerwerbsminderungsrente; wer zwischen drei und sechs Stunden tätig sein kann, erhält eine Teilerwerbsminderungsrente. Zweitens können Arbeitnehmer nach Erreichen der Regelaltersgrenze ein sogenanntes Altersruhegeld erhalten, um im Alter ohne Erwerbstätigkeit die eigene Existenz zu sichern bzw. den eigenen materiellen Lebensstandard aufrechterhalten zu können. Der Anspruch auf Altersruhegeld endet mit dem Tod des Rentners, eine Vererbung individueller Rentenansprüche findet nicht statt. Bis zum Jahre 2012 lag die Regelaltersgrenze beim 65. Lebensjahr, seither wird Stück für Stück die Regelaltersgrenze auf 67 Lebensjahre heraufgesetzt. Individuen können einige Jahren vorher in Rente gehen, müssen jedoch pro Monat, die sie vor der Altersgrenze aus der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung ausscheiden, einen Rentenabschlag in Höhe von 0,3 % pro Monat hinnehmen. • Verstirbt ein Rentenbeitragszahler mit erfüllter Wartezeit oder bezog der Verstorbene bereits Rente, erhalten die überlebenden Ehepartner als Witwe bzw. Witwer eine Hinterbliebenenrente, ebenso hinterbliebene Kinder in Form der (Halb- bzw. Voll-) Waisenrente, solange noch grundsätzlich eine Unterhaltspflicht besteht. Allerdings werden eigene Einkünfte des Hinterbliebenenrentners bis zu 40 % angerechnet, falls ein Freibetrag (das 26,4-fache des aktuellen Rentenwertes (aRW)) überschritten wird. • Nach 1977 geschiedene Ehepartner erhalten bis zu ihrem 65.  Lebensjahr eine Erziehungsrente, wenn sie ein eigenes Kind oder ein Kind des Verstorbenen erziehen,

132

4 Rentenpolitik

nicht wieder geheiratet und vor dem Tod des Ehegatten eigenständig die Wartezeitfrist von fünf Jahren erfüllt haben. • Administrativ leitet die GRV die Krankenversicherungsbeiträge der Rentner an die GKV weiter. Rentner zahlen wie zur Zeit der Erwerbstätigkeit die Hälfte des aktuellen Beitragssatzes zur GKV, die Beitragsleistung des ehemaligen Arbeitgebers entfällt. Zuzüglich kommt der volle Beitragssatz für die gesetzliche Pflegeversicherung (GPV), zur Zeit in Höhe von 3,05 %, hinzu; er wird ebenfalls direkt von der GRV an die GPV überwiesen. Bei der Altersrente in der GRV ist zwischen der Zugangsrente und der jährlichen Anpassung der Rente zu unterscheiden. Die Zugangsrente berechnet sich nachfolgender Formel (Althammer et al., 2021, S. 244–248):

MR  EP  Zf  RF  aRW.

(4.1)

Die Monatsrente MR, die für den Rentenantragsteller als erste Rente berechnet wird, ergibt sich aus vier multiplikativen Faktoren. Der Faktor EP entspricht der Summe der individuellen Entgeltpunkte eines jeden Antragstellers. Für jedes Kalenderjahr, in dem der Antragsteller sozialversicherungspflichtig beschäftigt war, werden seine Bruttoentgelte aufsummiert und den durchschnittlichen Entgelten aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in dem jeweiligen Kalenderjahr gegenübergestellt. Verdiente beispielsweise ein Arbeitnehmer im Jahr 2010 40.000 € und betrug im gleichen Jahr das Durchschnittsentgelt 30.000 €, würden ihm Entgeltpunkte in Höhe von 1,33 gutgeschrieben. Diese Entgeltpunkte werden über die gesamte Beschäftigungszeit aufsummiert und gehen damit als individueller Bestandteil der Monatsformel in die Rentenberechnung ein. Je mehr Entgeltpunkte ein Einzelner angesammelt hat, umso höher fällt seine individuelle Rente aus (Prinzip der Teilhabeäquivalenz). Aufgrund der nach oben limitierenden Beitragsbemessungsgrenze können jedoch pro Jahr individuell nur zwei Entgeltpunkte verbucht werden. Geht der Antragsteller entsprechend der für ihn geltenden Regelaltersgrenze in Rente, ergibt sich für ihn ein Zugangsfaktor Zf in Höhe von Eins, frühere Rentenbezüge senken den Zugangsfaktor um 0,03 % pro Monat bzw. 3,6 % pro Jahr. Ein Jahr früher in Rente zu gehen senkt also den Zugangsfaktor auf 0,964 (1 − 0,036), zwei Jahre früher auf 0,928 (1 − 0,036 − 0,036). Entschließt sich der Arbeitnehmer länger als die vorgesehene Altersgrenze zu arbeiten (aufgeschobene Rente), erhält er einen Zuschlag in Höhe von 0,05 % pro Monat bzw. 6 % pro Jahr; der Zugangsfaktor steigt dann auf 1,06 (1 + 0,06). Für die normale Altersrente wird der Rentenartfaktor RF auf 1 gesetzt, genauso bei voller Erwerbsminderung und Erziehungsrenten. Im Falle einer (großen) Witwer/Witwenrente für nach 1961 geborene Personen liegt RF bei 0,55 und für Halbwaisen 0,1 bzw. Vollwaisen 0,2. Vierter und letzter Faktor der Monatsrente ist der aktuelle Rentenwert (aRW), der gemäß der Rentenformel jährlich neu festgesetzt wird (s. u.). Hätte ein Antragsteller über 45 Jahre seiner Beschäftigungszeit in der Summe 45 Entgeltpunkte „angesammelt“, ginge exakt zur Regelaltersgrenze in Rente, eine Altersrente als Versicherungszweck läge

4.1  Alterssicherung in Deutschland

133

vor und betrüge der aktuelle Rentenwert 35  €, so würde die Altersrente auf 1575  € (45 * 1 * 1 * 35) festgesetzt werden. Plustext 4.1: Sicherungsniveau in der GRV (Althammer et al., 2021, S. 244 f.) Ein Arbeitnehmer in Westdeutschland mit 45 Versicherungsjahren und jeweils einem Entgeltpunkte pro Jahr hätte bei dem Rentenwert aus 2019 in Höhe 33,05 € eine Monatsrente in Höhe von 1487,25 € (Standard- oder Eckrente) 2019 erhalten (45 * 1 * 1 * 33,05 €). Für diesen Versicherten mit dem einen Entgeltpunkt im letzten Beschäftigungsjahr entspräche dies dem durchschnittlichen Jahresbruttoarbeitseinkommen von 37.103 €, was zu einem Monatseinkommen von 3091,92 € führt. Vom Bruttoeinkommen sind 9,35 % für die GRV, durchschnittlich 8,39 % für die GKV, 1,275 % für die gesetzliche Pflegeversicherung und 1,5  % für die Arbeitslosenversicherung anzusetzen. Diese 20,515  % Beitragsbelastung der Sozialversicherung mindert das Bruttoarbeitseinkommen um 634,31 €, das Nettoeinkommen sinkt auf 2457,61 € pro Monat, Einkommensteuer wäre noch nicht berücksichtigt. Die Monatsrente unterliegt noch dem hälftigen Beitragssatz der GKV (etwa 8,39 %) sowie dem vollen Beitragssatz der gesetzlichen Pflegeversicherung in Höhe von 3,05  %, in der Summe in Höhe von 11,44 %, „Netto“ also 1317,11 €. Insofern beläuft sich das Sicherungsniveau diese Person (Rentennettoeinkommen zu Nettoerwerbseinkommen) auf 53,6 %. Allerdings ist die Einkommensteuerbelastung noch nicht enthalten und Renten werden zunehmend in die normale Einkommensbesteuerung mit einbezogen.

Für Kindererziehungszeiten werden bis zu drei Jahre Entgeltpunkte gutgeschrieben. Für Zeiten der Schulausbildung, der Besuch einer Hochschule, der Arbeitslosigkeit u. a. werden letztendlich ebenfalls pauschalierte Entgeltpunkte einbezogen. Für Versicherte, die langjährig beschäftigt waren, hat der Gesetzgeber neuerdings komplexe Sonderregeln geschaffen (Rente mit 63 für besonders langjährig Versicherte, Rente für langjährig Versicherte (siehe auch Althammer et al., 2021, S. 245)). Plustext 4.2: Rentenangleichung in Ostdeutschland Am Ende der DDR 1989/90 stand für die ostdeutschen Rentner kein Kapitalstock zur Verfügung, um daraus die laufenden und zukünftigen Renten zu finanzieren. Zwischen der DDR und der Bundesrepublik wurde daher im Sommer 1990 vereinbart, das westdeutsche, umlagenfinanzierte Rentenversicherungssystem mit seiner Systematik von individuellen Entgeltpunkte, aktuellen Rentenwert, usw. zu übertragen; in den Folgejahrzehnten wurde dieses System bis Ende der 2010er-Jahre fortgeschrieben (Bäcker et al., 2020; Busleim et al., 2020, S. 714–716; Sozialbeirat, 2015, Tzn. 72–77). Die ostdeutschen Beschäftigten verdienten nominal deutlich weniger als ihre westdeutschen Kollegen. Eine 1:1-Übertragung der dort erfassten individuelle Entgeltpunkte ohne Berücksichtigung des niedrigen Lohnniveaus hätte sehr geringe Zugangsrenten für ostdeutsche Rentner induziert. Orientiert am rentenpolitischen Zielpunkt des westdeutschen Umlageverfahrens (Rentner mit 40 Jahren an Beitragszeiten und einem Versorgungsniveau in Höhe von 70 % des letzten Nettolohns; Eck- oder Standardrentner), wurden die Entgeltpunkte der ostdeutschen mit einem Anrechnungsfaktor hochgerechnet. Beispielsweise wurde das durchschnittliche Arbeitseinkommen Ostdeutschland aus dem Jahre 1985 mit dem Faktor 3,3129 hochgerechnet. Um quasi für das noch niedrigere Lohnniveau in Ostdeutschland zu korrigieren, wurde der aktuelle Rentenwert getrennt für Ost- und Westdeutschland festgelegt, wobei der ostdeutsche entsprechend des niedrigeren Lohnniveaus deutlich geringer festgelegt wurde. Man hoffte, dass sich mit der Angleichung der Wirtschaftslage in beiden Teilen Deutschlands die Lohnniveaus nicht mehr unterscheiden, die aktuellen Rentenwerte sich angleichen würden.

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4 Rentenpolitik

Diese Erwartung wurde enttäuscht, die Durchschnittslöhne in Ostdeutschland sind immer noch deutlich unter denen Westdeutschlands. Beispielsweise lag in Westdeutschland das Durchschnittsentgelt im Jahre 2015 bei 34.999  € pro Jahr. Ein westdeutscher Arbeitnehmer, der genau diese Summe in 2015 verdiente, bekam dafür einen Entgeltpunkt gutgeschrieben. Multipliziert mit dem damals gültigen aktuellen Rentenwert in Höhe von 29,21 €, ergibt sich ein Rentenanspruch in Höhe von 29,21 € aus diesem Jahr, falls die Person Altersrente beziehen und genau zur Regelaltersgrenze in Rente gehen würde. Ein in Ostdeutschland Beschäftigter erzielte im Jahr 2015 durchschnittlich 29,87 €, also etwa 15 % weniger als sein westdeutscher Kollege. Der individuelle Ostbeschäftigte mit dem Durchschnittsverdienst in Höhe von 29.870 € erhält dafür ebenfalls einen Entgeltpunkt. Dieser „ostdeutsche“ Entgeltpunkt ist nach dem aktuellen Rentenwert des Jahres 2015 für Ostdeutschland (27,05) genau 27,05 € wert. Somit gilt: Ein in Ostdeutschland Beschäftigter mit exakt dem westdeutschen Durchschnittsverdienst würde dafür 1,17 Entgeltpunkte erhalten (34.999 € pro Jahr/29.870 € pro Jahr). Dies mit dem aktuellen Rentenwert von Ostdeutschland (27,05 €) vervielfacht, ergibt sich ein Rentenanspruch für ihn in Höhe von 31,69 €, die ostdeutsche Rente ist somit um 8 % höher als die des Westbeschäftigten mit einem Verdienst entsprechend des westdeutschen Durchschnitts (1  *  29,21  €). (Das Verhältnis zwischen dem ost- und dem westdeutschen Durchschnittsentgelt wird technisch als Umrechnungsfaktor bezeichnet. Durch Anwendung dieses Faktors auf individuelle Verdienste je nach Beschäftigungsort können bundeseinheitlich berechnete Entgeltpunkte erfasst und aggregiert werden.) Mit dem Rentenüberleitungs-Abschlussgesetz aus dem Jahre 2017 wird bis 2025 ein einheitliches, umlagefinanziertes Rentenversicherungsgesetz geschaffen. Die aktuellen Rentenwerte sollen sich immer mehr angleichen und ab Juli 2023 identisch sein. Im gleichen Zug wird der Umrechnungsfaktor vermindert, ab 2025 soll er ganz entfallen. Die Kosten für die Angleichung wurden bis 2021 allein aus Beiträgen finanziert, ab 2022 beteiligt sich der Bund an den Kosten. Eine schwierig zu beantwortende Frage ist, wer von den ostdeutschen Rentnern und Beschäftigten tatsächlich Gewinner und Verlierer dieser Anpassung ist. Tendenziell gilt, dass sich Bestandsrentner (ihre Entgeltpunkte werden ja im Nachhinein nicht umgerechnet) und rentennahe Generationen besserstellen; rentenferne Generationen verlieren, da die Abschmelzung des Umrechnungsfaktors sie stärker trifft als die Erhöhung des aktuellen Rentenwertes. Von der hier behandelten Frage der „Gerechtigkeit“ der Rentenformel, ist zu trennen, wie die Versorgungslage im Alter in West- bzw. Ostdeutschland zu beurteilen ist (Busleim et al., 2020, S.  716–719). In allen Jahren nach der Wiedervereinigung lagen die durchschnittlichen (umlagefinanzierten) Altersrenten der ostdeutschen Frauen deutlich über denen der westdeutschen, was sicherlich mit der höheren Erwerbsbeteiligung von Frauen in Ostdeutschland zu Vorwendezeiten zu tun hatte. Seit Mitte der Neunzigerjahre liegen auch die durchschnittlichen Renten ostdeutschen Männer über denen westdeutscher; ursächlich scheint dafür die dauerhafteren Erwerbsbiografien im Osten sowie der oben beschriebene Umrechnungsfaktor zu sein. Stellt man jedoch die Betrachtung auf den Haushaltskontext um und bezieht alle anderen, im Alter relevanten Einkommensquellen, wie Vermögenseinkommen, private Renten und fiktive Mieteinnahmen, ein, dreht sich das Bild: Die Westdeutschen sind im Alter besser versorgt als die Ostdeutschen. Hier schlägt vermutlich durch, dass viele Ostdeutsche in die Wiedervereinigung ohne große individuelle Vermögensbestände hineingekommen sind und dieses Defizit wirkt bis heute nach. Gesellschaftspolitisch ist dies sicherlich ein diskussionswürdiger Befund, das umlagenfinanzierte Rentenversicherungssystem sollte dafür aber nicht auf die Anklagebank gesetzt werden (und hätte auch früher davon freigesprochen werden müssen).

Der aktuelle Rentenwert als Instrument zur jährlichen Rentenanpassung wird grundsätzlich nach folgender Formel fortgeschrieben (Althammer et al., 2021, S. 248 f.):

4.1  Alterssicherung in Deutschland

aRWt  aRWt 1 

135

 BEt 1  100  AVAt 1  RVBt 1   RQt 1      1 ,    1  BEt  2  100  AVAt  2  RVBt  2   RQt  2      

Lohnfaktor

Beitragsfaktor

Nachhaltigkeitsfaktor

(4.2)

mit: aRW = aktueller Rentenwert, BE = Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer, AVA = Altersvorsorgeanteil, RVB = durchschnittlicher Beitragssatz in der allgemeinen Rentenversicherung, RQ = Rentnerquotient. t = aktuelles Kalenderjahr und α = Gewichtungsfaktor. Der aktuelle Rentenwert des laufenden Jahres ergibt sich zunächst aus dem Rentenwert des Vorjahres (t  −  1). Als zweiter Faktor gehen die durchschnittlichen Bruttolöhne und -gehälter der Arbeitnehmer multiplikativ ein (Lohnfaktor). Liegt diese Bruttogröße im Jahre t − 1 höher als im Vorjahr t − 2, nimmt der Rentenwert zu: Beträgt die Bruttosumme im Jahre 2021 41.541 € und im Jahre 2020 39.167 €, so beläuft sich der Lohnfaktor für 2022 auf 1,06. In den sogenannten Beitragsfaktor wird jeweils von 100 der Fördersatz für die private, staatliche geförderte Altersversorgung („Riester“-Rente) sowie der Beitragssatz für die GRV abgezogen. Mit der Einführung der Riesterrente wurden Höchstprozentsätze des Bruttoeinkommens der Beitragszahler festgelegt, für die eine staatliche Förderung möglich war. Seit einigen Jahren ist der Höchstfördersatz von 4 % erreicht, insofern spielt der Faktor AVA für aktuelle Anpassungen des Rentenwertes keine Rolle mehr. Ebenso ist der Beitragssatz in der GRV seit Jahren konstant, sodass sich der Beitragsfaktor momentan nicht ändert. In dem genannten Nachhaltigkeitsfaktor geht der ­Rentnerquotient, also das Verhältnis zwischen der Anzahl der aktuellen Rentner und den Beitragszahlern, ein. Nimmt die Anzahl der Rentner im Vorjahr t − 1 gegenüber dem Vorvorjahr t − 2 zu, wird das Verhältnis der Rentnerquotienten größer, der Klammerausdruck im Nachhaltigkeitsfaktor wird kleiner. Die Klammer wird mit der Variable α, die aus Simulationsrechnungen heraus mit 0,25 festgelegt wurde und damit eine vertretbare Entwicklung des Beitragssatzes erwarten lassen sollte, multipliziert und der Wert 1 abgezogen. Mit dem Nachhaltigkeitsfaktor wird bei einer zunehmenden Zahl der Rentner der Anstieg der Bestandsrenten (und natürlich auch die Höhe der Zugangsrenten) verlangsamt, die demografische Verschlechterung wird auch von der Rentnergeneration mitfinanziert. Die Rentenanpassung gemäß Anpassungsformel findet jedoch nicht automatisch statt: Eine Senkung des aktuellen Rentenwertes ist per Gesetz ausgeschlossen (2005 und 2006 unterblieben daher rechnerisch notwendige Rentensenkungen); seit 2018 ist die Anwendung des Nachhaltigkeitsfaktors ausgesetzt. Neben den Beitragsleistungen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber finanziert sich die GRV auch aus Zuschüssen des Bundes (Althammer et al., 2021, S. 251). Der Zuschuss aus

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4 Rentenpolitik

dem Bundeshaushalt gliedert sich in drei Teile: a) der allgemeine Bundeszuschuss, der mit der Entwicklung der Bruttolohn-/Bruttogehaltssumme fortgeschrieben wird, b) der zusätzliche Bundeszuschuss entsprechend eines Prozentpunktes der Mehrwertsteuer und c) eines zusätzlichen Erhöhungsbetrages, abgeleitet aus der Einführung der Öko-Steuer Ende der 1990er-Jahre. Betragsmäßig entfällt in etwa ¾ auf den allgemeinen Bundeszuschuss sowie der Rest jeweils zur Hälfte auf den zusätzlichen Bundeszuschuss und den Ökosteueranteil. Der allgemeine und der zusätzliche Bundeszuschuss sollen unter anderem die finanziellen Belastungen für sogenannte versicherungsfremden Leistungen, wie Kinderziehungszeiten oder Renten für Naziverfolgte, ausgleichen. Die GRV steht seit ihrem Bestehen in der öffentlichen Kritik. In den 1960er- und 1970er-Jahren lag der Fokus auf der Frage der unzureichenden Absicherung. Insbesondere sollten und wurden Personengruppen, die nicht von der GRV erfasst waren, an die GRV herangeführt, sei es mit Möglichkeiten zur freiwilligen Versicherung oder mit der Ausdehnung der Versicherungspflicht. Von Teilen der Wissenschaft, nicht jedoch von der Politik, wurde bereits in den siebziger Jahren auf die Problematik der demografischen Entwicklung hingewiesen: Rückläufige Geburtenzahlen würden langfristig einen höheren Anteil von Rentnern generieren, die von immer weniger Erwerbstätigen finanziert werden müssten. Das Problem der Tragfähigkeit der Rentenfinanzen bzw. der nachhaltigen, d. h. dauerhaft gesicherten Finanzierung der GRV steht im Raum. Es gibt eine Vielzahl von Prognosen zur Tragfähigkeit der deutschen Renten, die zu etwas unterschiedlichen Ergebnissen kommen, je nachdem, welche Annahmen man für die demografische Entwicklung, das Ausmaß der Zuwanderung oder die Relevanz von verschiedenen Rentenreformen der letzten Jahre macht. Es drohen steigende Beitragssätze und sinkende Versorgungsniveaus durch die GRV, zu einer quantitativen Abschätzung vergleiche Plustext 4.4. Mit der Frage das Versorgungsniveaus ist auch verbunden, inwieweit die gesetzliche Rentenversicherung sozial treffsicher ist und dabei Altersarmutsphänomene begrenzt, gerade für die Zukunft wird vielfach eine deutliche Zunahme der Altersarmut befürchtet. Im Jahre 2020 wurde im Rentenbestand für westdeutsche Männer eine Altersdurchschnittsrente von 1210 € ausgezahlt, in Ostdeutschland 1300 €, für Frauen galt im Westen 730 € und im Osten 1058  €; Alterszugangsrentner erhielten im Westen 1182  € und im Osten 1123 €, Rentnerinnen im Westen 732 € und im Osten 1058 € (Deutsche Rente, 2022). Das bessere Versorgungsniveau der ostdeutschen Frauen hat vor allem mit ihrem höheren Ausmaß an Berufstätigkeit gerade zu Zeiten der DDR zu tun. Insgesamt dürfen diese relativ niedrigen Zahlenwerte für die Renten nicht vorschnell als sozialpolitisches Problem gewertet werden, da vielfach in den Haushalten mehrere Altersrenten oder andere Alterseinkünfte (zum Beispiel Immobilienbesitz) vorhanden sind; laut Althammer et  al. (2021, S.  254) waren nur etwa 2,6  % der Altersrentner auf die sozialhilferechtliche Grundsicherung angewiesen. Vermutlich ist gegenwärtig der größere sozialpolitische Handlungsbedarf bei den Beziehern von Erwerbsunfähigkeitsrenten, die zwar nur begrenzte Abschläge aufgrund des vorzeitigen Rentenbezugs hinnehmen müssen, aber denen die Möglichkeit fehlte, ausreichende Entgeltpunktsummen zu erwerben. Insofern ist nicht verwunderlich, dass die durchschnittlichen Erwerbsminderungsrenten deutlich hinter den

4.1  Alterssicherung in Deutschland

137

Altersrenten zurückbleiben. Offen bleibt natürlich, in wieweit in den nächsten Jahrzehnten diese relativ entspannte Lage bei der Altersarmut bestehen bleibt. Wenig hilfreich, vielleicht sogar schädlich, ist es, wenn Durchschnittsrenten in den Medien völlig losgelöst vom Haushaltskontext (weitere Rentenbezieher, andere Alterseinkünfte) publiziert und als sozialpolitische Debakel gebrandmarkt werden. Und im Übrigen: Niedrige Renten sind vielfach das Spiegelbild geringer Erwerbsbeteiligung; ein Rentenversicherungssystem, das sich wie das deutsche stark an der Erwerbsbeteiligung orientiert, sieht hier zwangsläufig „schlecht aus“.

Kasten 4.1: Baustelle Erwerbsminderungsrente (Geyer, 2021; Becker et al., 2023)

Jedes Jahr gehen in Deutschland etwa 170.000 Beschäftigte in die Erwerbsminderungsrente, d. h. aus gesundheitlichen Gründen sind sie ganz oder teilweise nicht erwerbsfähig und beziehen sozusagen vorgezogene Altersrente. Grundsätzlich sollen alle Maßnahmen ergriffen werden, die den vorzeitigen Rentenzugang vermeiden (Rehabilitationsmaßnahmen), und die Verrentung wird nur auf Zeit ausgesprochen, damit bei einer gesundheitlichen Besserung wieder die Rückkehr in Beschäftigung erfolgt. Bei Rentnern, die heute in die Erwerbsminderungsrente gehen, kommt einerseits eine Erwerbsminderungsrente in Höhe von 50 % infrage, wer mindestens drei Stunden, aber weniger als sechs Stunden täglich erwerbsfähig sein kann; wer weniger als drei Stunden täglich arbeiten kann, bekommt die volle Erwerbsminderungsrente (Rentenartfaktor 0,5 bzw. 1,0). Die Erwerbsminderungsrente wird grundsätzlich auf drei Jahre befristet, kann aber verlängert bzw. dauerhaft gewährt werden. Für die Gewährung der Erwerbsminderungsrente dem Grunde nach kommt es neben der gesundheitlichen Einschränkung auch auf die Offenheit des Arbeitsmarktes an; letzteres bedeutet, dass Erwerbsminderung auch dann eintritt, wenn aufgrund von allgemein hoher Arbeitslosigkeit ein geeigneter (Teilzeit-) Arbeitsplatz nicht erreichbar erscheint. Die Höhe der Erwerbsminderungsrente richtet sich einerseits nach der Summe der individuell erworbenen Entgeltpunkte sowie der Hochrechnung der individuellen Punkte für die Zeit, für die man aufgrund der Erwerbsunfähigkeit keine individuellen Punkte erreichen konnte. Über die sogenannte Zurechnungszeit werden quasi fiktiv Entgeltpunkte angenommen. Aktuell beläuft sich die Zurechnungszeit auf 65  Lebensjahre und 11 Monate. Geht also beispielsweise jemand mit 60 erwerbsgemindert in Rente, so werden ihm für 71 Monate Entgeltpunkte entsprechend des Durchschnitts seiner bisherigen Entgeltpunkte gutgeschrieben. Diese Regelung ist relativ neu, vorherige Generationen mussten sich mit deutlich geringeren Zurechnungszeiten begnügen. Entsprechend der Anhebung der Regelaltersgrenze für alle Rentner wird ab 2031 die Zurechnungszeit auf 67 Lebensjahre angehoben. Ferner wurde auch beim sogenannten Referenzalter in jüngster Zeit nachgebessert: Um

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4 Rentenpolitik

zu berücksichtigen, dass häufig vor Eintritt in die Erwerbsminderungsrente relativ geringe Entgeltpunkte erworben werden (zum Beispiel längerer Krankengeldbezug), können die letzten 4 Jahre unberücksichtigt bleiben bzw. durch längere Zurechnungszeiten ersetzt werden („Günstigerprüfung“). Wie die normalen Altersrentner müssen auch Erwerbsminderungsrentner Abschläge hinnehmen, weil sie vor Erreichen der Regelaltersgrenze in Rente gehen, jeweils 0,3 % pro Monat. Beginnt eine Rente in 2022, greift das Referenzalter von 64 Jahre und 8 Monate, ab Erreichen des Referenzalters werden keine Abschläge mehr vorgenommen. Ab 2024 greift das Referenzalter von 65 Jahren. Wie bisher ist der maximale Abschlag auf 10,8 % begrenzt. Für Versicherte, die vor 1961 geboren sind, gilt in der Erwerbsminderungsrente noch der Grundsatz des Berufsschutzes. Kann man unter bestimmten Voraussetzungen seinen bisherigen Beruf nicht mehr ausüben, ist eine „Erwerbsminderungsrente“ möglich. Grundsätzlich setzt der Bezug einer Rente voraus, dass der Bezieher in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung mindestens 36 Monate Pflichtbeiträge entrichtet hat. Die genannten Verbesserungen bei Zurechnungszeiten und Referenzalter sind erst vor kurzem durch den Gesetzgeber beschlossen worden und sie gelten nur für neue Zugangsrentner. „Alte“ Erwerbsminderungsrentner kommen nicht in den Genuss dieser Verbesserungen. Beispielsweise sind für Männer in Westdeutschland die durchschnittlichen Erwerbsminderungsrenten von knapp unter 800  € pro Monat Ende der 1990er-Jahre auf ca. 650 € pro Monat zu Beginn der 2010er-Jahre gefallen; sicherlich auch aufgrund der verschiedenen Nachbesserungen im letzten Jahrfünft sind die Renten für diese Gruppe etwas über das Ausgangsniveau wieder angestiegen. Rechnet man jedoch den allgemeinen Anstieg des aktuellen Rentenwertes heraus, so fällt der erneute Anstieg deutlich kleiner aus (2020 Rentenzugang 932 €, Bestand 872 €, jeweils Männer (West) im Durchschnitt, Deutsche Rente, 2022). Es bleibt abzuwarten, ob die gesetzgeberischen Maßnahmen das Problem der niedrigen Erwerbsminderungsrenten dauerhaft beseitigt haben. Aber eins gilt auf jeden Fall: Der Bestand an Erwerbsminderungsrenten wurde bisher strukturell nicht bessergestellt.

4.1.2 Beamtenversorgung und Riesterrente Mit der Rentenreform Anfang der 2000er-Jahre wurden erhebliche Veränderungen in der deutschen Rentenpolitik umgesetzt. Die GRV der Bundesrepublik Deutschland war bis dorthin auf das sogenannte Umlageverfahren konzentriert, wonach die laufende Erwerbstätigengeneration aus ihren Rentenbeiträgen die Renten der gegenwärtigen Rentner finanziert (Abschn. 4.2). In dieser Rentenreform war explizit das Ziel, die bestehende umlage-

4.1  Alterssicherung in Deutschland

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finanzierte Rente durch eine kapitalgedeckte zu ergänzen. Jeder Beschäftigte sollte also nicht nur wie bisher gemeinsam mit den vom Arbeitgeber entrichteten Beiträge die laufenden Renten finanzieren, sondern auch durch eigene Beiträge, die in selbst gewählte Kapitalanlagen investiert werden sollten, eine weitere Absicherung für das Alter aufbauen. Im Groben dachte man an einen umlagefinanzierten Beitragssatz in Höhe von 18 %, hälftig vom Arbeitgeber und hälftig vom Arbeitnehmer entrichtet, und einen Beitragssatz in Höhe von 4 % für die private Vorsorge, jeweils bezogen auf das Bruttoeinkommen. Mit der sogenannten „Riester“-Rente wurde die kapitalorientierte Vorsorge wie folgt umgesetzt (Althammer et al., 2021, S. 257–259). Der Arbeitnehmer kann in sogenannte zertifizierte Anlageformen investieren und erhält für diese Formen Zulagen bzw. Einkommensteuervorteile. Für die Zertifizierung gilt der Grundsatz der Sicherheit, Ertrag ist nachrangig. Nur Anlageformen, die eine Rückzahlung des eingesetzten Kapitals garantieren können, sind zulässig. Ferner durften zuerst nur Anlageformen gewählt werden, deren Auszahlung frühestens mit 60 Jahren bzw. mit Rentenbeginn starten durfte und die als sogenannte Leibrenten konzipiert waren; bei einer Leibrente endet die regelmäßige Auszahlung erst mit dem Tod des Berechtigten. 2004 wurden die Zertifizierungskriterien etwas erleichtert, zum Beispiel durften Einmalzahlungen bis zu 30  % zu Rentenbeginn bzw. zum 60.  Lebensjahr erfolgen. Das Verbot von Einmalzahlungen sollte das Risiko der Langlebigkeit begrenzen. Es gelten in Riester-Renten nur Unisex-Tarife, d. h. Beiträge und Leistungen dürfen nicht geschlechterspezifisch definiert werden. Seit 2008 gibt es auch die sogenannte „Wohnriester“-Förderung, wonach die Finanzierung des selbst genutzten Wohneigentums ebenfalls als Anlageform zugelassen ist. Da die Riester-Rente nicht als Pflichtversicherung implementiert wurde, wollte man die Beschäftigten durch Zulagen und Steuervorteile zum Abschluss solcher Anlageform animieren. Jeder Riestersparer erhält eine jährliche Zulage, die seit 2018 auf 175 € erhöht wurde; für jedes Kind, dass ab 2008 geboren wurde, gibt es eine Kinderzulage in Höhe von 300 €. Ferner können Sparleistungen einer Riesteranlage in der Einkommensteuer als Sonderausgabe abgezogen werden. Dieser Sonderausgabenabzug ist allerdings auf 2100  € pro Jahr und Steuerpflichtigen begrenzt. Der geldwerte Vorteil des Sonderausgabenabzugs richtet sich natürlich nach den individuellen Grenzsteuersätzen. Bei einem Grenzsteuersatz von 40 % wäre der maximale Steuervorteil bei 840 €. Steuerlich begünstigt werden jedoch nur jährliche Sparleistungen bis zu 4 % des jährlichen Bruttoeinkommens des Vertragsinhabers des Vorjahres. Es müssen mindestens 60 € pro Jahr angespart werden. Gegen diese Riesterförderung wird vielfach Kritik geäußert, nicht zuletzt weil viele Anspruchsberechtigte bisher auf diese Form der Alterssicherung nicht eingegangen sind. Riesterverträge seien durch zu hohe Abschlusskosten belastet; für gering Einkommensbezieher sei die Förderung unattraktiv bzw. Sparleistungen finanziell gar nicht darstellbar; die Verpflichtung, dass die Anlage auf jeden Fall eine Rückzahlung des eingesetzten Kapitals gewährleiste, verhindere die Wahl ertragsstarker Anlageformen; und durch die fehlende Pflicht würde man sich im Alter auf den Sozialstaat verlassen (Freifahrerverhalten). Als Lösungsansatz wird daher diskutiert, dass der Staat eine alternative Anlageform bereithält und/oder alle Beschäftigten zunächst ein-

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4 Rentenpolitik

mal in diese Form investieren; nur wenn sie aktiv widersprechen (opt out), können sie auf den Sparvorgang verzichten (Nudging). Empirisch ist unklar, ob tatsächlich die Beschäftigten nach einem solchem Nudging-Eingriff langfristig die private Altersvorsorge aufrechterhalten oder nicht stattdessen zum alten Konsumverhalten ohne Sparen zurückkehren. Als Ausfluss des beamtenrechtlichen Alimentationsprinzips erhalten Beamte im Alter bzw. bei Dienstunfähigkeit eine Pension (Althammer et al., 2021, S. 260). Nach Ablauf von entsprechenden Wartefristen erhält der Beamte ein Ruhegehalt, dass anfänglich auf 35 % der ruhegehaltfähigen Dienstbezüge festgesetzt wird. Für jedes weitere Dienstjahr steigt das Ruhegehalt um 1,79375 % bis maximal auf 71,75 % der Bezüge. Ruhegehälter werden genauso einkommensteuerrechtlich behandelt wie aktive Dienstbezüge. Für die Versorgung von Hinterbliebenen gelten im Wesentlichen die gleichen Regelungen wie in der GRV.

4.2 Ökonomik der Alterssicherung Im Grundsatz hat jeder Mensch über seine ganze Lebenszeit hinweg Konsumbedürfnisse. Arbeitsfähig und damit fähig, Arbeitseinkommen für die eigenen Konsumbedürfnisse zu erwerben, ist er jedoch meist nur in der mittleren Lebensphase. Als Kind und Jugendlicher ist er wenig produktiv und erwirbt eine Schul- bzw. Berufsausbildung; im Alter können die Kräfte schwinden, Krankheiten werden häufiger, und es besteht vielfach die Vorstellung, im Alter nicht mehr arbeiten zu müssen. In der bäuerlichen Großfamilie wurde diese zeitliche Anpassung von Arbeit, Einkommenserwerb und Konsumbedürfnissen innerfamiliär hergestellt. In der heutigen Kleinfamilie beschränkt sich der Ausgleich auf die Eltern-­ Kinder-­Generationen (Breyer & Buchholz, 2021, S. 163). Abschn.  4.2.1 geht auf die wichtigsten Gestaltungselemente eines Alterssicherungssystems ein und greift dabei auch die Frage des Marktversagens für die Vorsorge im Alter auf. Abschn. 4.2.2 beschreibt modelltheoretisch die Funktionsweise des Kapitaldeckungsund des Umlageverfahrens.

4.2.1 Ziele, Gestaltungselemente und Marktversagen bei der Altersvorsorge Die Altersvorsorge kann in sehr unterschiedlicher Weise organisiert und mit verschiedenen Zielen versehen werden. Ferner finden sich viele Argumente, warum die individuelle Altersvorsorge gesamtwirtschaftlich gesehen zu gering ausfällt (Marktversagen) (Althammer et  al., 2021, S.  208–211, Barr & Diamond, 2006, Breyer & Buchholz, 2021, S. 163 f.; Connolly & Munro, 1999, S. 340–342). Die Einkommenssicherung für das Alter kann man zunächst als einen Fall der Kapitalansparung, der Altersvorsorge, ansehen. Einkommensbezieher sparen fürs Alter, sie trans-

4.2  Ökonomik der Alterssicherung

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ferieren ihre Ersparnisse in Kapitalsammelstellen. Die Kapitalsammelstelle sorgt für Verzinsung bzw. Ertrag. Beispielsweise könnte man regelmäßig einen Teil seines Einkommens bei der Bank zurücklegen, die Bank gibt Kredite an Unternehmen aus, die wiederum diese in ertragbringende Investitionen einsetzen. Rückzahlung des eingesetzten Kapitals plus Zinsen bilden den Kapitalstock, aus dem der Einzelne seine Konsumausgaben im Alter finanziert. Der regelmäßige Erwerb von Aktien, direkt von einzelnen Unternehmen oder in Fonds, folgt derselben Logik. Haushalte könnten natürlich auch ihre Sparbeiträge in Immobilien investieren, um dann im Alter von den Mieterträgen zu leben bzw. bei der selbst genutzten Immobilie auf eigene Mietausgaben im Alter verzichten zu können. Diese Formen der Altersvorsorge bergen einerseits das Risiko, dass der Kapitalstock entwertet wird, z. B. durch einbrechende Aktienkurse oder nicht mehr vermietbare Immobilien; andererseits kann der Einzelne seinen Konsumbedarf im Alter nicht abschätzen, da er seine Lebensdauer nicht kennt (Langlebigkeitsrisiko). Standardlösung für das Langlebigkeitsrisiko ist die Absicherung über eine Leibrente, also einer Rentenzahlung bis zum Lebensende. Die „Renteninstitution“ poolt die Sparleistungen der Einzelnen und nutzt das Gesetz der großen Zahl, wonach sich die Lebensdauer der Einzelnen unterscheiden: Einige sterben früh, andere spät. Ein Risikoausgleich ist möglich. Folglich können Ansprüche der Einzelnen nicht weitervererbt werden, ohne den Risikoausgleich zu gefährden. Das Langlebigkeitsrisiko wird durch eine (kollektive) Versicherungslösung gelöst. Eine weitere Versicherungsfunktion ergibt sich darüber hinaus durch die Gefahr, vorzeitig erwerbs- bzw. berufsunfähig zu werden. Langlebigkeits- bzw. Erwerbs-/Berufsunfähigkeitsrisiko sprechen dafür, dass eine rein individuell organisierte Altersvorsorge nicht ausreichend sein wird. Für die individuelle Altersvorsorge ist wichtig, ob jeder Einzelne freiwillig und ausreichend fürs Alter Vorsorge treffen wird. Zwei Marktversagensargumente werden immer wieder genannt, warum eine ausreichende private Vorsorge nicht zu erwarten ist: Individuen unterschätzen den Nutzen einer ausreichenden Vorsorge (unzureichende Information) und Individuen unterlassen die Vorsorge, weil sie wissen, dass in einem Sozialstaat westlicher Prägung Altersarmut zumindest teilweise durch Sozialtransfers ausgeglichen wird (Trittbrettfahrerverhalten). Unzureichende Informationen in dem Sinne, dass Wirtschaftssubjekte nicht wissen bzw. so kurzfristig denken („myopic“), dass sie im Alter ohne Erwerbstätigkeit und ohne eine Absicherung ihre Konsumbedürfnisse nicht befriedigen können, ist äußerst unglaubwürdig. Möglicherweise liegt jedoch ein Fall der systematischen Minderschätzung zukünftiger Bedürfnisse vor (Nutzenunkenntnis), wie es bereits allgemein von Böhm-Bawerk (1921) im 19. Jahrhundert befürchtet wurde. Gerade für immaterielle Güter und Güter mit sich erst langfristig offenbarenden Nutzen (Bildung/Gesundheits- und Altersvorsorge) könnte ein solche Fehleinschätzung eintreten. Die freiwillige Nachfrage nach Altersvorsorge erfolgt, aber in zu geringem Maße. Auch Trittbrettfahrerverhalten ist möglich, insbesondere wenn die private Vorsorge sowieso nur ein Versorgungslevel erreichen würde, das knapp oberhalb des Sozialhilfeniveaus liegen würde.

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4 Rentenpolitik

Falls nicht jeder hinreichend fürs Alter vorsorgt, kommen grundsätzlich drei Optionen für den Staat in Frage: • Einführung einer Sozialversicherung. Die Altersvorsorge wird mit einer Versicherungspflicht verbunden, d. h. wer bestimmte Merkmale erfüllt, wie berufliche Stellung oder Einkommen, muss die Existenz einer Rentenversicherung, die sein Vorsorgerisiko abdeckt, nachweisen. Im Falle einer gesetzlichen Rentenversicherung ist die Höhe der Abdeckung unproblematisch, da der Staat genau diesen Parameter vorschreiben kann; im Falle einer Pflicht zur privaten Rentenversicherung wäre dann die Folgeregulierung, festzulegen, welches Versorgungslevel mindestens erreicht werden muss. Die geleisteten Beiträge können entscheidend sein, in welcher Höhe eine Rente zu erwarten ist (siehe das Konzept der Teilhabeäquivalenz in der GRV Abschn.  4.1.1), oder sich nach der Leistungsfähigkeit der Beitragszahler richten, ohne daraus höhere Rentenleistungen abzuleiten. Letzteres wäre im Falle einer beitragsfinanzierten Grundrente der Fall. • Rente als Ausfluss des Versorgungsprinzips. Um zum Bezug einer Rente berechtigt zu sein, kommt es auf die generelle Bedürftigkeit an. Generelle Bedürftigkeit kann sich auf Tatbestände beziehen, in denen die Berechtigten besondere Opfer für die Gesellschaft erbracht haben, zum Beispiel Angehörige infolge eines Krieges verloren oder eigene Kinder groß gezogen zu haben. Allgemeine Grundrentenkonzepte würden postulieren, dass jeder in seinem Leben etwas Sinnvolles für die Gesellschaft geleistet hätte und deswegen jedem ein Versorgungsanspruch im Alter zustehen würde. • Rente als Ausfluss des Fürsorgeprinzips. Hier kommt es für die Berechtigung zur Rente darauf an, dass im Falle einer potenziellen Rentenzahlung eine spezielle Bedürftigkeit vorliegen muss. Kann der Betroffene durch eigenes Vermögen oder durch Unterstützungszahlungen der eigenen Kinder seinen Lebensunterhalt sichern, geht dieser Weg vor. Sozialhilfe beispielsweise wäre dann eine subsidiäre Leistung, wenn alle anderen Deckungsmöglichkeiten ausgeschöpft sind. Im Rahmen der Grundsicherung für Rentner kommt es zu einer höheren Schonung des Vermögens als in der regulären Sozialhilfe und Kinder müssen nur bei Überschreiten relativ hoher Einkommensgrenzen für ihre Eltern finanziell einstehen. In seiner Ausgestaltung kann sich das Alterssicherungssystem auf verschiedene Gestaltungselemente beziehen: • Das Sicherungssystem kann privat oder staatlich organisiert sein. In einem staatlichen System legt der Staat als Kollektivorgan die Höhe der Beiträge der Aktiven fest und gibt vor, welche Leistungen die Rentner erhalten sollen. In einem privaten Sicherungssystem entscheiden die Beitragszahler selbst, mit welchen Finanzinstitutionen sie ihre „Sparverträge“ abschließen wollen. • Freiwillig versus gesetzlicher Zwang. Freiwilligkeit liegt vor, wenn jeder selbst entscheiden kann, ob er für das Alter vorsorgen will oder nicht. Im Falle eines Zwangs muss er Vorsorge betreiben.

4.2  Ökonomik der Alterssicherung

143

• Rentensysteme können aktuarisch fair sein oder umverteilend. Aktuarisch fair meint, dass für jede Gruppe, zum Beispiel für jeden Altersjahrgang, die Summe der Barwerte der Einzahlungen gleich der Summe der Barwerte der Auszahlungen sein muss. Umverteilend wäre dann, wenn die zuletzt genannte Bedingung nicht erfüllt ist und stattdessen zum Beispiel bestimmte Altersgruppen bessergestellt werden, ärmere Bevölkerungsteile höhere Auszahlungen als Einzahlungen erhalten oder Beitragszahler/ Rentner schlechter gestellt werden als die Gruppe der Steuerzahler insgesamt. • Rentensysteme können einen festen Beitrag zur Rentenversicherung definieren (defined contributions) oder ein festes Auszahlungsniveau garantieren (defined benefits). Bei festen Beiträgen wird i. d. R. unklar bleiben, welche Auszahlungen zu erwarten sind, bei festen Auszahlungen könnte der Beitrag über die Zeit variieren. • Rentensysteme können als Umlageverfahren (UV) organisiert werden, d. h. die Beiträge der Erwerbstätigengeneration sind zugleich die der Rentnergeneration zufließenden Auszahlungen. Im Kapitaldeckungsverfahren (KDV) baut jede Generation ihren eigenen Kapitalstock auf, der dann in der Rentenphase inklusive der aufgelaufenen Kapitalerträge wieder ausgeschüttet wird. Aufgrund der hohen Bedeutung beider Verfahren wird im Folgenden im Rahmen einer Modellanalyse die jeweilige Funktionsweise genauer beschrieben.

4.2.2 Kapitaldeckungs- und Umlageverfahren im Modell Umlage- bzw. Kapitaldeckungsverfahren können auf den ersten Blick mit der Abb.  4.1 einander gegenübergestellt werden (Blankart, 2017, S.  290  f.). Man unterscheidet zwischen drei Generationen, die in etwa gleich groß sind und zur gleichen Zeit leben (überlappende Generationen): Rentnergeneration, aktive oder erwerbstätige Generation und die noch nicht erwerbstätige Nachwuchsgeneration. Im Umlageverfahren zahlt die Erwerbstätigengeneration in Periode t Rentenversicherungsbeiträge und alimentiert ihre Nachwuchsgeneration (Kleidung, Nahrungsmittel, Bildungsausgaben, usw.). Die Rentnergeneration in t erhält ausschließlich ihre Renten aus den eingezahlten Beiträgen. Die Rentnergeneration sieht diese Leistungen als Gegenleistung für ihre Beiträge, die sie in der Periode t − 1 als Erwerbstätigengeneration für die damals lebende Rentnergeneration entrichtet hat. Die Erwerbstätigengeneration in t vertraut dabei darauf, dass ihre ­Nachwuchsgeneration, wenn diese in t + 1 zur Erwerbstätigengeneration „aufgerückt“ ist, ihre Beiträge in t  +  1 der dann zu der Zeit lebenden Rentnergeneration zur Verfügung stellt. Diese „3-Generation-Perioden“-Beziehung, die in jeder Periode erneut eingegangen wird, bezeichnet man als Generationenvertrag, obwohl natürlich im zivilrechtlichen Sinn „keine übereinstimmende“ Willenserklärung der Generationen vorliegt; die Nachwuchsgeneration ist wohl nicht als geschäftsfähig anzusehen bzw. noch gar nicht geboren. Bestenfalls kann man wohl nur von einem impliziten Vertrag sprechen, der letztendlich

144

4 Rentenpolitik Kapitalstock

deckungs-

fahren

Kapital-

vert+1

t

1

2

3

Nachwuchsgeneration

Erwerbstätigengeneration

Rentnergeneration

Abb. 4.1  Umlage- und Kapitaldeckungsverfahren im Vergleich. (Quelle: Blankart, 2017, S. 290)

nicht unähnlich zu den Altersvorsorgebeziehungen in der bäuerlichen Großfamilie ist. Im Kapitaldeckungsverfahren baut jede Generation in seiner Erwerbstätigengeneration, also z. B. in Periode t, einen Kapitalstock auf, der mit dem Eintritt in die Rentenphase aufgelöst wird; der angesparte Kapitalstock inklusive die erwirtschaften Kapitalerträge steht dann zur Verfügung, um die Renten zu finanzieren. „Idealerweise“ wäre der Kapitalstock aufgebraucht, wenn der Letzte der Rentnergeneration verstirbt. Betrachten wir modelltheoretisch nur Individuen, die sich entweder in der Erwerbs(ihrer Phase 1) oder Ruhestandsphase (ihrer Phase 2) befinden können. Das repräsentative

4.2  Ökonomik der Alterssicherung

145

Individuum aus der Generation t kann seine fixe Arbeitszeit Lt einsetzen und erhält einen Lohnsatz wt pro Stunde. Das Individuum kann „composite“ Güter in der Erwerbsphase 1 2 ct  und in der Ruhestandsphase ct1 konsumieren. Der (intertemporale) Nutzen des Individuums ergibt sich als:





U  U ct  , ct1 . 1

2

(4.3)

Natürlich gibt es auch Individuen nachfolgender Generationen, die entsprechend Erwerbsund Ruhestandsphase durchlaufen. Zum Beispiel gilt dann für die Generation mit der Erwerbsphase in t + 1, die „fortgeschriebene“ Nutzenfunktion:





U  U ct1 , ct 2 . 1

2

(4.4)

Ein in Periode t angelegter Geldbetrag erbringt in Periode t + 1 einen Ertrag in Höhe des Marktzinssatzes rt + 1. Würde sich das Individuum dafür entscheiden, sein gesamtes Einkommen wt L in der ersten, der Erwerbsphase auszugeben, könnte es den Konsumpunkt A in Abb. 4.2 realisieren; würde der Konsum komplett in der zweite, der Ruhestandsphase, erfolgen, würde das Einkommen in der ersten Phase angelegt. Mit den auflaufenden Kapitalerträgen wäre dann D als maximaler Konsum möglich. Ferner sind natürlich auch alle Punkte entlang der Budgetgeraden DA möglich. Die Steigung der Budgetgeraden entspricht dem negativen Ordinatenabschnitt durch den Abszissenabschnitt:

1  rt 1  ct ct1 ,  1 1 ct ct  1

2



(4.5)

umgeformt zu: ct1 2



ct  1

  1  rt 1  .

(4.6)



Würde in Abb. 4.2 das Individuum sein Nutzenmaximum in Punkt C realisieren, weil dort die höchstmögliche Indifferenzkurve U ∗ bei gegebener Budgetgerade DA erreicht wird, würde er freiwillig den Sparbetrag st∗ realisieren. In einem KDV könnte zwangsweise ein bruttolohnbezogener Beitragssatz bt in Periode t erhoben werden. Insofern werden Beiträge in Höhe von btw L eingezahlt, die am Kapitalmarkt angelegt werden. In Periode t + 1 kommt es zu einer Rückzahlung, einerseits des eingezahlten Sparbeitrages btw L sowie des erzielten Kapitalertrages rt + 1(btwt L ), also in der Summe von (1 + rt + 1)(btwt L ) als Rente. Punkt B in Abb. 4.2 wird „erzwungen“. Die Rente entspricht in seinem Barwert der Einzahlung:



1  rt 1  bt wt L 1  rt 1 

 bt wt L ,



(4.7)

146

4 Rentenpolitik

D

(1+



C

(1+

B

C`

A

0

Abb. 4.2  Kapitaldeckungsverfahren. (Breyer & Buchholz, 2021, S. 175)

also liegt eine Form des Äquivalenzprinzips vor. Es ergibt sich die Budgetgleichung des Individuums als: Rente (1) t

c

Gegenwarts konsum

(2) t 1

c

1 rt

1

1 rt

1

bt wt L

Zukunftskonsum, diskontiert

Nettoeinkommen

wt L Brutto einkommen

bt wt L . Beitrags zahlungen

Aus der Differenz des Zählers des Bruches, der den diskontierten Zukunftskonsum beschreibt, erkennt man, dass das Individuum nur dann Zukunftskonsum aus seinen Erspar2 nissen finanzieren muss, wenn ct1 > 1  rt 1  bt wt L ist. Kasten 4.2 zeigt, dass die Budgetgeraden mit und ohne Zwangssparen identisch sind. Der Unterschied zwischen Zwangssparen und freiwilligem Sparen liegt laut Abb. 4.2 darin, dass beim Zwangssparen

4.2  Ökonomik der Alterssicherung

147

der Startpunkt in B und nicht in A liegt. Bei einem Optimalpunkt links oberhalb von B würde freiwillig mehr gespart werden als das Zwangssparen verlangt, das restliche freiwillige Sparen beschränkt sich auf st  bt wt L . Läge der Optimalpunkt rechts unterhalb von B, z. B. in Punkt C′, würde das Individuum weniger sparen wollen als den Betrag, zu dem es durch das Zwangssparen verpflichtet wäre. In einem perfekten Kapitalmarkt, insbesondere bei Gleichheit von Soll- und Habenzinsen, könnte das Individuum einen Kredit aufnehmen, um die höhere Sparrate zu finanzieren und in der Rentenphase diesen durch die höhere Rente schadlos wieder abtragen. Das Zwangssparen ändert in keiner Weise die Altersvorsorgeentscheidung des Individuums. Sind jedoch wie zu erwarten die Soll-­ Zinsen höher als die Habenzinsen oder ist die Kreditaufnahme beschränkt, entfällt die Neutralität des Zwangssparens. Individuen werden zu übergroßer Altersvorsorge getrieben; ihr Nutzen fällt geringer aus als in einer Situation mit freiwilligem Sparen. Allerdings bleibt zu betonen, dass diese Fehlallokation nur auftritt, wenn der Optimalpunkt rechts unterhalb von B liegt. Entspricht der Optimalpunkt dem Punkt B oder liegt er links oberhalb von B, hat das Zwangssparen keinen Einfluss.

Kasten 4.2: Gleichheit der Budgetgeraden

Weiter oben wurde gezeigt, dass die Steigung der Budgetgeraden ohne Zwangssparen ct1 2



ct  1

  1  rt 1 

(4.9)



entspricht. Im Falle des Zwangssparens entspricht der Ordinatenabschnitt des Punktes B ja dem Rentenbetrag 1  rt 1  bt wt L . Gespart würde ausgehend von Punkt A in Abb. 4.2 der Betrag bt wt L . Die Bewegung von B nach A wäre somit:  1  rt 1  bt wt L .

bt wt L

  1  rt 1  .



(4.10)

Folglich weist die Budgetgerade mit Zwangssparen die gleiche Steigung wie die ohne Zwangssparen auf. Da in beiden Fällen der gleiche Anfangsbetrag zur Anlage bereit liegt (A= wt L ) , sind identische Budgetgeraden gegeben. Ist man jedoch in der Gesellschaft der Meinung, dass die Individuen zu wenig individuell sparen, zum Beispiel, weil sie zukünftige Bedürfnisse im Alter minderschätzen (die wahren Indifferenzkurven werden nicht berücksichtigt), dürfen die Zahlungen aus der Rentenversicherung nicht auf die Sozialhilfe angerechnet werden. Eine zu erwartende Anrechnung würde die Anreize zu privatem Sparen vermindern, wenn nicht sogar komplett zerstören.

148

4 Rentenpolitik

Für die modelltheoretische Darstellung des Umlageverfahrens wird besonders darauf abgestellt, dass von einer Kette aufeinander folgender und zur selben Zeit lebender (sich überlappender) Generationen ausgegangen wird (OLG-Modelle; Breyer & Buchholz, 2021, S. 175–178): Beispielsweise gilt, die Ruhestandsphase der Generation t und die Erwerbsphase der Generation t + 1 liegt in der Zeitperiode t + 1; in Abb. 4.3 wird dies durch das gestrichelten Rechteck exemplifiziert. Für jede Generation werden zwei genau gleichlange Erwerbs- und Ruhestandsphasen unterschieden. Wiederum steht jedem Individuum in der Erwerbsphase eine gegebene Arbeitszeit L zur Verfügung, der geltende Lohnsatz sei wt und der bruttolohnbezogene Beitragssatz entspricht bt. Für die Vorteilhaftigkeit des UV kommt es maßgeblich darauf an, ob es im Zeitablauf mehr oder weniger Erwerbstätige bzw. Rentner gibt; im Modell wird die Anzahl der Individuen je Generation als Nt bezeichnet. Die Beitragszahlungen jeder Erwerbstätigengeneration t werden vollständig zur Rentenzahlung der Rentnergeneration t − 1 verwendet. In Abb. 4.3 wird dies durch den senkrecht nach oben verlaufenden, durchgezogenen Pfeil Zt + 1 repräsentiert. Zt + 2 steht für die Rentenzahlungen der Generation t + 2 in ihrer Erwerbsphase an die Generation t + 1 während der Rentenphase. Schreibt man die Rentenzahlungen, die ein einzelnes, homogenes Individuum der Generation t im Ruhestand t + t erhält, als p t + 1, sind • die Rentenzahlungen an Generation t: Zt + 1 = Nt p t + 1 und • die Beitragszahlungen von Generation t + 1: Zt + 1 = Nt + 1bt + 1wt + 1 L identisch.

Kasten 4.3: Kapitaldeckungsverfahren noch einmal

Im KDV spart jede Generation in der Erwerbsphase den Kapitalstock für sich an, um ihn dann in der Folgeperiode in der Ruhestandsphase aufzubrauchen. In Abb. 4.3 legt die Generation t einen Kapitalstock in Periode t an und finanziert daraus seine Rentenzahlungen in t + 1 (St + 1); es ergibt sich ein gestrichelter, horizontaler Pfeil. Für Generation t + 1 wird in t + 1 Kapital aus der Erwerbstätigkeit heraus „bei Seite gelegt“, um daraus sich selbst die „horizontale“ Rente „zu gönnen“ (St + 2). St + 3 deutet die Sparphase und Rentenzahlung der Generation t + 2 an.

Abb. 4.3 Umlageverfahren. (Quelle: Breyer & Buchholz, 2021, S. 175)

Periode Generation t t+1 t+2

t

·

t+1

St

t+2

t+3

·Z

t+1

·

St+1

· ·

Zt+2 St+2

4.2  Ökonomik der Alterssicherung

149

Ein Individuum im Rahmen des UV legt zwar seine Beiträge nicht in einem Kapitalstock an, woraus sich Kapitalerträge erwirtschaften lassen könnten, aber Veränderungen bei den Beitrags-und/oder Rentenzahlungen im Zeitablauf könnten zu einer „Verzinsung“ it + 1 führen. Die interne Rendite it+1 für das Individuum der Generation t ergibt sich als: it 1 

Rente  Beitrag Rente   1, Beitrag Beitrag

(4.11)

woraus folgt:

1  it 1

N t 1bt 1 wt 1 L Nt N b w p  t 1   t 1 t 1 t 1 . bt wt L N t bt wt bt wt L

(4.12)

Der erste Bruch sei ausgedrückt als: N t 1  nt 1 , Nt



(4.13)

geschrieben als Wachstumsrate der Bevölkerung von Generation t: N t 1  N t N t 1   1, Nt Nt

nt 1 

(4.14)

umgeformt zu: 1  nt 1 

N t 1 . Nt

(4.15)

Der dritte Bruch sei gt + 1, die Wachstumsrate des Lohnsatzes: gt 1 

wt 1  wt wt 1   1. wt wt

(4.16)

Umgeformt zu: 1  gt 1 

wt 1 . wt

(4.17)

Eingesetzt in Gl. 4.10 berechnet sich die interne Verzinsung als: 1  it 1 

bt 1 1  gt 1  1  nt 1  . bt

(4.18)

150

4 Rentenpolitik

Bei konstantem Beitragssatz im Zeitablauf (bt + 1 = bt), gilt für die interne Verzinsung:

it 1  1  gt 1  1  nt 1   1,

(4.19)

it 1  nt 1  gt 1   gt 1  nt 1 

(4.20)

umgeformt zu:

Sind die Wachstumsraten der Bevölkerung und des Lohnsatzes relativ klein, kann man das Produkt in Gl. 4.20 vernachlässigen. Es ergibt sich:

it 1 

nt 1 

Wachstumsrate der olkerung Bev



gt 1 

Wachstumsrate des Lohnsatzes

.

(4.21)

Das Umlageverfahren erwirtschaftet eine positive interne Verzinsung, wenn die Bevölkerung wächst und wenn die Löhne ansteigen. Insofern profitieren die Rentner im UV von einer prosperierenden Wirtschaft mit einer positiven demografischen Entwicklung und ansteigenden Löhnen. Verschlechtert sich jedoch die Lohnentwicklung bzw. die demografische Lage, geht es auch zu Lasten der Rentnergenerationen.

4.3 Kapitaldeckungs- und Umlageverfahren im Vergleich Für den Vergleich der beiden Rentenversicherungssysteme bieten sich mehrere Kriterien an (Barr & Diamond, 2006; Beirat BMWi, 1998, Tzn. 25–58; Börsch-Supan, 2008; Breyer & Buchholz, 2021, S. 216 f.; Miles, 1998; Ott 2019, S. 353–355): • In Bezug auf die Renditen kann man die interne Verzinsung des UV mit it + 1 mit der Marktrendite des KDV mit rt + 1 vergleichen. • Beide Systeme unterliegen diversen Risiken, die die Stabilität der Altersversorgung langfristig gefährden können. Das Umlageverfahren ist vom demografischen Wandel mit weniger Erwerbstätigen und mehr Rentnern negativ betroffen, genauso von einer Verschlechterung im Arbeitsmarkt mit mehr Arbeitslosigkeit oder stagnierenden Löhnen. Das Kapitaldeckungsverfahren dagegen beinhaltet grundsätzlich das Risiko, dass die Erträge im Kapitalmarkt schwanken können, sei es durch konjunkturelle Risiken, Strukturbrüche oder politische Instabilitäten. Bezieht sich der Kapitalstock auf internationale Anlagemärkte, können risikominimierende Portfolioeffekte wirksam werden, aber auch neue Risiken entstehen. • Die Möglichkeiten der Umverteilung sind im UV sehr groß, im KDV gehen sie gegen Null, da der Kapitalbestand im KDV der Eigentumsgarantie unterliegen würde. • Das Umlageverfahren könnte dazu führen, dass in einer Volkswirtschaft weniger gespart wird, deshalb weniger investiert und damit weniger Wachstum möglich wird als

4.3  Kapitaldeckungs- und Umlageverfahren im Vergleich

151

im Kapitaldeckungsverfahren. Das Umlageverfahren jedoch kann bereits in seiner Einführungsperiode Renten auszahlen, im Kapitaldeckungsverfahren muss erst ein Kapitalstock aufgebaut werden. • Beide Systeme unterliegen polit-ökonomischen Risiken: Im UV kann die Umverteilung über das von der Mehrheit der Wahlbevölkerung hinausgehende Maß erfolgen, im KDV müssen die individuell anzusparenden Kapitalstöcke reguliert werden, die Maßstäbe der Regulierung sind komplex und möglicherweise politisch verzerrt. Die Renditen des deutschen, umlagefinanzierten Rentenversicherungssystems ergeben sich approximativ aus den Wachstumsraten der Bevölkerung bzw. der Lohnsumme (Abschn.  4.2.2). Diese Renditen sind jedoch von vielfältigen Faktoren abhängig. Die Rentengesetzgebung hat sich in den letzten Jahrzehnten mehrfach geändert, Leistungen wurden zunächst ausgedehnt und danach wieder beschnitten, die Beitragssätze wurden tendenziell erhöht. Insofern kann man keine pauschale Aussage über Renditen machen, sondern muss Untergruppen bilden. Üblicherweise wird deshalb die Rendite auf der Grundlage von Kohorten entsprechend der Geburtsjahrgänge und getrennt nach Männern und Frauen berechnet. Für die Geburtsjahrgänge 1940 bis 2003 hat der Sachverständigenrat in seinem Jahresgutachten 2003/04 (SVR, 2003) die Renditen berechnet, auch schon unter Berücksichtigung der Erhöhung des Renteneintrittsalters bis 67 Jahre, wie es einige Jahre später beschlossen wurde. Im Jahre 1940 geborene Frauen erzielten im Durchschnitt eine interne Verzinsung in Höhe von knapp über 4 %, die bei Geburtsjahrgängen in den fünfziger Jahren auf ca. 3,3 bis 3,0 % fällt; bis zum erfassten aktuellen Rand im Jahre 2003 sank die Rendite auf etwa 2,6 %. Für Männer, die in den vierziger Jahren geboren wurden, lag die Rendite zwischen 3,4 und 2,8 %; danach sank sie relativ kontinuierlich (Ausnahme 70er-­ Jahre) auf knapp unter 2 % in 2003. Für die Gesamtbevölkerung ergibt sich daher für den ältesten Geburtsjahrgang eine durchschnittliche interne Verzinsung in Höhe von etwa 3,7 % und für den jüngsten Jahrgang von etwa 2,4 %. Stellt man dieser Größe die durchschnittliche Rendite von in Deutschland gehandelten Aktien und Schuldverschreibungen gegenüber, so bekommt man eine Näherungsgröße für die Marktrendite eines Kapitaldeckungsverfahrens, dass sich auf die Anlage im deutschen Kapitalmarkt verlassen hätte: Laut Miles (1998, S. 74) wurde im Durchschnitt in den Jahren 1962–1994 in Deutschland eine Kapitalmarktrendite von 4,06 % erreicht. Der wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsminister berechnete bzw. schätzte in ähnlicher Größenordnung eine durchschnittliche Rendite für 10-jährige Staatsanleihen von 1957 bis 2015 von zunächst zwischen 4,1 und 4,3 %, was sich ab den Neunzigerjahren auf ziemlich genau 4 % eingependelt hatte (Beirat BMWi, 1998). Für Deutschland könnte man also einen Renditevorsprung des KDV gegenüber dem UV in Höhe von etwa 1,5 bis 2,0 Prozentpunkte feststellen. Die Gültigkeit dieser einfachen Rechnung ist jedoch problematisch, da sich bei einer Umstellung auf das KDV das Kapitalangebot Deutschland deutlich vergrößert hätte, was bei der üblichen sinkenden Kapitalnachfragefunktion zu einer Reduktion des Marktzinssatzes geführt hätte, der

152

4 Rentenpolitik

Renditevorsprung des KDV gegenüber dem UV wäre vermutlich (deutlich) kleiner. Hätte man den Kapitalstock international aufgebaut, würden die Renditerückgänge geringer ausfallen, allerdings würde man sich damit länderspezifische Risiken „einkaufen“. Plustext 4.3: Renditedifferenz als Puffer für die Umstellung auf das KDV Falls es sich empirisch dauerhaft bestätigen würde, dass die Kapitalmarktrendite des KDV deutlich über der internen Verzinsung des UV liegen würde, könnte man aus diesem „Gewinn“ die partielle Umstellung auf das KDV bewerkstelligen. Die höheren Kapitalmarktrenditen erlauben es dann bei nicht viel höheren Beitragssätzen wie bisher das gleiche Versorgungsniveau für die umlagefinanzierten Rentner zu erreichen und gleichzeitig ein Stück weit den Beitrag für den Aufbau des Kapitalstocks zu verwenden. Das Gutachten des wissenschaftlichen Beirates im Bundeswirtschaftsministerium aus dem Jahre 1998 hat diesen Weg vorgezeichnet und mit verschiedenen Beispielvarianten verdeutlicht (Beirat BMWi, 1998). Der Einstieg in die private Kapitalvorsorge der Rentenreform Anfang der 2000er-Jahre hat genau diese Grundidee aufgenommen und umgesetzt.

Beide Systeme unterliegen Stabilitätsrisiken, die jedoch unterschiedlich verursacht werden. Aus Abschn.  4.2.2 ist bekannt, dass im Umlageverfahren in jeder Periode die Summe der Beitragseinnahmen gleich der Summe der zu leistenden Rentenzahlungen sein muss. Also muss gelten:

N t 1  b t 1 w t 1 L  N t p t 1 . (4.22)

Auf der rechten Seite der Gleichung steht die Anzahl der Rentner, die in der Periode t erwerbstätig waren (Nt), multipliziert mit der durchschnittlichen Rente, die in der Periode t + 1 gezahlt wird ( p t + 1). Fasst man auf der linken Seite wt + 1 L zu den durchschnittlichen Lohnzahlungen w t + 1 zusammen, so ergibt sich:

N t 1  b t 1 w t 1  N t p t 1 , (4.23)

was zu bt 1 

N t p t 1 N t 1 w t 1  

Rentner  Renten  quotient niveau

(4.24)

führt. Ein steigender Beitragssatz bt + 1 droht also, wenn die Zahl der Rentner Nt steigt oder die Zahl der Erwerbstätigen Nt + 1 fällt, also der Rentnerquotient größer wird. Der Fall einer alternden Gesellschaft mit immer mehr Rentnern und immer weniger Erwerbstätigen wie in Deutschland gefährdet die Beitragssatzstabilität der Rentenversicherung. Weitere Stabilitätsgefahren gehen vom Arbeitsmarkt aus, wenn die durchschnittlichen Lohnzahlungen w t +1 sinken oder zumindest langsamer steigen als die Inflationsrate. Denn solange die Löhne steigender Inflation angepasst werden, wäre das UV inflationsgesichert. Eine zunehmende Arbeitslosigkeit mit daher immer weniger Erwerbstätigen Nt + 1 würde ebenfalls die Beitragssatzstabilität gefährden. Ist man (politisch) nicht gewillt, die Ver-

4.3  Kapitaldeckungs- und Umlageverfahren im Vergleich

153

schlechterungen im demografischen Aufbau oder am Arbeitsmarkt durch höhere Beiträge auszugleichen, bleibt nur die Senkung der laufenden (durchschnittlichen) Renten p t +1 , was gleichbedeutend mit einer Senkung des Rentenniveaus wäre. Die Rentner würden dann das Risiko unzureichender Renten im Sinne eines sinkenden Rentenniveaus tragen. Im Falle des KDV unterliegen die Rentner dem Anlagerisiko, d. h. der angesammelte Kapitalstock inklusiver seiner angesammelten Kapitalerträge stellt sich u. U. als weniger werthaltig heraus als erwartet. Im Modell des KDV (Abschn. 4.2.2) kann sich in Periode t + 1 realisieren, dass der Rückzahlungsbetrag in Höhe von (1 + rt + 1)(btwt L ) nicht erzielbar ist, weil der Zinssatz kleiner als rt + 1 ausfällt oder der eingezahlte Betrag wirtschaftlich nicht oder nicht in der Höhe btwt L realisierbar ist. Bei festverzinslichen Wertpapieren mag es vorkommen, dass Zinszusagen nicht eingehalten werden. Bei Wertpapieren, die variable Kapitalerträge vorsehen, zum Beispiel die Aktie, können aufgrund schlechter Geschäftslage Ertragszahlungen ausfallen. Kapitalanlagen müssen in der Ruhestandsphase Stück für Stück verkauft werden. Befindet sich der jeweilige Anlagemarkt in der avisierten Verkaufsphase in einer Baisse, bleiben die Verkaufserlöse hinter den Erwartungen zurück, vielleicht wird sogar insgesamt weniger erlöst als jemals eingezahlt wurde. Das Sparkapital wird negativ. Zwar ist es richtig, dass durch Risikostreuung das Anlagerisiko klein gehalten werden kann, aber völlig auszuschließen ist es nicht. Aus der Kapitalmarkttheorie weiß man, dass das unsystematische Risiko „wegdiversifiziert“ werden kann, nicht jedoch das systematische. Gerade allgemeine Länderrisiken sind problematisch. Durch eine internationale Anlagestrategie kann man natürlich eine bessere Risikostreuung erreichen, Risiken politischer Instabilität oder Risiken aus Wechselkursschwankungen kommen allerdings hinzu. Gerade die Finanzmarktkrise Ende der 2000er-Jahre hat gezeigt, dass Finanzanlagen in ihrem Wert durchaus bedroht sein können. Katastrophale Risiken wie Kriege oder Naturkatastrophen drohen natürlich vorhandene Kapitalstöcke zu zerstören, was zum Beispiel in Deutschland als Folge beider Weltkriege eingetreten ist. Freilich wird ein UV ebenfalls in große Schwierigkeiten geraten, wenn Kriege oder Naturkatastrophen die Möglichkeit zur Erzielung von Erwerbseinkommen drastisch beschränken. In Bezug auf den demografischen Wandel ist das Kapitaldeckungsverfahren auch nicht komplett „aus dem Schneider“, da natürlich bei einer schrumpfenden Bevölkerung Kapitalinvestitionen, insbesondere vermutlich Infrastrukturinvestitionen, überdimensioniert sind und damit weniger gesamtwirtschaftliche Erträge erzeugen. Allerdings wird dieses Problem der Überdimensionierung relativ langsam ablaufen und deshalb durch geeignete Maßnahmen, wie zum Beispiel das Unterlassen von Ersatzinvestitionen, verhindert werden können. Im UV kann sehr leicht Umverteilung betrieben werden. Durch die sofortige Weitergabe der eingezahlten Beiträge der Erwerbsgeneration an die Rentnergeneration besteht kein natürlicher Nexus zwischen Beitragsleistung und Rentenzahlung. Trotz des in Deutschland geltenden Grundsatzes der Teilhabeäquivalenz können Beitragsmittel zum Beispiel für Rentenzahlungen an Geringeinkommensbezieher verwendet (Mindestrente), langjährige Versicherungszeiträume besonders belohnt oder besondere Leistungen für die Gesellschaft/Lasten (Kindererziehungszeiten, Benachteiligung infolge der NS-Zeit, etc.) finanziell gewürdigt werden. Die Debatte über versicherungsfremde Leistungen zeigt,

154

4 Rentenpolitik

dass nicht zwangsläufig derartige durchaus rechtfertigbare Sondertatbestände aus allgemeinen Steuermitteln finanziert werden bzw. wurden. Fraglich ist auch, ob Veränderungen in der Demografie schnell genug im Rentenrecht umgesetzt werden, Rentner oder Altersjahrgängen nahe des Renteneintritts würden begünstigt, junge Erwerbstätige eher benachteiligt. In einem KDV, indem die jeweiligen Beitragszahlergenerationen ihren eigenen Kapitalstock aufbauen und später wieder „verrenten“, besteht insbesondere auch verfassungsrechtlich eine stark geschützte Eigentumsgarantie des Einzelnen an die Rentenversicherung. Weniger eindeutig wird es, wenn der Kapitalstock in die Hand des Staates gelegt wird und der Staat dann aus diesem „Pott“ Rentenansprüche zuerkennt. Dem Kapitaldeckungsverfahren wird groß zu Gute gehalten, dass es Anreize setzt zum Sparen. Es können Mittel für Investitionen bereitgestellt werden, das Produktionspotenzial wird ausgeweitet, mehr Wachstum entsteht und damit langfristig eine höhere Wohlfahrt. Gegen das Umlageverfahren wird konträr argumentiert: Beiträge der Erwerbstätigen werden sofort an die Rentner weitergereicht, ein Sparen findet nicht statt, die Folgekette „Investitionen, Ausweitung des Produktionspotenzials, mehr Wachstum und mehr Wohlfahrt“ käme nicht zum Tragen. Im Extremfall würden die Wirtschaftssubjekte einer Sparillusion in dem Sinne unterliegen, dass vom Umlageverfahren her schon genug gespart würde. Das auf Mackenroth (1952) zurückgehende Gegenargument, dass jedes Rentenversicherungssystem immer nur aus dem laufenden Sozialprodukt finanziert werden könne, ist zwar richtig, da ja bereits weiter oben mit dem Anlagerisiko gezeigt wurde, dass auch die Höhe der finanzierbaren Renten aus dem KDV von der wirtschaftlichen Lage in der Rentenphase abhängig ist. Die Frage bleibt aber berechtigt, ob das jeweilige Rentenversicherungssystem zu wenig Sparanreize vermittelt. Für das Umlageverfahren muss man jedoch positiv ins Feld führen, dass die Einführung eines Rentenversicherungssystems ohne den zeitaufwändigen Aufbau eines Kapitalstocks nur im Umlageverfahren möglich ist. Diesen Einführungsgewinn muss man fairerweise den denkbaren geringeren Sparanreizen gegenüberstellen. Sowohl im UV als auch im KDV kann der politische Prozess das Ergebnis so verändern, dass die Interessen der Wähler missachtet werden. Im UV kann zu viel Umverteilung stattfinden, sodass das Prinzip der Teilhabeäquivalenz ausgehöhlt wird, das Rentenversicherungssystem wird Teil des staatlichen Transfersystems. Nicht zu Unrecht könnten dann die Finanziers des Umlageverfahrens beklagen, dass nur sie und nicht die Gesamtheit der Steuerzahler herangezogen werden. Im Kapitaldeckungsverfahren müssen regulatorische Vorgaben bezüglich des Kapitalanlegerprozesses gemacht werden, um einerseits die ­Anleger vor unseriösen Anlageformen zu schützen. Bei begrenzter Fähigkeit, richtige langfristige Anlageentscheidung treffen zu können (begrenzte financial literacy), gebietet der Verbraucherschutz eine Regulierung, zum Beispiel dahingehend, welche Anlageformen überhaupt zulässig sind, in welchem Umfang riskante Anlagen erlaubt sein sollen oder inwieweit die Rückzahlung nur in Rentenform erfolgen soll (Ausschluss des Langlebigkeitsrisikos). Andererseits wird man die Anlageentscheidung nicht ausschließlich individuell treffen lassen, wenn Fehlschläge in der Anlage billigend in Kauf genommen werden, da ja für den Worst Case die Sozialhilfe zur Verfügung steht. Diese berechtigten

4.3  Kapitaldeckungs- und Umlageverfahren im Vergleich

155

Regulierungseingriffe können natürlich im politischen Prozess nicht ausreichend oder im Übermaß entstehen. Letzteres scheint für die Regulierung der Riesteranlageformen gegeben zu sein, weil der Ausschluss fast jeden Risikos heute es extrem schwer macht, zufriedenstellende Erträge dauerhaft zu erwirtschaften. Eine Abwägung zwischen KDV und UV kann sicherlich nicht unberücksichtigt lassen, wie ein Kapitaldeckungsverfahren, wenn es insgesamt besser bewertet wird als das Umlageverfahren, eingeführt werden könnte, obwohl ein großes Systemwechselproblem besteht: Im Grundsatz müsste ja die aktuelle Erwerbstätigengeneration sowohl die Beiträge des laufenden Umlageverfahrens erwirtschaften als auch für sich Beiträge aufbringen, um für die nachfolgende Periode einen ertragbringenden Kapitalstock aufzubauen. Es käme zu einer Doppelbelastung dieser Generation. Vor allem wenn die oben beschriebenen Ertragsvorteile der Kapitaldeckung bestünden, mag die Belastung vielleicht gar nicht so groß sein. Die sich widersprechenden Vor- und Nachteile beider Verfahren legen nahe, beide Verfahren zu nutzen, um die Risiken zu verteilen. Insofern hat der deutsche Gesetzgeber mit der Rentenreform Anfang der 2000er-Jahre, die ja einen teilweisen Einstieg in die Kapitaldeckung bringt, eine plausible Entscheidung getroffen. Jetzt müsste es darum gehen, dass die Säule der privaten Altersvorsorge auch wirklich umgesetzt wird und nicht nur eine Förderkulisse existiert, die zu keinen signifikanten, ausreichenden Sparbeiträgen führt. Plustext 4.4: Sicherungsniveaus und Haltelinien Die große Koalition hat im Jahr 2018 die sogenannte doppelte Haltelinie beschlossen und damit die Anwendung des Nachhaltigkeitsfaktors in der Rentenanpassungsformel außer Kraft gesetzt. Zumindest bis 2025 soll der Beitragssatz höchstens 20 % betragen und das Rentenniveau mindestens 48 % erreichen. Der wissenschaftliche Beirat beim Bundesminister für Wirtschaft (Beirat BMWi, 2021) hat untersucht, ob nach 2025 diese Haltelinien fortgeführt werden könnten und welche Alternativen bestünden. Der Beirat nähert sich der Problemlage, indem er eine Prognose bezüglich der Entwicklung des Altersquotienten (Verhältnis der 65 + Älteren zu den 20–64-Jährigen) erstellt. Ausgehend von dem heutigen Wert von ca. 37 % steigt – entsprechend ihrer Basisprognose – der Quotient erstmals zu Beginn der 2030er-Jahre auf einen Wert über 50 %, der dann Mitte der 2030er-Jahre annähernd 55 % betragen wird, was dann mit einer weitgehenden Stagnation bis Mitte der 2040er-­Jahre fortgesetzt wird, bevor er bis zum Ende des Prognosezeitpunkts fast 60 % erreicht. Die Ursachen dieser Entwicklung kann man anhand eines Simulationsmodells quantitativ abschätzen. Die erste Ursache, die geburtenstarken Jahrgänge nach dem zweiten Weltkrieg bis Mitte der 1960er-­Jahre („Babyboomer“), trägt vor allem im nächsten Jahr(fünft)zehnt zum starken Anstieg des Altersquotienten bei, danach verliert dieser Effekt für etwa den gleichen Zeitraum an Bedeutung, bevor die Kinder der Babyboomer am Ende des Prognosezeitraums nochmals ein bisschen den Anstieg befeuern. Weitaus bedeutsamer ist die zweite Ursache, die rückläufige Geburtenrate, die Anfang der 1950er-Jahre bei 2,2 lag, dann in 1970er-Jahren auf 1,4 fiel, bevor sie wieder seit 2010 auf 1,6 angestiegen ist. Quantitativ bewirkt mit zunehmender Tendenz die rückläufige Geburtenrate bis Anfang der 2040er-Jahre den Anstieg von 0,37 auf knapp unter 0,5 (Gesamteffekt = 1). Drittens wird die Bevölkerung immer älter, zwischen 2020 und 2060 etwa linear um 5,5 Jahre bei Männern und 4,3 Jahre bei Frauen. Im Jahre 2020 konnten Frauen noch erwarten, 83,8 Jahre alt zu werden und Männer 78,9 Jahre; im Jahre 2060 können sie im Durchschnitt 88,1 bzw. 84,4 Jahre erreichen. Die steigende Lebenserwartung gewinnt Anfang der 2030er-Jahre an Bedeutung, bevor sie ab Beginn der 2040er-Jahre zur treiben-

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4 Rentenpolitik

den Kraft des weiteren Anstiegs des Altersquotienten wird. Legt man die Basisprognose des Beirats zugrunde, so würde Mitte der 2020er-Jahre die Haltelinie des 20  %-Beitragssatzes gerissen, der dann relativ schnell über 22 % bis Anfang der 2030-Jahre erreicht, etwas langsamer steigt der Satz bis 2060 auf etwas mehr als 23 % an. Ebenfalls Mitte der 2020er-Jahre ist das Sicherungsniveau in Höhe von 48 % nicht mehr zu halten, das Niveau fällt dann sehr schnell auf unter 44 % innerhalb der folgenden Zehnjahresfrist. Bis Ende 2060 würde das Sicherungsniveau sogar deutlich unter 42 % fallen. Würde man politisch versuchen, die Haltelinien „48 % Sicherungsniveau/22 % Beitragssatz“ einzuhalten, müsste der Bund über zusätzliche Bundesmittel ab 2030 dramatisch mehr in die Rentenkasse einzahlen: Für die Dreißigerjahre dieses Jahrhunderts wären dies ca. 13–14 Prozentpunkte eines mit dem BIP-wachsenden Bundeshaushaltes. Ab Mitte der 2030-Jahren verlangsamt sich zwar der Anstieg, aber trotzdem kommen noch etwa 10 Prozentpunkte bis zum Ende des Betrachtungszeitpunkts hinzu. Es ist extrem fraglich, ob eine derartige Finanzierung politisch umsetzbar wäre. Um gegenzusteuern, empfiehlt der Beirat die Haltelinienpolitik schnellstmöglich aufzugeben und strukturelle Veränderungen herbeizuführen. Erstens soll ein Teil der Belastung aus einer ansteigenden Lebenserwartung durch eine höhere Regelaltersgrenze „finanziert“ werden. Seit der Jahrtausendwende wurde implizit die Zunahme des Lebensalters im Verhältnis 2 zu 1 mit „mehr arbeiten und später in Rente gehen“ finanziert. Im Groben stehen jetzt also 40 Jahre Beschäftigung 20 Jahre Rentenzeit einander gegenüber. Bei einer solchen expliziten Regel würde ein Jahr statistisch nachgewiesener höherer Lebenserwartung automatisch die Lebensarbeitszeit um acht Monate erhöhen, vier Monate gäbe es im Durchschnitt mehr Rente. Um den politisch attraktiven Gedanken, dass ein bestimmtes Rentenniveau umlagenfinanziert nicht unterschritten werden sollte, nicht aufgeben zu müssen, schlägt der Beirat vor, die Haltelinie „Sicherungsniveau“ nur noch partiell aufrechtzuerhalten. Einerseits könnte man dabei nur noch die Entgeltpunkte der Zugangsrentner entsprechend der Rentenanpassungsformel anpassen, für die Bestandsrentner gibt es nur noch einen Inflationsausgleich. Die Renten der Bestandsrentner würden weder nominal (was gegenwärtig auch politisch ausgeschlossen ist) noch real sinken, ihre Renten profitieren halt nur noch teilweise von den Vorteilen der internen Verzinsung im Umlageverfahren. Für die Zugangsrentner würde es bei der bisherigen Regelung bleiben, jeder Erwerbstätige würde höhere Rentenansprüche erwerben, wenn sich die demografische Lage oder der Arbeitsmarkt günstiger entwickeln würde. Andererseits könnte man von der strikten Proportionalität zwischen Entgeltpunkten und Rentenhöhe abweichen, indem man einen Sockel von Entgeltpunkten, zum Beispiel die ersten 15 Entgeltpunkte, ungeschmälert wie bisher einfließen lässt, jeder weiterer Punkt wird mit geringerem Gewicht gutgeschrieben. Denkbar wäre sogar, dass die ersten 0,5 Entgeltpunkte eines Kalenderjahres höher gewichtet würden, um Teilzeitarbeit stärker zu belohnen. Gerade der Vorschlag mit Sockelentgeltpunkten zu arbeiten, setzt eine lange Anpassungszeit voraus, um den gewünschten sozialpolitischen Effekt zu erreichen. Umso wichtiger ist auch hier, wie auch bei der gesamten Rentenpolitik, strukturell notwendige Anpassung rechtzeitig auf den Weg zu bringen. Plustext 4.5: Medianwähler und Rentenpolitik Eine Standardaussage der Neuen Politischen Ökonomie ist, dass sich die Parteien in ihren Wahlprogrammen am Medianwähler orientieren (grundlegend Kirsch, 2004, S. 258–273), angewandt auf Rente Beirat BMWi (2021, S. 40–43). Im Groben gilt, dass in Deutschland die Wahlbevölkerung relativ alt ist. Beispielsweise war der Median bei der Bundestagswahl 2017 in der Wahlbevölkerung bei 52 Jahren. Darüber hinaus kann man beobachten, dass ältere Deutsche deutlich häufiger ihr Wahlrecht in Anspruch nehmen als jüngere. In Bezug auf die Präferenzen deutet vieles darauf hin, dass das Lebensalter des Wählers seine Interessen in Bezug auf die Rentenpolitik deutlich bestimmt. Aktuelle Rentner und rentennahe Jahrgänge sind mehr an hohen Renten als an niedrigen Beitragssätzen bzw. niedrigen Steuern interessiert. Das rentenpolitische Sicherungsniveau steht für sie im Mittelpunkt. Die junge Generation präferiert niedrige Beitragssätze und eine zumindest moderate

4.3  Kapitaldeckungs- und Umlageverfahren im Vergleich

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Steuerbelastung. Im Medianwählermodell kommt es nun auf die mittleren Jahrgänge an, welche Rentenpolitik betrieben wird. Gelingt es den „Alten“, die „Mittleren“ auf ihre Seite zu ziehen, wird das Sicherungsniveau relativ hoch ausfallen. Machen die Mittleren gemeinsame Sache mit den Jüngeren, sinkt das Sicherungsniveau ab, Beitragssätze und Steuerbelastung können geringgehalten werden. Die in Deutschland gegenwärtig zu beobachtende Schlagseite zugunsten der Älteren lässt ein hohes Sicherungsniveau erwarten. In Deutschland wird eher eine rentnerfreundliche Politik betrieben: Das Sicherungsniveau darf zumindest nicht fallen, Beitragssatzerhöhungen werden eher achselzuckend hingenommen und der Bund darf gerne seinen Steuersäckel öffnen, um neue Lücken in der Finanzierung zu schließen. Maßnahmen, die strukturell die Rentenkasse entlasten (Erhöhungen der Regelaltersgrenze, Nachhaltigkeitsfaktor), werden leichter Hand auf später verschoben. Allerdings könnte bei einer gravierenden Tragfähigkeitslücke (Renten sind kaum noch zu finanzieren) das Pendel umschlagen: Die mittlere Generation verlässt die bisherige Mehrheitskoalition und macht „gemeinsame Sache“ mit den Jungen. Quasi in einer „backward induction“ sollten die Rentner dieses Umschlagen in ihrem Kalkül berücksichtigen und vielleicht deshalb bereit sein, tragfähige Rentenreformelemente auch heute mitzutragen. Insbesondere könnte man dann auch noch durchsetzen, dass die Rentenreformen sozial ausgewogen gestaltet werden. Eine späte Reform muss dagegen viel drastischer und undifferenzierter vorgehen, um die notwendigen Summen zu ­erwirtschaften.

Fazit und Ausblick

Noch immer nimmt in Deutschland die gesetzliche Rentenversicherung einen großen Stellenwert ein. Die meisten älteren Menschen erhalten aus der umlagefinanzierten Rente, die in seinen Grundzügen seit 1957  in Deutschland gilt, wesentliche Teile ihrer Altersversorgung. Diese Rente wird lebenslang bezahlt, sodass kein Langlebigkeitsrisiko mehr besteht. Ferner wird darüber das Risiko einer Erwerbsunfähigkeit (partiell) abgedeckt bzw. werden Hinterbliebene abgesichert. Für bestimmte Berufsgruppen gibt es eigenständige Versorgungswerke, Beamte erhalten Pensionen aus der steuerfinanzierten Beamtenversorgung. Handwerker und Künstler sowie andere Selbstständige können bzw. müssen Beiträge für die gesetzliche Rentenversicherung entrichten. Zweite Säule der Alterssicherung ist die betriebliche Altersversorgung bzw. die Zusatzversorgung VBL für Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes. In der dritten Säule geht es um die private Vorsorge, die für Pflichtversicherte staatlicherseits gefördert wird (Steuervorteile und Zulagen in der Riester-­Rente). In der gesetzlichen Rentenversicherung tragen jeweils die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer die Hälfte des Beitrages, zur Zeit insgesamt 18,6 % des Bruttoeinkommens. Die Altersrente wird beim Zugang anhand einer Formel berechnet, in die vor allem die Summe der erworbenen Entgeltpunkte eingeht. Individuelle Entgeltpunkte errechnen sich aus dem Verhältnis des Jahresbruttoeinkommens eines sozialversicherungspflichtig Beschäftigten zu dem Durchschnittseinkommen aller versicherungspflichtig Beschäftigten in dem jeweiligen Kalenderjahr. Die aufsummierten Entgeltpunkte multipliziert mit dem aktuellen Rentenwert ergibt die Monatsrente, die zum Zeitpunkt des Renteneintritts bezahlt wird. Geht ein Beschäftigter vor seiner Regelaltersgrenze (maximal 67 Lebensjahre) in Rente, muss er einen Abschlag hinnehmen.

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4 Rentenpolitik

Die Orientierung an den Entgeltpunkten sichert die Teilhabeäquivalenz: Die Rente ist umso höher, je mehr beitragspflichtiges Einkommen während der Erwerbsphase erwirtschaftet wurde. Spiegelbild zu dieser Äquivalenz ist natürlich, dass hohe Renten Folge „guter“ Erwerbsbeteiligung (lange und gut bezahlte Beschäftigung) sind; wenig beschäftigt gewesen zu sein und/oder schlecht bezahlt worden zu sein, führt leider auch nur zu geringen Renten. Bereits bestehende Renten sollen sich mit der Lohnentwicklung verändern, korrigiert um die demografische Entwicklung bei den Rentnern bzw. bei den Beschäftigten (Nachhaltigkeitsfaktor). Dieser Nachhaltigkeitsfaktor wurde jedoch 2018 mit dem Beschluss zur doppelten Haltelinie (Rentenniveau mindestens 48 %, Beitragssatz höchstens 20 %) ausgesetzt. Modellrechnungen zeigen jedoch, dass die Fortführung dieses Beschlusses enorm hohe Bundeszuschüsse aus dem Steuersäckel erfordern würde. Insofern scheint sehr fragwürdig, ob diese Lösung umsetzbar ist. Umlagefinanzierte Rentenversicherungssysteme können zu einer positiven internen Verzinsung führen, wenn im Zeitablauf mehr Personen beschäftigt werden, die Löhne ansteigen oder die Zahl der Rentenbezieher relativ sinkt. In Deutschland sind in der Vergangenheit etwa interne Verzinsungen von 2–3 % erreicht worden. Dies ist ein großer Vorteil der Umlagefinanzierung: Die Rentner nehmen quasi automatisch an den Vorteilen einer prosperierenden Wirtschaft teil. Auch sind Umverteilungsmaßnahmen relativ leicht möglich. Im Kapitaldeckungsverfahren partizipieren die Rentner aus den Kapitalerträgen des intertemporal angehäuften Kapitalstocks. In Deutschland hätte man damit vielleicht etwa 4 % Rendite erzielen können. Klar muss allerdings sein, dass ein Kapitaldeckungsverfahren ebenfalls Risiken erzeugt, zum Beispiel schwankende Kapitalerträge, Wechselkursrisiken oder länderspezifische Instabilitäten. Darüber hinaus bedarf es einer verbraucherschützenden Regulierung der Anbieter kapitalfundierter Rentenverträge. Es ist plausibel, dass eine Rentenpolitik sich sowohl auf das Umlage- als auch auf das Kapitaldeckungsverfahren stützen sollte. Mit der Rentenreform Anfang der 2000er-Jahre wurde zu Recht dieser Weg beschritten. Leider wird die Säule Kapitaldeckung noch zu wenig von der heutigen Erwerbstätigengeneration in Betracht gezogen.

Übungsaufgaben

1. Beschreiben Sie die Rentenformel der GRV für die Zugangsrentner. Ist die Höhe der Zugangsrenten abhängig von der Anzahl der Jahre in der Erwerbstätigkeit? Inwieweit sind die Renten inflationsgeschützt? 2. Diskutieren Sie die Absicherung der Erwerbsminderungsrentner.

Literatur

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3. Vergleichen Sie die Funktionsweise des Umlage- mit dem des Kapitaldeckungsverfahrens im Modell? Wann kommt es im Kapitaldeckungsverfahren zum Zwangssparen? 4. Was sind die Vorteile des Kapitaldeckungsverfahrens, was sind die Vorteile des Umlageverfahrens? Kommentierte Literaturhinweise Eine kurze und präzise Einführung zur Rentenpolitik im Rahmen der Sozialpolitik bietet Ott (2019). Althammer et al. (2021) sind hervorragend geeignet, die wichtigsten Punkte der deutschen Alterssicherungspolitik nachzuvollziehen. Eine sehr gute modelltheoretische Fundierung zur Rentenpolitik stellen Breyer und Buchholz (2021) zur Verfügung.

Literatur Althammer, J., Lampert, H., & Sommer, M. (2021). Lehrbuch der Sozialpolitik (10., vollst. überarb. Aufl.). Springer Gabler. Bäcker, G., Kistler, E., & Rehfeld, U.  G. (2020). Deutsche Einigung und Rentenversicherung. https://www.bpb.de/themen/soziale-­l age/rentenpolitik/290963/deutsche-­e inigung-­u nd-­ rentenversicherung/. Zugegriffen am 10.06.2022. Barr, N., & Diamond, P. (2006). The economics of pension. Oxford Review of Economic Policy, 22(1), 15–39. Becker, S., Gehlen, A., Geyer, J., & Haan, P. (2023). Reform der Erwerbsminderungsrente senkt Armutsrisiko, kommt aber spät. DIW Wochenbericht, DIW Berlin, German Institute for Economic Research, 90(17), 191–197. Beirat BMWi. (1998). Grundlegende Reform der gesetzlichen Rentenversicherung. Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft, 20./21.02.1998. https:// www.bmwk.de/Navigation/DE/Ministerium/Beiraete/Veroeffentlichungen-­Wissenschaftlicher-­ Beirat/veroeffentlichungen-­wissenschaftlicher-­beirat.html. Zugegriffen am 24.05.2022. Beirat BMWi. (2021). Vorschläge für eine Reform der gesetzlichen Rentenversicherung. Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, 04.05.2021. https://www.bmwk.de/Navigation/DE/Ministerium/Beiraete/Veroeffentlichungen-­ Wissenschaftlicher-­Beirat/veroeffentlichungen-­wissenschaftlicher-­beirat.html. Zugegriffen am 24.05.2022. Blankart, C. B. (2017). Öffentliche Finanzen in der Demokratie: Eine Einführung in die Finanzwissenschaft (9., vollst. überarb. Aufl.). Vahlen. von Böhm-Bawerk, E. (1921). Kapital und Kapitalzins (3. Aufl.). Fischer. Börsch-Supan, A. (2008). The impact of global aging on capital markets and housing. In I. Hamm, H. Seitz, & M. Werding (Hrsg.), Demographic change in Germany (S. 65–88). Springer. Breyer, F., & Buchholz, W. (2021). Ökonomie des Sozialstaats (3., akt. u. überarb. Aufl.). Springer. Busleim, H., Geyer, J., & Haan, P. (2020). Gesetzliche Renten gleichen sich in Ost- und Westdeutschland an – dennoch klaffen Alterseinkommen auseinander. DIW Wochenbericht, 87(38), 713–719. Connolly, S., & Munro, A. (1999). The economics of the public sector. Prentice Hall. Deutsche Rente. (2022). Aktuelle Daten  – Deutsche Rentenversicherung. https://www.google.de/ url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=&ved=2ahUKEwjYrvTV9Lj4AhXWOewKHZZYBBAQFnoECCsQAQ&url=https%3A%2F%2Fwww.deutsche-­rentenversicherung.de%

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4 Rentenpolitik

2FSharedDocs%2FDownloads%2FDE%2FStatistiken-­und-­Berichte%2Fstatistikpublikationen %2Faktuelle_daten.pdf%3F__blob%3DpublicationFile%26v%3D1&usg=AOvVaw0ug7GGUjQPoihPHmR2jt0g. Zugegriffen am 19.05.2022. Geyer, J. (2021). Der Einfluss von Reformen auf Zugänge und Zahlbeiträge in Erwerbsminderungsrenten – Modellrechnungen bis 2050 (Politikberatung kompakt, No. 164). DIW Berlin. Kirsch, G. (2004). Neue Politische Ökonomie (5., überarb. u. erw. Aufl.). Lucius & Lucius. Mackenroth, G. (1952). Die Reform der Sozialpolitik durch einen deutschen Sozialplan. In Schriften des Vereins für Socialpolitik NF (Bd. 4). Duncker & Humblot. Miles, D. (1998). The implications of switching from unfunded to funded pension systems. National Institute Economic Review, 163, 71–86. Ott, N. (2019). Sozialpolitik. In T. Apolte et al. (Hrsg.), Kompendium der Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik III: Wirtschaftspolitik (S. 319–380). Gabler. Sozialbeirat. (2015). Gutachten des Sozialbeirats zum Rentenversicherungsbericht 2015. https:// sozialbeirat.de/dokumente/. Zugegriffen am 10.06.2022. SVR. (2003). Jahresgutachten 2003/04. https://www.sachverstaendigenrat-­wirtschaft.de/publikationen/jahresgutachten.html. Zugegriffen am 24.05.2022.

5

Gesundheitspolitik

Die medizinische Versorgung in Deutschland wird überwiegend durch die Leistungen von Krankenversicherungen finanziert. Weitere Finanzquellen sind der Staat, der im Rahmen der sogenannten dualen Krankenhausfinanzierung für die Investitionskosten der stationären Versorgung aufkommt, und die privaten Haushalte, wenn sie aus „eigener Tasche“ Gesundheitsdienstleistungen bezahlen. Der Krankenversicherungsmarkt wird dominiert durch die gesetzlichen Krankenkassen, in denen unter bestimmten Voraussetzungen Beschäftigte und Rentner Mitglied werden müssen, die für (unbeschäftigte) Familienangehörigen aufkommen müssen, die aus an den Bruttolohn anknüpfenden, hälftigen Beiträgen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber finanziert werden und die im Grundsatz für allgemein anerkannte medizinische Leistungen im Rahmen des Sachleistungsprinzips aufkommen. Die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall bis zu sechs Wochen ist Aufgabe des Arbeitgebers, für länger anhaltende Krankheiten wird durch die Krankenkasse Krankengeld in Höhe von ca. 70 % des Nettolohns gewährt. Beamte decken vielfach die nicht von der Beihilfe erfassten Kosten durch eine private Krankenversicherung ab. Ferner können sich Selbstständige und abhängig Beschäftigte mit einem Jahreseinkommen jenseits der sogenannten Beitragsbemessungsgrenze substitutiv krankenversichern. In der privaten Versicherung gilt der Grundsatz der risikoäquivalenten Prämien und das Erstattungsprinzip, letzteres verpflichtet den Versicherten, die in Rechnung gestellten Leistungen vorab zu tragen, um sie anschließend vom Versicherer erstatten zu lassen. Ökonomisch gibt es einerseits eine Reihe von Marktversagensargumenten, warum eine private Nachfrage nach Gesundheitsleistungen ineffizient sein könnte. Freilich implizieren diese Argumente nur relativ moderate staatliche Eingriffe wie Mindestqualitätsvorschriften, Pflichtmitgliedschaft, Impfpflicht oder die Bereitstellung von Optionsgütern, Ergänzende Information Die elektronische Version dieses Kapitels enthält Zusatzmaterial, auf das über folgenden Link zugegriffen werden kann [https://doi.org/10.1007/978-3-658-42124-3_5]. © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 T. Wein, Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42124-3_5

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162

5 Gesundheitspolitik

solange die Unsicherheiten über das Auftreten von Krankheiten bzw. die Höhe der eintretenden Kosten durch Versicherungsverträge beherrschbar gemacht werden. Gegen die Funktionsfähigkeit von Krankenversicherungsmärkten wird eingewandt, dass die Versicherer ex ante die Schadenshöhen nicht einschätzen könnten bzw. Versicherte ex post unnötige Kosten verursachen. Die Versicherten dagegen seien über ihre erwarteten Schadenshöhen ex ante informiert bzw. könnten verhindern, dass nach Vertragsschluss die Kosten „ins Kraut schießen“ (asymmetrische Informationsverteilung mit den Gefahren der adversen Auslese und des moralischen Risikos). Wahrscheinlicher ist jedoch, dass die Leistungsanbieter unnötige Kosten verursachen, was als externes moralisches Risiko oder anbieterinduzierte Nachfrage bezeichnet wird. Ferner könnten Individuen den Abschluss eines Krankenversicherungsvertrages unterlassen und damit die Zahlung von Prämien vermeiden, wenn sie darauf hoffen können, in Krankheitsfall durch den Sozialstaat kostenlos behandelt zu werden (Trittbrettfahrerproblem). Als Opportunismusgefahr bzw. Prämienrisiko wird die Problematik eingestuft, dass Versicherungsnehmer ein Interesse an langfristigen, prämienkonstanten Versicherungsverträgen haben, die Versicherer kalkulieren deshalb mit hohen Prämien am Anfang des Versicherungsvertrages, um Kostensteigerungen im Alter durch diese aufgebauten Rückstellungen finanzieren zu können. Solange Versicherungsnehmer aber diese Rückstellungen bei einem Wechsel der Versicherungsgesellschaft nicht mitnehmen können, sind sie im bestehenden Versicherungsvertrag „gefangen“. In der Summe zeichnet sich ab, dass ein privater Krankenversicherungsmarkt ebenfalls reguliert werden müsste. Abschn. 5.1 gibt einen Überblick über die umfassende Regulierung der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland. Die vielfältigen ökonomischen Argumente, die das Gesundheitswesen auszeichnen, werden im Abschn. 5.2 zusammengefasst.

5.1 Gesetzliche Krankenversicherung in Deutschland Weite Teile der Deutschen erhalten durch die gesetzlichen Krankenkassen (GKV) Versicherungsschutz (Althammer et al., 2021, S. 219). Alle abhängig Beschäftigten, die nicht Beamte sind und unterhalb der Versicherungspflichtgrenze (2023: 66.600  € p.  a.) verdienen, müssen sich für den Krankheitsfall in einer gesetzlichen Krankenversicherung (AOKen oder Ersatzkassen) versichern. Geht ihr Einkommen über die Pflichtgrenze hi­ naus, können sie in eine private Krankenversicherung (PKV) wechseln, die im Grundsatz Leistungen, wie die der GKV erbringen (substitutive Krankenversicherung), oder freiwillig in der GKV verbleiben. Im Falle des Verbleibens wird dann der Beitragssatz auf das Einkommen an der Beitragsbemessungsgrenze, die unterhalb der Versicherungspflichtgrenze liegt (59.850 € p. a. 2023) angewandt, der Beitrag ist nach obenhin fixiert. Kinder und einkommenslose Ehegatten sind ohne weitere Beiträge mitversichert (Familienversicherung). Abhängig Beschäftigte bleiben in der gesetzlichen Krankenversicherung, der Krankenversicherung der Rentner, wenn sie in der zweiten Hälfte ihrer Lebenserwerbstätigkeit zu 9/10 sozialversicherungspflichtig beschäftigt waren (Neun-Zehntel-Belegung). Rentner zahlen dann ihren Beitragssatz allein weiter. Ferner unterliegen auch Arbeits-

5.1  Gesetzliche Krankenversicherung in Deutschland

163

losengeld I-­Bezieher, Bürgergeldempfänger und eine Reihe anderer Personengruppen der ­GKV-­Krankenversicherungspflicht. In der Summe sind knapp 90 % der deutschen Gesamtbevölkerung gegenüber der GKV anspruchsberechtigt. Zusammen mit den Personen, die in der PKV sind, erreicht man nahezu eine 100  % Einbeziehung in den Krankenversicherungsschutz. Formal gibt es auch seit einigen Jahren eine gesetzliche Pflicht zur Krankenversicherung, was dazu führt, dass bei Verlassen einer Krankenversicherung der Schutz bei der anderen nachgewiesen werden muss. Nur etwa 0,1 % der Bevölkerung sind trotzdem unversichert (Statistische Bundesamt, 2019), z. B. weil sie ihre Beiträge in der PKV (wiederholt) nicht entrichtet haben, illegal in Deutschland leben oder als EU-Ausländer in ihrem Heimatland nicht versichert sind. Versicherungspflichtgrenze und Beitragssätze wurden in den vergangenen Dekaden mehrfach geändert (Althammer et al., 2021, S. 221). Die Beitragsbemessungsgrenze wird grundsätzlich an die allgemeine Lohnentwicklung angepasst, für die erste Dekade nach der Wiedervereinigung gab es für Ost und West getrennte Grenzen, danach einen deutschlandweiten Wert. Der Beitragssatz, der jeweils zur Hälfte vom Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu entrichten ist, lag 1970 noch bei 8,2 %, stieg dann bereits Mitte der 1970igerJahre auf über 10  % an, näherte sich dann rund um die Jahrtausendwende einem Wert deutlich über 13 % an und liegt aktuell über 15 %. Im Detail beträgt der offizielle Beitragssatz 14,6 %, der von beiden Arbeitsmarktparteien jeweils zur Hälfte aufgebracht werden muss. Ferner erheben die einzelnen Krankenkassen individuelle Zusatzbeitragssätze, die aktuell ebenfalls hälftig getragen werden. Im Laufe der 2010er-Jahre war dies aber auch schon fundamental anders: Der individuelle Kassenzusatzbeitrag war ein Fixbetrag, also lohnunabhängig, oder der Zusatzbeitragssatz wurde allein vom Arbeitnehmer entrichtet. Letztendlich wurde quasi an der Spitze des Eisberges ein bisschen die Schlacht „Bürgerversicherung versus Bürgerprämie“ ausgefochten. Plustext 5.1: Wer soll die Beiträge zahlen? In der Öffentlichkeit wird immer wieder diskutiert, wer für die Beiträge zur GKV juristisch verantwortlich sein soll, die Arbeitgeber oder die Arbeitnehmer (Blankart, 2017, S.  251–253). Ausgangspunkt sei die Abb. 5.1, in der die Funktionsweise eines wettbewerblichen Arbeitsmarktes dargestellt wird, ohne dass ein GKV-Beitrag erhoben wird. Auf der Abszisse wird das Arbeitsvolumen abgetragen, gemessen in Arbeitsstunden (h) (Tagen, Monaten oder Jahren). Mit der Ordinate wird der Lohnsatz w gemessen. Die fallende Arbeitsnachfrage AN plausibilisiert, dass mit fallendem Lohnsatz üblicherweise mehr Arbeitskraft nachgefragt wird, falls alle anderen Einflussfaktoren, wie z. B. der Güterpreis, konstant bleiben. Die Arbeitsangebotskurve AA steigt mit dem Lohnsatz an, da – in der Regel – Haushalte bei steigendem Lohnsatz bereit sind, mehr Arbeit anzubieten. Der (steigende) Lohnsatz kompensiert für das „Leid“ zu arbeiten. Im Punkt C schneiden sich beide Kurven, es ergibt sich der gleichgewichtige Lohnsatz wohne und die gleichgewichtige Arbeitsmenge hohne. Würde ein höherer Lohnsatz als wohne gelten, würde mehr Arbeit angeboten als nachgefragt. Die Haushalte, die zu diesem zu hohen Lohn ihr Arbeitsangebot nicht in den Markt einbringen können (arbeitslos sind), sind unzufrieden (kein Nash-Gleichgewicht). Unterschreitet der Lohnsatz das Gleichgewichtsniveau, wird von den Unternehmen mehr Arbeit nachgefragt als angeboten, Arbeitskräfte sind knapp. Zum gegebenen Lohn würden sie mehr einstellen als sie tatsächlich können (kein Nash-­Gleichgewicht). Nur im Gleichgewicht C hat keine Partei mehr einen Anreiz, sein Marktverhalten im Nachhinein zu bedauern.

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5 Gesundheitspolitik

w

AA AN

C

Wohne

0

hohne

h

Abb. 5.1  Wettbewerblicher Arbeitsmarkt Unterstellt sei nun, dass ein Krankenversicherungsbeitrag b eingeführt wird, der an dem Lohnsatz w anknüpft. Per Gesetz werde festgelegt, dass beide jeweils für den hälftigen Beitragssatz b/2 einstehen müssen. Auf der Nachfrageseite verschiebt sich in Abb.  5.2 AN entsprechend nach unten (AN1): Der Arbeitgeber muss ja neben dem Arbeitnehmerbruttolohn w1 auch noch Arbeitgeberbeiträge entrichten, das Arbeitgeberbrutto w2 stellt sich ein. Für die Arbeitsnachfrage wird letztendlich AN1 bestimmend. Die Arbeitsanbieter erhöhen ihre „Mindestforderung“ um b/2 nach oben, da sie noch einen Teil ihres Bruttoeinkommens an die Krankenkasse abführen müssen. Die Arbeitnehmer erhalten w3 als Nettogehalt. Insgesamt wird im Arbeitsmarkt das Arbeitsvolumen h eingesetzt (Gleichgewicht C1). Würde man nun stattdessen die gesetzliche Lastverteilung zu Ungunsten der Arbeitgeber und zu Gunsten der Arbeitnehmer verschieben, indem man nur die Arbeitgeber mit der Beitragslast „betraut“, ergibt sich in Abb. 5.2 eine neue Situation, in der sich die Arbeitsnachfragefunktion um b nach unten zu AN2 verschiebt. Da jedoch die Arbeitnehmer von der Beitragslast befreit werden, gilt für sie wieder die „alte“ Arbeitsangebotsfunktion AA.  Das Gleichgewicht C3 wird erreicht. Der Lohnsatz w3 wird aus der Sicht der Arbeitnehmer zum Brutto-(= Netto-)Lohn. Für die Arbeitgeber steht wie bisher das Arbeitgeberbrutto w2 in den Büchern. Gleiches gilt, wenn man die Arbeitgeber aus der „Beitragslast“ entlässt und stattdessen nur die Arbeitnehmer mit dem vollen Beitragssatz b belastet. Zwar verschiebt sich in Abb. 5.2 die Arbeitsangebotsfunktion auf AA2, dafür bewegt sich die Arbeitsnachfragefunktion auf ein höheres Niveau, was der „alten“ Arbeitsnachfragefunktion AN entspricht. Das Gleichgewicht C2 stellt sich ein. Für die Arbeitgeber ergibt sich nun wie bisher der relevante Lohnsatz w2, was dem (neuen) Arbeitnehmerbrutto entspricht. Von diesem höheren Arbeitnehmerbrutto müssen die Arbeitnehmer jedoch mehr abgeben, sie „fallen“ auf w3.

5.1  Gesetzliche Krankenversicherung in Deutschland

165 AA2

w AA1 AN b

AN1

b/2

C2

W2 W1

AA

AN2

C1

W3

C3 b b/2

0

h1

h

Abb. 5.2  Lastverteilung bei unterschiedlichen Aufteilungsregeln. (Ähnlich Blankart, 2017, S. 252) In der Summe führen alle drei Aufteilungsregeln zum gleichen Ergebnis. Das gleiche ­Arbeitsmarktvolumen stellt sich ein, und netto haben beide Parteien „das gleiche in der Tasche“. Allerdings muss man darauf hinweisen, dass diese Aussage unter der Annahme eines wettbewerblichen Arbeitsmarktes entwickelt wurde. Insbesondere kann es sein, dass es bei einer Änderung der Aufteilungsregeln eine gewisse Zeit dauert, bis sich die jeweiligen Gleichgewichte einstellen. Bis dorthin ist diese „Invarianzthese“ noch nicht in Kraft. Der Übergang von alleiniger Finanzierung des (Zusatz-)Beitrags in der GKV zur gemeinsamen Belastung mag daher die Arbeitnehmer ent- und die Arbeitgeber belastet haben.

Im Grundsatz soll die GKV Leistungen finanzieren, die die Gesundheit der Versicherten aufrechterhalten oder ihre Gesundheit wiederherstellen (Althammer et al., 2021, S. 222 f.). Heutzutage steht im Mittelpunkt die Behandlung von Krankheiten. In der ambulanten Versorgung übernehmen dies Ärzte und Zahnärzte, die von der GKV eine Zulassung erhalten haben. Die GKV erstattet über die niedergelassenen Ärzte und Zahnärzte alle Leistungen, die nach dem Stand der Medizin als zweckmäßig und ausreichend angesehen werden; nicht-notwendige oder unwirtschaftliche Leistungen sind von der Erstattung ausgeschlossen. Im Wesentlichen werden diese Leistungen der ambulanten Versorgung gegenüber dem Patienten bzw. Versicherten unentgeltlich erbracht. In der GKV gilt jedoch

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5 Gesundheitspolitik

allgemein eine Selbstbeteiligung in Höhe von 10 %, mindestens 5 €, maximal 10 €. Kinder und Jugendliche unterliegen keiner Selbstbeteiligung. Für die Summe der Zuzahlungen gibt es eine jährliche Belastungsgrenze in Höhe von 2 % des Bruttojahreseinkommens, bei chronisch Kranken reduziert sich die Belastungsgrenze auf ein Prozent. Die niedergelassenen Ärzte erhalten eine Vergütung über den sogenannten Einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM; § 87 Sozialgesetzbuch (SGB) V), in dem jede erstattbare medizinische Einzelleistungen einem bestimmten Punktwert zugeordnet ist, bei einzelnen Leistungen wird auch direkt ein konkreter Geldwert ausgewiesen. Die Punktwerte werden regional aufsummiert und den vorgegebenen Budgets zugeordnet. Mit dem sich daraus ergebenen Eurobetrag je Punktwert werden die vom jeweiligen Arzt erbrachten Punktwerte multipliziert und daraus die Praxishonorare bestimmt. Allerdings sind im Grundsatz die pro Patient abrechenbaren Leistungen gedeckelt. Ist eine stationäre Versorgung erforderlich, übernimmt die GKV die Kosten, jedoch wird pro Tag Krankenhausaufenthalt eine Selbstbeteiligung in Höhe von 10 € eingefordert, maximal für 28 Kalendertage p. a. Die Krankenhäuser werden durch Fallpauschalen entlohnt, die von den GKVen gezahlt werden. Allerdings werden für die Krankenhäuser die erstattbaren Fallpauschalen um Mehrerlösabschläge bzw. Mindererlöszuschläge korrigiert. Aus den Landeshaushalten sollen die Investitionskosten der Krankenhäuser finanziert werden. Fallpauschalen und Investitionskostenfinanzierung bilden die sogenannte duale Finanzierung der Krankenhäuser. Verschreibungspflichtige Arzneimittel gehören ebenfalls zum Leistungskatalog der GKV, freilich gemindert um die üblichen Selbstbehaltsregeln. Allerdings haben die Spitzenverbände der Krankenkassen für Arznei- und Hilfsmittel die Preise „administrativ“ festgesetzt, sogenannte Festbeträge. Zu den Leistungen der GKVen gehört auch der historische Kernbestand der Krankenkasse, die Sicherung des Einkommens im Krankheitsfall. Zwar übernehmen die Arbeitgeber in den ersten sechs Wochen einer Krankheit die Lohnfortzahlung zu 100 %. Geht diese Krankheit länger, wird dem Versicherten Krankengeld ­ausgezahlt, und zwar in Höhe von ca. 70 % des regelmäßigen Nettoentgelts. Ist jemand mehr als 78 Wochen innerhalb der letzten 3 Jahre wegen derselben Krankheit arbeitsunfähig, endet der Krankengeldanspruch; die Person wird dann auf die Erwerbsunfähigkeitsrente verwiesen. Ferner gewährt in medizinisch begründeten Fällen die Krankenversicherung ambulante oder stationäre Rehabilitationsmaßnahmen. Im Falle einer statio­ nären Reha gelten die gleichen Eigenbetragsregelungen wie beim stationären Krankenhausaufenthalt. Ferner wird durch die GKV Mutterschaftshilfe (ärztliche Leistungen und Beratung für werdende und stillende Mütter) geleistet und Mutterschaftsgeld gezahlt, letzteres bis zu gewissen Grenzen als Lohnersatz für abhängig Beschäftigte in der Phase des Mutterschutzes. Ebenfalls zum Leistungskatalog gehören Prophylaxe- und ­Früherkennungsmaßnahmen.

5.1  Gesetzliche Krankenversicherung in Deutschland

167

Kasten 5.1: Organisationsstruktur und Finanzierungsströme im deutschen Gesundheitswesen

Die Organisationsformen und Finanzbeziehungen für die deutsche Gesundheitsversorgung sind äußerst komplex und werden auch relativ häufig geändert (Althammer et al., 2021, S. 223–225 sowie ausführlicher Sachverständigenrat Gesundheit, 2018). Entsprechend der geltenden Beitragssätze und kassenspezifischen Zusatzbeiträge zahlen die Arbeitgeber, auch für ihre Arbeitnehmer, die Beiträge an die GKVen, die diese dann „direkt“ an den bundesweiten Gesundheitsfonds weiterreichen. Dieser Fonds wird mit einem relativ geringen Prozentsatz der Gesamtausgaben vom Bund aus Steuermitteln „aufgefüllt“. Die Gesamtheit der Mittel des Gesundheitsfonds wird dann an die Krankenkassen zurück gewährt, allerdings im Rahmen eines sogenannten Risikostrukturausgleichs. Etwa die Hälfte der Mittel werden entsprechend der Versichertenstruktur in der jeweiligen Kasse nach relativ einfachen Kriterien wie Alter, Geschlecht oder Erwerbsstatus der Versicherten zugewiesen, die andere Hälfte richtet sich nach bestimmten Krankheitsbildern, die bekanntermaßen zu hohen Kosten führen. Die Zusammensetzung der Versicherten in einer Krankenkasse wird somit nivelliert, ein Wettbewerb zwischen den Krankenkassen wird möglich. Können einzelne Krankenkassen ihre Ausgaben, sowohl für die Versicherten als auch ihre Verwaltungskosten, aus den Zuweisungen des Gesundheitsfonds nicht decken, bleibt ihnen nur, Zusatzbeiträge zu erheben oder Konkurs zu gehen. Versicherte können zu Kassen mit geringeren Zusatzbeiträgen wechseln, es entsteht ein Wettbewerbsdruck, insbesondere auf die Verwaltungskosten der Kassen. Die Krankenkassen finanzieren die Fallpauschalen der Krankenhäuser (DRGs) bzw. weisen Pauschalbeträge den regionalisierten 17 Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen, 15 Bundesländer + 2  in NRW) zu. Die Apotheken rechnen direkt mit den Krankenkassen ab.

Blickt man auf die Leistungsausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung (zur Übersicht Althammer et al., 2021, S. 225 f.) von 1950 bis Mitte der 2015er-Jahre, so haben sich die Ausgaben von 1950 bis 1990 mehr als versechzigfacht. Die Ausgaben für die ärztliche Behandlung starteten mit 21,8 %, erreichten 1970 22,9 % und lagen 1990 bei 18,1 %. Für die zahnärztliche Behandlung gab man zu Beginn etwas mehr als 5 % aus, erreichte 1970 mit 7,2 % einen Höhepunkt und fiel dann auf 6,0 % zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung. Arzneien, Heilmittel und Zahnersatz lagen anfänglich bei einem Fünftel, mit der 1960er-Jahre bei etwas mehr als einem Sechstel, bevor deutlich mehr als ein Viertel dafür verausgabt wurde. Relativ stetig stieg die ausgabenseitige Bedeutung der Krankenhauskosten von einem Fünftel auf bzw. über 30 %. Die große Bedeutung des Krankengeldes, das in den 1950/60er-Jahren über 22 % bis zu 30 % erreichte, sank auf über 5 %, was

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5 Gesundheitspolitik

sicherlich stark mit der arbeitgeberseitigen Lohnfortzahlung und der damit verbundenen Entlastung der GKVen zu tun hatte. Nach 1990 stiegen die Gesundheitsausgaben im größeren Deutschland auf etwas mehr als das 2,5-fache an, wobei jetzt für die prozentualen Ausgabenposten weitgehend Kontinuität besteht; allein das relative Gewicht bei Arzneiund Heilmittel sowie beim Zahnersatz hat sich tendenziell um etwa 3  Prozentpunkte verringert. Um das politisch als Problem angesehene Ausgabenwachstum in der Krankenversicherung zu bekämpfen, begann der Gesetzgeber bereits Ende der 1970 Jahren, mehrere sogenannte Kostendämpfungsgesetze zu erlassen. Das Gesundheitsreformgesetz von 1988 und das GKV-Modernisierungsgesetz von 2003 setzte Kostensenkungsanreize auf der Nachfrageseite, insbesondere durch die Einführung von diversen Selbstbeteiligungen. Angebotsseitig wurden Budgets einzelner Leistungsanbieter gedeckelt, was wiederum mit weiteren Regulierungsvorschriften verbunden wurde. Der Budgetierung folgt auch relativ schnell die Möglichkeit, die Anzahl der Leistungsanbieter zu begrenzen, um damit den Marktzugang zu kontrollieren. Mit dem Gesundheitsstrukturgesetz von 1996 wurde ein Meilenstein gesetzt, da nunmehr auch die gesetzlich Krankenversicherten ihre Krankenkasse frei wählen konnten. Um den Krankenkassenwettbewerb fair zu gestalten, wurde ein Risikostrukturausgleich durchgeführt, Krankenkassen mit „schlechten“ Risiken wurden finanziell entlastet, Kassen mit „guten“ (kostengünstigen) Versicherten tendenziell belastet. Auch dieser Regulierungseingriff wurde Stück für Stück immer mehr verfeinert und in seinem Umfang vergrößert. Mit der Pflicht für die Krankenkassen, erst einmal ihre Beitragseinnahmen in den kollektiven Gesundheitsfonds einzubringen, ist schon in gewisser Weise ein Regulierungshochpunkt erreicht. Aus ökonomischer Sicht kann man das Ziel der Kostendämpfung im Gesundheitswesen grundsätzlich infrage stellen (auch Breyer et  al., 2013, S.  539–541). Betrachten Haushalte die Gesundheitsvorsorge und -versorgung als mikroökonomisch gesehen normales Gut, würde steigendes Einkommen quasi automatisch eine Mehrnachfrage nach Gesundheit und damit mehr Krankheitsausgaben bedeuten. Eine insgesamt reichere Gesellschaft wie die deutsche „leistet sich dann halt“ mehr für das körperliche (und mentale) Wohlbefinden. Weiter ist der medizinisch-technische Fortschritt sicherlich enorm angestiegen, Krankheiten, die vor wenigen Jahrzehnten nicht oder nicht rechtzeitig hätten ­diagnostiziert werden können, werden schneller erkannt und sind deutlich besser behandelbar. Dieser Fortschritt kostet Geld. Wenn die Bürger Deutschlands dieses Mehr haben wollen, müssen sie auch dafür bezahlen. Dritter Kostentreiber könnte die demografische Entwicklung sein: Wir leben in Durchschnitt länger und die (vollen) Beitragszahler (Erwerbstätige, nicht die Rentner) werden weniger. Ob das steigende Lebensalter tatsächlich einen großen Ausgabendruck erzeugt, ist umstritten. Die Medikalisierungsthese vertritt die Ansicht, dass mit steigendem Alter zumindest im Durchschnitt stetig steigende Pro-­Kopfausgaben verbunden seien. Die Kompressionsthese dagegen liest aus den vorhandenen Daten ab, dass hohe Behandlungskosten vor allem in den letzten 18 Lebensmonaten anfallen. Greift die Kompressionsthese, hätte eine steigende Anzahl Älterer wenig Bedrohliches an sich: Es gibt nur das eine „dicke Ende“ und das kommt einfach nur

5.2  Ökonomik des Gesundheitswesens

169

später. Kostendämpfung als wirtschaftspolitisches Ziel besteht freilich zu Recht, wenn falsch gesetzte Anreize zu höheren Kosten im Gesundheitswesen führen. Insofern bedarf es einer systematischen ökonomischen Analyse der Bereitstellung von Gesundheitsversorgung, inklusive des Blicks auf die Anreize von Leistungsanbietern und Konsumenten des Gutes Gesundheitsversorgung.

5.2 Ökonomik des Gesundheitswesens Für die ökonomische Analyse der Bereitstellung von Gesundheitsgütern kommt es vor allem darauf an, ob – wie in anderen Märkten – spontane Interaktionen zwischen rational handelnden Nachfragern und gewinnmaximierenden Anbietern zu erwarten sind, es käme dann zu einer effizienten Bereitstellung. Bereits eine „Vorab“-Prüfung des Gutes Gesundheit zeigt eine besondere Sensibilität auf (Abschn. 5.2.1). Dies leitet über zu der Frage, ob Marktversagensanzeichen in Märkten für Gesundheitsdienstleistungen bestehen (Abschn. 5.2.2) und ob ersatzweise Krankenversicherungsmärkte effiziente Ergebnisse erwarten lassen (Abschn. 5.2.3).

5.2.1 Das Gut Gesundheit Dem Gut Gesundheit werden allgemein besondere Eigenschaften nachgesagt (Breyer & Buchholz, 2021, S. 253–255; Breyer et al., 2013, S. 179 f.; sowie Ott, 2019, S. 360). Als gesund kann man ein unbeeinträchtigtes umfassendes körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden bezeichnen. Wird dieses Wohlbefinden gestört, liegt eine Krankheit vor. Krankheit wird somit zum Antigut der Gesundheit. Ob jemand krank wird oder gesundet, hängt teilweise am Verhalten der Leistungsanbieter, aber auch ein Stück weit am Verhalten des Patienten. Natürlich treten einzelne Krankheiten zufallsbedingt auf, Veranlagung und Vererbung können jedoch ebenfalls die Erkrankungswahrscheinlichkeit erhöhen. Die Anbieter medizinischer Leistungen tragen sicherlich zur Verbesserung des Gesundheitszustandes der Patienten bei. Das Ausmaß ­ihres Erfolges ist jedoch auch eine Frage der Ausstattung mit Geräten und Gebäuden, des Vorhandenseins von Medikamenten und anderen Hilfs- bzw. Heilmitteln sowie natürlich auch des Anstrengungsniveaus der Leistungserbringer selbst. Aber auch der Patient trägt zur Gesundheit bei, er wird zum Co-Produzenten des Gutes Gesundheit. Er entscheidet, ob er Vorsorgeuntersuchungen macht, er bestimmt seinen Lebensstil und er ergreift gesundheitsgefährdende Aktivitäten. Diese drei Punkte nehmen darauf Einfluss, ob eine Krankheit überhaupt auftritt bzw. in welchem Stadium eine Behandlung erfolgen kann. Für eine schnelle und treffsichere Diagnose muss der Patient vielfach beitragen, indem er seinen Körper beobachtet und bei der Untersuchung Beschwerden wahrheitsgemäß schildert. Nach der Diagnose muss er die vorgesehene Therapie unterstützen, zum Beispiel Medikamente (termintreu) einnehmen. Gute Diagnosen und das Einhalten der Therapieanweisungen

170

5 Gesundheitspolitik

können den Heilungserfolg deutlich erhöhen. Gesund zu sein trägt sicherlich wesentlich zur Lebensqualität und -zufriedenheit bei. Vielfach ist ein guter Gesundheitszustand komplementär zu Konsumaktivitäten, z.  B. genießt man gutes Essen eher, wenn man sich wohlfühlt, oder ein Konzert wird mehr geschätzt, wenn man ohne Beschwerden ist. Sicherlich stellt das Gut Gesundheit ein privates Gut dar, da Nichtzahler vom Konsum ohne Schwierigkeiten ausgeschlossen werden können und die Behandlung eines Patienten gleichzeitige Behandlung des anderen ausschließt (Ausschließbarkeit und Rivalität im Konsum). Es gibt jedoch noch weitere Argumente, warum eine öffentliche Bereitstellung im Falle der Gesundheitsversorgung gewünscht wird. Die Gewissheit, im Krankheitsfall finanziell abgesichert zu sein, hat für viele Bürger eine wichtige Bedeutung; Sicherheit an sich wird zum geschätzten Gut. Möglicherweise bewerten Individuen das Auftreten von Krankheiten als zufällig oder als Schicksal. Erkrankt ein anderer schwer, kommt das Gefühl auf, auch selbst hätte betroffen sein zu können; Empathie breitet sich aus, man wünscht, dass die Folgen der Krankheit solidarisch getragen werden, die vom Staat bereitgestellte medizinische Versorgung soll einspringen. Noch solidarischer wird man, wenn Krankheiten ererbt werden, oder bereits kleine Kinder, vielleicht sogar noch als Ungeborene, erkranken. In diesen Fällen wünschen sich Viele, dass diese Risiken versichert sind und die Prämien gering bleiben. Man dringt auf einen Kontrahierungszwang und ein Diskriminierungsverbot. Besonders kritisch wird es, wenn die medizinischen Leistungen nicht ausreichend zur Verfügung stehen. Behandelbare Patienten können nicht behandelt werden, andere werden versorgt. Bedürftige müssen priorisiert werden wie bei Katastrophen mit der sogenannten Triage. Im Rahmen der Corona-Pandemie haben wir als Gesellschaft gelernt, welch schwerwiegende Entscheidungen drohen, getroffen werden zu müssen, und welche einschränkenden Maßnahmen man bereit ist, hinzunehmen, um Priorisierungsentscheidungen vermeiden zu können. Plustext 5.2: Gerechtigkeit und Gesundheitsversorgung Eine gerechte Gesundheitsversorgung könnte insbesondere verfehlt werden, wenn erstens die finanzielle Leistungsfähigkeit des Einzelnen für die Nachfrage nach Gesundheitsdienstleistungen nicht ausreicht oder zweitens angeborene Unterschiede, krank zu werden, zu unerwünschten finanziellen Schieflagen führen Breyer et  al. (2013, S.  222–229). Wenn die fehlende Leistungsfähigkeit auf unterschiedliche Startchancen oder auf unterschiedliches „Glück“ im Leben zurückzuführen ist, wird man wohl einen staatlichen Eingriff für erforderlich halten. Zuvörderst kommt hier ein Einkommenstransfer an die Armen in Betracht, um sich den Versicherungsschutz leisten zu können. Nahe liegt hier auch eine Zweckgebundenheit einzuführen, indem der Beitrag zur Krankenversicherung subventioniert wird. In Notlagen, d. h. es geht um Leben und Tod, greift ein spezifischer Egalitarismus: Zahlungsfähigkeit spielt überhaupt keine Rolle mehr, jeder wird versorgt. Angeborene Unterschiede beim Krankheitsrisiko auf den Einzelnen durchgreifen zu lassen, widerspricht vermutlich weitverbreiteten Gerechtigkeitsvorstellungen. Auch vor dem Hintergrund des Schleiers des Unwissens (Rawls, 1971) wird man eine kollektive Absicherung befürworten: Man will eine finanzielle Überforderung im Krankheitsfall ausschließen, weil man ja selbst nicht weiß, ob sie einen selbst in ferner Zukunft betreffen könnte. Lösungsansätze wären hier a) individuelle Krankheitsrisiken durch personenspezifische Transfers auszugleichen, b) den Krankenversicherern zu verbieten, Tarife nach dem Risiko zu differenzieren (Diskriminierungsverbot) und c) den Gesund-

5.2  Ökonomik des Gesundheitswesens

171

heitsdienst durch Steuern zu finanzieren. Personenspezifische Transfers würden die Funktionsweise des privaten Krankenversicherungsmarktes in Takt lassen, aber wie sollen diese Ausgleichszahlungen festgelegt werden? Dieses große Informationsproblem geht auch mit gravierenden Datenschutzbedenken einher. Das Diskriminierungsverbot zieht sofort eine Pflicht zum Vertragsschluss nach sich, da ohne eine solche Pflicht Versicherer einen Anreiz haben, schlechte Risiken fernzuhalten (z. B. deren Anträge schleppend bearbeiten). Der steuerfinanzierte Gesundheitsdienst löst per se das Problem der hohen Prämien, da ja gar keine erhoben werden, dafür ist der Wettbewerb komplett ausgehebelt. Diese Schwierigkeiten zeigen, dass es wie in der praktischen Gesundheitspolitik, die auf risikogerechte Prämien setzt, nicht unsinnig ist, lebenslang feste Prämien anzustreben, sodass in der Regel alle Versicherten zu Beginn des Vertrages gleich gesund sind (Abschn. 5.2.3.5). Plustext 5.3: Interessengruppen in der Gesundheitsversorgung In einer demokratischen Gesellschaft wie die Bundesrepublik Deutschland können und werden Interessengruppen versuchen, die Ergebnisse des politischen Prozesses zu beeinflussen. Gerade der Gesundheitssektor mit vielgliedrigen Anbieterinteressen seitens Ärzte, Krankenhäuser und pharmazeutischer Industrie ist ohne Frage geprägt durch Interessengruppen. Interessengruppen stehen auch unter dem Schutz der Vereinigungsfreiheit nach Art. 9 I GG Grundgesetz (Abschn. 2.1.2.3). Ferner zeigte die Beschreibung des deutschen Gesundheitswesens in Abschn. 5.1, dass Interessengruppen durchaus auch staatliche Aufgaben übernehmen und dabei Entscheidungshoheit zumindest partiell besitzen. Renner (2016) zählt die wichtigsten Interessengruppen im deutschen Gesundheitswesen auf: • GKV-Verbände (AOK-Bundesverband, BKK-Bundesverband, IKK-Bundesverband/IKK e. V./ Verband der Ersatzkassen e.  V. (vedek)/Knappschaft-Bahn-See/Bundesverband der landwirtschaftlichen Kranken- und Pflegekassen (BLK), • Spitzenverband Bund der Krankenkassen (GKV-Spitzenverband), • 17 Kassenärztliche Vereinigungen, • Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), • Krankenhausgesellschaften, • 17 Ärztekammern, • Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus (InEK), • Freie Ärzteverbände (Hartmannbund – Verband der Ärzte Deutschlands e. V., N ­ AV-Virchow-­Bund – Verband der niedergelassenen Ärzte Deutschlands e.  V., Marburger Bund  – Verband der angestellten und beamteten Ärztinnen und Ärzte Deutschlands e. V., • Verband der Privaten Krankenversicherung (PKV-Verband) sowie • Verbände der Arzneimittelhersteller (Verband forschender Arzneimittelhersteller e.  V. (VFA), Bundesverband der pharmazeutischen Industrie (BPI), Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller e. V. (BAH)). Als wichtige Schnittstelle zwischen Politik, Leistungserbringern und Kassen agiert der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), in den Vertreter der Krankenkassen-, der Ärzte- und der Krankenhausverbände und der Politik entsandt werden. Gerade für die Fragen, welche kassenspezifischen Leistungen gewährt werden sollen, kommt dem G-BA große Entscheidungsbefugnis zu, gestützt auf Stellungnahmen des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG). Patienteninteressen werden im G-GBA durch den Deutscher Behindertenrat (DBR), die BundesArbeitsGemeinschaft der PatientInnenstellen (BAGP), die Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen e.  V. und den Verbraucherzentrale Bundesverband e.  V. vertreten, allerdings ohne Stimmrecht.

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5 Gesundheitspolitik

Breyer et al. (2013, S. 526–536) wenden das ökonomische Modell der Interessengruppen (zur Übersicht Cullis & Jones, 2009, Kap.  14) insbesondere auf die Berufsverbände im Gesundheitswesen an. Berufsverbände, insbesondere die Ärzteverbände, bieten gegenüber ihren Mitgliedern die Sicherung des Einkommens an. Ihren Patienten gegenüber stellen sie die Sicherung der Behandlungsqualität heraus. Ferner sichern sie den Politikern die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben zu. Die Berufsverbände sind auch Vertragspartner bei Budgetverhandlungen, bestimmen über die Gebührenordnung für Ärzte das Preisgefüge wesentlich mit und üben bei der Facharztzulassung Marktzutrittskontrolle aus. All diese Faktoren deuten auf eine hohe Organisations- und Durchsetzungsfähigkeit der Berufsverbände hin. Nicht mit Schaden ist auch, dass Ärzte in der Ärztekammer Mitglied werden und bei Abrechnung über die GKV Teil der kassen(zahn)ärztlichen Vereinigung sein müssen. Man sollte aber auch ins Kalkül nehmen, dass die Patienten durchaus „kontern“ können. Insbesondere wenn die Gesundheitsregulierung eine zu hohe Beitragsbelastung impliziert, Selbstbehalte als drückend wahrgenommen werden oder die Behandlungsqualität sinkt (z. B. lange Wartezeiten beim Facharzt), wird Gesundheit ein politisch umkämpftes Terrain. Viele schmerzhafte Entscheidungen in der Gesundheitspolitik werden über die Aushandlung zwischen den Verbänden getroffen; der G-BA mit seiner hohen Entscheidungsbefugnis ist dafür das offensichtlichste Zeichen.

5.2.2 Marktversagen in Gesundheitsdienstleistungsmärkten Märkte für Gesundheitsdienstleistungen sind von vielen Anzeichen für Marktversagen geprägt, die daraus folgenden notwendigen wirtschaftspolitischen Eingriffe sind wenige und relativ wenig tief eingreifend, solange man funktionierende Krankenversicherungsmärkte voraussetzen kann (Breyer et al., 2013, S. 181–191). Im Wesentlichen werden folgende Argumente diskutiert: • Ansteckende Krankheiten sind quasi Paradebeispiele eines negativen technologischen externen Effektes. Der Infizierte wird durch die Infektion geschädigt, ohne dass eine Marktbeziehung zugrunde liegt. Selbst wenn er sich durch Präventionsmaßnahmen gegen die Ansteckung zumindest partiell schützen könnte, würden Aufwendungen und Nachteile der Prävention ebenfalls einen negativen externen Effekt implizieren. ­Geringster Eingriff des Staates wäre vermutlich die Meldepflicht für ansteckende Krankheiten. Wirtschaftspolitisch sind natürlich auch Beschränkungen des Verhaltens potenziell Infizierender gerechtfertigt, solange sie nach den differenzierenden Regeln der Verhältnismäßigkeit angemessen sind (Abschn. 2.1.1.1). Auch Impfungen können wirtschaftspolitisch forciert werden, zum Beispiel durch kostenlose Bereitstellung von Impfungen, Prämien für Geimpfte, Besteuerung Nichtgeimpfter und als ultima ratio der gesetzlich durchgesetzte Impfzwang (auch Wein, 2021). Impfungen können das Ansteckungsrisiko bei Dritten reduzieren (positiver technologischer externer Effekt). Der Impfling trägt die Kosten der Impfung, seien es auch nur die erwarteten Kosten von persönlichen Impfbeschwerden oder nicht gänzlich auszuschließenden langfristigen Impfschäden. Er vergleicht diese Kosten mit seinen privaten Vorteilen, geimpft zu sein.

5.2  Ökonomik des Gesundheitswesens









173

Was von ihm jedoch als rational handelnder Akteur vernachlässigt wird, ist, dass seine Impf „leistung“ andere schützen kann. Zu wenige Impfungen sind zu erwarten. In Abhängigkeit von der zu behandelnden Krankheit kann die privatwirtschaftlich rationale Impfquote zu gering ausfallen, wirtschaftspolitische Eingriffe sind dann angezeigt. Für viele Bürger wäre es unerträglich, wenn im Krankheitsfall Mitbürger aus finanziellen Gründen nicht behandelt würden. Allein aus dem Gebot der Menschlichkeit heraus dürfe eine solche Notlage nicht entstehen. Zumindest eine wie auch immer zu definierende Mindestversorgung sei zu gewährleisten, im Zweifel finanziert aus Steuergeldern. Dieser positive psychologische externe Effekt rechtfertigt ein Eingreifen des Staates. Er kann die Mindestversorgung als Sach- oder Geldtransfer herbeiführen. Eine Versicherungspflicht allein kann nicht weiterhelfen, da es am finanziellen Vermögen fehlt. Bestehende Infrastrukturen zur Behandlung von Krankheiten stellen Optionsgüter dar. Erkrankt man, gibt es einen Arzt vor Ort oder ein Krankenhaus ist erreichbar. Solange man nicht erkrankt, trägt man nicht zu Finanzierung des Optionsgutes bei: Arzthonorare oder Fallpauschalen im Krankenhaus, jeweils über den Umweg der eigenen Krankenversicherung, werden nur im Behandlungsfall erhoben. Zwar könnte man diese Form des Marktversagens durch den Zwang zum Abschluss von sogenannten Optionsverträgen schließen, einfacher scheint jedoch, Mindestkapazitäten durch staatliche Finanzierung abzusichern. Allein aus diesem Grund wird die Finanzierung der Investitionskosten für Krankenhäuser im Rahmen der dualen Krankenhausfinanzierung plausibel. Es ist fraglich, ob Individuen bei der Nachfrage nach medizinischen Leistungen rationale Entscheidungen treffen (Nichtrationalität). Völlig klar ist, dass Bewusstlose oder Geisteskranke keine rationalen Entscheidungen fällen, deswegen überträgt man die Entscheidung auf Angehörige oder Vormunde. Bei scherwiegenden Krankheiten, insbesondere bei lebensbedrohenden, würde man selbst oder innerhalb der Familie fast jeden Preis aufbringen, um eine Behandlung zu bekommen. Insofern ist es unabdingbar, gar nicht in diese Zwangslage zu kommen, indem man für diesen Worst Case versichert ist. Die Verhaltensökonomik liefert weitere Argumente für nicht-rationales Verhalten im Zusammenhang mit Gesundheit und Krankheit: a) kleine Wahrscheinlichkeiten, zum Beispiel für das Auftreten seltener Krankheiten, werden falsch eingeschätzt, b) Entscheidungen in verzerrenden Kontexten gehen schief und c) unangenehme Entscheidungen/Situationen werden gern aufgeschoben. Lösungsansätze wären hier, die Betroffenen zu bestimmten Handlungen zu verpflichten (zum Beispiel Pflichtversicherung) oder als Regel die erwünschte Handlung festzulegen, aber die Möglichkeit des opt-outs zuzulassen (Nudging). Unterschätzen insbesondere junge Menschen die Kosten der Krankheit im Alter und nehmen deshalb den Nutzen einer Kranken- und vor allem einer Pflegeversicherung zu wenig wahr (Fall der Nutzenunkenntnis)? Völlig auszuschließen ist diese Gefahr vermutlich nicht. Liegt die Mindernachfrage an fehlenden Informationen, so kann man

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5 Gesundheitspolitik

diese Informationen zur Verfügung stellen. Bei fehlendem Einsichtswillen wird Zwang wohl unvermeidlich sein. Fehlt es an finanziellen Möglichkeiten zur Versicherung, muss die Versicherungsnachfrage subventioniert werden. • Als Teil der Qualitätsunkenntnis ist zu diskutieren, ob die Nachfrager in den Gesundheitsdienstleistungen die Qualität der Leistungsanbieter hinreichend einschätzen können. Häufig werden medizinische Leistungen nur unregelmäßig in Anspruch genommen, Erfahrungen über die Qualität der Anbieter fallen somit selten an. Aus den Bewertungen Anderer auf die Qualität des Leistungsanbieters zu schließen, sollte sich meist auch verbieten, da Krankheitsbilder doch sehr individuell sind. Entscheidender ist, dass der Erfolg medizinischer Behandlungen zwar auch von der Qualität des Leistungsanbieters abhängig sein kann, aber auch zufällige Faktoren und das Verhalten der Patienten eine Rolle spielen. Patienten können daher aus der Behandlung selbst normalerweise nicht lernen, ob hohe Qualität „geliefert“ wurde. Ärztliche Behandlung wird zum Vertrauensgut. Gerade bei Vertrauensgütern besteht das höchste Ausmaß an Qualitätsunkenntnis und deshalb wird der Reputationsmechanismus am wenigsten weiterhelfen. Wirtschaftspolitisch greifen hier vermutlich staatliche Mindestqualitätsvorschriften, vor allem beim Arzt über die Pflicht zur Approbation. Diese Pflicht stellt eine subjektive Marktzugangsbeschränkung dar, die relativ leicht verfassungsrechtlich begründbar ist (Abschn. 2.1.2.1). In der Summe zeigen die Ausführungen, dass berechtigte Marktversagensargumente greifen, die erforderlichen staatlichen Eingriffe jedoch auf Mindestqualitätsstandards, Mindestversorgung und/oder Pflichtversicherung beschränkt werden können. Freilich setzt diese „Minimallösung“ voraus, dass sich (private) Krankenversicherungsmärkte als funktionsfähig erweisen.

5.2.3 Marktversagen in Krankenversicherungsmärkten Die Existenz von Krankenversicherungsmärkten können bei den Versicherten Nutzengewinne erzeugen, da sie die Unsicherheit über die Tragfähigkeit von potenziellen Krankheitskosten reduzieren, wenn nicht sogar beseitigen können; risikoaverse Individuen ­werden sich bei aktuarisch fairen Prämien vollständig absichern (Abschn. 5.2.3.1). Der vielfach zu beobachtende und sicher mit guten Gründen weit verbreitete Grundkonsens, dass „komme, was wolle“ der Sozialstaat die Kosten im Falle einer Krankheit tragen wird, erzeugt den Fehlanreiz, sich die Prämien für eine Krankenversicherung sparen zu wollen (Trittbrettfahrerproblem, Abschn. 5.2.3.2). Krankenversicherer könnten schlechter als ihre potenziellen Versicherten über das zu versichernde Risiko informiert sein und/oder nicht erkennen können, ob die tatsächliche Leistungsinanspruchnahme wirklich notwendig ist (asymmetrische Informationsverteilung zu Lasten der Versicherer mit adverser Auslese

5.2  Ökonomik des Gesundheitswesens

175

und moralischem Risiko, Abschn. 5.2.3.3). Leistungsanbieter könnten medizinische Leistungen erbringen, ohne dass diese medizinisch erforderlich sind, allein um ihr Einkommen zu steigern (Abschn.  5.2.3.4). Versicherungsnehmer haben einen großen Anreiz, in der Krankenversicherung mit über die Zeit konstanten Prämien rechnen zu können. Sie wollen mit dem Versicherungsvertrag das Risiko ausschließen, in der Zukunft schwer krank zu werden und dann die für sie relevante risikogerechte Prämie nicht mehr zahlen zu können (Prämienrisiko, Abschn.  5.2.3.5). Im Wettbewerb jedoch ist es schwierig, dieses Versprechen einhalten bzw. ausschließen zu können, dass opportunistische Versicherer die langfristige Abhängigkeit des Versicherten zu ihren Gunsten ausnützen. All diese Argumente werden ausführlich bei Breyer und Buchholz (2021, S. 258–270) sowie bei Breyer et al. (2013, S. 191–221) erläutert.

5.2.3.1 Vorteile der Existenz eines Krankenversicherungsmarktes Die grundsätzlichen Nutzengewinne durch Krankenversicherungsmärkte entstehen, weil Versicherer Risiken poolen können und Versicherungsnehmer meist Risiken meiden wollen (Risikoaversion). Abb. 5.3 beschreibt die Situation eines Individuums, das in der Zukunft von einer Krankheit betroffen sein könnte, die zu Krankheitskosten führen würde. U(Y) D

U(Yg)

E

U(VV) EU

U(Yk)

B

C

P` P

0

Yk

EW VV

Yg

Abb. 5.3  Erwartungsnutzen einer Krankenversicherung. (Quelle: Eigene Darstellung)

Y

176

5 Gesundheitspolitik

Unzweifelhaft führen Krankheiten auch vielfach zu weiteren Nutzeneinbußen, wie zum Beispiel durch Schmerzen oder (dauerhafte) Beschränkungen des Lebens, die durch einen Versicherungsvertrag nicht ersetzt werden (können). In diesem Modell bleiben diese Effekte außen vor. Bleibt eine Person gesund, erreicht sie in der Zukunft ein Einkommen Yg, im Falle der Krankheit geht das Einkommen auf Yk zurück. Die Differenz zwischen Yg und Yk entspricht den Krankheitskosten M. Mit der Wahrscheinlichkeit π tritt die Krankheit ein, woraus dann automatisch Krankheitskosten ausgelöst würden. Die Gegenwahrscheinlichkeit, nicht krank zu werden, beträgt dann (1 − π). Beispielsweise könnte π den Wert von ¼ betragen, damit wäre (1 − π) gleich ¾. Unterstellt man eine Nutzenfunktion des Einkommens Y entsprechend der Abb.  5.3, impliziert das sichere Einkommen im Krankheitsfall Yk einen Nutzen U(Yk) und das sichere Einkommen bei Gesundheit Yg einen Nutzen U(Yg). Im Durchschnitt kann diese Person ein Einkommen ¾Yg + ¼Yk erwarten, was dem Erwartungswert EW auf der Abszisse der Abb. 5.3 entspricht. Folgt man der Erwartungsnutzentheorie, erbringt die unsichere Zukunft mit der Möglichkeit, gesund zu bleiben, aber auch der Gefahr, krank zu werden, einen erwarteten Nutzen, der im Ergebnis (wenn die Axiome der Erwartungsnutzentheorie gelten) zu EU = ¾ U(Yg) + ¼ U(Yk) führt (Punkt B in Abb. 5.3). Würde die Wahrscheinlichkeit, gesund zu bleiben, ansteigen, „wandert“ man entlang der Hilfslinie CD nach rechts oben, bei höherer Erkrankungswahrscheinlichkeit nach links unten. Könnte dieses Individuum einen Krankenversicherungsvertrag schließen, der komplett die Krankheitskosten deckt, und dafür eine aktuarisch faire Prämie P abverlangt (Punkt VV auf der Abszisse wird erreicht), würde der Punkt E auf der Nutzenfunktion U(Y) und damit der sichere Nutzen U(VV) erreicht. Dieser sichere Nutzen ist höhere als der unsichere Nutzen ohne Versicherung (U(VV) > EU), das Individuum würde sich versichern. Die aktuarisch faire Prämie P entspricht dem Schadenserwartungswert, also ¼ M; Kosten für Vertrieb, Verwaltung oder gar Gewinnzuschläge gehen somit nicht in die Prämienkalkulation ein. Selbst bei einer höheren Prämie wäre diese Person durchaus noch bereit, sich zu versichern. Erst wenn mehr als die Prämie P′ verlangt würde, wird selbst diese risikoscheue Person auf einen Versicherungsschutz verzichten (U(VV′)  Yg″ > Yg′). Je größer die Unsicherheit, umso besser muss es einem im Nichtschadensfall gehen! Im Falle von Risikoneutralität reichen konstante Einkommenszuwächse, die Indifferenzkurve würde linear verlaufen. Bei Risikofreudigkeit bereiten ungedeckte Krankheitskosten „Freude“, die Kompensation im Falle von Gesundheit kann immer kleiner ausfallen; die Indifferenzkurve wäre konkav. Mit der Abb. 5.6 wird die optimale Krankenversicherungsentscheidung des Individuums deutlich. Es sind exemplarisch drei konvex verlaufende Indifferenzkurven U A ,  U B und U c eingezeichnet. Die durch A gehende Kurve U A impliziert den Zustand der Nichtversicherung, der Er-

5.2  Ökonomik des Gesundheitswesens

179

Yk 45⁰

π

C

A

Y0-M

0

Yg`

Yg``

Yg```

Y0

Yg

Abb. 5.5  Zweizustandsdiagramm und Risikoaversion. (Quelle: Eigene Darstellung)

wartungsnutzen wäre hier am geringsten. Die durch B gehende U B ist ein Teildeckungsvertrag, der einen höheren erwarteten Nutzen erzeugt als ohne Versicherung. Der höchstmögliche Nutzen wird in C erreicht, wo gerade die Indifferenzkurve U c die Versicherungsmarktgerade berührt. In C befindet man sich auf der 45°-Linie, also sind beide Einkommen gleich, unabhängig davon, ob man krank wird oder gesund bleibt. Wiederum wird also ein Volldeckungsvertrag gewählt, der nicht nur der Nichtversicherung, sondern auch jeder Teildeckung vorgezogen wird.

5.2.3.2 Trittbrettfahrerverhalten Der gesellschaftliche Grundkonsens, dass finanzielle Bedürftigkeit kein Grund sein dürfe, im Krankheitsfall keine medizinische Behandlung zu bekommen, kann einen Fehlanreiz erzeugen, sich nicht zu versichern. M.  a.  W.: Man verlässt sich auf den Sozialstaat/die Solidargemeinschaft und unterlässt deshalb die private Vorsorge (Trittbrettfahrerproblem).

180

5 Gesundheitspolitik

Yk 45⁰

π

C

B

Y0-M

0

A

Y0

Yg

Abb. 5.6  Zweizustandsdiagramm und optimale Krankenversicherungsnachfrage. (Ähnlich Breyer et al., 2013, S. 194) Plustext 5.5: Trittbrettfahrerverhalten im Zweizustandsdiagramm In Abb. 5.7 wird wiederum ein Zweizustandsdiagramm dargestellt, mit dem Einkommen ohne Krankheit Yg (=  Y0) und bei Krankheit Yk (zugleich Punkt A im Falle der Nichtversicherung), den Behandlungskosten M, der Versicherungsmarktgeraden C′A, der Indifferenzkurve U c ¢ des risikoaversen Individuums. Optimal wäre hier erneut der Volldeckungsvertrag in C′. Neu sei, dass der gesellschaftliche Konsens bestehe, das Individuum müsse mindestens das Mindestexistenzeinkommen Yˆ erhalten. Im Krankheitsfall würde jedoch das Existenzeinkommen mit Y0 − M unterschritten. Der Staat soll diese Lücke mit der Sozialhilfe S schließen, die hier Yˆ  −(Y0 − M) = ( Yˆ +M − Y0) betragen müsste, das Individuum muss nicht mehr wählen zwischen „verhungern“ und „sich behandeln“ lassen. Neuer Ausgangspunkt, der Sozialhilfezustand, wäre der Punkt B. (Die Finanzierung der Sozialhilfe soll so organisiert sein, dass dies keine (spürbare) Rückwirkung auf das Individuum habe). Punkt B ist nur eine Teildeckung, entsprechend käme nur eine Versicherungsnachfrage entlang der Marktgeraden BC in Frage. Üblicherweise wird der Staat im Falle der Existenz einer privaten Krankenversicherung die Sozialleistung kürzen, die Versicherungsleistung wird auf die Sozialhilfe angerechnet. Im Falle der

5.2  Ökonomik des Gesundheitswesens

181

Yk 45⁰

C

C`

Y

B B`

A

Y0-M

0

Y0

Yg

Abb. 5.7  Trittbrettfahrerverhalten in der Krankenversicherung. (Ähnlich Breyer & Buchholz, 2021, S. 267) Vollanrechnung verschiebt sich der Ausgangspunkt auf B′ und die „neue“ Versicherungsmarktgerade B′C′ wird relevant. In Abb. 5.7 würde das Individuum mit dem Volldeckungsvertrag C′ die Indifferenzkurve U c erreichen, die jedoch niedriger verläuft als die, wenn er sich nur auf die Sozialhilfe verlassen würde (Indifferenzkurve U B ). Denkbar wäre auch, dass die Indifferenzkurve in C′ oberhalb der durch B verlaufenden liegt, dann fände eine Versicherungsnachfrage statt, sogar als Volldeckungsvertrag. Bei hoher Risikopräferenz (sehr flach verlaufenden Indifferenzkurven) wäre eine private Versicherungsnachfrage wahrscheinlich, das Trittbrettfahrerproblem würde entfallen. Um ein mögliches Trittbrettfahrerproblem zu umgehen, könnte man eine Pflicht zur Krankenversicherungsnachfrage einführen und/oder die Versicherungsprämie subventionieren.

Man kann zeigen, dass hier im eigentlichen Sinne kein Marktversagen vorliegt, sondern der (berechtigte) gesellschaftliche Wunsch, Nichtbehandlung auf jeden Fall zu verhindern, Fehlanreize induziert.

182

5 Gesundheitspolitik

5.2.3.3 Asymmetrische Informationsverteilung zu Lasten der Versicherer In der Versicherungsökonomik wird insbesondere diskutiert, was passiert, wenn Versicherer schlechter informiert sind als ihre Versicherungsnehmer. Trifft dieses Problem vor Vertragsschluss auf, so läge die Gefahr auf der Hand, dass Versicherer sich am durchschnittlichen Risiko orientieren und entsprechende Durchschnittsprämien setzen würden. Zu diesen hohen Prämien würde es sich für Versicherungsnehmer mit geringer Schadenswahrscheinlichkeit (l-Risiken) nicht lohnen, einen Versicherungsvertrag abzuschließen. Die Kalkulation der Versicherer stellt sich als zu optimistisch heraus, der Versicherer wird gezwungen, seine Prämie zu erhöhen. Diese höheren Prämien regen wiederum Versicherungsnehmer mit relativ geringer Schadenswahrscheinlichkeit an, auf den Versicherungsschutz zu verzichten. Es entwickelt sich eine Spirale mit immer höheren Prämien und immer höherem Anteil von Versicherungsnehmern im Bestand, die häufig Schäden verursachen (h-Risiken). Es kommt zu einer adversen Auslese (Akerlof, 1970). Im Krankensicherungsmarkt werden Krankheitskosten zu wenig abgesichert; im Extremfall versichert sich niemand, obwohl jeder gerne versichert wäre. Nach Vertragsschluss sollen die Versicherer nicht dazu in der Lage sein, zwischen berechtigten Inanspruchnahmen des Versicherungsvertrages und unberechtigten zu trennen. Versicherte lassen sich behandeln und verursachen damit unnötige Kosten (moral hazard, hidden action; Arrow, 1963, 1985). Die Versicherer könnten auf dieses Problem wiederum nur mit höheren Prämien reagieren; das Problem der adversen Auslese verstärkt sich.

Kasten 5.2: Adverse Auslese im Modell (Rothschild & Stiglitz, 1976; Wilson, 1977; zusammenfassend Breyer et al., 2013, S. 200–208)

Es wird im Folgenden unterstellt, dass es zwei verschiedene Typen von Versicherungsnehmern gibt, die mit geringer Schadenswahrscheinlichkeit (l-Risiken) und die mit hoher (h-Risiken). In Abb. 5.8 werden beispielhaft die Indifferenzkurven beider Typen eingezeichnet, die relativ flach verlaufende U 2h und die relativ steil verlaufende U 2l ,  die sich im Punkt A schneiden. Beide sollen im gleichen Maße von einer Einkommenseinbuße im Krankheitsfall von c betroffen sein. Das h-Risiko verlangt einen relativ hohen Ausgleichsbetrag für den Fall, dass der Versicherungsnehmer gesund bleibt: dh, um auf dem gleichen Nutzenniveau zu bleiben. Für ihn ist definitionsgemäß die Wahrscheinlichkeit, krank zu werden, relativ hoch. Beim l-­ Risiko reicht der geringe Betrag dl aus, weil für den Versicherten Krankheit eher nicht relevant werden dürfte. Unterschiedliche Schadenswahrscheinlichkeiten führen zu steilen (l-Risiken) und flachen (h-Risiken) Indifferenzkurven, solange alles andere gleichbleibt. Überträgt man die Existenz beider Risikotypen in das Zweizustands-Diagramm mit unterschiedlichen Versicherungsmarktgeraden, ergibt sich Abb. 5.9. Vom Ausstattungspunkt A ergibt sich die Versicherungsmarktgerade von A nach Cl, die relativ steil verläuft (bl). Weil für diese Risiken die Schadenswahrscheinlichkeit relativ

5.2  Ökonomik des Gesundheitswesens

183

Yk

-c A

0 +dl

Yg

+dh

Abb. 5.8  Indifferenzkurven nach Risikotypen. (Quelle: Eigene Darstellung)

gering ist, reicht für den Volldeckungsvertrag in Cl, die niedrige Prämie Pl. Für die hohen Risiken gilt die Versicherungsmarktgerade bh, was mit einer höheren Prämie Ph im Volldeckungsvertrag Ch verbunden ist. Entsprechend der nach Schadenswahrscheinlichkeiten geneigten Indifferenzkurven, für l-Risiken steil verlaufend und für h-Risiken flach verlaufend, induzieren erwartungsnutzenmaximierende Volldeckungsverträge in Cl und Ch, wenn die Versicherer zwischen den beiden Risikotypen exakt unterscheiden können. Bei vollständiger Information liegt ein effizientes separierendes Marktgleichgewicht vor.

184

5 Gesundheitspolitik

Yk 45°

bl

bh

Cl

Ch

A

Y0-M

0

Pl

Y0

Yg

Ph

Abb. 5.9  Separierendes Gleichgewicht bei vollständiger Information. (Ähnlich Breyer et  al., 2013, S. 202)

Können die Versicherer die Risiken nicht einschätzen, müssten sie auch die Nachfrage von h-Risiken nach dem Kontrakt Cl hinnehmen (Abb. 5.10). Zu der niedrigen Prämie Pl wäre ein solches vereinendes Gleichgewicht nicht finanzierbar. Die Versicherer sehen dies voraus und bieten daher Cl gar nicht an (Ch würde zwar angeboten, wäre aber für gute Risiken unattraktiv). Denkbar wäre, dass ein Versicherer mit der Police Z in den Markt kommt (Abb.  5.10). Police Z als Teildeckungsvertrag liegt auf der Versicherungsmarktgeraden AP, sei aktuarisch fair kalkuliert und daher selbstverständlich auch kostendeckend. Für die h-Risiken stellt sich eine Nutzenverbesserung ein (höhere In-

5.2  Ökonomik des Gesundheitswesens

185

Yk 45°

bl P bh

Cl

Ch

· Z

· Q

A

Y0-M

0

Pl

Y0

Yg

Ph

Abb. 5.10  Uninformierte Versicherer – Kein Gleichgewicht mit Voll- oder Teildeckungsverträgen. (Ähnlich Breyer et al., 2013, S. 204)

differenzkurve) im Vergleich zur nicht im Markt beständigen Lösung bei vollkommener Information (Ch), für die l-Risiken wäre dieser Kontrakt schlechter. Allerdings wäre der Kontrakt Z im Wettbewerb nicht haltbar, da ein Angebot des Vertrages Q für die l-Risiken höhere Nutzen implizieren würde; die h-Risiken würden sich schlechter stellen. Q liegt unterhalb bl, wäre also kostendeckend. Alle Kontrakte im schraffierten Bereich der Abb.  5.10 sind in der Lage, Z zu verdrängen, ohne Verluste zu machen. Z als vereinende Lösung scheitert. Abb. 5.11 zeigt eine Lösung auf, um das Problem asymmetrischer Informationsverteilung zu „neutralisieren“. Ein Versicherer könnte zwei verschiedene Ver-

186

5 Gesundheitspolitik

Yk 45°

bl P(λgroß) bh

P(λklein) Cl

·

V

·

Ch

·

· T

·

A

Y0-M

0

`

Pv

Y0

Yg

Abb. 5.11  Trennende Gleichgewichte bei asymmetrischer Information. (Breyer et al., 2013, S. 205)

sicherungsverträge anbieten, den Vollversicherungsvertrag Ch und den Teildeckungsvertrag Cl′. Für die h-Risiken liegen beide Kontrakte auf der Indifferenzkurve U 2h . Trotz Indifferenz wird vereinfachend unterstellt, dass Individuen mit hohen Schadenswahrscheinlichkeiten den Volldeckungsvertrag wählen. Teildeckungsvertrag Cl′ ist für die l-Risiken die bessere Alternative. Es würde sich ein separierendes Gleichgewicht mit Ch und Cl′ einstellen, und jeder Risikotyp offenbart freiwillig „seinen wahren Charakter“ (Signalling-Gleichgewicht), das Problem der adversen Auslese wäre gelöst. Fragwürdig ist jedoch, ob dieses Signalling-Gleichgewicht im Wettbewerb bestand hat, was im Modell vom Anteil der l-Risiken λ abhängt. Ist dieser Anteil hoch, in Abb. 5.11 gilt die Versicherungsmarktgerade P(λgroß)A, so wäre ein Kontrakt T

5.2  Ökonomik des Gesundheitswesens

187

kostendeckend (der zugehörige Volldeckungsvertrag V impliziert eine relativ geringe Prämien PV). T liegt auf einer höheren Indifferenzkurve für die l-Risiken als Cl′, und auch für die h-Risiken wäre der Teildeckungsvertrag T besser. Das Signalling-­Gleichgewicht wird durch Pooling T verdrängt. Bei fallendem Anteil der l-Risiken drehen sich die Versicherungsmarktgeraden AP nach links unten. Sobald diese Gerade unterhalb U 21 verläuft, gibt es keinen Pooling-Vertrag mehr, der das separierende Gleichgewicht mit Ch und Cl′ verdrängt. Zum Beispiel gilt dies für die Versicherungsmarktgeraden P(λklein)A.  Der Wettbewerb zerstört die Signalling-­ Lösung des Marktes für das Problem der adversen Auslese nicht mehr. Allerdings ist dies eine Second-best-Lösung, da bei vollständiger Information die l-Risiken mit dem Vertrag Cl ein höheres Nutzenniveau erreichen würden.

Gegen die Gefahr einer adversen Auslese, die durch unvollständig informierte Versicherer und besser informierte Versicherer verursacht wird, sprechen eine Vielzahl von Argumenten: • Die Versicherer können von den potenziellen Versicherungsnehmern vorab verlangen, ihre Vorerkrankungen offenzulegen. Sie legen ihnen einen Fragebogen vor, in dem die individuelle Krankheitsgeschichte abgefragt wird. Bei Unklarheiten muss der Versicherungsnehmer zu einem unabhängigen Arzt gehen, der die Relevanz von Vorerkrankungen näher untersucht. • Verschweigt der Antragsteller fahrlässig oder vorsätzlich relevante Informationen (Obliegenheitsverletzung), kann es sein, dass der Versicherungsschutz nicht greift. • Risikoerhöhende Faktoren wie Alkohol- oder Zigarettenkonsum sowie fehlender Impfschutz sind durchaus mit medizinischen Tests ermittelbar. Gentests könnten ebenfalls Hinweise geben, welche Krankheiten vielleicht zu erwarten sind (zur Frage der Gerechtigkeit von Gentests Abschn. 5.2.1). • Mit der Akzeptanz von Teil- bzw. Volldeckungsverträgen können l-Risiken unter Umständen glaubwürdig ihr wahres Risiko offenbaren. • Viele zukünftige individuelle Krankheitsrisiken sind auch dem Versicherungsnehmer nicht bekannt. Die Gefahr der adversen Auslese bezieht sich jedoch nur auf einseitig bekannte Risiken. Insgesamt werden die Gefahren der adversen Auslese deutlich überschätzt. Risikogerechte Prämien sind ex ante relativ leicht kalkulierbar. Sind jedoch hohe Krankheitsrisiken stark mit geringem Einkommen/Vermögen korreliert, sprechen verteilungspolitische Gründe gegen eine risikogerechte Tarifierung. Moralisches Risiko kann man in ein Ex-ante- und ein Ex-post-Problem aufgliedern. Versicherungsnehmer könnten zu wenig Anreize haben, die Schadenswahrscheinlichkeit zu senken: Sie rauchen (zu viel), sie essen und trinken zu üppig, sie haben zu wenig Be-

188

5 Gesundheitspolitik

wegung, impfen sich gar nicht oder üben Extremsportarten aus. Nach Schadenseintritt haben sie zu geringe Anreize, die Kosten der Versorgung klein zu halten, also unnötig zum Arzt oder ins Krankenhaus zu gehen, unnötige Medikamente einzunehmen oder Therapieanordnungen zu ignorieren (compliance/Adhärenz). Dass Versicherungsnehmer unnötige Leistungen in Anspruch nehmen, ist vermutlich eher auf dem Gebiet der ambulanten Versorgung relevant. Versicherte gehen zum Arzt, obwohl kein ernsthaftes medizinisches Problem vorliegt. Eher anekdotisch wird argumentiert, dass der Sozialkontakt wichtiger sei als die medizinische Hilfe. Auch bei der Medikamentenversorgung mag es an Anreizen fehlen, sparsam vorzugehen. Allerdings müssen die Versicherten in der GKV Selbstbehalte aufbringen, welche in gegenteiliger Richtung wirken. Bei der stationären Versorgung ist die Gefahr des moralischen Risikos deutlich geringer, da die größere Sachkenntnis der Ärzte hier sehr begrenzend wirken dürfte. Versicherer könnten mehr prüfen oder der Staat könnte gesundheitsschädliche Aktivitäten (stärker) besteuern (sin taxes). Kasten 5.3: Moralische Risiko im Modell (Gravelle & Rees, 2004, S. 540–544)

Im Modell wird unterstellt, dass inhomogene Versicherungsnehmer in einem Punkt bestehen: Jeder kann das Ausmaß seiner Schadensvermeidung selbst festlegen. Die Schadenseintrittswahrscheinlichkeit πhängt vom Ausmaß der Schadensvermeidung a ab; es gelte somit

0 £ p a £ 1.

(5.8)

Vereinfachend werden nur zwei mögliche Vermeidungsausmaße unterstellt, die zu den Kosten a1 und a0 führen, und für das geringe Vermeidungsausmaß wird zusätzlich a0 = 0 vorausgesetzt. Folglich gilt:

p a1 < p ao .

(5.9)

Ohne den Abschluss eines Versicherungsvertrages erhält das Individuum • ohne Krankheit das Einkommen Y0 − a und • mit Krankheit das Einkommen Y0 − a − M. Die Prämie P soll von der Höhe der Schadensersatzleistung I abhängig, folglich kann man sie schreiben als P(I). Wird ein Versicherungsvertrag eingegangen, verändern sich die Einkommen auf • Y0 − a − P(I) ohne Krankheit und • Y0 − a − P(I) − M + I mit Krankheit. In der Abb. 5.12 ändert sich der Ausgangszustand ohne Versicherung von A0 auf A1, da in beiden Zuständen die Vermeidungskosten a1 anfallen, falls in schadenver-

5.2  Ökonomik des Gesundheitswesens

189

Yk

bh

45°

b

bn

C Ch



Cn

A0

Y0-M Y0-a1-M

0

A1

n



Ph

Y0-a1 Y0

Yg

Pn

Abb. 5.12  Moralisches Risiko. (Quelle: Gravelle & Rees, 2004, S. 541)

meidenden Aktivitäten nach Vertragsschluss investiert wird. Wird das hohe Vermeidungsausmaß h realisiert, gilt die Versicherungsmarktgerade A1bh, auf der alle Kontrakte mit aktuarisch fairen Prämien für ein hohes Vermeidungsniveau liegen. Entlang der Versicherungsmarktgeraden A0bn werden aktuarisch faire Kontrakte angeboten, wenn die niedrige Vermeidungsaktivität gelten würde; vereinfachend soll sie ja gleich Null sein. Bei vollständiger Information sind die Versicherer auch bereit, diesen beiden Gruppen jeweils die Volldeckungsverträge Ch und Cn anzubieten. Mit hoher Vermeidungsaktivität h ergibt sich – bei gegebener Risikoneigung – die relativ steil verlaufende Indifferenzkurve U 2h in Abb. 5.13, da für den Verlust an

190

5 Gesundheitspolitik

Yk

-c A

0 +dh

Yg

+dn

Abb. 5.13  Indifferenzkurven risikoaverser Individuen bei unter unterschiedlicher Schadenswahrscheinlichkeiten. (Quelle: Eigene Darstellung)

Einkommen aufgrund geringer Schadenswahrscheinlichkeit im Krankheitsfall (-c) eine relativ geringe maximale Zahlungsbereitschaft + dh vorliegt, um das Nutzenniveau konstant zu halten. Bei niedriger Vermeidungsaktivität n mit relativ hoher Schadenswahrscheinlichkeit muss der Zuwachs an Risiko mit einer höheren Ausgleichzahlung + dn „erkauft“ werden; folglich verläuft die Indifferenzkurve U 2n flacher als U 2h . Für Versicherungsnehmer mit der hohen Vermeidungsaktivität gelten somit in Abb. 5.12 die relativ flach verlaufenden Indifferenzkurven, z. B. U 2n und U 4n ;  mit dem Volldeckungsvertrag Cn wird ihr höchstmöglicher Nutzen bei der nur

5.2  Ökonomik des Gesundheitswesens

191

für sie verfügbaren Versicherungsmarktgeraden bhA0 erreicht. Bei hoher Vermeidungsaktivität gelten die relativ steil verlaufenden Indifferenzkurven, z. B. U 2h , der höchstmögliche Nutzen stellt sich durch den Volldeckungsvertrag Ch ein. Kann der Versicherer nicht zwischen den tatsächlich ausgeübten Vermeidungsaktivitäten unterscheiden, werden alle Versicherungsnehmer den „günstigen“ Vertrag zur Prämie Pn nachfragen wollen. Dieser „Pooling“-Vertrag wäre aber nur kostendeckend, wenn alle Versicherungsnehmer die hohe Vermeidungsaktivität ausüben. Da der Versicherer diese Aktivitäten nicht beobachten kann, haben die Versicherungsnehmer keine Vorteile aus höheren Vermeidungsaktivitäten. Alle „fallen“ in den Ausgangszustand A0 zurück. Die entlang der Versicherungsmarktgeraden bA0 denkbaren Kontrakte sind zwar kostendeckend, Vermeidungsaktivitäten erfolgen jedoch nicht; das Problem des moralischen Risikos bleibt bestehen.

5.2.3.4 Externes moralisches Risiko oder anbieterinduzierte Nachfrage Bei der Nachfrage nach Gesundheitsdienstleistungen ist plausibel, dass die Patienten stark vom Verhalten der Leistungsanbieter abhängig sind: Arzt oder Krankenhaus nehmen geäußerte Beschwerden der Patienten auf und schlagen Therapien vor. Mehr Therapien verbessern jedoch auch die Einnahme- und Einkommensmöglichkeiten der Leistungsanbieter. Wird daher mehr behandelt als notwendig und werden damit zu viele Kosten erzeugt? Das Problem des moralischen Risikos „wandert“ vom Nachfragenden zum Leistungsanbieter, welcher damit als Anbieter selbst über die Nachfrage entscheiden würde. In der Abb. 5.14 gibt es drei Akteure: Die Krankenversicherung, der Versicherte, der zum behandlungsbedürftigen Patienten werden kann, sowie die Ärzte bzw. Krankenhäuser als zentrale Akteure auf der Angebotsseite für Gesundheitsdienstleistungen. Vereinfachend soll hier nur der Versicherte Prämien entrichten, aus denen die Krankenversicherer die Kosten der Leistungsanbieter, Ärzte und Krankenhäuser als zentralen Akteure der Erbringung von Behandlungsleistungen, erstatten. Neben diesen primären Effekten gibt es mindestens zwei sekundäre Effekte. Erstens ist der medizinische Outcome z. B. vom Anstrengungsniveau des Leistungsanbieters abhängig (Qualitätsunkenntnis, Abschn. 5.2.2). Zweitens stellen die zu erstattenden Kosten keine eindeutige, gegebene Größe dar, insbesondere wenn die Leistungsanbieter mit höheren erstatteten Kosten auch ihr Einkommen bzw. Nutzen steigern können. Sie könnten einfach unnötige oder wenig erfolgversprechende Leistungen anordnen, sei es in der Diagnostik oder in der Therapie. Wenn die zusätzlichen Kosten dafür auf der Leistungsanbieterseite geringer ausfallen als die erwarteten Mehreinnahmen, würden gewinnmaximierende Leistungsanbieter dies tun. Verschärfend wirkt sich aus, wenn die Zahl der Leistungsanbieter zunimmt. Der vorhandene „Kuchen an Patienten“ verteilt sich auf viele. Folglich sucht man als Leistungsanbieter nach neuen „Behandlungsmöglichkeiten“. Darüber hinaus erzeugt die moderne Gerätemedizin mit hohen fixen Anschaffungskosten Anreize, die Geräte besser „auszu-

192

5 Gesundheitspolitik Prämien Versicherter/ Potenzieller Patient -> Outcome (Sorgfalt, Zufall….) Behandlung

Krankenversicherung

Kostenerstattung

Primäreffekte Leistungsanbieter (Arzt/Krankenhaus)

Sekundäreffekte

-> Aufwand, Einkommen

Abb. 5.14  Externes Moralisches Risiko bzw. anbieterinduzierte Nachfrage. (Quelle: Eigene Darstellung)

nutzen“. Das MRT wird eingesetzt, obwohl vielleicht medizinisch „erst einmal abwarten“ genauso vertretbar wäre. Anbieterinduzierte Nachfrage würde man vor allem erwarten, a) in Fachrichtungen mit hohen gerätespezifischen Fixkosten, b) bei jungen Ärzten, die unter starkem Kostendruck stehen, c) bei hoher Ärztedichte, d) wenn die geltenden Abrechnungsregeln Fixkosten unterfinanzieren und e) wenn aufgrund eines unzureichenden Versicherungsschutzes die Versichertennachfrage sinkt. Externes moralisches Risiko bzw. anbieterinduzierte Nachfrage ist letztendlich auch ein Problem unzureichender Information. Patienten wissen nicht, dass Leistungen unnötig sind. Sie haben aber auch meist keinen Anreiz, diese Formen des Fehlverhaltens aufzudecken, da sich die Vorteile insgesamt geringerer Kosten auf die Vielzahl der Versicherten verteilen. Selbst mehr Transparenz darüber als heute, was die Leistungsanbieter abrechnen, würde diesen mangelnden Kontrollanreiz nicht beseitigen. Verschiedene Lösungsanreize für diese Probleme werden diskutiert bzw. praktiziert: • Kontrollen. Die Krankenkassen könnten bei den Leistungen der Anbieter ihre Notwendigkeit eingehend prüfen. Waren die ergriffenen und abgerechneten Diagnoseschritte vor dem Hintergrund der beobachtbaren Beschwerden erforderlich? Sind die teuren Therapien bei der diagnostizierten Krankheit gerechtfertigt? Zwar hat die Krankenkasse vielfältige Abrechnungsdaten, um statistische Analysen durchzuführen. Um aber einen Abrechnungsmissbrauch im Einzelfall nachweisen zu können, muss meist viel Aufwand betrieben werden. Auch müssten u. U. Patienten noch einmal untersucht werden. Des Weiteren müsste feststehen, was eine angemessene Behandlung aus-

5.2  Ökonomik des Gesundheitswesens

• •







193

zeichnet. Vielfach werden dazu sogenannte Leitlinien von medizinische Fachgesellschaften verabschiedet. Sollte aber eine kostenintensive Abweichung von der Leitlinie als unnötige Ausgaben eingestuft werden? Gerade im Einzelfall kann es im Interesse des Patienten sein, das Ungewöhnliche zu tun. Wiederum steckt man in der aufwändigen Kontrolle fest. Gerade für nicht-gewinnorientierte Unternehmen könnten einfach nur die Kosten erstattet werden. Aber warum sollten nur medizinisch notwendige Kosten erzeugt werden? Man könnte nach erbrachten Einzelleistungen (laut Gebührenordnung) honorieren. Nun besteht ein Anreiz zur Kosteneffizienz, aber weiterhin die Tendenz zur Leistungsausweitung. Im Krankenhaus wäre bei der Vielfalt der erbrachten Leistungen ein solches System kaum praktikabel. Gerade im Krankenhaus wurde an der Behandlungsdauer angeknüpft (taggleicher Pflegesatz). Krankenhäuser erhielten einen Anreiz, die Behandlungsdauer bzw. Liegezeiten zu erhöhen. Angehörige der Pflegebedürftigen und Krankenhäuser saßen im „gemeinsamen Boot“, nur Pflegebedürftige im Krankenhaus zu halten bzw. vorschnell einzuweisen. Versicherte können sich (zu Beginn eines Jahres) beim jeweiligen Leistungsanbieter zum Fixbetrag einschreiben; der übergreifende Leistungsanbieter oder seine „Hilfsperson“ übernimmt alle erforderlichen Diagnose- und Therapiekosten (wie bei Health Maintenance Organizations HMO oder Formen der integrierten Versorgung). Der Leistungsanbieter hat in diesem Fall sicherlich große Anreize, effizient zu versorgen, keine unnötigen Leistungen zu erbringen und seine Versicherten möglichst gesund zu halten. Offen bleibt die Frage der Qualität, da sich natürlich der Leistungsanbieter auch mit geringerer Qualität Kosten ersparen könnte. Entscheidend ist, ob die Versicherten bei schlechter Qualität des Versorgers zu einem besseren übergreifenden Leistungsanbieter wechseln können. Weiter ist offen, ob man die Einschreibvariante nur für hausärztliche Leistungen anwenden kann, oder auch für Fachärzte und (Spezial-)kliniken, weil diese Leistung selten anfallen und daher die hinreichende Kalkulierbarkeit in Frage steht. Schließlich wird das Behandlungskostenrisiko vollständig beim Leistungsanbieter „abgeladen“. Sammeln sich bei ihm viele teure Behandlungsfälle, droht der finanzielle Kollaps. Krankenhäuser erhalten Fixbeträge in Höhe der durchschnittlichen Kosten und Behandlungszeiten typischer Behandlungsfälle (diagnosebasierte Fallpauschalen, DRGs). Das Krankenhaus erhält starke Anreize, kostensparend zu versorgen, d.  h. nur notwendige Leistungen zu erbringen und möglichst kurz den Patienten im Haus zu behandeln, um den nächsten „Erlösbringer“ behandeln zu können. Problematisch ist die adäquate Abgrenzung gleichartiger Erkrankungen und die Ermittlung durchschnittlicher Kosten. Zumindest zu Beginn bedeuteten Fallpauschalabrechnungen zusätzlichen Aufwand und die Ablenkung des medizinischen Personals vom eigentlichen „Geschäft“. Mit der Zeit entstehen auch ungewollte „Lerneffekte“, z. B. Patienten besser honorierten Fallgruppen zuzuordnen („Upgrading“), langwierige Fälle lieber früh

194

5 Gesundheitspolitik

zu entlassen und dann später wieder aufzunehmen („Drehtüreffekt“), erwartbar kostspielige Fälle auf andere Leistungsanbieter „umzulenken“ sowie Sicherheitszuschläge in die Fallpauschalen miteinkalkulieren zu lassen, um teure Behandlungen finanzieren zu können. Zu frühe Entlassungen können administrativ mit Abschlägen sanktioniert werden, lange (unvermeidliche) Liegedauern werden mit Zuschlägen kompensiert. Je mehr Ab- und Zuschläge eingesetzt werden, umso mehr entfernt man sich natürlich von der Idee der Pauschale. Alle genannten Instrumente zeigen Stärken und Schwächen, eine Patentlösung gibt es nicht.

5.2.3.5 Opportunismusgefahren oder das Prämienrisiko Aktuarisch faire Prämien implizieren, dass Versicherte höher tarifiert werden, wenn sie höhere Risiken darstellen als Personen mit geringem Risiko. Verschlechtert sich das Risiko, würden Versicherer höhere Prämien verlangen, wenn dies vertragsrechtlich möglich wäre. Versicherte können die Entwicklung ihres Krankheitsrisiko i.  d.  R. nicht voraussehen; durchschlagende Risiken auf die Prämien begründen das Prämienrisiko. Risiko­ averse Versicherungsnehmer haben eine (hohe) Präferenz, dieses Risiko nicht tragen zu müssen. Vermutlich würden die meisten Personen einen Versicherungsvertrag präferieren, indem steigende Prämien aufgrund eines sich verschlechternden individuellen Gesundheitsverlauf ausgeschlossen sind. Sich verschlechternde Gesundheit ist tendenziell mit dem Alter korreliert: Mit steigendem Alter steigt das Risiko, vom gesunden Menschen zum kranken zu werden (ähnlich Medikalisierungsthese, einschränkend Kompressionsthese, Abschn. 5.1). Insofern kommt es zu einem Gleichlauf der Interessen auf Ausschluss des Prämienrisikos und altersunabhängiger Tarifierung. Abb. 5.15 führt in die Logik der altersunabhängigen Prämie ein. Auf der Abszisse wird das Alter eines idealtypischen Versicherten abgetragen. Mit dem Lebensalter von 20 Jahren, zu Beginn seiner Erwerbstätigkeit, schließt er einen Krankenversicherungsvertrag ab, der eine feste Jahresprämie JP vorsieht. Die Ausgaben für Gesundheit sollen mit dem Alter ansteigen. Bis zum Lebensalter Alter* liegen die Krankheitskosten unterhalb der Jahresprämie; die „Überschüsse“ werden auf dem Kapitalmarkt angelegt und erbringen Kapitalerträge; Alter(ung)srückstellungen werden gebildet. Nach Alter* reichen die Jahresprämien nicht mehr zur Kostendeckung aus, die Alterungsrückstellungen müssen Stück für Stück aufgelöst werden. Im Kollektiv der gleichen Alterskohorte müssen die Rückstellungen so kalkuliert sein, dass mit dem Tod des letzten Kohortenmitglieds genau die Rückstellungen aufgebraucht sind. Zum Problem werden die Alterungsrückstellung wie folgt: Versicherungsnehmer, die nicht mehr ganz jung oder bereits dauerhaft erkrankt sind, können nicht mehr zu einem neuen Versicherer wechseln, da die Neuprämie relativ hoch ausfallen dürfte. Ohne die Mitnahme ihrer individuellen Alterungsrückstellung bleiben sie beim Altversicherer „gefangen“. Der Wettbewerb bleibt auf die Anfangsphase des Versicherungsvertragsverhält-

5.2  Ökonomik des Gesundheitswesens

195

erwartete Jahresausgaben Jahresprämie

Ausgaben

Alter(ung)s-rückstellung

0 20

Alter

*

Alter

Abb. 5.15  Weitergabe von Alterungsrückstellungen. (Quelle: Eigene Darstellung)

nisses beschränkt. Der Versicherer wird zur starken Vertragspartei und kann Vertragsunklarheiten zu Lasten des Versicherten auslegen (Opportunismusgefahr). Gerade weil natürlich aufgrund des medizinisch-technischen Fortschritts Prämienerhöhungen vermutlich erforderlich sind, wird die Opportunismusgefahr real. Individuelle Alterungsrückstellungen mitnehmen zu dürfen, stellt auch keine Lösung dar, weil vor allem gute Risiken den Altversicherer verlassen werden, da sie zu günstigen Prämien versichert werden. Der Altversicherer und die schlechten Risiken bleiben zurück, dem Altversicherer droht der Zusammenbruch. Als Idee wird diskutiert, dass asymmetrisch Rückstellungen mitgenommen werden dürfen (Meier, 2003; Meier & Werding, 2007): Gesunde/junge Versicherte wenig, Kranke viel. Problematisch dürfte hier sein, die richtige (asymmetrische) Mitnahme zu kalkulieren. Vermutlich wird es am Ende auf eine strikte, vor Opportunismus schützende Regulierung der Krankenversicherer hinauslaufen müssen.

196

5 Gesundheitspolitik

Fazit und Ausblick

Das Gut „Gesundheit“ stellt sicherlich ein besonderes Gut dar: Die Herstellung von Gesundheit ist komplex und Gesundheit hat für jeden Einzelnen eine hohe Bedeutung; Leistungserbringer und Patienten tragen vielfach gemeinsam dazu bei, den Gesundheitszustand zu verbessern. Die Versorgung mit Gesundheitsdienstleistungen soll nach den verbreiteten Wertvorstellungen in unserer Gesellschaft gerecht erfolgen, keiner soll durch die Behandlung finanziell überfordert werden und möglichst alle sollen einen Zugang zur Gesundheitsversorgung erhalten. Ansteckende Krankheiten stellen einen negativen externen Effekt dar, der wirtschaftspolitische Eingriffe wie Meldepflichten, kostenlose Impfungen, Prämien für Impfung oder einen Impfzwang rechtfertigen kann. Insbesondere die Akutversorgung im Krankenhaus weist auch die Eigenschaft eines Optionsgutes auf, wonach das Vorhandensein der Option „Versorgung im Krankenhaus“ bereits einen Nutzen erzeugt, obwohl nur im Falle der Inanspruchnahme eine finanzielle Honorierung erfolgt. Eine aus Steuergeldern erfolgte Mitfinanzierung der Krankenhäuser ist ökonomisch plausibel. Nichtrationale Entscheidungen bei der Nachfrage nach medizinischen Leistungen sind zu erwarten, wenn der schwerwiegende Krankheitsfall bereits eingetreten ist. Folglich muss vorab ein Krankenversicherungsvertrag abgeschlossen werden, um nicht in diese Notlage zu kommen. Gesundheitsdienstleistungen können in Bezug auf ihre Qualität meist von den Patienten nicht beurteilt werden. Da auch nach der Behandlung vielfach unklar bleibt, ob der Leistungsanbieter „gute Arbeit geleistet hat“, muss der Staat vor allem subjektive Marktzugangsbeschränkungen umsetzen. Paradebeispiel ist hier die Voraussetzung, dass nur Approbierte als Mediziner arbeiten dürfen. Insbesondere risikoaverse Individuen werden einen Krankenversicherungsvertrag abschließen; werden die Versicherungsprämien aktuarisch fair kalkuliert, wird ein (Voll-)Versicherungsvertrag nachgefragt. Theoretisch könnten uninformierte Versicherer über den Gesundheitszustand des Antragstellers schlechter informiert sein als der Antragsteller. Versicherungsnehmer mit gutem Gesundheitszustand sind dann nicht bereit, bei der durchschnittlichen Prämie zu versichern. Nur Versicherte mit schlechtem Zustand werden im Markt zu hohen Prämien versichert (adverse Auslese). Freilich haben Krankenversicherer vielfältige Möglichkeiten, ex ante den wahren, dem Versicherten bekannten Gesundheitszustand zu erfassen; adverse Auslese wird hier unwahrscheinlich. Dass Versicherte unnötigerweise und nicht vom Versicherer erkennbar Leistungen in Anspruch nehmen (moralisches Risiko) ist wohl vor allem in der ambulanten Versorgung sowie bei Medikamenten und Heilmitteln zu erwarten. Große Bedeutung dürfte im Krankenversicherungsmarkt vor allem der Gefahr zu kommen, dass Leistungsanbieter unnötige Dia­ gnose- und Therapiemaßnahmen ergreifen, wenn sie zu ihrem (finanziellen) Vorteil

5.2  Ökonomik des Gesundheitswesens

197

sind (externes moralisches Risiko bzw. anbieterinduzierte Nachfrage). Viele regulatorische Maßnahmen im Gesundheitswesen wie Budgetierug oder Fallpauschalen zielen genau auf diesen Problembereich, ohne dass bisher eine Patentlösung gefunden worden wäre. Insbesondere der aus Gerechtigkeitsgründen verfolgte Grundsatz, dass letztendlich jeder im Krankheitsfall behandelt werden kann, ohne dass es auf sein finanzielles Vermögen ankommt, erzeugt unter Umständen den Anreiz, die individuelle Versicherungsnachfrage zu reduzieren: Wenn der Staat bzw. die Gemeinschaft mich im Schadensfall auffängt, warum sollte ich selbst noch vorsorgen (Trittbrettfahrer-Verhalten)? Das gut begründbare Interesse, trotz sich verschlechterndem Gesundheitszustand bzw. steigendem Lebensalter, kon­ stante Versicherungsprämien zahlen zu müssen (kein Prämienrisiko), macht Krankenversicherte sehr schnell zu „Gefangenen ihrer Krankenversicherung“ (Opportunismusproblem): Wahlmöglichkeiten zwischen verschiedenen Versicherern bestehen nur zu Beginn der lebenslang erwarteten Vertragsdauer. Bisher scheint nur eine den Versicherungsnehmer schützende Regulierung umsetzbar; die Ideen zur Mitnahme von Alterungsrückstellungen sind bisher zumindest noch zu unkonkret. Die deutsche Gesundheitspolitik wird stark von den gesetzlichen Krankenversicherungen getragen. Ca. 9/10 der Gesamtbevölkerung ist dort versichert und erhält von ihnen Leistungen im Rahmen der ambulanten Versorgung, der stationären Krankenhausbehandlung und für Medikamente/Heilmittel. Die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall spielt heutzutage nur noch eine geringe Rolle, da für die ersten sechs Wochen der Krankheit der Arbeitgeber zahlt. Die internen Organisationsstrukturen und Finanzierungsströme in der gesetzlichen Krankenversicherung sind komplex. Ob die Arbeitgeber und/oder die Arbeitnehmer gemeinsam oder getrennt für den Beitragssatz in der gesetzlichen Krankenversicherung aufkommen müssen, spielt zumindest in der langen Frist aus ökonomischer Sicht keine Rolle. Die restliche Bevölkerung ist über die Beihilfe bzw. über private Krankenversicherungen abgesichert. Deutschland hat kein Problem, nicht krankenversichert zu sein. Das Gesundheitswesen ist in den letzten Jahrzehnten vielfach und immer tiefgehender reglementiert worden. Insbesondere wurde eine Vielzahl von Maßnahmen ergriffen, um steigende Gesundheitsausgaben zu dämpfen. Steigende Ausgaben zu begrenzen ist a priori richtig, wenn sie auf das Problem des externen moralischen Risikos zurückzuführen sind. Sind die Anstiege jedoch Ausdruck von veränderten Präferenzen (Gesundheit wird mir immer wichtiger), Folge steigender Einkommen bzw. steigender Lebenserwartungen in Verbindung mit dem Wunsch, gesund zu altern, sollte man die Ausgabenzuwächse akzeptieren und sich Gedanken machen, wie diese Mehrausgaben finanziert werden können.

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5 Gesundheitspolitik

Übungsaufgaben

1 . Skizzieren Sie die gesetzlichen Rahmenbedingungen der GKV in Deutschland. 2. Diskutieren Sie den Vorschlag, dass die Arbeitgeber zukünftig keine Beiträge für ihre Mitarbeiter in die gesetzliche Krankenversicherung entrichten mehr müssen. Die bisherigen Arbeitgeberbeiträge werden einmalig auf den Bruttolohn aufgeschlagen. 3. Welche Marktversagensargumente gibt es für die Bereitstellung des Gutes Gesundheitsversorgung und welche für den Krankenversicherungsmarkt? Was sind in seinen Grundzügen die daraus folgenden wirtschaftspolitischen Schlussfolgerungen. Kommentierte Literaturhinweise Althammer et al. (2021) sind ohne Frage erste Wahl, einen Überblick über die institutionellen Einzelheiten des deutschen Gesundheitswesens zu bekommen, kurz dazu Ott (2019). Zur Ökonomik des Gesundheitswesens führt kein Weg an Breyer und Buchholz (2021) sowie Breyer et al. (2013) vorbei.

Literatur Akerlof, G.  A. (1970). The market for lemons: Quality uncertainty and the market mechanism. Quarterly Journal of Economics., 84(3), 488–500. Althammer, J., Lampert, H., & Sommer, M. (2021). Lehrbuch der Sozialpolitik (10., Vollst. überarb. Aufl.). Springer Gabler. Arrow, K. (1985). The Economics of agency. In J. Pratt & R. Zeckhauser (Hrsg.), Principals and agents: The structure of business (S. 37–51). Harvard University Press. Arrow, K. J. (1963). Uncertainty and the welfare economics of medical care. The American Economic Review, 53(5), 941–973. Blankart, C. B. (2017). Öffentliche Finanzen in der Demokratie: Eine Einführung in die Finanzwissenschaft (9., vollst. überarb. Aufl.). Vahlen. Breyer, F., & Buchholz, W. (2021). Ökonomie des Sozialstaats (3., akt. u. überarb. Aufl.). Springer. Breyer, F., Zweifel, P., & Kifmann, M. (2013). Gesundheitsökonomik (6., vollst. erw. u. überarb. Aufl.). Springer Gabler. Cullis, J. G., & Jones, P. R. (2009). Microeconomics: A journey through life’s decisions. Pearson. Gravelle, H., & Rees, R. (2004). Microeconomics (3. Aufl.). Pearson. Meier, V. (2003). Übertragbarkeit von Alterungsrückstellungen in der privaten Krankenversicherung. ifo Schnelldienst, 56(24), 5–8. Meier, V., & Werding, M. (2007). Übertragbarkeit risikoabhängiger Alterungsrückstellungen in der privaten Krankenversicherung, ifo Forschungsberichte (No. 38). Ott, N. (2019). Sozialpolitik. In T. Apolte et al. (Hrsg.), Kompendium der Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik III: Wirtschaftspolitik (S. 319–380). Gabler. Rawls, J. (1971). Eine Theorie der Gerechtigkeit. Suhrkamp. Renner, C. (2016). Die Interessengruppen im deutschen Gesundheitssystem. In Der Arzt in der Wirtschaft (S. 1–34). Springer Gabler.

Literatur

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Rothschild, M., & Stiglitz, J. E. (1976). Equilibrium in competitive insurance markets: An essay on the economics of imperfect information. The Quarterly Journal of Economics, 90(4), 629–649. Sachverständigenrat Gesundheit. (2018). Bedarfsgerechte Steuerung der Gesundheitsversorgung, Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, Gutachten 2018. https://www.svr-­gesundheit.de/gutachten/gutachten-­2018/. Zugegriffen am 29.06.2022. Statistische Bundesamt. (2019). Weniger Menschen ohne Krankenversicherungsschutz (Pressemitteilung Nr.  365, 15.9.2020). https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2020/09/ PD20_365_23.html. Zugegriffen am 22.06.2022. Wein, T. (2021). Ist eine Impfpflicht gegen das Coronavirus nötig? Wirtschaftsdienst, 101(2), 114–120. Wilson, C. (1977). A model of insurance markets with incomplete information. Journal of Economic Theory, 16(2), 167–207.

6

Umweltpolitik

Umweltpolitisches Problembewusstsein in der Bundesrepublik entstand in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Gerade die Luftverschmutzung im Ruhrgebiet oder die Verschmutzung des Rheins kamen zu der Zeit auf die Tagesordnung. Mit dem Bericht des Club of Rom zu den Grenzen des Wachstums im Jahre 1972 wurde gewarnt, dass innerhalb weniger Jahre und bei unverändertem Nutzungsverhalten viele Rohstoffe und natürliche Lebensgrundlagen erschöpft seien bzw. zerstört würden. Regulatorisch standen in Deutschland zunächst und für längere Zeit ordnungsrechtliche Maßnahmen im Mittelpunkt. Den Schädigern, insbesondere der Industrie, wurden Grenzwerte im Bundesimmissionsschutzgesetz (BImSchG) von 1974 mit Technischen Anleitungen (TA Luft, TA Abfall, etc.) vorgeschrieben. Ein zartes „Pflänzchen“ der Abgabenpolitik war das Abwasserabgabengesetz im Jahre 1978. Die ökologische Steuerreform Ende der 1990erJahre/Anfang der 2000er-Jahre versuchte die Kosten der Umweltbeeinträchtigung in das Preissystem des Marktes einzubeziehen, vor allem für den Verbrauch der fossilen Brennstoffe Öl und Gas. Die zunehmende Virulenz des Klimaproblems führte 2006 zur Einführung des europäischen Zertifikatshandels für CO2-Emissionen der Industrie und der Stromerzeugung. Mit dem Brennstoffemissionshandelsgesetz (BEHG) wurden die beiden restlichen Hauptverursacher von CO2-Emissionen in Deutschland, Gebäudebrand und Verkehr, regulatorisch erfasst. Die friedliche Nutzung der Kernenergie wurde in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre massiv vorangetrieben, was jedoch zu vielfältigen Protesten führte. Nach Fukushima wurde in weitem Konsens beschlossen, bis 2022 aus der Kernenergie in Deutschland auszusteigen. Aus ökonomischer Sicht stellt die Verschmutzung der Umwelt einen klassischen Fall eines negativen technologischen externen Effektes dar. Wirtschaftssubjekte können durch Ergänzende Information Die elektronische Version dieses Kapitels enthält Zusatzmaterial, auf das über folgenden Link zugegriffen werden kann [https://doi.org/10.1007/978-3-658-42124-3_6]. © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 T. Wein, Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42124-3_6

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6 Umweltpolitik

ihr Handeln die Umwelt schädigen und damit Kosten bei Dritten verursachen, die im Markt nicht berücksichtigt werden. Die Chemiefabrik leitet Restbestände aus der ­Farbenproduktion in einen Fluss ein, wodurch der Fischer am Unterlauf des Flusses weniger oder keine Fische mehr fangen kann. Bereits Pigou (1920) hat gezeigt, dass derartige „Aktionen“ zu einer Fehlallokation führen: Kosten entstehen bei Dritten, die im Abwägungskalkül der Fabrik über deren privaten Kosten und Erträge außen vorbleiben. Laut Pigou ist der Staat aufgerufen, durch eine geeignete Steuer diese Fehlallokation zu beseitigen bzw. zu verhindern; externe Kosten werden internalisiert. Coase (1960) hat dagegen bahnbrechend gezeigt, dass im Idealfall private Verhandlungen zu einer optimalen Internalisierung des externen Effekts führen, und zwar unabhängig davon, ob der Schädiger oder der Geschädigte anfänglich das Recht zu schädigen bzw. der Geschädigte ein Abwehrrecht vor Schäden hat. Nach Hotelling (1931) werden Besitzer erschöpflicher Ressourcen abwägen, ob sie eine Ressource bereits heute abbauen, zum Marktpreis verkaufen und den Verkaufserlös auf dem Kapitalmarkt anlegen, oder die Ressource erst später auf den Markt bringen, wenn sie aufgrund der zunehmenden Knappheit einen höheren Preis bekommen. Hotelling zeigte, dass im Idealfall die Ressource optimal abgebaut wird, bis die letzte Einheit der Ressource zu einem Preis getauscht wird, der die Dringlichkeit des Konsums der letzten Einheit widerspiegelt. Ansätze der Nachhaltigkeit versuchen hier, strengere Vermeidungsaktivitäten zu begründen. In der Umweltökonomik wurden aus den grundlegenden Ideen von Pigou und Coase marktwirtschaftliche Instrumente entwickelt, die pragmatisch versuchen, das Ausmaß der Umweltverschmutzung effizient zu begrenzen und gleichzeitig Anreize zu setzen, nach Methoden und Verfahren zu suchen, die in der Zukunft umweltschonendes Handeln einfacher machen. Zu nennen ist hier zum einen das Instrument der Abgabe/Steuer, bei dem die Schädiger entsprechend der Emission oder der produzierten Menge einen Geldbetrag entrichten müssen. Die Schädiger hätten die Wahl, zu schädigen oder zu vermeiden. Sie wägen dabei ab, wie hoch die Kosten der zusätzlichen Vermeidung sind im Vergleich zum zu zahlenden Geldbetrag für zusätzliche Emissionen. Im Gewinnmaximum wird der Schädiger so lange vermeiden, bis die Kosten der zusätzlichen Vermeidung gleich dem Steuersatz sind. Zum anderen gibt es das Instrument der handelbaren Schädigungsrechte bzw. der Zertifikate. Jeder Schädiger, der eine Schadstoffeinheit emittieren möchte, muss ein entsprechendes Schädigungsrecht nachweisen. Der Schädiger jedoch kann auch das Schädigungsrecht nicht nutzen und dafür entsprechend des am Markt geltenden Zertifikatspreises einen „Umsatzerlös“ bekommen. Besitzt er bereits das Schädigungsrecht, weil der Staat dies kostenlos vergeben hat, wägt er seine Kosten der zusätzlichen Vermeidung mit dem Zertifikatspreis ab. Muss er das Schädigungsrecht erwerben, zum Beispiel über eine Versteigerung, schaut er auch auf die Vermeidungskosten im Vergleich zum Zertifikatspreis. Kostenlose Vergabe und Versteigerung führen somit zur gleichen ökonomischen Wirkungsweise. Die praktische Umweltpolitik der Bundesrepublik, aber auch vieler anderer Industriestaaten, hat von Anfang an und über lange Zeit hinweg auf ordnungsrechtliche Instrumente (Auflagen, Gebote, Verbote) gesetzt. Es galt das Motto: Ein Übelstand ist erkannt, also verpflichtet der Staat den Schädiger, diesen zu unterlassen. Ordnungsrechtliche Instrumente laufen jedoch Gefahr, dass sie die Kosten der Vermeidung bei den einzelnen Schädigern nicht erkennen und daher zu pauschal wirken.

6.1 Deutsche Umweltpolitik im Überblick

203

Umweltprobleme verschärfen sich, wenn die schädigende Wirkung nicht an den Landesgrenzen aufhört und wenn Vermeidungsaktivitäten nicht nur dem Vermeider, sondern auch (allen) anderen Ländern zu Gute kommen. Das internationale Umweltproblem bzw. die Beseitigung desselben wird zum öffentlichen Gutsproblem: Jedes Land hofft darauf, dass die anderen Länder „die Kastanien aus dem Feuer holen“. Weil jedes Land sich in diese Position des Trittbrettfahrers begeben könnte, droht die Gefahr, dass kein Land vermeidet oder zu wenige vermeiden. Internationale Umweltvereinbarungen werden nötig, die jedoch schwer durchgesetzt werden können. Ansatzpunkte zur Herstellung solcher Vereinbarungen sind Arrangements, in denen mehrere Länder gleichzeitig versprechen, Vermeidungsaktivitäten zu ergreifen. Ferner wäre denkbar, die Pflicht zur Einhaltung der internationalen Vereinbarung mit anderen Sachfragen zu verknüpfen, zum Beispiel den Zugang zu einem großen Markt (europäischer Binnenmarkt, China) vom Einhalten gleicher Umweltstandards abhängig zu machen. Aufgrund der fehlenden rechtlichen Durchsetzbarkeit müssen sich die Vereinbarungen selbst durchsetzen, d.  h. im wohlverstandenen Interesse des jeweiligen Landes sein. Ein Überblick über die deutsche Umweltpolitik findet sich in Abschn. 6.1. Abschn. 6.2 beschreibt die umweltökonomischen Grundlagen, Abschn.  6.3 die zugehörigen Instrumente. Die Thematik internationaler Vereinbarungen greift Abschn. 6.4 am Beispiel der Vereinbarungen zur Eindämmung des Klimawandels auf.

6.1 Deutsche Umweltpolitik im Überblick Die sozialliberale Koalition in Bonn begann Anfang der siebziger Jahre mit ersten Ansätzen einer Umweltregulierung (Böcher & Töller, 2012, S.  12  f.). Die Umweltpolitik sollte dem Vorsorge-, dem Verursacher- und dem Kooperationsprinzip folgen. Nach dem Vorsorgeprinzip sollen Schäden für den Menschen und die Umwelt möglichst nicht entstehen. Die Kosten zur Beseitigung von Umweltschäden sollen von den Verursachern getragen werden (Verursacherprinzip), und nach dem Kooperationsprinzip sollen alle Beteiligten in die Maßnahmenentwicklung einbezogen werden, um eine hohe Akzeptanz zu erreichen. Im Bundesinnenministerium wurde eine eigene Abteilung zu Umweltfragen geschaffen. In dieser Phase wurde die Umweltregulierung breit akzeptiert, auch von den Verbänden der Wirtschaft. Insbesondere das ordnungsrechtlich dominierte Bundesimmissionsschutzgesetz (BImSchG) im Jahr 1974 war ein Meilenstein der ersten Phase. § 1 Bundesimmissionsschutzgesetz (BImSchG) ( 1) Zweck dieses Gesetzes ist es, Menschen, Tiere und Pflanzen, den Boden, das Wasser, die Atmosphäre sowie Kultur- und sonstige Sachgüter vor schädlichen Umwelteinwirkungen zu schützen und dem Entstehen schädlicher Umwelteinwir­ kungen vorzubeugen. (2) Soweit es sich um genehmigungsbedürftige Anlagen handelt, dient dieses Gesetz auch

204

6 Umweltpolitik

–– der integrierten Vermeidung und Verminderung schädlicher Umwelteinwirkungen durch Emissionen in Luft, Wasser und Boden unter Einbeziehung der Abfallwirtschaft, um ein hohes Schutzniveau für die Umwelt insgesamt zu erreichen, sowie –– dem Schutz und der Vorsorge gegen Gefahren, erhebliche Nachteile und erhebliche Belästigungen, die auf andere Weise herbeigeführt werden. Das BImSchG (Beaucamp, 2021, S. 78–88; Endres & Rübbelke, 2022, S. 119 f.; Feess & Seeliger, 2021, S.  63  f.) regelt die Grundsätze der Luftreinhaltepolitik, die darauf aufbauenden Verordnungen wie z. B. Technische Anleitung (TA) Luft und TA Großfeuerungsanlagenverordnung machen für Anlagen Vorgaben bezüglich einzuhaltender Emissionsgrenzwerte. Grenzwerte werden meist als relative Größen (z.  B. pro  m3 Abluft) oder seltener als Absolutwerte festgelegt. Diese Vorgaben wurden anfangs zögerlich, dann jedoch häufiger verschärft. Nach dem BImSchG müssen die Anlagen den „Stand der Technik“ erfüllen. Wenn neue Techniken zur Emissionsminderung in Versuchs- oder Pilotanlagen praktisch zum Einsatz kommen und eine großtechnische Umsetzung möglich erscheint, erfüllen sie das Kriterium des Standes der Technik. Insofern muss nach dem Gesetz mehr getan werden, als die „anerkannten Regeln der Technik“ (nach übereinstimmender Ansicht der Fachleute in der Praxis bewährte Regeln) dies vorgeben würden. Das höhere Kriterium, wonach es auf den Stand von Wissenschaft und Technik (nur wissenschaftliche Erkenntnis, ohne Praxistest) ankommen würde, wurde jedoch nicht in diesem Gesetz vorgeschrieben. Gegen eine sachgerechte Fortentwicklung des Standes der Technik wurde vielfach das „Kartell der Oberingenieure“ vorgebracht: Die für die Umsetzung neuer Techniken entscheidenden Oberingenieure halten sich zurück, um für die Zukunft verschärfte Grenzwerte zu vermeiden. In der Anfangsphase des Gesetzes durften darüber hinaus die Grenzwerte von der Behörde nur durchgesetzt werden, wenn sie für den Anlagenbetreiber wirtschaftlich vertretbar waren. Gerade bei Altanlagen war es leicht möglich, die negativen wirtschaftlichen Folgen herauszustellen, um eine Verschärfung der Auflagen zu verhindern. Heutzutage kommt es nur, wie immer bei öffentlich-rechtlichen Vorgaben (Abschn. 2.1.1.1), auf die Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit an. Unverhältnismäßig wäre beispielsweise eine mit hohem wirtschaftlichem Aufwand zu betreibende Maßnahme, die sehr wenig zur Umweltverbesserung beiträgt. Für die Verhältnismäßigkeit kommt es auch nur auf die generelle Zumutbarkeit an, nicht jedoch auf die firmenindividuelle. Zusätzlich gehen informell Merkblätter über die „besten verfügbaren Techniken“ (BVT) in die Abwägung ein. Mit der ersten Ölkrise 1973/74 kam es zu einem „Abbremsen“ in der Umweltpolitik; ökologische und ökonomische Ziele wurden als widersprüchlich wahrgenommen und aufgrund der großen wirtschaftlichen Probleme sollten die Umweltziele hintenanstehen (Böcher & Töller, 2012, S. 28–31). Neuartige Umweltproblematiken wie zum Beispiel das Waldsterben wurden öffentlich thematisiert. Um die Abhängigkeiten von Öl zu reduzieren, wurden die Pläne zum Ausbau der friedlichen Nutzung der Kernenergie forciert. An

6.1 Deutsche Umweltpolitik im Überblick

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einer ganzen Reihe von Standorten sollten Kernkraftwerke gebaut werden. Mit der Entwicklung des Schnellen Brüters und der vorgesehenen Wiederaufarbeitung von Kernbrennstäben hoffte man auf eine noch bessere Nutzung der Kernenergie und auf eine Reduktion des Abfallproblems. Die Frage der Endlagerung von nicht mehr nutzbaren Kernbrennstäben wurde bewusst an nachfolgenden Generationen überantwortet. Bereits hier zeigt sich eine Verzahnung von Umweltpolitik mit der Energiepolitik (Kap. 7). Insbesondere nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl im April 1986 verschärfte sich das Umweltbewusstsein in der westdeutschen Bevölkerung. Das Bundesumweltministerium wurde aus dem Innenministerium heraus geschaffen. In den 1990er-Jahren wurde die allgemeine Abfallproblematik intensiv diskutiert; Mülldeponien waren über Jahrzehnte hinweg umweltpolitisch recht sorglos betrieben worden, Deponiekapazitäten wurden mit ­höheren Standards knapp und die Lösung sollte der vielfache Bau von Müllverbrennungsanlagen sein. Plustext 6.1: Abwasserabgabengesetz (Feess & Seeliger, 2021, S.  75–79; Umweltbundesamt, 2022a) Direkteinleiter in Flüsse und Seen müssen seit 1978 entsprechend der Schädlichkeit des Abwassers eine Abgabe entrichten. Die verschiedenen Schadstoffe werden zu einer virtuellen Schadeinheit (SE) zusammengefasst. Es kommt nicht auf die tatsächliche Einleitung der Schadstoffe an, sondern die zulässige Menge laut Genehmigungsbescheid ist abgabenrelevant; nur bei einer Abweichung von +/− 20 % kommt es zu einer Neufestsetzung. Zunächst wurden 12 DM/SE als Abgabesatz festgesetzt, der dann Anfang 1997 70 DM/SE erreichte; seither wurde dieser Betrag nicht mehr erhöht (etwa 36 €). Werden Mindestanforderungen des Wasserhaushaltsgesetzes erfüllt, wird der Abgabensatz ermäßigt. Ferner dürfen unter bestimmten Voraussetzungen Investitionen zur Verbesserung der Abwasserbehandlung mit der Abgabenlast verrechnet werden. Das Aufkommen der Abwasserabgabe steht den Ländern zu, die das Aufkommen zweckgebunden zur Gewässerreinhaltung verwenden müssen. Zentrales Problem der Abwasserabgabe ist, dass sie auf das ordnungsrechtliche Gefüge des Wasserhaushaltsgesetzes aufsetzt. Direkteinleiter wägen somit nicht ihre Kosten für Vermeidungsaktivitäten mit der ansonst fälligen Abgabenlast ab, sondern müssen unabhängig von den Vermeidungskosten die Auflagen des Wasserhaushaltsgesetzes erfüllen. Die Vorteile einer Abgabe, bei der nur effiziente Vermeidungsaktivitäten erfolgen (Abschn. 6.3), wird vermutlich nicht erreicht. Die Gesamtabgabenlast beträgt nur etwa 3  % des abwasserbezogenen Investitionsvolumens, die Lenkungswirkung der Abgabe wird daher nur gering ausfallen. Der Abgabensatz scheint zu niedrig zu sein, zum einen, weil zu viele Ermäßigungen in Geltung gebracht werden können und zum anderen, weil die Sätze seit langem nicht mehr nach oben hin angepasst wurden. Indirekteinleiter, also Verschmutzer, die ihr Abwasser in eine Kläranlage einleiten, zahlen die dort gültigen Gebührensätze, die in weiten Teilen nichts mit den Abwasserabgabesätzen zu tun haben.

Bis zur Wende 1990 spielte die Umweltpolitik in der damaligen DDR praktisch keine Rolle. Luft-, Boden- und Gewässerverschmutzungen geschahen in viel größerem Ausmaß als in Westdeutschland; staatskritische Proteste in der DDR kristallisierten sich auch an dem Vorwurf der Vernachlässigung des Schutzes der natürlichen Umwelt (Huff, 2014).

206

6 Umweltpolitik

Umwelthaftungsgesetz (UmweltHG) § 1 Wird durch eine Umwelteinwirkung, die von einer im Anhang 1 genannten Anlage ausgeht, jemand getötet, sein Körper oder seine Gesundheit verletzt oder eine Sache beschädigt, so ist der Inhaber der Anlage verpflichtet, dem Geschädigten den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen. § 6 (1) Ist eine Anlage nach den Gegebenheiten des Einzelfalles geeignet, den entstandenen Schaden zu verursachen, so wird vermutet, dass der Schaden durch diese Anlage verursacht ist. Die Eignung im Einzelfall beurteilt sich nach dem Betriebsablauf, den verwendeten Einrichtungen, der Art und Konzentration der eingesetzten und freigesetzten Stoffe, den meteorologischen Gegebenheiten, nach Zeit und Ort des Schadenseintritts und nach dem Schadensbild sowie allen sonstigen Gegebenheiten, die im Einzelfall für oder gegen die Schadensverursachung sprechen. (2) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn die Anlage bestimmungsgemäß betrieben wurde. Ein bestimmungsgemäßer Betrieb liegt vor, wenn die besonderen Betriebs­ pflichten eingehalten worden sind und auch keine Störung des Betriebs vorliegt. (3) Besondere Betriebspflichten sind solche, die sich aus verwaltungsrechtlichen Zulassungen, Auflagen und vollziehbaren Anordnungen und Rechtsvorschriften ergeben, soweit sie die Verhinderung von solchen Umwelteinwirkungen bezwecken, die für die Verursachung des Schadens in Betracht kommen. Plustext 6.2: Umwelthaftungsgesetz (Endres, 2011, S.  75–81, Endres & Rübbelke, 2022, S. 75–96; Feess & Seeliger, 2021, S. 140–144) Mit der Einführung der Umwelthaftung 1991 sollten Geschädigte die Möglichkeit bekommen, Schadensersatzansprüchen aufgrund von Umweltwirkungen einzelner Anlagen (weitgehend analog zum BImSchG) durchzusetzen, ohne dass ein Verschulden (fahrlässig oder vorsätzlich) des Schädigers vorliegt (Gefährdungshaftung). Die verschuldensabhängige Haftung des § 823 I Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) besteht natürlich aber noch weiter. Mit Haftungsregeln sollen einerseits Geschädigte kompensiert werden und andererseits Anreize gesetzt werden, weniger zu schädigen (Generalprävention). Es zeigt sich aber, dass bei umweltbedingten Schädigungen die Pflichtverletzung des Verschuldens gar nicht so sehr ein juristisches Problem darstellt, sondern der Nachweis der Kausalität: Ist die Schädigung tatsächlich durch eine Umweltwirkung eingetreten oder sind nicht andere Faktoren, insbesondere der Zufall, verantwortlich? Ist beispielsweise der aufgetretene Lungenkrebs auf die Schadstoffausbringung der Fabrik in der Nachbarschaft zurückzuführen oder lag es am Zigarettenkonsum? Oder einfach nur Pech? Nach § 6 I UmweltHG vermutet man eine Kausalität, wenn die „Gegebenheiten des Einzelfalls“ eine Verursachung nahelegen. Könnte also die Anlage aufgrund ihrer Beschaffenheit, ihres Betriebsablaufes oder der verwendeten Stoffe den Schaden herbeigeführt haben? Um jetzt eine „ausufernde“ Kausalität zu verhindern, kann die Kausalität widerlegt werden. Wurde die Anlage im Rahmen der genehmigten Grenzwerte („genehmigter Normalbetrieb“) eingesetzt, ist die Kausalität zunächst widerlegt. Allerdings ist dieser „Ausweg“ nur machbar, wenn die Kausalität nicht eindeutig nachweisbar ist. Ist die Kausalität eindeutig beweisbar, kommt der Anlagenbetreiber von der Gefährdungshaftung nicht frei. Zweite Möglichkeit der Widerlegung ist, dass ein anderer Umstand den Schaden verursacht hat (§ 7 UmweltHG): Für die unter das UmweltHG fallenden Anlagen entfällt die Möglichkeit der Widerlegung durch einen „anderen Umstand“; die Anlagen bilden somit eine „Gefahrengemeinschaft“.

6.1 Deutsche Umweltpolitik im Überblick

207

Die empirische Evidenz zur Bedeutung des UmweltHGs ist unklar: Die Durchsetzung von Haftungsansprüchen setzt das Überspringen der Kausalitätsklausel voraus; die zu beobachtende rückläufige Umweltunfallquote von etwas mehr als 10 % kann natürlich auch an anderen Einflussfaktoren liegen. Möglicherweise besteht der größte Einfluss darin, dass Schädiger viel stärker als vorher darauf achten, die Grenzwerte des Normalbetriebes einzuhalten.

Mit dem Amtsantritt der rot-grünen Bundesregierung Ende der neunziger Jahre (Böcher & Töller, 2012, S. 33–35) wurde eine ökologische Steuerreform auf die Tagesordnung gesetzt, nach der vor allem die Verbrennung von Öl und Gas (nicht aber Kohle) mit einer Steuer belegt wurde. In der Folge wurde eine Stromsteuer eingeführt (und 2006 die Mineralölsteuer in eine Energiesteuer umgewandelt; Bach, 2009; Feess & Seeliger, 2021, S. 91–94). Tab. 6.1 fasst die Entwicklung der Steuersätze zusammen. Um Aufkommensneutralität sicherzustellen, wurde der Beitragssatz in der GRV um 0,8 Prozentpunkte gesenkt. Von den Mehrbelastungen der ökologischen Steuerreform wurden das produzierende Gewerbe und die Land- und Forstwirtschaft mit verminderten Steuersätzen und Verrechnungsmöglichkeiten, falls die Senkung der Rentenbeiträge nicht hinreichend die Mehrbelastungen ausglich („Spitzenausgleich“), verschont, auch um die internationale Wettbewerbsfähigkeit zu sichern. Die ökologische Steuerreform sollte explizit eine Lenkungswirkung ausüben und damit umweltschädliches Verhalten zurückdrängen (Bach, 2009; Feess & Seeliger, 2021, S.  93  f.). Tab.  6.2 zeigt, dass für die aktuellen Steuersätze keine Lenkungs-

Tab. 6.1  Energiesteuersätze 1999 bis 2006 in Cent

Verkehrskraftstoffe - Benzin je Liter - Diesel je Liter Erdgas (Wärme) je kWh Leichtes Heizöl (Wärme) je Liter Schweres Heizöl (Wärme1) je kg Kohle (Wärme) je Gigajoule Elektrischer Strom2 je kWh

Steuersätze vor dem 01.04.1999

Erhöhung durch die ökologische Steuerreform 2000–2003 Energiesteuergesetz 1999 jährlich 2003 2006

50,10 31,69 0,19

3,07 3,07 0,164

3,07 3,07 -

0,20 -

4,09

2,05

-

-

1,79

-

-

0,71 -

-

-

-

-

-

-

1,02

0,26

-

33,00

-

Von 2000 an einheitlicher Mineralölsteuersatz für schweres Heizöl. Angenommen wird eine CO2-Emission von 0,54 kg je kWh im Durchschnitt aller Kraftwerke. Quelle: Bach (2009, S. 220) 1 2

208

6 Umweltpolitik

Tab. 6.2  Aktuelle Energiesteuersätze Erhöhung 1999–2006 15,35 15,35 2,05

Benzin (ct/l) Diesel (ct/l) Leichtes Heizöl (ct/l) Schweres Heizöl 0,71 (ct/kg) Erdgas (ct/kWh 0,36 Kohle (ct/GJ) 33,00 Strom (ct/kWh 2,05

Steuersatz 2021 65,45 47,04 6,14

Aktueller Steuersatz (in €/GJ) 20,21 13,15 1,71

Besteuerung CO2-­ Emissionen (in €/t) 276 177 23

2,50

0,63

8

0,55 33,00 2,05

1,54 0,33 5,69

27 3 38

Quelle: Verkürzend Feess und Seeliger (2021, S. 93)

wirkung erkennbar ist: Weder nach dem Merkmal Wärmeerzeugung (€ in Gigajoule GJ) noch nach dem der (durchschnittlichen) CO2-Belastung (€ in Tonnen t) ist eine Gleichbehandlung der Energieträger zu erkennen. Für die Stromerzeugung und die Industrie kommen noch die Belastungen aus dem europäischen Zertifikatshandel für CO2 (s. u.) hinzu. Die niedrigeren Beitragssätze in der Sozialversicherung sollten den Faktor Arbeit verbilligen und damit zu mehr Beschäftigung führen; zur ersten Dividende der Lenkungswirkung käme die zweite in Form sinkender Arbeitslosigkeit hinzu (Endres, 2011, S. 174–187; Feess & Seeliger, 2021, S. 95 f.). Modellrechnungen deuten darauf hin, dass der Beitragssatz zur GRV ohne die ökologische Steuerreform um 1,2 Prozentpunkte höher wäre. Die Beschäftigungseffekte, die auf die Reform zurückzuführen sind, können kaum abgeschätzt werden, weil sich in diesen Zeiträumen viele andere Einflussfaktoren (z. B. Hartz-­Reformen) geändert haben. Mit dem Brennstoffemissionshandelsgesetz (s. u.) kommt es zunehmend zu einer Doppelbesteuerung von CO2, auch bei Gebäudebrand (Wärme für Häuser) und Verkehr. Der sinnvollen Abschaffung der Energiesteuersätze stehen dann erhebliche Finanzierungslücken in der GRV gegenüber. Rot-Grün setzte 2000 den schrittweisen Ausstieg aus der Kernenergie durch, die Schwarz-Gelbe-Bundesregierung kippte 2010 die Entscheidung und machte den Weg für eine Laufzeitverlängerung frei (Böcher & Töller, 2012, S. 38). Nach dem Reaktorunfall von Fukushima 2011 gab es jedoch einen breiten Konsens bis 2022 aus der Kernenergie auszusteigen und die Frage der Endlagerung „vorurteilsfrei“ neu aufzurollen. Spätestens in den 2000er-Jahren kam das Problem der Klimaerwärmung in den Blickpunkt. Mit der Umsetzung des Kyoto-Protokolls von 1997 (Abschn. 6.4) wurde der europäische Zertifikatshandel für CO2-Emissionen (EU-ETS) aus der Taufe gehoben, der zu Beginn des Jahres 2006 mit seinem („Probe“)-Betrieb startete (zum Überblick Endres & Rübbelke, 2022, S. 307–325; SVR, 2019, Tzn. 55–65; Feess & Seeliger, 2021, S. 112–119). Im EU-ETS befinden sich ca.  11.000 Feuerungsanlagen in der Elektrizitätserzeugung,

6.1 Deutsche Umweltpolitik im Überblick

209

Eisen- und Stahlverhüttung, Kokereien, Raffinieren und Cracker, Zement- und Kalkherstellung, Glas-, Keramik- und Ziegelindustrie, Papier- und Zelluloseproduktion, später wurden die chemische Industrie, Nichteisenmetalle und mineralölverarbeitende Industrie einbezogen, seit 2012 zählt der europäische Flugverkehr dazu. Insgesamt werden mit dem EU-ETS etwa 45 % der europäischen CO2- und CO2-äquivalente Emissionen (2017) erfasst. Im Moment gilt die vierte Handelsperiode (2021–2030), die zulässige CO2-Menge wird in dieser Periode jährlich um 2,2 % gesenkt. Aktuell werden über 70 % der Emissionen versteigert, ab 2027 müssen alle Rechte versteigert werden. Für den Fall der kostenlosen Vergabe richtet sich die zugeteilte Menge nach der besten verfügbaren Technik, nicht mehr nach der historisch emittierten Menge („Grandfathering“). Der Zertifikatspreis startete 2006 mit etwa 25 €/t CO2. U. a. aufgrund zu großer Mengen, die erlaubt waren, verfiel der Preis nahe Null, stieg rund um 2010 auf ca. 15 € und sank anschließend über mehrere Jahre auf etwa 5 €. Seit 2018 wurde wieder die 20 €-Marke überschritten, aktuell liegt er bei etwa 92,40 €/t (eex, 2023). Im Jahre 2015 wurde die Marktstabilitätsreserve eingeführt, mit der durch An- und Verkäufe von Zertifikaten der Zertifikatspreis stabilisiert werden kann. Europäisch hat man sich (informell) im Dezember 2022 geeinigt und im Frühjahr 2023 beschlossen, die Zertifikatsmenge im bisherigen EU-Treibhausgaszertifikatshandelssystem (ETS 1) von jährlich 2,2 % Reduktion auf 4,3 % von 2024 bis 2027 und ab 2028 um 4,4 zu reduzieren (EU Commission, 2023); ferner sollen Stück für Stück auch die Emissionen im Seeverkehr einbezogen und keine Zertifikate mehr kostenlos vergeben werden (EU-Rat, 2023). Für Gebäudebrand, Straßenverkehr und Kleingewerbe wird ab 2027 ein eigenes Handelssystem (ETS 2) eingeführt, in dem für Brennstoffe, die für Gebäudebrand, für den Straßenverkehr und im Kleingewerbe eingesetzt werden, Zertifikate vorhanden sein müssen; allerdings soll der sich aus der Mengenbeschränkung ergebende Zertifikatspreis künstlich auf 45  €/t CO2 begrenzt werden (EU-Rat, 2023). Energieintensive Produkte, die in die EU importiert werden, sollen zukünftig mit einem Grenzausgleichssystem belastet werden, wenn sie geringeren Klimaschutzbestimmungen unterliegen (EU-Rat, 2023). Mit dem Brennstoffemissionshandelsgesetz (BEHG) von 2019 wird in Deutschland der Gedanke des Zertifikatshandels auch auf die Sektoren Verkehr und Gebäudebrand ausgedehnt (Schwarz, 2020). Dieses Gesetz betrifft die Nicht-EU-ETS Sektoren Gebäudebrand und Verkehr. Jeder Inverkehrbringer für Brennstoffe, die für Wärme und Verkehr genutzt werden (Gas, Mineralöle, Kohle (wenn für Heizung)), muss hierfür entsprechend Zertifikate erwerben. Für 2021–2025 gelten festgelegte Zertifikatspreise, ab 01.01.2021 25 €/t CO2 bis 55 €/t CO2; die geplante Erhöhung um 5 €/t für 2023 wurde ausgesetzt. Ab 2026 sollen die zulässigen Mengen versteigert werden (Mindestpreis 55  €/t, maximaler Preis 65  €/t). Ziel ist, dieses nationale Emissionshandelssystem (nEHS) mit EU-ETS zusammenzuführen. Ab 2026 sind dann in Deutschland nur noch CO2-Emissionen, die in der Landwirtschaft entstehen, außerhalb des Zertifikatsbereichs.

210

6 Umweltpolitik

6.2 Umweltökonomische Grundlagen Aus ökologischer Perspektive stehen die Umweltmedien Luft, Gewässer und Boden als Grundlage der natürlichen Umwelt zur Verfügung (einführend Menges, 2019, S. 568–575), als weitere Kategorie wird das Klima hinzugefügt. Die Umwelt mit ihren natürlichen Gütern versorgt den Menschen, er verwendet die natürlichen Güter entweder als Produktionsfaktoren oder als Konsumgüter. Natürliche Ressourcen sind beispielsweise Licht, Wärme, Sauerstoff oder Schutz vor schädlicher Strahlung, erschöpfliche Ressourcen wie Kohle, Erdgas oder Erdöl, sowie Pflanzen und Tiere als Nahrungsmittel. Bei der Umwandlung dieser Ressourcen fallen Abfallstoffe und Emissionen an, die wiederum an die Umwelt abgegeben werden. Hieraus kann man Funktionen der Umwelt definieren: • • • •

Die Umweltmedien werden für die Entnahme von Ressourcen und Energie genutzt, Umwelt wird als Senke zur Aufnahme und Assimilation von Schadstoffen verwendet, Umwelt wird als Faktor Boden für Produktions- und Konsumaktivitäten eingesetzt und Umwelt fungiert als Lebenserhaltungssystem, entweder direkt als Konsumgut oder als Quelle für Lebensqualität.

Nach Suchanek (2020) wird sich der Begriff Umwelt immer auf die vom menschlichen Handeln geprägte (anthropogene) Umwelt beziehen. Umweltprobleme sind nicht objektiv, sondern werden durch die gesellschaftliche Wahrnehmung definiert. Insofern erfordert die Lösung von Umweltproblemen immer gesellschaftliche Entscheidungen. Völlig entgegengesetzt sind Ansätze, die eine anthropozentrische Sichtweise ablehnen (naturalistische Moralphilosophien), was dann auch zum normativen Konzept der Nachhaltigkeit überleitet.

6.2.1 Ökonomische Umwelt – Die anthropozentrische Sicht Umweltökonomische Fragestellungen im weiteren Sinne können einerseits als Problem negativer technologischer externer Effekte aufgefasst werden (Abschn.  6.2.1.1) und andererseits als Frage der optimalen Aufteilung von (erschöpflichen) Ressourcen zwischen heutigem und zukünftigem Konsum (Hotelling-Regel, Abschn. 6.2.1.2). Bei negativen technologischen externen Effekten führen Konsum- oder Produktionsaktivitäten privater Akteure zu einer „Nutzung“ der Umwelt, was wiederum zu negativen Wirkungen bei Dritten führt: Natürliche Ressourcen werden zerstört oder sind nur noch beschränkt nutzbar. Im Kern geht es um eine Nutzungskonkurrenz: Soll die Umwelt für Konsum- oder Produktionsaktivitäten quasi als Input genutzt oder soll die Umwelt an sich „konsumiert“ werden? Bei der Aufteilung erschöpflicher Ressourcen kommt aus umweltökonomischer Sicht in den Blick, dass Ressourcen, die heute abgebaut und konsumiert werden, morgen nicht mehr abgebaut und konsumiert werden können. Neben die Abbaukosten treten die

6.2 Umweltökonomische Grundlagen

211

Nutzenverluste, die Ressource zukünftig nicht mehr konsumieren zu können. Ressourceneigentümer berücksichtigen im Idealfall auch diese Nutzenverluste, weil sie die entgehenden Umsatzverluste der Zukunft in ihr Kalkül miteinbeziehen.

6.2.1.1 Umweltökonomisches Grundmodell Im Blickwinkel der negativen Externalität wird ein Schadstoff in die Umwelt eingetragen (Senkenfunktion), was die Fähigkeit zur direkten (konsumtiven) Nutzung der Umwelt beeinträchtigen kann (z. B. Menges, 2019, S. 576–583). Sauberes Trinkwasser kann nicht mehr entnommen werden, die Atemluft verschlechtert sich oder das Landschaftsbild wird beeinträchtigt. In der Abb. 6.1 sollen eine Fabrik oder ein Bauernhof Abfallprodukte ihrer Produktion in einen See einleiten; das Ausmaß der Einleitung wird mit dem Emissionsniveau e bezeichnet. Mit zunehmendem Emissionsniveau können die Anwohner oder Touristen den See immer weniger als Nahrungsgebiet oder Trinkwasserreservoir nutzen. In der Abb. 6.1 wird das Emissionslevel e ausgehend vom Nullpunkt 0 nach rechtshin zunehmend abgetragen. Ohne eine staatliche Begrenzung wäre für die Verschmutzer das Emissionslevel e0 gewinnmaximierend. Würden die Verschmutzer ihre Emissionen reduzieren wollen, könnten sie beispielsweise auf Düngemittel verzichten, weniger produzieren oder den Betrieb ganz einstellen. Weniger Düngemittel spart zwar Kosten des Düngemitteleinsatzes, der Betrieb realisiert aber geringere Ernteerträge und damit weniger D



GVK GS

E B

A C

F 0

e2

e*

e1

e0

Abb. 6.1  Optimaler Grad der Umweltverschmutzung I. (Quelle: Menges, 2019, S. 576)

e

212

6 Umweltpolitik

Umsatz. Die Umsatzverluste werden die Kosten des Düngemitteleinsatzes überwiegen, ansonsten hätte der landwirtschaftliche Betrieb das ursprüngliche Emissionslevel e0 nicht verwirklicht. Der Nettoeffekt entspricht den Vermeidungskosten. Produktionseinschränkungen würden ebenfalls zu Umsatzverlusten führen, die wiederum größer als die eingesparten Inputkosten (weniger Arbeitskräfte, langfristig geringerer Kapitaleinsatz) sind. Üblicherweise steigen die Vermeidungskosten umso mehr an, je mehr bereits an Emissionen eingespart wurde. Die Grenzvermeidungskostenkurve (GVK) in Abb.  6.1 steigt daher ausgehend von e0 nach links hin an. Im Extremfall könnte hier – nicht in der Abbildung dargestellt – die GVK-Kurve am linken Rand die Ordinate nicht berühren, sondern unendlich ansteigen: Die nicht mehr produzierten Güter sind so essenziell (lebenswichtige Medikamente), dass ihre Vermeidung unendliche Nutzenverluste erzeugt. Je mehr Emissionen entstehen, umso größer könnten die zusätzlichen Nutzenverluste (Grenzschäden, GS) bei den Anwohnern und Touristen werden. Ein geringer Senkeneintrag mag immer noch Trinkwasserqualität erlauben, insbesondere wenn die Selbstreinigungskräfte des Sees eine gute Klärfunktion übernehmen. Je mehr aber die Verschmutzung zunimmt, umso mehr stört es die Anwohner und Touristen: Die Naherholung am verunreinigten See gelingt nicht mehr, Trinkwasser ist nicht mehr gewinnbar. Im Extremfall sind die Grenzschäden unendlich hoch, wenn bestimmte Umwelt„service“leistungen unwiederbringlich verschwinden. Bestimmte Tier- bzw. Pflanzenarten sterben aus, was von den Nutzern der Umweltgüter als ­„unverzeihlich“ angesehen wird, sei es weil man eine Präferenz für Biodiversität hat oder weil man fürchtet, dass genau diese Pflanzenarten zukünftigen Generationen zum Beispiel für die Entwicklung von Medikamenten fehlen werden. In der Abb. 6.1 wurde daher darauf verzichtet, die GS-Kurve rechts über den Punkt D hinaus zu zeichnen. Aus dem Schnittpunkt von GVK- und GS-Kurve in Punkt A (Abb. 6.1) ergibt sich das optimale Ausmaß an Emissionsvermeidung e*, was man auch als optimales Ausmaß an Umweltverschmutzung e* bezeichnen kann. Reduziert man die Emissionsmenge von e0 nach e1, wenden die Schädiger Vermeidungskosten in Höhe von Ce0e1 auf, was auch gesellschaftlich einen Wohlfahrtsverlust darstellt; die verwendeten Ressourcen stehen für keine andere Verwendung zur Verfügung. Die in Aussicht gestellte Emissionsreduktion würde jedoch Schäden in Höhe von etwa BDe0e1 nicht entstehen lassen, was aus der Sicht der Gesellschaft einen eindeutigen Wohlfahrtsgewinn darstellt. Der Nettowohlfahrtszuwachs entspricht somit in etwa BDe0C und ist klar positiv. Umweltschutz bis e1 wäre somit auf jeden Fall lohnend. Selbst aber die Reduktion der Emissionsmenge auf e* wäre gesamtwirtschaftlich gesehen sinnvoll: Der zusätzliche Nettowohlfahrtszuwachs ABC wäre noch realisierbar. Mehr Umweltschutz als e* zu verfolgen, wäre wohlfahrtssenkend: Die Reduktion von e* auf e2 erzeugt Vermeidungskosten in Höhe von EA e*e2, dem nur Nutzen in Form nicht entstehender Schäden FAe*e2 gegenüberstehen. Also verliert die Gesellschaft EAF durch vermehrten Umweltschutz. Mit der Abb. 6.2 wird die Überlegung zum optimalen Grad der Schädigung noch einmal zusammengefasst. Die Fläche Ae0e* stellen die aufzuwendenden Vermeidungskosten dar. Ein Teil der Schäden wird verhindert (in etwa ADe0e*), aber die Fläche 0Ae* bleibt als

6.2 Umweltökonomische Grundlagen

213 D



GVK GS

A

Vermeidungskosten

Restschäden 0

e*

e0

e

Abb. 6.2  Optimale Grad der Schädigung II. (Quelle: Menges, 2019, S. 581)

Restschaden übrig, was gesamtgesellschaftlich gesehen sinnvoll ist. Der ursprüngliche negative externe Effekt 0Deo wird also auf 0Ae* reduziert, m. a. W. der externe Effekt wird (teilweise) internalisiert. Das optimale Ausmaß der Schädigung liegt in der Abb. 6.2 in der Mitte und daher nicht bei oder nahe Null. Es geht also nicht um einen maximalen Umweltschutz, sondern um einen optimalen bzw. um das optimale Ausmaß der Schädigung und nicht um die Nullschädigung. Freilich könnte sich die Nullschädigung und damit der maximale Umweltschutz in etwa einstellen, wenn die GVK-Kurve sehr flach verlaufen würde bzw. die GS-Kurve sehr steil nach oben gehen würde. Dieses Modell wird auch als umweltökonomisches Grundmodell bezeichnet. Gegen das ökonomische Grundmodell kann man grundsätzliche Bedenken erheben. Erstens setzt diese Überlegung voraus, dass die GVK-Kurve nicht überhöht wahrgenommen wird. Zweitens muss die GS-Kurve die wahren Schadensverläufe abbilden, hierzu muss man a) alle tatsächlichen Emissionen erfassen können (technisch-­ naturwissenschaftliche Klarheit), b) wissen, welche Schäden aus den Emissionen für die Umwelt entstehen (ökologische Klarheit) und c) wie die Umweltschäden in monetäre Größen umzurechnen sind (Monetarisierung). Die Monetarisierung ist erforderlich, um die Schäden mit den Kosten der Vermeidung vergleichbar machen zu können. Sicherlich gibt es eine Reihe von methodischen Bedenken, ob eine solche Monetarisierung gelingen kann (z. B. Menges, 2019, S. 682–698). Jede Ablehnung einer Monetarisierung läuft je-

214

6 Umweltpolitik

doch Gefahr, dass die Schäden gar nicht bzw. zu gering erfasst werden. Ferner wurde ­bereits oben ausgeführt, dass die Frage der Umweltpolitik eine gesellschaftliche Bewertung erfordert. Jede andere Vorgehensweise müsste also auch in irgendeiner Form die Vor- bzw. Nachteile der Umweltpolitik bewerten, zumindest wenn eine rationale Umweltpolitik erfolgen soll. Als letzter Einwand bleibt, dass in die Bewertung der Umweltschäden nur die Präferenzen der Menschen für den Schutz der Umwelt eingehen. Selbst wenn die Menschen die Konsequenzen unzureichenden Umweltschutzes richtig einschätzen und wenn sie die Nutzenverluste zukünftiger Generationen achten wollen, bleibt es dabei, dass nur zählt, was die Menschen zu diesem Thema denken, was sie als ihre (wahren) Präferenzen offenbaren und wozu sie sich gemeinsam mit dem Rest der Gesellschaft entscheiden.

6.2.1.2 Ressourcenökonomisches Grundmodell In dem berühmten Aufsatz von Hotelling (1931) geht es um den wohlfahrtsoptimalen Abbaupfad einer erschöpflichen Ressource wie z. B. von Öl, Gas, Kohle oder Uran (Endres & Rübbelke, 2022, S. 329–336; Endres & Querner, 2000, S. 23–33). Die Nettowohlfahrt einer Gesellschaft aus dem Abbau einer erschöpflichen Ressource setzt sich aus den Vorteilen der Nutzung der Ressource zusammen, gemessen durch die Zahlungsbereitschaften, abzüglich der Abbau- und der Nutzungskosten. Die Nutzungskosten ergeben sich aus der Tatsache, dass Einheiten der erschöpflichen Ressource, die heute genutzt werden, morgen nicht mehr zur Nutzung zur Verfügung stehen. Die zunehmende Knappheit der Ressource in der Zukunft führt zu ansteigenden Nutzungsgrenzkosten im Zeitablauf. Hotelling unterstellt, dass es individuelle Ressourceneigentümer gibt, die ungeschmälert über ihre Ressource heute und morgen verfügen können. „Unklare“ Verfügungsrechte wie Eigentumsstreitigkeiten über die geografische Reichweite eines Gasfeldes oder einer Ölquelle oder drohende staatliche Enteignungen sind ausgeschlossen. Es gibt eine so große Anzahl von Anbietern der Ressource, dass man von wettbewerblichen Ressourcenmärkten ausgehen kann. Ferner wird unterstellt, dass es ein System perfekter Terminmärkte gibt, d. h. ohne Schwierigkeiten können zukünftige Erträge beliehen werden und jede beliebige Summe kann langfristig angelegt werden. Da positive Zinssätze unterstellt werden, werden zukünftige Gewinne auf den Gegenwartszeitpunkt hin diskontiert. Steigende Gewinne aus höheren Ressourcenpreisen in der Zukunft werden natürlich ebenfalls diskontiert. Der gesamtwirtschaftliche Nutzen in den betrachteten Zeitperioden soll kardinal messbar sein, und durch Addition der Teilnutzen ergibt sich der gesamte Nutzen der Konsumenten. Abb. 6.3 beschreibt in zwei Perioden, t0 + t1, die Abwägungsentscheidung über die Nutzung der gegebenen Ressource 0R bzw. 0′ R . Die Kurven der marginalen Zahlungsbereitschaften MZB0 und MZB1 stellen die aggregierten Zahlungsbereitschaften der Ressourcennutzer dar, mit jeder weiteren konsumierten Ressourceneinheit sollen die Zahlungsbereitschaften fallen. AGK0 und AGK1 stellen die konstanten Grenzkosten des Abbaus der Ressource dar. Die Kurven der Zukunftsperiode, Periode t1, werden vom Nullpunkt rechts (0′) abgetragen; in Richtung R bedeutet von der Ressource morgen mehr

6.2 Umweltökonomische Grundlagen

215



€ MZB0 MZB1 AGK0+NGK0

NGK0

A a AGK0 AGK1

b

0 RS

R*

RT



Abb. 6.3  Optimale Aufteilung der Ressource im 2-Perioden-Modell. (Quelle: Endres & Querner, 2000, S. 30)

abzubauen bzw. zu konsumieren. In der Gegenwartsperiode t0 startet man im linken Nullpunkt 0 und bewegt sich mit mehr Abbau bzw. mehr Konsum in Richtung R . MZB1 und AGK1 liegen tiefer als die Kurven der Gegenwartsperiode 0, da Nutzen bzw. Kosten der Periode 1 mit einem Zinssatz diskontiert werden. Zwischen 0 und RS sind die Abbaugrenzkosten AGK1 höher als die Zahlungsbereitschaften. Diese Einheiten werden folglich von den Nutzern der Periode 1 nicht beansprucht. Rechts von RS sind die Zahlungsbereitschaften in der Periode 1 höher als die anfallenden Abbaugrenzkosten, jeweils betrachtet aus der Gegenwartsperiode to. Keine Nutzungskonkurrenz gibt es auch für die Mengen zwischen R und RT. Nutzungskonkurrenz gibt es folglich nur zwischen RT und RS. Um die Nutzungsrivalität zwischen RS und RT grafisch abzubilden, kann man die Kurve NGK0 bilden, die der Differenz zwischen MZB1 und AGK1 entspricht. M. a. W.: NGK0 entspricht dem Nettowohlfahrtsverlust, wenn eine Ressourceneinheit morgen weder abgebaut noch konsumiert wird. Addiert man nun die Abbaugrenzkosten der Periode 0 zu der Kurve NGK0 und setzt dieses Ergebnis gleich der Kurve MZB0, ergibt sich der Optimalpunkt mit der Menge R*. Die Ressourceneinheiten zwischen R und R* sollten gesamtwirtschaftlich optimal in der Periode t0 abgebaut werden, und zwischen R* und R steht der Periode t1 die Nutzung zu. Jede andere Aufteilung zwischen Perioden wäre eine Wohlfahrtsverschlechterung: Rechts von R* der Periode t0 mehr Ressourcen zuzugestehen, würde zu geringeren Nutzengewinnen führen als an Abbaukosten und Nutzenverlust in der Periode t1 anfallen würde; mehr als R* der Zukunftsperiode einzuräumen, würde weniger

216

6 Umweltpolitik

Vorteile der Ressourcennutzung erzeugen als dafür an Ressourcenaufwand für den Abbau sowie nicht-erzielbarer Nutzen in der Periode t0 anfallen würde. Im Optimum gilt also, dass die Nettonutzen in beiden Perioden einander gleich sein müssen: MZB0 - AGK 0 = NGK 0 = MZB1 - AGK1 (6.1)



Diesen Zusammenhang kann man auch für mehr als zwei Perioden aufschreiben: MZB0 - AGK 0 = 144 244 3 undiskontierte Grenznutzen in t0



MZB1 - AGK1 MZB2 - AGK 2 = = ¼, 2 1+ r) ( 1 + r ( ) 144244 3 1442443 diskontierte Grenznutzen aus t1

diskontierte Grenznutzen aus t2

(6.2)

wobei r dem Diskontsatz am Markt entspricht. Um eine optimale Ressourcenaufteilung zu erreichen, müssen die undiskontierten Nettogrenznutzen der Gl. 6.2 mit der sozialen Diskontrate w wachsen. Kasten 6.1: Beweis der Aussage zu Gl. 6.2 (Endres & Querner, 2000, S. 31 f.)

Die Wachstumsrate w des Nettogrenznutzen (NGN = (MZB-AGK)) kann man für die Perioden t0 und t1 schreiben als w=

NGN1 - NGN 0 . NGN 0

(6.3)

Gl. 6.2 wird zu: NGN 0 =

NGN1 , (1 + r )

(6.4)

umgeformt ergibt sich: r=

NGN1 - NGN 0 . NGN 0

(6.5)

Gl. 6.3 und 6.5 sind einander gleich, wenn die soziale Wachstumsrate w dem Marktzinssatz r entspricht. q. e. d.

Mit der Abb. 6.4 wird das Geschehen auf Ressourcenmärkten nachgezeichnet. Im ersten Quadranten befindet sich eine intertemporäre Nachfragefunktion N, p stellt den Prohibitivpreis dar, d.  h. zu diesem Preis würde die nachgefragte Menge auf Null zurückgehen; bei fallenden Preisen ergeben sich positive Nachfragemengen. Über die 45°-Linie im vierten Quadranten kann man die nachgefragten Mengen zu einem bestimmten Zeitpunkt t abtragen. Die Kurve q(t) des dritten Quadranten beschreibt, welche Mengen im

6.2 Umweltökonomische Grundlagen

217 p(t)

p(t) AGK

̿

I

II N

p(t)

p(0) AGK

0

T t

0

q(t)

q(t)

A

q(t)

III

q(t)

IV

45⁰

Abb. 6.4  Hotelling-Regel I. (Quelle: Endres, 2011, S. 298)

Zeitablauf von der erschöpflichen Ressource abgebaut werden. Die Fläche 0TA im dritten Quadranten soll den Gesamtressourcenbestand darstellen. Mit p(t) im II. Quadranten wird ein Preispfad über die Zeit beschrieben, der mit dem Preis p(0) in der Ursprungsperiode beginnt und bis zum Preis p ansteigt. Zu diesem Prohibitivpreis p wäre die Ressource zum Zeitpunkt T gerade erschöpft. Zum Preis p würde die Menge q nachgefragt, woraus man durch Spiegelung an der 45°-Linie im Quadranten IV zum Zeitpunkt t kommt. Zu diesem Zeitpunkt zeigt der dritte Quadrant, dass die Ressource noch nicht erschöpft ist,  entsprechend unterhalb der Fläche von t und T bis zu q(t) sind noch Ressourcenbestände verfügbar. Die Differenz zwischen p(t) und den Abbaugrenzkosten AGK

218

6 Umweltpolitik

im zweiten Quadranten zeigt die (undiskontierten) Gewinne der (wettbewerblichen) Ressourceneigentümer auf. In Abb. 6.5 ist ergänzend ein anderer Preispfad pˆ ( t ) eingezeichnet, der mit dem niedrigeren „Einstiegspreis“ pˆ (0) in der Periode Null beginnt. Zum Zeitpunkt Tˆ wäre die Ressource erschöpft. Über die Quadranten I und IV sieht man, dass zu diesen niedrigeren Preisen zu den jeweiligen Zeitpunkten eine immer größere Menge abgebaut wird. Es erˆ B, wobei dieser so konstruiert sein soll, dass 0TA gleich 0 Tˆ gibt sich der Abbaupfad TC CB ist. Der niedrigere Preispfad pˆ ( t ) des Quadranten II stellt jedoch kein Gleichgewicht dar, da zum Endzeitpunkt Tˆ noch Konsumenten bereit wären, einen höheren Preis zu

p(t)

p(t) AGK

̿

I

II N

p(t)

p(0) AGK

0

T t

0

q(t)

q(t) C A

(t)

B q(t)

III

q(t)

Abb. 6.5  Hotelling-Regel II. (Quelle: Endres, 2011, S. 298)

IV

45⁰

6.2 Umweltökonomische Grundlagen

219

zahlen. Erst im Zeitpunkt T findet zum Prohibitivpreis p keine Nachfrage mehr statt. Die höheren Gewinnpotenziale als Differenz zwischen p(t) und AGK (= „Nutzungs“ kosten) leiten die Ressourcenanbieter, sich entsprechend des gleichgewichtigen Preispfades p(t) zu verhalten. Wiederum sind es also in einem (wettbewerblichen) Ressourcenmarkt die entgangenen Nutzungs(grenz-)kosten, die zur gewinnmaximalen Ressourcennutzung führen. Unter idealisierten Bedingungen fallen einzelwirtschaftliche und gesamtwirtschaftliche Optimalität zusammen. Unstrittig ist, dass auf Ressourcenmärkten Hotelling-Preispfade mit stetig steigenden Rohstoffpreisen und Anstiegen bis zum Prohibitivpreis kurz vor der Erschöpflichkeit der Ressource nicht zu beobachten sind. Endres und Rübbelke (2022, S. 336 f.) und Feess und Seeliger (2021, S. 286 f.) weisen zu Recht daraufhin, dass • immer wieder neue Ressourcenbestände „entdeckt“ werden, • neue Abbautechniken entwickelt werden, die zu sinkenden Abbaugrenzkosten führen, • „backstop“-Technologien (erschöpfliche Ressourcen z. B. durch erneuerbare ersetzend) zum Einsatz kommen und • Substitute (Heizöl durch Erdgas) genutzt werden. Ressourcenpreise bleiben daher oft (trendmäßig) konstant und die Reichweite im Sinne des zu erwartenden Erschöpfungszeitpunktes verschiebt sich immer weiter in die Zukunft. Modelltheoretisch würde jeder relativierende Faktor quasi einen neuen Hotelling-­Preispfad begründen, das Modell wird somit nicht falsifiziert, sondern facettenreicher fortgeschrieben. Das ressourcenökonomische Basismodell zeigt zumindest auf, dass es marktimmanente Kräfte gibt, die in Richtung einer wohlfahrtsoptimalen intertemporalen Nutzung der Ressource gehen. Insbesondere die in der Zukunft steigenden Ressourcenpreise sind starke Argumente, heute Ressourcenbestände erst einmal nicht anzutasten (die Ressource im Boden zulassen). Suboptimale Ressourcenabbaupfade sind jedoch dann zu erwarten (Endres (2011, S. 300), wenn der Abbau mit negativen externen Effekten verbunden ist oder unvollständige Verfügungsrechte einen Wettlauf um die schnellstmögliche Extraktion entfachen; sind Ressourcen in der Hand eines Monopolisten, geht der Abbau jedoch zu „langsam“ (Hotelling-Solow-Paradox). Gerade das internationale Klimaproblem (Abschn. 6.4) zeigt, dass Umweltfragen mit der Frage der optimalen Ressourcennutzung verbunden sein können.

6.2.2 Ethische Grundlagen der Umweltökonomik Naturalistische Moralphilosophien und das Konzept der Nachhaltigkeit Für die praktische Umweltpolitik (Abschn. 6.3) weniger wichtig, aber für die öffentliche Debatte und vielleicht mehr noch für die Zusammenarbeit mit anderen Wissenschaftsdisziplinen ist die ethische Verortung der Umweltökonomik von Bedeutung: Humanisti-

220

6 Umweltpolitik

sche Moralphilosophien in ihren Spielarten „Liberalismus und Utilitarismus“ versus naturalistische Moralphilosophien mit dem normativen Konzept der Nachhaltigkeit (Menges, 2019, S. 584–591 und ausführlicher Endres & Rübbelke, 2022, S. 344–364). In der humanistischen Moralphilosophie kommt dem Menschen eine zentrale Funktion zu (anthropogene Sichtweise). Der Mensch legt die für die Gesellschaft geltenden Werte fest, er hat dafür die erforderlichen Rechte und sieht sich den entsprechenden Pflichten gegenüber. Es kommt die in den Wirtschaftswissenschaften übliche Basisannahme des methodologischen Individualismus zur Anwendung. Methodologischer Individualismus bedeutet, dass gesellschaftliche Fragestellungen (ausschließlich) durch den Blick auf das Verhalten von Individuen erklärt werden sollen (positive Theorie) und die Bewertung von gesellschaftlichen Zuständen aus individuellen Bewertungen folgen soll (normative Theorie). In der Spielart des Liberalismus steht die Unverletzlichkeit individueller Rechte im Mittelpunkt. Staatliche Eingriffe zum Schutz der Umwelt als Rechtfertigungsgrund für Eingriffe in individuelle Rechte reichen danach nicht aus, stattdessen müssen zusätzlich Marktversagensargumente wie öffentliche Güter oder technologische externe Effekte vorliegen. Ferner steht die Bewertung von Prozessen und Verfahren im Mittelpunkt, nicht die Bewertung von Ergebnissen. Der utilitaristische Ansatz „startet“ mit dem individuellen Glück, der individuellen Zufriedenheit, und versucht darauf aufbauend die soziale Z ­ ufriedenheit, die soziale Wohlfahrt, zu ermitteln. In Bezug auf Umweltprobleme kommt es erstens auf die Bewertung eingebettet in die soziale Wohlfahrt an. Zweitens gehen nur die individuellen Wertschätzungen in die Bewertungen ein (Abschn. 6.2.1). Drittens, für die Aggregation zur sozialen Wohlfahrt müssen interpersonelle Nutzenvergleiche vorgenommen werden. Die Wohlfahrtsökonomik mit dem Pareto-Kriterium („Ein gesellschaftlicher Zustand A ist besser als B, wenn in A mindestens ein Individuum bessergestellt werden kann, ohne ein anderes schlechter zu stellen“) oder dem Kaldor-Hicks-Kriterium („A ist besser als B, wenn in A das besser gestellte Individuum den Verlierer im Vergleich zu B kompensieren könnte und trotzdem selbst noch einen Vorteil durch den Übergang von A nach B zieht“) könnten zur Anwendung kommen. In naturalistischen Moralphilosophien gibt es keine besonderen Rechte der Menschen, alle Lebewesen sind gleichberechtigt. Die natürliche Umwelt dürfe nicht aus dem Blickwinkel ihres funktionalen Nutzens bewertet werden, sondern weise einen Eigenwert auf. Beispielsweise sollen alle Lebewesen moralisch relevant sein, die bestimmte Präferenzen besitzen und diese verfolgen können. Hierunter würden beispielsweise auch Tiere als „relevante“ Lebewesen fallen. Der Begriff der Nachhaltigkeit wird heutzutage in vielfältiger Weise verwendet. In der Öffentlichkeit wird er zunehmend als Synonym für langfristiges Denken eingesetzt. • In den Wirtschaftswissenschaften werden Wachstums-, Entwicklungs- oder Ressourcennutzungspfade als nachhaltig bezeichnet, wenn der Wohlstand nachfolgender Generationen zu keinem Zeitpunkt zurückgeht. Wieviel seines heutigen Einkommens darf ein Individuum für den heutigen Konsum ausgeben, ohne zukünftige Konsummöglich-

6.2 Umweltökonomische Grundlagen

221

keiten zu beeinträchtigen? Wie viele Schulden darf die heutige Generation aufbauen, ohne die finanzielle Lage zukünftiger Steuerzahler zu erdrücken? Wie muss man den heutigen Sozialstaat mit seinen impliziten Ansprüchen für Rentner organisieren, sodass er auch in späteren Generationen mit ähnlichen Beitragssätzen wie heute funktionsfähig bleibt? Nachhaltige Staatsfinanzen oder ein nachhaltiger Sozialstaat werden auch unter dem Gesichtspunkt der Tragfähigkeit diskutiert. Wieviel CO2 dürfen wir heute noch emittieren, um das Ziel einer gerade noch vertretbaren Klimaerwärmung zu halten und gleichzeitig der Folgegeneration noch vertretbare (klima-)politische Handlungsoptionen zu ermöglichen (Abschn. 2.1.2.4)? Bei diesen „ökonomischen“ Nachhaltigkeitsfragen geht es oft darum, wie man zukünftigen mit heutigem Nutzen vergleichbar macht (Diskontierung) oder wie man zu erwartenden technischen Fortschritt, der tendenziell kostensparend wirken wird, zutreffend einschätzt. • In der naturwissenschaftlich geprägten ökologischen Ökonomik wird die wohlfahrtsökonomische Betrachtung überwiegend abgelehnt und der Begriff der Nachhaltigkeit bzw. der nachhaltigen Entwicklung als normatives Kriterium der Umweltpolitik propagiert. Der Begriff der Nachhaltigkeit wird vielfach entweder als schwache, starke oder kritische Nachhaltigkeit aufgefasst. Schwache Nachhaltigkeit geht für nachfolgende Generationen von einem konstanten Kapitalstock über die Zeit aus, innerhalb dessen beliebig zwischen Sachkapital und Naturkapital substituiert werden darf. Bei starker Nachhaltigkeit darf das Naturkapital in seiner Gesamtheit oder jeweils in seinen einzelnen Komponenten nicht mehr verschlechtert werden; bei erschöpflichen Ressourcen müsste der gegenwärtige Bestand „eingefroren“ werden (wenn keine neuen Rohstoffquellen entdeckt würden) und bei nachwachsenden Ressourcen nur in Höhe der nachwachsenden Einheiten entnommen werden. Auf jeden Fall ist eine Substituierbarkeit mit dem Sachkapital ausgeschlossen. Für den Fall der kritischen Nachhaltigkeit gilt, dass für die verschiedenen Bestände nicht zu unterschreitende Mindestbestände (Standards, für das Überleben von Natur und Menschheit existenzielle Minima) unbedingt einzuhalten sind. Oberhalb der Mindestbestände gibt es jedoch Substitutionsmöglichkeiten. Es gibt noch andere Konzepte, wie z. B. das integrierte, gleichschenklige Nachhaltigkeitsdreieck aus „Soziales, Ökonomie und Ökologie“, innerhalb dessen dann zwischen Begriffen wie „stark ökologisch, vorwiegend ökologisch oder sozial ökologisch“ zu wählen sei. Am ehesten Konsens dürfte für die Ausprägung der kritischen Nachhaltigkeit bestehen, insbesondere vor dem Hintergrund vielfach bestehender ökologischer Unkenntnis, denkbarer Worst-case-Szenarien und unklarer Wahrscheinlichkeiten. Aber auch hier besteht die Problematik, definieren zu können, was die konkret zu schützenden Mindestbestände sind bzw. wer über diese entscheiden darf. Der Begriff der Nachhaltigkeit muss sich jedoch grundsätzlich fragen lassen, ob diese Konzepte operationalisierbar sind bzw. wer die Deutungshoheit in der Umsetzung bekommen soll oder ob die grundsätzliche Auffassungsunterschiede zwischen humanistischer und naturalistischer Moralphilosophie nicht dadurch eher verdeckt werden. In einer

222

6 Umweltpolitik

demokratischen Gesellschaft führt wohl kein Weg daran vorbei, die Nutzungskonkurrenzen und ethischen Werturteile offenzulegen, um dem Wähler eine fundierte Entscheidung zu ermöglichen.

6.3 Umweltökonomische Instrumente Für die Umweltpolitik sind die pragmatischen Instrumente „Auflage, Abgabe und Zertifikate (handelbare Schädigungsrechte)“ von eminenter Bedeutung (Abschn. 6.3.1). Diese können nach den Kriterien statische Effizienz (Abschn. 6.3.2), dynamische Anreizwirkung (Abschn.  6.3.3) und ökologische Treffsicherheit (Abschn.  6.3.4) bewertet werden. Zur politischen Durchsetzbarkeit sei auf Abschn. 6.3.5 verwiesen.

6.3.1 Auflagen, Abgaben und Zertifikate In Grundzügen kommt es in der Umweltpolitik auf drei pragmatische Instrumente an: Auflage, Abgabe und Zertifikat (Endres & Rübbelke, 2022, S. 119–126). • Unter Auflagen wird für die Analyse in diesem Teil des Buches verstanden, dass einzelne Betriebe bzw. Betriebsteile (Anlagen) durch den Staat Vorgaben bekommen, wie viele Emissionen sie für eine vorgegebene Zeiteinheit ausstoßen dürfen. Sehr vereinfachend wäre eine Vorgabe, wonach jeder Emittent pauschal einen bestimmten Prozentsatz seiner bisherigen Emissionsmenge reduzieren muss. In der Abb. 6.6 sei ein Unternehmen i dargestellt, dass in seinem Betrieb eine Anlage betreibt, was ohne jegliche Umweltregulierung in seinem Gewinnmaximum e an Emissionen erzeugen würde. Emissionen zu vermeiden, also von e nach links zu gehen, erzeugt zusätzliche Aufwendungen. Beispielsweise schadstoffärmere Inputs (schwefelärmere Kohle, um SO2 zu reduzieren) zu verwenden, neue Techniken oder mit geringerem Emissionsausstoß einzusetzen, ist teurer als die Produktionsweise in e . Je mehr Emissionen vermieden werden, umso teurer wird die zusätzliche Vermeidung; die Grenzvermeidungskosten des Unternehmens i steigen an (GVKi). Im Falle einer Auflage gegenüber dem Unternehmen i soll die Vorschrift unzweifelhaft gelten, dass die Emissionen von e nach e zu reduzieren seien. Das Unternehmen muss dafür Vermeidungskosten in Höhe der Fläche A e e tragen. Die Restemissionen e können wie bisher kostenlos erfolgen. • Im Falle einer Abgabe auf die Emissionsmenge e ((Öko-)Steuer, Preis-Standard-­ Ansatz) wird ohne Einschränkung ein Steuersatz t erhoben. Würde das Unternehmen i in Abb. 6.6 wie bisher 0 e emittieren, wäre eine Steuerzahllast 0tB e fällig. Emissionen um e - e zu reduzieren, spart daher ABe e an Steuerzahlungen ein. Hierfür fallen Vermeidungskosten in Höhe von Ae e an. Netto steigt der Gewinn im Vergleich zur Situation des Nichtstuns (im alten Emissionslevel e verharren) um AB e an. Mehr als e zu vermeiden, zieht mehr zusätzliche Vermeidungskosten nach sich als an Steuerersparnis

6.3 Umweltökonomische Instrumente

223



GVKi

t/z

0

A

B

e

Abb. 6.6  Einzelwirtschaftliche Funktionsweise von Auflage/Abgabe und Zertifikat bei kostenloser Vergabe. (In Anlehnung an Endres & Rübbelke, 2022, S. 134)

pro Emissionseinheit t realisierbar sind; eine höhere Vermeidung findet somit nicht statt  – zumindest, wenn sich das Unternehmen i gewinnmaximierend verhält. Jedes Unternehmen i wird also so lange vermeiden, bis GVKi = t gilt. Unterschlagen werden sollte jedoch nicht, dass für die Restemissionen 0 e eine (Rest-)Steuerlast in Höhe von tA e0 anfällt; bei einer Auflage gibt es keine Zusatzbelastung. • Zertifikate oder handelbare Schädigungsrechte legen eine Obergrenze der zulässigen Emissionsmenge fest und alle einbezogenen Emittenten dürfen nur emittieren, wenn sie entsprechend der emittierten Menge Zertifikate besitzen. Werden die Zertifikate versteigert, d. h. jeder Emittent muss für jede gewünschte Menge (z. B. CO2/t) auf einem speziellen Handelsplatz ein Zertifikat erwerben, soll sich ein Gleichgewichtspreis z einstellen (Abb. 6.6). Für das Unternehmen i gilt wiederum die gleiche Logik wie bei einer Abgabe: Gewinnmaximierende Vermeidung bis e und Ausgaben für den Kauf von Zertifikaten in Höhe von zA e0 . Im Falle der kostenlosen Vergabe, sei es, dass alle bisherigen Emittenten entsprechend ihrer Emissionsmengen der Vergangenheit (­Großvaterrechte) oder entsprechend der bestmöglich verfügbaren Technologie Rechte kostenlos zugeteilt bekommen, werden die Zertifikatsbesitzer i immer abwägen, ob sie die (kostenlosen) Rechte nutzen oder Emissionen vermeiden. Es soll der Zertifikatspreis zKV bei der kostenlosen Vergabe gelten (nicht in Abb. 6.6 dargestellt). Im Gewinnmaximum werden sie vermeiden, bis GVKi = zKV gilt. Für alle potenziellen Emittenten j, die als „Altanbieter“ leer

224

6 Umweltpolitik

ausgegangen sind oder als Neuanbieter emittieren wollen, ist es rational, ihre Grenzvermeidungskosten mit dem gültigen Zertifikatspreis zKV zu vergleichen. Emissionen werden von vornherein vermieden, solange die GVKj = zKV sind; und Zertifikate werden erworben, wenn GVKj  >  zKV. Wiederum werden also im Gewinnmaximum Emissionen vermieden, bis GVKj = zKV gilt. Insofern funktionieren beide „Formen“ des Zertifikatshandels für die letzte vermiedene Einheit gleich. Natürlich muss aber bei der kostenlosen Vergabe der Erstemittent für die Ausgangsmenge nichts zahlen, bei der Versteigerung entsteht bereits eine Zahlungspflicht für die erste emittierte Einheit. Für alle drei (pragmatischen) Instrumente muss gelten, dass sie auch entsprechend der Vorgaben umgesetzt werden: Auflagen müssen hinreichend kontrolliert werden, bei Abgaben muss entsprechend der Restemissionen gezahlt werden und bei Zertifikaten darf man nur emittieren, wenn man die entsprechende Zertifikatsmenge besitzt oder zumindest nach Ablauf der Abrechnungsperiode entsprechend zukauft. Für die folgende Analyse wird für alle drei Instrumente Gesetzestreue erwartet.

Kasten 6.2: Pigou-Steuer (Endres & Rübbelke, 2022, S. 105–122; Menges, 2019, S. 626–629).

In Abb. 6.7 wird die Funktionsweise einer Pigou-Steuer für einen Wettbewerbsmarkt beschrieben. Man geht von einer normal verlaufenden, fallenden Nachfragekurve N aus, die Angebotskurve entspricht der horizontal aggregierten Grenzkostenkurve A. Im Marktgleichgewicht C entsprechen sich die angebotene und die nachgefragte Menge, der Marktpreis P* und die Marktmenge X* stellen sich ein. Mit der Produktion bzw. dem Konsum des Gutes sollen außerhalb des Marktes Kosten bei Dritten entstehen, zum Beispiel durch SO2 und CO2, die man als (technologische) externe Effekte bezeichnen kann. In der Abb. 6.7 sollen diese technologischen externen Effekte durch die Grenzkostenkurve GKext in Relation zur produzierten Menge unterstellt werden. Gesamtwirtschaftlich ist der Punkt C aber ineffizient: Eine Reduktion der Menge von X* nach X** vermeidet externe Kosten gemäß der Fläche EFX*X** und privatwirtschaftliche Kosten (Ausgaben für Arbeit und Kapital) als Fläche DCX*X**. Insgesamt werden also Kosten in Höhe von BGX*X** (EFX*X** + DCX*X**) eingespart. Diesen Einsparungseffekten stehen jedoch Nutzenverluste bei den Konsumenten gegenüber, die unter Vernachlässigung von Einkommenseffekten als BCX*X** monetär gemessen werden könnten. Netto gewinnt die Gesellschaft BGC.  Eine weitere Mengenreduktion über X** hinaus würde mehr konsumentenseitige Nutzenverluste erzeugen als eingesparte private und externe Kosten. Der optimale Punkt ist somit der Punkt B, der gesamtwirtschaftlich anzustreben ist. Bereits Pigou (1920) hat diese Fehlallokation des Marktes gesehen und deshalb eine Besteuerung (umwelt-)schädlichen Verhaltens vorgeschlagen. Eine Umsetzung dieser Idee wäre, einen proportionalen Steuersatz t ( BD) zu erheben, sodass die Angebotskurve um t nach oben verschoben würde (A + t). Mit der Besteuerung würde

6.3 Umweltökonomische Instrumente

225

€ GKsoz=A+GKext A+t

N G

A=∑

B

P** P* t

C

GKext

D F

E

0

X**

X*

X

Abb. 6.7  Pigou-Steuer. (Quelle: Endres & Rübbelke, 2022, S. 109)

der „richtige“ Preis P** und die „richtige“ Menge X** „erzwungen“. Der externe Effekt würde optimal internalisiert. Die optimale Internalisierung führt aber nur zu einer Reduktion des externen Effektes, nicht zur vollständigen Beseitigung, wenn die Kurven der Abb. 6.7 gelten; der Restschaden 0EX** bliebe bestehen. Ferner zahlen die Marktteilnehmer eine Steuerlast insgesamt in der Höhe von t * X**. Leider wird man in der praktischen Umweltpolitik die Herausforderungen wohl nicht mit einer Pigou-Steuer lösen können: • Der Staat müsste die Nachfrage- und die Angebotskurve kennen. Im Normalfall beobachtet er bestenfalls nur Marktgleichgewichte im Zeitablauf. Änderungen über die Zeit können aber durch Verschiebungen der Angebots- bzw. Nachfragekurven (Präferenzänderungen, technologischer Fortschritt, etc.) ausgelöst werden, die neuen Preis-/Mengenkombinationen stellen dann keine geeigneten Schätzungen dar. • Die Darstellung der externen Kostenkurve setzt ­wie bereits oben ausgeführt ­voraus, dass die naturwissenschaftlich-technischen und die ökologischen Zusammenhänge klar sind sowie eine angemessene Monetarisierung gelingt. In der

226

6 Umweltpolitik

€ GKsoz=A+GKext A+t´

N G P*** P**

H

A=∑

B

J

P*

C

GKext

D F

E

0

X*** X**

X*

X

Abb. 6.8  Pigou-Steuer mit Überschätzung des Schadens. (Quelle: Menges, 2019, S. 627)

Abb.  6.8 wird davon ausgegangen, dass der relevante Grenzschaden monetär überschätzt wird: Anstatt EX** (Strecke BD) optimalerweise anzusetzen, wird FX* (Strecke GC) als Maßgröße für den Steuersatz t* verwendet. Man erkennt nicht, dass im Optimum der Grenzschaden kleiner ausfällt. Die neue Angebotskurve ist jetzt A + t′, sodass sich der Preis P*** und die Menge X*** ergibt. Das Dreieck HBJ wird gesellschaftlich gesehen an erreichbaren Nettonutzen vernichtet, da der Nutzen bei den Konsumenten HBX**X*** die gesamte sozialen Kosten JBX**X*** überwiegen. • Sobald sich irgendeine Größe verändert, müsste der einmal gefundene optimale Steuersatz wieder angepasst werden. Diese vielfältigen Informationsanforderungen an den Staat machen deutlich, dass in aller Regel eine Pigou-Steuer nicht umsetzbar sein wird. Insofern ist verständlich, dass die Idee der Besteuerung pragmatisch mit einer Abgabe/Ökosteuer angegangen wird. Mit der Abgabe wird bewusst auf die Bestimmung der GKext verzichtet und man setzt auf eine politische Zielsetzung des zu vermeidenden Emissionsniveaus, um daraus – vielleicht auch durch „Ausprobieren“ – den richtigen Steuersatz zu ermitteln.

6.3 Umweltökonomische Instrumente

227

Kasten 6.3: Coase-Theorem (Endres & Rübbelke, 2022, S. 53–74; Menges, 2019, S. 640–653)

Das sogenannte Coase-Theorem (1960) will zeigen, dass der Staat im Falle von Externalitäten nicht – durch Steuersetzung wie bei Pigou (1920) – eingreifen muss, um Externalitäten optimal zu beseitigen. Der Staat – so das Theorem – setzt allein den Rechtsrahmen, der „Rest“ erfolgt durch Verhandlungen der Privaten, wenn die Verhandlungen ohne die Existenz von Transaktionskosten stattfinden (könnten). Idealtypisch kann man zwei denkbare Rechtsrahmen festlegen: • Die Regel ohne Schadenshaftung. Der oder die Schädiger kann/können seine/ ihre Externalität in individuell rationalem Umfang ausüben, ohne reglementiert zu sein, z. B. durch eine Haftungsregel. Allerdings können Geschädigte Ausgleichszahlungen anbieten, damit der/die Schädiger die Externalität einschränken. • Die Regel mit Schadenshaftung. Die Geschädigten haben das (durchsetzbare) Recht, jegliche Schädigung abzuwehren bzw. im Falle einer Schädigung vollständig kompensiert zu werden. Jedoch auch sie sind bereit, Schädigungen zu erlauben, wenn sie dafür aus ihrer Sicht hinreichende Ausgleichszahlungen erhalten. Das Theorem kann man in die Effizienz- und in die Invarianzthese aufspalten. Nach der Effizienzthese führen die Verhandlungen mit den damit verbundenen Zahlungsströmen immer zu einem effizienten Zustand der Vermeidung, ganz gleich ob die Regel mit oder ohne Schadenshaftung gilt. Nach der Invarianzthese ist das Ergebnis der Verhandlungen immer das gleiche Ausmaß der Externalität unabhängig von der geltenden Haftungsregel. In der Abb.  6.9 wird wiederum auf der Abszisse das Emissionslevel abgetragen. Die ansteigende Grenzschadenskurve GS kann auch wie bisher interpretiert werden: Mit zunehmenden Emissionen werden Umweltschäden als immer gravierender wahrgenommen. Die Grenzvermeidungskostenkurve GVK stellt hier Nutzenentgänge der Schädiger dar, wenn Emissionen zurückgefahren werden; je mehr bisher Emissionen vermieden wurden, umso größer werden die Nutzenverluste. Beispielsweise würde ein Haushalt Einbußen der Automobilität umso gravierender ansehen, je mehr er bereits auf das Autofahren verzichtet hat. Es wird im Folgenden unterstellt, dass nur ein Schädiger und nur ein Geschädigter existiert: • Gilt die Regel ohne Schadenshaftung, wird der Punkt e0 zum Ausgangspunkt. Jeder Schädiger wird entsprechend der GVK-Kurve mindestens eine Kompensation fordern, damit er eine Schädigung zulässt; die GVK-Kurve wird zur Mindest-

228

6 Umweltpolitik D



GVK GS MZBR. m..SH

MZBR. o..SH

A MFR. m..SH 0

MFR. o..SH e*

R.. m. SH

e0 R.. o. SH

Abb. 6.9  Coase-Theorem. (Ähnlich: Menges, 2019, S. 644)

forderungskurve des Schädigers. Der Geschädigte zahlt maximal entsprechend der GS-Kurve. Ausgehend von e0 reicht bis zum Punkt A die maximale Zahlungsbereitschaft aus, um den Schädiger entsprechend seiner Mindestforderungskurve kompensieren zu können. Über A hinaus bzw. links von e* müsste der Geschädigte mehr an Kompensation leisten als es seiner Zahlungsbereitschaft entspricht. Folglich wird bei der Regel ohne Schadenshaftung Punkt A bzw. e* als Verhandlungsergebnis erwartet. Bereits mit Abb. 6.2 wurde gezeigt, dass mit e* das optimale Ausmaß der Schädigung verbunden ist. Insofern erreicht man mit der Regel ohne Schadenshaftung ein effizientes Ergebnis. • Bei der Regel mit Schadenshaftung startet man in Abb. 6.9 in Punkt 0. Der Geschädigte wird eine Schädigung nur zulassen, wenn er mindestens entlang der GS-Kurve entschädigt wird; die GS-Kurve wird zur Mindestforderungskurve des Geschädigten für den Fall der Regel mit Schadenshaftung. Der Schädiger dagegen wird maximal für mehr Schädigung entsprechend seines Nutzenverlustes bei Nichtschädigung zahlen; die GVK-Kurve wird zur maximalen Zahlungsbereitschaftskurve. Zwischen 0 und e* reicht die Zahlungsbereitschaft des Schä-

e

6.3 Umweltökonomische Instrumente

229

digers aus, sich die Schädigung zu erkaufen. Rechts von e* verlangt der Geschädigte „zuviel“, eine Schädigung ab e* findet nicht statt. Wiederum wird das optimale Ausmaß der Schädigung durch Verhandlungen erreicht, wenn die Regel mit Schadenshaftung gilt. Unter beiden Regeln ist das effiziente Ausmaß zu erwarten, die Effizienzthese gilt. Allerdings ist die Invarianzthese nicht zwingend gültig wie die Abb.  6.10 beispielhaft zeigt. Die Nachfrage nach höherer Umweltqualität ist sicherlich einkommensabhängig, da mit steigendem Einkommen der Haushalt bessere Umwelt „nachfragen“ wird (Umwelt als superiores Gut). Bei der Regel mit Schadenshaftung erhalten die Geschädigten eine Ausgleichszahlung, bei der Regel ohne Schadenshaftung werden sie eine Zahlung leisten müssen. Mit Schadenshaftung führt also zu höherem Einkommen als ohne Schadenshaftung. Ist Umwelt ein superiores Gut, liegt die Mindestforderungskurve des geschädigten Haushaltes bei der Regel mit Schadenshaftung höher als die maximale Zahlungsbereitschaftskurve bei der Regel ohne Schadenshaftung (GS2-Kurve verläuft steiler als GS1-Kurve). Wiederum füh-



C GS2

GVK

GS1

MZBR. m..SH MFR. m..SH

MZBR. o..SH

A2

A1 MFR. o..SH

0 R.. m. SH

e2

Abb. 6.10  Coase-Theorem und Invarianzthese

e1

e0 R.. o. SH

e

230

6 Umweltpolitik

ren die Verhandlungen zu effizienten Ergebnissen (A1 und A2 als Schnittpunkte von GS- und GVK-Kurve), jedoch sind die Emissionslevel unterschiedlich (e1 ≠ e2). Die Invarianzthese greift nicht. Die Ergebnisse des Coase-Theorems sind für die praktische Umweltpolitik fast immer irrelevant, da die restriktiven Annahmen des Theorems meist nicht gelten. Daraus ergeben sich folgende Kritikpunkte: • Bei vielen umweltpolitischen Problemen werden hohe Verhandlungskosten auftreten. Diese Form der Transaktionskosten entsteht allein schon dadurch, dass sich die Parteien zusammenfinden müssen, um jeweils mit der Gegenpartei zu verhandeln. Gilt die Regel ohne Schadenshaftung, müssen die Geschädigten untereinander zusammenfinden, um dem Schädiger bzw. den Schädigern Ausgleichszahlungen anzubieten. Im Falle der Regel mit Schadenshaftung müssen die Schädiger die Ausgleichszahlungen organisieren. Je mehr Parteien „unter einen Hut“ zu bringen sind, umso größer werden die Verhandlungskosten. Übersteigt die Summe der Verhandlungskosten die Vorteile der Verhandlungslösung, in Abb.  6.9 jeweils die Differenz zwischen maximalen Zahlungsbereitschaften und Mindestforderungen, ist eine Einigung nicht mehr zu erwarten. • Strategische Probleme können darüber hinaus Verhandlungsergebnisse verhindern. Im Falle der Regel ohne Schadenshaftung zahlen die Geschädigten Kompensationen. Wenn die Vorteile verminderter Schädigung allen Geschädigten zu Gute kommen, können sich einzelne Geschädigte in die Position des Trittbrettfahrers begeben: Man verleugnet sein eigenes Interesse an einer Schadensminderung und lässt die anderen Geschädigten alleine zahlen. Wenn sich alle Geschädigten so verhalten, wird keiner bereit sein zu zahlen, eine Vereinbarung kommt nicht zustande. Bei der Regel mit Schadenshaftung müssen die Schädiger Geldbeträge aufbringen, um Schädigungen erlaubt zu bekommen. Kann man nicht die Erlaubnis zur Schädigung auf die zahlenden Schädiger begrenzen, können wiederum Schädiger zum Trittbrettfahrer werden: Sie legen ihre wahren Zahlungsbereitschaften nicht offen; wenn alle Schädiger sich so verhalten, bleibt die ineffiziente Nichtschädigung bestehen. Vermutlich werden Probleme des strategischen Verhaltens vor allem auftreten, wenn die jeweilige Gruppe viele Gruppenmitglieder aufweist: Jeder Einzelne kann darauf hoffen, dass einer der vielen anderen zahlt bzw. seine Nichtzahlung unbemerkt bleibt. • Adäquate Zahlbeträge zu fordern bzw. zuzusagen, setzt voraus, den Zusammenhang zwischen den verschiedenen Emissionslevels und den Wirkungen auf einen selbst zu kennen. Im Klartext bedeutet dies, dass die Schädiger ihre Grenzvermeidungskostenkurve und die Geschädigten ihre Grenzschadenskostenkurve kennen müssen. Insbesondere auf Seiten der Geschädigten, noch verstärkend bei privaten Haushalten, dürfte es für viele Umweltprobleme schwierig sein zu er-

6.3 Umweltökonomische Instrumente

231

kennen, inwieweit man von einer Beeinträchtigung der Natur betroffen ist. Gerade wenn es um Langzeitfolgen einer Schädigung oder um neuartige Schadstoffe geht, ist eine Unterschätzung zu erwarten. Je häufiger diese Fehleinschätzungen auftreten, umso weniger können Verhandlungen effiziente Ergebnisse erbringen. Ein Kritikpunkt, nämlich die Unmöglichkeit der Monetarisierung von Umweltschäden, trifft hier allerdings gerade nicht zu: Wenn die Geschädigten die Umweltfolgen richtig einschätzen, gibt es wohl kaum eine bessere Instanz als der des einzelnen Haushalts, die Hinnahme des Schadens individuell mit den Vorteilen aus der Ausgleichszahlung zu vergleichen; der Staat als externe Instanz tut sich hier per se schwerer. • Verhandlungen können durch einen Stehvermögenswettstreit blockiert werden. Bei der Regel ohne Schadenshaftung wurde in Abb. 6.9 implizit unterstellt, dass die Vorteile einer Verhandlungslösung in Form der Differenz zwischen maximaler Zahlungsbereitschaft des Geschädigten und Mindestforderung des Schädigers zwischen e0 und e* ausreichen, um eine für beide Seiten akzeptable Aufteilung des Verhandlungsvorteils zu finden. Freilich kann beispielsweise der Schädiger vom Geschädigten die volle Kompensation der Vermeidungskosten und nahezu den gesamten Verhandlungsgewinn fordern. Bliebe dem Geschädigten nur ein kleiner Vorteil übrig, stünde er sich immer noch besser als ohne Verhandlungsergebnis und würde zustimmen. Natürlich könnte der Geschädigte ebenfalls nur einen kleinen Betrag über die Kompensation der Vermeidungskosten hinaus in Aussicht stellen, was ja ebenfalls den Schädiger besserstellen würde als ohne Verhandlungsergebnis. Gelingt es nicht, eine Aufteilungsregel zu finden, könnte daher gar keine Vereinbarung zustande kommen. Denkbar wäre aber auch, dass andere Faktoren wie zum Beispiel unterschiedliche Liquidität der Parteien demjenigen in die Hände spielt, der länger durchhalten kann. Überträgt man auf diesen Themenkomplex die Ergebnisse der Verhaltensökonomik, wonach Individuen häufig eine Präferenz für Fairness haben, werden möglicherweise relativ schnell Aufteilungsregeln wie 50/50 oder 70/30 gefunden. Gegen die Verhandlungslösung nach Coase wird zu Recht eingewandt, dass die einzelnen Regeln sehr unterschiedliche Verteilungswirkungen bewirken. Die Regel ohne Schadenshaftung bevorteilt den Schädiger, da er ja Ausgleichszahlungen erhält. Normativ steht dies im Widerspruch zum Verursacherprinzip, was gerade in der Umweltpolitik als wesentlich angesehen wird. In der Regel mit Schadenshaftung erhält der Geschädigte die Kompensation. Die Regel ohne Schadenshaftung abzulehnen kann man natürlich normativ gut vertreten, Coase wollte aber deutlich machen, dass letztendlich eine Nutzenkonkurrenz besteht. Diese Nutzenkonkurrenz muss gesamtgesellschaftlich erfasst und bewertet werden. Wichtigste Schlussfolgerung aus dem Coase-Theorem ist, dass der Staat auf jeden Fall den Handlungsrahmen in Form der geltenden Regeln festlegen muss.

232

6 Umweltpolitik

6.3.2 Statische Effizienz Die pragmatischen Instrumente Auflage, Abgabe und Zertifikat können unter dem Kriterium der statischen Effizienz bewertet werden (Endres & Rübbelke, 2022, S. 127–139; Menges, 2019, S. 631–633). Unter statischer Effizienz versteht man, dass ein vorgegebenes Emissionsminderungsziel zu geringsten möglichen Kosten erreicht wird. In der Abb. 6.11 werden zwei Unternehmen/Anlagen unterstellt, die jeweils ohne staatliche Regulierung e an Emissionen erzeugen würden. Für die beiden Anlagen liegen unterschiedliche Grenzvermeidungskostenkurven vor, Anlage 1 mit GVK1 und Anlage 2 mit GVK2. In Anlage 1 ist es leichter, d.  h. mit geringeren Kosten verbunden, Emissionen zu vermeiden als in Anlage 2 (GVK1  GE). Folglich wird Land X auf jeden Fall verschmutzen (dominante Strategie). Aus Gründen der Symmetrie kommt Land Y zum gleichen Schluss, also zu Verschmutzen als dominante Strategie. Beide Länder tragen somit nicht zur Bekämpfung des Klimawandels bei, obwohl sich beide Länder mit Vermeidung am besten stellen würden (3 + 3 = 6 GE > (− 2 + 5) 3 GE > 0 GE). Dieses Ergebnis ist umso fataler, als beide Länder ja sehen, dass es besser wäre, den Klimawandel zu bekämpfen (Dilemma-­ Struktur). Solange beide Länder sich rational verhalten, kommt es zu keiner Bekämpfung. Keine übergeordnete Instanz kann die Länder dazu zwingen, eine geschlossene KlimaverTab. 6.3 Dilemma-Struktur Land Y Land X Verschmutzen Vermeiden Quelle: Perman et al. (2011, S. 284)

Verschmutzen 0,0 − 2,5

Vermeiden 5,− 2 3,3

246

6 Umweltpolitik

einbarung einzuhalten. Die Auszahlungen in Tab.  6.3 zeigen, dass eine solche Vereinbarung nicht selbst durchsetzend ist. Plustext 6.3: Weitere spieltheoretische Modelle (Perman et al., 2011, S. 287–291) In Tab. 6.4 sollen fast alle Zellen im Vergleich zu Tab. 6.3 gleichbleiben, nur links oben ergibt sich eine Änderung: Nichts zu tun soll für beide Länder zu schweren Schäden führen, beispielsweise jeweils zu Verlusten in Höhe von vier GE. Spieltheoretisch gesehen gibt es nunmehr keine dominanten Strategien: Gegeben Land Y verschmutzt, ist es für Land X besser zu vermeiden (− 2 GE > − 4 GE); gegeben Land Y vermeidet, ist es für Land X besser zu verschmutzen (5 GE > 3 GE). Land Y hat keine eindeutig beste Alternative, d. h. keine dominante Strategie liegt vor. Für Land X gilt das gleiche Ergebnis. Links unten und rechts oben stellen jedoch zwei Nash-­Gleichgewichte dar: Gegeben Land Y verschmutzt und Land X habe sich für Vermeiden entschieden, bedauert Land X seine Entscheidung nicht (− 2 GE > − 4 GE). In gleicher Form tritt ein Nicht-­Bedauern bei Land Y ein: 5 GE bei Verschmutzen ist besser als 3 GE bei Vermeiden. Links unten stellt ein Nash-Gleichgewicht dar. Hat sich aber auch Land Y für Vermeiden und Land X für Verschmutzen entschieden (rechts oben), hat keine Partei einen Anreiz, sein Verhalten im Nachhinein zu bedauern. Rechts oben stellt somit ebenfalls ein Nash-Gleichgewicht dar. Mit dieser Darstellung zeigt sich, dass nur ein Land Treibhausgase reduzieren würde; die gesamtwirtschaftlich erwünschte Lösung, dass beide Länder vermeiden, wird verfehlt. Allerdings bliebe unklar, welches Land tätig würde. Über das Modell der Tab. 6.4 hinausgehend könnte ein Land sich im Vorfeld festlegen, auf jeden Fall zu vermeiden oder ein Land könnte sich aus Gründen seines Ansehens in der Welt bzw. gegenüber seiner Bevölkerung nicht erlauben, Treibhausgase nicht zu reduzieren. Gilt dies beispielsweise für das Land X, so muss man in Tab. 6.4 die obere Zeile „Verschmutzen“ streichen, nur links unten bleibt als Nash-Gleichgewicht übrig. Denkbar wäre aber auch, dass die Länder nacheinander entscheiden, ob sie Emissionen vermeiden oder nicht. Laut Abb. 6.15 beginnt das Land X mit der Entscheidung, Emissionen zu vermeiden oder beizubehalten. Land Y entscheidet danach, zu vermeiden oder zu verschmutzen. Die Werte in Klammern sind aus Tab.  6.4 entnommen; der Wert vor dem Komma ist die Auszahlung des Landes X, der Wert nach dem Komma die des Landes Y. Um zu prognostizieren, was die beiden Länder tun werden, kann man das Lösungsschema der Rückwärtsinduktion (backward induction) anwenden. Befindet sich Land Y am oberen Knoten (X behält Emission bei), wird es sich für Vermeiden entscheiden (− 2 GE > − 4 GE). Der oberste Ast mit der Beibehaltung der Emissionen wird keinesfalls realisiert werden. „Landet“ Land Y im unteren Ast (X reduziert Emissionen), ist es für Y besser zu verschmutzen (5 GE > 3 GE); eine Vermeidung durch Y kommt nicht in Frage. Land X weiß nun, dass Y auf jeden Fall vermeidet, wenn X verschmutzt, und für Land X ist auch klar, dass Y verschmutzt, wenn X vermeidet. Von den verbleibenden Alternativen ist für Land X Verschmutzen besser als Vermeiden (5  GE  >  − 2  GE). Das (sequenzielle) Nash-Gleichgewicht ist somit, dass X verschmutzt und Y vermeidet. Die Uneindeutigkeit des sequenziellen Spiels verschwindet, aber nur einer schränkt Emissionen ein. Das gesamtwirtschaftliche Optimum, wonach beide vermeiden, tritt auch hier nicht ein. Tab. 6.5 beschreibt erneut Situationen, in der beide Länder zum öffentlichen Gut der Klimaverbesserung beitragen oder nicht. Jedes Land trägt Vermeidungskosten in Höhe von − 8 GE, wenn es Tab. 6.4  Angsthasenspiel (chicken game) Land Y Land X Verschmutzen Vermeiden Quelle: Perman et al. (2011, S. 287)

Verschmutzen − 4,− 4 − 2,5

Vermeiden 5,− 2 3,3

6.4 Exkurs: Das internationale Klimaproblem

247 Land Y

verschmutzen

(-4, -4)

verschmutzen vermeiden

Land X

verschmutzen vermeiden

(5, -2)

(-2, 5)

Land Y vermeiden

(3, 3)

Abb. 6.15  Extensive Form des Angsthasenspiels. (Quelle: Perman et al., 2011, S. 288) Tab. 6.5  Zusicherungsspiel (assurance game) Land Y Land X Verschmutzen Vermeiden

Verschmutzen 0,0 − 8,0

Vermeiden 0,− 8 4,4

Quelle: Perman et al. (2011, S. 289)

den Klimawandel bekämpft. Macht nur ein Land bei der Emissionsvermeidung mit, verpufft der klimaverbessernde Effekt. Nur wenn beide beitragen, wird der Klimawandel gebremst und jedes Land erzielt einen Nutzen von zwölf GE. In der Tabelle, in die die unterstellten Werte eingetragen wurden, sieht man, dass es zwei Nash-Gleichgewichte gibt: Links oben und rechts unten. In beiden Zellen hat kein Land einen Anreiz, im Nachhinein sein Verhalten ändern zu wollen: Entscheiden sich beide Länder, Treibhausgase zu vermeiden, würde sich Land X bei einer einseitigen Abkehr (Verschmutzen) schlechter stellen (0 GE  x2 ) (feste Lastspitze, firm peak case). Die Bereitstellung einer ausreichenden Kapazität für die Spitzenlast „wirft“ als Nebenprodukt das Kapazitätsangebot für die Schwachlast ab. Bei einer wandernden Lastspitze (shifting peak case) wird die Kapazität auch in der Schwachlastphase vollumfänglich eingesetzt (Abb. 7.8). Zunächst soll nur die Spitzenlast die Kosten für die Kapazität tragen. Für die Schwachlastnachfrage N2 gilt p2 = b, sodass x20 nachgefragt wird. Die Spitzenlast trägt p1 = b + β, weshalb sich aus der Nachfragekurve N1 die entsprechende Menge x10 ergibt. In Abb. 7.8 sieht man, dass x20 > x10 ; die Lastspitze liegt in der bisherigen Schwachlastperiode. Die anfallenden Kapazitätskosten β ⋅ x20 werden durch die erzielbaren Einnahmen β ⋅ x10 gerade nicht erwirtschaftet. Wohlfahrtstheoretisch optimal wäre die beiden Nachfragekurven vertikal zu aggregieren, es gilt wiederum ∑N. Geschnitten mit den Kapazitätskosten β ergibt sich die wohlfahrtsoptimale Menge x0; für größere Mengen als x0 wären die zusätzliche Nutzen größerer Kapazität, gemessen unter der aggregierten Nachfragefunktion ∑N, kleiner als die aufzuwendenden

7.3 Elektrizitätswirtschaft

283

zusätzlichen Kapazitätskosten β, eine kleinere Kapazität spart weniger an Kapazitätskosten als der entfallende aufsummierte Nutzen durch die verringerte Kapazität. Für die optimale Kapazität x0 wird die Spitzenlast gemäß dem Preis p 1 herangezogen, die Schwachlast muss den geringeren Preis p 2 entrichten. In der Summe reichen die Umsätze p 1⋅ x0 + p 2 ⋅ x0 gerade aus, um die anfallenden Kosten   x0 zu decken. Beide Perioden nutzen die gleiche Kapazität, zahlen aber unterschiedliche Preise (Schwachlast weniger als Spitzenlast); es werden keine ungenutzten Kapazitäten vorgehalten. Werden auf den Handelsmärkten für Strom die Preise nach Schwach- bzw. Spitzenlast differenziert (Erdmann & Zweifel, 2008, S. 304 f.), ergibt sich auch für die Merit-Order ein differenziertes Bild (Abb.  7.9). In der Schwachlastphase reichen die Must-run-­ Kapazitäten, die erneuerbare Energien und Teile der vorhandenen Braunkohlekraftwerke aus, um die erforderlichen Einspeisungen sicherzustellen. Es ergibt sich der Schwachlastpreis P, die erzielbaren Deckungsbeiträge sind gering. In der Spitzenlast werden alle Kohlemeiler und einige Gaskraftwerke benötigt, um die notwendigen Kapazitäten bereitzuhalten. Alle Stromerzeuger erzielen den Spitzenlastpreis P, die Gaskraftwerke werden nur entsprechend ihrer kurzfristigen Grenzkosten entlohnt, alle anderen Erzeuger bekommen auch noch Deckungsbeiträge, um ihre Fixkosten (teilweise) zu refinanzieren. P

Grenzkosten pro erzeugter MWh

Schwachlastnachfrage

Spitzenlastnachfrage Erdöl u.a.

Gas

Steinkohle

Must run Kap.

ErneuerbareEnergien

Kernenergie

Braunkohle

Leistung

Abb. 7.9 Spitzenlastpreisbildung und Merit-Order. (Quelle: ähnlich Erdmann & Zweifel, 2008, S. 304)

284

7 Energiepolitik

7.3.2 Regulierung und Deregulierung des deutschen Strommarktes Spätestens ausgehend vom Energiewirtschaftsgesetz von 1935 bis zur Deregulierung der deutschen Stromwirtschaft galt ein umfassendes Regelwerk, das sich in Marktstrukturen mit wenig Wettbewerb niederschlug (Deregulierungskommission, 1991, Tab. 10; Eickhof, 1998; Kumkar, 2000; Seeliger, 2022, S. 70 f./95 f.): • Im Rahmen von Demarkationsvereinbarungen sicherten sich vertraglich die Stromversorger untereinander die alleinige Versorgung. Für die jeweiligen Gebiete wurde festgelegt, wer der dortige Versorger sein sollte, und von den Vertragspartnern wurde zugesichert, diese Monopolstellung nicht aufzubrechen. Die Demarkationsvereinbarungen konnten sich auf das horizontale (Versorger zu Versorger) oder das vertikale Verhältnis (Stromerzeuger zu Versorger) beziehen. • Mit Konzessionsverträgen übertrugen die Kommunen das Wegerecht an die Versorger, die dafür zusagten, die Abnehmer in der Kommune zu beliefern und zwar alle (Kontrahierungszwang). Die Kommunen verzichteten für die Laufzeit des Konzessionsvertrags darauf, eine eigene Versorgung aufzubauen. Als Gegenleistungen zahlten die Versorger Konzessionsabgaben, vor allem in Abhängigkeit von den bezogenen Strommengen. • Strompreise wurden landesbehördlich auf ihre Angemessenheit hin überprüft, nicht jedoch separat die Netznutzungsentgelte (Bundestarifordnung Elektrizität, BTO Elt). Relevant war diese Reglementierung vor allem für Privatkunden und kleinere gewerbliche Kunden, Nachfrager mit großen Mengen (Sonderabnehmern) verhandelt die Preise direkt, teilweise hat diese auch die Option, eigene Kraftwerkskapazitäten aufzubauen bzw. zu nutzen. • Ebenfalls übten die Länder eine Investitionsaufsicht aus, sodass die Versorger Kraftwerksbauten genehmigen lassen mussten. Neben dem Ziel, zu große Kapazitäten und daraus folgend zu hohe Preise zu verhindern, sollte auch die Versorgungssicherheit im Mittelpunkt stehen. Der Aufbau von Versorgungskapazitäten für Dritte war genehmigungspflichtig, wobei neben der technischen und wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Betreibers auch die bestehende geordnete Gebietsversorgung sichergestellt werden sollte. • Mit dem Instrument der „Abmeierung“ konnte Betriebe ihre Tätigkeit untersagt werden, falls sie ihren Pflichten nicht nachgekommen wären. Nach dem damaligen § 103 GWB war die Stromwirtschaft grundsätzlich von den allgemeinen kartellrechtlichen Regelungen ausgenommen, allerdings unterlag sie der kartellrechtlichen Missbrauchsaufsicht. Strittig war, wie eine verbotene Ausnutzung der Marktmachtposition zu definieren war: Welche Rolle sollte die Ziele der preiswerten und zuverlässigen Stromversorgung spielen, gerade im Vergleich zu den Verhältnissen, wie sie bei wirksamen Wettbewerb geherrscht hätten („Als-Ob-Wettbewerb“), wann war eine Einspeisung ins Netz und wann war eine Durchleitung (gleichzeitige Einspeisung an einem Ort und Entnahme am anderen Ort) zulässig? Das Bundeskartellamt konnte über diese Fragen über Jahrzehnte hinweg in Richtung Wettbewerb wenig ausrichten.

7.3 Elektrizitätswirtschaft

285

All diese Regelungen begünstigten den Ausschluss von Wettbewerb. Vertikal inte­grierte Unternehmen, insbesondere Verbundunternehmen, dominierten in der Erzeugung, verfügten über die Übertragungsnetze und belieferten ihre nachgelagerten Kunden. Nicht selten waren die Verbundunternehmen auch an den regionalen und lokalen Versorgern anteilsmäßig beteiligt. Lange Zeit dominierten die acht Verbundunternehmen: • • • • • • • •

RWE, PreussenElektra (VEBA), Bayernwerk (VIAG), VEW, VEAG, Energieversorgung Schwaben, Badenwerk, BEWAG und HEW.

Daraus sind vier großen Stromkonzerne: • • • •

E.ON (Preussen Elektra, Bayernwerk), RWE (RWE, VEW), Vattenfall (VEAG, BEWAG, HEW) sowie EnBW (Energieversorgung Schwaben, Badenwerk)

hervorgegangen. Sie besaßen zusammen fast alle Übertragungsnetzleitungen, erzeugten vier Fünftel des Stroms und nahm selbstverständlich die Aufgabe der Netzstabilisierung (Systemdienstleistung) wahr. Ferner gab es ca. 900 Stadtwerke, die über ihre Verteilnetze die Endkunden belieferten. Jedes Stadtwerk war für sich ein lokaler Monopolist. Allerdings konnten die Verbundunternehmen Industriekunden direkt beliefern, zum Beispiel über den Zugang zur Mittelspannungsebene. Die Stadtwerke konnten bei den sogenannten Sonderabnehmern, z. B. Industriekunden, nicht in einen scharfen Wettbewerb gehen, da sie vielfach auf die Stromlieferungen der Verbundunternehmen angewiesen waren. Ferner erzeugten die Stadtwerke über Kraft-Wärme-Kopplungen Strommengen, deren zeitliches Profil sich jedoch nach den Bedürfnissen der Wärmekunden richtete.

Kasten 7.1: Statement der Deregulierungskommission

„Trotz der ordnungspolitisch völlig unzureichenden Rechtfertigung, trotz der gesamtwirtschaftlichen Nachteile, die die Regulierung der Stromwirtschaft verursacht, trotz der wiederholten Anläufe zu einer Reform ist ein Kurswechsel nicht in Sicht. Dafür sorgt ein festgefügtes Machtkartell. Es wird von vielgliedrigen Interessen zusammengehalten. Im gehören an: Die Kommunen als Empfänger von Konzessions-

286

7 Energiepolitik

abgaben und als Träger eigener Versorgungsbetriebe, die meisten Unternehmen der Stromerzeugung und Stromverteilung mit ihren Kapitaleignern – darunter nicht zuletzt wiederum die Kommunen –, Zulieferunternehmen der Stromwirtschaft, vor allem aus dem Kraftwerksbau und dem Kohlebergbau, deren Beschäftigte und Gewerkschaften, den begünstigten Teil der Tarifkunden und deren kommunalpolitischen Anwälte, die staatlichen Institutionen samt Bürokratie, die mit der Fachaufsicht der Versorgungsunternehmen betraut sind, die defizitären Sparten der Querverbundunternehmen, die – wie der öffentliche Personennahverkehr – mit den Gewinnen aus der Stromwirtschaft subventioniert werden, die Bundesländer, die sich gegen Reformen vor allem im Hinblick auf regionalpolitische und sozialpolitische Anliegen sperren, schließlich und nicht zum wenigsten die zahlreichen Politiker, die in vielen Ämter und Aufsichtsgremien ihre Interessen mit der etablierten Stromwirtschaft verbunden sehen.“ (Deregulierungskommission, 1991, Tz. 316).

Für die Frage, in welchem Ausmaß der Stromsektor zu regulieren ist, sollte man eine disaggegierte, d. h. die einzelnen Wertschöpfungsstufen unterscheidende Betrachtung vornehmen und nur dort regulieren, wo nicht-bestreitbare natürliche Monopole bestehen (Brunekreeft & Keller, 2003, S. 135–137). Die Stromwirtschaft kann man in die Erzeugungsebene, die Übertragungs- und Verteilernetze sowie die Versorgungsebene unterteilen (Tab. 7.3). • Bei der Erzeugung, d. h. bei der „Produktion“ von Strom, wurden zwar bis Anfang der 1980er-Jahre immer größere Turbinen eingesetzt, was für immer größere Kraftwerke gesprochen hätte. Seither geht der Trend auch wieder zu kleineren Kraftwerkseinheiten, wodurch eine dezentrale Stromerzeugung kostenmäßig ermöglicht wird. Insofern gibt es keine Anzeichen dafür, dass aus Kostengründen Strom nur von einem großen Kraftwerk erzeugt werden sollte. Die Bedingung der Subadditivität, die genau nur einen Anbieter je Markt als effizient ansehen würde, ist also auf der Erzeugungsebene nicht erfüllt. Unabhängig davon sollten jedoch die Kraftwerke untereinander verbunden sein, um zufällige Schwankungen durch Kraftwerksausfälle bzw. unerwartete Nachfrageschwankungen auszugleichen (Systemgrößenvorteile). Kraftwerke sind siTab. 7.3  Wertschöpfungsstufen in der Stromwirtschaft Erzeugung (Produktion) Übertragungsnetz, inkl. Systemsteuerung Verteilnetze (regionale/ lokale Netze) Versorgung

Subadditivität Nein Ja

Bestreitbarkeit Nein/bei Durchleitungswettbewerb Ja Nein

Regulierungsbedarf Nein Ja

Ja

Nein

Ja

Nein

Ja

Nein

Quelle: Ähnlich Brunekreeft und Keller (2003, S. 129) und Knieps (2007b, S. 166)

7.3 Elektrizitätswirtschaft

287

cherlich mit irreversiblen Kostenbestandteilen verbunden, was zu erheblichen Marktaustrittskosten führen würde. Marktzutritte würde man daher weniger erwarten, potenzielle Konkurrenz und damit die Bestreitbarkeit des Marktes wäre nicht gegeben. Allerdings verbessert sich die Bestreitbarkeit deutlich, wenn Stromerzeuger im Rahmen der Durchleitung ohne große Schwierigkeiten und Kosten an einen beliebigen Punkt erzeugten Strom einspeisen und am anderen Ort – zeitgleich – entnommen werden kann. Unabhängig von der Frage der Bestreitbarkeit muss die Erzeugungsebene nicht reguliert werden, weil viele Erzeugungskraftwerke sinnvoll tätig sein können. • Transport von Strom über weite Strecken findet über Höchstspannungs- und Hochspannungsnetze (Übertragungsnetze) statt. Parallele Übertragungsnetze sind zumindest bis zum Erreichen der Kapazitätsgrenze unwirtschaftlich (Subadditivität ist gegeben). Der Bau von Übertragungsnetzen ist komplex und mit sehr hohen Investitionskosten verbunden. Übertragungsnetze können für nichts anderes als die Übertragung von Strom genutzt werden (irreversible Investition), es fehlt an der Bestreitbarkeit. Übertragungsnetze sind daher zu regulieren. Die Realisierung von Systemgrößenvorteilen lässt sich am besten auf der Ebene der Übertragungsnetze umsetzen, dort erkennt man, welche Strommengen genutzt werden und welche Strommengen bereitgestellt werden können. Insofern macht es Sinn die Rolle des Systemdienstleisters „an den Übertragungsnetzbetreiber anzuhängen“ und sogleich mit zu regulieren. • Die lokalen und regionalen Verteilnetze sind einerseits mit den Übertragungsnetzen und andererseits mit den Endkunden verbunden. Auch wenn es eine Vielzahl von Verteilnetzen gibt, so stellen diese doch lokale natürliche Monopole dar: Je mehr Stromkunden mit einem Netz versorgt werden können (Bündelungsvorteile), umso geringer sind die Kosten pro Mengeneinheit. Verteilnetze sind ebenfalls mit hohen irreversiblen Investitionen verbunden. Folglich sind auch Verteilnetze zu regulieren. • Insbesondere in einem für den Wettbewerb geöffneten Strommarkt macht es Sinn, die Versorgungsstufe einzufügen. Der Netzbetreiber ist dann für den physikalischen Stromfluss verantwortlich, die wirtschaftliche Funktion des Stromeinkaufs und -verkaufs (Rechnungsstellung, Ablesung, Auswahl der Lieferanten und Bezugsquellen) kann man als Versorgungsstufe interpretieren; sie greift deshalb streng genommen nicht nur im Anschluss an die Verteilebene, sondern bezieht sich auch auf eine Mittlerfunktion zur Erzeugungsebene. Für diese Stufe sind keine nennenswerten Größenvorteile erkennbar (typische kaufmännische Tätigkeit) und aufgrund der leicht wiederverwendbaren Technologien wie Rechner zur Verwaltung der Kundendaten und sonstige Büroausstattungen (keine Irreversibilität = hohe Bestreitbarkeit) bedarf es keiner Regulierung. Bisher wurde nur grundsätzlich ein Regulierungsbedarf für die beiden Netzebenen abgeleitet. Noch näher zu präzisieren ist daher, warum Netze zu regulieren sind (Brunekreeft & Keller, 2003, S. 137–140; Erdmann & Zweifel, 2008, S. 323 f.; Seeliger, 2022, S. 83–87). Bündelungsvorteile im Stromnetz führen dazu, dass die Kosten der Bereitstellung des Netzes mit jedem weiteren angeschlossenen Teilnehmer fallen; die langfristigen Durchschnittskosten sinken (Abb.  7.10). Langfristig fallende Durchschnittskosten gehen mit Grenzkosten einher, die unterhalb der Durchschnittskosten liegen (Kasten  7.2). Bei der hier unterstellten Nachfragekurve N, die die langfristige Grenzkostenkurve (LGK) in

288

7 Energiepolitik



N

PM

A

G

H L

K

LGK

D F

E PGK

0

LDK

C

XM

XGK/2

GE

XGK

X

Abb. 7.10  Natürliches Stromnetzmonopol

Punkt C schneidet, wäre die gesamtwirtschaftlich optimale (First-Best-)Menge XGK. Eine größere Menge als XGK würde mehr zusätzliche Kosten (Fläche unter der Grenzkostenkurve LGK) verursachen als zusätzlichen Nutzen bei den Stromkonsumenten, wenn man die Fläche unter der Nachfragekurve (die Zahlungsbereitschaften) als monetäre Größe für den gesellschaftlichen Nutzen des Stromkonsums heranzieht. Letzteres ist zulässig, wenn man von Einkommenseffekten absehen kann. Die geringstmöglichen Kosten werden dadurch erreicht, dass die Menge XGK nur von einem einzigen Netzbetreiber bereitgestellt wird. In diesem Fall ergeben sich Gesamtkosten in Höhe des Rechtecks EFXGK0. Würden X beispielsweise zwei Anbieter das Netz vorhalten (jeder bietet GK an), entstünden Ge2 samtkosten in Höhe von



x   2   KL GK 0  , 2  

(7.1)

7.3 Elektrizitätswirtschaft

289

was mehr ist als EFXGK0. Eine (first best) optimale Bepreisung zu PGK würde zwar die wohlfahrtsoptimale Menge XGK erzeugen, was aber ein Defizit nach sich zieht: Den höheren Gesamtkosten EFXGK0 stehen geringere Umsatzerlöse in Höhe von PGKCXGK0 gegenüber, ein Defizit entsprechend des Vierecks EFCPGK ist zu erwarten. Insofern ergibt sich in Stromnetzen quasi automatisch die Sorge, dass die Bereitstellung der optimalen, gesamtwirtschaftlich erwünschten Menge mit Verlusten einhergeht. Würde man jedoch den Monopolisten in seiner Preisgestaltung alle Freiheiten belassen, so könnte er durch die Setzung eines Monopolpreises jegliche Gefahr des Defizits bannen. In Abb. 7.10 würde im Falle der Monopolpreissetzung der Monopolist die Nachfragekurve als Preisabsatzfunktion interpretieren und daraus die Grenzerlöskurve GE ableiten ­(Abschn. 3.1). Aus dem Schnittpunkt Grenzerlöskurve mit der LGK ergibt sich der Punkt D, nach unten gelotet „findet“ man die Monopolmenge XM und nach oben zu Punkt A folgt daraus der Monopolpreis PM. Dieser Monopolpreis bewirkt einen Wohlfahrtsverlust in Höhe der Fläche ACD, denn es werden Kosten eingespart in Höhe von DCXGKXM, dem jedoch Nutzeneinbußen entsprechend ACXGKXM gegenüberstehen. Der Netzmonopolist erzielt einen Monopolgewinn in Höhe von PMAHG; solange man die Wohlfahrtsverluste der Konsumenten nicht mit den Nutzengewinnen der Netzeigentümer vergleichen kann, kann man als Ökonom den Monopolgewinn nicht als Wohlfahrtsverlust bewerten. Durch die Mengenreduktion von XGK auf XM werden jedoch Vorteile der Unternehmensgröße, sprich steigende Skalenerträge bleiben ungenutzt, „verschenkt“, die Durchschnittskosten steigen auf G an. Ob diese Monopolergebnis eintritt, ist auch eine Frage der Bestreitbarkeit: Je leichter potenzielle Konkurrenten in den Markt eintreten können, umso weniger sind Monopolgewinne möglich. Insbesondere Irreversibilitäten, die einen Marktaustritt mit (hohen) Kosten verbinden, schrecken potenzielle Konkurrenten vom Marktzutritt ab. Neben diesen sogenannten statischen Wohlfahrtsverlusten können auch dynamische Verluste entstehen, wenn die Netzmonopolisten zu geringe Anreize aufweisen, den technischen Fortschritt zu fördern oder sich ändernden Wünsche der Stromkunden anzupassen. Denkbar ist jedoch auch, dass die Monopolstellung die Anreize zur Kostenminimierung senkt, wodurch sich die LGK- bzw. LDK-Kurve nach oben verschieben können. Kasten 7.2: Langfristige Kostenkurven (Nechyba, 2018, S. 296–298)

Mit dem Konzept der Skalenerträge fragt man, wie sich bei proportionaler Erhöhung aller Inputs der Output verändert (Abb.  7.11). Steigt der Output überproportional, liegen steigende Skalenerträge vor, bei proportionaler Outputerhöhung konstante und bei unterproportionaler Outputzunahme abnehmende. In Abb. 7.11 ist eine Isoquantenschar dargestellt, bei der die Verdopplung der Inputs von 2,5 auf 5 Arbeits- bzw. von 5 auf 10 Kapitaleinheiten (K und L) bzw. die Verdreifachung von 5 auf 15 Ks bzw. Ls zu einer mehr als Verdopplung (von 10 auf 40) Outputeinheiten bzw. mehr als Verdreifachung der Inputs (5 zu 15 K, 2,5 zu 7,5 L) von 10 auf 100 Outputeinheiten führen, also liegen steigende Skalenerträge vor. Erhöht man dagegen die Inputs von 20 auf 25 K bzw. von 10 auf 12,5 Ls (1 ¼-fache), steigt der Output nur von 140 auf 160, also auf 114 %. Noch stärker greifen die abnehmenden Skalenerträge bei

290

7 Energiepolitik

einer 1,2-fachen Erhöhung der Inputs (von 25 auf 30 Ks und von 12,5 auf 15 Ls), weil der Output nur auf 106 % ansteigt (von 160 auf 170 Outputeinheiten). Unterstellt sei, dass die Produktionsfaktoren zu Faktorpreisen w = 20 GE und r = 10 GE beschaffbar sind. Entlang des Fahrstrahls 0Z liegen bei dieser homothetischen Produktionsfunktion die kostenminimalen Einsatzmengen A bis F vor. Es ergeben sich die zugehörigen langfristigen Gesamt-(TK) bzw. Durchschnittskosten (DK). Überträgt man die Gesamtkosten der Abb. 7.11 in die Abb. 7.12 oben, ergibt sich die typische s-förmige Gesamtkostenkurve TK. Zeichnet man die Tangenten an die Gesamtkostenkurve, stellen die Steigungen der Tangenten die Werte der Grenzkos-

Z K 30

F

170 E 25

160

D

Abnehmende Skalenerträge

20

C 15

140

B 10

5

100

A

Steigende Skalenerträge 40 10 2,5

5

7,5

10

12,5

15

17,5

20

22,5

25

Abb. 7.11  Steigende und abnehmende Skalenerträge. (Nechyba, 2018, S. 297)

27,5

L

7.3 Elektrizitätswirtschaft

291





600

TK



500 D´

400 C´

300 B´

200 A´

0

10

40

100

140

x

160 170

€ GK

A´`

10

B`´

5

F`´

3,53 3,13 3 2,86

0

DK

E`´

C´ D`´

10

40

100

140

160 170

Abb. 7.12  Herleitung von Kostenkurven. (Quelle: Nechyba, 2018, S. 295–298)

x

292

7 Energiepolitik

Tab. 7.4  Kostenverläufe bei steigenden, konstanten und abnehmenden Skalenerträge Input

A

K 5

L 2,5

B

10

5

C

15

7,5

D

20

E F

Output 10 40

Gesamtkosten (w = 20 GE, r = 10 GE) 100 A′

Langfristige Durchschnittskosten (Gesamtkosten/Output) 10 A″

B′

200

B″

5

100

C′

300

C″

3

10

140

D′

400

D″

2,86

25

12,5

160

E′

500

E″

3,13

30

15

170

F′

600

F″

3,53

Eigene Berechnung auf der Grundlage von Nechyba (2018)

tenkurve dar. In der Abb. 7.12 unten, auf der ebenfalls die Outputeinheiten der Abbildung auf der Abszisse abgetragen sind, folgt dann die zugehörige Grenzkostenkurve GK, deren Minimum mit dem Wendepunkt in C´ übereinstimmt. In die Abb.  7.12 könnte man verschiedene Fahrstrahlen aus dem Ursprung einzeichnen, die jeweils die Gesamtkostenkurve einmal bzw. zweimal schneiden. Die Steigung des Fahrstrahls ist nichts anderes als Gesamtkosten durch Output, was den Durchschnittskosten entspricht. Der Fahrstrahl 0D′ tangiert gerade nur die Gesamtkostenkurve, also werden dort als Durchschnittskosten 2,86  GE erreicht (400  GE/140). Jeder andere Fahrstrahl aus dem Ursprung erzeugt höhere Durchschnittskosten. Die Durchschnittskosten für alle Outputeinheiten berechnet, ergeben eine u-förmige Durchschnittskostenkurve mit ihrem Minimum in D″. Zugleich stimmt die Fahrstrahlsteigung in D´mit der Tangentensteigung in diesem Punkt überein; die Grenzkosten entsprechen bei der Outputmenge von 140 den Durchschnittskosten. Man sieht: Die Grenzkostenkurve schneidet von unten die Durchschnittskostenkurve in ihrem Minimum D″. Links vom Minimum liegen die Grenzkosten immer unterhalb der Durchschnittskosten (Tab. 7.4).

Durch europäische Vorgaben wurde der deutsche Strommarkt Ende der 1990er-Jahre/ Anfang der 2000er-Jahre liberalisiert (Brunekreeft & Keller, 2003, S. 140–143; Seeliger, 2019). Binnen zwei Jahren sollten die Märkte geöffnet werden, davor gab es sehr unterschiedliche Regelungen, z. B. in Frankreich ein nationales Monopol (Électricité de France, EdF) und im Vereinigten Königreich/Skandinavien Wettbewerb, vor allem auf der Erzeugungsebene. Mit der Strommarktrichtlinie 1997 (96/92/EG) wurde der Kraftwerks- und der Leitungsbau liberalisiert, Vorschriften zum Unbundling erlassen, ein Netzbetreiber musste benannt werden und für Dritte musste der Netzzugang sichergestellt werden. Für den Netzzugang standen drei Varianten zur Wahl: Der verhandelte Netzzugang (negotiated

7.3 Elektrizitätswirtschaft

293

third party access, nTPA), der regulierte Netzzugang (rTPA) und das Alleinabnehmersystem (Erzeuger verkaufen Strom an einen Netzmonopolisten; single buyer). Zumindest organisatorisch musste zwischen Erzeugung und Netze getrennt werden (unbundling), die ehemaligen Monopolisten durften jedoch Netzbetreiber bleiben. Bis 1999 sollte 23 % des Marktes und bis 2003 ein Drittel geöffnet werden, wobei die großen Abnehmer mit ihrer Möglichkeit zur Abrechnung über das Lastprofil zuerst in den „Wettbewerb entlassen wurden“; Deutschland entschied sich mit der EnWG-Novelle 1999 für eine sofortige, vollständige Marktöffnung und dem verhandelten Netzzugang. Plustext 7.5: Verbändevereinbarung Strom Für den Netzzugang wurde das damals noch zulässige Modell des verhandelten Netzzugangs gewählt (Brunekreeft & Keller, 2003, S.  150–153,  159–162). Es kam zur 1. Verbändevereinbarung (VV) am 23. Mai 1998 und zur 2. Verbändevereinbarung am 13. Mai 1999, ergänzt um 2. VV Plus vom 13.12.2001. Technisch komplizierte Regelungen zu Durchleitungsgebühren wurden unter den Parteien, Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), Vereinigung Deutscher Elektrizitätswerke (VDEW), später Verband der Elektrizitätswirtschaft und Verband der Industriellen Energie- und Kraftwirtschaft (VIK) (energieintensive Branchen wie Stahl, Papier, Zement, Glas und Chemie), vereinbart. Der Bundesminister für Wirtschaft behielt die Option, bei Scheitern der Vereinbarung eine Verordnung zu erlassen. Ziel des verhandelten Netzzuganges war es, Netzentgelte festzulegen, um die Kosten des Netzes zu decken und übermäßige Gewinne zu vermeiden. Mit der 1. VV wurde die Idee des Kontraktpfades bzw. der Punkt-zu-Punkt-Durchleitung verfolgt, entlang einer Luftlinie zwischen Einspeise- und Entnahmepunkt sollte die Gebühr fällig werden. Diese Regelung galt als intransparent, zu aufwändig und sei mit zu hohen Transaktionskosten verbunden gewesen; Anreize zur Netzoptimierung wurden vermisst. Eine Entscheidung über die konkrete Höhe des Netzentgeltes sollte im Rahmen individueller Vereinbarungen fallen. In der 2. VV sollte für jede Netzebene ein entfernungsunabhängiger Tarif (Briefmarke) gelten, der jede darunter liegende Netzebene einschließen sollte, Es galt der Grundsatz der Gleichzeitigkeit: Einspeisung musste gleich Ausspeisung sein. Auch diese Vereinbarung war umstritten, man fürchtete Netzzusammenbrüche; die Frage der Entgelthöhe blieb noch immer unbeantwortet.

Nach der Marktöffnung zum 01.01.1999 intensivierte sich der Preiswettbewerb im Versorgungsmarkt erheblich (Brunekreeft & Keller, 2003, S.  157  f.). Verbundunternehmen gründeten bundesweit tätige Versorgungstöchter, insbesondere die EnBW-Tochter Yellow-­ Strom fachte mit ihrem Slogan („Der Strom ist gelb“) den Preiswettbewerb an. Für Kleinkunden (private Haushalte, Kleingewerbe) fielen die Preise um 20  % bis zum Sommer 2000, auch weil die etablierten Stadtwerke nachzogen. Anschließend wurden verstärkt staatliche Abgaben weitergewälzt und hohe Netzzugangsgebühren verrechnet. Die Preise stiegen wieder auf das Vorderegulierungsniveau an. Insgesamt blieb die Wechselbereitschaft und das Ausmaß der Diskriminierung der Wettbewerber durch Netzmonopolisten gering, letzteres relativ unerwartet. Die nationalen Regelungen wurden Mitte der 2000er-Jahre gegenstandslos, als die Europäische Union die Möglichkeit des verhandelten Netzzugangs strich und den regulierten Netzzugang präferierte (Seeliger, 2022, S. 96–101). Seither ist die Bundesnetzagentur für die Festlegung der Netzentgelte zuständig. Zunächst legte sie kostenbasierte Entgelte mit einer angemessenen Verzinsung des eingesetzten Kapitels fest, bevor ab 2009 eine Anreizregulierung in Form einer Erlösobergrenzenregulierung eingeführt wurde.

294

7 Energiepolitik



N

A

PM

LGK

B

PDK PGK

O

E LDK

Defizit C

F

XM

GE

XDK

XGK

X

Abb. 7.13  Alternativen der Preisregulierung im Stromnetz

Das Stromnetz kann man wie jeden Netzmonopolisten regulieren, indem man Preise entsprechend der Grenz- oder der Durchschnittskosten verlangt (zum Beispiel Löschel et al., 2020, S. 123–125). In der Abb. 7.13 könnte man sich entscheiden, einen Preis entsprechend den Grenzkosten zu setzen (PGK). Die sich daraus ergebende Menge XGK wäre wohlfahrtsoptimal, da eine größere Menge als XGK höhere Grenzkosten verursacht als die Nutzenverluste entlang der Nachfragekurve. Man spricht von einem First-Best-Optimum. Freilich wird in der Abb. 7.13 deutlich, dass dieser First-Best-Lösung ungedeckte Fixkosten nachsichzieht, was als Defizit des Netzmonopols bezeichnet wird. Zwar könnte der Staat das Defizit aus Steuergeldern schließen, eine Steuererhebung verursacht jedoch auch Wohlfahrtskosten, da durch die Steuer fast immer die optimalen Entscheidungen der Individuen verzerrt werden. Beispielsweise könnte eine Besteuerung von Arbeitseinkommen die Anreize zum Arbeitsangebot senken, eine Besteuerung von Kapitaleinkünfte die Sparanreize herabsetzen. Würde man stattdessen die Preise auf die Durchschnittskosten ansteigen lassen (PDK in Abb. 7.13), entfiele die Finanzierungsnotwendigkeit des Defizits. Die konsumierte Menge würde jedoch auf XDK sinken, die Wohlfahrt würde um ECF geringer

7.3 Elektrizitätswirtschaft

295

ausfallen (Second-Best-Optimum). In beiden Formen dieser Preisregulierung würde der Staat dem Netzmonopolisten zu sichern, dass auf jeden Fall seine Kosten gedeckt würden. Die Anreize zur Kosteneffizienz würden begrenzt. Die Erlösobergrenzenregulierung (Brunekreeft & Meyer, 2016; Cullmann et al., 2015) erlaubt es den Stromnetzbetreibern, über den vorgegebenen Regulierungszeitraum ihre Netzentgelterlöse zu verändern. Die Netzbetreiber dürfen auf der Grundlage der beeinflussbaren Kostenanteile des Basisjahres ihre Erlöse entsprechend der allgemeinen ­Verbraucherpreisentwicklung (Resale Price Index; RPI, VPI) verändern, abzüglich der erwarteten Entwicklung des Produktivitätsfaktors X in den jeweiligen Jahren. Nicht vom Unternehmen beeinflussbare Kostenbestandteile dürfen direkt „weitergereicht“ werden. Ziel dieser sogenannten Anreizregulierung ist, dass die Netzbetreiber über die allgemeinen Erwartungen hinaus Kosteneinsparungen realisieren, die dann bis Ende der Regulierungsperiode im Unternehmen verbleiben können. Diskutiert wird, ob noch den Netzbetreibern hinreichend Mittel verbleiben, um notwendige Investitionen zu finanzieren, und ob genügend Qualität geliefert wird. Plustext 7.6: Averch/Johnson-Effekt Train (1991) zeigt, wie sich das Verhalten eines (natürlichen) Monopolisten auf den Faktoreinsatz auswirkt, falls sein Gewinn auf eine angemessene Verzinsung des eingesetzten Kapitals beschränkt wird. Unterstellt sei, dass ein Betreiber mit der (subadditiven) Produktionsfunktion x = f(K,L) Netze bereitstellt (K = eingesetzte Menge an Kapital, L = eingesetzte Menge an Arbeit). Der Gewinn π des (Einprodukt-)Netzbetreibers entspricht dann:



  Px  rK  wL,

(7.2)

also die Umsätze Px minus den Ausgaben für den Kapitaleinsatz (rK, r  =  Kapitalnutzungspreis) minus den Ausgaben für Arbeit (wL, w  =  Lohnsatz). Schreibt man die Nachfragefunktion N als P = gx und ersetzt man für die Menge x die Produktionsfunktion, ergibt sich die Gewinnfunktion:



  g  f  K ,L    rK  wL.

(7.3)

Somit wird die Gewinnfunktion nur noch zu einer Funktion der eingesetzten Faktoreinsatzmengen K und L, was mit der Abb. 7.14 dargestellt werden kann. Aus den Punkten D, A und E ergibt sich der „Gewinnberg“. Die Höhenlinien π0, π2, π4 und π6 beschreiben Kombinationen von Kapital und Arbeit, die zum gleichen Gewinnniveau führen, wobei der Gewinn entsprechend steigender Indizes umso höher ausfällt. Bei gegebener Produktions- und gegebener Nachfragefunktion sind alle Punkte auf der „profit hill“-Funktion (z. B. A und B) sowie unterhalb dieser Funktion (Punkt C) möglich. Punkt M sei aufgrund der Beschränkungen der Produktionsfunktion nicht machbar. Analog zu Abb. 7.10 bildet der Punkt A der gewinnmaximale Punkt des Monopolisten, woraus sich seine optimalen Einsatzmengen an Kapital und Arbeit, K* und L*, ergeben. Eine allgemeine Rentabilitätsregulierung des eingesetzten Kapitals (rate of return regulation; Train, 1991) sieht eine angemessene Verzinsung des eingesetzten Kapitals mit der Rate f (in %) vor. Würde man für f 10  % festlegen und der Kapitalnutzungspreis wäre 8  %, wäre ein Gewinn in Höhe von 2 Mio. € möglich, falls 100 Mio. als Kapital eingesetzt würde. Grafisch beschreibt dies Abb. 7.15, in der die Beschränkungsebene 0FGH eingezeichnet wurde. Würde nur Kapital eingesetzt, könnte sich der regulierte Netzmonopolist maximal entlang des Fahrstrahls OF bewegen. Je mehr Kapital er einsetzen würde, umso höher würde sein Gewinn ausfallen. Beispielsweise bei Einsatz von K1 wäre maximal πF zulässig. Alle Bewegungen in Richtung 0H bzw. FG erfüllen die gleiche Beschränkung, ersetzen aber Kapital durch Arbeit. Punkte unterhalb der Beschränkungsebene OFGH wären regulatorisch möglich, „verschenken“ aber Gewinnpotenzial; alle Punkte oberhalb der Ebene sind nicht zulässig.

296

7 Energiepolitik

π

· A πmax L

π6

·

L* ·

·

·

·

π4 C

· π2

M 0

B E

D

π0 K*

K

Abb. 7.14  Optimale Faktoreinsatzmengen eines unregulierten Netzmonopolisten. (In Anlehnung an Train, 1991, Figures 1.4 und 1.5)

7.3 Elektrizitätswirtschaft

297

π

L

H

G

πF 0 F

K1

K

Abb. 7.15  Gewinnbeschränkung über Kapitalrentabilitätsvorgaben. (In Anlehnung an Train, 1991, S. 35) Die Regulierung der zulässigen Kapitalverzinsung bewirkt eine Verzerrung im Faktoreinsatz, worauf Averch/Johnson 1962 bereits hingewiesen haben (Abb. 7.16). Da die gestrichelte Beschränkungsebene weiterhin gelten soll, würde ein gewinnmaximierender Netzbetreiber den Punkt B auf der höchstmöglichen Gewinnlinie π2 wählen. Er würde daher wenig mehr Arbeit (LB statt L*) ­einsetzen, aber viel mehr Kapital, KB statt K* einsetzen. Noch deutlicher wird der Verzerrungseffekt mit Abb. 7.17, bei der ein gegebener Arbeitseinsatz L unterstellt wird. Produktions- und Nachfragefunktion bilden die zweidimensionale Gewinnhügelfunktion, die durch die Parabel EABD abgebildet wird; die Rate-of-Return-Regulierungsebene wird durch den Fahrstahl 0B repräsentiert. Ohne Regulierung würden die Netzbetreiber nach A streben und deshalb KA einsetzen. Bei der Regulierung der zulässigen Kapitalverzinsung gibt es einen Anreiz zur Überkapitalisierung (KB > KA). Mit KB wird ein überhöhtes Gewinnniveau πB ermöglicht, was höher ist als das von der Regulierung intendierte Niveau πR.

298

7 Energiepolitik

π · A

πmax

L

π6

π4 L*

LB · π2 B

0 E

D π0 K* KB

K

Abb. 7.16  Averch-Johnson-Effekt – dreidimensional. (In Anlehnung an Train, 1991, S. 35)

Versorgungssicherheit in der Stromwirtschaft hat einen hohen Stellenwert und kann durch verschiedene Dimensionen verdeutlicht werden (Seeliger, 2022, S.  164–181). Die Messzahlen für die Versorgungssicherheit in der Stromwirtschaft knüpfen entweder an der durchschnittlichen Unterbrechungsdauer in Minuten oder an der durchschnittlichen Anzahl von Lieferunterbrechungen bei einem Kunden in einem Versorgungsgebiet des jeweiligen Jahres an, bzw. an Kombinationen von beiden. Es macht auch Sinn, zwischen geplanten und ungeplanten Unterbrechungen zu unterscheiden. Bei geplanten Stromausfällen gibt es möglicherweise Optionen für die Kunden, sich vorzubereiten. Ferner kann man zwischen „betriebsbedingten“ oder auf Naturkatastrophen/höhere Gewalt zurückgehenden Unterbrechungen unterscheiden. Bei der anzustrebenden Versorgungssicherheit gilt es einerseits

7.3 Elektrizitätswirtschaft

299

π ·

A Gewinnhügel

Beschränkungsebene

· B

πB

·

πR

R

E 0

D KA

KB

K

Abb. 7.17  Überkapitalisierung und überhöhtes Gewinnniveau. (In Anlehnung an Train, 1991, S. 39)

abzuwägen, welche zusätzlichen Kosten mit mehr Sicherheit einhergehen; andererseits kann man auch die Frage stellen, wie gravierend ein Netzausfall sein könnte. Insofern könnte man wie in Abschn. 6.3.1 einen optimalen Grad der Versorgungssicherheit zumindest auf theoretische Ebene bestimmen. Die Bereitstellung optimaler Versorgungssicherheit könnte durch ein Marktversagen getrübt werden, da zusätzliche Kraftwerke nur durch Entgelte bei Nutzung entlohnt werden. Für Kapazitäten, die nur bei Engpässen zur Anwendung kommen, fallen nur „Engpassentgelte“ an. Möglicherweise reichen die daraus zu erzielen Erlöse nicht aus, um die erwünschten Engpasskapazitäten zu finanzieren. Die Vorsorge gegen Engpässe wird zum Optionsgut. Daher ist unter Umständen der Staat gefordert, Vorsorgeaktivitäten vorzuschreiben, zu subventionieren oder selbst vorzuhalten. Neben diesen kurzfristig auftre-

300

7 Energiepolitik

tenden Engpässen bei der Erzeugung mag es auch zu Engpässen in den Netzen kommen, zum Beispiel durch die Verschiebungen in der Nachfrage und im Angebot aufgrund des Wegfalls von Atomkraftwerken oder von Kohlekraftwerken. Auch der Ausbau der Elektromobilität mit der dezentralen Zusatzlast des Ladens von Elektrofahrzeugen kann gerade auf der Niederspannungsebene zu Überlastungen führen. In Deutschland gibt es ein vielfältiges Planungs- und Regulierungssystem, federführend durch die Bundesnetzagentur. Insgesamt erfolgt jedoch der Netzausbau in Deutschland zu langsam. Plustext 7.7: Strompreisbremse (BMWK, 2022a, b) und kritisch (Dertwinkel-Kalt & Wey, 2022) Ab 1. März 2023 bis 13. April 2024 wird der Strompreis für private Verbraucher sowie für kleine und mittlere Unternehmen (Stromverbrauch bis zu 30.000 kWh pro Jahr) auf 0,40 € pro Kilowattstunde brutto gedeckelt. Brutto bezieht sich hier auf alle Entgelte inklusive Steuern, Abgabenumlagen und Netzentgelte. Diese Deckelung gilt nur für den sogenannten Basisbedarf in Höhe von 80  % des prognostizierten Verbrauchs. Für 70 % des bisherigen Verbrauchs erhalten Industriekunden in Höhe von 0,13 € netto eine Preiszusage. Darüberhinausgehende Preisbelastungen gehen zunächst zulasten des Bundeshaushaltes. Ferner gibt es noch für private Unternehmen und Haushalte sowie öffentliche Einrichtungen eine Härtefallregelung. Bei hohen Förderbeträgen für Unternehmen kann es zu beihilferechtlichen Begrenzungen kommen. Sparen die Endverbraucher mehr als ihre 70 bzw. 80 %, verbleiben diese Sparvorteile bei ihnen, der ex ante berechenbare Ausgleichsbetrag wird auf jeden Fall ausgeschüttet. Mit dieser Regelung sollen hohe Anreize einhergehen, Strom zu sparen. Darüberhinausgehende Preisbelastungen gehen zunächst ebenfalls zu Lasten des Bundeshaushaltes. Am Ende sollen die Kosten der Strompreisbremse jedoch durch Abschöpfung der Zufallsgewinne aus den Bereichen Wind-, PV- und Wasserkraftanlagen, Abfallverbrennungsanlagen, Kernkraftwerke und Braunkohlekraftwerke refinanziert werden. Um die Versorgungssicherheit nicht zu gefährden, soll es sich nicht lohnen, Steinkohlekraftwerke abzuschalten und Gaskraftwerke hinzuzuschalten. Folglich werden Steinkohlekraftwerke von der Gewinnabschöpfung ausgenommen. Explizit sollen nur die nicht erwartbaren Gewinne „entzogen“ werden, die üblichen Gewinne bleiben bei den Unternehmen. Die Abschöpfung sollte bereits zum 1. Dezember 2022 beginnen und ist zunächst auf den 30. Juni 2023 befristet, eine Verlängerung ist möglich. Für Außenstehende ist es sehr schwierig herauszufinden, welche Einstandskosten für die jeweiligen Kraftwerke tatsächlich gelten. Strom kann einerseits über einzelne Kontrakte bilateral beschafft oder kurzfristig auf dem börsenmäßig organisierten Stromhandelsmarkt erworben werden. Folglich kann für die Berechnung der Zufallsgewinne der einzelne Vertrag zugrunde gelegt werden oder man rekurriert auf durchschnittliche Preise am Spot- bzw. Terminmarkt. Um Härten auszugleichen wird ein Sicherheitspuffer hinzugerechnet. Für Strom aus Erneuerbare-Energie-Anlagen kommt es auch auf die Gebote bei Auktionen zur Förderung Erneuerbaren-Energien-Anlagen an.

7.4 Gaswirtschaft Die Vorgänge im heutigen deutschen Gasmarkt lassen sich aus der Genese der deutschen Gaswirtschaft mit erklären (Löschel et al., 2020, S. 228–235). Bis etwa 2004 war es sinnvoll, die Gaswirtschaft in Deutschland nach öffentlicher und übriger Gaswirtschaft zu unterteilen. Unternehmen, die Dritte wie die Industrie, die privaten Haushalte, den ­Handel, Gewerbe- und Dienstleistungsbetriebe sowie Kraftwerke mit Gas belieferten, bildeten die öffentliche Gaswirtschaft: Orts- und Regionalversorgungsunternehmen, Ferngas- und Erdgasfördergesellschaften sowie Kokereien. Unternehmen des Steinkohlebergbaus, der

7.4 Gaswirtschaft

301 Produzenten inländische

ausländische

Ferngasgesellschaften 1. Stufe: Mit Zugang zur Produktion

2. Stufe: Ohne Zugang zur Produktion

Weiterverteiler Regionalverteiler

Stadtwerke

Örtliche Gasversorger

Endkunden Kraftwerke

Haushalte

Industrie

Gewerbe

Handel

Abb. 7.18  Struktur des Erdgasmarktes vor der Liberalisierung. (Quelle: Löschel et al., 2020, S. 229)

Eisen- und Mineralölindustrie erzeugten Gas als Koppelprodukt und verwendeten das Gas überwiegend selbst; sie bildeten die übrige Gaswirtschaft. Einen Überblick über die Struktur des Erdgasmarktes vor der Liberalisierung liefert Abb. 7.18. Unternehmen als Netzbetreiber (Weiterverteiler) kauften Erdgas ein und boten dies den Kunden ihres Gebietes an (Handelsstufe); diesen Kunden blieb nur die Möglichkeit, sich vom Netzbetreiber über das einzig verfügbare Netz beliefern zu lassen oder auf Erdgas zu verzichten. Ferngasgesellschaften der ersten Stufe beschafften sich von in- und ausländischen Produzenten Gas und reichten dies an nachgeordnete Ferngasunternehmen oder Orts- und Regionalversorger weiter. Als Teil des E.ON-Konzerns ist die Ruhrgas AG zu nennen, die als größte deutsche Ferngasgesellschaft die Funktionen des Gasimports, des -einkaufs sowie des Ferntransports übernahm. Thyssengas, VNG in Ostdeutschland sowie die WINGAS in Kassel stellen ebenfalls Ferngasgesellschaften dar; andere Unternehmen wie Statoil oder Erdgas Münster als regionale Anbieter kann man ebenfalls der Ferngasstufe zu ordnen. Ferngasgesellschaften der 2. Stufe übernahmen einerseits Lieferungen an Orts- und Regionalversorger sowie an die Industrie und Kraftwerke, konnten aber andererseits auch Kleinverbraucher über ihre eigenen Ortsversorgungsnetze beliefern. Ferngasgesellschaften der 2. Stufe, Orts- und Regionalversorger sowie Endverbraucher, konnten Gas nur direkt importieren, wenn die Netze der jeweils vorgetragenen Stufen zugänglich waren. Bis etwa Mitte der 2000er-Jahren kam den jeweiligen regionalen und lokalen Verteilergesellschaften die Stellung eines Monopolisten zu. Rechtlich wurde der Gasmarkt durch Demarkations- und Konzessionsverträge abgesichert, da nach der al-

302

7 Energiepolitik

ten Version des § 103 GWB die gesamte Gasversorgung als natürliches, d. h. aus Kostengründen unvermeidliches Monopol angesehen wurde. Mit bilateralen Verträgen zwischen zwei Versorgungsunternehmen wurde im Rahmen der sogenannten Demarkationsverträge die Verpflichtung fixiert, unmittelbare keine Kunden des Vertragspartners zu beliefern. Im Rahmen von Konzessionsverträgen zwischen den Kommunen als Eigentümer der öffentlichen Wege und den Versorgungsunternehmen wurden den Versorgern das ausschließliche Wegenutzungsrechts zugesichert; als Gegenleistung für die Rechte wurden die Kommunen am Umsatz oder am Gewinn des Versorgers beteiligt (Konzessionsabgabe). Für die kommunalen Haushalte waren und sind diese Abgaben von großer Bedeutung. Nicht leitungsgebundene Energieträger befürchteten, dass aufgrund dieser finanziellen Anreize die Kommunen die leitungsgebundenen Versorger begünstigten. Die Marktstruktur in der deutschen Gaswirtschaft hatte Rückwirkungen auf die Preisgestaltung in diesem Markt, insbesondere in Form einer spezifischen Preisdifferenzierung: Das Prinzip des anlegbaren Preises. Die Existenz einer Preisdifferenzierung setzt voraus, dass Preisunterschiede zwischen verschiedenen Kundengruppen oder anderen Teilmärkten nicht durch Arbitragegeschäfte unterlaufen werden. Die Notwendigkeit, Erdgas über Netze zu transportieren, und der ausschließliche Zugang des Netzbetreibers zum Netz verhindern Arbitrage-Geschäfte. Somit konnte die Erdgaswirtschaft in Wärmemarkt ­festschreiben, dass die Erdgaspreise sich am Konkurrenzenergieträger Heizöl orientieren mussten. Die „kleineren“ Vorteile des Erdgases gegenüber Heizöl wie Wegfall eines Speichertanks sowie rußfreie Verbrennung und damit geringerer Wartungsaufwand beim Heizkessel erlaubten sogar einen etwas höheren Preis als bei Heizöl. Den Gasversorgern gelang es, im Wärmemarkt erheblich Fuß zu fassen. Im Kraftwerksmarkt richtete sich der Erdgaspreis an der billigeren Steinkohle aus. Um zum Beispiel auf der Handels- und Transportstufe das Problem der doppelten Marginalisierung (Abschn. 3.5) zu verhindern, konnten sich die Lieferanten an der regionalen Verteilergesellschaft beteiligen und damit für einen gemeinsam gewinnmaximierenden Preis eintreten. Mit der Deregulierung des Gasmarktes, der in Deutschland aufgrund europäischer Richtlinien Mitte der 2000er-Jahre begann, kam es darauf an, den Wettbewerb soweit wie möglich zu öffnen. Soweit wie möglich bedeutet, sich die einzelnen Wertschöpfungsstufen des Gasmarktes anzuschauen (Knieps, 2007a, S. 9; Heuterkes & Janssen, 2008, S. 36 f.; Tab. 7.5). Nur nicht-bestreitbare, d. h. vor Marktzutritt potenzieller Konkurrenten geschützte Monopole waren noch zu regulieren; alle anderen Wertschöpfungsstufen sollten für Konkurrenten Tab. 7.5  Wertschöpfungsstufen in der Gaswirtschaft Erzeugung/Import Ferntransport Gasspeicher Lokale Verteilnetze Endkunde

Subadditivität Nein Nein? Nein Ja Nein

Bestreitbarkeit Nein Nein Ja Nein Ja

Regulierungsbedarf Nein Nein? Nein Ja Nein

In Anlehnung an Knieps (2007a, S. 9) und Heuterkes und Janssen (2008, S. 36 f.)

7.4 Gaswirtschaft

303

offen sein. Nicht-bestreitbare Monopole mussten noch immer reguliert werden, erstens um überhöhte Preise als Folge von Marktmacht zu verhindern und zweitens Wettbewerbern den diskriminierungsfreien Zugang zum Monopolmarkt zu gewähren. Auf der Ebene der Weiterverteiler, also den regionalen und lokalen Netzen, gab es jeweils nur einen Anbieter, der aufgrund von Dichtevorteilen im Netz (lokale und regionale parallele Netze sind unnötig) ein natürliches Monopol darstellte. Die lokalen Verteilnetze wurden entlang der Straßenführungen verlegt und vielfältig miteinander verknüpft (vermascht). Parallele Verteilnetze in den einzelnen Straßen sind somit offenkundig unwirtschaftlich. Ferner sind die Ausgaben für den Bau der Netze sprichwörtlich versunken. Bei lokalen Verteilnetzen liegen somit nicht bestreitbare natürliche Monopole vor, die es zu regulieren gilt. Zwar gab es in Deutschland mehrere Ferngasgesellschaften, die auch gleiche Gebiete versorgen konnten, trotzdem fehlte es an der Bestreitbarkeit des Marktes: Der Bau von Ferngasnetzen ist mit hohen, nicht-reversiblen (versunkenen) Kosten verbunden, sodass auch im zeitweilig bestehenden Duopol E.ON und Ruhrgas wirksamer Wettbewerb nicht zu erwarten war. Insofern musste das Ferngasnetz genauso reguliert werden. Bis zur kriegerischen Verschärfung im Ukrainekonflikt ging man davon aus, dass die in Deutschland betriebenen Kavernen- und Porenspeicher eine nicht zu regulierende Wertschöpfungsstufe darstellt. Es gäbe eine Vielzahl voneinander unabhängig betreibbaren Speicherstandorten (keine Subadditivität). Ferner sei das Ausmaß an Irreversibilität geringer als in den anderen Gasnetzsektoren, allein schon weil bei steigendem Gasspeicherbedarf Speicher leicht verkaufbar seien oder sich Speicher auch langfristig als Speicherort für CO2 eignen würden. Zumindest zeigt jedoch die aktuelle Entwicklung, dass wenn Speicherung und Import in einer (russischen) Hand liegt, Anreize bestanden, die ausreichende Befüllung der Speicher zu unterlassen. Zumindest somit vor dem Hintergrund der Versorgungssicherheit könnte dann doch ein Regulierungsbedarf bestehen. Wie auch im Strommarkt ist durch die Erbringung von Gasverkäufen im Wettbewerb eine neue Wertschöpfungsstufe beim Endkunden (Vertrieb, Rechnungsabwicklung, etc.) entstanden, für die es jedoch keine Gründe zur Regulierung gibt. „Angestoßen“ durch die europäische Erdgasbinnenmarktrichtlinie (98/30/EG) wurden mit der Novelle des Energiewirtschaftsgesetzes (EnWG) die Gasnetze für Dritte geöffnet. Plustext 7.8: Verbändevereinbarung Gas Wie auch im Strommarkt probierte man die Umsetzung der Richtlinie mit sogenannten Verbändevereinbarungen, der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) und Verband industrieller Kraftwerksnutzer (VIK) als Parteien der Industrie und die Gaswirtschaft, vertreten durch den Bundesverband der deutschen Gas- und Wasserwirtschaft (BGW), sowie der Verband kommunaler Unternehmen (VKU). 2000 wurde die erste Verbändevereinbarung (VV Erdgas) in Kraft gesetzt, welche 2001 ergänzt und in 2002 durch die zweite Vereinbarung ersetzt wurde. Für diese Verbändevereinbarungen musste jeder, der die Gasnetze nutzen wollte, in einem separaten Vertrag festlegen, wie die Gasmenge physisch durch die Netze transportiert werden sollten (Kontraktpfadmodell). Die Netzbetreiber können jedoch gegenläufige Transporte miteinander saldieren, die tatsächlich erfolgende Netz­ übertragung konnte somit geringer ausfallen, folglich fielen geringere Kosten als im hypothetischen Kontraktpfadmodell an. Die Industrieverbände lehnten daher dieses Modell ab und wollten nur noch entfernungs- und gasflussunabhängige Entgelte; nur noch die Fragen der Ein- und Ausspeisung sollte geregelt werden. Mit der im Juni 2003 beschlossenen EU-Beschleunigungsrichtlinie (2003/55/ EG) wurde die Möglichkeit eines verhandelten Netzzugangs gestrichen.

304

7 Energiepolitik

Europarechtlich wurde jetzt eine (unabhängige) Regulierungsbehörde mit der Aufgabe der Netzentgeltregulierung erforderlich. Mit der Novelle des EnWG in 2005 wurde in Deutschland die Bundesnetzagentur (BNetzA) für den Gassektor zuständig, die vertikal integrierten (Gas-)verbundunternehmen mussten ein Stück weit entflochten werden, und Netzentgelte (mit einem Leistungspreis für die Nutzung des Netzes insgesamt sowie einem Arbeitspreis entsprechend der tatsächlichen bzw. geplanten Nutzung) mussten vor ihrer Verwendung (ex ante) nach einem kostenbasierten Maßstab genehmigt werden. Bis 2009 galt der Grundsatz, dass die Gasnetzentgelte kostenbasiert sein sollten, zuzüglich einer angemessenen Verzinsung (Heuterkes & Janssen, 2008, S. 12–19). Auch um Anreize zu übermäßigen Investitionen zu begrenzen (Plustext 7.6), wurde 2009 eine Anreizregulierung in Form einer Erlösobergrenzenregulierung implementiert, die jedoch an den historisch genehmigten Kosten ansetzte; allgemeine Preissteigerungen durften aufgeschlagen werden, entsprechend der erwarteten Rate des technischen Fortschritts (X-Faktors) mussten die Preise gesenkt werden. Ab 2006 kam es zu erheblichem Wettbewerb auf dem Gasmarkt. Neue Marktteilnehmer waren zu beobachten, die BNetzA drückte auf weitere Marktöffnungsschritte und Gas wurde in viel größerem Umfang als bisher gehandelt. E.ON Ruhrgas, die man als Opponent eines geöffneten Gasmarktes wahrnahm, forcierte ab 2007 die Etablierung des Over the Counter (OTC) Day-Ahead-Marktes. Es bildeten sich in der Folge zwei Gaspreise: Die für traditionell an den Ölpreis gebundenen langfristigen Lieferverträge und die Handelspreise. Die aus den Langfristverträgen zugesagten Mengen lagen meist über den benötigten, es kam zu einer „vertraglichen Gasschwemme“. Die sich dadurch ergebenden niedrigen Preise waren für die Marktneulinge vorteilhaft, weil sie zu geringeren Einstandskosten anbieten konnten als die Alteingesessenen mit ihren Langfristverträgen. Plustext 7.9: Gaspreisbremse (BMWK, 2022a, b) und kritisch Dertwinkel-Kalt und Wey (2022) Private Haushalte, kleine und mittlere Unternehmen, deren jährlicher Gasverbrauch unter 1,5 Mio. kWh liegt, sowie Pflegeeinrichtungen, Forschungs- und Bildungseinrichtungen erhalten eine Deckelung des Gaspreises auf zwölf Cent brutto pro Kilowattstunde. Diese Begrenzung greift ab März 2023 bis April 2024, soll jedoch rückwirkend auf die ersten beiden Monate des Jahres 2023 angewandt werden. Die Preisbegrenzung gilt jedoch nur für 80 % des Vorjahresverbrauch, der aus dem im September 2022 festgelegten Abschlagszahlung ermittelt wird. Technisch wird diese Bremse über die Gasversorger mit den Endkunden verrechnet, höhere Preise werden den Versorgern durch den Staat erstattet. In jedem Fall kommt es am Ende auf die tatsächliche verbrauchte Menge des Vorjahres an bzw. höhere Endkundenpreise als zwölf Cent brutto pro Kilowattstunde werden mit der Jahresabrechnung „spitz“ abgerechnet. Für den Monat Dezember des Jahres 2022 übernahm der Staat den Abschlag direkt. Fernwärmekunden erhalten eine Zusage der Begrenzung des Bruttoarbeitspreises von 9,5 Cent pro Kilowattstunde. Unternehmen, die pro Jahr mehr als 1,5 Mio. kWh Gas verbrauchen, bekommen ein Deckelungsversprechen in Höhe von sieben Cent pro Kilowattstunde des Nettoarbeitspreises. Dieses Versprechen gilt jedoch nur für 70 % des Gasverbrauchs aus dem Jahre 2021. Man erwartet, dass von dieser Regelung etwa 25000 Unternehmen sowie 1900 zugelassene Krankenhäuser u. ä. profitieren. Die Gaspreisbremse gilt sowohl für die energetische als auch nicht-energetische Nutzung von Gas. Unternehmerische Nutznießer der Bremse melden ihren Subventionsbedarf beim Energieversorger an, ihre Meldung wird öffentlich gemacht. Auch unternehmerische Wärmekunden erhalten eine Preisgarantie in Höhe von 7,5 ct/kWh netto, bezogen auf

7.4 Gaswirtschaft

305

70 % der Vorjahresmenge. Über diese Deckelung der Unternehmenspreise hinausgehende Beträge werden wiederum vom Staat übernommen. Mit der Anknüpfung an den Vorjahresverbrauch und Begrenzung auf 70 bzw. 80 % soll weiterhin ein großer Anreiz bestehen, den Gasverbrauch zu reduzieren. Selbst eine Reduzierung über 70 bzw. 80 % hinaus käme den Endverbrauchern vollständig zugute, da auf jeden Fall 70 bzw. 80 % der Vorjahresmenge erstattet wird. Insofern vergrößert sich der Sparanreiz weiter. Möglicherweise haben die Gasversorger jetzt einen Anreiz, ihre Preise anzuheben; der Subventionsbedarf für den Staat würde ansteigen. Ferner könnten die begünstigten Haushalte ihr Interesse nach Abschluss eines günstigeren Vertrages bei einem anderen Versorger verlieren, sie sind ja mit ihrem bisherigen Vertrag abgesichert.

Versorgungssicherheit im Gassektor (Seeliger, 2022, S. 181–187) stellt sich nicht als kurzfristiges Problem wie in der Stromwirtschaft dar, sondern kann zu einer mittel- bis langfristigen Schwierigkeit werden. In Stromnetzen geht es um den sekundengleichen Ausgleich zwischen Ein- und Ausspeisung. Durch die Anpassung des Drucks in Gaspipelines kann die Transportgeschwindigkeit erhöht oder gesenkt werden (sogenannte Netzatmung), selbst manche Wärmeanwendungen haben Warmwasserzwischenspeicher und Stadtwerke können Erdgas in Kugelgasbehältern oder anderen Speichern „auf Halde legen“. Für die deutsche Gaswirtschaft geht es eher darum, ob die vorhanden Importquellen so hinreichend differenziert sind, dass eine Abhängigkeit von einem Importeur vermieden wird. Gerade die fast schon traumatische Abhängigkeit von „OPEC-Rohöl“ in den 1970-Jahren hatte die energiepolitische Debatte sensibilisiert, damit eine erneute Abhängigkeit bei alternativen Energieträgern vermieden wird. Trotzdem bezog Deutschland bis vor dem Ukraine-Krieg über 30 % seines selbst verbrauchten Erdgases allein aus Russland, ähnlich dazu bei der Steinkohle und immer noch erheblich beim Erdöl. Grundsätzlich beruht das „deutsche Wirtschaftsmodell“ auf einen hohen Exportanteil, gerade im Verarbeitenden Gewerbe, die dazu notwendigen Rohstoffe werden importiert; teilweise landen die Exporte genau in den Ländern, die zuvor Rohstoffe geliefert haben. Insofern ist eine allgemeinen Importunabhängigkeit für Deutschland kaum denk- und auch nicht wünschbar. Die spezielle Importabhängigkeit von Russland bei Gas wurde mit guten ökonomischen Gründen als unproblematisch angesehen: • Deutschland besitzt im europäischen Vergleich mit die höchsten Speicherkapazitäten. Je nach Wetterlage könnten wohl bis zu zweieinhalb Monate der Gasbedarf aus (gefüllten) Speichern gedeckt werden. • Durch die zentrale geografische Lage können Importeure Gas aus anderen Pipelines (zum Beispiel Norwegen, Niederlande) oder aus belgischen und niederländischen Flüssiggashafen LNG beziehen, sodass z. B. Gasmengen aus den Vereinigten Staaten von Amerika, Katar, Algerien oder Nigeria importiert werden könnten. Auf eigene LNG-Terminals hat man trotz jahrzehntelanger Planung verzichtet. • Die russische Pipelinestruktur ist auf Westeuropa ausgerichtet. Alternative Exportverwendungen scheiterte bereits an der fehlenden Pipelineanbindung. • Gaspipelines erfordern sehr hohe Investitionskosten. Fehlender Absatz über diese Pipelines gefährdet die Refinanzierung der Investitionskosten.

306

7 Energiepolitik

• Russland bzw. sein Exportmonopolist Gazprom hat über 40 Jahre hinweg zuverlässig Gas nach Deutschland geliefert und bei Schwierigkeiten, zum Beispiel bei früheren Konflikten mit der Ukraine, erfolgreich Abhilfe mit geschaffen. Die Abhängigkeit Russlands von Deviseneinnahmen aus dem Gashandel könnten diese Form der Zuverlässigkeit erklären. Trotz dieser überzeugenden Argumente setzt offensichtlich Russland die Erdgaslieferungen als Drohmittel ein und reduzierte in 2022 dramatisch die Lieferungen. Vielleicht unterliegt diese ökonomische Argumentation dem „Trugschluss der Verallgemeinerung“: Geopolitische Interessen Russlands scheinen die partialanalytischen Vorteile eines ungestörten Gasexports zu überwiegen. Mit dem Bau von LNG-Terminals, den Kauf von Erdgas bei anderen Lieferanten und Erdgaseinsparungen in der Zielgröße von 20 % versucht Deutschland, kurzfristig die Lücke zu schließen, mittelfristig soll der Ausbau der erneuerbaren Energien sowie der Ersatz von Erdgas durch Wasserstoff Abhilfe schaffen.

Zusammenfassung und Fazit

Für die deutsche Energieversorgung gibt es einen stetigen Wandel bezüglich der Nutzung verschiedener Energieträger. Für die Industrialisierung Deutschlands war der Steinkohlebergbau zentral, Stadtgas als Nebenprodukt der Kohleverhütung spielte eine geringe, regional begrenzte Rolle. Relativ bald nach der Gründung der Bundesrepublik kam der Steinkohlenbergbau unter Konkurrenzdruck des Öls. Über Jahrzehnte versuchte man die zu teure deutsche Kohle zu retten, auch durch massive Subventionen. Ende der 2010er-Jahre wurde der Steinkohlenbergbau eingestellt, Steinkohle wird nur noch importiert. Für Ostdeutschland nahm die Verwendung der heimischen Braunkohle sowohl für die Stromerzeugung als auch für die Wärmeversorgung eine dominierende Rolle ein, Öl war zu teuer und heimische Steinkohle nicht verfügbar. Mit den beiden Ölkrisen in den 1970er-Jahren wurde als Ziel ausgegeben, sich von der OPEC-Abhängigkeit zu lösen. Viele Kernkraftwerke sollten gebaut werden und die Versorgung mit Erdgas, auch vor allem aus der ehemaligen Sowjetunion bzw. dem heutigen Russland, nahm deutlich zu. Erdgas spielt eine wichtige Rolle für die deutsche Industrie und stellt sicherlich auch das Rückgrat der deutschen Wärmeversorgung dar. Kernenergie wurde zunehmend kritisch gesehen und nach einigem Hin und Her wurde 2011 der endgültige Ausstieg aus dieser Energieform bis Ende 2022 weitgehend einmütig beschlossen. Die durch fossile Brennstoffe entstehenden CO2-Belastungen beförderten die Idee einer umfassenden Energiewende in Richtung Klimaneutralität. Mit der Förderung erneuerbarer Energien seit 2000 wird die Inbetriebnahme insbesondere von Fotovoltaik und Windkraftanlagen massiv unterstützt, finanziert bis vor kurzem durch eine Umlage auf den Strompreis (EEG-Umlage). Als politisches Ziel steht heute im Raum auf die Verwendung fossiler Brennstoffe für die Energieerzeugung zu verzichten und Verbrennermotoren vor allem aus dem Straßenverkehr zu verbannen.

7.4 Gaswirtschaft

307

Energiepolitik aus ökonomischer Sicht ist natürlich auch die Frage der Internalisierung der externen Effekte. Gerade die allgemeine Energiegewinnung, die Stromerzeugung, der Wärmemarkt und der Verkehr tragen zu vielfältigen Umweltbelastungen bei, die mit geeigneten Instrumenten bekämpft werden müssen (Kap. 6). Ferner spielt in der Energiepolitik eine große Rolle, inwieweit Monopolstrukturen erforderlich sind, wie diese dann zu regulieren sind und in welchen Bereichen der Wettbewerb die entscheidende Rolle spielen kann. Gerade im Strom- und Gasmarkt herrschten bis Ende des letzten Jahrhunderts vor Wettbewerb geschützte Monopole. Mit der vor allem von der Europäischen Union vorangetriebenen Öffnung diese Märkte und der Begrenzung der Regulierung auf die sogenannten Engpassbereiche sind erhebliche wirtschaftspolitische Fortschritte erzielt worden. Die Frage der optimalen Regulierung der nicht-bestreitbaren natürliche Monopole bleibt immer eine ökonomisch spannende Frage. In der Energiepolitik greift vor allem die sogenannte Erlösobergrenzenregulierung, mit der Netzbetreiber (begrenzte) Anreize zur Kostensenkung haben. Im Strommarkt gibt es vor allem das Problem, wie der sekundengleiche Ausgleich von Ein- und Ausspeisung zu gewährleisten ist. Die ökonomische Idee der Spitzenlastpreisbildung zeigt, dass der Preismechanismus hilfreich sein kann, Spitzen und damit drohende Überlastungen zu verhindern. Die Ereignisse der jüngsten Zeit zeigen, dass das Thema der Versorgungssicherheit immer wieder eine große Rolle spielen kann und daher Absicherungsmaßnahmen nicht vernachlässigt werden sollten.

Übungsaufgaben

1. Beschreiben Sie die ökonomischen Besonderheiten der fossilen Energieträger Kohle, Öl, Gas und Kernenergie. 2. Sollte man erneuerbare Energien fördern und wenn ja, wie? 3. Zeigen Sie, auch mit Hilfe einer Zeichnung, warum man Strom- und Gasnetzbetreiber regulieren sollte. Welche Grundformen der Regulierung gibt es und welche Schwierigkeiten gibt es dabei. 4. Wenden Sie den disaggregierten Wettbewerbsansatz auf die Strom- und Gaswirtschaft an. 5. Was ist Versorgungssicherheit, wie könnte man sie messen und wie sichern? 6. Beschreiben Sie in Grundzügen die Regulierung des Strommarktes in Deutschland bis Ende der 1990er-Jahre. Inwiefern war diese Form der umfassenden Regulierung gerechtfertigt bzw. überzogen? Kommentierte Literaturhinweise Einen guten Überblick zu Fragen der Energiepolitik bieten Löschel et al. (2020) und Seeliger (2022). Die moderne Theorie der Regulierung natürlicher Monopole wird immer noch am besten bei Train (1991) beschrieben. Die zitierten Arbeiten von Knieps verdeutlichen die wirtschaftspolitische Relevanz der Engpassregulierung.

308

7 Energiepolitik

Literatur BMWK. (2022a). Überblickspapier der Bundesregierung zur Gas- und Strompreisbremse. https:// www.bmwk.de/Redaktion/DE/Downloads/Energie/ueberblickspapier-­bundesregierung.gas-­und-­ strompreisbremse.html. Zugegriffen am 13.12.2022. BMWK. (2022b). Dezember-Abschlag für Gas und Wärme: Informationen für Mieterinnen und Mieter. https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Module/entscheidungsfinder-­gas-­abschlag-­dezember/entscheidungsfinder.html. Zugegriffen am 13.12.2022. Brunekreeft, G., & Keller, K. (2003). Elektrizität: Verhandelter versus regulierter Netzzugang. In G.  Knieps & G.  Brunekreeft (Hrsg.), Zwischen Regulierung und Wettbewerb (2. Aufl., S. 131–156). Physica. Brunekreeft, G., & Meyer, R. (2016). Anreizregulierung bei Stromverteilnetzen: Effizienz versus Investitionen. Perspektiven der Wirtschaftspolitik, 17(2), 172–187. Cullmann, A., Dehnen, N., Nieswand, M. & Pavel, F. (2015). Keine Investitionshemmnisse in Elektrizitäts- und Gasverteilnetze durch Anreizregulierung. DIW Wochenbericht, 82(6), 98–104. Deregulierungskommission. (1991). Marktöffnung und Wettbewerb, Endbericht. Poeschel. Kapitel 4. Dertwinkel-Kalt, M., & Wey, C. (2022). Why Germany’s “gas price brake” encourages moral hazard and raises gas prices. https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=4294767. Zugegriffen am 13.12.2022. Eickhof, N. (1998). Die Neuregelung des Energiewirtschaftsrechts. Wirtschaftsdienst, 78(1), 18–25. Erdmann, G., & Zweifel, P. (2008). Energieökonomik: Theorie und Anwendungen (2., verbess. Aufl.). Springer. FAZ. (2022, April 10). Der Weg in die Erdgas-Falle. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Nr. 14, S. 20. Zugegriffen am 16.11.2022. Heuterkes, M., & Janssen, M. (Hrsg.). (2008). Die Regulierung von Gas- und Strommärkten in Deutschland. Beiträge zur angewandten Wirtschaftsforschung, No. 29, University of Münster, Münster Center for Economic Policy (MEP). Kahle, C. (2009). Die Elekrizitätsversorgung zwischen Versorgungssicherheit und Umweltverträglichkeit, Nomos. Knieps, G. (2007a). Disaggregierte Regulierung in Netzsektoren: normative und positive Theorie. Diskussionsbeitrag, No. 116, Institute for Transport Economics and Regional Policy, University of Freiburg. Knieps, G. (2007b). Netzökonomie – Grundlagen – Strategien. Gabler. Knieps, G. (2008). Wettbewerbsökonomie: Regulierungstheorie, Industrieökonomie, Wettbewerbspolitik (3., durchgeseh. u. akt. Aufl.). Springer. Kumkar, L. (2000) Wettbewerbsorientierte Reformen der Stromwirtschaft. Institut für Weltwirtschaft an der Universität Kiel, Kieler Studien, Mohr-Siebeck, Tübingen, 2000, Nr. 305. Löschel, A., Rübbelke, D.  T. G., Pfaffenberger, W., & Heuterkes, M. (2020). Energiewirtschaft: Einführung in Theorie und Politik (4., vollst. überarb. Aufl.). De Gruyter Oldenbourg. Monopolkommission. (2022). Strommärkte weiterentwickeln, Preisbremse wettbewerbskonform gestalten. Policy Brief, Nr. 10, Oktober 2022. https://www.monopolkommission.de/de/policy-­ brief.html. Zugegriffen am 24.11.2022. Nechyba, T. (2018). Intermediate microeconomics – An intuitive approach with calculus, EMEA edition, Cengage. Seeliger, A. (2019). Umsetzung der europäischen Binnenmarktrichtlinie für Elektrizität (96/92/EG) und deren wettbewerbliche Folgen. ZBW – Leibniz Information Centre for Economics. Kiel.

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8

Verkehrspolitik

In der Verkehrspolitik geht es um die (wirtschafts-)politische Gestaltung des Verkehrswesens, sowohl die des Verkehrssektors selbst, in Bezug auf die gesamte Volkswirtschaft als auch zu anderen Wirtschaftssektoren (Eisenkopf, 2018, S. 2818). In Deutschland wurde über viele Jahrzehnte hinweg der Verkehrssektor reguliert und der Wettbewerb begrenzt, hierfür wurde gar eine „Besonderheitenlehre“ als Rechtfertigung entwickelt. Nach der modernen Wirtschaftstheorie sind nur noch das Auftreten negativer technologischer externer Effekte sowie das Bestehen eines natürlichen Monopols potenziell relevant. Weite Teile des Straßengüterverkehrs, des Luftverkehrs, der Binnenschifffahrt und der Fernbusse sind für den Wettbewerb geöffnet worden, vor allem aufgrund europäischer Vorgaben. Über lange Zeiträume hinweg wurde die Bahn vor Wettbewerb geschützt, jetzt ist für sie nur noch eine umfangreiche Regulierung der Schieneninfrastruktur erforderlich, sowohl um kostendeckende Preise als auch um diskriminierungsfreien Zugang sicherzustellen. Abschn. 8.1 gibt einen Überblick zur Verkehrspolitik in Deutschland. Die Ökonomik des Verkehrswesens findet sich in Abschn. 8.2. Die Möglichkeit zum Wettbewerb und die Herausforderungen der Regulierung im deutschen Bahnsektor ist in Abschn. 8.3 zu finden.

8.1 Verkehrspolitik in Deutschland Verkehrspolitik in Deutschland weist eine annähernd 200-jährige Tradition auf, die meist interventionistisch ausgelegt war (Dorsch, 2021, S. 417 f.; Fraunholz & Hascher, 2018, S. 149–152; Stock & Bernecker, 2014, S. 325–334). Die Eckpunkte der deutschen Verkehrspolitik werden im Folgenden dargestellt. Ergänzende Information Die elektronische Version dieses Kapitels enthält Zusatzmaterial, auf das über folgenden Link zugegriffen werden kann [https://doi.org/10.1007/978-3-658-42124-3_8]. © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 T. Wein, Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42124-3_8

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8 Verkehrspolitik

Die Verkehrspolitik im heutigen Sinn begann mit dem Aufkommen der Eisenbahn. Die Dampfkraft bzw. die Eisenbahn in Verbindung mit der wirtschaftlichen Dynamik des ­Liberalismus Ende des 18. bzw. in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erforderte und ermöglichte eine großräumige Verkehrsnutzung. Gegenüber den bisherigen Verkehrsträgern wie Kähne, Ochsen- oder Pferdegespanne seien die Transportkosten auf 10 % oder weniger des vormaligen Niveaus gefallen. 1835 gab es in Deutschland auf der Strecke Nürnberg-­Fürth den ersten regelmäßigen Dampfeisenbahnbetrieb. Im Anschluss daran wurden zügig neue Strecken gebaut, z. B. die erste deutsche Ferneisenbahn 1837 zwischen Leipzig und Dresden. Erstmals 1838 kam es zu einer staatlich betriebenen Bahn auf der Verbindung zwischen Braunschweig und Wolfenbüttel. Die meist zunächst privat betriebenen Eisenbahnen wurden zwischen 1875 und 1885 beinahe zu 100 % in Staatsbesitz überführt. Die sich bis 1920 in Länderhand befindlichen Bahnen wurden zur Deutschen Reichsbahn zusammengeschlossen. Unter dem Stichwort der gemeinwirtschaftlichen Aufgaben wurde die Reichsbahn verpflichtet, die Tarife nach dem Wert der transportierten Güter zu staffeln (wertvolle Güter trugen höhere Tarife, ohne dass damit höhere Kosten für die Bahn verbunden waren), die Tarife mit der Entfernung nur degressiv ansteigen zu lassen (Entfernungsstaffel), ein allgemein gültiges Tarifverzeichnis zu verwenden (Tarifpflicht), jeden Zahlungswilligen zu befördern (Beförderungspflicht) und auch unrentable Strecken zu betreiben (Betriebspflicht). Ferner führte die Reichsbahn einen angemessenen Gewinn an ihren Eigentümer, den Staat, ab. Ab 1924 musste die Reichsbahn ihre hohen Gewinne für Reparationszahlungen zur Verfügung stellen, was an den Reparationszahlungen einen erheblichen Anteil ausmachte; zu diesem Zweck wurde die Reichsbahn unter dem Namen „Deutsche Reichsbahn Gesellschaft“ (DRG) privatisiert. Im intermodalen Wettbewerb verdrängte die Eisenbahn die bisherigen Verkehrsträger wie Pferdegespanne, oder die Binnenschifffahrt musste sich der neuen Konkurrenz anpassen. Nur beim Transport großer Einheiten konnte die Binnenschifffahrt mithalten, allerdings vor allem durch den Bau neuer Wasserstraßen, gerade in West- und Norddeutschland. Sektoral war die Binnenschifffahrt für den Kohlebergbau, für die eisen- und stahlerzeugende Industrie sowie für die chemische Industrie von großer Bedeutung. Mit Anfang des 20. Jahrhunderts machte vor allem der Lkw der Eisenbahn mit einer besseren Anbindung in der Fläche sowie höherer zeitlicher Flexibilität Konkurrenz. Schnell fielen die Frachtraten im straßenbasierten Güterkraftverkehr unterhalb des Tarifs der Reichsbahn, die Reichsbahn reagierte 1926 mit deutlichen Tarifsenkungen, um die intermodale Konkurrenz zu bekämpfen. Im Rahmen der Notverordnungspolitik im Oktober 1931 wurde das „Gesetz betreffend den Überlandverkehr mit Kraftfahrzeugen“ erlassen, welches im Grundsatz den Lkw-­Verkehr beschränkte, um die gemeinwirtschaftliche Bahn zu schützen. Der Straßengüterverkehr wurde in Güterfern-, Güternah- und Werksverkehr unterteilt. 1931 wurden für den Fernverkehr Konzessionen geschaffen, die subjektive, qualifikatorische Marktzugangsbeschränkungen normierten; 1935 wurden die Anzahl der Konzessionen zahlenmäßig beschränkt, Kontigente wurden somit festgelegt. Der Reichskraftwagentarif durfte

8.1 Verkehrspolitik in Deutschland

313

den Eisenbahngütertarif nicht unterschreiten. Alle Fernverkehrsunternehmen wurden Zwangsmitglieder des Reichskraftwagen-Betriebsverbands, der mit der Reichsbahn den Reichskraftwagentarif aushandelte und seine Anwendung überwachte. Der Güternahund der Werksverkehr wurden damals noch nicht in die Regulierung einbezogen. Der Straßenpersonenverkehr mit Omnibussen wurde sowohl im Linien- als auch im Gelegenheitsverkehr genehmigungspflichtig. Der Linienfernverkehr wurde weitgehend zum Schutz der Bahn untersagt, später wurden nur im Berlin-Westdeutschland-Verkehr sowie zur besseren Anbindung von Regionalflughäfen Ausnahmen gemacht. Erst 2013 wurde der Fernbusreisemarkt liberalisiert. Da der aufkommende Luftverkehr nicht in Konkurrenz zur Bahn stand, blieb er unreguliert. Die Binnenschifffahrt wurden analog zum Güterfernverkehr einer strikten Marktordnung unterworfen. Die Partikuliere der Binnenschifffahrt wurden über Schiffbetriebsverbände verkammert, das Frachtaufkommen wurde administrativ auf die Kammermitglieder verteilt. Frachtenausschüsse der Kammer bestimmten verbindliche Tarife, die noch zu genehmigen waren. Nach dem Zweiten Weltkrieg ging es zunächst darum, die zerstörte Verkehrsinfrastruktur und den Fahrzeugbestand wiederaufzubauen. Die vormals gültigen Reglementierungen des Verkehrssektors wurden wieder in Kraft gesetzt, teilweise sogar verschärft. Das Bundesbahngesetz von 1951 gab zwar kaufmännische Grundsätze als Ziel vor, aber es blieb bei der Pflicht, unrentable Strecken zu betreiben und nicht-kostendeckende Tarife zu verwenden. Die Bevorzugung der Bahn bzw. die Einräumung einer Monopolstellung wurde fortgeschrieben, die Bahn behielt das Vorrecht für die Errichtung neuer Strecken und wurde weiterhin vor dem Lkw-Verkehr geschützt. Der Staat genehmigte die Eisenbahntarife und hatte über den Verwaltungsrat ein weitgehendes Mitspracherecht in der Bundesbahn. Für den Straßengüterfernverkehr wurden 1952 die Instrumente der Kontingente und Konzessionen fortgeschrieben, zusätzlich galten Festpreise bei den Tarifen. Im Güternahverkehr waren ebenfalls Konzessionen erforderlich, die jedoch nur auf eine subjektive Eignungsprüfung als Marktzugangsbeschränkung abstellten, objektive Marktzutrittsbeschränkungen galten jedoch nicht. Im Güternahverkehr wurden zunächst Festpreise verfügt, die jedoch 1959 in Margenpreise (Preisvorgaben innerhalb einer bestimmten Bandbreite) umgewandelt wurden. Für den Werkverkehr galt eine Anmeldepflicht und das Kabotageverbot, d. h. das Verbot, Verkehrsleistungen für Dritte zu erbringen. Bei der Binnenschifffahrt wurde 1953 ebenfalls die alte Ordnung wiederhergestellt, Konzessionen waren erforderlich und Festpreise mussten angewandt werden; Kontingente konnten jedoch aus völkerrechtlichen Gründen nicht umgesetzt werden. Für die Personenbeförderung war desgleichen die Vorkriegsreglementierung maßgebend. Personenbeförderung mit Landfahrzeugen unterlagen einer Genehmigungspflicht, für Taxen gab es kontigentierte Konzessionen. Linienkonzessionen für Busse und Straßenbahnen wurden nur bei öffentlichem Interesse vergeben, bisherige Konzessionäre hatten ein umfassendes Besitzstandsrecht. Die Tarife in der Personenbeförderung mussten genehmigt werden und wurden auf ihre Anwendung hin kontrolliert.

314

8 Verkehrspolitik

Plustext 8.1: Interventionistische Verkehrspolitik (Stock & Bernecker, 2014, S. 308 f.) Unter dem Paradigma einer interventionistischen Verkehrspolitik sind für gesellschaftlich erwünschte Verkehrsangebote staatliche Eingriffe im Bereich des Verkehrs unabdingbar. Die Notwendigkeit staatlichen Handelns wird damit begründet, dass • ein Abstellen auf ausschließlich individuelle, menschliche Interessen ökologische Aspekte zu wenig berücksichtige und der Staat dies besser könne, • marktwirtschaftliche Prozesse eine geringe Leistungsfähigkeit aufweisen, da Märkte ungerechte Verteilungen oder zunehmende Instabilitäten erzeugen, • man auf die Lenkbarkeit gesellschaftlicher Prozesse vertrauen könne, • die gemeinwirtschaftlichen Interessen innerhalb einer kollektivistischen Staatsauffassung gegenüber den individuellen Interessen Vorrang hätten und • der Nutzen bestimmter Güter, sogenannter meritorischer Güter, in der individuellen, kurzsichtigen Perspektive unterschätzt würden; dies gelte nicht jedoch für den Staat, der sehr wohl die langfristige Perspektive einnehmen würde. Individuelle Mobilitätswünsche werden somit nur berücksichtigt, wenn sie übergeordneten gesamtwirtschaftlichen Zielen nicht widersprechen. Insbesondere dürften deshalb die natürlichen Lebensgrundlagen nicht überbeansprucht werden, die „Selbstreinigungskräfte“ der Natur seien zu beachten. Aus all dem wird gefolgert, die Fahrleistungen auf ein akzeptables, tragfähiges Niveau zu begrenzen: • Der Autoverkehr soll fiskalisch verteuert werden, im fahrenden Verkehr sollten Maßnahmen wie Energiesteuern oder Straßennutzungsgebühren eingeführt oder verschärft werden, der ruhende Verkehr ist durch Parkraumbewirtschaftungsmaßnahmen o. ä. zu begrenzen. • Das Straßennetz sollte grundsätzlich nicht vergrößert werden, da ein höheres Angebot in der Straßeninfrastruktur zusätzlichen (induzierten) Verkehr schaffen würde, was weitere Engpässe im Straßenverkehr heraufbeschwören würde. • Auf der Maßnahmenebene werden Eingriffe mit hoher freiheitsbeschränkender Intensität gefordert. (Drastische) Tempolimits, die Sperrung von Innenstädten für Pkws oder das Verbot von Inlandsflügen seien die Maßnahmen der Wahl. • Umweltfreundliche Verkehrsträger wie die Bahn oder der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) seien zu fördern, was auch den Erhalt und den Ausbau unrentabler Verkehrsverbindungen mit hohem Subventionsbedarf rechtfertige. • Weit über den Verkehr hinausgehende gesellschaftliche Rahmensetzungen seien zu priorisieren. Zum Beispiel solle der Trend zum Wohnen in der Vorstadt oder in Pendelentfernung auf dem flachen Land („Suburbaning“) gebrochen, wenn nicht sogar zurückgedreht werden. Wohnen, Arbeiten, Einkaufen und Freizeitgestaltung sollen möglichst in räumlicher Nähe stattfinden. Die interventionistische Verkehrspolitik präferiert die Verkehrsvermeidung, gefolgt von der Verschiebung von umweltschädlichen zu -freundlichen Verkehrsträgern und unvermeidlich zuletzt die Bewältigung der bisherigen Verkehrsströme mit den bisherigen Verkehrsträgern.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wuchs die Bedeutung des Luftverkehrs stark an, Flugzeuge wurden schneller und leichter, sie erreichten weitere Ziele. Meist „hegten und pflegten“ die Nationalstaaten ihre nationale Fluggesellschaft, ab 1955 in Westdeutschland die Deutsche Lufthansa. Die International Air Transport Association (IATA) plante das wechselseitige Flugangebot und poolte die Gesamteinnahmen; ausländische Fluggesellschaften durften keine Inlandsflüge durchführen, die Fluggesellschaften waren staatlich und die Start- bzw. Landerechte wurden vor allem den inländischen Fluggesellschaften zuerkannt.

8.1 Verkehrspolitik in Deutschland

315

Im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB), das 1958 in Kraft trat, wurde über §  99 der Verkehrssektor weitgehend vom allgemeinen Wettbewerbsrecht ausgenommen. Plustext 8.2: Marktwirtschaftliche Verkehrspolitik (Stock & Bernecker, 2014, S. 309 f.) Die marktwirtschaftliche Verkehrspolitik hebt auf die individuellen Interessen der Menschen bzw. Verkehrsteilnehmer ab (anthropozentrische Weltsicht). Bei Setzung vernünftiger Rahmenbedingungen würden sich die Preise ergeben, die effizient Verkehrsangebot und -nachfrage in Einklang bringen würden (hohes Vertrauen in den Markt). Dem Staat wird auch im Verkehrssektor eine geringe Steuerungsfähigkeit unterstellt, sei es, dass es ihm an den erforderlichen Informationen fehle, sei es, dass er aus polit-ökonomischer Sicht verzerrenden Anreizen unterliege. Die Konsumentensouveränität stehe daher im Mittelpunkt. Aufgabe der staatlichen Verkehrspolitik sei es nur die ordnungspolitischen Rahmenbedingungen zu schaffen und umzusetzen. Daraus folge, dass die Verkehrsmärkte möglichst offenbleiben müssten und unnötige Marktzutrittsbeschränkungen zu verhindern seien, dass die tatsächlichen Verkehrswegekosten von den jeweiligen Verkehrsträgern zu tragen wären, dass Eingriffe, die die wahren Preise verfälschen, den Wettbewerb behindern oder darauf ausgerichtet seien, ineffiziente Verkehrsleistungen zu konservieren, beseitigt oder unterlassen werden sollten. Insbesondere sollte der Schutz eines speziellen Verkehrsträgers vor Konkurrenz unterbleiben. Nur wenn Verkehrsmärkte aufgrund von Marktversagen funktionsunfähig wären, zum Beispiel bei erheblichen externen Effekten und zu regulierenden Monopolen, und der Staat ein besseres Ergebnis erzielen könne, gibt es einen Bedarf für eine eingreifende Verkehrspolitik.

Vom Europäischen Parlament und dem Europäischen Gerichtshof gingen in den 1980er-Jahren wesentliche Impulse aus, um die europäischen Verkehrsmärkte zu liberalisieren (Stock & Bernecker, 2014, S. 336). Das Europäische Parlament verklagte den Verkehrsministerrat wegen langjähriger Untätigkeit und Nicht-Umsetzung des EWG-Vertrags vor dem Europäischen Gerichtshof. In dem sogenannten „Untätigkeitsurteil“ entschied am 22. Mai 1985 der Gerichtshof, dass ein Verkehrsunternehmen innerhalb der Europäischen Gemeinschaft ohne Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit und des Niederlassungsortes Zugang zum innergemeinschaftlichen Güter- und Personenverkehr haben müsse, selbst wenn diese Verkehrsmärkte noch nicht harmonisiert seien. Mit den Mailänder Beschlüssen im Juni 1985 wurden alle bilateralen und Gemeinschaftskontingente und das Kabotageverbot außer Kraft gesetzt, teilweise wurden jedoch Übergangsfristen gewährt. Mit einem weiteren Urteil des Gerichtshofs im April 1986 wurde klargestellt, dass die allgemeinen Wettbewerbsvorschriften des EWG-Vertrags auch auf den Verkehr anzuwenden und die Regierung der Mitgliedstaaten an das europäische Wettbewerbsrecht ­gebunden seien. Damit durften auch innerhalb Deutschlands für Verkehrsleistungen keine Fest-, Margen- und Mindestpreise für Verkehrsleistungen vorgeschrieben werden. Im Anschluss daran hat die europäische Kommission die Liberalisierung des Verkehrsmarktes vehement vorangetrieben (Dorsch, 2021, S.  419  f.). Entsprechend der Tab.  8.1 wurde in Deutschland liberalisiert. Mit der Bahnstrukturreform von 1994 wurde die Deutsche Bahn AG in die vier Sparten Fahrweg, Güterverkehr, Personennah- und Personenfernverkehr aufgeteilt und weitere Schritte eingeleitet (Dorsch, 2021, S. 420 f.). Es kam zu einer rechnerischen und organisatorischen Trennung zwischen Fahrweg und Transportbereiche, womit auch Dritten die Nutzung des Fahrweges ermöglicht wurde. Ausländische Unternehmen jedoch, in deren

316

8 Verkehrspolitik

Tab. 8.1  Liberalisierungsschritte im deutschen Verkehrsmarkt Verkehrsträger StraßengüterVerkehr

Reaktionen - Ausweitung der Nahverkehrszone von 50 auf 70 km (1992) - Erhöhung der Anzahl der Genehmigungen im Fernverkehr (1992) - Umstellung der Preisregulierung im Fernverkehr auf Höchsttarife (1993) - Beseitigung der Preisregulierung im Fernverkehr mit Tarifaufhebungsgesetz (1994) - Kabotagefreiheit (1998) Eisenbahnverkehr - Zustimmung des Deutschen Bundestages und des Bundesrates zu den Gesetzen zur Reform der Bundeseisenbahnen Deutsche Bundesbahn und Deutsche Reichsbahn (Bahnstrukturreform) - Ziel: Verbesserung der Situation der DB sowie Umsetzung der EG-­ Richtlinie 91/440/EWG zur Entwicklung der Eisenbahnunternehmen der Gemeinschaft - schrittweise Öffnung der Bahnmärkte (seit 1995) Binnenschifffahrt - Kabotagefreiheit (1995) Luftverkehr Drei Liberalisierungsschritte zwischen 1987 und 1997: - Aufhebung der Preiskontrollen für Flugtarife - Aufhebung der Vereinbarung zwischen nationalen Fluggesellschaften, Einnahmen aus bestimmten Strecken aufzuteilen - Kabotagefreiheit ÖPNV - Öffnung der Nahverkehrsmärkte (2007) Dorsch, 2021, S. 419 f.

Heimatländern die Fahrwege nicht geöffnet sind, dürfen sich nicht auf diese Freiheit berufen. Im Grundgesetz wurde verankert, dass der Eigentümer des Schienennetzes die Deutsche Bahn AG bleiben muss, dass eine Infrastruktur- und Gemeinwohlverantwortung besteht und dass der Staat Mehrheitseigentümer der Fahrweg AG bleiben muss. Zur S ­ icherung des diskriminierungsfreien Zugangs zur Infrastruktur wurde 1998 die Eisenbahninfrastrukturbenutzungsverordnung verabschiedet, mit der eine Grundlage für die Berechnung von Trassenpreisen gelegt wurde; später wurde das Eisenbahnbundesamt gegründet und die Trassenpreisregulierung der neu gegründeten Bundesnetzagentur übertragen. Seit 2016 gibt es eine Anreizregulierung für Trassenpreise und Stationsentgelte. 1996 wurde der Schienenpersonennahverkehr regionalisiert; die Regionalisierungsmittel des Bundes wurden auf die Länder übertragen, die Nahverkehrsleistungen über Ausschreibungen entweder bei der DB Regio oder bei privaten Anbietern bestellen.

8.2 Ökonomik des Verkehrswesens Aus ökonomischer Sicht spielen im Verkehrswesen eine Reihe von Aspekten eine wichtige Rolle. Insgesamt kann Verkehr positive wirtschaftliche Aspekte bei der Produktion von Gütern und Dienstleistungen sowie auf der Nachfrageseite erzeugen (Abschn. 8.2.1). Sowohl die Bereitstellung als auch die Nutzung der Verkehrsinfrastruktur kann mit in den

8.2 Ökonomik des Verkehrswesens

317

Kalkülen der privaten Akteure unberücksichtigten gesellschaftlichen Kosten verbunden sein, sodass es gesamtgesellschaftlich zu viel Verkehr geben würde (Abschn. 8.2.2). Inwieweit und in welchem Ausmaß Wettbewerb ein geeigneter Koordinationsmechanismus im Verkehrswesen sein könnte und sollte, war gerade in Deutschland lange Zeit hochgradig umstritten: Einerseits funktioniere der Verkehrsmarkt nicht oder nur in einer besonderen Weise (Besonderheitenlehre) (Abschn. 8.2.3), andererseits sei der Verkehrsmarkt genauso nur vom Wettbewerb auszunehmen, wenn die allgemein anerkannten Marktversagensargumente des natürlichen, nicht-bestreitbaren Monopols greifen (Abschn. 8.2.4).

8.2.1 Positive wirtschaftliche Aspekte des Verkehrs Der Aufbau und die Nutzung der Verkehrsinfrastruktur erlaubt die Mobilität von Personen und Gütern, was zu gesamtwirtschaftlich gesehen positiven Effekten führt (Link 2018). Der Güterverkehr kann den Transport der produzierten Güter zu den Endverbrauchern gewährleisten, Güter werden verfügbar, eine Ausprägung der Versorgungssicherheit wird bedient. Arbeitnehmer nutzen die Verkehrsinfrastruktur, um von ihrem Wohnort zum Arbeitsplatz zu kommen. In einem wettbewerblichen Arbeitsmarkt würden die Arbeitnehmer ihre monetären Kosten des gewählten Verkehrsmittels sowie nicht-monetären Aufwendungen (z. B. Zeitkosten) in ihre Mindestlohnforderungen einkalkulieren; aus der Sicht des Unternehmens steigen die Arbeitskosten an. Eine Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur, mit der die Kosten der Mobilität sinken, hat entsprechend der Abb. 8.1 folgende Auswirkungen. Auf der Abszisse wird der Output X der in einem Markt produzierenden Unternehmen abgetragen. In dem wettbewerblichen Markt sei der Preis P aus Sicht der Unternehmen gegeben. Die im Markt tätigen Anbieter sehen sich zunächst einer ansteigenden Grenzkostenkurve GK1 gegenüber. Im Marktgleichgewicht würde der Punkt B erreicht und daher die Menge X1 produziert. Die verbesserte Verkehrsinfrastruktur soll dazu führen, dass vereinfachend die Grenzkostenkurve nach rechts unten zu GK2 verschoben wird, sei es, weil die Unternehmen mit geringeren Transportkosten konfrontiert werden oder weil die Arbeitnehmer leichter ihren Arbeitsplatz erreichen können und damit relativ gesehen geringere Lohnforderungen stellen. Das neue Marktgleichgewicht sei nun der Punkt E mit der Menge X2. Es ergibt sich einerseits ein Kostensenkungseffekt für die bisher produzierte Menge in Höhe der Fläche ABCD und andererseits einen wertmäßigen Mengenexpansionseffekt in Höhe von BEC. Bessere Verkehrsinfrastrukturen werden sich auch auf die Logistikkosten der Unternehmen senkend durchschlagen: Geringere Transportkosten ermöglichen es, sich häufiger beliefern zu lassen, c.p. fällt damit die optimale Lagergröße, die Kosten der Lagerung (Kapitalbindungskosten, Größe der Lager, etc.) sinken. Bessere Verkehrsanbindungen können auch größere Mengen in der Produktion ermöglichen, Größenvorteile (economies of scale) werden realisierbar. Mit der erhöhten Produktion an einem Standort könnten auch zusätzliche Agglomerationsvorteile verbunden sein, sei es durch den besseren Zugang zur öffentlichen Infrastruktur in Ballungsräumen (urbanisation economies), durch Einspareffekte bei

318

8 Verkehrspolitik

€ GK1

GK2

P

A

B

E

C

D 0

X1

X2

X

Abb. 8.1  Wirkung einer verbesserten Verkehrsinfrastruktur auf die Produktion. (In Anlehnung an Link 2018, S. 96)

Zulieferung von Zwischenprodukten (juxtaposition economies) oder durch Wissens-/Qualifikationsspillovers (localisation economies). Für die Nachfrageseite des Verkehrs ergeben sich ähnliche Einsparungseffekte, was mit Hilfe der Abb. 8.2 beschrieben werden kann. Auf der Abszisse werden die erbrachten Verkehrsleistungen V abgetragen. Die vereinfachend fallende, lineare Nachfragekurve N impliziert wie üblich, dass bei fallenden Preisen für Verkehrsleistungen eine größere Menge an Verkehrsleistungen nachgefragt wird. Die hier eingezeichneten Nachfragekurve N stellt eine Bruttonachfragekurve dar, da neben den im Markt direkt zu entrichtenden Preise für Verkehrsleistungen auch nicht monetäre Kostengrößen wie zum Beispiel Zeitkosten der Verkehrsnachfrage impliziert sind. Bei einer vereinfacht horizontal verlaufenden Angebotskurve für Verkehrsleistungen würde die anfänglich geltende Angebotskurve A1 die Nachfragekurve in D schneiden, es würde die Verkehrsleistung V1 im Markt nachgefragt und angeboten. Eine Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur soll sich hier in einer Parallelverschiebung der Angebotskurve nach unten auf A2 widerspiegeln; das neue Marktgleichgewicht wäre im Punkt B mit dem Preis P2 und der Verkehrsmenge V2 erreicht. Für die Nutzer der verbesserten Infrastruktur ergibt sich einerseits der Kosteneinsparungseffekt in Höhe der Fläche P1DCP2. Man sagt: der „Stammverkehr“ erzielt Einsparungen an

8.2 Ökonomik des Verkehrswesens

319



N

D

P1

P2

0

C

V1

A1

B

V2

A2

V

Abb. 8.2  Verbesserte Verkehrsinfrastruktur und Nachfrage. (In Anlehnung an Link 2018, S. 103)

Reisezeiten und Fahrtkosten, die sich in einer größeren Konsumentenrente niederschlagen. Durch die Preissenkung bei den Verkehrsleistungen kommt es jedoch auch zu einer Mengenausweitung, von V1 zu V2, wodurch zusätzliche Konsumentenrente in Höhe des Dreiecks DBC entsteht. Diese zusätzliche Konsumentenrente geht also „auf das Konto“ des induzierten Neuverkehrs. In analoger Weise kann man die Vorteile auf der Produktionsseite, die bereits eingeführt wurden, interpretieren, wenn man Unternehmen als Nachfrager von Verkehrsdienstleistungen interpretiert. Im Grundsatz versuchen die Kosten-Nutzen-Analysen des Bundesverkehrswegeplanes beide Nutzenkomponenten sowohl für die privaten Haushalte als auch für die Unternehmen monetär zu erfassen und dann den Kosten der verbesserten Infrastruktur gegenüberzustellen. Die daraus ermittelten Nutzen-Kosten-Verhältnisse können dann als vergleichende Maßzahlen für die Fragen, welche Verkehrsinfrastrukturinvestitionen überhaupt gesellschaftlich sinnvoll und welche der sinnvollen Investitionen prioritär zu verwirklichen sind, herangezogen werden. Ein gesellschaftlich korrektes Bild erhält man jedoch erst dann, wenn die mit dem Ausbau und Nutzung der verbesserten Verkehrsinfrastruktur verbundenen technologischen externen Effekte eingerechnet werden. Letzteres wird im Grundsatz in den Kostennutzenvergleichen des Verkehrswegeplans angestrebt.

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8 Verkehrspolitik

Plustext 8.3: Externe Nutzen des Verkehrs (Stock & Bernecker, 2014, S. 292–294) Aufbau und Nutzung der Verkehrsinfrastruktur soll positive externe Effekte erzeugen: • Der Güterverkehr ermöglicht, verstärkt die Vorteile der Arbeitsteilung auszunutzen; es entsteht mehr Einkommen und Beschäftigung, das Bruttosozialprodukt steigt. • Der funktionierende Personenverkehr ermöglicht, dass Wertschöpfung in Verdichtungsräumen, sogenannte Agglomerationen, entsteht. Vorteile der Wissensentstehung und -teilung können besser genutzt werden. • Insbesondere ein ausgebautes Straßennetz erlaubt ein leistungsfähiges Rettungsnetz, Kranken und Verletzten kann schnell geholfen werden, Menschenleben werden gerettet. • Durch den Personenverkehr werden soziale Kontakte leichter ermöglicht und vor allem räumlich ausgedehnter stattfinden. Auf internationaler Ebene wird damit der Kontakt zwischen Menschen aus unterschiedlichen Ländern gefördert, nicht zuletzt auch ein Beitrag zur Völkerverständigung. Ökonomisch gesehen könnten diese Effekte positive technologische externe Effekte darstellen, wenn Individuen außerhalb von Marktbeziehungen Nutzen erzeugen, für die sie nicht entgolten werden. Auf der Abszisse der Abb. 8.3 werden die Verkehrsleistungen V abgetragen. Verkehrsleistungen sollen sehr vereinfachend mit steigenden, linearen Grenzkosten (GK) erbracht werden können; bei vollständiger Konkurrenz entspricht dies der Angebotskurve A. Es gilt die fallende, vereinfachend lineare Nachfragekurve N. Im Marktgleichgewicht würde sich der Punkt C aus dem Schnittpunkt von

€ N + EGN

N

A=GK B

P**

C

P*

EGN

0

V*

V**

V

Abb. 8.3  Externe Nutzen des Verkehrs. (In Anlehnung and Stock & Bernecker, 2014, S. 293)

8.2 Ökonomik des Verkehrswesens

321

Angebots- und Nachfragekurve ergeben, folglich gilt der Marktpreis P* und die gleichgewichtige Verkehrsmenge V*. Aus den nachgefragten Verkehrsleistungen könnten sich bei Dritten ­außerhalb von Marktbeziehungen Nutzen einstellen, die in der Abb. 8.3 entsprechend der externe Grenznutzenkurve EGN anfallen sollen. Gesamtwirtschaftlich sind sowohl die externen als auch die privaten Nutzen relevant, gesamtwirtschaftlich sollte die Nachfrage sich aus N und EGN ergeben. Das gesellschaftliche oder soziale Optimum liegt in B, die sozial optimale Verkehrsleistung wird größer und beläuft sich auf V**, „Nebeneffekt“ wäre hier, dass der Preis in den Verkehrsmärkten auf P** ansteigen würde. Von den oben genannten Beispielen passen die verbesserten sozialen Kontakte, das verbesserte Rettungsnetz und die ansteigenden Agglomerationsvorteile sehr gut in die Kategorie der technologischen externen Nutzen. Bei den Wachstumseffekten, die über mehr Einkommen und mehr Beschäftigung laufen, ist stark zu vermuten, dass sie innerhalb von Marktbeziehungen, insbesondere über den Arbeitsmarkt entstehen, sie sind dann per Definition keine technologischen externe Effekte. Zwar gibt es einige ökonometrische Untersuchungen, die nicht unerhebliche externe Effekte im Verkehrswesen ableiten, ohne sich jedoch plausibel auf technologische externe Nutzen zu beschränken.

8.2.2 Negative Aspekte des Verkehrs In Verkehrsmärkten werden Ressourcen eingesetzt, um Verkehrsinfrastruktur aufzubauen und zu nutzen. Im Falle einer privatwirtschaftlichen Bereitstellung werden die Anbieter die daraus entstehenden Kosten in ihr Preiskalkül aufnehmen (internalisieren). Die Nachfrager werden nur dann Verkehrsleistungen in Anspruch nehmen, wenn die zu erwartenden Nutzen die sich in den Preisen spiegelnden Kosten des Verkehrs mindestens ausgleichen, meist jedoch überwiegen. Wirtschaftspolitisch bedeutsam wird es, wenn der Verkehr neben den internalisierten privaten noch bei Dritten außerhalb von Marktbeziehungen Kosten erzeugt, die man als technologische externe Kosten bezeichnet. Diese negativen externe Effekte können einerseits aus dem Fahrbetrieb folgen, vor allem aus Unfallkosten, durch lokale Luftschadstoffe, durch Globalschadstoffe, durch Lärm oder aus Staus, andererseits aus dem Aufbau von Verkehrsinfrastruktur, insbesondere durch Inanspruchnahme von Flächen, was zu versiegelten Böden oder Trenn- bzw. Zerschneidungswirkungen führt (Brenck et al., 2015; Stock & Bernecker, 2014, S. 285–292, 301–305). Beispielhaft kann man die Folgen negativer technologischer externer Effekte mit Hilfe der Abb. 8.4 verdeutlichen. Die zu betrachtende Verkehrsleistung sei die Anzahl der Fahrten V, die mit einem Verkehrsmittel erbracht werden können und auf der Abszisse eingezeichnet wird. Jede weitere Fahrt soll mit zusätzlichen Kosten, den privaten Grenzkosten PGK, verbunden sein. Unter Wettbewerb bieten die Verkehrsanbieter entsprechend ihrer Grenzkostenkurve an, die Grenzkostenkurve wird zur Angebotskurve A. Die Nachfragekurve N repräsentiert vereinfachend die marginalen Zahlungsbereitschaften der Verkehrsteilnehmer für mehr Verkehrsleistungen. Das Marktgleichgewicht ergibt sich aus dem Schnittpunkt von Nachfrage- und Angebotskurve in Punkt B, weshalb sich der Marktpreis P* und die gehandelte Verkehrsleistung V* einstellt. Mit der Inanspruchnahme der Verkehrsleistungen sollen bei Dritten Kosten entstehen; diese zusätzlichen Kosten entsprechen den externe Grenzkosten (EGK). Mit steigender Verkehrsleistung sollen die externen Grenzkosten ansteigen, z. B. weil Lärm zunehmend als störend empfunden wird.

322

8 Verkehrspolitik

€ SGK=PGK+EGK

N

A=PGK P**

C B

P*

0

V**

V*

EGK

V

Abb. 8.4  Externe Kosten des Verkehrs. (In Anlehnung an Brenck et al., 2015, S. 3)

Gesamtwirtschaftlich sind beide Kostenarten relevant, aus der Summe von PGK und EGK wird die soziale Grenzkostenkurve SGK. SGK mit der Nachfragekurve geschnitten ergibt das gesamtgesellschaftliche, sogenannte soziale Optimum in C, was zu einer Verringerung des Verkehrs auf V** und einen Anstieg des Preises auf P** führen sollte. Externe Unfallkosten sind von den privaten Unfallkosten abzugrenzen. Jeder Verkehrs­ teilnehmer sieht sich den Risiken eines selbst verschuldeten Unfalls gegenüber. Tritt der Unfall ein, muss er zunächst für die Personen- und Sachschäden bei Dritten aufkommen und seine Unfallkosten tragen. Bei vollständiger Information und unter Abwesenheit von Versicherungsschutz würde er in sein Kalkül die erwarteten Schäden in sein Verkehrsverhalten optimal einbeziehen. Selbst bei Versicherungsschutz wird dieses Kalkül nicht verzerrt, wenn der Versicherer die Prämie entsprechend des individuell erwarteten Schadens staffeln kann. Gerade die Staffelung der Prämie an den Schadenshäufigkeiten der Vergangenheit, wie sie im Kfz-Bereich üblich ist, stellt eine relativ gute Approximation zukünftiger Schäden dar. Je weniger es gelingt, die Prämien richtig zu setzen und je mehr die Versicherungsnehmer mögliche Schäden unterschätzen, um so eher werden Unfallkosten unterschätzt und damit zu externen Kosten. Bei den in der Literatur zu finden Studien zu Unfallkosten wird nicht systematisch zwischen privaten und externen Unfallkosten getrennt, weshalb es auch nicht überraschend ist, dass die Unfallkosten die externen Kostenschätzungen dominieren.

8.2 Ökonomik des Verkehrswesens

323

Lokale Luftschadstoffe des Verkehrs sind im Wesentlichen: • Stickstoffmonoxid (NO) und Stickstoffdioxid (NO2). NO2 wird selbst bei geringer Konzentration als Reizgas wahrgenommen und beeinträchtigt die Atemwege. Insbesondere bei längerfristigen, intensiven Belastungen können erhebliche gesundheitliche Beeinträchtigungen folgen. • Bodennahes Ozon (O3) entsteht durch chemische Reaktionen von Stickoxiden mit Kohlenwasserstoffen unter Hitze bzw. Sonnenlicht. Wiederum kann es zu Schädigungen der Atemwege kommen. • PM2,5 („particulate matter“) stellen Feinstäube dar, die weniger als 2,5 μm groß sind. Erzeugt werden diese Feinstäube durch Verbrennungsmotoren sowie durch Aufwirbelungen fahrender Fahrzeuge (auch durch Abrieb von Gummirädern). Aufgrund ihrer geringen Größe können diese Partikel in die Lunge gelangen und sich dort festsetzen. Man vermutet, dass dadurch Atemwegs- und Herz-Kreislauferkrankungen befördert werden, Rußpartikel sollen Lungenkrebs auslösen können. Lokale Luftschadstoffe stellen eindeutig negative externe Effekte dar. Die berechneten marginalen Schadenskosten deuten darauf hin, dass vor allem Feinstaubpartikel die größten Schäden verursachen. Durch die Verbrennung von fossilen Energieträgern, insbesondere von aus Rohöl gewonnenes Benzin und Diesel, trägt der Verkehrssektor zum globalen „Schad“stoff CO2 erheblich bei (Abschn. 6.4). Es liegt ein globaler negativer externer Effekt vor. In Deutschland gab es wesentliche Fortschritte im Verbrauch bei Verbrennerfahrzeugen. Eine Reduktion des verkehrsbedingten CO2 Ausstoßes ist jedoch trotzdem nicht eingetreten, da insgesamt mehr gefahren wurde. Verkehrslärm ist nichts anderes als unerwünschter, störend empfundener Schall. Tagsüber wird vor allem die Konzentration und die Kommunikation gestört, nachts insbesondere der Schlaf beeinträchtigt. Lärm wird allerdings subjektiv sehr unterschiedlich wahrgenommen. Negativ wahrgenommenen Lärm kann zu Stress und Schlafstörungen führen, was sich auf eine Zunahme von Herz-Kreislauferkrankungen und Bluthochdruck auswirkt. In Industrienationen wird insbesondere der Straßenverkehr als lärmbelästigend wahrgenommen. Neufahrzeuge sind zwar leiser als alte, aber wiederum hat das zunehmende Verkehrsaufkommen diese Vorteile „aufgefressen“. Befragungen deuten darauf hin, dass zunehmend Eisenbahnlärm, insbesondere von Güterzügen, und weniger Flug­ lärm als störend empfunden wird. Natürlich leben mehr Menschen an Bahngleisen als im Einzugsbereich von Flughäfen, aber zur Bekämpfung des Fluglärms wurde in den vergangenen Jahren einiges unternommen (z. B. leisere Flugzeuge eingesetzt), kaum etwas jedoch beim Schienengüterverkehr. Gerade die ersten lauten Fahrzeuge werden als störend wahrgenommen, ein weiter ansteigendes Verkehrsaufkommen führt wohl zu einer degressiven Schadenswahrnehmung. Lärm wäre dann mit sinkenden Grenzkosten verbunden, diametral zu den anderen externen Kosten des Verkehrs. Für eine Verbesserung der Lärmbelastung müsste dann aber die Verkehrsberuhigung drastisch (verkehrsberuhigte Zonen,

324

8 Verkehrspolitik

erhebliche Geschwindigkeitsbegrenzungen, Nachtfahrverbote) ausfallen. Insofern wäre zu prüfen, ob Lärm nicht besser direkt bei den Fahrzeugen verhindert werden könnte oder bauliche Schutzmaßnahmen tragfähiger sind. Staus können ebenfalls externe Kosten des Verkehrs darstellen. Durch Verkehrsstaus steigen die Betriebskosten der Fahrzeuge an und den im Stau stehenden Verkehrsteilnehmern werden nicht unerhebliche Zeitkosten aufgebürdet. Ohne Kapazitätsengpässe (V≤VK) würden Verkehrsleistungen entlang der horizontal verlaufenden Angebotskurve BF angeboten (Abb. 8.5); im Schnittpunkt mit der Nachfragekurve in Punkt F ergibt sich die unbeschränkte Verkehrsmenge V***. Kommt es jedoch mit steigender Verkehrsmenge zu einem Kapazitätsengpass K (V > VK), verursacht der einzelne Verkehrsteilnehmer für sich mehr Betriebs- und Zeitkosten entsprechend seiner privaten Grenzkosten PGK. Der einzelne Verkehrsteilnehmer reduziert seine Verkehrsnachfrage auf V* bzw. Punkt E. Der einzelne Verkehrsteilnehmer induziert aber auch bei anderen zusätzliche Betriebs- und Zeitkosten, wenn sie in den Stau geraten. Die um die Staukosten der anderen Verkehrsteilnehmer erhöhten Kosten stellen die sozialen Grenzkosten SGK dar. Folglich wäre das gesamtgesellschaftliche Optimum C, die individuelle Verkehrsleistung sollte auf V** zurückgehen, die gesellschaftliche Wohlfahrt steigt um CDE an. Ob man Staus reduzieren oder ganz vermeiden sollte, indem man die Kapazität auf V** ausdehnt, hängt von den langfristigen Kosten des Kapazitätsausbaus ab. Dieses langfristigen Ausbaukosten sind im Modell der Abbildung jedoch nicht einbezogen. € SGK N PGK

D C E F

B

0

VK

V**

V*

V***

Abb. 8.5  Staukosten des Verkehrs. (Quelle: Stock & Bernecker, 2014, S. 286)

V

8.2 Ökonomik des Verkehrswesens

325

Das Umweltbundesamt (2022) modelliert die Emissionsbelastungen der in Deutschland relevanten Verkehrsmittel, wobei hierzu amtliche Daten und Daten aus der Sekundärliteratur als Grundlage dienen, um daraus im Rahmen eines Simulationsmodells aktuelle Schätzungen der physischen Umweltbelastungen der Verkehrsmittel im Durchschnitt zu berechnen. Bezogen auf die Luftschadstoffe in g pro Personenkilometer und der beobachtbaren Auslastung der Verkehrsmittel des Personenverkehrs im Jahr 2019 sticht der Inlandsluftverkehr negativ hervor (Tab. 8.2). Bei allen lokalen Luftschadstoffen und beim globalen Luftschadstoff CO2, gemessen als CO2-Äquivalente, schneidet der Inlandsluftverkehr am schlechtesten ab, nur in Bezug auf Kohlenmonoxid ist der Pkw schlechter. Die schienengebundenen Verkehrsmittel, aber auch der Reisebus sind mit geringeren Schadstoffwerten verbunden. Man sollte jedoch berücksichtigen, dass die im Pkw-Verkehr insgesamt zurückgelegten Personenkilometer deutlich höhere sind als die im innerdeutschen Luftverkehr. Für den Güterverkehr zeigt die Tab. 8.3 durchgängig hohe Emissionswerte im Lkw-­ Verkehr. Der Güterverkehr auf der Schiene dagegen schneidet bei den Luftschadstoffen immer am besten ab, freilich wird der daraus folgende Lärm als sehr störend wahrgenommen. Brenck et al (2015) beschreiben die methodischen Wege, wie man die externen Kosten des Verkehrs monetarisieren könnte. Diese Vorgehensweise ist schwer umsetzbar. Für die praktische Umweltpolitik, die im Verkehrssektor natürlich ebenfalls Anwendung finden sollte, ist die Monetarisierung nicht erforderlich: Die ökologischen Ziele müssen aus den Ergebnissen des politischen Prozesses abgeleitet werden (so auch Abschn. 6.3).

8.2.3 (Besondere) Funktionsweise des Verkehrs Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts werden dem Verkehr eine „Eigengesetzlichkeit“ bzw. eine „Besonderheit der verkehrswirtschaftlichen Produktion“ nachgesagt, die jedoch heutzutage als falsch, irreführend oder zumindest als deutlich weniger bedeutend als postuliert wahrgenommen wird (Deregulierungskommission, 1991, Tzn. 127–131 und Stock & Bernecker, 2014, S. 260 f.): • Die Produktion von Verkehr auf Vorrat sei unmöglich, Verkehrsdienstleistungen seien nicht stapelbar. In gewissem Umfang jedoch können Transporte durch Lagerhaltung substituiert werden. Aber auch in anderen Märkten fehlt es an der Lagerfähigkeit (z. B. persönliche Dienstleistungen wie bei Friseuren), ohne dass die Funktionsfähigkeit der anderen Märkte ernsthaft infrage gestellt wird. • Starke saisonale Schwankungen würden auf die Verkehrsnachfrage durchschlagen; die Angebotskapazität des Verkehrs müsse auf die Saisonspitze ausgerichtet werden. Verschärfend komme es zu einer sehr hohen Mobilität der Verkehrsmittel zwischen den verschiedenen Teilmärkten. Beim Transport von Baustoffen oder von landwirtschaftlichen Produkten mögen tatsächlich saisonale Schwankungen eine wichtigere Rolle spielen, für viele andere zu transportierenden Gütern trifft dies jedoch nicht zu. Ferner

g/Pkm

Treibhausgase1 154 2142  293  29  36  54  83  55

Kohlenmonoxid. 1,00 0,29 0,02 0,01 0,05 0,04 0,06 0,03

Flüchtige Kohlenwasserstoffe4 0,15 0,10 0,00 0,01 0,01 0,01 0,03 0,00

Stickoxide 0,42 0,98 0,04 0,05 0,13 0,17 0,30 0,05

Partikel5 0,006 0,011 0,001 0,001 0,003 0,004 0,005 0,002

Auslastung 1,47 70 % 56 % 54 % 55 % 28 % 18 % 19 %

Quelle: Umweltbundesamt (2021, TREMOD 6.21 (11/2021)) g/Pkm = Gramm pro Personenkilometer, inkl. der Bereitstellung und Umwandlung der Energieträger in Strom, Benzin, Diesel, Flüssig- und Erdgas sowie Kerosin 1 CO2, CH4 und N2O angegeben in CO2-Äquivalenten 2 inkl. Nicht-CO2-Effekte 3 Die in der Tabelle ausgewiesenen Emissionsfaktoren für die Bahn basieren auf Angaben zum durchschnittlichen Strom-Mix in Deutschland. 4 ohne Methan 5 ohne Abrieb von Reifen, Straßenbelag, Bremsen, Oberleitungen 6 Gruppen- und Tagesfahrten, Rundreisen, etc. 7 Pers./Pkw

Verkehrsmittel Pkw Flugzeug, Inland Eisenbahn, Fernverkehr Linienbus, Fernverkehr sonstige Reisebusse6 Eisenbahn, Nahverkehr Linienbus, Nahverkehr Straßen-, Stadt-, U-Bahn

Tab. 8.2  Vergleich der durchschnittlichen Emissionen einzelner Verkehrsmittel im Personenverkehr in Deutschland 2019

326 8 Verkehrspolitik

8.2 Ökonomik des Verkehrswesens

327

Tab. 8.3  Vergleich der durchschnittlichen Emissionen einzelner Verkehrsmittel im Güterverkehr in Deutschland 2019 Verkehrsmittel Treibhausgase1 2 Lkw g/tkm 113 Güterbahn3  17 Binnenschiff  30

Kohlenmonoxid. 0,087 0,011 0,074

Flüchtige Kohlenwasserstoffe4 0,037 0,002 0,028

Stickoxide 0,248 0,027 0,388

Partikel5 0,006 0,001 0,008

Quelle: Umweltbundesamt (2021, TREMOD 6.21 (11/2021)) g/tkm = Gramm pro Tonnenkilometer, inkl. der Bereitstellung und Umwandlung der Energieträger in Strom, Diesel, Flüssig- und Erdgas 1 CO2, CH4 und N2O angegeben in CO2-Äquivalenten 2 Lkw ab 3,5 t, Sattelzüge, Lastzüge 3 Die in der Tabelle ausgewiesenen Emissionsfaktoren für die Bahn basieren auf Angaben zum durchschnittlichen Strom-Mix in Deutschland 4 ohne Methan 5 ohne Abrieb von Reifen, Straßenbelag, Bremsen, Oberleitungen

kommt es auch zu einer Spezialisierung auf bestimmte Kundengruppen mit spezifischen Gütern, sodass innerhalb dieser etablierten Vertragsbeziehungen ein Ausgleich saisonaler Schwankungen über die Zeit vertraglich hergestellt werden kann. • In Verkehrsmärkten machten Fixkosten einen hohen Anteil an den Gesamtkosten aus, bei unausgelasteten Kapazitäten neigten die Anbieter dazu, nur mit ihren sehr geringen variablen Kosten zu kalkulieren. Zusätzlich: Die Preiselastizitäten der Nachfrage für Verkehrsdienstleistungen seien gering, weil die Transportkosten im Vergleich zu den Produktionskosten nur sehr unbedeutend seien. Hohe Fixkostenanteile, geringe Preiselastizitäten und hohe Mobilität zwischen den Verkehrsträgern machten einen scharfen Preiswettbewerb wahrscheinlich, der schnell in ruinöse Konkurrenz umschlagen könne. Je spezialisierter die Verkehrsmärkte sind, umso weniger ist eine solche ruinöse Konkurrenz zu erwarten. Entscheidend ist jedoch, dass zu begründen wäre, warum bei dauerhaft unauskömmlichen Preisen Verkehrsanbieter nicht die Konsequenzen ziehen und den Markt verlassen. Insbesondere wenn die genutzten Verkehrsträger wie Binnenschiffe, Lkws, o. ä. leicht verkauft werden können, weil sie auf einer Vielzahl von Verkehrsrelationen einsetzbar sind (reversible Investitionen), sind gerade Marktaustritte zu erwarten. Selbst wenn die verkauften Verkehrsträger wieder in den Markt zurückkehren würden, bleibt die Profitabilität dieses Sektors gering; spätestens bei auftretendem Bedarf an Ersatzinvestitionen wird es zu einer Marktbereinigung kommen. Der Staat sollte aber gerade in diesen Märkten nicht durch Eingriffe wie Mindestpreise oder Marktzutrittsbeschränkungen die Illusion schüren, dass die Marktbereinigung vermeidbar sei. • Zu verladende Güter würden häufig von A nach B transportiert, ohne dass es zu einem gleichwertigen Rücktransport von B nach A komme (fehlende Rückfracht aufgrund unpaariger Verkehrsströme). Fehlende Rückfrachten würden die Transportpreise „ruinieren“. Werden spezialisierte Verkehrsgefäße verwendet, kann das Sinken der Preise verhindert werden. Unabhängig davon: Anbieter von Verkehrsdienstleistungen werden in

328

8 Verkehrspolitik

der langen Frist lernen, welche Gesamterlöse sie aus dem Transport von Gütern ziehen können. Ferner: Finden Transporteure geeignete Rückfrachten, sinkt langfristig der Bedarf an Verkehrsgefäßen, unnötige Fahrten werden vermieden und unwirtschaftliche Ressourcen aus der Verkehrswirtschaft werden für andere Sektoren der Volkswirtschaft frei. • Unfairer Wettbewerb zwischen privaten und staatlichen Anbietern sei in Verkehrsmärkten nicht selten anzutreffen. Einerseits könnten staatliche Anbieter zum Beispiel wegen geringerer Kostenbelastung günstiger anbieten, andererseits seien staatliche Anbieter vor Wettbewerb zu schützen, da staatliche Anbieter gemeinwirtschaftliche Aufgaben wahrzunehmen hätten. Gleiches gelte, wenn der Werkverkehr und der gewerbliche Verkehr unter unterschiedlichen Bedingungen im Wettbewerb zueinanderstehen würden. Selbstverständlich müssen alle Anbieter den gleichen Spielregeln unterliegen, nur so kann es zu einem fairen Wettbewerb kommen. Ungleiche Spielregeln stellen dann ein zu beseitigendes Staatsversagen dar, welches nicht gegen die grundsätzliche Funktionsfähigkeit der Verkehrsmärkte spricht. • Kleinunternehmer würden zu ruinösen Wettbewerb beitragen, da sie ihr Verkehrsangebot anders bestimmen als Großunternehmen. Insbesondere würden sie tendenziell in ihrer Preiskalkulation kalkulatorische Abschreibungen oder Unternehmerlöhne außen vorlassen und damit zu geringe Preise setzen. Diese, auch als außerökonomisches Verhalten bezeichnete, Vorgehensweise berücksichtigt letztendlich nur, dass Kleinunternehmer für ihre Verkehrsmittel keine besser rentierliche Verwendung sehen bzw. für sich selbst keine höheren Verdienstmöglichkeiten wahrnehmen. Bei der Nutzung der Verkehrsmittel ist jedoch eine solche Kalkulation nur so lange durchzuhalten, bis Ersatz­ investitionen anstehen, und die geringen Verdienstmöglichkeiten werden zum Motiv eines Marktaustrittes, wenn sich auf dem Arbeitsmarkt bessere Verdienste auftun oder wenn die Nachfolgegeneration in anderen Sektoren bessere Chancen sieht. Auch hier gilt, dass sich in der langen Frist Marktaustritte aufgrund von fehlender Rentabilität durchsetzen müssten, insbesondere wenn der Staat nicht durch staatliche Eingriffe das Verbleiben im Markt irreführend nahelegt. Die Besonderheitenargumente im Verkehrswesen alleine begründen keine staatlichen Eingriffe in den Verkehrssektor (Deregulierungskommission, 1991, Tzn. 127 + 132–135). Wenn man die Geschichte der deutschen Verkehrspolitik Revue passieren lässt (Abschn. 8.1), drängt sich eher der Verdacht auf, dass die zum Schutz der deutschen Reichsbzw. Bundesbahn erlassenen Regulierungsvorschriften theoretisch-ökonomisch unterfüttert wurden. Zur Regulierungsdebatte wurde im Laufe der Zeit auch noch hinzugefügt, dass im Rahmen der Verkehrspolitik räumliche Verteilungsargumente bedeutsam sein ­sollen: In der Fläche und in Randgebieten soll eine ausreichende verkehrliche Anbindung gewährleistet sein, insbesondere auch über die Schiene, und die Tarife für die Verkehrsanbindung sollen nicht räumlich differenzieren. Verkehrsanbieter dürfen daher die Verkehrsangebote nur entsprechend der durchschnittlichen Kosten bereitstellen, tendenziell subventionieren daher Räume mit hoher Verkehrsnachfrage Gegenden mit geringer Nachfrage.

8.2 Ökonomik des Verkehrswesens

329

Gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen gab es vor der Deregulierung der Verkehrsmärkte im Güter-, im Luft- sowie im Personenfernverkehr. Heutzutage spielen gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen nur noch im öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) eine Rolle (Stock & Bernecker, 2014, S. 301–304): • Der Staat subventioniert die Bereitstellung des ÖPNV, um Personenkreise, die auf den ÖPNV angewiesen sind, zu unterstützen. Insbesondere die Schülerbeförderung spielt in diesem Feld eine große Rolle. • Der regionale Schienenpersonenverkehr wird über Ausschreibungen vergeben. Die zur Finanzierung stehenden Regionalisierungsmittel stellen staatliche Beihilfen dar. Plustext 8.4: Das Problem der Ausschreibung von Verkehrsleistungen (Dewenter & Heimeshoff, 2019, S. 233–240; Knauff 2018; Viscusi et al., 2018, S. 482–492) Leistungen, die nicht kostendeckend im Markt erbracht werden können, werden zum Beispiel im Schienenpersonennahverkehr, für Buslinien oder im Straßenbahnverkehr ausgeschrieben. Europaweit kommt die Public-Service-Obligation-Verordnung zur Anwendung (Europäische Union, 2007). Im Grundsatz soll dabei der Bieter den Zuschlag bekommen, der das niedrigste „Gebot“ für die jeweilige Verkehrsleistung verlangt. Beispielhaft sollen in Abb. 8.6 vier potenzielle Bieter die Verkehrsleistung unter subadditiven Kostenbedingungen, d.  h. mit fallenden langfristigen Durch-



N

P

LDK4

P

LDK3

P

LDK2

P 0

A VLA

Abb. 8.6  Ausschreibung von Verkehrsdienstleistungen. (Ähnlich Viscusi et al., 2018, S. 484)

LDK1 VL

330

8 Verkehrspolitik

schnittskosten, erbringen können. Setzt man als Ziel, die erwünschte Leistung zu geringstmöglichen Kosten bereitzustellen, würde man den Punkt A mit der Verkehrsleistung VLA anstreben. Anbieter4

 abgeben, um auf würde aufgrund seiner Durchschnittskostenfunktion LDK4 kein Gebot unter P 4

 , Anbieter2 nicht unter P  und der jeden Fall einen Verlust zu vermeiden. Anbieter3 nicht unter P 3 2  gehen. Unter vollständiger Information aller kostengünstige Anbieter wird ebenfalls nicht unter P 1

 ein Gebot abgeben und damit die Ausschreibung gewinBieter würde daher Bieter1 knapp unter P 2 nen. Entsprechend der schraffierten Rechteckfläche würde somit „zuviel“ vom Auftraggeber für die Verkehrsleistung bezahlt. Mit derartigen Ausschreibungen sind aber auch noch weitere Probleme verbunden: • Die auszuschreibenden Leistungen sind genau zu definieren, insbesondere Qualitätsvorgaben sind zu spezifizieren. Je weniger dies gelingt, umso eher kann man als Bieter durch Qualitätsverschlechterungen Kosten einsparen. Sieht man dies voraus, gewinnt man die Ausschreibung, ohne tatsächlich besser zu sein. • Bieter können sich untereinander absprechen und ex ante festlegen, wer den Auftrag bekommen sollen (Submissionskartell). Diese Kartellabsprache ist sogar relativ leicht durchsetzbar, weil allgemein bekannt wird, wer die Ausschreibung gewonnen hat. Sich nicht an die Absprache haltende Bieter können leicht sanktioniert werden. Submissionskartelle sind wettbewerbsrechtlich nach §  1 GWB/Art.  101 I Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) (Abschn. 3.3) und nach § 298 Strafgesetzbuch (StGB) strafrechtlich verboten. • In Vergabeverfahren kann auch der „Fluch des Gewinners“ (Winner’s Curse) zuschlagen: Einige Anbieter unterschätzen die zu erwartenden Kosten und geben daher zu geringe Gebote ab. Nach Zuschlag stellt sich heraus, dass die Kosten höher sind als gedacht, der Bieter geht im Extremfall in Konkurs und die Leistung wird nicht angeboten. Um dies zu verhindern, versuchen die Vergabebedingungen auch die „Auskömmlichkeit“ des Gebots und finanzielle Leistungsfähigkeit abzuschätzen, was nicht einfach beurteilbar ist. • Tätigt ein Anbieter von Verkehrsleistungen Investitionen, die für andere Zwecke als die Verkehrsleistung nicht verwendbar sind (sunk costs), kann er bei Folgeausschreibungen diese Kosten außen vorlassen. Er gewinnt die Ausschreibung, ohne effizienter sein zu müssen. Um diese Verzerrung zu verhindern, kann es sinnvoll sein, dass der Staat diese Investitionen selbst vornimmt und an die Gewinner der Ausschreibung zu kostendeckenden Preisen weitergibt. Zum Beispiel wird dies bei den rollenden Materialien des Schienenpersonennahverkehrs (Lokomotiven, Wagons) gemacht. Die Vergabe von Verkehrsleistungen durch Ausschreibung ist sicherlich eine Möglichkeit, um relativ effiziente Lösungen zu finden. Je mehr man von den Kriterien des geringsten Gebots abweichen muss oder will (zum Beispiel Auskömmlichkeit, Einhaltung von Tarifbedingungen, Nachhaltigkeit, etc.), umso schwieriger wird die Zuschlagsentscheidung.

Zwei weitere Argumente spielen heutzutage für die Regulierung des Verkehrssektors eine Rolle (Deregulierungskommission, 1991, Tzn. 132–135) Für den Verkehrssektor wird gefordert, dass die Regulierung für die Verkehrssicherheit sorgen müsse, insbesondere dürfe mehr Wettbewerb nicht zulasten der Verkehrssicherheit gehen. Auch weil ­mangelnde Verkehrssicherheit einen klassischen negativen technologischen externen Effekt bei anderen Verkehrsteilnehmern verursacht, ist es selbstverständlich eine staatliche Aufgabe, Verkehrssicherheit zu gewährleisten. Die Berücksichtigung der von den Verkehrsträgern ausgehenden technologischen negativen externe Effekte gehört ebenfalls zu den gut begründbaren Eingriffen in den Verkehrsmarkt (Abschn. 8.2.2).

8.2 Ökonomik des Verkehrswesens

331

8.2.4 Nicht-bestreitbare natürliche Monopole im Verkehr Bis in die siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts hinein wurde in vielen Ländern wichtige Bereiche wie die Energieversorgung oder der Bahnverkehr entweder umfassend reguliert (Vereinigte Staaten von Amerika) oder von öffentlichen Unternehmen (Europa) bereitgestellt. In beiden Fällen reichte der staatliche Eingriff aber sehr weit, fast der ganze Sektor war dem Wettbewerb entzogen. Mit der aufkommenden Idee des disaggregierten Wettbewerbsansatzes (zum Beispiel Knieps, 2007a, b) wurde gefragt, in welchen Bereichen tatsächlich der Wettbewerb ausgeschlossen sei oder gesamtwirtschaftlich sinnvollerweise auszuschließen wäre und in welchen Bereichen man Wettbewerb zulassen könne. Für die Regulierung hat dies dann auch zur Folge, dass nur noch der sogenannte Engpassbereich zu regulieren wäre und zwar um dabei − wie bisher − klassische Marktmacht zu verhindern bzw. neu den Marktzutritt in den Engpassbereich regulatorisch sicherzustellen. Den Verkehrsbereich kann man zunächst in verschiedene Wertschöpfungsstufen unterteilen (Knieps, 2007a, b; Kruse, 1985). Ohne Anspruch auf Vollständigkeit, gerade in der Ausdifferenzierung der Wertschöpfungsstufen, zeigt die Tab. 8.4 die Vielfältigkeit der Verkehrsmärkte und auch seine Dynamik wie z. B. in der Elektromobilität. In der Binnenschifffahrt gibt es die herkömmliche Unterteilung in Wasserstraßen, Häfen und Schiffe. Im Luftverkehr wäre denkbar, den Flughafenbereich in den Betrieb der Start- und Landebahn, inklusive der Anflug- und Abflugkontrolle, der Bodendienste und alles, was vom Zugang in den Flughafen bis zum Gate erfolgen muss, zu unterteilen. Im Eisenbahnbereich kann man in Schienennetz, Bahnhöfe, Reserve- und Notfallkapazitäten, Netzsteuerung und Netzstrom differenzieren oder alle Stufen außer den Diensten dem Netzbereich zuordnen. In früheren Zeiten hat man im Straßenverkehr regulatorisch Güterfern- und Güternahverkehr getrennt, heute würde man bei der Elektromobilität zweckmäßigerweise zwischen Ladeinfrastruktur und Fahrzeugen unterscheiden. Eindeutiger Regulierungsbedarf besteht in den jeweiligen Wertschöpfungsstufen, wenn die jeweilige Stufe ein unbestreitbares natürliches Monopol darstellt (Dewenter & Heimeshoff, 2019, S. 195–198; Tresch 2008, Kap. 9). Natürliche Monopole liegen vor, wenn aus Kostengründen nur ein Anbieter mit geringeren Kosten anbieten kann als zwei oder mehr Anbieter. Für den Eingüterfall gilt, dass

K  X   K  x1   K  x2   K  xn  ,

(Gl. 8.1)

wobei K die Gesamtkosten darstellen, X die Produktion aus einer Hand und x1, x2,…, xn die Herstellung der Güter in verschiedenen Betrieben modellieren. Gerade für die in Tab. 8.4 kursiv gekennzeichneten Bereiche dürfte es kostengünstiger sein, nur jeweils ein Anbieter zu haben. Hafenanlagen in der Schifffahrt/Flughäfen weisen hohe Errichtungskosten auf, parallele Anlagen würden meist nur zu unnötiger Kostenduplizierung führen (Mindesteinsatzmengen), in gleicher Weise kann man bei Fernbusbahnhöfen und bei Taxihalteplätzen argumentieren. Mindesteinsatzmengen gibt es auch bei Straßen- und Schienennetzen, ferner greifen Bündelungs- bzw. Dichtevorteile in der Fläche, wenn eine Viel-

332

8 Verkehrspolitik

Tab. 8.4  Denkbare Wertschöpfungsstufen im Verkehrsbereich Verkehrsmärkte Binnenschifffahrt

Luftverkehr

Eisenbahn

Straßenverkehr

ÖPNV/Nahverkehrsverbünde

Wertschöpfungsstufen Wasserstraßen Häfen Schiffe Flughäfen

Start- und Landebahnen Bodendienste Zugang bis Gate

Flugsicherung Airlines Schienennetz Bahnhof Reserve- und Notfallkapazitäten Netzsteuerung Netzstrom Dienste Personennahverkehr (SPNV) Personenfernverkehr (SPFV) Personenschnellverkehr Güterverkehr (SPGV) Straßen Fern Land/regionale Innenstadt Herkömmlicher Personenindividualverkehr E-Mobilität Ladeinfrastruktur Fahrzeuge Güter Fernverkehr Nahverkehr Fernbusse Fernstraßen Fernbusbahnhöfe Busse Taxi Innenstadtstraßen Halteplätze Fahrtenvermittlung per Funk Fahrzeuge Mietwagenmarkt Innenstadtstraßen Fahrzeuge S-Bahn: Schienennetz der Eisenbahn Straßen- bzw. U-Bahn: Eigenes Netz Fahrzeuge Busse/U-Bahnen/Straßenbahn

Quelle: Eigene Darstellung

zahl von Nutzern an ein Netz angeschlossen werden soll. Der zufällige Ausfall von Lokomotiven und Wagons können durch einen großen Betreiber besser ausgeglichen werden als durch mehrere, kleinere Betriebseinheiten (stochastische Größenvorteile). Die Koordinierung des Zug- bzw. Luftverkehrs sollte sinnvollerweise durch eine Instanz erfolgen als

8.2 Ökonomik des Verkehrswesens

333

durch mehrere (Mindesteinsatzmengen). Die genannten Faktoren führen dazu, dass die Kosten pro produzierter und abgesetzter Einheit, also die Durchschnittskosten, fallen. Zwischen den einzelnen Wertschöpfungsstufen in den verschiedenen Verkehrsmärkten kann es sowohl zu Verbundvorteilen als auch zu Größenvorteilen kommen, die nur innerhalb der einzelnen Verkehrsmarktes greifen. Lokomotiven und Beschäftigte des Personenverkehrs können auch im Güterverkehr eingesetzt werden, mehr Züge auf der gleichen Strecke im Personenfernverkehr erleichtern die Umstiege innerhalb des Fernverkehrs oder zum Schienenpersonennahverkehr. Freilich können die Verbundvorteile nur dazu führen, dass auch aus Kostengründen Anbieter mehrere Wertschöpfungsstufen zugleich anbieten müssen, was ein Argument gegen eine strikte Trennung zwischen Netz und Betrieb im Eisenbahnverkehr ist (Abschn. 8.3.4). Fallende Durchschnittskosten beziehen sich auf die lange Frist, also welche Kosten fallen an, falls man die Mengeneinheit in großen Einheiten verändert? Insofern werden in Abb. 8.7 verschiedene Kapazitäten auf der Abszisse abgetragen. Alle langfristigen Durchschnittskostenkurven LDK1 bis LDK3 weisen fallende Durchschnittskosten auf, allerdings im unterschiedlichen Ausmaß, für alle drei Konstellationen gelte jedoch die gleiche Nachfragekurve N. Die LDK1-Kurve falle im gesamten eingezeichneten Bereich und schneide

€ H

N C D

A1

B1

A2

B2 B2`

A2`

B3 0

X3min X1/2

X1

X2`

X2

Abb. 8.7  Subadditivität. (In Anlehnung an Dewenter & Heimeshoff, 2019, S. 216)

LDK1 LDK2 A3

LDK3

X3

X

334

8 Verkehrspolitik

die Nachfragekurve in A1, die Kapazität X1 könnte somit zu einem Preis B1 kostendeckend angeboten werden. Eine größere Menge als X1 könnte – solange keine Preisdifferenzierung zugelassen wird −, zu Preisen entlang der Nachfragekurve zwar angeboten werden. Diese Preise liegen jedoch unterhalb der Durchschnittskosten, sodass ein Anbieter mit diesen Mengen zu diesen Preisen Verluste machen würde; bei den meisten Preisen links oberhalb von A1 (bis Punkt H) könnte der Anbieter mehr Umsätze erzielen als seine erforderlichen Kosten. Für die Frage der Subadditivität ist jedoch entscheidend, dass Betriebe, die kleinere Mengen als X1 anbieten würden, nur zu Preisen entsprechend der LDK1 links oberhalb von A1 kostendeckend anbieten könnten. Zu diesen höheren Preisen wären diese Anbieter nicht dazu in der Lage, mit dem „umfassend“ Anbietenden mitzuhalten. Dass der „überlebende“ Anbieter alleine auf dem Markt bleiben würde, wäre auch aus Effizienzgründen unproblematisch, da die Aufteilung der Menge X1 auf beispielsweise zwei Anbieter mit jeweils der Hälfte in der Summe zu Gesamtkosten D*X1/2 führen würde, die die Kosten aus einer Hand (B1*X1) deutlich übersteigt. Subadditivität ist somit mit der Kon­ stellation N/LDK1 gegeben. Gilt LDK2, die in A2 die Nachfragekurve N schneidet, könnte die neue Gesamtmenge 2 X zu Durchschnittskosten in Höhe von B2 bereitgestellt werden. Obwohl die LDK2 nur bis X2′ fällt, wäre in der Summe nur ein Anbieter kostengünstiger: Zwei Anbieter, einer der X2′zu den Durchschnittskosten B2′ bereitstellt und der andere, der die Restmenge X2 − X2′ zu sehr hohen Durchschnittskosten links auf der LDK2-Kurve (nicht eingezeichnet), hätten höhere Kosten als der Alleinanbieter (Subadditivität). Freilich könnte ein Wettbewerber den Punkt A2′wählen und damit X2′zum Preis von B2′anbieten und damit den natürlichen Monopolisten mit dem höheren Preis B2 verdrängen. Dies ist der (seltene) Fall, in der ein natürliche Monopolist vor Konkurrenz geschützt werden muss. Die Konstellation LDK3 und N stellen keinen Fall der Subadditivität dar, da der Bereich fallender Durchschnittskosten bereits bei X3min zu Ende ist. Die Gesamtmenge X3 (Punkt A3) kann von drei bis vier Betrieben jeweils zu Durchschnittskosten von B3 bereitgestellt werden, es liegt kein Monopolfall vor, sondern ein enges Oligopol, welches vermutlich im Rahmen der Wettbewerbspolitik der Missbrauchsaufsicht und der Fusionskontrolle unterliegen würde (Kap. 3). Für die in Tab. 8.4 kursiv gesetzten Wertschöpfungsstufen wäre daher theoretisch und empirisch zu prüfen, ob dort die langfristigen Durchschnittskosten im fallenden Bereich von der Nachfragekurve geschnitten werden oder ob bei ansteigenden Durchschnittskosten trotzdem noch die Subadditivitätsbedingung erfüllt ist; für den letzteren Fall könnte eine Beschränkung des Marktzutritts erforderlich werden, falls man die weiter unten behandelnde Frage der fehlenden Marktzutrittsresistenz bejaht. Mit Hilfe der Abb. 8.8 wird im Folgenden thematisiert, ob ein natürliches Monopol, das vereinfachend auf sinkende Durchschnittskosten beruht, bereitgestellt werden sollte und zu welchen First-Best-Bedingungen. Gilt die LDK1- und die Nachfragekurve N würde im Punkt A1 zum Preis B1 die Verkehrskapazität VK1 nur durch einen natürlichen Monopolisten kostendeckend bereitgestellt. Wohlfahrtsoptimal wäre jedoch, die Kapazität VKC zum Grenzkostenpreis E anzubieten. Die eingezeichnete langfristige Grenzkostenkurve LGK,

8.2 Ökonomik des Verkehrswesens

€ G

335

H

F N

LGK LDK2 B1

A1

C

E

0

LDK1

VK1

VKC

VK

Abb. 8.8  Gesamtwirtschaftlich erwünschtes und unerwünschtes natürliches Monopol. (In Anlehnung an Tresch, 2008, S. 167)

die aufgrund der u-förmigen LDK-Kurve die LDK-Kurve in ihrem Minimum schneidet (Abschn. 7.3.2), bestimmt die optimale Menge aus dem Schnittpunkt C. Jede weitere Kapazität als VKC erzeugt höhere zusätzliche Kosten als der zusätzlichen Menge folgenden Nutzen, gemessen entlang der Nachfragekurve; eine geringere Kapazität als VKC würde größere Nutzenverluste bei den Konsumenten erzeugen als die eingesparten Kosten der Bereitstellung gemäß der Grenzkostenkurve. Gesamtwirtschaftlich wäre die Kapazität VKC auch erwünscht, da zum Grenzkostenpreis E Konsumentenrente GCE anfallen würde, dem jedoch eine kleinere, negative Produzentenrente in Höhe der Fläche FCE (nicht durch Umsatzlöse gedeckte Kosten) gegenübersteht. Verläuft jedoch die langfristige Durchschnittskostenkurve aufgrund höherer Fixkosten, verschiebt sich die langfristige Durchschnittskostenkurve parallel auf LDK2. Nunmehr liegen für jede Menge die Durchschnittskosten über der Nachfragekurve N. M. a. W.: Die bei den Konsumenten anfallenden Nutzen, gemessen durch die Fläche unter der Nachfragekurve, reichen niemals aus, um die zugehörigen Kosten zu decken. Nicht die Kapazität VKC wäre bereitzustellen, sondern die Verkehrsinfrastruktur wäre zu teuer und sollte gar nicht geschaffen werden bzw. die unwirtschaftlichen Infrastrukturen sollten dauerhaft aufgegeben werden. Gleiches gilt u. U., wenn die Nachfragekurve näher zum Ursprung 0 liegt. Gerade für den Schienenpersonen-

336

8 Verkehrspolitik

nahverkehr in bestimmten ländlichen Räumen, in denen die Nachfrage zu gering ausfällt oder die Kosten der Bereitstellung aufgrund nicht ausreichender Dichtevorteile oder zu hohen Mindesteinsatzmengen zu groß sind, wäre die fehlende Effizienz des Angebots denkbar. Will man aus verteilungspolitischen oder raumwirtschaftlichen Gründen trotzdem ein Angebot, so ist dieses aus Steuergeldern zu finanzieren und über den politischen Wettbewerb zu legitimieren. Diskussionswürdig wäre natürlich aber auch, ob die gleiche Qualität der verkehrlichen Anbindung über einen Busverkehr erreicht werden könnte. Natürliche Monopole sind nur dann zu regulieren, wenn sie keine Konkurrenz fürchten müssen (Monopolresistenz nach der Theorie bestreitbarer Märkte; Dewenter & Heimeshoff, 2019, S. 197 f. und 203–205; Knieps, 2008, S. 28–31). In der reduzierten Version der Abb. 8.8 wird in der Abb. 8.9 nur ein subadditive Marktstruktur mit fallenden langfristigen Durchschnittskosten LDK dargestellt. Aus Kostengründen sollte nur ein Anbieter die Verkehrsinfrastruktur VKA bereitstellen. Müsste dieser Monopolist keine potenzielle Konkurrenz fürchten, würde er seine Grenzerlösfunktion mit der LGK-Kurve schneiden (Punkt F) und deshalb den gewinnmaximalen Monopolpreis PM bzw. die gewinnmaximale Kapazität VKM setzen. Kommt es zu Marktzutritt, würde der Monopolist durch Eindringlinge mit Preisen zwischen PM und B, entlang der Punkte M bis A auf der Nachfragekurve, verdrängt. Sieht der Monopolist diese Verdrängung voraus, geht er von sich aus auf den Preis B, der €

N

M

PM

LGK

A

B

LDK

F C

E

0

VKM

GE

VKA

VKC

Abb. 8.9  Bestreitbares natürliches Monopol. (Quelle: Eigene Darstellung)

VK

8.2 Ökonomik des Verkehrswesens

337

gerade seine Kosten deckt. Die neuen Anbieter werden diesen Preis nicht unterbieten, da sie dann Verluste einstecken müssen. In der Summe zwingt die potenzielle Konkurrenz den Monopolisten zu einem kostendeckenden Preis, ohne dass eine Regulierung stattfindet. Märkte sind bestreitbar, wenn sie folgende Voraussetzungen erfüllen: • Potenzielle Wettbewerber müssen zu gleichen Bedingungen in Märkten eintreten können, wie diese für etablierte Unternehmen gelten (keine asymmetrischen Marktzutrittsschranken). Einerseits bedeutet dies, dass die „Neuen“ auf den Faktormärkten zu gleichen Konditionen Produktionsfaktoren beschaffen können wie die „Alten“, also gleiche Kreditkonditionen erhalten oder Arbeitskräfte nicht vor neuen Anbietern zurückschrecken. Andererseits müssen die potenziellen Wettbewerber auf dem Absatzmarkt „gleichgestellt“ sein, d. h. Konsumenten sehen beispielsweise keine Reputationsunterschiede zu bereits länger im Markt befindlichen Anbietern. Anbieter von Verkehrsdienstleistungen sollten also keine einseitigen Nachteile erleiden, wenn sie sich auf dem Kreditmarkt finanzieren oder neue Beschäftigte einstellen wollen. Kann das in staatlicher Hand befindliche Eisenbahnunternehmen ihre Investitionskosten vom Staat mitfinanzieren lassen, liegt eine asymmetrische Marktzutrittsschranke vor. • Marktaustritt muss kostenlos möglich sein. Markteintrittskosten, z. B. durch hohe Investitionskosten, spielen für die Bestreitbarkeit keine Rolle, wenn die beschafften Investitionsgüter wiederum leicht veräußerbar oder für andere Märkte einsetzbar sind. Rollendes Material bei der Bahn oder Straßengüterverkehr bzw. Flugzeuge können relativ leicht von einer Verkehrsrelation zur anderen umgewidmet werden; man sagt: Kapital auf Rädern oder auf Flügeln. Nicht selten werden diese Investitionsgüter auch nur geleast oder der Staat stellt rollendes Eisenbahnmaterial aus einem Pool zu günstigen Bedingungen zur Verfügung. Wertschöpfungsstufen wie Straßen, Flughäfen oder das Schienennetz sind mit hohen sunk costs verbunden, da die Investitionen vor allem Tiefund Hochbauten sind, die naturgemäß nicht reversibel sind. Bei Bahnhöfen ist die Frage, ob die Gebäude zum Beispiel zu Wohnzwecken umgenutzt werden können; wenn ja, dann liegen keine sunk costs vor. • Das sogenannte „price adjustment lag“ muss das sogenannte „entry lag“ zeitlich überwiegen. Mit dem „entry lag“ wird die Zeitspanne verbunden, die ein Marktneuling braucht, um nach seiner Ankündigung des Marktzutritts tatsächlich seine Geschäftstätigkeit aufzunehmen. Das „price adjustment lag“ umfasst den Zeitraum, bis der Etablierte seine bisherigen, hohen Preise so anpasst, dass ein Marktzutritt nicht mehr lukrativ ist. Ist das „entry lag“ kleiner als das „price adjustment lag“, kann u. U. der Markteindringling trotz sunk costs in den Markt eintreten, ohne Verlust zu machen. Insofern relativiert diese Bedingung die Relevanz der Reversibilität der Investitionen: Je kürzer das „entry lag“ und je länger das „price adjustment lag“, umso weniger schrecken Sunk-cost-Investments vor Marktzutritten ab. In Tab. 8.4 wurden alle Wertschöpfungsstufen der Verkehrsmärkte, in denen Subadditivität zu vermuten ist und es aufgrund hoher sunk costs an der Bestreitbarkeit fehlen dürfte, ty-

338

8 Verkehrspolitik

pografisch kursiv und fett gekennzeichnet. Diese zu regulierenden Bereich werden als Engpasseinrichtungen, bottlenecks oder essentzial facilities bezeichnet. Die nur kursiven Bereiche stellen natürliche Monopole dar, bei denen Irreversibilitäten keine oder kaum eine Rolle spielen dürfte. Dies gilt für die Flugsicherung oder die Netzsteuerung im Eisenbahnverkehr, die eher nicht mit Sunk-cost-Investments verbunden sein dürften, da diese relativ leicht an unterschiedlichen Standorten einsetzbar sind. Vielleicht sind sie aber für den Wettbewerb im jeweiligen Verkehrsmarkt zu unbedeutend und man kann sie dem regulierten Engpassbereich zuschlagen. Fernbusangebote auf bestimmten Strecken oder Taxihalteplätze erfordern nicht selten keine parallelen Angebote, freilich liegen dort auch nur wenige sunk costs vor und die anderen Argumente gegen potenzielle Konkurrenz (asymmetrische Marktzutrittsschranken sowie „entry lag“ > „price adjustment lag“) greifen eher nicht; der Markt in diesen Stufen wäre nicht zu regulieren. Neben der Frage der Wettbewerbsmöglichkeiten in den einzelnen Verkehrsmärkten (intramodaler Wettbewerb) kann auch der Wettbewerb zwischen den einzelnen Verkehrsträgern so stark sein, dass die Marktmacht einer Wertschöpfungsstufe mit einem nicht-bestreitbaren natürlichen Monopol gar nicht zum Tragen kommt. Gerade für das Schienennetz der deutschen Bahn wäre dies zu diskutieren (Abschn. 8.3.2). Für die Wertschöpfungsstufen des Verkehrssektors, die nicht-bestreitbare natürliche Monopole darstellen, also das Schienen- und Straßennetz, die Wasserstraßen, aber auch für Häfen und Flughäfen, wird das Problem der Monopolpreissetzung, wie es in der Abb. 8.9 beschrieben wurde, kaum relevant sein: Für das Straßennetz werden in Deutschland nur Gebühren für den Lkw-Verkehr erhoben, für die übrigen Verkehre gilt eine Steuerfinanzierung, das Schienennetz wird zu nicht unerheblichen Teil ebenfalls aus Steuergeldern finanziert (Abschn.  8.3), gleiches gilt für den Ausbau von Wasserstraßen; (Flug-) Häfen sind häufig zumindest in staatlicher Hand, Baukosten werden zumindest teilweise vom Staat getragen und gerade kleine Einheiten werden durch die öffentliche Hand im Betrieb unterstützt. Folglich geht es bei diesen Wertschöpfungsstufen darum, so zu regulieren, dass zumindest Kostendeckung angestrebt wird. Zur Vereinfachung der Darstellung wird im Folgenden das Problem des natürlichen Monopols aus dem Mindesteinsatzmengenproblem abgeleitet, und es werden konstante Grenzkosten unterstellt. Im Grundsatz kann dieses Ziel dadurch erreicht werden, dass • Grenzkostenpreise vorgeschrieben werden und das sich daraus ergebende Defizit direkt vom Steuerzahler gedeckt wird. Für das in der Abb. 8.10 dargestellte Verkehrsinfrastruktur mit der variierbaren Kapazität VK wäre der Punkt C gesamtwirtschaftlich gesehen effizient: Eine größere Kapazität als VKC würde höhere Grenzkosten verursachen als die zusätzlichen Nutzen, gemessen unterhalb der Nachfragekurve N; eine kleinere Kapazität würde geringere Kapazitätsgrenzkosten einsparen als nicht mehr anfallende Nutzen. Folglich wäre der wohlfahrtsoptimale Preis PLGK. Zu diesem Preis aber würde ein Defizit in Höhe von ABCPLGK entstehen. Sichert man dem Betreiber der  Verkehrsinfrastruktur zu, dass sein Defizit übernommen wird, sinkt sein Anreiz,

8.2 Ökonomik des Verkehrswesens

339

€ E

N

A

B

PLGK

C

0

VKC

LDK LGK

VK

Abb. 8.10  Grenzkostenpreise. (Quelle: Eigene Darststellung)

das Defizit klein zu halten. Ferner wäre zu klären, wer für das Defizit aufkommt. Ist es  der Steuerzahler, so ist zu fragen, ob die durch die Steuererhebung entstehenden Wohlfahrtsverluste (excess burden) nicht sogar größer sind als die entstehenden Wohlfahrtsverluste, wenn man im Verkehrsbereich von den wohlfahrtsoptimalen ­ Grenzkostenpreise abweicht. • sogenannte zweiteilige Tarife implementiert werden, wobei die Fixkosten der jeweiligen Stufe auf alle Nutzer mengenunabhängig verteilt werden (Grundgebühr, Zugangspreis) und mengenabhängig eine variable Gebühr erhoben wird. In der Abb. 8.10 würde dies bedeuten, dass Defizit ABCPGK nach irgendeinem Schlüssel auf die Nutzer der Infrastruktur zu verteilen. Zunächst einmal wird diese einfache Lösung komplex, wenn die Nutzer unterschiedliche Zahlungsbereitschaft aufweisen und dann bei einer einheitlichen Fixgebühr Nutzer mit geringer, aber ausreichender Zahlungsbereitschaft bereits aufgrund dieser Gebühr vom Konsum ausgeschlossen werden. Ferner könnte theoretisch auch der Infrastrukturbetreiber eine unnötig überhöhte Fixgebühr setzen, im Maximum ECPLGK. Für Infrastrukturbereiche ist diese Gefahr eher gering, da wie bereits oben erwähnt der Staat häufig diese Infrastrukturen ohne Preissetzung bereitstellt.

340

8 Verkehrspolitik



N

A

B

LDK

PLGK

0

D

VKB

C

VKC

LGK

VK

Abb. 8.11  Durchschnittskostenpreise. (Quelle: Eigene Darstellung)

• dem natürlichen Monopolisten erlaubt wird, Durchschnittskostenpreise zu setzen, was per Definition Kostendeckung implizieren würde. In der Abb. 8.11 wird sofort erkennbar, dass beim Durchschnittskostenpreis A kein Defizit mehr entsteht: Punkt B liegt auf der Durchschnittskostenkurve, was automatisch Kostendeckung nach sich zieht. F ­ reilich ist eine solche Preissetzung ein Second-Best-Optimum, da sich der Wohlfahrtsverlust BCD einstellen würde. Wie auch bei Grenzkosten-Preisen gibt es nur schwache Anreize, die Kosten gering zu halten. • man Preise entsprechend der Nachfrageelastizitäten (unelastische Nachfrager zahlen viel, elastische zahlen wenig) zulässt, solange die Summe der in den Teilmärkten erwirtschafteten Umsatzerlöse nicht die erforderlichen Kosten übersteigt. In der Abb. 8.12 gibt es die beiden Nachfragegruppen N1 und N2, die Verkehrsleistungen A und B nachfragen sollen. Die Nachfragekurve der Gruppe 1 verläuft flacher als die der Gruppe 2, was ökonomisch bedeutet, dass Gruppe 1 stärker mit Mengenrückgängen reagieren würde als Gruppe 2, wenn der Preis ansteigt. Man sagt daher, dass die Gruppe 1 sich preiselastischer verhalte als die Gruppe 2. Bei identischen und konstanten Grenzkosten in Höhe von 20 GE sollen beide Gruppen einen Preisaufschlag in Höhe von 16,1 GE tragen müssen (Bild a). Im Vergleich zum Grenzkostenpreis reduziert die preiselastische Gruppe 1 ihre Menge auf 47,7 Einheiten und die preisunelastische Gruppe 2 auf 63,9 Einheiten. Wie in der Tab. 8.5 zusammengefasst folgen im Bild a aus den Rechtecken CDFE und CJKE insgesamt 1796,96 GE an Umsatzerlösen, die zur Deckung der

8.2 Ökonomik des Verkehrswesens

341



€ a N2

N1

36,1

C

b

N1

J

D

40

L

M

30 R 20

E

0

F

47,7

K

H

63,9 80

20

N2

N

S

V

T

LGK

VLA

60

80

VLB

Abb. 8.12  Ramsey-Preise. (Quelle: Viscusi et al., 2018, S. 524) Tab. 8.5  Umsatzerlöse und Wohlfahrtsverluste Bild a

Bild b

Umsätze CDEF CJKE Summe

767,97 1028,79 1796,76

LMTS RNTS Summe

1200  600 1800

DHF JHK Summe

260,02 129,61 389,63

MVT NVT

200 100 300

Wohlfahrtsverluste

Quelle: Viscusi et al., 2018, S. 523–525

Fixkosten herangezogen werden können. Die Wohlfahrtsverluste in Bild a, DHF und JHK, machen insgesamt einen Wohlfahrtsverlust von 389,63 GE aus. Würde man stattdessen die unelastische Nachfragegruppe 2 mit einem höheren Preis, hier 40 GE, belasten und die elastische Nachfragegruppe 1 auf 30 GE absenken (Bild b), stehen zur Fixkostendeckung fast die gleichen Umsatzerlöse in Höhe von 1800 GE zur Verfügung (Rechtecke LMTS und RNTS). Allerdings fallen nur noch Wohlfahrtsverluste entsprechend der Dreiecke MVT und NVT an, was einem geringeren Wohlfahrtsverlust in Höhe von 300 GE entspricht. Eine Preisstruktur, die gerade Kostendeckung sicherstellt und unelastische Nachfragegruppen stärker belastet als elastische, bezeichnet man als Ramsey-Preise (Viscusi et al., 2018, 523–525).

342

8 Verkehrspolitik

Bestreitbare Monopole und Wertschöpfungsstufen, in denen von „vornherein“ mehrere Anbieter unter Wettbewerb existieren können, bedürfen natürlich keiner Preisregulierung. M. a. W.: Die Preisregulierung in Verkehrssektoren ist somit auf die Engpassbereiche zu beschränken, also die wesentlichen Einrichtungen der Verkehrsinfrastruktur, zumindest wenn sie über Preise/Gebühren finanziert werden.

Kasten 8.1: Verkehr als öffentliches Gut

Die Bereitstellung von Verkehrsinfrastruktur und teilweise auch die von Verkehrsdienstleistungen wird nicht selten als öffentliches Gut wahrgenommen, der Staat solle die Verkehrsinfrastruktur, z. B. das Straßen- oder das Schienennetz, aus Steuergeldern und wichtige Verkehrsdienstleistungen (z. B. den ÖPNV) zu nicht-­ kostendeckenden Preisen bereitstellen. (Stock & Bernecker, 2014, S. 298–300). Bei öffentlichen Gütern kommt es auf die Gutseigenschaften der fehlenden Ausschließbarkeit vom Konsum und der Rivalität im Konsum an. Bei Verkehrsdienstleistungen wie die Nutzung von Zügen können und werden nicht-zahlende Nutzer von der Nutzung ausgeschlossen; für die Fahrberechtigung wird ein Ticket benötigt, das je nach Zweckmäßigkeit kontrolliert wird. Bei der Verkehrsinfrastruktur, insbesondere bei Straßen, werden durchaus Ausschlusstechniken (Autobahngebühren bei Auffahrt auf die Autobahn oder Brückenzölle) angewandt (Kloas & Voigt, 2007; Sieg, 2020). Selbst für Innenstadtstraßen gibt es bereits einige Beispiele von City-Mautsystemen, wonach man nur bestimmte Bereiche zu bestimmten Zeiten nutzen darf, wenn man eine Gebühr entrichtet, für Fernstraßen werden in Deutschland über Toll Collect Gebühren für Lastwagen erhoben. Insofern ist das Kriterium der fehlenden Ausschließbarkeit nicht unüberwindbar. Das Kriterium der fehlenden Rivalität im Konsum bezieht sich im Verkehrssektor darauf, dass zusätzliche Nutzer einer Verkehrsinfrastruktur keine oder nur geringe Grenzkosten verursachen, zumindest bis die Kapazitätsgrenze erreicht ist. Diese Diskussion ist Kernpunkt der Frage, wie nicht bestreitbare natürliche Monopole bereitgestellt werden sollten. Gerade wenn die langfristigen Grenzkosten unter den Durchschnittskosten liegen, kommt es zum Problem der wohlfahrtsoptimalen First-best- und Second-best-Preise.

8.3 Exkurs: Wettbewerb und Regulierung im Eisenbahnverkehrsmarkt Im liberalisierten deutschen Eisenbahnverkehrsmarkt werden seit Jahrzehnten mehrere Fragen kritisch diskutiert. Gibt es (ausreichenden) Wettbewerb auf der Schiene? Diese Frage des intramodalen Wettbewerbs steht im Mittelpunkt des Abschn. 8.3.1. Ist die DB AG ein marktmächtiges Unternehmen, das einer Regulierung bedarf, die zu hohe Trassenpreise verhindern muss? Letztendlich geht es um die Reichweite des intermodalen Wettbewerbs (Abschn. 8.3.2). Die DB AG unterliegt seit 2016 einer Anreizregulierung bezüg-

8.3 Exkurs: Wettbewerb und Regulierung im Eisenbahnverkehrsmarkt

343

lich ihrer Trassenentgelte. Ist diese Form der Regulierung angemessen? (Abschn. 8.3.3). So alt wie die Bahnreform 1994 ist die Frage, ob die Trennung zwischen Schienennetz und Bahnverkehr bei der Deutschen Bahn AG umfassend (eigentumsrechtlich) erforderlich ist, um Diskriminierungsanreize zugunsten der „Verkehrstöchter der Deutschen Bahn“ gänzlich zu unterbinden und damit auch potenziell bestehende Verbundvorteile zwischen Netz und Betrieb (bewusst) außer Acht zu lassen (Abschn. 8.3.4).

8.3.1 Intramodaler Wettbewerb Ein Ziel der Eisenbahnreform von 1994 war es, den Wettbewerb auf der Schiene zu ermöglichen. Der sogenannte intramodale Wettbewerb sollte entstehen bzw. gesteigert werden. Nach den Zahlen, die von der Bundesnetzagentur seit 2002 zur Verfügung gestellt werden, hat sich der intermodale Wettbewerb sehr unterschiedlich entwickelt (Tab. 8.6). Der Schienenpersonennahverkehr (SPNV) wird in Deutschland von den Ländern bzw. Regionen gegen Entgelt bestellt, finanziert aus den Regionalisierungsmitteln des Bundes; die Verkehrsleistungen werden ausgeschrieben und an den Bietenden mit Tab. 8.6  Entwicklung des Wettbewerbs im deutschen Markt für Eisenbahnverkehrsleistungen

Jahr 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021

SPNV Mrd. Pkm 38 40 40 41 44 45 47 46 47 50 53 54 54 55 56 57 57 58 35 33

Anteile Wettbewerber in % 4 4 5 6 9 9 12 13 14 14 18 19 19 22 23 27 26 28 33 34

SPFV Mrd. Pkm 33 32 32 34 34 34 36 35 36 36 37 37 36 37 40 41 43 45 24 26

Anteile Wettbewerber in %